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German Pages 366 Year 2018
Milena Bauer Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes
Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der
Theodor Fontane Gesellschaft e. V. Wissenschaftlicher Beirat
Hugo Aust Helen Chambers
Band 12
De Gruyter
Milena Bauer
Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes Ritualisierte Grenzgänge
De Gruyter
ISBN 978-3-11-057051-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057269-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057134-9 ISSN 1861-4396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Bauer, Milena, author. Title: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes / Milena Bauer. Description: Boston : De Gruyter, 2018. | Series: Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft ; Band 12 | Includes bibliographical references and index. Identifiers: LCCN 2018027883 (print) | LCCN 2018029555 (ebook) | ISBN 9783110572698 (electronic Portable Document Format (pdf) | ISBN 9783110570519 (hardback) | ISBN 9783110571349 (e-book epub) | ISBN 9783110572698 (e-book pdf) Subjects: LCSH: Fontane, Theodor, 1819-1898--Criticism and interpretation. | Plots (Drama, novel, etc.) | Recreation in literature. | BISAC: LITERARY CRITICISM / European / German. | LITERARY CRITICISM / General. Classification: LCC PT1863.Z7 (ebook) | LCC PT1863.Z7 B385 2018 (print) | DDC 833/.7--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018027883
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträt von Theodor Fontane, Deutsches Historisches Museum Bildarchiv Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck: CPI books GmbH, Leck
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 »Was heißt Landpartie?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufbau der Studie und Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans . . . . . . . . 2.1 Grundlegende Gattungs- und Genrefragen . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Fontane und die Verspätung des deutschen Gesellschaftsromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Landpartie-Topos im Gesellschaftsroman Fontanes . . . . . 2.3.1 Fontanes Gesellschaftsromane: Gesellschaft und Geselligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Zeit- und Erzählstrukturen der Landpartie bei Fontane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Geplantes Vergnügen: Organisation und Motivation . . . . . . . . . . 3.1 Die Landpartie als Variante ritualisierter Geselligkeit . . . . . . . 3.1.1 »L’Adultera« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 »Schach von Wuthenow« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 »Frau Jenny Treibel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 »Der Stechlin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Landpartie und Sommerfrische: ›Kleine Fluchten‹ der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 »Cécile« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 »Irrungen, Wirrungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 41 42 48 53 60
4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Orte und Verortungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Certeaus Ortsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Verfahren und Strategien topographischer Verortungen bei Fontane . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Räume, Grenzen, Grenzräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Das semiotische Raummodell Jurij Lotmans . . 4.1.2.2 Die Grenzüberschreitung als inszeniertes Gesellschaftsvergnügen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI
Inhalt
4.2 Mittel, Wege, Mentalitäten: Raumdurchquerung und -erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Kutschfahrt: Tradition und Repräsentation . . . . . . 4.2.2 Eisenbahn und Dampfschiff: Technisierung und Touristisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Fahren und Erfahren: Durchreiste Topographien . . . . . 4.2.3.1 »Schach von Wuthenow« . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.2 »Cécile« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.3 »Der Stechlin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Topographien der Landpartien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Bequeme Aussichten, geräuschhafte Stille und blinkende Lichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Idyllischer Exkurs: »Irrungen, Wirrungen« . . . . . . . . . 4.3.3 Die Landschaften der Landpartien: »Bilder und immer wieder Bilder« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1 Bildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.2 Bildtraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.3 Gerahmte (Genre-)Bilder . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.4 Stimmungsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Imaginierte Alterität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Schützen und Verbergen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Fremde Nähe, oder: Expeditionen ins Unbekannte . . . 4.4.2.1 Die Exotisierung der Landpartie . . . . . . . . . . 4.4.2.2 Die Landpartie als koloniale Begegnung . . . . 5 Eine Partie machen: Landpartie und Liebesgeschichten . . . . . . . . . 5.1 Gelegenheit macht Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch« . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Inszenierter Zufall: »eine Vertheilung, die sich wie von selber machte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Bewegte Gespräche, oder: Katalysierende Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 »L’Adultera« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.2 »Cécile« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.3 »Schach von Wuthenow« . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.4 »Frau Jenny Treibel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.5 »Irrungen, Wirrungen« und »Der Stechlin« . . 5.3 »Ende gut, alles gut«? Die Fortschreibung der Landpartie . . .
122 124 131 142 142 146 154 159 160 178 192 193 198 206 220 228 230 233 236 239 249 249 253 254 268 269 280 289 298 307 314
Inhalt
VII
6 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 »War Berliner Landpartie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 »Ernste Landpartien«, oder: »Dahinter steckt ein Roman« . . .
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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einleitung 1.1 »Was heißt Landpartie?« Ob im Romanwerk, in den reisejournalistischen Schriften oder den zahlreich überlieferten Briefen des Autors – Landpartien finden im Œuvre Theodor Fontanes mannigfache Erwähnung und Beachtung. Denn nicht allein die Figuren seiner (vornehmlich Berliner) Gesellschaftsromane veranstalten auffällig oft Partien in das nähere und fernere Umland; Fontane selbst kann als Kenner und Könner dieses saisonalen Gesellschaftsvergnügens gelten, das er, sei es privat oder beruflich motiviert, regelmäßig unternahm. Dabei verdankt es sich Fontanes Beobachtungs- und Beschreibungsvermögen, dass ihm jede Partie, auch wenn diese dem Zwecke persönlicher Erholung dienen sollte, hinreichend Stoff zu narrativer Reflexion und Darstellung bot. Seine brieflichen Korrespondenzen ebenso wie seine reisejournalistischen Aufzeichnungen dokumentieren unverkennbar sein Gespür, eigenen Erlebnissen am Ausflugsort, der dortigen institutionalisierten und kommerzialisierten Tourismusindustrie sowie Gebaren und Mentalität anderer Ausflügler Erwähnens- und Erzählenswertes abzugewinnen. Zu den Schriften, die Zeugnis von der Popularität und Produktivität ablegen, die Landpartien in Fontanes Werk auch jenseits seiner Romane bezeigen, sind nicht zuletzt die mehrere Bände umfassenden Wanderungen durch die Mark Brandenburg zu rechnen. Denn lässt man »[d]ie Vielfalt der Gattungselemente«1 als auch die den Wanderungen eingeschriebene »Diskurspolyphonie«2 einmal außer Acht und konzentriert sich allein auf die präsentierten Modi der touristischen Mobilität und die Aufenthaltsdauer, so könnte der Titel nachgerade ›Landpartien in die Mark Brandenburg‹ lauten. Statt um
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Walter Erhart, ›Alles wie erzählt‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 229–254, hier S. 234. Alfred Opitz, Die ›Wurstmaschine‹. Diskurspolyphonie und literarische Subjektivität in den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003 (= Fontaneana, Bd.1), S. 41–61.
https://doi.org/10.1515/9783110572698-001
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1 Einleitung
Wanderungen im eigentlichen Sinne, handelt es sich nämlich um Fahrten,3 um eine »Vielzahl radialer Kurzreisen, Abstecher oder Ausflüge, die fast jedesmal von Berlin ausgingen«4. Sind schon die Wanderungen in dem Sinne »keine ›realistische‹ Literatur,« als Fontane dort nicht wirklichkeitsgetreu »die Mark Brandenburg und seine eigenen Fahrten beschreibt«, und konstituiert die betriebene Verschmelzung von »konkreten Örtlichkeiten« mit der längst vergangenen »preußischen Geschichte« vielmehr »das Produkt einer poetischen Verwandlung«5, muss diese Feststellung erst recht für die genuin literarische Bearbeitung eigener Erfahrungen und Kenntnisse in Fontanes Gesellschaftsromanen gelten. So haben diese zwar Einfluss auf die Literarisierung und den Schreibprozess genommen, indem z. B. persönlich vertraute Ausflugsorte zu Schauplätzen in den Romanen avancierten oder – in biographischer und textgenetischer Perspektive – Partien Fontane nicht nur Gelegenheiten zu körperlicher Regeneration, sondern auch ungemein produktive Arbeitsbedingungen boten.6 Die häufige Einbettung von Landpartien in den Gesellschaftsromanen Fontanes kann damit jedoch ebenso wenig hinreichend erklärt werden wie ihre narrative Inszenierung, Modellierung und Funktionalisierung. Mit der Landpartie in den Romanen Fontanes muss es also eine besondere Bewandtnis haben, die über das Aufgreifen einer persönlich vertrauten populären Naherholungsform hinausreicht und der es näher nachzugehen gilt. Die vorliegende Studie unternimmt dies vor dem Hintergrund der These, dass die Landpartie im Romanwerk Fontanes einen wiederkehrenden To-
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Vgl. Hubertus Fischer, Theodor Fontane – Blicke auf die Landschaft unter den Bedingungen moderner Wahrnehmung. In: Magdalena Kardach (Hrsg.), Literarische Erfahrungsräume. Zentrum und Peripherie in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2009 (= Posener Beiträge zur Germanistik, Bd. 22), S. 181–193, hier S. 182. Peter Wruck, Wie Fontane die Mark Brandenburg entdeckte. In: Fontane Blätter 74 (2002), S. 60–77, hier S. 71. Walter Erhart, Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 818–850, hier S. 825. Siehe dazu exemplarisch Fontanes Brief aus Thale an seine Frau Emilie vom 20. Juni 1884, in dem es über seine Arbeit an Cécile heißt: »Das Beste war, daß ich mit meiner Arbeit plötzlich von der Stelle kam; bis dahin hatte ich nur die Tendenz und ein paar Einzelscenen, mit einem Mal aber ging die ganze Geschichte klar vor mir auf, namentlich auch in ihren schwierigsten Partieen, und heute früh hab ich denn auch alles in 14 Kapiteln niedergeschrieben. D. h. ganz kurz, jedes Kapitel ein Blatt. Aber es lebt doch nun und strampelt.« (GBA XII/3, S. 412f.)
1.1 »Was heißt Landpartie?«
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pos7 konstituiert, der in vergleichender Perspektive stets denselben Ordnungsund Strukturprinzipien folgt. Mithin lässt sich in Fontanes Romanen ein der Landpartie eigentümliches Erzählmuster identifizieren, das – bei aller Kontinuität – von den einzelnen Texten flexibel und variantenreich gestaltet und umspielt wird. Und dies, gleichermaßen als Ursache wie Wirkung dieses Erzählmusters, hinsichtlich eines ungemein handlungsdynamisierenden Potentials, das der Landpartie-Topos funktional für die Romankomposition erfüllt: In der Inszenierung eines ritualisierten Gesellschaftsvergnügens präsentieren und initiieren die Landpartien sowohl topographische als auch normative Grenzgänge und -verletzungen. Muten die Landpartien auch harmlos an, so eröffnet sich in diesem Topos ein narrativer Raum, die repressive wilhelminische Gesellschaftsordnung subversiv zu hinterfragen respektive zu unterwandern. Die Bedingung der Möglichkeit, dass der Landpartie in den Romanen Fontanes ein derartiges Potential abgewonnen werden kann, gründet nicht zuletzt in dem gesellschaftlich-geselligen Naherholungsformat selbst. Ein begriffsgeschichtlich geleiteter Versuch, diese Praxis konkreter zu fassen, legt zunächst eine eindeutige Bestimmung nahe. So verzeichnet das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm unter dem Lemma ›Partie‹ u. a. »eine abtheilung von personen als gesellschaft zu einem gemeinsamen vergnügen (fahrt, jagd, spiel u. s. w.) und dieses selbst, s. land-, wald-, jagd-, spielpartie«8. Unter dem Querverweis auf das spezifische Vergnügen der ›Landpartie‹ lautet es dann kurz und bündig: »ausflug auf das land; jetzt sehr gebräuchlicher ausdruck«9. Zwar indiziert der Hinweis auf die gebräuchliche Begriffsverwendung die Popularität der Landpartie, und werden mit ›Gesellschaft‹, ›gemeinsames Vergnügen‹ und ›Ausflug auf das Land‹ auch Synonyme respektive wichtige Schlagworte aufgerufen, so bleibt eine konkrete Definition von Form und Modus der Landpartie im eigentlichen Sinne jedoch aus. Diese dem Begriff ›Landpartie‹ damit eingeschriebene Un- und Eindeutigkeit findet ihren Reflex in den Romanen Fontanes, die nicht nur häufig
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Neben seiner produktiven Polyvalenz besonders in Abgrenzung zum Begriff des ›Motivs‹, kann der Terminus ›Topos‹ für die Landpartie-Darstellungen in Fontanes Romanen auch insofern als besonders geeignet gelten, als ihm etymologisch die Relation zu einem räumlichen Kontext genuin eingeschrieben ist. Vgl. dazu Wolfgang G. Müller, [Art.] Topik/Toposforschung. In: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart 2004, S. 665f. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 7. N.O. P. Q. Bearbeitet von Dr. Matthias von Lexer. Leipzig 1889, Sp. 1477. Ebd. Bd. 6. L. M. Bearbeitet von Dr. Moriz Heyne. Leipzig 1885, Sp. 126.
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1 Einleitung
eine Landpartie-Episode enthalten, sondern in Gestalt einzelner Figuren den Versuch einer Konkretion unternehmen. Das Räsonieren darüber, wie die Landpartie begrifflich und inhaltlich präziser zu bestimmen sei, wird dabei von Romanfiguren betrieben, die selbst unmittelbar Teilnehmende einer Landpartie sind: »Was heißt Landpartie? Landpartie heißt frühstücken und ein Jeu machen. Hab’ ich recht?« (IW, S. 80)10 Während ›Königin‹ Isabeau in Irrungen, Wirrungen mit Jeu und Frühstück zwei zentrale Konstituenten einer Landpartie proklamiert, fragt Van der Straaten in L’Adultera nach dem motivationalen Hintergrund, den er nicht qualitativ sondern differentiell bestimmt sieht: »Wozu macht man Partien? Wozu? Nicht um es besser zu haben, sondern um es anders zu haben« (LA, S. 59). Indem beide Figuren sogleich mit Antworten auf die gestellten Fragen aufwarten, wird die Diskussion um Bedeutung und Beweggrund einer Landpartie auf den ersten Blick jedoch allenfalls vordergründig geführt. Flankiert werden die resoluten Antworten dabei jeweils zusätzlich von rhetorischen Fragen, die das soeben Gesagte nochmals bekräftigen sollen. Liest man jene Figurenreden vor der Folie einer in den Romanen angestellten Metareflexion über die Landpartie, erweist sich dieses betriebene rhetorische Bemühen um Affirmation indes als bemerkenswert, wird damit doch der vermeintlich apodiktische Gestus relativiert, wenn nicht gar unterminiert. Anstatt also den getroffenen Aussagen über die Bedeutung und Motivation der Landpartie möglichst den Anschein allgemeiner Gültigkeit zu verleihen, lassen sich diese vielmehr als subjektive Antwortmöglichkeiten identifizieren, die implizit zur Disposition gestellt werden. Kann gemäß dieser Lesart schon eine zweifelsfreie Festlegung der Landpartie im Hinblick auf ihren motivationalen und inhaltlichen Gehalt nicht recht gelingen, so muss dies erst recht der Fall sein, wenn die bei Landpartien genuin herrschende Stimmung klassifiziert werden soll – wie es der Kommerzienrat in Frau Jenny Treibel unternimmt: »Landpartien sind immer fröhlich. Nicht wahr, Krola?« (JT, S. 112) Die Setzung, Landpartien seien »immer fröhlich«, rekurriert auf das Bemühen, die Landpartie und ihre Teilnehmer konstitutiv auf Positivität und Ausgelassenheit zu verpflichten und diese, wenn nötig, zu evozieren. Das rhetorische Erheischen von Zustimmung wie auch die hinzugesetzte bekräftigende Wiederholung, »Landpartien also sind
10 Irrungen, Wirrungen. Roman wird hier und im Folgenden direkt im Text mit der Sigle (IW) und Seitenzahl nach der GBA zitiert. Gleiches gilt für L’Adultera. Novelle (LA), Frau Jenny Treibel oder ›Wo sich Herz zum Herzen find’t‹ (JT), Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gendarmes (SvW), Cécile. Roman (C) und Der Stechlin. Roman (DS).
1.1 »Was heißt Landpartie?«
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immer fröhlich« (JT, S. 112), rekurrieren in ihrer Phrasenhaftigkeit darauf, dass hier in ironischer Manier ein Gemeinplatz zitiert wird, der jedoch keineswegs verlässliche Aussagen über die Landpartie zu treffen erlaubt.11 Gleichwohl soll hier mit Hilfe der herangezogenen Textstellen keineswegs der Beweis geführt werden, die Fontaneschen Romanfiguren irrten notwendig mit ihren Bestimmungsversuchen der Landpartie; ebenfalls ist damit nicht intendiert, derartige Versuche als grundsätzlich vergeblich zu erklären. Vielmehr machen diese Textstellen exemplarische Verständnisse von der Landpartie deutlich, die zusammengenommen auf gesellschaftlich etablierte Vorstellungen und ritualisierte Partie-Konzepte schließen lassen. Zugleich präsentieren die Texte anhand ihrer Figuren jedoch, dass die Geselligkeitsform der Landpartie sowohl in ihrer begrifflichen als auch in ihrer praktischen Dimension individuelle Interpretationen und Ausgestaltungsmöglichkeiten erlaubt und nicht auf ein starres Reglement verpflichtet bleibt. Kann diese ambivalente Gleichzeitigkeit von Konvention und Gestaltungsfreiheit für die zeithistorische Praxis der Landpartie gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen gelten, so gilt sie im Besonderen für die literarische Darstellung dieses Topos in den Gesellschaftsromanen Fontanes. Denn mit der Landpartie bedient sich Fontane eines Formats, dessen gesellschaftlich-geselligem Skript er einerseits folgt. Andererseits ermöglicht die diesem Skript genuin eigene Variabilität jedoch, es nach eigenen literarischästhetischen Belangen zu modellieren und ihm auf diese Weise narrative Gestaltungsspielräume abzugewinnen.
11 In Julius Stindes Roman Die Familie Buchholz sieht sich die Protagonistin Wilhelmine Buchholz dazu veranlasst, die Rekapitulation einer Landpartie damit zu beginnen, die vermeintliche Fröhlichkeit bei Landpartien energisch zu revidieren: »Es gibt Leute, die eine Landpartie für ein Vergnügen halten, das ist jedoch grundfalsch« (Julius Stinde, Die Familie Buchholz. Aus dem Leben der Hauptstadt, Frankfurt am Main 1974, S. 53). – Die Schilderung einer Landpartie in Stindes Roman verweist ihrerseits auf die gesellschaftliche Popularität dieser Praxis und ihren motivischen Eingang in die zeitgenössische Literatur. Grieves Vergleich von Fontanes Frau Jenny Treibel mit »Berliner Populärliteratur höheren Anspruchs«, für die dem Verfasser Stindes Buchholz-Romane als paradigmatisch gelten, führt zu dem Fazit, dass Frau Jenny Treibel »zwar mit der zeitgenössischen Trivialliteratur viel gemeinsam hat, und daß Stindes ›Frau Wilhelmine Buchholz‹ vielleicht sogar Modell für Fontanes Roman gestanden hat«, dass dieser jedoch »letztlich nicht nur eine Parodie auf das zeitgenössische Berliner Bürgertum ist, sondern auch eine Parodie auf das literarische Genre« (H. Grieve, Frau Jenny Treibel und Frau Wilhelmine Buchholz. Fontanes Roman und die Berliner Populärliteratur. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 535–543, hier S. 542).
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1 Einleitung
1.2 Aufbau der Studie und Textauswahl Den Rahmen und Möglichkeitsraum für diese produktive Literarisierung der Landpartie bei Fontane bildet ihre Einbettung in den Genretypus des Gesellschaftsromans – weshalb sich denn auch das erste von insgesamt vier Kapiteln der vorliegenden Untersuchung näher mit dem Konnex dieses Genres und dem Landpartie-Topos beschäftigt. Während Fontanes flexibler Umgang bei der Kennzeichnung seiner Texte zunächst überhaupt eine Verpflichtung des zugrundeliegenden Textkorpus auf den Gattungsbegriff des ›Romans‹ erfordert, bedarf seine Festlegung auf den Genretypus ›Gesellschaftsroman‹ weitergehender Erörterung. Dabei gilt es nicht nur, den inneren Zusammenhang der im europäischen Vergleich deutschen ›Verspätung‹ auf dem Feld politischer und literarischer Entwicklungen herauszustellen. Vielmehr sind überdies mögliche Gründe zu reflektieren, warum es Fontane im fortgeschrittenen Alter vermochte, mit seinen Romanen schließlich einen deutschsprachigen Beitrag zur Tradition des europäischen Gesellschaftsromans zu leisten (siehe Kapitel 2.1 und 2.2). Im Anschluss an diese literatur-, politik- und mentalitätsgeschichtlichen Reflexionen fährt das Kapitel fort, die häufige Bearbeitung des LandpartieTopos in Fontanes Gesellschaftsromanen aus den erzählerischen Maximen dieses Genres und nicht zuletzt aus der Genrebezeichnung selbst herzuleiten. Im Hinblick auf Fontane wird zu zeigen sein, dass die dem Begriff ›Gesellschaft‹ inhärenten Bedeutungsdimensionen, verstanden als Sozietät, als soziale Sphäre der Figuren und als gesellige Zusammenkunft, mit Thema, Stoff und Personal seiner Romane konvergieren. In der Darstellung des zeitgenössischen Gesellschafts- und Geselligkeitsverkehrs stellt die Landpartie dabei einen Sonderfall dar, indem sie als saisonale Variante konstitutiv ein Raumwechsel kennzeichnet. Dabei gewinnen die Texte dem Raumwechsel, der Mobilisierung der Figuren sowie ihrer ausgelassenen Disposition ein Erzählpotential ab, das maßgeblich für den weiteren Verlauf der Handlung verantwortlich zeichnet – insbesondere im Bezug auf die amourösen Figurenverhältnisse (siehe Kapitel 2.3.1). Diese Produktivität des Landpartie-Topos verdankt sich nicht zuletzt einem von Fontane entwickelten Erzählmuster, dessen einzelne Phasen an dem prototypischen Verlauf einer Landpartie orientiert sind, wie Ankunft, Abfahrt oder der Besuch einer Gastwirtschaft. Doch auch makrostrukturell lassen sich spezifische Zeit- und Erzählstrukturen in der Darstellung des Landpartie-Topos beobachten: Nicht nur sind in den Romanen stets eigene Kapitel mit der Schilderung der Landpartien befasst, darüber hinaus finden sich diese – »als episch genau kalkulierte und integrierte Ausnahmesituati-
1.2 Aufbau der Studie und Textauswahl
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on«12 – stets an strategischer Stelle innerhalb der Romantektonik (siehe Kapitel 2.3.2). Auf der Basis dieser systematischen Überlegungen widmet sich Kapitel 3 dann einer ersten Analyse und Interpretation des Landpartie-Topos in den ausgewählten Romanen. Dem typischen Verlauf einer Landpartie folgend, steht dabei die Frage nach den motivationalen Hintergründen ebenso im Fokus wie das Treffen der organisatorischen Vorkehrungen durch die Romanfiguren. Was auf den ersten Blick wenig aussagekräftig erscheinen mag, wird sich jedoch als von zentraler Relevanz erweisen. Denn mit der Entscheidung über die Teilnehmerschaft, das Ziel der Landpartie usw. werden textintern von den Figuren Arrangements getroffen, die auf der Metaebene der Erzählstrategie entsprechen und dieser in die Hände spielen. Die Untersuchung der Romane orientiert sich in diesem Kapitel an der zugrundeliegenden Motivation. Dabei lassen sich in den Romanen Fontanes zwei graduell differierende Modelle identifizieren, je nachdem, welchem der festen motivationalen Konstituenten einer Landpartie größeres Gewicht zufällt, der ›Flucht‹ oder der ›Gesellschaftlichkeit‹. Potenziert sich der Grad der Gesellschaftlichkeit, wenn die Landpartien als ritualisierte »Unterbrechungen des täglichen Lebens und seiner Gewohnheiten« in geselliger Runde zelebriert und inszeniert werden, so können Landpartien ebenso primär aus dem Wunsch erfolgen, als »Ausflüge aus der Gesellschaft, aus ihrer gewohnten Ordnung und aus ihren Pflichten«13 und mithin als temporäre Gesellschaftsflucht zu fungieren (siehe Kapitel 3.1 und 3.2). Das nachfolgende Kapitel 4 befasst sich mit den räumlichen Figurationen Fontanescher Landpartien. Indem das Konzept einer Landpartie genuin darin gründet, einen anderen Erfahrungsraum aufzusuchen, mag sich erklären, weshalb die diesbezüglichen Ausführungen ihrerseits viel Raum für sich beanspruchen und ein derart umfangreiches Kapitel erfordern. Schließlich wird mit Raum und Räumlichkeit im Medium der Literatur ›ein weites Feld‹ der Forschung betreten, das angesichts der Fülle und Heterogenität raumtheoretischer Terminologien und Diskurse notwendig nach einer Eingrenzung verlangt. Dem kommt die vorliegende Studie nach, indem sie sich auf Denkansätze Michel de Certeaus und Jurij Lotmans konzentriert, die für das Vorhaben, den Landpartie-Topos in Fontanes Gesellschaftsromanen zu analysieren und interpretieren, besonders geeignete Konzepte und mithin fruchtbare theoretische Ansätze bereitstellen (siehe Kapitel 4.1). 12 Hans-Heinrich Reuter, Fontane. Bd. 2, München 1968, S. 942. 13 Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 264.
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1 Einleitung
Certeaus grundlegende Unterscheidung zwischen Orten und Räumen sowie die ihnen zugeordneten statischen sowie dynamischen Qualitäten initiieren das Vorhaben, Fontanes Romane und die von ihnen präsentierten Landpartien nicht allein unter der Kategorie des Raumes zu betrachten, sondern ebenfalls die Frage nach ihren Orten und Verortungen zu berücksichtigen. Dafür spricht nicht zuletzt, dass die Landpartie-Ziele wie überhaupt die Mehrzahl der Romanschauplätze bei Fontane im geographischen Koordinatensystem der außertextuellen Welt mehr oder minder exakt lokalisiert werden können. Das Wissen um Fontanes Selbstverständnis und den »Kunstcharakter [sein]er Werke« lässt es geraten erscheinen, den narrativen Verfahren und Strategien topographischer Verortungen nachzugehen; »denn auch der geographische Ort unterliegt bei Fontane einer künstlerisch-funktionalen Gestaltung«14. Zu dieser Gestaltung zählt neben der Evokation eines grundsätzlich glaubwürdigen ›Totaleindrucks‹ vor allem die Korrespondenz von Ort und Romanfiguren im Sinne einer sozialen und individuellen Charakterisierung. Wie die Wohnorte, rekurrieren auch die für die Landpartie ausgewählten Ausflugsorte auf den sozialen Status und Habitus der teilnehmenden Gesellschaft (siehe Kapitel 4.1.1). Auch wenn dem von den Landpartien realisierten Raumwechsel angesichts der aufgesuchten Topographien kein strikt binäres Raummodell (im Sinne von Natur vs. Kultur, Stadt vs. Land) zugrunde liegt, erweist es sich dennoch als überaus lohnend, die Landpartien in Fontanes Romanen in Rekurs auf Jurij Lotmans kultursemiotische Raumtheorie zu betrachten. Bildet in Lotmans Konzept die Grenzüberschreitung ein ›revolutionäres Element‹, wird sie bei Fontane in Form der Landpartie als ritualisiertes Gesellschaftsvergnügen inszeniert. Die im Rahmen der Landpartie vollzogene Grenzüberschreitung zeigt sich dabei zunächst als topographische: Doch statt nach Lotman von einem in den anderen ›disjunkten Teilraum‹ zu überführen, wird mit der Landpartie ein Grenzraum betreten, der in topographischer und semantischer Hinsicht ein hybrides Korrelat der üblicherweise als Oppositionen verstandenen Räume ›Natur und Kultur‹ oder ›Stadt und Land‹ darstellt. Diese Hybridität zeichnet überdies für die Überschreitung normativer Grenzen, die von den Landpartie-Episoden initiiert werden, und mithin für das von ihnen ausgehende Handlungspotential verantwortlich. Kann die Landpartie zum einen überhaupt einen Möglichkeitsraum konstituieren, entgegen gesellschaftlicher Ansprüche ein Verhältnis einzugehen respektive auszuleben, können Landpartien zum anderen die amourös-libidinösen Annäherungen 14 Christian Grawe, Der Fontanesche Roman. In: Ders. und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 466–488, hier S. 480.
1.2 Aufbau der Studie und Textauswahl
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von Figuren derart dynamisieren, dass diese im weiteren Handlungsverlauf in Form von Verführung und Ehebruch normative Grenzverletzungen nach sich ziehen (siehe Kapitel 4.1.2). Bevor diese hybriden Grenzräume jedoch als Schauplätze der Landpartien in Erscheinung treten, müssen sie von den Figuren allererst erreicht werden. Über das in vergleichender Perspektive ausgeschöpfte Spektrum der im Kontext der fiktiven Handlungszeit zur Verfügung stehenden Fortbewegungsmittel soll an den Texten die technische, infrastrukturelle und touristische Erschließung des Raumes im 19. Jahrhundert demonstriert werden. Darüber hinaus wird beleuchtet, wie die Wahl des Verkehrsmittels, der Reisemodus als Mittel der sozialen wie individuellen Figurencharakterisierung fungiert (siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.2). In drei Romanen werden die Figuren zudem im Moment der Reise, ihrer Durchquerung und Erfahrung des Reiseraumes präsentiert: Indem das vorindustrielle Beförderungsmittel der Kutsche ebenso Verwendung findet wie die modernen Verkehrsmittel der Eisenbahn und des Dampfschiffes, wird in der Zusammenschau der Romane verdeutlicht, wie Wahrnehmungsfähigkeiten und -möglichkeiten dem historischen Wandel unterliegen – und wie Literatur als ästhetischer Speicher bewusstseinshistorischer Reaktionen auf die zunehmende Dynamisierung des Reisens fungieren kann (siehe Kapitel 4.2.3). Kündigen schon die vorhandenen Infrastruktursysteme und die durchreisten Landschaften an, dass die Landpartien wohl kaum in unberührt natürliche Enklaven führen, wird sich dieser Eindruck angesichts der Ausflugsorte und ihrer topographischen Beschreibung bestätigt sehen und im nachfolgenden Kapitel behandelt. So soll anhand der Texte herausgearbeitet werden, dass die Romanfiguren vor Ort ein professionalisierter und institutionalisierter Dienstleistungsapparat erwartet, der exakt auf ihre Bedürfnisse spezialisiert ist und der von den Figuren unmittelbar nach ihrer Ankunft in Anspruch genommen wird: »Pointiert zeigen Fontanes Texte die Paradoxien des Nahtourismus auf, der unmöglich macht, worauf er vorgeblich zielt: das Erleben von Natur, von einfachem Dasein und ein Heraustreten aus dem gewohnten bürgerlichen Lebenskreis.«15 Damit aktualisiert sich ein Landpartie-Konzept, das in erster Linie gesellig-kulinarisch motiviert ist und die Naturbegegnung als zweitrangig oder gar entbehrlich klassifiziert. Schließlich sollen an den sowohl visuell als auch akustisch evozierten Landschaften die Kulturalisierung
15 Katharina Grätz, Landpartie und Sommerfrische. Der Ausflugsort in Fontanes literarischer Topographie. In: Michael Neumann und Kerstin Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 77–92, hier S. 83.
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der Landpartie-Natur und damit die topographisch vergegenwärtigte Grenzverwischung beleuchtet werden (siehe Kapitel 4.3.1). Eine eingehendere Analyse der Topographien im Spannungsfeld von Natur und Kultur erfordert Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen, dem daher ein eigenes Unterkapitel gewidmet wird. Denn nicht nur die Topographien der Landpartie, sondern sämtliche Schauplätze, die den Figuren als Möglichkeitsräume ihrer nicht normkonformen Liebesbeziehung fungieren, kennzeichnet ein Verfahren, das einerseits die Konstitution von Naturidyllen betreibt und diese andererseits zugleich demontiert (siehe Kapitel 4.3.2). Mit der Beobachtung, dass sich die Topographien der Landpartien bei Fontane ästhetisch stets zu bildhaften Landschaften formieren und sich als das Produkt einer individuellen Wahrnehmung ausweisen lassen, beschäftigt sich das nachfolgende Unterkapitel. Dabei wird zu erörtern sein, inwiefern die Korrelation von Landschaften, ihre Formierung zu Bildern sowie ihre Rückbindung an die Figurenperspektive in den Romanen Fontanes wahrnehmungstheoretisch geleiteten Reflexionen über die Entstehung von Landschaft entspricht, und welche künstlerisch etablierten Muster und Traditionen auf die Komposition von Landschaftsbildern – seien es individuell geschaute oder literarisch evozierte – Einfluss nehmen. Überdies wird das bei Fontane wiederkehrende Motiv der Rahmung figurenperspektivisch wahrgenommener Landschaftsbilder untersucht. Ausgehend von der Dynamisierung von Farben und Formen, wie sie der Blick aus dem Eisenbahnfenster bewirkte, wird sodann zu skizzieren sein, ob und welche Gemeinsamkeiten zwischen Fontane und der impressionistischen Malerei im Bezug auf Darstellungstechniken, Sujets und Settings zu beobachten sind. Abschließend gilt es, die Funktion der Landschaftsdarstellungen bei Fontane herauszustellen: Als Produkte der Figurenwahrnehmung sind ihnen die Stimmungen der Betrachtungsinstanz eingeschrieben (siehe Kapitel 4.3.3). Zu den Einflussfaktoren, denen die Wahrnehmung der äußeren Umwelt unterliegt, zählen neben Bildmustern und Stimmungslagen jedoch auch psychosoziale Erwartungshaltungen, die der Raumwahrnehmung vorausgehen. Wie die Landpartie-Episoden in Fontanes Romanen dies ästhetisch reflektieren, wird das nachfolgende Unterkapitel nachzeichnen. Denn die Figuren zeigen sich auf den Landpartien weniger für die Hybridität des betretenen Grenzraumes empfänglich, sondern wähnen sich vielmehr in einem ›anderen‹ Raum. Diese von den Figuren imaginierte Alteritätserfahrung äußert sich einerseits in der Projektion eines Evasionsraumes, andererseits in einem kolonialen Gestus kultureller Überlegenheit (siehe Kapitel 4.4). Das letzte, die Studie abschließende Kapitel 5 beschäftigt sich dann eingehend mit der auffälligen Interdependenz von Geselligkeits- und Liebeshand-
1.2 Aufbau der Studie und Textauswahl
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lung im Rahmen der Fontaneschen Landpartien. Verantwortlich dafür zeichnet ein fester Landpartie-Programmpunkt: das Moment der Bewegung in Form von Spaziergängen und Bootsfahrten. Diesem gewinnt Fontane mit Blick auf die Handlung ein katalysierendes Potential ab, indem er spezifische Figuren in eine vertrauliche, gleichermaßen kommunikative wie körperliche Nähe versetzt. Die mit der Figurenchoreographie verfolgte Erzählstrategie bleibt auf der Handlungsebene verborgen, weil die Zusammenführung der Figuren als spielerisch und zufällig inszeniert wird. In vergleichender Perspektive wird zunächst herauszuarbeiten sein, wie die Landpartie als Knotenrespektive Kondensationspunkt der einzelnen Romane fungiert, in dem die vorab gesponnenen Erzählfäden zusammenlaufen und miteinander verwebt werden, so dass das Geflecht der weiteren Handlung entscheidend bestimmt wird. Darüber hinaus soll gezeigt werden, dass das etablierte Erzählmuster in den einzelnen Texten zwar stets aufgegriffen wird, dass sich dabei aber in chronologisch-textgenetischer Perspektive in den späteren Romanen ein ironisches Spiel mit dem eigenen Muster und den damit verbundenen Leseerwartungen beobachten lässt (siehe Kapitel 5). Diese in der vorliegenden Studie anzustellenden Analysen des LandpartieTopos bei Fontane beziehen sich primär auf folgendes Textkorpus: L’Adultera, Schach von Wuthenow, Cécile, Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin. Enthalten Untersuchungen, die von abstrakten Erkenntnisinteressen geleitetet sind, einleitend häufig lange Passus, in denen die Werkauswahl erklärt und begründet werden muss, kann hinsichtlich der hier getroffenen Entscheidung für diese sechs Romane zunächst die basale Tatsache angeführt werden, dass der Landpartie-Topos dort eine ausführliche Bearbeitung erfährt.16 Und doch bedarf es auch an dieser Stelle insofern einer Rechtfertigung, als mit Graf Petöfy, Unwiederbringlich und Effi Briest weitere Romane Fontanes genannt werden könnten, die eine Berücksichtigung unter der Fragestellung ebenfalls legitimieren könnten. Die Konzentration auf die genannten sechs Romane erweist sich für diese Studie jedoch als ebenso hilfreich wie zweckmäßig: Zum einen gewährt die Fokussierung auf dieses Textkorpus eine differenzierte Analysearbeit und Ergebnissicherung in relativ überschaubarem Umfang. Zum anderen enthalten Graf Petöfy, Unwiederbringlich und Effi Briest zwar ebenfalls Partie-Episoden, die überdies der Landpartie vergleichbaren Erzählmustern und -funktionen folgen – und doch machen sich darüber hinaus Unterschiede zu demjenigen Landpartie-Konzept geltend, das
16 Zur ausführlichen Argumentation, weshalb der Roman Cécile dem Textkorpus zugerechnet wird, vgl. Kapitel 3.2.1.
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die Studie näher untersuchen will: Denn wird sich für die ausgewählten Texte als entscheidend erweisen, dass die Landpartien dort von Berlin ausgehen und mithin von Städtern unternommen werden, führen die Partien in Graf Petöfy, Unwiederbringlich und Effi Briest nicht punktuell in ein naturhaftes Setting, sondern sind genuin in dieses eingelassen. Zwar wird die Natur dort ebenfalls als (vermeintlicher) Gegen- und Möglichkeitsraum konfiguriert respektive imaginiert, doch bezieht das Spannungsfeld von Natur und Kultur in L’Adultera, Schach von Wuthenow, Cécile, Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin vor dem Hintergrund des Raumwechsels von Stadt zu Land eine ungleich emphatischere Akzentuierung. Auch wenn die Studie also auf die genannten sechs Romane ihren Schwerpunkt legt und sie als primäre Untersuchungsgegenstände behandelt, werden selbstverständlich weitere Texte Fontanes – darunter auch Graf Petöfy, Unwiederbringlich und Effi Briest – ergänzend hinzugezogen. Verhilft dieses ab- und vergleichende Vorgehen den Ausführungen einerseits zu mehr Tiefenschärfe, wird andererseits das dichte intertextuelle System wechselseitiger Bezüge deutlich, das Fontanes Œuvre durchzieht. Genannt seien zum Beispiel die Wiederkehr, Adaption und Modifikation von Symbolen, Motiven, Figuren, Schauplätzen, Erzähltechniken oder Diskursen. – Zu den konsultierten Werken sind neben anderen fiktionalen Erzähltexten unbedingt Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, seine Briefe, seine Reiseberichte aus England und Schottland sowie seine kunst- und literaturkritischen Aufsätze zu zählen. Doch auch über den inneren Kosmos der Fontaneschen Schriften hinaus zeigen sich fruchtbare und gewinnbringende Anknüpfungspunkte zu weiteren Sach- respektive Theorietexten: Während das Hinzuziehen von Reiseführern und Ratgeber-Literatur aus den 1880er und 1890er Jahren »die Fülle der Zeitbezüge« in Fontanes Werk verdeutlicht, lässt sich die dort eingeschriebene »subtile Reflexion geistiger Strömungen« und des »geistesgeschichtliche[n] Umfeld[es]«17 u. a. daran erkennen, dass sich Georg Simmel fast zeitgleich wissenschaftlich mit ähnlichen Themen beschäftigte, wie sie Fontane literarisch-ästhetisch verarbeitete. Natürlich findet auch die breite literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsliteratur zu Fontane und anverwandten Themen ihre eingehende Berücksichtigung. Angesichts der Fülle von Beiträgen, die sich mit Fontanes Leben und Werk befassen, ist es indes erstaunlich, dass die Relevanz des Landpartie-Topos zwar schon oft beobachtet und hervorgehoben wurde,
17 Christian Grawe, Vorwort. In: Ders. (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 2008, S. 7–12, hier S. 11.
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bisher jedoch keine umfassende und eigenständige Untersuchung dazu vorliegt.18 Diesen Umstand zu beheben und weitere Forschung zur Landpartie bei Fontane zu initiieren, ist die Absicht der vorliegenden Studie.
18 Der bisherige Stand der Forschung soll hier – um Redundanzen zu vermeiden – nicht eigens rekapituliert werden, denn dieser wird sich über die herangezogene Forschungsliteratur im Verlauf der Studie hinreichend abbilden. Herausgehoben werden soll an dieser Stelle einzig Peter Demetz, Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1973, kann diese Untersuchung doch als gleichermaßen wegweisend und wegbereitend für die vorliegende Studie gelten.
2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans 2.1 Grundlegende Gattungs- und Genrefragen Mit L’Adultera, Schach von Wuthenow, Cécile, Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin stehen sechs Erzähltexte Theodor Fontanes im Zentrum der vorliegenden Untersuchung, die neben ihrer Bearbeitung des Landpartie-Topos weitere Parallelen aufweisen. Neben der zeitlichen Nähe der Werke – sie alle wurden in den 1880er und 1890er Jahren verfasst und publiziert –, besteht eine explizit thematische, denn das Handlungsgeschehen fokussiert stets gesellschaftlich-gesellige Lebensformen und Praktiken eines in Berlin beheimateten Figurenkreises. Mit Berlin »führt Fontane die deutsche Prosa des 19. Jahrhunderts […] an den zentralen Schauplatz, die moderne Metropole, die im realistischen Roman Europas schon lange als unverzichtbar bei der Darstellung der modernen Welt gilt.«1 Mithin bewegt sich der Plot der Texte nicht in einem zeitlich diffusen, ›luftleeren‹ Raum, vielmehr verweist die Nennung realhistorischer Ereignisse, Orte und Persönlichkeiten auf den ›Wirklichkeitssinn‹ der Romane, handeln sie doch von der Gegenwart des deutschen Kaiserreiches, der Gegenwart des Schriftstellers Fontane: »Lebensart, Sitte, Verhalten, Idiomatik sind der zeitgenössischen Leserschaft wohlvertraut; es bedarf keines Hinweises auf Heute und Damals; alles ist fast Heute.«2 Eine Ausnahme stellt hier nur der Text Schach von Wuthenow dar, der die Leser in das Jahr 1806, das Jahr der Niederlage Preußens versetzt. Indem dort aber »das Vergangene mit dem Gegenwärtigen vermittelt; das Heute […] sich als Resultat, Antwort oder Zwickmühle gestriger Vorgänge«3 erweist, kann auch hier ein zeitlicher Konnex zur Gegenwart des Kaiserreiches konstatiert werden. Der Erörterung, inwiefern die skizzierten Analogien mit einem spezifischen Genre korrelieren, muss zunächst eine grundsätzlichere gattungstheoretische Binnendifferenzierung vorausgehen, denn die bisher allgemein als Er-
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Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 469. Demetz, Formen des Realismus, S. 25. Hugo Aust, Fontanes Poetik. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 412–465, hier S. 454.
https://doi.org/10.1515/9783110572698-002
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans
zähltexte bezeichneten Prosawerke wurden durch den Autor Fontane in den Paratexten oder autobiographischen Schriften mit den differierenden Begriffen ›Roman‹, ›Novelle‹ und ›Erzählung‹ versehen. Nun sind mit ›Erzählung‹ und ›Novelle‹ Termini aufgerufen, die je für sich sowie in gegenseitiger Abgrenzung in ihrer Legitimation als Gattungsbegriffe umstritten sind,4 doch bedarf es im Bezug auf Fontane keiner umfassenden Theoriedebatte. Hier kann die Feststellung genügen, dass die Definitionen von ›Novelle‹ und ›Erzählung‹ jeweils das Kriterium des Umfangs als entscheidend bestimmen und dies insbesondere im Verhältnis zur Gattung des ›Romans‹. Fontanes Bezeichnungspraxis kennzeichnet ein wenig dogmatischer Umgang mit den gattungstypologischen Begriffen, »denn sie werden pragmatisch, marktgerecht und unverbindlich benutzt«5. Darüber hinaus gilt Fontane seit dem 20. Jahrhundert literarhistorisch unbestritten als großer Romancier. Und »[d]ieses posthume Urteil besteht zurecht, denn Fontanes Werke sind durchweg nicht novellistisch konzipiert, sondern auf größeres Gleichmaß und größeren Umfang angelegt.«6 Daher werden die Erzähltexte Fontanes – ungeachtet ihrer zum Teil wechselnden Untertitel – fortan dem Begriff ›Roman‹ subsumiert. Während in der Verpflichtung auf den Terminus ›Roman‹ als übergeordneten Gattungsbegriff in der Forschung allgemeiner Konsens besteht, kulminieren weitergehende Versuche, die Romane unter Berücksichtigung ihrer stofflich-thematischen Dimension genretypologisch eindeutiger zu fixieren, in einer Begriffsvielfalt. Begründet die literarische Topographie Berlins ob ihrer Zentralität und Relevanz die Bezeichnung ›Berliner-Roman‹7, so wird überwiegend das je unterschiedlich gewichtete Thema des ›Sozialen‹ nominell konstitutiv. Rekurrieren die Termini ›Zeitroman‹8 und insbesondere ›Gesell-
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Vgl. Lars Korten, [Art.] Novelle. In: Dieter Burdorf et al. (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, Stuttgart 2007, S. 547f.; Uwe Spörl, [Art.] Erzählung. In: Ebd., S. 208f. Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 470. Vgl. zur ›Novellen-Frage‹ bei Fontane auch Aust, Fontanes Poetik, S. 457; M.[anfred] Windfuhr, Fontanes Erzählkunst unter den Marktbedingungen ihrer Zeit. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 335–346. Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 471. Vgl. dazu exemplarisch Henry Garland, The Berlin Novels of Theodor Fontane, Oxford 1980; Rüdiger Steinlein, Die Stadt als geselliger und ›karnevalisierter‹ Raum. Theodor Fontanes ›Berliner Romane‹ in anderer Sicht. In: Ders., Erkundungen. Aufsätze zur deutschen Literatur (1975–2008), Heidelberg 2009, S. 40–66. Vgl. dazu exemplarisch Paul Böckmann, Der Zeitroman Fontanes. In: Wolfgang Preisendanz (Hrsg.), Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 80–110; Albrecht Kloepfer,
2.1 Grundlegende Gattungs- und Genrefragen
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schaftsroman‹9 auf Fontanes Beitrag zur europäischen Romantradition des 19. Jahrhunderts, dessen spezifisch deutsch-wilhelminische Ausprägung mittels der ebenfalls zu findenden topographischen Ergänzung ›Berliner Gesellschaftsroman‹10 explizit benannt ist, prägte Müller-Seidel das seine einschlägige Untersuchung betitelnde Begriffspaar ›soziale Romankunst‹11, das die thematische und kunstästhetische Dimension von Fontanes Werken eng zusammenführt. Dass es sich bei der dargestellten Gesellschaft dabei mehrheitlich um eine (groß-)bürgerlich-feudale handelt, stellen die Bezeichnungen ›Schloßgeschichten‹12 und ›Roman der guten Gesellschaft‹13 pointiert heraus. Ein einzelner, dezidiert thematischer Aspekt zeichnet für die Begriffe ›Eheromane‹14 oder auch ›Ehebruchromane‹15 verantwortlich, die demgemäß weder allen Romanen Fontanes überhaupt noch der hier verhandelten Werkauswahl als adäquate Bezeichnung gereichen können. In der vorliegenden Untersuchung werden die ausgewählten Romane Fontanes dem Genre des Gesellschaftsromans zugerechnet und damit in eine europäische Literaturtradition gestellt. Wenn Titzmann im Hinblick auf die Terminologie des Gesellschafts- respektive Zeitromans16 eigens konstatiert,
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Fontanes Berlin. Funktion und Darstellung der Stadt in seinen Zeit-Romanen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 42 (1992), S. 67–86. Vgl. dazu exemplarisch Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Bad Homburg 1970 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, Bd. 12); Anja Kischel, Soziale Mobilität in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen, Frankfurt am Main 2009 (= Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, Bd. 70). Vgl. dazu exemplarisch Ulrike Haß, Theodor Fontane. Bürgerlicher Realismus am Beispiel seiner Berliner Gesellschaftsromane, Bonn 1979; Irmela von der Lühe, ›Wer liebt hat recht.‹ Fontanes Berliner Gesellschaftsroman ›L’Adultera‹. In: Fontane Blätter 61 (1996), S. 116–133. Müller-Seidel, Soziale Romankunst. Karla Müller, Schloßgeschichten. Eine Studie zum Romanwerk Theodor Fontanes, München 1986. Demetz, Formen des Realismus, S. 99. Angela Isenberg, Effi auf Abwegen. Fremdheit und Befremdung in den Eheromanen Theodor Fontanes, Marburg 2002. Kathrin Bilgeri, Die Ehebruchromane Theodor Fontanes. Eine figurenpsychologische, sozio-historische und mythenpoetische Analyse und Interpretation. Univ. Diss. Freiburg 2007. https://www.freidok.uni-freiburg.de/data/3879 (letzter Zugriff am 06. 02. 2016). Gesellschafts- und Zeitroman sind gemäß Titzmann »sehr unscharfe Begriffe geblieben, über deren Bedeutung u. Anwendbarkeit nur ein ungefährer Konsens besteht« (Michael Titzmann, [Art.] Gesellschaftsroman, Zeitroman. In: Walther Killy (Hrsg.), Literatur Lexikon. Bd. 13, München 1992, S. 372–376, hier S. 372). Während Titzmanns Konkretisationsversuch beiden Begriffen gemeinsam gilt, konstatiert Hasu-
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans
dass »[d]iese Begriffe […] als nicht-evaluative zu verwenden« sind und ihre Anwendung auf einen Roman »über seine Qualität nichts aus[sagt]«17, so kann dies als Reflex auf gewisse Tendenzen in der Literaturgeschichte verstanden werden. »Die spezifisch deutsche Geringschätzung des Gesellschaftsromans«18 im 19. Jahrhundert betraf indes weniger die Terminologie oder Qualität einzelner Texte, sondern bezog sich vielmehr grundsätzlich auf den Genretypus und fußte überdies in einer generellen Geringschätzung der Gattung des Romans. Erklärungsmodelle für diese genuin deutsche Spezifik sind primär literarhistorisch und kunstästhetisch begründet, korrelieren jedoch aufs engste mit politischen Entwicklungen.
2.2 Fontane und die Verspätung des deutschen Gesellschaftsromans Der Aufstieg des Romans »zur führenden literarischen Gattung« im 18. und insbesondere 19. Jahrhundert erklärt sich aus seiner Eigenschaft heraus, »das Kulturproblem des Zeitalters, den Gegensatz zwischen Individualismus und Gesellschaft, am umfassendsten und tiefsten zum Ausdruck«19 zu bringen. Vor dem Hintergrund der fundamentalen politischen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen, der damit einhergehenden zunehmend komplexer werdenden Lebenswelt sowie des tiefgreifenden sozialen Strukturwandels bek hingegen eine differentielle und zugleich evaluative Begriffsbestimmung: »Schwierigkeiten bietet weiterhin die Abgrenzung des Zeitromans vom Gesellschaftsroman […]. Der Zeitroman entfaltet zwar auch ein Bild der Gesellschaft, aber er ist nicht nur Gesellschaftsroman. In stofflicher wie auch in formaler Hinsicht geht das Darstellungsziel des Zeitromans über das des Gesellschaftsromans hinaus, wenngleich die Grenzen zwischen beiden Romantypen fließend sind« (Peter Hasubek, Der Zeitroman. Ein Romantypus des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 87 (1968), S. 218–245, hier S. 219). Indem eine präzise Definition des Gesellschaftsromans ausbleibt und zudem die Schwierigkeit eingestanden wird, insbesondere bei Fontane »die Trennlinie zwischen Gesellschaftsroman und Zeitroman immer klar zu ziehen« (ebd., S. 221), muss die vorgenommene Unterscheidung an Überzeugungskraft mangeln. 17 Titzmann, Gesellschaftsroman, Zeitroman, S. 372. 18 Keith Bullivant, Der deutsche Gesellschaftsroman des neunzehnten Jahrhunderts. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hrsg.), Das verschlafene 19. Jahrhundert? Zur deutschen Literatur zwischen Klassik und Moderne, Würzburg 2005, S. 43– 51, hier S. 44. 19 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. Bd. 2, Dresden 1987, S. 657.
2.2 Fontane und die Verspätung des deutschen Gesellschaftsromans
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durch die sich ausdifferenzierende bürgerliche Gesellschaft tat sich der Roman als diejenige Gattung hervor, die auf die veränderten Lebensbedingungen zu reagieren und diese formal wie inhaltlich adäquat zu reflektieren vermochte. Die Ursachen für dieses produktive Potential des Romans, der Moderne als repräsentative Gattung zu gereichen, benennt schon Hegel in seiner Ästhetik, wenn er »dem Roman, der modernen bürgerlichen Epopöe« attestiert, dass dort »der Reichtum und die Vielseitigkeit der Interessen, Zustände, Charaktere, Lebensverhältnisse, der breite Hintergrund einer totalen Welt sowie die epische Darstellung von Begebenheiten«20 wie im Epos wirksam werden. »Was jedoch« gemäß Hegel dem Roman im Gegensatz zum Epos »fehlt, ist der ursprünglich poetische Weltzustand, aus welchem das eigentliche Epos hervorgeht. Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus«21. Sind damit auch weitreichende Einsichten verbunden,22 so gilt »der Roman bei Hegel […] noch als Reduktionsform der Dichtung […], deren Wandlung von der ›Poesie‹ zur ›Prosa‹ als Pendant einer Wandlung ›poetischer‹ zu ›prosaischen Lebensumständen‹ erscheint.«23 Dem Roman bringt Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik also wenig Anerkennung entgegen, erwähnt ihn nur als »Randphänomen des Epischen«24 und verhandelt ihn folglich nur am Rande. Ungeachtet der durch Hegel prominent repräsentierten Geringschätzung in der deutschen Ästhetik, ist für den modernen Roman grundsätzlich kennzeichnend, dass er aus einer ›prosaischen‹, weil realistisch-bürgerlichen Welt erwächst und seine, seit der Empfindsamkeit wirksame Tendenz zur Psycho-
20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3. In: Ders.: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ed. Ausgabe. Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 15, Frankfurt am Main 1993 (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, Bd. 615), S. 392. 21 Ebd. 22 »Mit seiner semantischen Entgrenzung der Begriffe von Poesie und Prosa hinterließ Hegel der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts eine Erbschaft, an der sie sich über Jahrzehnte abarbeitete« (Inka Mülder-Bach, ›Verjährung ist […] etwas Prosaisches‹. ›Effi Briest‹ und das Gespenst der Geschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), S. 619–642, hier S. 620). 23 Titzmann, Gesellschaftsroman, Zeitroman, S. 372f. Die berühmte Passage, auf die Titzmann hier rekurriert, lautet im Original bei Hegel: »Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, S. 393). 24 Bruno Hillebrand, Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit, Stuttgart 1993, S. 195.
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans
logisierung und Subjektivierung damit verbindet. Der Roman des 19. Jahrhunderts »spielt nicht mehr in der einheitlichen Welt des Mythos, sondern in der bürgerlichen Welt und ist geprägt von der modernen bürgerlichen Subjektivität.«25 Darüber hinaus ist ihm das Wissen um die Wirkmacht gesellschaftlicher Bedingungen und Bedingtheiten eingeschrieben, in deren Spannungsfeld sich das bürgerliche Subjekt bewegt und die den Möglichkeiten der individuellen Entwicklung, Entfaltung und Glücksaussicht enge Grenzen setzen. Obwohl damit ein gemeinsames Signum der europäischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts benannt ist, »gibt [es] Unterschiede in der Form und es gibt solche im zeitlichen Verlauf. Vor allem gibt es Unterschiede der Nationalität«26. Denn während sich in Frankreich, England und Russland mit den Werken Flauberts, Balzacs, Dickens, Thackerays, Tolstois und Dostojewskis im 19. Jahrhundert Genre und Tradition des europäischen Gesellschaftsromans begründen und literarhistorisch nachhaltig etablieren, mit Romanen also, die bis heute dem Kanon der Weltliteratur zugerechnet werden, mutet die deutschsprachige Literaturlandschaft der Zeit vergleichsweise anachronistisch an. Paradigmatisch heißt es in Auerbachs wegweisender Untersuchung dazu: [B]is gegen Ende des 19. Jahrhunderts blieben die bedeutendsten Werke, die überhaupt Gegenstände der zeitgenössischen Gesellschaft ernsthaft zu gestalten suchen, im halb Phantastischen oder Idyllischen oder doch wenigstens im engen Bezirk des Lokalen; sie geben das Bild des Wirtschaftlichen, Gesellschaftlichen und Politischen als ein ruhendes.27
Bleiben also selbst jene deutschsprachigen Romane, die die zeitgeschichtliche Wirklichkeit zur schildern versuchten, hinter der kaleidoskopischen Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der modernen Welt und in der »Neuinterpretation der Relation von Individuum u[nd] Gesellschaft«28 hinter den europäischen Gesellschaftsromanen zurück, so muss dies erst recht für zwei Texte des 19. Jahrhunderts gelten, die über die deutsche Literaturgeschichte hinaus Rang und Namen erworben haben: Der Nachsommer und Der grüne Heinrich. Indem Adalbert Stifter und Gottfried Keller damit zwei Bildungsromane vorlegten, die »die These vom persönli-
25 Silvio Vietta, Der europäische Roman der Moderne, München 2007, S. 16. 26 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 19. 27 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Tübingen 1994, S. 420f. 28 Titzmann, Gesellschaftsroman, Zeitroman, S. 372.
2.2 Fontane und die Verspätung des deutschen Gesellschaftsromans
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chen Lernprozeß mit anschließender erfolgreicher Integration in die Gesellschaft«29 – wenn auch modifizierend – aufgreifen, stellen sie sich eindeutig in die von Goethes ›Wilhelm Meister‹ begründete Genretradition. Dass in beiden Romanen damit weder die schonungslose Darstellung moderner Kontingenzerfahrung noch ein sozialkritischer Impetus verbunden sein konnte, ist für dieses Romanmodell konstitutiv: »Das Scheitern des Einzelnen erscheint im Bildungsroman nicht als Scheitern an unerträglichen sozialen und politischen Verhältnissen, die als solche nicht thematisch werden, es wird stattdessen als individuelles Nicht-Gelingen, wenn nicht als Pathologie verbucht«30. Der deutsche Roman gewinnt »– als Gesellschafts- oder als Zeitroman – erst spät den Anschluß an die Entwicklung der europäischen Literatur […]. Man denkt zumal an Theodor Fontane.«31 Fontane und den durch ihn repräsentierten Beitrag der deutschsprachigen Literatur zur Tradition des europäischen Gesellschaftsromans bedenkt auch Auerbach in seiner Studie. Dabei erkennt er zwar Fontanes Verdienst und das seine Romane kennzeichnende Alleinstellungsmerkmal an, die zeitgeschichtliche Wirklichkeit lebendig zur Darstellung gebracht zu haben, zugleich verbindet er damit jedoch eine evaluative Einschätzung, die Fontanes literarische Kunstfertigkeit herabsetzt:32 »Erst nach 1880 gelangt der damals schon mehr als sechzigjährige Fontane zur vollen Entwicklung als Darsteller zeitgenössischer Gegenstände; er scheint mir weit geringeren Ranges als etwa Gotthelf, Stifter oder Keller, aber seine kluge und liebenswürdige Kunst gibt uns doch das beste Bild der Gesellschaft seiner Zeit, das wir besitzen«33. Mit Auerbachs Hinweis auf Fontanes fortgeschrittenes Alter, in dem er als Romancier debütiert und reüssiert, kann
29 Bullivant, Der deutsche Gesellschaftsroman des neunzehnten Jahrhunderts, S. 47. 30 Clemens Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans in Deutschland. In: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche, Autoren, Werke, Darmstadt 2007, S. 157–172, hier S. 164. 31 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 20. 32 Chambers legt überzeugend dar, wie subjektiv, anfechtbar und folgenreich Auerbachs Einschätzung ist. Denn indem dieses »Urteil […] auf einer ausgesprochenen Vorliebe, auf subjektiven und analytisch nicht nachweisbaren Kriterien beruht«, richtet »Auerbach großen Schaden an[…]. Auerbach, dessen Status und Autorität ihn dazu prädestiniert hätten, den deutschen Realismus aus seiner Isolation ans Licht des westeuropäischen Literaturbewusstseins zu führen, verursachte so stattdessen den Kurzschluss, der Fontane und die anderen über Jahre vom Rest Europas abschnitt« (Helen Chambers, Theodor Fontanes Erzählwerk im Spiegel der Kritik. 120 Jahre Fontane-Rezeption, Würzburg 2003, S. 138f.). 33 Auerbach, Mimesis, S. 480.
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sodann die »Verspätung des deutschen Romans«34 überaus sinnfällig in Zusammenhang gebracht werden; nämlich dann, wenn man Fontanes schriftstellerischen Werdegang als symptomatisch mit der politischen Ordnung und dem kunstästhetisch reaktionären Klima seiner Zeit verknüpft sieht.35 Eingedenk seiner Lebensdaten kann Fontane als »Zeuge seines Jahrhunderts« gelten, wobei sein Werk einen umfassenden Reflex dieses 19. Jahrhunderts einfängt, »das gekennzeichnet ist von Widersprüchen und Gegensätzen, von Hoffnungen und Ängsten, vom Pendelschlag zwischen Revolution und Restauration, vom Aufbruch zu neuen Ufern und Rückzug auf die Tradition, von Optimismus und Endzeitgefühl.«36 Fontane erlebte als Zeitzeuge sowohl das Scheitern der Revolution von 1848 als auch die 1871 vollzogene Reichsgründung und insofern zwei Ereignisse, die historiographisch zentrale Bezugspunkte für die Thesen vom deutschen ›Sonderweg‹ und der ›verspäteten Nation‹ bilden.37 Literarhistorisch lässt sich schließlich ein Zusammenhang zwischen der »Rückständigkeit des Romans in Deutschland und der Rückständigkeit im Politischen, Wirtschaftlichen und Sozialen« herstellen; dass der bis 1871 vorherrschende »Provinzialismus und Partikularismus [dem Roman; M. B.] abträglich« war, dafür spricht, dass »sich mit der Reichsgründung die Lage rasch«38 änderte. Wenngleich nach dieser Zäsur mehr Romane publiziert und rezipiert wurden, so darf dies dennoch nicht über die Geringschätzung hinwegtäuschen, die dem Roman weiterhin entgegengebracht wurde: »In der Genrehierarchie der wilhelminischen Gesellschaft stehen Lyrik und Drama über der Prosawelt des Romans«39. Die Gründe hierfür fußen in der Fortdauer ästhetischer Direktiven, die epigonal den Kunstidealen der romantisch-klassischen Ära verpflichtet blieben, wobei die Texte sich sodann in den Dienst eines deutsch-nationalen Patriotismus stellten respektive stellen ließen.40 War schon 34 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 20. 35 Vgl. Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans, S. 163. 36 Dietmar Storch, Theodor Fontane – Zeuge seines Jahrhunderts. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 103–191, hier S. 103. 37 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Bd. 1, München 2000; Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt am Main 1974. 38 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 23. 39 Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans, S. 159. 40 Vgl. am Beispiel Emanuel Geibels Walter Hinck, Epigonendichtung und Nationalidee. Zur Lyrik Emanuel Geibels. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 267– 284.
2.2 Fontane und die Verspätung des deutschen Gesellschaftsromans
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die Gattung des Romans generell nicht dazu angetan, diesem reaktionären Zeitgeist zu entsprechen, so muss dies erst recht für dasjenige Genre gelten, das genuin die sozialen Verhältnisse zur Darstellung bringt: »[D]ie schlechte Reputation des Gesellschaftsromans in der antidemokratischen, deutschen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts ist aufgrund der ständeübergreifenden ›Vermischung‹, wie das realistische Erzählen sie betreibt, nur konsequent. Nivellierende Demokratisierungen, die der Gesellschaftsroman sui generis befördert«41, mussten im politischen System der Kaiserzeit besonderen Argwohn hervorrufen, fürchtete man doch eine Destabilisierung der Ordnung. – Weitere Beweiskraft gewinnt die These eines Zusammenhangs zwischen der Beurteilung des Genres ›Gesellschaftsroman‹ und der politischen Ordnung sowie des ideologischen Wertehorizontes in Deutschland, wenn man Fontanes Werk im Spiegel seiner Rezeptionsgeschichte betrachtet: »Fontane als der herausragende Vertreter« des europäischen Gesellschaftsromans »wird erst im Zuge des Demokratisierungsprozesses der deutschen Nachkriegsgesellschaft entdeckt und kanonisiert«42, während er davor insbesondere als Lyriker sowie als Verfasser von Balladen und den Wanderungen durch die Mark Brandenburg tradiert und geschätzt wurde.43 Wenn Fontane 1882 mit L’Adultera seinen ersten Gesellschaftsroman veröffentlicht, so zeugt dies nicht allein von der ›Rückständigkeit‹ jenes Genres in Deutschland, noch genügt es zu konstatieren, dass er mit diesem und nachfolgenden Werken »den deutschen Roman spät auf die Höhe des europäischen Realismus und an die Grenze der Moderne«44 führt. Vielmehr bleibt zu fragen, was Fontane bewog und befähigte, im fortgeschrittenen Alter jenes literarische ›Neuland‹ zu betreten. Drei Stationen im Leben und Werk Fontanes seien im Folgenden genannt, denen dabei eine wichtige Rolle zuzukommen scheint: der Journalismus, seine Zeit in London sowie die mit Vor dem Sturm eingeleitete Wende zum Romancier.45 Zugleich soll mit dem derart skizzierten Werdegang auch der »Blick für Kontinuitäten« geschärft werden,
41 Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans, S. 160. Vgl. dazu auch Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 16f. 42 Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans, S. 162. Vgl. dazu auch Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 469. 43 Vgl. Ulrike Tontsch, Der ›Klassiker‹ Fontane. Ein Rezeptionsprozess, Bonn 1977 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 217). 44 Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 467. 45 Vgl. dazu auch Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans, S. 165.
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denn bei Fontane hat »das Nacheinander […] eben auch sein Nebeneinander.«46 Zu beginnen ist im vorliegenden Zusammenhang zunächst mit der langjährigen journalistischen Tätigkeit Fontanes: »Die fast drei Jahrzehnte des politischen Journalisten Fontane nehmen im Leben des Schriftstellers Fontane eine Schlüsselstellung ein«, denn sie »beeinflußten sein Schreiben in zeitkritischen Allusionen, prägten den recherchierten Arbeitsstil«47. Zwar liegen über zehn Jahre zwischen dem Ende seiner Tätigkeit als Redakteur der ›Kreuzzeitung‹ 1870 und dem Debüt als Autor von Gesellschaftsromanen in den 1880er Jahren, doch bleibt Fontane Zeit seines Lebens ein informierter und kritischer Beobachter des Tagesgeschehens, das im Kontext der Industrialisierung und Urbanisierung nicht zuletzt von sozialpolitischen Fragen beherrscht wurde. Für den Einfluss des politischen Journalismus auf Fontanes Romanwerk findet Streiter-Buscher ein eindrückliches Bild, das noch über die fortdauernde thematische Sensibilität und Informiertheit hinausreicht: »Im Jahre 1870 waren die Romane noch ungeschrieben. Ihrem Stoff aber gab das Salz der Journalistenjahre jenes Fluidum, das zum ›Fontane-Ton‹ wurde.«48 Eng verknüpft mit Fontanes journalistischem Werk sind überdies seine aus eigener Anschauung gewonnenen Kenntnisse Englands und Schottlands, die er neben kürzeren Aufenthalten insbesondere in den Jahren 1855–1859 als Korrespondent in London gesammelt hat. Seine zahlreichen Schriften aus und über diese Zeit legen unzweifelhaft nahe, »daß die Zeit in England für Fontane schwierig, bereichernd und für seine weitere literarische Entwicklung richtungsweisend ist.«49 Nicht nur beschäftigt er sich intensiv mit der englischen respektive schottischen Literatur, namentlich Scott, Dickens und Thackeray, und entwickelt in Anlehnung und Abgrenzung zu ihnen sein eigenes Modell des Gesellschaftsromans; zugleich befindet er sich bei seinem Londoner Aufenthalt in der modernsten Metropole Europas, wobei die dort gewonnenen Einblicke und Erfahrungen ebenfalls wesentlich sein späteres Romanwerk bestimmen: »Distanz war nötig, um das literarische Potential des Lebens in Berlin zu entdecken. Ohne London hätten wir keinen Berliner Roman
46 Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014, S. 49. 47 Heide Streiter-Buscher, Die politische Journalistik. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 788–806, hier S. 804f. 48 Ebd., S. 805. 49 Stefan Neuhaus, Bücher über Großbritannien. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 806–818, hier S. 807.
2.2 Fontane und die Verspätung des deutschen Gesellschaftsromans
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nach Fontanes Façon gehabt.«50 Distanz ist dabei nicht allein räumlich, sondern unbedingt auch zeitlich zu verstehen, denn angesichts der Fortschrittlichkeit Englands und der deutschen Rückständigkeit – auch in wirtschaftlichen, sozialen und technischen Belangen – glich Fontanes Aufenthalt in London »einer Reise in die moderne Kultur«51, einer Reise in die Zukunft. »Es lag in der Eigenart der historischen Entwicklung, daß Fontane im London der fünfziger Jahre Erscheinungen beobachtete und mit journalistischen Kunstmitteln darstellte, die ihm ein Vierteljahrhundert später im Berlin der Gründerjahre erneut entgegentraten und ihm Stoff und sozialen Hintergrund für seine Romane lieferten.«52 Dazu zählt auch die erste Fontanesche Schilderung einer Landpartie, die sich in Ein Sommer in London in der Beschreibung eines englischen Picknicks niederschlägt.53 Dabei verknüpft die Darstellung den gesellschaftlich-geselligen Müßiggang mit geschichtlichen und kunsthistorischen Reflexionen, zu denen eine Schlossbesichtigung nebst Bildergalerie Anlass geben. Dies ist insofern bemerkenswert, als Fontanes erster Roman Vor dem Sturm ein ähnliches Verfahren aufweist und entstehungsgeschichtlich mit seinen England-Aufenthalten korreliert: »Erste Spuren zeitlicher und thematischer Aspekte von Fontanes erstem Roman lassen sich in das Jahr 1854 zurückführen, […] [a]ber erst nach Fontanes englischem Intermezzo konkretisiert sich der Plan.«54 Dieser Plan steht im Kontext von Fontanes intensiver Beschäftigung mit der märkisch-preußischen Geschichte, die sich für die ab 1862 erscheinenden Wanderungen durch die Mark Brandenburg als zentral erweist.55 Nach einer langen und mehrfach unterbrochenen Bearbeitungszeit
50 Hans Ester, Theodor Fontanes London. In: Jattie Enklaar, ders. et al. (Hrsg.), Städte und Orte. Expeditionen in literarische Landschaft, Würzburg 2012, S. 99–105, hier S. 105. 51 Fritz Wefelmeyer, Bei den money-makern am Themsefluß. Theodor Fontanes Reise in die moderne Kultur im Jahre 1852. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, München 1989 (= Text+Kritik, Sonderband), S. 55–70. 52 Helmuth Nürnberger, Fontane und London. In: Conrad Wiedemann (Hrsg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion, Stuttgart 1988, S. 648–661, hier S. 649. 53 Vgl. HFA III/3.1, S. 122–133. 54 Christian Grawe, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. In: Ders. und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 488–509, hier S. 488. 55 Vgl. Michael Ewert, Theodor Fontanes Wanderungen durch die märkische Historiotopographie. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003 (= Fontaneana, Bd.1), S. 471–485.
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans
erscheint Vor dem Sturm 1878 und wird gemeinhin als historischer Roman klassifiziert. Während das historisch-vaterländische Sujet der Befreiungskriege »aus dem Winter 1812 auf 13«, so der Untertitel des Romans, vordergründig der patriotisch-preußischen Stilisierung im noch jungen Deutschen Reich zuspielt, so ist sich die Forschung indes einig, dass der Roman zwar ein »Dokument konservativen Denkens« darstellt, allerdings »preußisches Ethos darin kritisch befragt [wird], so daß sich Patriotisches und Preußenkritisches […] überlagern.«56 Was dem Roman eine verhaltene zeitgenössische Rezeption einbrachte, der Verzicht auf die Fokussierung einer Heldenfigur zugunsten verschiedener Lebens- und Figurenkreise, die Folgen der Privatisierung des Politischen auf die Romankomposition,57 erweist sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive dagegen als Signum erzählerischer Modi und Formen, die in den nachfolgenden Gesellschaftsromanen Fontanes vollends zur Geltung kommen. Demetz gebührt das Verdienst, in seinen Reflexionen zu Vor dem Sturm darauf hingewiesen zu haben, daß das soziale Ritual der verschiedenen, vom Helden unabhängigen Lebenskreise an Interesse gewinnt; ja daß sich der Rhythmus des Erzählens selbst am Rhythmus der gesellschaftlichen Ereignisse, an Dîners, Landpartien und gesellschaftlichen Zusammenkünften aller Art zu orientieren beginnt; die Strukturzüge des Gesellschaftsromans treten ein um das andere Mal auffällig hervor, das Historische, aber auch die Sitten der Zeit […] sind vor dem Leser ausgebreitet; und nur eine naive Stoffhuberei wird darauf bestehen, dieses Werk dogmatisch einen historischen Roman nennen zu wollen, ohne sogleich hinzuzufügen, wie ungeduldig er zu den Erzählformen des Romans der guten Gesellschaft hindrängt.58
Der Roman Vor dem Sturm markiert mithin eine sinnfällige Schlüsselposition in Fontanes Œuvre, indem er unter Rekurs auf das historische Sujet den Reigen des Erzählwerks eröffnet, dabei dem Zeitgeist auf halbem Wege entgegenkommt und dennoch das mit L’Adultera vollends aufgegriffene Genre des Gesellschaftsromans sowie dessen Strukturprinzip bereits ankündigt.59
56 Grawe, Vor dem Sturm, S. 490. 57 Vgl. Otfried Keiler, ›Vor dem Sturm‹. Das große Gefühl der Befreiung und die kleinen Zwecke der Opposition. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 2008, S. 13–43; Grawe, Vor dem Sturm, hier besonders S. 495ff. 58 Demetz, Formen des Realismus, S. 46. 59 Vgl. Keiler, ›Vor dem Sturm‹, S. 42.
2.3 Der Landpartie-Topos im Gesellschaftsroman Fontanes
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2.3 Der Landpartie-Topos im Gesellschaftsroman Fontanes Haben es die bisherigen Reflexionen unternommen, den Genretypus des Gesellschaftsromans in den Kontext europäischer sowie spezifisch deutscher Traditionslinien im Spannungsfeld von Literatur-, Politik- und Mentalitätsgeschichte zu stellen, wobei Fontanes Werk – in unterschiedlicher Weise – jene Traditionslinien zu repräsentieren vermochte und mit Vor dem Sturm sowohl der Auftakt als Romancier als auch der Annäherung an das Genre bezeichnet ist, bleibt nun das augenfällig häufige Vorkommen der Landpartie in Fontanes Gesellschaftsromanen zu erläutern. Die Einbettung dieses Topos erweist sich dabei zunächst im Hinblick auf das thematische Spannungsfeld des Genres und insbesondere auf Fontanes literarische Bearbeitung als plausibel: Der erzählerischen Maxime des Gesellschaftsromans, ein sozialgeschichtlich ›valides‹ und nicht zuletzt oftmals kritisches Bild der Gesellschaft, ihrer strukturellen Verfasstheit und Funktionsweise zu entwerfen, folgt Fontane insofern, als er sich »auf Ausschnitte des gegebenen Sozialsystems« konzentriert und einen überschaubaren Figurenkreis stellvertretend gesellschaftliche »Gruppen, Einstellungen oder Wandel repräsentieren«60 lässt. Dabei geht der vorgenommene soziale Ausschnitt mit einem thematischen Zuschnitt einher: Der Fokus auf mehrheitlich gut situierte Figuren schließt in der Konsequenz ihren soziokulturell bedingten Lebensalltag mit ein, zu dem insbesondere die gesellschaftlich-geselligen Praktiken und Rituale, und damit die Landpartie zu zählen sind. Gesellschaftliches Leben und geselliger Umgang stellen allerdings nicht nur den Stoff des Gesellschaftsromans dar, vielmehr resultiert daraus auch ein spezifisches Ordnungs- und Strukturprinzip: Indem »das Regelmäßige und das Geordnete des menschlichen Lebens erzählenswert werden«, folgt das Erzählen auch strukturell dem »täglichen Stundenplan der ›gens du bon ton‹.«61 Dass die Landpartie in Fontanes Berliner Gesellschaftsromanen nicht nur überaus häufig aufgegriffen wird, sondern ihre literarische Bearbeitung im vorliegenden Textkorpus darüber hinaus unverkennbar erzählformale und -funktionale Parallelen aufweist, korreliert mit dem produktiven Potential, das Fontane dieser Variante ritualisierter Geselligkeit für das jeweilige Handlungsgeschehen abgewinnt.
60 Titzmann, Gesellschaftsroman, Zeitroman, S. 376. 61 Demetz, Formen des Realismus, S. 120f.
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans
2.3.1 Fontanes Gesellschaftsromane: Gesellschaft und Geselligkeit Einen ersten Anhaltspunkt für die Einbettung der Landpartie im Gesellschaftsroman kann eine systematisierende Reflexion über den Genrebegriff liefern, der einerseits einen zentralen Kern des Fontaneschen Romanschaffens benennt, andererseits aber auch zu Missverständnis Anlass geben kann. Dies ist der Fall, wenn der Terminus ›Gesellschaftsroman‹ die Vorstellung evoziert, das Genre würde in den einzelnen Texten stets ein umfassendes Portrait der Gesellschaft in all ihrem sozialen Facettenreichtum darbieten. In diesem Sinne gilt der Begriff als »an inaccurate one, insofar as the vast majority of works thus labelled do not attempt to give an all-encompassing picture of society with all its classes and subclasses, but rather focus on just the upper echelons of this society.«62 Während dem Begriff hinsichtlich der über Figurenensembles repräsentierten sozialen Sphären also oftmals Unschärfe attestiert wurde, benennt er treffsicher die Gesellschaft – verstanden als Sozietät – als Thema und konstitutives Fundament, in dem die Romane Fontanes fest verwurzelt sind. Denn »[i]m Zentrum von Fontanes Romanwerk stehen Konflikte zwischen dem Individuum mit seinen geistigen, seelischen und triebhaften Bedürfnissen und dem gesellschaftlichen Rollenzwang, der ihnen im Namen des Funktionierens der Sozietät und der religiösen und moralischen Gebote auferlegt wird.«63 So verstanden, vermag der Terminus den zentralen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, von persönlichem Glück und gesellschaftlichen Ansprüchen in den Gesellschaftsromanen zu indizieren.64 Doch auch eine weitere Lesart des Genrebegriffs ist möglich, nämlich diejenige, die ›Gesellschaft‹ als eine Form geselliger Zusammenkunft respektive als einen derart versammelten Figurenkreis versteht. Dass alle drei Bedeutungsdimensionen den Gesellschaftsromanen Fontanes entsprechen und miteinander in Wechselwirkung stehen, gründet in der Verlagerung des Handlungsgeschehens in das Private und Alltägliche, in der Abkehr von Politik und Öffentlichkeit:65 »Sie [die Gesellschaftsromane; M. B.] stellen Menschen im geselligen und privaten Umgang miteinander dar, der in einer sozial klar gegliederten, Konflikte herausfordernden Gesellschaftsstruktur stattfindet
62 Richard A. Koc, The German Gesellschaftsroman at the Turn of the Century. A Comparison of the Works of Theodor Fontane and Eduard von Keyserling, Bern 1982, S. 16. 63 Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 475. 64 Vgl. dazu auch Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900, Tübingen 2003, S. 241ff. 65 Vgl. dazu auch Hillebrand, Theorie des Romans, S. 241; Demetz, Formen des Realismus, S. 99f.
2.3 Der Landpartie-Topos im Gesellschaftsroman Fontanes
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und sich nach Konventionen abspielt, die allen Beteiligten vertraut sind und durch Sitte und Anstand geregelt werden.«66 Damit ist der innere Zusammenhang von Sozialgefüge und geselligem Umgang im Genre prägnant umrissen, der die Forschung dazu veranlasst hat, statt von Gesellschaftsromanen auch von »Fontanes Geselligkeitsromane[n]«67 zu sprechen, denn in ihnen werde »Gesellschaft […] vorgeführt in der Form von Geselligkeit.«68 Die mehrheitliche Zugehörigkeit des Romanpersonals zu einer Gesellschaftsschicht, die über die finanziellen und zeitlichen Ressourcen verfügt, an solch konventionalisierten Geselligkeiten teilzunehmen und diese auszurichten, erklärt sich daraus als naheliegend. Daher sind Fontanes Romane mit einiger Berechtigung von Demetz als »Roman[e] der guten Gesellschaft«69 bezeichnet worden, denn die quantitative Dominanz eines (groß-)bürgerlichen und aristokratischen Figurenkreises ist unverkennbar. In der Zusammenschau der Werke zeigt sich indes durchaus ein differenziertes Gesellschaftstableau mit nahezu allen Schichten und Milieus – mit Ausnahme des vierten Standes, der zwar erwähnt wird, jedoch keine ausführliche Darstellung erfährt.70 Insofern relativiert sich die vermeintliche Unschärfe des Begriffs ›Gesellschaftsroman‹ hinsichtlich des aufgezeigten Sozialpanoramas insbesondere für die Berliner Romane Fontanes, und es erscheint »sachgemäßer, sie alle zusammen als eine Art Zyklus aufzufassen, der als solcher, in seiner Summe, ein Gesamtbild der damaligen Berliner Gesellschaft gibt.«71 Für die Verortung des Topos ›Landpartie‹ im Genre des Gesellschaftsromans erweist sich nun dessen thematische »Wendung ins Tägliche und
66 Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 472. 67 Klaus R. Scherpe, Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 3, Würzburg 2000, S. 161–169, hier S. 165. 68 Klaus R. Scherpe, Allerlei Fontane. Erlebnisgesellschaft im Fontane-Roman. In: Roland Berbig (Hrsg.), Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen, Frankfurt am Main 1999 (= Literatur – Sprache – Religion, Bd. 3), S. 163–178, hier S. 163. 69 Demetz, Formen des Realismus, S. 99. 70 Vgl. dazu u. a. Wolfgang Wittkowski, Theodor Fontane und der Gesellschaftsroman. In: Helmut Koopmann (Hrsg.), Handbuch des deutschen Romans, Düsseldorf 1983, S. 418–433, hier S. 418. 71 Jost Schillemeit, Der späte Fontane. In: Horst Albert Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 8, Jahrhundertwende: Vom Naturalismus zum Expressionismus, 1880–1918, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 112–123, hier S. 122.
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Zivile«72 als konstitutiv. Indem die privat-gesellschaftliche Sphäre in den Fokus der Darstellung gerät, erweist sich der Gesellschaftsverkehr mit seinen Geselligkeiten und ritualisierten Formen als zentraler Erzählgegenstand: Die geschilderten Lebensausschnitte, die die Menschen in einem dichten kulturellen Ambiente zeigen, schaffen einen Rhythmus von gesellschaftlichem Ereignis und Alleinsein, von öffentlichem und privatem Dasein. Die Handlung rankt sich meist um wenige, detailliert dargestellte Ereignisse oder Geselligkeiten (Theaterbesuch, Gasthausrunde, Diner, Ausflug, jahreszeitliche Feier usw.), bei denen die Gespräche, nicht die Ereignisse den größeren Raum einnehmen.73
Obwohl hier den Gesprächen zu Recht eine große Bedeutsamkeit in den Romanen Fontanes zugesprochen wird, darf dies jedoch nicht zu einem vernachlässigten Interesse an den sozialen Zusammenkünften führen, die ihrerseits erst den Anlass und die Voraussetzung für diese Gespräche bieten.74 Vor dem skizzierten thematischen Horizont des Genres erklärt sich darüber hinaus die in der zitierten Textstelle vorgenommene Differenzierung zwischen ›Ereignissen‹ und ›Geselligkeiten‹ als hinfällig. Vielmehr können die Geselligkeiten in Kombination mit den in ihrem Rahmen betriebenen Konversationen als die entscheidenden Ereignisse der Handlung gelten. Bieten insbesondere jene gesellschaftlichen Zusammenkünfte ausgiebig Gelegenheit zu gepflegter Unterhaltung, die das Figurenensemble zu einer gemeinsamen Mahlzeit versammeln, erklären sich diese schlüssig als stets wiederkehrend dargestellte Geselligkeitsrituale. Brandstetter und Neumann ist somit zuzustimmen, wenn sie das »Nahrungsgeschehen« als eines von »vier kulturthematischen Feldern« bestimmen, die Fontanes Gesellschaftsromane in »den Herrendiners und Galaessen, den Picknicks und Landpartien, den Frühstücken und Familientischen, ja den Küchenszenen«75 darstellen. Indem 72 Demetz, Formen des Realismus, S. 100. 73 Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 472f. 74 Neumann benennt die soziale Distinktion als Gegenstand der Fontaneschen Gesprächskultur respektive konstatiert eine Identität zwischen ihnen: »So kreisen die Gespräche, die in Fontanes Romanen geführt werden, immer wieder um dieses Thema der feinsten, unwägbaren Unterschiede und Nuancen – ja, die Gespräche sind diese selbst! Fontanes viel gerühmte Gespräche – so könnte man behaupten – sind hochelaborierte Distinktionsrituale. Es geht in ihnen um das feine Unterscheiden, um den richtigen Ton, um die minutiösen Differenzierungen des Takts« (Gerhard Neumann, Das Ritual der Mahlzeit und die realistische Literatur. Ein Beitrag zu Fontanes Romankunst. In: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr et al. (Hrsg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, Tübingen 2000, S. 301–317, hier S. 304). 75 Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann, ›Le laid c’est le beau‹. Liebesdiskurs und Geschlechterrolle in Fontanes Roman ›Schach von Wuthenow‹. In: Gerhard Neumann,
2.3 Der Landpartie-Topos im Gesellschaftsroman Fontanes
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Demetz Fontane dort eine besondere Kunstfertigkeit attestiert, »wo man einen ›Chablis‹ von einem ›Pommard‹ unterscheiden kann; dort, wo man seine Mahlzeiten mit ererbten schweren Silbergabeln zum Munde führt«76, hat er den Zusammenhang von ›Nahrungsgeschehen‹ und dem dominanten sozialen Milieu auf den Punkt gebracht. In der obigen Aufzählung dieser »Schaltstellen des Romangeschehens«77 findet auch die Landpartie Erwähnung, womit ihre thematische Verortung im Genre des Gesellschaftsromans angezeigt ist. Im Kontext der von den Romanen vorgeführten ritualisierten Mahlzeiten- und Geselligkeitskultur kommt dem Topos der Landpartie allerdings eine besondere Bedeutung zu. Denn während die gesellschaftlichen Zusammenkünfte üblicherweise in den geschlossenen Wohnräumen der gehobenen Gesellschaft zelebriert werden und dem Bedürfnis nach sozialer Repräsentation und Distinktion Rechnung tragen,78 konfigurieren die Romane mit den Landpartien Episoden, die den Figurenkreis aus seinem urbanen Lebensumfeld hinausführen. Daher ist der Landpartie ein ambivalentes Verhältnis zur habitualisierten Gesellig- und Gesellschaftlichkeit eigen, das sich gleichermaßen durch Konvergenz und Divergenz auszeichnet: Einerseits sind die Landpartien fest in der habitualisierten Geselligkeitskultur verankert, andererseits ist ihnen als saisonale Variante das entscheidende Moment der Modifikation konstitutiv. Kann die Landpartie auch als »eine Fontanesche Spezialität«79 gelten, ist dieser Topos aber keineswegs seine Erfindung. Bedingt durch die zeitliche und räumliche Nähe, die das Genre des Gesellschaftsromans in der Relation von Text und ›Wirklichkeit‹ kennzeichnet,80 dokumentieren die LandpartieEpisoden in Fontanes Romanen eine verbreitete und konventionelle Praktik im gesellig-gesellschaftlichen Umgang. Die literarische Bearbeitung der Landpartie steht zudem in einem gewissen Motivzusammenhang mit der deut-
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Theodor Fontane. Romankunst als Gespräch, Freiburg im Breisgau 2011, S. 103–125, hier S. 103f. Demetz, Formen des Realismus, S. 107. Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 104. »Das erzählerische Interesse richtet sich allein auf den mondänen Ort, an dem man nicht arbeitet und handelt, sondern gesellig spricht: Salons, Ballsäle, Speisezimmer, Veranden; geschlossene, nicht offene Räume« (Demetz, Formen des Realismus, S. 100). Dieter Mayer, Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos bei Fontane und nach der Jahrhundertwende. In: Michael Krejci und Karl Schuster (Hrsg.), Literatur, Sprache, Unterricht. Festschrift für Jakob Lehmann zum 65. Geburtstag, Bamberg 1984, S. 63–70, hier S. 64. Vgl. Titzmann, Gesellschaftsroman, Zeitroman, S. 372.
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schen und europäischen Romantradition: »[I]m Berliner Unterhaltungsroman der Vierzigerjahre […] tritt in der bescheideneren preußischen Sphäre die Landpartie an die Stelle der eleganten englischen Jagden oder französischen Bälle«81. Aus dem Topos der Landpartie, ihrer Konvergenz und Divergenz, vermag Fontane ein literarisch ungemein produktives Potential zu beziehen: »Der für die typische Landpartie konstitutive Gegensatz von städtischer Betriebsamkeit und ländlicher Abgeschiedenheit, von Arbeit und Freizeit, von Öffentlichkeit und Privatheit im Zirkel weniger Gleichgesinnter«82 sowie von Statik und Mobilisierung eröffnet dabei entscheidende Möglichkeiten und Folgen für die Handlungskonzeption: Das gesellige Zusammentreffen jenseits der geschlossenen Wohnräume vor natürlicher Kulisse, die damit vergleichsweise geringere Reglementierung des gesellschaftlichen Umgangs, das Moment gemeinsamer Bewegung, das ›zufällig‹ spezifische Figurenkonstellationen choreographiert – all dies bedingt und befördert in Fontanes Bearbeitung ein handlungsdynamisierendes Potential des Landpartie-Topos, das insbesondere für amouröse und libidinöse Verhältnisentwicklungen verantwortlich zeichnet.83 Um dieses erzählerische Potential des Landpartie-Topos zur vollen Entfaltung bringen zu können, lässt sich in vergleichender Perspektive der Einsatz zweier Erzählstrategien erkennen. Fontane etabliert zum einen ein wiederkehrendes Erzählmuster, dem seine Landpartie-Darstellungen trotz gewisser Variationsspielräume verpflichtet sind. Doch nicht nur mikro- auch makrostrukturell folgen die Landpartien einem erzählerischen Skript, indem sie sich zum anderen stets an einer genau kalkulierten Stelle im Zeit- und Handlungskontinuum des jeweiligen Romans finden. 2.3.2 Zeit- und Erzählstrukturen der Landpartie bei Fontane Als Ausgangspunkt von Reflexionen, die sich mit der strategisch-zeitlichen Eingliederung des Landpartie-Topos im Strukturgefüge des Gesellschaftsromans beschäftigen, bietet sich zunächst folgende basale Feststellung an: Die Landpartie wie auch der Roman als übergeordnetes formales Korpus ihrer literarischen Darstellung sind genuin zeitlichen Prinzipien verpflichtet. Während sich die zeitliche Verfasstheit der Landpartie darin offenbart, dass sie 81 Demetz, Formen des Realismus, S. 122. 82 Mayer, Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos, S. 65. 83 Vgl. dazu Kapitel 5 der vorliegenden Studie.
2.3 Der Landpartie-Topos im Gesellschaftsroman Fontanes
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einem ritualisierten Ab- und Verlauf folgt und noch dazu eine saisonale Variante des Gesellschaftsverkehrs konstituiert, »gilt für den Roman, dass ihm in seinen zentralen Kategorien von sequenzieller Anordnung, Chronologie, Erzählzeit und erzählter Zeit eine besondere Affinität zur Zeit und zur Zeiterfahrung zukommt.«84 Vor dem Hintergrund des von Fontane bearbeiteten Genretypus sowie seiner romanpoetologischen Überlegungen kann die konstatierte Zeitbezogenheit des Romans indes noch um eine weitere Bedeutungsdimension ergänzt werden. Im Rahmen einer literaturkritischen Auseinandersetzung mit Gustav Freytags Ahnen präzisiert Fontane die aufgeworfene Frage, »[w]as […] der moderne Roman [soll]« dahingehend, dass er nach dessen »räumlich und zeitlich gezogenen Grenzen«85 fragt. Den darin schon inhärenten Rekurs auf eine Verhaftung des Romans in einem spezifischen räumlichen sowie zeitlichen Koordinatensystem, führen die von Fontane selbst gegeben Antworten noch weiter fort: »Der moderne Roman soll ein Zeitbild sein, ein Bild seiner Zeit«86, wobei die Zeit des Romans und die Zeit des Romanschreibenden zu diesem Zweck idealerweise konvergieren, jedenfalls nicht erheblich voneinander abweichen sollen: »Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören« respektive soll er einen Lebenskreis schildern, »an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten.«87 Die von Fontane geforderte Verpflichtung des modernen Romans auf die Darstellung eines Zeitbildes findet ihren genretypologischen Reflex im Zeitrespektive Gesellschaftsroman, denn die »Verknüpfung des Geschehens […] mit der zeitgeschichtlichen Situation führt zu einem wichtigen Kennzeichen des Typus.«88 Indem das Geschehen aus dem Stoffbereich des Gesellschaftlichen, im Sinne des Sozialen aber auch der Geselligkeit vor dem zeitgeschichtlichen Horizont entwickelt wird, kommt dem Aspekt der Zeitlichkeit in den Romanen entscheidende Bedeutung zu. Zeit und Zeitlichkeit sind dabei
84 Martin Middeke, Zeit und Roman: Zur Einführung. In: Ders. (Hrsg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S. 1–20, hier S. 6. – Auch wenn jede Form der Dichtung genuin eine Zeitbezogenheit kennzeichnet, »scheint die Epik in einem besonders engen, aber auch komplizierten Verhältnis zur Dimension Zeit zu stehen« (Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie [1972], München 2014, S. 98). – Vgl. dazu auch Kapitel 4.1 der vorliegenden Studie. 85 HFA III/1, S. 319. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Hasubek, Der Zeitroman, S. 220.
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konstitutiv »gebunden an alle jene Merkmale, die in dieser Epoche als poetologisch typisch deklariert werden, an das Private, einfach Nachvollziehbare […], das Menschliche, Allzumenschliche des Alltags«89. Die konstatierte Gebundenheit an das Private und Alltägliche hat bei Fontane zur Folge, dass die »Vertextung der Zeit«90 im Gesellschaftsroman sowohl mit seiner thematischen Konzeption als auch mit seiner strukturellen Komposition korreliert. Durch den Fokus der Romanhandlung auf Sujets und Settings, die den Wechsel von intimer Privatheit und geselligem Miteinander zur Darstellung bringen, treten Zeit und Zeitlichkeit einerseits gesellschaftlich-gesellig codiert in Erscheinung. Die politischen, sozialen, moralischen, geschlechtsspezifischen, kulturellen, technischen und medialen Diskurse, in die das jeweilige um das persönliche Schicksal weniger Figuren kreisende Handlungsgeschehen stets eingebunden ist, bedingen andererseits, dass Fontanes Romane komplexe Zeitbilder konfigurieren und insofern »literaturwissenschaftliche Rückschlüsse auf die in [die] Romane eingegangenen und narrativ inszenierten Zeitauffassungen der Entstehungszeit«91 erlauben können. Einen Anhaltspunkt, diese den literarischen Texten eingeschriebenen Zeitauffassungen und -erfahrungen zu erschließen, stellen dabei diejenigen temporalen »Bauformen des Erzählens«92 dar, die in Fontanes Gesellschaftsromanen auf das Engste mit der Schilderung zeitgemäßen geselligen Zeitvertreibs, seinen Formen und Konventionen verknüpft sind: »Die gesellschaftliche Etikette bestimmt das Fundament der Erzählstruktur; die einzelnen Phasen des Gesellschaftsrituals verwandeln sich zu Romankapiteln; man könnte fast sagen, Freiherr von Knigge eher als der individuelle Schriftsteller bestimme die Konturen der Roman-Architektur.«93 Auch wenn Demetz zur Veranschaulichung seiner Beobachtung diese etwas überspitzt, so ist ihm nichtsdestotrotz eine zentrale und literaturwissenschaftlich derweil anerkannte Erkenntnis zu verdanken: Die Metastruktur des einzelnen Gesellschaftsromans basiert maßgeblich auf den Formen des Gesellschaftsverkehrs, denn die einzelnen Rituale bedingen bei Fontane entscheidend das narratologische
89 Hillebrand, Theorie des Romans, S. 261. 90 Ansgar Nünning und Roy Sommer, Die Vertextung der Zeit: Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch inszenierter Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen. In: Martin Middeke (Hrsg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S. 33–56. 91 Ebd., S. 33. 92 Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens [1955], Stuttgart 1967. 93 Demetz, Formen des Realismus, S. 121f.
2.3 Der Landpartie-Topos im Gesellschaftsroman Fontanes
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»Phänomen der Phasenbildung im Erzählfluß.«94 Zwei Ritualen kommt im Gesellschaftsroman Fontanes dabei eine besondere Bedeutung zu, dem Diner und der Landpartie, die Demetz als die »Kern-Phasen seiner epischen Organisation«95 identifiziert. Fontanes erzählerische »Kern-Phasen« folgen, wie überhaupt die Erzählweise der meisten Romane, dem Prinzip der szenischen Darstellung, die »in der Nachbildung ›natürlicher‹ Sukzession größte Wirklichkeitsnähe zu erreichen«96 vermag und wo sich das »dargebotene Geschehen vorwiegend in Einzeltagen und Tagereihen abspielt.«97 Diner und Landpartie vollziehen sich jeweils an solchen Einzeltagen, denen dadurch eine exponierte Bedeutung in der alltäglichen Tagereihung zukommt. Ihre erzählerische Gestaltung bleibt jeweils eng an dem ritualisierten Verlauf der Gesellschaftsereignisse orientiert, wobei sich in vergleichender Perspektive spezifische Erzählmuster erkennen lassen, denen die Darstellungen von Diners und Landpartien verpflichtet sind. In den Landpartie-Episoden konfiguriert Fontane die einzelnen Phasen des Gesellschaftsereignisses »zu einer Ordnung, die sich schon in seinem ersten echten Gesellschaftsroman (in ›L’Adultera‹) durchzusetzen beginnt«98 und die in den nachfolgenden Romanen aufgegriffen sowie variiert wird. Demetz unterscheidet hierbei »vier Erzählphasen der Landpartie«, die »sich zu einer äußert filigranen Erzählstruktur«99 verbinden: Auf die Organisation und Ankunft der Teilnehmer am Ausflugsort folgen eine gemeinsame Mahlzeit und ein Bewegungsmoment, bevor die Rückkehr angetreten wird. Diese drei Phasen eines prototypischen Landpartie-Verlaufs ergänzt Fontane häufig noch durch eine nachgeordnete Reflexion der stattgefundenen Landpartie, die ihre Vorkommnisse figurenperspektivisch gebrochen rekapituliert und kommentiert. Hinsichtlich des Diners kann die Feststellung genügen, dass sich die Erzählphasen auch dort am formalisierten Ablauf des gesellschaftlichen Rituals orientieren und zum Teil ebenfalls um ein »reflektierendes Kommentargespräch«100 ergänzt werden. Landpartie und Diner weisen allerdings nicht nur strukturelle Ähnlichkeiten in ihrer Darstellung auf. Darüber hinaus besteht zwischen ihnen ein Interdependenzverhältnis, was Demetz bei all seinem Ver-
94 Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 33. 95 Demetz, Formen des Realismus, S. 121. 96 Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 87. 97 Ebd., S. 93. 98 Demetz, Formen des Realismus, S. 122. 99 Ebd. 100 Ebd.
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans
dienst um die Aufdeckung narratologischer Kompositionsprinzipien im Fontaneschen Gesellschaftsroman entgangen ist. Denn die kunstvolle Kompositionsstruktur betrifft nicht nur die von Demetz identifizierten einzelnen Erzählphasen, die Fontanes Diner- und Landpartie-Darstellungen jeweils intern als Ordnung gereichen, vielmehr ist eine innere Logik in der Sequenzierung dieser beiden ›Kern-Phasen‹ zu erkennen. Gemeint ist die Tatsache, dass der Topos der Landpartie in Fontanes Gesellschaftsromanen in chronologischer Perspektive stets auf eine Abendgesellschaft, häufig anlässlich eines Diners, folgt.101 Implizit findet sich diese Feststellung auch bei Hauschild, deren Erklärungsmodell jedoch zu kurz greift, wenn sie als Begründung lediglich anführt: »Vergnügen erzeugt den Wunsch nach neuem Vergnügen.«102 Wenngleich der Annahme einer gegenseitigen Motivierung geselliger Zusammenkünfte auf textinterner Ebene ausnahmslos zuzustimmen ist, indem der Plan zu einer Landpartie stets im Kontext einer vorhergehenden Vergnügung gefasst wird, kann die Nachordnung der Landpartie im makrostrukturellen Romangefüge damit keineswegs hinreichend erklärt werden. Vielmehr soll hier die These vertreten werden, dass damit ein erzählstrategisches Verfahren verfolgt wird, wenn die Landpartie konzeptionell die Abendgesellschaften in Bewegung versetzt. Dabei bedarf es konstitutiv dieser vorangehenden Gesellschaften – diese sind geradezu die conditio sine qua non –, um das handlungsdynamisierende Potential der Landpartie zur Entfaltung bringen zu können. Die innerhalb der ersten Kapitel inszenierten Abendgesellschaften übernehmen nicht nur für den jeweiligen Roman, sondern auch für die nachfolgende Landpartie eine expositorische Funktion: Die Hauptfiguren werden präsentiert, im Rahmen der häuslichen Geselligkeit unkompliziert versammelt, über ihre Sprache respektive Causerien persönlich sowie vor dem Hintergrund des repräsentierten Milieus soziokulturell charakterisiert.103 Die Vorstellung der Protagonisten und die Skizzierung interperso101 Während die Landpartie in diesem Zusammenhang einen stabilen Topos konstituiert, zeigt sich bezogen auf die vorgeordnete Abendgesellschaft eine größere Flexibilität. So kann diese auch in Form einer Salongesellschaft oder eines Besuchs erfolgen, wobei über die Statik und den ritualisierten Ablauf jedoch die zentralen Merkmale und Strukturprinzipien des Diners gewahrt bleiben. 102 Brigitte Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur. Die Darstellung von Geselligkeit und Naturbegegnung bei Gottfried Keller und Theodor Fontane, Frankfurt am Main 1981 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 413), S. 122. 103 Dass Sprache und Konversation bei Fontane als konstitutive Modi der Figurencharakterisierung fungieren, kann als communis opinio der Forschung gelten. Vgl. dazu exemplarisch Mittenzwei, Die Sprache als Thema; Demetz, Formen des Realismus, S. 122ff.; Bettina Plett, Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in
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neller Grundkonstellationen in vergleichsweise statischen Geselligkeiten wird auch hier häufig in einem »Nach- und Kommentargespräch, welches […] das eben vergangene gesellschaftliche Ereignis und seine Gespräche noch einmal zum Gesprächsgegenstand erhebt«104, weiter ausdifferenziert und präzisiert. In diesen vertraulichen Konversationen können Aspekte zur Sprache gelangen, die sich in großen Gesprächsrunden und besonders in Anwesenheit jener Beteiligten verböten, um die die Nachgespräche kreisen. Während Demetz dieses Verfahren an L’Adultera exemplifiziert,105 sei hier beispielhaft auf Schach von Wuthenow und Frau Jenny Treibel verwiesen, wo auf der einen Seite eine Männergesellschaft nach dem Empfangsabend der von Carayons Schachs Verhältnis zu Mutter und Tochter diskutiert (vgl. SvW, Kapitel 3) und Corinna ihrem Cousin Marcell nach dem Treibelschen Diner auf der anderen Seite freimütig ihre Ambitionen auf Leopold Treibel bekennt (vgl. JT, Kapitel 5). Die retrospektiven Reflexionen fungieren mithin als Gelenkstellen im Erzählgerüst, die strukturell und inhaltlich zu den Landpartie-Episoden überleiten. Auf der Basis dieser notwendigen Vorinformationen über die Teilnehmer, eines ersten persönlichen und sozialen Charakterprofils sowie angedeuteter Beziehungs- und Begehrensstrukturen, kann das Erzählpotential des schließlich nachfolgenden Landpartie-Topos im Sinne einer Handlungsdynamisierung erst vollends ausgeschöpft werden. Im Hinblick auf die temporale Gliederung der Fontaneschen Gesellschaftsromane ist nicht allein eine Sequenz zu konstatieren, nach der die Landpartie-Episoden stets einer anderen Geselligkeit nachgeordnet werden; darüber hinaus korrespondieren die internen Erzählphasen der Landpartie mit der »äußere[n] Gliederung«106 des Stoffes in Kapitel. Dabei besteht in vergleichender Perspektive ein strukturelles Gestaltungskontinuum, als die Landpartien auf der Kapitelebene niemals unter einen übergeordneten Erzählgegenstand subsumiert werden. Diesem Topos ist mindestens ein eigenes Romankapitel vorbehalten, wenn sich seine Darstellung nicht sogar über zwei
den Romanen Theodor Fontanes, Köln 1986, S. 49ff.; K.[atharina] Mommsen, Vom ›Bamme-Ton‹ zum ›Bummel-Ton‹. Fontanes Kunst der Sprechweisen. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 325–334. – Zur Identifikation des soziokulturellen Milieus vermittelt durch die Wohnorte und -räume vgl. auch Kapitel 4.1.1.2 der vorliegenden Studie. 104 Demetz, Formen des Realismus, S. 124. 105 Vgl. ebd., S. 124f. 106 Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 79.
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2 Die Landpartie und das Genre des Gesellschaftsromans
oder drei Kapitel erstreckt.107 Indem jene Kapitel jeweils ungefähr in der Mitte des Romans zu finden sind, gibt auch die Romantektonik einen Hinweis darauf, dass die Landpartie-Episoden entscheidende Kristallisationspunkte der Handlung darstellen. Diese Bauprinzipien heben zum einen implizit die erzählerische Privilegierung hervor, die dem Topos in den Romanen zukommt, zum anderen lässt sich mit Blick auf die Landpartie-Kapitel eine Interdependenz texträumlicher Relation erkennen. Denn die textuelle Makrostruktur, die »Unterteilungen, die im Druckbild häufig genug mit fettgedruckten Überschriften oder römischen Ziffern, durch unbedruckte Seiten […] sich augenfällig kundtun«108, korrespondiert in Fontanes Gesellschaftsromanen auf der inhaltlichen Ebene mit dem für Landpartien konstitutiven Raumwechsel. Dadurch korrelieren bei den Landpartie-Kapiteln sowohl die »Räumlichkeit ›von‹ literarischen Texten«109 als auch die narrativ inszenierte Räumlichkeit ›in‹ literarischen Texten. Ein weiteres Gestaltungskontinuum der Landpartie-Darstellungen betrifft ihren zeiträumlichen Umfang in den Romanen, worüber die Erzählzeit Aufschluss geben kann. Setzt man die Erzählzeit von Roman und LandpartieEpisode (gemessen an der Seitenanzahl) miteinander in Verhältnis, so zeigt sich, dass in den Romanen mehrheitlich 10–15 % der Erzählzeit auf die Schilderung der Landpartien entfallen.110 Und obwohl »mit der Erzählbreite keineswegs schon die Bedeutsamkeit einer Erzählpartie festgelegt«111 ist, so kann im Fall der Landpartien durchaus dafür argumentiert werden, einen inneren Zusammenhang von Quantität und Bedeutsamkeit anzunehmen. Denn »Bedeutung gewinn[t] solche Einlässigkeit […], wenn sie als regelhafte Erscheinung[ ] einem bestimmten Komplex von Ereignissen und Gegenständen gegenüber durch das ganze Werk hindurch […] aufgewiesen werden«112
107 LA: Kapitel 8–10; SW: Kapitel 4; IW: Kapitel 11–13; JT: Kapitel 10; DS: Kapitel 14–15; die Sommerfrische in Cécile umfasst die Kapitel 1–16, der entscheidende Ausflug nach Altenbrak hingegen Kapitel 13–15. 108 Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 79. 109 Sylvia Sasse, Poetischer Raum. Chronotopos und Geopolitik. In: Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 294–308, hier S. 294. 110 Für den Stechlin kann dies ob seines Umfangs nicht gelten; die Landpartie-Episode – und das abzüglich des synchron stattfindenden Skatspiels der Kutscher – umfasst jedoch immerhin noch 4 %. Der Roman Cécile wurde für die Berechnung nicht berücksichtigt. 111 Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 33. 112 Ebd.
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kann. Zwar ist die Landpartie innerhalb des einzelnen Romans ein singuläres Erzählereignis, doch vor dem Hintergrund ihrer Rekurrenz im Romanwerk Fontanes kann dem Topos durch die regelhafte Erzählbreite, die ihm »gegenüber durch das ganze Werk hindurch aufgewiesen wird«, somit eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Die strategische Einbettung und Proportionierung der Landpartie im narrativen Zeit- und Handlungsgefüge erschließt sich nur bei einer systematischen und vergleichenden Untersuchung. Im einzelnen Roman bleibt das Kompositionsgerüst unter der Handlungsoberfläche verborgen: Die Aufeinanderfolge von Abendgesellschaft und Landpartie vollzieht sich wie zufällig vor der Folie der dargestellten Geselligkeitskultur, die Entscheidung über das Landpartie-Setting sowie den Teilnehmerkreis wird an die Figuren delegiert, die funktional-strategisch gestellten Weichen zur Entfaltung des LandpartiePotentials damit verschleiert – und nicht zuletzt korrespondiert die Kurzweil der Unternehmung mit der Kurzweil ihrer literarischen Schilderung.
3 Geplantes Vergnügen: Organisation und Motivation 3.1 Die Landpartie als Variante ritualisierter Geselligkeit »Eine Landpartie kann sich zu einem höchst angenehmen Vergnügen gestalten, wenn sie taktvoll organisiert und mit Anmut arrangiert wird.«1 Die Planungssorgfalt, die gemäß zeitgenössischer Ratgeber-Literatur für das Gelingen einer Landpartie erforderlich ist, findet ihren Reflex in den Gesellschaftsromanen Fontanes. Die von den Figuren getroffenen organisatorischen Vorkehrungen korrelieren dabei mit der Erzählstrategie, die mit den LandpartieEpisoden im Rahmen der Narrationen verfolgt wird: Gibt das Organisationsprocedere der Figuren über den formalisierten und ritualisierten Ablauf Aufschluss, dem jene Spielform der Geselligkeit folgt, werden darüber hinaus die konzeptionellen Grundlagen offengelegt, die für den weiteren Verlauf der Landpartien und ihr erzählerisches Potential verantwortlich zeichnen. Dazu zählen insbesondere die Wahl des Ausflugsziels, die numerische und soziale Zusammensetzung der teilnehmenden Landpartie-Gesellschaft sowie die an die Exkursion gestellten Hoffnungen und Erwartungen. In den Gesellschaftsromanen L’Adultera, Schach von Wuthenow, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin tritt die Landpartie in ihrer konventionellen Form als eine im privaten Kreis praktizierte Geselligkeit in Erscheinung: Die Landpartie »ist ein geplantes, verabredetes, pünktlich inszeniertes Unternehmen, es läuft ab im Rahmen gesellschaftlicher Konvention.«2 Unabhängig von der Art und Ausführlichkeit, mit denen die organisatorischen Maßnahmen im Einzelnen zur Darstellung kommen, eint die Romane der motivationale Hintergrund zur Unternehmung einer Landpartie. Als saisonale Variante ritualisierter Geselligkeitskultur wird die Landpartie mit besonderer Freudigkeit begrüßt, stellt sie doch eine willkommene Abwechslung von den Routinen des persönlichen wie geselligen Alltags dar – in den sie jedoch zugleich fest eingefügt bleibt. Dabei ist es genau jenes ambivalente Verhältnis der Landpartie zum habitualisierten Gesellschaftsverkehr, nämlich ihre Integration im Rahmen der ihr 1 2
Der gute Ton. Handbuch der feinen Lebensart und guten Sitte. Nach den neuesten Anstandsregeln bearbeitet von Emma Kallmann, Berlin 1899, S. 70. Bruno Hillebrand, Mensch und Raum im Roman. Studien zu Keller, Stifter, Fontane, München 1971, S. 278.
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3 Geplantes Vergnügen: Organisation und Motivation
genuinen Varianz, das dem »Erlebniswunsch« der in den Romanen geschilderten »Freizeit- und Erlebnisgesellschaft«3 in besonderer Weise Rechnung trägt. Wie unkompliziert sich die Landpartie in den bürgerlichen Alltag einbetten lässt, zeigt sich besonders eindrücklich, wenn die Landpartie in den Romanen als eine Nachmittagspartie organisiert und unternommen wird. In vergleichender Perspektive ist dabei ein gestalterischer Synchronismus zu beobachten, indem die Landpartien jeweils um vier Uhr beginnen. Mag dies zunächst als ein nebensächliches Detail erscheinen, tritt darin bei näherem Hinsehen das Erzählmuster ›Landpartie‹ in Erscheinung, das Fontane in L’Adultera etabliert und in den nachfolgenden Landpartie-Bearbeitungen – unter Beibehaltung der wesentlichen strukturellen Parameter – modifiziert und (zum Teil selbstironisch) variiert hat. Gemäß der zentralen Relevanz, die den Entscheidungen über Art und Umfang der Landpartie, ihrem Schauplatz und die teilnehmende Gesellschaft für das weitere Handlungsgeschehen und insofern für die vorliegende Studie zukommt, sind den Gesellschaftsromanen L’Adultera, Schach von Wuthenow, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin im Folgenden Einzelbetrachtungen gewidmet. – Indem das von den Figuren betriebene Organisationsprocedere in einem direkten Wechselverhältnis zu ihren Beweggründen steht, sollen Motivation und Organisation der Landpartien parallel untersucht werden, wobei sich die Reihenfolge an der Chronologie der Romanveröffentlichung orientiert. 3.1.1 »L’Adultera« In Fontanes Werk L’Adultera, »welches gemeinhin als sein erster Berliner Gesellschaftsroman bezeichnet wird«4, unterbreitet Ezechiel Van der Straaten den Vorschlag einer Landpartie als eine Attraktion für den kommerzienrätlichen Gast Ebenezer Rubehn: Rubehn ist jetzt ein rundes Vierteljahr in unserer Stadt und hat nichts gesehen, als was zwischen unserem Comtoir und dieser unserer Villa liegt. Er muß aber endlich unsere landschaftlichen Schätze, will sagen unsere Wasserflächen und Stromufer kennen lernen […]. Und so proponir’ ich denn eine Fahrt auf morgen Nachmittag. Angenommen? (LA, S. 57)
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Scherpe, Allerlei Fontane, S. 163. Bettina Plett, L’Adultera ›… kunstgemäß (Pardon) …‹ – Typisierung und Individualität. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 2008, S. 65–91, hier S. 65.
3.1 Die Landpartie als Variante ritualisierter Geselligkeit
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Hier manifestiert sich die empfundene Verpflichtung des Gastgebers, dem beherbergten Freund auch abseits der familiär-häuslichen Geselligkeit ein gewisses Maß an Unterhaltungsprogramm zu bieten; und dieses bisherige Versäumnis soll in Gestalt einer Land- bzw. Wasserpartie in der gewässerreichen Landschaft Berlins und seines Umlands wieder gutgemacht werden. Der Kommerzienrat spricht diesen Vorschlag indes nicht allein aus Pflichtgefühl gegenüber seinem Gast aus, der nicht den alleinigen Adressaten dieser ironischen Ansprache darstellt. Vielmehr kann Van der Straaten im Wissen um ein allseits positives Echo auch seiner Frau und ihrer »Dames d’honneur« (LA, S. 47) seine Großzügigkeit unter Beweis stellen und sich als Gönner gerieren. Tatsächlich erntet er emphatische Reaktionen der Damen, in deren Kontext es sogar zu einer Dankbarkeitsbezeugung Melanies in Form eines Kusses kommt (vgl. LA, S. 57). In Anbetracht der »versachlichten Beziehung[ ]«5 der Eheleute kann diese Zärtlichkeit als ein Ausdruck ehrlich empfundener Dankbarkeit ob der willkommenen Abwechslung vom großbürgerlichen Alltag gelten. Denn während dieser Alltag in den »Wintermonate[n]«, die »die Van der Straatens in ihrer Stadtwohnung zuzubringen« pflegten, von dem »gesellschaftliche[n] Treiben der Saison« (LA, S. 8) bestimmt ist, scheinen die in der »Park-Einsamkeit« der Tiergartenvilla verbrachten Sommermonate aufgrund ihres »beinah ungestörten Stillleben[s]« zwar einerseits erheblich zu Melanies »Wohlgefühl« (LA, S. 46) beizutragen, andererseits aber doch etwas wie Monotonie und Langeweile aufkommen zu lassen.6 Darauf deutet nicht zuletzt der Rekurs auf das malerische Genre des Stilllebens hin:
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Dirk Mende, Frauenleben. Bemerkungen zu Fontanes ›L’Adultera‹ nebst Exkursen zu ›Cécile‹ und ›Effi Briest‹. In: Hugo Aust (Hrsg.), Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werkes. Zehn Beiträge, München 1980, S. 183–213, hier S. 187. Der sommerliche Aufenthalt Melanies und ihrer Töchter in der kommerzienrätlichen Tiergartenvilla lässt Reminiszenzen an die großbürgerliche Reiseform der Sommerfrische aufkommen, wenngleich im vorliegenden Fall der Wohnort lediglich innerhalb der Stadtgrenzen gewechselt wird. Die Einbettung der Sommerfrische in das jahreszeitlich strukturierte Gefüge geselligen Verkehrs erläutert Haas speziell für die Wiener Gesellschaft, was aber ohne weiteres auch für die wilhelminischen Verhältnisse Gültigkeit beanspruchen kann: »Da hatte jeder seine Rolle auf den wechselnden Szenerien der zwei saisons zu beherrschen, einer Wintersaison vom [sic!] November bis März, mit Theater, Bällen und Gesellschaft, sowie einer Sommersaison, mit Ausflügen und Sommerfrische« (Hanns Haas, Die Sommerfrische – Ort der Bürgerlichkeit. In: Hannes Stekl, Peter Urbanitsch et al. (Hrsg.), ›Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit.‹ Bürgertum in der Habsburgermonarchie. Bd. 2, Wien 1992, S. 364–377, hier S. 372). Zum Konnex von Sommerfrische und Landpartie vgl. überdies Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Studie.
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3 Geplantes Vergnügen: Organisation und Motivation
Dieses vermag qua seiner Motivik – künstliches Arrangement und kostbare Fülle bei gleichzeitiger Leblosigkeit und Vergänglichkeit – eindrücklich den Zustand der Van der Straatenschen Ehe zu repräsentieren sowie ihre Zukunft zu präfigurieren. Die daraus resultierende Begeisterung für den Vorschlag einer Landpartie, die sich auch in den sogleich mit großem Eifer betriebenen Vorbereitungen demonstriert, potenziert sich überdies durch die Tatsache, dass die Unternehmung einer Landpartie für die Van der Straatens wohl eine Ausnahme geselligen Vergnügens darstellt. So heißt es zum Tag der stattfindenden Landpartie: »Am andern Tage war alles Erregung und Bewegung auf der Villa, viel, viel mehr als ob es sich um eine Reise nach Teplitz oder Carlsbad gehandelt hätte. Natürlich, eine Fahrt nach Stralow war ja das ungewöhnlichere.« (LA, S. 59) Die Namen ›Teplitz‹ und ›Carlsbad‹ fungieren hier als Signalwörter, die auf die habitualisierte Reisekultur des gehobenen Bürgertums im 19. Jahrhundert rekurrieren, in der »[n]eben regelmäßigen mehrtägigen Familienausflügen, Verwandtschaftsbesuchen, jugendlichen Gruppenausflügen, Familien- und Geschäftsreisen [...] vor allem immer wieder Bäderreisen auf dem Programm«7 standen. Eine Tagespartie ins Berliner Umland ist für die Van der Straatens dagegen wohl »das ungewöhnlichere«, so dass hier auf keine standardisierten Vorbereitungsmaßnahmen zurückgegriffen werden kann. Nichtsdestotrotz klärt sich die auch von der Ratgeber-Literatur angemahnte Organisation des »Fuhrwerks« sowie von »Zeit und Ort der Abfahrt«8 ziemlich rasch, und man verständigt sich darauf, dass die Partie am nächsten Tag nach einem Imbiss in der Stadtwohnung der Van der Straatens beginnen soll. Dieser explizite Hinweis auf das zunächst einzunehmende »Gabelfrühstück« (LA, S. 59) vor Beginn der eigentlichen Partie stellt dabei keinen Zufall dar, denn die Frage nach der Integration einer Landpartie in das ritualisierte Gefüge der Mahlzeitenabfolge findet auch in anderen Romanen ihre Problematisierung: Indem die Landpartie als eine Variation des gesellschaftlich-geselligen Alltags fungiert, wirkt sie damit gleichsam als eine gewisse Störung des formalisierten Lebensrhythmus, so dass einzelne Mahlzeiten in ihrer Form und ihrem Umfang modifiziert, wenn nicht gar ganz ausgelassen werden müssen.9 Die Veranstaltung einer Landpartie hat demgemäß die Bereitschaft zur Flexibilität zur Voraussetzung, von etablierten Abläufen kurzzei-
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Wolfgang Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis. In: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3, München 1988, S. 9–44, hier S. 39f. Der gute Ton, S. 72. Vgl. dazu auch Kapitel 4.3.1 der vorliegenden Studie.
3.1 Die Landpartie als Variante ritualisierter Geselligkeit
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tig Abstand zu nehmen. Die Störung des Althergebrachten geht dabei mit einer positiven Konnotation einher, sie wird als Moment der Vitalisierung erlebt. Das Organisationsprocedere der Landpartie in L’Adultera nimmt einen breiten Raum ein und der Leser nimmt seinerseits an allen wesentlichen Entscheidungen Anteil; als Zeuge des Auswahlverfahrens, das über die Zusammenstellung der einzuladenden Landpartie-Gesellschaft entscheidet, ist er gleichsam mit-eingeladen und ›Mit-Einladender‹. Diese Selektion vollzieht sich in den anderen Romanen stets außerhalb des Handlungsgeschehens und kommuniziert sich dem Leser dort allein über ihr Ergebnis in Form von Einladungen respektive letztlich in der Konstellation der bei der Landpartie Anwesenden selbst. In L’Adultera offenbart sich die Signifikanz dieses Verfahrens für das Gelingen der Landpartie nicht zuletzt daran, dass nach erfolgreicher Klärung des geplanten strukturellen Ablaufs »nur die Frage, wer noch aufzufordern sei, […] auf kleine Schwierigkeiten« (LA, S. 57) stößt. Dies mag zunächst irritieren, folgte man der Annahme, die gleiche Gesellschaft aus Verwandten und Bekannten erneut versammelt zu sehen, die wenige Kapitel zuvor dem festlichen Diner in der Stadtwohnung der Van der Straatens beigewohnt hatte. Doch die »Heranziehung des dem Hause zunächst stehenden Kreises« (LA, S. 23) erfährt im Hinblick auf die Landpartie keine identische Wiederholung. Zwar wird die Teilnahme aller Diner-Gäste zur Diskussion gestellt, doch erheben sich bei der Nennung einzelner Namen Bedenken und Einsprüche. Während sich die Ablehnung des Vorschlags, das verwandtschaftlich verbundene Ehepaar Gryczinski zur Landpartie einzuladen, nonverbal in einem allgemeinen Schweigen äußert, weist Melanie die Teilnahme Duquedes hingegen vehement zurück: »Nein […] Duquede nicht.« (LA, S. 52) Nur der Polizeirat Reiff wird von den Damen widerstandslos und erfreut auf der imaginären Einladungsliste zugelassen, wohingegen sich die Partizipation Arnold Gablers und Elimar Schulzes, beide Maler, Schulze allerdings »nur ein halber Maler, zur andern Hälfte aber Musiker« (LA, S. 25), aus eben diesem Grunde für Van der Straaten selbst erklärt: »Arnold und Elimar verstehen sich von selbst. Eine Wasserfahrt ohne Gesang ist ein Unding. Dies wird selbst von mir zugestanden.« (LA, S. 58f.)10 10 Die sich hier durch ›Wasserfahrt‹ und ›Gesang‹ aufdrängende Venedig-Assoziation zählt zu einem zentralen Motivgeflecht, das den gesamten Roman durchzieht und u. a. als Vorausdeutung des Ehebruchs fungiert. Eilert interpretiert die Stadt Venedig, die Musik Wagners und den Ehebruch im Treibhaus überzeugend als Motive europäischer Dekadenzliteratur: Heide Eilert, Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman ›L’Adultera‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 494–517.
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Jene kritische Haltung, mit der den einzelnen Personen des Bekanntenkreises begegnet wird und die die vorab verwendete Titulierung als »engere[r] Zirkel« (LA, S. 22) in etwas fragwürdigem Lichte erscheinen lässt, manifestiert sich bereits im vorangegangenen vierten Kapitel, wenn die zum Diner geladenen Gäste eine schonungslos ironische Charakterisierung erfahren.11 Dass es sich bei den dort zu findenden Kommentaren, der Schwager Gryczinski sei »mehr Verwandter als Freund des Hauses« (LA, S. 23) und der Legationsrat Duquede habe aufgrund seines »hervorstechendsten Charakterzuge[s] […] den Beinamen ›Herr Negationsrath‹ erhalten« (LA, S. 24), wohl um die Figurenperspektive Van der Straatens handelt, lassen zum einen der süffisant-humoristische Duktus und zum anderen weitere, im Kontext der Landpartieorganisation fallende Äußerungen des Kommerzienrates vermuten. Denn selbst das allseits als Teilnehmer an der Landpartie begrüßte Trio aus Reiff, Arnold und Elimar bleibt von Van der Straatens Hohn und Spott »nicht geschont« (LA, S. 60). Legen die vorangegangenen Reflexionen ein eindrückliches Zeugnis davon ab, dass die Konstitution jenes ›engeren Kreises‹, weniger auf bestehende Sympathie als auf familiale Verpflichtung und sozialen Status gründet,12 rekurrieren sie darüber hinaus erneut auf den spezifischen Charakter der Landpartie als eher ungewöhnliches gesellschaftliches Ereignis, für das keine häufig erprobte und standardisierte Gästeliste bereit liegt. Dass der »engere Zirkel« zwar die Kriterien erfüllt, zu einer festlichen Abendgesellschaft geladen zu werden, in toto jedoch nicht dem gewünschten Anforderungsprofil zur Teilnahme an einer Landpartie gerecht wird, korreliert mit einem je differierenden Funktionsmodell: Während die festlichen Diners qua ihrer opulenten 11 Schillemeit konstatiert, dass der Leser mit diesen Nebenfiguren »eine Reihe von glänzend gezeichneten gesellschaftlichen Typen der Zeit vorgeführt bekommt« (Schillemeit, Der späte Fontane, S. 117). 12 Die soziale Bedingtheit der personellen Gruppenkonstellation kann als eine allgemeine Spielart von ›Selbstrekrutierung‹ der höheren Kreise gelten. Dass über die soziale Zugehörigkeit und gesellschaftliche Anerkennung weniger die Persönlichkeit denn die finanziellen Mittel entscheiden, exemplifiziert sich an Van der Straaten in eindrücklicher Weise. Obwohl es ihm laut Reiff an »Bildung und Erziehung« (LA, S. 43) mangelt, disqualifiziert dies nicht die gesellschaftliche Frequentierung seines Hauses. Duquede erinnert sich, dass es schon über Van der Straatens Vater hieß: »Es sei doch ein sonderbares Haus und man könne eigentlich nicht hingehen«, doch lakonisch resümiert er: »Aber uneigentlich ging Alles hin. Und so war es, und so ist es geblieben.« (LA, S. 43) – Zu »neureichen Berliner Parvenüfamilien«, die ihren »Rang, die Aufnahme in die Gesellschaft durch Geld erkauft[en]«, siehe auch Richard Hamann und Jost Hermand, Gründerzeit, München 1971 (= Epochen deutscher Kultur von 1871 bis zur Gegenwart, Bd. 1), S. 148f.
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Ausstattung und der dabei geführten »Tischgespräche […] [soziale] Distinktions-Rituale kat’exochen«13 darstellen, wird die Landpartie in L’Adultera im Gegensatz dazu in der Intention ausgelassener Vergnügung und Kurzweil unternommen und erweist sich im Hinblick auf den sozialen Status der Teilnehmer als weniger reglementiert. So steht die Teilnahme der beiden Fräulein Friederike von Sawatzki und Anastasia Schmidt an der Landpartie nach Stralau zu keiner Zeit zur Disposition, obwohl diese gewiss nie zu einem formellen Diner der Van der Straatens geladen würden. Der Kommentar, Riekchen und Anastasia gehörten zu den »Damen, die zu Weihnachten beschenkt und im Laufe des Jahres zu Kaffees und Landpartien eingeladen wurden« (LA, S. 47), indiziert das konstatierte sozial-osmotische Moment der Landpartie, indem diese hier gar als eine Spielart sozialer Wohltätigkeit in Erscheinung tritt.14 Dennoch bleibt die soziale Hierarchie im Umgang mit den beiden Gesellschaftsdamen immer präsent, und dies sowohl intra- als auch extradiegetisch. Zwar kann das Verhalten der Van der Straatens durchaus als freundlich gelten, es impliziert in seiner Wohltätigkeit allerdings einen herablassenden Gestus.15 Und auch die Erzählinstanz befasst sich »nicht um ihrer selbst willen, sondern in ihrem Verhältnis mit und zur höheren Gesellschaft«16 mit ihnen. Dem Favorisieren einer spezifischen gesellschaftlichen Sphäre, Charakteristikum des Fontaneschen Gesellschaftsromans, attestiert Müller-Seidel eine tendenziell pejorative Note, wenn er zum Figurentableau in L’Adultera bemerkt: »Wer anderen Standes ist, ist Dienstpersonal und mithin Nebenperson. Solche Personen können den erzählten Vorgang allenfalls menschlich ›unterma-
13 Neumann, Das Ritual der Mahlzeit, S. 308. 14 Der hier inhärente Verweis auf die Regelmäßigkeit von Landpartien bleibt textintern nicht widerspruchsfrei, vergegenwärtigt man die aufwendig betriebenen Vorbereitungen der als ›ungewöhnlich‹ bezeichneten Partie nach Stralau. – Die Veranstaltung von Landpartien als Einrichtungen sozialer Wohltätigkeit findet sich auch in Stine. Hier allerdings nicht wie in L’Adultera privat, sondern als Betriebsausflug für die Beschäftigten organisiert, »denn der Herr des Geschäfts sei klug und gütig und wisse, was es wert sei, die, die arbeiten müßten, bei Lust und Liebe zu halten.« (GBA I/11, S. 51) Zu diesem Zweck werden »Maskenball und Theaterstücke« im Winter und »Landpartieen im Sommer« (GBA I/11, S. 51) veranstaltet. 15 Fräulein Rieckchen benennt selbst einsichtig Mitleid mit ihrer Person und Armut als Quelle der ihr zuteil werdenden Freundlichkeit. In ihrer Dankbarkeit stilisiert sie dies aber als größtmögliche Tugendhaftigkeit: »Er [Van der Straaten; M. B.] ist auch so freundlich gegen mich, weil er mitleidig ist. Und mitleidig sein, ist noch viel mehr als blos gütig sein und ist eigentlich das Beste, was die Menschen haben.« (LA, S. 50) 16 Demetz, Formen des Realismus, S. 107.
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len‹. Aber sie tragen zum Aufbau der eigentlichen ›Geschichte‹ im allgemeinen wenig bei.«17 Für die Landpartie in L’Adultera sei einschränkend angemerkt, dass die hier beigesellten Nebenfiguren nicht ›untermalende‹ Staffage bleiben, sondern als sogenannte flat characters zum einen als Agenten der Vergesellschaftung und zum anderen als strategisches Glied der figuralen Choreographie fungieren. Unter diesem Aspekt ist auch die Weigerung der Kinder, an der Landpartie teilzunehmen, und die kurzfristige Absage des Polizeirats Reiff zu verstehen, denn diese Figuren hätten mit ihrer Anwesenheit die ausgelassen-kindlichen Spielereien sowie die folgenreiche gemeinsame Überfahrt Melanies und Rubehns nach Treptow erzähltechnisch erheblich verkompliziert. 3.1.2 »Schach von Wuthenow« Auch in Schach von Wuthenow gesellt sich zu der Landpartie-Gesellschaft – bestehend aus Schach, Frau von Carayon und ihrer Tochter Victoire – eine auch sozial »verschrobene«18 Nebenfigur in Gestalt von Tante Marguerite. Die Teilnahme dieser Tante an der Landpartie, die »als Schwester des verstorbenen Herrn von Carayon« (SvW, S. 31) dem Hause der Protagonistinnen verwandtschaftlich eng verbunden ist, ereignet sich vordergründig zufällig: So betrifft Schachs Einladung zu einer Spazierfahrt einen Dienstagnachmittag, und just an diesem ist ›das Tantchen‹ »ein für allemal zu Mittag geladen« (SvW, S. 31). Und da weder die familialen Bande der von Carayons noch Schachs »Artigkeit und Grandezza« (SvW, S. 33) einen Ausschluss der Tante von der geplanten Geselligkeit erlauben, komplettiert diese die Teilnehmerzahl zu einem Quartett. Die für den Roman entscheidende Dreieckskonstellation aus Schach und den beiden Damen ist damit jedoch nur scheinbar
17 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 166. – Martin attestiert dem Dienstpersonal trotz seiner tradierten Rollenschemata verpflichteten Darstellung eine zentrale Funktion in Fontanes Gesellschaftsromanen: »The servants, whilst immediately distinguishable as minor characters and shaped by conventional role models, make a fundamental contribution to the global picture of reality presented by the author. […] All provide an important commentary on the protagonists and the changing face of society« (Gillian Martin, Tradition and Innovation. The Portrayal of the Servant Figures in the Narrative Fiction of Theodor Fontane. In: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr et al. (Hrsg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, Tübingen 2000, S. 275–286, hier S. 286). 18 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 140.
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aufgehoben – noch dazu in der hochsymbolischen Zahl ›vier‹. Die in Goethes Nachfolge sich einstellenden Reminiszenzen bleiben auch hier nicht auf amourös-sexuelle Verstrickungen beschränkt, sondern betreffen auch die Romankonzeption: »Die Dreier-Konfiguration folgt einer erzählerischen Experimentanordnung, die nicht weniger komplex in den Verschiebungen ihrer Parameter ist wie die des ›Quartetts‹ in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Wie in diesem Roman sind auch in ›Schach von Wuthenow‹ die Prognosen schon zu Beginn gestellt.«19 Die Partizipation Tante Marguerites ändert daran nichts, sondern erklärt sich vielmehr als Teil der Versuchsanordnung, wobei die Addition eine taktisch-kalkulierte Handlungsdynamisierung bewirkt. Denn über die derart gewonnene Symmetrie finden sich die vier Figuren während des Abendspaziergangs in Tempelhof jeweils zu Gesprächspaaren zusammen, so dass Schach auf dem Hinweg mit Frau von Carayon, später auf dem Rückweg mit Victoire in ein vertrauliches Gespräch versetzt ist. Die intensive Teilhabe des Rezipienten am Auswahlverfahren der Landpartie-Gesellschaft wie in L’Adultera wiederholt sich bei Schach von Wuthenow nicht. Dies liegt zum einen in einer modifizierten Motivation der Spazierfahrt und zum anderen in einem Standortwechsel des Erzählens begründet. Die an Mutter und Tochter gerichtete Einladung kann hierbei eindeutig als von Schachs Wunsch initiiert gelten, die bestehende ›freundschaftliche Intimität‹ insbesondere zu Frau von Carayon zu pflegen, wenn nicht gar zu vertiefen. Darüber hinaus intendiert Schach rasch ein Zusammentreffen in intimem Kreis, blieb ihm dieses einen Abend zuvor doch verwehrt; denn anstatt Mutter und Tochter allein anzutreffen, musste er bei seinem Besuch zu seinem Unmut eine versammelte Gesellschaft vorfinden: »Ich hatte vergessen, daß Ihr Empfangsabend war, und erschrak fast, als ich Bülow sah und […] Sander.« (SvW, S. 38) Scheint hier einerseits der persönliche Antagonismus Schachs und von Bülows durch, der über die geführten politischen und allgemein weltanschaulichen Kontroversen nicht zuletzt als Modus der Figurencharakterisierung fungiert,20 lässt sich andererseits das narrative Strukturmerkmal erkennen, die Landpartie-Episode einer vorangegangenen Geselligkeit nachzuordnen. Die Einladung Schachs an die von Carayons erfolgt in einem Billet, das »Schachs kleiner Ned« (SvW, S. 29) persönlich überbringt, schließlich mahnt
19 Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 123. – Indem die Romanhandlung in das Jahr 1806 versetzt ist, besteht sogar eine Datierungsnähe zwischen Schach von Wuthenow und Die Wahlverwandtschaften (1809). 20 Vgl. dazu auch Demetz, Formen des Realismus, S. 136ff.; Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 138ff.; Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 118.
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die Spontaneität der noch für denselben Tag anberaumten Landpartie zur Eile. Diese Eile betrifft dabei nicht allein den Modus der Zustellung, sondern limitiert auch die zu einer Entscheidungsfindung über Zu- oder Absage gewährte Zeit, soll doch der entsprechende »Bescheid [unmittelbar] durch den Überbringer« (SvW, S. 29) erfolgen. Dass die Annahme der Einladung eigentlich nie zur Diskussion steht und Frau von Carayon ihre Tochter lediglich rhetorisch nach der zu treffenden Entscheidung fragt, bestätigt die ungläubige Reaktion Victoires: »Aber Du kannst doch nicht ernsthaft fragen, Mama?« (SvW, S. 30) Das bereits erwähnte, der Dreieckskonstellation aus Schach, Mutter und Tochter von Carayon inhärente Konfliktpotential manifestiert sich im Roman hier erstmals explizit an der Frage, wie Schach die Annahme seiner Einladung zu kommunizieren sei. Denn haben zuvor lediglich »ein Schimmer freudiger Überraschung«, der beide Damen bei Schachs Besuch am Vorabend »überflog« (SvW, S. 8), und die in einer Männerrunde von Nostiz geäußerte Spekulation über ein bestehendes Verhältnis zwischen Schach und Frau von Carayon auf amouröse Verbindungen hingewiesen, bestätigen und verkomplizieren sich diese Verbindungen nun gleichermaßen, weil auch eine emotionale Verstrickung Victoires angedeutet wird. Auf Schachs Einladung und sein Angebot, die Wahl des Ausflugsziels den Damen zu überlassen, verfasst sie folgendes mehrdeutiges Antwortbillet: »Herzlichst acceptiert, trotzdem die Ziele vorläufig im Dunkeln bleiben. Aber ist der Entscheidungsmoment erst da, so wird er uns auch das Richtige wählen lassen.« (SvW, S. 30) Der nachfolgende Dialog zwischen Mutter und Tochter verhehlt keineswegs, dass es sich bei der Verwendung der Vokabel »Ziele« unmissverständlich um ein Wortspiel handelt, das vordergründig die Benennung eines Ausflugsorts auf einen späteren Zeitpunkt vertagt, recht eigentlich jedoch auf bislang ungeklärte zwischenmenschliche Verhältnisse verweist. Denn während Frau von Carayon ihr Unbehagen gegenüber »solche[n] Pikanterien« und »Rätselsätze[n]« (SvW, S. 30) zwar äußert, aber nicht auf eine Änderung des Wortlauts besteht, begegnet Victoire trotzig den Bedenken ihrer Mutter und reklamiert für sich die Berechtigung zu derart intrikaten Wortspielereien: »Du dürftest sie [solche Rätselsätze; M. B.] auch nicht schreiben. Aber ich? Ich darf alles.« (SvW, S. 30) Hier beansprucht Victoire einen unkonventionellen Umgang mit den strikten, normativen Gepflogenheiten des ›guten Tons‹, den sie nicht zuletzt mit ihrer mangelnden, Blatternarben zum Opfer gefallenen Schönheit legitimiert. Diesem Schicksal begegnet sie mit einem verzweifeltresignierten Sarkasmus, und indem ihre äußerliche Entstelltheit jedwedes »Anrecht auf Leben und Liebe« (SvW, S. 79) zu vereiteln scheint, besteht aus ihrer Perspektive auch nicht die Notwendigkeit, sich verbal stets dem sitt-
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lichen Verhaltenskodex unterzuordnen. Das ihrer Hässlichkeit inhärente Potential, ihr innerhalb der repressiven patriarchalen Strukturen ein gewisses Maß an Freiheiten zu eröffnen, wird von Victoire selbst erkannt und formuliert – und dies nicht zufällig in Gegenwart Schachs und fast unmittelbar vor ihrem verhängnisvollen Fehltritt:21 »Aber andererseits geh ich nicht blind an dem eingetauschten Guten vorüber, und freue mich meiner Freiheit. Wovor andre meines Alters und Geschlechts erschrecken, das darf ich.« (SvW, S. 77)22 Diese Bedeutungsdimension bleibt allerdings in der betrachteten Szene der Einladungsannahme mehr angedeutet als expliziert, und Victoire rechtfertigt ihren Wortlaut mit der Absicht, eine Heirat zwischen Schach und ihrer Mutter zu arrangieren respektive zu beschleunigen: »Die Leute reden so viel, auch schon zu mir, und da Schach immer noch schweigt und Du nicht sprechen darfst, so muß ich es thun statt Eurer und Euch verheiraten.« (SvW, S. 30) Erneut widersetzt sich Victoire also einem ›Unsagbarkeitstopos‹, der in diesem Kontext dezidiert geschlechtsspezifisch codiert ist, wird doch der Frau im Kontext der Liebeswerbung und Eheschließung eine passive Rolle zugewiesen,23 die sie auf der kommunikativen Ebene zum Schweigen verdammt.24 Die für den Roman konstitutive »Dramaturgie der Verschiebungen 21 Zu dieser Wechselwirkung von Victoires Hässlichkeit und dem Gewinn gesellschaftlicher Freiheit vgl. auch Peter C. Pfeiffer, Tod, Entstellung, Hässlichkeit: Fontanes ›Schach von Wuthenow‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 264– 276, hier S. 268; Patricia Howe, Faces and Fortunes: Ugly Heroines in Stifter’s ›Brigitta‹, Fontane’s ›Schach von Wuthenow‹ and Saar’s ›Sappho‹. In: German Life and Letters 44 (1991), S. 426–442, hier S. 434. 22 Mittelmann stellt indes pointiert Victoires Internalisierung eines Frauenbildes heraus, das Hässlichkeit als Verfehlung weiblicher ›Bestimmung‹ wertet und daraus die Vergeblichkeit persönlichen Glücks ableitet: »Indem Victoire allein den Besitz der Schönheit als Voraussetzung und Garantie des weiblichen Glücks ansieht, hat sie sich der gesellschaftlichen Ideologie vom Idealbild der Frau bis zum Punkt der Selbstentfremdung und des völligen Verlusts ihrer inneren Autonomie unterworfen« (Hanni Mittelmann, Die Utopie des weiblichen Glücks in den Romanen Theodor Fontanes, Bern 1980, S. 20). 23 »Einerseits völlig auf eine Zukunft von Ehe und Liebe verwiesen, darf sie [die Frau; M. B.] gleichwohl diese Zukunft weder durch Initiativen und Planungen vorbereiten, noch durch offene Gefühlsbereitschaft auslösen oder antizipieren« (Dietrich Schwanitz, Verselbständigung von Zeit und Strukturwandel von Geschichten: Zum Zusammenhang zwischen temporalem Paradigmenwechsel und Literaturgeschichte. In: Martin Middeke (Hrsg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S. 75–89, hier S. 85). 24 Auch Sabina Becker interpretiert die verbale Passivität Fontanescher Frauenfiguren als literarische Repräsentationsform des Weiblichen, die das repressive Potential der
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in der Konfiguration von Mutter-Tochter« ist an dieser Stelle »als eine raffinierte Inversion konventioneller Liebes- und Heiratspolitik inszeniert: Nicht die Mutter verfolgt Strategien der Verheiratung ihrer Tochter, es ist vielmehr umgekehrt die Tochter, die diesen Part der Mutter übernimmt.«25 Der Ungewöhnlichkeit zwar gewahr, kommentiert Victoire ihr aktives Eingreifen überaus lapidar: »Alles in der Welt kehrt sich einmal um. Sonst verheiraten Mütter ihre Tochter, hier liegt es anders, und ich verheirate Dich.« (SvW, S. 30) Obwohl Victoire selbst ihr Wortspiel ausschließlich damit erklärt, die Verheiratung ihrer Mutter initiieren zu wollen, sind diesem weitere Bedeutungsdimensionen eingeschrieben. Denn entgegen ihrer scheinbaren Selbstlosigkeit steht Victoire Schach emotional keineswegs unbeteiligt gegenüber, so dass die intrikate Anspielung implizit auch die Hoffnung umfasst, Schachs bisherige Unentschlossenheit zwischen Mutter und Tochter (liegen doch seine »Ziele vorläufig im Dunkeln«) könnte, sobald »der Entscheidungsmoment erst da [ist]«, zu ihren Gunsten aufgehoben werden. Indem sich diese Hoffnung Victoires im weiteren Handlungsverlauf erfüllt, wenngleich unter gänzlich anderen Vorzeichen, rekurriert der Rätselsatz nicht nur subtil auf Victoires eigene Affektion. Vielmehr trägt ihre Stilisierung »als rätselhafte Sphinx« wesentlich zu Schachs »verhängnisvolle[m] Projektionsmechanismus« bei, der seine Verführung Victoires bedingt: »Mit ihrem Billet eröffnet Victoire jenes Vexierspiel um ihre Person, dessen Regie ihr nur zu bald aus den Händen gleiten wird.«26 Neben seiner katalysierenden Wirkung kommt dem Billet darüber hinaus eine vorausdeutende Funktion zu, die im vorliegenden Fall explizit mit seiner Begrifflichkeit zusammenfällt: So überträgt die Karikatur, die Schach im 13. Kapitel anonym zugespielt wird, zum einen die Dreiecksbeziehung und Schachs Unentschiedenheit visuell in die Bildersprache »eine[r] radierte[n] Skizze«; zum anderen bedient sich die Bildunterschrift »Le choix du Schach« (SvW, S. 102) fast wörtlich – wenn auch in französischer Übersetzung und
patriarchalen Gesellschaftsordnung zum Ausdruck bringt: »Der Beredsamkeit der Männer steht also das Schweigen der Frauen gegenüber, zweifelsfrei ein bedeutsames Schweigen, spiegeln sich darin doch gesellschaftliche Unterdrückung und seelische Isolierung« (Sabina Becker, Literatur als ›Psychographie‹. Entwürfe weiblicher Identität in Theodor Fontanes Romanen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), S. 90–110, hier S. 100). Diese These findet sich auch in Sabina Becker, ›Wer ist Cécile?‹ Der ›Roman einer Phantasie‹: Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 43 (2002), S. 130–154, hier S. 147ff. 25 Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 123. 26 Claudia Liebrand, Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg im Breisgau 1990, S. 135.
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somit in distanziertem, ›verfremdetem‹ Modus – der Formulierung Victoires, der entscheidende Moment werde »das Richtige wählen lassen.«27 Eine ähnlich vorausdeutende Funktion auf das kommende Geschehen hat auch Frau von Carayons Reaktion auf die von Victoire intendierte Ehestiftung, wenn sie dieser vielsagend versichert: »Glaube mir, Deine kleine Hand wird das Band nicht knüpfen, das Du knüpfen möchtest. […] Ich weiß es besser.« (SvW, S. 31) Die Weiterführung jenes Dialogs zwischen Mutter und Tochter wird durch die unvermittelte Ankunft Tante Marguerites und ihre Begrüßung vereitelt. Gleich einem retardierenden Moment wird die evozierte Spannung um die amourös-chiastischen Verwicklungen zwischen Schach und den von Carayons also zunächst in der Schwebe gehalten und erfährt erst im Rahmen der Landpartie ihre Fortführung. Die Relevanz der Landpartie-Episode für die gesamte Handlung bestätigt nicht zuletzt ihre hier en miniature zu erkennende, mit Kalkül betriebene dramaturgische Konzeption. 3.1.3 »Frau Jenny Treibel«28 Der Roman Frau Jenny Treibel macht nicht nur deutlich, dass eine ›Dramaturgie‹ der Handlungsführung generell als konstitutives Moment der Landpartie-Darstellungen Fontanes gelten kann; darüber hinaus exemplifiziert er
27 Die Karikatur und ihre Subscriptio sind damit Produkt einer doppelten Übersetzung, nämlich in Bild und (Fremd-)Sprache. Dabei ist natürlich zu vergegenwärtigen, dass in der Narration des Romans die Bildhaftigkeit allein mit den Mitteln der sprachlichen Darstellung evoziert wird, es sich also recht eigentlich um eine ge- und beschriebene Karikatur handelt. Insofern findet hier die Tradition der Ekphrasis einen Reflex, die darauf zielt, »die angenehme Illusion zu ermöglichen, daß die Wörter ein sinnlich wahrnehmbares Objekt hervorbringen, obwohl es sich dabei natürlich nur um ein geistig und damit nur im übertragenen Sinne faßbares Objekt handelt« (Murray Krieger, Das Problem der ›Ekphrasis‹. Wort und Bild, Raum und Zeit – und das literarische Werk. In: Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 41–57, hier S. 45). Vgl. zu be- respektive geschriebenen Bildern in der Gegenwartsliteratur paradigmatisch Anne-Kathrin Reulecke, Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur, München 2002. 28 Vgl. zu diesen und folgenden Ausführungen auch meinen Aufsatz Milena Bauer, Bewegte Nähe. Der Topos der Landpartie bei Theodor Fontane. In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber et al. (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt, Würzburg 2014 (= Fontaneana, Bd. 13), S. 81–96.
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auch die literarisch-ästhetische Fruchtbarkeit einer der Dramenanalyse entlehnten Terminologie: »Es ist kennzeichnend für den Handlungsaufbau, wie bequem sich auf ihn die Kategorien traditioneller Schuldramaturgie anwenden lassen.«29 Insbesondere die komischen Momente des Romans und die Figur der Corinna Schmidt haben die Forschung dazu veranlasst, Frau Jenny Treibel als eine »erzählte[ ] Komödie«30 oder »als Lustspiel in Prosaform«31 zu bezeichnen. Diese epische Aneignung und Überformung komödienhafter Aspekte sei allerdings nicht ungewöhnlich, sondern reihe den Roman vielmehr in die europäische, literarhistorische Tradition des Gesellschaftsromans ein.32 Doch auch jenseits der ›Auftritte‹ Corinnas, die sich auch von ihrem Cousin Marcell den Vorwurf gefallen lassen muss, speziell in ihrem Werben um Leopold Treibel »beständig eine Komödie« (JT, S. 60) zu spielen, jenseits also jeglicher komischer und komödiantischer Aspekte, zeigt sich rein strukturell eine »Tendenz zur ›dramatischen‹ Organisation […], d. h. die dialektische Verschränkung von Ereignis und Figur; Wendung und Umschlag«33. Dieses Strukturprinzip, das nicht allein für Frau Jenny Treibel gilt, sondern das Demetz in Fontanes »bedeutendsten Gesellschaftsromanen der Achtzigerund frühen Neunzigerjahre«34 erkennt, korreliert hierbei, analog zur Grundthese der vorliegenden Untersuchung, maßgeblich mit dem multifokalen Erzählgegenstand der Landpartie. Initiierung und Durchführung der Landpartie vollziehen sich im neunten und zehnten Kapitel des Romans, so dass bei insgesamt sechzehn Kapiteln numerisch keine vollständige Symmetrie gegeben ist, orientierte man sich an der nach Gustav Freytag idealtypisch pyramidalen Struktur einer geschlossenen dramatischen Handlung. Und doch kann die Landpartie als Ziel- und vorläufiger Höhe- respektive Wendepunkt der vorangegangenen Handlung gelten,35 schließlich vollzieht sich während der Landpartie das heimliche Ver29 Peter Wruck, Frau Jenny Treibel. ›Drum prüfe, wer sich ewig bindet‹. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 2008, S. 185–216, hier S. 188. 30 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 316. 31 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 115. 32 »Komik und Komödie im Roman sind dem Gesellschaftsroman des neunzehnten Jahrhunderts nichts Fremdes. Vorzüglich im Roman spielt sich die ›comédie humaine‹ ab, nicht nur bei Balzac« (Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 316). 33 Demetz, Formen des Realismus, S. 158. 34 Ebd. 35 Auch Kafitz erkennt in der Handlung »die fünf Akte eines Schauspiels« mit der Landpartie als Höhepunkt (Dieter Kafitz, Die Kritik am Bildungsbürgertum in Fontanes Roman ›Frau Jenny Treibel‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), Sonderheft, S. 74–101, hier S. 91).
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löbnis zwischen Corinna und Leopold, was angesichts der allgemeinen »Handlungsarmut«36 das entscheidende Ereignis des Romans darstellt. Betrachtet man die subtile Hinführung der Handlung auf diesen Ausflug nach Halensee, lassen sich sowohl im Hinblick auf L’Adultera als auch Schach von Wuthenow Analogien finden. So ist auch die Landpartie in Frau Jenny Treibel in das Konzept ritualisierter Geselligkeit eingebettet und folgt in chronologischer Perspektive dem festlichen Diner der Treibels nach. Beginnt zudem Schach von Wuthenow medias in res in der geselligen Runde im Salon der von Carayons, stellt im vorliegenden Fall die Einladung zu einem Diner den Auftakt der Handlung dar, ja, scheint für diese sogar Anlass und Auslöser des Erzählens zu sein und verknüpft damit notwendige Aufgaben der Exposition: »Im Handlungsgang bestimmt, Corinna für den nächsten Tag zum Diner einzuladen, führt Jennys Visite im Funktionszusammenhang vor allen Dingen in das Figurensystem und den thematischen Horizont der Erzählung ein.«37 Der »thematische Horizont« ist abseits des je spezifischen Figuren- und Konfliktensembles schließlich im Gesellschaftsroman nicht zuletzt die Zelebration zeittypischer Geselligkeit.38 Während in den Kapiteln zur Einladung und zum Diner sämtliche Protagonisten in Erscheinung treten und Corinnas Flirt mit Leopold seinen Anfang nimmt, korreliert jene Abendgesellschaft auch insofern sinnfällig mit der später folgenden Landpartie, als dort auch die mit Treibels befreundete, jedoch zum Personal der Nebenfiguren zählende Familie Felgentreu geladen ist, die ihrerseits maßgeblich die Partie nach Halensee initiiert.39 Mit ihrer Aufforderung der Treibels, an der Landpartie teilzunehmen, entsprechen die Felgentreus der »Gepflogenheit ›gesellschaftlichen 36 Demetz, Formen des Realismus, S. 161. 37 Wruck, Frau Jenny Treibel, S. 189. 38 Die dem Roman Frau Jenny Treibel inhärente Bildungskritik, die sich besonders an der titelgebenden Protagonistin manifestiert, übt Fontane nach Müller-Seidel denn auch in »einer erzählten Welt […], in der man Gesellschaften gibt, Landpartien unternimmt und die Gelegenheit zur Konversation ergreift, wo immer sie sich bietet« (Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 301f.). 39 Fungieren die Felgentreus neben weiteren anonym bleibenden »befreundeten Fabrikbesitzer[n]« (JT, S. 24) in der Darstellung des Diners primär als Staffage der Szenerie, erklärt sich im Hinblick auf die Landpartie-Organisation retrospektiv durchaus die strategische Relevanz ihrer Anwesenheit, die sich auch in ihrer namentlichen Benennung indiziert finden kann. – Die gesellschaftliche Zusammensetzung der Gäste beim Treibelschen Diner ist nach Hauschild »von hoher zeitgeschichtlicher Aussagekraft«, indem sie die einladende Bourgeoisie sinnfällig zwischen Adel und Bildungsbürgertum positioniert (Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 118).
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Verkehrs‹«40: Dem soziokulturellen Geselligkeitsskript folgend reagieren sie auf den Empfang einer Einladung pflichtgemäß mit einer Gegeneinladung. Die Landpartie stellt also auch hier eine Variante ritualisierter Geselligkeit dar, so dass der Wunsch nach Vergnügen und Müßiggang erneut als Movens bestimmt werden kann. Darüber hinaus ist die Landpartie in Frau Jenny Treibel explizit als Setting der Ehepartnersuche benannt, denn die Verheiratung der beiden Felgentreuschen Töchter fungiert als gewichtiges Motiv für die Veranstaltung einer Landpartie.41 Betrachtet man die teilnehmende Landpartie-Gesellschaft in Frau Jenny Treibel, so stehen den drei unverheirateten jungen Frauen, den Schwestern Felgentreu und Corinna, fünf ledige Männer gegenüber. Neben Leopold Treibel ist auch ein ›Quartett‹ mit von der Partie, das den Tenor Adolar Krola nach Halensee begleitet, der dem Leser ebenfalls von den Dinerkapiteln bekannt ist. Nicht allein die geäußerte Euphorie verschiedener Figuren über diese »Zusammensetzung der Gesellschaft« (JT, S. 130) verweist auf die mit der Landpartie verfolgten heiratsstrategischen Absichten, schließlich sind die vier jungen Männer »Referendare von der Potsdamer Regierung« »[u]nd Reserveofficiere« (JT, S. 129), wie die Felgentreu-Schwestern zu berichten wissen. Auch die Reihenfolge der ausgesprochenen Einladungen lässt auf besagte Strategien schließen. Denn dem Moment, in dem Kommerzienrat Treibel (und mit ihm der Leser) über das Vorhaben zu einer Landpartie nach Halensee in Form einer persönlich überbrachten Einladung durch seine Schwiegertochter Helene und die Felgentreu-Töchter in Kenntnis gesetzt wird, geht bereits die Einladung und Zusage Krolas und des Quartetts voraus, derer Treibel denn auch eindringlich versichert wird, während zuletzt und direkt im Anschluss noch die beiden »Schmidt’s aufzufordern« (JT, S. 128) seien. Die These einer hier zu konstatierenden Ökonomie in der Darstellung des Einladungsprocederes kann in zweierlei Hinsicht begründet werden: Diese offenbart sich auf der einen Seite auf figuraler Ebene in der hierarchisch strukturierten Folge der Einladungen, die abwärts entlang impliziter Prioritäten der einladenden Felgentreus verläuft; so lässt sich mutmaßen, dass die Zusage Krolas und seiner Begleiter recht eigentlich die Bedingung der nachfolgenden Ge- und Besuche darstellt und im Falle einer Absage möglicherweise Abstand vom Vorhaben einer Landpartie genommen worden wäre. Wenngleich dies Spekulation bleiben muss, legitimiert dennoch die dezidierte Hierarchisierung das ökonomische Moment der Felgentreuschen Einladungspraxis – im hier vorliegenden Falle einer intendiert-kalkulierten Verheiratung 40 Conrad Wandrey, Theodor Fontane, München 1919, S. 45. 41 Vgl. dazu Kapitel 5 der vorliegenden Studie.
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gar im doppelten Sinne, nämlich eines taktischen Vorgehens und einer ökonomischen Versorgung der jungen Frauen im Eheverbund. Auf der anderen Seite kann eine Ökonomie der Darstellung auch im Hinblick auf die Erzählinstanz konstatiert werden, die es geschickt vermag, trotz der reduzierten Gestaltung lediglich eines Einladungszeremoniells, dennoch über alle weiteren Landpartie-Teilnehmer zu informieren. Dieses Moment der Verdichtung korreliert darüber hinaus mit dem generellen Fokus des Erzählinteresses, der sich, wie schon zu L’Adultera bemerkt, auch in Frau Jenny Treibel vornehmlich auf die Hauptfiguren, und hier namentlich die Treibels und Schmidts richtet. Dass die Dominanz jenes Figurentableaus auch im vorliegenden Fall Nebenfiguren nur in ihrer Beziehung zu den Protagonisten zur Geltung kommen lässt, erweist sinnfällig die Verteilung der Redeanteile innerhalb der Einladungsszene: Wenngleich eigentlich die Felgentreus, hier in Gestalt der beiden Töchter anwesend, die Initiatoren der Landpartie darstellen, fungiert dennoch Treibels Schwiegertochter Helene als ›Sprachrohr‹, die Idee und Stand der Organisation vorträgt, während Blanca und Elfriede Felgentreu fast gänzlich schweigend der Szenerie mehr als Staffage beiwohnen. Der Verzicht auf einen Erzählpassus, der allein die Anfrage der Felgentreus an Krola beschriebe und somit allein von Nebenfiguren handelte, erklärt sich vor diesem Hintergrund als konsequent. Die nachfolgend geschilderte Reaktion Corinnas auf die Einladung zur Landpartie umfasst ebenfalls die Motivationsmodelle des geselligen Vergnügens sowie der (Ehe-)Partnerwerbung. Das Bewusstsein einer Konkurrenzsituation, die zwischen ihr und den ebenfalls ledigen Felgentreu-Töchtern im Hinblick auf die Attraktion der anwesenden Junggesellen besteht, verdeutlicht sich in Corinnas Beschluss, »ihr Bestes zu thun, um sich bei dieser Gelegenheit auch äußerlich neben den Felgentreus behaupten zu können.« (JT, S. 130) Dass ihre in dieser Hinsicht sehr konkret verfolgten Ziele, nämlich Leopold Treibel zu einer Verlobung zu bewegen, von Erfolg gekrönt sein werden, wird über eine diffuse Ahnung Corinnas angedeutet: »Denn in ihrer Seele dämmerte eine unklare Vorstellung davon, daß diese Landpartie nicht gewöhnlich verlaufen, sondern etwas Großes bringen werde.« (JT, S. 130) Dieser sentimental-träumerische Gestus, der nicht eines ironischen Untertones entbehrt, resultiert aus Corinnas »besonderer Freudigkeit« (JT, S. 130), die sie der bevorstehenden Landpartie entgegen bringt: »So klang denn ›ein Nachmittag in Halensee‹ fast so poetisch wie ›vier Wochen auf Capri‹« (JT, S. 130).42 42 Lässt sich der Erzählinstanz des Romans in toto eine ironisch-distanzierte Haltung attestieren, muss diese Passage zudem mit Corinnas Fähigkeit zur Selbstironie zu-
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Diese unverhältnismäßige Assoziation hat ihre Ursache überdies in der Sehnsucht nach Abwechslung und Unterbrechung des eintönigen Alltags, schließlich hatte Corinna »sich seit dem Dinertag bei Treibel’s in ihrer häuslichen Einsamkeit herzlich gelangweilt« (JT, S. 130). Die sich hier manifestierende Abhängigkeit Corinnas von den Treibels und Felgentreus, die ihr mit den Einladungen zu Diner und Landpartie eine Teilhabe am gesellschaftlichgeselligen Leben ermöglichen, gründet indes nicht allein in ihrem Status als unverheiratete junge Frau, sondern rekurriert darüber hinaus auf die sozialhistorische Ausdifferenzierung des deutschen Bürgertums in Bildungs- und Besitzbürgertum: »Schmidt und die Treibels markieren die beiden Entwicklungslinien des Bürgertums nach der gescheiterten Revolution von 1848.«43 Als Industrielle verfügen sowohl die Treibels als auch die Felgentreus im Gegensatz zur Professorenfamilie der Schmidts über die finanziellen Mittel einer »standesgemäße[n] Lebenshaltung«44, zu der – im Sinne einer primär als Habitus gepflegten Bürgerlichkeit 45 – insbesondere auch die Repräsentation des sozialen und monetären Ansehens im Rahmen gesellschaftlichen Verkehrs zählen, sei es nun auf Seiten der Gastgeber oder der Gäste. Doch wertete man die Einladungen an Corinna und Professor Schmidt allein als großzügig gewährtes Almosen, bliebe der recht eigentlich zu beiderseitigem Vorteil gereichende Vorgang verkannt. Schließlich basiert dieser auf einem ›Handel‹ zwischen Bildungs- und Besitzbürgertum, in dem (ideelles) Prestige und politische Macht als Tauschwerte agieren und der, abstrahiert von der Romanhandlung, ebenfalls historische Zeitverhältnisse widerspiegelt: Als Ersatz für den aufgegebenen Einfluß tauscht es [das Bildungsbürgertum; M. B.] ein gewisses gesellschaftliches Ansehen ein, man könnte sagen, das Besitzbürgertum honoriert das Desengagement des Bildungsbürgertums durch Aufwertung des Prestiges. So sieht denn auch Jenny Treibel die Schmidts gerne bei ihren Diners, sie gehören zur repräsentativen Ausstattung wie Adlige und Künstler.46
Dass die Felgentreus auf die Einladung von Corinnas Cousin Marcell zur Landpartie verzichten, dieser »war zur Theilnahme nicht aufgefordert wor-
43 44 45 46
sammengedacht werden, die Mittenzwei als Wesenszug des »Schmidtsche[n] jeu d’esprit« bezeichnet (Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 151). Kafitz, Die Kritik am Bildungsbürgertum, S. 94. Lilo Grevel, Frau Jenny Treibel. Zum Dilemma des Bürgertums in der Wilhelminischen Ära. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 108 (1989), S. 179–198, hier S. 186. Vgl. Morten Reitmayer, ›Bürgerlichkeit‹ als Habitus. Zur Lebensweise deutscher Großbankiers im Kaiserreich. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 66–93. Kafitz, Die Kritik am Bildungsbürgertum, S. 94. Daher bilde Fontanes Roman nach Kafitz »das Nebeneinander, nicht aber das Gegeneinander, von Bildungs- und Besitzbürgertum« ab (ebd., S. 95).
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den« (JT, S. 130), verwundert in diesem Kontext zunächst, schließlich ist Marcell ebenfalls Vertreter des Bildungsbürgertums und war neben Corinna auch zu Jenny Treibels Diner zu repräsentativen Zwecken geladen. Vergegenwärtigt man sich hingegen das Landpartien grundsätzlich inhärente handlungsdynamische Potential in Fontanes Romanen, erfüllt Marcells Fernbleiben eine ähnliche Funktion wie die Absage des Polizeirats Reiff in L’Adultera und die Teilnahme Tante Marguerites in Schach von Wuthenow: Im Sinne einer taktisch kalkulierten Figurenkonstellation und -choreographie ist auf diese Weise dem in ein Verlöbnis mündenden vertraulichen Gespräch zwischen Corinna und Leopold Treibel während des Spaziergangs um den Halensee buchstäblich der Weg geebnet. Indem der Halensee als Ziel der noch am selben Nachmittag stattfindenden Landpartie von den Felgentreus vorab genannt wurde, sind Treffpunkt und Uhrzeit damit grundsätzlich bestimmt: Nach dem Beschluss, »auf gemeinschaftliche Fahrt [zu] verzichten,« einigt man sich darauf, um »Punkt vier Uhr und jedenfalls nicht mit Ueberschreitung des akademischen Viertels in Halensee zu sein.« (JT, S. 130) Die bemerkenswerte Bereitschaft aller immerhin sechzehn Teilnehmer, sich binnen weniger Stunden zu einer Landpartie-Gesellschaft zusammenzufinden, verweist wiederum auf die soziale Sphäre, der die hier vorgeführten Figuren angehören. So kann als Bedingung der demonstrierten Spontaneität auch die flexible Verfügung über die eigene Zeit gelten, die eine Beteiligung an geselligem Müßiggang ohne weiteres erlaubt. Während dies insbesondere für die jeglicher beruflichen Verpflichtung ledigen weiblichen Figuren gilt, wird auch Kommerzienrat Treibel als Herr seiner Zeiteinteilung gezeichnet, was sich wohl nicht zuletzt seines finanziellen Erfolges verdankt. Dies korreliert wiederum mit der Genrekonvention des Gesellschaftsromans Fontanes, dessen Fokus sich auf das »›private‹ Leben richtet und vor allem das ›Berliner gesellschaftliche Leben‹ darzustellen sucht«47. Das in diesem Roman vorgeführte Milieu des Bildungs- und Besitzbürgertums ist dabei jedoch keineswegs von der Notwendigkeit enthoben, beruflichen Pflichten zur Sicherung des Lebensunterhaltes nachzugehen, allerdings bleiben »die eher bedrückenden und belastenden Erfahrungen des Erwerbs- und Geschäftslebens«48 von der Romanhandlung ausgespart: Die Figuren agieren »von Berufspflichten frei« und »gleichsam als ›Privatpersonen‹ […]. Von Treibels Tätigkeit als Geschäftsmann und Industrieller erfährt man als Leser des Romans ebensowenig wie von Schmidts Lehrerdasein am Gymnasium.«49 Er47 Böckmann, Der Zeitroman Fontanes, S. 99. 48 Scherpe, Allerlei Fontane, S. 163. 49 Gerhard Plumpe, Roman. In: Edward McInnes und Gerhard Plumpe (Hrsg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
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gänzend sei noch angemerkt, dass sich die Teilnahme an der in Frau Jenny Treibel veranstalteten Nachmittagspartie durchaus mit beruflicher Tätigkeit vereinbaren ließe. Und es spricht einiges dafür, die Verspätung respektive das spätere Hinzutreten Schmidts auf dessen Berufstätigkeit als Gymnasiallehrer zurückzuführen; schließlich rechnet Helene Treibel noch vor Aussprache der Einladung zur Landpartie mit eben jenem Fall: »[D]er Professor kommt dann vielleicht nach.« (JT, S. 129) 3.1.4 »Der Stechlin« Auch wenn die Dampferfahrt zum Eierhäuschen in Der Stechlin ebenfalls in Form einer Nachmittagspartie unternommen wird, stellt sich hier nicht die Frage nach einer Vereinbarkeit von notwendigen Pflichten der Erwerbstätigkeit und Amüsement: Zum einen sind die Teilnehmer Woldemar von Stechlin, Graf Barby und seine zwei Töchter sowie Baron und Baronin Berchtesgaden durchweg von feudaler Herkunft, zum anderen steht allein Woldemar von Stechlin aufgrund seines Alters noch in militärischen Diensten. Dass der Dienstgrad eines Rittmeisters neben Sozialprestige auch ausreichend Zeit und Muße für die Beteiligung am gesellschaftlich-geselligen Leben bereit hält, konnte schon die Figur Schach von Wuthenow unter Beweis stellen. Nicht nur überragt Fontanes letzter Roman Der Stechlin in seinem Umfang und seiner thematischen Komplexität die bisher betrachteten Werke L’Adultera, Schach von Wuthenow und Frau Jenny Treibel, zudem erfährt die Landpartie-Episode hier eine erzählerische Modifikation. So wird im Folgenden zu zeigen sein, wie der Text den bewährten Topos zwar aufgreift, das über die Jahre und Romane hinweg entwickelte Gestaltungsschema allerdings einer (selbst-)ironischen Aktualisierung unterzieht – und somit die Erwartungshaltung einer treuen Leserschaft an eine Fontanesche Landpartie zugleich bedient und irritiert. Dieses Verfahren beginnt bereits bei dem strukturell konstitutiven Einladungsprocedere, das auffallend komprimiert gehalten ist. War der Leser in L’Adultera noch Zeuge einer ausführlichen Durchmusterung des Bekanntenund Verwandtenkreises auf der Suche nach einer wünschenswerten Teilnehmerschaft, oder im Falle von Frau Jenny Treibel einer persönlich überbrachten Einladung, fungiert auch im Stechlin ein Brief als Kommunikationsmedium,
Bd. 6, Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, München 1996, S. 529– 689, hier S. 680.
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durch den Woldemar Stechlin über das Vorhaben einer Landpartie in Kenntnis gesetzt wird.50 Angaben zu Zeitpunkt und Kontext des Briefempfangs, die das Landpartie-Kapitel einleiten, sind dabei denkbar kurz gefasst: »Es war zu Beginn der Woche, daß Woldemar seinen Besuch im Barbyschen Hause gemacht hatte. Schon am Mittwoch früh empfing er ein Billet von Melusine.« (DS, S. 159) Unmittelbar darauf folgt dessen wörtliche Wiedergabe, wobei die monologische Struktur durch keinerlei weitere Erzählkommentare ergänzt bzw. unterbrochen wird. Die Reaktion Woldemars auf das Schreiben bleibt ausgespart und seine Annahme der Einladung kommuniziert sich allein über sein Erscheinen zum verabredeten Zeitpunkt am nächsten Tag: »Nun war der andre Nachmittag da […]. Woldemar wartete schon.« (DS, S. 161) Im Vergleich zu Schach von Wuthenow ist zu beobachten, dass – neben der bereits konstatierten narrativen Verdichtung – sich das Verhältnis von Briefumfang und rahmender Situationsbeschreibung umkehrt, denn dort umfasst Schachs Anschreiben nur wenige Zeilen, während die begleitenden Reaktionen von Mutter und Tochter Carayon ausführlich entfaltet werden.51 Im Hinblick auf das »bewußt hergestellte[ ] Spannungsverhältnis von ›Welt‹ und heimatlicher ›Region‹«52, das sich auch in den Schauplätzen Berlin und Ruppiner Grafschaft topographisch abgebildet findet, ist die Landpartie im Stechlin unter die Spielarten urban-geselligen Vergnügens zu subsumieren und findet denn auch im »kosmopolitischeren Kreise der Barbys in Berlin«53
50 Zum Medium des Briefes bei Fontane vgl. Anne-Kathrin Reulecke, Briefgeheimnis und Buchstabentreue. Fontanes literarische Mediologie. In: Stephan Braese und dies. (Hrsg), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, S. 129–156. Reulecke hebt hervor, dass die »grundsätzliche Auseinandersetzung Fontanes mit der zu seiner Zeit unübersehbar werdenden Tragweite des Medialen auf einem versteckten Schauplatz stattfindet: […] im Rückgriff auf das vergleichsweise alte Medium des Briefs« (ebd., S. 130). 51 Dass der Verzicht auf eine Schilderung von Woldemars Reaktion auf Melusines Schreiben nicht auf die Empfangssituation einer einzelnen Figur zurückzuführen ist, soll ein Hinweis auf Irrungen, Wirrungen demonstrieren: Hier findet sich Baron Botho von Rienäcker bei der Lektüre zweier Briefe von Lene und seinem Onkel ebenfalls nicht in Gesellschaft. Dies hindert ihn allerdings nicht daran, das Gelesene und seine aufkommenden widerstreitenden Gefühle monologisch wortreich zu kommentieren und reflektieren (vgl. IW, S. 37ff.). 52 Helmuth Nürnberger, ›Der große Zusammenhang der Dinge‹. ›Region‹ und ›Welt‹ in Fontanes Romanen. Mit einem Exkurs: Fontane und Storm sowie einem unbekannten Brief Fontanes an Ada Eckermann. In: Fontane Blätter 55 (1993), S. 33–68, hier S. 34. 53 Demetz, Formen des Realismus, S. 159.
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statt: »Der Stechliner und der Berliner Kreis haben jeweils ihre eigenen Gesetze. Einsamkeit und Geselligkeit stehen sich konträr entgegen.«54 Anlass und Beweggrund für die Initiierung einer Landpartie im Stechlin ähneln der Darstellung in Schach von Wuthenow: Nicht nur wird erneut das narrative Strukturmerkmal deutlich, nach dem die Landpartie-Episode der Darstellung einer häuslichen Geselligkeit nachgestellt ist; hier wie dort soll die Landpartie in vertraulichem Kreis als Kompensation für die vorangegangene gesellige Zusammenkunft fungieren. Diese war jeweils nicht zur Zufriedenheit der Briefsteller verlaufen: Hatte Schach den Empfangsabend der Carayons vergessen und diese deshalb nicht allein angetroffen, so verpasste Melusine ihrerseits fast gänzlich den Besuch und damit die Erzählungen Woldemars von Stechlin im Hause ihres Vaters. »Lassen Sie mich Ihnen noch nachträglich mein Bedauern aussprechen, daß ich vorgestern nur gerade noch die letzte Scene des letzten Aktes (Geschichte vom Stechlin) mit erleben konnte. Mich verlangt es aber lebhaft, mehr davon zu wissen.« (DS, S. 159) Die Neugier und das Interesse an der Herkunft Woldemars, die zum Zwecke einer größeren Nachdrücklichkeit auch der Baronin Berchtesgaden attestiert werden, sollen im Rahmen der für den nächsten Tag veranschlagten Landpartie ihre Befriedigung erfahren: »Ich wette, Sie haben uns noch über vieles zu berichten, und ich kann nur wiederholen, ich möchte davon hören. […] Und so haben wir denn eine Nachmittagspartie verabredet, bei der Sie der große Erzähler sein sollen.« (DS, S. 160) Zunächst ist zu konstatieren, dass die Landpartie erneut als Variante ritualisierter Geselligkeit fungiert, die die Alltagsroutine unterbricht und bereichert: »[D]ie Nachmittagspartie ist mehr ein Vorwand zur reinen Abwechslung. Es geht von vornherein […] um reine Unterhaltung.«55 Bietet die Landpartie per se ausgiebig Gelegenheit zu Unterhaltung im doppelten Sinne von Kurzweil als auch von gepflegter und intimer Konversation, erklärt Melusines Aufforderung, Woldemar solle »der große Erzähler sein«, die Landpartie darüber hinaus als ein Setting, das einen Raum für das Erzählen eröffnet. Ein so beschaffener Raum für das Erzählen ist dann seinerseits immer auch ein Raum für den Erzähler, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und sich und seine Fähigkeiten darzustellen und zu inszenieren. Von genau diesen Möglichkeiten wird im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht: Denn geht es auf der Inhaltsebene um die Einladung Woldemars zu einer Landpartie-Teilnahme sowie die ihm dadurch offerierte Gelegenheit, sich qua erzählerischem Talent zu präsentieren und den Damen zu empfeh54 Hillebrand, Mensch und Raum im Roman, S. 278. 55 Ebd.
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len, ist hier zudem eine weitere, eine poetologische Dimension eingeschrieben. Metafiktional wird die Landpartie als ein fruchtbarer Erzählgegenstand im Romangefüge benannt, sein erzählstrategisches Potential (auch und gerade für die Erzählinstanz) wird reflektiert und zugleich demonstriert. Vor dieser Folie lassen denn auch die nachfolgenden Sätze, die Melusine in die Feder diktiert sind, einen Doppelsinn erkennen: »In der Regel freilich verläuft es anders wie gedacht, und man hört nicht das, was man hören wollte. Das darf uns aber in unserm guten Vorhaben nicht hindern.« (DS, S. 160) Wird hier zum einen ironisch das Enttäuschungsmoment auf Seiten der Rezipienten thematisiert, das sich auf der Grundlage einer differierenden Erwartungshaltung an das Erzählte einstellt, scheint zum anderen die Modifikation des Erzählmusters ›Landpartie‹ im Stechlin augenzwinkernd angekündigt; und indem das Vorhaben als »gut« legitimiert wird, erfährt die Absicht ihre Affirmation. Diese Passage kann daher als eindrückliches Beispiel dafür gelten, wie »Fontane über die unterschiedlichen Gestalten seines letzten Romans einen ergötzlich-hintergründigen Dialog mit seinen Lesern«56 führt. Das ›gute Vorhaben‹ erfüllt sich im Stechlin in dem »[r]eizvoll parodistisch gestimmt[en] […] Verfahren Fontanes, Landpartie und Teegesellschaft zu montieren (Kap. 14), und zwar so, daß sich die Landpartie der guten Gesellschaft mit der Soirée der Domestiken kreuzt.«57 Die Modifizierung stellt sich also in erster Linie als Ergänzung um einen weiteren Handlungsstrang dar, als Verknüpfung der Landpartie mit einer zweiten Geselligkeit einer anderen sozialen Sphäre. Dieses Verfahren vermag es, die Leseerwartung an eine »Landpartie der guten Gesellschaft« einmal mehr zu bedienen, dem bekannten und bewährten Topos über die eingeschobene Darstellung der Tee- und Kartengesellschaft »der Domestiken« jedoch auch weiteren Gestaltungsspielraum abzugewinnen. Die erzählerischen Fertigkeiten entfalten sich dabei in zweierlei Hinsicht: Zunächst finden sie ihren Gegenstand in der humoristisch gezeichneten sozialen und persönlichen Charakterisierung des Dienstpersonal-Ensembles. Zudem bietet ein längerer Erfahrungsbericht der Portiers-Nichte Hedwig »Gelegenheit, die dunklen Aspekte der mondänen Welt zu enthüllen«58, namentlich die prekäre Unterbringung Berliner Dienstmädchen in hofrätlichen Haushalten. »Das alles ist aber so anti-bourgeois zugespitzt, daß die abwesende adelige Herrschaft von den Enthüllungen der
56 Eda Sagarra, Der Stechlin. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 662–679, hier S. 678. 57 Demetz, Formen des Realismus, S. 163. 58 Ebd.
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Domestiken unberührt bleibt«59. Die launige Verschränkung der beiden Gesellschaftskreise dient also nicht dazu, diese gegeneinander auszuspielen und dergestalt Feudalkritik zu üben,60 vielmehr gerät das Bürgertum kritisch in den Fokus, das in der Gesellschaftsordnung zwischen dem Adel und der Dienerschaft steht. Die Finesse dieser erzählerischen Gestaltung besteht vor allem darin, dass die Szene um die ›Domestiken‹ – bei all ihrer Selbständig- und Kunstfertigkeit – auch als ironische Kommentierung der Landpartiehandlung inszeniert ist.61 So z. B. im Hinblick auf das amouröse Potential von Landpartien; denn schließlich bereitet auch die Fahrt zum Eierhäuschen im Stechlin das Setting für eine Intensivierung des intim-freundschaftlichen Verkehrs der Familien Barby und Stechlin. Und weil, wie Woldemars Kamerad Rex zu formulieren weiß, mit »einem solchen Hause verkehren und sich mit einer Tochter verloben so ziemlich ein und dasselbe ist« (DS, S. 123), erhalten die Spekulationen um »eine der vom Personal des Romans meistdiskutierten Fragen«, nämlich »[f ]ür wen […] Woldemar sich entscheiden wird, für Melusine oder für ihre jüngere Schwester«62, neue Nahrung: Frau Imme [war] jederzeit über alles unterrichtet, was im Vorderhause [bei den Barbys; M. B.] vorging. Daß der Rittmeister sich für die Damen interessierte, wußte sie natürlich wie jeder andre, nur nicht – auch darin wie jeder andre –, für welche. / Ja, für welche? / Das war die große Frage, selbst für Mr. Robinson, der regelmäßig, wenn er die Immes sah, sich danach erkundigte. Dazu kam es denn auch heute wieder und zwar sehr bald nach seinem Eintreffen. (DS, S. 169)
Die durch den Einschub um die Dienerschaft betriebene zeitlich-narrative Organisation des Erzählstoffes, die diegetische Simultaneität zur stattfinden59 Ebd. 60 Des ungeachtet müssen der Adel und die implizierte Notwendigkeit einer Modernisierung als ein zentrales, wenn nicht gar als das Thema des Romans gelten. Die Dienstboten als Sprachrohr der Kritik in Anschlag zu bringen, indem diese ungeniert aus dem Nähkästchen plaudern, wäre für Fontane allerdings zu plakativ. 61 Die hier vertretene Interpretation einer wechselseitigen Bezogenheit der beiden Gesellschafts- und Geselligkeitskreise widerspricht Kloepfers These, nach der »[d]er Ausflug des Adels […] in erster Linie die Funktion [hat], dem Dichter die Beschäftigung mit dem dienstfreien Personal zu ermöglichen« (Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 82). 62 Edda Ziegler, Die Zukunft der Melusinen. Weiblichkeitskonstruktionen in Fontanes Spätwerk. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-FontaneArchivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 2, Würzburg 2000, S. 173–185, hier S. 178.
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den Landpartie, trägt maßgeblich dazu bei, die dynamisierende Interdependenz von Liebes- und Geselligkeitshandlung im Rahmen der Landpartie eigens hervorzuheben. Eingedenk der sich tatsächlich vollziehenden Handlung stellt diese Erzählstrategie jedoch geradewegs eine ironische Finte dar. Sie schürt Erwartungen, die später destruiert werden, und es erfüllt sich die oben bereits zitierte Prophezeiung Melusines: »In der Regel freilich verläuft es anders wie gedacht, und man hört nicht das, was man hören wollte.« Im Gegensatz zu den bislang untersuchten Romanen ist für den Stechlin nämlich zu konstatieren, dass sich auf der Partie zum Eierhäuschen »keine[r] der sonst üblichen, inhaltlichen Wendepunkte«63 ereignet und sich eben nicht zweifelsfrei abzeichnet, welche der beiden ungleichen Schwestern und damit, welchen Frauentyp Woldemar als künftige Ehefrau favorisiert, denn »in den beiden Barbytöchtern stehen sich mädchenhafte Innerlichkeit und kluge Gesellschaftsdame gegenüber«64. Anstatt wie in L’Adultera mit Melanie und Rubehn sowie mit Corinna und Leopold in Frau Jenny Treibel unter dem Anschein des Zufalls auf der Landpartie eine vorhersehbare Paarkonstellation herbeizuführen, findet sich im Stechlin (wie in Schach von Wuthenow) die Unentschiedenheit des Protagonisten zwischen zwei miteinander verwandten weiblichen Figuren abgebildet. Die damit einhergehende Spannung wird weiter potenziert, statt die Unentschlossenheit aufzulösen. Auch die Einladungspraktiken, die den beiden Geselligkeiten im Stechlin vorausgehen, zeigen in vergleichender Betrachtung eine ironisch-wechselseitige Bezogenheit. Die Verabredung der Kutscher erfolgt spontan für den gleichen Nachmittag, denn das Vergnügen der einen Gesellschaft ist Bedingung der Möglichkeit für das der anderen. Robinson wird von Imme zu einer Skatpartie eingeladen, »und zwar gleich heute, wo die Herrschaften fort sind und erst spät wiederkommen. Noch dazu mit der Stadtbahn.« (DS, S. 163) Die Mündlichkeit geht mit einem geringeren Grad höflicher Formalität einher als das Billet Melusines an Woldemar; der divergierende soziale Status korreliert demgemäß sinnfällig auch mit Modus und Form der Einladung. Ähnlich kurz und bestimmt wie sie vorgeschlagen wird, wird die Skatpartie auch akzeptiert und sich danach zügig verabschiedet: »Robinson war einverstanden, und da beide weiter nichts auf dem Herzen hatten, so brach man hier ab« (DS, S. 163). Obgleich in Esprit und Eloquenz den Dialog weit überragend, zeigt auch das Schreiben Melusines einen gewissen Hang zu Pragmatismus und dieser 63 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 81. 64 Paul Irving Anderson, Der Stechlin. Eine Quellenanalyse. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 2008, S. 243–274, hier S. 270.
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fungiert, wie schon bei den Kutschern, als Mittel der Figurencharakterisierung. An der neuralgischen Stelle des Briefes, die über die organisatorischen Details der Landpartie informiert, verfällt dieser in stenographische Kürze. »Also morgen, Donnerstag: Eierhäuschen. Ein ›Nein‹ giebt es natürlich nicht. Abfahrt vier Uhr, Jannowitzbrücke.« (DS, S. 160) In ironisch-resolutem Tonfall wird Woldemar über seine Teilnahme an der Exkursion zum Eierhäuschen somit mehr unterrichtet, denn um seine Neigung zu einer Teilnahme höflich befragt, woraus das Selbstbewusstsein der Schreiberin spricht.65 Darüber hinaus verweist die stilistische Imitation eines Telegramms, obschon eingebettet in einen längeren Brief, zum einen grundsätzlich auf »die medialen und kommunikationstechnologischen Umschwünge«66 am Ende des 19. Jahrhunderts und spiegelt zum anderen speziell Melusines Faszination und »Offenheit für die Kommunikationsrevolution ihrer Zeit«67. Stellten die bisherigen Überlegungen zum Stechlin die wechselseitige Bezogenheit der Einladungsprocedere im Hinblick auf die Markierung sozialer Differenzen sowie ihre jeweilige Funktion zur Figurencharakterisierung heraus, vermag ein leicht variiertes intratextuelles Zitat, den inneren und parodistischen Zusammenhang beider Episoden zuletzt explizit zu demonstrieren. In »lustspielhafte[r] Parallelisierung zu Melusines brieflicher Forderung«68 konstatiert auch Imme im Kontext seiner Einladung resolut: »Also Klocker fünf: ein ›Nein‹ gilt nicht« (DS, S. 163).
65 Auch hier handelt es sich, wie schon bei Victoires Wortspiel in Schach von Wuthenow, um eine sprachlich codierte Form der Koketterie; allerdings verzichtet Melusine gänzlich auf das Spiel mit Zweideutigkeiten und kokettiert vielmehr mit ihrer Direktheit und Selbstbestimmtheit, die sie vor anderen auszeichnet. Neuhaus unterzieht Melusine einer wenig schmeichelhaften Charakterisierung und attestiert ihr »Taktlosigkeit« und »Überspanntheit[ ]« (Stefan Neuhaus, Still ruht der See. Revolutionäre Symbolik und evolutionärer Wandel in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. In: Fontane Blätter 57 (1994), S. 48–77, hier S. 59). 66 Reulecke, Briefgeheimnis und Buchstabentreue, S. 129. – Zu Eingang und Darstellung technischer Entwicklungen im Werk Fontanes vgl. Philipp Frank, Theodor Fontane und die Technik, Würzburg 2005 (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Bd. 562). 67 Eda Sagarra, Kommunikationsrevolution und Bewußtseinsänderung. Zu einem unterschwelligen Thema bei Theodor Fontane. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.– 17. September 1998 in Potsdam. Bd. 3, Würzburg 2000, S. 105–118, hier S. 114. 68 Helmuth Nürnberger, Anmerkung. In: Theodor Fontane, Der Stechlin. Mit einem Nachwort hrsg. von Helmuth Nürnberger. Vollständige, im Kommentar revidierte und mit einem Nachwort versehene Ausgabe, München 2008, S. 461.
3.2 Landpartie und Sommerfrische: ›Kleine Fluchten‹ der Gesellschaft
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3.2 Landpartie und Sommerfrische: ›Kleine Fluchten‹ der Gesellschaft Während sich in L’Adultera, Schach von Wuthenow, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin im Rahmen der Landpartie »ein Gesellschaftskreis ›geschlossen‹ auf Reisen«69 begibt, steht in Cécile und Irrungen, Wirrungen zunächst jeweils ein einzelnes Ehe- bzw. Liebespaar im Mittelpunkt der Darstellung. Das Unternehmen einer Gesellschaftspartie ist folglich nicht an eine bestimmte Teilnehmerzahl gebunden, so dass die Größe des partizipierenden Personenkreises erheblich variieren kann.70 Figurenzahl und -konstellation korrelieren dabei – so die hier vertretene These – mit zwei graduell differierenden Motivationsmodellen. Folgten die Landpartien in den zuvor betrachteten Gesellschaftsromanen der Konvention, indem dort eine Variante ritualisierter Geselligkeitskultur zelebriert wird, versuchen die Paare in Cécile und Irrungen, Wirrungen diesem geselligen Treiben in der anonymen Privatheit der Landpartie respektive Sommerfrische gerade zu entkommen. Graduell differieren diese zwei skizzierten Motivationsmodelle nun insofern, als in beiden Fällen eine kurzzeitige ›Alltagsflucht‹ dargestellt wird, die jedoch »in der Landpartie in eine wiederholbare gesellschaftliche Funktion verwandelt«71 wird und demgemäß sozial codiert und reglementiert bleibt. Die Landpartie vereint also konstitutiv die beiden Movens ›Flucht‹ und ›Gesellschaftlichkeit‹, diese werden in den einzelnen Romanen indes unterschiedlich gewichtetet inszeniert. Mit dieser graduellen Differenzierung und der sich daraus ergebenen Parallelisierung der Romane korrespondiert zudem die Frage nach der Dauer der dargestellten Ausflüge. Als Variante ritualisierter Geselligkeit können die Landpartien als Nachmittagsausflüge unternommen und nahezu nahtlos in den gesellschaftlichen ›Stundenplan‹ integriert werden. Im Gegensatz dazu geht die intendierte »Flucht vor einem problematischen Alltagsleben«72 mit einem längeren Verweilen am Ausflugsort einher und schließt in Cécile und Irrungen, Wirrungen Übernachtungen im Hotel respektive im Gasthof mit ein. Obschon in Cécile keine Landpartie im eigentlichen Sinne unternommen wird, sondern dort die bürgerliche Reiseform der Sommerfrische eine literari-
69 Demetz, Formen des Realismus, S. 103. 70 Den einzelnen Paaren in Cécile und Irrungen, Wirrungen steht in Frau Jenny Treibel beispielsweise eine sechzehnköpfige Landpartie-Gesellschaft gegenüber. 71 Demetz, Formen des Realismus, S. 103. 72 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 125.
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sche Gestaltung erfährt, sind dennoch zahlreiche Parallelen zur Landpartie im Allgemeinen und zur Partie nach Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen zu konstatieren. Grundsätzlich stellt die Sommerfrische ebenfalls eine verbreitete Erholungsform bürgerlichen Daseins dar, die sich auf dem Boden eines nicht-urbanen, als natürlich angenommenen Settings bewegt und im Vergleich zur Landpartie eine sowohl räumliche als auch zeitliche Extension kennzeichnet: »Keimform der bürgerlichen ›Sommerfrische‹ war der Sonntagsausflug in eine schöne Landschaft, gekrönt vom Besuch in einem ländlichen Gartenlokal. […] Wurde der Sonntagsausflug auf das ganze Wochenende, schließlich auf weitere Tage ausgedehnt, mutierte er zur ›Sommerfrische‹.«73 Es darf wenig überraschen, dass Fontane jene tourismusgeschichtliche Entwicklung in seinen Gesellschaftsromanen aufgegriffen hat, denn neben ihrer zeitgeschichtlichen Popularität gewährte die Sommerfrische eine produktive Variation des bewährten Landpartie-Topos. Sowohl die Harzreise in Cécile als auch die Partie nach Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen erfolgen zwar im Modus einer gesellschaftlich-ritualisierten Vergnügung, sind aber in besonderer Weise getrieben in der Intention, der Gesellschaft und ihren normativen Bedingungen und Bedingtheiten für eine gewisse Zeit zu entkommen: »Der temporäre ›Ausstieg‹ hat eine klar bestimmte strukturelle Funktion: Er ist Indikator einer Krise«74. Divergieren auch die Ursachen dieser Krise, die u. a. in der unterschiedlich zu beurteilenden Rechtmäßigkeit der (Ehe-)Paarbeziehung gründen, weisen sowohl die Sommerfrische als auch die Landpartie eskapistische Tendenzen auf, die klar über eine ›Alltagsflucht‹ als konstitutiven Wesenszug jener gesellschaftlichgeselligen Praxis hinausweisen. 3.2.1 »Cécile« Auf den Roman Cécile, von Fontane selbst als eines seiner wichtigsten Werke betrachtet, reagierten Forschung und Leserschaft lange Zeit mit »leicht ge-
73 Rüdiger Hachtmann, Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007 (= UTB 2866), S. 95f. 74 Christine Hehle, Unterweltsfahrten. Reisen als Erfahrung des Versagens im Erzählwerk Fontanes. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-FontaneArchivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 3, Würzburg 2000, S. 65–76, hier S. 73. Zwar trifft Hehle diese Feststellung in einem anderen Kontext, sie kann jedoch auch für den vorliegenden Argumentationszusammenhang Gültigkeit beanspruchen.
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ringschätzige[r] Gleichgültigkeit«75; erst »seit den späten 1960er Jahren« wurde das »vermeintlich uncharakteristische[ ] Nebenwerk mit größerer Aufmerksamkeit«76 bedacht. Die damit angezeigte, sich erst auf den zweiten Blick einstellende Erkenntnis einer überaus lohnenden Konsultation des Romans kann auch für die Integration Céciles in den Reigen des Textkorpus gelten, das den Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung bildet. Denn zum einen handelt es sich bei Cécile nicht um einen ›klassischen‹ Berliner Gesellschaftsroman, und zum anderen findet in diesem auch keine Landpartie im eigentlichen Sinne statt. Dennoch kann die Auseinandersetzung mit diesem Roman für das angestrebte Untersuchungsvorhaben als sinnvoll und fruchtbar erachtet werden. Anstatt bestehende Differenzen zugunsten einer widerspruchsfreien Gesamtdarstellung hinweg zu argumentieren, soll vielmehr gezeigt werden, dass die Unterschiede recht eigentlich als ertragreiche Ergänzung fungieren und im Modus der Diversität schließlich doch zahlreiche Parallelen zu den Landpartie-Darstellungen der anderen Romane und insbesondere zu Irrungen, Wirrungen ersichtlich werden. Die vorab erwähnten Gründe, weshalb der Roman Cécile im Kanon der zugrunde liegenden Werkauswahl eine Modifikation darstellt, stehen untereinander in einem Wechselverhältnis: Indem der erste Teil des Romans die Hauptfiguren in mehrtägige »gründerzeitliche Sommerfrischler-Szenarien«77 im Harzer Mittelgebirge versetzt, der Fokus des Erzählens somit Berlin als Lebensmittelpunkt der Romanfiguren verlässt und zu diesem erst im zweiten Teil der Handlung als Schauplatz zurückkehrt, scheinen das Fehlen einer genuinen Landpartie und die ungewisse Genrezugehörigkeit zu den Berliner Gesellschaftsromanen dafür zu sprechen, diesen Roman hier nicht zu berücksichtigen.78 Die Frage nach der Genretypologie scheint der Roman Cécile 75 Uta Treder, Von der Hexe zur Hysterikerin. Zur Verfestigungsgeschichte des ›Ewig Weiblichen‹, Bonn 1984, S. 35. 76 Bettina Plett, Rahmen ohne Spiegel. Das Problem des Betrachters bei einem ›Mangel an Sehenswürdigkeiten‹ in Fontanes ›Cécile‹. In: Dies. (Hrsg.), Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2007, S. 230–245, hier S. 230. 77 Eberhard Rohse, Harztouristen als literarische Figuren in Werken Theodor Fontanes und Wilhelm Raabes: ›Cécile‹ – ›Frau Salome‹ – ›Unruhige Gäste‹. In: Cord-Friedrich Berghahn, Herbert Blume et al. (Hrsg.), Literarische Harzreisen. Bilder und Realität einer Region zwischen Romantik und Moderne, Bielefeld 2008 (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 10), S. 175–231, hier S. 175. 78 Für den Genrebegriff ›Berliner Roman‹ erscheint eine präzise Definition problematisch, da unter diesen ein höchst heterogenes Konglomerat von Erzähltexten der realistischen (Trivial-)Literatur des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts subsumiert wird, deren Gemeinsamkeit primär darin gründet, die den Begriff konstituierende literarische Topographie Berlin und damit verknüpft ein »portrayal of the new and
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dabei mit einer besonderen Dringlichkeit aufzuwerfen, was sich nicht zuletzt an ihrer häufigen Thematisierung in der Forschungsliteratur ablesen lässt. Die Gründe hierfür liegen allerdings nicht allein in der bloßen Tatsache einer dualen Schauplatzgestaltung, die die Handlung über weite Strecken außerhalb des großstädtisch-urbanen Kontextes Berlins ansiedelt, sondern sind vielmehr in der strikten Sequenz der Harzer und Berliner Topographie und der so konstituierten Zweiteilung des Romans zu suchen: »Diese Polarität und die entsprechende Anordnung der Kapitel bestimmen die Grundstruktur des Textes.«79 Diese These stützt auch ein Rückverweis auf den Stechlin, der ebenfalls durch eine Dualität von Provinz und Metropole konturiert ist, die bei aller Disparatheit der beiden Sphären allerdings als ein Neben- und Miteinander von parallel verlaufenden Handlungssträngen gestaltet ist und somit das konstitutive Thema des Romans auch topographisch abbildet: »Der Zusam-
rapidly growing German capital« darzustellen (F.[riedrich] Betz, ›Der Zug nach dem Westen‹: Aspects of Paul Lindau’s Berlin Novel. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 252–264, hier S. 253). Auch nach Kribben zeichnen sich ›Berliner Romane‹ vor allem dadurch aus, dass sie »thematisch die seit der Reichsgründung von 1871 gegebene neue Stellung Berlins als Reichshauptstadt in den Mittelpunkt rückten« (Karl-Gert Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze in Theodor Fontanes Roman ›Irrungen, Wirrungen‹. In: Ulrich Fülleborn und Johannes Krogoll (Hrsg.), Studien zur deutschen Literatur. Festschrift für Adolf Beck zum siebzigsten Geburtstag, Heidelberg 1979, S. 225–245, hier S. 225). Dass sich Fontane nicht allein literarisch, sondern auch literaturkritisch mit dem Berliner Roman auseinandergesetzt hat, untersucht Charlotte Jolles, ›Berlin wird Weltstadt‹. Theodor Fontane und der Berliner Roman seiner Zeit. In: Derek Glass, Dietmar Rösler et al. (Hrsg.), Berlin. Literary Images of a City. Eine Großstadt im Spiegel der Literatur, Berlin 1989, S. 50–69. Der hier verwendete Terminus ›Berliner Gesellschaftsroman‹ soll zum einen weiterhin konkret das handlungs- und mentalitätsrelevante Berliner Setting benennen, zum anderen soll das Prädikat ›Gesellschaftsroman‹ spezifizierend das Fortschreiben des tradierten europäischen Genres und damit insbesondere auch die vorliegende Literarizität der Werke Fontanes bezeichnen. 79 Michael Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum. Historische Raumerfahrung in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Cord-Friedrich Berghahn, Herbert Blume et al. (Hrsg.), Literarische Harzreisen. Bilder und Realität einer Region zwischen Romantik und Moderne, Bielefeld 2008 (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 10), S. 233–256, hier S. 237. Vgl. dazu auch Katharina Grätz, Tigerjagd in Altenbrak. Poetische Topographie in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 9), S. 193–211, hier S. 204.
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menhang des Alten mit dem Neuen wird sichtbar in der Verbindung der beiden Kreise.«80 Allein der Befund einer sequentiellen Darstellung der Handlungsräume Stadt und Land in Cécile kann allerdings nicht für eine Beantwortung der Genrefrage hinreichen, würde dies im Hinblick auf die Zuordnung zu den Berliner Gesellschaftsromanen nur zu dem Ergebnis eines ›Sowohl-als-auch‹ führen, da Berlin eben als einer von zwei Hauptschauplätzen fungiert. Von entscheidender Relevanz für die Genrebezeichnung erweisen sich vor allem die Protagonisten, die als Harztouristen mit großstädtischem Hintergrund und Habitus im buchstäblichen Sinne Grenzgänger darstellen und damit der möglichen Annahme einer hermetischen Abgeschlossenheit beider Sphären zuwiderlaufen. »So strahlt die Atmosphäre der Reichshauptstadt Berlin auch auf den Harz aus, wozu nicht allein die Berliner Sommergäste beitragen.«81 Angesichts dieser Beobachtung sowie unter stetem Rekurs auf Conrad Wandrey, der diese Zuordnung bereits 1919 traf,82 gilt Cécile in der Forschung trotz seiner doppelten Schauplatzstruktur letztlich einhellig als ›Berliner (Gesellschafts-)Roman‹: »Fontanes ›Cécile‹-Roman, […] der zur Hälfte im Harz spielt und erzählkonzeptionell auch weithin ein Harz-Roman ist«, bleibt »aufs Ganze gesehen doch, wie die meisten der Fontane-Romane überhaupt, Berliner Gesellschaftsroman.«83 Die Feststellung, dass die Figuren selbst während ihres Harzaufenthaltes weiterhin um das Gravitationsfeld Berlin pendeln, legitimiert nicht allein die Genrebezeichnung, sondern leitet ferner zu der in Cécile vorgeführten Form bürgerlicher Reisekultur über, die den Anlass für den Harzbesuch darstellt und damit die doppelte Schauplatzstruktur begründet, die Sommerfrische. Mit der »verlorene[n] touristische[n] Kulturform«84 Sommerfrische greift 80 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 444. 81 Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum, S. 237. 82 In Prägnanz und Bestimmtheit bleibt Wandreys Genrebestimmung unerreicht: »›Cécile‹ bleibt trotz der Ansiedlung im Harz ›Berliner Roman‹« (Wandrey, Theodor Fontane, S. 199). 83 Rohse, Harztouristen als literarische Figuren, S. 195. Vgl. dazu auch Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum, S. 237; Magdalene Heuser, Fontanes ›Cécile‹. Zum Problem des ausgesparten Anfangs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), Sonderheft, S. 36–58, hier S. 37. Auch Garland versteht Cécile als ›Berliner Roman‹ und berücksichtigt ihn demgemäß im Rahmen seiner Untersuchung. Er erklärt in seinem Vorwort, dass »[m]ost of the ›Berlin novels‹ are not concentrated solely on the capital« (Garland, The Berlin Novels of Theodor Fontane, o.S.). 84 Hanns Haas, Die Sommerfrische – eine verlorene touristische Kulturform. In: Ders., Robert Hoffmann et al. (Hrsg.), Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, Salzburg 1994, S. 67–75.
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Fontane eine weitere im 19. Jahrhundert überaus verbreitete bürgerliche Reisepraxis auf, die aufgrund ihrer Popularität ebenfalls zu einem beliebten literarischen Motiv avancierte: »Wie die Landpartie in der Literatur des europäischen Realismus, so dringt nun auch die Sommerfrische allmählich in die Literatur ein.«85 Während für das gesteigerte literarische Interesse an der Sommerfrische in toto konstatiert werden kann, dass es auf den quantitativen Anstieg jenes Reiseverhaltens reagiert und diesem motivisch Rechnung trägt, lässt sich für Fontanes Bearbeitung darüber hinaus die These aufstellen, dass die Sommerfrische als Variation und Fortführung des bewährten LandpartieTopos gelten kann. Inwiefern hier strukturell sozialhistorische Bedingungen und Bedingtheiten mit erzählerischem Gestaltungsspielraum korrelieren, sollen die folgenden Ausführungen zeigen, die Kulturgeschichtliches mit der Romananalyse Céciles zu verbinden suchen. Ihrem Ursprung nach war die Sommerfrische »ein aristokratisches Phänomen, nämlich die Gewohnheit namentlich der venezianischen und toskanischen Aristokratie, für mehrere Monate zu einem Sommerurlaub aufs Land zu ziehen.«86 Folgte zunächst die europäische Feudalgesellschaft dieser Lebensart einer Übersiedelung auf die Landsitze, adaptierte im Laufe des 19. Jahrhunderts erst das Groß- und später auch das Kleinbürgertum diesen Gestus und zelebrierte die Sommerfrische im jeweiligen Zuschnitt der finanziellen Möglichkeiten. So bezog das Großbürgertum repräsentative (Miets-)Villen oder Hotels, während das Kleinbürgertum in einfachen und ländlichen Unterkünften Quartier nahm:87 Die soziale Öffnung und ›Demokratisierung‹ der Sommerfrische, Beispiel für die Validität der »trickledown-Theorie«88 im Feld des Tourismus, steht in direktem Zusammenhang mit weitreichenden (infra-)strukturellen Veränderungen. Zu diesen zählen die touristische Erschließung attraktiver Urlaubsgegenden durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes und Fremdenverkehrsgewerbes, ein sich durch Industrialisierung und Urbanisierung potenzierendes Reise- und Erholungsbe-
85 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 183. 86 Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 94. 87 Vgl. dazu auch Haas, Die Sommerfrische – eine verlorene touristische Kulturform, S. 67; Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 94f.; Hans Magnus Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus. In: Ders., Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt am Main 1971, S. 179–205, hier S. 202: »Das Hotel ist das Schloß des Großbürgertums. In ihm usurpiert die neue Klasse demonstrativ die Lebensformen der Aristokratie.« 88 Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 99.
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dürfnis, sowie die gesetzliche oder betriebliche Gewährung von bezahlten Urlaubstagen für Beamte und Angestellte.89 Stellt die Sommerfrische zum einen ein anschauliches Beispiel dar, wie sich speziell das Großbürgertum an der feudalen Lebensart orientierte und diese zu kopieren versuchte, liefert sie zum anderen ein eindrückliches mentalitätsgeschichtliches Zeugnis der fundamentalen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umwälzungen und ihres Einflusses auf Physis und Psyche insbesondere der Stadtbewohner. Das durch die prekärer werdenden Lebensbedingungen in den Städten beförderte Bedürfnis nach einer zeitweisen Abkehr vom urbanen Lebenskontext fand seine Entsprechung in Gestalt der Sommerfrische, was maßgeblich zu ihrer wachsenden Popularität beitrug. Auf diesen Umstand bezieht sich auch Fontane, selbst ein überzeugter Sommerfrischler, in seiner Plauderei über Modernes Reisen von 1873: »Die Mode und die Eitelkeit haben ihren starken Anteil an dieser Erscheinung, aber in den weitaus meisten Fällen liegt ein Bedürfnis vor. […] Der moderne Mensch, angestrengter wie er wird, bedarf auch größerer Erholung.«90 Dass diese kurativen Effekte der Sommerfrische jedoch keineswegs von einem strengen, vergnügungsfeindlichen Erholungsprogramm erwartet wurden, sondern Gesundheit und Wohlbefinden vielmehr von einem Ortswechsel profitieren sollten, der neben guten klimatischen Bedingungen insbesondere auch vielfältige Unterhaltungsmöglichkeiten offerieren sollte, ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal der Sommerfrische. Diese Kombination aus »Medizin und Unterhaltung«91 findet sich in der Tradition der Bäderreise respektive der exklusiven Kurkultur vorgeprägt, für die im 19. Jahrhundert mehr und mehr »neben den medizinisch verordneten Anwendungen auch andere Faktoren eine Rolle [spielten]: ein angenehmes Klima, […] Geselligkeit, Freizeitvergnügen und gesellschaftliche Veranstaltungen.«92 Die bürgerliche Sommerfrische bildet damit eine Reiseform sui generis, indem sie die ehedem feudale
89 Vgl. ebd., S. 97. Zu den historischen Anfängen eines proletarischen Urlaubsanspruches siehe Jürgen Reulecke, Vom blauen Montag zum Arbeiterurlaub. Vorgeschichte und Entstehung des Erholungsurlaubs für Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg. In: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), S. 205–248. 90 GBA I/19, S. 6. 91 Burkhard Fuhs, Kurorte als Orte des geselligen Vergnügens. Anmerkungen zur Herausbildung einer neuen Unterhaltungskultur im 19. Jahrhundert. In: Anna Ananieva, Dorothea Böck et al. (Hrsg.), Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 27–40, hier S. 29. 92 Christina Florack-Kröll, ›Heilsam Wasser, Erd’ und Luft‹. Zu Goethes Badereisen. In: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer et al. (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 202–206, hier S. 203.
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Praxis den eigenen Ansprüchen und Möglichkeiten gemäß aufgreift und zugleich mit kurativ-geselligen Ambitionen kombiniert, die sie der ebenfalls populären »Gesellschafts- und Vergnügungskur für Gesunde«93 entlehnte und diese auch abseits der exklusiven Modekurorte zu etablieren suchte. Diese der Sommerfrische genuine Heterogenität, ihre soziale Transformation und ihre Verbindung von Erholung und Vergnügen, findet ihre Analogie in der literarischen Darstellung der Sommerfrische in Fontanes Cécile. Denn befragt man den Roman nach Beweggründen für den Harzaufenthalt des Ehepaars St. Arnaud, so wird ersichtlich, dass diese ebenfalls vielschichtig sind und dem skizzierten Konzept der Sommerfrische entsprechen. Diese Antwort auf die Frage nach der in Cécile vorliegenden Motivation der Sommerfrische ist indes nicht auf den ersten Blick zu leisten, unterscheidet sich dieser Roman doch nicht allein durch das Setting der Sommerfrische von den vorab betrachteten Romanen L’Adultera, Schach von Wuthenow, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin, sondern weist darüber hinaus eine andere Erzähltechnik auf. Die Essenz dieses erzählerischen Vorgehens besteht dabei im »Problem des ausgesparten Anfangs«94, wie es Bloch für das Genre des Detektivromans konstatierte. In Cécile setzt die Romanhandlung medias in res ein und zeigt das Ehepaar St. Arnaud auf seiner Fahrt mit der Eisenbahn von Berlin nach Thale. Damit bleibt jegliche Schilderung der vorab getroffenen organisatorischen Vorkehrungen ausgespart, die in den zuvor betrachteten Landpartie-Kapiteln, trotz variierender Ausführlichkeit, zum konstitutiven Erzählgegenstand gehörten. Darüber hinaus hält sich die Erzählinstanz überhaupt mit einer Romanexposition meist eigenen Erläuterungen zurück: Das erste Kapitel besitzt mehr einen dramatischen Erzählmodus, indem es seine Figuren, ergänzt nur durch die Situation betreffende ›Regieanweisungen‹, auf die Bühne des Handlungsgeschehens entlässt und fast ausschließlich in ihrer Interaktion vorführt.95 Von einem grundsätzlich neutralen Erzählverhalten auch abseits der Dialoge kann hingegen keineswegs die Rede sein, vielmehr wird die geweckte Neugier des Lesers an den Figuren durch die Erzählinstanz nicht nur nicht befriedigt, sondern durch den folgenden Kommentar noch weiter potenziert:
93 Burkhard Fuhs, Städtischer Tourismus, Kur und Sport. Zum exklusiven Leben in Wiesbaden im 19. Jahrhundert. In: Tourismus Journal 6/3 (2002), S. 397–416, hier S. 399. 94 Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Ders., Gesamtausgabe. Bd. 9, Literarische Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 242–263, hier S. 263. 95 Vgl. Heuser, Fontanes ›Cécile‹. Zum Problem des ausgesparten Anfangs, S. 41; Rohse, Harztouristen als literarische Figuren, S. 193.
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»Täuschte nicht alles, so lag eine ›Geschichte‹ zurück, und die junge Frau (worauf auch der Unterschied der Jahre hindeutete) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen.« (C, S. 8) Diese Andeutung einer zurückliegenden »Geschichte« kann in zweierlei Hinsicht als symptomatisch für die Erzähltechnik in Cécile gelten. Zum einen lassen sich Reminiszenzen zum Formtyp des analytischen Dramas ausmachen, dessen Grundkomposition eines ›ausgesparten Anfangs‹ hier Pate steht: »Wie in einem analytischen Drama das entscheidende Geschehen sich bereits vor dem Beginn des Dramas ereignet hat, so liegen auch in ›Cécile‹ die eigentlichen Handlungselemente vor dem Beginn des Romans. Céciles und St. Arnauds Vorgeschichte bleibt dem Leser und den übrigen Romanpersonen lange unbekannt.«96 Indem die detektorische Enthüllung jener Vorgeschichte zum anderen nicht von der Erzählinstanz betrieben, sondern an die Romanfigur Robert von Gordon-Leslie delegiert wird, konstatiert Heuser, wiederum in Rekurs auf Bloch, dass »der Roman von der Form und in einem subtileren Sinn auch vom Inhalt her […] eine gewisse Nähe zum Typus der Kriminalgeschichte«97 aufweist. Die Verständigung über die in Cécile vorliegende Erzähltechnik ist insofern von Relevanz, als sie maßgeblich dazu beiträgt, die Motive für die Sommerfrische ebenfalls nur anzudeuten, denn diese stehen in enger Verknüpfung mit der in der Vergangenheit der Romanhandlung liegenden Vorgeschichte. Eine mit der Unternehmung der Sommerfrische verbundene und damit ihr genuine Motivation scheint die Hoffnung darzustellen, in den Bergen Ruhe und Erholung zu finden und einen positiven Effekt auf die Gesundheit zu genießen. Der Erzählintention gemäß ungewiss bleibt allerdings, weshalb insbesondere Cécile, die während der Eisenbahnfahrt »leidend und ruhebedürftig, […] apathisch und in sich versunken«98 wirkt, eines Aufenthalts im Luftkurort Thale bedarf, und inwiefern die Gründe für ihre Erschöpfung in der Vergangenheit liegen: »Als Erzähler tut Fontane alles, um den Eindruck der Allwissenheit zu entkräften. Er erzählt so, als wüßte er selber nicht genau, worum es sich denn eigentlich handelt.«99 Auch einer eindeutigen Bestätigung und Diagnose eines psychovegetativen Leidens, das über das übliche Bedürfnis nach Regeneration im Rahmen der Sommerfrische hinausreichen
96 Heuser, Fontanes ›Cécile‹. Zum Problem des ausgesparten Anfangs, S. 42. 97 Ebd., S. 56. 98 Inge Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.‹ Zum Verhältnis von Frau und Natur in Fontanes ›Cécile‹. In: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), Natur und Natürlichkeit. Stationen des Grünen in der deutschen Literatur, Königstein im Taunus 1981, S. 118–149, hier S. 128. 99 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 187.
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würde, enthält sich die Erzählinstanz. Die Cécile in zahlreichen Forschungsbeiträgen attestierte Nervenkrankheit, häufig spezifiziert als Hysterie, führt Becker überzeugend auf eine eindimensionale Lektüre zurück, die verkennt, dass jener Krankheitsdiskurs ausschließlich von den männlichen Figuren – allen voran St. Arnaud – geführt wird und dergestalt das Produkt ihrer Perspektive darstellt: »Glaubt man ihrem Mann Arnaud, so leidet Cécile an einer Nervenkrankheit. Von seiten [sic!] des Erzählers wird eine solche Diagnose jedoch nicht bestätigt: Sein Wissen scheint begrenzt, der Leser erfährt durch ihn wenig über die physische und psychische Verfassung der Romanheldin«100. Diese These Beckers, ihr textintern schlüssig begründeter Zweifel an einem somatischen Leiden Céciles, korreliert zudem mit der im Roman präsentierten Reiseform der Sommerfrische. Denn diese beinhaltete keine dezidiert schulmedizinische Therapie, versprach über ihr Erholungs- und Vergnügungsprogramm aber durchaus kurative Effekte für Körper und Geist. Die Ungewissheit über Céciles Gesundheitszustand bleibt in der räumlichen Konzeption insofern bestehen, als tendenziell diffusen und verschwiegenen Nervenleiden im Format der Sommerfrische ein Rahmen für ebenso diffuse und unauffällige Therapien geboten ist. Seine Residenz nimmt das Ehepaar in einem Hotel, dessen Name ›Zehnpfund‹ St. Arnaud zu folgender Interpretation eines positiven Einflusses auf Céciles Gesundheit veranlasst: »Klingt das nicht wie die gute Zeit? Ich sehe schon die Waage, drauf Du gewogen wirst und Dich mit jedem Tage mehr in die Gesundheit hineinwächst. Denn Zunehmen heißt Gesundwerden.« (C, S. 9) Dass die Cécile hier in Aussicht gestellte Genesung nicht nur dem Luftkurort und einer Gewichtszunahme zu verdanken sein soll, sondern der Oberst zudem ein flankierendes Unterhaltungsprogramm plant, macht sein Fortfahren deutlich: »Und dann kutschiren wir umher und zählen die Hirsche, die der Wernigeroder Graf in seinem Parke hat. Er wird doch hoffentlich nichts dagegen haben.« (C, S. 9) – Auch die weiteren Gäste des Hotels, deren Bekanntschaft die St. Arnauds bald an der Table d’hôte machen, ent-
100 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 132. Becker widerspricht dabei nicht der These, dass das medizinhistorische Krankheitsbild der Hysterie ein körperliches Aufbegehren der Frau gegen repressive Weiblichkeitsimagines darstellt. Sie argumentiert jedoch gegen Interpretationen, die Cécile zweifelsfrei als Hysterikerin betrachten und diesen Umstand dem Autor Fontane als machistische Reproduktion eines gespaltenen, repressiven Frauenbildes anlasten. So z. B. bei Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.‹, S. 139ff.; Treder, Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 45ff. Nach Becker reproduziert Fontane in Cécile »vielmehr de[n] zeitgenössische[n], von Männern geführte[n] Diskurs über weibliche Hysterie und Nervosität und nicht zuletzt auch über Weiblichkeit selbst« (Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 132).
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sprechen in ihren Motivationsmodellen dem Typus des Sommerfrischlers. So antwortet Gordon auf die Frage des Obersten, ob er sich zur Kur im Harz aufhalte: »[N]icht eigentlich zur Kur. Ich will ausruhen und eine gute Luft athmen und nebenher auch Plätze wiedersehen, die mir aus meiner Kindheit her theuer sind.« (C, S. 22) Somit sind erneut und treffend die beiden Hauptkonstituenten einer typischen Sommerfrische benannt: Erholung und Unterhaltung. Während das Erholungsbedürfnis auch für die Sommerfrische der St. Arnauds als Movens bestimmt werden konnte, evoziert das aussparende und dennoch andeutungsreiche Erzählen zudem eine Ahnung von weiteren Beweggründen, die mit dem kurativen Aspekt koinzidieren, womit zugleich die Diskretion des Erzählens ihren Reflex im diskreten Verschweigen der konkreten Ursachen findet: »Man merkt, es ist etwas vorgefallen, das zu einem nicht ganz freiwilligen Verlassen Berlins zwingt, etwas, das mit der Gesellschaftskonvention nicht in Einklang stehen muß.«101 Für diese Vermutung gibt das Eingangskapitel Anlass, indem es mehr oder minder subtil auf ein gesellschaftlich-aversive Moment verweist: Während das Verhalten eines Generals am Potsdamer Bahnhof, »der, als er Céciles ansichtig wurde, mit besonderer Artigkeit in das Coupé hinein grüßte, dann aber sofort vermied, abermals in die Nähe desselben zu kommen« (C, S. 7) sowie die bittere Kommentierung des Vorfalls eine soziale Stigmatisierung des Ehepaars anzeigen, sprechen die Figuren selbst die Hoffnung aus, möglichst jeder Gesellschaft zu entbehren. Auf St. Arnauds Kommentar »Gott sei Dank, wir sind allein«, der seine Erleichterung ausdrückt, das Zugabteil nicht mit weiteren Reisenden teilen zu müssen, erwidert Cécile im Hinblick auf die gesamte Dauer des Harzaufenthaltes: »Um es hoffentlich zu bleiben.« (C, S. 6) Wenngleich also einerseits eine »eskapistische Funktion«102 der Sommerfrische deutlich wird, bleibt diese Intention andererseits textintern nicht widerspruchsfrei. Darauf deutet schon die Wahl des Reiseziels hin, das ungeachtet seiner idyllisch-natürlichen Umgebung kaum die Erwartung einer vorzufindenden Exklusivität und Gesellschaftsferne zu erfüllen vermag: »So musste der Harz schon den Zeitgenossen denkbar ungeeignet erscheinen, um den von Cécile vorgegebenen Wunsch nach Ruhe und Zurückgezogenheit zu befriedigen.« Denn »[i]n der Tat beherrschten stadtmüde Wochenendausflügler und Sommerfrischler in den warmen Monaten des Jahres die Szenerie.«103
101 Wandrey, Theodor Fontane, S. 195. 102 Wolfgang Hackl, Eingeborene im Paradies. Die literarische Wahrnehmung des alpinen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 41. 103 Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum, S. 234.
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Diese Reise nach Thale allerdings auf ein Missverständnis zurückzuführen, das aus einem Verkennen der dort befindlichen touristischen Infrastruktur resultiert, dafür gibt der Text keinerlei Hinweise, und immerhin St. Arnaud dürfte sehr genau über das Reiseziel informiert sein, denn er studiert während der Fahrt intensiv entsprechendes Kartenmaterial. Die scheinbar sich abzeichnende Widersprüchlichkeit von Reisemotivation, -ziel und -form löst sich allerdings in der unternommenen Sommerfrische wie folgt auf: So resultiert die konstatierte eskapistische Tendenz aus der gesellschaftlichen Ächtung des St. Arnaudschen Paares, dessen prekäre Vergangenheit es unmöglich macht, als anerkannte Mitglieder der guten Gesellschaft der exklusiven Geselligkeitskultur Berlins beizuwohnen. Der Harzaufenthalt muss also primär als Flucht vor der eigenen verrufenen Bekanntheit innerhalb der Berliner Gesellschaft verstanden werden, eine Flucht, der das Potential innewohnt, zeitlich begrenzt und im Deckmantel der Anonymität vorurteilsfrei am gesellschaftlich-geselligen Verkehr teilzuhaben. Dabei entspricht auch Céciles mehrfach geäußerte Hoffnung, viel Zeit allein zu verbringen, nicht grundsätzlich einer generellen Absage an ein soziales Miteinander, sondern resultiert aus der erlittenen Stigmatisierung und einer ängstlichen Furcht vor erneuter Verurteilung und Ablehnung. Diese Lesart bestätigt implizit der Oberst, wenn er seiner Frau entgegnet: »Warum immer allein? Und gerade Du. Du brauchst Menschen.« (C, S. 9) Die in Cécile vorliegende Reisemotivation, die Flucht bei gleichzeitiger Sehnsucht nach sozialer Teilhabe und Anerkennung, bekräftigt die These, dass die scheinbare Widersprüchlichkeit ihre adäquate Entsprechung in der Sommerfrische findet, indem diese Reiseform beiden Bedürfnissen zu entsprechen vermag. Die Voraussetzung dafür stellt nicht zuletzt die gewählte Destination dar, die trotz ihrer verkehrstechnischen Anbindung an Berlin eher ein kleinbürgerliches Publikum anzog und mithin wenig Gefahr versprach, vor Ort auf Mitglieder der höheren Berliner Gesellschaftskreise zu treffen. Da der Leser allerdings erst im zweiten Teil des Romans, lange nach der Rückkehr aus der Sommerfrische, über die intrikaten Details der Vorgeschichte in Kenntnis gesetzt wird, erschließt sich jenes Verständnis von Reiseziel und Reisemotivation in Cécile erst rückwirkend. Dass es mit dem Harzaufenthalt aber eine besondere Bewandtnis haben muss, diese Einschätzung befördern schon innerhalb der Harz-Kapitel das evozierte Informationsdefizit sowie Gordons Neugier und seine »immer neuen Muthmaßungen« (C, S. 14) über das Paar. Als Kosmopolit genügt diesem eine kurze Beobachtung der St. Arnauds, um ihren sozialen Status zu erkennen, sie demgemäß als eher untypische Berliner Sommerfrischler zu identifizieren und stattdessen mit dem exklusiven Bädertourismus in Verbindung zu bringen: »›Das ist Baden-
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Baden‹, sagte der vom Balkon aus sie Beobachtende. ›Baden-Baden oder Brighton oder Biarritz, aber nicht Harz und Hôtel Zehnpfund.‹« (C, S. 14) Abgesehen von der Dichte an Alliterationen ist diese Textstelle auch inhaltlich bemerkenswert: Während sie erstens die diffuse Neugier und Skepsis an der vorgeführten Reiseform der Sommerfrische nährt und eine Unvereinbarkeit zum diagnostizierten gesellschaftlichen Rang der St. Arnauds konstatiert, fungiert sie zweitens als Charakterisierung Gordons, dessen Urteil als Produkt seiner Weltläufigkeit erkannt werden kann und damit implizit auf diese rückverweist: »Er ist der Typus des Reisenden und Reiseführers, Weltkenners und Besichtigungs-Experten schlechthin und gelegentlich sogar – gleichsam als Meta-Tourist in Touristenrolle – auch Tourismus-Analytiker nach international maßgeblichen Kur- und Badeort-Kategorien.«104 Gleiches kann auch für Fontane gelten, der bei seinen Wanderungen, Landpartien und Sommerfrischen ebenfalls als »Meta-Tourist in Touristenrolle« in Erscheinung trat und der seine persönlichen Eindrücke, Beobachtungen und Ortskenntnisse im Nachhinein häufig literarisch aufgegriffen und bearbeitet hat. 3.2.2 »Irrungen, Wirrungen« Auch die Landpartie nach Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen profitiert in ihrer topographischen Detailtreue und atmosphärischen Darstellung von Fontanes eigener Kennerschaft und Erfahrung: »[A]s usual, the knowledge of the topography acted as a stimulus to him, and made possible the authenticity of the background in detail and atmosphere.«105 Ebenso wie den Gebirgsort Thale hat er Hankels Ablage mehrfach besucht, um dort gesundheitliche Regeneration mit seiner schriftstellerischen Arbeit zu verbinden. In Anbetracht der Aufenthaltsdauer einer Sommerfrische und der landschaftlichen Reize des Harzer Mittelgebirges, konnte das vor den Toren Berlins gelegene Gasthaus Hankels Ablage einem direkten Vergleich mit Thale nach Auffassung Fontanes jedoch nicht Stand halten: »›Hankels Ablage‹ an die Stelle von Thale setzen, geht nicht, aber zum Nebenherlaufen, als Hausmittel und Beihülfe ist es vorzüglich. Kommt nicht noch ein Nackenschlag, so ist es just das was ich mir so viele Jahre lang gewünscht habe: ein Platz zu momentanem Ausspannen.«106 Das hier in einem Brief vom 25. Mai 1884 an seine Frau Emilie erwähnte Potential eines in Hankels Ablage verbrachten Aufenthalts 104 Rohse, Harztouristen als literarische Figuren, S. 200. 105 Garland, The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 111. 106 GBA XII/3, S. 383f.
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3 Geplantes Vergnügen: Organisation und Motivation
besteht also weniger in einer nachhaltigen physisch-psychischen Erholung, die nur eine mehrwöchige Sommerfrische bewerkstelligen könnte, als vielmehr in der Möglichkeit eines kurzzeitigen »Ausspannens«, die durch die relative Nähe Berlins bei entsprechender Bedürfnislage spontan gegeben war. Konturiert Fontane hier in nuce die divergierenden Konzepte der Tourismusformen Sommerfrische und Landpartie, kennzeichnet er damit aber auch das bestehende Wechselverhältnis: Gerade ihre Divergenz bedingt, dass Sommerfrische und Landpartie einander ergänzen und sich damit gleichsam gegenseitig komplettieren. Betrachtet man nun die Beweggründe der in Irrungen, Wirrungen veranstalteten Landpartie nach Hankels Ablage, so lassen sich jenseits der grundsätzlich differierenden Reiseform sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu Cécile aufweisen. Hier wie dort kann die Motivation als soziomorph bestimmt werden, als Suche nach einem zeitlich begrenzten Glück außerhalb des städtischen Lebensmittelpunktes. Während die St. Arnauds im Rahmen ihrer Sommerfrische primär die Berliner Gesellschaft gegen einen ihnen unbekannten Kreis anderer Hotel- und Harzgäste eintauschen und in der vorgefundenen Anonymität Erleichterung von gesellschaftlicher Ächtung erfahren wollen, ist der Aufenthalt in Hankels Ablage vom Movens bestimmt, in der dort erhofften Einsamkeit der Gesellschaft und der Gesellschaftlichkeit überhaupt entfliehen zu können: »[A]ls gesellschaftliche Veranstaltung haben Botho und Lene den Ausflug in Hankels Ablage nicht gemeint. Man will allein sein und unter sich.«107 Dies resultiert aus dem Umstand, dass in Irrungen, Wirrungen zwar auch ein einzelnes Paar im Zentrum der Unternehmung steht, es sich allerdings anders als in Cécile nicht um Eheleute handelt, die trotz einer anrüchigen Vergangenheit nunmehr in einem gesellschaftlich legitimierten Verhältnis zueinander stehen. Die Beziehung zwischen dem Baron Botho von Rienäcker und der Kleinbürgerin Lene Nimptsch trägt den Makel einer doppelten Nonkonformität zeitgenössischer Normen, weil es auf der einen Seite ein außerrespektive voreheliches und auf der anderen Seite ein nicht standesgemäßes Verhältnis im Sinne einer Mesalliance darstellt. Indem das Paar somit gegen im öffentlichen Diskurs vertretene Moralvorstellungen verstößt,108 ist eine
107 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 265. 108 Gleichwohl muss zwischen der ›offiziellen‹ und der herrschenden Doppelmoral unterschieden werden. Denn eigentlich gehörte »[d]as Verhältnis von Adligen oder gut situierten Bürgern zu Arbeiterinnen und Weißzeugnäherinnen oder Wäscherinnen […] zum gesellschaftlichen Alltag« (Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 457).
3.2 Landpartie und Sommerfrische: ›Kleine Fluchten‹ der Gesellschaft
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Notwendigkeit zur Geheimhaltung erfordert; die Zusammentreffen Lenes und Bothos können nicht im öffentlich-städtischen Raum erfolgen, sondern bedürfen einer privat-natürlichen Abgeschiedenheit: »Nicht in konventionellen, milieuhaft eingeschränkten Räumen, sondern in idyllischer Landschaft können sich die Liebenden frei und natürlich begegnen.«109 Die Landpartie nach Hankels Ablage kann dabei als konsequente Fortführung der bislang im Roman geschilderten Treffen des Paares gelten, die in kontinuierlicher Progression den räumlichen und damit sozial sanktionierten Radius ihrer Begegnungsräume mehr und mehr erweitern. Besucht Botho Lene zunächst in ihrem Lebensumfeld der Dörrschen Gärtnerei, wird dieser private Rahmen im 9. Kapitel bei einem Spaziergang »ins Feld, ins Grüne« (IW, S. 57) erstmals gemeinsam verlassen. Konstitutive Voraussetzung hierfür ist die Einsamkeit des Weges, der die nötige Intimität für die Begegnung gewährleisten kann. Da die Idee zur Unternehmung einer Landpartie auf diesem Spaziergang nach Wilmersdorf aufkommt, lässt sich Folgendes konstatieren: Die durch das Paar vollzogene räumliche und zugleich soziale ›Grenzüberschreitung‹110 resultiert aus einem Ungenügen an der erlebten Beschränkung und evoziert im Moment des Vollzugs sogleich das Bedürfnis nach weiterer Extension. So lautet Bothos Vorschlag: »Wir müssen öfter so gehn, Lene, und wenn ich wiederkomme, dann überlegen wir wohin. O, ich werde schon etwas finden, etwas Hübsches und Stilles, und recht weit und nicht so blos über Feld.« (IW, S. 69) Während sich hier also das Bedürfnis nach Wiederholung und Ausweitung der gemeinsamen Unternehmung als Movens der Landpartie ausdrückt, ist dieser Vorschlag darüber hinaus in zweierlei Hinsicht interessant. Verweist die Formulierung Bothos, »etwas Hübsches und Stilles« suchen zu wollen, subtil auf das Wissen um die Notwendigkeit der Diskretion als Bedingung und Bedingtheit einer Zusammenkunft, findet sich überdies die Definition der aktiven und passiven Beteiligung am Planungsprocedere implizit vorgeprägt. Denn es ist Botho, der den aktiven Part übernimmt und der schließlich ›Hankels Ablage‹ nannte, von dessen Schönheit und Einsamkeit er wahre Wunderdinge gehört habe, Lene war einverstanden. Ihr lag nur daran, mal hinauszukom-
109 Heike Lau, Betrachtungen zu Raum und Zeit in Theodor Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹. In: Fontane Blätter 45 (1988), S. 71–78, hier S. 71. 110 Vgl. Ortrud Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit. Theodor Fontanes Berlin-Romane im Kontext der literarischen Moderne. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.– 17. September 1998 in Potsdam. Bd. 3, Würzburg 2000, S. 171–188, hier S. 177f. – Vgl. dazu auch Kapitel 4.1.2 der vorliegenden Studie.
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3 Geplantes Vergnügen: Organisation und Motivation men und in Gottes freier Natur, möglichst fern von dem großstädtischen Getreibe, mit dem geliebten Manne zusammen zu sein. Wo, war gleichgiltig. (IW, S. 70)
Die hier artikulierte Passivität Lenes, die sich auf ihre Zustimmung des unterbreiteten Vorschlags beschränkt, erklärt sich durch ihre soziale Herkunft als konsequent und folgerichtig: Als Kleinbürgerin fehlt Lene der nötige gesellschaftliche Erfahrungs- und Wissenshorizont, der es ihr ermöglichen würde, potentielle Landpartieziele mit Übernachtungsmöglichkeit vorzuschlagen. Darüber hinaus deutet sich hier bereits die Relativität der Gesellschaftsferne von Hankels Ablage an, wenn Botho von dessen »Einsamkeit […] wahre Wunderdinge gehört« hat. Die vermeintliche Exklusivität und Skandalität der Beziehung zwischen Lene und Botho, die nach Einsamkeit zu verlangen scheint, wird im Verlauf der späteren Landpartie insofern konterkariert, als in Gestalt von Bothos Kameraden und ihren Begleiterinnen auf die Gewöhnlichkeit solcher Verhältnisse hingewiesen ist. Bei aller Zuneigung zu Lene demonstriert Botho vor und während der Landpartie subtil seine gesellschaftliche Superiorität. Wird dies im Verlauf der Untersuchung noch zu belegen sein, soll an dieser Stelle der Hinweis auf seine Begründung genügen, weshalb Frau Dörr eine gänzlich inadäquate Begleitung dargestellt hätte: »Frau Dörr, wenn sie neben Deiner Mutter sitzt oder den alten Dörr erzieht, ist unbezahlbar, aber nicht unter Menschen. Unter Menschen ist sie blos komische Figur und eine Verlegenheit.« (IW, S. 71) Hier manifestiert sich – bei aller Projektion der Einfachheit und Natürlichkeit auf Lenes Kreis und Milieu als vermeintlich erstrebenswerter Gegenentwurf zur Oberflächlichkeit seiner eigenen Gesellschaftssphäre –111 dennoch die Internalisierung und Abhängigkeit von seiner Sozialisation, so dass Botho aus Furcht, in Begleitung von Frau Dörr der Lächerlichkeit anheim zu fallen und einen Ehrverlust zu erleiden, diese einer schonungslosehrlichen Beurteilung unterzieht. Botho »finds it alarmingly easy to change his mind about people«112, worin Bade nicht zuletzt die Unzuverlässigkeit seines Charakters begründet sieht. Da zwischen dem Vorschlag und der tatsächlichen Durchführung der Partie nach Hankels Ablage einige Wochen vergehen, stellt die Landpartie in Irrungen, Wirrungen im Vergleich zu den anderen Romanen eine Besonderheit dar. Denn dort erwies sich die Landpartie aufgrund ihres vergleichsweise informellen Charakters als ein flexibel und spontan anzuberaumendes Frei-
111 Vgl. dazu auch Becker, Literatur als ›Psychographie‹, S. 101ff.; Reulecke, Briefgeheimnis und Buchstabentreue, S. 150ff. 112 James N. Bade, Fontane’s Landscapes, Würzburg 2009 (= Fontaneana, Bd. 7), S. 79.
3.2 Landpartie und Sommerfrische: ›Kleine Fluchten‹ der Gesellschaft
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zeitvergnügen: In Schach von Wuthenow und Frau Jenny Treibel fallen Idee und Durchführung der Landpartie sogar auf einen Tag, während in L’Adultera und Der Stechlin der Folgetag zur Unternehmung bestimmt wird. Jene Spontaneität und Flexibilität muss dem Planungsprocedere der Landpartie in Irrungen, Wirrungen aufgrund des divergierenden Motivationsmodells versagt bleiben: Die ihr genuine Intention verlangt zum einen, wie bereits dargelegt, nach gänzlich anderen Bedingungen der Privat- und Ungestörtheit, und zum anderen soll die Landpartie hier eine Übernachtung des Paares einschließen. Die Dauer der Planungsphase wird allerdings nicht als enervierendes Problem geschildert; vielmehr avancieren die betreffenden Überlegungen »auf einige Wochen hin […] [zum] Lieblingsgespräch« (IW, S. 70) und die Landpartie zum Gesprächsgegenstand, so dass insbesondere Lenes Alltag in freudiger Erwartung auf die Landpartie bereits im Vorfeld eine gewisse Belebung und Abwechslung erfährt. Die Hoffnung auf einen kurativen Effekt, die als Teilaspekt für die Motivation der Sommerfrische in Cécile ausgemacht werden konnte und die auch Fontane nach eigenen Aussagen bei seinen Aufenthalten in Hankels Ablage erfüllt fand, besteht für die Landpartie in Irrungen, Wirrungen in einem buchstäblich medizinischen Sinne nicht. Dennoch koinzidieren die Flucht von gesellschaftlicher Repression und das so ermöglichte Beisammensein des Paares mit einer Erleichterung im Sinne einer Entlastung von drückenden (Alltags-)Sorgen. Dies meint jedenfalls Botho an Lene zu beobachten. Sein männlicher Blick verknüpft Weiblichkeit und Weichheit, die sich ihm in der Natur offenbaren: »Botho freute sich, Lene so glücklich zu sehen. Etwas Entschlossenes und beinah Herbes, das sonst in ihrem Charakter lag, war wie von ihr genommen und einer ihr sonst fremden Gefühlsweichheit gewichen und dieser Wechsel schien ihr selber unendlich wohl zu thun.« (IW, S. 72) Während das Paar ohne Zweifel die gemeinsame Zeit in der Abgeschiedenheit von Hankels Ablage genießt, was nicht zuletzt Hauptmovens dieser Unternehmung darstellte, ist zu Lenes augenscheinlicher Entspannung aber Folgendes ergänzend zu bedenken: Wenngleich ihr harter Arbeitstag als Näherin nur aussparend und überdies poetisch verklärt Eingang in die Romanhandlung findet und von Botho gänzlich idealisiert und damit letztlich ignoriert wird,113 erlebt Lene im Rahmen dieses Ausflugs eben nicht allein Zeit mit ihrem Geliebten, sondern überhaupt seltene Momente der Freizeit und des Müßiggangs. Mit diesem Rekurs auf die Standesunterschiede zwischen Lene und Botho ist zugleich auch das Dilemma der Landpartie nach Hankels Ablage benannt: 113 Vgl. Becker, Literatur als ›Psychographie‹, S. 102.
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3 Geplantes Vergnügen: Organisation und Motivation
Zwar kann das Liebespaar ein gestundetes Glück ungestörter Zweisamkeit genießen, doch vermag es die unternommene Gesellschaftsflucht nicht, über die bestehenden sozialen Differenzen hinwegzutäuschen, die besonders Lene schon vor der Störung durch Bothos Kameraden mehrfach registrieren muss: »Während des Aufenthaltes in Hankels Ablage sind Botho und Lene einander so nah und gleichzeitig so fern wie nirgends sonst im Roman.«114 Damit ist die Ambivalenz der Landpartie in Irrungen, Wirrungen auf den Punkt gebracht, bewegen sich die Protagonisten doch im Spannungsfeld persönlich erlebter Nähe und gesellschaftlich bedingter Ferne.
114 Walter Hettche, Irrungen, Wirrungen. Sprachbewußtsein und Menschlichkeit: Die Sehnsucht nach den ›einfachen Formen‹. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 2008, S. 136–156, hier S. 140.
4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume 4.1 Theoretische Ansätze Als eine im geselligen Rahmen unternommene Naherholungsform ist für die Landpartie »ein kurzfristiger Wechsel des Erfahrungsraums charakteristisch«1. Dieser Wechsel des Erfahrungsraums bedingt nicht nur den Landpartie-Topos allgemein, sondern auch dessen handlungsdynamisierendes Potential. Mit dem vorliegenden Übergang der Reflexionen von der zeitlichen Ordnung zu den räumlichen Gegebenheiten2 in den Romanen Fontanes und speziell der Landpartien ist der Wechsel von der ›Zeit‹ zum ›Raum‹ markiert. Als perzeptuelle Grunddimensionen zeichnen diese Dimensionen konstitutiv auch für die Künste, ihre Anschauung und Interpretation verantwortlich. In diesem Zusammenhang kann Lessings Laokoon-Schrift als paradigmatisch gelten, die »lange Zeit gattungsbestimmend gewesen war.«3 Lessing postuliert hier eine markante kunsttheoretische Differenz zwischen den bildenden Künsten (Malerei und Bildhauerkunst) und der Poesie, die er auf ihre Relation zu Zeit und Raum zurückführt: »Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.«4 Ohne ein Ursache-Wirkungsverhältnis in Rekurs auf Lessing als gesichert betrachten zu können, ist im Hinblick auf die Erzählliteratur sowie ihre Erforschung gleichwohl eine stärkere Hinwendung zur Zeit gegenüber dem Raum zu beobachten – mit der Folge, dass die »Zeitbezogenheit des Erzäh-
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Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 78. Dieses Merkmal zeichnet nicht allein die Landpartie als eine Naherholungsform aus, vielmehr ist jede Art von »Tourismus vor allem als eine Form des Raumwechsels« definiert (Alexandra Karentzos und Alma-Elisa Kittner, Touristischer Raum: Mobilität und Imagination. In: Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 280–293, hier S. 280). In Anschluss an Dennerlein bezeichnet die Wendung ›räumliche Gegebenheit‹ einen Oberbegriff für Orte und Räume. Vgl. Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin/New York 2009 (= Narratologia. Contributions to Narrative Theory, Bd. 22), S. 237. Sasse, Poetischer Raum, S. 294. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders., Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 6, Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, München 1974, S. 7–187, hier S. 116.
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lens«5 systematischer erforscht wurde als dies für die ›Raumbezogenheit‹ der Fall ist. Während Nünning eine Begründung hierfür darin findet, »dass sich die Raumdarstellung aufgrund der typologischen Vielfalt möglicher Räume einer umfassenden literaturtheoretischen Systematik weitgehend entzieht«6, leitet Dennerlein aus der differenzierten Analyse der Zeitdarstellung eine Erklärung für die vergleichsweise geringere Beachtung des Raumes in der Erzähltheorie ab: »Die Vernachlässigung des Raumes in der Narratologie hat sicher […] damit zu tun, dass man sich in der Narratologie zunächst mit der Gestaltung der Geschichte als zeitlicher und kausaler Abfolge von Ereignissen und ihrer Vermittlung beschäftigt hat.«7 Allerdings zeigt sich bereits hier die korrelierende Bedingtheit von zeitlicher und räumlicher Ordnung in Erzähltexten, auf die im weiteren Verlauf der Studie in Bezug auf die Landpartien noch zurückzukommen sein wird; denn die Zeit selbst ist »kein sinnlich wahrnehmbares Phänomen« und kann »nur durch Sekundär-Konkretes, nämlich das Ereignis und seine Spur im Raum, greifbar«8 werden. »Der daraus entstehende Eindruck, dass es sich bei der Untersuchung der Raumdarstellung um ein Forschungsdesiderat der Erzähltheorie handelt«9, darf indes nicht in toto auf die Wissenschaften und ihre Beschäftigung mit dem Raum übertragen werden. Im Gegenteil, Raum und Räumlichkeit stellen ein Forschungsthema dar, das inner- und interdisziplinär breit diskutiert wurde – mit dem Ergebnis, dass man sich einer Fülle divergierender Terminologien und Forschungsdiskurse gegenübersieht. Die häufig beschworene ›Konjunktur‹ der Raumdebatte in den Literatur- und Kulturwissenschaften kann dabei als ein gutes Beispiel dafür gelten, dass Interdisziplinarität einen fruchtbaren epistemologischen Beitrag leisten kann: So fungierte der Spatial Turn in benachbarten Wissenschaftsdisziplinen als wichtiger Impuls dafür, die eigenen fachspezifischen Methoden weiter zu entwickeln und den Forschungsgegenstand Raum systematischeren Untersuchungen zu unterzie-
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Lukas Werner, Zeit. In: Matías Martínez (Hrsg.), Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011, S. 150–158, hier S. 150. Ansgar Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 33–52, hier S. 34. Dennerlein, Narratologie des Raumes, S. 4. Vgl. dazu auch Birgit Neumann, Raum und Erzählung. In: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3), S. 96–103, hier S. 96. Werner, Zeit, S. 151. Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 34.
4.1 Theoretische Ansätze
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hen.10 Denn auch wenn die Frage nach den Topographien11 literarischer Texte seit jeher von Interesse war, hat »durch den ›spatial turn‹ in Geografie und Sozialwissenschaften[ ] sowie den darauf schon kritisch Bezug nehmenden ›topographical turn‹ der Kulturwissenschaften[ ] auch die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit ›Raum‹ und ›Zeit‹ einen neuen theoretischen Bezugsrahmen bekommen«12. Betrachtet man die zahlreichen Publikationen der letzten Jahre, die in den Literatur- und Kulturwissenschaften neben der kompilatorischen Bereitstellung einschlägiger raumtheoretischer Grundlagentexte13 auch diverse Sammelbände mit je unterschiedlicher Schwerpunktset10 Vgl. dazu auch Wolfgang Hallet und Birgit Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11–32, hier S. 11f. – Ritzer kritisiert hingegen eine »Hypostasierung der Raumvorstellung«, die sie auf die jüngeren »Turns und Trends« zurückführt; desweiteren erklärt sie, dass in der Literatur bereits zu Beginn der Moderne ein ›Spatial Turn‹ stattgefunden habe und plädiert für eine Rückbesinnung der Literaturwissenschaft auf (kunst-)philosophische Raumpoetiken (Monika Ritzer, Poetiken räumlicher Anschauung. In: Martin Huber, Christine Lubkoll et al. (Hrsg.), Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien, Berlin 2012, S. 19–37, hier S. 19). 11 Unter Topographie soll im Folgenden allgemein die ästhetische Repräsentation von räumlichen Gegebenheiten insbesondere im Medium der Literatur verstanden werden. Dieses Verständnis folgt dem »jüngere[n] Raumbegriff in den Kulturwissenschaften«, der »[m]it der Akzentuierung des ›Graphischen‹ am Topographischen, [...] die Verbindung zwischen Ort bzw. Raum und Schrift« hervorhebt (Kirsten Wagner, Topographical Turn. In: Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 100–109, hier S. 104). Vgl. dazu auch Robert Stockhammer (Hrsg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005 (= Trajekte. Eine Reihe des Zentrums für Literaturforschung). – Die Etablierung des Topographical Turn in den Kulturwissenschaften geht zurück auf Sigrid Weigel, Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik, Bd. 2/2 (2002), S. 151–165. – Ein weitaus umfassenderes Topographieverständnis als die vorliegende Studie formuliert Böhme, für den »Kultur [...] zuerst die Entwicklung von Topographien [ist]. Das gilt, auch wenn es noch keine ›Graphie‹ im Sinne von Schrift gibt. Auch der Pfad, das Haus, die Route [...] all dies sind Graphien des Raumes« (Hartmut Böhme, Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie. In: Ders. (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005, S. IX–XXIII, hier S. XVIII). 12 Rolf Parr, Die nahen und die fernen Räume. Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 9), S. 53– 76, hier S. 54. 13 Vgl. Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006.
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zung und zwei Handbücher14 umfassen, so kann von einem allgemeinen Forschungsdesiderat eigentlich keine Rede mehr sein; auch wenn dies zahlreiche Beiträge zum Raumdiskurs weiterhin einleitend konstatieren und beklagen, wie Rose polemisch bemerkt.15 Was allerdings mit Blick auf den Forschungsstand konstatiert werden kann, ist eine beobachtbare Trennung raumtheoretischer Reflexionen und literaturwissenschaftlicher ›Praxis‹: Während einige Beiträge einen genuin abstrakt-theoretischen Zugang verfolgen, konzentrieren sich andere auf einzelne literarische Texte, ohne dass oftmals zwischen beiden methodischen Vorgehen ein wechselseitig fruchtbarer Konnex stattfindet. »Was fehlt, ist also das Bindeglied zwischen einer an konkreten Einzeltexten konzentrierten Literaturwissenschaft, die gleichsam von einzelnen Textstrukturen ›hinauf‹ zu generellen Aussagen gelangt, und einer eher von allgemeineren Theoremen ›hinab‹ nach ›unten‹ orientierten sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung.«16 Als ein solches »Bindeglied« sollen im Folgenden die ort- und raumspezifischen Reflexionen Jurij Lotmans und Michel de Certeaus fungieren,17 weil 14 Vgl. Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010; Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3). 15 »Es gehört zum Topos der Diskussion um den ›spatial turn‹, auf die systematische Vernachlässigung der Kategorie des Raumes im abendländischen Denken hinzuweisen und damit zugleich den eigenen Beitrag als Vorstoß in einen bisher marginalisierten Bereich des Wissensdiskurses zu markieren« (Dirk Rose, Die Verortung der Literatur. Präliminarien zu einer Poetologie der Lokalisation. In: Martin Huber, Christine Lubkoll et al. (Hrsg.), Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien, Berlin 2012, S. 39–57, hier S. 39). 16 Parr, Die nahen und die fernen Räume, S. 56. Die hierfür im Hinblick auf Erzähltexte notwendige Öffnung speziell auch der Erzähltheorie für Fragen der Raumdarstellung und -theorie erfordert laut Nünning zunächst die Bereitstellung von »narratologische[n] Kategorien und Anwendungs-perspektiven für die Analyse der Formen und Funktionen der Raumdarstellung in narrativen Texten« (Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 34). Um die »Entwicklung eines Beschreibungsinstrumentariums für den Raum im Erzähltext« hat sich Dennerlein in ihrer Studie verdient gemacht (Dennerlein, Narratologie des Raumes, S. 203). 17 Dass die vorliegende Untersuchung damit kein dezidiertes Neuland betritt, zeigt die folgende Auswahl an Forschungsliteratur. Auf Lotman rekurrieren bezogen auf Fontane auch Parr, Die nahen und die fernen Räume; Grätz, Tigerjagd in Altenbrak; Michael James White, Space in Theodor Fontane’s Works. Theme and Poetic Function, London 2012; Müller, Schloßgeschichten. Certeau konsultieren auch Scherpe, Ort oder Raum; Katrin Scheiding, Raumordnungen bei Theodor Fontane, Marburg 2012; Susanne Ledanff, Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes. Mit besonderem Blick auf Michel de Certeaus Raumtheorien. In: Tim Mehigan und Alan Corkhill
4.1 Theoretische Ansätze
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es sich jeweils um theoretische Ansätze handelt, deren Konzeption eng an literarischen Texten orientiert ist. Somit ist zum einen ausgeschlossen, dass der Konnex zwischen Raumtheorie und literaturwissenschaftlicher Praxis im Raumdiskurs allein daran scheitert, dass »sich die Literaturwissenschaften [...] auf ein bloßes Aufgreifen von Themen und Konzepten aus geographischen, soziologischen, historischen und anderen fachfremden Studien beschränken«18. Lotman und Certeau lassen sich zum anderen unter jene »Ansätze [subsumieren], die die literaturwissenschaftliche Relevanz des Faktors Raum mit den besonderen Anliegen des Faches begründen (und nicht allein unter Verweis auf Nachbardisziplinen)«; und indem »sie zugleich über eine im engeren Sinne textbezogene Untersuchung hinausweisen«, vermögen sie es, die Relevanz »literaturwissenschaftliche[r] Ansätze« im Raumdiskurs zu betonen und somit »die transdisziplinäre Debatte entscheidend [zu] bereichern.«19 Operierten die vorangegangenen Erläuterungen, analog zur allgemeinen Terminologie des Diskurses, mit der Begrifflichkeit und Kategorie des Raumes, so soll im Folgenden mit Certeaus grundlegender Differenzierung zwischen Ort und Raum auch die Kategorie des Ortes ihre Berücksichtigung finden; denn »[d]ie Begriffe ›Ort‹ und ›Raum‹ darf man nicht unterschiedslos gebrauchen, wenn man die Spezifika einer literarischen Topographie in Erfahrung bringen will.«20 In Folge dieser Annahme sollen Fontanes LandpartieTopographien also sowohl unter ihren räumlichen als auch örtlichen Voraussetzungen betrachtet und analysiert werden. In diesem Bestreben unterscheidet sich das vorliegende Untersuchungsvorhaben denn auch von bereits publizierten Beiträgen zu Fontane, die den Fokus in letzter Konsequenz immer auf den Ort oder den Raum richten.21 Während Certeau mit der Zuordnung statischer und dynamischer Qualitäten im Hinblick auf Orte und Räume eine scheinbar simple aber weitrei-
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(Hrsg.), Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne, Bielefeld 2013, S. 147–166. Michael C. Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 53–80, hier S. 56. Ebd. Vgl. dazu auch Parr, Die nahen und die fernen Räume, S. 57ff.; Sasse, Poetischer Raum, S. 297: »Eine topographisch ausgerichtete Literaturwissenschaft reflektiert und kommentiert aber nicht nur die Konstruktion von Räumen in der Literatur, sondern stellt auch Methoden zur Verfügung, die das Benennen und Herstellen von (geographischen) Räumen in anderen Disziplinen analysierbar machen.« Scherpe, Ort oder Raum, S. 163. Vgl. dazu u. a. die in Anmerkung 17 angeführten Titel.
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chende Unterscheidung trifft, auf welche die hier zu konstatierende Relevanz der Ortskategorie gründen wird, sollen mit Lotmans topologischem Ansatz Fontanes Landpartie-Topographien als dynamisierende Handlungsräume in den Vordergrund treten. Dabei verzichtet die vorliegende Studie auf eine vermeintliche Vollständigkeit in der Rekonstruktion beider Theorie- und Denkansätze; vielmehr sollen ausschließlich jene Thesen Lotmans und Certeaus skizziert und rekapituliert werden, die sich für die nachfolgenden Analysen und Interpretationen der Landpartie-Topographien als fruchtbar erweisen. Insbesondere in Bezug auf Certeau will die Studie weniger ein klar definiertes methodisches Vorgehen oder Untersuchungsinstrumentarium bereitstellen, als vielmehr wichtige Impulse für weiterführende Reflexionen zur Gestaltung und Funktionsweise der Landpartie-Topographien in Fontanes Romanen gewinnen. 4.1.1 Orte und Verortungen 4.1.1.1 Certeaus Ortsbestimmung Indem hier zugunsten der Argumentationslogik zunächst die Reflexionen Certeaus Beachtung finden, wird damit recht eigentlich die Publikationschronologie und damit einhergehend auch die Rezeptionsrichtung verkehrt. Denn Certeau nimmt konkret Bezug auf Lotmans semiotische Methode, »die die Kultur als eine räumliche Metasprache betrachtet«; er grenzt seine Studie aber dahingehend ab, dass er »von den Strukturen zu den Handlungen [im Raum] übergeht.«22 »[U]m den Untersuchungsbereich einzugrenzen«, konzentriert er sich auf »die narrativen Handlungen« und »unterscheide[t] [...] zwischen Raum und Ort«23. Den Ort definiert er als eine Ordnung, »nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden«, so dass verhindert wird, »daß sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden.«24 Während Certeau den Ort »also [als] eine momentane Konstellation von festen Punkten« versteht, der eine relative Stabilität zu eigen ist, zeichnet sich demgegenüber der Raum, charakterisiert als »ein Geflecht von beweglichen Elementen«, durch ein dynamisches Moment aus; er ist »ein Resultat von Aktivitäten«25. Dass Orte
22 Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 217. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 217f. 25 Ebd., S. 218.
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und Räume indes keine autarken, voneinander getrennten Konzepte darstellen, sondern zwischen ihnen vielmehr eine relative Kongruenz besteht, konstatiert Certeau wie folgt: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.«26 Dieses ›Machen‹ wird von Certeau in Erzählungen mit Handlungen identifiziert, die an einem bestimmten Ort stattfinden: »[D]ie Erzeugung eines Raumes scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschichte verbindet«27. Hierin offenbart sich schließlich auch das Potential, in diesem Konzept den literarischen Handlungsraum zu erkennen: »Raum wird nach de Certeau durch Handlungen erst erzeugt.«28 Mag hieraus möglicherweise der Eindruck entstehen, dem Raum würde in Certeaus Studie ein größeres Gewicht zufallen, so muss zum einen bedacht werden, dass es konstitutiv immer eines Ortes bedarf, damit qua Handlungsmoment Raum erzeugt und wahrgenommen werden kann. Denn: »Erst die Statik der Orte macht die Dynamik der Räume erkennbar«29. Zum anderen sei erneut auf die wechselseitige Bedingung und Bedingtheit von Orten und Räumen verwiesen, die nach Certeau durch Erzählungen vollzogen wird: »Die Erzählungen führen also eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt.«30 Unterwandert bereits diese rege und wechselseitige Fluktuation, das »Widerspiel von endgültiger Lagerung und Mobilität, von Reglosigkeit und Handlung, das Orte oder Räume hervorbringt«31, das Vorhaben, sich einseitig auf den Raum zu konzentrieren, so scheinen darüber hinaus Fontanes Texte explizit nahezulegen, auch die jeweils örtlichen Voraussetzungen des Handlungsgeschehens zu berücksichtigen: »Fontanes literarische Topographie setzt mehr auf Ortsbesetzungen als auf Raumeroberungen.«32 Denn das, was hin26 Ebd. Bei der Differenzierung von Orten und Räumen rekurriert Certeau explizit auf Merleau-Ponty und dessen phänomenologische Unterscheidung eines geometrischen und anthropologischen Raumes. Den geometrischen Raum parallelisiert Certeau mit seiner Orts-, den anthropologischen mit seiner Raumbestimmung. Vgl. ebd., S. 218f. Vgl. dazu auch Rose, Die Verortung der Literatur, S. 42; Heiko Christians, Landschaftlicher Raum: Natur und Heterotopie. In: Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 250–265, hier S. 260. 27 Certeau, Kunst des Handelns, S. 219. Darin zeigt sich Certeaus Anlehnung an Lotman und dessen »Neukonzipierung von Plot. Plot stellt sich aus dieser Perspektive nicht länger als nur eine zeitliche Abfolge von Ereignissen dar; vielmehr beinhaltet er auch räumliche Bewegung« (Neumann, Raum und Erzählung, S. 101). 28 Sasse, Poetischer Raum, S. 302. 29 Rose, Die Verortung der Literatur, S. 42. 30 Certeau, Kunst des Handelns, S. 220. 31 Christians, Landschaftlicher Raum, S. 260. 32 Scherpe, Ort oder Raum, S. 162f.
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sichtlich der Stadtdarstellungen in den Fontaneschen Gesellschaftsromanen vielfach gerühmt und untersucht wurde, nämlich die exakte Verortung der Erzählhandlung im gründerzeitlichen Berlin33 anhand von »realistisch gezeichneten, präzise lokalisierbaren Schauplätzen mit hohem Wiedererkennungswert«34, kann ebenso für die Landpartie-Ziele gelten: Auch diese referieren auf geographisch konkret bestimmbare Orte der außertextuellen zeitgenössischen Wirklichkeit. Trotz dieser »punktuelle[n] Realitätsreferenzen«35 gilt »[a]ls Voraussetzung […] allemal, daß es Orte oder Räume in der Literatur nur als Konstruktionen gibt: ihre topographische Verfassung ist sprachlich-symbolisch gefertigt.«36 Es besteht konstitutiv eine ästhetische Differenz zwischen dem realweltlichen Ort und der literarischen Topographie.
4.1.1.2 Verfahren und Strategien topographischer Verortungen bei Fontane Vor der Folie der Certeauschen Reflexionen initiiert die Beobachtung einer präzisen Verortung der literarischen Topographien Fontanes sodann die nachfolgende Schwerpunktsetzung, die sich, eine Kapitelüberschrift Roses aufgreifend, kurz und bündig mit »Ort, nicht Raum«37 umreißen lässt. Das methodische Vorgehen wird dabei von dem Interesse geleitet, Technik und Funktion der Verortung zu untersuchen. So wird zu zeigen sein, dass die außertextuellen Bezüge, hier im Sinne einer Referenz auf spezifische Orte, nicht als Akte eines ›Name-Dropping‹ verkannt werden dürfen, die den Ro-
33 Vgl. dazu exemplarisch Charlotte Jolles, Weltstadt – Verlorene Nachbarschaft. BerlinBilder Raabes und Fontanes. In: Jahrbuch der Raabegesellschaft 29 (1988), S. 52–75; Kloepfer, Fontanes Berlin; Walter Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur. Formen der Großstadt-Darstellung in Fontanes Prosa. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.– 17. September 1998 in Potsdam. Bd. 3, Würzburg 2000, S. 149–160; Irmela von der Lühe, Fontanes Berlin. In: Werner Frick (Hrsg.), Orte der Literatur, Göttingen 2002, S. 189–206. 34 Barbara Piatti, Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen 2008, S. 16. 35 Ansgar Nünning, [Art.] Raum/ Raumdarstellung. In: Ders. (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart 2004, S. 558–560, hier S. 558. 36 Scherpe, Ort oder Raum, S. 163. 37 Rose, Die Verortung der Literatur, S. 41.
4.1 Theoretische Ansätze
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manen über Wiedererkennungseffekte lediglich etwas »Lokalgeist«38 verleihen; vielmehr soll Fontanes Praxis, »das fiktive Geschehen in die Koordinaten der – kartographisch verbürgten – Realität ein[zu]fügen«39, als Konstituens eines poetologischen Konzepts bestimmt werden. Für die Topographien in der hier berücksichtigten Werkauswahl kann gelten, dass der Autor sie aus eigener Anschauung kannte: Da Berlin seinen langjährigen Wohnsitz darstellte, war Fontane hinlänglich vertraut mit den Bezirken, Straßen, Bauwerken sowie den kulturellen und gastronomischen Institutionen.40 Doch auch für die Ausflugsziele der Landpartien im Berliner Umland und das weiter entfernte Thale im Harz kann ein Wissen Fontanes um dortige Gegebenheiten vorausgesetzt werden. Dies garantieren neben seiner regen Reisetätigkeit nicht zuletzt auch seine »starken topographischen Interessen und [...] geographischen Kenntnisse, die er in fast allen seinen Arbeiten, den ›Wanderungen‹, den Romanen und Novellen [...] verwendete und bezeigte«41. Eine zentrale Funktion im Streben nach fundierter Ortskenntnis und als Orientierungshilfe übernimmt in Fontanes Schaffen dabei die Arbeit mit und die Konsultation von Kartenmaterial:42 Eigenhändig angefertigte Karten dokumentierten entweder seine visuelle Wahrnehmung realer geographischer Gegebenheiten43 oder aber Fontane kartographierte seiner »eigenen Orientierung halber [...], um einen imaginären Ort als Schauplatz zu entwerfen«44. Als prominentes Beispiel dürfte in diesem letztgenannten Zusammenhang die Skizze der Dörrschen Gärtnerei für Irrungen, Wirrungen gelten, die »belegt,
38 Scherpe, Ort oder Raum, S. 163. 39 Grätz, Tigerjagd in Altenbrak, S. 197. 40 Vgl. dazu auch Wruck, der panoramatisch die Relevanz Berlins für Fontanes Leben und Werk darzustellen sucht: Peter Wruck, Fontanes Berlin. Durchlebte, erfahrene und dargestellte Wirklichkeit (1. Teil). In: Fontane Blätter 41/3 (1986), S. 286–311; Peter Wruck, Fontanes Berlin (2. Teil). In: Fontane Blätter 42/4 (1986), S. 398–415. 41 Hans E. Pappenheim, Karten und Vermessungswesen im Schaffen Theodor Fontanes. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 4 (1953), S. 26–34, hier S. 30. 42 Das Spannungsverhältnis von Karten und Literatur bearbeiten mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung u. a. Franco Moretti, Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte, Köln 1999; Robert Stockhammer, Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München 2007; Piatti, Die Geographie der Literatur. 43 Vgl. hierzu etwa Fontanes Erwähnung einer Notizbuchskizze in den Wanderungen: »Ich zog mein Notizbuch, um das Bild in wenigen Strichen festzuhalten […]. / Und nun war ich fertig. Noch ein Blick auf meine Zeichnung, dann sah ich wieder um mich her.« (GBA V/1, S. 445) 44 Piatti, Die Geographie der Literatur, S. 48.
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dass Fontane auch erfundene Räume möglichst glaubwürdig zu gestalten sucht«45. Im Hinblick auf Fontanes ›kartographisches Schreiben‹46, seine »Skizzen und Baupläne[ ], die während der Konzeption [ein]es Romans als Gedächtnisstütze und Orientierungshilfe entstanden sind«47, ist aber unbedingt zu bedenken, dass sich diese Skizzen »in der Regel nur in den Notizbüchern und Vorarbeiten [...], nicht aber im veröffentlichten Text«48 finden. Somit fungieren die Karten nicht als »kartographisches Beiwerk«49 im Sinne eines Abdrucks im Text, und dennoch erfüllen sie eine wichtige Funktion im narrativen Gefüge. Die Plastizität der literarischen Topographien Fontanes kann als Ergebnis der zeichnerischen Vorstudien gelten; diese reichen dabei implizit in den Text hinein, und zwar durch die ordnenden »topographischen Angaben [wie links, rechts, vorne, hinten; M. B.], die wohl den selbstgefertigten Situationsplänen abgelesen sein dürften«50. 45 Grätz, Tigerjagd in Altenbrak, S. 198. – Die skrupulösen regionalgeschichtlichen Befunde Kleines legen hingegen ein Vorbild für die Dörrsche Gärtnerei in der Kurfürstenstraße nahe, das Fontanes Konzeption und seine Skizze der literarischen Topographie beeinflusst haben dürfte. Vgl. Joachim Kleine, Wo eigentlich lag das Vorbild für die Dörrsche Gärtnerei? In: Fontane Blätter 94 (2012), S. 103–112. 46 Vgl. Federico Italiano, Kartographisches Schreiben und kartographische Imagination. In: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3), S. 249–258. Auch Scherpe bestimmt »[d]as Kartographische als Ordnungsprinzip des Fontaneschen Erzählens« (Scherpe, Ort oder Raum, S. 163). 47 Hilde Strobl, Die Planung des Raumes in der Zeichnung des Dichters. In: Winfried Nerdinger und dies. (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Salzburg 2006, S. 146–159, hier S. 147. 48 Rose, Die Verortung der Literatur, S. 45. Vgl. dazu auch Piatti, Die Geographie der Literatur, S. 42. – Bei Rost findet sich eine Angabe zur Fülle jener kartographischen Praxis: »In Fontanes Nachlaß liegen rund vierzig Taschenbücher, die zahllose eigenhändige Zeichenskizzen enthalten« (Wolfgang E. Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken, Berlin 1931 (= Germanisch und Deutsch. Studien zur Sprache und Kultur, H. 6), S. 21). An einer Edition der 67 (!) Notizbücher Fontanes, auf die Rost wohl verweist, arbeitet die Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen. Dieses Editionsprojekt wird gewiss dazu beitragen, das bestehende Desiderat in Rezeption und Forschung der Notizbücher zu beheben. Vgl. dazu Gabriele Radecke, Notizbuch-Editionen. Zum philologischen Konzept der Genetisch-kritischen und kommentierten Hybrid-Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern. In: editio 27 (2013), S. 149–172. 49 Piatti, Die Geographie der Literatur, S. 35. Literarischen Texten beigefügten »Karten [kommt indes; M. B.] eine wichtige Funktion im narrativen Gefüge zu. Sie verstärken den Eindruck, dass der fiktive Ort existiert, und unterstützen so die Glaubwürdigkeit des Textes« (ebd., S. 34). 50 Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken, S. 36. Können diese Ordnungsbegriffe also mit dem Entstehungsprozess der literarischen Topographien erklärt wer-
4.1 Theoretische Ansätze
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Neben der Arbeit mit Karten, die als eine Abstraktion räumlicher Gegebenheiten gelten können,51 lassen sich weitere Verfahrensweisen ausmachen, die zu einer konkreten Verortung der Gesellschaftsromane beitragen. Sind bei Fontane durchaus auch imaginäre Schauplätze zu finden, referiert die Mehrzahl der literarischen Topographien jedoch auf reale Orte. Diese Referenz wird häufig durch die Namensnennung von realweltlichen Orten und Institutionen eindeutig nahegelegt, wie dies beispielsweise für ›Hankels Ablage‹ in Irrungen, Wirrungen, das Thaler Hotel ›Zehnpfund‹ in Cécile und das ›Eierhäuschen‹ in Der Stechlin der Fall ist. Kann die Auswahl der einzelnen Orte, auf die in den Texten referiert wird und die als Topographien der Landpartien fungieren, einerseits mit ihrer allgemeinen Bekanntheit und insbesondere mit Fontanes Kenntnis der örtlichen Begebenheiten sinnfällig erklärt werden, ist diese andererseits Produkt einer ästhetischen Zurichtung, indem die realen Toponyme offenkundig auch wegen ihrer semantischen Implikationen Eingang in die Romane finden. Kloepfer argumentiert ebenfalls, dass »die Namen der vom Dichter ausgewählten Ausflugsziele von unübersehbarem Symbolgehalt«52 sind. Als Beleg hierfür zieht er einen Brief Fontanes an seine den, kommt diesen darüber hinaus eine weitere Funktion zu: Sie tragen wesentlich dazu bei, die topographischen Darstellungen als Produkte figural-perspektivierter Wahrnehmung zu erkennen. Vgl. dazu auch Kapitel 4.3.3.1 der vorliegenden Studie. 51 Auch wenn er die Karte »als eine Gesamtformel von abstrakten Orten« bezeichnet, verweist Certeau dennoch auch auf die genuin räumlichen Voraussetzungen der Karte: Verwiesen zunächst noch Abbildungen auf der Karte auf »kriegerische, bauliche, politische oder geschäftliche Aktivitäten, die die Herstellung eines geographischen Planes möglich mach[t]en« (Certeau, Kunst des Handelns, S. 224), wurden diese Hinweise auf die Exploration des Raumes im Laufe der Zeit von der Karte getilgt. Die Ursache hierfür erkennt Certeau in einer ›Verselbständigung‹ der Karte, die sich in der Frühen Neuzeit vollzieht. Vgl. dazu auch Kirsten Wagner, Im Dickicht der Schritte. ›Wanderung‹ und ›Karte‹ als epistemologische Begriffe der Aneignung und Repräsentation von Räumen. In: Hartmut Böhme (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005, S. 177–206, hier besonders S. 198f.; Gabriele Brandstetter, Wege und Karten. Kartographie als Choreographie in Texten von Elias Canetti, Hugo von Hofmannsthal, Bruce Chatwin, ›Ungunstraum‹ und William Forsythe. In: Gerhard Neumann und Sigrid Weigel (Hrsg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 465–483, hier besonders S. 469ff. – Die Frühe Neuzeit als entscheidende Zäsur für die Kartographie reflektiert auch Jörg Dünne, Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums. In: Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2009, S. 49–69, hier besonders S. 56ff. 52 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 82. Auch Ledanff konstatiert »Fontanes Besessenheit mit der Semantik von Ortsnamen« (Ledanff, Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes, S. 162).
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Tochter Martha vom 25. Juni 1889 heran, in dem dieser die Namen von Ausflugsorten am Rhein mit Berlin-Brandenburgischen vergleicht: Heine schrieb mal sehr richtig: es ist nicht dasselbe, ob ein Schneidergeselle eine Handschuhmamsell unglücklich liebt oder ein Montmorency eine Lusignan. So ist es auch mit den Namen unserer Vergnügungsörter: Eierhäuschen, Hankels Ablage, Kaputh – man fühlt ordentlich, wie das Vergnügen entzweigeht. Und nun dagegen: Rolandseck, Drachenfels, Lorelei.53
Kann das ›Entzweigehen des Vergnügens‹ mit der Ausweglosigkeit korreliert werden, wenn die Landpartie die Funktion einer Gesellschaftsflucht innehat, »deren Sinnlosigkeit in der Regel schon im Namen des Zielortes indiziert ist«54, ist hierin aber auch ein möglicher Verweis auf die organisierte Institutionalisierung des Vergnügens durch eine ortsansässige Naherholungs- bzw. Tourismusindustrie zu erkennen, die ein selbstbestimmtes Erleben von Vergnügen unterminiert: »[T]he commercialization of such sites sometimes becomes so apparent that leisure emerges much more as a marketing concept than an actual experience.«55 Die Darstellung der Tourismusindustrie im Rahmen der Landpartien kann schließlich ebenfalls als Strategie einer konkreten Verortung gelten. So wird die ›Lokalisation‹56 zum einen nicht allein mit der Nennung des amtlichen Ortsnamens erreicht, sondern mindestens ebenso häufig mittels der Bezugnahme auf eine spezifische gastronomische Institution. Zum anderen sollte das hier in Anschlag gebrachte Referenzsystem neben der genuin ›räumlichgeographischen‹ auch die zeithistorische und mit ihr die infrastrukturelle und touristische Dimension mit einschließen: Denn die aufgesuchten Topogra53 Theodor Fontane, Fontanes Briefe in zwei Bänden, ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler. Bd. 2, Berlin 1968, S. 228. 54 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 85. Analog dazu »ist es [für Kloepfer; M. B.] nicht verwunderlich, daß die beiden erfolgreichen Liebesbeziehungen [in Irrungen, Wirrungen und L’Adultera; M. B.], die auf Landpartien ihren Anfang nehmen, in Strahlau geknüpft werden«, was auf »die im Ortsnamen sich verbergende Allusion ›strahlen‹« zurückgeführt wird (ebd., S. 82). Mag diese Allusion auch phonetisch und möglicherweise etymologisch bestehen, resultiert die orthographische Übereinstimmung hingegen aus Kloepfers durchgängig inkorrekter Verwendung des Ortsnamens ›Strahlau‹. Fontanes Schreibweise ›Stralow‹ entspricht dem bis in die frühen 1890er Jahre amtlichen Ortsnamen, der seither ›Stralau‹ lautet. 55 David S. Johnson, The Democratization of Leisure and the Modernities of Space and Place in Theodor Fontane’s Berlin Novels. In: The German Quarterly 84/1 (2011), S. 61–79, hier S. 62. 56 Vgl. den Untertitel der Studie Roses, der Präliminarien zu einer Poetologie der Lokalisation lautet.
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phien treten explizit als »Ort[e] einer florierenden Tourismusindustrie«57 in Erscheinung, die speziell auf die Bedürfnisse von Landpartie-Gesellschaften ausgerichtet sind. Wesentlichste Voraussetzung für jene touristische Aneignung stellt dabei die verkehrstechnische Erschließung der Welt im industriellen Zeitalter dar, deren Motor die Eisenbahn, das »Epochensymbol[ ] der Beschleunigungserfahrung und der neuen Mobilität schlechthin«58, repräsentiert. Einem solcherart erweiterten Verständnis von einer Lokalisation der Texte, das die »Referentialität realistischen Erzählens auf konkrete Orte und Zeitläufte«59 berücksichtigt, ist auch ein rezeptionsästhetischer Ansatz eingeschrieben, da sich die Literatur des Realismus zu der Zeit ihres Entstehens und ihrer Veröffentlichung »in der Erfahrungswelt ihrer Leser situiert, zumindest aber dieselben Raum-Zeit-Koordinaten mit ihnen teilt.«60 Kann Fontane hinsichtlich der literarischen Topographien in seinen Romanen mit einiger Berechtigung eine »geographische, kartographische wie allgemein topographische Akkuratesse«61 attestiert werden, relativieren sowohl in Briefen überlieferte Selbstaussagen des Autors als auch von ihm akzeptierte bzw. bewusst vorgenommene »Ungenauigkeiten, Inkorrektheiten in der Topographie«62 die Vorstellung, Fontane habe bei seinen Ortsdarstellungen geradezu manisch eine möglichst wirklichkeitsgetreue Kongruenz mit den realweltlichen Vorbildern angestrebt.63 In einem Brief an seine Frau Emilie im August 1882 äußert er sich über die erlebte Frustration, als Schach von Wuthenow von einer begeisterten Leserin allein auf die Berlin-Referenzen reduziert wird. Aber das Urtheil: ›es ist so spannend; man kennt ja fast alle Straßen-Namen‹ hat doch einen furchtbaren Eindruck auf mich gemacht. Nicht als ob ich der Frau zürnte; wie könnt’ ich auch! Im Gegentheil, es ist mir bei aller Schmerzlichkeit in gewissem Sinne
57 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 87. 58 Roland Berbig und Dirk Göttsche, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 9), S. 1–14, hier S. 7. 59 Rose, Die Verortung der Literatur, S. 50. (Herv. M. B.) 60 Ebd., S. 51. Dass und auf welche Weise die Lokalisation der Romane Fontanes auch für zeitlich, räumlich und zeiträumlich entfernte Leserschaften funktioniert, wird im Folgenden noch thematisiert. 61 Hillebrand, Mensch und Raum im Roman, S. 232. 62 Piatti, Die Geographie der Literatur, S. 17. 63 Als in diesem Zusammenhang einschlägig kann Petschs Formulierung gelten, der Fontane eine »bädekermäßige Genauigkeit« vorwirft, die den literarischen »Raum dauernd mit dem real-empirischen […] verwechselt« (Robert Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst, Halle 1942, S. 186).
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume angenehm gewesen, mal so naiv sprechen zu hören. Im Irrthum über die Dinge zu bleiben, ist oft gut; aber klar zu sehn, ist oft auch gut. Das ist nun also das gebildete Publikum, für das man schreibt[.]64
Diese »oberflächliche Rezeptionsweise […], die realistische Romankunst mit der Abschilderung empirischer Wirklichkeit verwechselt«65 und den Roman als Berliner Straßenverzeichnis verkennt, musste eine Kränkung des künstlerischen Selbstverständnisses darstellen: Fontane benennt denn auch eine derart »referentielle[ ] Lektüre«66 als Naivität und spottet resigniert über »das gebildete Publikum«, das seine Leserschaft darstellt.67 Im Hinblick auf die Großstadtdarstellung im Werk Fontanes stellt Hettche die These auf, dieser habe »in den späteren Romanen feinere erzähltechnische Mittel der Stadtgestaltung« erprobt, nachdem ihm anlässlich der zuvor zitierten »Reaktion einer Leserin auf ›Schach von Wuthenow‹« die bisherige Methode zur Vergegenwärtigung der Stadt über die »Nennung der Straßennamen« »verdächtig geworden«68 sei. Obwohl diese These viel für sich hat, ist sie dennoch zu relativieren: Einerseits bedient sich Fontane auch in den nachfolgenden Romanen der Methode, mit Hilfe von realweltlichen Toponymen eine konkrete Lokalisation des Handlungsgeschehens vorzunehmen, sei es im Kontext der Stadt- oder der Landpartie-Darstellung. Andererseits lässt sich parallel zu diesem Verfahren bei Fontane auch eine »Technik des graduel-
64 65 66 67
GBA XII/3, S. 276f. Müller, Schloßgeschichten, S. 23. Rose, Die Verortung der Literatur, S. 52. Zum Kommentar der Leserin ist aber zu bemerken, dass die Handlung von Schach von Wuthenow auf die Jahre 1805/06 datiert ist. Die von der Leserin artikulierte Freude, »fast alle« Berliner Straßennamen zu kennen, dürfte also auch darin bestehen, eine Kontinuität in der Berliner Bau- und Entwicklungsgeschichte zum gründerzeitlichen Berlin zu beobachten. – Siehe in diesem Zusammenhang auch den Brief Fontanes an Emilie vom 28. August 1882, in dem er vom Vorhaben eines Geschichtsvereins berichtet, das fiktive Schloß Wuthenow zu besichtigen: »Der hiesige märkische Geschichtsverein [...] hatte nämlich gestern eine Exkursion nach Ruppin hin gemacht, und in der Einladung zu dieser Exkursion war ausgesprochen worden: ›Fahrt über den See bis Schloß Wuthenow, das neuerdings durch Th. F. eine so eingehende Schilderung erfahren hat.‹ Durch diese Einladung hatte das Comité nun eine Art von Verpflichtung übernommen, den Theilnehmern ›Schloß Wuthenow‹ zu zeigen, ein Schloß das nicht blos nicht existirt, sondern überhaupt nie existirt hat. Denn Wuthenow war nie Rittergut, sondern immer Bauerndorf. Einige der Theilnehmer haben aber bis zuletzt nach dem Schloß gesucht ›wenigstens die Fundamente würden doch wohl noch zu sehen sein.‹« (GBA XII/3, S. 289f.) 68 Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur, S. 152.
4.1 Theoretische Ansätze
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len Verschleierns einer realen Gegend durch Umbenennung der Orte«69 sowie der gänzliche Verzicht auf eine namentliche Bezeichnung ausmachen. Als Beispiel für die erwähnte Verschleierungstechnik mit Hilfe »imaginäre[r] Toponyme (resp. Pseudonyme)«70 kann Fontanes L’Adultera fungieren: Dort besucht die Landpartie-Gesellschaft ›Löbbekes Kaffeehaus‹, ein »Lokal, das Fontane später offen als das Gasthaus Tübbecke benennen wird.«71 Bei dieser auffallenden Namensähnlichkeit dürfte eine Identifikation der literarischen Topographie mit dem Gasthaus für den zeitgenössischen »berlinkundigen Leser«72 indes nahegelegen haben. Indem das Pseudonym die Verortung mehr rudimentär verschleiert denn verbirgt, könnte darin der Nachhall einer literarhistorischen Tradition erkannt werden, die auch für den gänzlichen Verzicht auf eine namentliche Kennzeichnung verantwortlich zeichnet: Denn »[e]rst mit der Aufnahme des französischen naturalistischen Romans wird«73 allmählich »die Zurückhaltung auf[gegeben], mit der [...] fast alle Autoren des deutschen realistischen Romans nach 1848 es bis dahin vermieden hatten, Orte und Gegenden namentlich zu nennen«74. Dies läuft nicht zwingend dem hier vertretenen Verständnis einer konkreten Verortung der Landpartie-Topographien zuwider: Denn die Unternehmung in L’Adultera ist abgesehen von der Umbenennung des Gasthauses explizit in Stralau und Treptow verortet und auch das fiktive Schloß Wuthenow in Schach von Wuthenow weist mittels seiner Lage am Ruppiner See durchaus eine konkrete Lokalisation auf. Somit kann konstatiert werden, dass selbst die imaginären oder verschleierten Topographien stets im geographischen Koordinatensystem der außertextuellen Welt verortet sind: »Oft werden fiktive Bauten in existierende Dörfer oder Städte eingeschrieben, so daß sich reale und erzählte Bausubstanz vermischen.«75 – Insgesamt überwiegt bei Fontane allerdings die Praxis, sich realweltlicher Toponyme zu bedienen, wie auch Rost anmerkt: »Abgesehen von nur kleineren Abänderungen tritt im übrigen in der Angabe des Ortes ein konsequenter Naturalismus hervor.«76 Wird also – wenn auch selten – eine eindeutige Verortung der Topographie zum Teil verschleiert, demonstriert eine andere Äußerung Fontanes das 69 Piatti, Die Geographie der Literatur, S. 54. 70 Ebd., S. 17. 71 Bernd W. Seiler, Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen, Berlin 2012, S. 45. 72 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 83. 73 Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze, S. 241. 74 Ebd., S. 240. 75 Strobl, Die Planung des Raumes in der Zeichnung des Dichters, S. 147. 76 Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken, S. 141.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
Wissen um diverse ›unfreiwillige‹ Ungenauigkeiten in seinen Texten. In einem Antwortschreiben an Emil Schiff vom 15. Februar 1888, dem die nachfolgende Textstelle entnommen ist, reagiert Fontane auf dessen Vorwurf, die literarische Nachahmung des Wiener Dialekts in Graf Petöfy sei ihm missglückt. Diesem Vorwurf begegnet er zwar mit einiger Zustimmung, zugleich aber mit heiterer Gelassenheit, indem er an Irrungen, Wirrungen beispielhaft durchdekliniert, welche entdeckten bzw. möglichen ›Irrtümer‹ – u. a. die Topographie betreffend – in diesem Roman zu finden sind: Kurzum, so gewiß Sie im Prinzip recht haben, tatsächlich danach zu verfahren, wird sich nur selten ermöglichen lassen. […] Mit gewiß nur zu gutem Rechte sagen Sie: ›Das ist kein Wienerisch‹, aber mit gleichem Rechte würde ein Ortskundiger sagen (und ist gesagt): ›Wenn man vom Anhaltischen Bahnhof nach dem Zoologischen fährt, kommt man bei der und der Tabagie nicht vorbei.‹ Es ist mir selber fraglich, ob man von einem Balkon der Landgrafenstraße aus den Wilmersdorfer Turm oder die Charlottenburger Kuppel sehen kann oder nicht. [...] Gärtner würden sich vielleicht wundern, was ich alles im Dörrschen Garten a tempo blühen lasse [...]. Dies ist eine kleine Blumenlese, eine ganz kleine; denn ich bin überzeugt, daß auf jeder Seite etwas Irrtümliches zu finden ist. Und doch bin ich ehrlich bestrebt gewesen, das wirkliche Leben zu schildern. Es geht halt nit. Man muß schon zufrieden sein, wenn wenigstens der Totaleindruck der ist: ›Ja, das ist das Leben.‹77
Obzwar Fontane hier beteuert, »ehrlich bestrebt gewesen zu sein, das wirkliche Leben zu schildern«, darf dies dennoch nicht zu der Vorstellung verleiten, er erachte ein mimetisches Widerspiegelungsverhältnis von Welt und Literatur für erstrebenswert oder gar für möglich. Denn insbesondere Fontanes literaturkritischen Schriften ist ein differenziertes Realismus-Verständnis zu entnehmen,78 das die poetische Verklärung als jenen entscheidenden Faktor postuliert, »wodurch sich der Dichter vom bloßen Photographen des Lebens zu unterscheiden habe«79. Somit kann bezweifelt werden, dass Fontane in Anbetracht der aufgezählten Abweichungen tatsächlich ein Ungenügen empfindet. Der Kunstgriff jener Replik scheint vielmehr der zu sein, die Kritik seines Lesers in aller Höflichkeit zum Scheine anzunehmen und die Ursachen entschuldigend zu rechtfertigen, sie mit einer federstrichartig anskizzierten Poetik aber zugleich subtil jeder Grundlage zu berauben. Diese Gratwanderung zwischen Zustimmung und Widerspruch gab auch für zahlreiche Interpreten Anlass zu Missverständnissen. Denn statt die Unbekümmertheit ob der Frage zu erkennen, »ob man von einem Balkon der Landgrafenstraße aus
77 HFA IV/3, S. 585f. 78 Vgl. dazu exemplarisch Aust, Fontanes Poetik. 79 Reuter, Theodor Fontane, S. 627f.
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den Wilmersdorfer Turm oder die Charlottenburger Kuppel sehen kann oder nicht«, wurde diese Passage als Fontanes ehrliche Sorge um die Exaktheit der topographischen Darstellung missdeutet, wenn es z. B. bei Grätz heißt: »Fontane hegte Skrupel hinsichtlich der perspektivisch ›richtigen‹ topographischen Gestaltung. Etwa beschäftigte es ihn, ob es überhaupt möglich wäre – wie in ›Irrungen, Wirrungen‹ geschildert – von der Landgrafenstraße aus die Charlottenburger Kuppel zu sehen.«80 Kribben dagegen erkennt in der Briefstelle weder Skrupel noch ein »›resignatives‹ Eingeständnis von Differenzen zwischen der realen Lokalität und ihrer fiktiven Darstellung im Roman«; vielmehr betont er, dass der »herangezogene Brief vor allem Fontanes Interesse an einem Gelingen des ›Totaleindrucks‹ akzentuiert« und der Autor »an einer funktionslosen Genauigkeit bei der Detail-Beschreibung Berliner Örtlichkeiten nicht interessiert ist«81. Mag die in Irrungen, Wirrungen dargestellte ›visuelle‹ Nachbarschaft von Landgrafenstraße, Dörrscher Gärtnerei und Wilmersdorf einem Abgleich mit den realweltlichen Gegebenheiten auch nicht standhalten, erfüllt diese eine zentrale poetische Funktion; statt laut Grätz einer »perspektivisch ›richtigen‹ topographischen Gestaltung« nachzueifern, zeichnet diese Funktionalität maßgeblich für die literarische Darstellung verantwortlich. Da die genannten Orte auf der einen Seite die Gegenwart mit seiner Ehefrau Käthe (Landgrafenstraße) und auf der anderen Seite die Vergangenheit mit Lene (Gärtnerei) repräsentieren, wird Botho von Rienäckers Position in diesem Spannungsfeld topographisch vermittelt und zugleich für das Bewusstsein der Figur selbst aufrechterhalten; so gemahnen ihn diverse, durch die geographische Nähe evozierte zufällige Begegnungen und Reminiszenzen an die vergangene Liebe:82 »Solche Geschichten ereigneten sich häufiger und beschworen in Botho’s Seele mit den alten Zeiten auch Lenes Bild herauf« (IW, S. 126). – Die Topographien bei Fontane sind also stets auf ihren Funktionswert hin konzipiert, was jedoch nicht zwangsläufig eine empirische Korrektheit impliziert; vielmehr steht der Grad der Orientierung an realweltlichen Orten stets im Dienste der intendierten poetischen Funktion.83 80 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 80. Siehe auch Grätz, Tigerjagd in Altenbrak, S. 196: »Selbst die geschilderten Ausblicke sollten perspektivisch ›richtig‹ sein«. 81 Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze, S. 235. 82 Vgl. dazu auch Maria A. Schellstede, Mehr als ein literarisierter Stadtplan. Zur narrativen Kraft der Topographie in Theodor Fontanes Berliner Roman ›Irrungen, Wirrungen‹. In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur 26 (2014), S. 79– 83, hier S. 80f. 83 Einen ähnlichen Gedanken stellt auch Kribben an, der nahelegt »zu prüfen, ob sich die [...] Differenzen zwischen realen und fiktiven Schauplätzen nicht als bewußte
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Vergegenwärtigt man sich erneut, dass die Mehrzahl der literarischen Topographien auf reale Orte referiert, lässt sich eine »leserbezogen[e]« Funktion bestimmen, »die den Schauplatzbezeichnungen im Romanwerk des Dichters wesentlich zugrunde lieg[t]: die Suggestion der Authentizität.«84 Diese Intention, mithilfe konkreter Verortungen des Handlungsgeschehens Authentizität zu suggerieren, vermag Fontane dabei sowohl für ›nahe‹ als auch für ›ferne‹ Leserschaften zu realisieren. In erster Linie zielten die Gesellschaftsromane natürlich auf ein zeitgenössisches Publikum und insbesondere bei den Berliner Romanen lebte die »topographische Erwähnung markanter Punkte […] von ihrem Bezug zur Berlin-Vorstellung des Lesers«85. Fontanes Konzeption literarischer Topographien rechnete also grundsätzlich »mit einer gemeinsamen Wahrnehmungssituation [...], die ihn mit seinem Publikum kommunikativ ›von Angesicht zu Angesicht‹ verbindet. Hier liegt die ›situationsgrammatische‹ Bedeutung von Berlin und der märkischen Region, die ihre Glaubwürdigkeit am Grad des Wiedererkennens mißt.«86 Dass die Evokation von Glaubwürdigkeit nicht zwingend einer faktualen Referenz bedarf, sondern ebenfalls über die Einbettung in das Koordinatensystem der empirischen Wirklichkeit gelingt – Steinlein bringt dies für Fontanes Berliner Romane auf die treffende Formulierung einer »an den damaligen Gegebenheiten des Stadtbildes referentiell ausgewiesenen Wirklichkeitsfiktion«87 –, haben die vorangegangenen Reflexionen bereits erläutern können. Diese konstituierten »Wirklichkeitsfiktionen« sind es nun, die eine plausible Erklärung dafür erlauben, dass auch für zeitlich und räumlich vom Berlin der 1880er und 1890er Jahre entfernte (heutige) Leserschaften die Authentizität und Korrektheit der Lokalisation glaubwürdig suggeriert wird. Die dabei angewendete Technik, bei den Verortungen der Romanhandlungen »Wirklichkeit und Fiktion ineinander fließen«88 zu lassen und derart zu montieren, dass die Grenzen von ›Sein und Schein‹ verwischen, exemplifiziert Neuhaus am berühmten Romananfang des Stechlin: »Genauso realistisch wie der existierende See wird […] das erfundene Dorf beschrieben, die Erzählung gleitet übergangslos in
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poetische Abweichungen ausweisen lassen« (Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze, S. 235). Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 83. Ebd. Aust, Fontanes Poetik, S. 420. Siehe auch Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 68: »Hieraus folgt, daß die Lebensbereiche von Romanpersonal und Leserschaft weitgehend identisch zu sein haben.« Steinlein, Die Stadt als geselliger und ›karnevalisierter‹ Raum, S. 46. Strobl, Die Planung des Raumes in der Zeichnung des Dichters, S. 149.
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die Fiktion hinein. Eine Fiktion, die so den Anschein des Realen bekommt.«89 Angesichts des Spotts, mit dem Fontane auf die Verabsolutierung der vermeintlichen Wirklichkeitstreue seiner Topographien reagiert hat, mag sich schnell erschließen, dass die Suggestion von Authentizität »eine Nebenfunktion seiner realistischen Schauplatzbeschreibungen ausmacht« und diese darüber hinaus eine »erzählstrategische Einbindung in den fiktionalen Kontext [erfahren]. Dafür eröffnen sich zwei Möglichkeiten: die Korrespondenz des Ortes mit dem Romanpersonal und mit der Romanhandlung.«90 Im Kontext der Berlin-Darstellungen tritt die Korrelation der topographischen Verortung mit den Romanfiguren insbesondere als Strategie einer psycho-sozialen Charakterisierung mittels dezidierter Angaben zu Wohnort und -situation in Erscheinung: »So werden bei Fontane die Berliner Stadtviertel, Straßen, Häuser und Etagen sowie all dies zusammenfassend die Adressen auf die Charaktere einzelner Figuren, aber auch auf übergreifende soziale Stratifikationen abgebildet«91. Dass dies narrativ mit einer »bewundernswerten Ökonomie und Sparsamkeit der Mittel«92 gelingen konnte, ermöglichte wiederum die Teilhabe der zeitgenössischen Leserschaft an einer gemeinsamen Erfahrungswelt: »Erzähler und Leser sind über das gesellschaftliche Normensystem verständigt; sie kennen die Schichtungen, Abweichungen und Nuancen; es bedarf allein der Anspielung, [...] deshalb genügt es, die Straße oder das Stadtviertel zu nennen; damit ist der Ort hierarchisch bestimmt.«93 Für zeiträumlich entfernte Leserschaften, denen das gesellschaftliche Normensystem nicht mehr
89 Neuhaus, Still ruht der See, S. 51. 90 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 83. 91 Parr, Die nahen und die fernen Räume, S. 61. Siehe dazu auch die aufschlussreiche Studie Kloepfers, die zum einen für die fünf wiederkehrenden sozialen Gruppierungen im Romanwerk Fontanes (junger Adel, etablierter Berliner Adel, etablierter NeuBerliner Adel, wohlhabendes Bürgertum und Kleinbürgertum) die jeweiligen Wohnorte zusammenträgt und sinnfällige Parallelen auszuweisen vermag; und die zum anderen das wiederkehrende Romanthema von ständisch bedingten Liebeskonflikten ausschließlich in entwicklungsgeschichtlich neueren Berliner Stadtrandbezirken verortet sieht. Dies motiviert Kloepfer zu der überzeugenden These, es sei »ein Wissen um die Notwendigkeit sozialer und geistiger Erneuerung in das Berlin-Bild Fontanes eingewoben, als dessen topographischer Ort sich die neuen Stadtteile des Westens ausmachen lassen« (Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 85). 92 Demetz, Formen des Realismus, S. 100. 93 Ebd., S. 101. Dies kennzeichnet allerdings nicht allein eine Praxis Fontanes, sondern allgemein das Genre des europäischen Gesellschaftsromans: »[D]ie stenografische Kürze der Adresse ist nichts als literarische Konvention, die tief ins Jahrhundert zurückreicht« (ebd.).
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bekannt war bzw. ist, kann die intendierte soziale Hierarchisierung indes nicht allein über die Nennung der Adresse erreicht werden. Fontane ergänzt die exakte Angabe der Anschrift in den meisten Fällen jedoch durch ausführlich »[e]rzähltes Wohnen«94, durch Beschreibungen der Wohnraumaufteilung sowie Inneneinrichtung. Derart wird für entfernte Leserschaften retrograd ein zweifelsfrei »soziokulturell identifizierbares Milieu«95 entworfen, welches das »Verfahren der indirekten Figurencharakterisierung mittels Raumgestaltung«96 auch ohne eingehende Kenntnis der zeitgeschichtlichen Sozialstruktur Berlins zu bewirken vermag. Die Korrespondenz von Ort und Romanfiguren im Sinne einer sozialen Charakterisierung kann auch für die Topographien der Landpartien beobachtet werden; diese rekurrieren gemäß der zeithistorischen Nomenklatur der Ausflugsorte ebenfalls auf den sozialen Status und Habitus des Figurenpersonals. So entsprechen die von Fontane gewählten »Ziele der verhältnismäßig intimen Landpartien de[n] mehr oder weniger vornehmen Gesellschaftskreise[n] in seinen Romanen«97 und sind explizit nicht identisch mit den »Reisezielen eine[r] kleinbürgerliche[n] bzw. proletarische[n] Sonntags-Subkultur […], die sich hinsichtlich ihrer mangelnden Vornehmheit und lockeren Moral«98 als Schauplätze der Gesellschaftsromane und ihres Personals disqualifizierten. Diese vom Kleinbürgertum und Proletariat frequentierten Lokalitäten finden hingegen in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg Erwähnung: als Destinationen eines massenhaft einsetzenden ›Naherholungstourismus‹.99 94 Norbert Wichard, Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter, Bielefeld 2012. 95 Michael Andermatt, Kontingenz als Problem des bürgerlichen Realismus. Raumgestaltung bei Fontane und Keller. In: Ursula Amrein und Regina Dieterle (Hrsg.), Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne, Berlin/New York 2008 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 6), S. 41–61, hier S. 48. 96 Ebd., S. 49. Zur Bedeutsamkeit der Innenraumdarstellung bei Fontane vgl. auch Uta Schürmann, Tickende Gehäuseuhr, gefährliches Sofa. Interieurbeschreibungen in Fontanes Romanen. In: Fontane Blätter 85 (2008), S. 115–131. 97 David Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt. Die Mark Brandenburg zwischen Vormoderne und Moderne. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 9), S. 145– 162, hier S. 154. 98 Ebd., S. 155. 99 Vgl. dazu exemplarisch das Kapitel zum populären Ausflugsziel Finkenkrug, das mit folgender Bemerkung einsetzt: »[Es] vergeht kein Sonntag, wo nicht Scharen von Besuchern den Brieselang umschwärmten. Aber die Tausende, die kommen und gehn, begnügen sich damit, den Zipfel seines Gewandes zu fassen; die Parole lautet
4.1 Theoretische Ansätze
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Als prominente Beispiele für bestehende Korrespondenzen zwischen Ort und Romanhandlung im Werk Fontanes können die Schauplatzbeschreibungen gelten, mit denen die Romane Irrungen, Wirrungen und Effi Briest einsetzen. Die detaillierten Schilderungen des topographischen Settings sind jeweils durchzogen von symbolischen, leitmotivischen und vorausdeutenden Implikationen, so dass bei Kenntnis des Romans die Mises en Scène als narrative Codierungen des nachfolgenden Handlungsgeschehens en miniature interpretiert werden können.100 Die mehr oder weniger präzisen Verortungen der literarischen Topographien, ihre Einbettung in das zeitliche und räumliche Koordinatensystem der empirischen Wirklichkeit lässt sich – abseits der skizzierten funktionellen Narrationslogik – im Rekurs auf die Tradition realistischer Erzähl- bzw. Schreibweisen erklären. Im Falle Fontanes kann diese Praxis darüber hinaus mit seinem Werdegang als Autor zusammengedacht werden: »Seine literarischen Lehrjahre hat er als Journalist und Autor von Reisebeschreibungen absolviert; er war in der sprachlichen Erfassung von konkreten Schauplätzen, von Städten und Landschaften geschult.«101 Dass darüber hinaus besonders die langjährige Tätigkeit als Theaterkritiker und »die kritische Beschäftigung
nicht ›Brieselang‹, sondern ›Finkenkrug‹.« (GBA V/3, S. 111) »Der Finkenkrug umfaßt nämlich eine Doppelwirtschaft: links ist Kaffee und Kegelbahn, rechts ist Bier und Büchsenstand.« (Ebd., S. 113) 100 Vgl. zu Irrungen, Wirrungen exemplarisch Horst Schmidt-Brümmer, Formen des perspektivischen Erzählens: Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹, München 1971; Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze, S. 235ff.; I.[ngrid] Schuster, Akribie und Symbolik in den Romananfängen Fontanes. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 318–324; Gunter H. Hertling, Theodor Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹. Die ›Erste Seite‹ als Schlüssel zum Werk, New York 1985, S. 23ff.; Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit, S. 177f. Vgl. zu Effi Briest exemplarisch Bade, Fontane’s Landscapes, S. 103ff.; Peter-Klaus Schuster, Theodor Fontane: Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen 1978; Gerhard vom Hofe, Die Erfahrung der verschlossenen Welt in Fontanes Roman ›Effi Briest‹. In: Hans-Günther Schwarz und Christiane von Stutterheim (Hrsg.), Fenster zur Welt. Deutsch als Fremdsprachenphilologie, München 2004, S. 188–202. – Die grundsätzliche Relevanz der Romananfänge und ihre meist vorausdeutende Funktion im literarischen Schaffen Fontanes benennt auch Neuhaus: »Fontane legte, das ist bekannt, großen Wert auf den Romananfang, der in den meisten seiner Werke im Sinne einer Exposition die Thematik erschließt und das folgende Geschehen vorausdeutend vorwegnimmt« (Neuhaus, Still ruht der See, S. 51). 101 Martin Swales, Möglichkeiten und Grenzen des Fontaneschen Realismus. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, München 1989 (= Text+Kritik, Sonderband), S. 75–87, hier S. 76.
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mit dem Theater nicht ohne Einfluß auf seine ›Romanästhetik‹ bleiben«102 konnte, legt bereits die synchrone Arbeit als festangestellter Theaterkritiker bei der ›Vossischen Zeitung‹ (1870 bis Ende 1889) sowie als Romancier nahe.103 Dabei kann eine produktive, wechselseitige Beeinflussung als gesichert gelten, denn »wesentliche Momente seines Realismus-Verständnisses [entfalteten sich] in der Begegnung mit Bühnenwerken, zumal der naturalistischen Bewegung.«104 Insbesondere der Hinweis auf Fontanes Wertschätzung der naturalistischen Dramatik eröffnet im Hinblick auf die exakt betriebene Lokalisation der Romane eine interessante Perspektive: Nicht nur ist eine relative Geschlossen- und Begrenztheit der dargestellten Handlungsorte, eine zum Teil »geradezu bühnentechnische[ ] Präzision«105 zu erkennen, die insbesondere bei Fontanes Interieurbeschreibungen an die »Guckkastenbühne«106 des »realistische[n] Illusionsdrama[s]«107 denken lässt; ferner handelt es sich weder in Fontanes Romanen noch in den naturalistischen Dramen um austauschbare, lediglich illustrierende Kulissen, sondern jeweils um zentrale und funktionale Bedeutungsträger, die konstitutiv zur sozialen und psychologischen Figurenzeichnung gehören.108 Technische Schwierigkeiten beim Wechsel der Szenerie, mit denen sich Theateraufführungen konfrontiert sehen, bestehen für Erzähltexte nicht – und dennoch konstatiert Scherpe: »Ortswechsel sind im Fontane-Roman immer problematisch (und insofern handlungsfördernd)«109. Er rekurriert damit selbstverständlich nicht auf das grundsätzliche Faktum, dass der Standort des Erzählens im Laufe der Romanhandlungen flexibel wechseln und bald diese,
102 Lilo Grevel, Fontane und die Theaterkritik. In: Fontane Blätter 40 (1985), S. 175– 199, hier. S. 176. 103 Vgl. Jörg Thunecke, Theaterkritiken. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 865–878, hier S. 865. 104 Aust, Fontanes Poetik, S. 458. – Graevenitz betont in diesem Zusammenhang einmal mehr das ›Nebeneinander‹ in der schriftstellerischen Biographie Fontanes: So erkennt er in Fontanes »Besprechung von Gerhart Hauptmanns ›Vor Sonnenaufgang‹ […] ein[en] Beleg dafür, daß der Journalist zwar die journalistischen Fächer wechselte, daß er aber zeitlebens, auch als Romanautor, praktizierender Journalist geblieben ist« (Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 49). 105 Demetz, Formen des Realismus, S. 100. 106 Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001, S. 44. 107 Ebd., S. 45. 108 »Die dramentechnischen Kriterien des naturalistischen Dramas […] wie die nuancierte atmosphärische Milieu- und Menschenschilderung der deutschen Naturalisten stehen seinen [Fontanes] eigenen ästhetischen Bestrebungen dieser Zeit am nächsten« (Grevel, Fontane und die Theaterkritik, S. 196). 109 Scherpe, Ort oder Raum, S. 162.
4.1 Theoretische Ansätze
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bald jene Figuren an verschiedenen Handlungsorten in den Fokus der Darstellung rücken kann. Nicht in erzähltechnischer Hinsicht erscheinen Ortswechsel bei Fontane also als problematisch, sondern wiederum bezogen auf die sozial-normative Verortung110 der Figuren, wenn diese »emotional und sozial« die eng abgesteckten Grenzen ihrer Lebens- und Bewegungskreise überschreiten und somit »gegen das Gesetz des Ortes verstoßen«111. Für dieses Narrationsprinzip, das in nuce die Handlung der meisten Gesellschaftsromane motiviert und konstituiert (z. B. in Form von Ehebrüchen und Mesalliancen), erweist sich nicht zuletzt der Topos der Landpartie als entscheidend. Nicht nur verändert sich der Schauplatz von einem urbanen zu einem natürlicheren, sondern die Landpartie initiiert und inszeniert den Ortswechsel als eine gesellschaftlich ritualisierte Geselligkeit. Konvergieren dergestalt die Beweglichkeit des Erzählstandorts und die Bewegung der Figuren, zeitigt dieser Ortswechsel – wie noch nachzuweisen sein wird – besonders ›problematische und insofern handlungsfördernde‹ Folgen. 4.1.2 Räume, Grenzen, Grenzräume 4.1.2.1 Das semiotische Raummodell Jurij Lotmans Für die folgende Rekonstruktion zentraler Grundzüge der semiotischen Raumtheorie Jurij Lotmans finden im Wesentlichen jene Reflexionen Berücksichtigung, die dieser in seinem derweil zum erzähltheoretischen Standardwerk avancierten Text ›Das Problem des künstlerischen Raums‹ in Die Struktur literarischer Texte angestellt hat. Die darüber hinaus reichende punktuelle Konsultation stärker zeichen- und kulturtheoretisch orientierter Arbeiten Lotmans und die primäre Fokussierung auf seinen narratologischen Ansatz erklärt sich aus dem zugrundeliegenden literaturwissenschaftlichen Interesse, fruchtbare Anregungen für die Analyse und Interpretation der Fontaneschen Landpartie-Topographien zu gewinnen. Dass damit die kulturtheoretische
110 Plett diskutiert die Frage nach der individuell-figürlichen Lokalisierung allgemeiner unter bewusstseinsgeschichtlicher Perspektive. Vgl. Bettina Plett, Der Platz, an den man gestellt ist. Ein Topos Fontanes und seine bewußtseinsgeschichtliche Topographie. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 2, Würzburg 2000, S. 97–107. 111 Scherpe, Ort oder Raum, S. 168.
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Dimension in Lotmans Raumtheorie jedoch nicht ausgeklammert wird, sondern diese dem erzähltheoretischen Ansatz konstitutiv inhärent ist, verficht auch Frank: Es wäre […] irreführend, bei Lotman systematisch eine narratologische von einer kultursemiotischen Perspektive trennen zu wollen, da sich beide von Beginn an überlagern. Lotmans Erzähltheorie ist Kulturtheorie, da sie in narrativen Strukturen Kulturmodelle erkennt – und umgekehrt. Lediglich der Hauptakzent wird zwischen den einzelnen Studien verschoben.112
Diese Interdependenzbeziehungen hängen grundlegend mit Lotmans Definition »der Kunst als eines modellbildenden Systems zusammen. Das Kunstwerk, das selbst begrenzt ist, stellt ein Modell der unbegrenzten Welt dar.«113 Diese Feststellung einer genuinen Differenz von ›Welt‹ und ›Kunst‹, die Unbegrenztheit der einen und die Begrenztheit der anderen, steht einer Kunstauffassung entgegen, die mimetischen Prämissen folgt: Das notwendig Ausschnitthafte eines jeden Kunstwerkes im Vergleich zum Gesamt der Welt erfordert eine formale ›Übertragung‹; Kunst schafft keine Reproduktion, sondern ein Modell von Welt.114 Und diese künstlerische Modellierung von Welt – unabhängig von der je spezifischen Ausdrucksform (sei es verbal, visuell, akustisch) – ist für Lotman konstitutiv an der natürlichen Sprache orientiert, respektive »(wie überhaupt alle semiotischen Systeme) nach dem Typ der Sprache gebaut.«115 In Relation zur (natürlichen) Sprache und angesichts ihrer Relevanz für das menschliche Welt- und Selbstverständnis kann Kunst als »eine Art sekundäre[ ] Sprache«, »als sekundäre[s] modellbildende[s] System[ ] definiert werden.«116 Lotmans Raumtheorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie erst in zweiter Hinsicht ein produktives Theorem zur Identifikation und Interpretation räumlicher Strukturen in literarischen Texten liefert, insofern sie nämlich die Herstellung räumlicher Relationierungen als das elementare Muster der
112 Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹, S. 65f. 113 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte [erste dt. Übers. 1973]. Übersetzt von Rolf-Dieter Keil, München 1993, S. 301. 114 Vgl. ebd. Siehe hierzu auch Andreas Mahler, Welt Modell Theater. Sujetbildung und Sujetwandel im englischen Drama der frühen Neuzeit. In: Poetica 30 (1998), S. 1–45, hier S. 2: »Mit der Einführung des Modell-Begriffs geht Lotman über die bloße Abbildhaftigkeit marxistischer wie bürgerlich-›realistischer‹ Widerspiegelungstheorien hinaus«. 115 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 23. 116 Ebd.
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menschlichen Weltwahrnehmung und nachgeordnet ihrer Verbalisierung bestimmt: Der dem Menschen eigene besondere Charakter der visuellen Wahrnehmung der Welt hat zur Folge, daß für den Menschen in der Mehrzahl der Fälle die Denotate verbaler Zeichen irgendwelche räumlichen, sichtbaren Objekte sind, und das führt zu einer spezifischen Rezeption verbalisierter Modelle. Auch diesen Modellen ist das iconische Prinzip, die Anschaulichkeit durchweg eigentümlich.117
Die räumliche Strukturierung der Welt folgt dabei topologischen Ordnungsmustern wie ›oben – unten‹, ›vorne – hinten‹, ›rechts – links‹. Dies gründet im »anthropologische[n] Akt[ ] der Raumaneignung«, bei dem der menschliche Körper »als Zentrum [d]es Erlebens […] als scheinbar einzig fixe[r] Bezugspunkt: als suppositionaler[r] Nullpunkt«118 räumlicher Orientierung fungiert. Die topologischen Relationen, die in ihrem Binarismus »dem Oppositionsprinzip der strukturalistischen Semantik«119 entsprechen, »erweisen sich als Material zum Aufbau von Kulturmodellen mit keineswegs räumlichem Inhalt«120, indem diesen eine bestimmte Bedeutung verliehen wird: Werden die topologischen Oppositionen ›oben – unten‹ und ›nah – fern‹ nach Lotman beispielsweise zu ›gut – schlecht‹, ›vertraut – fremd‹ semantisiert,121 veranschaulicht sich die Grundthese seiner Raumtheorie, nach der »räumlich konkrete Sachverhalte über semiotische Operationen als Träger für nicht-räumliche Sachverhalte fungieren.«122 Hierin gründet die kultursemiotische Dimension, die Lotmans Konzept genuin eingeschrieben ist. Denn sieht er es einerseits als gegeben an, dass sich
117 Ebd., S. 312. 118 Andreas Mahler, Topologie. In: Jörg Dünne und ders. (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3), S. 17–29, hier S. 19. 119 Roger Lüdeke, Einleitung (Teil VI: Ästhetische Räume). In: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 449–469, hier S. 459. 120 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 313. Dass der topologische Aspekt dem semantischen vorangeht, betont Lotman auch an anderer Stelle: »Eben die topologischen Eigenschaften des Raums geben die Möglichkeit zu seiner Verwandlung in ein Modell nichträumlicher Beziehungen« (Jurij M. Lotman, Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kunst. Hrsg. von Karl Eimermacher, Kronberg im Taunus 1974, S. 200–271, hier S. 267). Vgl. dazu auch Mahler, Welt Modell Theater, S. 7. 121 Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 313. 122 Hans Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen. In: Ars Semeiotica 22/1–2 (1999), S. 3–12, hier S. 4.
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in allen Kulturen »die Sprache räumlicher Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit«123 erweist, so erfolgt diese Deutung qua Bedeutungszuweisung andererseits in dem semiotischen Raum (bei Lotman die ›Semiosphäre‹) der einzelnen Kulturen, und ist auch dort nicht als fixiert, sondern als prozessual zu denken.124 »Während es sich [also] bei dem Rekurs auf räumliche Modelle an sich um eine anthropologische Konstante handelt, ist die nicht-räumliche Bedeutung (und Wertung), mit der diese Modelle jeweils aufgeladen werden, kulturspezifisch«125. Für die Analyse und Interpretation von Literatur ergibt sich auf der Grundlage der vorangegangenen Ausführungen, dass literarischen Texten als ›sekundäre modellbildende Systeme‹ das kulturspezifische Weltmodell, seine Wertungen und Werte eingeschrieben ist und sie, die Texte, als »Umcodierung[en] jener historisch gegebenen Sinn- und Normensysteme«126 zu verstehen sind. Das Verhältnis von Literatur und Weltmodell ist dabei nicht als monodirektional sondern als korrelierend vorzustellen. So können die literarischen Weltbilder auf der einen Seite Aufschluss über das außertextuelle Weltmodell geben, auf der anderen Seite wirken diese Umcodierungen wiederum auf die Welt und ihre kulturellen Konstruktionen zurück. »Als modellbildendes System produziert Sprache in Texten über Bedeutung unablässig Vorstellungen von Kultur; auf diese Weise fasst jeder Text erneut modellhaft Wirklichkeit und bestimmt so das kulturelle Selbstbild.«127 Auf dieses Wechselverhältnis von Literatur und äußerer Welt wird im Folgenden zurückzukommen sein. Narrative Räume versteht Lotman folglich in erster Linie als semantisierte topologische Ordnungen, die »– handlungslogisch oft lediglich fakultativ –« eine »topographische[ ] Spezifizierung«128 erfahren. Während die topographischen Manifestationen in der Literatur die unterschiedlichsten Gestaltungsformen annehmen können, »bleiben die grundlegenden, topologisch beschreibbaren räumlichen Relationen identisch.«129
123 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 313. 124 Vgl. Jurij M. Lotman, Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12/4 (1990), S. 287–305. 125 Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹, S. 66. 126 Lüdeke, Einleitung (Ästhetische Räume), S. 459. 127 Andreas Mahler, Jurij Lotman. In: Matías Martínez und Michael Scheffel (Hrsg.), Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, München 2010, S. 239–258, hier S. 248. 128 Ebd., S. 249. 129 Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹, S. 67.
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Zentral für Lotmans fruchtbaren Beitrag für die Erzähltextanalyse sind der Begriff und die Vorstellung des ›Sujets‹: Die Struktur des Sujets beruht auf einer Teilung der narrativen Weltordnung in zwei Oppositionsräume, die von einer unüberwindlichen Grenze voneinander getrennt sind. Die Grenze, die die bestehende Ordnung der Teilräume sichert, kann akzeptiert und unangetastet bleiben oder aber von einer Figur überschritten werden. Wird die Grenzziehung verletzt, findet ein ›Ereignis‹ statt: »Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.«130 Diese Grenze ist also zuallererst topologisch-semantisch und nicht zwingend topographisch zu denken: »Topographische Raumgrenzen werden erst dann zu einer klassifikatorischen Grenze, wenn sie zusätzlich noch topologisch und folglich auch semantisch codiert sind. Die Überschreitung der klassifikatorischen Grenze ist deshalb von lediglich topographisch definierten Bewegungen im Raum der erzählten Welt zu unterscheiden.«131 Sodann unterscheidet Lotman ›sujetlose‹ Texte, in denen die bestehende Ordnung eine Affirmation erfährt, und ›sujethafte‹ Texte, die die bestehende Ordnung verletzen und somit in Frage stellen.132 Diese von Lotman getroffene Unterscheidung von sujetlosen und sujethaften Texten zeigt indes eine begriffliche Ungenauigkeit: Dies ist insofern terminologisch unglücklich, als beide Typen mit der Modellierung einer Weltordnung und der – zumindest zeitweiligen – Überschreitung der Verbotsgrenze die Kriterien des Sujets erfüllen, so daß man strenggenommen also von ›sujetlosen Sujets‹ und ›sujethaften Sujets‹ sprechen müsste. Die Unschärfe des Lotmanschen Sujetbegriffs liegt zum einen in einer vorschnellen Identifikation von ›Sujet‹ und ›Ereignis‹ und zum anderen in der nicht hinreichend genauen Trennung von binnenfiktionaler Handlungslogik und epistemologischem Kontextbezug.133
Mahler hat sich darum verdient gemacht, diese undifferenzierte Begrifflichkeit in Lotmans Argumentationssinne zu spezifizieren: Indem für alle narrativen Texte die Zweiteilung der Welt durch eine Grenze und deren Verletzung durch ein Ereignis gilt, bezeichnet Mahler diese als ›Sujettexte‹. »Sujettexte lassen sich nun ihrerseits scheiden in solche, in denen diese Infragestellung Bestand hat und solche, in denen die geltende klassifikatorische Ordnung am Textende wiederhergestellt wird; Texte, die die Ereignisse nur inszenieren, um
130 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 332. 131 Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 2007, S. 142. 132 Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 336ff. 133 Mahler, Welt Modell Theater, S. 8.
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sie symbolisch zu bannen und so ›ungeschehen‹ zu machen«, bezeichnet Mahler als »›ereignislos‹, Texte, die Ereignisse ›geschehen‹ sein lassen, ›ereignishaft‹«134. Die Definition dessen, was ein Ereignis darstellt, ist wiederum kulturspezifisch variabel, denn sie steht in Abhängigkeit zu dem zugrundeliegenden Ordnungsmodell von Text und Welt: »Nach Lotman gibt es eben kein ›Ereignis an sich‹. Ob ein Geschehen ereignishaft ist oder nicht, hängt immer von der semantischen Ordnung des jeweiligen Textes bzw. vom Weltbild der jeweiligen Kultur ab.«135 Eingedenk der Korrelation von Textordnung und Weltordnung kann die textinterne Ereignishaftigkeit respektive Ereignislosigkeit von Sujettexten zum Textaußen in ein Verhältnis der Divergenz oder Konvergenz treten: »Textextern können […] ereignislose wie ereignishafte Sujetbildungen mit dem herrschenden Weltbild und der tatsächlichen Wirklichkeitserfahrung übereinstimmen oder aber entweder hinsichtlich des Weltbilds oder hinsichtlich der Wirklichkeitserfahrung abweichen«136. Bei einem konvergenten Verhältnis von Text- und Weltmodell spricht Lotman von einer »Ästhetik der Identität«, bei einem divergenten von einer »Ästhetik der Gegenüberstellung«137. Das Potential des Sujets als »ein ›revolutionäres Element‹ im Verhältnis zum ›Weltbild‹«138 erklärt sich im Falle der Divergenz auch im Sinne des ›Textaußen‹, indem Sujettexte alternative Ordnungsmodelle durchspielen und demgemäß Veränderungsbedarf sowie -optionen aufzeigen können: »Texte mit Handlungen sind für Lotman also deswegen revolutionär, weil die sujetkonstitutive Überschreitung des im Text als ›normal‹ Gesetzten immer auch eine Durchbrechung historisch und sozial gegebener Sinn-, Normen- und Wertsysteme darstellt.«139 Die Verpflichtung von Lotmans Raummodell auf eine topologische Oppositionsstruktur kann als seine Stärke und zugleich als seine Schwäche gelten: Einerseits ermöglicht die »extreme schematische Reduktion« auf eine topologische Dichotomie »eine vielseitige Anwendung«140, andererseits ist insbesondere im Hinblick auf modernere Erzähltexte mit Recht zu »bezwei-
134 Ebd. 135 Karl Nikolaus Renner, Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von Jurij M. Lotman. In: Gustav Frank und Wolfgang Lukas (Hrsg.), Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Festschrift für Michael Titzmann, Passau 2004, S. 357–381, hier S. 362. 136 Mahler, Welt Modell Theater, S. 9. 137 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 412. Vgl. Mahler, Jurij Lotman, S. 250. 138 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 339. 139 Lüdeke, Einleitung (Ästhetische Räume), S. 459. 140 Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹, S. 68.
4.1 Theoretische Ansätze
113
feln, daß die von Lotman beschriebene Sujet-Raum-Struktur ein notwendiges Merkmal bedeutungshaltiger narrativer Texte darstellt« und »wirklich jeder bedeutungshaltige narrative Text eine klassifikatorische Grenze auf[weist]«141. Diese Kritik an Lotmans Grenzmodell betrifft speziell den breit rezipierten erzähltheoretischen Ansatz, den Lotman in Die Struktur literarischer Texte vorgelegt hat. Frank weist indes darauf hin, dass »Lotman sein Grenzkonzept in den 1980er und frühen 90er Jahren modifiziert« und »den separierenden Charakter der Grenze […] einer zumindest partiellen Revision [unterzogen]«142 hat. Er rekurriert dabei auf die späteren kultursemiotisch orientierten Arbeiten Lotmans zur ›Semiosphäre‹. Mit diesem Begriff bezeichnet Lotman einen semiotischen Raum, der »die Gesamtheit aller Zeichenbenutzer, Texte und Kodes einer Kultur«143 umfasst. Dem liegt – wie es bereits die begriffliche Verwandtschaft zur ›Biosphäre‹ nahelegt – eine organische Vorstellung zugrunde: Während der semiotische Raum konstitutiv einer inneren Geschlossenheit bedarf, ist die »Getrenntheit der Semiosphäre von dem sie umgebenden außersemiotischen oder anderssemiotischen Raum«144 jedoch nicht im Sinne einer hermetischen Abgrenzung vorzustellen. Vielmehr kennzeichnet die den abstrakten Raum der Semiosphäre definierende Grenze gerade ein trennendes und ein verbindendes Moment: Neben dem »Trennen des Eigenen vom Fremden« zählen darüber hinaus »alle Mechanismen der Übersetzung, die Kontakte nach außen aufrecht erhalten, zur Struktur der Grenze der Semiosphäre.«145 Bereits diese Skizze vermag die Modifizierung des Lotmanschen Grenzkonzepts – in seinen Grundzügen – zu verdeutlichen. Dachte sein narratologischer Ansatz die Grenze noch als strikt gesetzte und unüberwindbare Trennlinie, gewinnt sie in seinen Reflexionen zur Semiosphäre ihrerseits einen räumlicheren Charakter und nimmt die Kontur einer Grenzzone an. Dies zeitigt natürlich auch Konsequenzen für das Konzept des ›Grenzgängers‹: »Ein Grenzgänger kann danach sowohl jemand sein, der eine […] Grenze überschreitet, wie auch jemand, der sich auf der Grenzlinie bzw. im Grenzbereich bewegt.«146 Somit ist die Transgression nicht mehr ausschließlich als 141 Martínez und Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 144. 142 Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹, S. 68. Vgl. auch Cornelia Ruhe, Semiosphäre und Sujet. In: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3), S. 170–177, hier S. 174ff. 143 Lotman, Über die Semiosphäre, S. 287. 144 Ebd., S. 290. 145 Ebd., S. 292. 146 Monika Fludernik, Grenze und Grenzgänger: Topologische Etüden. In: Dies. und Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
die Übertretung einer Grenzlinie vorzustellen, sondern ebenfalls als das Betreten eines Grenzraumes. Wenn man sich diesen Grenzraum nicht als eine »neutrale[ ] Zwischenzone«147 zweier Räume, sondern »als Raum des Überganges und der Verständigung«148 vorstellt, gewinnt das Grenzgängertum damit eine größere Wahrscheinlichkeit. 4.1.2.2 Die Grenzüberschreitung als inszeniertes Gesellschaftsvergnügen »Mit der Umdeutung der Grenze zum Übergangs- bzw. Begegnungsraum und der dadurch bedingten Aufwertung der beweglichen Figur zur interkulturellen Übersetzerinstanz geht in Lotmans Modell eine entscheidende Akzentverschiebung einher.«149 Vor der Folie dieser Akzentverschiebung erscheint eine Lektüre, die die Landpartie in Fontanes Romanen als Transgression eines Grenzraumes interpretiert und ihr Erzählpotential eben darin begründet sieht, möglich und lohnenswert. Die Erläuterung dieser These bedarf zunächst einer Analyse des Sujetaufbaus, der dem Genre ›Gesellschaftsroman‹ bei Fontane eigentümlich ist. Bei aller Vielfalt an Themen und Inhalten, Handlungsführungen, sozialen und geographischen Verortungen, die die Gesellschaftsromane Fontanes aufweisen, gilt »das Räumliche als eigentliches Organisationsprinzip der Darstellung von Geschehnisabläufen vorgeordnet«150. Analog zu Lotmans Modell und der ihm eigenen ›schematischen Reduktion‹ kann dabei den Romanen ein binäres Raummodell zugrundegelegt werden. Orientiert an der topologischen Achse des Horizontalen ergibt sich eine Modellierung gemäß den »topologische[n] Basisoppositionen von« ›nah – fern‹ respektive ›innen – außen‹, die »sich semantisch konkretisier[en] zum Gegensatz von« ›vertraut – fremd‹ respektive ›zivilisiert – unzivilisiert‹ und sich sodann »topographisch spezifizieren«151 in ›Stadt – Land‹ respektive ›Kulturraum – Naturraum‹.152 Diese abstrakt-schema(= Identitäten und Alteritäten, Bd. 1), S. 99–108, hier S. 99. – Den Hinweis auf dieses Zitat verdankt die vorliegende Studie Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹, S. 68. 147 Fludernik, Grenze und Grenzgänger, S. 99. 148 Hans-Joachim Gehrke, Einleitung: Grenzgänger im Spannungsfeld von Identität und Alterität. In: Monika Fludernik und ders. (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999 (= Identitäten und Alteritäten, Bd. 1), S. 15–24, hier S. 17. 149 Frank, Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹, S. 69f. 150 Müller, Schloßgeschichten, S. 25. 151 Mahler, Welt Modell Theater, S. 7f. 152 Die hier vorgenommene Sujetanalyse ist dezidiert an den örtlich-räumlichen Strukturen orientiert. Unter anderen Vorannahmen sind auch andere Analysen denkbar:
4.1 Theoretische Ansätze
115
tische Modellierung der Gesellschaftsromane nach »räumlich-kulturellen Ordnungsraster[n]« korreliert mit Parrs These, die Fontanes Werk bestimmenden ›mental maps‹ setzten sich trotz unterschiedlicher Kombinationen aus einem »kartografische[n] ›Basisbaukasten‹« zusammen: »[A]lle Fontane’schen ›mental maps‹ basieren letzten Endes auf kombinierten Sets von topografischen und nicht-topografischen Gegensätzen wie […] ›Ferne‹ versus ›Nähe‹, ›bekannt‹ versus ›fremd‹ […], die sich als ein struktureller ›Basisbaukasten‹ rekonstruieren lassen, mit dem Fontane immer wieder arbeitet.«153 Während die drei großen Ehebruch-Romane Graf Petöfy, Unwiederbringlich und Effi Briest die Oppositionsstruktur von ›Heimat – Fremde‹ über wechselnde Schauplätze in unterschiedlicher topographischer Manifestation vergegenwärtigen,154 Der Stechlin die Dichotomie von Provinz und Metropole in eine globalisierte Welt vernetzter Wirtschafts-, Infrastruktur- und Kommunikationssysteme integriert,155 erweist sich für die Berliner Gesellschaftsromane die Reichshauptstadt als stabiles topographisches Zentrum, dessen Peripherie primär implizit über Gespräche, Erinnerungen, Sehnsüchte, Briefe etc.
Legte man die wilhelminische Gesellschaft als bestimmendes Weltmodell der Romane zugrunde, würde sich eine Orientierung an der vertikalen Achse mit den Topologien ›oben – unten‹ respektive ›hoch – niedrig‹ und den Semantisierungen ›reich – arm‹ respektive ›gebildet – ungebildet‹ ergeben, die topographisch in den verschiedenen Lebens- und Wohnbereichen abgebildet werden. Wollte man den Aspekt patriarchalisch-repressiver Sozialstruktur berücksichtigen, veränderte sich die Semantisierung in ›männlich – weiblich‹, ›stark – schwach‹ respektive ›mächtig – hilflos‹. 153 Rolf Parr, Kleine und große Weltentwürfe. Theodor Fontanes mentale Karten. In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber et al. (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt, Würzburg 2014 (= Fontaneana, Bd. 13), S. 17–40, hier S. 19. 154 Wird in Unwiederbringlich und Effi Briest die Fremde (Kopenhagener Hof/ Schloss Frederiksborg und Kessin) jeweils mit Immoralität verknüpft und der Heimat (Holkenäs und Hohen Cremmen) entgegengesetzt, verhält es sich mit Graf Petöfy ungleich komplexer. Indem hier die Opposition ›Metropole – Provinz‹ durch ›Wien – Ungarn‹ vergegenwärtigt und dieser Raumwechsel noch dazu von einer preußischprotestantischen Protagonistin vollzogen wird, umfasst das System semantisch-topographischer Ordnungen ein Konglomerat politischer, nationaler, ethnischer, (inter-)kultureller, geschlechtsspezifischer und religiöser Codierungen. Vgl. dazu IuliaKarin Patrut und Franziska Schößler, Labor Österreich-Ungarn: Nation und imaginäre Fremdheit in Fontanes Roman ›Graf Petöfy‹. In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber et al. (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt, Würzburg 2014 (= Fontaneana, Bd. 13), S. 225–244. 155 Vgl. dazu auch Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 161f.; Parr, Kleine und große Weltentwürfe, S. 17.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
vergegenwärtigt wird.156 Eine entscheidende Ausnahme stellen dabei die wiederkehrenden Landpartie-Episoden dar: Das gesellige Ereignis ›Landpartie‹ besteht genuin darin, einen urban-mondänen Figurenkreis topographisch und mental kurzzeitig aus seinem Lebensmittelpunkt herauszuführen. In Anbetracht des für die Berliner Gesellschaftsromane Fontanes grob entworfenen binären Raummodells und des bedeutungsschwangeren Terminus ›Landpartie‹ ließe sich annehmen, diese Ausflüge markierten eine Grenzüberschreitung und führten zu einem klar definierten Wechsel von der Topographie ›Stadt‹ zur Topographie ›Land‹. Doch angesichts der tatsächlich aufgesuchten Ausflugsziele zerstreut sich rasch die Vorstellung, dass die Romanfiguren im Rahmen einer Landpartie die kulturell-urbane Lebenswelt hinter sich zurücklassen und eine ländlich-natürliche Idylle betreten. Denn Stralau in L’Adultera, Tempelhof in Schach von Wuthenow, Halensee in Frau Jenny Treibel, Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen, das Eierhäuschen in Der Stechlin und selbst Thale im Harz, Ziel der Sommerfrische in Cécile, sind von Berlinern stark frequentierte Ausflugsziele, die infrastrukturell und touristisch vollständig erschlossen sind und somit kulturell kolonisierte Räume repräsentieren. Mithin widersetzen sich die Landpartie-Settings einer eindeutigen Zuordnung zu den Räumen ›Stadt – Land‹ und befinden sich stattdessen topographisch im Spannungsfeld von Natur und Kultur. Gerade an den Landpartie-Episoden zeichnet sich ab, dass am Ende des 19. Jahrhunderts keine klar konturierte Grenzziehung zwischen Stadt und Land, Natur und Kultur sondern vielmehr eine Übergangszone besteht, die – als Überlappung von Stadt- und Land-, kulturellen und natürlichen Räumen – als Schauplatz der Landpartien fungiert: »Der räumliche Gegensatz von Stadt und Land verschwimmt […] und die Stadtränder als räumliche Grenze zwischen Stadtstruktur und ländlicher Struktur bzw. Naturraum sind aufgelöst.«157 Diese Übergangszone kann ihrerseits als Grenze aufgefasst werden, die ein hybrides Korrelat der sie konstituierenden Binärräume darstellt. »Insofern sind auch
156 Zur doppelten Schauplatzstruktur Harz/Berlin im Roman Cécile vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Studie. 157 Konstanze Noack und Heike Oevermann, Urbaner Raum: Platz – Stadt – Agglomeration. In: Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 266–279, hier S. 274. – Für Fontanes Gesellschaftsromane ist augenfällig, dass die proletarischen Vorstädte, die durch ihre periphere Lokalisation ihrerseits als hybride Räume gelten können, und die zwischen den mondänen Wohnstätten der Figuren und den Landpartie-Settings liegen, von der Darstellung ausgenommen sind. Dieses ausblendende Verfahren verdankt sich der poetischen Verklärung, die für Fontanes Realismus-Verständnis kennzeichnend ist.
4.1 Theoretische Ansätze
117
Grenzen, die nicht als Linie, sondern als Raum, Zone, Gürtel, Schwelle konstruiert sind, zwar als Räume gradueller Übergänge konzipiert; sie situieren sich aber oft vor dem Hintergrund einer strikten Antithese, als bloßer Zwischenraum«158. Indem diese Grenze bequem im Rahmen des geselligen Rituals Landpartie aufgesucht wird, trennt also keine »unüberschreitbare Linie«159 den Raum. Statt also gemäß Lotman ein schwerwiegendes und doch von einem Einzelhelden bewerkstelligtes Skandalon darzustellen, präsentieren Fontanes Gesellschaftsromane die Grenzüberschreitung respektive Grenzraumbesetzung vielmehr in der Inszenierung eines Gesellschaftsvergnügens. Dass das derart verstandene Ereignis ›Landpartie‹ deshalb kein im Lotmanschen Sinne »revolutionäres Element« mehr in sich trägt, »das sich der geltenden Klassifizierung widersetzt«160, muss allerdings nicht angenommen werden. Davon zeugt schon die Dynamisierung der Handlung, die im Rahmen der Landpartie ihren Anfang nimmt und den weiteren Fortgang entscheidend beeinflusst – was ferner Fontanes vielfache Bearbeitung jenes Topos in seinen Gesellschaftsromanen zu erklären vermag. Zum inneren Zusammenhang, der zwischen dieser Handlungsdynamik und den räumlichen Strukturen der Landpartien besteht, sollen folgende Thesen aufgestellt werden: Das räumliche Setting der Landpartien ist eine Grenzzone zwischen Stadt und Land, in der »sich Sachverhalte überlappen und durchdringen.«161 Während sich dies topographisch in der Kulturalität der Landpartie-Natur manifestiert, ist die Identifikation der konstitutiv ebenfalls bestehenden topologisch-semantischen Überlappung und Durchdringung ungleich komplizierter, weil diese nicht als Gegenstand der erzählten Welt konkrete Kontur gewinnen. Gleichwohl ist es entscheidend zu reflektieren, dass aus der räumlich-geographischen Bewegung auch eine Modifizierung semantischer Ordnungen folgt, mag die zurückgelegte Distanz auch gering sein: Man denke nur an die mit schöner Regelmäßigkeit in den Berliner Romanen wiederkehrenden Ausflüge ins ländliche Umland, die im narrativen Nacheinander der Romane die Stadt als topografisch-kulturellen Raum überschreiten, damit aber stets auch einen
158 Gehrke, Einleitung: Grenzgänger im Spannungsfeld, S. 16. 159 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 338. 160 Ebd., S. 334. 161 Norbert Wokart, Differenzierungen im Begriff ›Grenze‹. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs. In: Richard Faber und Barbara Naumann (Hrsg.), Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, Würzburg 1995, S. 275–289, hier S. 284.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume synchronen räumlich-kulturellen Gegensatz als Karte einer zugleich geografischen wie kulturellen Ordnung etablieren.162
Für die Landpartie kann konstatiert werden, dass sie Schwellenräume des graduellen Übergangs von binären semantischen (und damit kulturellen) Ordnungen besetzt. In Anbetracht dessen und in Rekurs auf die nach Lotmans Modell erfolgte Sujetanalyse bedeutet dies, dass sich die semantischen Konkretisierungen wie ›eigen – fremd‹, ›kulturell – natürlich‹, ›domestiziert – wild‹, ›zivilisiert – unzivilisiert‹ überlagern. Konstituiert die semantische Oppositionsbildung das Weltmodell des Textes, so kann diese ›Übersemantisierung‹163 des Raumes nicht ohne Konsequenzen bleiben: Die Mehrfachcodierung muss zu Instabilitäten führen. Indem das Ereignis ›Landpartie‹ einen Figurenkreis in ein übersemantisiertes Feld versetzt, wo die Allgemeingültigkeit des herrschenden Ordnungsmodells ins Wanken gerät und sich mit Alternativen konfrontiert sieht, zeitigt dies erosive Folgen für das ehedem verbindliche Normen- und Wertesystem. Die semantische Doppelbödigkeit schafft das Terrain für einen veränderten gesellschaftlichen Umgang, der – weniger konventionalisiert und reglementiert – die Figuren einander freier begegnen lässt. Vor diesem Hintergrund lassen sich zudem Parallelen zu Michel Foucaults Konzept der ›anderen Räume‹ erkennen, die, »als gleichsam realisierte Utopien, zwischen realen und rein imaginären Orten zu lokalisieren«164 sind und daher »gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte« darstellen, in denen die gesellschaftlichen Ordnungen »gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind«165. Dadurch, dass Foucault nicht nur explizit deviante Verhaltensweisen sondern auch den »Müßiggang [als] eine Art Abweichung« definiert, lassen sich die Heterotopien, die von den Gesellschaftspartien in den Romanen Fontanes besetzt werden, darüber hinaus als »Abweichungsheterotopie[n]«166 spezifizieren. In dem Bewusstsein der Figuren, für den von ihrem geregelten Alltag abweichenden Müßiggang einen ›anderen Raum‹ aufzusuchen, gründet dabei 162 Parr, Kleine und große Weltentwürfe, S. 36. 163 Vgl. zu dieser Begriffsverwendung auch Parr, Die nahen und die fernen Räume, S. 60ff. 164 Rainer Warning, Utopie und Heterotopie. In: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3), S. 178–187, hier S. 181. 165 Michel Foucault, Andere Räume. In: Karlheinz Barck, Peter Gente et al. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 2002, S. 34–46, hier S. 39. 166 Ebd., S. 41.
4.1 Theoretische Ansätze
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nicht zuletzt ein wichtiger Faktor für das handlungsdynamisierende Potential der Landpartie-Episoden: »Die von Figuren aufgesuchten oder auch bloß imaginierten Räume prästrukturieren individuelle Handlungen; sie ermöglichen bestimmte Handlungsoptionen und vereiteln andere.«167 Gemeint ist also der Denkansatz, der die Figuren im Kontext der Landpartien dazu verleitet, sich ›woanders‹, jenseits ihrer angestammten Räume zu wähnen und daraus eine divergente Normativität der sonst geltenden gesellschaftlichen Konventionen und Umgangsformen abzuleiten. Dies – so die These – beruht weniger auf einer ›bloß‹ diffusen Destabilisierung des Normsystems als Folge konfligierender semantischer Codierungen. Vielmehr kann eine Korrelation von Handlungsspiel- und Bedeutungsraum angenommen werden, die sich aus der Projektion speist, mit einer dominanten Alterität der Natur konfrontiert zu sein. D. h., auch wenn die kulturalisierten Naturräume als Schauplätze der Landpartien topographisch eine klare Hybridität aufweisen, wird ein Set devianter, in diesem Fall natürlicher Ordnungen angenommen. Als ursächlich kann hierfür zunächst die anthropologische Konstante angenommen werden, eine ordnungsstiftende Raumaufteilung vorzunehmen. In diesem Zusammenhang stellt die »nichthinterfragte Dichotomie […] Natur vs. Kultur« eine der »zentralen Leitdifferenzen« dar, »die ›Sinn‹ organisieren«168. Hinzu tritt die Tendenz, angesichts von Industrialisierung und Urbanisierung das Landleben sowie die Natur zu idealisieren. Das Gesellschaftsvergnügen Landpartie ermöglicht dabei die Vorstellung, einen stadtfernen idyllischen Naturraum aufzusuchen und dort verloren geglaubte Werte der Einfachheit und Natürlichkeit wiederzuentdecken: »Landpartien führen den modernen Großstädter also in eine [vermeintliche; M. B.] mit kulturellen und sozialen Projektionen überzogene Gegensphäre«, die ihrerseits »Entlastung von modernen Entfremdungs- und Verlusterfahrungen verspricht und in de[r] die Rollenzwänge des bürgerlichen Daseins aufgehoben scheinen.«169 Dadurch treffen sich in der Landpartie, ähnlich wie in den von Foucault als »neue chronische Heterotopie[n]« angeführten »Feriendörfer[n]«, »zwei Heterotopien […], die des Festes und die der Ewigkeit der sich akkumulierenden Zeit«170. Denn zum einen umfasst der gesellige
167 Hallet und Neumann, Raum und Bewegung, S. 24. 168 Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen, S. 8. 169 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 82. 170 Foucault, Andere Räume, S. 44. Foucault denkt bei seinem Beispiel an »diese polynesischen Dörfer, die den Bewohnern der Städte drei kurze Wochen einer ursprünglichen und ewigen Nacktheit bieten« (ebd.).
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Müßiggang ›heterochronisch‹ nur eine gewisse Zeitspanne, so dass die Partien »an das Flüchtigste, an das Vorübergehendste, an das Prekärste der Zeit geknüpft sind: in der Weise des Festes.«171 Zum anderen fußt die mit der Landpartie verknüpfte und erhoffte Kompensationserfahrung wesentlich in der Vorstellung, dass man jenseits der entfremdeten bürgerlichen Lebens- und Werteordnung wieder in das ursprüngliche und überzeitlich-ewige »Leben eintaucht«, sei es in den »Strohhütten von Djerba«172 oder in einem märkischen Ausflugsort. – Diese Illusion, abseits des normativen Gesellschaftsraums ursprüngliche individuelle Freiheit erfahren zu können, wird bei einigen Figuren von dem Habitus begleitet, mit der projizierten Alterität der ›Natur‹ zu kokettieren und dieser mit einem ›kulturellen‹ Überlegenheitsgestus zu begegnen.173 Darüber hinaus kann konstatiert werden, dass die im Rahmen der Landpartie unternommene Grenzüberschreitung bzw. Grenzraumbesetzung im Verlauf der Romane weitere Grenzüberschreitungen initiiert bzw. katalysiert, die (gemeinsam mit ihren Folgen) ein zentrales Moment der Handlung darstellen: »In der Mehrzahl von Fontanes Romanen geht es um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach einer menschlichen Krise, einem Überschreiten der Verhaltensnormen.«174 Dieses »Überschreiten der Verhaltensnormen« ist entscheidend mit der Landpartie verknüpft. Das semantische und topographische Terrain der Landpartie sowie das Moment gemeinsamer Mobilität, das spezifische Figurenkonstellationen sowie eine allgemeine Erlebnis-Erwartungshaltung herbeiführt, befördern in den meisten Romanen eine amouröse Annäherung, die nach den LandpartieEpisoden im Handlungsgefüge unterschiedlich fortgeführt wird. Der Ehebruch in L’Adultera, die folgenschwere Verführung in Schach von Wuthenow sowie die lüsterne Zudringlichkeit in Cécile, die für die Protagonisten jeweils tödlich enden, oder, in ironischer Brechung, das Verlöbnis in Frau Jenny Treibel, all dies kann als eine Überschreitung normativer Grenzen interpretiert werden, die in engstem Konnex zur vorangegangenen Landpartie oder Sommerfrische stehen. Eine interessante Akzentuierung bietet hierbei Irrungen, Wirrungen, wo die illegitime und damit normverletzende Beziehung zwischen Lene und Botho zunächst ebenfalls im Kontext einer Wasserpartie geknüpft wird, ihre Unmöglichkeit nach einer weiteren gemeinsamen Landpartie allerdings erkannt und das Verhältnis aufgegeben wird.175 171 Ebd. 172 Ebd. 173 Vgl. hierzu das Kapitel 4.4.2 der vorliegenden Studie. 174 Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 476. 175 Indem die Liebesnacht Lenes und Bothos im Rahmen der Landpartie vollzogen wird respektive nur dort vollzogen werden kann, ließe sich mit Foucault von einer
4.1 Theoretische Ansätze
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Indem auf die präsentierten Normverstöße stets die Restitution der klassifikatorischen gesellschaftlichen Ordnung folgt, handelt es sich bei Fontanes Gesellschaftsromanen nach Lotman und im Sinne von Mahlers differenzierender Terminologie letztlich um ›ereignislose Sujettexte‹. Zwar ist im Hinblick auf das Verhältnis von Text- und Weltmodell somit grundsätzlich eine ›Ästhetik der Identität‹ zu konstatieren, gleichwohl müssen die im Modus des Fiktionalen präsentierten Verstöße gegen das Normen- und Wertesystem als Hinterfragung respektive als subversive Unterwanderung des außertextuellen Welt- und Ordnungsmodells gelten,176 bedenkt man z. B. die strenge Ahndung und die gravierenden Folgen, die diese Vergehen für die betreffenden Figuren nach sich ziehen können. Vor der Folie von Lotmans kultursemiotischem Raummodell konnte der Topos der Landpartie als semantische und topographische Grenzüberschreitung exemplifiziert werden, die darüber hinaus in der Mehrzahl mit einem folgenschweren Normverstoß korreliert. Muten die Landpartien auch harmlos an, als kurzweilige gesellige Vergnügungsfahrten, konstituieren und motivieren sie in den meisten Fällen jedoch das zentrale Handlungsereignis, auf das die Romane konzentrisch zulaufen: »Deshalb kann das Sujet immer auf die Hauptepisode zusammengezogen werden – die Überschreitung der grundlegenden topologischen Grenze in der Raumstruktur.«177 Den Landpartien kommt im Hinblick auf die Konzeption des einzelnen Romans eine Miniaturfunktion zu, da sie das Handlungsgeschehen in nuce widerspiegeln bzw. entscheidende Weichen für den weiteren Verlauf stellen. Indem sie maßgeblich die amouröse Verhältnisbildung bedingen, können die Landpartien – beruhend auf der Tat-
»Krisenheterotopie[ ]« sprechen; auch wenn die Beziehung dieses Paares gerade das Stigma des außerehelichen Normverstoßes trägt, bestehen dennoch Ähnlichkeiten mit dem von Foucault gewählten Beispiel der Hochzeitsreise: »Die Defloration des Mädchens mußte ›nirgendwo‹ stattfinden – da war der Zug, das Hotel der Hochzeitsreise gerade der Ort des Nirgendwo« (Foucault, Andere Räume, S. 40). 176 Siehe dazu auch Jörg Dünne und Andreas Mahler, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3), S. 1–11, hier S. 4: »Aus der komplexen Pragmatik literarischer Kommunikation geht sodann nicht nur die ›selbst-bewusste‹ Reflexivität eines raumbasierten ›sekundären modellbildenden Systems‹ […] hervor, sondern stets zugleich auch eine besondere Produktivität literarischer Räume, d. h. die Möglichkeit, Imaginations- und Vorstellungsräume zu eröffnen, die Variationen und Alternativen zu tatsächlich erfahr- oder begehbaren Räumen darstellen. Diese Vorstellungsräume bringen ihrerseits potentiell wieder neue konkrete Raumerfahrungen hervor, die in einem weiteren Schritt erneut literarisch reflektiert werden können. Auf diese Weise entsteht eine im Prinzip endlose Bewegung.« 177 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 338.
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sache, dass letztlich die Liebesgeschichte als Chiffre sozialhistorischer Faktoren und Friktionen178 den zentralen Dreh- und Angelpunkt des Handlungsgefüges bildet –179 als Kondensation, als Paradigma des Romans gelten, als Romanim-Roman.
4.2 Mittel, Wege, Mentalitäten: Raumdurchquerung und -erfahrung Stralau und Treptow, Tempelhof, Thale, Hankels Ablage, Halensee und das Eierhäuschen – die Plätze, die in Fontanes Romanen als Ziele der unternommenen Gesellschaftspartien fungieren, stellen keine unbekannten Variablen dieser Studie mehr dar: Hinlänglich vertraut sind nicht allein die Namen, bekannt ist derweil auch, dass es sich jeweils um Toponyme handelt, die auf reale Ausflugsorte im Berliner Umland respektive im Harzer Mittelgebirge referieren und im geographischen Koordinatensystem der empirischen Welt präzise zu lokalisieren sind. Mit dieser »Integration von Elementen der außertextuellen Realität in die Fiktion«180, Indikator einer Erzählstrategie, die (auch) im Falle Fontanes auf die Suggestion von Authentizität abzielt, ist »das Verhältnis zwischen erzählten Räumen, realen Räumen und kulturellen Raummodellen«181 als korrelierend vorzustellen. Vor der Folie der wechselseitigen Bedingtheit erzählter Räume und kultureller Raummodelle gründet die vorliegende Untersuchung auf der These, dass die Gesellschaftspartien in 178 Siehe dazu folgende Briefstelle Fontanes an Friedrich Stephany vom 2. Juli 1894: »Liebesgeschichten in ihrer schauderösen Ähnlichkeit, haben was Langweiliges –, aber der Gesellschaftszustand, das Sittenbildliche, das versteckt und gefährlich Politische, das diese Dinge haben, […] das ist es, was mich so sehr daran interessiert.« (HFA IV/4, S. 370) 179 Auch hier sei erneut auf die Sonderstellung des Stechlin verwiesen, der sich aufgrund seiner Komplexität einer schematischen Reduktion auf die Liebeshandlung verweigert, da er diese, ja, fast nebenbei erzählt. Fontane bezeichnet seinen Roman in einer Briefkorrespondenz selbst als »kleinen politischen (!) Roman[ ]« (HFA IV/4, S. 512). Dahingegen erwähnt Fontanes ironisch lapidare Zusammenfassung des Plots in einem einzigen Satz, zu finden in einem Briefentwurf, die Heirat als eines von zwei Geschehnissen: »Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht« (HFA IV/4, S. 650). Zwar darf daraus nicht eine Überbewertung der Liebesgeschichte zwischen Woldemar und Armgard abgeleitet werden, doch rekurriert Fontane mit ›Liebe und Tod‹ auf prominente Topoi der Kultur- und Literaturgeschichte und somit nicht zuletzt auf die vom Publikum in seinen vorigen Romanen so geschätzten Themen und Motive. 180 Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 41. 181 Ebd., S. 40.
4.2 Mittel, Wege, Mentalitäten: Raumdurchquerung und -erfahrung
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Fontanes Romanen in das raum-kulturelle Spannungsfeld von Natur und Kultur führen und hybride Grenzräume, Räume des semantischen und topographischen Übergangs besetzen. Doch zunächst müssen jene Grenzräume von den Romanfiguren überhaupt erreicht, muss die räumliche Distanz überwunden werden, die zwischen den städtischen Wohnräumen und den Destinationen der Gesellschaftspartien liegt. »Gemeint ist damit zunächst die sowohl banale wie auch basale Tatsache der Bewegung durch den Raum, der Durchquerung des Raums«182. Im Hinblick auf die Gesellschaftspartie-Episoden und ihre räumliche Modellierung in Fontanes Romanen handelt es sich bei der Durchquerung des Raums indes keineswegs um eine banale und damit gar um eine zu vernachlässigende Tatsache – im Gegenteil. Denn die Bewegung durch den Raum zeichnet nicht nur für den Schauplatzwechsel verantwortlich, vielmehr unterliegt sie ihrerseits spezifischen Bedingungen und Bedingtheiten, die in enger Wechselbeziehung zu Gestalt und Gestaltung der Raumdarstellungen stehen. Von entscheidender Relevanz erweist sich dabei in erster Linie der Bewegungsmodus, d. h. die Frage, auf welche Art und Weise sich die Romanfiguren fortbewegen, um den Ort der Landpartie respektive Sommerfrische zu erreichen. In der Zusammenschau der Romane zeigt sich dabei ein vielfältiges Spektrum, das vom Zufußgehen über die Kutschfahrt bis hin zur Nutzung der modernen Verkehrsmittel Eisenbahn und Dampfschiff reicht. Insofern die Romane dergestalt all jene Fortbewegungsformen präsentieren, die gemäß der fiktiven Handlungszeit realiter zur Verfügung standen, offenbart sich der Grad der technischen, infrastrukturellen sowie touristischen Erschließung und Erscheinung sowohl der realen als auch der erzählten Räume. Über die Interferenz von Wirklichkeit und Fiktion erweisen sich dabei die von Fontanes Gesellschaftspartien durchquerten Räume nicht nur in technik- und tourismusgeschichtlicher Hinsicht als aufschlussreich; insbesondere die Modi der Raumüberwindung eröffnen weitere interessante Perspektiven. Indem die Reisemodi mit dem gesellschaftlichen Rang der Landpartieteilnehmer zusammenhängen und als Mittel der sozialen und individuellen Figurencharakterisierung fungieren, bieten sich bei der Betrachtung zum einen erhellende sozial- und mentalitätsgeschichtliche Einsichten. Indem einige Romane den durchreisten Raum, den Reiseraum selbst zur Darstellung bringen und dies im Moment der Bewegung, lassen sich an den Texten zum anderen Wahrnehmungsmuster ablesen, die bewusstseinshistorische Reaktionen auf die Dynamisierung des Reisens ästhetisch reflektieren. 182 Walter Seitter, Technischer Raum: Enträumlichung. In: Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 204–218, hier S. 206.
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4.2.1 Die Kutschfahrt: Tradition und Repräsentation Die Berliner Gesellschaftsromane Fontanes geben ein eindrückliches Zeugnis von der Modernität und Urbanität der deutschen Reichshauptstadt am Ende des 19. Jahrhunderts.183 Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass neben den mannigfachen Erscheinungen der modernen Welt auch Schauplätze, Mentalitäten und Lebensformen in Fontanes Erzählwerk Eingang finden, die noch der Zeit vor dem Durchbruch der Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung verpflichtet sind. Mag dies unter Verweis auf die verschiedenen und häufig historisierenden Erzählgenres, die Fontane aufgegriffen und bearbeitet hat, unmittelbar einsichtig sein, gestalten auch die als Zeit- respektive Gesellschaftsromane klassifizierten Texte Motive und Ausprägungen eines Habitus, die vor der großstädtischen Szenerie Berlins zuweilen anachronistisch anmuten können. Diese Aspekte gemahnen daran, die Modernität der Romanwelten in ihrer historischen Verhältnismäßigkeit und im internationalen Vergleich in ihrer Rückständigkeit zu betrachten. Insofern ist stets gegenwärtig zu halten, dass sich die Romanplots und -figuren in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an einer Zeitenschwelle bewegen, an der neue/ moderne sowie alte/traditionelle Gesellschafts-, Wirtschafts-, Lebens- und Anschauungsformen koexistierten. Mit der Kutsche gerät im Folgenden ein vorindustrielles Beförderungsmittel in den Blick, das in den Landpartie-Episoden als Vehikel der Raumüberwindung ebenso Verwendung findet wie die Eisenbahn und das Dampfschiff als Repräsentanten der modernen und technisierten Infrastruktur. Als Signum der ›alten Zeit‹ tritt die Kutsche in der vorliegenden Textauswahl dabei in zweierlei Hinsicht in Erscheinung: Rekurriert der Gebrauch einer Privatkutsche einerseits stets auf die finanzielle Sorglosigkeit des Figurenkreises und fungiert dergestalt als Mittel sozialer Distinktion, ist für Schach von Wuthenow andererseits die Datierung der Romanhandlung auf das Jahr 1806 entscheidend. Zwar war Berlin »bis zum Ende des Jahrhunderts […] von einem dichten Netz von Pferdeomnibus-, Pferdebahn- und elektrischen Straßenbahnlinien sowie einer Stadt(dampf )bahn und einer Ringbahn überzogen«184, doch lag diese verkehrstechnische Erschließung zu Beginn des Jahrhunderts noch in weiter Ferne, so dass die Kutschfahrt letztlich die einzige Möglichkeit darstellte, mehrere Personen zugleich und auf dem Landweg zu befördern.
183 Vgl. Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 469. 184 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 160.
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In Schach von Wuthenow ist die Landpartie gar von dem Wunsch des Protagonisten initiiert, »eine Fahrt über Land« (SvW, S. 33) in der eigenen Kutsche und in Begleitung der Carayonschen Damen zu unternehmen. Somit steht hier das Beförderungsmittel von Beginn an fest, bevor noch über das Ziel und die Wegstrecke entschieden ist. Darin verdeutlichen sich die Vorzüge der Flexibilität und Spontaneität, die eine in der Kutsche unternommene »Spazierfahrt« (SvW, S. 29) zu gewähren vermochte. Tatsächlich eröffnet Victoire von Carayon erst unmittelbar vor der Abfahrt die den Damen von Schach überantwortete Wahl, wohin die Partie recht eigentlich gehen soll: »Nehmen wir Tempelhof« (SvW, S. 33). Wie sehr jene Mobilitätsweise bei all ihrer Bequemlichkeit der Witterung ausgesetzt und von den Straßenverhältnissen anhängig war, wird im Roman thematisch, wenn Schach in seinem Einladungsschreiben konkret die Bedingungen der Möglichkeit benennt, an diesem Tag eine gemeinsame Spazierfahrt zu unternehmen: »Der Regen der vorigen Nacht hat nicht nur die Wege gebessert, sondern auch die Luft. Alles in allem ein so schöner Tag, wie sie der April uns Hyperboreern nur selten gewährt.« (SvW, S. 29) Bei aller Ironie kommt hier implizit zum Ausdruck, dass an eine Straßenpflasterung noch nicht zu denken war und die Wege durch den Regen somit an Staubigkeit verloren und an Festigkeit gewonnen haben. Der preußischen Residenzstadt Berlins, geographischer und mentalitätsgeschichtlicher Hauptschauplatz des Romans, war noch ein überaus ländlicher Charakter eigentümlich – erst recht galt dies für ihr Umland. Kann die Kutschfahrt in Schach von Wuthenow die historische Begründung finden, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts die verkehrstechnische Erschließung zu Land neben dem Gehen und Reiten auf das Befahren des traditionellen Wege- und Straßennetzes unter Verwendung von Zugtieren beschränkt war, wird diese Erklärung im Hinblick auf die anderen Romane obsolet: Die Großstädter der späteren Gesellschaftsromane bewohnen natürlich eine Metropole, die durch die modernste Infrastruktur – Gas- und Wasserleitungen, Rohrpost, Pferdebahn, Stadtbahn, Kanalisation, usw. – intern stark vernetzt ist, und durch die Eisenbahn, durch die Modernisierung der großen Straßen, durch Zeitungen, durch Telegraphie und Stephans Reichspost, durch Dampfverkehr auf Flüssen und neuen Kanälen, sowie durch den Zugang zu internationalen Seewegen mit regionalen und weltweiten Netzwerken ebenso verbunden ist.185
185 Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 157. – Die enge Verbindung zwischen der sich national und international vollziehenden verkehrs- und informationstechnischen Vernetzung im 19. Jahrhundert können zwei Zeitschriften bezeugen, in denen Fontane bereits in den 1840er und 1850er Jahren erste Beiträge publizierte: ›Die Eisenbahn‹ und ›Danziger Dampfboot‹. Deren Titel verweisen eindrücklich
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Dass in L’Adultera, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin trotzdem die Privatkutsche zur Beförderung genutzt wird, um das Ziel der Landpartie zu erreichen, erklärt sinnfällig ein Blick auf das soziale Milieu der LandpartieGesellschaften. Das Vermögen, auf die Exklusivität der eigenen Kutsche zurückgreifen zu können, wie es die drei genannten Romane demonstrieren, ist dabei im doppelten Sinne zu verstehen. Insofern repräsentiert die Kutsche dort einen Habitus, der sich auch im Angesicht des hochtechnisierten Infrastruktur- und Kommunikationssystems Berlins – hier wie dort die konstitutive Folie, vor der sich die Plots der Handlungen und nicht zuletzt auch die Landpartie-Episoden vollziehen – einem traditionell-konservativen, bürgerlich-feudalen Lebensstil und -gestus verpflichtet fühlt. Wie nuanciert in Fontanes Romanen die Wahl des Verkehrsmittels nicht nur als Erzählstrategie der sozialen, sondern auch der individuellen Figurencharakterisierung dient, präsentiert eindrücklich die höchst unterschiedlich bewältigte Ankunft der insgesamt sechzehnköpfigen Landpartie-Gesellschaft am Treffpunkt Halensee in Frau Jenny Treibel. Die wohlhabenden Familien der Bourgeoisie, »[a]lte und junge Treibel’s, desgleichen die Felgentreus, hatten sich in eigenen Equipagen eingefunden« (JT, S. 130). Die Eleganz der kommerzienrätlichen Kutsche, bei der es sich um einen »mit blauem Atlas ausgeschlagenen Landauer« (JT, S. 24) handelt, kann hier stellvertretend für die anderen Gefährte gelten, die einen vergleichbaren Luxus und eine ähnlich vielsagende Farbsymbolik in der Ausstattung aufweisen dürften. Dass es sich bei der Fahrt in der privaten Equipage um die eigentlich standesgemäße Beförderung handelt, sofern es die finanziellen Mittel erlauben, wird im Kontrast zum Tenor Krola ersichtlich, der, obwohl »mit einer Millionärstochter verheirathet« (JT, S. 27), »von seinem Quartett begleitet, aus nicht aufge-
darauf, dass die Verkehrstechnik buchstäblich als Vehikel für die Distribution von Informationen und deren Medien fungierte. Die einzelnen Beiträge Fontanes verzeichnet skrupulös die Fontane-Bibliographie Wolfgang Rasch, Theodor-FontaneBibliographie. Werk und Forschung. Bd. 1, Berlin/New York 2006, S. 275ff. Den Abdruck einer kleinen Auswahl der Korrespondenzen im ›Danziger Dampfboot‹ nebst einleitenden Informationen bietet Wolgang Rasch und Hanna Olejnik, Aus den Berliner Korrespondenzen Fontanes für das ›Danziger Dampfboot‹ 1851/52. In: Fontane Blätter 75 (2003), S. 14–25. Die Staatsbibliothek zu Berlin stellt über ihr Zeitungsinformationssystem (ZEFYS) digitalisierte Ausgaben vom ›Danziger Dampfboot‹ der Jahre 1834, 1851 und 1852 zur Verfügung, so dass einzelne Korrespondenzen Fontanes aus den Jahren 1851 und 1852 – unter Zuhilfenahme der FontaneBibliographie – unter der folgenden URL zur Kenntnis genommen werden können http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/2436065X/ (letzter Zugriff am 10. 03. 2016).
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klärten Gründen die neue Dampfbahn« (JT, S. 130) benutzt und damit offensichtlich gegen die Konvention verstößt.186 Das Skandalöse an Corinnas Anreise, die »mutterwindallein – der Alte wollte nachkommen – die Stadtbahn genommen hatte« (JT, S. 130), basiert indes nicht auf einer nicht standesgemäßen Wahl des Verkehrsmittels, als vielmehr in dem desavouierenden Faktum, als junge Frau ohne Begleitung den öffentlichen Personennahverkehr benutzt zu haben, womit Corinnas Selbstbewusstsein und ihr Streben nach Unabhängigkeit angezeigt sind.187 Während ihr Vater wenig später »in einer ihn begleitenden Wolke […] müllergrau von Chausseestaub« (JT, S. 132) als Fußgänger den Treffpunkt erreicht, folgt zuletzt, im Erscheinen fast noch unprätentiöser, Treibels Sohn »Leopold in einer langsam herantrottenden Droschke« (JT, S. 133). Anstatt in der Landpartie einen Anlass zu erkennen, bei dem sich der junge und unverheiratete Mann der anwesenden Gesellschaft und insbesondere der Damenwelt elegant zu Pferd und »wie ein junger Gott« (JT, S. 133) hätte präsentieren können, gibt er mit seiner Ankunft in einer Mietdroschke vielmehr ein eindrückliches Zeugnis davon, dass es ihm an Bedürfnis und Drang zur Repräsentation vollends mangelt – wie auch sein Vater resigniert feststellen muss. So wenig aussagekräftig die geschilderte Ankunft der Landpartie-Gesellschaft im Text auf den ersten Blick auch erscheinen mag, macht die Darstellung jedoch Folgendes deutlich: Die präsentierten Fortbewegungs- und Transportmittel, mit denen die Figuren in Frau Jenny Treibel den Ort der Landpartie erreichen, »dienen der sozialen Distinktion, sie demonstrieren ein Sozialgefälle.«188 Parallel dazu lässt sich aber auch beobachten, wie dieses Wechselverhältnis von sozialem Status und der Wahl des Reisemodus in selbstironischer Manier unterlaufen wird. Ein Beispiel hierfür bietet Kommerzienrat Treibel höchst selbst durch den von ihm – im Rahmen des Pla-
186 Vgl. dazu auch Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 179f. 187 Mit dem Begriff »mutterwindallein« wird implizit ein möglicher Grund für Corinnas unvorsichtige und ungehörige Stadtbahnfahrt angedeutet: Als Halbwaise entbehrt sie einer Mutter, die als Vorbild weiblicher Schicklichkeit fungieren könnte. – Vgl. zur auffallenden Abwesenheit von Mutterschaft und Mutterfiguren bei Fontane auch Antje Janssen-Zimmermann, Das Defizit als Chance? Fontanes ›fehlende‹ Mütter. In: Sabina Becker und Sascha Kiefer (Hrsg.), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Tübingen 2005, S. 79–94. 188 Olaf Briese, Feldzüge mit dem Zug. Eisenbahn als Knotenpunkt in Fontanes Frankreichpanorama ›Aus den Tagen der Occupation‹. In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber et al. (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt, Würzburg 2014 (= Fontaneana, Bd. 13), S. 167–189, hier S. 172.
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nungsprocederes – »in Vorschlag gebrachten Kremsers, ›der immer das Eigentliche sei‹« (JT, S. 130). Handelte es sich bei Kremsern zwar ebenfalls um ein Kutschenfuhrwerk, stellten jene einfach ausgestatteten, »[m]ehrsitzige[n], von Pferden gezogene[n] Mietwagen mit Verdeck für Landpartien« (JT, Anhang S. 337) allerdings das bevorzugte Gefährt des Mittelstandes dar und bildeten vornehmlich in dieser sozialen Sphäre »immer das Eigentliche« einer Landpartie. Auch zeitgenössische Ratgeber-Literatur, deren Leserschaft vornehmlich im Mittelstand zu finden war, empfiehlt für die Unternehmung einer Landpartie implizit eine Kremserfahrt, wenn es zur Frage des zu wählenden Fuhrwerks heißt: »Ein solches darf bei einer Landpartie jeder Eleganz entbehren, aber es muß genügend Raum für alle Anteilnehmenden bieten, und zwar derart, daß die Insassen nicht auf einander gepfercht sitzen, […] sondern sich frei und zwanglos während der Fahrt […] bewegen können.«189 Dass Treibels Vorschlag einer gemeinsamen Kremserfahrt verworfen wird, darf mit Blick auf das soziale Milieu in Frau Jenny Treibel daher nicht in Verwunderung versetzen: Die Bourgeoisie war stets darauf bedacht, sich in der Sozialhierarchie ›nach oben‹ zu orientieren und den Lebensstil des Adels zu kopieren, ›nach unten‹ hingegen eine klare Abgrenzung zum Kleinbürgertum zu praktizieren. Die Fahrt mit einem Kremser barg das potentielle Risiko, mit der Mittelschicht identifiziert und dergestalt sozial deklassiert zu werden; dieser Gefahr entgehen die Treibels und Felgentreus mithin geflissentlich durch ihre Entscheidung, die eigenen Equipagen anspannen zu lassen. – Trotzdem bleibt auf der Basis der angestellten Reflexionen zu fragen, weshalb der Kommerzienrat diesen Vorschlag aufgebracht hat. Eine Antwort vermag die Charakterzeichnung seiner Figur geben: Einerseits wird Treibel als ein Mann gezeigt, der sich »aufrichtig gegen all’ den Hochmuth aufrichtet[ ]«
189 Der gute Ton, S. 71. – Für die als Betriebsausflug organisierte und von der Protagonistin in Stine erinnerte Landpartie wurden ebenfalls »ein paar Kremser gemietet« (GBA I/11, S. 51). Als ein weiteres literarisches Beispiel kann Stindes Roman Die Familie Buchholz angeführt werden, wo ein Kapitel den Titel »Im Kremser« trägt und für die zeitgenössische Leserschaft damit unmissverständlich auf die Unternehmung einer Landpartie verwies. Auf einige Stunden und gegen Bezahlung gewährte die Institution des Kremsers einer sozialen Schicht die Teilhabe am Komfort eines Fuhrwerks, der sonst außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten lag. In Die Familie Buchholz wird die kleinbürgerliche Landpartie-Gesellschaft sogar erweitert, um die anfallenden Kosten für die teilnehmenden Familien zu senken: »Onkel Fritz machte daher den Vorschlag, gemeinsam einen Kremser zu nehmen und aufs Land zu fahren, und da Platz genug vorhanden sei, könnten wir Krauses ebenfalls einladen, wodurch das Fuhrgeld für die einzelne Person überdies billiger würde« (Stinde, Die Familie Buchholz, S. 53f.).
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(JT, S. 173), den er in den Allüren seiner Frau erkennt, und der sich seiner Herkunft bewusst ist: »[W]ir sind auch nicht die Bismarck’s oder die Arnim’s oder sonst was Märkisches von Adel, wir sind die Treibel’s, Blutlaugensalz und Eisenvitrol« (JT, S. 174). Andererseits ist Treibel dem Text nach »doch auch seinerseits das Product dreier, im Fabrikbetrieb immer reicher gewordenen Generationen, und aller guten Geistes- und Herzensanlagen unerachtet […] – der Bourgeois steckte ihm wie seiner sentimentalen Frau tief im Geblüt.« (JT, S. 176) Diese charakterliche Ambivalenz findet letztlich in seinem Vorschlag, die Landpartie in einem Kremser zu begehen, ihre Entsprechung. Denn in diesem Vorschlag spiegelt sich Treibels Wissen um den erst vor kurzem erfolgten sozialen Aufstieg seiner Familie und einer darin gründenden Jovialität gegenüber kleinen Verhältnissen wider, was wiederum durch einen Habitus gebrochen wird, der mit der Imitation eines kleinbürgerlichen Lebensstils lediglich kokettiert und diesen zum eigenen Amüsement inszeniert. Dergleichen Gebaren ist auch Van der Straaten im Kontext der Anreise in L’Adultera zu attestieren, wo die Planung am Vortag der Landpartie zunächst vorsieht, der Weg nach Stralau solle von den »drei Damen im Wagen, [von] Van der Straaten und Rubehn entweder zu Fuß oder zu Schiff« (LA, S. 57) zurückgelegt werden. Während die Fahrt der weiblichen Figuren am nächsten Nachmittag wie geplant und standesgemäß in der Privatkutsche erfolgt, lassen sich die beiden männlichen Protagonisten hingegen »in einer Droschke zweiter Klasse, die man ›Aechtheits‹ halber gewählt hatte« befördern, »stiegen aber unmittelbar vor der Stadt aus, um nunmehr an den Flußwiesen hin den Rest des Weges zu Fuß zu machen.« (LA, S. 60) Ist in dieser Pseudo-Authentizität der inszenierten sozialen Deklassierung als Fußgänger und als Fahrgäste einer Mietkutsche zweiter Klasse erneut ein Gestus ironischer Überheblichkeit zu erkennen, offenbaren sich zudem »geschlechtsspezifisch unterschiedliche Verhaltensweisen«190, die dem Habitus eindeutig eine männliche Konnotation verleihen. Angesichts seiner Charakterzeichnung kann zweifelsfrei Van der Straaten und nicht Rubehn als Initiator dieser Reisepersiflage gelten. Außerdem ist es keineswegs ein Zufall, dass sowohl Van der Straaten als auch Treibel den Titel eines Kommerzienrats tragen. Vielmehr stehen dieser an freigiebige Industrielle verliehene Gesellschaftstitel und der identifizierte Habitus in einem Wechselverhältnis: So ›jung‹ der gesellschaftliche Aufstieg der Familien Treibel und Van der Straaten auch ist, so hat er doch zu erheblichem Reichtum geführt, was im Charakter beider Figuren in einer Symbiose aus ironischem Überlegenheitsgestus und gesellschaftlicher Nonchalance kulminiert. 190 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 83.
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Dass sich die Aristokratie, der die Bourgeoisie so rückhaltlos nachzueifern versucht, im Gegensatz dazu als wesentlich aufgeschlossener gegenüber alternativen Verkehrsmitteln erweisen kann, vermag ein kurzer Blick auf die Landpartie-Episode im Stechlin zu belegen. Dort wird die erste Wegstrecke von den Familien Berchtesgaden und Barby mit den eigenen Kutschen zurückgelegt und somit zunächst der »Demonstration aristokratischen Lebensstils«191 noch stilecht entsprochen. An der ersten Etappe Jannowitzbrücke angekommen, werden die Kutschen indes verlassen, um an der dort befindlichen Anlegestelle einen Ausflugsdampfer zu besteigen. Auf der Rückfahrt soll schließlich ganz auf den Komfort der Privatequipagen verzichtet und stattdessen das öffentliche Verkehrsmittel der Stadtbahn benutzt werden; was den angestellten Kutschern ihrerseits einen freien Abend verschafft, weil »die Herrschaften fort sind und erst spät wiederkommen. Noch dazu mit der Stadtbahn.« (DS, S. 163) Hier disqualifiziert sich die Stadtbahn für die adeligen Figuren explizit nicht, obwohl jenes Verkehrsmittel von der Oberschicht insofern häufig als verpönt gelten konnte, als die gemeinsame Beförderungssituation soziale Gleichheit suggerieren konnte und mit sozial deklassierten Fahrgästen konfrontierte.192 So erklärt sich, dass die Fahrt mit Nahverkehrszügen im Berliner Stadtgebiet in Fontanes Romanen »mitunter sozial stigmatisiert.«193 Im Unterschied zu den kommerzienrätlichen Familien in L’Adultera und Frau Jenny Treibel wird im Verhalten des feudalen Figurenkreises im Stechlin ein genuin anderes Selbstverständnis der eigenen gesellschaftlichen Legitimität deutlich, das keiner eigens inszenierten sozialen Distinktion z. B. über die Ablehnung moderner Verkehrsmittel bedarf. Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass es sich bei den betreffenden Aristokraten der Berchtesgadens und Barbys im Stechlin um einen besonders kosmopolitischen Gesellschaftskreis handelt, der als nur bedingt repräsentativ für den Adel gelten kann. Denn beide Familien haben für längere Zeit in London gelebt und waren folglich mit der technisierten Infrastruktur einer modernen Metropole schon lange bestens vertraut – ein Umstand, den sie im Übrigen mit dem Autor Fontane gemein haben.194 Insgesamt kann jedoch für die späteren 1890er Jahre, Handlungszeit des Stechlin, längst eine gesellschaftsübergreifende Vertrautheit mit der Eisenbahn konstatiert werden.
191 Hillebrand, Mensch und Raum im Roman, S. 278. 192 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1995, S. 68f. 193 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 180. 194 Vgl. dazu auch Kapitel 2.2 der vorliegenden Studie.
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Allerdings exemplifiziert Der Stechlin die Verfemung eines anderen öffentlichen Verkehrsmittels, wenn sich die Baronin Berchtesgaden und die Domina Adelheid von Stechlin mit Blick auf die Pferdebahnen über die »unpassenden Nachbarschaften […] bei solchen Fahrten«195 empören. Während es Adelheid »ein Horreur« ist, die Standesunterschiede zwischen Offizieren sowie »Madamm[s] und »Spreewaldsamme[n]« (DS, S. 115) in der Pferdebahn unterwandert zu sehen, macht sich die Baronin »Sorgen um die Wahrung der Sitten« und »um das tugendhafte und standesgemäße Verhalten«196 weiblicher Fahrgäste. So mahnt sie gegenüber den Barbyschen Schwestern: »Wir thun jetzt (leider) so vieles, was wir, nach einer alten Anschauung, eigentlich nicht thun sollten. Es ist, mein’ ich, nicht passend, auf einem Pferdebahnperron zu stehen, zwischen einem Schaffner und einer Kiepenfrau« (DS, S. 168). Fast wirkt es so, als wolle die Baronin damit auf Corinna Schmidt in Frau Jenny Treibel zurückverweisen und die Unschicklichkeit der von dieser ›mutterwindallein‹ unternommenen Fahrt mit der Stadtbahn erneut hervorheben. 4.2.2 Eisenbahn und Dampfschiff: Technisierung und Touristisierung Auch wenn der Fokus der vorangegangenen Reflexionen auf das Fuhrwerk der Kutsche gerichtet war, so trat in den Texten – aus genannten Gründen mit Ausnahme von Schach von Wuthenow – gleichwohl das moderne, vernetzte und technisierte Infrastruktursystem der Metropole Berlin in Erscheinung. Darin vermittelt sich gemäß der realistischen Maxime der zeit- und technikgeschichtliche Stand der Entwicklung, die »Mobilitätszunahme durch neue Verkehrsmittel und Technologien der Raumerschließung und Beschleunigung«197 im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus wurde aber auch ersichtlich, dass selbst die Landpartien, in denen noch Kutschen als Fortbewegungsmittel fungieren, nicht zu abgeschiedenen und entlegenen Plätzen führen. Anstatt also das Potential der Kutschen auszuschöpfen, die durch »das freie individuelle Manövrieren der Fahrzeuge«198 eine flexible Mobilität zu gewähren ver195 Seiler, Fontanes Berlin, S. 166. 196 Martina Klemm, Die Bedeutung der Verkehrsmittel in Theodor Fontanes ›Der Stechlin‹. In: Patricia Howe (Hrsg.), Theodor Fontane. Dichter des Übergangs, Würzburg 2013 (= Fontaneana, Bd. 10), S. 109–121, hier S. 113. 197 Doris Bachmann-Medick, Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze: Bewegungshorizonte und Subjektverortung in literarischen Beispielen. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 257–279, hier S. 260. 198 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 29.
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mochten, werden auch mit dieser Orte aufgesucht, die infrastrukturell durch die Eisenbahn oder das Dampfschiff zu erreichen und die als Naherholungsgebiete touristisch vermarktet sind. Nie verlassen Fontanes Figuren im Rahmen der Landpartie also die zivilisatorisch vereinnahmte Welt und betreten unberührte Natur, sondern sie bewegen sich immer im Kontext eines kulturell und technisch völlig erschlossenen Raumes: Naturerscheinungen »sind längst hineingenommen in einen Benutzungs- und Verwertungszusammenhang, und so sind sie Teil der vollkommen angeeigneten und beherrschten Welt.«199 Die Voraussetzung für den touristischen »Benutzungs- und Verwertungszusammenhang« war der Ausbau des Infrastruktursystems – womit auf die enge Verknüpfung von touristischer und verkehrstechnischer Erschließung der Welt im industriellen Zeitalter verwiesen ist. Dabei markiert das späte 19. Jahrhundert den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die im 20. Jahrhundert durch den Automobil- und insbesondere durch den Personenflugverkehr eine weitere Dimension erfuhr. Am Anfang jener Interferenz stand die revolutionäre »Mechanisierung der Triebkräfte«200 durch die Dampfkraft, deren Nutzung bald nicht mehr auf den Güterverkehr beschränkt blieb, sondern deren Potential auch für den Personentransport erkannt und genutzt wurde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts »verbanden [Eisenbahnlinien] Städte, Länder und Regionen und setzten neben einer ständig wachsenden Zahl von Gütern Jahr für Jahr mehr Menschen in Bewegung – in Geschäften, zu neuen Arbeitsplätzen, aber auch zu ihrem Vergnügen und zur Erholung.«201 Die mit Dampfkraft betriebenen Eisenbahnen und Schiffe fungierten buchstäblich als wichtige Vehikel für die infrastrukturelle Vernetzung und garantierten den Zugang zu regionalen und internationalen Handels- und Kapitalmärkten. »Daraus resultierte ein wahrer Wettlauf um einen Eisenbahnanschluß« und den Bau von Hafenanlagen, denn »[d]ie jeweilige Stadt rückte damit in die Reihe der Städte auf, die Zukunft hatten, die verbunden waren mit dem neuen, Leben und Aufschwung spendenden Kreislauf der Menschen und Güter.«202 Fokussierte sich das Interesse zunächst primär auf die Distribution von Waren, wurde sehr bald auch der Tourismus als ein lukrativer Wirt-
199 Kurt-H. Weber, Die literarische Landschaft. Zur Geschichte ihrer Entdeckung von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/New York 2010, S. 378f. 200 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 9. 201 Lothar Gall, Eisenbahn in Deutschland: Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg. In: Ders. und Manfred Pohl (Hrsg.), Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 13–70, hier S. 28. 202 Ebd., S. 18.
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schaftsfaktor erkannt. Die Vorreiterrolle, die England als ›Wiege‹ der Industrialisierung in West- und Mitteleuropa bekanntlich für Jahrzehnte inne hatte, betraf dabei nicht nur den technischen, ökonomischen und infrastrukturellen Fortschritt, sondern lässt sich auch an der tourismusgeschichtlichen Entwicklung ablesen: »Wie eng die Ausfaltung des Tourismus mit der industriellen Zivilisation Hand in Hand geht, beweist der Vorsprung, den die englischen Touristen das ganze 19. Jahrhundert hindurch vor denen anderer Nationen gehalten haben.«203 Man denke nur an Thomas Cook, den Pionier des modernen kommerziellen Tourismus. Die verkehrstechnische Erschließung der Welt durch die Dampfkraft erweiterte den Radius der touristischen Mobilität eklatant, indem ehedem entfernt oder abseits gelegene Orte nach ihrer Integration in das Infrastruktursystem schnell und bequem zu erreichen waren.204 Dadurch wuchs auch das Angebot der Lokalitäten, die für Ausflüge aller Art, sei es im familiären Kreis oder in größerer Gesellschaft, zur Verfügung standen. Doch nicht nur die Zahl potentieller Ausflugsziele, auch der Kreis der Ausflügler vergrößerte sich analog dazu. Die Eisenbahn avancierte schnell zu einem Massenverkehrsmittel, das eine Fahrt zu Zwecken der Freizeit und Erholung auch zuvor davon ausgeschlossenen Gesellschaftskreisen ermöglichte: »Aufgrund des – gemessen an anderen Transportmitteln – niedrigen Preisniveaus stand die Fahrt mit der Eisenbahn vielen Akteuren offen. Damit wurde er [der Personentransport; M. B.] auch demokratisiert.«205 Dass die Oberschicht mit Herablassung auf diese Demokratisierung reagierte, darf nicht verwundern, verlor sie damit doch das über lange Zeit exklusiv ihr zustehende Privileg der Mobilität.206 Daraus darf jedoch nicht geschlussfolgert werden, der Standesdünkel habe zu einem Verzicht auf die Nutzung der Eisenbahn geführt. Längere Reisen wurden selbstredend mit der Eisenbahn unternommen, die über die Wageneinteilung in verschiedene Klassen und die damit vollzogene Segregation die alten Privilegien in lediglich modifizierter Form restituierte. Die eleganten Coupés ähnelten zu Beginn gar den Kutschen, so dass maschinenbaulich die exklusive Reiseform vergangener Tage nachempfunden wurde: »Das Abteil, diese so gut wie unveränderte Übernahme des Kutschenkastens, soll den Reisenden
203 Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, S. 191. 204 Vgl. Weber, Die literarische Landschaft, S. 363. 205 Briese, Feldzüge mit dem Zug, S. 170. – Vgl. zur Demokratisierung der Freizeitkultur und zu ihrem Niederschlag in Fontanes Romanen auch Johnson, The Democratization of Leisure. 206 Vgl. dazu auch Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, S. 184.
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der 1. Klasse […] versichern, daß er weiterhin wie in einer Kutsche, nur billiger und schneller, reist.«207 Fontanes Roman Cécile bietet ein literarisches Beispiel dafür, dass die Oberschicht die Eisenbahn durchaus für längere Reisen nutzte. Die Eisenbahnfahrt des Ehepaars St. Arnauds erklärt sich dabei mit der weiten Entfernung, die zwischen dem Wohnort Berlin und dem Harzer Gebirgsort Thale, Ziel der unternommenen Sommerfrische, liegt. Allerdings hat es mit dem Reiseziel und dem Romanpersonal in Cécile eine bestimmte Bewandtnis: Auch hier fungiert der Reisemodus als nuancierte Erzählstrategie der sozialen und individuellen Figurencharakterisierung, indem das gesellschaftliche Ansehen der Figuren, der ausgewählte Erholungsort und die Eisenbahnfahrt in einem Wechselverhältnis stehen. Der Roman »wird eröffnet mit einer Berliner Bahnhofsszene und beginnt – in einem das Reiseziel bezeichnenden Ein-Wort-Satz – mit dem (figurenperspektivisch formulierten) Wort ›Thale‹«208. Dieser Romanbeginn »exponiert nicht nur die kontrapunktische, für Romanhandlung und Romanprotagonisten zukunftweisende Schauplatzstruktur Harz/Berlin«209, sondern er deutet überdies ein weiteres Reisedetail an, zieht man den kurzen Dialog in Betracht, in dem der »Ein-Wort-Satz« geäußert wird: »›Thale. Zweiter…‹ / ›Letzter Wagen, mein Herr.‹« (C, S. 5) Es liegt zwar nahe, die gesetzte Leerstelle mit der Angabe der zweiten Wagenklasse zu ergänzen,210 doch enthält sich der Text hier ebenso einer klaren Informationsvergabe, wie auch auf jegliche Angaben zu den Sprechern und der Sprechsituation verzichtet wird. Während dies zum einen das aussparende und zugleich andeutungsreiche Erzählen exemplifiziert, das den Roman Cécile insgesamt kennzeichnet, interferiert das implizierte Reisen zweiter Klasse andererseits mit dem Ziel der Reise, das ebenfalls nur als ›zweitklassig‹ gelten kann. So »gehörte der Harz im späten 19. Jahrhundert zu den Hauptattraktionen eines wachsenden Fremdenverkehrs in Deutschland« und »[v]or allem das einst verschlafene Thale hatte sich nach der Anbindung an das Eisenbahnnetz zu einem beliebten und vergleichsweise kostengünstigen Reiseziel für den Berliner Mittel-
207 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 69. 208 Rohse, Harztouristen als literarische Figuren, S. 190. 209 Ebd., S. 191. 210 Es ist wenig wahrscheinlich, dass es sich stattdessen um den zweiten Wagen handeln könnte. Zum einen können die Angabe der Wagenklasse und die Nennung des Zielbahnhofes zu den beiden zentralen Koordinaten einer Bahnfahrt gelten. Zum anderen spricht auch die räumliche Position des Wagens am Ende des Zuges dafür, an dieser wenig privilegierten Stelle die zweite Klasse zu vermuten.
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stand entwickelt.«211 Allerdings handelt es sich beim Ehepaar St. Arnaud keineswegs um Mitglieder des Berliner Mittelstandes, sondern um Angehörige der Oberschicht, so dass Thale vor diesem Hintergrund als ein inadäquates Reiseziel zu charakterisieren ist. Da der Text bis zu der von Gordon betriebenen Enthüllung im zweiten Teil des Romans aber ein strategisches Informationsdefizit aufrecht erhält und die St. Arnauds ausschließlich aus der Außenperspektive, in ihrem Verhalten und ihren Gesprächen vergegenwärtigt, bleibt die Leserschaft darüber lange in Zweifel. Mit dem Wissen um die prekäre Vergangenheit des Ehepaars vermag sich der Widerspruch schließlich retrospektiv zu erklären: Als Reaktion auf die erfahrene soziale Diskreditierung wählen die St. Arnauds Thale als das Ziel ihrer Sommerfrische, wo »die Gesellschaft etwas unter Niveau«212 war und führen die in ihrem eigenen Kreis erlebte Ausgrenzung dergestalt selbst fort. Diese tourismusanalytische Einschätzung der Harzer Feriengäste, die Fontanes eigener Reisebeobachtung entspringt, bezieht sich in erster Linie auf die in Thale dominierende Sozialstruktur des Mittelstandes. In Cécile setzt er diese soziale ›Zweitklassigkeit‹ sodann mit der Eisenbahnfahrt zweiter Klasse und dem moralisch kompromittierten Ehepaar in Beziehung. Dass die Bahnhöfe in Folge der verkehrstechnischen Erschließung »als Eingangsvestibül in die[ ] Landschaften« der Naherholung und des Tourismus fungieren, »ist eine Vorstellung [sic!] die dem 19. Jahrhundert geläufig ist. Sie findet sich in jedem Baedeker, der für jede Exkursion den entsprechenden Bahnhof empfiehlt.«213 Die von den Romanfiguren aufgesuchten LandpartieOrte bilden hier keine Ausnahme, wie ein Blick in Reisehandbücher der Jahrhundertwende, die der Darstellung Berlins und seiner Umgebung gewidmet sind, bezeugen kann. Auch wenn dort eigens betont wird, dass »die Umgegend von Berlin nicht nur der malerischen Reize nicht entbehre, sondern stellenweise sogar von hoher landschaftlicher Schönheit sei«214, fallen die Angaben im einzelnen eher kurz aus und die Skizzierung der landschaftlichen Lage erfolgt stets verknüpft mit der Nennung vorhandener gastronomischer Einrichtungen. Hingegen scheint ein Aspekt konstitutiv der ausführlicheren Erwähnung wert: die verkehrstechnische Erreichbarkeit mit der Eisenbahn. Dabei präfiguriert der Text künftige Fahrten der Leser z. B. insofern, als die empfohlenen Plätze mittels einer beschriebenen Bahnfahrt verge-
211 Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum, S. 234. 212 GBA XII/3, S. 272. 213 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 40. 214 Grüsse aus Berlin und Umgebung in Bild und Wort. Original-Aufnahmen in Besitz des Verlags, Text von Victor Laverrenz, Berlin-Schöneberg 1898, S. 418.
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genwärtigt werden,215 auf die die Leser gleichsam eingeladen werden, den Verfasser zu begleiten:216 »Der engere Kreis der Vororte Berlins wird durch die Stadt- und Ringbahn mit einander verbunden und wir lernen dieselben am besten kennen, wenn wir uns auf die Bahn setzen und von einer Station zur anderen fahren.«217 Wenn Konzeption und Duktus des Reisehandbuches weniger auf erzählerische Ausschmückung denn auf die knappe aber fundierte Bereitstellung aller relevanten Informationen zielen, wofür der Baedeker ein prominentes Beispiel darstellt, werden skrupulös und schnörkellos alle zur Verfügung stehenden Eisenbahnverbindungen aufgeführt. Demonstrieren soll dies der entsprechende Baedeker-Eintrag zum ›Grunewald‹, da dieser – konkreter: Halensee – auch als Setting der Landpartie in Frau Jenny Treibel begegnet: Den ›Grunewald‹ erreicht man: 1) von der Stadtbahn […] mit den Vorortzügen BerlinPotsdam […] und Grünau-Grunewald […] nach ›Bahnhof Grunewald‹. – 2) mit der Ringbahn […] von allen Stationen bis ›Halensee‹. – 3) von der Linkstraße, Ecke Potsdamerstr., und vom Nollendorfplatz mit den […] Straßenbahnlinien (Nr. 136, 137, 138) nach ›Hundekehle‹ (Restaurant 4 Min. entfernt). – 4) Die Wannseebahn berührt den Süden des Waldes bei Stat. ›Schlachtensee‹ und ›Nikolassee‹[.]218
In der zitierten Passage werden gleich fünf Bahnhöfe genannt, von denen der Grunewald mit Hilfe verschiedener Bahnlinien vom Stadtgebiet aus erreicht werden kann. Die Profitabilität dieses Verkehrsmittels für die Geselligkeitskultur haben Corinna und der Teilnehmerkreis um Krola durch ihre Anfahrt zur Landpartie in Frau Jenny Treibel unter Beweis stellen können. Die Erwäh-
215 Vgl. dazu auch folgende Veröffentlichung aus dem Jahr 1883, die die Erkundung und Beschreibung Berlins explizit mit dem Nahverkehrsmittel der Stadt- und Ringbahn unternimmt: Emil Dominik, Quer durch und ringsum Berlin. Eine Fahrt auf der Berliner Stadt- und Ringbahn. Etwas Geschichte und viel Geschichten [1883], Leipzig 1988. 216 Ein solches textstrategisches Verfahren kennzeichnet auch Fontanes Reisebuch Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland: »Der Leser soll den Eindruck haben, mit Fontane persönlich unterwegs zu sein, wie dieser mit seinem Freund [Bernhard von Lepel; M. B.] unterwegs war« (Michael Maurer, ›Lieux de mémoire‹: Fontanes Schottland-Reise (Jenseit des Tweed). In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber et al. (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt, Würzburg 2014 (= Fontaneana, Bd. 13), S. 59–78, hier S. 61). 217 Grüsse aus Berlin und Umgebung, S. 409. 218 Berlin und Umgebungen. Handbuch für Reisende von K. Baedeker. Mit 4 Karten, 4 Plänen und 15 Grundrissen. Zwölfte Auflage, Leipzig 1902, S. 165f. – Auslassungen wurden hier an jenen Stellen getätigt und markiert, wo im Original mit Seitenangaben intratextuelle Querverweise gesetzt sind.
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nung und Nutzung der modernen Eisenbahnverbindungen durch die Figuren trägt dabei ihrer selbstverständlichen Präsenz Rechnung, sowohl im Stadtbild Berlins als auch im Bewusstsein seiner Bewohner. Dergleichen kann für die Erschließung von Ausflugszielen durch die Dampfschifffahrt gelten, die im Hinblick auf die Romane Fontanes ebenfalls eine ausführliche Darstellung erfährt. Auffallend häufig treten dabei Stralau, Treptow und das Eierhäuschen an der Oberspree in Erscheinung, was sowohl ihrer Popularität als auch ihrer relativen geographischen Nachbarschaft geschuldet sein dürfte. Wie bequem und in welch dichtem Abfahrtstakt diese Lokalitäten mit dem Dampfschiff von Berlin angefahren wurden, darüber vermag erneut der Baedeker unter dem Eintrag »Dampfschiffe auf der Oberspree und Dahme« Aufschluss geben: »Gesellschaft Stern […]. Von der ›Jannowitzbrücke‹ […] 8½ u. 12¼ U., von 2 U. an stündl. (bei gutem Wetter öfter) nach ›Stralau‹, ›Treptow‹, ›Eierhäuschen‹«219. Auch das Reisehandbuch Grüsse aus Berlin und Umgebung widmet sich der Oberspree und den durch sie erreichbaren Orten – diesmal in Form einer geschilderten Dampferfahrt: »Wir besteigen […] eins der an der Jannowitzbrücke liegenden Dampfboote und fahren stromaufwärts […]. Stralau und Treptow […] werden passiert, […] und es folgen stromaufwärts nacheinander die beiden Eierhäuschen«220. Als Schauplatz der Landpartie fungiert in L’Adultera der südöstliche Vorort Stralau (dort unter der noch üblichen Ortsbezeichnung ›Stralow‹), der »damals wegen eines alljährlichen Volksfestes, des Stralauer Fischzugs, weithin bekannt war.«221 Einen Kommentar dazu, dass dieses Volksfest dem Ort ein eher frivoles Renommee verliehen hat, lässt sich Van der Straaten bei seiner Vorliebe für Anzüglichkeiten nicht entgehen: »Also Treptow und Stralow, und zwar rasch, denn in acht Tagen haben wir den Stralauer Fischzug, der an und für sich zwar ein liebliches Fest der Maien, im Uebrigen aber etwas derb und nicht allzu günstig für Wiesewachs und frischen Rasen ist.« (LA, S. 57) Auch wenn für die männlichen Protagonisten zunächst die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, Stralau mit dem Schiff anzufahren, werden letztlich andere Reisemodi bemüht. Die Anlegestelle für »die kleinen Spreedampfer« (LA, S. 65) in Stralau, die sich direkt neben dem aufgesuchten Gartenlokal befindet, erweist sich im Verlauf der Landpartie dennoch als nützlich. Während der Rest der Gesellschaft die »Ueberfahrt nach Treptow in zwei kleinen Booten« unternimmt, warten Van der Straaten und Fräulein
219 Ebd., S. 22. 220 Grüsse aus Berlin und Umgebung, S. 430. 221 Seiler, Fontanes Berlin, S. 45.
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Riekchen auf »das Anlegen des nächsten, vom ›Eierhäuschen‹ her erwarteten Dampfschiffes« (LA, S. 73). Auf einer Wasserpartie in Stralau haben sich auch Lene und Botho in Irrungen, Wirrungen kennengelernt: Als »von Treptow her das Dampfschiff« (IW, S. 18) heran- und dem Ruderboot von Lene und ihren Freunden gefährlich nahe kam, haben sich Botho und sein Begleiter als Retter in der Not erwiesen. Diese Begebenheit auf der Spree macht zum einen deutlich, »how there is competition for the limited space available at such mass leisure locations.«222 Zum anderen stellt die soziale Homogenisierung als Folge der Demokratisierung in Räumen der Naherholung die Bedingung der Möglichkeit jener zufälligen Begegnung von Lene und Botho dar:223 »Leisure is clearly no longer the exclusive privilege of the aristocracy, and a site such as Stralau demonstrates how cross-class relationships can begin and take root (at least temporarily).«224 Indem hier ein Fluss buchstäblich den Boden der Bekanntschaft bereitet, ist diese zugleich als unbeständig und transitorisch gekennzeichnet: »Eine Begegnung zwischen den getrennten Sphären ist nur als ein transitorisches Zusammentreffen im Wasserbereich möglich, es ist eine momentane Verbindung jenseits dauerhafter Institutionen«225. Die Dampfschifffahrt auf der Spree ließ nicht allein Stralau zu einer »mass leisure location« avancieren: »Am Ufer der Spree häuften sich […] die Ausflugslokale, vorzüglich auf der Treptower Seite.«226 Eines jener »Treptower Etablissements« (JT, S. 110) sucht der junge Leopold in Frau Jenny Treibel täglich im Rahmen seines »auf Treptow zu gerichteten Morgenausflug[s]« (JT, S. 108) auf.227 Seiner Gesundheit wegen selber zu Pferd, offenbaren Treibels
222 Johnson, The Democratization of Leisure, S. 68. 223 Auf dieser Grundlage kann Downes These, das Setting, »wo sich Lene und Botho kennenlernen, [stelle] eine utopische Räumlichkeit dar, worin die sonst wirksamen Klassenschichtung vorläufig aufgehoben wird,« nur bedingt zugestimmt werden (Daragh Downes, Cécile. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 563–575, hier S. 573f.). 224 Johnson, The Democratization of Leisure, S. 68. 225 Müller, Schloßgeschichten, S. 39. 226 Ruth Westermann, Gastlichkeit und Gaststätten bei Fontane. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 20 (1969), S. 49–57, hier S. 53. 227 Der Text verzichtet darauf, das Lokal namentlich zu bezeichnen. Und obwohl es durch seine Lage am Treptower Spreeufer eigentlich hinreichend verortet ist, zeigt sich in der Forschung gleichwohl das Bemühen, selbst in solchen Fällen die Fontaneschen Topographien zweifelsfrei mit realweltlichen Toponymen zu identifizieren: »Es [das Lokal; M. B.] bleibt unbenannt, ist aber zweifellos das von Rudolf Zenner betriebene Gasthaus an der Spree, das unter dem Namen Zenner noch heute existiert« (Seiler, Fontanes Berlin, S. 99).
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auf dem Ritt getätigten Beobachtungen aber den schon früh am Morgen den Betrieb aufnehmenden Personenverkehr. Einem »vom andern Ufer« – also von Stralau – kommenden »kleine[n] Fährboot« (JT, S. 109) folgt ein »Pferdebahnwagen«, »drin, so viel er sehen konnte, keine Morgengäste für Treptow saßen.« (JT, S. 110) Die Erleichterung über den unbesetzten Wagen resultiert aus der Hoffnung, die Stille des Ausflugslokals nicht »durch ein halb Dutzend echte Berliner […] und ihre[ ] mitgebrachten Affenpinscher« (JT, S. 110) gestört zu finden. Die hier deutlich werdende »accessibility [Treptows; M. B.] via multiple means of transportation, from the ›Pferdebahn‹ […] to the steam ship«228 weist auf das Wechselverhältnis von Ausflugstourismus und vorhandener Infrastruktur hin. Dass schon am frühen Morgen die ersten Ausflügler auf dem Weg sind, beweist ein weiteres Dampfschiff, dessen Leopold Treibel von Treptow aus ansichtig wird: »Ein mit Personen besetzter Dampfer kam in diesem Augenblicke den Fluß herauf und fuhr, ohne an dem Wassersteg anzulegen, auf den ›neuen Krug‹ und ›Sadowa‹ zu; Musik war an Bord, und dazwischen wurden allerlei Lieder gesungen.« (JT, S. 116) Dies konfligiert mit Westermanns Feststellung, wenn sie zu Treibels Morgenausflug bemerkt: »Ehe die vollgepackten Dampfer ankamen, also am frühen Vormittag, herrschte erholsame Stille«229. Zwar werden die meisten Landpartien in Fontanes Romanen als Nachmittagspartien veranstaltet, doch kann auch Irrungen, Wirrungen bezeugen, wie zeitig manche Land- und Wasserpartie-Gesellschaften die Ausflugsziele erreichten. Als ein Beispiel können Bothos Kameraden und ihre Begleiterinnen angeführt werden, die bereits kurz nachdem Lene und Botho ihr Frühstück beendet haben, in Hankels Ablage eintreffen. Diese waren »zu früher Stunde schon, mit einem der kleineren Spreedampfer bis Schmöckwitz und von dort aus mit einem Seegelboote bis Zeuthen gefahren […]. Von Zeuthen aus habe man den Weg zu Fuß gemacht, keine zwanzig Minuten« (IW, S. 90). Die skizzierte Route demonstriert überdies, zu welch variantenreicher Mobilität die infrastrukturelle Vernetzung der Naherholungsräume führen konnte. Die Kehrseite jener ambitionierten Praxis für die hiesigen Dienstleister, das Exkursionsziel mit dem Dampfschiff möglichst frühzeitig anzufahren, verdeutlicht eindrücklich der Wirt in Hankels Ablage im Gespräch mit Botho, wenn er »sein eigenes Bild der Landpartie als eines touristisch-kommerziellen Phänomens entwirft«230:
228 Johnson, The Democratization of Leisure, S. 65. 229 Westermann, Gastlichkeit und Gaststätten bei Fontane, S. 53. 230 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 87.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume Aber wenn dann im Juni die Dampfschiffe kommen, dann ist es schlimm. Und dann bleibt es so den ganzen Sommer über oder doch eine lange, lange Weile. / […] / … Dann trifft jeden Abend ein Telegramm ein. ›Morgen früh 9 Uhr Ankunft auf Spreedampfer ›Alsen‹. Tagespartie. 240 Personen.‹ […] Einmal geht das. Aber die Länge hat die Qual. […] Jeden Abend um 11 dampft ein Dampfer mit 240 Personen ab und jeden Morgen um 9 ist ein Dampfer mit ebenso viel Personen wieder da. […] Natürlich hat alles auch sein Gutes und wenn man um Mitternacht Kasse zählt, so weiß man, wofür man sich gequält hat. (IW, S. 81f.)
Diese Schilderung des Wirtes offenbart, welchen Grad der Kommerzialisierung und der massenhaften Konsumierung der Tourismus im ausgehenden 19. Jahrhundert erreicht hatte. Zugleich benennt sie schonungslos die Folgen jenes geradezu fordistischen Verhältnisses von Produktion und Konsumtion auf die Gastronomen. Und auch die ›Physiognomie‹ der Orte und Landschaften bleibt dadurch nicht unangetastet: Während verkehrstechnisch nicht erschlossene Orte der Gefahr ausgesetzt waren, zu veröden und vom wirtschaftlichen Aufschwung des Tourismus ausgeschlossen zu bleiben,231 war eine andere Folge »[d]ie ›Entwertung‹ von Landschaften durch ihre massentouristische Erschließung durch die Eisenbahn«232 und die Dampfschifffahrt im 19. Jahrhundert. Die Gesellschaftsromane Fontanes und insbesondere die Landpartie-Episoden können als literarische Manifestationen der dem Tourismus seit jeher innewohnenden Ambivalenz gelten: Ein Tourismus, der auf der Vermarktung idealer provinzieller Räume beruht, bringt natürlich eine unvermeidliche Ambivalenz mit sich: Einerseits existieren diese Illusionen trotz der neuen technischen Infrastruktur, […] andererseits sind sie nur mit Hilfe eben
231 In den Wanderungen führt Fontane Rheinsberg als ein Beispiel dafür an, wie die unzureichende Verkehrsverbindung zu einem Mangel an Besuchern führt: »Rheinsberg von Berlin aus zu erreichen ist nicht leicht. Die Eisenbahn zieht sich auf sechs Meilen Entfernung daran vorüber, und nur eine geschickt zu benutzende Verbindung von Hauderer und Fahrpost führt schließlich an das ersehnte Ziel. Dies mag erklären, warum ein Punkt ziemlich unbesucht bleibt, dessen Naturschönheiten nicht verächtlich und dessen historische Erinnerungen ersten Ranges sind.« (GBA V/1, S. 265) – Neuhaus erkennt im letzten Nebensatz indes ein hierarchisches Prinzip, nämlich »dass Fontane hier wie später den Primat des Historischen vor dem NurLandschaftlichen festschreibt. Dies wird sein spezieller Kompass sein, mit dem er durch die Mark reist« (Stefan Neuhaus, Archäologie der Poesie. Überlegungen zum Kompositionsprinzip von Fontanes ›Wanderungen‹. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003 (= Fontaneana, Bd. 1), S. 397–415, hier S. 405). 232 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 43.
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dieser Infrastruktur zugänglich – die Provinz am Ende des neunzehnten Jahrhunderts also als modernes, marktorientiertes Simulacrum[.]233
Findet sich die Interferenz von Tourismus und seiner folgenreichen Vermarktung im Werk und insbesondere in den Berliner Gesellschaftsromanen Fontanes subtil und differenziert abgebildet, liefern die bereits zitierten Grüsse aus Berlin und Umgebung bei der Darstellung des Berliner ›Schlachtensees‹ ein besonders eindrückliches Textzeugnis für eine fragwürdig eindimensionale Perspektive. Denn wird – dem Genre entsprechend – über die ausgesprochene Besichtigungsempfehlung des Schlachtensees eine Schar von künftigen Ausflüglern auf den Weg gebracht und mit dem nötigen Exkursionswissen ausgestattet, wird zugleich die Begegnung mit anderen Besuchern verwünscht: Leider ist seine Waldeinsamkeit durch viele Vergnügungslokale […] gestört worden und wer des Sonntags hierher geht und den Lärm der tanzlustigen Jugend mit ansieht und hört, der empfindet nichts von dem weihevollen Zauber, der an stillen Tagen seinen dunklen Spiegel […] umweht. Einsam muss man in diesem lauschigen Winkel deutschen Waldes kommen, um seine Poesie und das Märchenhafte in ihm auf sich wirken zu lassen.234
Selbst wenn man die moralisierend-pejorative Perspektive auf die Sonntagsvergnügungen der jungen Generation ebenso übersieht wie die flankierende nationalistisch-romantisierende Naturschwärmerei, führt sich die Aufforderung, den Schlachtensee ›einsam‹ aufzusuchen, nicht zuletzt durch ihren Publikationskontext selbst ad absurdum. Ungeachtet dessen, welcher Reisemodus von den Figuren tatsächlich genutzt wird – sei es die Kutsche, die Eisenbahn oder das Dampfschiff – immer sind die Ausflugsorte integriert in ein professionell organisiertes und intern stark vernetztes Infrastruktursystem. Insofern können die Gesellschaftspartien in Fontanes Romanen als institutionalisierte Vergnügungsfahrten gelten, die »die ausgetretenen Wege des Ausflugstourismus beschreiten, der sich im Schatten Berlins entfaltet hat.«235 Mit dem skizzierten Wechselverhältnis von Ausflugstourismus und Infrastruktur ist bereits eine wesentliche Maxime eingeführt, die sich für die Topographien der Partien und ihre Gestaltung als entscheidend erweist: »die leichte und bequeme und billige Zugänglichkeit nimmt ihnen den Wert der Abgeschlossenheit.«236 Stets sind die angesteuer233 Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 158. 234 Grüsse aus Berlin und Umgebung, S. 422. 235 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 82. 236 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 42.
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ten Orte buchstäblich und im übertragenen Sinn »umtost […] vom Lärm der Lokomotiven«237, der Dampfschiffe und anderer Besucher.
4.2.3 Fahren und Erfahren: Durchreiste Topographien Mit den Romanen Schach von Wuthenow, Cécile und Der Stechlin finden sich drei Darstellungen unter den ausgewählten Texten Fontanes, die nicht allein die infrastrukturelle Erschließung demonstrieren und die topographische Hybridität der Schauplätze vor Ort gestalten; vielmehr wird auch die Durchquerung des Raumes, das Zurücklegen der Wegstrecke zu den Partieorten ausführlich präsentiert, so dass die literarische Raumdarstellung auch den Transitraum miteinschließt. In der Zusammenschau der Romane wird ersichtlich, dass mit diesen Texten eine für das Untersuchungsinteresse fruchtbare Trias gebildet ist: Durch die diegetische Datierung von Schach von Wuthenow auf das Jahr 1806 umfassen sie ein Zeittableau, das dem Beginn und dem Ende des 19. Jahrhunderts gewidmet ist. Damit korreliert – wie bereits gezeigt wurde – die in den Texten vorgeführte Form der Fortbewegung, die unter Verwendung der Kutsche in Schach von Wuthenow, der Eisenbahn in Cécile und des Dampfschiffs im Stechlin die zeithistorisch vorhandenen und üblichen Reiseformen abdeckt. Darüber hinaus wird im Folgenden zu zeigen sein, dass die verschiedenen Bewegungsmodi spezifische Wahrnehmungsweisen etablieren, die entscheidend die topographische Gestaltung des Reiseraums bedingen und beeinflussen.
4.2.3.1 »Schach von Wuthenow« In Schach von Wuthenow unternimmt die Gesellschaft ihre Spazierfahrt nach Tempelhof in Schachs privater Kutsche. Aus Sicht der wilhelminischen und zumeist bürgerlichen Leserschaft enthält die Textpassage zur Kutschfahrt damit geradezu die »Beschreibung einer vergangenen Form des Reisens«238. Anachronistisch konnte für zeitgenössische Rezipienten dabei in stadtgeschichtlicher Perspektive die Ländlichkeit Berlins anmuten, die mentalitätsund technikgeschichtlich konsequent in Form einer vorindustriellen Beförde-
237 Weber, Die literarische Landschaft, S. 363. 238 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 17.
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rungs- und Wahrnehmungssituation Gestalt gewinnt: »In raschem Trabe ging es, die Friedrichsstraße hinunter, erst auf das Rondel und das Hallesche Thor zu, bis der tiefe Sandweg, der zum Kreuzberg hinaufführte, zu langsamerem Fahren nötigte.« (SvW, S. 34) Mit den Toponymen Friedrichsstraße, Hallesches Thor und Kreuzberg werden eindeutige Berlin-Referenzen aufgerufen, die zur Verortung des Romans in der preußischen Residenzstadt beitragen. Indem es der Text bei der Nennung jener Toponyme belässt, bleibt eine Stadtdarstellung im eigentlichen Sinne jedoch aus. Dafür lenkt die zitierte Passage über die Erwähnung der Wegverhältnisse den Blick auf eine spezifische »Intensität des Reisens«239, die dem Gefährt der Kutsche im Gegensatz zur Eisenbahn und dem Dampfschiff eigentümlich war. Diese Intensität beruhte auf einer Wahrnehmung des Reiseraums, bei der sich weder ein »maschinelles Ensemble […] zwischen den Reisenden und die Landschaft«240 schob, noch – als Folge der technischen Geschwindigkeitssteigerung – die Etablierung eines modernen Modus der Wahrnehmung gefordert war.241 Das Reiseerlebnis in der Kutsche umfasste dabei nicht nur den gemäßigten Wechsel visueller Eindrücke, sondern vielmehr ein synästhetisches Erfahren der durchquerten Umgebung, wovon mannigfache (literar-)historische Reiseschilderungen Zeugnis ablegen können.242 »Nicht nur die Dörfer und Städte auf dem Weg werden beschrieben, nicht nur die Formationen der Landschaft, sondern bis in Details wie die materielle Beschaffenheit des Straßenpflasters geht die Wahrnehmung.«243 Dass die Materialität des Reiseweges entscheidenden Einfluss auf die Geschwindigkeit und mithin auf die Wahrnehmung der Umgebung zeitigt, verdeutlicht sich an Schach von Wuthenow: »Endlich war man den Abhang hinauf, und über den festen Lehmweg hin, der zwi239 Ebd., S. 52. 240 Ebd., S. 28. 241 Pelz betont in ihrer Studie die Abgeschlossenheit der Kutsche, die sie als Bedingung und Bedingtheit für die Geschichte weiblichen Reisens erklärt: »Durch das mitgeführte Gehäuse, das sich wie eine permanente und mobile Grenze einschiebt, zwischen den Körper der Reisenden und den durchreisten Raum, wird eine Reisende als ›Frauenzimmer‹ und als ›Hausfrau‹ transportabel« (Annegret Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln 1993 (= Literatur – Kultur – Geschlecht, Bd. 2), S. 69). 242 Nicht zuletzt Fontane selbst darf hier nicht unerwähnt bleiben: »Fontane war kein Wandervogel, vielmehr ein Spaziergänger […]. Aber er liebte Fahrten, nicht nur der bequemen, sondern vor allem der bewegten Wahrnehmungsweise wegen, die Orte, Felder, Wiesen, Wälder, Ufer, Seen und ganze Landschaften in gemächlichem Tempo und wechselnden Bildern vorüberziehen ließ« (Fischer, Theodor Fontane – Blicke auf die Landschaft, S. 182). 243 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 52.
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schen den Pappeln lief, trabte man jetzt wieder rascher auf Tempelhof zu.« (SvW, S. 34) In diesem Roman dient »eine zurückgeschlagene Halbchaise« (SvW, S. 33) als Gefährt, so dass die Partiegesellschaft den Reiseraum durch den Verzicht auf eine schützende Dachkonstruktion besonders intensiv erlebt. Dies bringt auf der einen Seite die Beschwerlichkeit mit sich, auch der Witterung ungeschützt ausgesetzt zu sein: So ist die Tante »bei dem Winde der ging, beständig bemüht […], ihren kleinen Mantelkragen in Ordnung zu halten« (SvW, S. 34). Auf der anderen Seite entfällt jegliche Kanalisierung des Blicks durch Kutschenfenster und aus dem offenen Wagen eröffnet sich eine panoramatische Sicht auf die Umgebung.244 »Victoire, die rückwärts saß […], war, als echtes Stadtkind, aufrichtig entzückt über all und jedes, was sie zu beiden Seiten des Weges sah« (SvW, S. 34). Dieses »all und jedes« wird allerdings nicht näher bestimmt – allein was aus der Figurenperspektive besonders affiziert, erfährt eine erzählerische Konkretisierung: »Am meisten amüsierten sie die seltsam ausgestopften Alt-Weiber-Gestalten, die zwischen den Sträuchern und Gartenbeeten umher standen, und entweder eine Strohhutkiepe trugen oder mit ihren hundert Papilloten im Winde flatterten und klapperten.« (SvW, S. 34) Das Amüsement, mit dem Victoire den Vogelscheuchen begegnet, kann seine Erklärung neben ihrer skurrilen Maskerade in der Synästhesie des Eindrucks finden, denn das ›Flattern und Klappern‹ kombiniert visuelle und akustische Reize. Auch Gestalt, Kostümierung und Nutzen der installierten Figuren mögen dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; zwar wird Victoire als »aufrichtig entzückt über all und jedes« bezeichnet, als »echtes Stadtkind« wird ihr ausdrückliches Interesse jedoch von den menschlichen Gestalten und nicht von Naturerscheinungen gefesselt. Das vertraut Anthropologische dominiert in ihrer Wahrnehmung über das unbekannt Natürliche. Angesichts der Tatsache, dass sich die Romanhandlung zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzieht, die räumlichen und sozialen Umstrukturierungsprozesse der Urbanisierung und Industrialisierung daher noch nicht stattgefunden haben respektive sich eine Zeitenwende wenn überhaupt allenfalls zaghaft andeutete, zeigt der Reiseraum in Schach von Wuthenow gleichwohl
244 Vgl. zur Analogie dieser Wahrnehmungssituation zum ›Moving Panorama‹ und unter Verweis auf Fontanes Technik der Reisebeschreibungen in den Wanderungen Nora Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane, Berlin/Boston 2011 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 8), S. 120ff., hier besonders S. 124; Fischer, Theodor Fontane – Blicke auf die Landschaft, S. 186.
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Anzeichen einer hybriden Topographie. Der Weg, den die Kutsche von Berlin nach Tempelhof nimmt, führt nicht durch idyllisch-natürliche Einsamkeit; stets bleibt der zivilisatorische Zugriff auf die ländliche Umwelt präsent. Die Vogelscheuchen in den Gartengrundstücken auf dem Kreuzberg sind eine visuelle und akustische Manifestation betriebener agrarischer Kultivierung des Geländes, deren Installation die Früchte jener Kultivierung dauerhaft sichern und erhalten sollen. Auch die nachfolgende Wegstrecke bringt die Figuren nicht mit einer unberührten Natur in (Blick-)Kontakt: »Neben der Straße stiegen Drachen auf, Schwalben schossen hin und her, und am Horizonte blitzten die Kirchthürme der nächstgelegenen Dörfer.« (SvW, S. 34) Die wenigen genannten Details gehören zu einem Bildrepertoire Fontanescher Landschaftsdarstellung;245 sie rekurrieren auf die visuelle Präsenz umliegender Siedlungen und damit auf die zivilisatorische Kolonisation des Raumes. Jener Fokus ist mit einer spezifischen Darstellungsperspektive verbunden, die explizit nach oben und in die Weite gerichtet ist. Die Dominanz der Weitsicht führt in der Konsequenz dazu, dass die Naturerscheinungen, die sich rechts und links in Augenhöhe und in unmittelbarer Nähe der Kutsche befinden, konstitutiv der Wahrnehmung entzogen bleiben müssen. Mit der Fokussierung des Blicks auf die Ferne wird letztlich ein Landschaftserlebnis konstituiert und vorweggenommen, wie es sich in Folge der dynamisierten Fortbewegung mit der Eisenbahn erst recht etablierte: »Man hat dem Blick aus dem Fenster des Eisenbahnabteils die Tiefenschärfe der vorindustriellen Wahrnehmung abgesprochen, weil durch die Geschwindigkeit die nahegelegenen Objekte sich verflüchtigen.«246 Die konstatierte Intensität, die das traditionelle Reisen in der Kutsche auszeichnete, aktualisiert sich in Schach von Wuthenow daher nur am Rande; vielmehr scheint der im Jahr 1806 spielende Roman moderne Wahrnehmungsmuster zu präfigurieren, die bewusstseins- und technikge-
245 Das Motiv steigender Drachen, verknüpft mit Tempelhof, begegnet in werkchronologischer Perspektive bereits in der kurzen Parodie Nach der Sommerfrische (1880): »Am liebsten aber auf die Höhen, ohne Rücksicht ob Tempelhof oder Tivoli. Da hast du Natur und Freiheit […] und siehst die Drachen steigen. Und dies ist das schönste. Denn je höher er steigt und je strammer und unsichtbarer die Strippe wird, desto sicherer sind wir eines Lebens- und Atmungsprozesses in einer reineren und allerreinsten Luft.« (GBA I/19, S. 20) Bei aller Ironie kann jene positive Konnotation des Drachenflugs – Freiheit, Freizeit, Ungezwungenheit – auch der Motivwahl im Kontext der Spazierfahrt in Schach von Wuthenow zugrunde gelegt werden. 246 Heinz Brüggemann, Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt am Main 1989, S. 208f.
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schichtlich in die Zukunft verweisen: Schon hier deutet sich »das Ende des Vordergrundes [an; M. B.], jener Raumdimension, die [eigentlich; M. B.] die wesentliche Erfahrung des vorindustriellen Reisens ausmacht.«247 Die vergleichsweise geringe Zahl topographischer Details, die im Verlauf der Spazierfahrt genannt werden, kann auch als Spiegel eines mangelnden Interesses gelten, mit dem die Figuren ihrer Umgebung begegnen. Im Laufe der Fahrt werden einzig noch die in der Ferne sichtbar werdenden Türme bzw. Dachkuppeln der Dorotheenstädtischen Kirche und des Charlottenburger Schlosses, erneut kulturelle Manifestationen, erwähnt. Diese bieten der Partiegesellschaft allerdings wenig mehr als einen Anlass und Stoff zu geselliger Plauderei: Wie sich die architektonischen Bauten als Konstituenten in die Landschaft einfügen, wird nicht vergegenwärtigt; das Gespräch und damit auch das erzählerische Interesse bleiben auf die Ferne und auf sich der Ansicht gänzlich entziehende Gegenstände gerichtet, anstatt den unmittelbaren Landschaftsraum zu erörtern. Die Ergänzung um gerade jene beiden Toponyme (Kirche und Schloss) verhilft überdies zu einer weiteren zeitlichen und räumlichen Lokalisierung des Romans sowie seines mentalitätsgeschichtlichen Klimas, rekurrieren beide Bauten doch zum einen auf den Protestantismus und zum anderen auf die Monarchie, womit die zwei tragenden Säulen des preußischen Staates und Selbstverständnisses selbst auf der Landpartie nach Tempelhof präsent bleiben.248 4.2.3.2 »Cécile« Die Eisenbahnfahrt, mit der Fontane seinen Roman Cécile beginnen lässt, nimmt ihren Ausgang an einem Berliner Bahnhof, so dass die erste Wegstre247 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 61. – Die These liegt nahe, dies auf den Autor Fontane rückzubeziehen, der aufgrund seiner Zeitzeugenschaft moderne Wahrnehmungsmuster internalisiert und entsprechende Beschreibungsmodi schon bei seinen Gängen und Fahrten in den Wanderungen aufgegriffen hatte. Vgl. dazu auch Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 119ff.; Philipp Frank, Erlebnisreisen – Fontanes ›Wanderungen‹ in wahrnehmungstheoretischer Sicht. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003 (= Fontaneana, Bd. 1), S. 111–122. 248 Kurz nach der Spazierfahrt veranlasst der König sodann eine große Militärparade auf dem Tempelhofer Feld, so dass rückwirkend die Topographie des Müßiggangs buchstäblich als Feld fungiert, die politisch-militärische und ideologische Macht Preußens zu demonstrieren (vgl. SvW, S. 71).
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cke, die das Ehepaar St. Arnaud zu ihrer Harzer Sommerfrische zurücklegt, diesen urbanen Raum durchqueren muss. Die Topographie, die zunächst am Abteilfenster vorbeizieht und derer die Figuren ansichtig werden, ist demgemäß eine Großstadtlandschaft: »Die Reiseschilderung bietet ReichshauptstadtImpressionen aus Coupéfenster-Blickwinkel«249. Durch die Bahngeleisführung handelt es sich hierbei um besondere Reiseeindrücke – ungewöhnliche Einsichten werden den Figuren gewährt, die sonst den Blicken entzogen bleiben: Es hatte die Nacht vorher geregnet, und der am Fluß hin gelegene Stadttheil, den der Zug eben passirte, lag in einem dünnen Morgennebel, gerade dünn genug, um unseren Reisenden einen Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offen stehenden Schlafstubenfenster zu gönnen. Merkwürdige Dinge wurden da sichtbar, am merkwürdigsten aber waren die hier und da zu Füßen der hohen Bahnbögen gelegenen Sommergärten und Vergnügungslokale. Zwischen rauchgeschwärzten Seitenflügeln erhoben sich etliche Kugel-Akazien […]. Ein Handwagen, mit eingeschirrtem Hund, hielt vor einem Kellerhals und man sah deutlich wie Körbe mit Flaschen hinein und mit eben so viel leeren Flaschen wieder hinausgetragen wurden. In einer Ecke stand ein Kellner und gähnte. (C, S. 6)
Häufig bildete diese Textpassage in der Forschung schon Anlass zur Interpretation, denn es ist gewiss, dass es sich keineswegs um scheinbar »zufällige Einzelheiten einer Großstadtdarstellung« handelt, sondern diese »im Kontext der Erzählung […] bedeutsam« werden und gerade »in bezug auf diese Reisenden eine erzählerische Tiefenschärfe«250 erhalten. Brüggemann sieht in den »Konstellationen von Vorderseite und Rückseite, Innen und Außen, Offenheit und Verschlossenheit, Sichtbarkeit und Verborgenheit«251 die zentralen thematischen und erzähltechnischen Maximen des Romans repräsentiert; ebenso Downes, der hier paradigmatisch das für den Roman zentrale »Thema der Optik« abgebildet findet: »Diesen privilegierten Einblick in die Intimsphäre Fremder gewinnt ausgerechnet ein den Lesern noch fremdes Paar, dessen eigene Intimsphäre bald durchsichtiger wird. So wendet sich das Interesse vom Beobachteten zu den Beobachtern.«252 Stephan macht hingegen 249 Rohse, Harztouristen als literarische Figuren, S. 191. 250 Brüggemann, Das andere Fenster, S. 209. 251 Ebd., S. 210. 252 Downes, Cécile, S. 568. Vgl. zu diesem Motiv- und Erzählkomplex auch Eda Sagarra, Vorurteil im Fontaneschen Erzählwerk. Zur Frage der falschen Optik in ›Cécile‹. In: Roland Berbig (Hrsg.), Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen, Frankfurt am Main 1999 (= Literatur – Sprache – Religion, Bd. 3), S. 121–136; Sascha Kiefer, Der determinierte Beobachter. Fontanes ›Cécile‹ und eine Leerstelle realistischer Programmatik. In: Literatur für Leser 26 (2003), S. 164–181.
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auf die versteckten, sexuell-erotischen Konnotationen aufmerksam, die auf die Protagonistin rückbezogen sind: »Diese Szene kann als Auftakt gesehen werden zu einer den ganzen Text durchziehenden unterschwelligen Erotisierung Céciles«253. Als relevant erscheint überdies die Wahrnehmungssituation aus dem Abteilfenster einer fahrenden Eisenbahn: »Es handelt sich hierbei […] nicht mehr um ein Wahrnehmen von, sondern um ein Wahrnehmen in Bewegung, bei dem der Technik elementare Bedeutung zukommt. Sie ist das Medium des Wahrnehmens.«254 Für das vorliegende Untersuchungsinteresse erweist sich als entscheidend, welche »zivilisatorischen Details«255 als Konstituenten der Stadttopographie Erwähnung finden. Neben den Wohnstätten der Bevölkerung geraten dabei besonders »Sommergärten und Vergnügungslokale« in den Blick, die auf die institutionalisierte Freizeit- und Vergnügungskultur rekurrieren – im vorliegenden Fall die eines »kleinbürgerlich-proletarischen Milieu[s]«256. Nicht nur die Detailfülle verleiht diesen Beobachtungen Gewicht; Anteil daran trägt auch, dass diese der Wahrnehmungsinstanz »am merkwürdigsten« erscheinen. Während dies zum einen auf die Sichtbarkeit sonst verborgen bleibender Seiten des gastronomischen Gewerbes von Einkauf und Lagerung zurückgeführt werden kann, zeichnet dafür zum anderen gewiss auch die Differenz sozialer Milieus von Betrachtenden und Betrachteten verantwortlich. Schließlich ergänzt im Folgenden die Nennung des Zoologischen Gartens und seiner Elefantenhäuser die Darstellung urbaner Freizeitkultur noch um eine mondänere Institution, während die Reichshauptstadt als politisch-militärisches Machtzentrum durch das Kriegsdenkmal der Siegessäule verkörpert wird (vgl. C, S. 6f.). Indem die städtische Topographie aus dem Fenster eines fahrenden Zuges wahrgenommen wird, fällt die Vergegenwärtigung der Szenerie mit einer räumlichen Distanzierung zusammen. War der Kutschfahrt ein direkteres und intensiveres Erfahren des Reiseraumes eigentümlich, hebt die Eisenbahnfahrt diese Unmittelbarkeit auf und führt konstitutiv eine Trennung herbei, denn »das maschinelle Ensemble schiebt sich zwischen den Reisenden und die Landschaft.«257 Die distanzierte Position, in der sich das Ehepaar St. Arnaud als Eisenbahnreisende somit gegenüber der außen vorbeiziehenden Stadt befindet, verweist sinnbildlich auf ihre soziale Ausgrenzung, die sich zu Beginn
253 Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan‹, S. 129. 254 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 176. 255 Brüggemann, Das andere Fenster, S. 209. 256 Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan‹, S. 128. 257 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 28.
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des Romans allerdings noch der Kenntnis des Lesers entzieht. Ihre prekäre Vergangenheit verdammt sie dazu, Außenseiter im Berliner Gesellschaftsleben zu bleiben und die Harzer Sommerfrische stellt einen Versuch dar, dieser Erfahrung der Ausgrenzung eine Zeit lang zu entkommen. Der dynamische Wechsel visueller Eindrücke, der aus der Geschwindigkeit der Fortbewegung resultiert, bildet dabei die wachsende räumliche Distanz sprachlich ab: Was eben noch gegenwärtig und daher sichtbar war, ist im nächsten Moment bereits der Wahrnehmung entzogen und liegt weit zurück. Die Bewegungsrichtung scheint somit zu suggerieren, dass die Figuren mit der Eisenbahn die Stadt hinter sich zurücklassen und mit ihr die topographisch vergegenwärtigte Attribuierung als Ort von Öffentlichkeit und Geselligkeit. Der Fortgang des Romans wird allerdings zeigen, dass dies nur bedingt der Fall ist, denn in Folge seiner bequemen Erreichbarkeit mit der Eisenbahn war Thale, wie bereits gezeigt, ein beliebtes Ferienziel der Großstädter und touristisch vollständig erschlossen. In Thale begegnet das Ehepaar einer Enklave mehrheitlich Berliner Gesellschaft und partizipiert, wenn anfangs auch zögerlich, an ihren geselligen Zusammenkünften und Aktivitäten. Die Korrelation von urbaner Topographie und dem spezifischen Wahrnehmungsmodus ihrer Vergegenwärtigung zu Beginn des Romans eröffnet im Wissen um den Fortgang der Handlung einen Hintersinn. Anstatt das Verlassen der Stadt mit der Abkehr von Öffentlichkeit und Geselligkeit zu parallelisieren, deutet der Fokus auf die Berliner Freizeit- und Vergnügungskultur vielmehr auf die Kontinuität dieses Motivkomplexes voraus, wobei das Verkehrsmittel der Eisenbahn als verbindendes Element fungiert: »Noch die Sommergärten zu Füßen der hohen Bahnbögen, eingeschlossen von rauchgeschwärzten Seitenflügeln, zeigen die Sommerfrische im Harz, den Ort der Verborgenheit, bedrängt von der fortwirkenden Gegenwart der Großstadt, eingeschlossen in den architektonischen Raum der Eisenbahn-Zeit.«258 Da Anfangs- und Endbahnhof der unternommenen Reise in Cécile von Beginn an bekannt sind, konturiert die präsentierte Eisenbahnfahrt die den Roman konstituierende räumliche Oppositionsstruktur ›Stadt – Land‹. Der Übergang vollzieht sich prozessual, zunächst verändert sich die urbane Topographie, die durch den Wechsel von Enge zu Weite das Verlassen der Stadt ankündigt: »Bald aber war man aus dieser Straßen-Enge heraus und statt ihrer erschienen weite Bassins und Plätze« (C, S. 6). Parallel dazu nimmt auch die Detailfülle der topographischen Darstellung ab: Spiegelt dies erzählerisch einerseits den gemäßigteren Wechsel singulärer visueller Eindrücke wider, die sich aus dem Abteilfenster ergeben, korreliert damit andererseits ein abneh258 Brüggemann, Das andere Fenster, S. 211.
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mendes Interesse der beiden Reisenden an der vorbeiziehenden Landschaft. Während Cécile »an dem offenen Fenster, wenn auch freilich nur zur Hälfte, das Gardinchen herunter[lässt]«, beginnt der Oberst »eine mit dicken Strichen gezeichnete Karte zu studieren« (C, S. 7), bevor er wenig später in »einem Reisehandbuch zu lesen begann« (C, S. 7f.). St. Arnaud konfiguriert damit ein gängiges Verhaltensmuster zeitgenössischer Passagiere: »Die Lektüre während der Reise wird zum Signum des Eisenbahnreisens.«259 Der Grund für diese Praxis fußt in der erhöhten Geschwindigkeit, die das Reisen mit der Eisenbahn gegenüber dem vorindustriellen Kutschenverkehr auszeichnete. Mit demselben rasanten Tempo, mit dem die Eisenbahn den Reiseraum durchquerte, fegte sie habitualisierte Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster hinweg: »An die Stelle einer Kontaktaufnahme zu ›Land und Leuten‹ aus der sich von Dorf zu Dorf, durch Landschaft zu Landschaft durcharbeitenden Kutsche trat die über die Landschaft hinwegstürmende Eisenbahn.«260 Das Reisen mit der Eisenbahn bewirkte demgemäß eine doppelte Verlusterfahrung, die sowohl das unmittelbare Erleben des Reiseraums als auch das Vermögen betraf, diesen Reiseraum in seiner konkreten Gestalt überhaupt visuell erfassen zu können. Die Rasanz, mit der die Landschaft am Abteilfenster vorbeizog, ließ »alle Versuche, den Wahrnehmungsapparat des überlieferten landschaftsintensiven Reisens unverändert in die Eisenbahn zu übertragen« scheitern und mündete zunächst in der »Unfähigkeit, eine dem technischen Stand adäquate Sehweise zu entwickeln«261. Der Blick, der vorher auf die äußere Welt gerichtet war, richtet sich in Folge der visuellen Überforderung in das Innere des Abteils und insofern die Landschaftsbetrachtung als Beschäftigung und Zeitvertreib hinfällig wurde, verlangte es nach Alternativen: »Dem Schauen entzog sich die Landschaft. Der Blick wandte sich ab, die verschwundene Beschaulichkeit konnte im günstigsten Fall durch Lektüre ersetzt werden.«262 Zunächst aus der Not geboren avancierte die Lektüre zu einer populären Reisebeschäftigung, selbst nachdem es der Wahrnehmungsapparat vermocht hatte, eine adäquate Sehweise zu entwickeln. Während sich das Ehepaar in Cécile zu seiner Erleichterung allein in einem Abteil befindet und die unterschiedlichen Beschäftigungen während
259 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 62. 260 Dieter Vorsteher, Bildungsreisen unter Dampf. In: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer et al. (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 304–311, hier S. 308. 261 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 56. 262 Vorsteher, Bildungsreisen unter Dampf, S. 308.
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der Reise auf sein entfremdetes Verhältnis verweist, war die Lektüre auch in historischer Perspektive »ein Versuch, die nicht mehr zustande kommende Unterhaltung zu ersetzen.«263 Denn war die Kutschfahrt »durch eine lebhafte Kommunikation der Reisenden untereinander geprägt«, so »macht[e] die Eisenbahn [damit] Schluß«264, indem das gemeinschaftliche Reise- und Landschaftserlebnis als Kommunikationsgegenstand bei der Eisenbahnfahrt verlustig ging. Nicht allein der Umstand, dass sich St. Arnaud während der Fahrt in die Lektüre vertieft, entspricht einem gängigen Habitus, sondern auch die Art seiner Lektüre. Das Studium von Reisehandbüchern, die gleichermaßen den Transiträumen wie auch den Zielorten gewidmet sein konnten, stellte den Versuch dar, einen Ersatz für das verloren gegangene vorindustrielle Reiseerlebnis und das sensuelle Informationsdefizit zu schaffen: »Die Aneignung der Route, die der Reisende in der Kutsche peu a peu vollzieht, findet – durch das Eisenbahnfenster hindurch – nicht mehr statt. Die Kontaktlosigkeit, die der durchreiste Raum hinterließ, erzeugte eine eigenartig ›leere‹ Reiseerfahrung, die mittels lehrreicher Lektüre kompensiert werden sollte.«265 Die »Kontaktlosigkeit« resultiert zudem aus der mangelnden Interaktion mit den Mitreisenden – sei es, weil es sich um Fremde handelt oder, wie im Falle von Fontanes Cécile, um einander fremd gebliebene Eheleute. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann schenkt Cécile der vorbeiziehenden Landschaft mehr Aufmerksamkeit, ihr Interesse nimmt jedoch ab, als der Zug nach einem letzten Halt in Potsdam endgültig den städtischen Raum verlässt. Darin findet ihre wehmütige Faszination für das gesellschaftlichgesellige Leben in der Metropole Ausdruck, von dem sie ausgeschlossen ist; außerdem signalisiert »der Mattigkeitsausdruck ihrer Züge« (C, S. 7) ein Ruhebedürfnis, das als Reaktion auf die Reizfülle der Sinneserfahrung verstanden werden kann. »Es verging eine Weile, dann öffnete sie die Augen wieder und sah in die Landschaft hinaus, die beständig wechselte: Saaten und Obstgärten, und dann wieder weite Heidestriche.« (C, S. 8) So kurz die topographische Angabe auch ausfällt, wird über den Rekurs auf die unterschiedlichen Landschaftstypen dennoch ein Raummodell entworfen, das in der Zusammenschau eine räumliche Hybridität aus Natur und Kultur konstituiert. Denn repräsentieren »Saaten und Obstbäume« die agrarische Nutzbarmachung der Natur, verweisen die »weiten Heidestriche« gemäß ihrer wenig ertragreichen Böden auf ihre relative zivilisatorische Unberührtheit. 263 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 72. 264 Ebd., S. 71. 265 Vorsteher, Bildungsreisen unter Dampf, S. 308.
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Darüber hinaus »schildert Fontane den Blick auf dem fahrenden Zug so, als ändere sich das Gesehene, nicht der Standort des Betrachters«266. Die während der Eisenbahnfahrt gewährten Landschaftsansichten, die »beständig wechselten«, gemahnen mithin an Sehweisen, wie sie dem ›Moving Panorama‹ und später dem Film eigneten: Man »bewegt sich fort, und was vorbeizieht ist wie ein Film vor der Erfindung des Films, in Bewegung geratenes Panorama. Man muß die lange Passage am Anfang von ›Cécile‹ nachlesen […], um sich das alles ad oculus zu demonstrieren.«267 Auf die Beobachtung von Saaten, Obstgärten und Heidestriche folgt ein Dialog des Ehepaars, dessen unmittelbare Präsentation im dramatischen Modus nur an zwei Stellen von einem Erzählerkommentar ergänzt wird. Indem das Gespräch nicht die vorbeiziehende Landschaft behandelt, gerät die Außenwelt daher erst im Anschluss wieder in den Blick: »Und nun stockte das Gespräch wieder und in immer rascherem Fluge ging es, erst an Brandenburg und seiner Sankt Godehards-Kirche, dann an Magdeburg und seinem Dome vorüber.« (C, S. 9) Die Schilderung verweilt nun ausschließlich bei jenen Orten, die einen Haltebahnhof auf der Wegstrecke ausmachen. Ergänzt wird die Nennung der Toponyme allein durch den jeweiligen Kirchenbau, der als weithin sichtbare Landschaftsmarke metonymisch eine städtische Topographie anzeigt. Im Ausblenden der dazwischen liegenden Landschaften kommt ebenfalls ein im Kontext der Eisenbahnreise entstandenes Wahrnehmungsmuster zum Ausdruck; die Fahrgeschwindigkeit entzieht den Reiseraum einer konkreten Kenntnisnahme, dieser »verschwindet im Eisenbahntransport.«268 Allein die Haltebahnhöfe und ihre unmittelbare Umgebung können durch ihren Status als fixe Standpunkte eine Registrierung für sich beanspruchen: »Indem der Raum zwischen den Zielorten, der traditionelle Reiseraum, vernichtet wird, rücken diese unmittelbar aneinander, sie prallen geradezu aufeinander.«269
266 Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 183. 267 R.[ichard] Brinkmann, Der angehaltene Moment. Requisiten – Genre – Tableau bei Fontane. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 360–380, hier S. 369. – Frank konstatiert schon für die Wanderungen filmisch anmutende Darstellungen, die er mit dem Gebrauch verschiedener Verkehrsmittel in Verbindung bringt: »Auf jeden Fall finden wir Reisemittel wie Eisenbahn, Dampfschiff und Pferdewagen immer wieder für die Realisierung spezifischer, mitunter präfilmischer Wahrnehmungserlebnisse instrumentalisiert, was die ›Wanderungen‹ als wahre Erlebnisreisen erscheinen läßt« (Frank, Erlebnisreisen, S. 122). 268 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 39. 269 Ebd.
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Der konstatierte Fokus auf kulturlandschaftliche Konstituenten nimmt dabei zu, je näher der Zug dem Harzer Ferienort kommt. Die Gebirgslandschaft selbst wird lediglich an zwei Stellen vergegenwärtigt und dabei jeweils mit Gegenständen der Kultur und Technik assoziiert: So erklärt sich die Drosselung der Fahrgeschwindigkeit, »weil sich die Steigung fühlbar zu machen begann« (C, S. 9), während für die Erwähnung Quedlinburgs und seiner Kirche der Brocken den Hintergrund bildet. Man »fuhr […] jetzt auf Quedlinburg zu, hinter dessen Abteikirche der Brocken bereits aufragte.« (C, S. 9) Selbst als erneut die Landschaft topographische Gestalt gewinnt, zeigen sich unverkennbar Eingriffe in die Natur: »Das Land, das man passirte, wurde mehr und mehr ein Gartenland,« in dem sich »Blumenbeete durch die weite Gemarkung« (C, S. 9) ziehen. Dass in der skizzierten Hybridität der Topographien, die entlang der Geleisstrecke vergegenwärtigt werden, kulturelle Manifestationsformen die Wahrnehmung dominieren, kann – losgelöst von dem zeithistorischen Landschaftsrelief der realen Räume – konzeptionell wie folgt zusammenfassend begründet werden: Mag das Wissen um die Unternehmung einer Harzer Sommerfrische anfangs die Erwartung schüren, die Figuren begegneten während und am Ziel ihrer Reise einem unberührten und erhabenen Naturraum, wird diese Vorstellung bereits durch die Eisenbahnfahrt und die durchquerte Topographie unterlaufen, die vielmehr die zivilisatorische, technische und touristische Erschließung des Reiseraums abbildet und die des Mittelgebirges ankündigt. Bedenkt man darüber hinaus Fontanes Erzähltechnik, Natur- und Landschaftsdarstellungen konstitutiv an die Wahrnehmungsperspektive der Figuren rückzubinden,270 gerät topographisch demzufolge in den Blick, was die Aufmerksamkeit der Figuren fesselt. Als Großstadtbewohner lenken die Figuren ihre Wahrnehmung primär auf Kulturerscheinungen; die Landschaftsdarstellungen sind rar, verglichen mit der Stadttopographie entbehren sie jedes Detailreichtums und belaufen sich auf geringfügige Spezifizierungen – so dass im Hinblick auf den Fortgang der Romanhandlung konstatiert werden kann: »Bereits die Eingangsszene des Romans, in der beide den Blick nach draußen für entbehrlich halten, widerspricht der Erwartung, mit der das Paar die Reise in den Harz begonnen hat.«271 Die Natur erfährt weder besonderes Interesse, noch erscheint sie als positiv besetzter Gegenraum zu
270 Vgl. dazu auch Kapitel 4.3.3.1 der vorliegenden Studie. 271 Rolf-Peter Janz, Literarische Landschaftsbilder bei Fontane. In: Hugo Aust, Barbara Dörlemeyer et al. (Hrsg.), Fontane, Kleist und Hölderlin. Literarisch-historische Begegnungen zwischen Hessen-Homburg und Preußen-Brandenburg, Würzburg 2005, S. 95– 105, hier S. 99.
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Kultur und Zivilisation, weshalb die Unternehmung einer Sommerfrische und die Hoffnung auf kurative Effekte schon vor Ankunft in Thale zweifelhaft erscheinen. 4.2.3.3 »Der Stechlin« Mit der Nachmittagspartie zum Eierhäuschen im Stechlin findet in Fontanes Romanwerk auch die verkehrstechnische Erscheinung der Dampfschifffahrt eine letzte und ausführliche Darstellung. Kündet bereits die gewählte Fortbewegung von einem hochtechnisierten und industrialisierten Entwicklungsstand, legt davon unwiderruflich die durchfahrene Topographie Zeugnis ab: »Einblick in das industrielle Berlin gewährt die Fahrt über den im Südosten liegenden Teil der Spree.«272 Indem die Fahrt an der Dampfschifffahrtsstation Jannowitzbrücke beginnt, wird jedoch zunächst ein Blick auf »die Nikolaikirche, die Petrikirche, die Waisenkirche, die Schloßkuppel« und den »Rathausturm« (DS, S. 161) gewährt, so dass – wie bei Schach von Wuthenow und Cécile – insbesondere über die Landschaftsmarken der Sakralbauten städtische Topographie vergegenwärtigt wird. Dass die Jannowitzbrücke geradezu an einem Schnittpunkt ›alter‹ und ›moderner‹ Berliner Baugeschichte lag, verdeutlicht ein zeithistorischer Blick auf die Umgebung des gleichnamigen Stadtbahnhofes: »Alles, was von diesem Bahnhof nordwestlich, westlich und südwestlich liegt, gehört zum kurfürstlichen Berlin; während das nach Süden, Osten und Nordosten gelegene dem vorigen und gegenwärtigen Jahrhundert seine Entstehung verdankt.«273 Auch wenn die Landpartie-Gesellschaft im Stechlin mit ihrer Dampferfahrt zum Eierhäuschen einen überaus populären Vergnügungsausflug nachvollzieht, kommt diese Tatsache im Text nur bedingt zum Ausdruck. Zwar gibt die bequeme Schifffahrtsverbindung implizit darüber Aufschluss, dass hier keineswegs Neuland betreten respektive befahren wird, und doch umweht die Unternehmung ein Hauch von Exklusivität. Verantwortlich dafür zeichnet die Erzählperspektive, die allein auf den feudalen Figurenkreis gerichtet bleibt und die Existenz anderer Schiffspassagiere oder Gartenlokalgäste konsequent ausblendet.274 Auch die Unkenntnis über das Ziel der Unterneh272 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 81. 273 Dominik, Quer durch und ringsum Berlin, S. 94. 274 Bei Seiler findet sich eine historische Illustration der Schiffsanlegestelle Jannowitzbrücke, die den eigentlich massenhaften Ausflugsverkehr eindrücklich abbildet und zur ausblendenden Darstellung Fontanes in großem Kontrast steht. Siehe dazu Seiler, Fontanes Berlin, S. 172.
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mung, in der sich die Gesellschaft mit Ausnahme Woldemars von Stechlin befindet, trägt dazu bei, dass die Partie zur »so sonderbar benamste[n] Spreeschönheit« (DS, S. 160) des Eierhäuschens der Aura des lärmenden Ausflugstourismus entzogen wird. Erst kurz vor dem Anlegen an der Dampfschifffahrtstation des Eierhäuschens werden die insbesondere von Melusine von Barby gehegten Erwartungen durch Woldemar empfindlich relativiert: »Sie rechnen auf etwas extrem Idyllisches und erwarten […] einen Mischling von Kiosk und Hütte. Da harrt Ihrer aber eine grausame Enttäuschung. Das Eierhäuschen ist ein sogenanntes ›Lokal‹, und wenn uns die Lust anwandelt, so können wir da tanzen oder eine Volksversammlung abhalten. Raum genug ist da.« (DS, S. 166) In dieser Verkennung der tatsächlich vorzufindenden Landpartieinstitution kann eine mögliche Erklärung gefunden werden, weshalb das Eierhäuschen von den feudalen Familien Barby und Berchtesgaden überhaupt als Ziel der Unternehmung ausgewählt wurde, »denn das Lokal ist für diese Gesellschaft mehr volkstümlich als standesgemäß.«275 Dank guter Witterungsverhältnisse vermag es die Landpartie-Gesellschaft, die Dampferfahrt an Deck zu verbringen: »Das Wetter war prachtvoll, flußaufwärts alles klar und sonnig, während über der Stadt ein dünner Nebel lag. Zu beiden Seiten des Hinterdecks nahm man auf Stühlen und Bänken Platz und sah von hier aus auf das verschleierte Stadtbild zurück.« (DS, S. 161) Diese Platzierung der Figuren im Freien sowie auf dem Heck des Schiffes zeitigt für ihre Wahrnehmung der Umgebungen wichtige Konsequenzen: Die eingenommene Perspektive, die entgegen der eigentlichen Fahrtrichtung rückwärtsgewandt ist, spiegelt einerseits die Ungewissheit über das Fahrtziel wider, dem sich die Figuren buchstäblich blind, mit dem Rücken zugekehrt, nähern. Andererseits bleibt der Fokus auf die Großstadt gerichtet, die den Lebens- und Erfahrungshorizont der Figuren repräsentiert und aus der sich ihr Blick allmählich ›herauszoomt‹. Damit ist die Metropole als Referenzpunkt der Figuren markiert, dem sie auch wahrnehmungspsycho-
275 Ebd. – Kloepfer konstatiert insgesamt, dass »die Konversation der […] Ausflugsteilnehmer die Welt – oder Weltferne – des gebildeten Adels lebendig werden läßt. Hier wird offensichtlich, daß die politisch weitgehend desinteressierte Berliner Oberschicht zwar über alle Grenzen hinweg Kunst und Sitten der europäischen Kulturvölker zu zitieren weiß, im übrigen jedoch angesichts« des industriellen Berliner Umlandes »kapitulieren muß« (Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 81). Die fehlende Kenntnis auf Seiten der Barbys und Berchtesgadens, die Woldemar von Stechlin durch sein Wissen zu kompensieren vermag, kann textintern allerdings schlüssig damit erklärt werden, dass beide Familien lange in London gelebt haben und das Berliner Umland von ihnen daher mit einiger Legitimität als unbekanntes Gefilde erfahren werden kann.
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logisch verpflichtet bleiben – über habitualisierte perzeptive Muster, die ihre Welterfahrung maßgeblich konfigurieren. Eine wichtige Funktion für die konstatierte, kinematographisch anmutende Betrachtungsweise übernimmt die Fortbewegung mit dem Dampfschiff: »Letzteres ist für die Bewegung der Bilder, den Bildwechsel, maßgeblich, denn die Bewegung ist beinahe so etwas wie der Entwickler dieses Wahrnehmungserlebnisses, das […] beinahe filmisch anmutet«276. Auch das Dampfschiff konstituiert also ein spezifisches Wahrnehmungserlebnis, so dass der technische Fortschritt in Gestalt des Eisenbahn- und des Dampfschiffverkehrs in Fontanes Werk gemäß Frank in doppelter Hinsicht in Erscheinung tritt: »Wir begegnen ihm nicht nur als Wahrnehmungsinhalt, sondern auch als Wahrnehmungsform.«277 Mit der Dampferfahrt im Stechlin gelingt es Fontane, »ein traditionelles Moment der Stadtbeschreibung mit der modernen Erfahrung der Stadt in der Bewegung zu verbinden.«278 Die Dynamisierung, zentral für die Wahrnehmungsform, wirkte sich bei den beiden Verkehrsmitteln indes verschieden auf den Wahrnehmungsinhalt aus: »Im Unterschied zur Geschwindigkeit der Eisenbahn stellte die der Dampfschiffe aber nicht das Landschaftserlebnis in Frage.«279 Neben der gemäßigteren Geschwindigkeit war dafür auch die andere Wahrnehmungsposition des Reisenden von Bedeutung, die die Fahrt mit dem Dampfschiff grundsätzlich von der Reise im Eisenbahnabteil unterschied. So »eröffnete die Schiffsreise eine grundsätzlich andere Perspektive. Vom Bug der Dampfschiffe konnte der Reisende die Route, das Vordringen in neues Terrain erspähen.«280 Zwar wurde bereits festgestellt, dass diese Perspektive vom Bug des Dampfschiffes im Stechlin auf der Hinfahrt nicht zur Darstellung kommt; dafür bezeugt jedoch die Ausführlichkeit der topographischen Gestaltung, wie das Landschaftserlebnis von der gedrosselten Geschwindigkeit und dem Aufenthalt im Freien profitierte, respektive wie die geringere Geschwindigkeit des Dampfschiffes und der Aufenthalt im Freien das Landschaftserlebnis in dieser Intensität überhaupt erst ermöglichten. Die Intensität vergegenwärtigt sich z. B. in der Kombinatorik visueller und akustischer Reize, wie das Ablegemanöver des Dampfschiffes zu belegen 276 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 176. 277 Ebd. 278 Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur, S. 153. 279 Monika Wagner, Ansichten ohne Ende – oder das Ende der Ansicht? Wahrnehmungsumbrüche im Reisebild um 1830. In: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer et al. (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 326– 335, hier S. 334. 280 Ebd.
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vermag: »Und nun schlug es vier. Von der Parochialkirche her klang das Glockenspiel, die Schiffsglocke läutete dazwischen, und als diese wieder schwieg, wurde das Brett aufgeklappt, und unter einem schrillen Pfiff setzte sich der Dampfer auf das mittlere Brückenjoch zu in Bewegung.« (DS, S. 162) Diese Klangkollage evoziert bei aller kakophonischen Anmutung ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Kultur und Technik.281 Auf das harmonische Glockenspiel der Kirche ›antwortet‹ zunächst das technische Pendant der Schiffsglocke und führt zu einem Zusammenklang des Läutens. Da das Ablegen des Dampfers eines eindeutig vernehmbaren Signals bedarf, ertönt schließlich der schrille Pfiff, der sich vom Glockenspiel kurz und prägnant akustisch abhebt und einen »Kontrast, die Dissonanz ihrer konkurrierenden Gegenwart«282 etabliert. Als sich der Dampfer schließlich in Bewegung gesetzt hat, dominieren fortan visuelle Eindrücke, die jedoch das zuvor akustisch evozierte Nebeneinander von Kultur und Technik bestätigend fortführen und noch durch Erscheinungen der Natur ergänzen. Während die »sich dicht am Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen« unverkennbar die Technik repräsentieren, markieren »Mauerwerk jeglicher Art, Schuppen, Zäune« die Kultivierung, Bebauung, Einhegung des Geländes, wobei die parataktische und unspezifische 281 Lässt die Kombination des akustisch-visuellen Sinneseindrucks an die traditionelle Kutschfahrt und damit an die Ausführungen zu Schach von Wuthenow erinnern, soll darüber hinaus die These eines weiteren intertextuellen Bezugs im Werk Fontanes aufgestellt werden. Denn die Partie zum Eierhäuschen weist Ähnlichkeiten zu einer Dampferfahrtbeschreibung Fontanes auf der Oder in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf, die bei der Arbeit am Stechlin als Orientierung und Inspiration gedient haben könnte. Dafür sprächen – neben allgemeinen Informationen zum historischen Dampfschiffsverkehr, die der Reiseerinnerung vorangestellt sind – diverse Parallelen bei den topographischen Konstituenten, die hier wie dort Kirchtürme, Eisenbahndämme, Nebelschleier, Wiesen, Weiden und Pappeln umfassen. Im Hinblick auf die akustische Evokation besteht jedoch eine grundlegende Differenz; während im Roman eine Klangkollage die Abfahrt des Dampfers lautstark begleitet, verläuft jenes Manöver in der Reiseschilderung der Wanderungen fast geräuschlos: »Kaum daß wir an Bord, so wird auch das Brett schon eingezogen, und der Dampfer, ohne viel Kommando und Schiffshallo, löst sich leicht vom Ufer ab und schaufelt stromabwärts.« (GBA V/2, S. 13) Mag dafür auch die frühe Stunde verantwortlich sein, »[e]s ist Sonnabend um fünf Uhr morgens« (ebd.), spricht dennoch so etwas wie Enttäuschung aus den Zeilen. Die modifizierte Wiederaufnahme im Stechlin könnte insofern als die nachträgliche Vertonung interpretiert werden, die die Reiseerinnerung um das »Schiffshallo« bereichert, die sie vorher entbehrte. 282 Jean Starobinski, Kirchtürme und Schornsteine. Über das Archaische und das Moderne. In: Martin Meyer (Hrsg.), Wo wir stehen. Dreißig Beiträge zur Kultur der Moderne, München 1988, S. 39–45, hier S. 39.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
Aufzählung den »bunte[n] Wechsel« (DS, S. 164) der Sinneswahrnehmung sprachlich abbildet. Natürliche Konstituenten werden wie folgt in diese Topographie integriert: »[A]ber in Front aller dieser der Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge zeigte sich immer wieder ein Stück Gartenland, darin ein paar verspätete Malven oder Sonnenblumen blühten.« (DS, S. 164) Interessant ist, wie die Integration vollzogen wird und gelingt, obwohl zugleich ein Gegensatz eröffnet wird. Zunächst markiert das »aber« einen kontrastiven Einschnitt, der seine Fortführung darin findet, dass Gartenland und Flora nicht den »der Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge« zugerechnet werden. Ob diese Differenzierung auf die unterschiedliche Materialität und Dinghaftigkeit zurückzuführen ist, oder den naturhaften Erscheinungen genuin die antonyme Attribuierung von ›Freizeit und Exklusivität‹ zugewiesen wird, belässt der Text im Ungewissen. Desungeachtet dominiert eindeutig Industrielandschaft die Topographie; zwar schieben sich Garten und Blumen »immer wieder« und sogar »in Front« der Wahrnehmung, zugleich erscheint dieses vereinzelte Nebeneinander gestundet und von expansiver Kolonisation durch die Industrie bedroht. Die weitere Wegstrecke führt dies topographisch fort, wenn der kurzen Erwähnung von »Wiesen und pappelbesetzte[n] Wege[n]« (DS, S. 164) die ausführliche Schilderung einer Fabrikanlage nachfolgt: »[W]o das Ufer quaiartig abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen, aus deren Innerem eine baggerartige Vorrichtung die Kies- und Sandmassen in die dicht am Ufer hin etablierten Kalkgruben schüttete. Es waren dies die Berliner Mörtelwerke, die hier die Herrschaft behaupteten und das Uferbild bestimmten.« (DS, S. 164) Damit gerät Berlin als Industriemetropole in den Blick, während die akustische Dimension der Wahrnehmung wohl nicht von ungefähr ausgespart bleibt, hätte die Erwähnung der Lärmkulisse die unverkennbar zum Ausdruck kommende Faszination doch empfindlich stören können.283 Darüber hinaus stützt das verwendete Vokabular von Größe, Masse und »Herrschaft« die Beobachtung von der wachsenden Ermächtigung und Dominanz industrieller Topographie. Dass diese Progression noch im Prozess begriffen ist, exemplifiziert auch in Folge der fast regelmäßige Wechsel zivilisatorischer, technischer und natürlicher Landschaftskonstituenten. Auch wenn sich für die Topographien, die im Stechlin bei der Dampfschifffahrt passiert werden, unverkennbar der Grad und die Dominanz zivilisatorischer und technischer Raumerschließung als entscheidend erweist, kommt im Figurenbewusstsein ein anderes Erleben zum Ausdruck: »›Es ist 283 Vgl. hingegen die Ausführungen zur Integration technisch-maschinellen Geräuschs in topographische Darstellungen in Kapitel 4.3.1 der vorliegenden Studie.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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doch weiter, als ich dachte‹, sagte Melusine. ›Wir sind ja schon wie in halber Einsamkeit.‹« (DS, S. 165) Als Bewohnerin einer modernen Metropole an dichte Bebauung, Verkehrslärm und Menschengetümmel gewöhnt, erscheint ihr vor diesem Erfahrungshorizont die durchquerte Landschaft trotz ihrer Signa kultureller Verfügung als weit entfernt und geradezu verwaist. Melusines Einschätzung kann exemplarisch für einen auf Landpartien zu beobachtenden Habitus stehen, bei dem sich die Figuren in einem ›anderen‹, kulturfernen, natürlicheren Raum wähnen, selbst wenn die Topographien einen eindeutigen zivilisatorischen Zugriff abbilden.284 Zieht man Melusines Charakterzeichnung in Betracht, so darf der ironische Unterton allerdings nicht überhört werden; denn Melusine kokettiert mit dieser Projektion, wenn sie für den Vergleich der vermeintlichen Zivilisationsferne die relativierende Formulierung »wie in halber Einsamkeit« gebraucht. Auch dieser humoristische Zug trägt Anteil an einem die Topographien des Reiseraums auszeichnenden Gestaltungstenor, der insgesamt ein harmonisches Nebeneinander von Kultur, Technik und Natur präsentiert.
4.3 Die Topographien der Landpartien Infrastrukturell, touristisch, industriell, kurz: zivilisatorisch erschlossen – was sich jeweils als Bedingung der Raumdurchquerung und Bedingtheit der durchfahrenen Reiseraum-Topographien erwies, kann nicht ohne Auswirkungen auf die Orte der Landpartien und der Sommerfrische der Fontaneschen Gesellschaftspartien bleiben: Auch wenn es sich bei Stralau, Tempelhof, Thale, Hankels Ablage, Halensee und dem Eierhäuschen im Kontrast zu Berlin eindeutig um naturhaftere Räume handelt, einer abgeschiedenen und unberührten Natur begegnen die Figuren keineswegs; auch dort bleibt der kulturelle Einfluss und Zugriff spür- und sichtbar bestehen. Anstatt im Kontext der Landpartien und Sommerfrische einen klaren Raumwechsel abgebildet zu finden, vergegenwärtigen die Schauplätze vielmehr eine Simultaneität der raum-kulturellen Kategorien ›Stadt – Land‹ respektive ›Kultur – Natur‹. Die Gesellschaftspartien besetzen einen Übergangsbereich wechselseitiger Durchdringung und Überlagerung von binären kulturellen Raumordnungen. Wie sich dies in den Episoden der Landpartien und der Sommerfrische topographisch konfiguriert findet, welchen räumlichen Gegebenheiten sich die Figuren gegenüber sehen, auf welche Art und Weise die Natur- und
284 Vgl. dazu auch Kapitel 4.4 der vorliegenden Studie.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
Landschaftsbegegnung erfolgt, welche Voraussetzungen den Anblicken und Aussichten zugrundeliegen, welche Modi der Darstellung zu beobachten sind, und nicht zuletzt, inwiefern die Wahrnehmungen kulturell sowie subjektiv überformt sind – diesem Fragenkomplex sind die nachfolgenden Ausführungen gewidmet. 4.3.1 Bequeme Aussichten, geräuschhafte Stille und blinkende Lichter Auch wenn die Gesellschaftspartien, immerhin vordergründig, von dem Movens bestimmt sind, die Stadt zu verlassen und ein ländliches Idyll aufzusuchen, steht bereits »die gleichzeitige Nutzung der modernen Verkehrsmittel« dazu »in krassem Widerspruch […]. Der Gebrauch des auf Berlin zentrierten Transportnetzes macht ein richtiges Entkommen logisch unmöglich«285 und demonstriert vielmehr den bestehenden Unterhalt reger Austauschbeziehungen zwischen den vermeintlich getrennten Gegenräumen.286 Den Exkursionen sind buchstäblich (Wasser-)Wege, Straßen und Schienen geebnet, an deren Ende die Figuren an Orte gelangen, die auf ihre Ankunft vorbereitet, ja, spezialisiert sind und Dienstleistungen und Institutionen offerieren, die auf das ›Erlebnisprodukt‹ Landpartie respektive Sommerfrische abgestimmt sind.287 Daneben präsentieren die Romane jedoch ebenso eindrücklich, wie das Angebot des institutionalisierten Geschäfts mit den Naherholungsuchenden durch eine entsprechende Nachfrage initiiert und reguliert ist. Bereits das Eintreffen der Partiegesellschaften an den Ausflugszielen führt nicht nur die vor Ort befindlichen Dienstleistungen und Institutionen vor
285 Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 157. 286 Die Kutschfahrt in Schach von Wuthenow ist davon auszunehmen. Rege Austauschbeziehungen zwischen Tempelhof und Berlin werden im Folgenden indes auch hier ersichtlich. 287 Dass das Geschäft mit den Erholungsuchenden allzu oft im Zeichen der Gewinnmaximierung stand, worunter Qualität und Charakter der Dienstleistungen erheblich litten, und wie Bedürfnisbefriedigung und Bedürfnisgenerierung in dieser Hinsicht aneinander gekoppelt sind, das beklagt Fontane in seiner Prosaskizze Modernes Reisen. Eine Plauderei (1873): »Ja die traurige Erscheinung tritt ein, daß mit dem Wachsen des Bedürfnisses [nach Erholung; M. B.] auch die Unmöglichkeit wächst, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Der vorhandene Notstand, statt die Frage anzuregen: wie heben wir ihn? regt nur die Frage an: wie beuten wir ihn aus! Der Reisedrang, je allgemeiner er geworden ist, hat nicht Willfährigkeit und Entgegenkommen, sondern das Gegenteil davon erzeugt. […] Wirte, Mietskutscher und Führer überbieten sich in Gewinnsucht und Rücksichtslosigkeit« (GBA I/19, S. 8f.).
4.3 Die Topographien der Landpartien
161
Augen, sondern auch, wie unmittelbar die Figuren diese zu konsumieren und frequentieren beabsichtigen. In L’Adultera scheint für Van der Straaten der Besuch einer gastronomischen Einrichtung den ersten und selbstverständlichen Handlungsgang auf der Landpartie darzustellen, ist er doch sogleich nach seiner Ankunft in Stralau »Willens in das [hiesige; M. B.] Kaffeehaus einzutreten«, als ihm sein Kutscher mitteilt, »daß die Damens schon vorauf seien, nach der Wiese hin. Und die Herren Malers auch.« (LA, S. 61) Ein selbst rudimentäres Naturerlebnis kommt ihm offensichtlich nicht in den Sinn, womit ein Landpartie-Konzept aktualisiert ist, das im Grunde ausschließlich gesellig-kulinarisch motiviert ist. Dass dieser Aspekt immerhin für Van der Straaten das eigentlich entscheidende Moment einer Landpartie konstituiert, verdeutlicht sein unermüdliches Planen und Thematisieren des Nahrungsgeschehens vor und während der Landpartie.288 Auf sein Betreiben hin hatte die Gesellschaft bereits direkt vor der Abfahrt, »wie verabredet, ein Gabelfrühstück genommen, und zwar in Van der Straatens Zimmer. Er wollt‘ es so jagd- und reisemäßig wie möglich haben« (LA, S. 53). Wird Van der Straaten durch den Verbleib der restlichen Landpartieteilnehmer daran gehindert, die bürgerlich-gesellige Esskultur sogleich an Ort und Stelle fortzuführen, wenn auch ob der eher rustikalen Lokalität unter Verzicht auf Opulenz und Repräsentation, kann eben dies in Frau Jenny Treibel beobachtet werden. Hier sucht die Landpartie-Gesellschaft nach ihrer Ankunft unverzüglich ein Lokal auf und entscheidet sich damit zunächst dagegen, Halensee und die umliegende Landschaft aktiv in Augenschein zu nehmen. Auch wenn im weiteren Verlauf der Landpartie mit dem Grunewald ein naturhafter Raum als Handlungsschauplatz fungieren wird, impliziert die Reihenfolge eine Priorität des Kulturraums: Dem bequemen Verbleib im Lokal wird gegenüber einer Naturbegegnung der Vorzug gegeben. – Da weder der Name noch überhaupt das Vorhandensein jener gastronomischen Institution im Roman je explizit erwähnt wird, sondern ihre Existenz allein durch die erörterte Frage des Tischarrangements angezeigt ist, liegt die Vermutung nahe, dass Halensee im kollektiven zeitgenössischen Wissen mit dem dort ansässigen Wirtshaus 288 Als Variante des ritualisierten Gesellschaftsverkehrs stellt die Landpartie eine gewisse Störung des formalisierten Lebensrhythmus, insbesondere seiner geregelten Mahlzeitenabfolge dar. In Frau Jenny Treibel diskutieren die Figuren ausführlich die Notwendigkeit, angesichts der geplanten Landpartie Form und Umfang der üblichen Mahlzeiten zu modifizieren: »Wir müssen also versuchen, unserem Lunch einen kleinen Dinnercharakter zu geben, oder aber unser Dinner bis auf acht Uhr Abends hinausschieben.« (JT, S. 128) Vgl. zum Essensdiskurs in diesem Roman Rolf Selbmann, Alles ›reine Menufragen‹? Über das Essen und Trinken in Theodor Fontanes Roman ›Frau Jenny Treibel‹. In: Fontane Blätter 60 (1995), S. 103–116.
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verknüpft war.289 Somit kann der Vorschlag, eine Landpartie nach Halensee zu unternehmen, wohl primär als Chiffre für den Besuch des dort ansässigen Lokals verstanden werden. In Schach von Wuthenow und Der Stechlin bildet eine Restauration das Ziel der als Schiffs- respektive Kutschfahrt unternommenen Landpartien. Während die Dampferfahrt zum Eierhäuschen dies qua Nennung des Gartenlokals nicht verhehlt respektive das Eierhäuschen als Schiffsanlegestelle den Partieverlauf genuin prästrukturiert, ist bei der Spazierfahrt in Schach von Wuthenow die Einkehr in ein Gasthaus nicht explizit erwähnt. Dass diese gleichwohl einen konstitutiven Programmpunkt darstellt, der vorausgesetzt werden konnte und demgemäß nicht eigens herausgestellt werden musste, vergegenwärtigt die Ankunft in Tempelhof, wenn der Halt der Kutsche wie folgt motiviert wird: »Gleich das zweite Haus war ein Gasthaus.« (SvW, S. 35) Überdies macht der Text deutlich, dass weder das Ziel der Spazierfahrt noch der sich unmittelbar anschließende Lokalbesuch singuläre Unternehmen darstellen; Schach und die Damen von Carayon befinden sich stattdessen in Gesellschaft zahlreicher Gleichgesinnter: »Der schöne Tag hatte viele Gäste hinausgelockt, und der von einem Staketenzaun eingefaßte Vorplatz war denn auch an allen seinen Tischen besetzt.« (SvW, S. 36) Angesichts der Handlungszeit rekurriert die Tempelhof-Episode in Schach von Wuthenow auf die Tradiertheit und Historizität gesellig-ländlicher Ausflugskultur ebenso wie auf die Praxis, ortsansässige Institutionen zu diesem Behufe zu frequentieren. Nicht in historischer sondern in geographischer Perspektive mag das florierende Tourismusgeschäft überraschen, wie es die Harzer Sommerfrische in Fontanes Cécile präsentiert. Denn selbst der Naturraum des Gebirges, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das Paradigma erhabener Natur, erweist sich als hochprofessionell auf die Wünsche und Bedürfnisse der vielen Besucher vorbereitet, denen der Harz dank seiner bequemen infrastrukturellen Erschließung als prädestiniert erscheinen musste, die Hoffnungen auf Erholung zu erfüllen. Dies offenbart schon die »Dienstleistungs- und Hotelleriepräsenz bei Zug-Ankunft in Thale«290, der sich das Ehepaar St. Arnaud gegenüber sieht: »Wenige Minuten später hielt der Zug in Thale, wo sofort ein Schwarm von
289 Bei Seiler findet sich die Abbildung einer Werbepostkarte für das ›Wirtshaus am Halensee‹ von 1903 (vgl. Seiler, Fontanes Berlin, S. 101). 290 Rohse, Harztouristen als literarische Figuren, S. 193. – Siehe hierzu auch Fontanes Plauderei über Modernes Reisen: »Der Zug hält. […] Jenseits des Schienenstranges steht die übliche Wagenburg von Omnibussen, Kremsern und Fiakern; Hotelkommissionäre, Fremdenführer, Kutscher machen die bekannte Sturmattacke« (GBA I/19, S. 10).
4.3 Die Topographien der Landpartien
163
Kutschern und Hausdienern aller Art die Coupés umdrängte: ›Hubertusbad! Waldkater! Zehnpfund!‹« (C, S. 10) Und St. Arnaud nimmt die feilgebotenen Dienste des so offensiv um Gäste und Kundschaft buhlenden Wettbewerbs inmitten der Gebirgskulisse sogleich in Anspruch: »[E]inem dienstfertig zuspringenden Kommissionär den Gepäckschein einhändigend, bot er Cécile den Arm und schritt auf das unmittelbar am Bahnhof gelegene Hôtel zu.« (C, S. 10) Da das erste Kapitel mit dieser Szene endet, bleibt eine Konkretisierung des erzählten Raumes nahezu vakant; die Gebirgstopographie gerät nur ein einziges Mal aus dem Abteilfenster in Gestalt des Brockens in den Blick, so dass das topographische Potential der »klassische[n] Geschichts- und Literaturlandschaft«291 des Harzes zunächst nicht ausgeschöpft wird. Dies gründet in der Wechselbeziehung von erzählerischer Vermittlung und Romanpersonal. Durch die Rückkoppelung der »auktoriale[n] (allerdings nicht allwissende[n]) Perspektive«292 der Anfangskapitel an die Figuren und ihr Wahrnehmungsfeld rückt die Topographie konsequent erst am anderen Tag mit Beginn des zweiten Kapitels in den Fokus, wenn die St. Arnauds auf der Hotelterrasse im Angesicht der Landschaft ihr Frühstück einnehmen.293 Der Ausblick, der sich dabei bietet, zeigt die Gebirgslandschaft jenseits von Erhabenheit und Unberührtheit, denn diese wird zunächst im Wechselspiel mit einer angrenzenden Fabrik, dann im Wechselspiel mit einer künstlich angelegten Parkwiese zur Darstellung gebracht. Somit akzentuiert bereits die erste topographische Vergegenwärtigung des Harzes eine räumliche Hybridität, die sich aus der Dichotomie von Natur und Kultur speist. [N]ur ein Dutzend Personen etwa sah auf das vor ihnen ausgebreitete Landschaftsbild, das durch die Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik nicht allzu viel an seinem Reize verlor. Denn die Brise, die ging, kam von der Ebene her und trieb den dicken Qualm am Gebirge hin. In die Stille, die herrschte, mischte sich, außer dem Rauschen der Bode, nur noch ein fernes Stampfen und Klappern und ganz in der Nähe das Zwitschern einiger Schwalben, die, im Zickzack vorüberschießend, auf eine vor dem Balkon gelegene Parkwiese zuflogen. (C, S. 10)
Dieses Landschaftsbild 294 etabliert dabei keinen unvereinbaren Gegensatz von Kultur und Natur, sondern ist von einem harmonischen Neben- und Mit291 Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum, S. 233. 292 Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 173. 293 Dass dies die erste Begegnung des Ehepaares mit der Landschaft im Freien darstellt, impliziert der Text in einem Dialog Gordons mit einem Hotelkellner, der vom Ehepaar zu berichten weiß: »Sie kamen gestern mit dem Mittagszug und nahmen ein Diner à part. Die Dame scheint krank.« (C, S. 13) 294 Zur Bildhaftigkeit Fontanescher Landschaftsdarstellung vgl. das nachfolgende Kapitel 4.3 der vorliegenden Studie.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
einander gekennzeichnet: »Neben die Naturerscheinungen treten als gleichberechtigt die Einrichtungen der Technik. In eine Uferpartie haben sich Industriebauten geschoben, landschaftliche Attraktionen werden eingenebelt vom Qualm der Fabrikschornsteine und Bahndämme durchziehen das Land.«295 Zwar schmälert der Industrierauch die Ästhetik des Eindrucks, allerdings verliert er dadurch »nicht allzu viel an seinem Reize«, was der Beschreibung eine ironisch-versöhnliche Note verleiht und »[d]ie optisch wertfreie Gleichschaltung von technisierter Umwelt und Natur«296 garantiert. Insofern ist Darby zu widersprechen, der den Figuren in ihrer Begegnung mit der Harzlandschaft eine »romantisch[e] […] Projektion der intakten vorindustriellen Provinz« unterstellt, die »alle Manifestationen der Moderne, insofern sie den Zwecken des Tourismus nicht nützlich sind, einfach ausblendet, sei es der Lärm des Thaler Bahnhofs, [oder] der Blick auf ›die Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik‹«297. Die gleichberechtigte Integration – nicht Ausblendung – industrieller Komponenten in die Gebirgslandschaft, die als These der vorliegenden Analyse zugrunde liegt, vollzieht sich nicht allein optisch, sie wird vielmehr auch akustisch evoziert, wenn Flussrauschen und Vogelgezwitscher durch ein »fernes Stampfen und Klappern« ergänzt werden. Die konstatierte »Stille, die herrschte,« muss also als relativ gelten, sind doch insgesamt gleich drei unterscheidbare Geräuschquellen benannt. Könnte betreffs der vorliegenden Textstelle argumentiert werden, die Entfernung reduziere die akustische Vernehmbarkeit des Stampfens und Klapperns, demonstrieren weitere Romanstellen die Vereinbarkeit von (vermeintlicher) Stille und technischem Geräusch. Im Stechlin findet sich sogar eine identische Charakterisierung der lautlichen Gestalt, wenn es auf der Rückfahrt vom Eierhäuschen heißt: »Unten im Maschinenraum hörte man das Klappern und Stampfen, während die Schiffsschraube das Wasser nach hinten schleuderte […]. Sonst war alles still, so still, daß die Damen ihr Gespräch unterbrachen.« (DS, S. 181) Frank konstatiert in seiner Monographie eine verhältnismäßig seltene und zudem eher unscheinbare Darstellung technischer Phänomene im Erzählwerk Fontanes: »Obwohl in der überwiegenden Zahl nur beiläufig in Szene gesetzt, kann von einer Bedeutungslosigkeit der Technik in Fontanes Werk […] keine Rede
295 Weber, Die literarische Landschaft, S. 379. Siehe hierzu auch Janz, Literarische Landschaftsbilder bei Fontane, S. 99: »Daß in dies Bild wie selbstverständlich Fabrikschornsteine gehören, muß am Ende des 19. Jahrhunderts im Zeichen des Realismus niemanden erstaunen.« 296 Hillebrand, Mensch und Raum im Roman, S. 281. 297 Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 159.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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sein. Im Gegenteil, je unbedeutender sie wirken, desto weitreichender sind oft die Zusammenhänge, die sie stiftet.«298 Daran anschließend soll die These aufgestellt werden, dass der weitreichende Zusammenhang im Hinblick auf die scheinbar so widersprüchliche Verbindung von maschinellem Geräusch bei gleichzeitig proklamierter Stille im Aufzeigen der psychoakustischen Vertrautheit der Figuren mit den technischen Phänomenen und den von ihnen verursachten Klangpegel besteht. Als Folge der Industrialisierung und Urbanisierung war »[d]ie Erfahrungswelt des Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] sowohl geprägt von einer gesteigerten Schnelligkeit und Beweglichkeit in der Umgebung, als auch von einer gravierenden Zunahme des Geräuschpegels, von einer erhöhten Geräuschhaftigkeit der Umwelt.«299 Dass dieser Gewöhnung allerdings Grenzen gesetzt sind und übermäßig dominantes Geräusch durchaus eine negative Registrierung erfährt, vermag eine weitere Textpassage des Romans Cécile aufzuzeigen. Bei einer Rast auf einem Spaziergang gewahren die St. Arnauds »von Thale her das scharfe Läuten der Abfahrts-Glocke«, kurz darauf das »Keuchen und Prusten«, »das Gerassel und Geklapper«, als »der Zug auf wenig hundert Schritte an dem Lindenberge« (C, S. 84) vorbeifährt. Das Empfinden einer akustischen Störung ist bedingt durch die unmittelbare Ausgesetztheit und Multiplikation durch ein Echo, und die Störung wird als solche rückwirkend auch explizit benannt, wenn der Text fortfährt: »Endlich schwieg es, und die frühere Stille lag wieder über der Landschaft. Nur die Brise, von Dorf und Fluß her, wuchs« (C, S. 84). Doch auch »die frühere Stille« darf keineswegs als Lautlosigkeit vorgestellt werden, zieht man die auditive Dimension der beschriebenen Topographie vor Abfahrt und Queren des Zuges in Betracht: »Von dem Treiben in der Dorfgasse sah man nichts, aber die Brise trug jeden Ton herüber und so hörte man denn abwechselnd die Wagen, die die Bodebrücke passirten und dann wieder das Stampfen einer benachbarten Schneidemühle.« (C, S. 83) Die vermeintliche Stille ist daher wiederum vor einer Geräuschkulisse angesiedelt, die sich zudem durch das Anwachsen der »Brise, von Dorf und Fluß her« noch potenziert. Zumal es sich bei Sägewerk und Kutschen um vorindustrielle Geräuschquellen handelt, darf mit Recht eine noch größere psychoakustische Vertrautheit mit ihnen angenommen werden – respektive eine akustisch vorgenommene Verklärung. Henkel konstatiert bezogen auf Wilhelm Raabes Roman Fabian und Sebastian: »Diese
298 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 203. 299 Gabriele Henkel, Geräuschwelten im deutschen Zeitroman. Epische Darstellung und poetologische Bedeutung von der Romantik bis zum Naturalismus, Wiesbaden 1996 (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 68), S. 205.
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Wagengeräusche werden von den Romanfiguren somit nicht als Indikator für den […] Verkehr wahrgenommen, sondern vielmehr als ländliche ›Begleitmusik‹ bei der Schilderung des idyllischen Dorflebens.«300 Dies kann auch für Fontanes Cécile gelten. Die Topographien der Landpartie- und Sommerfrische-Episoden, so kann resümiert werden, etablieren auch in ihrer akustischen Konfiguration, im Sinne einer Überlagerung von ›Landscapes‹ und ›Soundscapes‹301, eine Interferenz technisch-kultureller und natürlicher Konstituenten. Zwar werden die maschinellen Geräusche vernommen und eben nicht ausgeblendet, worauf die konkrete Benennung der Klanggestalt und -ursache rekurriert, eine Klassifizierung als Lärm und damit eine negativ konnotierte Beeinträchtigung des Gesamteindrucks bleibt jedoch aus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und noch dazu als Bewohner einer Großstadt sind die Figuren in Fontanes Romanen hinlänglich mit einem Synchronismus auditiver und visueller Sinneseindrücke vertraut.302 Das führt in der Konsequenz, wird ein angemessener Lautstärkepegel nicht überschritten, zu einer harmonischen Integration des Geräuschs, ja, zu einer affirmativen Aufhebung in der Wahrnehmung von ›Stille‹.303 Trugen die Schwalben zunächst Anteil an der akustischen Evokation des Landschaftsbildes, das sich in Cécile den Hotelgästen vom Balkon des Hotels aus bietet, fungieren sie in Folge als entscheidendes Moment einer erzähltechnisch raffiniert vollzogenen Blickregie, die den Fokus der Darstellung auf die Parkwiese überführt. [G]anz in der Nähe das Zwitschern einiger Schwalben, die, im Zickzack vorüberschießend, auf eine vor dem Balkon gelegene Parkwiese zuflogen. Diese war das Schönste der Scenerie, schöner fast als die Bergwand sammt ihren phantastischen Zacken, und wenn schon das saftige Grün der Wiese das Auge labte, so mehr noch die Menge der Bäume, die gruppenweis, von ersichtlich geschickter Hand in dies Grün hineingestellt waren.
300 Ebd., S. 210. 301 Vgl. etwa John M. Picker, Victorian Soundscapes, Oxford 2003. 302 So mag sich auch der Abbruch des Gesprächs erklären, mit dem die Damen im Stechlin auf die ›Stille‹ reagieren: Nicht das aus dem Maschinenraum tönende Klappern und Stampfen stellt eine Störung dar, vielmehr wird die Absenz einer darüber hinausgehenden Geräuschkulisse offenkundig als Irritation erlebt. »Sonst war alles still, so still, daß die Damen ihr Gespräch unterbrachen.« 303 Henkel kommt in ihrer Analyse des Raabeschen Romans zu einem ähnlichen Fazit: »Es zeigte sich, daß die durch die akustischen Phänomene indizierte Gegenbildlichkeit von Land und Stadt sowie von Stille und Lärm nur oberflächlich vorhanden ist, daß die Zeitwirklichkeit, der ›Lärm der Zeit‹, in Raabes Roman nicht verdrängt wird« (Henkel, Geräuschwelten im deutschen Zeitroman, S. 303).
4.3 Die Topographien der Landpartien
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Ahorn und Platanen wechselten ab, und dazwischen drängten sich allerlei Ziersträucher zusammen[.] (C, S. 10)
Kann in diesem »Ensemble aus artifizieller Natur, de[m] Park, vor dem Hintergrund unberührter Natur, der Bergwand«304, eine ästhetische Bevorzugung der Parkwiese schon aus der Quantität der topographischen Beschreibung herausgelesen werden, wird diese nochmals explizit als »das Schönste der Scenerie« hervorgehoben – auch wenn der nachgestellte Vergleich über die Formulierung »schöner fast als die Bergwand« auf den ersten Blick scheinbar einer Einschränkung gleichkommt. Doch die kurze Charakterisierung der Bergwand »sammt ihren phantastischen Zacken« rekurriert auf eine geheimnisvolle, unheimliche Konnotation, die durch das kollektive Wissen um »die zahlreichen Sagen, Mythen und Legenden über den Brocken als Hexengegend, über geheimnisvolle Kultstätten und Bräuche«305 gestützt wird. Während die Naturerscheinungen als unberechenbar und ungeregelt in Erscheinung treten, vergegenwärtigt durch das »Zickzack« des Schwalbenfluges und die »Zacken« der Felsformationen, garantiert die Parkanlage in der Künstlichkeit ihrer ›gedrängten Ziersträucher‹ und in der Domestizierung des ›hineingestellten, regelmäßigen Baumwechsels‹ ein harmonisches und vorhersehbares Naturerlebnis: Nicht die erhabene Natur, der »von ersichtlich geschickter Hand« angelegte Park erscheint anmutiger.306 Dieses Ergebnis eines vergleichenden Abwägens erweist sich dabei wenige Kapitel später als eine gezielte Textstrategie, wenn das Ehepaar vom Park aus »die vorgelegene, bewaldete Gebirgswand« (C, S. 64) betrachtet. Denn das Vorenthalten dieser Information eines Baumbestands trägt bei der ersten Landschaftsdarstellung maßgeblich dazu bei, »das saftige Grün der Wiese« und die »Menge der Bäume« gegen die graue Felswand ›auszuspielen‹.307
304 Janz, Literarische Landschaftsbilder bei Fontane, S. 99. 305 Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum, S. 233f. 306 Auf den Kieswegen des Parks »machte das St. Arnaud’sche Paar, […] täglich nach dem Frühstück, seinen Morgenspaziergang« (C, S. 63). Damit weisen das vorgefundene Angebot und die Praxis der hier vorgeführten Sommerfrische erneut Analogien zur Kurkultur des 19. Jahrhunderts auf: »Die Vorstellung einer gesunden, unterhaltsamen Kur war gleichzeitig eng mit dem schönen Kulturgarten, der erholsam schönen Landschaft und einer besonderen Kurarchitektur verbunden. Gesundheit, Geselligkeit und Vergnügen wurden in der Kur zu einer temporären ästhetischen Erfahrung« (Fuhs, Kurorte als Orte des geselligen Vergnügens, S. 34). Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Studie. 307 Das abwägende Urteilen wird in der zitierten Textstelle mittels Formulierungen wie »schöner fast«, »wenn schon […] so mehr noch« (C, S. 10) deutlich.
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Die in der Präferenz der Parkanlage zum Ausdruck kommende entfremdete Naturerfahrung korreliert mit einer Wahrnehmungssituation, die jene zivilisatorische Distanz auch räumlich abbildet. Die St. Arnauds betrachten die Landschaft vom Hotel aus und noch dazu steht »[d]er Tisch, an dem Beide das Frühstück nahmen, […] im Schutz einer den Balkon nach dem Gebirge hin abschließenden Glaswand« (C, S. 11). Dabei stellt Cécile keinen Einzelfall dar,308 auch in den anderen Romanen begegnen die Figuren der umliegenden Landschaft primär bequem und räumlich distanziert am Tisch einer gastronomischen Institution sitzend, die im Kontext der Landpartie aufgesucht wurde.309 In L’Adultera lässt sich die Gesellschaft in Löbbekes Kaffeehaus auf einem, »nach Art eines Treibhauses angelegten Glas-Balcon« (LA, S. 64) nieder;310 von dort eröffnet sich ihr ein »Blick auf die Stadt […], die flußabwärts im roth- und golddurchglühten Dunst eines heißen Sommertages dalag.« (LA, S. 65) Doch selbst dieser auf die ›Zivilisation‹ zurückgeworfene Blick erweist sich als entbehrlich, denn im Anschluss wendet man sich dem geselligen Gespräch zu. Und auch das motivgeschichtlich für literarische Landschaftsbeschreibungen so bedeutende »Schauspiele der untergehenden Sonne« (LA, S. 67) vermag die Aufmerksamkeit nicht zu fesseln. Während sich in L’Adultera das mangelnde Interesse der Landpartie-Gesellschaft implizit über den weitgehenden Verzicht auf eine dezidierte Darstellung der räumlichen Gegebenheiten mitteilt, wird es im Stechlin hingegen klar artikuliert. Auf die Bitte ihres Gatten, »lieber mehr nach links zu rücken, um den Sonnengang besser beobachten zu können«, reagiert Baronin Berchtesgaden am Tisch des Gartenlokals ungehalten: »Was Sonnenuntergang! den seh’ ich jeden Abend. Ich sitze hier sehr gut und freue mich schon auf die Lichter.« (DS, S. 177) Das Naturschauspiel wird als alltäglich und banal abgeurteilt, die Elektrifizierung
308 Auch das Diner auf der Partie nach Altenbrak in Cécile wird auf einem »halb verandahalb balkonartigen Vorbau« eingenommen, mit »weitvorspringende[m] Schutzdach« (C, S. 104). 309 »Aussichtsfenster oder Terrasse des Ausflugslokals werden zum Brennpunkt einer bestimmten Weltsicht. Man sieht die Natur (oder das, was übrig blieb von ihr) […] vom geselligen Tisch her – die Perspektive ist eingeengt durch den zivilisatorischen Rahmen« (Hillebrand, Mensch und Raum im Roman, S. 279). 310 Hiermit ist zugleich eine der zahlreichen den Roman durchziehenden Vorausdeutungen zitiert, denn in einem Treibhaus vollzieht sich drei Kapitel später der Ehebruch zwischen Melanie und Rubehn, der sich in der räumlichen Analogiebildung ankündigt. Vgl. dazu unter dem Lemma ›Stralau‹ auch Christian Grawe, Führer durch Fontanes Romane. Ein Lexikon der Personen, Schauplätze und Kunstwerke, Stuttgart 1996, S. 301.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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als »ein zivilisatorisches Kuriosum als Vergleichspunkt genommen«311 und der Vorzug eingeräumt. Der Figurenperspektive folgend wird im Anschluss die favorisierte künstliche Beleuchtung thematisch; der Ausblick, der sich den Figuren vom Tisch des Eierhäuschens bietet, aktualisiert den vom Deck des Ausflugsdampfers gewonnenen Eindruck einer Landschaft, die von Bauten und Phänomenen der Industrie, Technik und Infrastruktur durchsetzt und gekennzeichnet ist: Und nicht lange mehr, so waren diese Lichter auch wirklich da. Nicht nur das ganze Lokal erhellte sich, sondern auch auf dem drüben am andern Ufer sich hinziehenden Eisenbahndamme zeigten sich allmählich die verschiedenfarbigen Signale, während mitten auf der Spree, wo Schleppdampfer die Kähne zogen, ein verblaktes Rot aus den Kajütenfenstern hervorglühte. (DS, S. 177)
In Schach von Wuthenow bringt die Landpartie-Gesellschaft, insbesondere in Gestalt der Damen, der Aussicht und der Abendstunde weit mehr Interesse und Begeisterung entgegen: »Die Carayons, so verwöhnte Stadtkinder sie waren, oder vielleicht auch weil sies waren, enthusiasmierten sich über all und jedes […]. Sonnenuntergang sei die schönste Stunde.« (SvW, S. 36) Anstatt sich wie im Stechlin einer Industrielandschaft gegenüber zu sehen, basiert die Faszination der sogenannten »Stadtkinder« hier vielmehr in der Beobachtung ländlichen Dorftreibens, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts außerhalb Berlins noch anzutreffen war. Dabei ist der Fokus der Beobachtung ausschließlich auf das menschliche Geschehen gerichtet, während die räumlichen Gegebenheiten keine Erwähnung finden: »Equipagen hielten in der Mitte der Dorfstraße, die Stadtkutscher plauderten, und Bauern und Knechte, die mit Pflug und Egge vom Felde herein kamen, zogen an der Wagenreihe vorbei.« (SvW, S. 36) Allerdings birgt auch diese vermeintlich rustikale Dorfstraßenszene schon eindeutige Anzeichen einer Grenzverwischung der vermeintlichen Gegenräume Stadt und Land, indem die Bauern und Knechte bei ihrer Rückkehr von den unweit gelegenen Feldern ›plaudernde Stadtkutscher‹ passieren, die den Besuchsbetrieb städtischer Müßiggänger repräsentieren – geselliges Vergnügen auf der einen, harte körperliche Landarbeit auf der anderen Seite.312 Dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit der zahlreichen
311 Hillebrand, Mensch und Raum im Roman, S. 282. 312 Die Tempelhofer Gasthausszene in Schach von Wuthenow weist in dem beobachteten Nebeneinander von Dorfleben und Ausflugskultur Analogien zu einer Frühstückserinnerung in den Wanderungen auf: »Unter einem Lindenbaum in Front des Hauses wurde der Kaffee genommen […]. Jenseit des Staketenzaunes ging das Leben des Dorfes still-geschäftig seinen Gang: junges Volk, die Sense auf der Schulter, eilte zur
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Wirtshausgäste tatsächlich unterschiedslos auf »all und jedes« richtet, das auf der Dorfstraße, gleich einem ländlichen Korso, vor sich geht und nicht genuin ein Interesse an dörflicher Idylle besteht, offenbart der Aufbruch Schachs und der Damen: »Alles, was noch an dem Staketenzaune saß, sah ihnen nach.« (SvW, S. 37) Am Beispiel dieses ›Sehen-und Gesehenwerdens‹ erweist sich die Landpartie – das gilt konstitutiv, jedoch für das Jahr 1806 noch in besonderer Weise – als eine »Zwischenform des Öffentlichen«: »Diese Sphäre oszilliert zwischen« entlastender Privatheit und »leichtem Geplauder und behält dennoch einen erheblichen Rest repräsentativer Verbindlichkeit.«313 Zu dem von Ausflüglern usurpierten Tempelhofer Gasthaus, Profiteur dieses halböffentlichen, halbprivaten Gesellschaftsvergnügens, zählt auch eine Kegelbahn; eine Institution, die mit auffallender Häufigkeit im Kontext der Landpartie-Episoden zu finden ist und geradezu als Paradigma touristischer Vergnügungsindustrie bei Fontane gelten kann. »Kegelbahn und Schießstand charakterisieren [auch; M. B.] den Ausflugsort Halensee«314, Ziel der Landpartie in Frau Jenny Treibel. Während das Blickfeld der im Lokal sitzenden Landpartie-Gesellschaft überaus beschränkt ist, deutet eine »cacophony of sounds and distractions«315 auf die Gegebenheiten und Institutionen der umliegenden Topographie: Eine Stunde verging unter allerhand Plaudereien, und wer gerade schwieg, der versäumte nicht, das Bild auf sich wirken zu lassen, das sich um ihn her ausbreitete. Da stieg zunächst eine Terrasse nach dem See hinunter, von dessen anderm Ufer her man den schwachen Knall einiger Teschins hörte, mit denen in einer dort etablirten Schießbude nach der Scheibe geschossen wurde, während man aus verhältnismäßiger Nähe das Kugelrollen einer am diesseitigen Ufer sich hinziehenden Doppelkegelbahn und dazwischen die Rufe des Kegeljungen vernahm. Den See selbst aber sah man nicht recht[.] (JT, S. 134f.)
Die überwiegende Absenz visueller und die Dominanz akustischer Eindrücke profiliert dreierlei: Erstens umfasst der hier aufgerufene Terminus des ›Bildes‹, das die Figuren »auf sich wirken« lassen, explizit auch die lautliche Dimension – Fontane entwirft hier primär ein »›Lautbild[ ]‹ der Umwelt.«316 ZweiMahd hinaus […]. / Ein Wagen fuhr vor, ein vollgestopfter Kremser. Vormittagsgäste; unverkennbar eine animierte Gesellschaft.« (GBA V/3, S. 400) 313 Manfred Dutschke, Geselliger Spießrutenlauf. Die Tragödie des lächerlichen Junkers Schach von Wuthenow. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, München 1989 (= Text+Kritik, Sonderband), S. 103–116, hier S. 105. 314 Westermann, Gastlichkeit und Gaststätten bei Fontane, S. 53. 315 Johnson, The Democratization of Leisure, S. 74. 316 Henkel, Geräuschwelten im deutschen Zeitroman, S. 226 (im Original gesperrt gesetzt).
4.3 Die Topographien der Landpartien
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tens wird die Vertrautheit der Gesellschaft mit den Vergnügungsetablissements einer Schießbude und einer Kegelbahn unterstrichen, selbst wenn sich diese allein durch ihre Geräuschkulisse vergegenwärtigen. Damit korreliert, dass diese Geräusche lediglich neutral registriert und offenkundig nicht als störend empfunden werden. Drittens repräsentiert die Lage des Lokals und die sich von seinen Außentischen darbietende, oder besser: verwehrte Aussicht, dass die Naturbegegnung auf einer Landpartie, und sei es auch nur eine visuelle, entbehrlich ist und ein zivilisatorisch durchdrungener Kulturraum als Topographie das vornehmliche Bedürfnis nach Geselligkeit zu befriedigen vermag. Dies exemplifiziert sich besonders daran, dass »die Attraktion der Landschaft«317, der namengebende Halensee, der doch »the reason for everyone’s presence«318 darstellen sollte, den Blicken verwehrt bleibt, was allein »die Felgentreu’schen Mädchen zuletzt ungeduldig machte.« (JT, S. 135) Dies als Ausdruck eines authentischen Interesses an der aufgesuchten Gegend zu verstehen, wird unmittelbar von dem abschätzigen Kommentar und der Ironie der Situation widerlegt, wenn die Schwestern eigens auf Stühle steigen und den Anblick des Sees schließlich abschätzig kommentieren: »Ach, da ist er. Etwas klein.« (JT, S. 135) Das Verhalten der Mädchen bildet vielmehr einen für Landpartien charakteristischen »Umgang[ ] mit der Natur in der Weise eines ritualisierten Programms, das abzuleisten ist«319, ab: »Wir müssen doch den See sehen. Wir können doch nicht in Halensee gewesen sein, ohne den Halensee gesehen zu haben!« (JT, S. 135) »The actual Halensee is not as small as Fontane portrays it here«, so dass »his minimalization of the lake helps«, die Vorstellung eines genuin natürlichen Raumes und »the idea of some kind of authentic experience of and immediacy to nature«320 zu demontieren. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass zwischen der Villenkolonie Halensee, Ort des Wirtshauses, und dem dort beginnenden Grunewald, der später das Setting für den Waldspaziergang bietet, im Hinblick auf die Naturalität respektive Kulturalität differenziert werden muss. Darüber hinaus erfolgt die Darstellung und Kommentierung Halensees nahezu ausschließlich aus der Perspektive der sitzenden Figuren, 317 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 134. 318 Johnson, The Democratization of Leisure, S. 74. 319 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 126. – Eine ähnliche Vorstellung vertritt Gordon in Cécile, wenn er den Besuch des Hexentanzplatzes als unumgängliches ›Pflichtprogramm‹ einer Harzer Sommerfrische bezeichnet: »Wirklich, wir werden ihn über kurz oder lang sehen müssen, das schulden wir einem HarzAufenthalte. Denn allerorten, wo man sich aufhält, hat man eine Art Pflicht, das Charakteristische der Gegend kennen zu lernen« (C, S. 33f.). 320 Johnson, The Democratization of Leisure, S. 74.
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muss daher als eingeschränkt und subjektiv gefärbt gelten. Hier wird weniger ein zeithistorisch ›valides‹ Bild Halensees präsentiert, als der im großstädtischen Habitus geführte Diskurs über Natur und Naturbegegnung im Kontext der Landpartie reproduziert. Doch auch jenseits der Aufenthalte in gastronomischen Institutionen und den durch sie gewährten Aussichten, die zugleich die visuell faktische als auch die sozialpsychologische ›Beschränkung‹ der Figurenperspektive auf etwaige Naturerscheinungen vermitteln, stellen die Topographien der Landpartien den zivilisatorischen Zugriff auf ehedem ländlich-natürliche Räume aus, wenn auch in je differenzierter Form. In L’Adultera bildet das Dorf Stralau und damit ein eindeutig als Kulturlandschaft zu identifizierender Raum den Schauplatz. Zu keiner Zeit verlässt die Gesellschaft diese Kulturlandschaft zugunsten eines unberührten Naturraums, sondern verharrt ausschließlich in der kulturalisierten Sphäre des Dorfes und seiner unmittelbaren Umgebung: »Am Ausgange des Dorfes lag ein prächtiger Wiesenplan und dehnte sich bis an die Kirchhofsmauer hin. In Nähe dieser hatten sich die drei Damen gelagert« (LA, S. 61). Zwar wird hier vordergründig das Verlassen des Dorfes impliziert, allerdings verbleibt die Kirchhofsmauer als kulturelle Grenz-Manifestation in Sichtweite. Der Konnex zum Dorf bleibt dabei nicht nur visuell bestehen, beschäftigen sich die Figuren auf der Wiese doch mit »Reifen«, »Strippenballons und Gummibälle[n]«, die zuvor bei der hiesigen »Würfelbude« (LA, S. 61) käuflich erworben wurden. Die Würfelbude ist Teil eines in Stralau ansässigen ›Etablissements‹, eine heute so gut wie ausgestorbene Kategorie von Gaststätten […]. Es ist nicht ganz einfach zu definieren, eine Mischung aus Gartenlokal und Rummelplatz – Idylle und Trostlosigkeit der Vorstadt zugleich. Die Etablissements liegen an den Ausfallstraßen, da, wo die eigentliche Stadt zu Ende ist und das Dorf noch nicht oder nicht mehr den Ton angibt. […] Das Lokal von Löbbeke in Stralau nennt sich zwar Kaffeehaus, ist aber durchaus ›Etablissement‹[.]321
Diese Mischung aus »Idylle und Trostlosigkeit« kann auch an der räumlichen Gestaltung von ›Löbbekes Kaffeehaus‹ und seiner unmittelbaren Umgebung abgelesen werden. Während im Innern »den Eintretenden eine dumpfe Kellerluft entgegenkam«, mit einem »biersäuerlichen Gehalt« (LA, S. 63), kann sein Außenbereich dagegen nur gewinnen, auch wenn es sich allein um einen »Garten [handelt], drin, um kümmerliche Bäume herum, ein Dutzend grüngestrichene Tische mit schrägangelehnten Stühlen von derselben Farbe stan-
321 Westermann, Gastlichkeit und Gaststätten bei Fontane, S. 53.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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den.« (LA, S. 64)322 Reagieren die Bäume im Garten mit einem ›kümmerlichen‹ Wachstum auf ihre Kultivierung, weisen andere explizit auf einen menschlichen Eingriff hin: »In Front des Hauses aber standen drei, vier verschnittene Lindenbäume, die den Bürgersteig von dem Straßendamme trennten« (LA, S. 61).323 Gleichwohl bieten die Bäume »Hunderte[n] von Sperlingen« (LA, S. 61) eine Heimstatt, die »in den verschnittenen Linden saßen und quirilirten« (LA, S. 63). Dieser Konnex von Flora und Fauna kann als wiederkehrendes Gestaltungsschema gelten, das Fontane im Kontext von Ausflügen und dem Aufsuchen hiesiger Gaststätten häufig einsetzt.324 Kahrmann sieht in den »Sperlinge[n], die auf Fütterung warten«, ein »idyllisches Stereotyp«325, während Böschenstein den Sperling in »seine[r] Funktion als Liebessymbol« interpretiert, das »zunächst biologisch-faktisch in der starken Vermehrung der Sperlinge begründet ist«, zugleich aber auf eine »lange Tradition des Symbols«326 in Mythologie und Kunst zurückgeht. Hier sei eine weitere Deutung ergänzt, die die Anwesenheit der Sperlinge in topographischer Perspektive als überaus folgerichtig erkennt. Gemäß »seine[r] Lebensweise als Kulturfolger«327 kann 322 Diesen Motivkomplex, bei dem die an Tische gelehnten Stühle metonymisch für die Verlassenheit einer sonst gut besuchten gastronomischen Institution stehen, hat Fontane in den anderen Romanen ebenfalls aufgegriffen: In Cécile fällt der Blick aus dem Eisenbahnfenster auf »eben so viel grüngestrichene Tische sammt angelehnten Gartenstühlen« (C, S. 6); in Frau Jenny Treibel findet Leopold das Treptower Lokal erleichtert »wie gewünscht [vor; M. B.], sämmtliche Tische leer, die Stühle umgekippt« (JT, S. 110). 323 In Schach von Wuthenow biegt die Kutsche bei ihrer Ankunft »in die große, mit alten Linden bepflanzte Dorfgasse von Tempelhof ein« (SvW, S. 35), so dass sich angesichts der differierenden Handlungszeit in vergleichender Perspektive der historische Prozess der Naturdomestizierung abgebildet findet. 324 Die Landpartie-Gesellschaft in Schach von Wuthenow sitzt unter einem Ahorn, wo, obwohl noch fast kahl, »schon die Vögel in seinen Zweigen [saßen] und zwitscherten« (SvW, S. 36). In Frau Jenny Treibel füttert Leopold die als »Störenfriede« bezeichneten Sperlinge, die daraufhin wieder »in die Lindenbäume zurückflogen« (JT, S. 115), und auch im Stechlin hat die Gesellschaft »eine Laube von Baumkronen über sich. Sperlinge hüpften umher und warteten auf ihre Zeit« (DS, S. 176). 325 Cordula Kahrmann, Idyll im Roman: Theodor Fontane, München 1973, S. 137. 326 Renate Böschenstein, Storch, Sperling, Kakadu: eine Fingerübung zu Fontanes schwebenden Motiven. In: Wolfram Malte Fues und Wolfram Mauser (Hrsg.), ›Verbergendes Enthüllen‹. Zu Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern, Würzburg 1995, S. 251–264, hier S. 261. 327 Julia Stenzel, [Art.] Spatz/Sperling. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2012, S. 410f., hier S. 410. – Die besondere Vertrautheit mit den Sperlingen kann auch als Erklärung dafür hinreichen, dass Gordon diese von der konstatierten geheimnisvollen Aura der anderen
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der Sperling als Symbol der Zivilisation interpretiert werden und trägt demgemäß dazu bei, die Domestizierung der Landpartie-Natur herauszustreichen. Diese Grenzverwischung zwischen Natur und Kultur, die der Sperling als Naturwesen verkörpert, kann in gleicher Weise für den Neufundländer Boncoeur in Cécile gelten. Dem Hund ist als literarisches Symbol genuin »die Grenze von Natur und Kultur« eingeschrieben, und zwar »sowohl die Bestätigung dieser Grenze als auch deren Infragestellung«328. Indem Boncoeur Cécile als treuer Begleiter auf ihren Wegen durch den Harz buchstäblich folgt, findet sich die »Grenzambivalenz«329 der Topographie durch die animalische Figuration gleichsam verdoppelt. Auch in Frau Jenny Treibel kann eine Verknüpfung von Vögeln und Landpartie-Topographie beobachtet werden, dem Erzählgestus des Romans entsprechend in ironischer Färbung. Bei der Betrachtung des Halensees bemerkt eine der Felgentreu-Schwestern, »in einer Art moderner Teichoskopie«330 noch auf ihrem Stuhl stehend, die Anlage zweier Schwanenhäuser: »Und wo nur die Schwäne sind? […] Ich sehe doch zwei Schwanenhäuser.« (JT, S. 135) Auf ihre Frage, die nach der Enttäuschung über die Kleinheit des Sees schließlich doch ein Interesse an der Landschaft vermuten lässt, erhält sie von Kommerzienrat Treibel die humoristisch-spöttische Antwort: »Sie verlangen zu viel. Das ist immer so; wo Schwäne sind, sind keine Schwanenhäuser, und wo Schwanenhäuser sind, sind keine Schwäne. Der Eine hat den Beutel, der Andre hat das Geld.« (JT, S. 135) Indem Treibel die Absenz der Schwäne einem gesellschaftlich-ökonomischen Vergleich unterzieht, bietet ihm »dies Gelegenheit […], sein witziges Redetalent unter Beweis zu stellen und zugleich, unbewußt und ungewollt, das Thema der Corinna-Leopold-Handlung anzurühren«331. Jenseits dieser Vorausdeutung auf die kurz danach stattfindende Verlobung erlaubt die reine Wortebene indes folgende Interpretation: Mit ihrem Zweck der Domestizierung implizieren die Schwanenhäuser als kulturelle Manifestationen im Kleinformat die zivilisatorische Erschließung der Natur, hier im Sinne einer ästhetisch intendierten, tierisch belebenden Staffage der Seelandschaft.332 Insofern sich die Schwäne aber den Blicken entzieVögel ausschließt: »Alle Vögel, mit alleiniger Ausnahme der Spatzen, excelliren in etwas eigenthümlich Geheimnisvollem und beschäftigen unsere Phantasie mehr als andere Thiere. Wir leben in einer beständigen Scheu vor ihnen« (C, S. 119). 328 Roland Borgards, [Art.] Hund. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2012, S. 192f., hier S. 193. 329 Ebd. 330 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 134. 331 Ebd. 332 Mit dekorativen Figurationen domestizierter Natur umgeben sich die bürgerlichfeudalen Romanfiguren auch in ihrem häuslichen Wohnumfeld. Neben Park- und
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hen und allein die Schwanenhäuser zu sehen sind, zielt deren praktische Funktion ebenso ins Leere wie ihre semiotische Referenz, womit eine Grenze aufgezeigt ist, die Natur nach kulturellen Maßstäben verfügbar zu machen. Zu der gewissen »Formelhaftigkeit der Landschaftsdarstellung Fontanes«, die in der Wiederkehr »bestimmter Tiere und Pflanzen, die als eine Art von Requisiten in fast allen Romanen Fontanes«333 zu beobachten ist, kann ein weiterer Motivkomplex hinzugerechnet werden, der im Rahmen der Gesellschaftspartien häufig aufgerufen wird: eine von Licht respektive Lichtern erhellte Dunkelheit. Der grundsätzliche Fakt einbrechender Dunkelheit vermag zunächst basal darin seine Erklärung finden, dass die Mehrzahl der Ausflüge als Nachmittagspartien organisiert sowie veranstaltet werden und durch ihr Programm bis weit in den Abend hinein reichen. In Schach von Wuthenow muss die Spazierfahrt in Ermangelung »künstliche[r] Helligkeit«334 zu Beginn des 19. Jahrhunderts hingegen bei Einbruch der Dämmerung ein Ende finden.335 Schon der Spaziergang zur Tempelhofer Kirche wurde von den Figuren bei Sonnenuntergang336 unternommen, so dass bei ihrer Rückkehr »[v]on Gartenanlagen verweisen vor allem gezähmte Vögel auf diesen Habitus: »›Naturverbundenheit‹ wird in eleganten Surrogaten gesucht« (Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 114). Vgl. dazu die Kakadus, Tauben, Perlhühner und Kanarienvögel, die in L’Adultera, Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin sowie darüber hinaus in Graf Petöfy und Mathilde Möhring die Wohnstätten ›beleben‹. 333 Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968, S. 208. 334 Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983. – Ein scheinbar nebensächliches Gespräch zwischen Victoire und ihrer Tante Marguerite auf dem Tempelhofer Spaziergang erhält vor diesem Hintergrund eine geradezu ›erhellende‹ Bedeutung: In der konstatierten Ablösung von »Binsen« durch »Wachsfädchen« (SvW, S. 40) diskutieren die Figuren implizit die »Rationalisierung des Dochtes«, der Schivelbusch in seiner kultur- und technikgeschichtlichen Studie nachgeht (ebd., S. 17). 335 Der Roman Cécile präsentiert auf der Rückkehr von Altenbrak demgegenüber, dass ein spätabendlicher Ritt selbst durch die Mittelgebirgslandschaft des Harzes bei entsprechenden Witterungsverhältnissen möglich war. In seiner Feststellung dieses Tatbestands erteilt St. Arnaud überdies sich aufdrängenden romantisch-schauerlichen Assoziationen eine Absage und entlarvt sich in seiner Wortwahl einmal mehr als alter Militär: »[N]icht einmal eine regelrechte Grusel-Nacht, in der man die Hand nicht vor Augen sieht, steht uns bevor. Sieh’ nur, da drüben hängt noch das Abendroth und schon kommt der Mond herauf, als ob er auf Ablösung zöge.« (C, S. 119) 336 Der Sonnenuntergang rekurriert bei Fontane stets auf Abschied und Tod. Vgl. dazu exemplarisch: C, S. 148; omnipräsent in Stine und von Waldemar in seinem Abschiedsbrief formuliert: »Die Stunden, die wir zusammen verlebten, waren, vom ersten Tage an, Sonnenuntergangsstunden, und dabei ist es geblieben.« (GBA I/11,
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einem Wiederplatznehmen vor dem Gasthause […] keine Rede mehr« (SvW, S. 46) sein kann. Die einsetzende Dämmerung gemahnt auf der Handlungsebene zur Eile, fungiert jedoch gleichsam als passende Stimmungskulisse für die auf der Fahrt herrschende Nachdenklichkeit als auch für die Unbestimmtheit der Figurenverhältnisse: »[U]nd während jeder in Schweigen überdachte, was ihm der Nachmittag gebracht hatte, ging es in immer rascherer Fahrt wieder auf die Stadt zurück. / Diese lag schon in Dämmer« (SvW, S. 46). »[I]m halben Dämmer« (JT, S. 137) liegt in Frau Jenny Treibel der Grunewald, als die Landpartie-Gesellschaft dort, wie von Kommerzienrat Treibel angepriesen, auf »verschwiegenen Waldwege[n]« (JT, S. 136) ihren Spaziergang aufnimmt. Unverkennbar ist hier – und darin begegnen sich Erzählinstanz und die Figur Treibels – die ironische Zitation idyllisch-mythischer Bedeutungsstereotype von ›Wald‹ und ›Dämmer‹, die in der ›Halbheit‹ des Halbdunkels ihr wohl treffendstes Bild findet und jeden Versuch einer Deutung als Stimmungslandschaft unterminiert.337 Was in Frau Jenny Treibel deutlich als Ironie zu identifizieren ist, darüber bleibt die Forschung im Hinblick auf die Beurteilung von L’Adultera uneins: Während dem zweiten Teil des Werkes recht einhellig »künstlerische Mängel«, namentlich »Sentimentalität«338 oder gar »Niederungen des Kitsches«339 attestiert werden, konstatiert Plett für die Landpartie-Episode ein literarisches Verfahren, das Schemata der Trivialliteratur zwar bedient, jedoch »leise ironisiert«340. Gleichwohl Pletts These viel für sich hat, das aufgerufene »Szenenmuster […] als Klischee der geselligen Landpartie zu erkennen«341, trägt die räumliche Gestaltung Kennzeichen einer sentimentalen Romantisierung, wenn es heißt: »Die Sterne aber funkelten und spiegelten sich und tanzten um sie her« (LA, S. 77). Diese Motivverschränkung von Dunkelheit, Wasser und im Wasser glänzendem Licht trat zuvor bereits in Erscheinung, wenn Rubehn »den von Lichtern überblitzten Strom« (LA, S. 71) betrachtet. Dass
S. 102) Vgl. auch die Kapitelüberschrift ›Sonnenuntergang‹ (DS, S. 368) im Stechlin, die Dubslav von Stechlins nahenden Tod ankündigt sowie Fontanes Telegrammtext, mit dem er auf die Annahme des Stechlin von der Redaktion ›Über Land und Meer‹ reagiert: »Ihr Telegramm hat mich sehr beglückt. ›Verweile doch, du bist so schön,‹ – ich darf es sagen, denn ich sehe in den Sonnenuntergang« (DS, Anhang S. 499). 337 Vgl. zum Konnex von Landschaftsdarstellung und Stimmung Kapitel 4.3.3.4 der vorliegenden Studie. 338 Grawe, Der Fontanesche Roman, S. 469. 339 Demetz, Formen des Realismus, S. 135. 340 Plett, L’Adultera, S. 85. 341 Ebd.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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es sich dabei um eine künstliche Beleuchtung durch Uferbauten handelt, bestätigt die Beschreibung der sich bei der Bootsfahrt nähernden, anderen Uferseite; dort »erkannte man die von zahllosen Lichtern erhellten Baumgruppen des Treptower Parks« (LA, S. 77). Mag das Spiel des Sternenlichts noch leicht »dem Gefühlskitsch der Zeit zugehör[en]«342, ›beleuchten‹ die genannten elektrischen Lichtquellen buchstäblich die zivilisatorische, technische und touristische Erschließung des Landpartie-Settings. Aufgrund der fast zwei Jahrzehnte, die zwischen den Erstpublikationen der beiden Romane liegen, verwundert es nicht, dass Der Stechlin im Vergleich zu L’Adultera erst recht vor dem Hintergrund einer »Elektropolis Berlin«343 angesiedelt ist, denn »am Ende des Jahrhunderts sah man […] nahezu die ganze Stadt elektrifiziert«344. Nachdem sich schon der Ausblick vom Tisch des Ausflugslokals »verschiedenfarbig[ ]« (DS, S. 177) beleuchtet präsentierte, betrachten die Figuren auch auf der Rückfahrt vom Deck des Dampfers »die vielen hundert Lichter, die sich von beiden Ufern her im Fluß spiegelten.« (DS, S. 181) Diese Illumination übernimmt im Sinne einer gezielten Lichtregie die Funktion, die Topographie respektive die gesamte Szenerie in ein harmonisches Licht zu setzen und kulminiert schließlich in einem Feuerwerk: »Urplötzlich aber stieg gerad aus dem Dunkel heraus ein Lichtstreifen hoch in den Himmel und zerstob da, wobei rote und blaue Leuchtkugeln langsam zur Erde niederfielen.« (DS, S. 182) Dass die Beobachtung eines solchen Feuerwerkes zeithistorisch durchaus als wahrscheinlich gelten kann und keiner dichterischen ›Trickkiste‹ entnommen ist, bestätigen die von den Figuren angestellten Reflexionen, welchem »der Vororte, wo Feuerwerke sozusagen auf dem Programm stehen« (DS, S. 182), »das obligate, aber auch noch idyllisch sich anlassende Feuerwerk«345 zu verdanken ist. Weniger das Feuerwerk als die Integration elektrischer Lichtquellen kann als Besonderheit der Fontaneschen Lichtgebung bezeichnet werden, denn wie der Schein von Feuer oder den Gestirnen fungiert es in der Mehrzahl ebenfalls zur Evokation einer idyllisch-harmonischen Beleuchtung und wird von
342 Christian Grawe, L’Adultera. In: Ders. und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), FontaneHandbuch, Stuttgart 2000, S. 524–533, hier S. 529. 343 Thorsten Dame, Elektropolis Berlin. Die Energie der Großstadt. Bauprogramme und Aushandlungsprozesse zur öffentlichen Elektrizitätsversorgung in Berlin, Berlin 2011. 344 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 159. 345 Westermann, Gastlichkeit und Gaststätten bei Fontane, S. 53. – Ein Feuerwerk als stimmungsvolle Zutat geselliger Ereignisse findet sich auch in Irrungen, Wirrungen, wo die Konzertpause im Zoologischen Garten mit dem Zünden von Raketen überbrückt und von Lene und Botho im Dörrschen Garten beobachtet wird (vgl. IW, S. 33).
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den Figuren nicht als störend wahrgenommen, sondern im Gegenteil auch in ästhetischer Hinsicht begrüßt. Erneut kommt darin die Aufgeschlossenheit und Vertrautheit der Figuren mit den technischen Neuerungen ihrer Zeit zum Ausdruck – was insgesamt als Quintessenz der vorausgegangenen Ausführungen gelten kann. 4.3.2 Idyllischer Exkurs: »Irrungen, Wirrungen« Eine Analyse der Landpartie-Topographien in Fontanes Romanen bliebe unvollständig und zentraler Einsichten beraubt, würde Irrungen, Wirrungen nicht eingehend konsultiert. Die methodisch-konzeptionelle Entscheidung, diesem Text eine Einzeluntersuchung zu widmen, ist von folgenden Gründen getragen: Das komplexe Wechselspiel von räumlichen Gegebenheiten, Romanhandlung und -figuren, das als Gestaltungsmaxime aller Gesellschaftromane Fontane bestimmt werden kann, scheint dieser Text mit einer besonderen narrativen Tiefenschärfe zu vergegenwärtigen. Die Landpartie-Episode nach Hankels Ablage, der »Fontane unproportional viel erzählende Zeit zubilligt«346, kann als zentraler Höhe- und Wendepunkt der Liebesgeschichte um Lene und Botho bezeichnet werden, der auch topographisch fort- und an ein Ende führt, was die vorangegangenen Kapitel progressiv vorbereitet haben – die desillusionierende Erkenntnis auf der Figuren- und Rezeptionsebene, dass »[r]äumlich, und damit auch gesellschaftlich, […] kein Ort gefunden werden [kann], an dem die Zwiesprache und intime Begegnung jenseits gesellschaftlicher Konvention Bestand haben könnte.«347 Das zugrundeliegende literarische Verfahren oszilliert dabei zwischen der Konstitution eines Naturidylls und seiner gleichzeitigen Demontage. Insofern steht die Landpartie nach Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen mit den Gesellschaftspartien der anderen Romane in einem Verhältnis, das zugleich eines der Analogie als auch der Differenz darstellt: Während sich wie in keinem anderen Text Wunsch und Illusion einer Natur als Gegen- und Möglichkeitsraum konkretisiert finden, erscheint auch hier »die Natur auf ein zivilisiertes Maß reduziert« und trägt ihrerseits »schon deutliche Zeichen von Massentourismus und organisiertem Vergnügungsbetrieb«348. Diesem Unterkapitel eignet daher ebenso wie dem Aufenthalt in Hankels Ablage der Cha346 Christian Grawe, Irrungen, Wirrungen. In: Ders. und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 575–584, hier S. 580. 347 Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit, S. 178f. 348 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 124.
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rakter eines Exkurses: Kurz und lediglich scheinbar führen beide aus dem Gesamtzusammenhang der Dinge hinaus, um dann gleichsam im Ergebnis doch wieder dort hinein zu münden. Schon die erste Begegnung von Lene und Botho, die retrospektiv in Figurenrede erzählt wird, illustriert in ihren räumlichen Gegebenheiten zentrale Bedingungen und Bedingtheiten, die für den Fortgang der Liebesbeziehung verantwortlich zeichnen. Das standesübergreifende Vergnügen einer Stralauer Wasserpartie konstituiert einen Schnittpunkt, an dem die sozial disparaten Lebenskreise überhaupt aufeinandertreffen konnten.349 Indem Lenes unmittelbares Wohnumfeld, die Dörrsche Gärtnerei, als Schauplatz ihrer nächsten Zusammenkünfte fungiert, verschiebt sich zwar der Fokus des Raumtypus von einem öffentlichen hin zu einem privaten Raum, in beiden Fällen sind die Treffen jedoch in einem naturhaften Raum lokalisiert. Als naturhaft sind diese beiden Räume insofern zu charakterisieren, als sie je spezifische Zeichen der Kulturalisierung tragen: Die Funktionalisierung der Spree als Naherholungsgebiet der Berliner auf der einen, der Garten als das Paradigma der Naturdomestizierung auf der anderen Seite. Diese Verortung im Spannungsfeld von Natur und Kultur aktualisiert auch die geographische Lage der Dörrschen Gärtnerei, wie der erste Satz der berühmten Romanexposition belegt: »An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem ›Zoologischen‹, befand sich in der Mitte der 70er Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei« (IW, S. 5). Damit ist die Gärtnerei als ein Übergangsraum bezeichnet, der die Grenze zwischen Stadt und Land besetzt. Mit der Charakterisierung der Gärtnerei als ›feldeinwärts‹ gelegen ist jedoch nicht nur eine weitere Präzisierung ihrer Lage geleistet, sondern zugleich die Tendenz des Romans bezeichnet, großstädtisches Leben gelegentlich ›feldeinwärts‹ zu verlassen, eine Tendenz, die dann im Verlauf des Romans nicht allein in den Spaziergängen von Lene und Botho nach Wilmersdorf zum Ausdruck kommt,350
sondern sich insbesondere in ihrer Landpartie nach Hankels Ablage exemplifiziert. Während der Fluss als erste Begegnungsstätte der Figuren in sozialer 349 Siehe dazu auch Helen Chambers, Mobilität und Ehebruch, Frauen in der Stadt, Reisende. Provinz, Metropole und Welt bei Fontane und Ebner-Eschenbach. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 9), S. 257–270, hier S. 266: »[I]nnerhalb des öffentlichen urbanen Raums ergibt sich die Möglichkeit für zufällige Begegnungen und Interaktionen mit Männern aus anderen gesellschaftlichen Schichten.« 350 Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze, S. 233.
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Perspektive einen Schnittpunkt markierte und die Oberflächenstruktur des Wassers Instabilität repräsentierte, liegt der Garten am Schnittpunkt realgeographischer Stadtkonstituenten und seine Existenz erweist sich durch die Formulierung »befand sich noch« überdies zum Zeitpunkt des Erzählens bereits der Vergangenheit angehörend: »Der durch den Suburbanisierungsprozeß bedrohte Garten im Grenzbereich zwischen freiem Feld und Stadt wird aus der Perspektive des Rückblicks zum gestundeten, fest umgrenzten Terrain wie auch zum transitorischen Feld des Übergangs.«351 Die auf Eigentum beruhende Privat- und Abgeschlossenheit des Grundstücks bereitet dabei buchstäblich den Boden für ein ungestörtes und geschütztes Beisammensein der Liebenden – »im Vorzeichen des Lokals der Gärtnerei erscheint die Liebesbeziehung zwischen Botho und Lene als eine verborgene Liebe«352. Die Verborgenheit als konstitutive Voraussetzung der Beziehung wird bereits über die Topographie der Gärtnerei präfiguriert, mit deren Beschreibung der Roman nach Erörterung ihrer geographischen Lage fortfährt und die frappant um dieses Wortfeld kreist: Das »zurückgelegene[ ] Wohnhaus« zeichnet sich durch »Kleinheit und Zurückgezogenheit« aus, die »eigentliche Hauptsache« der Gärtnerei bleibt aber »durch eben dies kleine Wohnhaus wie durch eine Kulisse versteckt« und es lässt sich nur »vermuthen, daß hinter dieser Kulisse noch etwas anderes verborgen sein müsse,« wobei diese »Vermuthung« denn auch durch Hundegebell »ihre Bestätigung fand«; »[w]o dieser Hund eigentlich steckte, das entzog sich freilich der Wahrnehmung«, doch »[u]eberhaupt schien sich nichts mit Absicht verbergen zu wollen« (IW, S. 5). Insofern kann die Exposition auf der ersten Seite im Hinblick auf die ersten fünfzehn Kapitel des Romans als »Schlüssel zum Werk«353 aufgefasst werden, indem »die lokalen Gegebenheiten« und ihre narrative Gestaltung metonymisch für »die Grundspannung von Sichtbarem und Verborgenem, Öffentlichem und Privatem«354 in der Beziehung Lenes und Bothos stehen. 351 Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit, S. 177. 352 Schmidt-Brümmer, Formen des perspektivischen Erzählens, S. 36. 353 So lautet der Untertitel der Studie Hertlings, die den Implikationen der Exposition auf die Romanhandlung nachgeht (Hertling, Theodor Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹). – Der Möglichkeit, auf der Ebene der histoire eine Zweiteilung des Romans auszumachen, die durch das Erzählen von Liebe und das Erzählen von Entsagung strukturiert ist, entsprechen auf der Ebene des discours differierende erzähltechnische Verfahren. Darin gründet Grawes zuzustimmende Einschätzung, nach der Hertlings »Versuch, den [ganzen; M. B.] Roman von der ersten Seite her interpretatorisch in den Griff zu bekommen, [...] daher schon im Ansatz verfehlt« ist (Grawe, Irrungen, Wirrungen, S. 581). 354 Schmidt-Brümmer, Formen des perspektivischen Erzählens, S. 35.
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Die Darstellung der Dörrschen Gärtnerei als Schauplatz der ersten Paarbegegnungen zeigt ein literarisches Verfahren, das im weiteren Verlauf auch die Landpartie nach Hankels Ablage auszeichnet: »Durch Poetisierung und Entpoetisierung ihrer Bauten, Gartenanlagen und Bewohner wird die Dörrsche Gärtnerei in ›Irrungen, Wirrungen‹ […] als idyllischer Schauplatz gleichermaßen auf- und wieder abgebaut.«355 Dabei variiert allerdings zum einen die Richtung, in der »Poetisierung und Entpoetisierung« vorgenommen werden, zum anderen die Dauer respektive Beständigkeit: Entpuppt sich das vermeintliche »Schloß«, Wohnstatt der Gärtnersfamilie, bei genauerem Hinsehen unwiderruflich »als ein jämmerlicher Holzkasten« (IW, S. 9), als »eine höchst primitive Herrichtung« (IW, S. 10), so wandelt sich der Garten, der »zunächst als ein gewöhnlicher Gemüsegarten, als ein wirtschaftlich genutzter Raum«356 in Erscheinung tritt, beim abendlichen Spaziergang im Mondschein zu einer idyllischen Szenerie. »Drinnen im Garten war alles Duft und Frische«, »Leuchtkäfer schwirrten durch die Luft« (IW, S. 32), »der Mond stand drüben über dem Elephantenhause« in »niederströmende[m] Silberlichte« (IW, S. 34), bis schließlich ein Feuerwerk am Himmel zu beobachten ist. »Vom prosaischen Gemüsegarten, seiner Gewöhnlichkeit und Unordentlichkeit fehlt hier jede Spur«, vielmehr scheint auf »Toposmerkmale eines ›hortus conclusus‹« angespielt, »der die Vorstellung von einer Art paradiesischer Gegenwelt auf sich vereinigt.«357 Die äußere Welt, von der der Garten und damit zugleich die Liebesbeziehung sicher abgeschlossen scheinen, bleibt gleichwohl im Gespräch der Figuren und topographisch im Rekurs auf den Zoologischen Garten gegenwärtig. Dieser »repräsentiert die Botho und Lene verschlossene Öffentlichkeit gegenüber der abschirmenden Privatheit der Gärtnerei. Diese Konfrontation bringt beiden die Instabilität ihres Glücks, insofern es ja gesellschaftlich nicht existiert, zum Bewußtsein«358 und wird von Lene zudem wie folgt verbalisiert: »Weißt du, Botho, wenn ich Dich nun so nehmen und mit Dir die Läster-Allee drüben auf- und abschreiten könnte, so sicher wie hier zwischen den Buchsbaumrabatten« (IW, S. 37). Der Austritt aus dem geschützten Refugium des Gartens wird konsequent als ein Moment der Mobilität gestaltet, denn der gemeinsam unternommene Spaziergang über die Felder parallelisiert die soziale Grenzüberschreitung des gesellschaftlich ungleichen Paares mit einer räumlichen. Garantierte zuvor die private Abgeschlossenheit des Grundstücks ein ungestörtes Zusammensein,
355 Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze, S. 239. 356 Schmidt-Brümmer, Formen des perspektivischen Erzählens, S. 44. 357 Ebd., S. 45. Vgl. dazu auch Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit, S. 178. 358 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 154.
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bildet nun die Einsamkeit des Weges die Voraussetzung für diese Unternehmung. Durch ein »verstecktes Seitenpförtchen« gelangt man »auf einen Feldweg hinaus«, von dem Lene versichert: »›Da kommt niemand.‹ / Und wirklich, es war der einsamste Weg, um vieles stiller und menschenleerer als drei, vier andere, die parallel mit ihm über die Wiese hin auf Wilmersdorf zuführten« (IW, S. 58). Indem der »Abendspaziergang nach Wilmersdorf [gerichtet ist], das damals, wie die Wegbeschreibung deutlich macht, noch durch ein sumpfiges Wiesengebiet […] von der sich ständig vergrößernden Stadt getrennt war«359, aktualisiert sich hier, was bereits für die Topographien der vorangegangenen Begegnungen (Spree und Gärtnerei) konstatiert werden konnte: die Verortung im Grenzgebiet von Stadt und Land, Kultur und Natur sowie die Unbeständigkeit des Bodens, auf dem das Paar sich bewegt.360 Selbst eine gebrochene Idyllisierung der Landschaft findet hier dagegen nicht statt, dazu tragen, neben den intrikat-sexuellen Anspielungen Frau Dörrs, die Lene und Botho auf dem Spaziergang begleitet und in Verlegenheit versetzt, in topographischer Hinsicht jene Konstituenten bei, die entlang des Weges »ein eigenthümliches Vorstadtsleben zeigten.« (IW, S. 58) Neben »einer benachbarten Kegelbahn-Tabagie« (IW, S. 60), die wie in Frau Jenny Treibel in ihrer akustischen Dimension vermittelt wird, verweisen »allerlei Schuppen« und »Gerüste« (IW, S. 58) auf die »Arbeitsroutinen des Kleinbürgertums, aber auch [auf ] gewisse[ ] Freizeitroutinen dieser Schicht«361. Die soziale Kluft, die Botho von der repräsentierten kleinbürgerlichen Lebensund Arbeitssphäre Lenes trennt, enthüllt sich in seiner Arg- und Ahnungslosigkeit, mit der er die Teppichklopfstangen mit Turngeräten assoziiert, bis ihm die eigentliche Funktion durch ihre praktische Anwendung vor Augen geführt wird. Die davon aufgewirbelte »Staubwolke« (IW, S. 58) findet in einem »zusammengekarrten Unkrauthaufen« ihre Entsprechung, der als »Ruheplatz« und »Aussichtspunkt« (IW, S. 60) der Spaziergänger fungiert, ebenso wie in dem »Schutt einer Bildhauer-Werkstatt« (IW, S. 52), den die Figuren auf ihrem Weg passieren. Staub, Unkraut, Schutt – dass die diesem Dreischritt verschiedener und in der Natur entsorgter Abfallprodukte innewohnende räumliche Trostlosigkeit eng mit der Gegenwart und Zukunft des Lie359 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 80. 360 Siehe dazu auch Hettche, der die räumlichen Gegebenheiten des Spazierganges interpretatorisch ebenfalls mit dem Kennenlernen des Paares auf der Spree zusammendenkt: »Von solcher Transitorik sind alle weiteren Begegnungen Bothos und Lenes geprägt. Der Eindruck des Brüchigen und Doppelbödigen wiederholt und verstärkt sich auf dem Spaziergang nach Wilmersdorf« (Hettche, Irrungen, Wirrungen, S. 139). 361 Ledanff, Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes, S. 153.
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besglücks korrespondiert, indizieren nicht zuletzt Form und Gestalt des Bildhauerschutts, »denn allerhand Stuck-Ornamente, namentlich Engelsköpfe, lagen in großer Zahl umher.« (IW, S. 58) Die »Symbolik der ›Engelsköpfe‹ als eines Amor-Motivs« verweist auf die Zerbrechlichkeit der Verbindung, »wie auch d[a]s Schicksalsmotiv[ ] der rollenden Kugel«362 die Aussichtslosigkeit einer gemeinsamen Zukunft vorausdeutet, wenn die akustische Evokation der Kegelbahn eine Wette initiiert und der erste Wurf als »Sandhase« (IW, S. 61) misslingt.363 Wenn auch der gemeinsame Bewegungsradius nur minimal erweitert wurde, fördert der Spaziergang nach Wilmersdorf gleichwohl den Wunsch nach einer weiteren Extension räumlicher Begegnungsmöglichkeit, der im Rahmen einer gemeinsamen Landpartie erfüllt werden soll: »Die Landpartie, die man nach dem Wilmersdorfer Spaziergange verabredet oder wenigstens geplant hatte,« (IW, S. 70) führt das Paar einige Wochen später nach Hankels Ablage. Noch bevor dieses Ausflugsziel topographisch in Erscheinung tritt, ruft der Text die Vorstellung ländlicher Abgeschiedenheit hervor, wenn Lene »in Gottes freier Natur, möglichst fern von dem großstädtischen Getreibe, mit dem geliebten Manne zusammen zu sein« (IW, S. 70) wünscht. Die Landpartie nach Hankels Ablage lässt sich insofern »als ein Versuch verstehen, sich der Illusion zu widmen, dass es möglich sei, die Knoten der vernetzten modernen Welt, wenn auch nur vorübergehend, zu lösen.«364 Dass es sich dabei nur um eine Illusion handeln kann, wird gleich zu Beginn der Partie entlarvt, wenn Lene und Botho bequem »mit dem Görlitzer Nachmittagszuge nach Hankels Ablage hinaus« (IW, S. 70) fahren, wo sie »sich allerdings beim Aussteigen vergewissern, ob sie nicht die Idylle mit anderen Ausflüglern teilen müssen.«365 Auch wenn Hankels Ablage anfangs »die Sehnsucht der Figuren nach […] Ausschluß der Öffentlichkeit« zu erfüllen scheint, so »enthält seine Beschreibung [jedoch; M. B.] von vornherein deutliche Hinweise auf den Öffentlichkeitscharakter […] und damit auf zu erwartende Störungen.«366 Die bereits in dieser Romanpassage zu beobachtende Ambivalenz, die Integration in das moderne Infrastruktursystem bei gleichzeitiger, vorerst vorgefun362 Ebd. 363 In Cécile findet sich eine ähnliche Vorausdeutung im Modus des Akustischen, wenn der Ruf des Kuckucks den baldigen Tod Gordons ankündigt: »[A]ls Gordon zu zählen anfing, rief er nur ein einzig Mal noch.« (C, S. 86) Wenn hingegen der Eseljunge nach der Zahl seiner weiteren Lebensjahre fragt, »antwortete der Kukuk und sein Rufen wollte kein Ende nehmen.« (C, S. 87) 364 Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 157. 365 Weber, Die literarische Landschaft, S. 361. 366 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 152.
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dener Exklusivität und Idyllik, kann als das grundlegende Gestaltungsprinzip gelten, das die Darstellung von Hankels Ablage maßgeblich prägt. Nach ihrer Ankunft erreichen Lene und Botho zu Fuß das hiesige Gasthaus, das nur »in etwa zehn Minuten Entfernung von dem kleinen Stationsgebäude« (IW, S. 71) entfernt liegt. Wie sich herausstellt scheinen diesen Weg über Land jedoch ausschließlich diejenigen zu wählen, die Hankels Ablage dank seines »glänzende[n] Renommé[s], dessen sich diese Stelle bei allen Eingeweihten erfreute« (IW, S. 71) als Ort ungestörter Zweisamkeit aufsuchen; den Hauptverkehrsweg stellt der Fluss mit seinen Ausflugsdampfern dar, die in den Sommermonaten Hankels Ablage fast täglich mit mehreren hundert Besuchern an Bord ansteuern. Worin dieses »glänzende Renommé« besteht, wird im Text nie explizit benannt, allerdings finden sich subtile Hinweise, die das Eintreffen von Bothos Kameraden in Begleitung ihrer ›Damen‹ am folgenden Morgen endgültig bestätigt: Hankels Ablage gewährt Männern der oberen Gesellschaft die Möglichkeit, ihr »freie[s] Liebesverhältnis« mit »Mädchen einfachen Standes«367 in der Anonymität eines Ausflugslokals auszuleben. Realistisch verklärt und dennoch anspielungsreich rekurrieren darauf schon Begriff und Form der Selbstbezeichnung »›Etablissement‹, wie sich’s auf einem schiefstehenden Wegweiser nannte« (IW, S. 71).368 Selbst dem eigentlichen Namen ›Hankels Ablage‹, der auf die wirtschaftshistorische Bedeutung jener Stelle als gemeinsamer »Hafen- oder Stapelplatz« der umliegenden Dörfer zurückgeht, ist eine gewisse Doppeldeutigkeit eingeschrieben; die Be-
367 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 256. 368 Ein »großes Etablissement« begegnet Botho wenige Kapitel später auch bei seinem Ausritt: Die vage bleibende Spezifizierung, es handele sich dabei um »ein Walzwerk oder eine Maschinenwerkstatt« (IW, S. 108) veranlasst zu der These, dass der verklausulierende Terminus ›Etablissement‹ stets dann Gebrauch findet, wenn die konkrete Funktion der Institution unbestimmt bleiben soll respektive nicht genannt werden darf. Im genannten Fall korreliert der Verzicht auf eine klare Bezeichnung als Fabrik mit Bothos verklärender Wahrnehmung, die in den Industriearbeitern neidvoll eine »Gruppe glücklicher Menschen« (IW, S. 108) zu erkennen glaubt: »Die Tatsache, dass sich das ›Etablissement‹ offenbar nicht eindeutig identifizieren lässt, ist dabei der Unvertrautheit Bothos mit den Formen entfremdeter Arbeit in Rechnung zu stellen« (Volker C. Dörr, ›Denn Ordnung ist viel und mitunter alles‹. Sprache und Geschlecht in ›Irrungen, Wirrungen‹. In: Sabina Becker und Sascha Kiefer (Hrsg.), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Tübingen 2005, S. 179–206, hier S. 192). – Die Assoziation zu Adolph Menzels epochalem Eisenwalzwerk stellt sich nicht von ungefähr ein, auch wenn Fontane das ihn besonders interessierende »Arbeitspausen-Genre in Menzels ›Eisenwalzwerk‹ […] neben das ›Walzwerk‹ ins Freie« verlegt (Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 464).
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zeichnung wird vom Wirt als »ein Malhör« (IW, S. 79) bezeichnet. Der Hintersinn betrifft dabei nicht nur die »Ausfuhr und Einfuhr«, und die »›Ablage‹ für alles, was kam und ging« (IW, S. 79);369 »hinzu kommt, dass ›Ablage‹ phonetisch und semantisch an ›Absteige‹ erinnert«370. Dass Hankels Ablage als »Beispiel für einen sozioökonomisch bedingten räumlichen Strukturwandel, für die Umstellung von ländlicher Wirtschaft auf Tourismus«371 gelten kann, zeigt sich nicht allein in der Geschichte seiner Funktion sondern wird auch an dem Gebäude, in dem nun ein Gasthaus untergebracht ist, manifest: »Alles zeigte, daß man die Fischer- und SchifferHerberge mit Geflissentlichkeit beibehalten, aber sie doch zugleich auch in ein gefälliges Gasthaus für die reichen Sportsleute vom Segler- und Ruderklub umgewandelt hatte.« (IW, S. 84) Damit stellt der Text pointiert Folgendes heraus: »Man hat sich […] bei der Umfunktionierung des Fischerhauses bemüht, eine anachronistische Illusion intakt zu halten, um sie dann als so etwas wie ein ›echtes Spreewald-Erlebnis‹ auf dem großstädtischen Tourismusmarkt anbieten zu können.«372 Die nötigen Umbaumaßnahmen waren regelrecht einer Marketingstrategie unterworfen, die die ökonomische Zeitenwende ebenso erkannt hat, wie das Potential eines Einfachheit und Rustikalität verheißenden Ambientes. Diesseits der impliziten und expliziten Hinweise auf den Grad der Touristisierung von Hankels Ablage und seines erheblichen Publikumsverkehrs (bestehend aus den ›Eingeweihten‹, Seglern, Ruderern und DampfschiffPartiegesellschaften), die die vermeintliche Abgeschiedenheit zur Disposition stellen, wird parallel dazu der Eindruck einer geschützten Enklave konstituiert: Maßgeblichen Anteil daran trägt das wiederkehrende Aufrufen der Wortfelder ›Einsamkeit‹ und ›Stille‹, wobei diese beiden Begriffe entweder in direkter Verwendung oder in sinnverwandten Varianten die Narration der
369 Dies lässt Reminiszenzen an Cécile und die Beobachtungen aus dem Eisenbahnabteil aufkommen, wenn in einen Keller »Körbe mit Flaschen hinein und […] wieder hinausgetragen« (C, S. 6) werden. Stephan erkennt darin »Gegenstände und Bewegungen, die der Beschreibung einen versteckt erotischen Charakter verleihen« (Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan‹, S. 128). Vgl. hierzu auch Kapitel 4.2.3.2 der vorliegenden Studie. 370 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 86. Für derlei Implikationen unempfänglich, erscheint ›Hankels Ablage‹ Müller-Seidel als »ein sehr nüchterner Name«, in dem er allenfalls in der Differenz zur vermeintlichen Idylle eine gewisse Komik zu erkennen glaubt (Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 265). 371 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 87. 372 Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 158.
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Landpartie-Kapitel durchziehen.373 Damit sind Parameter aufgerufen, die bereits die Gestaltung der Dörrschen Gärtnerei und der vorstädtischen Felder bestimmten. Die Gewähr jener Bedingungen, die für das Ausleben der Beziehung erforderlich sind, ist in Hankels Ablage mit einer natürlichen Topographie verknüpft, die, gemessen an den Gesellschaftspartien der anderen Romane, eine eingehendere Schilderung erfährt und zum Raum einer Naturbegegnung avanciert. Eingedenk der Technik der Perspektivierung, die den meisten Natur- und Landschaftsdarstellungen im Erzählwerk Fontanes zugrunde liegt, lässt die konkretere Kontur, die die Topographie in Hankels Ablage über die dezidierte Nennung verschiedener Tiere und Pflanzen sowie die Beschreibung von Landschaftskompositionen gewinnt, auf ein erhöhtes Interesse schließen, das die Figuren der Natur entgegenbringen. Gleichwohl zeigen die Topographien erneut eine gewisse Formelhaftigkeit, die wiederum ein Bildrepertoire aufruft, wie es auch in den anderen Partien in Erscheinung tritt. Doch nicht einmal in der vermeintlichen Abgeschiedenheit von Hankels Ablage »gewinnt der semantische Raum Natur, Landschaft, Ländlichkeit die Funktion einer kapitalen Opposition zur geschichtlichen Welt, zur Stadt, zur Zivilisation«; vielmehr ergänzt das ›Etablissement‹ die Reihe der in den anderen Gesellschaftsromanen in Erscheinung tretenden »›hybride[n]‹ Orte, sofern sie eine Interferenz von Natur und Zivilisation aufweisen.«374 Dabei reicht die zivilisatorische Durchdringung über die touristische Institution des Gasthauses und seiner infrastrukturellen Erschließung durch Eisenbahn und Dampfschiff hinaus und exemplifiziert sich überdies z. B. in der visuell wahrgenommenen Nachbarschaft der nächstgelegenen Dörfer. Die auf dem Fluss vorbeiziehende »Flottille von Spreekähnen« (IW, S. 86), eine »seit Jahr und Tag leer stehende Fischerhütte« (IW, S. 75) und die Beobachtung von »zwei
373 Siehe dazu die folgende Auflistung, getrennt nach den beiden genannten Oberbegriffen ›Stille‹ und ›Einsamkeit‹: »Einsamkeit; fern von dem großstädtischen Getreibe; allein« (IW, S. 70), »mutterwindallein; Einsamkeit; niemand außer Botho und Lene stieg aus« (IW, S. 71), »allein; Alleinsein« (IW, S. 72), »einsam; zu einsam; einsam; Einsamkeit; einsam« (IW, S. 80), »Einsamkeit« (IW, S. 83 und S. 89); »Stille« (IW, S. 70), »still« (IW, S. 71), »Keiner sprach« (IW, S. 77), »Ruhe« (IW, S. 77), »Todtenstille« (IW, S. 80 und S. 83), »still« (IW, S. 83), »tiefe Stille; leise« (IW, S. 85), »leiser Wind« (IW, S. 86), »leise; Ruhe« (IW, S. 87). 374 Wolfgang Preisendanz, Reduktionsformen des Idyllischen im Roman des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Fontane). In: Hans Ulrich Seeber und Paul Gerhard Klussmann (Hrsg.), Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Bonn 1986 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 372), S. 81–92, hier S. 84.
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Fischers Leuten […], die das umstehende Rohr schnitten und die großen Bündel in ihren Prahm warfen« (IW, S. 88) repräsentieren hingegen die »regressive[ ] Integration von Hankels Ablage in die Wirtschaft der noch vorindustriellen Mark«375 und evozieren insofern »den Charakter des Anachronistischen, der scheinbar arretierten Zeit, des Jenseits im Diesseits, der Enklave«376 – und damit Merkmale der Idylle, verortet in der modernen Zivilisation. Zwangsläufig müssen daher die Zitate des idyllischen […] Repertoires dadurch konterkariert [werden], daß immer wieder die Schatten der episodisch verlassenen umgreifenden Wirklichkeit […] der sozialen Differenzen und Abhängigkeiten, der zivilisatorischen Artifizialitäten auf das Bild eines anderen Daseins fallen, das die Protagonisten in ihren temporären Aufenthalt projizieren.377
Die Idyllenerfahrung wird, flankiert von den räumlichen Indikatoren, besonders durch zwei Aspekte unterlaufen und als »an die Perspektiven der Protagonisten [rück]gebunden«378 profiliert: die Konfrontation des Paares mit seinem Standesunterschied und mit der Illegitimität seines Verhältnisses. Denn selbst wenn Lene und Botho sich topographisch in einem Möglichkeitsraum zu wähnen wünschen, wo ihre Liebe diese Unterschiede zu überwinden vermag, als Ausflugslokal ist Hankels Ablage genuin ein Ort der Öffentlichkeit, sein Enthobensein von gesellschaftlichen Normen und Konventionen insofern eine Illusion. »Die Landpartie wird nicht nur zum Höhepunkt des intimen, sondern auch des gesellschaftlich definierten Verhältnisses«, denn »[j]enseits ihres intimen Einverständnisses werden Lene und Botho von Rienäcker in der Öffentlichkeit im geselligen Umgang auf schicht- und geschlechtsspezifische Rollenmuster verpflichtet«379. Und diese Öffentlichkeit begegnet nicht erst mit der Ankunft von Bothos Offizierskameraden, sondern bereits in der Gestalt und dem »Mißverständnis der Wirtsleute, die Botho und Lene für ein Ehepaar und Lene noch dazu für schwanger halten«380, was Lene unangenehm affiziert: »Lene bezwang nur mit Müh’ ihre Verlegenheit« (IW, S. 78). Als gesellschaftlich unterlegene junge Frau in der von sozialen Differenzen geprägten Partnerschaft wird Lene dabei in Momenten vorgeführt, in denen ihr »die Gleichzeitigkeit des glückhaften Erlebnisses in einer zwangfreien
375 Darby, Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt, S. 158. 376 Preisendanz, Reduktionsformen des Idyllischen, S. 87. 377 Ebd., S. 85. 378 Ebd. 379 Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit, S. 178. 380 Hettche, Irrungen, Wirrungen, S. 140.
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Zweisamkeit und der Einsicht in die Unmöglichkeit, ein solches klassenübergreifendes Glück in einer von Tradition und Konvention geordneten Welt dauerhaft zu bewahren«381, schmerzlich gewahr wird. Botho zeigt sich hingegen für derlei Anwandlungen unempfänglich, gibt sich ganz der Idyllenerfahrung hin und verleiht dem irrationalen Status verbal zusätzlich beschwörend Gewicht, indem er im formelhaften Rückgriff auf christliche Symbolik Hankels Ablage als »[h]immlisch« (IW, S. 88) bezeichnet und es ihm »wie im Paradiese« (IW, S. 87) vorkommt. Seine Befürchtung, ein eintreffender Ausflugsdampfer könne mit seinen Gästen die idyllische Szenerie und Ruhe stören, beschließt er mit dem Vergleich: »Das wäre dann freilich die Vertreibung aus dem Paradiese« (IW, S. 87), »womit er unbewußt auf die Beziehung zwischen der Idyllentradition und den Vorstellungen eines goldenen Zeitalters, eines verlorenen Paradieses, einer diesseitigen Andersweltlichkeit anspielt.«382 Zugleich weist er damit auf den ›Sündenfall‹, »auf die tatsächliche Störung durch Bothos als Touristen erscheinende Klubfreunde voraus«383, die kurz darauf der utopischen Abgeschiedenheit ein Ende bereitet. Schon zum zweiten Mal bedient sich Botho damit zur Charakterisierung von Hankels Ablage eines Bildrepertoires, das implizit seine Illusion unterläuft und an der narrativen Strategie mitwirkt, »[d]ie Idylle […] als Scheinidylle«384 zu demaskieren: Am Abend zuvor hatten ihn die vorgefundene Einsamkeit und Stille dazu veranlasst, von »wahre[r] Todtenstille« zu sprechen und vorbeiziehende Spreekähne mit »Gespensterschiff[en]« (IW, S. 80) zu vergleichen.385 381 Mayer, Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos, S. 65. – Stellvertretend sei hier auf zwei Episoden verwiesen, in denen Lenes Klarsicht und Einsicht besonders eindrücklich zum Vorschein kommt: Am Abend fühlt Lene sich »angegriffen« (IW, S. 77) und zieht sich Ruhe bedürfend in die Giebelstube zurück. Kaum ist dieser psychosomatische »Anfall« (IW, S. 83) vorüber, gemahnt sie die Möblierung des Innenraumes erneut schmerzlich an die Unmöglichkeit langfristigen Glücks mit Botho. Am nächsten Morgen fühlt sich Lene für einen kurzen Moment aller Sorgen enthoben, bis ihr eine hart arbeitende Magd die eigene Herkunft und den eigenen Stand mahnend vor Augen führt: »[D]as ist kein Zufall, daß sie da kniet, sie kniet da für mich und ich fühle deutlich, daß es mir ein Zeichen ist und eine Fügung.« (IW, S. 88) 382 Preisendanz, Reduktionsformen des Idyllischen, S. 86. 383 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 153. 384 Lau, Betrachtungen zu Raum und Zeit, S. 72. 385 Darin lässt sich ein Gestaltungsmerkmal von Idyllendarstellungen im 19. Jahrhundert erkennen, nämlich die »Tendenz zur Mortifikation der Idylle« (Renate Böschenstein, Idyllischer Todesraum und agrarische Utopie: zwei Gestaltungsformen des Idyllischen in der erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Hans Ulrich Seeber und Paul Gerhard Klussmann (Hrsg.), Idylle und Modernisierung in der europäischen Lite-
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Mit dem »Einbruch der Öffentlichkeit in Gestalt von Bothos Freunden«386 und ihren Begleiterinnen muss das Wunschbild eines sozial exterritorialen Raumes, auf dessen Boden die Liebesbeziehung hätte Bestand haben können, endgültig zerplatzen: In der gesellschaftlichen Realität, »[a]ußerhalb des intimen Schutzraumes wird die individuelle Übereinkunft zwischen den Liebenden in das konventionelle Muster des Standesverhältnisses überführt.«387 Wird dem Liebespaar räumlich kein Ausweg aus der Situation gelassen, sieht es sich doch von der eingetroffenen Gesellschaft buchstäblich »umstellt und eingefangen« (IW, S. 89), trägt Botho an der Degradierung ihrer Liebe zudem eine gewisse Mitschuld. Denn er entschließt sich, »gute Miene zum bösen Spiel zu machen« (IW, S. 90) und auf das kameradschaftliche Sprachspiel einzugehen, die ›Damen‹ im überheblichen Gestus gesellschaftlicher und intellektueller Überlegenheit mit Codenamen vorzustellen: »Botho [verletzt] Lene dadurch, daß er auf das Tun seiner Komplizen eingeht und sie ›Mademoiselle Agnes Sorel‹ tauft (nach der Mätresse Karls des Siebten) und sie so mit dem Rest der Mätressen auf eine Stufe stellt und scheinbar ihre Liebe zu einer schäbigen Liebelei erniedrigt«388 – anstatt unter Gebrauch von Lenes bürgerlichem Namen auch semiotisch die Differenz ihres Liebesverhältnisses herauszustreichen. Wenngleich sich am zweiten Tag der Landpartie der sich vielfach angedeutete ›Öffentlichkeitscharakter‹ des Ausflugslokals bewahrheitet und die perfid-geplante Störung eigentlich nur »eine Konsequenz aus der Summe der vorausgegangenen Störungen des Idylls« darstellt, kulminiert hier dennoch das literarische Verfahren, das »Hankels Ablage als Idyll konzipiert und gleichzeitig verhindert.«389 Dieser Höhepunkt der Desillusionierung markiert zugleich den Wendepunkt, der den Anfang vom Ende des Verhältnisses und damit den Wechsel von einer Liebes- hin zu einer Entsagungsgeschichte einleitet: »[D]er Ausflug nach ›Hankels Ablage‹, von dem man sich so viel versprochen und der auch wirklich so schön und glücklich begonnen hatte, war in seinem Ausgange nichts als eine Mischung von Verstimmung, Müdigkeit und Abspannung gewesen« (IW, S. 100). Auch wenn die Zäsur des Scheiterns hier nicht eigens benannt wird, so bleibt ihre implizite Erwähnung dennoch ratur des 19. Jahrhunderts, Bonn 1986 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 372), S. 24–40, hier S. 29). 386 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 153. 387 Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit, S. 178. 388 Derek Bowman, ›Unser Herz hat Platz für allerlei Widersprüche.‹ Aspekte von Liebe und sexueller Gier in Fontanes Roman ›Irrungen, Wirrungen‹. In: Fontane Blätter 37 (1984), S. 443–456, hier S. 452. 389 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 153.
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nicht vakant, indem sie die zeitliche Leerstelle zwischen Beginn und Ausgang der Landpartie besetzt. Dem treffenden Ausdruck »der halb gescheiterten Partie« (IW, S. 111), den Lene nach ihrer Rückkehr gegenüber Botho gebraucht, ist eine zeitliche Zäsur dabei ebenso prägnant eingeschrieben, wie die Ambivalenz von Glückserleben und seiner Enttäuschung. Mit der bitteren Erkenntnis Lenes und Bothos nach ihrer Rückkehr aus Hankels Ablage, »daß es das Paradies, das man erhofft hatte, nicht gibt«390, endet aber keinesfalls das narrative Verfahren, die nunmehr kurz vor dem Ende stehende Liebesbeziehung mit spezifischen räumlichen Gegebenheiten zu korrelieren. Vielmehr ist – wenn auch in zeitlicher Hinsicht extrem verdichtet – topographisch eine rückläufige Konzeption zu beobachten, welche die im Spannungsfeld von Natur und Kultur stehenden Schauplätze, die vor der Landpartie den Boden der Liebesbegegnung bereiteten, vice versa zur Darstellung bringt: Der räumlichen Extension folgt der auch räumlich als desillusioniert markierte Rückzug, an dessen Ende die endgültige Trennung von Lene und Botho steht. Nach ihrer Ankunft »auf dem trübselig erleuchteten Görlitzer Bahnhof«, Spiegel ihrer »ziemlich herabgestimmt[en]« (IW, S. 99) Gemütsverfassung, besteht Botho darauf, Lene nach Hause zu begleiten. Die Strecke gleicht dabei nahezu jenem Weg, den beide unmittelbar am ersten Tag ihrer Bekanntschaft nach der Stralauer Wasserpartie gemeinsam zurücklegten und der topographisch wiederum aus der relativen Weite des öffentlichen Partiesettings in die private Begrenztheit der Dörrschen Gärtnerei zurückführt. Die Distanz wird dabei unter gänzlich anderen Vorzeichen überwunden und empfunden: Bot der »weite[ ] Weg, erst an der Spree und dann an dem Kanal hin« (IW, S. 19) bei seinem ersten Abschreiten die willkommene Gelegenheit, sich beim Spaziergang und vertraulichem Gespräch näher kennenzulernen, muss die »lange, lange Fahrt am Kanal« in einer Kutsche vor der Folie des unmittelbar Erlebten in Hankels Ablage nun mit »eine[r] schreckliche[n] Zwangsunterhaltung« (IW, S. 99) überbrückt werden. Lenes Intuition einer baldigen Trennung, die Botho beim Abschied noch abwehrt (womit erneut Lenes Realitätssinn mit Bothos Wunschdenken kontrastiert wird), bewahrheitet sich schon am nächsten Morgen, wenn ein Brief seiner Mutter ihn »mit aller Deutlichkeit vor die Alternative zwischen Bankrott oder Heirat mit Käthe von Sellenthin«391 stellt und Botho eine Entschei390 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 266. 391 Hettche, Irrungen, Wirrungen, S. 140. Die Datierung dieses Briefes unterstreicht dabei rückwirkend den »Anachronismus des Glücks von Hankels Ablage, sofern der Brief der Mutter, der Botho zur Entscheidung zwingt, schon unterwegs ist« (Preisendanz, Reduktionsformen des Idyllischen, S. 85).
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dung abverlangt. Seiner inneren Erregung versucht er mit einem Ausritt Herr zu werden, so dass sein »Gemütszustand« narrativ »mit dem Bild der Stadt in Korrespondenz«392 tritt. Das Setting seines widerstreitenden Monologs kann allerdings nur bedingt der Topographie ›Stadt‹ zugeordnet werden, denn Botho reitet auf einem »breiten, über Fenn und Feld in die Jungfernhaide hinüberführenden Weg« (IW, S. 105). Er befindet sich also vielmehr erneut auf instabilem Boden, in einem »Zwischenreich von Natur und Kultur«393. Jene Charakteristika, die alle Topographien der Paarbegegnungen auszeichneten, sind hier also konsequent auch dem Reflexionsmoment Bothos zugeordnet, in dem er der Liebe zu Lene schließlich entsagt. Am nächsten Abend, und damit nur zwei Tage nach der gemeinsamen Landpartie nach Hankels Ablage, kehrt Botho ein letztes Mal in die Dörrsche Gärtnerei zurück, um dort »Abschied auf immer« (IW, S. 109) von Lene zu nehmen. Indem die beiden den Garten nach kurzem Verweilen bald verlassen und im Dunkeln »denselben Feldweg hinauf [gehen], der sie damals bis […] Wilmersdorf geführt hatte« (IW, S. 111), schreiten sie an diesem letzten Abend gemeinsam nochmals jene Räume und Wege ab, die die längste Zeit ihrer Verbindung ihren beschränkten Bewegungsradius bestimmten. Diese Rückkehr in die Limitierung vermittelt auch topographisch das desillusionierte Eingeständnis, dass die Begrenzung und Einsamkeit von Garten und Feld jene Parameter darstellen, die sich für die ausgelassenen Begegnungen als konstitutiv erwiesen haben, und dass jenseits davon der Liebe kein Raum abgewonnen werden kann. Insbesondere die abendlichen und heimlichen Spaziergänge des Paares nach Wilmersdorf, wo »alles Sumpf is und blos so thut, als ob es Wiese wäre« (IW, S. 59), erhalten im späteren Verlauf des Romans ex negativo eine Reminiszenz, wenn Lenes zukünftiger Ehemann Gideon Franke über das Glück und das Leben doziert und hierfür die Metapher eines Weges bemüht: »Aber jeder gute Weg muß ein offner Weg und ein gerader Weg sein und in der Sonne liegen und ohne Morast und ohne Sumpf und ohne Irrlicht. Auf die Wahrheit kommt es an« (IW, S. 154). Im Hinblick auf die Raumkonzeption damit nahezu eine Kreisbewegung vollziehend endet die Liebesbeziehung dort, wo sie die längste Zeit bestehen konnte, hinter dem symbolischen »Gartengitter« (IW, S. 113) des Dörrschen Grundstücks. Auch in Irrungen, Wirrungen vermag sich die Sehnsucht nach einem gesellschaftsfernen, natürlichen Gegen- respektive Möglichkeitsraum allenfalls noch zeiträumlich begrenzt, in »Reduktionsformen des Idyllischen«394 zu aktualisieren. 392 Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 78. 393 Dörr, ›Denn Ordnung ist viel und mitunter alles‹, S. 182. 394 Preisendanz, Reduktionsformen des Idyllischen.
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4.3.3 Die Landschaften der Landpartien: »Bilder und immer wieder Bilder« Die Form der Naturbegegnung und -wahrnehmung unterliegt in Fontanes Gesellschaftsromanen einer gesellschaftlich-geselligen ›Präparierung‹395. Im Kontext einer müßiggängerischen Unternehmung betrachten die Figuren, in den meisten Fällen behaglich sitzend, die sich ihnen darbietende Umgebung. Die (kulturalisierte) Natur formiert sich zu Bildern, genauer: zu Landschaftsbildern. Die Bildlichkeit, die Fontanes Natur- respektive Landschaftsdarstellungen eingeschrieben ist, offenbarte sich in den vorangegangenen Ausführungen einerseits schon explizit über den Terminus des Bildes, der im Kontext geschilderter Aussichten (so in Cécile und Frau Jenny Treibel) Verwendung fand. Lamping spricht im Hinblick auf Fontane von einem »fast schon stereotype[n] Vergleich des Gesehenen mit einem Bild.«396 Andererseits erfuhr die Bildlichkeit auch insofern eine implizite Thematisierung, als die Landschaftsdarstellungen stets das Wahrnehmungsfeld der Figuren umfassten: Die gewährten Anblicke und Aussichten weisen eine ›Rahmung‹ auf, die sich gleichermaßen aus der räumlich-zivilisatorischen wie auch der figurativ-individuellen Wahrnehmungssituation konstituiert. Der Fokus auf die Gesellschaftspartien ergibt sich dabei nicht allein aus dem Untersuchungsinteresse der vorliegenden Studie, sondern findet darüber hinaus eine werk- und genreimmanente Erklärung: Mit dem Terminus ›Berliner Gesellschaftsromane‹ sind Sujet und Setting des zugrundeliegenden Textkorpus hinreichend benannt, die Handlung insofern primär auf das Gesellschaftliche und den Schauplatz Berlins verpflichtet. Zwangsläufig muss das Folgen für den quantitativen Anteil von Natur- und Landschaftsdarstellungen zeitigen, die sodann fast ausschließlich auf die Episoden der Gesellschaftspartien entfallen. Die Wechselbeziehung von Landschaften, Bildern und Figuren im Rahmen der Gesellschaftspartien ist dabei weder eine literarische Eigenart Fontanes, noch per se eine ungewöhnliche Konstellation; vielmehr entspricht sie wahrnehmungstheoretischen Axiomen der Landschaftsentstehung und erfüllt in den Romanen überdies eine wichtige poetische Funktion. Mag ein ergänzender Hinweis auf das Genre der Landschaftsmalerei zunächst dazu beitragen, jene Fusion von Landschaftsbildern und Betrachtungsinstanz grundsätzlich vertraut erscheinen zu lassen, erfolgt der Hinweis indes aus noch
395 Vgl. Hillebrand, Mensch und Raum im Roman, S. 282. 396 Dieter Lamping, ›Schönheitsvoller Realismus‹. Die Landschaftsbilder Fontanes. In: Wirkendes Wort 34 (1984), S. 2–10, hier S. 4.
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weitreichenderen Gründen. Denn während sich die Entstehung eines Landschaftsbildes gleicht, unabhängig davon, ob es sich um eine (bild-)künstlerische oder eine subjektiv geschaute Figuration handelt, etablierte und tradierte die Malerei wirkmächtige Bildmuster, die auch jenseits der Grenzen bildnerischer Künste Einfluss auf nachfolgende, subjektive und literarische Landschaftskompositionen übten. 4.3.3.1 Bildlichkeit Eine »wichtige Bedingung[ ] zur Konstitution von Landschaft« ist die Erfahrung und Betrachtung der »Natur als ästhetischer Gegenstand«397. Mit dieser auf den ersten Blick wenig überraschenden und harmlos anmutenden Feststellung sind allerdings zentrale Maximen tangiert, deren Reflexion für eine Beschäftigung mit Landschaft und ihrer Entstehung unerlässlich sind. Zum einen handelt es sich dabei um das Verhältnis von Natur und Landschaft, das insofern keines der Identität darstellt, als es der Ästhetisierung der Natur bedarf, um Landschaft zu konstituieren. Zum anderen ist damit a priori eine Instanz vorausgesetzt, die diesen Akt der Ästhetisierung vornimmt: »Erst in visu wird ein Ort zur Landschaft; er präsentiert sich ausschließlich von einer bestimmten Perspektive aus als Ganzheit, und der Ursprung dieses Sehens kann eigentlich nur in einem Subjekt liegen.«398 Das Vermögen, Natur als einen ästhetischen Gegenstand zu betrachten, stellt dabei keineswegs eine anthropologische Konstante dar: »Die Wahrnehmung von Natur als Landschaft ist alles andere als selbstverständlich. […] Sie ist eine historisch vermittelte Sehweise, keine angestammte, also keine, die sich aus der Biologie des Menschen erklären ließe.«399 Historisch vermittelt ist jene Sehweise, da sie an spezifische Bedingungen geknüpft ist, die sich unter die Schlagworte Emanzipation und Entfremdung von der Natur subsumieren lassen. Erst der Austritt des Menschen aus den natürlichen Bedingtheiten und die daraus resultierende Fähigkeit einer exzentrischen Betrachtung der Umwelt bilden die Voraussetzung, Natur als Landschaft zu vergegenwärtigen. »›Landschaft‹ im ästhetischen Sinn ist eine zivilisierte Kategorie. Sie setzt 397 Manfred Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik. Zur Konstitution von Landschaft. In: Ders. (Hrsg.), Landschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 44–69, hier S. 44. 398 Michel Callot, Landschaft. In: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 3), S. 151–159, hier S. 155. 399 Weber, Die literarische Landschaft, S. 167.
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die Trennung von Stadt und Land voraus, d. h. das Aufbrechen der bewußtlosen Symbiose des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt.«400 Der Frage, wie die ästhetische Zuwendung zur Natur konkret vorzustellen ist, widmet sich Georg Simmel in seinem Essay Philosophie der Landschaft. Denn selbst eine exzentrische Betrachtung der Natur lässt diese noch nicht zu einer Landschaft avancieren: »Landschaft [ist] noch nicht damit gegeben […], daß allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden«; vielmehr vollzieht sich im Betrachter ein »eigentümliche[r] geistige[r] Prozeß, der aus alledem erst die Landschaft erzeugt«401. Dieser Prozess besteht wesentlich in dem Vermögen, aus der Natur, die »nichts Ausschnitthaftes« hat, die vielmehr »etwas Ganzes, Ungeteiltes, eine Einheit«402 ist, eine Konstellation von Naturkonstituenten herauszulösen und diese wiederum als etwas ganzheitlich Zusammenhängendes aufzufassen.403 Verantwortlich dafür zeichnet der Betrachter, dem »das Wahrgenommene zu einem perzeptiven Bild [wird]. Perzeptiv ist dieses Bild, weil der Ausschnitt aus der Natur, den [er] dabei in den Blick [nimmt], visuelle Gegebenheiten der Natur selektiv so erfaßt, daß sie ihrerseits wieder als Einheit […] gesehen werden können.«404 Auf der Grundlage dieser Reflexionen kann die konstatierte Bildhaftigkeit der Landschaftsdarstellungen in den Gesellschaftsromanen Fontanes in einem ersten Schritt wie folgt verstanden werden: Die Verwendung der Bild-Vokabel kann als impliziter Hinweis darauf gelten, dass es sich bei der entsprechenden
400 Rolf Peter Sieferle, Entstehung und Zerstörung der Landschaft. In: Manfred Smuda (Hrsg.), Landschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 238–265, hier S. 238. – Siehe dazu paradigmatisch auch Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Münster Westf. 1963, S. 30: »Der Naturgenuß und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen so die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus.« 401 Georg Simmel, Philosophie der Landschaft. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Bd. XII/1, Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Frankfurt am Main 2001, S. 471–482, hier S. 471. 402 Weber, Die literarische Landschaft, S. 169. 403 Verbunden bleibt damit allerdings die Vorstellung, dass der Landschaft trotz ihres Ausschnittcharakters die Ganzheitlichkeit der Natur weiterhin innewohnt, »in ihr ist das Ganze der Natur anwesend« (Weber, Die literarische Landschaft, S. 169). Vgl. dazu auch Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand, S. 49; Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 472. 404 Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand, S. 55. Vgl. dazu auch Simmel: »Die Natur […] wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität ›Landschaft‹ umgebaut« (Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 472).
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Beschreibung um ein Wahrnehmungsprodukt einer oder mehrerer Romanfiguren handelt, denn »[d]ie Landschaft als Wahrnehmungsbild der Natur ist immer eine Ansicht von einem bestimmten Beobachterstandpunkt aus.«405 Nicht die Erzählinstanz entwirft hier also ein ›objektives‹ Landschaftstableau, vor dessen Kulisse die Romanfiguren agieren, sondern die Vergegenwärtigung der literarischen Topographien erfolgt durch die Mittlerinstanz der Figuren und ist insofern rückgebunden an ihre Perspektive. »Alle Landschaften Fontanes weisen sich vielmehr als Bilder aus, die perspektivisch auf die ›Sehpunkte‹ einzelner Beobachter bezogen sind.«406 Stellvertretend soll dies an einer Passage aus Cécile verdeutlicht werden: ›Wie schön‹, sagte Cécile, während ihr Auge die vor ihr ausgebreitete Landschaft überflog. / Und wirklich, es war ein Bild voll eigenen Reizes. / Der Abhang, an dem sie saßen, lief, in allmählicher Schrägung, bis an die durch Wärterbuden und Schlagbäume markirte Bahn, an deren anderer Seite die rothen Dächer des Dorfes auftauchten, nur hier und da von hohen Pappeln überragt. Aber noch anmuthiger war das, was diesseits lag: eine Doppelreihe blühender Hagerosenbüsche, die zwischen einem unmittelbar vor ihnen sich ausdehnenden Kleefeld und zwei nach links und rechts hin gelegenen Kornbreiten die Grenze zogen. (C, S. 82f.)
Der Leser scheint hier geradezu simultan den Moment der Landschaftswahrnehmung nachzuverfolgen, indem explizit das Auge als Organ der Perzeption sowie seine Bewegung im Verb ›überfliegen‹ benannt werden. Die »Simultaneität der Landschaftswahrnehmung« wird auch »durch den Erzählvorgang bewirkt[ ]«407, denn die konstitutive Verpflichtung von Narrationen auf die sukzessive Beschreibung korreliert mit dem prozessualen Verlauf der Landschaftswerdung – die Selektion des Wahrnehmungsausschnitts, die Strukturierung der einzelnen Elemente zu einer Einheit und damit die ästhetische Komposition zu einem Landschaftsbild. Die Landschaftsdarstellung weist sich gleich in mehrfacher Hinsicht als das Produkt einer individuellen Anschauung aus. Cécile wird als wahrnehmende Instanz nicht nur namentlich genannt, es ist zudem ihr Auge, das die »vor ihr ausgebreitete Landschaft« überfliegt, und schließlich ist sie es auch, die eine ästhetische »Beurteilung der Landschaft«408 vornimmt. Das ästhetische Urteil wird sodann durch die Erzählinstanz bestätigt und bekräftigt, wenn es heißt: »Und wirklich, es war ein Bild voll eigenen Reizes.« Im
405 Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand, S. 61. 406 Ohl, Bild und Wirklichkeit, S. 203. 407 Fischer, Theodor Fontane – Blicke auf die Landschaft, S. 183. 408 Lamping, ›Schönheitsvoller Realismus‹, S. 4.
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Moment der Betrachtung befindet sich Cécile auf »einem bestimmten, […] etwas erhöht gelegenen Punkt«409; dieser bedingt eine gewisse Statik ebenso wie den Ausschnitt ihrer Wahrnehmung. Als typisch für Fontane erweist sich grundsätzlich nicht nur die aus Figurenperspektive vermittelte Wahrnehmung der Topographien, sondern darüber hinaus auch »der Charakter der Landschaften: ihre Weite und Offenheit einerseits, ihre räumliche Nähe zu den Kulturlandschaften der Städte, Dörfer und Siedlungen andererseits.«410 Anstatt jedoch wie Lamping allenfalls eine räumliche Nähe zu den Kulturlandschaften der zivilisatorischen Siedlungsformationen zu konstatieren, soll der Begriff hier weiter gefasst werden, so dass die in Cécile zur Ansicht gebrachte Szenerie insgesamt unter den Begriff ›Kulturlandschaft‹ subsumiert werden kann. »Zur Kulturlandschaft gehören nämlich auch die Bewohner, ihre Dörfer und Städte, die Felder und Kanäle, Wege und Brücken«411. Für die Zeit der hier untersuchten Gesellschaftsromane sind darüber hinaus auch Schienen, »Telegraphenmasten und -drähte[ ], die Teil des maschinellen Ensembles der Eisenbahn sind«412, zu ergänzen. Im vorliegenden Beispiel zeigt sich einmal mehr, dass Technik und ästhetische Anschauung bei Fontane nicht im Widerspruch zueinander stehen. Im Gegenteil, »die durch Wärterbuden und Schlagbäume markirte Bahn« wird als selbstverständliches und gleichwertiges Konstituens in die Komposition des Landschaftsbildes integriert. Struktur gewinnt dieses Landschaftsbild durch die Ordnungsschemata »hier und da«, »diesseits« sowie »links und rechts«, die ebenfalls auf Cécile als Betrachterin und ihre spezifische Wahrnehmungsposition rekurrieren. Max Tau ist zu verdanken, als erster auf die stete Wiederkehr von »Fontanes Vorn-und-hinten- und Links-und-rechts-Choreographie«413 im Kontext seiner Natur- und Landschaftsdarstellungen aufmerksam gemacht zu haben. Allerdings geht er in seiner Beurteilung fehl, wenn er kritisiert: »Es scheint fast, daß […] unser Erzähler Aussagen über Landschaftszeichnungen und Landschaftsgemälde macht. Es findet keine Neuschaffung einer Landschaft statt, sondern eine Kopierung von Werken aus dem Gebiete der bildenden Kunst.«414 Taus abschließendes Urteil über Fontanes Landschaftsdarstellungen ist dabei insofern interessant, als es zwar eine zentrale Beobachtung ent-
409 Ebd. 410 Ebd. 411 Sieferle, Entstehung und Zerstörung der Landschaft, S. 246. 412 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 34. 413 Scherpe, Ort oder Raum, S. 163. 414 Max Tau, Landschafts- und Ortsdarstellung Theodor Fontanes, Oldenburg 1928, S. 15.
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hält, jedoch unzureichende Schlüsse daraus zieht. So konstatiert er, »daß Fontane als Künstler kein ursprüngliches und unmittelbares Verhältnis zur Landschaft besaß und sie darum auch nicht auf besondere, einmalige Weise zu gestalten vermochte.«415 In der Tat besaß Fontane am Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund von Industrialisierung und Urbanisierung »kein ursprüngliches und unmittelbares Verhältnis zur Landschaft« mehr, das seinen Reflex in den literarischen Naturdarstellungen finden könnte. Die Talentlosigkeit, die Tau Fontane attestiert, basiert also auf einer spezifischen Erwartungshaltung an Naturdarstellungen, die Fontanes eigentliche künstlerische Intention verkennen muss.416 In dieser Fehleinschätzung folgt ihm Demetz, der wie Tau die gliedernde Darstellung in »Vordergrund und Hintergrund, links und rechts« hervorhebt, diese jedoch als »abstrakte Symmetrie« verkennt und ebenfalls zu dem wenig schmeichelhaften Ergebnis gelangt, dass Fontane »kein Dichter der Landschaft«417 sei. Jenseits direkter bildkünstlerischer Einflussnahmen, die im Anschluss thematisiert werden, soll zunächst auf eine viel grundlegendere Analogie zur Landschaftsmalerei hingewiesen werden, die die Komposition von (bild-)künstlerischen respektive subjektiv ›geschauten‹ Landschaftsfigurationen betrifft. So handelt es sich bei der »Gliederung nach Vorder-, Mittel- und Hintergrund«418 und den interne Relationen herstellenden Ordnungsbegriffen weder um »abstrakte Symmetrie«, noch um eine »Kopierung« ausschließlich bildkünstlerischer Gestaltungsmaximen, um erneut auf die Vorwürfe Demetz und Taus Bezug zu nehmen. Vielmehr liegt dieses Verfahren dem von Simmel attestierten geistigen Prozess zugrunde und begleitet insofern konstitutiv jede ästhetische Wahrnehmung der Natur als Landschaft: »Eben das, was der Künstler tut: daß er aus […] der unmittelbar gegebenen Welt ein Stück herausgrenzt, es als eine Einheit faßt und formt, […] – eben dies tun wir […] in fragmentarischer, grenzunsicherer Art, sobald wir statt einer Wiese und eines Hauses und eines Baches […] nun eine ›Landschaft‹ schauen.«419 Indem für Simmel »vor dem Landschaftsgemälde noch eine Zwischenstufe steht: die Formung der Naturelemente zu der ›Landschaft‹ im gewöhnlichen Sinne«420, ist es nur folgerichtig, wenn er apodiktisch formuliert: »Wo wir
415 Ebd., S. 43. 416 Vgl. zur Kritik an Tau auch Ohl, Bild und Wirklichkeit, S. 200ff.; Lamping, ›Schönheitsvoller Realismus‹, S. 2; Weber, Die literarische Landschaft, S. 364. 417 Demetz, Formen des Realismus, S. 105. 418 Weber, Die literarische Landschaft, S. 375. 419 Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 474. 420 Ebd., S. 478.
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wirklich Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk in statu nascendi.«421 Simmels Begriff vom »Kunstwerk in statu nascendi« ist noch eine weitere Dimension eingeschrieben, die die ästhetische Komposition von Landschaftswahrnehmungen durchaus noch in konkreterem Sinne mit Landschaftsgemälden verknüpft. Gemeint ist »ein an der Landschaftsmalerei eingeübtes Sehen«, das für den Betrachter einen »Vorrat an Bildvorstellungen parat« hält, »die für die Einbildungskraft bei der Konstitution seines Landschaftsbildes richtungsweisend sein könnten.«422 Hier liegt ein weiterer Schlüssel, die Bildhaftigkeit der Landschaftsdarstellungen in den Gesellschaftsromanen Fontanes zu verstehen, folgt man der These, dass die Konfigurationen der literarischen Landschaftsbilder auf einer Kenntnis von Landschaftsmalereien beruhen und auf ein bildkünstlerisch »habitualisiertes Anschauungsmuster«423 zurückgreifen.424 4.3.3.2 Bildtraditionen Auf Seiten des Autors darf man heute mit Fug und Recht »von einem durch Landschaftsgemälde konditionierten Sehen ausgeh[en]«425. Zwar wurde Fontane in der Forschung zunächst ein »mäßiges Verständnis« der Kunst attestiert und lange Zeit bestand das »verbreitete Urteil über Fontanes mangelnden Kunstsinn«426, doch diese Fehleinschätzung wurde derweil revidiert. Wesentlich dazu beigetragen hat die Publikation seiner Aufsätze zur bildenden Kunst 427 in zwei Bänden; seither »steht die Bedeutung seiner kunstkritischen
421 Ebd., S. 477. 422 Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand, S. 65. 423 Hilmar Frank und Eckhard Lobsien, Landschaft. In: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3, Harmonie – Material, Stuttgart 2001, S. 617–665, hier S. 621. 424 Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die Malerei. Zur Photographie vgl. exemplarisch Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung; Sabina Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges. Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter, München 2010. 425 Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand, S. 67. – Vgl. zur Formulierung ›Konditionierung‹ auch Sieferle, Entstehung und Zerstörung der Landschaft, S. 260. 426 Peter-Klaus Schuster, Die Kunst bei Fontane. In: Claude Keisch, ders. et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 11–25, hier S. 11. Vgl. dazu ausführlich Donald C. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts: A Survey and Evaluation. In: German Studies Review 7/1 (1984), S. 39–64, hier S. 48ff. 427 NFA XXIII/1–2.
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Tätigkeit außer Zweifel, und das Interesse an ihren Einträgen und Auswirkungen nimmt stetig zu.«428 Zahlreiche Referenzen auf Genres, Stile, Maler und konkrete Gemälde durchziehen Fontanes gesamtes Werk, finden sich in seinen autobiographischen und journalistischen Schriften, ebenso wie in seinen Briefen, Reisefeuilletons, den Wanderungen und nicht zuletzt in seinem Erzählwerk, so dass das Vorhaben einer Synopsis hier nicht geleistet werden kann.429 Allenfalls einige Schlaglichter sollen gesetzt und mit Hinweisen auf weiterführende Forschungsliteratur versehen werden. Über die Tatsache, dass für das Genre der Landschaftsmalerei Nicolas Poussin und Claude Lorrain Darstellungskonventionen von großer Wirkmacht und -dauer etabliert haben, die »ein regelrechtes Regiment über die Wahrnehmungswelt von Generationen ausgeübt«430 haben, darüber besteht in der Kunstgeschichtswissenschaft allgemeiner Konsens. Fontane stellt hier keine Ausnahme dar: In einer autobiographischen Notiz kommentiert er die Beschreibung einer französischen Landschaft z. B. wie folgt: »[E]s berührte mich, als wäre ich all diesem auf Galerien, in breitem goldenen Rahmen schon mal begegnet.«431 Die geschaute Landschaft weckt zunächst allgemein Reminiszenzen an Begegnungen mit künstlerischen Landschaftsbildern, konkretisiert sich dann allerdings in der Folge, wenn Fontane explizit auf Lorrain als ›Vergleichsquelle‹ rekurriert: »[E]s war als sähe man eine der weitgedehnten Veduten Claude Lorrains«432. Der Ort seiner ersten Begegnung mit dieser Malerei, »Fontane lernte die Landschaften Lorrains, wie übrigens auch Nicolas Poussins, in England kennen, […] 1852 in der National Gallery«433, kann insofern als bedeutsam
428 Hugo Aust, Fontane und die bildende Kunst. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 405–411, hier S. 405. 429 Um »[e]ine zusammenhänge Darstellung von Fontanes Kunstkritiken und die Positionierung Fontanes als Kunstkritiker« hat sich jüngst Carmen Aus der Au verdient gemacht; nicht zuletzt indem sie »die gesamten schriftlichen Äußerungen Fontanes zu Kunst und Kunstkritik eruiert« und derart Fontanes häufige Beschäftigung mit dem Thema und als Kritiker in seinem Œuvre stupend herausarbeitet (Carmen Aus der Au, Fontane als Kunstkritiker, Berlin/Boston 2017 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 11), S. 4). 430 Fischer, Theodor Fontane – Blicke auf die Landschaft, S. 187. 431 HFA III/4, S. 590. 432 Ebd. 433 Fischer, Theodor Fontane – Blicke auf die Landschaft, S. 187f. – Vgl. u. a. zu Etat, Sammlung und Besuchermassen der National Gallery um die Mitte des 19. Jahrhunderts Moritz Wullen, Englische Malerei. ›Kosmopolitismus in der Kunst‹. Fontane in England. In: Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 42–47, hier S. 43f.
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gelten, als Fontanes Kunstrezeption maßgeblich durch seine Aufenthalte in England beeinflusst wurde. So beginnt für Fontane die Moderne »nicht in Frankreich, sondern in England bei Hogarth und Turner. Sie reicht dann über die Präraffaeliten und die viktorianische Malerei nach Deutschland, wo Turner bei Blechen, dieser bei Böcklin, Hogarth bei Menzel ihre Fortsetzung haben.«434 Insbesondere Fontanes Wertschätzung J. M. W. Turners und sein Verdienst, diesen zu jener Zeit in Deutschland noch so gut wie unbekannten Maler im Rahmen seiner kunstkritischen Schriften einem breiteren Publikum bekannt gemacht zu haben, ist aus gutem Grund oft hervorgehoben worden.435 Denn Fontane hat »den Künstler Turner auf jeden Fall ›ernster‹ genommen und besser verstanden als alle Fachkritiker vor ihm. Er erkannte Turner als unvergleichliches Original an und begründete damit eine Einstellung, die erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts allgemein werden sollte«436. Fontane selbst fürchtete angesichts seiner Bewunderung für Turner, dessen »Schöpfungen aus persönlicher Liebhaberei zu überschätzen«437. Seine »Liebhaberei« hat ihn jedoch nicht blind gemacht, weder für die heute in der Kunstgeschichte paradigmatische Einsicht, Turner »schien mit Licht malen zu wollen«, noch für Kritik daran, denn Fontane hielt dies für »de[n] falsche[n] Weg, den dieser wunderbare Mann einschlug«438. Doch auch mit alten Meistern und deutscher Kunst war Fontane vertraut,439 mit zeitgenössischen Malern wie Max Liebermann und Adolph Men-
434 Peter-Klaus Schuster, Vorwort. In: Claude Keisch, ders. et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 7f., hier S. 7. Vgl. dazu insgesamt den Ausstellungskatalog als auch Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 42. 435 Vgl. neben den bereits zuvor genannten Beiträgen auch Hubertus Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹. Wie Fontane mit Bildern erzählt. In: Tim Mehigan und Gerhard Sauder (Hrsg.), Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert. Festschrift für Christian Grawe zum 65. Geburtstag, Sankt Ingbert 2001 (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 69), S. 109–137, hier S. 114f.; Schuster, Die Kunst bei Fontane, S. 11ff.; Stefan Greif, Turner, Stifter und Fontane – Vom Lob der Zerstreuung. In: Der Deutschunterricht 59/6 (2007), S. 49–57. 436 Andreas Haus, Turner im Urteil deutscher Kunstkritik. In: Henning Bock (Hrsg.), J. M. W. Turner: Der Maler des Lichts, Berlin 1972, S. 95–108, hier S. 99. 437 NFA XXIII/1, S. 134. 438 Ebd., S. 139. 439 Vgl. Immo Wagner-Douglas, Alte Meister. Von der Bildsprache zum Sprachbild. In: Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 231–241; Claude Keisch, Das klassische Berlin. Suche nach einer verlorenen Zeit. Berlin in der Mark Brandenburg. In: Ders., Peter-Klaus Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 121–125.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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zel war er überdies persönlich bekannt respektive freundschaftlich verbunden und weist mit ihnen – wenn auch nicht reibungsfreie – Berührungspunkte in Thematik, Motivik und realistischem Kunstverständnis auf.440 Insgesamt kann gelten, dass sein »Urteil […] autonom und unbestechlich [war]. Kein Stern im Bädeker, keine kunstwissenschaftliche Autorität, kein traditioneller Ruhm hinderten ihn, selbst vor sogenannten ›großen Namen‹ mit der Achsel zu zucken.«441 So kommentiert Fontane ein Gemälde Tintorettos in einer Reisenotiz lapidar mit: »Es ist ohne alle Tiefe, ohne jeden geistigen Gehalt. Flott zusammengeschmiert.«442 Fontanes profunde Kenntnisse der bildenden Kunst legen es nahe, ihm »ein durch Kunst erzogenes Auge [zu attestieren; M. B.], dem sich oft Linien, Formen, Licht und Farben zu Bildern jenes ›musée imaginaire‹ organisieren,
440 Zu Liebermann vgl. Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts; Peter Paret, Fontane und Liebermann. Versuch eines Vergleiches. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.– 17. September 1998 in Potsdam. Bd. 1, Würzburg 2000, S. 285–292; Angelika Wesenberg, ›Daß Sie mich mit Fontane vergleichen, ist mir sehr schmeichelhaft.‹ Vom Kritiker zum Künstlerkollegen. Der Romancier und der Maler. In: Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 318–324. Zu Menzel vgl. Claude Keisch, ›Ja, wer ist Menzel?‹ In: Ders., Peter-Klaus Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 200f. sowie die ebd. auf Fontanes Kunstkritik Bezug nehmenden Bildkommentare S. 202–213; Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 118ff.; Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts; Sonja Wüsten, Zu kunstkritischen Schriften Fontanes. In: Fontane Blätter 27 (1978), S. 174–200, hier S. 188f. Eine umfassende Berücksichtigung Menzels durchzieht überdies die Studien von Aus der Au, Fontane als Kunstkritiker und Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Die Bedeutung Menzels für die letztgenannte Untersuchung bringt Aust in seiner Rezension wie folgt auf den Punkt: »[F]ast könnte im Titel neben ›Theodor Fontane‹ auch ›Adolph Menzel‹ stehen« (Hugo Aust, [Rez.] Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014. In: Fontane Blätter 101 (2016), S. 64–76, hier S. 65). Zu Blechen und Böcklin vgl. Keisch, Das klassische Berlin, S. 123ff.; Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts; Regina Dieterle, Fontane und Böcklin. Eine Recherche. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-FontaneArchivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 1, Würzburg 2000, S. 269–283. 441 Wilhelm Vogt, Fontane und bildende Kunst. In: NFA XXIII/2, S. 185–197, hier S. 192f. 442 GBA XI/3, S. 315.
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das er als Kunstkritiker und Ausstellungsbesucher im Bildgedächtnis gespeichert hat.«443 Zeugnis davon legen nicht zuletzt auch die Gesellschaftsromane Fontanes ab, in denen »Bilder und immer wieder Bilder« (C, S. 55) eine zentrale Rolle spielen: Über das Requisitenspiel mit Bildern im Erzählwerk Auskunft zu geben heißt soviel wie alle seine Erzählungen zu interpretieren. Immer wieder werden Bilder betrachtet und rücken ihrerseits den Betrachter ins Licht; Bilder ›sprechen‹ und werden besprochen, führen zusammen und trennen; sie zeigen sich und zeugen doch von etwas anderem, schmücken und entlarven[.]444
In den wiederkehrenden Kunstgesprächen, in denen über die Nennung und Thematisierung von Malern, Stilen und Gemälden ein breites kunsthistorisches Wissen unter Beweis gestellt wird, verdeutlicht sich eindrücklich, dass auch viele Romanfiguren Fontanes ein »durch Kunst erzogenes Auge« aufweisen. »Kunst, besonders auch alte Kunst, wird zum großen Gesellschaftsthema des 19. Jahrhunderts« und findet seinen Reflex in der »neue[n] Form des Kunst- und Galeriegesprächs, dem der ›Causeur‹ Fontane besondere Aufmerksamkeit widmet.«445 Mit der Implementierung in die dargestellte Geselligkeits- und Gesprächskultur der ›guten Gesellschaft‹ beweist Fontane sein kulturdiagnostisches Gespür, erkennt er doch überaus hellsichtig Themen und Tendenzen seiner Zeit und verarbeitet diese stofflich in seinen Romanen. Für das Vorhandensein eines kollektiven Bildgedächtnisses auf Figurenebene sei stellvertretend auf L’Adultera verwiesen, wo der »bilderschwärmende« (LA, S. 55) Van der Straaten auch deshalb immer wieder Kunstgespräche initiiert, weil »sie ihm Stichworte liefern, [um; M. B.] auf seine beiden Lieblingsthemen einschwenken zu können: die Frauen und die Sexualität.«446 Während er Murillo für dessen »warme Madonnen« (LA, S. 32) bewundert, konstatiert er über Tizian: »Er versteht sich auf alles Mögliche, nur nicht auf Madonnen. Auf Frau Venus versteht er sich. Das ist seine Sache. Fleisch, Fleisch.« (LA, S. 33f.) Dabei geht »[d]ie Kunstgeschichte […] durchaus konform mit van [sic!] der Straatens etwas zweideutig vorgetragener Meinung«447 über Tizian, so dass abstrahiert von der sexuell konnotierten Vorliebe für 443 Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 112. 444 Aust, Fontane und die bildende Kunst, S. 410. Vgl. dazu auch Winfried Jung, Funktion von Kunst und Kultur in Theodor Fontanes ›L’Adultera‹, Stuttgart 1991, S. 5ff. 445 Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 231. 446 Dirk Mende, ›Wenig mit Liebe‹. Ein Nachwort. In: Theodor Fontane, L’Adultera. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Fontane, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Dirk Mende. München 1997, S. 162–260, hier S. 203. 447 Jung, Bildergespräche, S. 112.
4.3 Die Topographien der Landpartien
203
weiblich-figürliche Bildmotive Van der Straatens eingehende Kenntnisse der bildenden Kunst verdeutlicht werden. Darum ist diese Figur besonders geeignet als ein Beispiel dafür zu fungieren, wie die Betrachtung der Landschaft durch ein ikonographisches Muster beeinflusst wird.448 Auf der Stralauer Landpartie genießt die teilnehmende Gesellschaft, an einem Tisch in Löbbekes Kaffeehaus sitzend, den Blick auf die in abendliches Licht getauchte Stadtsilhouette Berlins: »Alles freute sich des Bildes, und Van der Straaten sagte: ›Sieh, Melanie. Die Schloßkuppel. Sieht sie nicht aus wie Santa Maria Saluta?‹/ ›Salutè‹, verbesserte Melanie, mit Accentuirung der letzten Silbe.« (LA, S. 65) Auch wenn hier ein architektonisches Bauwerk einen Vergleich motiviert und es sich dezidiert um eine Stadtlandschaft handelt, so lässt sich dennoch die Praxis einer Überformung der Wahrnehmung veranschaulichen. Eine Konditionierung der Sehgewohnheiten kann im vorliegenden Fall in besonderer, geradezu potenzierter Form angenommen werden, geht doch aus dem Text deutlich hervor, dass die Van der Straatens gemeinsam Venedig besucht haben (vgl. LA, S. 12). ›Santa Maria della Salute‹ ist eines der Wahrzeichen der Stadt, direkt gegenüber des Dogenpalastes am Canal Grande gelegen und seit jeher Besuchermagnet. Auch befinden sich dort Werke von Tintoretto und Tizian, weshalb wenig Zweifel daran bestehen kann, dass das Ehepaar die Kirche im Rahmen ihres Besichtigungsprogramms besucht hat. Gleiches dürfte für das Ehepaar Fontane gelten, für das »sich im Spätsommer der Jahre 1873 und 1874 der Wunsch einer Italienreise [erfüllte]. Ziel waren die großen Kunstzentren von Venedig bis Rom.«449 Bedenkt man die Fülle malerischer Darstellungen der Kirche ›Santa Maria della Salute‹ – genannt seien hier repräsentativ nur die Veduten Canalettos und Turners –, kann für die individuelle Anschauung angenommen werden, dass diese auf der Folie eines bildmotivischen Vorwissens erfolgt ist. Wenn Van der Straaten im Rahmen der Landpartie auf Ähnlichkeiten zwischen der Berliner Schlosskuppel und dem venezianischen Bauwerk hinweist, so speist sich dieser Vergleich aus einem Bildgedächtnis, als dessen Quelle zum einen seine Kenntnis der Malerei fungiert, zum anderen
448 »Das ›Bilderankucken‹ bleibt bekanntlich nicht auf gemalte und reproduzierte Bilder beschränkt. Bilder formen auch die Sicht des Wirklichen« (Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 662). 449 Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 233. Zu Fontanes Venedig-Aufenthalt vgl. Sabine Engel, ›Mit Kunstgeschichte unterhalte ich dich nicht.‹ Theodor Fontane, Venedig und ›L’Adultera‹. In: Hanna Delf von Wolzogen und Richard Faber (Hrsg.), Theodor Fontane: Dichter und Romancier. Seine Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert, Würzburg 2015 (= Fontaneana, Bd. 14), S. 179–197.
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aber auch seine durch diese Kenntnis präfigurierte, persönlich erinnerte Wahrnehmung. Dafür, dass »sich Wahrnehmungen bereits in ihrem Vollzug nach den Mustern bildlicher, kollektiv[er]«450 Standards organisieren, bedarf es neben der Malerei als eines wichtigen Spenders dieser Bildmuster zudem auch eines kunstästhetischen Verständnisses, zu dessen Ausprägung nicht zuletzt theoretische, kunstkritische, reisejournalistische und natürlich literarische Texte in erheblichem Maße beitrugen.451 Fontane kommt in diesem Zusammenhang eine interessante Mittlerposition zu, ist er doch zunächst selbst durch die Schule des »Sehenlernen[s]«452 gegangen, bevor er die Seh- und Wahrnehmungsweisen seiner Figuren – und vor dem Hintergrund seiner kunstkritischen Schriften auch die seiner Leser – mit ästhetischen Direktiven geformt hat. ›Sehengelernt‹ hat Fontane zum einen »durch Gemäldestudien«, mit der Folge, dass er sich »eine erhöhte Fähigkeit zur Kunstrezeption antrainiert« hat und »seine Wahrnehmungsweise der Landschaft […] durch seine Betrachtung der Landschaftsmalerei beeinflusst«453 war. Zum anderen war diese Wahrnehmungsweise aber auch durch poetische Muster geprägt, besonders durch die der britischen (Reise-)Literatur. So war Fontanes 1858 unternommene Reise nach Schottland »vor allem eine Pilgerfahrt zu den Wirkungsstätten und Romanschauplätzen Walter Scotts«, so dass »sein Interesse für schottische Landschaften« durch Historie und Literatur initiiert und seine Vorstellungen dieser Landschaften prädisponiert waren: »Sein Bild von Schottland ist durch die Darstellungen Sir Walters geprägt, die er durch In-Augenscheinnahme zu verifizieren suchte.«454 Fontane musste sich aller450 Moritz Wullen, Über das Sehen bei Fontane. In: Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster et al. (Hrsg.), Fontane und die bildende Kunst, Berlin 1998, S. 257–261, hier S. 260. 451 Verwiesen sei hier überdies auf die große Einflussnahme, die Fontanes Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen und Organisationen sowie die dort geführten Diskussionen mit Schriftstellern, Malern, Kunstkritikern und -historikern auf sein Kunsturteil übten. Vgl. dazu ausführlich Aus der Au, Fontane als Kunstkritiker, S. 155ff. Der besonderen Rolle, die Franz Kugler in diesem Zusammenhang zukommt, forscht auch Graevenitz intensiv nach, fungiert dieser doch als »Mittelpunkt« einer »Sehgemeinschaft, die auch Fontanes Sehgemeinschaft wurde« (Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 40). 452 Erdmut Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780–1820. Sophie von La Roche – Friederike Brun – Johanna Schopenhauer, Freiburg im Breisgau 2005 (= Rombach Wissenschaften – Reihe Litterae, Bd. 122), S. 496. 453 Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 116. 454 Maren Ermisch, ›Ein romantischer Zauber liegt über dieser Landschaft‹. Theodor Fontanes Schottland und der Tourismus. In: Bernd Herrmann und Ulrike Kruse (Hrsg.),
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dings in der Hoffnung getäuscht sehen, den romantisch-poetischen Landschaften zu begegnen, die Scotts Romane in seinen und den Vorstellungswelten seiner überaus zahlreichen Leser im 19. Jahrhundert verankert hatten. Der Reisebericht Jenseit des Tweed, der den bezeichnenden Untertitel Bilder und Briefe aus Schottland trägt, demonstriert jedoch eindrücklich die Wirkmacht poetisch evozierter Landschaften, die der Wirklichkeit entgegen gehalten werden: Fontane »macht sich nicht etwa zum Anwalt eines realitätsadäquaten modernen Schottlandbildes, sondern verteidigt die poetische Qualität des phantastischen Balladenlandes«; auf »[s]eine historische Einsicht in die Realität« reagiert er mit »deren Zurückweisung im Namen der Poesie«455. Die Schottland-Reise erweist sich auch über die Dominanz literarisch etablierter Bildmuster hinaus als entscheidend, denn sie kann »als ›Sehübung‹ und gleichzeitig Vorbild für das weit größere Projekt«456 der Wanderungen durch die Mark Brandenburg gelten. »Die Poetisierung einer Landschaft, wie sie Fontane für die Mark ›im Auge‹ hatte, besaß bezüglich Schottlands bereits eine (reise-)literarische Tradition.«457 In dem Wissen, dass die märkischen Landschaften und ihr ästhetisches Potential noch weitgehend unbekannt und unterschätzt waren, nennt Fontane im ›Vorwort zur zweiten Auflage‹ der Wanderungen als Bedingung für das Reisen in der Mark neben »Liebe zu ›Land und Leuten‹« denn auch: »Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von ›Natur- und Landschaftssinn‹ ausgerüstet fühlen.«458 Diesen ›feineren Sinn‹ zu schulen respektive zu begründen, ist zudem
Schauplätze und Themen der Umweltgeschichte, Göttingen 2010, S. 41–71, hier S. 46f. 455 Maurer, ›Lieux de mémoire‹: Fontanes Schottland-Reise, S. 66. – Auch Maurer verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf die folgende Passage, in der Fontane selbst den Unterschied zwischen dem poetischen und dem wirklichen Schottland reflektiert: »Die Sache ist die, daß wir im Auslande nur die romantische Hälfte Schottlands kennen und wenig oder nichts von der Kehrseite derselben. Dichtung und Romane lesend, sind wir mit unseren Sympathieen in der Vergangenheit Schottlands stecken geblieben, während die Schotten selbst nichts ernstlicheres zu thun hatten, als mit dieser Vergangenheit zu brechen« (GBA IV/2, S. 83). 456 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 469. – Fontane beginnt das ›Vorwort zur ersten Auflage‹ damit, diesen inneren Konnex herauszustellen: »›Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.‹ Das hab ich an mir selber erfahren, und die ersten Anregungen zu diesen ›Wanderungen durch die Mark‹ sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen.« (GBA V/1, S. 1) Indem danach Erinnerungen einer schottischen mit einer märkischen Landschaft überblendet werden, wird mit der Fremde hier speziell Schottland assoziiert. 457 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 469. 458 GBA V/1, S. 5.
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erklärtes Ziel seines Projektes, das sich gleichermaßen an den »ästhetisch vorgebildete[n] Leser« richtet, der »lernen [soll], die Mark mit ›poetischen Augen‹ zu sehen«, als auch an »die Einwohnerschaft der Mark«, die »ein[em] ästhetische[n] Erziehungsprogramm«459 unterzogen werden soll. Seine Intention, mit den Wanderungen eine »Wahrnehmungsschulung des Rezipienten« zu betreiben, verfolgte Fontane u. a. durch die »musterhaft wiederholte Beschreibung von ihm selbst praktizierter [und an Malerei und Literatur gewonnener; M. B.] Sehweisen auf die bereiste Landschaft«460. Insofern verdeutlicht sich, dass Fontane nicht allein in seinen dezidiert kunstkritischen Schriften eine ästhetische Mission461 verfolgte.
4.3.3.3 Gerahmte (Genre-)Bilder Die »von Fontane immer wieder beschworene Bildtendenz visueller Prozesse findet sich keineswegs nur in der ›virtual reality‹ seiner Romane«462, sondern auch in den Wanderungen nicht von ungefähr mit einem wiederkehrenden Motiv verknüpft: mit Blicken aus Fenstern respektive mit »Fensterbilder[n]«463. Die wahrnehmungsästhetische Korrelation von Fenster, Blick und Bild gründet dabei wesentlich auf den Momenten der Begrenzung, Kanalisierung und Rahmung464; denn während das Fenster als Bilderrahmen der
459 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 471. Vgl. dazu auch Fischer, Theodor Fontane – Blicke auf die Landschaft, S. 189f.; Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 114. 460 Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 177. Siehe hierzu auch Hubertus Fischer, Märkische Bilder. Ein Versuch über Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹, ihre Bilder und ihre Bildlichkeit. In: Fontane Blätter 60 (1995), S. 117–142, hier S. 131: »Fontanes märkische Landschaft ist im wesentlichen ein ›Kunst-Produkt‹. Sein Blick und seine Art, Landschaftliches zu beschreiben und in Szene zu setzen, war vor allem an zweierlei geschult: der englischen Reiseliteratur und der Landschaftsmalerei«. 461 Vgl. Schuster, Die Kunst bei Fontane, S. 18. 462 Wullen, Über das Sehen bei Fontane, S. 260. 463 Wulf Wülfing, Aussichten – Einsichten: Zur Rolle des Fensters in Theodor Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003 (= Fontaneana, Bd. 1), S. 123–135, hier S. 127. 464 Vgl. zu Motiv, Metaphorik und Figur des Rahmens in Literatur und Film Martina Wagner-Egelhaaf, Rahmen-Geschichten. Ansichten eines kulturellen Dispositivs. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008),
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davorliegenden Welt fungiert und damit gleichsam den Wahrnehmungsausschnitt kompositorisch vordefiniert, kann das gemalte Bild seinerseits als Fenster, als »Fenster ins Imaginative«465 gelten. »[D]ie Vergegenwärtigung des Bildes als Fenster, des Bilderrahmens als Fensterrahmen und, umgekehrt, des Fensters als Bild, des Fensterrahmens als Bilderrahmen«466 eröffnet das Verständnis für die lange Darstellungstradition des Fensters in der Malerei. »Das Fenster im Bild ist« dabei »ein Sonderfall des Bildes im Bild, ist es doch ein Fenster im Fenster.«467 Ist in der Kunstanschauung konstitutiv ein Betrachter des Bildes – sprich: des Fensters im Bild und des Bildes im Fenster – gegeben respektive vorausgesetzt, werden dem Fenstermotiv in einer Gestaltungsvariante der Genremalerei gleichwohl Figuren beigesellt, die durch das Fenster nach draußen blicken. Derart wird der Perzeptionsakt des Bildbetrachters von dem Bild gedoppelt aufgegriffen und die »Autoreflexivität des Bildes«468 verhandelt. »Die Transparenz des Fensters macht es […] zur Schleuse von Blicken, Gefühlen und Gedanken. Darin liegt der poetische Gehalt vieler Fenstermotive und so nimmt es nicht wunder, daß sich die Dichtung dieses Bildes bemächtigt hat.«469 Die substanzielle Ambivalenz von Offenheit und Geschlossenheit, Begrenzung und Entgrenzung sowie von Innen und Außen, die dem Fenster innewohnt, prädestiniert seine motivische Verwendung dazu, Korrespondenzen zwischen Figuren, ihren Wahrnehmungen und ihrer inneren Verfasstheit herzustellen. »Das Fenstermotiv ist« somit »eine Figuration der Innerlichkeit«470 und symbolisiert ferner, besonders in der Malerei und Literatur der Romantik, die Sehnsucht nach Transzendenzerfahrungen. Bei Fontane finden sich noch Anklänge an jene Motivtradition,471 allerdings ist der S. 112–148. – Fontane wird hier im Hinblick auf Rainer Werner Fassbinders Verfilmung von Effi Briest thematisiert. 465 Eberhard Roters, Malerei des 19. Jahrhunderts. Themen und Motive. Bd. 1, Köln 1998, S. 313. 466 J. A. Schmoll, Fensterbilder. Motivketten in der europäischen Malerei. In: Ludwig Grote (Red.), Beiträge zur Motivkunde des 19. Jahrhunderts, München 1970 (= Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 6), S. 13–165, hier S. 109. 467 Roters, Malerei des 19. Jahrhunderts. Bd.1, S. 313. 468 Judith Holstein, Fenster-Blicke. Zur Poetik eines Parergons. Diss. masch., Tübingen 2004, S. 27. – »Zwischen den Augen des Betrachters und der Figur im Bild entsteht ein Wechselspiel von Hinein- und Heraussehen« (Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 356). 469 Schmoll, Fensterbilder, S. 152. 470 Weber, Die literarische Landschaft, S. 377. 471 Siehe dazu Madleen Podewski, ›Aber dies Stück Romantik wird uns erspart bleiben…‹. Zur Relevanz der Romantik für Fontanes Realismus. In: Hanna Delf von Wolzogen
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religiös-ideologische Überbau einer sozial-psychologischen Perspektive gewichen. In den Romanen repräsentieren Fensterblicke und das Öffnen von Fenstern Gesten der Kompensation und Selbstreflexion, die nicht zuletzt häufig begleitet respektive bedingt sind durch das Leiden an der restriktiven Enge gesellschaftlicher Regeln und Normen, die den Möglichkeitsraum individueller Glücksansprüche eklatant beschränken.472 Dass Fensterblicke bei Fontane Momente der Kontemplation und des Gleichgewichts verschaffen können, mag an Irrungen, Wirrungen verdeutlich werden, wo das große Giebelfenster in Hankels Ablage »einen prächtigen Blick auf die gesamte Wald- und Wasser-Szenerie gestattet[ ]« (IW, S. 84) und Lene zu einer Betrachtung der Landschaft animiert. Sie ging bis an das Giebelfenster und öffnete beide Flügel, um die Nachtluft einzulassen. Ach, wie sie das erquickte! Dabei setzte sie sich auf das Fensterbrett, […] [und] schlang ihren linken Arm um das Kreuzholz […]. Eine tiefe Stille herrschte, nur in der alten Ulme ging ein Wehen und Rauschen und alles, was eben noch von Verstimmung in ihrer Seele geruht haben mochte, das schwand jetzt hin, als sie den Blick immer eindringlicher und immer entzückter auf das vor ihr ausgebreitete Bild richtete. Das Wasser fluthete leise, der Wald und die Wiese lagen im abendlichen Dämmer und der Mond […] warf einen Lichtschein über den Strom und ließ das Zittern seiner kleinen Wellen erkennen. / ›Wie schön‹, sagte Lene hochaufathmend. ›Und ich bin doch glücklich‹[.] (IW, S. 85)
Übernimmt das Fenster hier deutlich die ästhetische Komposition des Landschaftsausschnitts, weist die grundsätzliche Wahrnehmungssituation einerseits Analogien zu den bereits herangezogenen Textstellen aus Cécile auf. Zudem kann hier andererseits ein synthetisierender Rückgriff auf verschiedene Gen-
und Richard Faber (Hrsg.), Theodor Fontane: Dichter und Romancier. Seine Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert, Würzburg 2015 (= Fontaneana, Bd. 14), S. 51–65, hier S. 52: »Realistische Literatur und realistische Programmatik konstruieren sich […] ihre ganz eigene ›Romantik‹, und sie tradieren, modifizieren und deuten dabei zugleich einige ihrer ästhetischen Prämissen um. […] Realistische Literatur […] braucht die Romantik, um ihr eigenes Profil zu schärfen und um deren Literaturkonzepte in eine ganz eigene Richtung vorantreiben zu können.« 472 Vgl. hierzu folgende Auswahl: LA, S. 10; IW, S. 152; C, S. 124f., S. 174; ironisch gebrochen in JT, S. 9. – »Solches Ans-Fenster-Treten ist (in der Literatur) das Orientierungsritual schlechthin. Das Ziel des Fensterblickes ist es, dass der ans Fenster Tretende, der sich zu verlieren droht, sich selbst und sein Weltverhältnis (wieder) findet: auf der Schwelle zwischen Innen und Außen sein Gleichgewicht zurückgewinnt« (Gerhard Neumann, ›Vor dem Sturm‹. Medien und militärisches Wissen in Fontanes erstem Roman. In: Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, S. 201–229, hier S. 218f.).
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retraditionen beobachtet werden, worauf zurückzukommen sein wird. – Wie Cécile ist auch Lene explizit als die betrachtende Instanz markiert, deren Wahrnehmung sich zu einem Bild formiert, das sie ihrerseits wiederum als schön beurteilt. Indem sich der perzeptive Akt bei weit geöffneten Fensterflügeln vollzieht, ist das Fenster »gleichsam ein die eigene Körperlichkeit verlängerndes Sinnes-›Organ‹, eine architektonische Membrane; und dies multisensual: optisch, akustisch, olfaktorisch.«473 Die aufgerufenen ›multisensualen‹ Konstituenten des Wahrnehmungsbildes (Nachtluft, Rauschen, Wald, Wiesen, Dämmer, Strom, Mond) gemahnen dabei an Chiffren romantischer Seelenlandschaften Eichendorffs,474 was durch den expliziten Rekurs auf Lenes Seele zusätzlich verstärkt wird. Und dennoch gilt: »[B]ei Fontane [ist] die romantische Hoffnung auf eine Synchronie von Ich und Welt längst irritiert«475. Zwar kann auf der Figurenebene ein ›Re-enactment‹ von qua romantischer Literatur evozierter Erlebnismuster beobachtet werden, wenn Lene kurze Zeit später auf die Landschaft deutet und zu Botho sagt: »Sieh nur. Ein armes Menschenherz, soll ihm keine Sehnsucht kommen bei solchem Anblick?« (IW, S. 86)476 Doch diese Sehnsucht zielt nicht auf die Erfahrung von Transzendenz, sondern korreliert mit der topographischen Dichotomie von Kultur und Natur, die für den Roman entscheidend verantwortlich zeichnet. Die Landpartie nach Hankels Ablage, in deren Kontext die zitierte Landschaftsbetrachtung eingebettet ist, erfolgt bekanntlich in der Absicht, »in Gottes freier Natur, möglichst fern von dem großstädtischen Getreibe« (IW, S. 70) einen idyllischen Schutzraum für die illegitime Liebesbeziehung aufzusuchen. Die Utopie eines gemeinsamen Glücks vergegenwärtigt sich dabei nicht allein durch topographische Hinweise,477 Lene selbst wird sich dessen unmittelbar vor der zitierten Textpassage schmerzlich bewusst, wenn sie sich
473 Wülfing, Aussichten – Einsichten, S. 128. 474 Vgl. dazu sowie zum Motiv des Fensters bei Eichendorff Richard Alewyn, Eichendorffs Symbolismus. In: Ders., Probleme und Gestalten. Essays, Frankfurt am Main 1974, S. 232–244. 475 Podewski, ›Aber dies Stück Romantik wird uns erspart bleiben…‹, S. 65. 476 Die Zitation romantischer Chiffren wird auf der Landpartie in Irrungen, Wirrungen durch das Eintreffen von Bothos Kameraden und ihren Damen erneut aktualisiert und dient dort in ihrer unübersehbaren Phrasenhaftigkeit als Kritik: So schwärmt Johanna von dem Dorf Zeuthen; dieses »sah so romantisch und so melancholisch aus und […] an der linken Seite […] war ein Kirchhof mit lauter Kreuzer drauf. Und ein sehr großes von Marmohr. […] Ich habe da so meine Gefühle« (IW, S. 94f.). 477 Vgl. dazu das vorangegangene Kapitel 4.3.2 der vorliegenden Studie.
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der Betrachtung zweier Stiche und einer Lithographie widmet, die zu Dekorationszwecken die Wände der Giebelstube schmücken. Als sie nämlich versucht, die englischen Bildunterschriften der beiden Stiche zu lesen und »über ein bloßes Silbenentziffern nicht hinaus« kommt, gibt ihr das »einen Stich ins Herz, weil sie sich der Kluft dabei bewußt wurde, die sie von Botho trennte.« (IW, S. 84) Die Lithographie verstimmt sie dagegen aufgrund ihrer bildlichen Darstellung: »Ihre feine Sinnlichkeit fühlte sich von dem Lüsternen in dem Bilde wie von einer Verzerrung ihres eignen Gefühls beleidigt« (IW, S. 85). In den künstlerischen Bildern materialisiert sich für Lene die doppelte Non-Konformität ihrer Beziehung zu Botho, die nicht standesgemäß und unmoralisch zugleich ist. Indem sich Lene im Anschluss vom Interieur ab und der Landschaft zuwendet, um »den Eindruck wieder los zu werden« (IW, S. 85), richtet sie ihren Blick auf die Natur, deren Verstehen voraussetzungsloser zu gelingen scheint. Der visuell vorgenommene Raumwechsel erfolgt also im Kontext von Bildbetrachtungen, die von künstlerischen zu Landschafts-Bildern übergehen und denen der Natur-Kultur-Dualismus bereits eingeschrieben ist. Lenes auf die Natur gelenkte Aufmerksamkeit richtet sich dabei in erster Linie auf einen Raum, der einen vermeintlichen Gegen- und Möglichkeitsraum zur Gesellschaft konstituiert und insofern kurzzeitig zur Projektionsfläche utopischer Hoffnungen avancieren kann. Weber konstatiert für die kurze Dauer dieses Moments einen Stillstand der Zeit: »[E]s ist, als würde der Lauf der Ereignisse für eine Weile innehalten, es ist, als dränge sich in den Anblick der stillen Gegend Lenes kurzes Glück zusammen.«478 Eine »Sehnsucht nach der Erfahrung ursprünglicher Natureinheit«, die Brüggemann »mit dem Öffnen der Fensterflügel assoziiert«479, liegt hier hingegen nicht vor. Eine solche Interpretation verkennt zum einen die topographische Gestaltung des Landpartie-Settings. Denn diese unterläuft subtil doch konsequent die Illusion, dass ein klares binäres Raumschema natürlicher und kulturalisierter Räume existiert und Hankels Ablage eine gesellschaftsfernnatürliche Enklave darstellt. Zum anderen fußt diese Lesart auf einer »nahezu kritiklos und unhinterfragt übernommenen«480 Charakterisierung Lenes durch Botho in der Forschung, der sie als natürlich apostrophiert. Die ›Naturverbundenheit‹ Lenes, die ihre ›Sehnsucht nach ursprünglicher Natur-
478 Weber, Die literarische Landschaft, S. 376. 479 Diethelm Brüggemann, Fontanes Allegorien (II). In: Neue Rundschau 82 (1971), S. 486–505, hier S. 489. 480 Becker, Literatur als ›Psychographie‹, S. 102.
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einheit‹ zur Voraussetzung hätte, erweist sich mit Blick auf ihren Lebens- und Arbeitsalltag als zudiktiert. Während die romantische Literaturtradition in der betreffenden Textstelle nur anzitiert wird, kann die Szene der aus dem Fenster blickenden Lene hingegen als sprachliche Inszenierung der am Ende des 19. Jahrhunderts allgegenwärtigen »Form der Anschauung«481 par excellence gelten. Gemeint ist die ursprünglich kunsthistorische Kategorie des Genres im Sinne einer »arrangierte[n], erwartungsvolle[n] Szene«482, die kleine alltägliche Szenen festhält und derart – wie schon Weber für die betreffende Passage in Irrungen, Wirrungen beobachtet hat – ein »Zeitgefühl des angehaltenen Moments«483 evoziert. Lenes Landschaftsbetrachtung mit dem Genre zusammenzudenken, kann zunächst in seiner ungeheuren Popularität zur Entstehungs- und Publikationszeit des Romans eine Erklärung finden: »Alles ist voll davon [vom Genre; M. B.], die Kunstausstellungen, Zeitschriften, Romane, Gedichtbücher nicht nur, sondern auch der gewöhnlichste bürgerliche Alltag.«484 Jenseits dieser medialen und wahrnehmungsästhetischen Allgegenwart des Genres kann Fontane indes eine besondere Wertschätzung der bildkünstlerischen Vergegenwärtigung des Genres, der Genremalerei attestiert werden, ist doch eine »hohe Korrelation dieser Bildgattung mit seiner Kunstauffassung« zu erkennen, die auf der »Hinwendung zum Kleinen, zum Detail«485 gründet. Sind Fontanes Gesellschaftsromane mit ihrer Konzentration auf die private Sphäre und gesellschaftlich-gesellige Zusammenkünfte ohnehin dem Prinzip szenischer Darstellung verpflichtet und könnten demgemäß geradewegs als Aneinanderreihung literarisch verfasster Genres gelten, kann hinsichtlich der zitierten Textstelle aus Irrungen, Wirrungen darüber hinaus ein Synthetisieren verschiedener Genres beobachtet werden.486 Denn die literarische Genreszene bedient sich in auffälliger Weise einer Komposition und Motivik, wie
481 Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert [1938], Frankfurt am Main 1974, S. 60. 482 Ebd. 483 Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 506. Graevenitz erklärt die Wirkmacht des Genres am Ende des 19. Jahrhunderts u. a. plausibel mit seinem haltstiftenden Potential im Kontext allgegenwärtiger Modernisierungs- und Beschleunigungserfahrung: »Es [das Genre] konnte mit seiner Geschlossenheit und mit seiner Beschränkung auf den überschaubaren Ausschnitt als Bild des ›Behagens‹ in unwirtlicher Zeit gelten« (ebd., S. 505). 484 Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, S. 60. 485 Aus der Au, Fontane als Kunstkritiker, S. 311. 486 Für Graevenitz ist in Irrungen, Wirrungen »das Genre die den Gesamttext beherrschende Bildformel« (Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, S. 456).
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sie unzählige Genremalereien aufweisen: der Blick durch weit geöffnete Fenster auf ein detailreich dargestelltes Interieur und eine Figur, die aus dem Innenraum nach draußen sieht. Indem vertraute Formeln der »Genre-Ikonographie«487 entlehnt und für die literarische Darstellung fruchtbar gemacht werden, mutet die Stelle geradezu wie die Beschreibung einer Genremalerei an. Fontane ergänzt die Szene noch um ein besonders pittoreskes Detail, denn Lene sitzt nicht nur auf dem Fensterbrett, sondern schlingt wirkungsvoll noch »ihren linken Arm um das Kreuzholz«. Ist der Leser respektive der Betrachter des vergegenwärtigten Bildes der ›Genrefigur‹ Lene zunächst gegenübergestellt, wechselt im weiteren Verlauf die Perspektive.488 Die Blickregie ändert sich dergestalt, dass die Szenerie nicht länger von außen, sondern ebenfalls aus dem Giebelzimmer wahrgenommen wird. Mit dem solchermaßen über Lenes Schulter geworfenen Blick, während sie selbst »den Blick immer eindringlicher und entzückter auf das vor ihr ausgebreitete Bild richtet[ ]«, wird ein weiteres populäres Sujet der Genremalerei aufgegriffen: die Sicht auf eine Rückenfigur, die durch ein Fenster die äußere Welt betrachtet. Das Synthetisieren sprachlicher mit bildkünstlerischen Genres und die über den Perspektivwechsel vorgenommene Überblendung kulminiert schließlich in dem Übergang zum Genre der Landschaftsmalerei respektive Landschaftsbeschreibung, mit Lene als Figur der Fokalisierung: »[D]er Wald und die Wiese lagen im abendlichen Dämmer und der Mond […] warf einen Lichtstrahl über den Strom«. Hinsichtlich der Malerei veranlasst eine solche überblendende »Zusammenführung von Genre und Landschaft [Fontane] zur Kritik«, die nach seiner Auffassung auf »einer mangelnden Ausdifferenzierung von Vorder- und Hintergrund«489 basiert. Denn die Kombination von Landschaften im Hinter- mit Genreszenen im Vordergrund geht in der Malerei für ihn allzu oft auf Kosten einer bildkünstlerischen Vollendung der jeweiligen Sujets ein-
487 Ebd., S. 464. 488 Verkörpert Lene in der betreffenden Szene den Typus einer müßiggängerischen Genrefigur, entspricht ihr erster Auftritt zu Beginn der Romanhandlung einem ebenso populären Sujet der Genremalerei, wenn sie bei der Verrichtung ihrer Arbeit durch das geöffnete Fenster mit Frau Dörr plaudernd dargestellt wird. Einem Genre solchen Bildinhalts wird sie selbst am Tag nach ihrer zitierten Landschaftsbetrachtung in Gestalt einer Magd ansichtig. Indem Lene das Bild der arbeitenden Magd hellsichtig als »Zeichen […] und […] Fügung« (IW, S. 88) versteht, deutet sich hier voraus, dass sie auf die arbeitende Genrefigur verpflichtet und nur kurzzeitig in eine andere Rolle geschlüpft ist. Ihr Auftritt vor melancholischer Landschaftskulisse muss eine Episode bleiben, gerahmt vom Diktat der Verhältnisse. 489 Aus der Au, Fontane als Kunstkritiker, S. 305.
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her.490 Was im visuell-simultanen Nebeneinander also nur schwer zu erreichen ist, nämlich eine gelungene Synthese aus Landschaft und Genre, vermag das sich sukzessiv entfaltende Nacheinander einer sprachlich verfassten Narration hingegen zu ermöglichen. Ist für das Genre »[d]er angehaltne [sic!] Augenblick«491 kennzeichnend, eignet der modernen Landschaftsdarstellung die Statik gleichermaßen wie die Dynamik. Das mit dem Fenstermotiv verbundene Arrangement der Landschaft, die »bildkompositorische Funktion«492 der Rahmung vergegenwärtigen die Romane Fontanes daher auch, wenn der Standpunkt der Betrachtung nicht statisch sondern beweglich ist. Für diese Dynamik ist grundsätzlich die Fahrt mit Verkehrsmitteln verantwortlich, »bei der die Landschaft durch die eigene Fortbewegung wie eine Reihe wechselnder oder bewegter Bilder erscheint«493. Während im Fall der Eisenbahn erneut ein Fenster jene »Rahmenschau«494 vermittelt, demonstriert die Dampferfahrt im Stechlin eine andere »traffikale Inszenierung in der Landschaftsdarstellung«495, bei der die Wahrnehmung als gerahmtes Bild erscheint: Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch passiert hatte, setzte sich in ein rascheres Tempo, dabei die linke Flußseite haltend, so daß immer nur eine geringe Entfernung zwischen dem Schiff und den sich dicht am Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen schuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das natürlich die Form einer Lunette hatte. (DS, S. 164)
Hier organisiert keine maschinelle Einfassung die optische Rahmung der Welt, vielmehr wird dies durch die Fortbewegung und die Landschaftskonstituenten bewerkstelligt. Dabei kommt »[d]er Technik […] gleich zweimal eine vermittelnde Funktion zu: in Gestalt der die Rahmung der einzelnen Bilder leistenden Stadtbahnbögen und in Gestalt des Dampfschiffes. Letzteres ist für die Bewegung der Bilder, den Bildwechsel, maßgeblich«496. Die Figuren erscheinen in der zitierten Passage somit geradezu als passive Rezipienten,
490 Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 305–311. 491 Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, S. 60. 492 Weber, Die literarische Landschaft, S. 377. 493 Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 120. 494 August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Darmstadt 1968. 495 Carsten Rohde, Fahren und Sehen. Zur traffikalen Inszenierung in der Landschaftsdarstellung nach 1945 (Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke, Hans-Christian Schink, Peter Bialobrzeski). In: Jan Volker Röhnert (Hrsg.), Die Metaphorik der Autobahn. Literatur, Kunst, Film und Architektur nach 1945, Köln 2014, S. 265–279. 496 Frank, Theodor Fontane und die Technik, S. 176.
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denen ein individueller Anteil an der bildhaften Landschaftsgestaltung abgesprochen wird. Nicht nur sehen sie sich durch die Mittlerfunktion des Rahmens einer vordefinierten Bildkomposition gegenüber gestellt; darüber hinaus wird suggeriert, ›dahinter‹ bestünden bereits Landschaftsbilder, die für ihre Präsentation lediglich eines Rahmens bedürfen. Handelte es sich bei den zuvor betrachteten Landschaftsbildern in Cécile und Irrungen, Wirrungen um Kulturlandschaften, die durch ihre Bildmotive respektive ihren Wahrnehmungsstandpunkt die Kulturalisierung der Natur zur Darstellung bringen, durchquert im Stechlin das Verkehrsmittel des Dampfers zunächst eine großstädtische Topographie: »Vom Schiff aus bieten sich vielfältige Einblicke in das vorbeiziehende Stadtpanorama«497; der Bilderwechsel wird hier durch die Stadtbahnbögen jeweils in »Form einer Lunette« gerahmt. Diese Textstelle des Romans entspricht also einem »Wahrnehmungsbedürfnis, das die literarische Stadterfahrung« grundsätzlich kennzeichnet, nämlich »die Strukturierung, die Begrenzung der chaotischen Vielfalt diffuser Sinneseindrücke durch den Rahmen.«498 Auch wenn bei Fontane (noch) keine dissoziative Wirklichkeitserfahrung der modernen Großstadt zum Ausdruck kommt, so zeigen seine Figuren selbst angesichts der Struktur und Distanz gewährenden Rahmung eine sensuelle Hyperästhesie, »die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.«499 Leitet Simmel in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben daraus kulturdiagnostisch eine gesteigerte »Verstandesmäßigkeit« des Großstädters ab, die »als ein Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt«500 fungiert, macht sich im Text der wahrnehmungspsychologische Effekt in der Reduktion geselliger Unterhaltung geltend: »Unsre Reisenden sprachen wenig, weil unter dem raschen Wechsel der Bilder eine Frage die andre zurückdrängte.« (DS, S. 164) Die Koinzidenz der relativen Schweigsamkeit mit urbanen Sinneseindrücken bestätigt sich im Fortgang der Handlung, wenn das Gespräch in dem Moment wieder aufgegriffen wird, »als der Dampfer an Treptow vorüber zwischen den kleinen Inseln hinfuhr, die hier mannigfach aus dem Fluß aufwachsen« (DS, S. 164). Zwar verlangsamt sich die Fahrtgeschwindigkeit und 497 Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur, S. 152. 498 Heinz Brüggemann, ›Aber schickt keinen Poeten nach London!‹ Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 12. 499 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Bd. VII/1, Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Frankfurt am Main 1995, S. 116–131, hier S. 116. 500 Ebd., S. 118.
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insofern der Bilderwechsel nicht, doch zeigt sich die Wahrnehmungsleistung weniger beansprucht. Die statisch im Vordergrund befindlichen Inseln, die mittels des Terminus »aufwachsen« darüber hinaus explizit als ›natürliche‹ Konstituenten konnotiert sind, stellen eine geringere kognitive Herausforderung dar als »die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, […] die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen«501, wie sie der Blick auf die Stadt gewährt.502 Eingedenk der im Vergleich zum Dampfschiff eklatant gesteigerten Geschwindigkeit potenziert die Fahrt mit der Eisenbahn erheblich die Frequenz, mit der die optischen Eindrücke wechseln. Dieser Effekt der Eisenbahn erweist sich damit als Moment jenes Vorgangs der Moderne, den Georg Simmel als Herausbildung der großstädtischen Wahrnehmung beschrieben hat. […] Der Unterschied der Reizqualität in der Großstadt und in der Eisenbahnreise ist in diesem Zusammenhang gleichgültig. Entscheidend ist die quantitative Zunahme der Eindrücke, die der Wahrnehmungsapparat aufzunehmen und zu verarbeiten hat.503
Der ästhetische Genuss an den durchreisten und zu Bildern formierten Landschaften, wie es das Wandern oder das Fahren in der Kutsche seit jeher ermöglichte, bleibt bei Eisenbahnreisen zunächst verwehrt. In Anbetracht der visuellen Reizüberflutung kapituliert der Wahrnehmungsapparat » – und gerade das macht sich an der Erfahrung der Landschaft aus dem fahrenden Zug bemerkbar«504: die Idiosynkrasie führt zu einem »Verlust der Landschaft«505. Das Abteilfenster der Eisenbahn bietet vorerst allenfalls den Rahmen für die Irritation und das Versagen tradierter Wahrnehmungsmodi, weil durch die Geschwindigkeit eine fokussierte, Nah- und Fernsicht gleichermaßen integrierende Betrachtung misslingen muss. Nach einer Phase wahrnehmungspsychologischer Anpassung an die neuen Bedingungen erweist sich schließlich aber als ästhetisch produktiv, was ehedem als destruktiv galt: »Die
501 Ebd., S. 117. 502 Der wahrnehmungspsychologisch herausfordernde Blick auf eine Metropole vom Deck eines Schiffes findet in Fontanes Ein Sommer in London einen reiseliterarischen Vorläufer: »Die überschwengliche Fülle, die unerschöpfliche Masse – das ist die eigentliche Wesenheit, der Charakter Londons. Dieser tritt einem überall entgegen. […] / Überall! aber nirgends so wie auf der großen Fahrstraße Londons – der Themse. Versuche ich ein Bild dieses Treibens zu geben.« (HFA III/3.1, S. 10) 503 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 55. 504 Alexandre Métraux, Ansichten der Natur und ›Aisthesis‹. Einige kritische Bemerkungen zum Landschaftsbegriff. In: Manfred Smuda (Hrsg.), Landschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 215–237, hier S. 224. 505 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 53.
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Eisenbahn inszeniert eine neue Landschaft«506 – die Flüchtigkeit der optischen Eindrücke konfiguriert im Fensterrahmen eine neue Form des Landschaftserlebens. Diese Landschaftsinszenierung zeigt durch die Unschärfe der Wahrnehmungsprodukte und die Dynamisierung von Farben und Formen Parallelen zur Malerei des Impressionismus. Die Impressionisten griffen in ihren Bildern thematisch und technisch die »unerhörte Dynamisierung des Lebensgefühls«507 auf, das die Eisenbahn sowohl symbolisch repräsentierte als auch de facto bewirkte, weshalb mit dieser Stilrichtung »zu Recht eine Art ›kopernikanische Wende‹ der Malerei verbunden wird«508. Die mentalitätsgeschichtliche »Irritation des überlieferten Raum-Zeit-Bewußtseins«509, wie sie die Reisegeschwindigkeit der Eisenbahn evozierte, findet einen ästhetischen Reflex in Bildern der impressionistischen Malerei, die tradierte Gestaltungsmaximen bildkünstlerischer Raum-Zeit-Strukturen überwand. In den entsprechenden Bildern rufen die »amorphen Farbflecken eine zeitliche Irritation [hervor], die jede beliebige Stelle des Bildes erfaßt und sich an jeder Stelle gleich auswirkt: das ›ganze‹ Bild tritt unter den Eindruck der Momentaneität.«510 Der »Eindruck der Momentaneität« kennzeichnet auch die während einer Eisenbahnfahrt gewonnene Landschaftswahrnehmung, die rein visuell und aus einer Distanz heraus erfolgt, bei der feste Konturen, Farben und kompositorische Arrangements verlustig gehen. Unter diesen Voraussetzungen kann schließlich auch den rapide wechselnden Eisenbahn-Impressionen eine gewisse Bildhaftigkeit zugeschrieben werden: »Wie von selbst entsteht beim Blick aus dem Eisenbahnabteil ein ›impressionistisches Bild‹«511. Gleichsam impressionistische Landschaftsbilder können in Fontanes Darstellungen immer dann implizit angenommen werden, wenn Zugfahrten ob ihres Tempos mit einem ›Flug‹ verglichen werden. Während sich in Cécile die Eisenbahn »in
506 Ebd., S. 58. 507 Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 784. 508 Gottfried Boehm, Das neue Bild der Natur. Nach dem Ende der Landschaftsmalerei. In: Manfred Smuda (Hrsg.), Landschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 87–110, hier S. 88. 509 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 38. 510 Boehm, Das neue Bild der Natur, S. 89f. 511 Weber, Die literarische Landschaft, S. 372. – Siehe hierzu auch die umgekehrte Perspektive: »Die meisten Dinge wirken so, als habe man sie durch das Fenster eines fahrenden D-Zuges wahrgenommen, was vor allem den Landschaftsdarstellungen von Liebermann eine ungewöhnliche Rasanz verleiht« (Richard Hamann und Jost Hermand, Impressionismus, Berlin 1960, S. 312).
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immer rascherem Fluge« (C, S. 9) ihrem Bestimmungsort nähert,512 rekurriert Fontane in einer reisejournalistischen Beschreibung in Jenseit des Tweed eindeutig auf die Konsequenzen der Reisegeschwindigkeit auf sein Landschaftserleben. »Die Morgensonne lacht freundlich, während wir die schottische Landschaft durchfliegen. […] und ehe wir noch Zeit gefunden haben, uns in dem immer bunter werdenden Bilde zurecht zu finden, läßt der Zug in seinem Fluge nach«513. Ein Seitenblick auf die ›kleine Geschichte‹ Auf der Suche. Spaziergang am Berliner Kanal (1889) kann verdeutlichen, dass Fontane in der Anschauung »verflüchtigte[r] Landschaft[en]«514, sei es aus dem Eisenbahnabteil oder als bildkünstlerisches Sujet, ein Signum moderner Wirklichkeitswahrnehmung erkennt. »Aufschlußreich sind die poetologischen Prämissen, unter denen Fontane ans Werk geht und die er eingangs auch genau benennt.«515 Das Vorhaben, »es mit einer Revue der fremden Gesandtschaften zu versuchen«, obwohl »[a]n ein Eindringen in ihr Inneres […] nicht zu denken« ist, wird unter dem Eindruck einer erinnerten, »nun wohl schon um 30 Jahre zurückliegenden Ausstellung«516 des Malers Eduard Hildebrandt nicht verworfen. Was mir […] am meisten gefallen hatte, waren einige farbenblasse, halb hingehauchte Bildchen, langgestreckte Inselprofile, die […] vom Bord des Schiffes her, also in ziemlich beträchtlichem Abstand aufgenommen worden waren. Nur vorübergefahren war der Künstler an diesen Inseln, ohne den Boden derselben auch nur einen Augenblick zu berühren, und doch hatten wir in seinen Skizzen das Wesentliche von der Sache, die Gesamtphysiognomie. Das sollte mir jetzt Beispiel, Vorbild sein[.]517
Vor der Folie der vorangegangenen Überlegungen begegnen hier bereits bekannte wahrnehmungsästhetische Strukturprinzipien: der Standort der Wahrnehmung ist auf einem Schiff verortet, womit die Momente der Distanz und der Bewegung einhergehen. Die Bedingungen und Bedingtheiten der Vergegenwärtigung und künstlerischen Umsetzung der Insellandschaften finden dabei ihre ästhetische Entsprechung in der spezifischen Farben- und Formsprache. Das »Wesentliche von der Sache« treffen dabei keine kräftigen Farben und klaren Konturen, sondern gerade die »farbenblasse, halb hingehauchte« Darstellung. Mithin entschließt sich der Ich-Erzähler diese »in ihrer 512 Vgl. zur durchreisten und wahrgenommenen Landschaft in Cécile auch Kapitel 4.2.3.2 der vorliegenden Studie. 513 GBA IV/2, S. 7. 514 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 54. 515 Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur, S. 157. 516 GBA I/19, S. 97. 517 Ebd., S. 97f.
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Modernität erkannte künstlerische Ausdrucksform – den quasi-impressionistischen Malstil Hildebrandts – auf die Literatur zu übertragen«518; die Dynamisierung, die Skizzenhaftigkeit und das Fragmentarische erscheinen als der modernen Wirklichkeit adäquate Stil- und Darstellungsprinzipien.519 »[As; M. B.] there is no direct, substantial record of Fontane’s opinions on art after he became a novelist«520, kann über seine Einschätzung impressionistischer Malerei kein abschließendes Urteil gefällt werden.521 Abschließende Urteile auf Seiten des Kunstkritikers können jedoch selbst aus vorliegenden Schriften nicht gewonnen werden; vielmehr unterliegen die Urteile Veränderungen, was abermals im Hinblick auf die Malerei Hildebrandts gezeigt werden kann. Mahnt Fontane in seinem Nachruf auf diesen Künstler 1868 noch, »die Malerei soll[e] sich nicht von aller Form trennen, soll[e] nicht in bloße […] Farbenakkorde verklingen wollen«522, so lobt er 1889 in der Prosaskizze Auf der Suche gerade Hildebrandts prä-impressionistische Malweise, die ihn gar zu einer literarischen Nachahmung jenes Verfahrens inspiriert. Kommt hier bereits eine veränderte Bewertung moderner bildkünstlerischer Farbenund Formensprache zum Ausdruck, so hat die in der Forschung vertretende These viel für sich, den Kunst-Professor Cujacius im Stechlin und seinen vehementen Konservatismus als selbstreflexiv-ironisch zu deuten, wenn dieser beispielsweise kategorisch konstatiert: »Es giebt nur ein Heil: Umkehr, Rückkehr zur keuschen Linie. Die Koloristen sind das Unglück in der Kunst.« (DS, S. 282) In dieser Lesart fungiert Cujacius als 518 Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur, S. 158. 519 Vgl. dazu Hamann und Hermand, Impressionismus, S. 350; Weber, Die literarische Landschaft, S. 367f. – Durch diesen Konnex zur Dynamik und zur Malerei kann für Fontane hier gerade nicht gelten, was Becker im Hinblick auf ›anti-moderne‹ Wahrnehmungsbedürfnisse konstatiert, denen die realistische Literatur wie auch die Photographie entsprach: »Realistisches Schreiben gleichermaßen wie die fotografische Aufnahme gehen von der Bannung des Augenblicks und von der Umkehrung des Flüchtigen und Vergänglichen im Moment der verzögernden detailfixierten Beschreibung und der verharrenden fotografischen Abbildung aus. […] Denn das Foto bietet einen homogenen, stillgelegten und zugleich detailreichen Ausschnitt […]. Genau diese instantane, retardierende Eigenschaft des fotografischen Mediums findet sich auch im realistischen Erzählen« (Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges, S. 247). 520 Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 45. 521 Vgl. ebd., S. 55. Auch Wüsten konstatiert: »Fontanes Stellung zum Impressionismus ist jedoch kaum zu beurteilen. Den französischen Impressionismus hat er vermutlich nur aus Zeitungsnotizen gekannt. In Berlin hat sich der Impressionismus erst nach der Jahrhundertwende durchgesetzt« (Wüsten, Zu kunstkritischen Schriften Fontanes, S. 192). 522 NFA XXIII/1, S. 496.
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an ironic camouflage for opinions Fontane himself had expressed in earlier reviews and since modified as a result of a fresh awareness of the possibilities of color […]. Through Cujacius, […] Fontane directs his skepticism and humor against his own art criticism; past and present opinions relativize one another.523
Dieses Prinzip der Relativierung kann für Fontanes Kunsturteil allgemein gelten, das weniger radikalen Kehrtwenden als vielmehr produktiven Veränderungen unterworfen war.524 Insgesamt soll es hier jedoch »nicht darum [gehen], Fontane zum Impressionisten zu machen, sondern allein um den Nachweis, dass Gemeinsamkeiten vorliegen.«525 Diese Gemeinsamkeiten werden besonders deutlich, betrachtet man in vergleichender Perspektive die bearbeiteten Sujets und Settings. »Der Impressionismus ist eine par excellence städtische Kunst« und betrachtet »die Welt mit den Augen eines Städters«526, so dass eine grundsätzliche Nähe zum Autor Fontane und seinen Berliner Gesellschaftsromanen zu beobachten ist. Neben dezidiert urbanen Settings findet sich jener Reflex darüber hinaus auch in den Landschaftsdarstellungen, in die jeweils ganz selbstverständlich technische und städtische Motivik integriert wird. Auch die Gestaltung ritualisiert-geselliger Freizeitkultur der höheren Gesellschaftskreise ist beiden gemein und bildet ein bevorzugtes Sujet: »Dejeuner, Frühstück, Picknick, Siesta, Sich-Ausruhen, geselliges Lagern im Grase. Es ist erstaunlich, wie sich die Bilder zu diesem Thema in der Jahrhundertmitte ballen. Für die Impressionisten ist das geradezu ein Leitmotiv.«527 Wie Fontanes 523 Riechel, Theodor Fontane and the Fine Arts, S. 57. Vgl. dazu auch Schuster, Die Kunst bei Fontane, S. 23; Wagner-Douglas, Alte Meister, S. 238. 524 Eine Erklärung für die inkonsistente Positionierung Fontanes hinsichtlich der Koloristen liefert Aus der Au: »Die verschiedenen Aussagen Fontanes verdeutlichen, dass er zwischen Anerkennung und Ablehnung der koloristischen Kunst schwankt, was auch daran liegt, dass er sich stärker auf den Einzelfall als auf die übergreifende Perspektive einlässt« (Aus der Au, Fontane als Kunstkritiker, S. 293). 525 Weber, Die literarische Landschaft, S. 371. 526 Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 784f. – Siehe dazu auch Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I/2, Frankfurt am Main 1978, S. 509–690, hier S. 628: »Vielleicht hat der tägliche Anblick einer bewegten Menge einmal ein Schauspiel dargestellt, dem sich das Auge erst adaptieren musste. […] Das Verfahren der impressionistischen Malerei, das Bild im Tumult der Farbflecken einzuheimsen, wäre dann ein Reflex von Erfahrungen, die dem Auge des Großstädters geläufig geworden sind.« 527 Eberhard Roters, Malerei des 19. Jahrhunderts. Themen und Motive. Bd. 2, Köln 1998, S. 110ff. – Verwiesen wird hier auf den französische Impressionismus, der sich bereits um die Jahrhundertwende etablierte.
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Landpartien, ist auch dieser bildkünstlerische Motivkreis in der Mehrzahl mit vorstädtischen respektive natürlichen Schauplätzen verknüpft, die unweit des urbanen Lebensmittelpunktes verortet sind und der Ausflugsgesellschaft für eine kurze Zeit die Entlastung von den sozialen Ansprüchen und Pflichten zu versprechen scheinen: »Glückliche Augenblicke sind erfaßt […]. Sommerfrische, das ist das Glück im Jetzt und Hier. Das Hier ist räumlich und zeitlich begrenzt, es ist endlich, es kommt mit einem bescheidenen Ruheplatz aus.«528 Unter Rekurs auf Caspar David Friedrichs ›Der Mönch am Meer‹ und der figurativ eingenommenen aufrecht stehenden Körperhaltung kontrastiert Roters anschaulich das veränderte Naturverhältnis, das aus jenen Motiven der impressionistischen Malerei hervorgeht. Die Zeiten, als der Mensch der erhabenen, göttlichen Natur wie bei Friedrich noch sehnend gegenüber gestellt ist, sind derweil vergangen. »Nun, nach der Jahrhundertmitte, haben sich die Menschen in der Natur niedergelassen, sie haben sich hingesetzt. Die Natur selbst ist klein geworden; […] sie liegt vor der Haustür.«529 Einen derartigen »Bedeutungsverlust von Natur und Naturerfahrung« zeichnet auch »die realistische Literatur gegenüber der Romantik« aus; »vor allem bei Fontane dient sie allenfalls als Ziel der geselligen Landpartie«530 – womit die Skizzierung der Berührungspunkte zwischen dem Fontaneschen Topos und der impressionistischen Malerei einen Abschluss finden soll. 4.3.3.4 Stimmungsbilder Der Einfluss habitualisierter Bildmuster auf die Landschaftswahrnehmung lässt Wullen in seinen Reflexionen zum Seh- und Wahrnehmungsprozess in Fontanes Romanen zu einer radikalen These gelangen: »Es sind nicht die Akteure, die ihr Sehen zu bildmäßigen Mustern organisieren. Die Muster organisieren sich vielmehr selbst, nach überindividuellen, kollektiv verbindlichen Programmen, deren jedes wie ein Warenzeichen den Namen eines Künstlers trägt.«531 Folgte man diesem Argument, so reproduzierten die Figuren gleichsam fremdbestimmt nur spezifische Kompositionsmuster, deren Urheber(-gruppierungen) darüber hinaus jeweils eindeutig zu identifizieren sind. Während die generalisierende Authentifizierbarkeit konkreter Bildspender als fragwürdig zu gelten hat, so ist die grundsätzliche Wirkmacht des
528 Ebd., S. 121. 529 Ebd., S. 122. 530 Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges, S. 260. 531 Wullen, Über das Sehen bei Fontane, S. 260.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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»visuelle[n] Gedächtnis[ses] der bildenden Kunst«532 und dessen Einfluss auf die Wahrnehmung keineswegs zu leugnen – allerdings unter Berücksichtigung folgender elementarer Prämisse: »Das kulturelle Bildgedächtnis setzt freilich […] immer auch individuelle Akte der Aneignung und Verarbeitung«533 voraus. Im Hinblick auf Fontanes Romane kommt der Rezeption und Internalisierung von Bildmedien534 im Prozess der Landschaftswahrnehmung zwar eine entscheidende Bedeutung zu, doch darf der gleichsam wirkende individuelle Anteil dabei keineswegs außer Acht gelassen werden. So erweist es sich nicht allein hinsichtlich der bildhaften Komposition als entscheidend, dass die Landschaftsdarstellungen in der Mehrzahl an die Wahrnehmung der Figuren rückgebunden sind; vielmehr ist damit eine zentrale poetische Funktion verknüpft. Denn »je nachdem, wer wann in welches ›Bild‹ hineinsieht, zeigt es sich in anderer Beleuchtung und gibt etwas preis, was mit Worten allein nicht zu sagen wäre.«535 Insofern die Landschaftsdarstellungen qua ihrer Perspektivierung »vor allem für die Figurendarstellung funktionalisiert«536 werden, stehen sie im Dienste eines literarischen Programms. Die konstitutive Verknüpfung von Landschaftsdarstellungen mit einer spezifisch-intendierten Funktion bei Fontane findet sich dabei nicht allein als Quintessenz seiner poetischen Darstellung verwirklicht, vielmehr formuliert er in einem literaturkritischen Aufsatz selbst explizit die Notwendigkeit einer Funktionalisierung. In seiner Rezension des Isegrimm von Willibald Alexis wendet sich Fontane auch dem Gegenstand der Landschaftsschilderung zu und stellt dahingehende poetologische Überlegungen an. Einer literarischen Landschaftsdarstellung, die ausschließlich selbstreflexiv und ohne funktionale Bedeutung bleibt, fehlt gemäß Fontane das, »was der Landschaftsschilderung überhaupt erst Wert und Recht verleiht.«537 Entsprechend harsch wird diese Praxis verworfen und verurteilt: »Eine Sonne auf- oder untergehen, ein Mühlwasser über das Wehr fallen, ein Baum rauschen zu lassen, ist die billigste
532 Aleida Assmann, Das Bildgedächtnis der Kunst – seine Medien und Institutionen. In: Hans Dieter Huber (Hrsg.), Bild, Medien, Wissen. Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter, München 2002, S. 209–222, hier S. 218. 533 Ebd., S. 219. 534 Dazu zählen neben der Malerei auch ›moderne‹ Bildmedien, wie z. B. das Moving Panorama oder die Photographie. Vgl. dazu Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 43–54. 535 Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 118. 536 Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 36. 537 HFA III/1, S. 456.
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literarische Beschäftigung, die gedacht werden kann.«538 Stereotypie, Formelhaftigkeit und Redundanz führen in der Konsequenz dazu, dass es sich bei diesem Verfahren der Landschaftsdarstellung nunmehr um eine ›Kunst‹ handelt, »die jeder übt und die deshalb längst aufgehört ha[t] als Kunst zu gelten«539. So beurteilt Fontane die Rezeptionshaltung, entsprechende Passagen ungelesen zu überblättern, denn auch als plausibel und legitim: Derartige Schilderungen werden »bei der Lektüre von jeder regelrechten Leserin einfach überschlagen und in neunundneunzig Fällen von hundert mit völligem Recht«540. Dieser kunst- und funktionslosen Landschaftsmotivik setzt Fontane schließlich seine poetologische Maxime entgegen, die er auch in dem besprochenen Roman von Alexis zu erkennen glaubt. Nach Fontane hat »[d]ie Landschaftsschilderung […] nur noch Wert, wenn sie als künstlerische Folie für einen Stein auftritt, der dadurch doppelt leuchtend wird, wenn sie den Zweck verfolgt, Stimmungen vorzubereiten oder zu steigern.«541 Die konstatierte funktionale Bestimmung der Landschaftsdarstellung, »Stimmungen vorzubereiten oder zu steigern«, bezieht sich im vorliegenden Kontext auf das Gesamt der Handlung, auf das der Leser ›eingestimmt‹ werden soll. So erscheint Fontane »das erste Kapitel« des Isegrimm als »eine landschaftliche Ouvertüre zu dem, was kommt.«542 Während Fontane in seinen eigenen Romanen auf die Topographien der Eingangspassagen besondere Sorgfalt verwendete und diese als andeutungsreiches Beziehungsgeflecht gestaltete, die das nachfolgende Handlungsgeschehen narrativ codieren, hebt er im Bezug auf Alexis ausschließlich die Verknüpfung von Erzählton und Romanhandlung hervor: »Und alles, was geschieht, es stimmt zu dem Ton, den Willibald Alexis hier einleitend anschlägt. Das ist Landschaftsschilderung.«543 Jenseits dieser formulierten poetologischen Direktive, die Erzählinstanz solle über die Landschaftsschilderung eine dem Erzählgegenstand gemäße Stimmung evozieren, erweist sich das Konzept 544 der Stimmung im Kontext
538 Ebd. 539 Ebd. 540 Ebd. 541 Ebd. 542 Ebd. 543 Ebd., S. 457. 544 »Bei der Beschäftigung mit Stimmung auf ästhetisch-theoretischer oder auch literarischer Ebene stößt man auf unterschiedliche Begriffe wie die Kategorie, die Denkfigur, das Phänomen oder auch die Anschauungsform. […] Eine eindeutige, methodisch-begriffliche Fixierung scheint der Erfassung des polysemantischen und ästhetisch potenten Stimmungsbegriffs […] grundsätzlich nicht zuträglich zu sein«
4.3 Die Topographien der Landpartien
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der Landschaftsdarstellung bei Fontane auch aus anderen Gründen als entscheidend. Denn indem die Landschaftsbilder in der Mehrzahl als Produkte der Figurenwahrnehmung zu identifizieren sind, ist konstitutiv vorauszusetzen, dass die individuelle Stimmung der betrachtenden Figur prägenden Einfluss auf ihre Wahrnehmung nimmt. Überhaupt »lässt sich die Landschaft unmöglich auf ein bloßes Schauspiel reduzieren. Sie bietet sich auch den anderen Sinnen dar und betrifft das Subjekt umfassend, körperlich und seelisch.«545 Dabei ist bei der Korrespondenz von »innerem Erleben und Umwelterfahrung«546 jedoch zu bedenken, dass es sich hier weder um oberflächliche Gefühlsregungen handelt, noch, dass diese monodirektional auf das sensuelle Erleben der Umwelt übertragen werden. Vielmehr vollzieht sich eine komplexe, wechselseitige Korrespondenz innerer und äußerer Stimmungen, wodurch die Landschaftsdarstellung bei Fontane erneut lohnend mit philosophischen Reflexionen zusammengedacht werden kann. In seiner zum philosophischen Standardwerk avancierten Fundamentalanalyse Sein und Zeit widmet sich Heidegger auch der Stimmung; er betrachtet »dieses Phänomen als fundamentales Existenzial«547 und »das Dasein [als] je schon immer gestimmt«548. Indem Heidegger »ontologisch die Stimmung als ursprüngliche Seinsart des Daseins«549 bestimmt, »kommt [sie] weder von ›Außen‹ noch von ›Innen‹, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selber auf.«550 Auch wenn Otto Friedrich Bollnow die Begriffsklärung seiner Studie Das Wesen der Stimmungen damit beginnt, die »Stimmung als unterste Schicht des seelischen Lebens«551 zu bestimmen, so erkennt er in der Stimmung dennoch keineswegs ein ausschließlich seelisches Phänomen, sondern konstatiert in Rekurs auf Heidegger ebenfalls eine »sich in den Stimmungen offenbarende ursprüngliche Einheit von Mensch und Welt«552. Da-
(Friederike Reents, Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 477f.). 545 Collot, Landschaft, S. 155f. 546 Hillebrand, Mensch und Raum, S. 15. 547 Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Abt. 1, Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 2, Unveränderter Text mit Randbemerkungen des Autors aus dem ›Hüttenexemplar‹. Hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977, S. 178. 548 Ebd., S. 179. 549 Ebd., S. 181. 550 Ebd., S. 182. 551 Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen [1941], Frankfurt am Main 1988, S. 33. 552 Ebd., S. 40.
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durch, dass die Stimmung somit als ein ursprüngliches, Welt und Selbst gleichermaßen umfassendes Phänomen verstanden wird, verwerfen Heidegger und Bollnow beide die Vorstellung, das Selbst übertrage im Modus der Weltwahrnehmung nur seine innere Stimmung auf das Außen.553 »Stimmung ist im Heidegger’schen Sinne stets vor-handen, also dem Erkennen und der Steuerung durch den eigenen Willen stets vorgängig. […] Stimmung ist immer schon da, aber schwer zu fassen.«554 Auch Simmel beschäftigt sich in seiner Philosophie der Landschaft mit dem Phänomen der Stimmung und verleiht dieser eine zentrale Bedeutung, wenn sie das scheinbare Paradoxon, dass die subjektiv geschaute Landschaft sowohl einen Ausschnitt als auch eine ganzheitliche Einheit darstellt,555 zu lösen vermag. Die Frage, »[w]elches Gesetz […] diese Auswahl und diese Zusammensetzung« verschiedener Naturkonstituenten zu einer Landschaft bestimmt, das zugleich »diese Elemente zu je einer Eindruckseinheit zusammenschließ[t]«556, beantwortet Simmel nämlich insofern, als er auf die Stimmung der Landschaft rekurriert. Hält er dabei zunächst fest, dass die Stimmung als der »erheblichste Träger dieser Einheit«557 der Landschaft fungiert, diese Stimmung wiederum »alle ihre einzelnen Elemente« durchdringt, »ohne daß man ein einzelnes für sie haftbar machen könnte«558 und sich nur in ihrer Gesamtheit und Einheit fassen lässt, so muss sich daraus jedoch folgendes Problem ergeben: Wie kann die Stimmung der Landschaft als der wichtigste Träger ihrer Einheit gelten, wenn die Stimmung selbst erst in der Einheit der Landschaft in Erscheinung tritt? Simmel begegnet diesem vermeintlichen Widerspruch damit, die Identität von Stimmung und Einheit einer Landschaft zu konstatieren. »So sind die Einheit, die die Landschaft als solche zustande bringt, und die Stimmung, die uns aus ihr entgegenschlägt und mit der wir sie umgreifen, nur nachträgliche Zerlegungen eines und desselben seelischen Aktes.«559 Dies vermag auf Heideggers und Bollnows These hinzuleiten, wenn es bei Simmel heißt, dass dem betrachtenden Subjekt die Stimmung einer Landschaft ›entgegenschlägt‹. Auch Simmel scheint also »keine nachträgliche, bloß
553 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 182; Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 39. 554 Reents, Stimmungsästhetik, S. 49. 555 Vgl. zum Prozess der Landschaftswahrnehmung nach Simmel auch Kapitel 4.3.3.1 der vorliegenden Studie. 556 Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 474. 557 Ebd., S. 478f. 558 Ebd., S. 479. 559 Ebd., S. 480.
4.3 Die Topographien der Landpartien
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gleichnishafte Übertragung«560 seelischer Stimmung auf die Landschaft anzunehmen, vielmehr zeugen auch seine Reflexionen davon, »das gemeinsame, Mensch und Welt zusammen umgreifende Durchzogensein von einem bestimmten Stimmungsgehalt«561 anzunehmen. Denn unter Berücksichtigung von Simmels Ansatz, Einheit und Stimmung in eins zu setzen, kann die von der Natur repräsentierte »Einheit eines Ganzen«562, aus der im Prozess der ästhetischen Wahrnehmung die Einheit einer Landschaft herausgelöst wird, als grundsätzliche Gestimmtheit der Natur respektive der Welt verstanden werden. Durch die perspektivierte Vergegenwärtigung in den Romanen Fontanes vermitteln sich demgemäß über den Akt der Landschaftswahrnehmung, der nach Simmel »unmittelbar ein schauender und ein fühlender«563 ist, nicht allein die perzeptiven Produkte in Gestalt der geschilderten Landschaften. Vielmehr ist diesen konstitutiv auch die stimmungshafte Verfasstheit der betrachtenden Figur beigegeben – während die Stimmung der Welt nur im Reflex der subjektiv gestimmten Wahrnehmung und ihrer Produkte greifbar wird.564 An einigen Stellen wird die Kohärenz zwischen seelischer Verfasstheit der Figur und der Wahrnehmung ihrer Umwelt überdeutlich herausgestellt, wenn es beispielsweise über Lene am Morgen nach der mit Botho verbrachten Liebesnacht in Hankels Ablage heißt: »Ja, sie war glücklich, ganz glücklich und sah die Welt in einem rosigen Lichte.« (IW, S. 86) In Cécile erfolgt die Korrelation der abendlichen, mondbeschienenen Balkonaussicht mit Gordons Stimmung und seinem Briefstil, den er gegenüber Cécile anschlägt, sogar unter Verwendung des Terminus ›Stimmung‹: »Es war eine kostbare Nacht, kein Lüftchen ging, […] die Mondsichel stand über dem Rathaus […]. / Rasch flog Gordons Feder über die Seiten hin, und die weiche Stimmung, die draußen herrschte, bemächtigte sich auch seiner und fand in dem, was er schrieb, einen Ausdruck.« (C, S. 132) Zwar impliziert die Formulierung einer stattfindenden ›Bemächtigung‹ eine monodirektionale Einflussnahme der äußeren Stimmung auf Gordon; doch er selbst stellt die Instanz dar, die die nächtliche Stimmung allererst wahrnimmt. Seinerseits ist Gordon von einer Stimmungslage beherrscht, »und erst in ihrem Rahmen
560 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 39. 561 Ebd., S. 39f. 562 Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 471. 563 Ebd., S. 482. 564 »[I]n der möglicherweise präreflexiven Gestimmtheit oder Harmonie hat die gestimmte Welt ihrerseits wieder Einfluss auf die Dispositionen der am Prozess beteiligten Subjekte und deren Stimmungslagen« (Reents, Stimmungsästhetik, S. 20).
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
und durch sie bedingt erfolgt die Wahrnehmung«565 der äußeren Welt. Gleiches kann für L’Adultera gelten, wenn Melanie aus dem Fenster das Schneetreiben beobachtet: »Etwas wie Sehnsucht überkam Melanie beim Anblick dieses Flockentanzes, als müsse es schön sein, so zu steigen und zu fallen und dann wieder zu steigen« (LA, S. 10). Damit verknüpft ist auf der einen Seite die Technik der Vorausdeutung, denn »[i]m Steigen und Fallen der tanzenden Schneeflocken bildet sich Melanies Schicksal ab: aufgestiegen zur Frau Kommerzienrat, gefallen als Ehebrecherin und wiederum aufsteigend, in ihrer neuen Verbindung.«566 Auf der anderen Seite wird hier Melanies wehmütige Grundstimmung angesichts ihrer Ehe mit Van der Straaten kenntlich; das Gefühl der Sehnsucht überkommt sie insofern nicht als Folge ihrer Wahrnehmung,567 sondern entwickelt sich auf der Basis ihrer wehmütigen Stimmung, die wiederum für ihre Wahrnehmung ebenso wie deren Interpretation verantwortlich zeichnet. An anderer Stelle erweisen sich die Stimmungsbilder in Fontanes Romanen als subtiler geschildert, was erneut an einer Textstelle aus Cécile veranschaulicht werden soll: Aber so lang der Weg war und so ruhebedürftig Cécile sich fühlte, dennoch sprach sie kein Wort von Ermüdung, weil das Bild, das die Dorfstraße gewährte, sie beständig interessirte. Links hin lagen die Häuser und Hütten in der malerischen Einfassung ihrer Gärten, während nach rechts hin, am jenseitigen Ufer der Bode, der Hochwald anstieg, auf dessen Lichtungen das Vieh weidete. Das Geläut der Glocken tönte herüber und dazwischen klang das Rauschen des über Kieselgeröll hinschäumenden Flusses. (C, S. 102)
Die von der Figur Cécile ausgehende Perspektivierung des Landschaftsbildes wird erneut durch die strukturierenden Ordnungsschemata verdeutlicht, die sowohl visuelle als auch akustische Sinneseindrücke betreffen. Auf den ersten Blick mag sich dabei zunächst ein Gegensatz aufdrängen, der zwischen Céciles Ruhebedürfnis und der Lebendigkeit der Landschaft zu bestehen und
565 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 57. 566 Mende, ›Wenig mit Liebe‹, S. 215. Schon das zuvor geschilderte »bunte Treiben eines Markttages« (LA, S. 10) »zerfällt [nach Mende; M. B.] in ikonographische Elemente, die, kaum merklich, stichwortartig auf zentrale Augenblicke und Gegebenheiten im späteren Verlauf der Erzählung vorausdeuten« (ebd., S. 214). 567 In seiner Unterscheidung von Stimmungen und Gefühlen konstatiert Bollnow, »daß beide nicht als gleichberechtigte Formen nebeneinander stehen, sondern in einem ganz bestimmten einseitigen Aufbauzusammenhang. Nur die Stimmungen gehören zu der Schicht des tragenden Lebensuntergrunds, die Gefühle dagegen schon zu den sich daraus entwickelnden und darauf aufbauenden ›höheren‹ Leistungen« (Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 36).
4.3 Die Topographien der Landpartien
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auf keine stimmungshafte Kohärenz hinzuweisen scheint. Doch während dieses Ruhebedürfnis eindeutig als ein Gefühl benannt ist, das sie aufgrund ihres Interesses an der Umgebung nicht verbalisiert, kann im Hinblick auf die Stimmung indes durchaus eine Kohärenz konstatiert werden. Überein stimmen hier die Heiterkeit ebenso wie der Übermut: Als heiter können beide gelten, der sich synästhetisch evozierende Gesamteindruck der Landschaft wie auch Cécile, die auf ihrer Harzer Sommerfrische »das Leben« nach eigener Aussage als »leicht und gefällig« empfindet, »[w]eil sich beständig neue Beziehungen und Anknüpfungen bieten.« (C, S. 65) Diese Heiterkeit erweist sich sodann als umso wahrscheinlicher, da sich Cécile in der zitierten Passage ungestört in der Gesellschaft Gordons befindet. Die daraus resultierende Ausgelassenheit, die sich jenseits der Überanstrengung der körperlichen Kräfte zuvor auch in einer »mit beinah übermüthiger Betonung« (C, S. 99) an Gordon gerichteten Aufforderung zur Eile ausdrückte, findet landschaftlich ihrerseits im ›Rauschen des hinschäumenden Flusses‹ seinen Reflex. Selbst wenn sich die Landschaftsbilder als Stimmungsbilder und insofern die Korrelation innerer und äußerer Stimmungen interpretatorisch teilweise erst vor dem Hintergrund philosophischer Reflexionen genauer entschlüsseln lassen, so erschließt sich gleichwohl unmittelbar, dass Landschaft und Figur aufeinander bezogen sind: Die aus der Figurenperspektive vermittelte Wahrnehmung der Topographie transportiert neben den Landschaften als Produkte dieser Wahrnehmung stets konstitutiv auch Aussagen über die betrachtende Figur und ihre Gemütsverfassung. Diese Funktionalisierung, die Indienstnahme der Landschaften zur charakterisierenden Darstellung der Figuren vermag somit literarisch Fontanes eigene poetologische Forderung einzuholen, dass »der Landschaftsschilderung überhaupt erst Wert und Recht« zukommt, wenn sie »als künstlerische Folie für einen Stein auftritt, der dadurch doppelt leuchtend wird«568. »Während […] in den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts auktorial vermittelte Raumbeschreibungen dominieren,« verweisen die zahlreichen »figural-fokalisierten Räume[ ]«569, wie sie Fontane zur Darstellung bringt, nicht zuletzt auf das Innovative der Raumdarstellung in seinen Werken. – Und insofern sich die Landschaftsbilder als maßgeblich beeinflusst durch die Wahrnehmungsperspektive der Figuren erweisen, durch deren psychische Dispositionen als auch durch die Rezeption und Internalisierung habitualisierter Bildmuster, so darf ein weiterer Faktor ebenfalls nicht überraschen: Die Wahrnehmung der äußeren Umwelt unterliegt stets auch subjektiven 568 HFA III/1, S. 456. 569 Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 45.
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Schemata und Modi, die das räumliche Erleben im Sinne vorgängiger Erwartungshaltungen, Imaginationen, Befürchtungen respektive Hoffnungen entscheidend mitbestimmen. Auch dies kann an den Gesellschaftspartien in Fontanes Romanen verdeutlicht werden und stellt den Gegenstand des folgenden Kapitels dar.
4.4 Imaginierte Alterität »Von grundlegender Bedeutung für die Landpartie ist die Differenz von städtischem und ländlichem Raum, die als unterschiedliche Lebensformen und Wertewelten zeitgleich nebeneinander koexistieren.«570 Vor der Folie der vorangegangenen Ausführungen zu den Topographien der Gesellschaftspartien mag diese Feststellung verwundern und zu Widerspruch anregen, und doch hat es mit ihr, unter gewissen Voraussetzungen, seine Richtigkeit: Eine »Differenz von städtischem und ländlichem Raum« im Sinne eines klar definierten Raumwechsels konnten die topographischen Analysen der Ausflugsziele nicht bestätigen. Denn statt eines klar erkennbaren Übertritts aus dem Raum ›Stadt‹ in den Raum ›Land‹ profilieren die Texte vielmehr, dass die Gesellschaftspartien in einen Grenzraum führen und die Settings ein hybrides Korrelat der sie konstituierenden Binärräume auszeichnet. Gleichwohl kommt der im Zitat konstatierten Differenz von Stadt und Land eine »grundlegende Bedeutung« zu, insofern sie den Gesellschaftspartien als zentrale Leitidee strukturell zugrunde liegt. Beide Varianten ritualisierter Freizeitkultur, Sommerfrische und Landpartie, stellen einen mentalitätsund tourismusgeschichtlichen Reflex auf die tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Umbrüche sowie Umstrukturierungsprozesse dar, die sich im Kontext der Industrialisierung und Urbanisierung vollzogen. In Folge der Destabilisierung tradierter Lebens- und Wahrnehmungsformen in den städtischen Ballungsräumen avancierten das Dorf, das Leben auf dem Land und in der Natur zu Gegenständen und Flächen der Idealisierung und Projektion: Jenseits der Stadt schienen althergebrachte, einfache und ursprüngliche Lebens- und Wertezusammenhänge intakt zu koexistieren und auffindbar zu sein. Die Entstehung und Popularisierung der (Nah-)Erholungsformen Landpartie und Sommerfrische stehen damit in enger Verbindung, versprachen sie doch einem städtischen Teilnehmerkreis, für einen begrenzten Zeitraum und im Rahmen eines gesellschaftlich codierten Freizeitvergnügens in jenen ›Gegenraum‹ hinü-
570 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 81f.
4.4 Imaginierte Alterität
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berzuführen und dort, so die Hoffnung und das Bedürfnis, Entlastung von den Friktionen des modernen Lebens in Groß- und Industriestädten zu finden. War die Erfüllung jener Erwartungen per se von Anbeginn fraglich, da sie sich in erster Linie aus Imaginationen speisten, musste sich ihre Wahrscheinlichkeit analog zur Institutionalisierung und Professionalisierung weiter verringern, die die steigende Beliebtheit von Landpartien und Sommerfrischen begleiteten und (mit-)bestimmten. Aller Modernisierungstendenzen zum Trotz kann zwar für das späte 19. Jahrhundert die Koexistenz divergierender und räumlich getrennter »Lebensformen und Wertewelten« in der Stadt und auf dem Land angenommen werden; die literarischen Bearbeitungen der Gesellschaftspartien in den Romanen Fontanes verdeutlichen allerdings, dass diese die Figuren zu Lokalen und Lokalitäten »in Berlins Weichbild«571 führen, die durch ihre verkehrstechnische und touristische Erschließung den bequemen Transfer urbaner Lebensart und Geselligkeit garantieren und eine Begegnung mit authentischen ländlichen Gepflogenheiten und Mentalitäten daher nur bedingt ermöglichen. Denn Sommerfrische und Landpartie besetzen gerade keinen unberührten, ländlich-natürlichen Raum, sondern eine Grenzzone zwischen Stadt und Land, ein Spannungsfeld von Natur und Kultur: In der Inszenierung eines Gesellschaftsvergnügens präsentieren die Romane also die Transgression eines Grenzraumes, in dem sich – gemäß des Lotmanschen Raummodells respektive seiner modifizierenden Reflexionen zur Semiosphäre – die binären kulturellen Ordnungen des textuellen Weltmodells überlagern.572 Betrachtet man eingehender die Annäherung der Figuren, ihren Umgang und ihre Reaktionen hinsichtlich des aufgesuchten Settings der Gesellschaftspartien, so wird deutlich, dass die Figuren sich weniger für das eigentlich bestehende Korrelat semantischer Codierungen empfänglich zeigen, das in der Kulturalität der Landpartienatur seine topographische Spezifizierung erfährt. Vielmehr folgen sie der Vorstellung, im Rahmen der Gesellschaftspartie einen genuin ›anderen‹, d. h. natürlichen Raum betreten zu haben und wähnen, dort mit den ihm assoziierten devianten Ordnungen konfrontiert zu sein. Dies unterläuft dabei keineswegs die hier zugrunde gelegte Interpretation, das topographische Setting von Landpartie und Sommerfrische werde von einer Grenzzone konstituiert, denn »[e]ntscheidend ist […] nicht die äußere Gestalt einer Grenze, sondern ihre Wertigkeit, ihre Qualifizierung durch die jeweiligen Vorstellungen vom Wir und von den Anderen, von
571 Mayer, Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos, S. 65. 572 Vgl. dazu auch Kapitel 4.1.2 der vorliegenden Studie.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
Identität und Alterität.«573 Als relevant erweist sich also die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung von ›Grenzen‹. Die von den Figuren imaginierte Alterität lässt sich vereinfacht in zwei Modi fassen, was die nachfolgenden Ausführungen näher entfalten werden: Während einige Romanfiguren dem vermeintlich ›Anderen‹ der Natur lautstark mit einem Gestus der kulturellen Überlegenheit begegnen, äußert sich die affirmative Projektion eines Möglichkeitsraumes vornehmlich implizit über die daraus sich ergebenen, amourös-sexuellen Folgen. 4.4.1 Schützen und Verbergen Die Alteritätserfahrung, die die Romanfiguren im Kontext der Gesellschaftspartien zu machen glauben, ist das Produkt einer Projektion: Das gesellschaftlich-gesellige Freizeitvergnügen wird als eine »Grenzüberschreitung[,] als Transgression einer vorausgesetzten Ordnung«574 inszeniert und erlebt. Ersichtlich wird dies in scheinbar unbedeutenden Vorkehrungen, Verhaltensmustern und Äußerungen, d. h. auch jenseits der sich im Handlungsfortgang der Partien und Romane ergebenen weitreichenden Folgen, denn die räumlich-semantischen Grenzüberschreitungen präfigurieren und befördern gleichsam normative Grenzverletzungen. Obwohl die veranstalteten Landpartien die Teilnehmerkreise nur auf wenige Stunden und noch dazu in der Mehrzahl an Sommertagen aus ihrem häuslich-urbanen Lebensumfeld hinausführen, lassen die mitgeführten Accessoires und Garderoben darauf schließen, man bliebe auf lange fort und der Witterung andernfalls schutzlos ausgesetzt: »Von Decken, Reisedecken, ›Plaids‹ bei den besseren Leuten, Tüchern, Schirmen, Sonnenschirmen oder ›Entoutcas‹ wimmelt es bei denen, die per Eisenbahn reisen oder sich per Wagen auf den Weg machen«575. Während die Damen von Carayon in Schach von Wuthenow zur Spazierfahrt nach Tempelhof »mit einer ganzen Ausstattung von Tüchern, Sonnen- und Regenschirmen unten am Wagenschlag« (SvW, S. 33) erscheinen und derart gegen Kälte, Hitze und Niederschlag – kurz: für so gut wie alle Wetterlagen eines Apriltages – gerüstet sind, fürchten die Damen in den anderen Romanen allein die sommerliche Abendkühle und begnügen sich damit, in dieser Hinsicht Vorsorge zu treffen. In welchem Umfange sie dies tun, wird in L’Adultera verdeutlicht, 573 Gehrke, Einleitung: Grenzgänger im Spannungsfeld, S. 16. 574 Jörg Dünne, Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹, S. 6. http://www.raumtheorie. lmu.de/Forschungsbericht4.pdf (letzter Zugriff am 23. 07. 2015). 575 Brinkmann, Der angehaltene Moment, S. 369.
4.4 Imaginierte Alterität
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wenn es zweier Herren bedarf, »um aus dem Wagen eine Welt von Decken und Tüchern heran zu schleppen« (LA, S. 69). Der ironische, jenes Expeditionsgebaren als unverhältnismäßig entlarvende Erzählgestus ist dabei nicht ausschließlich auf die Kommentare der Erzählinstanz zurückzuführen, sondern wird von einer gewissen Selbstironie auf Seiten der Figuren flankiert, wenn es wenig später extern fokalisiert heißt, dass »man sich dahin [einigte], daß es zur Bekämpfung dieser Polarzustände nur ein einzig erdenkbares Mittel gäbe: eine Glühweinbowle.« (LA, S. 70) Das Empfinden und Klassifizieren von »Polarzustände[n]« am Abend »eines heißen Sommertages« (LA, S. 65) gründet auf folgendem Zusammenspiel: Die Verknüpfung »eine[s] geographischen Ort[es] mit spezifischen Imaginationen«576 führt zu einem halb-authentischen Erleben des Imaginierten; im vorliegenden Fall kann die Wahrnehmung von Kälte nicht zuletzt auch als Folge der vorgefassten Erwartung gelten, in dem aufgesuchten ›Naturraum‹, fern der häuslichen Behaglichkeit, »allen Unbilden der Elemente preisgegeben« (DS, S. 177) zu sein, wie es Woldemar von Stechlin auf der Partie zum Eierhäuschen formuliert. Die These eines projizierten Ursache-Wirkungsverhältnisses genauso wie seine selbstironische Andeutung durch die Figuren lässt sich bereits an einem vorangegangenen Kommentar Melusines auf der Dampferfahrt belegen, wenn sie trotz der vorbeiziehenden Industrielandschaft bemerkt: »Wir sind ja schon wie in halber Einsamkeit. Und dabei wird es frisch. Ein Glück, daß wir Decken mitgenommen. Denn wir bleiben doch wohl im Freien?« (DS, S. 165) Die Landpartie-Gesellschaft im Stechlin bleibt in der Tat im Freien und trinkt daher »zur Herstellung einer besseren Innentemperatur« (DS, S. 177) vor ihrer Rückfahrt ebenfalls einen heißen Punsch, während in Frau Jenny Treibel »herumgereichtem Crême de Cacao« (JT, S. 151) diese Funktion zukommt. Das Bedürfnis der Romanfiguren, sich während der Gesellschaftspartien dem aufgesuchten Naturraum und seinen assoziierten Unberechenbar- und Unannehmlichkeiten nicht ungeschützt auszusetzen, betrifft nicht nur die getroffenen Vorkehrungen gegen kalte Temperaturen. Es lässt sich auch daran ablesen, dass die Figuren am Ausflugsort Plätze aufsuchen, die einen besonders sicheren Rahmen für die Natur- und Landschaftsbegegnung garantieren. Abseits des für Gesellschaftspartien konstitutiven Moments der Bewegung, dem zumeist in Form von Spaziergängen nachgegangen wird, erfolgt die Natur- und Landschaftsbegegnung vornehmlich passiv von einer bequemen Sitzgelegenheit aus. Unabhängig davon, ob diese Sitzgelegenheiten zu einem
576 Karentzos und Kittner, Touristischer Raum, S. 281.
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Lokal gehören oder in der Landschaft postiert sind, weisen sie in vielen Fällen nach oben hin eine schützende ›Dachkonstruktion‹ auf. Der Möglichkeiten sind dabei viele, sie umfassen botanischen Wuchs oder zu diesem Zwecke dienende bauliche Vorrichtungen, die teils erneut von Pflanzen überwachsen sind: So haben die Figuren »eine Laube von Blattkronen über sich« (DS, S. 176), nehmen »auf einer von Flieder und Goldregen überwachsenen Bank Platz« (C, S. 64; vgl. auch S. 128) – oder es heißt, »weit vorhängende Tannenzweige bildeten ein Schutzdach gegen die Sonne.« (C, S. 82) Ein »weitvorspringendes Schutzdach« (C, S. 104) findet sein Pendant in »einem von Pfeifenkraut überwachsenden Zeltschuppen« (C, S. 26) oder »in einer verandaartig vorgebauten Holzhalle […], deren eine Hälfte von dem Gezweig einer alten […] Ulme verdeckt wurde.« (IW, S. 71) Das Vorhandensein jener Sitzgelegenheiten rekurriert zum einen auf die »zunehmende[ ] Ausstattung und Möblierung der Garten- und Landschaftsräume« mit »Bänke[n], Häuschen, Lokale[n]«577, mit der die Naherholungsgebiete auf die Nachfrage ihrer Besucher nach Bequemlichkeit Rechnung trugen. Zum anderen profilieren speziell die natürlichen Konstituenten dieser aufgesuchten Ensembles, dass die Figuren nicht notwendigerweise Schutz vor der Natur suchen, sondern dass ›die Natur‹ ihrerseits zu geschützten Räumen beitragen oder diese gar selbst gewähren kann. Steht hier zunächst noch das Abschirmen von witterungsbedingten Begleiterscheinungen im Vordergrund, die ein Aufenthalt im Freien mit sich bringt und nach deren Vermeidung getrachtet wird, können die vorgenannten Beispiele dennoch als Auftakt einer Reihe nachfolgender Orte gelten, die im Verlauf der Gesellschaftspartien und Romane einen andersgearteten Schutz bieten, einen Sichtschutz. Den Blicken anderer entzogen, vermögen sich in Schonungen, Lauben, in der Dunkelheit, hinter Hecken, im Schilf und in einem Treibhaus Momente ungestörter Intimität und insofern der Liebesbegegnung einzustellen.578 Diese natürlichen respektive halb-natürlichen Schutzräume bilden mithin Möglichkeitsräume, in denen sich in Form gesellschaftlich sanktionierter Liebesbeziehungen Brüche gegen das Norm- und Wertesystem vollziehen, das somit in Frage gestellt wird. Insofern ist in den »›Aktionsraum‹« der Gesellschaftspartien en miniature ein weiterer eingebettet, in dem der den Figuren gesetzte »Bedingungsrahmen für ihre Handlungen«579 erweitert ist. Das destabilisierende Potential, das den besetzten Grenzräumen als Folge der semantischen Doppelbödigkeit genuin eigentümlich ist und auf das seinerseits schon 577 Fuhs, Kurorte als Orte des geselligen Vergnügens, S. 36. 578 Vgl. dazu auch Kapitel 5.2.2 der vorliegenden Studie. 579 Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 38.
4.4 Imaginierte Alterität
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die Lockerung gesellschaftlicher Konvention und Reglementierung bei Landpartien und Sommerfrischen gründet, kann dort endgültig zur Entfaltung gelangen: Bedingt durch das visuelle Entzogensein, das die Distanzierung zur kulturellen Normativität repräsentiert und extendiert, vermag die figurative Projektion, im Rahmen der Gesellschaftspartie einer anderen, natürlichen Ordnung zu begegnen und zu unterliegen, in den Mikro-Idyllen zeiträumlich begrenzt einen Wirklichkeitsreflex zu finden. Auch wenn diese Mikro-Idyllen konstitutiv mit figuraler Perspektivierung verbunden sind und in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung als überaus beschränkt gelten müssen, unterminiert dies jedoch keineswegs »das genuine zivilisationskritische Potential der Idylle«, das der literarischen Gattung respektive ihren »Spuren und Sedimenten«580 ausgehend von antiker Tradition per definitionem eingeschrieben ist. »Fundamentales Strukturmerkmal ist die Vorstellung eines eingegrenzten Raums, der vor Aggression von außen weitgehend geschützt ist, wobei aber die Existenz von Aggression in der umgebenden Welt […] mitevoziert wird.«581 Als Evasionsräume, die Abweichungen von herrschenden Normen und Werten ermöglichen und bergen, rekurrieren diese temporären Idyllen stets auf das Restriktions- und Repressionspotential des herrschenden Welt- und Ordnungsmodells – und dies in doppelter Stoßrichtung: sowohl textintern als auch textextern. 4.4.2 Fremde Nähe, oder: Expeditionen ins Unbekannte Offenbart sich das Evasionspotential einer positiven Codierung der vermeintlich ›anderen‹ Ordnung der Natur nur überaus limitiert, im Moment eines (narrativ intentional herbeigeführten) Zufalls, des schicksalhaften Zusammenseins eines Figurenpaares zur richtigen Zeit am richtigen – d. h. in diesem Falle: durch Naturelemente visuell verborgenen – Ort, gründet die Alteritätserfahrung für die Mehrzahl des portraitierten Gesellschaftskreises in einer anderen Herangehensweise. Diese manifestiert sich in einer »Art des Umgangs mit der Natur, die durch Distanz, durch Befreiung und zugleich durch Entfremdung von ihr gekennzeichnet ist«582. Mit ›Distanz, Befreiung und Entfremdung‹ sind dabei jene Schlagworte aufgerufen, mit denen, spätestens
580 Preisendanz, Reduktionsformen des Idyllischen, S. 81. 581 Renate Böschenstein, Idyllisch/Idylle. In: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3, Harmonie – Material, Stuttgart 2001, S. 119–138, hier S. 121. 582 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 20.
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seit Ritters Landschafts-Essay, das Naturverhältnis von Stadtbewohnern in der Literatur häufig umrissen wird. In Friedrich Schillers583 Gedicht Der Spaziergang (1795) erkennt Ritter ein literarhistorisches Zeugnis, das einen direkten Zusammenhang zwischen städtischem Lebensumfeld und distanziertem Naturverhältnis herstellen lässt. Der Austritt des Städters aus den natürlichen Bedingungen und Bedingtheiten geht mit einer »Verdinglichung der Natur zum Objekt einher«, was bei »Schiller nicht als Verfall und als Verlust«, sondern »vielmehr [als] Bedingung der Freiheit«584 gewertet wird: »So kommt Freiheit als Freiheit für den Menschen mit der Stadt und mit der Wissenschaft und Arbeit der modernen Gesellschaft zur Existenz, weil er sich mit ihr endgültig aus der Macht der Natur befreit und sie als Objekt seiner Herrschaft und Nutzung unterwirft.«585 Muss die emphatische Beschwörung der Freiheit bei Schiller mentalitätsgeschichtlich im Kontext der Französischen Revolution verstanden und verortet werden, scheint mit dem Korrelationsverhältnis von urbanem Lebensumfeld und Naturbegegnung aber eine ›überzeitliche‹ These formuliert, die auch einen Anknüpfungspunkt mit den Romanen Fontanes bietet – denn »Städter sind auch seine Figuren, und mit den Augen des Städters betrachten sie die Welt und die Natur.«586 Trotz der fundamental veränderten Situation im Kaiserreich ein Jahrhundert später, deren Ursachen und Folgen mit den Termini der industriellen Revolution und Urbanisierung hinreichend benannt sein dürften, zeigen sich hinsichtlich des entfremdeten Naturverhältnisses dennoch erstaunliche Parallelen zu Schillers Gedicht respektive Ritters Interpretation; selbst wenn Hauschild mit dem nachfolgenden Zitat eigentlich anderes zu konstatieren beabsichtigt: »Fontane [läßt] sichtbar werden, daß sich die Relation Mensch/Natur mit dem Beginn der Industrialisierung unwiderruflich gewandelt hat, daß Natur nicht mehr ein unmittelbares Erleben des Ursprünglichen gestattet, sondern zum Ausflugsort, zum Spazierweg, zum Erholungsrefugium geworden ist.«587 Als unbestritten kann gelten, dass der technische, wissenschaftliche und ökonomische Fortschritt sowie der rapide
583 Schiller bildet mit Petrarca und Alexander von Humboldt das Dreigestirn, von dem Ritter argumentativ drei zentrale Stationen in der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte bezieht und herleitet. 584 Ritter, Landschaft, S. 28. 585 Ebd., S. 29. – Die Naturentfremdung des Stadtbewohners und seine exzentrische Betrachtung der Umwelt konstituiert darüber hinaus die Fähigkeit, Natur ästhetisch als Landschaft vergegenwärtigen zu können. Vgl. dazu auch Kapitel 4.3.3.1 der vorliegenden Studie. 586 Weber, Die literarische Landschaft, S. 370. 587 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 123.
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Verstädterungsprozess im Rahmen der Industrialisierung Lebens- und Wahrnehmungsformen der Gesellschaft nachhaltig veränderte. In Rekurs auf Ritters Schillerlektüre erweist sich indes, dass der Wandel des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses am Ende des 19. Jahrhunderts zwar ›unwiderruflich‹ vollzogen worden sein mag, dieser Wandel jedoch nicht als punktuelles Umschlagsmoment, sondern vielmehr als vorläufiger Endpunkt einer längeren historischen Entwicklung vorzustellen ist. Schließlich »kann es [schon; M. B.] für Schiller keine Rückkehr in die ursprüngliche Einheit mit der Natur geben«588, ohne die in der Stadt gewonnene Freiheit einzubüßen, und auch dem lyrischen Stadtbewohner-Ich fungiert die Natur als ein »Erholungsrefugium«, das es auf seinem Spaziergang aufsucht. Diesseits der These einer Entwicklungslinie darf über die notwendig bestehenden Differenzen gleichwohl nicht hinweggegangen werden. Wie die vorangegangenen Ausführungen bereits breit entfaltet haben, erfährt die moderne, globalisierte Welt in ihren mannigfachen Facetten in Fontanes Romanen eine detaillierte Darstellung.589 Dazu zählen nicht zuletzt neben den ökonomischen, technischen und sozialen auch die fundamentalen raumpolitischen und -kognitiven Veränderungen. ›Stadt – Land‹, ›Natur – Kultur‹, diese topischen Dichotomien fungieren zwar weiterhin als Leitdifferenzen, der Referenzrahmen hat sich allerdings radikal verändert. So sind die Figuren in Fontanes Berliner Gesellschaftsromanen selbstredend als ›Städter‹ zu bezeichnen; indem sie aber Bewohner einer hochmodernen Metropole sind, wird die Relativität dieser Begrifflichkeit augenfällig. Der damit einhergehende Grad der Distanz, Entfremdung und Befreiung von der Natur beweist sich u. a. daran, dass die Natur längst in einen marktwirtschaftlichen Verwertungszusammenhang hineingenommen ist, indem etwa der moderne Tourismus Kapital aus dem marketingstrategisch generierten Versprechen schlägt, durch die Inanspruchnahme von bereitgestellten Institutionen und Dienstleistungen eine Wiederbegegnung mit der Natur, verlorener Werte und ursprünglicher Einheit zu ermöglichen. Insofern vermag sich rückwirkend die spezifische und volle Bedeutungsdimension erklären, wenn Hauschild für das industrielle Zeitalter feststellt, dass die Natur »zum Ausflugsort, zum Spazierweg, zum Erholungsrefugium« mutiert ist.
588 Ritter, Landschaft, S. 29. 589 Vgl. dazu auch Eda Sagarra, Fontane in der globalisierten Welt. In: Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, S. 15–26.
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4.4.2.1 Die Exotisierung der Landpartie Dass eine ›authentische‹ Naturbegegnung den Formaten Landpartie und Sommerfrische allenfalls als Idee konzeptionell zugrunde liegt und realiter nicht stattfindet respektive unter den gegebenen Bedingungen und Bedingtheiten nicht stattfinden kann, davon legen die Darstellungen der Gesellschaftspartien im Erzählwerk Fontanes Zeugnis ab. Ungeachtet der Tatsache, dass die Settings eine unübersehbar domestizierte und kulturalisierte Natur präsentieren und die literarischen Raumdarstellungen damit den »limitierten Charakter der durch die Landpartie ermöglichten Alteritätserfahrung«590 ausstellen, exemplifizieren die Romane, »inwiefern Tourismus Räume des Anderen, Fremden (Othering) produziert«591. Denn »innerhalb des touristischen Raums sind es die Touristen selbst, die durch ihre Wahrnehmung den Raum erst herstellen«592. Jenseits ihres großstädtischen Lebens- und Wahrnehmungsumfeldes sowie flankiert von dem Wunsch – den Landpartie und Sommerfrische zugleich initiieren als auch formstiftend inszenieren –, »die alten Geleise« (JT, S. 136) der vertraut-urbanen Geselligkeit zu verlassen, um etwas ›anderes‹ zu sehen und zu erleben, formieren sich die Ausflugsorte und ihre nähere Umgebung aus Sicht der Romanfiguren zu »Räumen des Anderen, Fremden«. Diese Perspektive folgt »eine[r] Art von Inlands-Ethnologie«593, die in bürgerlichen Kreisen in Mode kam und die »das Andere und Fremde in der eigenen Gesellschaft, also die Lebens- und Arbeitsweise […] vor allem der ländlichen Gruppen und bäuerlichen Kultur«594 kennenlernen wollte: »Die Exotik des Anderen oder des Fremden wurde von den Reisenden nicht mehr nur in der Ferne, sondern auch in der relativen Nähe der Sommerfrische [und Landpartie; M. B.] gesucht und erforscht.«595 Auch wenn zu zeigen sein wird, dass die Romanfiguren eher mit Arroganz und vorgefertigten Bildern denn mit ehrlichem Interesse und ›Forschergeist‹
590 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 82. 591 Karentzos und Kittner, Touristischer Raum, S. 290. 592 Ebd., S. 284. 593 Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, S. 42. 594 Wolfgang Kaschuba, Die Fußreise. Von der Arbeitswanderung zur bürgerlichen Bildungsbewegung. In: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer et al. (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 165–173, hier S. 171. – Siehe dazu auch Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, S. 200: »Wie die Leute, die man besucht, in Wirklichkeit leben, das wird als neuer Gegenstand touristischen Interesses eingesetzt.« Dieses »life-seeing« (ebd.) repräsentiert insofern kein genuin neues Tourismuskonzept, sondern geht auf historische Vorläufer zurück. 595 Hackl, Eingeborene im Paradies, S. 46.
4.4 Imaginierte Alterität
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auf die Begegnung mit dem vermeintlich ›Anderen‹ reagieren, so können die Gesellschaftspartien dennoch im Kontext dieser Praxis verortet werden. Gleichwohl es nicht konstitutiv »raumexpansive[r] Fortbewegungstechnologien« bedarf, da die Destinationen – insbesondere der Landpartien – hinter den Stadtgrenzen liegen und insofern meist bequem zu erreichen sind, können sich jene gesellschaftlich-geselligen Erholungsformate trotzdem »zu durchaus irritierenden Einfallstoren für die Erfahrung des Anderen« und zwar »des kulturell Anderen«596 erweisen. Dem profunden Einblick gemäß, den die Gesellschaftsromane Fontanes in das mentalitätsgeschichtliche Klima der wilhelminischen Zeit und Gesellschaft gewähren, findet auch diese Attitüde, sich unweit der eigenen Haustür wie Forschungsreisende zu gebärden, ihre Entsprechung in der literarischen Bearbeitung: »Manche Schilderung klingt in der Tat wie der Expeditionsbericht in ein unbekanntes Landesinnere«597, wenn beispielsweise Van der Straaten in L’Adultera im Kontext der Mahlzeitenbestellung auf der Landpartie räsoniert: Bliebe nur noch die Frage des Getränks. […] Ich hätte der Lösung derselben, mit Unterstützung Ehms und unsres Wagenkastens, vorgreifen können, aber ich verabscheue Landpartien mit mitgeschlepptem Weinkeller. Erstens kränkt man die Leute, bei denen man doch gewissermaßen immer noch zu Gaste geht, und zweitens bleibt man in dem Kreise des Althergebrachten, aus dem man ja gerade heraus will. Wozu macht man Partien? Wozu? frag’ ich. Nicht um es besser zu haben, sondern um es anders zu haben, um die Sitten und Gewohnheiten anderer Menschen und nebenher auch die Localspenden ihrer Dorf- und Gauschaften kennen zu lernen. (LA, S. 66)
In Abgrenzung zu der ebenfalls verbreiteten Praxis, am Ausflugsort bei einem Picknick lediglich mitgebrachte Speisen und Getränke zu verzehren, brüstet sich Van der Straaten hier, Vertreter und Liebhaber eines Konzepts zu sein, das sich als »ethnographisch-kulinarische[ ] Landpartie«598 umschreiben lässt. In seinen Augen sollten Erfahrungen abseits des »Althergebrachten« das eigentliche Movens einer Landpartie darstellen, wobei das ›Andere‹ implizit diskreditiert wird, wenn die Erwartungshaltung darin besteht, es zwar »anders«, jedoch nicht »besser zu haben«. Die Absurdität dieser ›inlands-ethnologischen‹ Haltung wird überdeutlich, wenn vergegenwärtigt wird, dass sich die Gesellschaft wenige Kilometer von Berlin entfernt im beliebten Ausflugsort Stralau und noch dazu in Löbbekes Kaffeehaus befindet. Van der Straatens
596 Bachmann-Medick, Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze, S. 263. 597 Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, S. 42. 598 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 82.
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Suggestion, die Gesellschaft werde in unbekannten Gefilden mit einer kulturellen Fremdheitserfahrung konfrontiert, legt mittels ihrer Rede von den »Sitten und Gewohnheiten anderer Menschen« und den »Localspenden ihrer Dorf- und Gauschaften« einen Sprachgestus frei, der bei aller ironischen »Exotisierung seines Gegenstandes«599 einen hegemonialen Unterton nicht verhehlt: »Und da wir hier nicht im Lande Canaan weilen, wo Kaleb die große Traube trug, so stimm’ ich für das landesübliche Product dieser Gegenden, für eine kühle Blonde.« (LA, S. 66) Wenn auch in den Romanen Fontanes die »Bierkunde und Bierfreude sozial universal« ist, so gilt Bier dennoch als »eine Art Volksgetränk«; dieses »ist [allerdings] zu Zeiten so brauchbar, daß die an Anspruchsvolleres Gewöhnten die Kondeszenz zum populären Erfrischungstrunk […] nicht scheuen.«600 Die Beobachtung eines überheblichen Gestus bestätigt sich auch an anderer Stelle, wenn Van der Straaten »ironischen Tons auf all diese Herrlichkeiten hin[weist]«, »sich über die Vorzüge anspruchslos gebliebener Nationalitäten« (LA, S. 64) auslässt und das Kaffeehaus »im Ciceroneton« als »Ship-Hôtel von Stralow« (LA, S. 54) bezeichnet. Dieser Hohn entbehrt dabei nicht eines aggressiven Potentials, das sich aus der sozialen, finanziellen und kulturellen Überlegenheit speist, die Van der Straaten als Berliner Kommerzienrat für sich zu beanspruchen glaubt. Seine anzüglichen Kommentare auf die Wirtin des Lokals profilieren darüber hinaus, dass auch seine sexuelle Identität wesentlichen Anteil an seiner superioren Selbstwahrnehmung und -inszenierung trägt: Nicht nur geben sie Aufschluss darüber, »dass innerhalb […] [touristischer] Räume deutliche Rollenaufteilungen zwischen Tourist und Dienstleistern bestehen«601, sondern indem es sich um eine Wirtin handelt, die auf ihre Körperlichkeit und ihr Geschlecht reduziert wird,602 ergänzen sie das 599 Kaschuba, Die Fußreise, S. 171. 600 Brinkmann, Der angehaltene Moment, S. 376. – Die »Bierfrage« (JT, S. 132) wird auch von anderen Partiegesellschaften gestellt und in der Mehrzahl gegen das Alternativgetränk Wein entschieden, das nicht authentisch dünkt: »Nicht Wein, nichts Fremdes. […] Bei solchen Gelegenheiten muß alles eine Lokalfarbe haben.« (C, S. 112) Angesichts der volkstümlichen Institution des Eierhäuschens entsteht im Stechlin im Moment der Bestellung eine »Verlegenheitspause; niemand wußte was zu sagen, bis die Baronin auf den Stamm einer ihr gegenüberstehenden Ulme wies, drauf ›Wiener Würstel‹ und daneben in noch dickeren Buchstaben das gefällige Wort ›Löwenbräu‹ stand.« (DS, S. 176) 601 Karentzos und Kittner, Touristischer Raum, S. 281. 602 Zunächst fast harmlos anmutende Analogien, wenn Van der Straaten sich bei der Bierbezeichnung »Kühle Blonde« fragt, ob »wohl unsere Blondine zwischen Tisch und Schapp in diese Kategorie fällt« (LA, S. 67), kulminieren schließlich in einem Vergleich der Wirtin – auch angesichts von »Leibes-Umfängen« (LA, S. 71) – mit
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hegemoniale Gebaren unverkennbar um eine chauvinistische Dimension, so dass das Gewaltpotential der patriarchal-heteronormativen Gesellschaftsordnung exponiert und ausgespielt wird. Wenn Van der Straatens betriebene »Sexualisierung des weiblichen Servierkörpers«603 darüber hinaus mit Assoziationen von kultureller Rückständigkeit und Primitivismus zusammenfällt, so wird damit eine Denkfigur der Aufklärung aufgegriffen, gemeint ist »[d]ie Nähe zwischen Wilden und Frauen im Diskurs der Aufklärung«604. Am Ende des 19. Jahrhunderts aktualisiert sich diese in einem ›Inlands-Kolonialismus‹, wenn es in L’Adultera heißt: »[S]tudiren wir lieber die Speisekarte. Die Speisekarte, die hier natürlich von Mund zu Mund vermittelt wird, eine Thatsache, bei der ich mich jeder blonden Erinnerung entschlage.« (LA, S. 65) 4.4.2.2 Die Landpartie als koloniale Begegnung Landpartie und Sommerfrische tragen Züge einer kolonialen Begegnung, wenn die großstädtischen Figuren die Ausflugsorte mit ihrem Auftreten aber auch mit ihren Projektionen hiesig bestehender kultureller Differenz respektive Inferiorität 605 ›in Besitz nehmen‹. Die Identifikation kolonialer Aspekte in den Gesellschaftspartien Fontanes kann zum einen auf jene Strukturanalogien zurückgeführt werden: Tourismus und Kolonialismus weisen (entfernt) vergleichbare Situationen in der Begegnung »von (intra- wie inter-) kultureller Alterität«606 als Folge einer monodirektionalen Bewegungsrichtung und einer ›räumlichen Vereinnahmung‹ auf. Entsprechend verbindet beide ein ähnlicher Sprachgebrauch. Ebenso wie die Rhetorik des Kolonialismus ist »die Rhetorik des Reisens und des Tourismus eng mit patriarchalen, imperialistischen und
erotisch-bildkünstlerischen Abbildungen: »Venus Spreavensis und Venus Kallipygos. Ein gewagtes Wort, ich räum’ es ein. Aber in Griechisch und Musik darf man alles sagen.« (LA, S. 72) 603 Beatrix Beneder, Männerort Gasthaus? Öffentlichkeit als sexualisierter Raum, Frankfurt am Main 1997 (= Politik der Geschlechterverhältnisse, Bd. 9), S. 142. 604 Sigrid Weigel, Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Hamburg 1990, S. 118. 605 Nach Uerlings »bildet ein ethnisierendes Inferioritätsaxiom« »[d]en Kern ›des‹ kolonialen Diskurses«, wobei ›der‹ koloniale Diskurs »eine zu heuristischen Zwecken gebildete Abstraktion« von nicht unproblematischem Gehalt darstellt (Herbert Uerlings, Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme. In: Axel Dunker (Hrsg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005, S. 17–44, hier S. 18). 606 Ebd., S. 22. Diese kulturelle Alterität liegt im Kontext von regionalem Tourismus allerdings nur als imaginative Konstruktion vor.
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militärischen Diskursen der Eroberung verbunden«607. Zum anderen zeugt diese Verknüpfung von der politischen und gesellschaftlichen »Virulenz eines kolonialen Diskurses«608 insbesondere am Ende des 19. Jahrhunderts: Zwar avancierte das Deutsche Reich ›erst‹ in den 1880er und 1890er Jahren zu einer Kolonialmacht und verlor seine Besitzungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gemäß des Versailler Vertrages, doch deutsche Ermächtigungsphantasien gingen über die verhältnismäßig engen zeitlichen und geographischen Grenzen des de facto bestehenden Kolonialreichs in Übersee hinaus.609 Im Hinblick auf den Niederschlag kolonialer Themen in der Literatur der Kaiserzeit stellt Buch im Vergleich zu anderen Nationalliteraturen fest: »Klassikern der Kolonialliteratur […] hat die deutschsprachige Literatur kaum Ebenbürtiges entgegenzusetzen«610. Dem ist einschränkend unter der Voraussetzung zuzustimmen, wenn man bedenkt, dass ehedem populäre Autorinnen und Autoren deutschsprachiger Kolonialliteratur wie etwa Frieda von Bülow heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind.611 Doch »das 607 Karentzos und Kittner, Touristischer Raum, S. 290. – Zum Zusammenhang von Sprache und Kolonialismus in Deutschland aus sprachgeschichtlicher und diskursanalytischer Perspektive siehe Ingo H. Warnke (Hrsg.), Deutsche Sprache und Kolonialismus. Aspekte der nationalen Kommunikation 1884–1919, Berlin/New York 2009. 608 Uerlings, Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur, S. 40. 609 Siehe zur Existenz expansiver Bestrebungen vor dem Kolonialreich in literarischen Texten und ihrem katalytischen Potential Susanne Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 158), S. 20: »Der Phantasie-Kolonialismus ging dem eigentlichen Imperialismus voraus; auf Worte folgten Taten. Am Ende holte die Wirklichkeit die Phantasie nur ein.« – Conrad hebt die europäische respektive globale Dimension des Kolonialismus hervor, die über die Grenzen der je nationalen Kolonialgebiete reichte: »Die kolonialen Visionen und politischen Aktivitäten der Zeit gingen über die Geographie des deutschen Kolonialreiches hinaus. Ohnehin war das koloniale Projekt ein europäisches (und amerikanisches, japanisches) Unterfangen, und es wäre verkürzt, die kolonialen Bezüge der einzelnen Gesellschaften fein säuberlich nach Kolonialreichen trennen zu wollen« (Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 87). 610 Hans Christoph Buch, Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks, Frankfurt am Main 1991, S. 13f. 611 Vgl. Ortrud Gutjahr, Koloniale Maskeraden. Frieda von Bülows Romane ›Ludwig von Rosen‹ und ›Tropenkoller‹. In: Dies. und Stefan Hermes (Hrsg.), Maskeraden des (Post-)Kolonialismus. Verschattete Repräsentationen ›der Anderen‹ in der deutschsprachigen Literatur und im Film, Würzburg 2011 (= Interkulturelle Moderne, Bd. 1), S. 39–75. Die exemplarische Nennung Frieda von Bülows erfolgt nicht von ungefähr, denn nach Gutjahr »begründete sie das literarische Genre, mit dem sie sich innerhalb kürzester Zeit einen Namen machen konnte: den deutschsprachigen Kolonialroman« (ebd., S. 40f.).
4.4 Imaginierte Alterität
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deutsche Kolonialreich [hat auch; M. B.] jenseits des eigentlichen, aber eher trivialen Kolonialromans […] Spuren in der deutschen Literatur des späten 19. Jahrhunderts hinterlassen«612: Im virulenten Kolonialismusdiskurs des Kaiserreiches folgte »[d]er Inbesitznahme fremder Territorien […] die Internalisierung des imperialen Blicks«613, was literarisch auch jenseits offenkundiger Bearbeitung kolonialer Themen, nämlich in Sujets und Settings des bürgerlichen Realismus auszumachen ist. »Es geht dabei um einen […] Zusammenhang zwischen Provinz und großer, weiter Welt, d. h. um einen literarhistorischen Prozeß, in dessen Verlauf die Heimat dem gleichen ›kolonialen‹ Blick ausgesetzt wird wie die Fremde.«614 Während Parr in allgemeinerer Perspektive Anzeichen, Referenzen und Beurteilungen sondiert, die der »Faszinationskomplex ›Kolonialismus‹«615 im Werk Fontanes hinterlassen hat, sucht die vorliegende Studie Aspekte der Heimat-Kolonisation an den Gesellschaftspartien seiner Romane herauszustellen. Die Internalisierung eines kolonialen und auf die Heimat gerichteten Blicks lässt sich nicht nur am Gebaren Van der Straatens in L’Adultera erkennen, auch der Kommerzienrat in Frau Jenny Treibel kann hier beispielhaft herangezogen werden. Indem Treibel die Landpartie nach Halensee in unverhohlener Ironie als eine exotische Entdeckungsreise inszeniert, zählt er ebenfalls zum Ensemble jener »Figuren, die zwar mit dem Reiz des Abenteuerlichen spielen, dabei aber merken lassen, dass sie sich in festen Gleisen bewegen.«616 Im Gestus eines Fremdenführers offeriert Treibel der versammelten Gesellschaft verschiedene Möglichkeiten der müßiggängerischen Beschäftigung, wobei er mit folgendem Vorschlag schließt: Oder endlich, […] sind Sie für Thurmbesteigung und treibt es Sie, diese Wunderwelt, in der keines Menschen Auge bisher einen frischen Grashalm entdecken konnte, treibt
612 Axel Dunker, ›Gehe aus dem Kasten.‹ Modell einer postkolonialen Lektüre kanonischer deutschsprachiger Texte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹. In: Ders. (Hrsg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005, S. 147–160, hier S. 147. 613 Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 84. Die These einer »Kolonisierung der Imagination« (ebd.) wurde von den Postcolonial Studies als grundlegender Effekt kolonialer Herrschaft formuliert. 614 Buch, Die Nähe und die Ferne, S. 14. 615 Rolf Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest. Das ›Wissen um die Kolonien‹ und das ›Wissen aus den Kolonien‹ bei Theodor Fontane. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 212–228, hier S. 212. 616 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 83.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume es Sie, sag’ ich, dieses von Spargelbeeten und Eisenbahndämmen durchsetzte Wüstenpanorama zu Ihren Füßen ausgebreitet zu sehen? (JT, S. 131)
Der Rekurs auf die vermeintliche Exotik der Umgebung wird hier über die Begriffe »Wunderwelt« und »Wüstenpanorama« vollzogen und zugleich ironisch dekonstruiert, wenn die »Wunderwelt« im gleichen Atemzug als trostlos und unbelebt charakterisiert wird und die agrarische sowie verkehrstechnische Erschließung durch die Erwähnung von »Spargelbeeten und Eisenbahndämmen« einer genuin durch Leere und Einsamkeit gekennzeichneten Wüstenassoziation diametral entgegen steht. Das narrative Verfahren, mit dem der Kolonialismusdiskurs Eingang in die Landpartie-Episoden findet, erweist sich demgemäß als komplex. Indem die Landpartie ausschließlich in der Figurenperspektive als eine Expedition entworfen und exotistischer Wahrnehmung und Beurteilung unterzogen wird, die Erzählinstanz daran hingegen nicht beteiligt ist, wird in den Romanen dieser virulente »Diskurs[ ] der Zeit zitierend ›ausgestellt.‹«617 Und dies sogar in doppelter Hinsicht, denn die Figuren selbst lassen erkennen, dass sie sowohl in ihrer Rhetorik als auch in ihrem Verhalten diskursive Formeln und Topoi kolonialer Überlegenheits- und Eroberungsphantasien zitieren und kopieren: »Fontanes Figuren spielen mit dem Reiz des Eintauchens in eine Gegenkultur, scheinen sich dabei aber bewusst zu sein, dass sie lediglich vorgegebene Rollen realisieren. Die Texte zeigen also die Inszenierung einer Fremdheitserfahrung und stellen deren illusionären Charakter aus.«618 Bei aller Ironie, mit der dieses Spiel betrieben wird, korreliert die gewählte Rolle in bezeichnender Weise mit der individuellen und sozialen Charakterzeichnung sowie der Geschlechterrolle der Figuren. Denn es gerieren sich ausschließlich männliche Figuren und insbesondere jene als Entdecker und Eroberer, die aufgrund ihres ökonomischen und gesellschaftlichen Status in einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung ein hohes Identifikationspotential mit der ›Maskerade‹ aufweisen – Kommerzienräte und Offiziere. Selbst die ironisch gebrochene Selbstinszenierung vermag dabei nicht die Authentizität zu verhehlen, mit der Gestus und Attitüde des Mächtigen und Überlegenen repräsentiert werden. Dass die ›Zitation‹ kolonialen Gebarens primär die Funktionen der Selbstdarstellung und sozialen Distinktion erfüllt, daran lässt der Verlauf der
617 Norbert Mecklenburg, Einsichten und Blindheiten. Fragmente einer nichtkanonischen Fontane-Lektüre. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, München 1989 (= Text+Kritik, Sonderband), S. 148–162, hier S. 153. 618 Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 84.
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Gesellschaftspartien keinen Zweifel. Zwar wird Gefallen daran gefunden, der Unternehmung halb im Scherz, halb im Ernst den Charakter einer Entdeckungsreise zu verleihen, eine aktive Erkundung der Umgebung findet in den meisten Fällen hingegen nicht statt, jedenfalls nie jenseits eigens dafür angelegter Routen. So erntet auch Kommerzienrat Treibel auf sein vorgeschlagenes Landpartie-Programm die lakonisch-abschlägige Antwort: »[I]ch denke, lieber Treibel, wir bleiben, wo wir sind. Ich bin nicht für Steigen, und dann mein’ ich auch immer, man muß mit dem zufrieden sein, was man gerade hat.« (JT, S. 131) Die übergewichtige und asthmatische Industriellengattin Felgentreu, von Corinna in Folge spitz als »merkwürdig bescheidene Frau« (JT, S. 131) charakterisiert, personifiziert die verbreitete passive Haltung eines Gesellschaftskreises, dem an einer Betrachtung der Natur im Rahmen der Landpartie im Grunde wenig liegt. Allenfalls äußere Bedingungen, die die Figuren in die »angenehme[ ] Lage [versetzen; M. B.], Naturschönheit ohne jede Müh’ und Anstrengungen genießen zu können« und die eine »Oekonomie der Kräfte« (C, S. 58) garantieren, vermögen zu einer Landschaftsbegegnung zu bewegen.619 Auch im Harzer Mittelgebirge ist die Betrachtung der Natur kein genuines, selbstbestimmtes Erleben mehr, sondern folgt einer festgelegten, vordefinierten Dramaturgie und Inszenierung, die überdies jede körperliche Anstrengung zu verhindern versucht: Mehr Natur ist [zwar insgesamt; M. B.] im Spiel, mehr Landschaft, Landschaft aber mit bekannten Einzelheiten und Namen, mit renommierten Blicken und Panoramen und Sehenswürdigkeiten, erschlossene Landschaft mit feststehendem Wegenetz, mit Vorrichtungen zur Betrachtung, Aussichtspunkten, Terrassen, aufgestellten ›Teleskopen‹ […], Raststätten, Wirtschaften, mit Hilfe der Bequemlichkeit, Kutschen, Pferden, Eseln, ›Tragstühlen‹[.]620
619 Gordon benennt treffend die Maximen einer Haltung, die möglichst bequem Landschaftsansichten zu konsumieren trachtet, obwohl er als Ingenieur die weite Welt bereist hat und dabei »Strapazen« (C, S. 58) ausgesetzt war, die dem Programm einer Landpartie oder Sommerfrische spotten. Die Beschreibung seines Harzer Aufenthaltsortes im Brief an die Schwester ist dabei durchsetzt von der Erwähnung ferner Orte und Länder, die Thale in das Koordinatensystem einer globalisierten und vernetzten Welt einschreiben: »Kleine Schritte korrespondieren mit größten Distanzen, idyllische Schauplätze mit exotischer Weite« – hergestellt wird eine »Korrespondenz von Nähe und größter Ferne« (Joseph Vogl, Telephon nach Java: Fontane. In: Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, S. 117–128, hier S. 118). Siehe dazu auch Parr, Die nahen und die fernen Räume, S. 70f.: »[F]ür Fontane wie auch Raabe [ist] die Abbildung von Ferne auf Nähe und umgekehrt charakteristisch, also der Anschluss der Provinz an die ›Welträume‹ und der ›Welträume‹ an die Provinz.« 620 Brinkmann, Der angehaltene Moment, S. 270.
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
Und auch wenn wenig intrinsisches Interesse dazu besteht, scheint es zum guten Ton und ritualisiertem Programm einer Gesellschaftspartie zu gehören, immerhin ein Mindestmaß an zeitlichem und körperlichem Einsatz für die ›Naturbegegnung‹ aufzubringen: »Nun, meine Damen, ist es Zeit; ich denke, wir haben jetzt gerade genug Natur gehabt und können mit Fug und Recht zu was Andrem übergehen.« (IW, S. 98) So lässt sich folgern: »Nirgends bei Fontane ist der Drang zu spüren, sich einer vom Menschen unberührten oder ihm doch gegenüberstehenden Natur zu nähern. […] Natur ist eine der Landpartien, die gibt es in Portionen vor dem Rehbraten.«621 Passivität und Desinteresse können auch dort als maßgeblich gelten, wo äußerlich überambitionierter Entdeckergeist zur Schau gestellt wird. Dies findet sich in Gestalt zweier Berliner Harzbesucher karikiert, die in Cécile »als tourismusatmosphärisch markante Hintergrunds- und Kontrastfiguren«622 fungieren. Die beiden »stattliche[n] Herren von etwa dreißig, über deren specielle Heimat, sowohl ihrem Auftreten, wie besonders ihrer Sprechweise nach kein Zweifel sein konnte« (C, S. 15), führen jeweils ein Accessoire mit sich, das sich für die lokalen Gegebenheiten als gänzlich ungeeignet erweist. Die Ausrüstungsgegenstände, von denen der eine, mit Rücksicht auf eine Harzreise, des Guten zu wenig, der andere aber entschieden zu viel that[, waren d]iese zwei nicht passenden Dinge […]: ein eleganter Promenadenstock mit Elfenbeingriff und andrerseits ein hypersolides Schuhzeug, das sich mit seinen Schnürösen und dicken Sohlen ausnahm, als ob es sich um eine Besteigung des Matterhorn, nicht aber der Roßtrappe gehandelt hätte. (C, S. 15f.)
Das »Auftreten in städtisch-extravaganter [so] wie zugleich übertrieben bergsteigerischer Reisekleidung«623 konstituiert ein »komische[s] Mißverhältnis von Kleiderwahl und Wirkung, von Sein und Scheinen, von Stand und Aufwand, von Anlaß, Situation und Aufmachung«624. Die Unverhältnismäßigkeit der Reisegarderobe exemplifiziert, dass das Movens der Harztouristen keineswegs darin besteht, in den Grenzen und Möglichkeiten des Urlaubsortes ›authentische‹ Reiseerfahrungen zu sammeln. In »der besonderen Wanderausrüstung« exemplifiziert sich in beiderlei Hinsicht – des ›zu viel‹ und des ›zu wenig‹ – vielmehr, dass hier eine »exklusive bürgerliche Kulturübung«625
621 Weber, Die literarische Landschaft, S. 379. 622 Rohse, Harztouristen als literarische Figuren, S. 197. 623 Ebd. 624 Brinkmann, Der angehaltene Moment, S. 271f. 625 Kaschuba, Die Fußreise, S. 173.
4.4 Imaginierte Alterität
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gepflegt wird, die in erster Linie der Repräsentation und Selbstinszenierung verpflichtet ist.626 Der Gebirgslandschaft begegnen die beiden Berliner Touristen denn auch mit betonter Ignoranz; ihren ersten Blick von der Hotelterrasse verdanken sie dabei dem Warten auf ihr Frühstück, einer »Pause, die das Berliner Paar, weil ihm nichts anderes übrig blieb, mit Naturbetrachtungen ausfüllte.« (C, S. 17) Lautstark wird die Felsformation der Roßtrappe mit dem gleichnamigen Hotel verwechselt und, von einem Kellner höflich auf diesen Irrtum aufmerksam gemacht, trotzdem darauf beharrt: »Na, das ist die Roßtrappe. Das Hôtel entscheidet.« (C, S. 17) Unempfänglich für die ästhetischen Besonderheiten einer Bergszenerie ist der Fokus vornehmlich auf kulturelle Manifestationen gerichtet, was mitunter zu gewagten Vergleichen mit Berliner Institutionen motiviert: »Merkwürdig ähnlich. Ein bißchen wie Tivoli, wenn die Kuhnheim’sche Fabrik in Gang ist. […] Ach, Berlin!« (C, S. 17)627 Der Blick auf das Neue und Unbekannte ist mithin prädisponiert und verstellt, er sucht darin stets das Bekannte und Vertraute – insbesondere wenn es sich um das als überlegen erachtete Berlin handelt.628
626 Auch Käthe von Sellenthin in Irrungen, Wirrungen nimmt ihre bevorstehende Kur in Schlangenbad zum Anlass, sich mit einer exklusiven Reisegarderobe auszustatten, die nicht unbedingt ihrem Reiseziel entspricht. Die intertextuelle Parallele zur Ausrüstung der Berliner in Cécile ist offenkundig, denn zu Käthes Einkäufen zählt ebenfalls ein »Paar wundervoller dicksohliger Schnürstiefel, als ob es sich um irgend eine Gletscherpartie gehandelt hätte.« (IW, S. 133) – Vgl. zu diesem Habitus auch Marie von Ebner-Eschenbachs Roman Unsühnbar, in dem modische Kleidung respektive Verkleidung als Touristen ebenfalls zur Selbstinszenierung der Figuren dient, wie Chambers prägnant konstatiert: »Was die jungen Aristokraten aus dem Ausland beziehen, ob es sich um Sport oder Mode handelt, dient ihnen ausschließlich zum Zeitvertreib und zur Performanz ihrer gesellschaftlichen Rolle, welche vor allem aus Gesehen- und Bewundertwerden auf Grund von unproduktiven Fertigkeiten und oberflächlichen Eigenschaften besteht« (Chambers, Mobilität und Ehebruch, S. 262). 627 An Tivoli und Berliner Trinkkultur fühlt sich inmitten der Harzer Gebirgstopographie auch die Malerin Rosa erinnert, was für sie allerdings den Grund darstellt, der Tourismusindustrie und den Berliner Besuchern aus dem Weg zu gehen und Privatunterkunft in einem idyllischen Gartenhäuschen zu nehmen: »Ach, es war mir zu viel Staub in Thale, zu viel Staub und zu viel Sonntagsgäste. Hexentanzplatz und Roßtrappe sind nur wie Tempelhof und Tivoli, Bier und wieder Bier.« (C, S. 100) 628 »Hier […] zeigt sich der Einfluss subjektiven Vorwissens auf die Wahrnehmung, die dadurch eingeschränkt und irregeleitet wird. Wie fehlgeleitet allein vom äußeren Anschein her angestellte Vermutungen sind, betont der Text durch die Häufigkeit, mit der die Berliner sich in ihren Annahmen irren« (Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung, S. 227).
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4 Umgang und Umgebung: Orte und Räume
Die Parodie dieses Habitus wird nicht von ungefähr an zwei Berliner Touristen vollzogen: »Die beiden Berliner gehören schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum festen Bestand einer humoristischen Reiseliteratur. Auf sie hat Fontane hier offenbar zurückgegriffen«629. Die Transformation zu einem komischen, literarischen Motivkomplex verdanken Berliner Touristen neben ihrem Dialekt dem – sich nicht zuletzt aus ihrem ausgeprägten Lokalpatriotismus speisenden – Bedürfnis nach Performanz und Selbstdarstellung. Auch Fontane greift sie wiederholt in seinen Werken auf und widmet ihnen ironische Hommagen, wie zum Beispiel in Die Poggenpuhls: »Ja, diese Berliner, man mag man sie nun lieben oder hassen, amüsant sind sie, und ihnen so zuzusehen, ist immer wie ein Schauspiel. […] [D]enn sie kucken sich immer um, ob sie auch wohl ein Publikum haben, vor dem sich’s verlohnt, den Vorhang aufzuziehen.«630 Dass Berliner diese Gepflogenheit primär jenseits ihrer Heimatstadt pflegen, wird in Cécile deutlich, wenn Gordon den beiden Harztouristen wenig später in Berlin und in ihrem Wesen sowie Auftreten sehr verändert wieder begegnet: »Das ist immer so. Richtige Berliner giebt es eigentlich nur noch draußen und auf Reisen. Zu Hause sind sie ganz vernünftig.« (C, S. 140) Während die im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung stetig steigende Einwohnerzahl de facto zu einer Omnipräsenz Berliner Touristen in nahegelegenen respektive verkehrstechnisch erschlossenen Naherholungsgebieten und Urlaubsorten führte,631 untermauerte der Status Berlins als politisches, wirtschaftliches, wissenschaftliches und symbolisches Zentrum des Kaiserreichs Mentalität und Habitus einer vermeintlichen Superiorität, die der Berliner sui generis für sich beanspruchte. Insofern es sich bei den Partiegesellschaften um Berliner Bürger und Adelige handelt, die in müßiggängerischer Absicht ihr Wohn- und Wahrnehmungsumfeld verlassen und sich auf ›fremdem‹ Terrain bewegen, laufen die zuvor diskutierten Mentalitäten, Praktiken und Diskurse in Landpartien und Sommerfrischen zusammen und bilden einen Knotenpunkt: Berliner treffen dort auf Nicht-Berliner, Städter auf Landbevölkerung, Touristen auf Dienst629 Brüggemann, Das andere Fenster, S. 230. 630 GBA I/16, S. 97. 631 Eine eindrückliche Schilderung über die touristischen Gepflogenheiten des Berliners gibt der Wirt von Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen, in dem kopfschüttelndes Erstaunen und Amüsement gleichermaßen zum Tragen kommen. Wenn »der Ostwind pustet und die Märzensonne sticht, setzt sich der Berliner schon ins Freie, legt seinen Sommer-Ueberzieher über den Stuhl und bestellt eine Weiße. Denn so wie nur die Sonne scheint, spricht der Berliner von schönem Wetter. Ob in jedem Windzug eine Lungenentzündung oder Diphtheritis sitzt, ist ihm egal.« (IW, S. 81)
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leistende, ›Entdecker und Eroberer‹ auf ›Einheimische‹ – diese Begegnungen sind auf Seiten der ›Besucher‹ letztlich getragen von einem Gestus der Überlegenheit, sei es der sozialen, ökonomischen, machtpolitischen oder kulturellen, was seinen Ausdruck und Reflex in der Projektion einer inferioren, zumindest kolonialisierbaren Alterität findet.
5 Eine Partie machen: Landpartie und Liebesgeschichten 5.1 Gelegenheit macht Liebe Weithin dem Erzähl- und Strukturprinzip des Gesellschaftsromans verpflichtet, den Plot aus den Gepflogenheiten des gesellschaftlich-geselligen Lebens zu komponieren, vermag es Fontane, speziell dem Topos der Landpartie ein handlungsdynamisierendes Potential abzugewinnen. Denn die Partien ermöglichen es, »die Vordergrundfiguren in gleichsam lässig-natürlicher Weise und mit einem Schlage zu versammeln.«1 Stellt die Zusammenführung eines Figurenkreises gegenüber anderen Geselligkeiten zunächst kein genuines Spezifikum der Landpartie dar, profiliert sich dieses jedoch im Moment kollektiver Bewegung und, damit eng verknüpft, auf dem Boden eines anderen, nämlich topographisch-natürlichen Schauplatzes. Zwar sind die im Rahmen der Landpartien »angesteuerten Ausflugsorte […] nichts weniger als Orte ursprünglicher Natur, sondern tragen als Erholungs- und Unterhaltungsstätten den Bedürfnissen der Städter Rechnung«2, und dennoch offeriert selbst die Kulturalität der Landpartie-Natur hinreichende Bedingungen und Gelegenheiten zu gemeinsamen, mobilisierenden Aktivitäten. Stets den Anschein spielerischen Zufalls inszenierend, formieren sich bei der An- und Abfahrt, bei den vor Ort unternommenen Spaziergängen und Bootsfahrten bestimmte Figuren- und insbesondere Paarkonstellationen, die die Beteiligten in vertrauliche Gespräche und körperliche Nähe versetzen. Mit der Folge, dass auf den Landpartien »ein essentielles Moment der Romanhandlungen mobilisiert wird: die Liebe.«3 Ein ähnliches choreographisches Arrangement wäre in der vergleichsweisen Statik anderer Geselligkeitsformen (zu denken ist etwa an die reglementierten Sitzordnungen bei Tischgesellschaften) nicht oder nur schwer zu erreichen. Bei Landpartien hingegen »führt die ständig neue Mischung der Ausflugsteilnehmer zu einer Vielzahl wichtiger, unbelauschter Dialoge, die in einer Abendgesellschaft oder
1 2 3
Demetz, Formen des Realismus, S. 122. Grätz, Landpartie und Sommerfrische, S. 82. Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 123.
https://doi.org/10.1515/9783110572698-005
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5 Eine Partie machen: Landpartie und Liebesgeschichten
Ähnlichem sinnvoll zu arrangieren, den Autor vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt hätte.«4 Die Aspekte der choreographierten Bewegung, der Annäherung und – in doppeltem Wortsinne – Paarbildung lassen Reminiszenzen an Bälle und dort praktizierte Gesellschaftstänze gewahr werden, die in Fontanes Romanwerk ebenfalls literarisch in Erscheinung treten. Doch im Gegensatz zur Landpartie handelt es sich bei Bällen und Tänzen um stärker »reglementierte[ ] Gelegenheiten normierten Geschlechterwerbens« und »zu körperlicher Berührung«5. Waren Bälle ritualisierte Anlässe sozialer Repräsentation und Terrain spezifischer Verhaltenskodizes, die »als unerläßlich im Bereich des Besitz- und Bildungsbürgertums«6 und im Adel galten, resultiert aus dem Transfer der Geselligkeit in ein naturhaftes Setting, wie es für die Landpartie-Episoden konstitutiv ist, dass sich soziale Normen und Konventionen flexibilisieren. So bestätigt auch die zeitgenössische Ratgeber-Literatur zu gesellschaftlichsittlicher ›Lebenskunst‹, dass »der Verkehr im Freien und auf Ausflügen im allgemeinen zwangloser ist als bei häuslicher Geselligkeit« und mahnt deshalb eigens an, »auch hier gute Sitte und seine Lebensform nicht außer acht«7 zu lassen. Mögen Tanzveranstaltungen informelleren Gepräges auch eine Lockerung der Umgangsformen ermöglicht haben, folgen die einzelnen Gesellschaftstänze einem festen, aus der Kombination musikalischer und choreographischer Schemata sich ergebenden Reglement. Dieses Reglement verunmöglicht im Vergleich zur Landpartie ein erzähl-choreographisches Potential, das über die Zusammenführung gewisser Tanzpaare hinausreicht. Auch die Gelegenheit zu (längeren) vertraulichen Gesprächen ist durch potentielle Mithörer, die musikalische Begleitung und die immer wieder zu vollziehenden Drehungen und Partnerwechsel eingeschränkter. Wenngleich zahlreiche Romane Fontanes Bälle und Tänze motivisch als einen festen Bestandteil der Fest- und Geselligkeitskultur vorführen, bleibt ihr handlungsdynamisierendes Potential im Vergleich zu den LandpartieEpisoden gering. Fontanes Präferenz der Landpartie als entscheidendes Handlungsmoment kündigt schon seine erste dahingehende Bearbeitung in seinem Roman Vor dem Sturm an, der ›Soirée und Ball‹ zwar ein eigenes Kapitel 4 5 6 7
Kloepfer, Fontanes Berlin, S. 82. Walter Salmen, ›Am Sylvester war Ressourcenball …‹. Tänze und Bälle bei Theodor Fontane. In: Fontane Blätter 88 (2009), S. 104–126, hier S. 111. Ebd., S. 109. Lebenskunst. Die Sitten der guten Gesellschaft auf sittlich ästhetischer Grundlage. Ein Ratgeber in allen Lebenslagen. Auf Anregung hervorragender Persönlichkeiten herausgegeben von B. von York [Leipzig 1893]. Vollständiger, durchgesehener Neusatz bearbeitet und eingerichtet von Michael Holzinger, Berlin 2013, S. 222.
5.1 Gelegenheit macht Liebe
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widmet, in dem der Tanz und damit verknüpfte amouröse Verhältnisse allerdings primär im Modus des Visuellen präsentiert werden. »Dabei greift Fontane auf einen Topos der Romantradition […] zurück: den Ballabend nämlich und die Beobachtung des Tanzes der geliebten Frau durch den eifersüchtigen Mann«8. Der ironisch-resignative Ausspruch des Rittmeisters von Jürgaß – »[n]eben dem Tanzen ist das Tanzensehen das schlimmste, schon um der Verführung willen, die notorisch in allem conspectus liegt«9 –, der dem »Tanzensehen« folgerichtig fernbleibt, kann als feinsinniger Kommentar auf den Protagonisten Lewin von Vitzewitz gelesen werden. Denn Lewin kann, anstatt selbst mit ihr zu tanzen, nur die von ihm favorisierte Kathinka bei der Mazurka mit dem um ihre Gunst rivalisierenden Graf Bninski beobachten. Doch »während er hingerissen war von der Schönheit der Erscheinung« und sich demgemäß die Verführungskraft des Tanzes bestätigt, »beschlich ihn doch zugleich das schmerzlichste […] Gefühl des Zurückstehenmüssens und des Besiegtseins, nicht durch Laune oder Zufall, sondern durch die wirkliche Ueberlegenheit seines Nebenbuhlers.«10 Der Ball versetzt Lewin und Kathinka somit nicht in eine vertrauliche Nähe, sondern deutet vielmehr den Handlungsverlauf, ihre spätere Verbindung mit Bninski voraus. Beendet kurz darauf die eingetroffene Kriegsnachricht von Yorks Kapitulation die Tanzgesellschaft, was in nuce demonstriert, wie der historische Roman Vor dem Sturm bereits mit dem Genre des Gesellschaftsromans korreliert,11 gewährt erst die einige Kapitel später nach Lehnin unternommene Schlittenpartie Lewin ein ungestörtes Zusammensein mit Kathinka. Einen Streckenabschnitt der Rückfahrt fahren beide – auf Kathinkas Initiative hin – allein in einem Schlitten. Nachdem ihr Lewin wortreich seine Liebe versichert hat, fordert Kathinka selbstbestimmt die Übergabe der Zügel und lenkt in der Folge ihr Fortkommen; die unverkennbare Symbolik dieses Aktes wird durch Lewin noch unterstrichen, wenn er beteuert: »Du hast sie [die Zügel], heut’ und immer.«12 Doch Lewins Scheu lässt ihn die von Kathinka auf der Partie gebotene, ja, provozierte Situation, ihr Leidenschaftlichkeit und männlichen Tatendrang zu beweisen und sie somit vielleicht doch noch für sich zu gewinnen, ungenutzt verstreichen; »es war ein einziger Kuß nur, den er zitternd auf ihren Nacken drückte.«13 Sie reagiert 8 9 10 11 12 13
Neumann, ›Vor dem Sturm‹, S. 217f. GBA I/2, S. 79. Ebd. Vgl. dazu auch Kapitel 2.2 der vorliegenden Studie. GBA I/2, S. 208. Ebd.
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mit Spott auf seine Zurückhaltung und Passivität, nennt ihn »ein Kind«14 und entscheidet sich im nächsten Kapitel endgültig für eine Verbindung mit dem forschen Bninski.15 In der Landpartie-Episode in Vor dem Sturm finden sich schon jene Strukturmerkmale modelliert, die auch Fontanes spätere Bearbeitungen in seinen Gesellschaftsromanen prägen. Im Rahmen einer zumeist in größerer Gesellschaft unternommenen Landpartie wird ein Figurenpaar in die Situation eines ungestörten Tête-à-Tête versetzt, das ihm die Gelegenheit zu kommunikativer sowie körperlicher Annäherung ermöglicht. Der Grad der dabei hergestellten Vertraulichkeit hängt gleichermaßen von der Dauer und Garantie der Ungestörtheit, vom Ergreifen der Initiative als auch der gegenseitigen Übereinkunft der Figuren ab. Wie schon die Episode um Lewin und Kathinka demonstriert, resultiert aus der Landpartie keineswegs zwangsläufig die Beständigkeit oder die Glücksverheißung der Paarkonstellation. Ist es in Vor dem Sturm Kathinkas Neigung für Bninksi, die gegen die allseits gewünschte und befürwortete Verbindung mit Lewin entscheidet, machen sich in den späteren Gesellschaftsromanen dahingegen soziale und moralische Ansprüche geltend, die in der Mehrzahl ein Scheitern der auf der Partie geknüpften amourösen Verbindung bedingen. Angesichts des erzählerischen Prinzips der Gesellschaftsromane Fontanes, den zentralen Konflikt zwischen Individuum und Sozietät immer auch mit zwischenmenschlichen Verhältnissen der Zuneigung, des Begehrens respektive der Konvenienz zu korrelieren,16 vermag sich vor diesem Hintergrund die thematische wie funktional essentielle Bedeutung der Landpartie-Episoden für die Romankonzeption erweisen. Schließlich bleibt die Dynamisierung nicht auf jene Ausflüge beschränkt, vielmehr wird sie dort initiiert und zeitigt ihre mitunter tragischen Folgen im Verlauf des weiteren Handlungsgeschehens. Fontane setzt den Topos der Landpartie also »geradezu erzählstrategisch ein: immer dann, wenn sich eine Liebesbeziehung anbahnt, schickt er seine Protagonisten auf eine Landpartie; wenn überhaupt, dann können sie sich hier den Konventionen der Gesellschaft eine Zeitlang entziehen«17 – womit 14 Ebd., S. 209. 15 Derart wiederholt sich an Kathinka das Schicksal ihrer Mutter, die, im Rahmen einer Jagdgesellschaft, ebenfalls mit einem polnischen Grafen entfloh: »Wir erben alles: erst das Blut und dann die Schuld. Ich war immer meiner Mutter Kind. Nun bin ich es ganz.« (GBA I/2, S. 216) 16 »Liebe, Ehe, Verführung und Huldigung, aber auch Ehebruch und Mesalliance bilden den Gegenstand oder werden zu Handlungsauslösern in fast allen Fontaneschen Romanen« (Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 104). 17 Janz, Literarische Landschaftsbilder bei Fontane, S. 95.
5.2 »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch«
253
die augenfällige Interdependenz von Geselligkeits- und Liebeshandlung im Rahmen der Landpartie ebenso wie die Fragilität der angebahnten Verhältnisse auf den Punkt gebracht sind.
5.2 »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch« Das Landpartien inhärente Potential, nicht allein im Medium der Literatur und insbesondere bei Fontane, in Beziehungsangelegenheiten entscheidende Lebensweichen zu stellen, vermag ein kurzer Auszug aus einer zeitgenössischen Ratgeber-Persiflage Der moderne Knigge zu verdeutlichen. Hier warnt der Verfasser seine ledigen Geschlechtsgenossen süffisant vor den Gefahren, die der Teilnahme an einer Landpartie in dieser Hinsicht innewohnen. Zu diesem Zweck rekurriert er auf die etymologische Polyvalenz, die der Phrase ›eine Partie machen‹ eingeschrieben ist: Ist man Junggeselle, so sei man vorsichtig. ›Eine Partie machen‹ ist bekanntlich ein Doppelsinn. Fürchtet man, verlobt zu werden, und fühlt man sich nicht stark genug, die Intriguen eines edlen liebenden Mutterherzens zerreißen oder durchkreuzen zu können, so lehne man die Einladung ab […]. […] Man kenne also die einladende Familie genau und wisse, ob sie töchterrein ist. Hat sie ausschließlich verheiratete oder verlobte Töchter, so nehme man freudig an.18
Doch so gefahrlos wie hier von Stettenheim suggeriert, lassen sich die Fährnisse einer Landpartie-Teilnahme nicht umgehen, wenn man Fontanes Gesellschaftsromanen Glauben schenkt. Erstens bleibt dort die Warnung gänzlich ungehört, in Gesellschaft von unverheirateten Töchtern eine Landpartie zu unternehmen, denn in Schach von Wuthenow, Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin wird dieser Umstand wissentlich respektive sogar willentlich in Kauf genommen. Zweitens sind lediglich in Schach von Wuthenow und Frau Jenny Treibel überhaupt Mütter mit von der Partie, die an der Knüpfung einer aussichtsreichen Verbindung für ihre Tochter respektive ihren Sohn interessiert sein könnten. Aus motivational verschiedenen Gründen sind jedoch beide fern davon, dafür die Landpartie unter Berücksichtigung der teilnehmenden Gesellschaft als geeignete Gelegenheit in Betracht zu ziehen. Drittens entbehren die vorgenommenen Kategorisierungen in ›Töchter‹ sowie in ›unverheiratet‹, ›verlobt‹ respektive ›verheiratet‹ und die damit assoziierte Einstufung auf einer ›Gefahrenskala‹ für die männlichen 18 Der moderne Knigge. Leitfaden durch das Jahr und durch die Gesellschaft von Julius Stettenheim. Bd. 2, Leitfaden durch den Sommer, Berlin 1899, S. 26.
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5 Eine Partie machen: Landpartie und Liebesgeschichten
Teilnehmer nicht einer gewissen Naivität. So sind es in L’Adultera und Cécile verheiratete Frauen, deren unglückliche Ehen sie im Kontext einer Gesellschaftspartie empfänglich für die Avancen eines Dritten machen. Ist die topische Konstellation einer Dreiecksgeschichte im Falle von L’Adultera und Cécile auf den ersten Blick ersichtlich (Van der Straaten/ Melanie/ Rubehn respektive St. Arnaud/ Cécile/ Gordon), führt eine vergleichende Perspektive für die anderen Romane indes zu derselben Beobachtung: In Schach von Wuthenow steht der Protagonist zwischen Mutter und Tochter (Victoire/ Schach/ Frau von Carayon), im Stechlin hingegen zwischen zwei Schwestern (Armgard/ Woldemar/ Melusine), in Irrungen, Wirrungen repräsentieren Lene und Käthe von Sellenthin für Botho die Wahl zwischen Gefühl und Pflicht und in Frau Jenny Treibel entscheidet sich Corinna schließlich gegen eine pragmatisch motivierte Verbindung mit Leopold und für ihren Cousin Marcell. All jene Dreiecksgeschichten sind dabei aufs engste mit den Gesellschaftspartien verknüpft und beziehen aus den hiesigen Vorkommnissen einen katalytischen Effekt. Das Kinderspiel »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch« (LA, S. 62), das die Landpartie-Gesellschaft in L’Adultera auf ihrer Partie nach Stralau spielt und dessen Name »[a]ls Redensart geläufig geworden [ist] für wechselnde Partnerschaften«19, kann insofern als geeignetes Motto für die veränderlichen Figurenkonstellationen gereichen, die sich auf und in Folge der Landpartien ergeben. 5.2.1 Inszenierter Zufall: »eine Vertheilung, die sich wie von selber machte« Für die scheinbar spielerische und folgenreiche Zusammenführung spezifischer Figuren bieten die Partien in den Gesellschaftsromanen Fontanes gleich in mehrerlei Hinsicht ein geeignetes Setting. Zunächst erweisen sich Größe und Zusammensetzung des Teilnehmerkreises als entscheidend, bestimmt doch ein Auswahlprocedere darüber, wer aus einem breiteren Figurentableau überhaupt mit von der Partie ist. Dieses Auswahlprocedere wird auf der Ebene der histoire an die Figuren delegiert, so dass die damit verfolgte Erzählstrategie auf der discours-Ebene verborgen bleibt.20 Hinzu kommt, dass gesellschaftliche Sitten und Konventionen im Kontext der Landpartie zwar nicht 19 Dirk Mende, Anmerkung. In: Theodor Fontane, L’Adultera. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Fontane, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Dirk Mende, München 1997, S. 296f. 20 Vgl. dazu auch Kapitel 3.1 der vorliegenden Studie.
5.2 »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch«
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verlustig gehen, jedoch begünstigen die ausgelassene Ausflugsstimmung und die natürliche Kulisse eine Lockerung der rigiden Verhaltenskodizes. Und schließlich gewinnt Fontane der konventionalisierten Praxis eine erzählerische Freiheit ab, wenn der ritualisierte Programmpunkt gemeinsamer körperlicher Bewegung am Ausflugsort – häufig unter dem Vorwand der Naturbegegnung unternommen –, spezifische Figuren von der Gruppe absondert und die bereits erwähnten Modi der körperlichen sowie kommunikativen Nähe in Interdependenz treten. Dieser zentrale Baustein im wiederkehrenden Erzählmuster ›Landpartie‹ folgt dabei einem Skript, das Fontane, aufbauend auf die erste literarische Bearbeitung einer Landpartie in Vor dem Sturm in seinen Gesellschaftsromanen entwickelt. Auch wenn das etablierte Schema Flexibilität und künstlerischen Gestaltungsspielraum für das jeweilige Handlungsgeschehen gewährt, »[d]ie fundamentale Ordnung leuchtet klar durch die Variation.«21 Worin diese »fundamentale Ordnung« der Zusammenführung und Annäherung bestimmter Figuren im Rahmen der Landpartie in nuce besteht, soll zunächst am Stechlin veranschaulicht werden. Dort erfolgt das Moment der Mobilität unmittelbar im Anschluss an die Dampferfahrt zum Eierhäuschen: »[U]nd weil die wundervolle Frische dazu einlud, beschloß man, ehe man sich im ›Eierhäuschen‹ selber niederließ, zuvor noch einen gemeinschaftlichen Spaziergang am Ufer hin zu machen. Immer weiter flußaufwärts.« (DS, S. 166) Verwendet Fontane in früheren Romanen noch einige Mühe darauf, die choreographische Konstellierung der Figuren gleichsam zufällig erscheinen zu lassen oder textintern plausible Erklärungen anzuführen,22 wird dieses Erzählprinzip im Stechlin von ihm eher nur beiläufig bedient. »Der Enge des Weges halber ging man zu zweien, vorauf Woldemar mit Melusine, dann die Baronin mit Armgard. Erheblich zurück erst folgten die beiden älteren Herren, die schon auf dem Dampfschiff ein politisches Gespräch angeschnitten hatten.« (DS, S. 166) Zwar begründet sich die Aufteilung der sechsköpfigen Landpartie-Gesellschaft hier mit den räumlichen Gegebenheiten, während die bereits auf dem Dampfschiff vollzogene Separierung von Baron und Graf vom übrigen Teil der Gesellschaft konsequent fortgeführt wird und sich ihr ›Zurückbleiben‹ angesichts ihres fortgeschrittenen Lebensalters plausibilisiert, dennoch wird die Konstruiertheit und der vordergründige Zweck der Szene eher nachlässig verhehlt: die Intensivierung des geselligen Verkehrs zwischen Woldemar und den Barbyschen Schwestern.
21 Demetz, Formen des Realismus, S. 121. 22 Vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen dieses Kapitels.
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5 Eine Partie machen: Landpartie und Liebesgeschichten
Das (selbst-)ironische Spiel mit dem etablierten und seiner Leserschaft hinlänglich vertrauten Erzählmuster ›Landpartie‹ im Stechlin findet für Fontane also weder mit der Modifikation des Einladungsprocederes noch mit der Verschränkung von zwei sozial divergierenden Gesellschaften sein Ende;23 vielmehr treibt er es im Verlauf der Partie zum Eierhäuschen weiter. So bedient die Landpartie-Episode zu Beginn nur vordergründig die Erwartungshaltung des Rezipienten, eine Variation des vertrauten und mit einer Liebeshandlung verknüpften Schemas zu präsentieren; wobei sich das erzählerische Verfahren grundsätzlich eher durch die knappe Zitation des Altbewährten denn durch Innovation auszeichnet. Der Lakonie, dem Zustandekommen und der Zusammensetzung der Figurenkonstellation lediglich einen Satz zu widmen, entspricht das schließlich nahezu ungenutzte Potential, das sich daraus ergeben könnte. Die Information, Woldemar und Melusine promenierten gemeinsam, scheint zunächst die Mutmaßung zu bestätigen, die Landpartie würde einmal mehr mit diesen beiden Figuren ein Liebespaar zusammenführen. Vorerst wird diese Spannung verlängert und gesteigert, indem sich der Fokus direkt im Anschluss dem Gespräch der älteren Herren zuwendet und die Überleitung zu Woldemar und den Damen mit der Versicherung vollzogen wird, dass »[a]uch die beiden voranschreitenden Paare […] in lebhaftem Gespräch« (DS, S. 167) waren. Doch dieses »lebhafte Gespräch« wird von beiden Paaren gemeinsam geführt, so dass das Ausbleiben eines vertraulichen Tête-à-Tête die geschürten Erwartungen enttäuscht. Noch dazu sind es fast ausschließlich Woldemar und die Baronin Berchtesgaden, die die Konversation führen, während die beiden Barbyschen Schwestern passiv bleiben. Gemäß ihrer Charakterzeichnung als ruhig und zurückhaltend beschränkt sich Armgards Beteiligung auf eine nichtssagende Zustimmung. Die sonst um geistreiche Gesprächsbeiträge nicht verlegene Melusine äußert sich, nach ihrer Meinung gefragt, nonverbal mit einem Kopfschütteln. Ihr Ausweichen vor einer Diskussion mit der Baronin über Fragen weiblicher Schicklichkeit und Verantwortung unterwandert endgültig die Möglichkeit einer Handlungsdynamisierung, wenn sie »darauf [drängt], daß die beiden älteren Herren, die mittlerweile herangekommen waren, den Ausschlag geben sollten« (DS, S. 168) was wiederum zur Vereinigung der Landpartie-Gesellschaft beiträgt. Anders als in Frau Jenny Treibel, wo die auf dem Landpartie-Spaziergang parallel geführten Gespräche alle die Ehe thematisieren und somit indirekt die Liebeshandlung kommentieren, sind die Konversationen im Stechlin dazu
23 Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Studie.
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nicht in gleicher Weise angetan. Zwar soll im Folgenden eine Lesart vorgestellt werden, die auch für den Stechlin einen Metakommentar herauszulesen vermag, doch ist dieser Kommentar weitaus abstrakter und weniger offensichtlich. Die »Einbettung des Hauptthemas Alt – Neu«24 in das politische Gespräch, das die beiden älteren Herren auf der Partie zum Eierhäuschen führen, kann nämlich mit Woldemars Unentschiedenheit zwischen den ungleichen Schwestern in Zusammenhang gebracht werden. Aber während Graf Barby konstatiert, »[d]as moderne Leben räumt erbarmungslos mit all dem Überkommenen auf« (DS, S. 167), erfüllt sich diese Prognose im Hinblick auf Woldemars Brautwahl und die Repräsentation des Alten und Neuen durch seine Töchter allerdings nicht. Denn Woldemar entscheidet sich für »Armgard, Typus der deutschen Romanheldin früherer Zeiten«25, und gegen »Melusine als Inbegriff eines neuen Frauentypus, als moderne Frau«26. Folgt man dieser Lesart, so muss der Kommentar des Grafen als eine ironische Finte gelten, die eine Verbindung Woldemars und Melusines vorerst weiterhin als wahrscheinlich suggeriert und die ihren Teil zu Fontanes parodistischem Umgang mit seinem erzählerischen Landpartie-Muster beiträgt. Offenbart sich der ironische Duktus im Kontext der Landpartie-Episode im Stechlin primär auf der metafiktionalen Ebene, ist dieser in Frau Jenny Treibel, »Fontanes einzige[r] Komödie in Romanform«27, allgegenwärtig, indem nicht nur die Erzählinstanz sich beständig seiner bemüht, sondern auch zahlreiche Figuren die Kunst der (Selbst-)Ironie beherrschen. Die erzählerische Auseinanderdifferenzierung der zahlenmäßig größten Landpartie-Gesellschaft in kleine Gruppen, die sich anlässlich eines gemeinsamen Spazierganges ereignet, vollzieht sich scheinbar organisch: »Und Alles erhob sich, um in Gruppen zu Zweien und Dreien die Terrasse hinabzusteigen und zu beiden Seiten des Sees, auf den schon im halben Dämmer liegenden Grunewald zuzuschreiten.« (JT, S. 136f.) Gleichwohl spielt die textintern nicht eigens begründete und persönlichen Sympathien respektive Verbindungen folgende Choreographie auch hier dem Erzählkalkül in die Hände, führt Corinna und Leopold in eine Zweiergruppe zusammen28 und separiert sie darüber hinaus 24 Heiko Strech, Theodor Fontane: Die Synthese von Alt und Neu. ›Der Stechlin‹ als Summe des Gesamtwerks, Berlin 1970 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 54), S. 55. 25 Sagarra, Der Stechlin, S. 671. 26 Ebd., S. 676. 27 Christian Grawe, Frau Jenny Treibel oder ›Wo sich Herz zum Herzen find’t‹. In: Ders. und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 614–627, hier S. 615. 28 Zuvor ist es zu keiner Annäherung der beiden Figuren gekommen: Der etwas verspätet in Halensee eintreffende Leopold wurde nämlich sogleich emphatisch von den
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von der »Hauptcolonne« (JT, S. 137) – »Fontane liebt die ironische ArmeeMetapher«29 –, die den Weg in die andere Richtung einschlägt. Diese Konstellierung wird aber zugunsten einer Spannungssteigerung nicht unmittelbar ersichtlich, weil zunächst die »Hauptcolonne« das erzählerische Interesse beschäftigt. Was sich zunächst nur über das Prinzip des Ausschlussverfahrens mitteilt, bestätigt sich erst nach einem vorangestellten Dialog zwischen Kommerzienrat Treibel und Krola: »Rechts um den See hin gingen nur zwei Paare, vorauf der alte Schmidt und seine Jugendfreundin Jenny und in einiger Entfernung hinter ihnen Leopold und Corinna.« (JT, S. 140) Das dieser Stelle inhärente Kompositionsprinzip ist mit den herrschenden familial-generationellen Verbindungen zwischen den beiden Spazierpaaren jedoch noch nicht erschöpft, denn »[d]ie Gespräche aller beschäftigen sich in schöner Einmütigkeit mit der Ehe.«30 Genügte schon das Wissen um die gegenseitigen, wenn auch motivational verschiedenen Absichten auf eine eheliche Verbindung, das Gespräch zwischen Corinna und Leopold im Rahmen der Landpartie nach Halensee mit Spannung zu erwarten, wird diese Erwartungshaltung erzählstrategisch noch weiter potenziert. Zum einen fungieren die vorangestellten Konversationen zwischen Treibel und Krola sowie zwischen Jenny und Wilibald als hinauszögerndes Moment, zum anderen sind alle drei Gespräche über das Thema Ehe miteinander verbunden. Der bereits darin enthaltene Hinweis auf das amouröse Potential des Landpartie-Settings wird sodann unmissverständlich explizit, wenn Treibel anlässlich der angestimmten Vertonung von Heines ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten?‹ versetzt: »Ah, das ist recht. Eine jeder Zeit wohl aufzuwerfende Frage, besonders auf Landpartien.« (JT, S. 140) Während der innere Zusammenhang der drei Dialoge, der dazu bestimmt ist, die Verlobung Corinnas und Leopolds mit einem vielsagenden Subtext zu unterlegen, erst im nächsten Kapitel näher entfaltet werden soll, muss an dieser Stelle ein weiteres Bewegungsmoment Erwähnung finden, das die
beiden Felgentreu-Töchtern empfangen und begrüßt, die, wie ein ironischer Erzählkommentar erklärt, »sich vorgesetzt zu haben schienen, à tout prix für das ›Landpartieliche‹ zu sorgen.« (JT, S. 133) Dieses als »Landpartieliche« bezeichnete Kokettieren, erneut ein Hinweis auf das amouröse Potential von Landpartien, muss Corinna natürlich missfallen und so enthält sie sich einer besonders herzlichen Begrüßung; auch, um sich auf diese Weise von ihren Rivalinnen abzugrenzen. 29 Demetz, Formen des Realismus, S. 123. – Grieve erkennt einen »komischen Kontrast zwischen den beleibten, langsamen Personen und der militärisch straffen Sprache, in der ihre Fortbewegung beschrieben wird« (Grieve, Frau Jenny Treibel und Frau Wilhelmine Buchholz, S. 542). 30 Demetz, Formen des Realismus, S. 123.
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Verlobung in Frau Jenny Treibel schließlich erst ermöglicht. So bieten der gemeinsame Spaziergang und die »Entfernung von etwa fünfzig Schritt«, die Leopold und Corinna von ihren vorausgehenden Elternteilen trennt, zwar kommunikativ und räumlich eine hinreichende Gelegenheit für die Gefühlsaussprache, doch versagt Leopold im Angesicht »seiner stattlich vor ihm dahinschreitenden Mutter« (JT, S. 145) der Mut. »[E]twas auf den Vogel Strauß hin angelegt«, will sich Leopold dem lähmenden visuellen Einfluss seiner Mutter entziehen, »so daß er schließlich den Vorschlag machte, eine gerade vor ihnen liegende Waldlichtung in schräger Linie zu passiren, damit sie, statt immer zu folgen, auch ’mal an die Tête kämen.« (JT, S. 145) Indem das Gespräch erst nach dem geglückten ›Überholmanöver‹ und mittels einer Offerte Corinnas die entscheidende Wendung nimmt, zeigt »Fontanes choreographisches Arrangement seelischer Abhängigkeiten«31 nicht allein die »Milchsuppenschaft« der »Suse« (JT, S. 99) Leopold,32 sondern auch, dass der auf Landpartien gewährte räumliche Rahmen und die gemeinsame Mobilität allein – ohne die Initiative der Figuren – nicht dazu ausreichen, eine Handlungsdynamisierung in Liebesangelegenheiten zu evozieren. Auch der erste Teil des Romans Cécile, der die Figuren während einer Harzer Sommerfrische präsentiert, weist dem Genre des Gesellschaftsromans entsprechend gesellschaftlich-gesellige Rituale der ›feinen Lebensart‹ auf: »Dinners, Ausflüge, Besichtigungen, Konversationen […]; die ›Szenerie‹ wird bestimmt von gesellschaftlichem Leben – […] dem Kurmilieu mit touristischem Naturerlebnis und historischen Sehenswürdigkeiten«33. Nimmt die Bekanntschaft zwischen Gordon und dem Ehepaar St. Arnaud zunächst im konventionell statischen Ambiente der Table d’hôte ihren Anfang, intensiviert sich diese, ebenso wie Gordons Interesse, insbesondere bei gemeinschaftlich unternommenen und die Figuren in Bewegung versetzenden Ausflügen und Spaziergängen. Besonderes Augenmerk verdient vor dem Hintergrund der vorliegenden Fragestellung »der wichtige Ausflug nach Altenbrak. […] Nicht ohne Grund scheint dieses entscheidende Ereignis in das die Mitte des Ro-
31 Ralf Schnell, Die verkehrte Welt. Literarische Ironie im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 122. 32 Vgl. David S. Johnson, The Ironies of Degeneration: The Dilemmas of Bourgeois Masculinity in Theodor Fontane’s ›Frau Jenny Treibel‹ and ›Mathilde Möhring‹. In: Monatshefte 102/2 (2010), S. 147–161. 33 Helmut Kreuzer, Zur Erzähltechnik in Fontanes ›Cécile‹. In: Hans-Christoph Graf von Nayhauss und Krzysztof A. Kuczyński (Hrsg.), Im Dialog mit der interkulturellen Germanistik, Wrocław 1993 (= Acta Universitatis Wratislaviensis, No. 1497), S. 175–185, hier S. 176.
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mans bildende 15. Kapitel zu fallen.«34 Das »entscheidende Ereignis« im 15. Kapitel rekurriert indes nicht auf den gesamten Ausflug, erstreckt sich dieser doch über insgesamt drei ausführlich auserzählte Kapitel, sondern auf die folgenschwere Annäherung Gordons und Céciles, die sich auf dem Rückweg vollzieht. Mithin wird deutlich, dass der in die Harzer Sommerfrische eingebettete Ausflug nach Altenbrak in Cécile strukturell und inhaltlich letztlich dieselben Funktionen in der Handlungskomposition des Romans erfüllt, wie in den anderen Texten die Landpartie. Da »Cécile, so sehr sie sich erholt hatte, für eine Fußpartie doch nicht ausreichend gekräftigt war«, ihr Mann hingegen als »ein leidenschaftlicher Steiger […] auf eine Wanderung […] nicht gern verzichten wollte«, »war man denn übereingekommen, den Marsch [nach Altenbrak; M. B.] in zwei Colonnen zu machen« (C, S. 85). Im Wissen um die Wanderleidenschaft St. Arnauds und die Courtoisie Gordons spricht einiges dafür, die derart herbeigeführte Trennung des Ehepaars auf ein Betreiben Céciles zurückzuführen, der gemäß ihrer glücklosen Ehe an räumlichem Abstand zu ihrem Mann gelegen sein dürfte. Werden in Frau Jenny Treibel die parallel geführten Gespräche nacheinander zur Darstellung gebracht, wechselt der erzählerische Fokus in Cécile zwischen den »zwei Colonnen«; hier wie dort zeigen sie jedoch thematische Parallelen, die die Gespräche miteinander verschränken. Die Vertraulichkeit zwischen Gordon und Cécile auf dem Ritt nach Altenbrak gründet in ihrem Gespräch, dem der sie begleitende Eseljunge »mit klugem Auge folgte« (C, S. 86), womit implizit auf dessen Funktion als Korrektiv verwiesen ist. Céciles angedeutete Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend verleihen der Unterhaltung zum einen eine persönliche Note, zum anderen sind mit ihrer schlesischen Herkunft und den selbst zugestandenen Lücken »in Bildungssachen« (C, S. 88) Gegenstände angesprochen, die im dann eingeblendeten Gespräch der Wanderer wiederkehren. Denn der Privatgelehrte Eginhard aus dem Grunde greift – von St. Arnaud nach der Herkunft seines Namens befragt – über seine familiäre Abstammung die ›polnische Frage‹ wieder auf.35 Eint die jeweils polnische Familienherkunft Cécile und den Privatgelehrten, so stellen die beiden Figuren in Fragen von Bildung und Wissen hingegen »einen wunderlichen Kontrast«36 dar. 34 Peter Uwe Hohendahl, Theodor Fontane: Cécile. Zum Problem der Mehrdeutigkeit. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 18 (1968), S. 381–405, hier S. 384. 35 Vgl. ebd. 36 Walter Müller-Seidel, Fontane und Polen. Eine Betrachtung zur deutschen Literatur im Zeitalter Bismarcks. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 433–447, hier S. 442. Eine systemtische Untersuchung des Polnischen im Ge-
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Das Thema der Treue respektive Untreue, von den Herren in ideologischpolitischem Zusammenhang aufgebracht und den erneuten Szenenwechsel markierend, fungiert auf der Metaebene als vielsagender Kommentar, findet aber im Gespräch Gordons und Céciles noch einen weiteren Reflex. Denn auf Gordons Beschwörung familiärer Treue, »diese Bande sind doch die festesten und überdauern alles andre«, reagiert Cécile bei gleichzeitiger Würdigung der darin zum Ausdruck kommenden »Herzlichkeit« einigermaßen pikiert, ist sie doch »auch verwöhnte Frau genug, um sich durch ein so betontes Hervorkehren verwandtschaftlicher Empfindungen, und zwar in diesem Augenblick und an ihrer Seite wenig geschmeichelt zu fühlen.« (C, S. 94) Dieser Anflug von Eifersucht und Enttäuschung indiziert deutlich, dass Cécile sich der Gunst des ungestörten Augenblicks durchaus bewusst ist und diesen mit spezifischen Erwartungen an Huldigung ihrer Person verbindet. Dies bestätigt sich wenig später erneut, wenn Gordon »in beinahe freudiger Aufregung« der »vorauf marschirenden Herren ansichtig« (C, S. 99) wird. In Céciles Blick mischt sich daraufhin »etwas von Empfindlichkeit […]. Das war doch naiver als naiv. Er genoß des Vorzugs ihrer Gesellschaft und schien nichtsdestoweniger hocherfreut über die Möglichkeit, im nächsten Augenblicke« (C, S. 99) diesen Vorzug in der wiedervereinten Ausflugsgesellschaft einzubüßen. Auch wenn der gemeinsame Ritt nach Altenbrak in Cécile den Bedingungen für eine Liebesszene in natürlich-ungestörter Kulisse geradezu prototypisch entspricht, wird diese Erwartung vom Text allerdings unterlaufen. Angesichts der sowohl kommunikativen als auch körperlichen Annäherung, die sich zwischen Cécile und Gordon auf dem Rückweg nach Thale zwei Kapitel später ereignet, fungiert die folgenlos bleibende Episode in der Handlungskomposition gleichsam als retardierendes, spannungssteigerndes Moment. Danach erfährt das ab Kapitel 17 in Berlin stattfindende Geschehen, angefeuert durch Gordons Begehren und seine sich geltend machenden Besitzansprüche auf Cécile, eine »dramatische Konzentration und Zuspitzung« und steuert schließlich »auf die Katastrophe zu.«37 samtwerk Fontanes hat jüngst Dunkel vorgelegt: Alexandra Dunkel, Figurationen des Polnischen im Werk Theodor Fontanes, Berlin/Boston 2015 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 10). Gordons Annahme, Cécile müsse »Polin oder wenigstens polnisches Halbblut« (C, S. 15) sein, repräsentiert ein gängiges Stereotyp: »Die nationale Klassifizierung Céciles, die Gordon vornimmt, beruht auf dem […] konventionellen Muster der ›schönen Polin‹, das physische Aspekte mit erotischer Ausstrahlung kombiniert und zugleich auf die Fähigkeit der Polin abstellt, sich zu inszenieren, körperliche Reize gekonnt zur Schau zu stellen. In der Polin hypostasieren sich bürgerliche Vorstellungen extrem-verführerischer Sinnlichkeit« (Dunkel, Figurationen des Polnischen, S. 196f.). 37 Hohendahl, Theodor Fontane: Cécile, S. 384.
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Findet die Spazierfahrt nach Tempelhof in Schach von Wuthenow vergleichsweise früh, im ersten Viertel des Romans statt, erscheint er Victoire retrospektiv gleichwohl als Peripetie des Geschehens,38 das wie in Cécile einen tödlichen Ausgang nimmt. In einem Brief an die Freundin Lisette, mit dem der Roman endet, rekapituliert sie hintergründig, dass der »Ausfluge nach Tempelhof […] überhaupt in mehr als einer Beziehung einen Wendepunkt für uns bedeutete.« (SvW, S. 157) Zwar bezieht das »unterspielt erotische[ ] Dreiecksverhältnis […] seine Spannung« in Tempelhof noch »aus der Zurückhaltung aller«39, doch werden hier im Modus des intimen Gesprächs entscheidende Weichen für die Dynamisierung des Beziehungsgeflechts gestellt. Bedingung der Möglichkeit dieser Konversationen ist die Anwesenheit Tante Marguerites auf der Spazierfahrt, die wie die Baronin Berchtesgaden im Stechlin das Trio um eine vierte Figur ergänzt 40 und so die Ausdifferenzierung der Landpartie-Gesellschaft in zwei Spazierpaare bedingt. In Schach von Wuthenow zeitigt diese Konstellation jedoch die Konsequenz, dass die beiden Spazierpaare in räumlichem Abstand zueinander promenieren und sich somit vertrauliche Gespräche unter vier Augen ergeben. Die Spazierfahrt nach Tempelhof trägt so wesentlich zur Evokation respektive Verfestigung eines spezifischen, an Fontanesche Landpartien geknüpften Erwartungsmusters bei, das im Stechlin ironisch unterlaufen wird. Interessant an der Choreographie der Figuren in Schach von Wuthenow ist zum einen, dass Schach mit beiden Damen von Carayon ein Tête-à-Tête unterhält: »Auf dem Spaziergang in Tempelhof bewegt sich Schach gleichsam im Wechselschritt zwischen Mutter und Tochter«41, indem er auf dem Hinweg Frau von Carayon und auf dem Rückweg Victoire begleitet. Zum ande38 Nach Osborne ist Schach von Wuthenow »ein sehr theatralisches Werk: Die Personenzahl ist beschränkt, Akte bzw. Szenen sind deutlich markiert, Auftritte und Abgänge haben fast immer einen dramatischen Charakter, […] es gibt präzise Anweisungen, was Beleuchtung, Kostüm und stummes Spiel betrifft. Abgesehen von wenigen Szenen bleibt man im Innenraum, sozusagen bei der geschlossenen Zimmerdekoration des realistischen Gesellschaftsdramas; die Handlung wird hauptsächlich durch Dialog vorangetrieben« (John Osborne, ›Schach von Wuthenow‹. ›Das rein Äußerliche bedeutet immer viel…‹. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 2008, S. 92–112, hier S. 93). 39 Christian Grawe, Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. In: Ders. und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 533–546, hier S. 534f. 40 Damit zitiert Fontane ironisch »zugleich eine erotische Figuration, die ihrerseits eine unheilvolle literarische Tradition hat, das Quartett« (Neumann, ›Vor dem Sturm‹, S. 202). 41 Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 124.
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ren inszeniert der Text geradezu einen ›Streit‹ um die Urheberschaft des raffinierten Arrangements, das als erstes Paar Schach und Frau von Carayon zusammenführt. Der Aufbruch aus dem Gasthaus und die Konstellierung der vier Figuren vollzieht sich erzählerisch – durch die Wahl der Tante bestimmt – zunächst ebenso zufällig wie organisch. Marguerite »nahm […] Victoirens Arm und trat mit dieser auf die Dorfstraße hinaus, während Schach und Frau v. Carayon folgten.« (SvW, S. 36f.) Einen Tag später reklamiert Victoire in einem Brief an ihre Freundin diese Verteilung hingegen als auf ihre Initiative zurückgehend: »Als wir den Gang aus dem Dorf in die Kirche machten, führte Schach Mama. Nicht zufällig, es war arrangiert, und zwar durch mich.« (SvW, S. 48) Indem es der Erzählinstanz in die Hände gespielt respektive die Situation in keiner Weise verkompliziert hätte, statt Tante Marguerite Victoire als Agens der Aufteilung einzusetzen, darf Victoires Mitteilung bezweifelt werden. Zweifel hegt auch die Briefempfängerin Lisette, die in ihrem Antwortschreiben gesteht, »mancher Äußerung in [d]em letzten Briefe keinen vollen Glauben schenke[n]« (SvW, S. 73f.) zu können. Denn Victoire versucht, ihre eigene Zuneigung zu Schach sich selbst und auch der Freundin gegenüber zu verbergen, wenn sie vorgibt, eine Verbindung zwischen Schach und Frau von Carayon »um der Mama und auch um [ihret]willen« nicht nur zu »wünsche[n]« (SvW, S. 49), sondern diese sogar selbst stiften zu wollen. »Erstaunlich scharfsichtig analysiert Lisette in ihrem Antwortbrief das (Selbst-)Täuschungsmanöver der Freundin«42, wenn sie schreibt: »Du suchst Dich und mich zu täuschen, wenn Du schreibst, daß Du Dich in ein Respektsverhältnis zu S. [Schach] hineindenkst.« (SvW, S. 74) Was Victoire und ihre Gefühle auch in den Augen Lisettes »verrät« (SvW, S. 74), ist ihre Verletzung angesichts von Schachs Partnerinnen-Tausch, bevor die Gesellschaft das Dorf erreicht. Denn begleitet Schach auf dem Rückweg zunächst »Victoire, der er den Arm gereicht hatte« (SvW, S. 43), so wartet er am Eingang des Dorfes auf die nachfolgenden Damen, und »[a]ls diese heran waren, bot er der Frau von Carayon den Arm und führte diese bis an das Gasthaus zurück.« (SvW, S. 45) Reagiert Victoire in der Situation nonverbal affektiv mit einem Erröten auf diesen Affront, als sich ihr der tiefere Sinn erklärt, »so bietet ihr später verfasster Brief an die entfernt lebende Freundin Lisette den Raum, in dem über das Ereignis berichtet und reflektiert werden kann«43. Es gab mir einen Stich durchs Herz, denn ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß es ihm peinlich gewesen sei, mit mir und an meinem Arm unter den Gästen
42 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 136. 43 Reulecke, Briefgeheimnis und Buchstabentreue, S. 138f.
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5 Eine Partie machen: Landpartie und Liebesgeschichten [des Gasthauses; M. B.] zu erscheinen. In seiner Eitelkeit, von der ich ihn nicht freisprechen kann, ist es ihm unmöglich, sich über das Gerede der Leute hinwegzusetzen […]. Vor niemandem in der Welt, auch vor der Mama nicht, würd ich ein solches Bekenntnis ablegen, aber Dir gegenüber mußt ich es. (SvW, S. 49)
Jenseits seiner Funktion als Medium der Selbstreflexion »hat der nachgetragene Brief die erzähltechnische Funktion, eine Polyperspektivität zu erzeugen, die den Konflikt mehrfach fokussiert.«44 Diese Polyperspektivität bleibt dabei nicht auf den Erzählkommentar und Victoires Darstellung beschränkt, sondern schließt auch Lisettes Antwortschreiben mit ein, wenn diese dort resümiert: »Daß Du Dich plötzlich so verletzt fühlen, ja, verzeihe, so pikiert werden konntest, als er den Arm Deiner Mama nahm, verrät Dich, und giebt mir allerlei zu denken« (SvW, S. 74). Indem Lisette gegen Victoires eigentlich hellsichtigen Argwohn argumentiert und Schach gegen den Vorwurf der Eitelkeit freispricht, »unterliegt [sie] damit einer verhängnisvollen Fehleinschätzung des Offiziers«45 und trägt maßgeblich zu dessen Verführung Victoires bei, die unmittelbar im Anschluss an die Brieflektüre erfolgt. Erkennt Reulecke darin den »Clou des Romans«46, besteht dieser in vergleichender Perspektive auch darin, in Schach von Wuthenow »die Landpartie in einer erinnernden Korrespondenz [zu] reflektier[en]«47 und insofern eine Variation des Kommentargesprächs zu präsentieren, das Demetz als eine häufig hinzugefügte Erzählphase in der Darstellung von Diner und Landpartie systemtisch erfasst hat.48 In L’Adultera findet sich der Zusammenhang von körperlicher Mobilität und amourös-handlungsdynamisierender Wirkung auf einer Landpartie am breitesten entfaltet, erprobt und entwickelt Fontane doch in diesem ersten Gesellschaftsroman jenes produktive Erzählmuster, das den nachfolgenden Landpartie-Bearbeitungen als Skript zugrunde liegt und dort variantenreich adaptiert wird. Beschränkt sich das Moment der Bewegung in den späteren Romanen anlässlich eines Spaziergangs oder Ritts auf eine gemeinsame Aktivität, ereignet sich die körperliche und kommunikative Annäherung Melanies und Rubehns auf der Landpartie in L’Adultera im Modus des Spiels und
44 Ebd., S. 139. – Reulecke legt überdies schlüssig dar, dass der Brief Victoires zudem »den Sinn [hat], der weiblichen Protagonistin eine Stimme zu geben und damit die Möglichkeit, nicht mehr nur Objekt des stattgefundenen Damenopfers zu sein« und »zu einer Schreibenden mit Deutungsmacht werden zu können« (ebd.). 45 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 136. 46 Reulecke, Briefgeheimnis und Buchstabentreue, S. 140. 47 Demetz, Formen des Realismus, S. 122. 48 Vgl. dazu auch Kapitel 2.3.2 der vorliegenden Studie.
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während einer Bootsüberfahrt. Die Überfahrt nach Treptow mit kleinen Ruderbooten stellt den letzten Programmpunkt der Stralauer Nachmittagspartie dar. Durch »eine Vertheilung, die sich wie von selber machte« (LA, S. 74; Herv. M. B.), werden Melanie und Rubehn von der restlichen Gesellschaft getrennt und finden sich nur in Begleitung eines Bootsjungen (erinnert sei an den Eseljungen in Cécile) allein in einer kleinen Jolle. »Der Zufall – eine Kraft, die auf Fontanes Landpartien spielerisch und natürlich zutage tritt – bildet die Zweierkonstellation, in der Melanie und Rubehn die Bootsfahrt über die Spree antreten.«49 Diese scheinbar so spielerische und natürliche Zufälligkeit wird jedoch als poetologische Strategie erkennbar, wenn zum einen das Wörtchen wie hellhörig macht und zum anderen vergegenwärtigt wird, »dass narrativ der Zufall desto weniger herrscht, je mehr er in der Erzählung inszeniert wird«50. Zur Inszenierung des Zufalls müssen in L’Adultera die Umstände der Aufteilung gerechnet werden, wenn »die beiden Maler und Anastasia in das größere Boot« steigen, weil die Herren »gute Kahnfahrer waren und jeder anderweitigen Führung entbehren konnten.« (LA, S. 73f.) Darüber hinaus treten Van der Straaten und Fräulein Rieckchen die Überfahrt nach Treptow mit einem Spreedampfer an, denn Rieckchen gesteht, »daß Bootschaukeln, von klein auf, ihr Tod gewesen sei« (LA, S. 73). Indem hier das Bootschaukeln mit einer existentiell-bedrohlichen Erfahrung verbunden und eine Führung Melanies und Rubehns durch den Bootsjungen im Gegensatz zur restlichen Gesellschaft als notwendig indiziert wird, werden die Figurenkonstellation und die Wasserfahrt subtil als gefährlich konnotiert – was in die Parallelisierung der sich anbahnenden und von den Normen der Gesellschaft abweichenden Liebesbeziehung mit dem Abtreiben des Bootes kulminiert. Die hiesige Annäherung bildet allerdings nur den Zwischenschritt in der Zusammenführung des Paares Melanie und Rubehn; während sich der Ehebruch erst zwei Kapitel später ereignet, werden erste eindeutige Hinweise auf die gegenseitige Attraktion schon beim ersten Programmpunkt der Landpartie gegeben, im ausgelassenen Spiel. Als Van der Straaten und Rubehn die übrige Gesellschaft auf der großen Wiese neben der Kirchhofmauer in Stralau erreichen, will Melanie ihrem Gatten einen Ball zuwerfen. »Aber sie hatte nicht richtig gezielt, der Ball ging seitwärts und Rubehn fing ihn auf.« (LA, S. 62)
49 Uta Schürmann, Der ›Fontanesche Treibhauseffekt‹. Temperaturen, Emotionstheorien und Wirkungen in ›L’Adultera‹. In: Fontane Blätter 83 (2007), S. 53–66, hier S. 54. 50 Arnd Beise, Spielers Erzählungen, oder: Zufall herstellen. In: Bernhard Jahn und Michael Schilling (Hrsg.), Literatur und Spiel. Zur Poetologie literarischer Spielszenen, Stuttgart 2010, S. 151–166, hier S. 164.
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Der immanent symbolische Gehalt dieser Interaktion – Harnisch erkennt in dem verfehlten Ballwurf »eine klassische Freudsche Fehlleistung […], die unterschwelliges Begehren an die Oberfläche bringt«51 – wird durch den nachfolgenden Dialog zwischen Melanie und Rubehn fast plakativ bestätigt und ausgestellt: »›Sie sind geschickt. Sie wissen den Ball im Fluge zu fassen.‹ / ›Ich wollt’, es wäre das Glück.‹ / ›Vielleicht ist es das Glück.‹« (LA, S. 62)52 Van der Straatens in indirekter Rede wiedergegebene Replik, er würde »sich alle derartig intrikaten Wortspielereien« (LA, S. 62) verbitten, kann als poetologische Strategie Fontanes gelesen werden, sich von ostentativer Doppeldeutigkeit zu distanzieren: »So umsegelt er die Klippe des Kitsches, indem er sich durch eine scherzhafte Bemerkung van der Straatens gewissermaßen zur Aufdringlichkeit der Szene bekennt und sie damit mediatisiert, relativiert«53. Doch diese Mediatisierung und Relativierung des Dialogs zwischen Melanie und Rubehn kann dennoch »nicht das Stückchen Vorwärts in ihrer Attraktion zueinander aufheben und rückgängig machen, das sich in den paar eigentlich lächerlichen Worten begeben hat.«54 Subtiler, aber gleichwohl vielsagend, verwandelt sich die »Lagerstelle« im Anschluss »in einen Spielplatz […]. Die Reifen, die Bälle flogen, und da die Damen ein rasches Wechseln im Spiele liebten, so ging man, innerhalb anderthalb Stunden, auch noch durch Blindekuh und Gänsedieb und ›Bäumchen, Bäumchen, verwechselt euch‹.« (LA, S. 62) Das kindlich ausgelassene Spiel und seine Diskrepanz zum gesellschaftlichen Status rekurriert dabei zum einen auf den gelockerten und unkonventionellen Umgang der Gesellschaft jenseits der mondänen Wohnräume.55 Zum anderen exemplifiziert sich die Landpartie hier als ›Spiel51 Antje Harnisch, Keller, Raabe, Fontane. Geschlecht, Sexualität und Familie im bürgerlichen Realismus, Frankfurt am Main 1994 (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 46), S. 139. 52 Einen literarischen Vorläufer findet jene Kombination aus Wurf und Flirt in Fontanes erster Landpartie-Schilderung in Ein Sommer in London: »Miß Harper warf mir den ihren [einen Kranz; M.B] zu, und lachend fing ich ihn […] auf. ›Ich glaubte, Sie hätten uns vergessen!‹ rief sie schelmisch unter ihrem Hut hervor und sah mich an, als wisse sie’s doch am besten, daß keines Mannes Auge ihrer Lieblichkeit jemals vergessen könne« (HFA III/3.1, S. 132). 53 Richard Brinkmann, Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, Tübingen 1977 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 19), S. 137f. 54 Ebd., S. 138. 55 Die Beschreibung sonntagnachmittäglicher Ausflüge nach Friedrichsfelde in den Wanderungen weist hinsichtlich der ausgelassenen Spiele eine frappierende Ähnlichkeit zu L’Adultera auf. Indem sich hier jedoch ein anderes soziales Klientel auf diese Weise amüsiert, wird zugleich die Unschicklich- und Ungebührlichkeit jener Spiele für die ›gute Gesellschaft‹ des Romans deutlich: »Es sind meist Vorstadt-Berliner,
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wiese‹ für die Erzählinstanz, als ein Setting, dem ›spielend‹ das handlungsdynamisierende Potential amouröser Verwicklungen abgewonnen werden kann. Die auf der Landpartie zur Disposition gestellte bürgerliche Sittlichkeit reflektiert nicht zuletzt das Reglement der einzelnen Spiele. Sowohl Blindekuh als auch Gänsedieb sind Spiele mit »erlaubtem Körperkontakt«, bei denen es jeweils um »erhaschen und festhalten«56 geht. Verbunden mit den semantischen Implikationen ihrer Namen deuten die Spiele insofern den Ehebruch und Van der Straatens Nachsehen voraus: »Die Figur des van der Straaten steht in der literarischen Tradition des Ehetölpels […]. Er gleicht den verlachten und gehänselten, übriggebliebenen Spielfiguren jener Paarspiele, die bei den hintergründigen Lustbarkeiten auf der Stralauer Wiese so intensiv betrieben werden«57. Doch nicht nur Melanie und Rubehn kommen sich im Kontext dieser Spiele näher; auf dem Rückweg hängt auch die Gesellschaftsdame Anastasia »süßen Fragen und Vorstellungen nach, denn Elimar hatte beim Blindekuh, als er sie haschte, Worte fallen lassen, die nicht mißdeutet werden konnten.« (LA, S. 63) In Irrungen, Wirrungen führt die Landpartie zu keiner scheinbar zufälligen Zusammenführung potentieller Liebespartner im Moment der Mobilität, denn Lene und Botho unternehmen den Ausflug nach Hankels Ablage bereits als Liebespaar und in dem Wunsch, dort für ihre Beziehung zeitlich begrenzt einen Evasionsraum zu finden. Ihre Fahrt mit einem Ruderboot kann allerdings als textinterne Reminiszenz an die Situation ihres Kennenlernens gelten, so dass über diesen Kunstgriff der erzählstrategische Konnex von Mobilität und Herbeiführung einer folgenreichen Figurenkonstellation im Rahmen der Landpartie zitiert wird. Darüber hinaus bringt die Landpartie nach Hankels Ablage noch ein weiteres Moment der Mobilität zur Darstellung. Im Anschluss an die durch die Ankunft von Bothos Kameraden und ihren Damen verursachte Störung wird die Zeit bis zur gemeinsamen Mahlzeit nach Geschlechtern getrennt verbracht, die Herren »machen ein Jeu. […] Und die Damen promeniren derweilen« (IW, S. 91). Auch hier teilen sich die promenierenden ›Damen‹ in zwei Paare auf, deren Gespräche nacheinander geschildert werden. Diese sind dabei insofern aufeinander bezogen, als sie […] ein leichtlebiges Völkchen, das alles gelten läßt, nur nicht die Spielverderberei, ein wenig eitel, ein wenig kokett, aber immer munter und harmlos. Wie das lacht und glücklich ist im Schweiße seines Angesichts! Jetzt ›Bäumchen, Bäumchen, verwechselt euch‹, jetzt Anschlag, jetzt Zeck, jetzt Ringelreihn und Gänsedieb, bis endlich unter den weitschattigen Parkbäumen sich alles lagert und auf umgestülpten Körben und Kobern die Mahlzeit nimmt.« (GBA V/4, S. 132) 56 Mende, Anmerkung. In: Theodor Fontane, L’Adultera, S. 295. 57 Mende, ›Wenig mit Liebe‹, S. 222.
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beide dazu dienen, »die Beschränktheit der drei Offiziersdamen […] in der stattlichen Ansammlung von Plattheiten, die sie auf dieser Landpartie von sich geben«58, auszustellen. Die Figurenaufteilung und -choreographie in Irrungen, Wirrungen kontrastiert somit in mehrerlei Hinsicht mit den zuvor betrachteten Romanen. Dient das Moment der Mobilität in Fontanes Erzählmuster ›Landpartie‹ sonst der Anbahnung respektive Andeutung amouröser Verhältnisse und ist das vertraulich-kommunikative Beisammensein einer Frau-Mann-Konstellation – unabhängig von der Dauer und Glücksverheißung der daraus potentiell resultierenden Verbindung – stets positiv konnotiert, werden im vorliegenden Fall nur Frauenfiguren zu Spaziergängerinnen, die ihre sexuellen Verhältnisse und ihre gegenseitigen Antipathien dialogisch reflektieren. Lene, »der Vulgarität, Falschheit und […] Böswilligkeit ausgesetzt«59, verharrt die meiste Zeit in Schweigen, was ihr Unbehagen vielsagend zum Ausdruck bringt. In Irrungen, Wirrungen setzt das Moment der Mobilität insofern konsequent die geplantperfide Störung Lenes und Bothos fort und fungiert demgemäß als soziale Dynamik ex negativo. 5.2.2 Bewegte Gespräche, oder: Katalysierende Kommunikation »Fontanes Revolution herkömmlicher Romangestaltung liegt nicht in der kühnen Konzeption erotischer Szenen, sondern in der ebenso unauffälligen wie präzisen Beobachtung der Konstruktionen und Strategien des LiebesDiskurses.«60 Dabei gilt Fontanes »größte Sorgfalt […] der Frage nach der diskursiven Profilierung von Männer-, vor allem aber von Frauenrollen im doppelt bestimmten Feld der Ehre, im Spannungsbogen zwischen Begehren und sozialer Anerkennung, zwischen Huldigung und Affront.«61 Im Kontext dieses Verfahrens, das Brandstetter und Neumann zu Recht als genuines Kennzeichen der Romane herausstellen, ist die Landpartie von besonderer Relevanz, da sie dasjenige narrative Setting konstituiert, das die Liebe und das Begehren mobilisiert. Indem hier die Erzählfäden und Diskurse (der Liebe und Moral, der Geschlechter und sozialen Herkunft) zusammenlaufen und miteinander verwebt werden, erweist sich die Landpartie als überaus entscheidend für das ›Muster‹ des gesamten Erzählgeflechts. Den ›virtuellen‹ 58 59 60 61
Hettche, Irrungen, Wirrungen, S. 142. Bowman, ›Unser Herz hat Platz für allerlei Widersprüche.‹, S. 447. Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 105. Ebd.
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Ort dieses Zusammenlaufens und Verwebens stellt dabei insbesondere die Kommunikation der Romanfiguren dar, die, auf dem topographischen Terrain der Landpartie ›zufällig‹ zu Gesprächspaaren verbunden, sich ihrerseits in Bewegung befinden. Als Variante gesellschaftlich-geselliger Unterhaltung bietet die Landpartie eine zeitliche und räumliche Gelegenheit zu intimer Konversation, aus der nicht zuletzt das handlungsdynamisierende Potential für den weiteren Handlungsverlauf resultiert: In den von den Landpartien konstituierten Möglichkeitsräumen fallen kommunikative und körperlichemotionale Intimität zusammen und bedingen einander wechselseitig – die semantisch-topographischen Grenzüberschreitungen initiieren und katalysieren das Überschreiten sozialer und moralischer Grenzen. 5.2.2.1 »L’Adultera« Als Prototyp des Verfahrens, auf der Landpartie geführte intime Zwiegespräche mit der »Logik und Semantik der Geschlechterrollen und ihrer Differenzen«62 zu korrelieren und daraus soziale Dynamiken der Annäherung respektive Distanz zu entwickeln, kann einmal mehr Fontanes Roman L’Adultera gelten. Denn die Stralauer Nachmittagspartie fungiert hier als Katalysator eines ohnehin schwelenden Ehekonflikts und präsentiert die Kommunikation, ihr Ge- und Misslingen als Ausdruck und Ursache für das Scheitern und Stiften partnerschaftlicher Beziehungen. Vor diesem Hintergrund erweist sich das mit Rubehn auf der Landpartie angebahnte Verhältnis für Melanie denn auch nicht als unbedeutendes Abenteuer, das einer saturiert-gelangweilten Ehefrau eine gewisse Abwechslung in ihrem (Ehe-)Alltag bietet. Vielmehr ist entscheidend, dass Rubehn als Kontrastfigur zu Van der Straaten angelegt ist, wobei sich die Rivalität nicht in oberflächlichen Gegensätzen erschöpft: Zwar ist der Ehemann alt und wenig anziehend, der Geliebte hingegen jung und attraktiv; als zentral erweist sich hingegen, dass es Rubehn gelingt, »sich von traditionellen Weiblichkeitsbildern und Männlichkeitsvorstellungen zu lösen zugunsten einer neuen familiären Ordnung der Geschlechter und einem sich wandelnden Verständnis von Partnerschaft.«63 62 Ulrike Hanraths, Das Andere bin ich. Zur Konstruktion weiblicher Subjektivität in Fontanes Romanen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, München 1989 (= Text+Kritik, Sonderband), S. 163–173, hier S. 165. 63 Sabina Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit. Theodor Fontanes Roman ›L’Adultera‹. In: Dies. und Sascha Kiefer (Hrsg.), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Tübingen 2005, S. 127–158, hier S. 144.
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Nicht von ungefähr vollzieht sich die Annäherung Melanies und Rubehns auf der Stalauer Landpartie in ablehnender Übereinkunft über Van der Straatens »Vorliebe für drastische Sprüchwörter und heimische ›geflügelte Worte‹ von der derberen Observanz« (LA, S. 5), die sich – bevorzugt in der unverblümten Thematisierung weiblicher Körperlichkeit und Sexualität – über die sittlichen Anstandsregeln gesellschaftlich-geselliger Konversation hinwegsetzen: Auf eine der wiederholt frivolen Anspielungen Van der Straatens bekundet Rubehn sein Missfallen gestisch dadurch, dass er den Blick von der Tischgesellschaft abwendet. »Melanie sah es und das Blut schoß ihr zu Kopf, wie nie zuvor. Ihres Gatten Art und Redeweise hatte sie, durch all die Jahre hin, viel hunderte von Malen in Verlegenheit gebracht, auch wohl in bittere Verlegenheiten, aber dabei war es geblieben. Heute zum ersten Male schämte sie sich seiner.« (LA, S. 71) Melanies Reaktion rekurriert zunächst auf die kommunikative Dysfunktion innerhalb ihrer Ehe, denn indem Van der Straaten in selbstherrlicher Provokation »vermissen [lässt], was in Konversation und gesellschaftlichem Umgang als Takt und Diskretion gefordert ist«, muss er mit Melanie in Konflikt geraten, die einen normkonformen »Umgangston und die ›formgerechte‹ Gestaltung […] in ihrer Ehe mit van der Straaten berücksichtigt sehen möchte.«64 Haben die verbalen Entgleisungen ihres Mannes in der Öffentlichkeit Melanie bislang höchst peinlich affiziert, so wird ihre Verlegenheit in dem Moment von einem Schamaffekt abgelöst, als sie der Abwehr Rubehns gewahr wird. Der Text indiziert also nicht nur eine kommunikative Dissonanz, sondern zusätzlich einen »qualitative[n] Unterschied zwischen Scham und Verlegenheit«65. Die ablehnende Haltung Rubehns, dem sie mit wachsender Zuneigung begegnet, fungiert für Melanie gleichsam als »Katalysator ihrer bis dahin noch unklaren Empfindung, in einer Daseinslüge zu leben«66, spiegelt und bestätigt ihr ihre prekäre Position als Ehefrau Van der Straatens. Viel spricht dafür, ihre Scham nicht als Fremd-Scham zu verstehen; Melanie schämt sich nicht – gleichsam stellvertretend – für Van der Straaten und seinen Verstoß gegen geltende Normen. Vielmehr schämt sie sich seiner, d. h. sie schämt sich seiner Person, der sie qua Heirat an die Seite gestellt ist und die ihre Wünsche und Würde korrumpiert. Bezeichnend ist, dass sich Melanies und Rubehns Missbilligung hier nonverbal in Gesten und Affekten kom-
64 Plett, L’Adultera, S. 71. 65 Gabriele Althoff, Weiblichkeit als Kunst. Die Geschichte eines kulturellen Deutungsmusters, Stuttgart 1991, S. 24. 66 Mittelmann, Die Utopie des weiblichen Glücks, S. 66.
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muniziert und damit einen Kontrapunkt zur anstößigen Geschwätzigkeit Van der Straatens bildet. Dieser sich am Aspekt der Kommunikation exemplifizierende Dissens bzw. Konsens koinzidiert mit disparaten Partnerschaftskonzepten, die Melanies erster Ehe mit Van der Straaten und der zweiten mit Rubehn zugrunde liegen. Während ihre Verbindung mit Rubehn eine Liebesheirat gleichberechtigter Partner darstellt, wird die Heirat der Van der Straatens »als konventionelle Konvenienzehe repräsentiert; sie ist Resultat einer finanziellen Transaktion«67, von der beide profitieren: Während Melanie die Verbindung gesicherte ökonomische Verhältnisse garantiert, realisiert sich Van der Straatens Gewinn in diesem ›Tauschgeschäft‹ hingegen durch den ›Erwerb‹ einer schönen jungen Frau aus adeliger Familie, die ihm – »noch mehr sein Stolz als sein Glück« (LA, S. 7) – als Repräsentationsobjekt und Statussymbol gereicht.68 Vor dem Hintergrund der freimütig enthüllten Zweckmäßigkeit der Ehe sind berechtigte Zweifel angebracht, wenn das erste Kapitel mit der Einschätzung fortfährt, »[z]ehn glückliche Jahre, glücklich für beide Theile, waren seitdem vergangen.« (LA, S. 7) Becker argumentiert plausibel dafür, darin ein fokalisiertes Urteil erwähnter »Freunde beider Häuser« (LA, S. 7) zu erkennen und dies nicht als Kommentar der Erzählinstanz zu missdeuten. Auch ihr »scheint eine solche Wertung fraglich. Und tatsächlich macht sich der Erzähler zügig daran, die Diskrepanzen zwischen den Ehepartnern freizulegen.«69 Das Bild eines glücklichen Ehelebens wird wirkungsvoll demontiert und »[d]as Scheitern der Ehe« erweist sich als »die notwendige Konsequenz der versachlichten Beziehungen, unter denen sie geschlossen (und betrieben) wurde.«70 Die Diskrepanzen der Ehe, die sich neben misslingender kommunikativer Verständigung71 in sexuell-körperlicher Distanz offenbaren, erweisen sich dabei nur zu einem gewissen Grad als Produkt individueller Charaktere und
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Harnisch, Keller, Raabe, Fontane, S. 137. Vgl. Mende, Frauenleben, S. 186f. Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 134. Mende, Frauenleben, S. 187. Siehe dazu Peter Wessels, Konvention und Konversation. Zu Fontanes ›L’Adultera‹. In: Ferdinand van Ingen (Hrsg.), Dichter und Leser. Studien zur Literatur, Groningen 1972 (= Utrecht publications in general and comparative literature, Vol. 14), S. 163– 176, hier S. 165: »Die Entfremdung der Eheleute wird in diesem Roman als Entfremdung der Sprache sichtbar gemacht. Jedes Gespräch zwischen ihnen, das über die Unverbindlichkeit der Konversation hinausgeht, fällt auseinander in zwei Sprechweisen.«
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ihrer Konstellierung;72 denn darüber hinaus wird an dieser Ehe ein literarisches Exempel für patriarchalische Machtstrukturen statuiert. Diese manifestieren sich in der Ehe in L’Adultera buchstäblich schon in dem erheblichen Altersunterschied der Partner, so dass Van der Straaten für Melanie »zur perpetuierten Vaterfigur«73 wird. Durch ihre Heirat wechselt für sie nur die Autoritätsinstanz des Vaters zu der des Ehemannes, den sie denn auch »Papchen« (LA, S. 22) nennt; er seinerseits gefällt sich in der Rolle des in Lebensalter und Wissen Überlegenen74 und legt gegenüber seiner Frau nicht selten einen pädagogisch-didaktischen Impetus an den Tag: »Brav, brav. Ich hab es immer gesagt, daß ich noch einen Kunstprofessor in Dir großziehe.« (LA, S. 33) – Eine weitere Form der Entmündigung Melanies pflegt Van der Straaten, wenn er das klassische Rollenmodell eines pater familias ausfüllt und Beruf und Familienleben als strikt getrennte Sphären behandelt. Allenfalls ergeht er sich in Andeutungen und demonstriert ihr derart die Abhängigkeitsstrukturen, in die sie eingebunden ist.75 Wird sein berufliches Tun am Börsenmarkt zwar nicht zum Thema ehelichen Austauschs, so reicht es gleichwohl bis in die Sprache Van der Straatens hinein. Sein »Börsenjargon, der ins persönliche Gespräch eingeht«76, demonstriert seine sachlich kalkulierende Behandlung der Ehe, »die ihm zum Geschäft, zu einer wirtschaftlichen Transaktion ohne Liebe und Leidenschaft«77 wird. Wenn er über seine Besuche in der Tiergartenvilla, Sommerdo72 Siehe dazu auch Plett, L’Adultera, S. 71: »Insofern sind die Konflikte in dieser Ehe und die Umstände, an denen sie sich entzünden, nicht rein privater Natur, sondern stehen in einem gesellschaftlichen Kontext.« 73 Mende, Frauenleben, S. 194. 74 Der Roman versäumt indes nicht, zu erläutern, dass Melanie zum Teil »klugerweise nur so that« als würde sie sich in Bildungsfragen »eine Blöße« (LA, S. 22) geben und dass sie »mit dem Manne, dessen Spielzeug sie zu sein schien und zu sein vorgab, durch viele Jahre hin immer nur ihrerseits gespielt hatte« (LA, S. 105), worin ein manipulativer und damit ein eigentlich superiorer Gestus erkennbar wird. 75 Ein ministerielles Diner kommentiert Van der Straaten wie folgt: »Alles sondirt und abgemacht. Was noch aussteht, ist Form und Bagatelle. […] Melanie, wir haben heut einen guten Schritt vorwärts gethan. Ich verrathe weiter nichts.« (LA, S. 95) 76 Mende, Frauenleben, S. 190. 77 Franziska Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld 2009 (= Figurationen des Anderen. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 1), S. 64. – Schößler stellt in ihrer Untersuchung von Fontanes L’Adultera pointiert heraus, wie über die Figuren Van der Straatens und Rubehns die Interdependenz ökonomischer und antisemitischer Diskurse reflektiert wird: »Dass der Börsendiskurs auf subtile Weise notorische antijüdische Phantasien (wie Lüsternheit, Arbeitsunwilligkeit, fehlende Originalität) aufnimmt, lässt sich an-
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mizil seiner Frau und Töchter, »jedem, der es hören wollte, [erklärt,] daß dies die stundenweis ihm nachgezahlten Flitterwochen seiner Ehe seien« (LA, S. 46), so setzt das ökonomische Vokabular im vorliegenden Fall zum einen »naheliegende Assoziationen und Anspielungen frei: Stundenliebe wie im Rotlicht-Milieu, mit der gezahlt wird«78 und erinnert an die zentralen Tauschwerte der Eheschließung, Geld auf Seiten Van der Straatens, Weiblichkeit und Körperlichkeit auf Seiten Melanies. Zum anderen lassen sich daran beispielhaft drei weitere entscheidende Ehekonflikte ableiten, die in L’Adultera eng miteinander verbunden sind: die kommunikative und sexuelle Dysfunktionalität sowie die Denunziation Melanies über explizite Rekurse auf Weiblichkeit und Erotik. Denn Van der Straatens Anzüglichkeiten legen nahe, in diesen eine kompensatorische Funktion für sexuelle Frustration in der Ehe zu erkennen.79 Die getrennten Wohn- und insbesondere Schlafräume in der mondänen Stadtwohnung des Paares, ein zeithistorisch durchaus unübliches und insofern vielsagendes Arrangement,80 verweisen auf das sexuelle Defizit ebenso wie auf Melanies Strategie, sich emotional und räumlich zu distanzieren. Dazu ist unbedingt der sommerliche Umzug in die Tiergartenvilla zu zählen, der ohne Van der Straaten unternommen wird. In seiner Abwesenheit genießt Melanie »das Glück ihrer Freiheit« (LA, S. 46), das noch dadurch gesteigert wird, dass sie von dem auferlegten Selbstzwang befreit ist, der sie allererst dazu befähigt, sich dem repressiven Diktat ihres Ehealltags unterzuordnen und die Zudringlichkeiten ihres Mannes zu ertragen: [A]ber dieses Zwanges los und ledig zu sein, blieb doch ihr Wunsch, ihr beständiges, stilles Verlangen. Und das erfüllten ihr die Sommertage. Da hatte sie Ruhe vor seinen Liebesbeweisen und seinen Ungenirtheiten, nicht immer, aber doch meist, und das Bewußtsein davon gab ihr ein unendliches Wohlgefühl. (LA, S. 46)
Mit Melanies Flucht in die »Park-Einsamkeit […], die wiederum kaum eine Einsamkeit war, denn neben der Natur, deren Sprache sie wohl verstand, hatte sie Bücher und Musik und – die Kinder« (LA, S. 46), klingt eine topi-
hand von Fontanes erstem Gesellschaftsroman ›L’Adultera‹ verfolgen, der das Profil eines jüdischen Börsianers entwirft und […] die emotionalen Dispositionen dieses Typus freilegt« (ebd., S. 41). 78 Mende, ›Wenig mit Liebe‹, S. 202. 79 Vgl. Mende, Frauenleben, S. 193. 80 Vgl. Renate Rauch-Maibaum, Zum ›Frauen-‹ und ›Männerbild‹ in Romanen Theodor Fontanes. Vergleichende Untersuchungen zu ausgewählten Romanen. Diss. masch., Köln 1991, S. 68.
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sche Weiblichkeitsvorstellung an, die die Frau als ›Naturwesen‹ konfiguriert. Doch die domestizierte und artifizielle Park-Natur gleichermaßen wie Melanies Beschäftigungen mit Literatur und Musik konterkarieren in ihrer unverkennbaren Kulturalität jene Konzeptualisierung und zitieren diese allenfalls ironisch. Der Hinweis auf Melanies musische Affinität, die im Widerspruch zu Van der Straatens Bevorzugung der Malerei steht, ist überdies ein »Anzeichen dafür, daß die Unvereinbarkeit von Musik- und Gemäldeliebhaberei so oberflächlich nicht ist, vielmehr ein Symptom mit ›Stellvertreterfunktion‹ für tiefgreifende Differenzen in dieser Ehe«81. Als ein solches ›Anzeichen‹ müssen auch die getrennten Sommerdomizile gelten, die topographisch – gewissermaßen als »Topographien der Geschlechter«82 – eine solche »Stellvertreterfunktion« erfüllen. Während seitens der Erzählinstanz »die uralte Auffassung vom Naturwesen Frau«83 gerade nicht bedient wird, begegnet in L’Adultera dafür eine Perspektivierung weiblicher Identität, die damit eng verknüpft ist: »[d]ie traditionelle Identifizierung von Weiblichkeit und Körperlichkeit«84. Indem jedoch ausnahmslos die männlichen Romanfiguren, allen voran Van der Straaten, als Projektoren und Multiplikatoren dieser Konzeptualisierung in Erscheinung treten, etabliert schon Fontanes erster Gesellschaftsroman ein Erzählprinzip, das auch für die Bearbeitungen von Weiblichkeitskonstruktionen in seinen nachfolgenden Romanen verantwortlich zeichnet: Fontane entwirft Frauenbilder in Männerwelten und stellt damit zugleich den von Männern geführten Diskurs über Weiblichkeit zitierend aus. Realisiert hat er diese Form reflektierten Schreibens über das weibliche Geschlecht durch die Erzählkonzeption: […] Weiblichkeit [wird] in Fontanes Romanen in der Regel nicht vom Erzähler entworfen, sondern vor allem von männlichen Romanfiguren imaginiert[.]85
Van der Straaten kann im Hinblick auf Fontanes Erzählwerk mithin als archetypische Männerfigur gelten, die entscheidend zum Weiblichkeitsdiskurs beiträgt, und zwar im Sinne männlich-repressiver Vorstellungen über weibliche Geschlechtsidentitäten. Gemäß seines Mottos, »was man ansehen darf, das darf man auch beschreiben« (LA, S. 9), ist es nur konsequent, dass für Van der Straaten primär
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Plett, L’Adultera, S. 75. Weigel, Topographien der Geschlechter. Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.‹, S. 119. Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 135. Ebd., S. 127. – Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 4.4.2.2 zum kolonialen Diskurs, der über das gleiche Textverfahren Eingang in Fontanes Romane findet.
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das reiche Darstellungsarsenal der Malerei als Agens und Spender für die Frauenbilder, für »die einengende Festlegung auf Präfigurationen und typisierende Vergleiche«86 fungiert, denen Melanie ausgesetzt wird. Auf der Landpartie ist es hingegen ein indirekt zitiertes Distichon Paul Heyses,87 das den Anlass zu einer »echt Van der Straaten’schen Expectoration« (LA, S. 68) darstellt: Also ich entsinne mich eines Distichons … bah, da hab’ ich es vergessen … Melanie, wie war es doch? Du sagtest es damals so gut und lachtest so herzlich. Und nun hast Du’s auch vergessen. Oder willst Du’s blos vergessen haben? […] Besinne Dich. Es war etwas von Pfirsichflaum, und ich sagte noch ›man fühl’ ihn ordentlich‹. Und Du fand’st es auch und stimmtest mit ein[.] (LA, S. 72)
Bereits der in geselliger Runde vorgebrachte Hinweis auf intime Details der ehelichen Sexualität kann gleichermaßen als hochgradig anstößig wie taktlos gelten; zudem wird Melanie über den Rekurs auf »sekundäre Geschlechtsmerkmale […] coram publico entblößt«88 sowie als »Hetäre assoziiert«89. Als Melanie sich gegen diesen Affront wehrt, indem sie »scharf« (LA, S. 72) den Aufbruch anmahnt, reagiert Van der Straaten seinerseits aggressiv und beharrt auf seinem vermeintlichen Recht zu derartigen Äußerungen: »Ich darf das sagen und jedenfalls will ich es sagen, und was ich gesagt habe, das habe ich gesagt.« (LA, S. 73) Während dieses Gespräch die Kluft zwischen dem Van der Straatenschen Ehepaar noch mehr vergrößert, stellt es zugleich »die Voraussetzung zu dem Weiteren«, der Annäherung Melanies und Rubehns dar, die sich »wieder[um] im Gespräch«90 ereignet. Der Begleitung Van der Straatens und seiner mäandernden Monologe ledig, kann das nonverbale »gemeinsame Sich-Abwenden« Melanies und Rubehns in Geste und Schamgefühl auf der Bootsfahrt schließlich im kommunikativen sich »Einander-Zuwenden fortgeführt«91 werden. Doch zunächst herrscht in ihrer Jolle weiterhin überwiegend Schweigen; dieses wird erst gebrochen, als sie sich »mitten auf dem Strom, außer Hörweite von den Vorauffahrenden« (LA, S. 76) befinden. Das Boot – nach Foucault »die Heterotopie schlechthin«92 – bietet in L’Adultera durch die Begleitung 86 Plett, L’Adultera, S. 72. 87 »Göttliches Weib! / ›O pfui, die Hetäre!‹ / Warum so entrüstet? / Hast du doch selbst wohl schon ›göttlicher Pfirsich’!‹ gesagt!« (LA, Anhang S. 242) 88 Mende, Frauenleben, S. 192. 89 Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 135. 90 Brinkmann, Theodor Fontane, S. 139. 91 Plett, L’Adultera, S. 83. 92 Foucault, Andere Räume, S. 46.
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eines zweiten Ruderschiffes per se noch keinen hinreichenden Möglichkeitsraum für die Annäherung der Figuren; erst die Kombination aus visueller und akustischer Entzogenheit vermag einen Schutzraum zu konstituieren und Nähe zu evozieren. Van der Straatens Sittenlosigkeit bietet für das kommunikative Bündnis zwischen Melanie und Rubehn dabei nicht die Kontrastfolie, sondern den unmittelbaren Gesprächsgegenstand, wenn Melanie den »Ton unsres Hauses« als »immer unpassend« charakterisiert und unumwunden das ›Talent‹ ihres Mannes benennt, »alles zu treffen, was kränkt und bloßstellt und beschämt.« (LA, S. 76) Mit dieser Distanzierung begegnet sie einerseits ihrer Furcht, bei Rubehn »könne der falsche Eindruck entstehen, sie würde solche Gewagtheiten akzeptieren, es könne ihr Feingefühl abgesprochen werden.«93 Andererseits kann Melanie in ihrem Wissen um Rubehns ablehnende Haltung gegenüber Van der Straaten geradezu eine strategische Absicht attestiert werden, weil sie der unverhohlen zugestandenen Verbitterung in ihrer Ehe hinzufügt: »Und weil ich es bin und es los sein möchte, deshalb sprech ich so.« (LA, S. 76) Indem Rubehn ihr die Unrechtmäßigkeit und Unangemessenheit ihrer Behandlung durch Van der Straaten widergespiegelt hat, verknüpft sich das Moment der Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung bei Melanie mit der forcierten Hoffnung, mit Rubehn könne eine andere Form der Partnerschaft möglich sein. Der Fortgang des Gesprächs gibt dieser Lesart ebenso recht wie der erzielte Erfolg: Auf Melanies Geständnis, in Rubehns Anwesenheit besondere Scham für Van der Straatens »ewige[n] Hinweis auf Dinge, die nur unter vier Augen gehören, und das kaum« (LA, S. 77), zu empfinden, folgt der kommunikativen die körperliche Vertraulichkeit in Form des Händehaltens. Bedingt durch ihre »individuelle Gestimmtheit und ihre psychologische Disposition«94 empfindet Melanie das treibende Boot als Allegorie der sich ankündigenden und von den Normen der Gesellschaft abweichenden Liebesbeziehung:95 »Die Sterne aber funkelten und spiegelten sich und tanzten um 93 Althoff, Weiblichkeit als Kunst, S. 24. 94 Plett, L’Adultera, S. 86. 95 In Graf Petöfy greift Fontane auf dieses in L’Adultera entwickelte Erzählmuster zurück, das die Anbahnung eines Ehebruchs mit dem Motiv- und Begriffsfeld eines treibenden Bootes gestaltet und parallelisiert. Indem das Boot dort in einen gefährlichen Strudel und das Paar in Lebensgefahr gerät, ist die Adaption aber unverkennbar dramatisch nuanciert. Auf das in existentieller Not geäußerte Liebesbekenntnis folgen die Rettung und schließlich der Ehebruch auf einer Insel (vgl. GBA I/7, S. 185ff.). Die Exterritorialität des Ehebruchs, seine Ansiedlung außerhalb der Gesellschaft und in der Natur wird durch die Topographie der Insel dabei noch potenziert. Betrachtet man die Folgen des Ehebruchs, so kann die These formuliert wer-
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sie her, und das Boot schaukelte leis und trieb im Strom und in Melanie’s Herzen erklang es immer lauter: wohin treiben wir?« (LA, S. 77) Zwar vermag es der Bootsjunge, das Ruderboot und mit ihm das Paar »aus der Strömung heraus« (LA, S. 77) zu navigieren und zurück auf den ›rechten‹ Weg zu bringen, doch gelingt dies im übertragenen Sinne nicht auf lange Dauer. Bevor das Boot das Ufer erreicht, greift Rubehn den letzten Vers des im anderen Boot intonierten Liedes auf: »›Schweig stille, mein Herze‹, wiederholte Rubehn und sagte leise ›soll es?‹ / Melanie antwortete nicht.« (LA, S. 78) »Auch das Schweigen als Nichtreden heißt hier Sprechen«96, womit nochmals jene Modi aufgerufen sind, in denen sich die Annäherung Melanies und Rubehns auf der Landpartie kommunikativ vollzieht. Als Rubehn eine Woche später das erste Mal in der Tiergartenvilla erscheint, adressiert er Melanie erneut als »meine gnädigste Frau« (LA, S. 79); ein bemühter Versuch, wieder in den offiziellen Umgangston zurückzufinden. Melanie besteht indes darauf, zur vertraulichen Freund/Freundin-Vokabel zurückzukehren. Derart wird sowohl im Text als auch im Figurenbewusstsein der Konnex zur Landpartie und zur entscheidenden Bootsfahrt hergestellt,
den, nach der die Dramatisierung, die existentiell-lebensbedrohliche Dimension in Graf Petöfy konsequent im Hinblick auf den tragischen Schluss des Romans konzipiert ist. – Auch in Unwiederbringlich und Effi Briest korreliert der sich ereignende Ehebruch mit einer Gesellschaftspartie und dem Element des Wassers, hier im Aggregatzustand von Schnee und Eis. In Unwiederbringlich geht dem Ehebruch eine Schlittschuhpartie voraus, in der Ebba und Holk gefährlich nah an jene Stelle fahren, an der das Eis endet und das offene Meer beginnt (vgl. GBA I/13, S. 219) – sie bewegen sich buchstäblich und im übertragenen Sinne auf dünnem Eis (vgl. dazu Michael White, ›Hier ist die Grenze […] Wollen wir darüber hinaus?‹ Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 109–123). In Effi Briest kommt es bei einer Schlittenfahrt zur körperlichen Annäherung zwischen Effi und Major Crampas; als initiierendes Moment kann hier der Schloon gelten, ein mit Meerwasser durchsetzter Treibsand, der ein Abweichen vom eigentlichen Weg erfordert. (Vgl. dazu exemplarisch Eckhardt Momber, ›Alles geht nämlich unterirdisch vor sich…‹. Fontanes Effi Briest oder die Falle der Natur. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hrsg.), Das verschlafene 19 Jahrhundert? Zur deutschen Literatur zwischen Klassik und Moderne, Würzburg 2005, S. 115–124.) – Auch in Schach von Wuthenow zieht ein treibendes Boot schicksalhafte Ereignisse nach sich. Schach flieht von der existentiellen Sinnkrise nach der Verführung Victoires getrieben auf das familieneigene Gut und findet in einem Boot den erhofften Ruheplatz. Das Treiben in der Strömung verweist dabei auf seine Orientierungslosigkeit, während sein Schlaf als Vorausdeutung des tragischen Romanverlaufs gelesen werden kann, indem der Schlaf metaphorisch seinen Suizid nach der Heirat Victoires abbildet (vgl. dazu Hehle, Unterweltsfahrten, S. 69f.). 96 Brinkmann, Theodor Fontane, S. 139.
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wo diese vertrauliche Anrede bereits gefallen ist. Fortgeführt wird diese wechselseitige Bezogenheit über die Motivik des Wassers und des Treibens, die die weitere Annäherung und schließlich den Ehebruch gestalterisch durchzieht. Das Wasser begegnet in dem gefassten Plan, Rubehn durch die Parkanlage und das sogenannte Aquarium zu führen. Van der Straaten, der selbst – wie sollte es im Sinne der scheinbar zufälligen Figurenchoreographie anders sein – nicht teilnehmen wird, sieht sich zum Erzählen folgender Anekdote und Warnung veranlasst: Ein Jahr zuvor habe sich »[n]icht mehr und nicht weniger als ein[ ] Ausbruch, [eine] Eruption« ereignet, als eine Glasscheibe platzte, infolgedessen alles unter Wasser stand und »alle Schrecken der Tiefe« (LA, S. 85) um sie herum zappelten. »[E]in großer Hecht umschnopert Melanie’s Fußtaille […]. Offenbar also ein Kenner. Und in einem Anfalle wahnsinniger Eifersucht hab’ ich ihn schlachten lassen« (LA, S. 85). Auch hier, wie bei der indirekten Zitation des Heyseschen Distichons, »werden van der Straatens Ängste, Melanie zu verlieren, erneut manifest« und »[w]iederum ist der Adressat Rubehn«97. Ungeachtet der in Ironie gekleideten Machtdemonstration kommt dem Element des Wassers hier ein subversives Potential zu, das Domestizierungsversuchen zuwider läuft. Der inhärente Anspielungsreichtum wirkt dabei gleichermaßen auf vergangene Ereignisse zurück und weist auf folgende voraus, steht diese Episode doch strukturell zwischen der Bootsfahrt und dem Ehebruch, der schließlich – nicht weniger bedeutungsreich – in einem Treibhaus stattfindet und den grenzüberschreitenden Normverstoß konstituiert. Während der Topographie damit terminologisch erneut das Wortfeld des Treibens eingeschrieben ist, greift Fontane mit dem Treibhaus zudem ein Motiv auf, das »nach 1880 […] zum festen Motivbestand der europäischen Literatur des Fin de siècle«98 gehörte. Das Treibhaus fungiert dort insbesondere als Schauplatz von Sinnlichkeit und Sexualität, basierend auf der Herstellung »eines kausalen Zusammenhang[es] zwischen dem bizarren Reiz der exotischen Pflanzenwelt, ihren betäubenden Düften […] und gesteigerter erotischer Lust«99. Einen solchen Zusammenhang kennzeichnet auch der Ehebruch in Fontanes L’Adultera, der aus Melanies Unvermögen resultiert, dem Einfluss der schwül-exotischen Atmosphäre auf ihre Konstitution zu widerstehen: [Ü]berall […] rankten sich Orchideen, die die ganze Kuppel mit ihrem Duft erfüllten. Es athmete sich wonnig aber schwer in dieser dichten Laube; dabei war es, als ob hundert
97 Mende, ›Wenig mit Liebe‹, S. 208. 98 Eilert, Im Treibhaus, S. 507. 99 Ebd., S. 506.
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Geheimnisse sprächen, und Melanie fühlte, wie dieser berauschende Duft ihre Nerven hinschwinden machte. Sie zählte jenen von äußeren Eindrücken, von Luft und Licht abhängigen Naturen zu, die der Frische bedürfen, um selber frisch zu sein. Ueber ein Schneefeld hin, bei rascher Fahrt und scharfem Ost – da wär’ ihr der heitere Sinn, der tapfere Muth ihrer Seele wiedergekommen, aber diese weiche, schlaffe Luft machte sie selber weich und schlaff, und die Rüstung ihres Geistes lockerte sich und löste sich und fiel. (LA, S. 94)100
Zwar repräsentiert das Treibhaus lediglich Formen domestizierter Natur und Exotik, und doch vermag es ähnlich wie genuin natürliche Räume, die Funktion eines Schutzraums, eines ›anderen Raumes‹ zu erfüllen und die Liebenden kurzzeitig in eine Idylle zu versetzen, die von der gesellschaftlichen Realität und ihren Restriktionen befreit ist. »Als derart von der umgebenden Welt abgetrennter und verschiedener Raum fungiert das Treibhaus ähnlich wie die Natur als ein Ort außerhalb des Einflußbereiches der bürgerlich-männlichen Ordnung, auch wenn das Palmenhaus ironischerweise gerade diese Ordnung reflektiert, und zwar als typisch gründerzeitliches monumentales Repräsentationsobjekt.«101 Innerhalb des Treibhauses, das eine hybride, natürlich-kulturelle Raumkonfiguration darstellt, umgibt das Liebespaar zusätzlich ein weiterer Schutzraum in Gestalt einer »phantastisch aus Blattkronen gebildete[n] Laube, fest geschlossen« (LA, S. 93). Während durch das Motiv der Laube einerseits auf die Natürlichkeit des Settings als Bedingung für den Ehebruch rekurriert wird, markiert es andererseits, nicht zuletzt über die räumliche Position der Laube im Treibhaus, nochmals explizit die für das Eingehen von Liebesverhältnissen konstitutive temporäre Suspension der lebensweltlichen Realität, wie sie auch für den Topos der Landpartie verantwortlich zeichnet: »Fontane akzentuiert diese Distanz von der Alltagswelt besonders stark, da die ›Laube‹ auf der Galerie des Palmenhauses einen zweiten, zusätzlich abge100 Auch in anderen Romanen Fontanes sind »körperliche Erscheinungen wie Erhitzung und Abkühlung mit seelischen Zuständen […] verknüpft« (Schürmann, Der ›Fontanesche Treibhauseffekt‹, S. 53). Erinnert das Bild einer Schneefahrt und die damit assoziierte Selbstbestimmtheit an die Schlittenpartie und die Figur Kathinkas in Vor dem Sturm, stellt in Effi Briest »›Luft‹ – verstanden als Atemluft, Lebensluft und Luft im physikalisch-klimatischen Sinne – […] ein wesentliches Strukturmerkmal des Romans dar« (Karin Tebben, Effi Briest, Tochter der Luft: Atem, Äther, Atmosphäre – zur Bedeutung eines Motivs aus genderspezifischer Sicht. In: New German Review 17 (2001–2002), S. 84–106, hier S. 85). Wie in L’Adultera, geht das Fehlen frischer Luft in Effi Briest mit einem Verlust der Widerstandskraft der Protagonistin einher und mündet im Ehebruch, der ebenfalls durch Blattwerk eingehegt ist: »Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft und Licht um sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen wölbten sich über ihr.« (GBA I/15, S. 189) 101 Harnisch, Keller, Raabe, Fontane, S. 140.
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sonderten Bereich innerhalb des Treibhauses selbst darstellt.«102 – Doch auch textintern wird die Reminiszenz an die Landpartie, speziell die Korrelation von Wasser, Treiben und Normverstoß, nach dem Ehebruch explizit geweckt, denn über Melanie heißt es, »sie schwieg und war weit fort. Auf hoher See. Und in ihrem Herzen klang es wieder: Wohin treiben wir?!« (LA, S. 95)
5.2.2.2 »Cécile« Das Motiv einer natürlich gebildeten Laube, die in L’Adultera das Liebespaar schützend umschließt, greift Fontane in seinem Roman Cécile im Rahmen der Partie nach Altenbrak erneut auf: Das ebenso spielerisch und wie scheinbar zufällig zusammengeführte Figurenpaar Cécile und Gordon biegt auf dem Weg in einen »Birkenweg ein, der sich, wie man vermuthet hatte, durch die Schonung hinzog und an manchen Stellen eine vollkommene Laube bildete.« (C, S. 96) Auch hier umschließt die Laube ein potentielles Liebespaar, das sich gegenseitig Interesse und Attraktion bekundet. Doch obwohl sich beide nur in Begleitung eines Eselsjungen befinden, folgt der Erwähnung eines natürlich gebildeten Schutzraums keine nennenswerte Annäherung der beiden Figuren. Zwar betont das Motiv der Laube die Potenzialität einer derartigen Annäherung, allerdings handelt es sich nicht um eine Laube, die punktuell das Paar umschließt, sondern um eine ungenaue Vielzahl, »an manchen Stellen«. Dann jedoch bilden die Birken, ihrerseits Symbol des Neubeginns, »eine vollkommene Laube«. Obwohl Fontane hier entgegen der allgemeinen und durch das etablierte Erzählmuster ›Landpartie‹ geschürten Erwartung keine Liebesszene gestaltet, bereitet er damit die intensivste Annäherung Gordons und Céciles gleichsam vor und dehnt den Spannungsbogen. Diese Annäherung vollzieht sich erst auf dem Rückweg von Altenbrak, den das Ehepaar St. Arnaud diesmal gemeinschaftlich »und mit ihnen selbstverständlich auch Gordon« (C, S. 118) unternimmt, was angesichts der so herbeigeführten Dreierkonstellation als eine überraschende Variation gelten kann. Die aus dieser Konstellation resultierende Schwierigkeit einer Figurenchoreographie, die eine intime Situation herbeiführen könnte, wird im Text zunächst bestätigt. Zu dritt und in gemeinsamer Unterhaltung reiten St. Arnaud, Cécile und Gordon auf einem Weg, »nur gerade breit genug, um in gleicher Linie nebeneinander bleiben zu können.« (C, S. 120) Während die Enge des Weges in der Landpartie-Bearbeitung im Stechlin gerade die Ausdif-
102 Eilert, Im Treibhaus, S. 509.
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ferenzierung der Gesellschaft in Gesprächspaare bedingt, wird in Cécile im Gegenteil gerade noch ein Zusammenbleiben erwirkt. Doch schließlich wird »eine Wegkreuzung erreicht, von der aus man in Entfernung von wenig mehr als fünfzig Schritt eines Denkmals ansichtig wurde.« (C, S. 121) Trotzdem Cécile friert, »weshalb ihr Gordon ein Plaid reichte« (C, S. 120), verlässt St. Arnaud kurz den Weg, um diese Kulturmanifestation inmitten der Gebirgslandschaft näher zu betrachten. In diesem kurzen Moment des Alleinseins kommt es zwischen Gordon und Cécile wie in L’Adultera zu einem Gespräch über den abwesenden Gatten. Dessen Verhalten veranlasst Cécile zu folgendem sarkastischen Kommentar, der »halb persönlich betroffen, halb spielerisch«103 implizit Gordons Galanterie als positiven Kontrast heranzieht: »›Lockt Sie’s nicht auch?‹ fragte Cécile mit einem Anfluge von Spott und bitterer Laune. ›St. Arnaud sieht mich frösteln und weiß, daß ich die Minuten zähle. Doch was bedeutet es ihm?‹« (C, S. 121) Wenn Gordon darauf erwidert, dass St. Arnaud »doch sonst voll Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme« (C, S. 121) sei, so entspricht er damit taktvoll und diskret gesellschaftlicher Konversationspraxis, die eine Verurteilung des Ehemannes verbietet.104 Anstatt wie Kahrmann zu konstatieren, Gordon maße sich in dieser Szene an, »rhetorisch verhüllte […] Kritik an St. Arnaud«105 zu üben, soll vielmehr die These aufgestellt werden, dass Gordon mit seiner Anerkennung St. Arnauds das strategische Ziel verfolgt, Cécile in der Bergszenerie zu einer affirmativen respektive negierenden Stellungnahme zu St. Arnaud zu bewegen. Das Resultat ist eine Kombination aus Affirmation und Negation, denn zwar antwortet Cécile »langsam und gedehnt« mit einem ›ja‹, doch »eine Welt von Verneinung lag in diesem Ja.« (C, S. 121) Gordon, »der nunmehr [vollends; M. B.] in Pierre von St. Arnaud den ungeliebten, unmöglichen Ehemann zu sehen beginnt«106, fühlt sich nach diesem Dialog hinreichend dazu ermutigt, sich Cécile im Schutz der dunklen Gebirgslandschaft und ermöglicht durch die relative räumliche Distanz zum abwesenden Ehemann körperlich zu nähern: »Gordon aber nahm ihre lässig herabhängende Hand und hielt und küßte sie, was sie geschehen ließ. Dann ritten Beide schweigend nebeneinander her, bis sich St. Arnaud ihnen wieder gesellte.« (C, S. 121) Während bei
103 Hohendahl, Theodor Fontane: Cécile, S. 384. 104 Auch Rubehn sieht sich in L’Adultera auf der Bootsfahrt zunächst dazu veranlasst, auf Melanies Klage zu entgegnen, Van der Straaten sei »anders als andre. Aber er liebt Sie, glaub’ ich … Und er ist gut.« (LA, S. 77) 105 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 99. 106 Hohendahl, Theodor Fontane: Cécile, S. 384.
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Fontane der leidenschaftliche Handkuss oft die Funktion einer Metonymie innehat und für den Ehebruch steht, so z. B. in Effi Briest,107 bleibt die körperliche Nähe zwischen Gordon und Cécile darauf beschränkt. Céciles Grad der Affektion bleibt gemäß der narrativen Vergegenwärtigung des Romans ungewiss, ist dieser doch »über weite Strecken personal aus [d]er Sicht [Gordons; M. B.] geschrieben und folglich Cécile aus seiner Sicht behandelt und ›erzählt‹«108. Während der Text in dieser Szene eine Passivität Céciles nahelegt, die Gordons Handküsse »geschehen ließ« und weder explizite Zustimmung noch Abwehr signalisiert, was durch das Schweigen, das Ausbleiben einer kommunikativen Verständigung flankiert wird, präsentiert das nächste Kapitel das Geschehen nochmal und dezidiert im Spiegel von Gordons Wahrnehmung. In der Rekapitulation des Tages »hörte [er] wieder das langgedehnte ›ja‹, das doch ein kurzes ›nein‹ war, und fühlte noch einmal den erwidernden Druck ihrer Hand.« (C, S. 125) Retrospektiv erweist sich die Deutung von Céciles Antwort und Intonation damit als mögliches Produkt der Interpretation Gordons, wozu ebenso die Wahrnehmung ihres »erwidernden« Händedrucks zu zählen ist. Vor diesem Hintergrund muss es zum einen »nicht unbedingt bedeuten, daß der Händedruck erwidernd gemeint war, sondern daß Gordon ihn so interpretiert«109, zum anderen ist generell nicht zweifelsfrei zu bestimmen, ob dieser Händedruck überhaupt erfolgte. Als gesichert gelten kann nur, dass eine Berührung stattgefunden hat, die wie jede Berührung nicht zuletzt ein selbstreferentiell-subjektives Erleben kennzeichnet. So »impliziert diese Taktilität [zwar; M. B.] Nähe«, doch ist sie »selbst- und fremdbezüglich zugleich: [Denn] im Berühren wird der Berührende selbst berührt.«110 Mithin erscheint ein Forschungsansatz hoch problematisch und streitbar, der diese Szene hinsichtlich der »Schuldfrage in Fontanes ›Cécile‹«111 heran107 »›Effi,‹ klang es jetzt leis an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an.« (GBA I/15, S. 190) 108 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 134. 109 Lilo Weber, ›Fliegen und Zittern‹. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky, Bielefeld 1996, S. 47. 110 Carola Blod-Reigl, ›…der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen…‹. Zum Sinnesdiskurs in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Horst Brunner, Claudia Händl et al. (Hrsg.), helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur, Göppingen 1999 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 668), S. 403–431, hier S. 419. 111 Gerhard Friedrich, Die Schuldfrage in Fontanes ›Cécile‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 520–545.
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zieht und konstatiert, die Geste des Händedrucks habe Gordon ein Entgegenkommen signalisiert und Cécile habe daher die tragische Entwicklung mitzuverschulden.112 Im Wissen um die »Forderungen und Rücksichtslosigkeiten« (C, S. 202), auf die Gordon im weiteren Handlungsverlauf in seiner Sprache und seinem Verhalten gegenüber Cécile ein Anrecht zu haben glaubt, sobald er Kenntnis über ihre Vergangenheit als Fürstengeliebte erlangt, besteht Céciles ›Schuld‹ allenfalls darin, die Liebkosung Gordons auf der Partie nach Altenbrak nicht abgewehrt und ihrem Mann verschwiegen zu haben. Nach dem in Berlin erfolgten Affront Gordons, seinen öffentlich zur Schau gestellten Begehrlich- und Zudringlichkeiten, fordert St. Arnaud Cécile dazu auf, über den Grad ihres Verhältnisses zu Gordon Rechenschaft abzulegen. Cécile rekurriert dabei – nicht ohne Hintersinn – ausschließlich auf ihre Konversationen, so sei während der Sommerfrische »kein Wort […] gesprochen worden, das sich nicht gleichzeitig an alle Welt […] gerichtet hätte.« (C, S. 205) Die leidenschaftliche Geste Gordons auszusparen, kann von Céciles Befürchtung zeugen, »Gordon gründe[ ] u. a. hierauf seine […] Ansprüche«113 auf sie. – Jenseits einer dezidierten Schuldzuweisung respektive Unschuldsvermutung wird damit am Ende des Romans narrativ erneut die Relevanz der Altenbraker Partie für das Gesamt der Romanhandlung betont, wenn es über Cécile heißt, dass sie im Zuge ihrer Rechtfertigung »des Heimrittes von Altenbrak gedenken mochte« (C, S. 205). Bleibt ihre Gedanken- und Gefühlswelt zwar weiterhin nur Vermutung, soll über die von jener Szene ausgegangene Dynamik auf den Fortgang der Handlung, den Normverstoß und seine Sanktionierung indes kein Zweifel bestehen. Das narrative Spiel um Gestik und Gespräch, um Eindeutig- und Uneindeutigkeit auf dem Rückweg von Altenbrak nach Thale betrifft nicht allein Céciles Reaktion auf Gordons Annäherung, sondern zeigt sich auch hinsichtlich der St. Arnaudschen Ehe. Bleibt ihre Haltung gegenüber dem Ehemann in der Kommunikation mit Gordon angesichts des potentiell personalen Erzählens ungewiss, verrät ihre Körpersprache kurz darauf deutlich eine Abwehrreaktion. Auf einen »übermütig und spöttisch« geäußerten Kommentar St. Arnauds, heißt es über Cécile, »sie bog sich bei seiner Annäherung unwillkürlich zur Seite.« (C, S. 122) Diese abwehrende Geste steht symptomatisch für die Diskrepanzen innerhalb der St. Arnaudschen Ehe, die in ihren Ursachen und in den Formen ihres Ausdrucks unverkennbare Parallelen zu Fontanes erstem Frauenroman L’Adultera aufweisen.
112 Vgl. ebd., S. 525f. 113 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 99.
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Auch in Cécile ist die Ehe nicht Resultat einer Liebesheirat sondern eine Transaktion von männlichem Status und weiblicher Schönheit – wenn auch unter gänzlich anderen Voraussetzungen geschlossen. Angesichts der moralisch korrumpierten Vergangenheit Céciles in den Augen der Gesellschaft eine Mesalliance eingehend, beharrte St. Arnaud aus »Herbheit, Trotz und Eigenwillen« (C, S. 8) dennoch darauf, Cécile zu heiraten. Zwar bezahlt St. Arnaud die Verbindung mit seinem Scheiden aus militärischen Diensten und mit sozialer Ausgrenzung (als Folge des tödlich endenden und anlässlich der Verlobung ausgetragenen Duells mit Dzialinski), doch gewinnt er mit Cécile, ihrer Jugend und Schönheit ein Repräsentationsobjekt und Statussymbol an seiner Seite. Für Cécile hingegen versprach die Heirat mit St. Arnaud neben ökonomischer Sicherheit zudem eine Möglichkeit, ihre Ehre innerhalb der Institution der Ehe immerhin partiell zu restituieren. Dass »[d]er Versuch der ersehnten Rehabilitierung durch die Gesellschaft mißlingt«114, durch den Tod Dzialinskis zusätzlich erschwert, besiegelt letztlich die folgenschwere Bekanntschaft mit Gordon, die dessen und Céciles Tod zur Folge hat. Die Motive, die St. Arnaud ehedem zur Heirat bewogen, prägen auch sein Verhalten als Ehemann. Von aufrichtiger Liebe zu Cécile könne bei St. Arnaud keine Rede sein, wie die hellsichtige Rosa räsoniert: »Und wenn es Liebe wäre, wenn wir’s so nennen wollen, nun so liebt er sie, weil sie sein ist, aus Rechthaberei, Dünkel und Eigensinn und weil er den Stolz hat, eine schöne Frau zu besitzen.« (C, S. 168) Entsprechend ist es sein verletzter Stolz und nicht das Gefühl der Eifersucht, der ihn am Ende die Duellforderung an Gordon aussprechen lässt. »Nicht das Liebesabenteuer als solches weckte seinen Groll gegen Gordon«, vielmehr fühlt sich St. Arnaud »an seiner empfindlichsten, wenn nicht an seiner einzig empfindlichen Stelle getroffen, in seinem Stolz.« (C, S. 207) Eingedenk der patriarchalisch strukturierten Gesellschafts- und Geschlechterordnung und dem herrschenden Männlichkeitsrespektive Ehrenkodex wird das »Duell zwischen Arnaud und Gordon […] zwar Céciles wegen ausgetragen, gerächt werden soll jedoch nicht ihre verletzte Person und Integrität, sondern der von Gordon mißachtete Besitzstand Arnauds.«115 114 Mende, Frauenleben, S. 197. 115 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 145. – Siehe hierzu auch Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991, S. 223: »Die Beleidigung ging gleichsam über die Frau hinweg auf ihren Gatten über oder, falls sie unverheiratet war, auf ihren Vater […]. Die Frau als ursprünglich Angegriffene verschwand gänzlich aus dem Blickfeld und räumte den Kampfplatz, um ihn Männern zu überlassen.«
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Die geschlechtsspezifisch codierten Dichotomien von Aktivität und Passivität, von Subjekt- und Objektstatus machen sich dabei nicht erst im Duell geltend, sondern prägen durchgehend die von »Männerdiskurse[n]«116 bestimmte narrative Komposition des Romans ebenso wie die St. Arnaudsche Ehe. »Sind die männlichen Hauptfiguren des Romans als Repräsentanten« der patriarchalischen Gesellschaftsordnung »und als handelnde Subjekte zu lesen, so sind Cécile von St. Arnaud dagegen in erster Linie der Objektstatus und die unterlegene Position innerhalb dieser Machtverhältnisse eingeschrieben.«117 Die Verdinglichung Céciles und die Demonstration ihrer Unterlegenheit manifestieren sich insbesondere in ihrer Stigmatisierung als Kranke, die St. Arnaud in der Öffentlichkeit beständig betreibt und in der die entscheidenden Fäden des von den männlichen Romanfiguren getragenen Diskurses über Weiblichkeit zusammenlaufen: »Weiblichkeit, Schwäche und Krankheit gehören untrennbar zusammen.«118 Anlässlich des ersten gemeinsam mit Gordon unternommenen Gebirgsspaziergangs zu Beginn ihrer Bekanntschaft, entpuppt sich eine vermeintliche Rücksichtnahme St. Arnauds auf den Gesundheitszustand Céciles recht eigentlich als »verbale Erniedrigung und Bloßstellung seiner Frau«119: »Werden auch deine Nerven ausreichen? […] Der Abstieg ist etwas steil und fährt in Kreuz und Rücken, oder um mich wissenschaftlicher auszudrücken, in die Vertebral-Linie.« (C, S. 36) Während Van der Straaten in L’Adultera über ein indirekt zitiertes Distichon die Literatur bemüht, lässt Fontane St. Arnaud »sich eines Diskurses bedienen, der zu jener Zeit den Männern vorbehalten war, der Wissenschaftssprache nämlich.«120 Der Gestus beider Ehemänner und der Gehalt ihrer Äußerung sind hingegen deckungsgleich: die der Demonstration der eigenen Dominanz inhärente Aggression, die explizite und nur scheinbar verklausulierte Referenz auf intime Details ebenso wie die implizite Adressierung der in Gestalt von Rubehn und Gordon anwesenden Dritten. Wie Melanie, wird »Cécile vor den Anwesenden in Gedanken entkleidet und auf ihren Körper und ihre Körperlichkeit reduziert«121 und die (sexuelle) Verfügungsgewalt über sie demonstriert. Indem St. Arnaud unter Missachtung von Sittlichkeit und Anstand sowie der persönlichen Scham-
116 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 136. 117 Hiltrud Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹. Krankheit und Tod in ausgewählten Texten Theodor Fontanes, Hamburg 2000 (= Argument Sonderband, Bd. 276), S. 111. 118 Weber, ›Fliegen und Zittern‹, S. 59. 119 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 145. 120 Weber, ›Fliegen und Zittern‹, S. 77. 121 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 145.
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grenze Céciles jenes »Lokal-Detail« (C, S. 36) ihres Körpers benennt, wird »deutlich, wo er die Gebrechen seiner Frau lokalisiert«122 – in ihrem Unterleib. Die Sexualisierung Céciles durch St. Arnaud, die mit der männlich perspektivierten Stigmatisierung als Hysterikerin korreliert,123 macht sich auch auf dem Heimritt von Altenbrak geltend, wenn er doppeldeutig fragt: »Wollen wir einen Contre machen? Oder bist du für Extra-Touren?« (C, S. 122) Es sind diese frivolen Anspielungen St. Arnauds, die Cécile zu ihrer abwehrenden Reaktion, der »unwillkürlich« ausweichenden Körperbewegung veranlassen.124 Diese Abwehr Céciles erklärt sich vor dem Hintergrund des skizzierten ehelichen Verhältnisses nicht als Distanzierungsstrategie, die lediglich einem situativen Unmut entspringt, sondern vielmehr als Effekt eines genuinen Leidensdrucks. Außerdem kann der Modus der Ablehnung, die dezidiert nonverbal erfolgt, als in mehrerlei Hinsicht symptomatisch gelten. »Céciles Schweigen entspricht« hier »Gegebenheiten der patriarchalischen Gesellschaft der Gründerzeit sowie der gesellschaftlichen Stellung der Frau; darüber hinaus spiegelt es zudem die Machtverhältnisse innerhalb der Arnaudschen Ehe wider.«125 Während dieses narrative Verfahren der Kontrastierung von Schweigsam- und Gesprächigkeit auch in anderen Romanen Fontanes zu beobachten und allgemein als kritischer Reflex gesellschaftlicher und politischer Geschlechterdiskursivierungen zu verstehen ist, vergegenwärtigt der Roman Cécile dieses Verfahren mit einer besonderen Tiefenschärfe. Denn eingedenk der Erzähltechnik wird die Figur Cécile »nahezu ausschließlich aus der Perspektive der ihr zur Seite gestellten Männer, vornehmlich aus der Sicht Arnauds und Gordons wahrgenommen«126, besprochen 122 Mende, Frauenleben, S. 197. 123 »Das hysterische Leiden wird im Krankheitsdiskurs der Jahrhundertwende unzweifelhaft mit der weiblichen Sexualität in Verbindung gebracht« (Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 145). Vgl. zum textstrategischen Verfahren, die Pathologisierung Céciles als Hysterikerin dem von Männern geführten Diskurs über Weiblichkeit in Cécile zuzurechnen, auch die Ausführungen in Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Studie. – Dem Hysterie-Diskurs in Cécile gehen darüber hinaus folgende Forschungsbeiträge mit teils stark divergierenden Ergebnissen nach Mende, Frauenleben; Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.‹; Treder, Von der Hexe zur Hysterikerin; Weber, ›Fliegen und Zittern‹; Bontrup, ›…auch nur ein Bild‹. 124 Die inhärente Frivolität St. Arnauds erschließt sich vollends, »wenn er die wiederholt angeschnittene Hexenthematik mit Bildern von kopulierenden Mönchen und Nonnen anreichert« (Rauch-Maibaum, Zum ›Frauen-‹ und ›Männerbild‹ in Romanen Theodor Fontanes, S. 108). 125 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 148. 126 Ebd., S. 141.
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und präfigurierend mit einer ganzen Bildergalerie von Weiblichkeitsimagines versehen. Variieren auch die kulturgeschichtlichen Bildspender, deren Skala von »Darstellungen der bildenden Kunst«, über »[l]iterarische Bilder und Vorbilder« bis zu »[s]ozialgeschichtlich bzw. mentalitätsgeschichtlich präfigurierte[n] Bilder[n]«127 reicht, läuft das aufgerufene Bildarsenal gleichwohl konzentrisch auf einen gemeinsamen Nexus zu: die Konzeptualisierung und Ineinssetzung von Weiblichkeit, Naturhaftigkeit, Körperlichkeit und Sexualität. Cécile wird konfiguriert als Hysterikerin, Hure, Hexe, Heilige, ›femme fatale‹ und ›femme fragile‹,128 als »Polin oder wenigstens polnisches Halbblut« (C, S. 15), als »Zoë oder Zuleika« (C, S. 138),129 als »Lady Macbeth« (C, S. 121), als »das Naturhafte« unter Betonung der »triebhaft-kreatürliche[n] Seite ihrer Existenz«130, als »Fürstengeliebte, Favoritin in duplo« (C, S. 174), als »Queen Mary«, die »[e]twas Katholisches, etwas Glut und Frömmigkeit und etwas Schuldbewußtsein« (C, S. 127f.) hat (um nur eine Auswahl zu nennen), und ist »zugedeckt und begraben von einer Fülle von Fremdbildern, von Typisierungen und Vorurteilen, von individuellen und kollektiven Männerphantasien.«131 Während Melanie in L’Adultera einen solchen Oktroi männlicher Zuschreibungen ausschließlich durch ihren Ehemann und nicht durch den die Figur des Dritten verkörpernden Rubehn zu erdulden hat, ist es in Cécile neben St. Arnaud insbesondere Gordon, der die Protagonistin in seinem Bemühen, ihrer betörenden Rätselhaftigkeit habhaft zu werden, »zunehmend in seine Bilderwelt integrier[t]«132. So fragt er sich selbst, »woran erinnert sie mich? An wen? Oder an welches Bild?« (C, S. 127) Wenig später sind es »[h]undert Bilder«, die »an ihm vorüber [ziehen] und inmitten jedes einzelnen stand die schöne Frau.« (C, S. 130) Diese Bilder- und Bebilderungsmanie 127 Plett, Rahmen ohne Spiegel, S. 234 (im Original kursiv). 128 Vgl. Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.‹, S. 118ff. 129 »Der […] Faszinationstyp ›Femme mauresque‹ war ein bildliches Stereotyp in der europäischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Laszivität, Sinnlichkeit, eine aufreizende Apathie und gelegentlich auch eine verführerische Melancholie gehörten zu diesen gemalten Projektionen« (Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 130). 130 Manfred Durzak, Die ›Welt ist kein Treibhaus für überzarte Gefühle.‹ Eros und Gewalt in Fontanes ›Cécile‹ und anderen Texten. In: Fontane Blätter 78 (2004), S. 122–137, hier S. 127. – Wie Effi, wird auch Cécile durch Gordon infantilisiert und zudem der Luft und mithin dem Elementaren zugerechnet: »Sie war wohl eigentlich, ihrer ganzen Natur nach, auf Reifenwerfen und Federballspiel gestellt und dazu angetan, so leicht und graziös in die Luft zu steigen, wie selber ein Federball.« (C, S. 62) Vgl. zu jener Metaphorisierung in Effi Briest Tebben, Effi Briest, Tochter der Luft. 131 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 74. 132 Fischer, ›Gemmenkopf‹ und ›Nebelbild‹, S. 130.
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Gordons findet dabei keineswegs mit dem Moment ein Ende, als er über Céciles Vergangenheit als Fürstengeliebte Gewissheit erlangt – im Gegenteil. Vielmehr nimmt nicht allein die Quantität sondern auch die Qualität, im Sinne ihres verheerenden Impakts auf ihn und sein Begehren, der sich überlagernden Bilder zu: »[T]ollste Bilder schossen in ihm auf und jagten sich, und ein Schwindel ergriff ihn.« (C, S. 197) Mag Gordon »zwar zu Beginn des Romans galanter als St. Arnaud erscheinen, seine Besitzansprüche werden indessen mit dem Aufdecken des Romans dahinter entwickelt.«133 Die unmittelbare Veränderung seines Tons und seines Benehmens klären Cécile nicht nur zweifelsfrei darüber auf, dass Gordon Kenntnis über ihre Vorgeschichte erhalten hat. Darüber hinaus wird sie in der Hoffnung desillusioniert, Gordon vereinnahme und reduziere sie nicht in gleicher Weise wie ihr Ehemann auf ihre Weiblichkeit und Sexualität. Ihre eindringliche Bitte, »[b]leiben Sie mir, was Sie waren« (C, S. 184), mit der Cécile Gordons verändertem Benehmen begegnet, artikuliert ihr verzweifeltes Bemühen, das Bild, das sie sich von ihm gemacht hat, nicht rückwirkend zerstört zu sehen. Zugleich gibt Cécile zu erkennen, dass sie weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart eine Intimisierung ihres Umgangs jenseits der Grenzen von Anstand und Sitte intendierte. Indem die narrative Vergegenwärtigung Céciles über weite Strecken an die männlichen Figuren delegiert wird und sie im Spiegel ihrer vielfältigen Projektionen und Präfigurationen erscheint, versammelt der Roman ein eindrückliches Panorama kulturgeschichtlicher Frauenbilder und führt die solcherart verhandelte »Weiblichkeit […] als eine diskursive Konstruktion des 19. Jahrhunderts vor[ ].«134 Die ›wahre‹ Cécile muss in dem beständigen Wechsel der Passepartouts, der mentalitätsgeschichtlichen, literarischen und ikonographischen Archetypen, in die sie eingepasst werden soll, notwendig konturenlos bleiben. »[D]enn nur so, als ›Seins-Hülle‹, kann die Frau mit den unterschiedlichen, je nach Bedarf wechselnden Identitätsvorstellungen von Weiblichkeit ausgefüllt werden.«135 Céciles Ohnmacht, angesichts dieses Oktrois männlicher Zuschreibungen eine selbstbestimmte Identität zu konstituieren, kommuniziert sich überaus vielsagend in ihrem Schweigen: Sie ist »Objekt der männlichen Rede, nicht aber das Subjekt einer Selbstdarstellung«136 – eine eigene Stimme bleibt ihr verwehrt.
133 Weber, ›Fliegen und Zittern‹, S. 63. 134 Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 129. 135 Hanraths, Das Andere bin ich, S. 171. 136 Becker, Literatur als ›Psychographie‹, S. 97.
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5.2.2.3 »Schach von Wuthenow« Die Landpartie als Setting (non-)verbaler Kommunikation, die weitreichende Folgen für den Verlauf der Romanhandlung zeitigt, indem der topographischen eine normative Grenzüberschreitung nachfolgt, präsentiert auch Schach von Wuthenow. Mehr noch, Fontane lässt seine Protagonistin Victoire selbst explizit benennen, dass die auf dem Terrain der Landpartie empfundene Dispensierung sozialer Normen und Konventionen zugleich eine sprachliche Ungezwungenheit bedingt und das Unsagbare zum Sprechen gebracht werden kann: »Solche stillen Abende, wo man über Feld schreitet, und nichts hört als das Anschlagen der Abendglocke, heben uns über kleine Rücksichten fort und machen uns freier. Und sind wir erst das, so findet sich auch das rechte Wort.« (SvW, S. 48) Das »rechte Wort«, mit dem Victoire hier im Brief an die Freundin einen Antrag Schachs an ihre Mutter meint, wird auf der Spazierfahrt nach Tempelhof jedoch nicht gesprochen. »Sprache, die, im vorschriftsmäßigen Rahmen der günstigen Situation, Klarheit in den Beziehungen schaffen soll, stiftet Unklarheit und Verwirrung. Unter der Decke gesellschaftlich korrekter schöner Ordnung, verziert von geistreicher Konversation, kündigen sich Wirrungen an.«137 Denn Schach findet in den vertraulichen Spaziergesprächen mit Mutter und Tochter jeweils Worte, die beiden Zuhörerinnen seine Zuneigung versichern: »Die Szene, die Entscheidung bringen sollte, läßt alles offen«138 und fungiert darüber hinaus sogar als unheilvoll dynamisierend. Das erste, auf dem Weg zur Tempelhofer Dorfkirche geführte Gespräch zwischen Josephine von Carayon und Schach kann dezidiert als ein Flirt bezeichnet werden: Im plaudernden Gesellschaftston bekennt sich die Dame zu ihrer Eifersucht ob einer ihr zu Ohren gekommenen Bekanntschaft zwischen Schach und einer schönen Fürstin. Während sich in Frau von Carayons Sprache Scherz und Ernst die Waage halten,139 verrät ihre physiologische
137 Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 54. – An anderer Stelle ihrer Untersuchung konstatiert Mittenzwei paradigmatisch, dass »[d]ie tragische Entwicklung von ›Schach von Wuthenow‹ […] von den Gesprächen ausgeht und sich in ihnen abspielt« (ebd., S. 61). 138 Ebd., S. 54. 139 Vgl. dazu auch Jürgen Manthey, Die zwei Geschichten in einer. Über eine andere Lesart der Erzählung ›Schach von Wuthenow‹. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, München 1989 (= Text+Kritik, Sonderband), S. 117–130, hier S. 125. – Anstatt in der scherzhaften Gefühls-Camouflage die weiblich codierte Rolle in der reglementieren Liebeswerbung oder gar ein gewollt unverbindliches Spiel zu erkennen, führt Manthey als Erklärung allein das enge Verhältnis zu Victoire an.
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Reaktion auf seine verbindlich-versöhnliche Antwort Schach indes ihre Affektion, denn »das Auge der schönen Frau leuchtete, während ihre Hand in der seinen zitterte.« (SvW, S. 37f.) Einem galanten Handkuss lässt Schach nämlich verbale Beteuerungen seiner Zuneigung folgen, die nachgerade als Liebesbekenntnis gelten könnten. Der nachgestellte Erzählkommentar, »[e]r hatte fast mit Bewegung gesprochen« (SvW, S. 37; Herv. M. B.), lässt diese Beteuerungen rückwirkend aber in einem anderen Lichte erscheinen: Ach, daß ich Ihnen alles sagen könnte. Theure Josephine, Sie sind mir das Ideal einer Frau: klug und doch ohne Gelehrsamkeit und Dünkel, espritvoll und doch ohne Mocquanterie. Die Huldigungen, die mein Herz darbringt, gelten nach wie vor nur Ihnen, Ihnen, der Liebenswürdigsten und Besten. Und das ist Ihr höchster Reiz, meine teure Freundin, daß Sie nicht einmal wissen, wie gut Sie sind und welch stille Macht Sie über mich üben. (SvW, S. 37)
Über die Interjektion »Ach«,140 den topischen Rekurs auf das Herz, die Adressierung der Gesprächspartnerin als »teure Freundin« und die Emphase ihrer Lobpreisung durch die Verwendung von Geminatio und Superlativen bedient sich Schach hier Kommunikationsformen, die an die »Rhetorik der Empfindsamkeit«141 gemahnen. Der Rückgriff auf dieses konventionalisierte und – auch 1806 schon – überkommene Kommunikationsmuster sowie seine unverkennbare Formelhaftigkeit lassen indes Zweifel an der Authentizität der von Schach so sprachmächtig verbalisierten Zuneigung aufkommen.142 Vielmehr liegt die These nahe, dass sich seine Zuneigung zu Josephine im flirtiven Gebrauch empfindsamer Kommunikation erschöpft und sich nachgerade ausschließlich in der »rhetorische[n] Inszenierung von Emotionen«143 realisiert. 140 »Am Anfang des Satzes […] signalisieren sie [Interjektionen] den emotionalen Wert der darauffolgenden Proposition« (Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, Tübingen 2013, S. 157). 141 Antje Arnold, Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 73). 142 Die Frage nach der Verbindlichkeit respektive Unverbindlichkeit empfindsamen Sprachgebrauchs im 19. Jahrhundert lässt eine Parallele zur Sprache der Galanterie im 17. Jahrhundert erkennbar werden: »Die Galanterie bewahrt in ihren Sprachformen und ihren Implikationen eine romanhaft-idealistische Semantik – für jeden Gebrauch. Sie ist für täuschendes und verführendes Verhalten ebenso wie für wahrhaft-liebendes Werben gesellschaftlich verbindlicher Stil; mit der Konsequenz, daß es schwer fällt, das Verhalten zu dechiffrieren und die wahre Liebe zu erkennen« (Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [1982], Frankfurt am Main 1994, S. 98). 143 Arnold, Rhetorik der Empfindsamkeit, S. 26.
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Schach selbst stützt diese These mit seiner vorausgegangenen Aussage, er schätze sich zwar glücklich, den mit der Fürstin verbrachten »Abend unter [s]einen Erlebnissen zu haben«, doch sei es ihm »eine noch größere Freude, mit [s]einer schönen Freundin darüber plaudern zu können.« (SvW, S. 37) Selbst unter Berücksichtigung des betriebenen Flirts wird dem kommunikativen Austausch gleichwohl ein größerer Stellenwert als dem individuellen Erleben eingeräumt. Auch wenn sich Josephine von Carayon einer Wirkung seiner Worte nicht entziehen kann, macht sie Schachs Eloquenz dennoch ironischen Tons zum Thema, indem sie auf den Topos der »Inkommunikabilität« der Liebe, »die Beschränkungen des sprachlichen Ausdruckvermögens«144 rekurriert: »Wie gut sie zu sprechen verstehen. Wissen Sie wohl, so gut spricht man nur aus der Verschuldung heraus.« (SvW, S. 38) Als ob er fürchtete, die rhetorische Inszenierung seiner Zuneigung über die Zitation empfindsamer Codes könne als solche von der Dame nicht dechiffriert werden, nimmt Schach die ironische Offerte dankbar auf, »[a]ber lassen wirs bei der Verschuldung« (SvW, S. 38), und leitet das Gespräch im Anschluss auf Sander und Bülow und somit auf ein ungefährliches Thema über.145 Doch Schach belässt es nicht bei dieser glücklichen Fügung, den kommunikativen Flirt mit der Mutter zwar fortgesetzt zu haben, ohne dabei jedoch der ›Gefahr‹ anheimgefallen zu sein, verbindliche Ansprüche zu evozieren. Stattdessen »wird der Ton [erneut; M. B.] dort emphatisch, wo er unverbindlich bleiben sollte, im Geplauder zwischen Schach und Victoire.«146 In völliger Verkennung der Notwendigkeit, das sprachliche Register zu wechseln, wenn er nun nicht länger mit der gesellschaftlich und in unverbindlicher Konversation versierten Mutter, sondern mit der Tochter spricht, verwendet Schach erneut eine empfindsame Anrede und nennt seine Gesprächspartnerin 144 Luhmann, Liebe als Passion, S. 155. – Luhmann weist der Inkommunikabilität noch eine weitere Bedeutungsdimension zu, die im vorliegenden Kontext ebenfalls einen gewissen Anspruch auf Gültigkeit hat: »Es geht, sehr viel radikaler noch, um das Problem, ob es nicht, und zwar gerade in Intimbeziehungen, Sinn gibt, der dadurch zerstört wird, daß man ihn zum Gegenstand der Mitteilung macht« (ebd.). 145 Wie sehr Schach in seinem Narzissmus den Realitätssinn Josephine von Carayons verkennt, wird an Kaisers hellsichtiger Charakterisierung der Beziehung aus Sicht der Dame deutlich: »Sie ist der folgenlosen, zeitlosen, sich nicht entwickelnden und verändernden, instabilen Beziehung zu Schach mit einer kaum merklichen Distanz und einem kaum spürbaren Wohlgefallen an der Folgenlosigkeit und Zeitlosigkeit dieser Beziehung hingegeben, von der ihr im Innersten klar ist, daß deren einzige Möglichkeit, Folgen zu gewinnen, nicht die Erfüllung in der Ehe, sondern Verzicht und Abschied ist« (Gerhard Kaiser, ›Schach von Wuthenow‹ oder die Weihe der Kraft. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 474–495, hier S. 480). 146 Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 54.
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»meine liebe Victoire« (SvW, S. 43). Während Schach damit einen Modus zu bedienen glaubt, der ihrer Vertrautheit und Sympathie entspricht, ohne dieser Formel eine tiefere Bedeutung zuzumessen, und er im Vergleich zu seinem Flirt mit Frau von Carayon bezeichnenderweise auf weitere Zuneigungsbekundungen verzichtet, ist die Wirkung auf Victoire dennoch fatal: »Und der Ton dieser Worte traf ihr Herz und zitterte darin nach, ohne daß sich Schach dessen bewußt gewesen wäre.« (SvW, S. 43f.) Die narrativ-chiastische Bezogenheit zu dem vorausgegangenen Flirt gründet in der Wiederkehr eines durch Schachs Worte ausgelösten Zitterns. Hatte er die zitternde Hand Josephines gespürt, mit der sie physiologisch auf seine Beteuerungen reagierte, zittert der Ton, in dem er sich unbeabsichtigt vergreift, nun von ihm unbemerkt in Victoires Herz nach. Auch Victoires Brief an die Freundin, in dem sie die Geschehnisse rückwirkend reflektiert, macht deutlich, »daß sie von Worten angerührt ist, die Schach ohne wahres Engagement gesprochen hat.«147 Dort berichtet Victoire: »Er sprach sehr anziehend, und in einem Tone, der mir ebenso wohltat, als er mich überraschte. Jedes Wort ist mir noch in der Erinnerung geblieben, und giebt mir zu denken.« (SvW, S. 48f.) Als wohltuend und überraschend muss Victoire Schachs sorglos emphatischen Ton empfinden, da dieser zum einen an ihre bislang uneingestandenen Gefühle appelliert und diese zum anderen scheinbar mit Zuneigung beantwortet. Böte dies Victoire bereits ausreichend Reflexionspotential, darf der Inhalt ihres Gesprächs mit Schach, seine Worte über die Tempelritter jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Schach zeigt sich von dem Orden begeistert und »überwältigt [von] seine[r] Größe« (SvW, S. 44), so dass sich Victoire alarmiert dazu veranlasst sieht, Ursache und Grad des entworfenen Identifikationspotentials mit dem »mönchische[n] Orden« (SvW, S. 44) zu ergründen: »Sie stellt in Frage, ob es ihrem Freund tatsächlich um Askese und Ehelosigkeit gehe oder ob nicht seine Eitelkeit, seine Schwäche für Äußerlichkeiten die entscheidende Rolle spielten.«148 Schach weist den erhobenen und allzu berechtigten Vorwurf der Eitelkeit indigniert zurück, bleibt in der Frage der Ehe(-losigkeit) indes eine konkrete Antwort schuldig. Denn seine Beteuerung, »[g]lauben Sie mir, es lebt etwas in mir, das mich vor keinem Gelübde
147 Ebd., S. 55. 148 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 257f. Liebrand rekurriert zudem auf die dem Dialog inhärente doch ungenutzte Möglichkeit Schachs, »eine partielle Demontage seines Ich-Ideals zuzulassen. Damit versäumt er die Chance (die Victoire ihm bietet), ein realistischeres Selbstbild zu generieren, eine Autoimago, die weniger makellos, dafür aber stabiler, schwerer zu destruieren wäre« (ebd., S. 258).
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zurückschrecken läßt« (SvW, S. 45), entbehrt eines dezidierten Signifikanten und schließt das Gelübde mönchischer Askese ebenso ein wie das Ehegelübde.149 »Victoires Frage: ›Um es zu halten?‹« bleibt unbeantwortet, aber »treibt in dunkler Ahnung und zugleich mit jeu d’esprit eine schlimme Vordeutung heraus«150, denn schließlich wird Schach das Ehegelübde letztlich brechen. Die unheilvolle Dynamik ihrer Gespräche und der Tempelhofer Spazierfahrt auf die nachfolgende Handlung und speziell auf die kurz darauf stattfindende Liebesszene wird narrativ dabei nicht nur durch die vorausdeutenden Implikationen geradezu extensiv ausgestellt.151 Auch topographisch bleibt die Verbindung zur Landpartie gewahrt, denn Schach findet bei seinem verhängnisvollen Besuch Victoire – im Sinne einer intendiert-zufälligen Figurenchoreographie – allein zu Hause vor. Diese »hatte sich auf dem Tempelhofer Felde leicht erkältet« (SvW, S. 73), als sie gemeinsam mit ihrer Mutter und in Schachs Kutsche, die »den Carayonschen Damen zur Disposition gestellt worden war« (SvW, S. 72), der Parade der friderizianischen Militärparade am Vormittag beiwohnte. Ihre Mutter ist gemäß »ihre[r] Passion für alles, was Schauspiel heißt« (SvW, S. 75), allein ins Theater gefahren. Noch dazu ist Victoire unmittelbar vor Schachs Ankunft in die Lektüre von Lisettes Antwortschreiben vertieft, das ihr die Geschehnisse der Landpartie, die durch Schach erfahrene Auszeichnung und Kränkung, der beim Betreten des Dorfes an den Arm ihrer schönen Mutter wechselte, erneut vor Augen führt und ihre Gefühlsverwirrung noch potenziert.152 Denn während Lisette hellsichtig 149 In ihrem letzten Brief an Lisette, der den Roman beschließt und Victoire das letzte Wort überlässt, unterschlägt Victoire – im Wissen um das nachfolgende Geschehen – die folgenreiche Mehrdeutigkeit. Vielmehr beansprucht sie, bereits in Tempelhof erkannt zu haben, »welchen Idealen er nachhing. Und unter diesen Idealen – all seiner Liaisons unerachtet, oder vielleicht auch um dieser Liaisons willen – war sicherlich nicht die Ehe.« (SvW, S. 157) 150 Kaiser, ›Schach von Wuthenow‹ oder die Weihe der Kraft, S. 478. 151 Im Hinblick auf Victoires Redebeiträge, zu denen auch ihre Einschätzung zählt, Schönheit mache »selbstisch, […] undankbar und treulos« (SvW, S. 45), heißt es abschließend: »[A]lles was sie gesagt hatte, so gewiß es absichtslos gesagt worden war, so gewiß war es doch auch aus einer dunklen Ahnung heraus gesprochen worden.« (SvW, S. 45) 152 Weber übersieht, dass Victoires Erkältung Folge der besuchten Militärparade und nicht der Spazierfahrt ist. Daher kann ihre Interpretation, die die Krankheit als Dreh- und Angelpunkt bestimmt, nicht überzeugen: »So ist es von Bedeutung, daß sich Victoire auf der Spazierfahrt nach Tempelhof erkältet hat, wo sie – der Spuren einer überwundenen Krankheit wegen [gemeint sind die Blattern; M. B.] – gedemütigt worden ist […]. […] Die Demütigung, die Victoire in Tempelhof widerfährt, ihre Erkältungskrankheit und die Liebensszene mit Schach bilden so eine Kette, zusammengehalten durch die Erkrankung Victoires. Die Demütigung kränkt Vic-
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diagnostiziert, Victoire hege insgeheim amouröse Gefühle für Schach, irrt sie hingegen fatal darin, Schach gegen den berechtigten »Argwohn« an seiner Zuneigung und »[s]einer Handlungsweise« (SvW, S. 74) zu rehabilitieren. Zudem versichert sie der von Blatternarben gezeichneten Victoire, »Dir lügt der Spiegel« (SvW, S. 74), womit dem Diskurs um Schönheit respektive Hässlichkeit der Boden bereitet ist, auf dem die Liebesbegegnung sich vollzieht. Schachs Besuch erklärt sich in dem Vorhaben, »nach dem Befinden der Damen zu fragen« (SvW, S. 75) und diesen zugleich eine Einladung des Prinzen anzukündigen, die dessen Geliebte bald überbringen werde. Anstatt indigniert ob dieses Verhältnisses zu reagieren, erklärt Victoire vielmehr freimütig, ihre Mutter habe sie »gelehrt, [s]ich über derlei Dinge nicht zu kümmern und zu grämen.« (SvW, S. 77) Darüber hinaus definiert sie die vorliegende gesellschaftliche Konstellation als »exzeptionell. Der Prinz ist ein Prinz, Frau von Carayon eine Witwe, und ich … bin ich.« (SvW, S. 77) Sieht Victoire die Gefahr gesellschaftlicher Ächtung im Hinblick auf den Prinzen und ihre Mutter gebannt durch den hochadeligen Status einerseits und die Witwenschaft andererseits, verfährt sie im Bezug auf sich selbst »ausschließlich selbstrekursiv. Aufgrund ihrer Außenseiterposition brauche sie ein Zusammentreffen mit einer moralisch ›zweifelhaften‹ Person nicht zu scheuen; ihre pariaStellung verhindere Desavouierung«153. So »schmerzlich« (SvW, S. 77) sie dies auf der einen Seite auch empfindet, so gewährt Victoire diese Außenseiterposition auf der anderen Seite eine gewisse gesellschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit. »An dem Abende bei Massows, wo man mir zuerst huldigte, war ich, ohne mir dessen bewußt zu sein, eine Sklavin. Oder doch abhängig von hundert Dingen. Jetzt bin ich frei.« (SvW, S. 77) Dass Victoire zur Veranschaulichung ihrer gesellschaftlichen Determiniertheit respektive Freiheit auf den Massowschen Kinderball Bezug nimmt, ist bezeichnend und Teil der Erzählstrategie in Schach von Wuthenow, werden doch auf diese Weise vorab gesponnene Erzählfäden in dem Gespräch zwischen Victoire und Schach aufgegriffen und folgenreich miteinander verknüpft. Denn während Victoire anlässlich ihres gesellschaftlichen Debüts argumentiert, damals eine »Sklavin« des Diktats weiblicher Schönheit gewesen zu sein, von dem das ästhetische Stigma sie derweil befreit habe, ist es der Reflex dieses Ereignisses, der »[s]ie, die geglaubt hat, vor Projektionen der Männer gefeit zu sein«154, zur Projektionsfläche männlicher Konzeptualisie-
toire, die Liebesszene macht die Kränkung wieder gut, Victoire genest danach sofort« (Weber, ›Fliegen und Zittern‹, S. 101). 153 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 260. 154 Weber, ›Fliegen und Zittern‹, S. 99.
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rungen und Imaginationen avancieren lässt. Wenige Tage vor seinem Besuch bei der erkälteten Victoire war Schach nämlich zu Gast auf einer Soiree des Prinzen und Zeuge von dessen Räsonieren darüber, »daß das Häßliche eine Seite, ja, eine Spielart des Schönen sei«155 – und dies initiiert durch die Erinnerung an Victoire und ihre Teilnahme an dem Kinderball: Ich bitte Sie, was ist Schönheit? Einer der allervaguesten Begriffe. […] Alles ist schön und nichts. Ich persönlich würde der beauté du diable jederzeit den Vorzug geben […]. Diese hat etwas Weltumfassendes, das über eine bloße Teint- und Rassenfrage weit hinausgeht. Ganz wie die Katholische Kirche. Diese wie jene sind auf ein Innerliches gestellt, und das Innerliche, das in unserer Frage den Ausschlag giebt, heißt Energie, Feuer, Leidenschaft. […] Glauben Sie mir, das Herz entscheidet, nur das Herz. […] Das paradoxe ›le laid c’est le beau‹ hat seine vollkommene Berechtigung, und es heißt nichts andres, als daß sich hinter dem anscheinend Häßlichen eine höhere Form der Schönheit verbirgt. (SvW, S. 67ff.)
Ist die geäußerte Auffassung in der betreffenden Szene vor allem gesellschaftlicher Konversationskunst und ihrem Vergnügen an Sprachspielerei geschuldet, entwickelt sie eine unheilvolle Dynamik, sobald sie den Boden der Unverbindlichkeit verlässt und von Schach in die Realität übertragen wird.156 Entgegen Victoires Redeintention, im Kontext des erinnerten Massowschen Kinderballs ihre vermeintliche Befreiung vom Oktroi des männlichen Schönheitsdiktats ebenso resolut zu konstatieren wie die damit einhergehenden Entbehrungen zuzugestehen, vermeint Schach die vom Prinzen beschworene Schönheit der Hässlichkeit an Victoire verwirklicht zu sehen. Denn in ihrer gesundheitlichen Angegriffenheit und emotionalen Erregung scheint Victoire fatalerweise genau den der »beauté du diable« zudiktierten Attributen (Energie, Feuer und Leidenschaft) zu entsprechen – jedenfalls in Schachs Perspektive, der Victoire »durch die Augen – genauer: die Rede – des Prinzen«157 sieht: »Manches, was der Prinz über sie gesagt hatte, ging ihm durch den Kopf. […] Ihre Wangen hatten sich gerötet, und ein aufblitzendes Feuer in ihrem Auge traf ihn mit dem Ausdruck einer trotzigen Entschlossenheit.« (SvW, S. 77) Schach, der sich zu diesem Zeitpunkt noch »in den leichten Ton, in dem ihr Gespräch begonnen hatte, zurückzufinden« (SvW, S. 77) versucht, spekuliert, die Lektüre Rousseaus habe Einfluss auf Victoires Redeweise, die Proklamation ihrer Freiheit genommen. Doch Victoire widersetzt, sie lese
155 Manthey, Die zwei Geschichten in einer, S. 124. 156 Vgl. Pfeiffer, Tod, Enstellung, Häßlichkeit, S. 270. 157 Weber, ›Fliegen und Zittern‹, S. 99.
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Mirabeau, der ihr »näher steht« und sie »mehr interessiert.« (SvW, S. 78) Victoire führt ihre Identifikation mit Mirabeau offen darauf zurück, dass dieser ihr Schicksal hässlicher Entstellung teilt und demgemäß als ihr »Leidensgenoß« (SvW, S. 78) gelten kann. Schachs Versuch, sie von dieser ästhetischen und somit kränkenden Analogiebildung abzuhalten, begegnet Victoire, indem sie sogar noch einen Schritt weiter geht: »Ich […] würde den Namen meines Gefährten und Leidensgenossen zu meinem eigenen machen, wenn ich es könnte. Victoire Mirabeau de Carayon, oder sagen wir Mirabelle de Carayon, das klingt schön und ungezwungen, und wenn ichs recht übersetze, so heißt es Wunderhold.« (SvW, S. 78) Die erste Reaktion Schachs betrifft nicht den Inhalt der Worte, sondern das bittere Lachen, mit dem Victoire ihr Sprachspiel beschließt. In seiner Mahnung, die Bitterkeit dieses Lachens »kleidet Ihnen nicht, […] verhäßlicht Sie« (SvW, S. 78), wird deutlich, dass er zunächst »die vielschichtige Parallele zwischen Victoire und Mirabeau auf die eine, ästhetische: die der Häßlichkeit«158 reduziert. Dem Prinzen beipflichtend, dieser habe in seinem Enthusiasmus über Victoire »doch Recht« (SvW, S. 78) gehabt, hebt Schach, ganz im Sinne einer »programm-realistischen Verklärungsästhetik«159, die Schönheit der Seele hervor, die sich »den Körper schafft oder ihn durchleuchtet und verklärt.« (SvW, S. 78) Wenn sich Schach, situativ gefangen im Modus der Verklärung, gegenüber Victoire schließlich zu den Worten hinreißen lässt, »[a]lles ist Märchen und Wunder an Ihnen; ja Mirabelle, ja Wunderhold« (SvW, S. 79), so greift er zuletzt ihr subversives (Geschlechts-)Identitätsspiel um Mirabeau auf und leitet damit den Liebesakt ein.160 Doch während Victoires Sprachspiel von ihrer errungenen Befähigung zeugt, sich von »den konventionellen Rollenmustern der Geschlechter« distanzieren zu können, vermag es Schach, sich nur für einen kurzen »Augenblick […] im erotischen Sprachspiel von der Rollen-Konvention zu lösen.«161
158 Pfeiffer, Tod, Entstellung, Häßlichkeit, S. 270. 159 Ebd. 160 Der Liebesakt wird in Schach von Wuthenow überaus diskret, »durch einen Absatz im Druckbild ›erzählt‹, der wie eine Erweiterung des berühmten Kleistschen Gedankenstrichs in der ›Marquise von O.‹ wirkt« (Kaiser, ›Schach von Wuthenow‹ oder die Weihe der Kraft, S. 474). – Demetz bemerkt im Vergleich von L’Adultera und Schach von Wuthenow: »Nirgends beweist Fontane klarer, wie rasch er gelernt hat, seine erzählerischen Mittel im Sinne der ererbten Form zu kontrollieren. In ›L’Adultera‹ Palmen, Orangerie, ironisierter Wagnerkultus, Küsse und Schwüre; hier nichts als subtile Andeutung und modernste Sparsamkeit« (Demetz, Formen des Realismus, S. 138). 161 Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 118.
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Schon im Moment seines überstürzten Aufbruchs, um der aus dem Theater zurückkehrenden Frau von Carayon zu entgehen, ist der Bann gebrochen: »Erst die Schuld und dann die Lüge« (SvW, S. 80), kommentiert er als Mithörer die Begrüßungsworte, die Victoire an ihre Mutter richtet. Auch wenn ein Erzählkommentar versichert, dass »die Spitze seiner Worte […] gegen ihn und nicht gegen Victoire« (SvW, S. 80) gerichtet ist, bleibt Schach doch nicht darüber im Zweifel, dass in seinem Fall die Reihenfolge umgekehrt lauten muss, dass die Verklärungs-Lüge die moralische Schuld bedingte. Von Victoires Mutter wenig später »auf Legitimisierung des Geschehenen« (SvW, S. 97) verpflichtet, bekennt sich Schach im Selbstgespräch offen der erlegenen Selbsttäuschung unter Einfluss des enthusiastischen Prinzen: »Aber […] ich stehe nicht auf dem Standpunkte des Prinzen, ich schwärme nicht für ›Läuterungsprozesse‹ […], und wenn ich mich auch persönlich zu diesem Standpunkte bekehren könnte, so bekehr ich doch nicht die Welt … Ich bin rettungslos dem Spott und Witz der Kameraden verfallen« (SvW, S. 100). Angesichts seiner Eitelkeit und seiner Geltungssucht muss »[d]as reale, narbenentstellte Antlitz Victoires […] die projizierte Vision verblassen lassen«162 und sich ihm als Trugbild entlarven. Schachs Einwilligung in die Heirat mit Victoire vollzieht sich von Anbeginn im Spannungsfeld von Aktivität und Passivität. So vergegenwärtigt er sich Victoires Schreiben anlässlich der Spazierfahrt nach Tempelhof, deren katalysierende Wirkung im Romangefüge damit einmal mehr herausgestellt wird, mit den Worten: »Mein Schicksal. Ja, ›der Moment entscheidet‹. Ich entsinne mich noch, so schrieb sie damals.« (SvW, S. 101) Dabei ist bezeichnend, dass Schach den genauen Wortlaut unzureichend erinnert, denn während in seiner Formulierung »der Moment entscheidet« und sich demgemäß das Schicksal passivisch an ihm vollstreckt, hieß es bei Victoire, dass »der Entscheidungsmoment« die Beteiligten in die Lage versetzen werde, »das Richtige [zu] wählen« (SvW, S. 30). Den Gedanken abwehrend, Victoire könne gewusst respektive gewollt haben, was passierte, ruft er sich selbst zur Raison: »O pfui, Schach, verunglimpfe nicht das süße Geschöpf. Alle Schuld liegt bei Dir. Deine Schuld ist Dein Schicksal. Und ich will sie tragen.« (SvW, S. 87) Zwar übernimmt Schach hier die alleinige Verantwortung und erklärt sein Schicksal als selbstverschuldet, und doch markiert der vorgenommene Wechsel des Personalpronomens eine merkwürdige Differenzierung und Distanzierung. Indem das Schuldeingeständnis grammatikalisch nicht in der ersten Person erfolgt, kann es als passiver Reflex, als Reproduktion des gesell-
162 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 262.
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schaftlichen Urteils verstanden werden, dem sich das ›Ich‹ des Protagonisten unterworfen sieht und dessen Folgen demgemäß von ihm zu tragen sind. Schach sieht sich selbst als durch den Prinzen »Verführte[r]«, der »seinerseits einen Menschen verführt«163 hat. Diese dialektische Selbstwahrnehmung Schachs als Täter und Opfer, die hier sprachlich codiert ist, konstituiert fortan sein Handeln in all seiner Widersprüchlichkeit 164 und kulminiert schließlich in seinem Suizid, der die Bezugsgrößen Täter und Opfer, Aktivität und Passivität in radikalster Konsequenz in sich vereinigt. 5.2.2.4 »Frau Jenny Treibel« Zeitigen in Schach von Wuthenow die vom Prinzen und Victoire betriebenen Sprachspiele um weibliche Schönheit und den Sozialrevolutionär Mirabeau für den Protagonisten tragische Konsequenzen, bieten Figurentableau und Handlungskonzeption des Romans Frau Jenny Treibel mannigfachen »Anlaß zum ironischen Spiel mit der Sprache.«165 Ein Musterstück des Verfahrens, wie sich dieses ironische Spiel gleichermaßen in den Erzählkommentaren, in den Reden einzelner Figuren als auch in der narrativen Dramaturgie, im Sinne der Anordnung und wechselseitigen Bezogenheit verschiedener Konversationen, realisiert, stellt nicht zuletzt die Landpartie-Episode nach Halensee dar. Nicht nur vollzieht sich dort das Verlobungsversprechen mit Leopold Treibel, das von Corinna initiierte »Spiel der Liebe, ein Spiel im Spiel, eine Komödie innerhalb jener großen Komödie, die der Roman insgesamt aufführt.«166 Vielmehr bereiten die zwei vorangestellten Dialoge, zwischen dem Tenor Krola und Kommerzienrat Treibel auf der einen Seite sowie zwischen Jenny Treibel und Wilibald Schmidt auf der anderen Seite, der Verlobung personell und thematisch anspielungsreich den Boden.
163 Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 58. 164 Grawe rekurriert in diesem Zusammenhang auf eine ebenso populäre wie plausible Deutung der Forschung, die bei einer Betrachtung von Fontanes Schach von Wuthenow nicht unerwähnt bleiben darf, unabhängig von ihrem interpretatorischen ›Mehrwert‹ für die vorliegende Studie. Gemeint ist die mit Schachs Verhalten verknüpfte Zeitkritik am maroden Zustand Preußens: »Indem er [Schach] der Pflichterfüllung auf herrscherlichen Befehl zum Schein nachkommt und sich doch der mißachteten Autorität des königlichen Herrn und dem persönlichen Wunsch der Königin entzieht, demonstriert er den Verfall der preußischen Werte« (Grawe, Schach von Wuthenow, S. 543). 165 Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 147. 166 Schnell, Die verkehrte Welt, S. 109.
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Den Anfang bildet das Gespräch Krolas und Treibels, das seinen Gesprächsgegenstand, die Ehe, ebenso spielerisch wie vielsagend aus der Choreographie und Konstellierung der Figuren auf dem Landpartie-Spaziergang bezieht. Mit Blick »auf das junge Paar vor ihnen«, das von Treibels älterem Sohn Otto und seiner Hamburger Schwiegertochter Helene gebildet wird, konstatiert Krola, es gehe »doch nichts über eine richtige Ehe« (JT, S. 137) und veranlasst damit seinen Gesprächspartner, die Illusionen über die Institution im Allgemeinen als auch bezogen auf die Ehe der Treibels im Besonderen zu demontieren. Denn obwohl Krola gemäß Treibel »die Weiber« kennt, »wie sie nur ein Tenor kennen kann«, so zeigt er »in dem speciell Ehelichen […] ein furchtbares Manquement.« (JT, S. 138) Die glückliche Lage Krolas, es mit seiner Frau »ausnahmsweise gut getroffen [zu] haben« und daher nur »den Ausnahmefall, aber nicht die Regel« (JT, S. 138) zu kennen, erfordert seine Aufklärung über die Schattenseiten und Unwahrscheinlichkeit ehelichen Glücks.167 Indem der Kommerzienrat seinen kundig-ironischen Ausführungen über die eheliche »Kriegsführung mit Sammethandschuhen« (JT, S. 139) voranstellt, »[u]eber die Ehe kann nur sprechen, wer sie durchgefochten hat, nur der Veteran, der auf Wundenmale zeigt« (JT, S. 138), spricht er »nicht nur von Otto und Helene, sondern auch von seiner eigenen Ehe«168. Dass auf Seiten der alten Treibels »von einem eigentlichen Eheglücke nicht [zu] sprechen« (JT, S. 142) ist, bestätigt nicht zuletzt die Kommerzienrätin in ihrer parallel stattfindenden Unterhaltung mit Corinnas Vater, wenn sie sich darin gefällt, dem vermeintlich verpassten Glück mit Wilibald Schmidt nachzutrauern. Doch darauf bleibt das Aufgreifen und Weiterspinnen von Erzählfäden nicht beschränkt, das die drei Dialoge miteinander verbindet. Denn Wilibald entscheidet sich bald dafür, »das Gespräch auf die Kinder« (JT, S. 142) und damit auf einen Gegenstand zu lenken, der ihm unverfänglich anmutet. Die in diesem Kontext wiederum thematisierte Ehe Ottos und Helenes, die Schmidt als glücklich apostrophiert, gibt ihm Anlass zu der Vermutung, »im Hause Treibel [bereite sich] ein zweites Verlöbniß vor, und Helenen’s Schwester steht auf dem Punkte, Leopolds Braut zu werden« (JT, S. 142). Jennys Empörung, sie »habe an einer Hamburger Schwiegertochter aus dem Hause Munk gerade genug« (JT, S. 143), und ihr Sohn
167 Von Krolas Frau ist nur bekannt, dass sie eine »Millionärstochter« (JT, S. 27) ist. Denn auch wenn »verheiratet, erscheint er [Krola] allein auf den bürgerlichen Festabenden und Landpartien« (Sylvain Guarda, Fontanes ›Frau Jenny Treibel‹: Ein stummer Sirenengesang als Raubspiel. In: German Studies Review 27/3 (2004), S. 527–541, hier S. 537). 168 Demetz, Formen des Realismus, S. 123.
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solle »eine kluge Frau haben, eine wirklich kluge« (JT, S. 145), verleiht dem weiteren Handlungsgeschehen einen ironisch gebrochenen, vieldeutig-voraussagenden Subtext. Denn synchron »schickt sich Corinna an,« aus dieser Phrase »realistische Konsequenzen zu ziehen« und eine »Verlobung mit Leopold zu provozieren«169 – dies, indem sie, allerdings aus taktischem Kalkül, ebenfalls eine Heirat Leopolds mit der Schwester seiner Schwägerin prognostiziert. Die spielerische Bezogenheit der beiden Dialoge zwischen den jungen und alten Schmidts und Treibels besteht nun darin, dass die »sich anbahnende Romanze zwischen den beiden jungen Leuten in der Geschichte der Älteren«170 gespiegelt wird – und zwar auch in der Unmöglichkeit ihrer Realisierung. »[B]eide Paare« verloben sich heimlich, »bei beiden verzögert sich die Eheschließung und wird schließlich verhindert, damals wie später durch Jenny.«171 Getragen von den gleichen Motiven, ehedem Treibel statt Schmidt geheiratet zu haben, wird Jenny die eigenmächtig vollzogene Verlobung Leopolds anfechten und ihrerseits eine Verbindung mit Hildegard Munk initiieren. Mithin entlarvt sie rückwirkend das »sentimental Schwärmerische[ ]« (JT, S. 142) ihrer Rede auf dem Spaziergang als hohle Phrase und bestätigt das von Schmidt gegebene Profil Treibelscher Verhaltenslogik: »Sie liberalisiren und sentimentalisiren beständig, aber das Alles ist Farce; wenn es gilt Farbe zu bekennen, dann heißt es: ›Gold ist Trumpf‹ und weiter nichts.« (JT, S. 92) Die Interdependenz der drei Gespräche beruht also nicht allein in dem gemeinsamen Gesprächsthema, sondern vielmehr in der Synchronie gegenseitiger Reflexion und Kommentierung.172 Das entscheidende nachfolgende Gespräch zwischen Corinna und Leopold erweist sich schließlich in mehrerlei Hinsicht als Fluchtpunkt, auf den die narrative Gestaltung des Landpartie-Spazierganges kompositorisch zuläuft. Die bislang entfaltete Choreographie der teilnehmenden LandpartieGesellschaft in zwei intern weiter aufgefächerte Gruppen, die Sequenz ihrer belauschten und in ihrem Thema aufeinander bezogenen und sich gegenseitig reflektierenden Dialoge sowie die bestehenden und potentiellen familial-generationellen Verbindungen der Treibels, Schmidts und Munks in der Vergangenheit, Landpartie-Gegenwart und Zukunft ergänzt Schnell um eine weitere wichtige Beobachtung:
169 Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 153. 170 Schnell, Die verkehrte Welt, S. 121. 171 Ebd., S. 124. 172 Vgl. Demetz, Formen des Realismus, S. 124.
5.2 »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch«
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Die Gewichte in diesem Zentralstück des Romans sind sehr ungleich verteilt, quantitativ wie qualitativ. Umfaßt die erste der beiden Gruppen immerhin vierzehn Personen, so die zweite lediglich vier. Hingegen beansprucht die Konversation der ›Hauptcolonne‹ nur etwa ein Fünftel des Gesprächsumfangs, welcher der Vierergruppe zugebilligt wird, und hiervon entfällt mehr als die Hälfte auf Corinna und Leopold. Diese Disproportionalität ist, wie es sich bei Fontane von selbst versteht, mehr als nur ein statistisches Spiel mit Quantität und Qualität – nämlich ein Kunstgriff, der es dem Autor erlaubt, die Problemlage zwischen den Protagonisten zu pointieren.173
Über die konstatierte Korrelation von Sequenz, Erzählbreite und Bedeutsamkeit offenbart sich an Frau Jenny Treibel deutlich, dass die identifizierten, für die Landpartie-Episoden in Fontanes Romanen typischen Zeit- und Erzählstrukturen nicht auf die Makrostrukturebene der Romantektonik beschränkt bleiben, sondern auf der Mikrostrukturebene der einzelnen Ausarbeitung konsequent ihre Fortsetzung finden.174 Eine Fortsetzung erfährt auch die Figurenzeichnung Corinnas und Leopolds, wenn es über ihre bisher geführte Konversation eingangs heißt, sie »hatten ihr Gespräch in herkömmlicher Art geführt, d. h. Corinna hatte gesprochen.« (JT, S. 145) Doch all ihres Selbstbewusstseins und ihrer Zielstrebigkeit ungeachtet, überlässt es Corinna dem zaudernden Leopold, das »Gleichgültigkeitsgespräch fallen [zu] lassen[ ], das sich, ziemlich gezwungen, um die Spargelbeete von Halensee sammt ihrer Cultur und ihrer sanitären Bedeutung gedreht hatte« (JT, S. 146). Im Wissen um diesen angesichts eines Verlobungsvorhabens gänzlich inadäquaten Gesprächsgegenstand wird die Ironie noch potenziert, die bereits Leopolds Bestreben innewohnte, »die seinen Muth beständig lähmende Mama« (JT, S. 145) mit Hilfe eines Überholmanövers seinem Blickfeld zu entziehen. Der visuellen Präsenz seiner Mutter entzogen, sieht sich Leopold schließlich in die Lage versetzt, »einen plötzlichen Anlauf« (JT, S. 146) zu nehmen und Corinna Grüße eines gemeinsamen Bekannten auszurichten. Im Kontext der Gesprächschoreographie fungiert Leopolds Erstaunen ob ihrer vermeintlichen Fähigkeit der »Hellseherei« (JT, S. 146), Mr. Nelson unmittelbar als Grußsteller identifiziert zu haben, Corinna als geeignete Vorlage, »mit derselben Sicherheit« (JT, S. 147) Leopolds Zukunft, seine Heirat mit Hildegard Munk zu weissagen und ihn derart zu einem Antrag zu animieren.175
173 Schnell, Die verkehrte Welt, S. 121. 174 Vgl. dazu auch Kapitel 2.3.2 der vorliegenden Studie. 175 Indem Corinna mit ihrer »Hellseherei« richtig liegt, gründet hier ein weiterer ironischer Clou des Romans, der sich jedoch erst im Wissen um den Handlungsausgang erschließt. – In der späteren Unterredung mit Jenny Treibel wird sich Corinna frei-
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5 Eine Partie machen: Landpartie und Liebesgeschichten
Darüber hinaus rekurrieren Name und Figur Mr. Nelsons textintern auf das Treibelsche Diner, das dem Liverpooler zu Ehren veranstaltet wurde und das insbesondere hinsichtlich des dort betriebenen »Sich-in-Scenesetzen« (JT, S. 41) Corinnas das Verständnis der Verlobungsepisode zu akzentuieren verhilft. Denn hier wie dort demonstriert Corinna bemerkenswertes Geschick, im »Bewußtsein der Rollenhaftigkeit ihrer Existenz, das sie zur Selbstinszenierung befähigt«176, ein Selbstbild zu konstituieren, das »bezogen [ist] auf die fremden Wunschbilder, die andere, insbesondere Leopold, von ihr konzipieren. Nach diesen erratenen und rekonstruierten ›Phantombildern‹ richtet Corinna ihre Selbstdarstellung aus.«177 Beim Diner im Hause seines Vaters spielt sie ihr ganzes kommunikatives und darstellendes Können aus, um diesen Wunschbildern und Vorstellungen zu entsprechen. Vordergründig ist ihr »Vorgehen voll Koketterie« (JT, S. 37) an ihren Gesprächspartner Mr. Nelson gewandt, adressiert jedoch eigentlich ihren Bewunderer Leopold,178 der schon hier als passiver Rezipient ihrer Performance erscheint; eine Rolle, die ihm auch auf dem Spaziergang in Halensee zugewiesen bleibt – von einigen kommunikativen ›Auftritten‹ abgesehen, die jedoch ihrerseits Corinnas ›Drehbuch‹ folgen. Gleichermaßen animiert wie provoziert durch die »halb ernst-, halb scherzhaft[e]« Mahnung ihres Cousins Marcell, sie habe in Gegenwart Mr. Nelsons »die Pflicht […], einigermaßen für deutsche Weiblichkeit einzutreten« (JT, S. 38f.), beteuert Corinna, die sich »mit ihrem sprühenden Witz zum Mittelpunkt [d]er Tischgesellschaft«179 gemacht hat, »trotz ewigen Schwatzens […] eine weibliche Natur und eine richtige Deutsche« zu sein, die »auch noch nebenher kochen, nähen und plätten kann und […] die Kunststopferei gelernt« (JT, S. 39) hat. Durch diese »mit Sorgfalt erstellte mütig zu dieser »klug und berechnend ausgesuchte[n] Geschichte mit dem Hamburger Hochzeitszuge« (JT, S. 186) bekennen. 176 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 117. 177 Ebd., S. 118. 178 Doch auch Marcell zählt zu den Reihen des aufmerksamen Publikums, vor dem Corinna ihre Selbstinszenierung zur Darstellung bringt, denn sie »sprach […] übrigens so lebhaft, so laut, als ob ihr daran läge, daß jedes Wort auch von ihrer Umgebung und ganz besonders von ihrem Vetter Marcell gehört werde.« (JT, S. 37) Die hier über die Formel »als ob« in nuce beobachtbare Textstrategie, Eindeutigkeit subtil zu unterlaufen, lässt im vorliegenden Fall die These zu, dass Corinna ihre Verführungskunst gleichsam über Bande spielt, um ihre Heiratschancen zu erhöhen: Sollte sich ihr Vetter über die einem anderen gemachten Avancen nicht aus Eifersucht zu einem Antrag bewegen lassen, so hätte Corinna »Leopold als Alternative zu Marcell gleich in der Hinterhand« (Wruck, Frau Jenny Treibel, S. 204). 179 Mittelmann, Die Utopie des weiblichen Glücks, S. 87.
5.2 »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch«
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Reproduktion der kollektiven Phantasiebilder von der idealen deutschen Frau«180 gelingt Corinna ein wirkungsvolles Synthetisieren von Rollenbildern, die genau auf Leopold abgestimmt sind. So demonstriert sie in ihrem Gespräch mit Mr. Nelson und ihrer dort zum Ausdruck gebrachten Faszination für »Seeschlachten«, die in ihrer Vorstellung »ein wundervoller Anblick« (JT, S. 38) sind, zunächst ihre Unangepasstheit, Unerschrockenheit und ihren Witz – Charaktermerkmale, die Leopold als besonders anziehend antizipieren muss, da diese ihm zu seinem eigenen Bedauern so völlig fehlen: »Leopold imponieren gerade die Eigenschaften an Corinna, die sich nicht als typisch weiblich kategorisieren lassen: ihr Esprit, ihre Unabhängigkeit, ihr Selbstbewußtsein, ihre gesellschaftliche Gewandtheit.«181 Zugleich entgeht sie jedoch der Gefahr, Leopold mit einem zu modernen Frauenbild zu überfordern, das alle gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit demontiert. Das ironische Betonen ihrer hausfraulichen Fähigkeiten »negiert dieses [traditionelle; M. B.] Frauenbild nicht, verleiht ihm nur eine pikante Note.«182 Mithin stellt Corinna im Reigen der Romanheldinnen Fontanes eine Ausnahme dar, indem sie nicht als Opfer auf sie projizierter Weiblichkeitsbilder dargestellt wird, sondern eigenmächtig ein hintersinniges und auf ihren Vorteil bedachtes Spiel mit Rollenbildern betreibt. Bei dieser Feststellung ist unbedingt der genretypologische ›Ort‹ der vorgeführten Camouflage zu bedenken. Durch ihre Einbettung in das Genre der (erzählten) Komödie erfolgt das progressive Spiel Corinnas mit Geschlechterrollen und -stereotypen gleichsam innerhalb legitimierter Demarkationslinien, die gattungsund literaturgeschichtlich durch Verfahren der Ironie, Parodie und Satire abgesteckt sind. Das dem Komischen genuine »Kipp-Phänomen«183, der Bruch mit gesellschaftlichen Normen und Konventionen, entbehrt dabei allerdings in der Tradition wie auch in Fontanes Roman Frau Jenny Treibel nicht eines subversiven Potentials: Im Modus und unter dem Deckmantel des Fiktionalen vermag es die Komödie, über die Präsentation von Gegenentwürfen die herrschende gesellschaftliche Ordnung zu hinterfragen und zu unterwandern. Corinna selbst trägt dazu bei, dass ihr Komödienspiel trotz ironisch-kritischem Impetus nie ernsthaft die Grenzen des guten Tons und Benimms verletzt und insgesamt mit einer versöhnlichen Note versehen ist. Und dies nicht erst am Ende des Romans, wenn sie ihr Rollenspiel und damit den Plan,
180 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 118. 181 Ebd. 182 Ebd. 183 Wolfgang Iser, Das Komische: ein Kipp-Phänomen. In: Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976, S. 398–402.
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Leopolds Frau zu werden, aufgibt; ihre Selbstinszenierung zielt von Anbeginn taktisch nicht auf ein Gender-Crossing, sondern vielmehr auf die Flexibilisierung des Frauenbildes, auf die Ausdehnung der »engen Definitionen von Weiblichkeit«184. Der Erfolg, den sie bei Leopold damit erzielt, gründet nicht zuletzt darin, seiner Passivität und Schüchternheit mit ihrem Selbstbewusstsein zu begegnen. Sein Verlobungsantrag auf der Halenseer Landpartie verdankt sich denn auch Corinnas Initiative, ihrem »phantasievolle[n] Vexierbild, d[er] Zukunftsund Heiratsgeschichte, die sie ihrem schüchternen Liebhaber erzählt«185. Auf die Offerte, seine Zukunft zu lesen, reagiert Leopold mit freudiger Erleichterung: »Denn wenn Corinna richtig las, […] so war er allem Anfragen und allen damit verknüpften Aengsten überhoben, und sie sprach dann aus, was er zu sagen noch immer nicht den Muth finden konnte.« (JT, S. 147) Zwar macht es Corinna ihm nicht ganz so einfach, indem sie Hildegard Munk und nicht sich selbst als Braut präfiguriert, doch entlockt sie ihm schließlich das beiderseits ersehnte Geständnis: »›Ach, Corinna, ich kann ohne Sie nicht leben, und diese Stunde muß über mich entscheiden. Und nun sagen Sie Ja oder Nein.‹ Und unter diesen Worten nahm er ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Denn sie gingen im Schutz einer Haselnußhecke.« (JT, S. 149f.) Sowohl dieser emotionale Ausbruch als auch die körperliche Annäherung Leopolds haben neben Corinnas Vorlage darüber hinaus konstitutiv den Schutz der Haselnusshecke zur Voraussetzung. »Nur der Sichtschutz also, nur die zufällige, natürliche Behinderung des mütterlichen Blicks hat ihm die vermeintlich mutige Handlungsweise erlaubt.«186 Auch wenn Schnell die Bedingung und Bedingtheit des Antrags treffend benennt, so kann der Wunsch nach Intimität im Moment einer Verlobung allerdings auch jenseits von Mut und Feigheit als begründet gelten. Dass bei der Landpartie in Frau Jenny Treibel der natürliche Raum, das Moment der Bewegung und die einsetzende Dämmerung für eine geschützte Liebesbegegnung allein nicht hinreichen können, ist der Figurenchoreographie zuzurechnen, die in einiger Entfernung Jenny Treibel und Wilibald Schmidt auf dem Spazierwege nachfolgen lässt. Corinna, »die Verlobung mit gutem Recht als ein fait accompli betrachtend«, muss jedoch fürchten, dass Leopold in den bevorstehenden »schwere[n] Kämpfe[n]« (JT, S. 150) mit seiner Mutter unterliegt, an deren Zustimmung nur allzu berechtigte Zweifel angemeldet sind. Sich seiner Mutlosigkeit bewusst, fordert Corinna Leopold also pathetisch zu Durchsetzungskraft und 184 Mittelmann, Die Utopie des weiblichen Glücks, S. 87. 185 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 116. 186 Schnell, Die verkehrte Welt, S. 122.
5.2 »Bäumchen, Bäumchen verwechselt euch«
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Willensstärke auf, die dieser so schmerzlich entbehrt: »Ja, Leopold, ein Leben voll Glück und Liebe liegt vor uns, aber es hat Deinen Muth und Deine Festigkeit zur Voraussetzung« (JT, S. 150). Auch hier ist »die Selbststilisierung Corinnas […] so gestaltet, daß konventionelle Verhaltensmuster eingehalten werden. Die frischgebackene Braut, die das Geschehen souverän zu lenken versteht, nimmt […] die Attitüde von Bescheidenheit und weiblicher Zurückhaltung an und legt Leopold auf die Rolle des kämpferischen Liebhabers fest«187. Bedenkt man, dass Corinna auf dem Treibelschen Dinner ihrem nunmehr Verlobten »jene ›heroical courage‹« (JT, S. 38) noch frank und frei abgesprochen hatte, erhält die Ironie zusätzliche Deutlichkeit; zugleich erklärt sich Leopolds besonderer Eifer, sich »Schwierigkeiten und Kämpfe beinah’ herbei[zu]wünsche[n]«, um seinen vermeintlichen Heroismus unter Beweis zu stellen und sich Corinna als »werth« (JT, S. 150) erweisen zu können.188 Doch damit ist das Pathos der Szene noch längst nicht erschöpft. So ruft Corinna Leopold dazu auf, ihr seine Liebe und Beständigkeit zu schwören: »[H]ier unter diesem Waldesdom, drin es geheimnißvoll rauscht und dämmert, hier, Leopold, mußt Du mir schwören, ausharren zu wollen in Deiner Liebe.« (JT, S. 150) Über den Rekurs auf das romantisierende Bildarsenal eines rauschenden und dämmernden Waldesdoms wird die Vorstellung aufgerufen, naturrechtlich und -mystisch habe sich ihre Vermählung bereits vollzogen, bedürfe nun jedoch noch der gesellschaftlich-juridischen Legitimation. Bekräftigt wird das Verlobungsversprechen am Ende der Landpartie, wenn das Paar »sich, im Schatten des hochstehenden Schilfes, noch einmal fest und verschwiegen die Hände« (JT, S. 151) drückt. Die hier entworfene Parallelisierung von Naturdarstellung und Liebeshandlung trägt dabei »unverhohlen ironisierend[e]«189 Züge, wenn nach den Treuebekenntnissen schließlich noch »die Mondsichel zwischen den Baumkronen sichtbar« (JT, S. 150) und ein romantisches Gedicht intoniert 190 und
187 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 119. 188 Die Kampf-Metapher wird sowohl von Corinna als auch Leopold bei der Bekanntgabe ihrer Verlobung im engsten Familienkreis nochmals bemüht (vgl. JT, S. 182 und S. 196). 189 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 134. 190 Die Unausweichlichkeit gemeinsamen Gesangs auf Landpartien kommentiert Stettenheim bissig wie folgt: »Wenn in den Wald gegangen wird, so wünscht man, ohne es laut werden zu lassen, daß die Gesellschaft das Lied ›Wer hat dich, du schöner Wald‹ anstimmen wird. Da dies nämlich unbedingt geschieht und leider durch keine Macht der Landpartie verhindert werden kann, so ist es zu schmerzlich, wenn man unbegreiflicherweise annahm, das unvermeidliche Lied werde einmal nicht laut werden« (Der moderne Knigge, S. 27).
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»über den See herüber« (JT, S. 151) getragen wird: »Wenn nach Dir ich oft vergebens / In die Nacht geseh’n, / Scheint der dunkle Strom des Lebens / Trauernd still zu steh’n …« (JT, S. 151). Diese »Klischeehaftigkeit« der Naturdarstellung signalisiert die Unwahrhaftigkeit der zwischen Leopold und Corinna geschlossenen Verbindung: »Das Einsetzen melodramatischer Techniken geschieht mit der Intention, dem Geschehen […] die emotionale Ernsthaftigkeit zu nehmen«191. Diese ironische Brechung in der korrelierenden Darstellung von Liebe und Landpartie ist im Hinblick auf die Gesamtkonzeption von Frau Jenny Treibel nur konsequent und wird in den anderen Romanen nicht realisiert. Der letzte vernommene Vers des intonierten Lenauschen Gedichts kommentiert vielsagend das weitere Geschehen. »Stillstand ist denn auch, buchstäblich, jenes Charakteristikum, welches die eben aufkeimende Liebesbeziehung im folgenden kennzeichnet – sobald nämlich Jenny Treibel ihrer ansichtig geworden ist.«192 Denn Leopolds Heldenmut geht über das Geständnis seiner Verlobung mit Corinna am Abend der Landpartie nicht hinaus; aus Furcht vor seiner Mutter nimmt er von dem versprochenen Besuch Corinnas immer wieder Abstand. »Leopold hatte nicht den Muth zu kommen und beschränkte sich darauf, jeden Abend einen kleinen Brief zu schreiben« (JT, S. 196), der von seiner Liebe und Entschlossenheit handelt. »Indem Fontane die Kommunikation der Liebenden auf ihre Korrespondenz beschränkt, reproduziert er ein Muster, das für die Briefromane des 18. Jahrhunderts typisch ist.«193 Besteht die Persiflage jenes literarhistorischen Musters zum einen in Leopolds Zuflucht in sentimentale Phrasen, die die Diskrepanz zwischen Wort und Tat, Schein und Sein nur desto stärker indizieren, gründet sie zum anderen in Corinnas Reaktion auf die Briefe, die von ihr bald nur noch überflogen und anschließend in ihrer »Morgenrocktasche […] zersessen und zerknittert« (JT, S. 197) werden. Der Erkenntnis, dass es mit ihrer »Einbildung, ihn zum Helden umschaffen zu können, […] vorbei« (JT, S. 197) ist, folgt bald – auf die von der Haushälterin gestellte Frage, ob sie Leopold noch liebe – das lapidare Eingeständnis Corinnas: »Ach, ich denke ja gar nicht dran, liebe Schmolke.« (JT, S. 202) Zur Zufriedenheit Jenny Treibels als auch Wilibald Schmidts wird die Verlobung nach weniger als zwei Wochen wieder gelöst, woran die beiden Elternteile je auf ihre Art beitragen. Während Jenny die Flucht nach vorn
191 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 134. 192 Schnell, Die verkehrte Welt, S. 123. 193 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 155. – Passend dazu liest Leopold »Goethe (was, ist nicht nöthig zu verrathen)« (JT, S. 190).
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einschlägt, Leopold maßregelt und zur Passivität verdammt, Corinna zur Vernunft zu bringen versucht und unmittelbar Hildegard Munk in ihr Haus einlädt, entscheidet sich Schmidt dafür, alles »einer gewissen ruhigen historischen Entwicklung [zu] überlassen« (JT, S. 187) – mit Erfolg. »Der Umschwung wird durch eine Duplizität der Ereignisse bewirkt, die beiderseits Bewegungsfreiheit schafft. Corinna gibt Leopold den Laufpaß, und Marcell« erhält eine »Anstellung als Gymnasial-Oberlehrer«194. Die unmittelbar folgende Verlobung Corinnas mit ihrem Cousin, von Schmidt mit den Worten »das ist das, was ich eine gute Partie nenne« (JT, S. 205) kommentiert, versetzt Leopold nur überaus kurz zurück in den Stand eines ungebundenen Junggesellen. Denn der Tag, an dem die Treibels von der Verlobung Corinnas und Marcells erfahren, »bedeutete zwei Verlobungen« (JT, S. 217). Wie allseits erwartet, verlobt sich Leopold mit der Schwester seiner Schwägerin – respektive: er wird verlobt, denn für seine Mutter ist und bleibt »Leopold […] ein Kind und darf sich überhaupt nicht nach eigenem Willen verheirathen« (JT, S. 144). Die im letzten Kapitel stattfindende Hochzeit von Corinna und ihrem Cousin versammelt nochmals alle Haupt- und Nebenfiguren des Romans, darunter auch die Felgentreu-Töchter: »Letztere, wie schon hier verrathen werden mag, verlobten sich in einer Tanzpause mit den zwei Referendarien vom Quartett, denselben jungen Herren, die die Halensee-Partie mitgemacht hatten.« (JT, S. 217) Wird das amouröse Potential der Landpartie mit der Verlobung Corinnas und Leopolds in Frau Jenny Treibel auch ironisch gebrochen zur Darstellung gebracht, realisiert sich an den Nebenfiguren erneut die doppelte Bedeutung, die der Wendung ›eine Partie machen‹ eingeschrieben ist. 5.2.2.5 »Irrungen, Wirrungen« und »Der Stechlin« Zeitigen die auf dem naturhaften Terrain der Landpartie geführten Konversationen in den bislang untersuchten Romanen einen katalysierenden, zuweilen unheilvollen Effekt auf die amourösen Verwicklungen und auf das weitere Handlungsgeschehen, wiederholt sich dieses narrative Muster in Irrungen, Wirrungen und Der Stechlin hingegen nicht. Hier wie dort korreliert die modifizierte Funktion, die den Gesprächen auf der Landpartie zukommt, mit der erzählerischen Modifikation der Landpartie-Episode im Kontext der Romankonzeption. Gleichwohl schreiben beide Romane je auf ihre Art die 194 Wruck, Frau Jenny Treibel, S. 205.
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Parallelisierung von Landpartie- und Liebeshandlung fort, die in Fontanes Bearbeitung als Grundfeste des Topos gelten kann. Die Landpartie nach Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen kann als konsequenteste Ausarbeitung jener Thematik gelten, wird dieser Ausflug Lenes und Bothos doch gezielt in dem Vorhaben unternommen, außerhalb des repressiven Gesellschaftsraums eine Enklave für ihre illegitime und nicht standesgemäße Liebesbeziehung aufzusuchen. Doch der Wunsch, in Hankels Ablage ein Idyll »abseits von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen und Ordnungen«195 aufzufinden, wird narrativ konsequent als trügerisch entlarvt. Dieses erzählerische Verfahren umfasst dabei nicht allein die topographische Gestaltung des Ausflugslokals als hybrider Ort, der sowohl Kennzeichen moderner Tourismusindustrie als auch natürlicher Abgeschiedenheit trägt, noch seinen Öffentlichkeitscharakter, der durch das Eintreffen von Bothos Kameraden am zweiten Tag buchstäblich Gestalt gewinnt. Vielmehr demonstriert sich an Lene und Botho selbst, dass ein Entkommen gesellschaftlicher Konventionen und Ordnungen unmöglich ist. »Es gibt Gesellschaftliches auch hier«196 in Hankels Ablage, aus dem einfachen Grund, weil die Figuren Träger dieses internalisierten Gesellschaftlichen sind und dieses die Illusion einer jenseits gesellschaftlicher Ansprüche möglichen Liebe von Anbeginn unterlaufen muss. Nach ihrer Ankunft in Hankels Ablage steuern Lene und Botho mit dem Ruderboot eine »den Leser an Rousseaus Naturutopien gemahnende[ ] Insel [an; M. B.], die der Alltagswelt und ihren Zwängen als bedeutsame Alternative entgegengestellt«197 zu sein scheint. Die dort befindliche »Schiffsbaustelle« und das zunächst vernehmbare »Hämmern der Zimmermannsaxt« (IW, S. 74) konterkarieren zunächst den vermeintlich utopischen Status. Dieser wird im Anschluss immerhin akustisch restituiert, verkündet doch das »beginnende Läuten der Glocke […], daß Feierabend sei.« (IW, S. 74) Auf dieser Insel entspinnt sich dabei ein Gespräch, das bei aller spielerischen Neckerei »die gesellschaftlich bedingte unterschiedliche Sicht auf die Dinge«198 zum Ausdruck bringt. Während Botho resigniert das Vorhaben aufgibt, Lene einen Blumenstrauß zu pflücken, weil er nur »die reine Wiese, nichts als Gras und keine Blume« vor sich sieht, erkennt Lene hingegen »[d]ie Hülle und Fülle« (IW, S. 74) von Wiesenblumen. Der scherzhafte Disput über die Frage, was als ›Blume‹ gelten kann, das Verhältnis von Signifikat und Signifikant, ver-
195 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 265. 196 Ebd. 197 Mayer, Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos bei Fontane, S. 66. 198 Ebd.
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deutlicht die »von den beiden in das Idyll mitgebrachten Voraussetzungen – ihre[n] Standes- und Bildungsunterschied[ ]«199. Wenn Lene Botho als »zu anspruchsvoll« (IW, S. 74) bezeichnet und darin die Ursache für seine ›Blindheit‹ gegenüber den Wiesenblumen erkennt, so formuliert sie hellsichtig die Bedingtheit individueller Wahrnehmung – und damit implizit, »dass die Wahrnehmung von Natur kulturell präformiert ist: Wahrgenommen wird, was den vorformulierten Kriterien (›Anspruch‹) an das Wahrzunehmende genügt.«200 Die milieubedingte Divergenz ihrer Wahrnehmung und die Unterschiedlichkeit ihrer Ansprüche zeichnet dafür verantwortlich, dass Lene für die »vielfältige Schönheit der Wiesenblumen«201 empfänglich ist, die Botho hingegen verschlossen bleibt. Genügt Lene als hinreichendes Kriterium, »dass die ›natürlichen‹ Blumen dadurch Blumen ›sind‹, dass sie als Blumen bezeichnet werden«202 und ihr als solche geläufig sind,203 unterzieht Botho den von ihr gepflückten Strauß »qua Definitionsmacht«204 einer kritischen Revision: »Und nun laß sehen, was Du gepflückt hast. Ich glaube, Du weißt es selber nicht und ich werde mich auf den Botaniker hin ausspielen müssen. Gieb her.« (IW, S. 75) Auch wenn Botho der Selbststilisierung als Botaniker eine ironische Note verleiht, entbehrt das vermeintliche Spiel und sein Überlegenheitsgestus nicht einer gewissen Authentizität. So doziert Botho nicht nur über die einzelnen Pflanzen, er weiß Lene auch über ihre verschiedenen Be-
199 Kahrmann, Idyll im Roman, S. 153. 200 Dörr, ›Denn Ordnung ist viel und mitunter alles‹, S. 199. – Zugleich wird damit auch die Wahrnehmung von Lenes ›Natürlichkeit‹ als Projektion Bothos entlarvt. So fungiert ›Natürlichkeit‹ innerhalb des Romans als ein zentraler »Orientierungspunkt, insofern er den Komplex derjenigen Reize bezeichnet, die Botho in Lenes Milieu vorzufinden meint und im eigenen vermißt. Als absoluter Wert aber wird diese Natürlichkeit im Roman an keiner Stelle vom Erzähler garantiert. Sie tritt lediglich in figurenperspektivischer Brechung auf und ist als Kategorie der Umweltauffassung vornehmlich Botho zugeordnet« (Kahrmann, Idyll im Roman, S. 154f.). Vgl. dazu auch Becker, Literatur als ›Psychographie‹, S. 101ff.; Weber, ›Fliegen und Zittern‹, S. 114ff.; sowie die vorausgegangenen Reflexionen zu L’Adultera, Cécile und Schach von Wuthenow der vorliegenden Studie. 201 Mayer, Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos bei Fontane, S. 66. 202 Dörr, ›Denn Ordnung ist viel und mitunter alles‹, S. 199. 203 Im Hinblick auf Lenes Kenntnis und Wertschätzung der Zier- und Nutzpflanzen ist unbedingt ihr Lebensumfeld, die von Wiesen und Feldern umgebene Dörrsche Gärtnerei zu bedenken. Lene selbst rekurriert auf diesen Umstand, wenn sie beim Blumenpflücken feststellt: »Es stehen hier mehr als in Dörr’s Garten; man muß nur ein Auge dafür haben.« (IW, S. 74) 204 Dörr, ›Denn Ordnung ist viel und mitunter alles‹, S. 199.
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zeichnungen zu belehren und demonstriert nicht zuletzt über den Rekurs auf den lateinischen Namen »Taraxacum, unsere gute alte Butterblume« (IW, S. 75), das bestehende Bildungsgefälle.205 Zwar sind die Beiden darum bemüht, »die Individualität der Liebe[ ] gegen das Argument der sozialen Differenz ins Feld«206 zu führen, und doch präsentiert der Text an ihnen die Wirkmacht jenes Arguments und die Unmöglichkeit, sich der Differenz zu entziehen. Wird Lene noch am gleichen Abend des Spazierganges bei dem Versuch scheitern, englische Bildunterschriften zu entziffern, offenbart sich Botho ihr Standes- und Bildungsunterschied in einigen Orthographiefehlern, die ein vor der Landpartie empfangener Brief Lenes enthielt und die »er sich nicht versagen« (IW, S. 41) kann, anzustreichen. »Gegen die Ideologie seiner Romanfigur[en] beschreibt Fontane die sozialen Differenzen als Merkmale, die nicht einfach voluntaristisch übergangen werden können, sondern ihren Ort im Innern der Subjekte selbst eingenommen haben«207 – auch und besonders in ihrer Sprache und ihrem Sprachverständnis. Insofern erweist sich die Liebesbeziehung nicht allein durch »das Gerede der Menschen oder die [äußeren; M. B.] Verhältnisse« (IW, S. 36) bedrängt, auch »unter dem Aspekt der Kommunikation und Sprache betrachtet«208, verspricht die gleichermaßen in Stand und Bildung hierarchisch strukturierte Beziehung keine glückliche Zukunft. Die in Schweigen zurückgelegte Rückfahrt zum Gasthof darf daher nicht allein auf den »magischen Liebesvertrag«209 – das Zusammenbinden des Blumenstraußes mit einem Haar Lenes, worauf Botho trotz ihres warnenden Verweises auf das Sprichwort »Haar bindet« (IW, S. 76) besteht – zurückgeführt werden. Vielmehr wird über die Frage nach Aberglauben oder Wahrheit des Sprichworts die Gegensätzlichkeit ihrer Sprach- und Sichtweisen nur weiter fort- und den Protagonisten eindringlich vor Augen geführt. Die Konse-
205 Macht und Überlegenheit demonstriert Botho auch in seiner Verklärung Lenes, wie Becker provokant formuliert: »[K]ommt in seiner Wahrnehmung Lenes als einfache, natürliche und herzensgute Geliebte wirklich mehr zum Ausdruck als die Genugtuung des sich überlegen fühlenden Botho? Umgekehrt formuliert, meinen solche Zuschreibungen denn tatsächlich mehr als die Arroganz eines Adeligen einer unwissenden und nicht sonderlich gebildeten Kleinbürgerin gegenüber?« (Becker, Literatur als ›Psychographie‹, S. 103). 206 Reulecke, Briefgeheimnis und Buchstabentreue, S. 152. 207 Ebd., S. 153. 208 Christian Baier, ›Und ›ja‹ ist gerade so viel wie ›nein‹ …‹. Die Sprache Botho von Rienäckers in Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹. In: Fontane Blätter 88 (2009), S. 137– 152, hier S. 147. 209 Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989, S. 137.
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quenz der konfliktiven Kommunikation ist schließlich das Verstummen: An die Stelle eines Versuchs sprachlicher Verständigung treten die Introspektion und das selbstreferentielle Reflektieren des ›eigenen Glücks‹, was der Landpartie nach Hankels Ablage in der ihr genuinen Ambivalenz von Nähe und Ferne, Hoffnung und Desillusionierung als eindrückliches Bild gereichen kann: »Keiner sprach. Jeder aber hing seinem Glück und der Frage nach, wie lange das Glück noch dauern werde.« (IW, S. 77) Keineswegs schweigend verläuft hingegen die Rückfahrt der LandpartieGesellschaft im Stechlin, wo die am Tisch des Eierhäuschens begonnene Konversation auf dem Deck des Dampfers unmittelbar und rege fortgesetzt wird. In das Gespräch, das immer wieder das Thema ›Liebe‹ umspielt, sind dabei Bemerkungen eingelassen und den Figuren Melusine und Woldemar von Stechlin in den Mund gelegt, die zu dem parodistischen Aufgreifen des amourös codierten Landpartie-Topos im Stechlin beitragen und die Modifikation erneut metafiktional kommentieren. So ist es »das gesprochene Wort, das den ihm gewährten Spielraum dazu nutzt, die Tradition im wahrsten Sinne des Wortes aufs Spiel zu setzen.«210 Den Anfang kann vor dem Hintergrund dieser Lesart dabei ein Ausruf Melusines machen, die noch im Kontext der Tischunterhaltung beklagt, dass Woldemar von Stechlin seinen Lehrer, den Stechliner Pastor Lorenzen, so lange »in Reserve« (DS, S. 180) gehalten hat. Wenn sie Woldemar dazu auffordert, von diesem Lehrer nun endlich zu erzählen, so lässt dies Reminiszenzen an ihr Einladungsschreiben aufkommen: Dort hatte sie bestimmt, Woldemar solle auf der Landpartie »der große Erzähler sein« (DS, S. 160), was bereits als narrationspoetologische Implikation auf das Potential des Landpartie-Topos interpretiert werden konnte.211 Wenn sie Woldemar in der betrachteten Szene um Pastor Lorenzen nunmehr mit den Worten zurechtweist, »[w]ie kann man so grausam sein und mit seinen Berichten und Redekünsten so launenhaft operieren« (DS, S. 180), so lässt sich dies auf einer zweiten Ebene geradezu als Rüge einer fiktiven Figur an die Erzählinstanz verstehen, die im Sinne der Leserschaft das gleichsam launenhafte Operieren mit dem Landpartie-Topos ankreidet. Die Antwort Woldemars ist nicht minder anspielungsreich und kann als augenzwinkernde Rechtfertigung gelesen werden: »Ich bin dazu besten Willens, Frau Gräfin. Aber es ist zu spät dazu« (DS, S. 181).212 210 Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 178. 211 Vgl. dazu Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Studie. 212 Auch wenn Der Stechlin Fontanes letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman darstellt, so muss bei einer metafiktionalen Lesart gleichwohl dahin gestellt bleiben, ob Fontane tatsächlich willens gewesen wäre, das Erzählmuster ›Landpartie‹ nochmals
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Die Ankunft des Dampfschiffs mahnt in dieser Situation einen Aufschub an; allerdings kann Woldemar versichern, von Lorenzen erzählen zu wollen, sobald die Gesellschaft den Dampfer erreicht und mit diesem die Rückfahrt angetreten hat: »Unterwegs ist übrigens Lorenzen ein wundervolles Thema, vorausgesetzt, daß uns der Anblick der Liebesinsel nicht wieder auf andre Dinge bringt.« (DS, S. 181) Die Liebesinsel gibt – wie schon bei ihrer ersten Thematisierung auf der Hinfahrt zum Eierhäuschen – über ihren Namen jedoch wieder nur das entscheidende Stichwort, das strategisch die topische Verbindung von Liebe und Landpartie in Fontanes Romanen herbeizitiert, um sie im Folgenden jedoch wiederum nicht einzulösen. Und auch Lorenzen avanciert nicht gleich zum Gesprächsgegenstand; stattdessen folgt ein Gespräch Melusines und Woldemars über die Schweigsamkeit Armgards, über die der junge Stechlin sich nur salomonisch äußert: »Manchem kleidet es zu sprechen, und manchem kleidet es zu schweigen.« (DS, S. 181) Nicht nur lässt er damit weiterhin offen, welche der beiden ungleichen Schwestern er favorisiert,213 vielmehr kommentiert er anlässlich eines unmittelbar darauf ansichtig werdenden Feuerwerks und der sich aufdrängenden Frage seines Ursprungs auf der Metaebene selbst dieses narrative Verfahren: »Ich denke, wir lassen es im Ungewissen und freuen uns der Sache selbst.« (DS, S. 182) Die darin inhärent-ironische Mahnung, der Modifikation des LandpartieTopos im Stechlin affirmativ zu begegnen, findet ein eher resignatives Äquiin gewohnter Manier aufzugreifen, oder ob es nicht angesichts seiner vielfältigen Bearbeitung im eigenen künstlerischen Interesse »zu spät dazu« war, auf die ironische und mit Frau Jenny Treibel eingeleitete Modifikation zu verzichten. Der nachgelassene und unvollendete Roman Mathilde Möhring enthält diesen Topos überhaupt nicht, wobei die Forschung diesem Roman insgesamt »eine Sonderstellung im Fontaneschen Erzählwerk« attestiert (Eda Sagarra, Mathilde Möhring. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 679– 690, hier S. 679). 213 Bestätigt sich das wechselseitig amouröse Interesse Woldemars und Armgards spätestens mit ihrer Verlobung, wird die Frage nach Melusines Affektion in der Schwebe gehalten – nicht zuletzt über die Zitation des Melusinen-Mythos und der damit assoziierten ›Liebesunfähigkeit‹. Vgl. dazu exemplarisch Renate Schäfer, Fontanes Melusine-Motiv. In: Euphorion 56 (1962), S. 67–104; Silvia Bovenschen, Theodor Fontanes Frauen aus dem Meer. Auch ein Mythos der Weiblichkeit. In: Peter Kemper (Hrsg.), Macht des Mythos – Ohnmacht der Vernunft?, Frankfurt am Main 1989, S. 359–383; Ziegler, Die Zukunft der Melusinen. – Für Mende steht indes zweifelsfrei fest, dass Melusine eindeutige Ambitionen hat und die von ihr arrangierte Landpartie daher eine »verkappte Verlobungsfahrt zum Eierhäuschen [ist]« (Dirk Mende, ›Das Wort ist die Hauptsache‹. Ein Nachwort. In: Theodor Fontane, Der Stechlin. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Fontane, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Dirk Mende, München 1999, S. 376–440, hier S. 411).
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valent in Melusines Anmerkung, mit der sie das Feuerwerk – ein im Kontext Fontanescher Landpartie-Darstellungen innovatives Gestaltungsmittel – bedenkt: »Das ist mehr, als wir erwarten durften; Ende gut, alles gut« (DS, S. 182). Bevor die Landpartie-Episode wirklich an ein Ende kommt, kann das metafiktionale Spiel um die parodistisch betriebene Irritation der Lesererwartung im Bezug auf den bewährten Landpartie-Topos noch ein weiteres Mal beobachtet werden. Dabei ist es erneut Woldemar, der, dazu aufgefordert, nach der Unterbrechung nun endlich von seinem Lehrer Lorenzen zu erzählen, das neuerliche Aufgreifen eines fallengelassenen Erzählgegenstandes wie folgt problematisiert: »[D]em nachkommen ist nicht so leicht. […] Jetzt wieder damit anfangen, das hat seine Schwierigkeiten. Und dann erwarten die Damen immer eine Liebesgeschichte […]. Sie gehen also, wie heute schon mehrfach (ich erinnere nur an das Eierhäuschen), einer grausamen Enttäuschung entgegen.« (DS, S. 184) Um die Enttäuschung auf Seiten der Leserschaft ob des variierten Gestaltungsmodus etwas abzumildern, endet die Landpartie im Stechlin mit einer versöhnlichen Geste, die schließlich doch noch einen versteckten Hinweis auf die geheime Wahl Woldemars preisgibt. Denn auf Geheiß der Baronin Berchtesgaden reichen sich die Figuren in einer bedeutsamen Konstellation die Hände, um Lorenzen leben zu lassen: »[E]infach die Hände reichen, selbstverständlich über Kreuz; hier: erst Stechlin und Armgard und dann Melusine und ich.« (DS, S. 186) Hat sich der Text zuvor jeder Eindeutigkeit enthalten und allenfalls über die Gesprächsführung eine Verbindung Woldemars und Melusines suggeriert, gerät nun Armgard in den Fokus subtiler Andeutung: »Da das spätere Brautpaar sich bereits hier auf vielsagende Weise verbindet […], weist die an sich harmlose Geste bereits auf die erst neunzig Seiten später verkündete tatsächliche Verlobung voraus.«214 Der das Kapitel abschließende Dialog umspielt ein letztes Mal das Wissen der Romanfiguren um den dynamisierenden Effekt von Landpartien auf Liebesangelegenheiten und führt zugleich das narrative Verfahren schlüssig an ein Ende – indem zum einen der ironische Erzählton beibehalten und zum anderen die Unentschiedenheit Woldemars weiter aufrecht erhalten wird: »Gleich danach aber traten die beiden alten Herren an die Gruppe heran, und der Baron sagte: ›Das ist ja wie Rütli.‹ / ›Mehr, mehr. Bah, Freiheit! Was ist Freiheit gegen Liebe!‹ / ›So, hat’s denn eine Verlobung gegeben?‹ / ›Nein … noch nicht,‹ lachte Melusine.« (DS, S. 186)
214 Neuhaus, Still ruht der See, S. 60.
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5.3 »Ende gut, alles gut«? Die Fortschreibung der Landpartie Von der Verlobung seiner Tochter auf der Halenseer Landpartie zeigt sich Wilibald Schmidt in Frau Jenny Treibel wenig überrascht; vielmehr erscheint sie ihm geradezu zwingend aus den topographischen Gegebenheiten hervorgegangen zu sein: Und daß es gerade auf diesem Terrain sein mußte. Sonderbar genug, daß Dinge derart ganz bestimmten Localitäten unveräußerlich anzuhaften scheinen. Alle Bemühungen, durch Schwanenhäuser und Kegelbahnen im Stillen zu reformiren, der Sache friedlich beizukommen, erweisen sich als nutzlos, und der frühere Charakter dieser Gegenden, insonderheit unseres alten übelbeleumdeten Grunewalds, bricht immer wieder durch. Immer wieder aus dem Stegreif. (JT, S. 184)
Abstrahiert von der dezidierten Bezugnahme auf den Grunewald und dem unverhohlen ironischen Tonfall,215 formulieren Schmidts Bemerkungen prägnant ein poetologisches Prinzip Fontanescher Landpartie-Darstellung in den Gesellschaftsromanen: die augenfällige Korrelation von Geselligkeits- und Liebeshandlung auf dem ›Terrain‹ der Landpartie. Hauschild schließt sich dieser Beobachtung an, indem sie diese noch präzisiert: »Landpartien und problematische Liebesbeziehungen sind in Fontanes Romanen eine immer wiederkehrende Kombination.«216 Während die untersuchten Romane in der Tat eint, dass die Landpartie jeweils ein topographisches und kommunikatives Setting für die Intimisierung von Beziehungsstrukturen konstituiert, machen sich in vergleichender Perspektive allerdings Unterschiede geltend, die insbesondere hinsichtlich des konfliktiven wie emotionalen Potentials und der sich daraus ergebenen Folgen für den Handlungsverlauf bestehen. So reicht das Spektrum der als ›pro-
215 Schmidt reagiert damit amüsiert und hintersinnig auf Jenny Treibels bemühten Vergleich, die in ihrer Empörung die selbstbewusste Corinna zuvor beschuldigt hat, ihren willensschwachen Sohn zu der Verlobung verleitet zu haben: »[S]o muß ich denn, zu meinem lebhaften Bedauern, von etwas Abgekartetem oder einer gestellten Falle, ja, Verzeihung, lieber Freund, von einem wohl überlegten Ueberfall sprechen.« (JT, S. 183) Wenn sich Schmidt in der zitierten Replik auf den Grunewald und seine berüchtigte Historie rückbezieht, so deutet er gewitzt auf den »wegelagernden märkischen Raubadel« (JT, Anhang S. 347) hin, der dort sein Unwesen trieb, und karikiert damit seine Tochter Corinna als gewissenlose Räuberbraut, die Leopold das Bündnis mit unlauteren Mitteln abgezwungen hat. Auch Guarda konstatiert, dass »Professor Schmidt Corinnas Tat kurzerhand einem Beutezug gleich[setzt]« (Guarda, Fontanes ›Frau Jenny Treibel‹, S. 531). 216 Hauschild, Geselligkeitsformen und Erzählstruktur, S. 128.
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blematisch‹ apostrophierten Figurenkonstellationen von einer noch nicht artikulierten Wahl zwischen zwei Heiratskandidatinnen im Stechlin, über die komplizierte Dreier-Konfiguration in L’Adultera, Cécile und Schach von Wuthenow bis zu der wahren respektive ironisch gebrochenen Mesalliance in Irrungen, Wirrungen und Frau Jenny Treibel. Ähnlich facettenreich verhält es sich, versucht man die bestehenden respektive entstehenden Beziehungen der Figuren zu typisieren. Einzig Lene und Botho in Irrungen, Wirrungen unternehmen ihre Landpartie nach Hankels Ablage als Liebespaar; in den anderen Romanen fungiert die Landpartie mittels der intendiert-zufällig herbeigeführten kommunikativen und körperlichen Nähe auf natürlichem Boden hingegen als katalysierendes Moment, das amourös codierte Verbindungen allererst stiftet oder latente Begehrensstrukturen dynamisiert. Auf wechselseitige Zuneigung fußende Beziehungen resultieren aus den Landpartien in L’Adultera und Der Stechlin, einseitiges Verlangen kann als Kennzeichen der Verhältnisse in Schach von Wuthenow, Cécile und Frau Jenny Treibel gelten, wobei die Skala mädchenhafte Schwärmerei (verkörpert durch Victoire), sexuelles Begehren (auf Seiten Gordons) und pragmatisch-ökonomisches Kalkül (Corinnas Verlobungsmotiv) umfasst. Betrachtet man die Auswirkungen der Landpartie, die Fortschreibung der episodisch evozierten Vertraulichkeit auf das weitere Handlungsgeschehen, so zeigt sich in allen Romanen ein dynamisierender Effekt: Sei es, dass der Landpartie die institutionelle Legitimierung (in Form von Verlobung und Heirat im Stechlin) respektive moralisch-sittliche Fehltritte nachfolgen (in Gestalt des Ehebruchs in L’Adultera, der Verführung in Schach von Wuthenow und der leidenschaftlichen Zudringlichkeit Gordons in Cécile), oder dass – wie in Irrungen, Wirrungen und Frau Jenny Treibel – soziale Bedingtheiten dazu führen, die Verbindungen nach der Landpartie wieder zu lösen. Die Romanschlüsse zeigen ferner einen facettenreichen Gestaltungsspielraum, indem sich Glück und Unglück der Figuren nicht zwangsläufig an der Beständigkeit respektive Realisation der Verhältnisse rubrizieren lassen. Nur die beiden im Nachklang zur Landpartie geschlossenen Ehen im Stechlin und in L’Adultera geben hinreichenden Anlass zu der einfachen Gleichung, die Fortdauer der initiierten Verbindung mit einer glücklichen Zukunft beider Paare korrelieren zu können: So figuriert Melanies zweite Ehe mit Rubehn in L’Adultera einen gelingenden Versuch weiblicher Selbstbestimmung, indem es der Protagonistin »möglich wird, Berufstätigkeit und emotional erfüllte Partnerschaft miteinander zu verbinden«217. Ist aus dieser Rubehnschen Ehe
217 Becker, ›Wiederhergestellte‹ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 148.
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bereits eine Tochter hervorgegangen, sind im Stechlin hingegen berechtigte Zweifel angebracht, ob mit der Heirat Woldemars und Armgards der Fortbestand des Stechliner Adelsgeschlechts gesichert ist.218 »Der Stimulus fehlt, die arterhaltende Leidenschaft […]. Gleichwohl verspricht die Ehe, wenn auch auf dysfunktionale Weise, harmonisch zu werden.«219 In Schach von Wuthenow, Cécile und Irrungen, Wirrungen korrespondiert die Tragik der Ereignisse indessen mit der Unmöglichkeit, persönliche Wünsche mit der Beziehung in Einklang bringen zu können. Individuelle Schuld und geleistete Sühne sind in den drei Romanen dabei ungleich verteilt und gewichtet: Für Lene und Botho erfüllt sich nach ihrer Trennung die entsagende Losung »[d]ann lebt man ohne Glück« (IW, S. 111), die Lene hellsichtig und illusionslos prognostiziert hatte. Denn »[m]an trennt sich, wie man es vorhergesehen hat, und […] erfährt […], daß man weiterliebt. Hilflos diesem Vorgang gegenüber, wortlos, verborgen unter dem äußeren Leben der jeweils sachlich und vernünftig eingegangenen Ehe, liebt eines das andere weiter.«220 Einer derartigen »Konventionalehe, die durch Takt, Lüge und Selbstbetrug erträglich, allenfalls Glück aus der Nachhand zu werden die Chance hätte«, verweigert sich Schach, indem er sich direkt nach der Eheschließung mit Victoire das Leben nimmt – »auf diese Weise sein Eheversprechen einlösend und brechend, seinem ungeborenen Kind einen Vater gebend und entziehend,«221 unterwirft sich Schach gesellschaftlicher Pflichterfüllung bei gleichzeitig radikaler Selbstbestimmung. Auch Céciles Suizid stellt einen letzten Akt der Selbstermächtigung dar, »ein nicht zurücknehmbares Aufbegehren gegen die rigiden Vereinnahmungsstrategien und Rollenzuschreibungen einer patriarchalischen Gesellschaft«222 – keinen verzweifelten Liebestod, mit dem sie dem vermeintlich geliebten und beim Duell getöteten Gordon nachfolgt. Das Scheitern angebahnter Verhältnisse darf jedoch nicht zwangsläufig mit leidvoller Erfahrung gleichgesetzt werden, sondern kann den Figuren 218 In diesem Zusammenhang muss natürlich der berühmte Schlusssatz des Romans Erwähnung finden, der Melusine in einem Brief an Lorenzen in die Feder diktiert ist: »[E]s ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe/ der Stechlin.« (DS, S. 462) 219 Michael Masanetz, ›Die Frauen bestimmen schließlich doch alles‹ oder die Vorbildlichkeit des Bienenstaates. Vom (un)heimlichen Niedergang männlicher Macht und der Macht der Liebe im ›Stechlin‹. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 2, Würzburg 2000, S. 187–200, hier S. 192. 220 Matt, Liebesverrat, S. 138. 221 Kaiser, ›Schach von Wuthenow‹ oder die Weihe der Kraft, S. 486. 222 Becker, ›Wer ist Cécile?‹, S. 151.
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durchaus zu persönlichem Glück gereichen: So schließt Schach von Wuthenow mit Victoires brieflicher Versicherung an die Freundin,223 dass sich ihr in Rom ein Jahr nach der Hochzeit und dem Tod Schachs, nicht zuletzt dank des Kindes »alles Weh in Wonne verkehrt [habe]. […] Nein, Lisette, viel Schweres ist mir auferlegt worden, aber es federt leicht in die Luft, gewogen neben meinem Glück.« (SvW, S. 158f.) Corinnas Schicksal in Frau Jenny Treibel nimmt sich im Vergleich gegen das Victoires ohnehin federleicht aus, büßt sie doch nicht unwiderruflich einen Ehemann, sondern lediglich den auf der Landpartie verpflichteten Verlobten Leopold Treibel ein – um sich umgehend mit ihrem Vetter Marcell ehelich zu verbinden. Folgt man Wrucks Deutung, Corinna habe sich eingedenk ihres Alters und in Ermangelung eines Antrags Marcells »auf eine reine Versorgungsehe zurückverwiesen« gesehen, »bejaht sich durch Corinnas Heirat die gern gestellte Frage, ob der Roman mit einem Happy-End ausgeht, vollgültig, aber unter Einschränkungen von selbst.«224 Corinnas »Sinn für Aeußerlichkeiten« – »Besitz und Geld haben einen Zauber« (JT, S. 215) auf sie – wird in der Ehe mit einem Gymnasial-Oberlehrer keinen Reflex finden. Allerdings kann als wahrscheinlich gelten, dass sich Corinnas ironisch-resignative Prophezeiungen von ihrem Leben mit Leopold erst recht an Marcells Seite (über-)erfüllen dürften: »[I]ch glaube auch nicht, daß ich sehr unglücklich geworden wäre, das liegt nicht in mir, freilich auch wohl nicht sehr glücklich. Aber wer ist glücklich? Kennst Du wen? Ich nicht.« (JT, S. 214) Und Leopold Treibel? Seine Aussichten auf eheliches Glück bleiben nach dem Verlust Corinnas und der unfreiwilligen Verlobung mit Hildegard Munk nahezu unverändert bescheiden. Denn beide Frauen gleichen sich in ihrer Zielstrebigkeit, Dominanz und gesellschaftlichen Gewandtheit, und sind dem blassen und schwächlichen Leopold hoffnungslos überlegen, so dass sich die Ehe-Schicksale seines Vaters und seines Bruders an ihm wiederholen dürften. 223 Victoires Brief vorangestellt ist ein Schreiben Bülows an Sander. Beide Briefe »unterziehen ganz Fontanisch das dramatische Handlungsende im Medium des Briefes einer Reflexion aus der Distanz und aus der doppelten Perspektive: der männlichpolitisch-kritischen Bülows und der weiblich-privat-einfühlenden Victoires. […] Ob dem einen oder dem anderen […] größeres Gewicht für Fontanes Bewertung der Vorgänge zukommt, wird in der Forschung intensiv und kontrovers diskutiert« (Grawe, Schach von Wuthenow, S. 541). Überzeugend plädiert in diesem Zusammenhang Reulecke dafür, dass »die zwei Postskripta des Romans […] nicht gegeneinander ausgespielt werden [dürfen]. Die Botschaften beider Briefe – die keine wechselseitige Korrespondenz darstellen und insofern aneinander vorbei gesendet werden – stehen also gleichberechtigt wie unbeantwortet im Raum« (Reulecke, Briefgeheimnis und Buchstabentreue, S. 145). 224 Wruck, Frau Jenny Treibel, S. 204.
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Überblickt man rückwirkend die Darstellung des Landpartie-Topos in den hier betrachteten Berliner Gesellschaftsromanen Fontanes hinsichtlich der Frage, wie das gesellschaftlich-gesellige Ritual mit der stets handlungstragenden Liebesgeschichte verknüpft wird, so zeigt sich Folgendes: Mit Frau Jenny Treibel scheint »eine bestimmte Phase innerhalb der Fontaneschen Entwicklung« markiert und ein »chronologisch-genetischer«225 Unterschied in der narrativen Inszenierung der Landpartie sichtbar zu werden. Schließlich wird das mit den vorangegangenen Romanen L’Adultera, Schach von Wuthenow, Cécile und Irrungen, Wirrungen etablierte Erzählmuster ›Landpartie‹ zwar einerseits aufgegriffen, andererseits jedoch analog zum herrschenden ironischen Erzählgestus modifiziert. Indem die topische Strukturanalogie, die Parallelisierung von Liebes- und Geselligkeitshandlung dabei noch nicht angetastet, sondern durch die explizit klischeehafte Sentimentalität nur ironisch unterspielt wird, kann die Landpartie in Frau Jenny Treibel als logisch-notwendiger Zwischenschritt betrachtet werden, den es für die weitere Fortschreibung des Topos im Modus des Ironisch-Parodistischen bedurfte, wie sie Der Stechlin präsentiert. Das im Stechlin betriebene Spiel mit der Landpartie, die Zitation der bekannten Indienstnahme für die amouröse Dynamisierung bei gleichzeitiger Unterwanderung des Erzählmusters, bietet in Miniaturform bereits sein Vorgänger-Roman Die Poggenpuhls. Obgleich ebenfalls dem Genre des Berliner Gesellschaftsromans zuzurechnen, findet sich in diesem Roman keine ausführliche Landpartie-Episode, wodurch sich sein Fehlen im Untersuchungskorpus zu erklären vermag.226 Einzig Sophie, auf Besuch bei Tante und Onkel in Adamsdorf, berichtet ihrer Familie brieflich von ihrer Teilhabe an einer Schlittenpartie. Zwar verlässt sie mit ihrem Schlitten beim »Niedersausen […] den rechten Weg und wäre, rettungslos verloren, in den Krater gestürzt« (man beachte die Metaphorik), doch ein herbeigeführter »rettende[r] Zusammenstoß«227 mit einem anderen Schlitten vereitelt Schlimmeres. Sophie bricht sich den Oberschenkelknochen, bleibt aber sonst unversehrt. Auch emotional besteht zu keiner Zeit Gefahr, denn lakonisch fügt sie hinzu: 225 Hugo Aust, Anstößige Versöhnung? Zum Begriff der Versöhnung in Fontanes ›Frau Jenny Treibel‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), Sonderheft, S. 101– 126, hier S. 103. 226 Der Verzicht auf eine Landpartie, die doch immer einen zentralen Wende- und Angelpunkt des Geschehens darstellt, ließe sich insofern mit Fontanes Aperçu zu den Poggenpuhls hinreichend erklären, das sich in einem Brief an Siegmund Schott vom 14. Februar 1897 findet: »Das Buch ist kein Roman und hat keinen Inhalt« (HFA IV/4, S. 635). 227 GBA I/16, S. 81.
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»Mein Retter war ein junger Assessor (adlig) und schon verlobt.«228 Bei allen subtilen Anleihen an eine schicksalhafte Begegnung im Kontext der Landpartie, verdeutlicht der Roman jedoch, dass »[s]elbst Episoden, die doch geradezu dazu prädestiniert wären, eine romantische Liebe zu stiften […][,] keine schicksalhafte Wende«229 bringen. Lässt sich die These einer genetisch-chronologisch fortschreitenden Ironisierung des Landpartie-Topos hinsichtlich Frau Jenny Treibel, Die Poggenpuhls und Der Stechlin auch plausibilisieren, so muss und soll gleichwohl auf den Roman Effi Briest verwiesen sein, dessen abweichendes Verfahren hier keineswegs nivelliert oder gar verschwiegen werden soll. Vielmehr kann die Bearbeitung einer Gesellschafts- wenn auch keiner klassischen Landpartie mit weitreichenden Folgen in Effi Briest als letztmalige beeindruckende Demonstration dessen gewürdigt werden, was Fontane diesem Topos in ernsthaft-tragischer Manier literarisch abgewinnen konnte. Zugleich kann aber selbst in Effi Briest ein ironisierendes Verfahren im Bezug auf Landpartien beobachtet werden, das Fontane erstmals in Frau Jenny Treibel erprobte und das er in den Poggenpuhls und dem Stechlin weiterführen wird, nämlich wenn die Geheimrätin Zwicker sich gegenüber Effi über die intrikat-doppeldeutige Semantik Berliner Landpartieziele auslässt, die als Schauplatz moralischer Verfehlungen fungieren: Überhaupt diese Vergnügungsörter in der Umgegend unseres lieben, alten Berlin! […] [S]chon die bloßen Namen der dabei in Frage kommenden Ortschaften umschließen eine Welt von Angst und Sorge. […] Ich spreche nicht von Treptow und Stralau, das sind Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur Hand nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens sonderbaren Namen wie Kiekebusch, wie Wuhlheide […] Namen von geradezu brutalem Charakter, mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. […] Ich hasse diese Landpartieen, die sich das Volksgemüt als eine Kremserpartie […] vorstellt, in Wahrheit aber schlummern hier die Keime einer sozialen Revolution. Wenn ich sage soziale Revolution, so meine ich natürlich moralische Revolution[.]230
228 Ebd. 229 Liebrand, Das Ich und die andern, S. 175. 230 GBA I/15, S. 297f.
6 Schluss 6.1 »War Berliner Landpartie« Berliner Landpartie, so lautet der Titel eines Gedichts, das – im Nachlass überliefert und auf die Jahre 1892–1898 datiert – die einzige lyrische Bearbeitung des Landpartie-Topos im Œuvre Theodor Fontanes darstellt.1 Auch wenn Fontane dieses in seinen Augen »ganz unfertige[ ] Gedicht«2 keiner formal-stilistischen Überarbeitung unterzog, woraus sich die vergleichsweise geringere Ästhetisierung zu erklären vermag, so sind dort gleichwohl diverse Motive, Modalitäten und Habitus versammelt, die auch die vorgängige wie parallele Gestaltung der Landpartie in seinen Gesellschaftsromanen kennzeichnen. Konzis und lyrisch verdichtet können in dem Gedicht zentrale Parameter (wieder-)entdeckt werden, die für Fontanes narrative Bearbeitung des Landpartie-Topos in der vorliegenden Studie herausgearbeitet wurden. Insofern kann und soll das Gedicht im Folgenden als Folie für einen fruchtbaren, resümierenden Ab- und Vergleich fungieren. Zu den Parallelen zwischen Gedicht und Gesellschaftsromanen ist allererst die verortende Spezifizierung zu zählen, indem Berlin den geographischen und mentalitätsgeschichtlichen Referenzpunkt der jeweils dargestellten Landpartie konstituiert. Denn nicht nur in den Romanen ist Berlin derjenige Schauplatz, von dem aus die Figuren zu Landpartien aufbrechen und zu dem sie nach erfolgter Unternehmung wieder zurückkehren; auch für das Gedicht markiert Berlin den Ausgangs- und Endpunkt der Landpartie. Diese zirkuläre Bewegung findet formal ihre Entsprechung in der Rahmung des Gedichts, indem die Fügung »Berliner Landpartie« das Gedicht zum einen als Titel eröffnet und zum anderen in seinem letzten Vers beschließt. Die Koinzidenz von Beginn und Ende der Landpartie sowie von Beginn und Ende des Gedichts wird dabei über die ergänzende Voranstellung des Präteritums im Schlussvers explizit ausgestellt: »War Berliner Landpartie« (BL, V. 77). Zwar ist dadurch ein nennenswerter Unterschied zu den Gesellschaftsromanen indiziert, wenn das Gedicht ausschließlich die eigentliche Unterneh1
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Das Gedicht Berliner Landpartie wird im Folgenden direkt im Text unter Angabe der Sigle (BL) und Verszeile zitiert nach der GBA. Ein Abdruck des Gedichts findet sich im Anhang der vorliegenden Studie. GBA II/2, Anhang S. 696.
https://doi.org/10.1515/9783110572698-006
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6 Schluss
mung fokussiert und weder ihr Vorher noch ihr Nachher thematisiert, und doch ist die Schilderung der eigentlichen Landpartie hier wie dort strukturell am prototypisch-ritualisierten Ablauf orientiert. Selbst Hinweise auf die motivationalen Hintergründe können dem Gedicht entnommen werden, wenn es zu Beginn heißt: »Ein Vergnügen eigner Art / Ist doch eine Wasserfahrt, / Und ein Vergnügen (frage nicht wie) / Ist eine Berliner Landpartie.« (BL, V. 1ff.) Durch die Kennzeichnung als »Vergnügen« wird die Landpartie im Gedicht als ein im privaten Kreis praktizierter Müßiggang kenntlich, wie es auch in den Romanen beobachtet werden konnte. Der Zusatz »frage nicht wie« weist dabei ironisch auf die Fragwürdigkeit der erhofften Vergnügung hin respektive zugleich voraus, denn die nachfolgende Schilderung der Landpartie wird das Vergnügen deutlich als ein vermeintliches charakterisieren, bei dem Erwartungen und ihre Erfüllung nicht zur Deckung kommen. Hier sei speziell an die Romane Cécile und Irrungen, Wirrungen erinnert, die diesen Kontrast zwischen Motivation und Realisation besonders akzentuieren. Die unmittelbar sich anschließende Aufzählung der zur Verfügung stehenden Fortbewegungsmittel – »Vorortszug« (BL, V. 5), »Droschke, Dampfschiff oder Kremser« (BL, V. 6) – markiert die Abfahrt der Partiegesellschaft und versammelt diejenigen Gefährte, die auch bei den Romanfiguren Fontanes Verwendung finden, um das Ziel der Landpartie zu erreichen. Die Erwähnung des Kremsers und der Verzicht darauf, die Privatkutsche als weitere Option zu benennen, verdeutlicht allerdings eine wichtige Differenz: Sind es in den betrachteten Romanen großbürgerlich-feudale Gesellschaften, die eine Landpartie unternehmen und zu diesem Behufe häufig die eigenen Equipagen anspannen lassen, deutet sich hier bereits an, dass das Gedicht ein kleinbürgerliches Milieu beleuchtet, was sich im weiteren Verlauf auch bestätigen wird. Schon die Verkehrsmittel – speziell »Vorortszug« und »Dampfschiff« – verweisen auf die gleichermaßen infrastrukturelle wie touristische Erschließung des Raumes und müssen die Vorstellung unterminieren, die Landpartie führe in eine natürliche, unberührte Idylle. Dass der präsentierten Naherholungsform Landpartie – im Gedicht wie in den Romanen – allenfalls strukturell die Vorstellung zugrunde liegt, den Kulturraum ›Stadt‹ zugunsten eines entlastenden Aufenthalts in der ›Natur‹ zu verlassen, vergegenwärtigt auch das Gedicht und zählt mit »Pfiff, Geklingel, Klapptrompete« (BL, V. 12) akustische, mit »Staub und Qualm und Hochstrom« (BL, V. 17) visuelle und olfaktorische Störfaktoren auf. Doch das Gedicht macht darüber hinaus ebenfalls geltend, wie die Wahrnehmung durch vorgängige Imaginationen, Erwartungen und Hoffnungen prädisponiert ist, so dass sich der Gesellschaft »schon »unterweges« (BL, V. 9) eine »Fülle goldnen Seges« (BL, V. 10) präsentiert. Der »Goldne[ ] Sand in
6.1 »War Berliner Landpartie«
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weitem Kreise« (BL, V. 11) lässt Reminiszenzen an die von Kommerzienrat Treibel auf der Landpartie nach Halensee beschworene Exotik eines »Wüstenpanorama[s]« (JT, S. 131) aufkommen; und auch die ironische Dekonstruktion ist dem Gedicht eingeschrieben, wenn mit dem Vorhandensein »Lange[r], lange[r] Spargelbeete« (BL, V. 14) und des »Bahndamm[s]« (BL, V. 12) die gleichen Konstituenten wie in Frau Jenny Treibel aufgerufen werden, um diese vermeintliche »Wunderwelt« (JT, S. 131) zu konterkarieren. – Die beobachtbaren Parallelen zwischen diesem Roman und dem Gedicht korreliert mit einer entstehungszeitlichen Nähe, so erfolgte die Erstausgabe von Frau Jenny Treibel im Jahr 1892 (datiert auf 1893). Dass es sich im Gedicht bei der derart beschriebenen Gegend um ein prästrukturiertes und perspektiviertes Wahrnehmungsprodukt der Beteiligten handelt, signalisiert zunächst der Terminus »Bild« (BL, V. 9), der auch in den Romanen stets auf individuell geschaute Landschaften rekurriert. Vollends bestätigt sieht sich diese Annahme schließlich am Ende des ersten Versabschnitts, wenn dort ein lyrisches Wir die Ankunft konstatiert und sich rückwirkend als Sprech- und Wahrnehmungsinstanz ausweist: »Ah nun kommt’s, nun sind wir da.« (BL, V. 18) Findet der Eintritt in einen vermeintlich anderen Erfahrungsraum im Gedicht formal im Einsetzen eines zweiten Versabschnitts seine Entsprechung, wird indes klar veranschaulicht, dass die Landpartie-Gesellschaft am Ende der »Schienen und Geleise« (BL, V. 12) auch hier kein einsames Refugium, sondern eine Gastwirtschaft erwartet, die unmittelbar frequentiert wird. Wie in den Romanen, stehen dafür metonymisch die »Lange[n] Reihen Tische, Tische« (BL, V. 19), wobei die additive Dopplung (»Tische, Tische«) die Fülle sprachlich unterstreicht. Doch auch weitere, aus den Romanen und insbesondere aus Frau Jenny Treibel hinlänglich bekannte formelhafte Requisiten komplettieren das Ensemble um »Weiher« (BL, V. 29), »das liebe Schwanenhaus« (BL, V. 30), »Kegelkugeln« (BL, V. 32) und einer Einrichtung, wo man »nach der Scheibe schießen« (BL, V. 53) kann. Weder im Gedicht noch in den Romanen fungiert ein Naturraum als Schauplatz der Landpartie; der aufgesuchte Ort trägt vielmehr mannigfache Zeichen der Zivilsierung, Domestizierung, kurz: der Kulturalisierung. Bevor Möglichkeiten des Zeitvertreibs näher in Erwägung gezogen werden, reflektieren die Verse gleichwohl die vorgenommene Projektion eines Idylls, das durch die eigene Anwesenheit – Paradoxon jeder touristischen und nach Authentizität suchenden Begegnung – unwiderruflich seine vermeintliche Unberührtheit einbüßen muss: »Alles atmet tiefen Frieden, / Und zu stören diesen Frieden / Ist dem Platz hier heut beschieden.« (BL, V. 23ff.) Die enthusiastische Konfiguration eines Gegenraumes, »O wie lieblich hier
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zu wohnen, / O wie weht die Luft hier freier,« (BL, V. 27f.) und die mit ihm assoziierte natürliche Reinheit und Ursprünglichkeit entlarvt das Gedicht schließlich schonungslos-humorig als Konstrukt: »Und das Sandfeld, daß sich’s verjüngt, / Eben wird es stark gedüngt. / Und der Luftzug drüber, drüber/ Trägt die Luft zu uns herüber.« (BL, V. 34ff.) Die aufgesuchten, auf die Belange und Bedürfnisse des Ausflugstourismus ausgerichteten Lokale kennzeichnet in den Romanen wie im Gedicht ein eher rustikaler Charakter, was im Gedicht metonymisch an den Löffeln zum bestellten Kaffee verdeutlicht wird: »Einige [sind] dünn und vorwurfsfrei, / Andre noch mit etwas Ei.« (BL, V. 40f.) Analog zu den Sozialsphären, denen die Landpartie-Teilnehmer jeweils zuzurechnen sind, werden verschiedene Habitus zur Darstellung gebracht. Für die ›gute Gesellschaft‹ in den Romanen Fontanes geht die im Rahmen der Landpartie eingenommene Mahlzeit mit einem Verzicht auf Opulenz und Repräsentation einher, die gesellige Zusammenkünfte im privat-häuslichen Kreis sonst auszeichnen. Die vergleichsweise unprätentiösen und regionalen konsumierten Speisen und Getränke verweisen dabei nur scheinbar auf eine »Koinzidenz von Essen und gegenkulturellem Habitus«3, im Gegenteil. Vielmehr ist der ›gegenkulturelle Habitus‹ inszeniert und trägt zur Exotisierung der Landpartie bei, der dadurch Züge einer ›inlands-ethnologischen‹, kolonialen Begegnung verliehen werden. – Werden die anfallenden Kosten in den Romanen vornehm verschwiegen, reflektiert das Gedicht hingegen das limitierte finanzielle Budget des kleinbürgerlichen Milieus. Dabei sind die Rollen innerhalb der als Familie kenntlich werdenden Landpartie-Gruppe geradezu stereotyp verteilt: Während die »Mutter, rechnet, die zu sparen liebt, / Ob es was zu retten gibt« (BL, V. 46f.), »Läßt sich [der Vater] einen Cognac kommen,« (BL, V. 57) und zahlt, als die »Mutter nicht aufgepaßt« (BL, V. 60), dem Kellner »15 Pfennig mehr« (BL, V. 59). Die sich hier in der Opposition von Sparsam- und Freigiebigkeit abgebildet findenden Divergenzen,4 die die Vorstellung eines harmonischen, stets ausgelassenen Familienausflugs konterkarieren, werden in den verschiedenen artikulierten Bedürfnissen der Kinder fortgeführt, die allesamt altbewährte Beschäftigungen im Rahmen einer Landpartie repräsentieren: »Laura möchte
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Annegret Pelz, ›Picknick‹ Papers. Essen und Sprache im Freien. In: Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer (Hrsg.), Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur, Bielefeld 2008, S. 263–276, hier S. 266. Mit der an Geiz grenzenden Sparsamkeit zitiert das Gedicht Fontanes zugleich einen stereotypen kleinbürgerlichen Habitus.
6.2 »Ernste Landpartien«, oder: »Dahinter steckt ein Roman«
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Wasserfahren« (BL, V. 48),5 »Hedwig möcht im Walde schwärmen, / Hugo will den Wald genießen, / Herrmann nach der Scheibe schießen« (BL, V. 51ff.). Lässt das Gedicht zwar offen, welche Vergnügungen realisiert werden, so stellt es zweifelsfrei heraus, dass bald Langeweile und Übel aufkommen und das Ende der Landpartie ersehnt wird: »Unter Gähnen, Mückenmorden / Ist es endlich sieben geworden« (BL, V. 62f.). Der Schein von Vergnügtheit wird gleichwohl weiter aufrecht erhalten und tut sich in einer Redensart kund, die in unverhohlener Phrasenhaftigkeit dem Ethos der Mäßigung das Wort redet: »Wenn am höchsten der Genuß, / Allemal man schließen muss« (BL, V. 68f.) Selbst die zweistündige Wartezeit bis zum Eintreffen des Zuges wird euphemistisch verklärt, wenn es heißt: »9 Uhr geht der nächste Zug, / 9 Uhr ist auch früh genug« (BL, V. 74f.). Zuletzt stellt das Gedicht explizit die relative Nähe zwischen Berlin und dem aufgesuchten LandpartieZiel heraus, die auch in den Gesellschaftsromanen stets zu beobachten war: »9½, da landen sie, / – War Berliner Landpartie.« (BL, V. 76f.)
6.2 »Ernste Landpartien«, oder: »Dahinter steckt ein Roman« Reflektiert Fontanes Gedicht die Landpartie zwar ebenfalls als »Spiel zwischen Zwang und Freiheit, zwischen Ritualität und Spontaneität, zwischen Konvention und Utopie«6, so vergegenwärtigen die narrativen Bearbeitungen dieses Topos dies selbstredend mit einer größeren Tiefenschärfe: Zum einen ermöglichen und legitimieren dies ganz basal die Gattung des Romans und das Genre des Gesellschaftsromans. Zum anderen hat die vergleichende Analyse der Romane dazu beigetragen, wiederkehrende Strukturmuster, Motive und Diskurse auszumachen – von denen einige im Gedicht Berliner Landpartie versammelt sind –, zugleich jedoch auch produktive Variationen und Modifikationen in der Fortschreibung des Topos bei Fontane zu beobachten. Dass die Landpartie in der vorliegenden Studie als ein multifokaler Untersuchungsgegenstand identifiziert werden konnte, und dies sowohl in dem 5
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Der nachfolgende Vers »Doch mit aufgelösten Haaren« (BL, V. 49) kann als Hinweis auf die empfundene Dispensierung von Normen und Zwängen im Kontext von Landpartien verstanden werden. Die geschlechtlich codierte emanzipatorische Geste des gelösten Haares sowie der damit verknüpfte Bild- und Vorstellungsbereich des Wassers lassen Reminiszenzen an Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht Am Turme aufkommen. Vgl. dazu Cornelia Blasberg, Überkreuzstellung. Zur Dialektik von Erlebnis- und Schreibfiktion. In: Claudia Liebrand und Thomas Wortmann (Hrsg.), Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff. Interpretationen, Stuttgart 2014, S. 51–60. Brandstetter und Neumann, ›Le laid c’est le beau‹, S. 114.
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6 Schluss
einzelnen Roman als auch in der Zusammenschau der Erzählwerke Fontanes, korreliert dabei wesentlich mit einem Aspekt, der als Nexus der narrativen Inszenierungen ausgemacht werden konnte – der im Gedicht allerdings vakant bleibt: Die augenfällige Verknüpfung von Geselligkeits- und Liebeshandlung im Rahmen der Landpartie. Dieser markante Unterschied zwischen dem Gedicht und den Romanen Fontanes kann zunächst in der Teilnehmerschaft der präsentierten Landpartien eine Erklärung finden. Der kleinbürgerliche Familienausflug auf der einen und die mondänen Geselligkeiten auf der anderen Seite korrespondieren mit einer typologischen Unterscheidung, die Fontane in den Wanderungen trifft: »Es gibt zwei Arten von Landpartien. Da sind zunächst die heiteren. Sie sind weithin kenntlich durch ihren starken Prozentsatz an Kindern; nie weniger als die Hälfte.«7 Nicht nur über die Anzahl der erwähnten Kinder entspricht das Gedicht dieser Feststellung; darüber hinaus greift es fast wörtlich weitere in den Wanderungen konstatierte typologische Merkmale auf, so z. B. die parodistisch gefärbte »Parole«: »Nun geht es in die Wiese, den Wald. […] Alles ist Friede; die ganze Welt ein Idyll.«8 Diese Imagination wird allerdings hier wie dort, im Gedicht ebenso wie in den humoristischen Reflexionen des Wanderungen-Kapitels, durch die (fiktive) Wirklichkeit der Landpartie unterminiert und mündet in Missstimmung respektive in Tränen. »Und doch«, so fährt der Text in den Wanderungen ironisch fort, »sind dies die heitren Landpartien, denen wir die ernsten entgegenstellen. An diesen letzteren nehmen Kinder nie teil. […] Man spricht in Pikanterien, […] Bowle und Jeu lösen sich untereinander ab […]. Sonderbar. Auf den heitren Landpartien wird immer geweint, auf den ernsten Landpartien wird immer nur gelacht.«9 In Kenntnis des in dieser Studie analysierten Textkorpus muss es sich als nur folgerichtig erklären, dass der Topos dort der Klassifizierung der »ernsten Landpartien« entspricht und dass sich der Roman respektive der Gesellschaftsroman, und gerade nicht das Gedicht, als konsequenter gattungs- und genretypologischer Ort für diese »ernsten Landpartien« erweist. Denn ›ernst‹ sind die Landpartien in den Gesellschaftsromanen Fontanes, weil sie nicht nur als Settings der Geselligkeit, sondern auch und besonders als Settings des Flirts und der Liebesbegegnung fungieren. Diese Interdependenz von Geselligkeits- und Liebeshandlung in den Romanen Fontanes korreliert dabei mit der traditionellen, begriffsgeschichtlich herzuleitenden Festlegung des 7 8 9
GBA V/3, S. 401. Ebd., S. 402. Ebd.
6.2 »Ernste Landpartien«, oder: »Dahinter steckt ein Roman«
327
Romans auf Liebesgeschichten. So definiert auch das Grimmsche Wörterbuch den Roman noch als eine »erzählung gröszeren umfanges in prosa, deren kern gewöhnlich ein liebesvorgang ist.«10 Als »kern« der Romane Fontanes kann mithin die Landpartie gelten, indem diese stets »ein[en] liebesvorgang« initiiert respektive entscheidend befördert. Denn in Gestalt eines ritualisierten Gesellschaftsvergnügens inszenieren die Landpartien topographische Grenzgänge, die im weiteren Handlungsverlauf die Entwicklung von Liebesverhältnissen und nicht zuletzt normative Grenzverletzungen dynamisieren. – Insofern ist Gordons Mutmaßung über das ihm noch unbekannte St. Arnaudsche Ehepaar in Cécile geradezu paradigmatisch der Doppelsinn eingeschrieben, den der Landpartie-Topos bei Theodor Fontane mehrheitlich kennzeichnet: »Dahinter steckt ein Roman.« (C, S. 14)
10 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 8, R – Schiefe. Bearbeitet von und unter Leitung von Dr. Moriz Heyne, Leipzig 1893, Sp. 1152.
Anhang Berliner Landpartie Ein Vergnügen eigner Art Ist doch eine Wasserfahrt, Und ein Vergnügen (frage nicht wie) Ist eine Berliner Landpartie. 5 Vorortszug mit einem Bremser, Droschke, Dampfschiff oder Kremser, Fahnen, rote, blaue, gelbe, Das Vergnügen ist dasselbe, Welches Bild schon unterweges, 10 Welche Fülle goldnen Seges, Goldner Sand in weitem Kreise, Bahndamm, Schienen und Geleise, Pfiff, Geklingel, Klapptrompete, Lange, lange Spargelbeete, 15 Nicht mehr Köpfe, nicht mehr Sprossen, Längst in Samen aufgeschossen, Staub und Qualm und Hochstrom (?) ah, Ah nun kommt’s, nun sind wir da. Lange Reihen Tische, Tische, 20 Neu gestrichen, welche Frische,
Freilich etwas terpentinen, Aber dafür welche Mienen, Alles atmet tiefen Frieden, Und zu stören diesen Frieden 25 Ist dem Platz hier heut beschieden. Kaffee! Kellner, drei Portionen, O wie lieblich hier zu wohnen, O wie weht die Luft hier freier, Und der Teich da und der Weiher 30 Und das liebe Schwanenhaus, Enten fahren ein und aus, Still die Kegelkugeln liegen, https://doi.org/10.1515/9783110572698-007
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Dicht sich aneinander schmiegen, Und das Sandfeld, daß sich’s verjüngt, Eben wird es stark gedüngt, Und der Luftzug drüber, drüber Trägt die Luft zu uns herüber. Und nun kommt der Kellner Töffel, Dicke Tassen, Nickel-Löffel, Einige dünn und vorwurfsfrei, Andre noch mit etwas Ei. Drei Stück Zucker pro Person, Und der Deckel klappert schon. Mokka, Java sind Nationen, Die weit auf dem Monde wohnen, Mutter, rechnet, die zu sparen liebt, Ob es was zu retten gibt. Laura möchte Wasserfahren, Doch mit aufgelösten Haaren, Hedwig mit den dünnen Ärmen, Hedwig möcht im Walde schwärmen, Hugo will den Wald genießen, Herrmann nach der Scheibe schießen, Mutters Lippe zieht sich schief, Ach sie kennt den Schlußtarif, [sic!] Vater hat ein Herz genommen, Läßt sich einen Cognac kommen, Vater winkt den Kellner her, Zahlt ihm 15 Pfennig mehr, Ein’ Moment, wo Mutter nicht aufgepaßt, Hat er glücklich erpaßt. Unter Gähnen, Mückenmorden Ist es endlich sieben geworden, Mutter macht sich schon bereit, Mann, ich denk, es ist nu Zeit, Möchte gern noch länger bleiben, Doch man muß nicht übertreiben, Wenn am höchsten der Genuß, Allemal man schließen muss, Darin bin ich großgezogen Und es hat mich nie betrogen. Alle haben Rückfahrtskarten,
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Alle müssen deshalb warten, 9 Uhr geht der nächste Zug, 75 9 Uhr ist auch früh genug, 9 ½, da landen sie, – War Berliner Landpartie. GBA II/2, S. 483ff.
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Literaturverzeichnis Siglen der Romane IW LA JT SvW C DS
Irrungen, Wirrungen L’Adultera. Novelle Frau Jenny Treibel oder ›Wo sich Herz zum Herzen find’t‹ Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gendarmes Cécile. Roman Der Stechlin. Roman
Texte Theodor Fontanes Fontane, Theodor, Sämtliche Werke, hrsg. von Edgar Gross, Kurt Schreinert et al. München 1959–1975 (Nymphenburger Fontane-Ausgabe, Sigle NFA). Bd. XXIII/1: Aufsätze zur bildenden Kunst. Erster Teil. Ausstellungsberichte 1852– 1878, Kurzbiographien, Aufsätze und Aufzeichnungen über bildende Künstler 1862–1895, Buchbesprechungen 1863–1891, gesammelt von Kurt Schreinert und Wilhelm Vogt. Fortgeführt und hrsg. von Rainer Bachmann und Edgar Groß, München 1970. Bd. XXIII/2: Aufsätze zur bildenden Kunst. Zweiter Teil. Reisen nach Italien 1874– 1875, Vermischte Aufsätze, Zur Kunsttheorie, gesammelt von Kurt Schreinert und Wilhelm Vogt. Fortgeführt und hrsg. von Rainer Bachmann und Edgar Groß, München 1970. Fontane, Theodor, Werke, Schriften und Briefe [zuerst unter dem Titel Sämtliche Werke], hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1969–1997 (Hanser Fontane-Ausgabe, Sigle HFA). [Abteilung III] Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen, hrsg. von Jürgen Kolbe, München 1969. Bd. 3.1: Reiseberichte, hrsg. von Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Heide Streiter-Buscher, München 1975. Bd. 4: Autobiographisches, hrsg. von Walter Keitel, München 1973. [Abteilung IV] Briefe. Bd. 3: 1879–1889, hrsg. von Otto Drude, Manfred Hellge und Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Christian Andree, München 1980. Bd. 4: 1890–1898, hrsg. von Otto Drude und Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Christian Andree, München 1982. Fontane, Theodor, Große Brandenburger Ausgabe, begründet und herausgegeben von Gotthard Erler. Fortgeführt von Gabriele Radecke und Heinrich Detering, Berlin 1994ff. (Große Brandenburger Ausgabe, Sigle GBA). [Abteilung I] Das erzählerische Werk, hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Theodor-Fontane-Archiv Potsdam. Editorische Betreuung Christine Hehle. Bde. 1–2: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, hrsg. von Christine Hehle, Berlin 2011. https://doi.org/10.1515/9783110572698-008
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Personenregister Alexis, Willibald 221–222 Auerbach, Erich 20–22
Hildebrandt, Eduard 217–218 Hogarth, William 200
Balzac, Honoré de 20 Benjamin, Walter 219526 Blechen, Carl 200–201440 Böcklin, Arnold 200–201440 Bollnow, Otto Friedrich 223–224
Keller, Gottfried 20–21 Kugler, Franz 204451
Canaletto 203 Certeau, Michel de 7–8, 9551 Dickens, Charles 20, 24 Dostojewski, Fjodor M. 20 Droste-Hülshoff, Annette von 3255
Lenau, Nikolaus 306 Lessing, Gotthold Ephraim 85 Liebermann, Max 200–201, 216511 Lorrain, Claude 199 Lotman, Jurij 7–8 Lotman, Jurij M. 107–114, 117–118, 121, 229 Menzel, Adolph 184368, 200–201 Murillo 202
Eichendorff, Joseph von 209 Fassbinder, Rainer Werner 207464 Flaubert, Gustave 20 Fontane, Emilie 26, 79, 97–9867 Fontane, Martha 96 Foucault, Michel 118–120, 275 Freytag, Gustav 33 Friedrich, Caspar David 220 Geibel, Emanuel 2240 Goethe, Johann Wolfgang 21, 49, 306193 Gotthelf, Jeremias 21 Hauptmann, Gerhart 106104 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19–20 Heidegger, Martin 223–225 Heine, Heinrich 96, 258
https://doi.org/10.1515/9783110572698-009
Poussin, Nicolas 199 Raabe, Wilhelm 165, 243619 Schiller, Friedrich 233–235 Scott, Walter 24, 204 Simmel, Georg 12, 194, 197–198, 214–215 Stifter, Adalbert 20–21 Stinde, Julius 511, 128189 Thackeray, William Makepeace 20, 24 Tintoretto 201, 203 Tizian 202–203 Tolstoi, Lew 20 Turner, William 200, 203 Wagner, Richard 4510