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German Pages 254 Year 2019
Marc Mölders Die Korrektur der Gesellschaft
Sozialtheorie
Marc Mölders (PD Dr.), geb. 1978, arbeitet im Bereich Technikfolgenabschätzung und Rechtssoziologie an der Bielefelder Fakultät für Soziologie. Seine Forschungsthemen umfassen Rechts-, Medien-, Organisations- und Techniksoziologie sowie soziologische Theorie. Er interessiert sich dafür, wie Gesellschaftskorrektur und Weltverbesserung in organisierbare Aufgaben übersetzt werden und welche Rolle Technologie dabei zukommt. Für seine Promotion zu einer soziologischen Theorie des Lernens erhielt er 2010 den Dissertationspreis der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft (WLUG).
Marc Mölders
Die Korrektur der Gesellschaft Irritationsgestaltung am Beispiel des Investigativ-Journalismus
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Inhalt
I. Einleitung ........................................................................................... 9 II. Differenzierung als Korrekturanlass und -problem........................................... 21 II.1 Gesellschaftliche Folgen .................................................................................... 22 II.2 Von Arbeitsteilung zu Polykontexturalität.............................................................. 29 II.3 Von Codes zu Schemata ................................................................................... 32 III. Korrektur und das Zusammenspiel des Differenzierten (war: Integration) ............. 43 III.1 Von Integration zu struktureller Kopplung (Luhmanns Lösung) ................................. 43 III.2 Von Integration zu Entdifferenzierung und Nicht-Übersetzbarkeit (Handlungs- und praxistheoretische Einwände) .................................................... 44 III.3 Von Verträglichkeit zur Bedeutsamkeit von Übersetzungsanregungen........................ 47 III.4 Von der Bedeutsamkeit zur Ubiquität von Übersetzungsanregungen ..........................50 III.5 Von struktureller Kopplung zu Übersetzungsverhältnissen .......................................52 III.6 Von funktionaler zu multipler Differenzierung?......................................................56 III.7 Zwischenfazit: Kleine Korrekturen ......................................................................62 IV. Die Auto-Korrektur der Gesellschaft........................................................... 71 IV.1 Protest .......................................................................................................... 72 IV.2 Folgenkorrektur als Folge funktionaler Differenzierung ........................................... 79 IV.3 Responsivität .................................................................................................82 V. 1984 und die Folgen: Die Korrektur der Steuerungstheorie ................................. 89 V.1 Grenzen der Steuerung .......................................................................................89 V.2 Reflexionsinstanzen der ersten Generation: Recht und Politik .................................... 91 V.3 Entgrenzte Instanzen zivilgesellschaftlicher Gegenmacht .........................................96 VI. Publizität als Korrekturmedium ............................................................... 101 VI.1 Einwirkungskapazität von Interaktionen und Kritik strukturierende Organisationen ......102 VI.2 Publizität als Zumutung für Selbstbeschreibungen.................................................106 VI.3 Strukturwandel der Öffentlichkeit ..................................................................... 108
VI.4 Frühe Zumutungsanreicherungen (1885-1917) ......................................................... 111 VI.5 Digitale Zumutungen (seit 1970) ......................................................................... 115 VII. Zur Organisation von Gesellschaftskorrektur ............................................... 121 VII.1 Die Korrektive der Gesellschaft ........................................................................ 123 VII.2 Irritationsgestaltung....................................................................................... 127 VII.3 Nonprofit Investigativ-Journalismus................................................................. 130 VIII. Die Korrektur der Gesellschaft – empirisch ............................................... 137 VIII.1 ProPublica als primus inter pares ..................................................................... 138 VIII.2 »Issues Around Impact« – Ergebnisse einer konversationsanalytisch ausgerichteten Dokumentenanalyse ................................140 VIII.3 Die Gesellschaft der Gesellschaftskorrektur – Übersetzungstheoretische Spurensuche ............................................................155 IX. Differenzierungstheoretische Konsequenzen rekonstruierter Korrektivpraxen ...... 159 IX.1 Praktische Ratlosigkeit vs. Irritationsgestaltung ....................................................160 Irritationsgestaltung in der Sachdimension ........................................................ 161 Irritationsgestaltung in der Sozialdimension ....................................................... 164 Irritationsgestaltung in der Zeitdimension..........................................................168 Irritationsgestaltung und das Bekenntnis zur Auslösekausalität.............................. 179 IX.2 Leicht erregbare Entrüstung vs. Empörungsorganisation ........................................ 181 IX.3 Helfen kann nur das Recht............................................................................... 193 Differenzierungstheoretische Konsequenzen rekonstruierter Korrektivpraxen – ein Fazit ...................................................................................................... 200 X. Abschluss & Fortführung ...................................................................... 203 X.1 Varianten der Gesellschaftskorrektur .................................................................. 203 X.2 Die Korrektur der nächsten Gesellschaft? ............................................................ 206 X.3 Zeitdiagnose & Ausblick.................................................................................... 213 Literatur .............................................................................................. 217 Abbildungen.......................................................................................... 247 Sach- und Personenregister...................................................................... 249
Danksagung
In diesem Buch werden Anregungen zur Korrektur der Gesellschaft im Medium der Interaktion von solchen im Medium der Publizität differenziert. Damit ist gemeint, dass es einen Unterschied macht, ob man jemanden unter der Bedingung von Anwesenheit mit Unerwartetem konfrontiert oder ebendies medial vermittelt und also aus der Ferne geschieht. Einen solchen Unterschied möchte ich auch in dieser Danksagung machen. In nicht wenigen Fällen ist Dank unter Ausschluss der Öffentlichkeit deutlich angemessener. Ferner gilt für diese Fälle, was Luhmann über Veröffentlichungen zur Entlarvung des Machtmissbrauchs in Bürokratien sagte – »ein viel zu mühsames, fast vollständig sinnloses, niemanden interessierendes Geschäft«. In diesem Sinne öffentlich zu danken ist zunächst den Gutachtern der diesem Buch zugrundeliegenden Habilitationsschrift: Alfons Bora, Joachim Renn und Tilmann Sutter. Die Diskussionen in den von ihnen geleiteten Kolloquien haben darüber hinaus zum Werden dieser Arbeit beigetragen. Das gilt zudem und in besonderem Maße für das Qualitative Forschungskolloquium unter der Leitung von Ruth Ayaß. Den methodischen und empirischen Teil hätte es nicht ohne die Teilnehmer_innen der Analysegruppe im Rahmen der Lehrforschung »Die Korrektur der Gesellschaft. Investigativ-Journalismus und die Folgen funktionaler Differenzierung« des Wintersemesters 2015/16 geben können. Einige Argumente wurden bei Workshops, Kongressen und Tagungen getestet. Nicht immer sind die Nachfragenden zu identifizieren, insofern muss diese Passage einen Platzhalter für anonyme Diskutierende abgeben. Das gilt in ganz ähnlicher Form für die Gutachter_innen von Artikeln, die auf dem Weg zu diesem Buch veröffentlicht werden konnten. Die studentischen Mitarbeiter_innen haben meine Arbeit sehr unterstützt. Sie hatten im Grunde immer klare Aufgaben. Alle haben diese bei weitem übertroffen und, so mein Eindruck, Freude daran gehabt, eigenständig weiterzumachen, z.B. mit herausragenden Abschlussarbeiten: Dominik Hofmann, Gina Jacobs und Greta Herzogenrath. Größtenteils wurden die Mittel für diese Mitarbeit fakultäts-
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intern eingeworben. Davon abgesehen ist die vorliegende Arbeit ein Beispiel für die Möglichkeiten drittmittelfreier Forschung. Ein besonderer Dank im engsten Sinne geht an meine Interviewpartner_innen bei ProPublica und Correctiv. Insbesondere in Berlin hat man sich viel Zeit genommen und mich gleich mehrmals willkommen geheißen. Obwohl mir so viele interessante Details zugetragen wurden, mehr noch als im Buch eingesetzt werden konnten, hatte niemand Misstrauen, einige hätten gar auf Anonymisierung verzichtet. Doch ich werde auch an dieser Stelle nicht persönlich, denn auch hier gilt: Auch ohne Publizität wissen die Betreffenden, dass (und wie) sie gemeint sind. Abschließend ist dem transcript Verlag für die wohlwollende Kooperation zu danken.
I. Einleitung
Wer behauptet, die moderne Gesellschaft sei korrekturbedürftig, muss mit wenig Widerspruch rechnen.1 Anders sieht es da mit dem Startpostulat der vorliegenden Studie aus: Die wesentlichen Probleme der Gesellschaft sind Übersetzungskonflikte. Dass sie mit dieser Annahme nicht allein dasteht, wie sich schon im nächsten Abschnitt zeigen wird, schmälert zunächst nicht den Eindruck, es mit einem für jedwede Differenzierungstheorie scheinbar typischen Zynismus zu tun zu haben. Ein solcher ist ganz und gar nicht beabsichtigt. Wer der Differenzierungstheorie gegenüber keine grundsätzlichen Vorbehalte hegt, mag dann aber zumindest die zugehörige Erklärung für trivial halten. Den gesellschaftlichen Folgen funktionaler Differenzierung – von Armut über Klimawandel bis zu Zivilisationskrankheiten – ist so schwer beizukommen, weil eine Differenzierung in unterschiedliche Sinnverarbeitungen nach sich zieht, dass schon die Aufnahme der Probleme so heterogen verläuft, dass sie eher weitere Probleme verursacht als Lösungen bereitzuhalten. Sogleich wirkt die Diagnose womöglich weniger exotisch: Weil sich Politik um Wiederwahl bemühen muss, die Wirtschaft letztlich an Zahlungen interessiert ist und die Wissenschaft rücksichtslos nach Erkenntnissen strebt, werden die großen Probleme zunächst in politische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Fragen übersetzt. Schon braucht es Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie dies dann auch noch als übersystemische Korrektur wirken können soll; gleich scheint die Annahme plausibler, wesentliche Gesellschafskonflikte seien Übersetzungsprobleme. Differenzierung bewirkt nicht nur die schwierigsten Konflikte, sie steht gleichermaßen ihrer Bearbeitung im Wege. Wo es hier noch um (die altbekannten) Differenzen zwischen den »großen Funktionssystemen« geht, so mutet eine erst später (Kap. III.6) einzuführende Wendung wie eine Hiobsbotschaft an: Gesellschaftliche Differenzierung setzt sich unterhalb der abstraktesten Ebene der Funktionssysteme fort. Sowohl in der pragmatistischen als auch in der systemtheoretischen Differenzierungstheorie ist man bereit, bis hinab auf die Ebene personaler Einheiten zu steigen. Das wirft 1 Gleichwohl nicht unwidersprochen: Martin Schröder (2019) erkennt im Schweigen über die stetigen Verbesserungen des Lebens den blinden Fleck der Soziologie.
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offenkundig die Frage auf, was sich eigentlich wie differenziert – und woran Beobachtenden die Unterschiede auffallen können (Kap. II). Zur Klärung wird die Studie auf den Schemabegriff und also die Ebene der Informationsverarbeitung zurückgreifen. Schemata verweisen auf das, was derzeit als »confirmation bias« (Flynn et al. 2017) für Aufregung sorgt und Jean Piaget (1976), sicher nicht zuletzt ein Schematheoretiker, als »Primat der Affirmation« bezeichnete: Informationen (also: Neues) beharrlich an Altes (hier: bereits aufgebaute Schemata) zu assimilieren. Exakt dieser Funktionalität wegen, haben es gemeinhin Fakten genannte Informationen so schwer, korrigierend auf Informationsverarbeitungen zu wirken. Wenn unterschiedliche Schemata zur Informationsverarbeitung – verteilte Borniertheit – sowohl den Korrekturanlass als auch das wesentliche Korrekturproblem abgeben, dann kann angenommen werden, dass das wechselseitige Verträglichmachen dieser Unterschiede zur Lösung ebendieser Korrekturprobleme beiträgt. Damit ist das für die Soziologie klassische Begriffspaar von Differenzierung und Integration aufgerufen. Wenn Differenzierung problematisch ist, muss Integration doch hilfreich sein. Das dritte Kapitel kommt zu abweichenden Ergebnissen. Differenzierte Verstehenskontexte müssen gar nicht erst durch vermittelnde Instanzen verträglich gemacht werden. Sie treffen so häufig schadlos aufeinander, dass die Studie zu der Diagnose einer »Banalität der Integration« kommen wird. Positiv gewendet hat sie damit eine Gesellschaft vor sich, die sich in Übersetzungsverhältnissen reproduziert. Mit dieser Annahme aber wird Integration derart ubiquitär, dass Luhmanns Lösung, Integration durch strukturelle Kopplung (Luhmann 1997) zu ersetzen, noch merkwürdiger anmutet. Was aber bedeutet es für das Thema der Korrektur der Gesellschaft, dass Differenzierung noch tiefer und Integration noch viel weiter geht? Sowohl die systemtheoretische als auch die pragmatistische Differenzierungstheorie schließen aus dieser Konstellation, dass zu Korrekturen anzuregen ist – allerdings im Kleinen, in lokal begrenzten Kontexten sowie vor allem in und durch Interaktionen. Von dieser auf Anwesenheit zurückzuführenden exklusiven Qualität von Interaktionen ist nicht nur die Theorie überzeugt. Ganz offenbar wird diese Einschätzung empirisch von den sogenannten Gipfeln des Politischen (G20), des Digitalen (re:publica) oder des Ökonomischen (Weltwirtschaftsforum Davos) geteilt. Logischer Anschluss an diese Konsequenz wiederum wäre es, die Diffusionsfrage zu stellen. Mit dieser ist angesprochen, wie lokal bzw. interaktiv gefundene und als korrektiv brauchbar erachtete Lösungen ihren (lokal begrenzten) Ursprungskontext verlassen und breiteren Anschluss finden können. Antwortende Überlegungen auf diese Diffusionsfrage müssen von der Hoffnung begleitet sein, dass andernorts dieselbe Wirkung zu erzielen ist oder zumindest gestalterische Modifikationen möglich sind, die eine Kontextualisierung einrichtbar erscheinen lassen.
I. Einleitung
Wo das Schlagwort der Diffusion fällt, sind die Massenmedien nicht weit. Auch die vorliegende Studie wird ebendiese Verknüpfung thematisieren (Kap. VI). Doch zuvor ist klarzustellen, dass die Differenzierungstheorie selbst diesen scheinbar logischen Schritt nicht gegangen ist. Sie ist, um kurz im Bild zu bleiben, eher in die Gegenrichtung marschiert. Hier bedeutet das, Fragen der Korrekturanregung auszublenden und stattdessen Anzeichen für einen »Trendwechsel« zu erkennen, der Funktionssysteme insofern als responsiv annimmt, als sie von sich auch wirksam und wichtig sein wollen (Stichweh 2014). Das vierte Kapitel wird sich demzufolge mit der »Auto-Korrektur der Gesellschaft« auseinandersetzen. Ansätzen wie der Responsivitätsthese Rudolf Stichwehs (2014, 2016) geht es dabei um mehr als einen Perspektivwechsel. So gesehen spräche nichts dagegen, sich auch dafür zu interessieren, welche Strukturen und Mechanismen systemintern ausgebildet werden, um originär externe gesellschaftliche Problemlagen zu bearbeiten. Jedoch ist damit eine Zeit- und Gesellschaftsdiagnose verknüpft, die eben beschreibt, dass funktionale Differenzierung in einer neuen Phase angelangt sei. Diese kennzeichne, dass Funktionssysteme dank ihrer längst bewältigten Ausdifferenzierung nicht mehr ausschließlich um sich kreisten, sondern sich den gesellschaftlichen Folgen funktionaler Differenzierung widmen könnten. Daraus resultiert nicht nur eine Konfrontation mit dem Erklärungsziel der vorliegenden Studie, sondern auch mit einer geradezu gegenteilig ansetzenden, ebenfalls differenzierungstheoretisch aufgestellten Traditionslinie, deren Anfang 1984 mit dem Modell »reflexiver Steuerung« gemacht wurde (Teubner & Willke 1984). Es ist noch keine Steuerungstheorie erdacht worden, die von der Frage absehen könnte, wie und von wem Korrekturen angeregt werden. Zu Beginn dieser Tradition wird die Antwort auf diese Von-Wem-Frage nicht besonders herausgehoben. Wie selbstverständlich ist entweder vom (reflexiven) Recht oder dem (Supervisions-)Staat die Rede, wenn es um Instanzen geht, die besonders gefährdende Gesellschaftsbereiche zur Reflexion anhalten sollen. Das Sollen ist hierbei kein Versprecher, es handelt sich um dezidiert normative wie prospektive Ansätze: So sollte Steuerung zukünftig aussehen. Als Korrekturvehikel kommen in dieser Zeit vor allem Verfahren vor. Systemtypologisch sind damit Interaktionen angesprochen. Irritieren, andere zum Hinterfragen sonst wie selbstverständlich exekutierter Problemlösungsmechanismen zu bringen, wird als eine Interaktionen tendenziell exklusiv zuzuschreibende Qualität aufgefasst; Reflexion setzt Anwesenheit voraus. Der weitere Verlauf dieses fünften Kapitels zeigt dann allerdings gleich zwei bemerkenswerte Verschiebungen, auf die man zu Beginn systemtheoretischer Steuerungsüberlegungen nicht hoch gewettet hätte. Weder vom Recht noch vom Staat verspricht man sich noch viel – vor allem dann nicht, wenn diese »Instrumente der Staatenwelt« (Teubner 2010) nicht im Verein mit den nunmehr im Mittelpunkt stehenden »Instanzen zivilgesellschaftlicher Gegenmacht« agierten. Nicht selten wur-
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de der Systemtheorie vorgeworfen, weder einen systematischen Ort für Zivilgesellschaft vorzusehen noch diese für willens und fähig zu halten, steuerungsrelevante Unterschiede zu produzieren. Das Governance-Paradigma stellte konsequent in Frage, ob systemtheoretisches Gestaltungsdenken »für den heutigen GovernanceDiskurs und entsprechende empirische Analysen noch von Aktualität sind oder als ›gesunkenes Kulturgut‹ eher in das Spektrum der Ideengeschichte gehören« (Lange 2007: 176). Dies erhellt, warum es durchaus spektakulär zu nennen ist, wenn nunmehr Bürger_innenbewegungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Stiftungen, Denkfabriken, Sachverständigengremien, Medien, öffentliche Diskussion, spontaner Protest, Intellektuelle, Protestbewegungen oder Gewerkschaften als mit größerer Wirkmächtigkeit ausgestattet aufgefasst werden, auch und gerade, wenn es um das Einhegen schädlicher Entscheidungsfolgen multinationaler Konzerne geht. Ungetrennt bleiben hier offenkundig organisierte wie eher unorganisierte Einheiten. Gleichwohl liegt hierin doch der Hinweis auf die zweite aufschlussreiche Verschiebung. Weil es (inzwischen?) um globale Folgen zu tun sei, deren Einhegung allem nationalstaatlich Organisierten nicht länger zugetraut wird, setzt man auch und gerade deshalb auf zivilgesellschaftliche Gegenmächte, weil von diesen anzunehmen steht, sie agierten vor allem dank eines erleichterten Medienzugangs mit den ebenfalls global operierenden Korrekturadressaten auf Augenhöhe. Überbetont man an dieser Stelle die Ausdehnung des Lokalen, übersieht man womöglich, dass mit dieser theoretischen Bewegung im Besonderen das Korrekturmedium gewechselt worden ist: Von der Interaktion zum Medium der Publizität, dem das sechste Kapitel gewidmet ist. Ebendies scheint ja auch im 21. Jahrhundert mehr als nur angemessen. Wozu auf die Instanzen der alten Welt warten, wenn eine jederzeit und überall verfügbare Öffentlichkeit dafür sorgen kann, dass dem von Geheimhaltung lebenden Übel durch Enthüllung beizukommen ist. Exakt hiervon jedenfalls war Joseph Pulitzer im ausgehenden 19. Jahrhundert überzeugt. Doch schon Pulitzers Zeitgenossen waren skeptisch, ob bloßes Enthüllen bereits die gewünschte Wirkung entfalten könnte. Zwar lassen sich einige bemerkenswerte Korrekturen nachweisen, die auf eine solche Publizität zurückzuführen sind, doch es sind gerade diese Erfolge, die die Pionierleistungen zu einem Vorbild machen, von dem inflationär Gebrauch gemacht wird. Schon das frühe 20. Jahrhundert kennt die Übersättigung des Publikums mit Skandalen; irgendwann zeigen sich die Leser_innen nicht mehr überrascht von Korruption, Amtsmissbrauch o.Ä., womit der von entsprechenden Publikationen ausgehende Druck sukzessive entweicht. Das bedeutet, dass der entscheidende, den Gebrauch des Korrekturmediums Publizität betreffende Wandel eher zu Beginn denn ausgangs des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen ist.
I. Einleitung
Jedoch hatte das fünfte Kapitel damit geschlossen, dass die Möglichkeit, weltweit über Medien Druck auf noch so weit entfernte, mächtige wie wohlhabende Korrekturverursacher_innen auszuüben, ihrerseits den Wandel begründet, statt auf den Staat eher auf global operierende zivilgesellschaftliche Gegenmächte zu setzen. Mit der korrespondierenden Vermutung, der gemeinhin mit »Digitalisierung« umrissene Wandel sei für die Korrektur der Gesellschaft von geradezu beispielloser Bedeutung, befinden sich die jüngsten differenzierungstheoretischen Ansätze also in ungewohnter, wohl aber prominenter Nachbarschaft. Auf diesem Terrain finden sich eher Ansätze, die in diesem »neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit« die technisch ermöglichte Erleichterung auch von Gesellschaftskorrektur erkennen. Digitale Technologien ermöglichten nicht nur eine beschleunigte Korrektur, obendrein würden vereinzelte Anfragen in einer Weise verdichtet, die die besondere Wirkmächtigkeit des Digitalen geradezu auszeichnet. Aus Korrektiven würden Konnektive. Damit soll gerade der Umstand bezeichnet werden, dass hinter der Wucht öffentlichen Drucks keine greifbare Organisation steht, sondern dieser sich dadurch ergibt, dass sich immer mehr Einzelne unkonzertiert einem Ansinnen, einer Forderung o.Ä. anschließen. Ebendies war nie leichter als im digitalen Zeitalter; Korrektur passiert. Ebenfalls in dieser Nachbarschaft lässt sich die »Beschleunigungsthese« lokalisieren, für die sich gegenüber dem Konnektivitätskonzept vor allem das Vorzeichen ändert. Hier beschleunigt Digitales eher die Korrekturbedürftigkeit der Gesellschaft. Digitaltechnologien ließen sich einerseits dazu nutzen, eine ohnehin schon am Kurzfristigen orientierte Korrekturinstanz wie die Politik so zur Beschleunigung anzuhalten, dass diese ihrer Aufgabe nicht länger nachkommen könnte und zudem Entfremdungstendenzen Vorschub leiste; die soziopolitische Welt antworte nicht mehr. Selbst die zumindest anfänglich gefeierten Revolutionsversuche in der arabischen Welt werden von Autoren wie Hartmut Rosa eher als Indizien von Korrekturbedürftigkeit gedeutet. Die digital leicht zu habenden Erregungs-, Empörungs- und Mobilisierungswellen seien sogar kontraproduktiv, weil sie die Erfahrung kollektiver Selbstwirksamkeit verhinderten. Auffällig ist, dass beide hier nur knapp skizzierten Positionen den Stellenwert »öffentlicher Erregung« einerseits hoch veranschlagen – wenn auch in unterschiedliche Richtungen wirkend –, andererseits hierin keinen Bedarf an koordinierender Organisation sehen. Dem Digitalen scheint ein unkontrollierbarer Zumutungsgehalt eigen zu sein. Die gegenteilige Annahme verfolgt das siebte Kapitel. Organisationen sind sowohl Autorinnen als auch Adressatinnen von Korrekturkommunikation. Wer oder was auch sonst, ließe sich systemtheoretisch konsequent rasch einwerfen, schließlich handelt es sich hierbei um die einzig adressablen sozialen Systeme. Die Argumentation muss dabei nicht ex negativo verfahren, wenn behauptet wird, Organisationen seien jene sozialen Orte, an denen zwischen unterschiedlichen Logiken
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vermittelt werden könnte. Damit muss dann mehr gemeint sein als das bloße Konstatieren, dass Korrekturanfragen ohnehin früher oder später hier hindurch müssen. Stattdessen kann die (Klein-)Arbeit an der Korrektur der Gesellschaft nur hier überhaupt beobachtet werden (Besio 2014; Tacke 2001). Das Anreichern von Publikationen mit Zumutungsgehalt, so wird zu schließen sein, ist harte Arbeit. Die daraus erst entstehende Publizität muss hergestellt werden und ist somit kein Effekt, der sich aus der Unterstellung allgemeinen Bekanntseins allein bereits ableiten lässt (vgl. Werron 2011). Genau hieraus folgt wiederum der im Weiteren zugrunde gelegte Begriff des Korrektivs, dessen historische Rekonstruktion zur Einführung des Begriffs der Vierten Gewalt im Deutschsprachigen führt. In den 1950er Jahren ist die Erinnerung an die staatlich organisierte Propaganda des Nationalsozialismus so präsent, dass sich etwa René Marcic (1955, 1957) eine staats- und parteiunabhängige Presse als verfassungsrechtlich abgesicherte Vierte Gewalt wünscht, die neben anderen außerparlamentarischen Instanzen – darunter Organisationen wie auch formlose »Aktionen, hinter denen keine greifbaren Organisationen sichtbar« stehen –, für die der Begriff Vierter Gewalt zunächst reserviert war, die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Operationen kontrollieren sollte. Damit ist allerdings vom vergleichsweise späten Beginn an kein exklusiver Fokus auf die »Ersten Drei Gewalten« gemeint, sondern es geht um eine tendenziell gesellschaftsweite Kontrolle und Kritik; Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft werden genauso explizit genannt wie Bereiche, die sich ohnehin einer parlamentarischen Kontrolle entzögen. Das muss eine »Korrektur der Gesellschaft« benannte Studie interessieren. Schließlich ist dann von Korrektiven die Rede, die keinen Gesellschaftsbereich von ihrer Beobachtung ausnehmen. Die Formel von »Kontrolle und Kritik« ist heute noch geläufig, dabei war noch in den 1950er Jahren von einer Trias die Rede: Kontrolle, Kritik und Initiative. Mit diesem letzten, offenbar in Vergessenheit geratenen Stichwort war angesprochen, dass Korrektive es nicht beim Kontrollieren und Kritisieren von bestimmten Fehlentwicklungen belassen, sondern ihrerseits die Initiative ergreifen, also Schritte zur Behebung (oder eben: Korrektur) solcher Entwicklungen einleiten. Dort also, wo Gesellschaft nach Korrekturpotentialen (Fehlerbeseitigung wie auch Verbesserungen) abgesucht wird (Kontrolle), diese sichtbar expliziert werden (Kritik) und über Mittel und Wege entschieden wird, dem Kritisierten beizukommen (Initiative), ist im weiteren Verlauf von einem gesellschaftlichen Korrektiv die Rede. Damit kann man sich die lateinische Vorlage zunutze machen, in der corrigere eben beides bedeutet: berichtigen sowie verbessern. Niklas Luhmann hatte behauptet, Protest sei daran zu erkennen, dass er andernorts Verantwortung anmahnt, ohne sich selbst in der Pflicht zu sehen. Im Grunde sieht die vorliegende Arbeit einen Anpassungsbedarf eher im Detail. Die Korrektive der Gesellschaft sehen sich nicht mit den Potentialen ausgestattet, an-
I. Einleitung
dernorts Korrekturen unmittelbar durchgreifend zu veranlassen. Dabei kann man einerseits das Anmahnen von Verantwortung andernorts betonen. Andererseits, und diesen Weg wird die vorliegende Studie beschreiten, kann so unterschiedlich angemahnt werden, dass es sich auch theoretisch lohnt, dieser Unterschiedlichkeit begrifflich gerecht zu werden. Dies zu tun, ist das Ziel des Konzepts der Irritationsgestaltung. Hierin steckt bereits eine gewisse Grenzsensibilität, nämlich davon auszugehen, dass Durchgriffe andernorts unmöglich sind. Doch damit fängt die mit diesem Konzept fokussierte Arbeit an unterschiedlicher Irritationsintensität erst an. Ob Korrekturinitiativen Adressat_innen in einer Art zu stören vermögen, die es diesen sukzessive erschwert, Irritationen als bloß momentane Inkonsistenzen abzutun, wird somit als Aspekt von Gestaltung denkmöglich; Irritation wird zu einer organisierbaren Aufgabe, in der unterschiedliche Mittel in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Der gegenwärtige, gemeinnützige Investigativ-Journalismus gibt ein einträgliches Untersuchungsfeld für die hier verfolgte Fragestellung ab. Dieser sucht stetig und mit ausgefeilten Mitteln nach gesellschaftlichem Korrekturbedarf und operiert im Medium der Publizität. In seiner gegenwärtigen und gemeinnützigen Variante wird er selbst dazu angehalten, die Initiative zu ergreifen, also über Kontrolle und Kritik hinaus, andere zu Korrekturen anzuregen. Ebendies geht weit über die ansonsten gern und oft verwendete Metapher eines Wachhundes (watchdog) hinaus, der nun dann bellt und beißt, wenn eine Gefahr sich seinem klar abgegrenzten Territorium nähert. Der gegenwärtige und gemeinnützige Investigativ-Journalismus beobachtet vielmehr die gesamte Gesellschaft. Er ist dabei allerdings seinerseits in eine Gesellschaft eingelassen, die sehr viel und sehr viel Unterschiedliches von ihren Korrektiven erwartet. Für die einen sind die gegenwärtig besonders prominenten und stiftungsfinanzierten Organisationen weniger Korrektive als vielmehr systemerhaltend. Weil ihre (insbesondere finanziellen) Gönner_innen von einer Fortführung gesellschaftlicher Grundprinzipien – nicht zuletzt: funktionale Differenzierung – eher profitierten, würde auf diesem Wege Systemkritik tendenziell verunmöglicht. Kleinteilige, inkrementelle Korrekturen seien auch deshalb die Regel, weil damit das große Ganze ungestört weiterlaufen könne. Die Förder_innen selbst erwarten ebenfalls viel, wenngleich weniger im Sinne eines return on investment als vielmehr in Form von return on impact. Korrektive müssen sichtbare, besser noch: messbare Unterschiede produzieren, ohne die die Welt nachweisbar ein schlechterer Ort wäre. Die Arbeit an der Korrektur der Gesellschaft findet folglich in einer bestimmten Gesellschaft statt, über die man kehrseitig einiges lernen kann, wenn man sich ansieht, wie an ihrer Verbesserung gearbeitet wird. Doch bevor es um diese bestimmte Gesellschaft gehen kann, wird zu klären sein, wie der Korrektur der Gesellschaft überhaupt empirisch beizukommen ist
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(Kap. VIII). Wenn Organisationen der soziale Ort sind, an dem die Arbeit an der Korrektur der Gesellschaft am besten zu studieren ist, weil hier gesellschaftliche Erwartungen kleingearbeitet werden bevor sie beim »Bodenpersonal« ankommen, dann empfehlen sich wohl solche Organisationen im Besonderen, an denen sich andere im selben Feld orientieren. Exakt dies trifft auf ProPublica zu. Es geht sogar noch präziser, denn es gibt einen dokumentarischen Ort, an dem man sich orientiert: Das Papier »Issues Around Impact« von ProPublica-General Manager Richard Tofel. Dass dieses White Paper der Schlüssel zu allem ist, was Wirkungserzielung und -messung in dieser Branche anbetrifft, versicherte mir einer meiner Interviewpartner_innen des Berliner Recherchebüros Correctiv, einer der Organisationen, für die ProPublica explizit Pate stand. Somit werden die aus den insgesamt elf Interviews mit InvestigativJournalist_innen geschlossenen Resultate erst im neunten Kapitel systematisch aufbereitet. Zuvor werden die Ergebnisse der konversationsanalytisch ausgerichteten Dokumentenanalyse des o.a. Papiers präsentiert. Dabei wird früh zu erkennen sein, dass sich dieser Text nicht im Sinne eines Handbuchs oder gar einer Gebrauchsanweisung lesen lässt. Problematisch ist, dass ein Manual schließlich nicht nur den Alliierten zur Verfügung stünde, sondern auch potentielle Ziele sich eingeladen sehen könnten, Abwehrstrategien zu antizipieren. Wie dieses Problem hier verhandelt wird, ist das Erkenntnisziel einer so vorgehenden Analyse. Das Problem muss sogar als verschärft gelten, wenn hinzugezogen wird, dass es sich dabei um eine Auftragsstudie handelt. Stiftungen und Stiftungsberatungen möchten wissen, mit welcher Art von Wirkung (bzw. eben Korrektur) buchstäblich zu rechnen ist. Um sich nicht allzu naiv in die Karten schauen zu lassen, verlegt sich das Dokument sukzessive vom Erzielen von Wirkung in Richtung Wirkmessung – nur um von dieser Warte aus dann Werbung für die Überzeugung machen zu können, dass nicht alles messbar gemacht werden könne, man ohnehin immer von Fügungen und Zufällen abhängig sei. Schon ob ihres Charakters als beauftragte Studie kann es »Issues Around Impact« nicht bei Verweisen auf Zufälliges und auf Aspekte, die nicht in den eigenen Händen liegen, belassen. Auf diesem schmalen Grat bewegen sich dann etwas konkretere Gestaltungshinweise. So sei nur in Ausnahmefällen eine hohe Reichweite anzustreben, wichtiger sei es auf solchen Schirmen aufzutauchen, die von Differerenzmacher_innen orientierungshalber konsultiert werden. Das Beauftragte verweist schon unmittelbar darauf, dass auch Korrektive wie ProPublica in Übersetzungsverhältnisse eingelassen sind, was u.a. eben bedeutet, dass auch sie mit Imperativen konfrontiert werden, die sie auf Grundlage ihrer vorliegenden Informationsverarbeitung zu respezifizieren haben. Dass die Spezifik dieser Bearbeitung Translate externer Erwartungen produziert und rekonstruierbar macht, legt eine übersetzungstheoretisch orientierte Spurensuche nahe. Anders gefasst soll damit empirisch vorzeigbar werden, welchen originär exter-
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nen Erwartungen sich (organisationale) Praxen ausgesetzt sehen (Kap. VIII.3). Um zentrale Ergebnisse der Analyse vorwegzunehmen: Diese Gesellschaft der Gesellschaftskorrektur besteht auf Transparenz, Quantifizierung und Differenzierung. Was den Transparenz-Imperativ angeht, so muss dieser als bereits zivilisiert gelten, jedenfalls haben Organisationen wie ProPublica oder Correctiv diesen Fremdlängst in einen Selbstzwang transformiert (vgl. Elias 1939, 1969). Das lässt sich in dieser Form für die Erwartung der Quantifizierung nicht in gleichem Maße behaupten. Hier gibt sich die Gesellschaft der Gesellschaftskorrektur als eine, die Zahlen erwartet. Dies wird als Fremdzwang erfahren, jedenfalls lassen sich Versuche zeigen, für das Anerkennen eher qualitativer Auskünfte zu werben. Andererseits bietet die Quantifizierungserwartung wiederum Chancen, denn bevor Mechanismen der Wirkungserzielung offenzulegen wären, kann in Richtung Wirkungsmessung umgeleitet bzw. abgelenkt werden. Differenzierung als angeeignete, von den Korrektiven aus gesehen externe Erwartung verweist schon auf das neunte Kapitel, das die empirische Analyse, dieses Mal vor allem der Expert_innen-Interviews, auf differenzierungstheoretische Konsequenzen hin überprüft. Die hier untersuchten Korrektive jedenfalls fassen ihre Umwelt als eine derart differenzierte auf, dass sie hieraus einen Gestaltungsimperativ abgeleitet (und für sich übersetzt) haben. So wird sich plausibilieren lassen, dass das Konzept der Irritationsgestaltung nicht nur aus einer Theorievorlage ableitbar war, sondern dass die beobachteten Praxen so operieren, als teilten sie deren Axiome. In ihrem Ansinnen, das Medium der Publizität so zum Einsatz zu bringen, dass Differenzmacher_innen (»people who can make a difference«) hiervon Notiz nehmen, dies nicht ignorieren und nicht leicht wegarbeiten können, scheinen die hier untersuchten Korrektive davon auszugehen, es mit differenzierten und autonomen Informationsverarbeitungen und mit je eigenen Zeitregimes zu tun haben, die nur über bestimmte (Um-)Wege ansprechbar sind. Kurzum: Das neunte Kapitel zeigt die Irritationsgestaltung dieser Sorte zivilgesellschaftlicher Gegenmacht – und zwar in der Sach-, Sozialund Zeitdimension. Dies hat nicht nur erhebliche Konsequenzen für Luhmanns ursprüngliche Annahme der praktischen Ratlosigkeit von »Protest und Presseaktivitäten«. Diese nämlich erscheinen im entsprechenden empirischen Part nicht als ratlos, wohl aber als aufgeklärt darüber, dass unmittelbare Eingriffe in fremde Kontexte undurchführbar sind. Sie zeigen aber auch, dass die Kenntnisnahme solcher Grenzen dazu genutzt werden kann, eigene Informationen mit Zumutungsgehalt anzureichern. So wenig ratlos diese Korrektive erscheinen, so schwierig ist es empirisch, Entrüstung zu erregen. An einem Punkt, an dem sich selbst Niklas Luhmann, Bernhard Pörksen und Hartmut Rosa einig zu sein scheinen, dass nämlich öffentliche Empörung leicht zu haben sei, setzt das nächste empirische Kernresultat an. Empörung erfordert mühsame Organisationsleistungen, soll sie ebenfalls zur Anrei-
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cherung mit Zumutungsgehalt nutzbar sein. Ganz leicht lässt sich etwa am Fall der Panama Papers zeigen, dass sich die Empörung über korrupte Eliten in so engen Grenzen hält, dass von ihr nicht viel Unterstützung zur rechtlichen Regelung des Problems der Briefkastenfirmen zu erwarten steht. Die schon zuvor beschriebene und über einhundert Jahre alte Diagnose eines durch Enthüllungen von Skandalen übersättigten Publikums wird sich also als weit mehr als eine bloß historische Anekdote entpuppen. Einigkeit aber besteht (zu Recht) bezüglich der Rolle des Rechts. Luhmann hatte gerade gegen Protest und Presse eingewendet, dass am Ende nur das Recht helfe. Die Analyse aber wird darauf hinauslaufen, dass die Praxis dies gar nicht als einen Gegensatz auffasst. Ganz im Gegenteil stimmen etwa ProPublica oder Correctiv darin überein, dass der anzustrebende Wandel, der Gesellschaft wieder in Ordnung bringt, ein rechtlicher ist. Dabei mag es um eine rigorosere Einhaltung bestehender Gesetze gehen, um die Schaffung neuen Rechts oder dessen Ausweitung auf andere Ebenen. Recht wird kehrseitig auch als Grund dafür angeführt, dass ein »Korrektiv der Weltgesellschaft« nicht in Sicht ist. Weil man die je heimischen Gesetze sowohl im Sinne der eigenen Einhegung als auch, wie beschrieben, als Zielkontext auffasst, hält man einzelne Korrektivmodelle, aber eben keine »One‐fits-all-Lösung« für exportierbar. Das zehnte und letzte Kapitel wird durchaus Wesentliches abermals zusammenführen, im Sinne eines Ausblicks gleichwohl versuchen, auf blinde Flecke zu sprechen zu kommen. Ein, wenn es das geben würde, offensichtlicher blinder Fleck lässt sich als western bias oder schlicht als »Eurozentrismus« bezeichnen. Geht es um Folgeprobleme funktionaler Differenzierung, so ließe sich vermeintlich leicht argumentieren, kommen schon deshalb weite Teile der Welt nicht vor. Der Abschnitt zu Varianten der Gesellschaftskorrektur (Kap. X.1) wird sich dafür interessieren, wie andernorts korrigiert wird. Dass es dabei anders als in den zuvor beschriebenen Fällen zugeht, ist kaum der Erwähnung wert. Gleichwohl wird auffallen, dass vieles zuvor Erarbeitete das Verständnis vermeintlicher Einzelfälle erhellt, etwa die Bedeutung von Interaktionen (Botswana), von Chancen performativer Abweichungen (Iran) oder einer ob der Befangenheit der Vierten diese mitbeobachtenden Fünften Gewalt (China) vernetzter Bürger_innen. Die prominente Diskussion um die Entwicklung hin zu einer »nächsten Gesellschaft« wird schließlich auf den bemerkenswerten Umstand führen, dass Digitalisierung sowohl als große gesellschaftliche Herausforderung als auch als Lösung der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung (der dann »vorangegangenen Gesellschaft«) auftritt. Diese Konstellation wird auch dazu führen, dass diejenigen mit dem größten Zutrauen in digitale Lösungsfähigkeiten alt aussehen, wenn sie in letzter Instanz auf vergleichsweise uralte Bildungsinstitutionen setzen, was sich etwa in der Forderung nach Digitalisierung als Schulfach manifestiert. Vielleicht liegt in »digitalem Empowerment« das große Emanzipationspotential, mit dem je-
I. Einleitung
de_r zur Korrekturinstanz werden könnte; doch zuvor müssten sich die potentiellen Korrekteur_innen überzeugen lassen, dass ein entsprechendes Interesse lohnte. Ebendiese Aufklärung lässt sich nicht automatisieren – zumal dann nicht, wenn Tricks wie »nudging«, also unregistrierte technische Entscheidungshilfen (aus der Verhaltensökonomie), auf der Problemseite auftauchen und somit für unzulässig erklärt werden müssen. Lautete die Aufgabe, diese Studie auf eine Zeitdiagnose enden zu lassen, sie ließe sich leicht erfüllen: Eine Korrekturgesellschaft ist klar in Sicht, an so vielen Orten und mit so raffinierten Mitteln (und Gegenmitteln) wird an der Korrektur (und deren Verhinderung) der Gesellschaft gearbeitet. Zweifelsohne operieren nicht alle Korrektive im Medium der Publizität, ebenso wenig wird ausnahmslos auf das Recht gesetzt, auch hierfür werden im Abschlusskapitel Beispiele gegeben. Sie erhärten in jedem Fall den Verdacht, von einer Korrekturgesellschaft umgeben zu sein. Auch wenn sich hierzu abermals eine »Welt(gesellschafts)reise« anböte, so scheint die Hauptstadt der Weltverbesserung derzeit im Silicon Valley zu liegen. Hier residiert das »Weltverbesserungsunternehmertum« (Nachtwey & Seidl 2017). Eines der Zauberworte dort ansässiger Unternehmen lautet: Disruption. Beschäftigt sich die »Korrektur der Gesellschaft« also mit einer ausgehenden Gesellschaft und steht nach einem disruptiven Wandel eine revolutionierte Gesellschaft vor uns? Die ersten empirisch rekonstruierbaren Spuren dieser Form organisierter Weltverbesserung deuten jedenfalls stark darauf hin, dass die Zukunft der Korrekturgesellschaft gesichert ist. Somit ist angezeigt, dass sich der nächste Abschnitt doch (noch) mit den gesellschaftlichen Folgen funktionaler Differenzierung beschäftigen kann.
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II. Differenzierung als Korrekturanlass und -problem
Die Korrektur der Gesellschaft, also die Bearbeitung gesellschaftlicher Folgeprobleme, wird durch Differenzierung mindestens verschärft, wenn nicht überhaupt erst erforderlich und überdies erschwert. Diese erste Diagnose des anschließenden Abschnitts lässt sich nicht nur aus einer systemtheoretischen Position heraus formulieren. Sogar die international viel bedeutenderen Theorieangebote Pierre Bourdieus oder Bruno Latours kommen zu diesem Schluss. Das allein ist ein für die theoretische Soziologie bemerkenswerter Umstand, gleichwohl wirft er weitere grundbegriffliche Fragen erst auf: Was für ein Gesellschaftsbegriff ist damit angesprochen? Und in was ist diese Gesellschaft differenziert? Auf abstrakter Ebene werden die im Folgenden erst zu entwickelnden Antworten lauten, dass gerade die Beobachtung von Korrekturbemühungen an einer differenzierten Gesellschaft einen Gesellschaftsbegriff einfordert. Vor diesem Hintergrund werden die jüngeren Resultate der langen differenzierungstheoretischen Diskussion um die Notwendigkeit dieses Begriffs nachgezeichnet. Die Antwort auf die Frage nach dem In‐was der Differenzierung wird darauf hinauslaufen, dass es sich um zur Informationsverarbeitung verschiedene Schemata verwendende Verstehenskontexte handelt.1 In dieser Bestimmung, dies wird im nächsten Abschnitt zu zeigen sein, sind bereits zwei wesentliche differenzierungstheoretische Modifikationen impliziert. Das betrifft zum einen die Entwicklung eines Verständnisses von funktionalistischer Arbeitsteilung hin zu differenzierten Sinnkontexten. Zweitens setzen sich Schemata an die üblicherweise von Codierung besetzte Stelle; an ihnen fallen Differenzen in der Gesellschaft auf und nicht am Prozessieren binärer Unterscheidungen. Diese hier nur thesenförmig und vor allem dicht formulierten Weichenstellungen werden in den nächsten Abschnitten ausführlich diskutiert.
1 Dieser Abschnitt bezieht sich auf Mölders (2012a).
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Die Korrektur der Gesellschaft
II.1 Gesellschaftliche Folgen Mit Folgen zu beginnen, ist erklärungsbedürftig. Eine mit »Die Korrektur der Gesellschaft« benannte Studie beschäftigt sich offenbar mit der Korrektur einer bestimmten Gesellschaft und findet schon in der Beschreibung wesentlicher gesellschaftlicher Charakteristika die Ausgangspunkte der leitenden Problemstellung: Diese Untersuchung interessiert sich für die Bearbeitung der Folgen der funktional differenzierten Gesellschaft. Schon diese wenigen Vorbemerkungen implizieren einen differenzierungstheoretischen Ansatz. Die Wahl dieser Perspektive hat ihrerseits Folgen. Das gilt zunächst einmal für die Annahme, dass die für die Gegenwartsgesellschaft wesentlichen Folgen etwas mit dieser Differenzierungsform zu tun haben. Das ist für sich genommen kein Alleinstellungsmerkmal, schließlich würden beispielsweise Klassentheorien wesentliche Gesellschaftskonflikte ebenso in Klassen(gegensätzen) finden. Umso sorgfältiger wird die Plausibilisierung des hier verfolgten Ansatzes vorgehen müssen. Somit empfiehlt es sich, gleich zu Beginn Auskunft über Folgen zu geben, die etwas mit der Differenzierungsform einer Gesellschaft zu tun haben sollen. Die Kurzformel der Folgen funktionaler Differenzierung lässt leicht übersehen, dass hierin bereits zweierlei angelegt ist. Einerseits soll damit bezeichnet sein, wo die Korrekturbedürftigkeit dieser Gesellschaft herrührt. Andererseits eignet sich diese Diagnose gleichermaßen zur Erklärung der Schwierigkeiten von Korrekturarbeiten an und in dieser Gesellschaft. Differenzierung, so die erste und sogleich zu erörternde These, bezeichnet sowohl den Korrekturanlass als auch die Korrekturprobleme. Den Korrekturanlass betreffend unterscheidet Luhmann (1997: 801ff.) zunächst zwei unterschiedliche Bereiche gesellschaftlicher Folgen funktionaler Differenzierung. Eine Ökonomie, die vor dem Problem einer gerechten Verteilung erreichten Wohlstands versagt, ein Erziehungssystem, das zu einer erheblichen Verlängerung von Ausbildungszeiten führt, ein politisches System, das zum Zweck der Stimmenmaximierung mit nichtfinanzierbaren Wohltaten wirbt, Intimbeziehungen, die im Zuge der Erfindung der Liebesheirat an Erwartungsüberlastungen leiden, eine Wissenschaft, die mit jeder Erkenntnis neues Nichtwissen produziert; diese Beispiele zeigen Folgeprobleme, mit denen die Funktionssysteme der Gesellschaft sich selbst und damit, wie Luhmann (ebd.: 802) betont, die Gesellschaft durch Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Hochleistungsorientierung belasten. Mit der Wendung Funktionssysteme kombinierten »Universalismus und Spezifikation« (ebd.: 709) soll der Umstand beschrieben sein, dass Ausdifferenzierung daran zu erkennen sei, wenn für »Politik nur noch Politik, für Kunst nur noch Kunst« usw. zählt und alle entsprechenden gesellschaftlichen Umwelten nur noch als »irritierendes Rauschen, als Störungen oder Gelegenheiten« wahrgenommen werden (ebd.: 708). Dieses »nur noch« bezeichnet die Spezifikation, die die funktional differenzierte Gesellschaft in historisch neuartiger Weise mit jeweiliger Uni-
II. Differenzierung als Korrekturanlass und -problem
versalzuständigkeit kombiniert. Das politische System etwa kümmere sich dann ausschließlich um Politisches, aber eben gleichermaßen um alles Politische. Diese Kombination aus Universalismus und Spezifikation bezeichnet den ersten Typ gesellschaftlicher Folgen funktionaler Differenzierung. Die jeweilige Übernahme spezifischer Funktionen mit Universalzuständigkeit lässt hieraus resultierende Folgen für andere übersehen. Hiervon unterscheidet Luhmann einen zweiten Problembereich, der die Umweltbeziehungen der Gesellschaft betrifft: ökologische Probleme. Eher beiläufig findet hier eine aufschlussreiche Verschiebung statt. Denn es geht nun nicht länger nur um Differenzierung als ursächlich für diese Problemsorte, sondern um Differenzierung als Erklärung für die Schwierigkeiten der Problembearbeitung: »hier besonders das Fehlen einer Zentralinstanz, die für solche Probleme zuständig wäre« (ebd.: 802). Die funktional differenzierte ist eine Gesellschaft ohne Spitze und Zentrum. Für die Korrektur ihrer Folgen bedeutet dies auch, dass noch vor der Problembearbeitung auch nur eines Systems zunächst die Umwandlung von Irritationen in Informationen anfällt. Diese Umwandlung obliegt den Funktionssystemen (ebd.: 803). Dass sich etwa Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik überhaupt mit Umweltproblemen befassen, schreibt Luhmann nicht zuletzt ökologischen Bewegungen, vor allem aber den Massenmedien zu (ebd.: 804); hierauf wird zurückzukommen sein (Kap. IV.1). Allerdings ändere auch erfolgreiches Aufdrängen nichts daran, dass jedes Funktionssystem nur auf die eigene Weise reagieren könne: »die Politik rhetorisch, die Wirtschaft durch Preiserhöhungen, die Wissenschaft durch Forschungsprojekte, die mit jedem zusätzlichen Wissen noch mehr Nichtwissen zutage fördern« (ebd.: 805). Ebendies ist mit der Wendung der »unkorrigierbaren operativen Autonomie der Funktionssysteme« (ebd.: 801) angesprochen. Das Bearbeitungsproblem beider von Luhmann unterschiedenen Folgeprobleme funktionaler Differenzierung – das Ausbilden von Scheuklappen systemischen Eigensinns und das Fehlen einer Zentralinstanz in Umweltfragen – liegt also vor allem in der Unterschiedlichkeit funktionssystemischer Informationsverarbeitungen begründet. Alle auf gesellschaftliche Probleme verweisenden Irritationen werden erst durch funktionssystemische Umwandlung zu Informationen, hier dann zu jeweils unterschiedlichen Informationen. Dem weiteren Argumentationsgang vorgreifend seien, die Bearbeitung gesellschaftlicher Folgen betreffend, zwei Thesen genannt, die wie eine gute und eine schlechte Nachricht anmuten: (1) Zur Umwandlung von Irritationen in Informationen lässt sich anregen. (2) Es gibt über Funktionssysteme hinaus weitere relevante gesellschaftliche Einheiten. »Die Korrektur der Gesellschaft« wird also danach fragen, wie zur Bearbeitung gesellschaftlicher Folgen funktionaler Differenzierung Irritationen in Informatio-
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nen umgewandelt werden. Alles Folgende versteht sich als Aufschlüsselung dieser abstrakten Fragestellung. Diese Bestimmung lädt womöglich zu der Vermutung ein, man habe es mit einem Spezialproblem der Differenzierungstheorie, genauer gesagt der Systemtheorie zu tun. Tilgt man die operative Autonomie aus der Problembeschreibung, ergeben sich ganz andere Weichen- und Fragestellungen für das Thema der Korrektur der Gesellschaft. Dieser Vermutung nachgehend kann zunächst konstatiert werden, dass sich ohne die Annahme gesellschaftlicher Differenzierung in der Tat nicht aufrechterhalten lässt, der Anlass von und die Schwierigkeit mit Gesellschaftskorrektur hinge konstitutiv mit Differenzierung zusammen. Insofern versteht sich die vorliegende Untersuchung als differenzierungstheoretische. Damit ist noch keine Entscheidung darüber getroffen, welche Art gesellschaftlicher Differenzierung anzunehmen ist – und was mit »operativer Autonomie« genau angesprochen ist. Schließlich ist damit eben auch nicht Differenzierungstheorie gesagt, Systemtheorie aber eigentlich gemeint. Dass gesellschaftliche Differenzierung schwere Folgeprobleme nach sich zieht, ist sicher keine Erfindung der Systemtheorie. Eine soziologisch frühe Spur legt Georg Simmel (1918) in der »Lebensanschauung«. Simmel geht hierin von getrennten Welten aus, die zu keiner Mischung, keinem Übergriff, keiner Kreuzung fähig seien. Sie würden »derart selbständig und definitiv«, dass das Leben seine Inhalte nur noch in sie einordne (ebd.: 37). Simmel begnügt sich also nicht nur mit der Diagnose gesellschaftlicher Differenzierung, sondern benennt hieraus resultierende Folgen.2 Handelt es sich bei der hier verfolgten Fragestellung womöglich um ein »deutsches bzw. deutschsprachiges« Spezialproblem? Schwerlich lässt sich von Differenzierungstheorie als state of the art der gegenwärtigen internationalen Soziologie ausgehen. Gleichwohl erkennen Michael Hutter (2015) und André Kieserling (2008) auch international Theorien, die sich von der »Vergleichbarkeit des Heterogenen« faszinieren ließen (Kieserling 2008: 10). Sowohl die »Welten der Rechtfertigung« von Luc Boltanski und Laurent Thévenot (1987, 1991) als auch Pierre Bourdieus »Felder«, so Hutter (2015: 16), folgten je internen Regeln und beschrieben, was in Gesellschaft auseinanderfällt. So wird aus der bloßen Faszination auch eine Krisendiagnose, präziser sehen auch diese Autoren in Differenzierung den Anlass zur Korrektur der Gesellschaft. Auffallend ist die Gemeinsamkeit, in einer Verselbständigung teilspezifischer (Welten (der Rechtfertigung), Felder) Imperative die Wurzel 2 Simmel wird teilweise ganz selbstverständlich in die Liste soziologischer Differenzierungstheoretiker_innen aufgenommen (z.B. in Kneer 2016: 37), andernorts wird diese Rubrizierung abgelehnt (z.B. in Nedelmann 2000). Ausführlicher zu Simmel als Differenzierungstheoretiker siehe Kron et al. (2013) sowie Renn (2018a).
II. Differenzierung als Korrekturanlass und -problem
allen Übels zu erkennen. Bei dieser Einigkeit den Anlass betreffend, steht zu fragen: Wie ist es um die Bearbeitung dieser Differenzierungsfolgen bestellt? In der Weiterführung der Theorieanlage mit Ève Chiapello unterscheidet Boltanski explizit zwischen korrektiver und radikaler Kritik. Während radikale Kritik sich aus Prinzipien anderer Rechtfertigungsordnung speist und Grundlegendes in Frage stellt, setzt die korrektive Variante an den sogenannten »Bewährungsproben« an – am konkreten Wahlverfahren in der staatsbürgerlichen Polis, am Verfahrenstest in der Polis der Industrie etc. (vgl. Boltanski & Chiapello 2006: 72ff.). So nahe dieser Ansatz dem hier zu entfaltenden Argument allein durch die Bezeichnung »korrektiver Kritik« kommt, darf dies den Blick auf die wesentliche Stoßrichtung des »neuen Geistes des Kapitalismus« nicht verstellen: Es geht dieser Analyse um die Qualität des Kapitalismus, solche Kritik in eigenen Treibstoff umzuwandeln. Wer etwa erhöhte Autonomie am Arbeitsplatz fordert, kann sich dann kaum noch über die Vermengung von Privatem und Beruflichem in der neuen Arbeitswelt beschweren. Im mit »Soziologie gegen Fatalismus« betitelten Postskriptum kommen Boltanski & Chiapello (ebd.: 572ff.) zu konkreteren Korrekturkonzepten. Sie betonen darin etwa die Bedeutung von Kritik in lokalen Strukturen, die als Basis sukzessive sich erweiternder Veränderung fungieren müsste. Die Bedeutung des Lokalen wird auch in der vorliegenden Untersuchung wieder aufzunehmen sein (vgl. Kap III.7). Ferner weisen sie darauf hin, dass Kritik zu üben zuallererst ein Unterscheidungsvermögen voraussetzt. Was zunächst wie eine undurchdringliche, kaum fassbare Gemengelage erscheint, müsste mit Unterscheidungen durchzogen werden – nicht zuletzt durch Erhebung und Analyse von Daten, was als Beitrag der Soziologie gegen Fatalismus in Betracht kommt. Mit den Antworten Pierre Bourdieus und Bruno Latours werden im Folgenden nicht nur sehr weit rezipierte Gesellschaftstheorien thematisiert, vielmehr lassen sich aus diesen Konzepten wiederum Kontraste für die weitere Argumentation gewinnen. Beide, so wird zu zeigen sein, verwehren sich gegen eine konsequente Auslegung des Bedeutungsbruchs zwischen den differenzierten Formen. Wieder ist dies keine theoretische Spitzfindigkeit, sondern verweist auf das letztlich empirische Argument, dass Korrekturanfragen über Differenzen hinweg stets Bedeutungsbrüchen ausgesetzt sind, eine Über-Instanz oder Meta-Sprache also ausgeschlossen bleibt. Auch Bourdieus Felder kennen je eigenen Imperative, die hier die Form feldspezifischer Interessen annehmen. Der Kampf um das relationale Gewicht der spezifischen Differenzen (re-)produziert Ungleichheiten und die bornierte Gerichtetheit auf die je eigene Maximierung produziert Folgeprobleme, die wiederum nur je feldspezifisch verarbeitet werden. »Der Bezug auf das Ganze einer sozialen Welt«, so führt Gregor Bongaerts (2011: 118) diesbezüglich aus, erfolge nun gerade nicht
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positiv durch Funktionen und Leistungen, »sondern negativ durch die Kämpfe um die Gewichtung der feldspezifischen Kapitalien.«3 Somit lehnt auch Bourdieus Feldtheorie die Idee einer zentralen Instanz für Gesellschaftskorrektur ab, allerdings sieht sie das »Feld der Macht« als Ort des dauerhaften Kampfes zwischen kulturellen Feldern und dem ökonomischen Feld vor (Bourdieu 2004; Bongaerts 2008). Das Ökonomische drängt in die anderen Felder hinein, versucht sich an der Verdrängung feldeigener Logiken. Diesem Umstand ist es im Übrigen auch geschuldet, dass Bourdieu (1998a: 103f.) sich vom Journalismus als »vierter Macht«4 wenig verspricht. Vielmehr sieht er durch das journalistische Feld, trotz dessen Sonderstellung als gate keeper für die Verbreitung politischer Weltsichten, die Marktlogik auch noch auf die Felder autonomer Kulturproduktion durchgreifen (ebd.). Eine Sonderstellung wird auch dem Feld des Rechts zugeschrieben, weil die Kämpfe um das relationale Gewicht der Kapitalien vor allem staatlich vermittelt geführt, Ansprüche und Notwendigkeiten rechtlich artikuliert würden. Diese Argumentation landet in letzter Instanz aber bei den habituellen Prägungen von Rechtspraktiker_innen und der Bedeutung symbolischen Kapitals für Positionen im juristischen Feld (Bongaerts 2008: 124f.).5 Gleichwohl kennt Bourdieus Œuvre einen vergleichsweise raffinierten Korrekturmodus. Zwar ginge es stets um die Durchsetzung je feldspezifischer Interessen, mitunter stellten sich aber dennoch bzw. gerade auf dieser Grundlage »Verallgemeinerungsprofite« (Bourdieu 1998b: 154ff.) ein. Es gebe durchaus Interessen, die sich auf Verallgemeinerung richteten. In »bestimmten Universen wie dem künstlerischen, wissenschaftlichen usw. Feld« sei es besser, »interessenfrei zu erscheinen als interessiert, besser großherzig und altruistisch als egoistisch. Und es ist den Verallgemeinerungsstrategien zu verdanken, […] daß die Realisierungschancen des Allgemeinen allgemein nicht gleich Null sind.« Kieserling (2008: 22) hält hierzu fest, dass selbst wer vorhatte, dem Gemeinwohl nur einen Lippendienst zu zollen, mit der Erwartung konfrontiert werden könnte, den Worten auch Taten folgen zu lassen. Mitunter stellt sich die Korrektur von Partialinteressen zugunsten des Allgemeinen also als Nebenfolge ein. In Kieserlings Formulierung ist angelegt, dass eine solche Erwartung adressierbar ist. Schon für Bourdieus Feldtheorie ist somit zu konstatieren, dass korrigierende Bearbeitungen in den Blick kommen, diesbezügliche Anregungen aber eher im Prinzipiellen verbleiben. 3 Bekanntermaßen unterscheidet Bourdieu (1992: 49ff.) zwischen ökonomischem, kulturellem (objektivem, inkorporiertem und institutionellem), sozialem und symbolischem Kapital. 4 Im Original heißt es »quatrième pouvoir«, eine ersichtlich andere Semantik zur deutschsprachigen »Vierten Gewalt« (hierzu ausführlicher in Kap.VII.1) oder dem englischen »Fourth Estate« (Boyce 1978; Requate 2003). 5 Zum Rechtsdenken Bourdieus siehe Kretschmann (2016, 2019).
II. Differenzierung als Korrekturanlass und -problem
Wie schon bei Boltanski & Chiapello finden sich auch bei Bourdieu (1998a) die konkretesten Korrekturüberlegungen in einem Postskriptum. Dieses ist den oben skizzierten Ausführungen zum Journalismus nachgestellt und mit »Kleines normatives Postskriptum« betitelt. Nachdem der vorangegangene Abschnitt ausführlich gezeigt hat, dass und warum in den Journalismus nicht viel Hoffnung in Sachen Gesellschaftskorrektur zu setzen sei, setzt sich dieser kurze Absatz auch durch seine Kursivsetzung vom wissenschaftlichen Haupttext ab. Das Normative wird hier klar vom Analytischen geschieden, eine genuin differenzierungstheoretische Note. Wenn es also, so nimmt Bourdieu (ebd.: 121) den Faden wieder auf, der Journalismus aus eigener Kraft nicht schaffe, dann sei vielleicht das Programm einer »konzertierten Aktion zwischen Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Journalisten« zu entwerfen. Auf den Gedanken vereinter Kräfte wird im Kap. V.3 zurückzukommen sein. Mitte der 1990er Jahre wäre auch die kühnste Prophetie nicht auf die Idee verfallen, dass Bruno Latour sich in den Kanon der Differenzierungstheorie einreihen würde. Im Oktober des Jahres 1996 trafen Latour und Luhmann im Rahmen einer Konferenz aufeinander, darum gebeten, auf einem Podium in ihr Verständnis von Wissenschaft einzuführen. Latour hielt Luhmann vor, Wissenschaft durch die System/Umwelt-Unterscheidung zu purifizieren, was dem Ansinnen der Science & Technology Studies (STS), die Verwobenheit wissenschaftlicher Praktiken mit anderen Logiken aufzuzeigen, zuwiderlaufe. Luhmann antwortete darauf nur, dass die für Latour so wichtigen technischen Artefakte Umwelt des Sozialen seien, so lange über sie nicht kommuniziert werde, dies sei eben die Konsequenz, wenn man auf Kommunikation als Letztelement des Sozialen setze. Latour echauffierte sich zunehmend, wie Gerald Wagner (1996) in seiner Tagungsrezension schildert, Luhmann blieb kühl, schließlich verließ Latour das Podium, wobei er das Mikrophonkabel ausriss. Doch in den »Existenzweisen« erklärt Latour (2014: 28), dass wesentliche gesellschaftliche Probleme etwas mit der Existenz von Differenziertem6 zu tun haben, welches je für sich davon überzeugt ist, »der beste, der differenzierteste, der bedeutendste, der rationalste von allen« zu sein. Damit geht dann auch einher, die Vorstellung eines gesellschaftlichen Zentrums aufzugeben. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang auch für Latour ökologische Probleme bzw. planetarische Bedrohungen. Um die diese Probleme begünstigende Borniertheit der Seinsweisen zu korrigieren, muss zwischen ihnen übersetzt werden.
6 Latour bezeichnet fünfzehn Existenzweisen: Reproduktion [REP], Metamorphose [MET], Gewohnheit [GEW], Technik [TEC], Fiktion [FIK], Wissenschaft [REF], Politik [POL], Recht [REC], Religion [REL], Attachments [BIN], Organisationen [ORG], Moralität [MOR], Netzwerk [NET], Präposition [PRÄ] und Doppelklick [DK]. Einführend hierzu siehe Laux (2016).
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Exakt an dieser Stelle enden dann auch die Gemeinsamkeiten in der Vorstellung gesellschaftlicher Differenzierung. Übersetzung erscheint hierin nicht als wirkliches Problem. Die Existenzweisen lassen sich einerseits durchaus als selbstreferenziell und eigene Werte artikulierend beschreiben, andererseits seien sie bis in ihre innerste Operationslogik hinein aufeinander bezogen, und das nicht nur im Sinne von Leistungsbeziehungen oder struktureller Kopplungen (Laux 2016: 24). Jörn Lamla (2016: 80) warnt, man verschenke das Potential von Latours Differenzierungstheorie, suche man nach zu vielen Gemeinsamkeiten mit der Theorie funktionaler Differenzierung.7 Als entscheidenden Unterschied markiert er dann auch, dass Latour keine unüberbrückbare Grenze des Verstehens annehme (ebd.). Darin liegt aber auch ein entscheidendes gesellschaftliches (und für Latour nicht: theoretisches) Problem begründet: Übersetzungen können »ohne Umweg, ohne Bruch, geradlinig und kontinuierlich« verlaufen (Schillmeier 2016: 214). Wo Derartiges zu beobachten sei, sei die Existenzweise »[DK] Doppelklick« am Werk, die sich gerade dadurch auszeichne, eigentlich zu berücksichtigende Differenzen zu übergehen, im Sinne der Uniformität und Störungsfreiheit zu beschleunigen. Diese Existenzweise ist, mit einem Ausdruck Georg Kneers (2016: 54), der »böse Schurke« in Latours Narrativ. Darin liegt eine interessante Problemdiagnose. Die Borniertheit der Existenzweisen, Differenzen zu ignorieren bzw. den eigenen Modus für überlegen zu halten, produziert wesentliche gesellschaftliche Folgeprobleme, mindestens hemmt sie deren Bearbeitung. Stattdessen hat sich mit [DK] ein Modus ausgebildet, dessen Eigenschaft es ist, Störungen möglichst rasch zu äquilibrieren. Anhand dieser Problembeschreibung liegt es nahe, in Anti-Doppelklickstrategien ein Korrektiv zu erkennen. Diese müssten darauf hinauslaufen, »Übersetzungskomplexität« sichtbar zu machen (Schillmeier 2016: 222), sich eben hierfür die Zeit zu nehmen, die Doppelklick einzusparen versucht. Wie sich Latour (2014: 106f.) eine korrigierende Umsetzung vorstellt, kann man, gerade im Vergleich zur Ungewöhnlichkeit des weiteren Vorschlags, nur konventionell nennen: »Wir aber wollen wieder auf die Agora zurückkehren. Die gute Kategorie entdecken, in der richtigen Tonart sprechen, den guten Interpretationsschlüssel wählen, das Gesagte richtig verstehen heißt sich darauf einstellen, richtig von etwas vor denen zu sprechen, die es betrifft – vor aller Welt, inmitten der Versammlung und nicht nach einem einzigen Interpretationsschlüssel.« In diplomatischen Verhandlungen mit anderen Kollektiven soll der Schlüssel liegen bzw. zu finden sein, »das Betriebssystem zu wechseln« (ebd.: 643). Auch wenn 7 Genau dem hat sich Braun (2017) verschrieben.
II. Differenzierung als Korrekturanlass und -problem
bei Latour vermutlich nicht nur Organisationen, Verbände, Interessenvertretungen u.Ä. sich in öffentlichen Foren zur Diplomatie verpflichten sollen, sondern auch etwa Dinge (mit-)sprechen (ders. 1999), ist die Idee, wesentliche gesellschaftliche Probleme durch wahrhaftiges Sprechen in Öffentlichkeit zu bearbeiten ein soziologischer Klassiker. Bemerkenswert bleibt an Latours neuester Soziologie gleichwohl, im vorschnellen Überbrücken von Differenziertem eine Bedrohung der Fortsetzbarkeit allen Lebens zu bestimmen. Brüche und Umwege würden zu oft ausgeblendet bzw. abgekürzt. Doch wie regt man die Existenzweisen an, sich auf Komplexität einzulassen? Auf diese Frage antworten Latours öffentliche Foren. Deutlich ist, dass die oben skizzierte Anlage der vorliegenden Untersuchung weder ein systemtheoretisches noch ein deutschsprachiges Spezialproblem darstellt. Eher ließe sich sagen, die Erfahrung, es unablässig mit Bedeutungsbrüchen, Übersetzungen oder Geschlossenheit zu tun zu haben, ist allgegenwärtig. Jedem Lehrenden ist vollkommen klar, Schüler_innen nur zum Selbstlernen anregen zu können. Praxen wie »Microtargeting« (Plouffe 2009), das abgestimmte Ansprechen von Zielgruppen, blieben ohne diese Annahme unverständlich. Doch schon diese Beispiele müssen die soziologische Differenzierungstheorie wieder auf den Plan rufen. Das Feststellen ubiquitärer Differenzen ist die eine Seite, die Frage nach Grenzverläufen eine andere. So plausibel es (zumindest aus differenzierungstheoretischer Perspektive) erscheint, dass ein zentrales Problem der Korrektur der Gesellschaft darin zu finden ist, dass Funktionssysteme Informationen nur nach Maßgabe je eigener Strukturen prozessieren können, so unklar und umstritten ist, woran sich die Unterschiedlichkeit funktionssystemischen Prozessierens eigentlich erkennen lässt. Der anschließende Abschnitt zielt daher zunächst auf eine deutlichere Bestimmung, wie es dazu kommen konnte, dass Differenzierung Folgeprobleme zeitigt und gleichermaßen deren Bearbeitung erschwert. Diese Rekapitulation geht in zweierlei Hinsicht historisch vor: erstens, die Genese gesellschaftlicher Differenzierung und zweitens, die Genese der Differenzierungstheorie betreffend.
II.2 Von Arbeitsteilung zu Polykontexturalität Der erste Eintrag zum Stichwort »Gesellschaft« im Lexikon zur Soziologie wurde von Niklas Luhmann verfasst: »das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens. Über weitere einschränkende Merkmale besteht kein Einverständnis.« Man muss inzwischen konstatieren, dass selbst diese Minimaldefinition keine fachweite Zustimmung mehr findet. Die Referenz für eine Differenzierungstheorie, die ohne einen Gesellschaftsbegriff auskommt, ist selbstredend Max Weber
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(1989|1920). Insofern ließe sich behaupten, die soziologische Differenzierungstheorie habe von Beginn an keine Notwendigkeit der Einheit (der) Gesellschaft gesehen. Thomas Schwinns (2001) »Differenzierung ohne Gesellschaft« lässt sich als eine Aktualisierung des Weberschen Programms in der Absicht lesen, Differenzierungstheorie handlungs- und nicht kommunikationstheoretisch zu begründen. Schwinns Konzeption benötigt tatsächlich keinen Gesellschaftsbegriff. Auf die Frage nach einer Einheit, auf die sich alle relevanten sozialen Differenzierungen beziehen lassen, antwortet Schwinn (2001: 445): »Differenziert wird dabei nicht ein ›Gesellschaftssystem‹, sondern die Persönlichkeit, indem ihr verschiedene Möglichkeiten der Orientierung und Sinnstiftung und damit der Lebensführung eröffnet werden. Die Einheit ist durch das Subjekt gegeben.«8 Die Bedeutung des Verzichts auf einen Gesellschaftsbegriff tritt dabei gegenüber einer anderen Weichenstellung eher in den Hintergrund. In einem späteren Beitrag betont Schwinn (2011a: 423), dass das Differenzierungsparadigma längst von Arbeitsteilung (Durkheim) auf eine »Sinn- und Bedeutungstheorie« umgestellt worden sei und sich Sinnperspektiven nun einmal nicht teilen und zusammensetzen ließen wie Arbeit. Dieser Wandel innerhalb der Differenzierungstheorie ist, auch und gerade für das vorliegende Thema, außerordentlich folgenreich; es geht dann etwa nicht mehr um Zuständigkeiten, etwa für Gesellschaftskorrektur, sondern um das jedweder Korrektur sich als Hindernis darstellende Phänomen differenzierter Sinnstiftungs- und Orientierungsmöglichkeiten, um es beinahe in Schwinns eigenen Worten zu sagen. Man kann vermuten, dass die Umstellung von Arbeitsteilung auf Sinn- und Bedeutungstheorie sich bruchlos in kommunikationsbasierten Differenzierungstheorien ausmachen lässt. Aus einer solchen Perspektive spricht etwa Armin Nassehi (2004) über Differenzierungsphänomene in der Gesellschaft, die gerade nicht mit einer Differenzierung der Gesellschaft gleichzusetzen oder zu verwechseln seien. Für ihn ist Gesellschaft allenfalls noch ein »Horizont aller möglichen Kommunikationen« und verbleibt somit im Potentiellen, während er operativ keinen Bedarf für einen allumfassenden Gesellschaftsbegriff sieht (vgl. Nassehi 2004: 102). Schwinn (2011b: 31) erkennt darin eine »Ausarbeitung des Gesellschaftsbegriffs«, konstatiert aber eine weitere »Schwundstufe«, wobei das Gesellschaftliche zu Gegenwarten zusammenschrumpfe. Man mag hierin einen Ausdruck handlungs- und systemtheoretischer Grabenkämpfe sehen, der dem Eindruck zu großer Gemeinsamkeit entgegenwirken soll. Wichtig für das hier zu entwickelnde Argument ist gleichwohl, dass die scheinbar 8 Damit ist dieser Ansatz nicht weit entfernt von Uwe Schimanks akteurzentrierter Differenzierungstheorie. Schimank (2009: 200ff.) sieht die Logiken der Funktionssysteme als verdinglichte Akteurfiktionen ebenso auf die Akteurebene durchschlagen. Nur belässt er es bei den Eigenlogiken der Funktionssysteme, wo Schwinn die Wertsphären am Werke sieht.
II. Differenzierung als Korrekturanlass und -problem
für eine kommunikationsbasierte Differenzierungstheorie so naheliegende Abkehr von Arbeitsteilung vielleicht weniger deutlich in ihr angelegt ist. Ermöglicht werden solche Deutungen durch Vorlagen Luhmanns, wenn dieser etwa in Bezug auf den für die betreffende Umstellung geradezu maßgeschneiderten Begriff der Polykontexturalität feststellt, dass »jedes Teilsystem das umfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt« rekonstruiert (Luhmann 1997: 598; Herv.: M.M.). Schon die Rede von Teilsystemen legt eine Teile-Ganzes-Vorstellung nahe, in der Formulierung »dem es angehört« wird diese dann explizit. Wenn aber die Umstellung des Differenzierungsparadigmas von Arbeitsteilung auf »Sinn- und Bedeutungstheorie« Konsens zwischen Handlungs- und Systemtheorie ist, dann sind räumliche Metaphern unzulässig. Ein besonders naheliegendes Bild ist das der modernen Gesellschaft als Puzzle, zu dem die Teilsysteme zusammengefügt werden können. Schon die Rede von Teilsystemen legt den Verdacht nahe, es müsste doch ein Ganzes geben und ebnet damit Formulierungen den Weg wie »Während Luhmann das Bild einer Gesellschaft zeichnet, die in ein Puzzle von Teilsystemen zerfällt […]« (Schwinn 2001: 21). Schon Peter Fuchs (1992) hat dieses Bild bearbeitet9 und mit dem bei Gotthard Günther (1979) entlehnten Begriff der Polykontexturalität darauf geantwortet, dass es hierbei um die Multiplikation der Beobachtungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft geht, deren besonderes Merkmal es ist, »daß keine Beobachtungsmöglichkeit sich gegenüber anderen auszeichnen läßt als besonders legitimiert, als gesellschaftsweit richtig, als einzig gültig« (Fuchs 1992: 90). Polykontexturalität bedeutet für die Differenzierungstheorie, dass ein Element in unterschiedliche Verstehenskontexte eingebunden werden kann, sich diese aber nicht aufsummieren lassen. Für Andreas Göbel (2011: 70) folgt daraus, den Gesellschaftsbegriff als einen Relationsbegriff zu bestimmen, der »das Ensemble eines Gefüges von Erwartungsformen […] mit Blick auf ihre je spezifischen Relationen zueinander« markiert. Damit kommt die Differenzierungstheorie zu einem Gesellschaftsbegriff, ohne gleichzeitig ein holistisches Verständnis zu tradieren. Diese Konzeption legt zudem eine Spur zur pragmatistischen Differenzierungstheorie (Kap. III.5).
9 »Das differenzierte System ist ja nicht (und insofern trügt die Metapher) so zerschnitten, daß man bei hinreichender Geduld ein Schnittmuster rekonstruieren, das Puzzle zum Bild zusammenfügen könnte« (ebd.: 69).
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II.3 Von Codes zu Schemata Wenn aber diese Differenzierungen in der Gesellschaft in unmittelbarem Zusammenhang sowohl mit den Folgen dieser Differenzierungsform als auch mit den Korrekturproblemen stehen, ist zunächst einmal danach zu fragen, wie und womit sich welche sozialen Einheiten abgrenzen. Die Systemtheorie wie auch ihre Rezeption verweisen an dieser Stelle gemeinhin auf binäre Codierung. Ausdifferenzierung erfolgt, so Luhmann (1997: 747), durch die exklusive Übernahme von Bezugsproblemen, »die auf die eine oder andere Weise behandelt werden müssen, soll die Gesellschaft ein bestimmtes Evolutionsniveau halten und auch andere Funktionen erfüllen können«. Die Ausbildung eines binären Codes ermöglicht dann die operative Schließung des Funktionssystems (ebd.: 748f.). An dieser Darstellung sind mindestens drei Aspekte problematisch. Erstens ist hier von Bezugsproblemen die Rede, die zwar auch anders als durch Funktionssysteme bearbeitet werden könnten, aber behandelt werden müssen. Dies rückt die Differenzierungstheorie stark in Richtung funktionalistischer Arbeitsteilung: Was muss bedient werden, damit sich Gesellschaft noch reproduzieren kann, was könnte ggf. als Ersatz einspringen etc.? Hiermit eng verbunden ist zweitens, dass der Fluchtpunkt dieser Bezugsprobleme wieder eine übergeordnete Vorstellung von Gesellschaft zu implizieren scheint. So verstanden ist funktionale Differenzierung »ein Differenzierungstyp, bei dem die sich ausdifferenzierenden Teilsysteme in einem Gesamtsystem ihre Ordnungsform gewinnen dadurch, daß sie im Blick auf das Gesamtsystem Funktionen bedienen« (Fuchs 1992: 73). Drittens ist fraglich, wie weitreichend die Rolle binärer Codes für die operative Grenzziehung ist. Die bei Luhmann fraglos an manchen Stellen anzutreffende funktionalistische Vorstellung gesellschaftlicher Differenzierung ist von anderen Autoren eindeutiger auf das umgestellt worden, was Schwinn »Sinn- und Bedeutungstheorie« nennt. Das Erklärungsziel einer eher an Parsons anschließenden Differenzierungstheorie ist es, unabdingbar zu erfüllende Funktionen auszumachen, die ihrerseits die Stabilität einer Gesellschaft verstehbar machen. Insbesondere Nassehi (2004: 102) hat diese Orientierung an Stabilität zugunsten eines operativen Verständnisses revidiert: »Die Gestalt der funktional differenzierten Gesellschaft ist also nicht einfach durch die fest stehende, stabile Existenz von Funktionssystemen gegeben, sondern durch die operative Anschlussroutine von Kommunikationen, die unterschiedliche Systemzusammenhänge emergieren lassen und sich dadurch füreinander indifferent halten können.« Aus einer kommunikationsbasierten Perspektive muss es um Anschlüsse gehen; die je spezifische Verkettung von Kommunikationen reproduziert Systeme. Doch diese
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Umstellung erklärt noch nicht aus sich heraus, in welchem Zusammenhang operative Anschlussroutinen mit den oben angesprochenen Bezugsproblemen stehen. Ebenso wenig selbsterklärend ist es, wie kommunikative Anschlussroutinen operativ zu denken sind. Luhmanns Kommunikationsbegriff ist präzise definiert als Synthese drei verschiedener Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen (vgl. Luhmann 1984: 195ff., 1995a: 115). Während sich dieser Kommunikationsbegriff für Interaktionssysteme unmittelbar erschließt, ist seine Übertragbarkeit auf Funktionssysteme keineswegs trivial. Der Frage, wie sich Nassehis »operative Anschlussroutinen« auf die Ebene der Funktionssysteme jenseits von Interaktionen beziehen lassen, hat sich Wolfgang Ludwig Schneider (2008) angenommen.10 Schneider baut sein Argument auf der Folgerung auf, dass kommunikative Ereignisse mehr als eine Funktion erfüllen. Dies wiederum wird nur ersichtlich, wenn die Verkettung kommunikativer Einzelereignisse in den Blick genommen wird. In einer kommunikativen Sequenz fungiert jede Äußerung in Bezug auf eine vorausgegangene als dritte Selektion, zeigt also Verstehen als Unterscheidung von Information und Mitteilung an. Gleichermaßen ist ebendiese Äußerung wieder Mitteilung einer Information, sofern an sie angeschlossen wird, also in einem hierauf folgenden Zug kommunikativ verstanden werden kann (vgl. Schneider 2008: 472). In Anlehnung an Luhmann (1984: 605) fasst Schneider (2008: 472f.) diesen Umstand durch die Unterscheidung zweier Dimensionen von Rekursivität: »Positioniert zwischen einem vorausgegangenen und einem Folgeereignis ist jedes kommunikative Ereignis in der Dimension retrospektiv gerichteter Rekursivität als Realisierung kommunikativen Verstehens, in der Dimension ›antezipierende(r) Rekursivität‹ […] hingegen als Mitteilung einer Information zu begreifen (die in dieser Funktion freilich erst durch ein nächstes Mitteilungsereignis identifiziert wird). Jedes Ereignis, das zwischen einem Vorläufer- und einem Nachfolgeereignis positioniert ist, bündelt also alle drei kommunikationskonstitutiven Selektionen, insofern es ein vorausgehendes Ereignis als Mitteilung einer Information versteht und selbst durch ein Nachfolgeereignis als Mitteilung einer (weiteren) Information verstanden wird.«11
10 Dieser Beitrag war seinerseits eine Antwort auf Rainer Greshoffs (2008) Plädoyer »Ohne Akteure geht es nicht!«, das, hierin auf der Schwinn-Linie, darauf zielt, die gesellschaftstheoretische Differenzierungsdiskussion nicht ohne die sozialtheoretische Figur des Akteurs führen zu können. 11 Dass an keiner Stelle »ein Gedanke in die sequentielle Verknüpfung von Mitteilungen« interveniert, führt Schneider (ebd.) zu dem sozial-, aber auch differenzierungstheoretisch relevanten Schluss, dass es auch ohne Akteure in einem grundbegrifflichen Sinne geht.
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Doch wie lassen sich diese Dimensionen, die wiederum zur Beschreibung von Interaktionsdynamik unmittelbar plausibel sind, auf die differenzierungstheoretisch zentrale Frage beziehen, wie und womit sich welche sozialen Einheiten abgrenzen? Polykontexturalität wird als Diagnose, als Ergebnis sozialer Differenzierung auch von der Handlungstheorie nicht bestritten, aus Sicht von Greve & Kroneberg (2011: 10) ist dieses Phänomen »in handlungstheoretisch fundierten Differenzierungstheorien zu berücksichtigen«. Ein kommunikationsbasiertes Verständnis fasst Polykontexturalität als »Pluralisierung synchron koexistierender Verstehenskontexte als Ergebnis sozialer Differenzierung« (Schneider 2008: 476). Eine dem Wortlaut nach identische Mitteilung kann Teil unterschiedlicher Verstehenskontexte werden, die dieser Mitteilung dann einen je systemspezifischen Sinn zuweisen (vgl. ebd.). Eine wissenschaftliche Publikation schließt retrospektiv an andere wissenschaftliche Kommunikationen an, bezieht sich auf den Forschungsstand, macht Forschungslücken aus. Schließen sich weitere Publikationen an, machen diese aus der hier als Ausgangspublikation (»positioniert zwischen einem vorausgegangenen und einem Folgeereignis«) betrachteten, die zuvor ja retrospektiv als Verstehensselektion fungierte, eine Information usw. Das ist gewissermaßen der Normalfall der Reproduktion der operativen Anschlussroutine wissenschaftlicher Kommunikation. Polykontexturalität kommt ins Spiel, wenn anders als wissenschaftlich an eine wissenschaftliche Kommunikation angeschlossen wird. Wiederum geht es um ein und das gleiche Element, eine wissenschaftliche Kommunikation, um im Beispiel zu bleiben. Wird politisch hieran angeschlossen, so kann Politik etwa ein bestimmtes Forschungsergebnis als Bestätigung ihrer Position verstehen und es zur Stimmenmaximierung zu nutzen versuchen. Das Erziehungssystem kann zur intendierten Personenveränderung hieran anschließen usw. Hieraus folgt, dass Differenzen erst durch Anschlüsse auffallen. Die Letzteinheit differenzierungstheoretischer Analysen kann also weder eine Einzelhandlung noch eine Einzeläußerung sein, sondern ist die »Sequenz von zwei Mitteilungsereignissen« (Schneider 2008: 472). Unterschiedliche operative Anschlussroutinen reproduzieren sich kommunikativ und unabhängig davon, welches Subjekt daran mit welchen Intentionen oder Präferenzen beteiligt ist. »Erst die Reaktion schließt die Kommunikation ab, und erst an ihr kann man ablesen, was als Einheit zustandegekommen ist«, so Luhmann (1984: 212). Dem kann nun hinzugefügt werden: Erst die Reaktion zeigt an, welche Anschlussroutine reproduziert wird. Doch woran erkennt man, welche Anschlussroutine reproduziert wird? Was fungiert als Indikator ihrer Abgrenzung? Auch Schneider (2008: 476) sieht an dieser Stelle die binären Codes am Werke, die Mitteilungen in Verstehenskontexte einschließen und zur Anschlussstelle gleichcodierter Kommunikationen werden lassen.
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Was die Bedeutung des Codes für die Grenzziehung angeht, hat man es in bestimmter Hinsicht mit einem Phänomen zu tun, das schon in der Diskussion zur Notwendigkeit eines Gesellschaftsbegriffs auftauchte: die Festlegung seitens der Rezeption auf eine Lesart, die bei Luhmann an manchen Stellen angelegt, keineswegs aber als »systemtheoretisch verbindlich« anzusehen ist. In diesem Sinne ist es für die (handlungstheoretische) Rezeption eindeutig, dass für Luhmann die Verwendung binärer Codes Systemgrenzen bestimme. So führen Greve & Kroneberg (2011: 11) bezüglich der Abgrenzungsfrage aus: »Auf den ersten Blick besitzt eine kommunikationstheoretisch verfahrende Differenzierungstheorie, die auf Codierung abhebt, hier Vorteile. Sie kann die Grenzen der Teilsysteme klar bestimmen.« Sehe man genauer hin, so existiere dieses Problem in der systemtheoretischen Differenzierungstheorie gleichermaßen: »nicht jede wahrheitsfähige Aussage gehört zur Wissenschaft« (ebd.). Dass hier auf das Wissenschaftssystem verwiesen wird, ist kein Zufall. In der entsprechenden Monographie Luhmanns trifft man einige Stellen an, die die Interpretation einer Überbetonung von Codierung zulassen. So schreibt Luhmann (1990a: 309): »Die Bedingung für die Schließung eines besonderen Systems für Wahrheitskommunikation kann man nur im Bezug jeder einzelnen Operation auf den Code des Systems sehen. […] Das System operiert mit Kommunikationen, die zwar den Wert wahr oder und den Wert unwahr negieren können, aber nicht die Relevanz dieser Differenz. Geht es stattdessen um die Differenz von gut und böse oder von nützlich und schädlich, läuft die Kommunikation nicht im Wissenschaftssystem ab. […] Das System reproduziert sich durch Zuordnung von Kommunikationen zu diesem Code. Alle Operationen und nur Operationen, für die dies gilt, sind interne Operationen des Systems.« Kurzum (ebd.: 209): »Operationen, die nicht zwischen wahr und unwahr wählen, bleiben durchaus möglich, aber gehören nicht zum System Wissenschaft.« Noch auf derselben Seite führt Luhmann aus, der Code sei nur eines der strukturellen Erfordernisse symbolisch generalisierter Kommunikation. An diesem sehr kurzen Ausschnitt aus der Rezeptionsgeschichte zeigt sich auch die empirische Angemessenheit eines operativen Verständnisses von Wissenschaft als einem Kommunikationssystem: Es kommt eben darauf an, woran (wie) angeschlossen wird. Wie empirisch angemessen die Annahme ist, nicht jede wahrheitsfähige Aussage reproduziere das Wissenschaftssystem, lässt sich an einem trivialen Beispiel zeigen. Würden allein binäre Codes bzw. Leitunterscheidungen für Grenzziehungen verantwortlich sein, müsste die (wahre) Aussage eines Kindes, dass dieser Ball blau sei, das Wissenschaftssystem reproduzieren. An diesem Beispiel lässt sich zweierlei zeigen: Zum Ersten verdeutlicht es den zuvor gezogenen Schluss, die Sequenz von zwei Mitteilungsereignissen als Letzteinheit differenzierungstheoreti-
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scher Analysen aufzufassen. Würde an den o.a. Beispielsatz so angeschlossen werden: »Nein, diese Farbe nennt man nicht ›blau‹, sondern ›violett‹«, möglicherweise folgten weitere Exkurse zur Farbenlehre, wäre Erziehung als Kontext aufgeblendet. Zum Zweiten müssen neben codierten Kommunikationen weitere für die Reproduktion eines Systems sorgen. Ein offenkundiger Kandidat ist der Programmbegriff bzw. die Einheit von Code und Programm. Für das Verhältnis von Code und Programm verweist Luhmann selbst auf Jacques Derridas Begriff des Supplements und bezeichnet es als eines gegenseitiger Ergänzung (vgl. Luhmann 1993: 189; Derrida 1974: 250). Urs Stäheli (1996) weist darauf hin, dass das Supplement bei Derrida konstitutiv für das Supplementierte ist, was für Luhmanns eigene Bestimmung zur Konsequenz hat, dass das Verhältnis von Code und Programm mit gegenseitiger Ergänzung nicht treffend umrissen ist. Stähelis These lautet daher, dass eine strikte Trennung von Code- und Programmebene gerade differenztheoretisch inkonsequent sei (vgl. Stäheli 1996: 275). Der Code legt nichts fest, und weil es gerade um die Bestimmung von Anschlüssen geht, ist der Programmbegriff stets auf gleicher Höhe an seiner Seite. Insofern erscheint die ohnehin nicht getrennt zu denkende Einheit von Code und Programm die Rolle des Indikators von Systemgrenzen zu übernehmen. In seiner Antwort auf Volker H. Schmidts (2005) Anfragen bezüglich der »Systeme der Systemtheorie« geht Kieserling (2005: 434) über diese Bestimmung hinaus. Er argumentiert, dass auch solche Kommunikationen einem Funktionssystem zuzurechnen seien, die mit den codierten Kommunikationen eine Funktionsgemeinschaft oder einen Sinnzusammenhang bilden. Eine Funktionsgemeinschaft sieht er am Beispiel der Wissenschaft etwa dort, wo es um Reputation als Mechanismus zur Lösung des Motivationsproblems geht. Ein Sinnzusammenhang liegt etwa im Fall funktionssystemischer Selbstbeschreibungen vor. Rechtstheorien teilen mit den codierten Operationen des Rechts ein Rationalitätskontinuum, sie orientieren sich an derselben Leitunterscheidung. Kieserling macht zudem den Punkt stark, dass binär codierte Operationen zunächst einmal die Ausdifferenzierung eines Systems tragen. Nur in der Frühphase einer Ausdifferenzierung also genüge das Code-Kriterium. Um Differenz zu produzieren, kommen neue Leitunterscheidungen als Variationen in die Welt, die nur bei zunehmender Verwendung zu einer Ausdifferenzierung führen können. Im Verlauf eines Differenzierungsprozesses treten dann Elemente hinzutreten, die sich nicht auf codierte Kommunikationen reduzieren lassen, gleichwohl aber dazu beitragen, Anschlussbedingungen festzulegen, wie es für die Reputation in der Wissenschaft fraglos gilt. Aufschlussreich ist, dass die Begriffe »Funktionsgemeinschaft« und »Sinnzusammenhang« sich unmittelbar auf Funktion und Reflexion beziehen lassen, dies für die Dimension der Leistung eines Funktionssystems (für andere) aber nicht so eindeutig erscheint. Bleibt man beim Beispiel des Wissenschaftssystems, so sind
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Kommunikationen zur »Nützlichkeit« oder »Anwendbarkeit« wissenschaftlichen Wissens für andere Systeme ein zentrales Moment der Leistung der Wissenschaft. Aber warum sollten solche Kommunikationen dem Wissenschaftssystem zugerechnet werden? Die im Folgenden zu erläuternde Antwort lautet: Weil sie Einfluss auf die Anschlussbedingungen – und damit auch auf die operative Grenzziehung – wissenschaftlicher Kommunikation hat. Das wird deutlicher, wenn man auf Informationsverarbeitung abstellt. Um diesen Schritt zu plausibilisieren, lohnt es sich, historisch vergleichsweise weit zurückzugehen. Schneider (2011) hat gezeigt, wie ein Ausdifferenzierungsprozess beginnen kann. Die Ausdifferenzierung von Glaube und Wahrheit als Medien der Religion bzw. der Wissenschaft begann mit einer kleinen kommunikativen Differenz: Unterschieden wurde, so Schneider (2011: 191), zwischen vernünftiger Einsicht und »der nur durch einen Akt willentlicher Unterwerfung zu vollziehenden Anerkennung des Glaubens«. Der damit in die Welt getretene Unterschied führte dazu, dass rationale Argumentation zu anderen Ergebnissen führen durfte als eine Anerkennung von Glaubenssätzen. Untersagt war zu dieser Zeit, Schneider bezieht sich in diesem Teil seiner Darstellung auf das Ende des 13. Jahrhunderts, die religiösen Offenbarungswahrheiten zuwiderlaufenden Ergebnisse rationaler Argumentation als wahr zu bezeichnen. Dennoch war dies gewissermaßen der Sündenfall, der das Tor zur späteren und unumkehrbaren Trennung von Wahrheit und Glaube öffnete. Von der gelungenen Ausdifferenzierung der Wissenschaft spricht Hartmann Tyrell (1978: 183) erst, wenn »Wissenschaft vom traditionellen Zwang zur Mitberücksichtigung sinnund systemfremder (etwa religiöser) Gesichtspunkte freigesetzt und entlastet wird und so seiner funktionsspezifischen Eigenrationalität folgen kann und darf «. Hierfür verwendet Tyrell den Begriff der »legitimen Indifferenz«. Nochmals in Bezug auf die bereits behandelte Konfliktlinie, die entlang der Frage des Woraus verlief: Das Beispiel der Wissenschaft verdeutlicht, dass »Gesamtgesellschaft« für Ausdifferenzierungsprozesse keine relevante Bezugsgröße darstellt. Es geht um ein Wovon, nämlich wovon sich eine im Werden begriffene Anschlussroutine abgrenzt. Für den Fall der Wissenschaft war dies, wie skizziert, vor allem die Religion. Beginnt man also bei den produzierten »Differenzen selbst«, tritt die Frage nach einem Bezugsproblem unmittelbar in den Hintergrund. Erst im Anschluss hieran kann ein Beobachter die vermeintlich naheliegende Frage stellen, für welches Problem die Produktion dieser Differenz eine Lösung ist – und für wen. Damit aber ist eine ersichtlich andere Richtung eingeschlagen: nicht von Problemen auszugehen, um dann gewählte Lösungsformen zu suchen, sondern die (kommunikative) Produktion von Differenzen zu rekonstruieren. An diesem Beispiel lässt sich ebenso zeigen, dass es genuin kommunikative Operationen sind, die eine Ausdifferenzierung erst ermöglichen.
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Ferner geht aus dieser Rekonstruktion hervor, dass Anfangsdifferenzen, wie die von vernünftiger Einsicht und Glaubensanerkennung, vor der operativen Schließung entstehen und demnach auch nicht identisch mit binären Codes sein können. Insofern scheint Kieserlings Annahme, binär codierte Kommunikationen trügen die Ausdifferenzierung eines Systems, gewissermaßen erst ab Entstehung eines autopoietischen Systems zu gelten. David Kaldewey (2013: 241ff.) geht indes noch weiter, wenn er zeigt, dass die praktische Verwertbarkeit wissenschaftlichen Wissens weder eine ausschließlich extern an die Wissenschaft herangetragene noch eine erst im späteren Ausdifferenzierungsprozess hinzutretende Erwartung sei. Vielmehr niste sich die Wissenschaft gewissermaßen in die zuvor vor allem religiös geprägte Semantik der Kontemplation, Gnosis etc. ein und vollziehe schrittweise eine Säkularisierung derselben. Der Code emergiere erst, wenn die Semantik bereits eingerichtet sei. Für die vorliegende Argumentation ist der Bezug zu Anschlussbedingungen entscheidend. Mit Luhmanns Begriff der Limitationalität12 ist der Umstand angesprochen, dass die prinzipielle Offenheit der Forschung schon aus Komplexitätsgründen eingeschränkt werden muss (vgl. Luhmann 1980: 40; 1990a: 392ff.). Man kann alles erforschen – was aber wird aus welchen Gründen tatsächlich erforscht? In dieser Hinsicht ist unmittelbar ersichtlich, dass Kommunikationen wie die der Nützlichkeit, der praktischen Anwendbarkeit etc. Anschlussbedingungen der Wissenschaft limitieren. So eindeutig und plausibel dies scheint, Praxisdiskurse sind weder Theorien noch Methoden, kommen mit dem Programmbegriff also nicht zur Deckung. Von diesem Einbauproblem in die systemtheoretische Begriffsarchitektur kann man sich lösen, wenn man konsequenter von der Informationsverarbeitung her denkt. Vergleichsweise spät setzt Luhmann zur Beschreibung systemischer Informationsverarbeitungsprozesse verstärkt den Begriff des Schemas ein. Kommunikationen fallen als Informationen für ein bestimmtes System erst anhand bereits aufgebauter Schemata auf: »Ein Schema ist eine Form, die es einem System ermöglicht, Vergessen und Erinnern zu kombinieren, nämlich nahezu alle Spuren vergangener Operationen zu löschen, aber etwas davon, eben das Schema, für Wiederverwendung verfügbar zu halten. […] Schemata sind im einfachsten Fall Kategorisierungen, die es ermöglichen, etwas als etwas zu bezeichnen« (Luhmann 2000a: 299). Kommunikationen könnten angesichts ihrer Ereignishaftigkeit nicht erinnert und als bekannt vorausgesetzt werden, also Strukturwert gewinnen, würden nicht laufend Schemata abgezogen, die zur Wiederverwendung in Betracht kommen (ders. 12 Limitationalität gewinnt bei Luhmann (1990a: 396f.; 1997: 470) mit der Figur der Kontingenzformel des Wissenschaftssystems eine noch über diese Bestimmung hinausgehende Bedeutung.
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1996a: 312ff.). Fasst man nun etwa das Beispiel der Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens als ein solches Schema auf, das sich bewährt hat und deshalb wiederverwendet wird, hat man keine Probleme, solche Schemata als Binnenmomente des Wissenschaftssystems zu operationalisieren. Das erklärt zunächst einmal, wie solche Kommunikationen überhaupt auf den Systemschirm kommen können, allerdings noch nicht, wie diese dann verarbeitet werden. »Jeder Typ von Schematisierung ermöglicht auf ihn bezogene Ausarbeitungen. So fordern abstrakte Codes wie gut/schlecht oder wahr/unwahr auf sie bezogene Programme, die sagen, unter welchen Bedingungen der positive bzw. negative Wert richtig oder falsch bewertet wird; und auch das sind Zwei-Seiten-Schemata« (Luhmann 1996a: 318). Nochmals am Beispiel: Nützlichkeit (als ein solcher abstrakter Code) legt noch nicht den Verlauf konkreter Forschung fest, hierzu kommen Theorien und Methoden (als hierauf bezogene Programmschemata) zum Einsatz. Der Schemabegriff erlaubt also sowohl abstrakte Codes, die nichts festlegen, aber ihren Anteil daran haben, was überhaupt auf den Systemschirm kommt, als auch Programme im Sinne vorgegebener »Bedingungen für die Richtigkeit der Selektion von Operationen« (Luhmann 1986: 90) als das zu kennzeichnen, was für systemische Grenzziehung sorgt. Natürlich können im Verlauf der Evolution eines Systems, hierauf hatte ja auch schon Kieserling (2005) verwiesen, Schemata hinzutreten, die zu Beginn der Ausdifferenzierung noch keine Rolle spielten. Gleichermaßen können Schemata bei Nichtgebrauch entfallen. Der Gebrauch systemspezifischer Schemata im Prozess der Informationsverarbeitung ist also die Antwort auf die erste zentrale differenzierungstheoretische Frage, wie und womit sich Kommunikationssysteme abgrenzen. In einer wenig beachteten Publikation hat Luhmann (1991a: 94) im Übrigen selbst konstatiert, dass sich die Unterschiedlichkeit von Weltkonstruktionen, die sich im Begriff der Polykontexturalität manifestiert, keineswegs auf Funktionssysteme beschränkt, vielmehr respektiere er »die Geschlossenheit der Informationsverarbeitung der beteiligten Systeme – seien es Industrieunternehmen, seien es Versicherungen, seien es Protestbewegungen, seien es politische Parteien, seien es Forschungsinstitute.« Dieses Plädoyer kann allerdings auch auf prominentere Passagen verweisen, in denen sich zeigt, dass Luhmann (1997: 847) den Bedarf für die Annahme weiterer Formen der Systembildungen selbst gesehen hat: »Wir müssen deshalb (ohne Rücksicht auf Theorieästhetik) einen weiteren Abschnitt anhängen, der sich mit sozialen Bewegungen befassen wird.« Wenn also von distinktem Schemagebrauch die Rede ist, dann sind hiermit gerade nicht nur funktionssystemische Imperative angesprochen. Insbesondere in empirischen Studien, hierin wird auch die vorliegende Arbeit keinen Unterschied machen, sind Differenzen unterhalb von Funktionssystemen auszumachen, die sich aber auch nicht durch einen
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Willen zur Abstraktion letztlich doch wieder einem und nur einem Funktionssystem zuordnen ließen. Nassehi (2014: 60) hat für seine Forschungen Klinische EthikKomitees betreffend diese nicht weiter reduzierbaren Differenzen nachzeichnen können: »somatisch‐medizinischer, psychiatrischer, rechtlicher, pflegerischer, religiös‐seelsorgerlicher, wissenschaftlich‐ethischer, politischer und ökonomischer Natur.« Das beantwortet offenkundig noch nicht, in welchem Verhältnis diese Differenzen zueinander und zu funktionssystemischen Leitorientierungen stehen. Die Frage nach einer konkreten Benennung und Typisierung solcher Einheiten vorerst zurückstellend, kann man es bei der abermals wiederholten funktionalen Bestimmung belassen: Differenzierte Einheiten zeigen sich an distinktem Schemagebrauch in Prozessen der Informationsverarbeitung. Solchen Schemata kommt eine Doppelfunktion zu. Sie regeln einerseits, was überhaupt auf den Systemschirm kommt, was als relevante Information nicht dem sonstigen Umweltrauschen anheimfällt. Darüber hinaus sorgen Schemata für die Verarbeitung ebendieser Informationen, sie bestimmen Anschlussbedingungen. Dieser grundlagentheoretische Vorlauf war notwendig, um das Bezugsproblem schärfer bestimmen zu können. Die Folgen funktionaler Differenzierung (Korrekturanlass) – von der ungerechten Verteilung des Wohlstandes, ökologischer Probleme usw. – werden beschrieben als resultierend aus dem Differenzierungsprozess selbst. Die Borniertheit sozialer Systeme, sich nur um Aspekte zu kümmern, die ihnen auf den Schirm kommen, und diese dann ihren Programmen gemäß zu verarbeiten, hat diese Folgen produziert. Korrekturanfragen treffen auf diese »verteilte Borniertheit« als Problem der Verarbeitung ihrer Anfragen. Das Insistieren des differenzierungstheorieimmanenten Wandels von Arbeitsteilung zu synchron koexistierenden Verstehenskontexten musste einen so hohen Stellenwert in der vorangegangenen Argumentation einnehmen, weil er erhebliche Konsequenzen sowohl für die Auffassung der Folgen funktionaler Differenzierung als auch und gerade für deren Bearbeitung – für das vorliegende Thema der Korrektur der Gesellschaft also – aufweist. Hieraus ist nämlich in empirischer Hinsicht abzuleiten, dass »in den zentralen Konflikten einer modernen Gesellschaft Übersetzungskonflikte« zu sehen sind (Nassehi 2015: 266). Somit stellen sich die Folgen funktionaler Differenzierung als Übersetzungskonflikte dar. In Bezug auf deren Bearbeitung – oder eben Korrektur – bedeutet dies: »die Auseinandersetzung um gesellschaftliche Lösungen als Übersetzungskonflikte [zu] inszenieren, in denen die Differenz der unterschiedlichen Logiken wirklich ernst genommen wird« (ebd.: 275). In mehreren Hinsichten stellt dies einen bemerkenswerten Befund dar. Denn dass es überhaupt um gesellschaftliche Lösungen geht, ist aus systemtheoretischer Perspektive bekanntermaßen alles andere als selbstverständlich. Etwas Derartiges zu inszenieren, kommt dieser theoretischen Disposition scheinbar wieder etwas näher. Doch es geht Nassehi hier weniger darum, dass Lösungen bloß in Form
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von Aufführungen zu haben seien. Um zu Lösungen kommen zu können, müsste den unterschiedlichen Problemlösungsdimensionen Rechnung getragen werden. Ebendies macht es erforderlich, die Suche nach gesellschaftlichen Lösungen als Übersetzungskonflikte in Szene zu setzen. Damit muss ein Desiderat gemeint sein: Gesellschaftliche Auseinandersetzungen werden also gerade nicht wie Übersetzungskonflikte be- oder auch verhandelt. Was Nassehi mit diesem Desiderat zu überschreiben sucht, ist die Vorstellung einer Integration der unterschiedlichen Perspektiven. Das Ernstnehmen der unterschiedlichen Logiken meint, sie als gleichwertig gelten zu lassen, sie nicht unter Integrationszwang zu stellen. Damit wiederum klingt ein Verständnis von Integration an, in dem es jemanden oder etwas gibt, der oder das in der Lage ist, Unterschiedlichkeit in sich zu vereinen. Dafür spricht auch Nassehis (ebd.: 276) anschließende Absage an eine »zentrale oder vorgängige Integrationsperspektive.« Der Bearbeitung wesentlicher gesellschaftlicher Konflikte steht im Wege, dass jede noch so offensichtliche Problembenachrichtigung in unterschiedlichen Verstehenskontexten unterschiedlich verarbeitet wird. Dieser Hinweis auf das »je andere« betont Differenzierung als Korrekturanlass und -problem. Nassehis Empfehlung, das Getrennte gerade nicht zu vereinen, sondern stattdessen Differenzen ernst zu nehmen, richtet den Blick nun auf das Zusammenspiel des Differenzierten. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen müssen schließlich nicht inszeniert werden, sie finden allenthalben statt.
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III. Korrektur und das Zusammenspiel des Differenzierten (war: Integration)
Die Frage nach der Korrektur der Gesellschaft zielt offensichtlich auf das Zusammenspiel des Differenzierten, genauer: auf das wechselseitige Anregen zur Umwandlung von Irritationen in Informationen. Klassischerweise diskutiert die Soziologie Fragen des Zusammenspiels am Begriff der Integration. Luhmann verabschiedet diesen früh bzw. setzt sein Konzept struktureller Kopplung hier an. Die folgenden Abschnitte werden zu dem Schluss kommen, dass strukturelle Kopplungen ein besonderer Fall gesellschaftlicher Übersetzungsverhältnisse sind, es sich aber nicht empfiehlt, ihnen eine Sonderstellung in Korrekturfragen zuzumuten. Doch zuvor wird zu klären sein, wie autonome und eben differenzierte Informationsverarbeitung sich überhaupt mit der Annahme einer Übersetzbarkeit verträgt. Wieder wird der Argumentationsgang auf zwei Thesen zulaufen: (1) Übersetzungen sind möglich. (2) Übersetzungen sind in einem Maße ubiquitär, dass es für Korrekturanfragen nicht um das Ob, sondern um das Wie der Übersetzungsanregung gehen muss.
III.1 Von Integration zu struktureller Kopplung (Luhmanns Lösung) Differenzierung meint also die synchrone Koexistenz autonomer Verstehenskontexte, wesentliche Gesellschaftskonflikte stellen sich als Übersetzungskonflikte dar. Somit drängt sich die Annahme beinahe auf, dass die Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung etwas mit Übersetzungen zu tun haben muss. Nachdem das vorangegangene Kapitel den Blick auf Trennendes richtete, wird der vorliegende nun nach dem Zusammenspiel, der Verträglichkeit – oder eben: der Übersetzbarkeit – des Differenzierten fragen. Diese klassische soziologische Differenzierungsdiskussion »von Durkheim bis Parsons« fasst Luhmann (1997: 778) damit zusammen, dass Probleme »mit dem Schema Differenzierung/Integration« behandelt werden. Wenn Trennung weitreichende Probleme verursacht, erscheint Zusammenführung als plausible Kur. Aus Luhmanns Perspektive krankt ebendiese klassische Diskussion an einem Geburtsfehler. Die Suche nach gesellschaftlichen
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Differenzierungen habe ihrerseits eine Suche nach Formen der Integration angestoßen, die gewissermaßen zu dieser Differenzierung passen bzw. diese bearbeiten könne (ebd.). Um diese Disposition zu tilgen, ersetzt er das Schema Differenzierung/Integration durch die Unterscheidung von Autopoiesis und struktureller Kopplung. Diese Substitution kann man aus unterschiedlichen Gründen problematisieren, sie will jedenfalls ihrerseits hinausweisen aus dem Schema von Problem (Differenzierung) und Lösung (Integration). Hier setzt das Ersetzungsverhältnis an. Autopoiesis verweist auf operative Autonomie. Anschlussroutinen setzen sich nur fort, wenn von ihnen Gebrauch gemacht wird, das ist das operative Element. Wie sie verwendet werden, welche Anschlüsse als zugehörig gelten, regeln distinkte Schemata der Informationsverarbeitung; Autonomie bezieht sich also auf differenzierte Sinnverarbeitungsregeln. Beobachtet wird damit so etwas wie der Normalfall der Reproduktion einer operativen Anschlussroutine. Von struktureller Kopplung soll Luhmann (1993: 441) zufolge immer dann die Rede sein, »wenn ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt.« Bevor es darum gehen kann, dieses Konzept zu hinterfragen, ist das angesprochene Ersetzungsverhältnis aufzuklären. Verfassung, Eigentum oder Vertrag als Standard-Beispiele struktureller Kopplungen nehmen je autonome Sinnverarbeitung in ihrer Gleichzeitigkeit1 in den Blick. Kürzer: Es geht dann um Intersystembeziehungen. Statt im Schema von Problem und Lösung zu denken, lautet der Vorschlag hier also, Differenzierung als systemisches Operieren (Autopoiesis) aufzufassen und mit struktureller Kopplung den Blick auf das Zusammenwirken synchron koexistierender und autonom operierender Verstehenskontexte zu richten.
III.2 Von Integration zu Entdifferenzierung und Nicht-Übersetzbarkeit (Handlungs- und praxistheoretische Einwände) Dass es auf differenzierungstheoretischer Grundlage überhaupt so etwas wie Zusammenwirken geben könnte, wird kritisiert. Dabei wird entweder Zusammenwir1 Von Gleichzeitigkeit ist Synchronisation zu unterscheiden. Für die Differenzierungstheorie folgt hieraus, dass zwar alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht, die Zeitorientierung in den einzelnen Systemen aber differiert. Hieraus resultieren zeitliche Unabgestimmtheiten, die »als Zufälle behandelt werden [können], als Gelegenheiten, die wieder verschwinden, wenn man sie nicht nutzt, oder als vorübergehende Gefahren, die man durch Standfestigkeit überwinden kann« (Luhmann 1990b: 119). Luhmann bezweifelt nicht, dass es Versuche der Einflussnahme über bzw. auf andere Zeitorientierungen gibt, betont aber eher, dass es »keine Supersynchronisation [gibt], die das Synchronisieren selbst in Ordnung bringen könnte« (ebd.: 110). Hierzu auch Brose & Kirschsieper (2014).
III. Korrektur und das Zusammenspiel des Differenzierten (war: Integration)
ken durch das Autonomie-Postulat für unmöglich erklärt oder für beobachtbares Zusammenwirken Entdifferenzierung diagnostiziert. Somit ist zunächst zu klären, wie Autonomie und Integration gemeinsam denkbar sein sollen. Für die erste Kritiklinie können Greve & Kroneberg (2011: 11) herangezogen werden. Die Autoren behaupten, Autonomie und Integration stellten bei Luhmann einen Widerspruch dar, allenfalls in der Fassung Richard Münchs (1995) (und noch bei Parsons) könne dieser Widerspruch behoben werden. Die Frage nach einer angemessenen Erfassung des Zusammentreffens autonomer Einheiten kommt so gar nicht erst in den Blick. Um Kompatibilität ist es Rainer Schützeichel (2011) mit seinem Verständnis »funktionaler Subsidiarität von Handlungstypen« sehr wohl zu tun. So seien alle Handlungstypen konstitutiv darauf angewiesen, dass subsidiär andere Handlungstypen realisiert werden. Der modernen Medizin etwa misst er durchaus eine Eigenlogik zu. Damit diese aber zur Entfaltung kommen könne, sei sie »auf wissenschaftliche Analytik wie technischen Fortschritt angewiesen, wissenschaftlicher Fortschritt auf einen leistungsfähigen schulischen und universitären Bildungsbereich – usw.« (Schützeichel 2011: 86). Unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsbereiche inkorporierten Rationalitäten; ebendies zöge nach sich, dass diese kompatibel sein müssten. Mit dieser Konzeption des nicht nur Verträglichen, sondern des konstitutiv aufeinander Verwiesenen legt Schützeichel sowohl eine Spur zurück, die der nächste Absatz aufnehmen wird, als auch eine nach vorn, da die vorliegende Studie ebenfalls davon ausgeht, dass das Differenzierte zur Verträglichkeit nicht eigens angehalten werden muss (Kap. III.4). Karin Knorr Cetina (1992), um eine geradezu klassische Referenz anzuführen, versuchte zu zeigen, dass die von der Systemtheorie postulierten harten Differenzierungen sich empirisch nicht halten ließen. Knorr Cetina (1992: 414), die ihre Argumentation im Zuge ihrer Laborstudien auf die Beobachtung alltäglichen wissenschaftlichen Handelns (im Labor) stützte, fasst pointiert zusammen: »[D]ie Teilchenphysik bewegt sich ständig zwischen verschiedenen Sinnprovinzen, in denen sie ihre Probleme wieder aufnimmt und einer Weiterbehandlung unterzieht; im differenzierungstheoretischen Sprachgebrauch muß dies heißen: sie löst ihre Probleme durch Entdifferenzierung. Dabei macht ihr die Inkommensurabilität und Nicht-Übersetzbarkeit zwischen den Praxisfeldern, falls diese existiert, keine Schwierigkeiten.« Den empirischen Arbeiten der Laborstudien ist vielfach entgegnet worden, dass ihre wertvollen Ergebnisse sich auf Interaktions- bzw. Organisationsphänomene beschränken und keinerlei Rückschluss auf die Ebene der Funktionssysteme für sich beanspruchen könnten. Vielmehr könnten die dort gefundenen Unterscheidungen im Forschungshandeln überhaupt nur bezeichnet werden, weil diese Kategorien gesamtgesellschaftlich zur Verfügung stehen (Bora 2005, 2007; Mölders
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2011: 158ff.; Nassehi 2011: 28ff.). Worauf diese Studien dennoch aufmerksam gemacht haben, ist die empirisch gesättigte Feststellung, dass die sich in Leitunterscheidungen und auf diese bezogenen Programme manifest werdenden Differenzen miteinander vertragen können. Inkommensurabilität muss nicht ausschließen, dass die operativ getrennten Sphären in Konfrontation miteinander sogar Ergebnisse produzieren können, von denen sie in ihrem je eigenen Sinne profitieren. Gunther Teubner (1999) sieht in seinem Begriff »Ultrazyklus« vor, dass ein Zusammentreffen operativ geschlossener Systeme Autonomie nicht beseitigt, sondern eine je eigene Sinnproduktion einsetzt. In Analogie zum Gesellschaftsspiel »Stille Post« (ebd.: 13f.) kann es zu einem konstruktiven Missverstehen kommen. Als Beispiel benennt Teubner den Entwicklungsprozess technischer Standards. Eine wissenschaftliche Erkenntnis irritiert das Recht, weil es hierzu keine passenden Normen findet. Eine neue Rechtsnorm wiederum wird zur Kostenirritation für die Wirtschaft, Kostensteigerungen irritieren über Lobbyarbeit die Politik, die ihrerseits die Standards politisch reformuliert, um hiermit Techniker zu irritieren, die Standards neu zu formulieren (ebd.). Wie andernorts (Mölders 2011) gezeigt, konnte sich das so genannte UNoder auch Wiener Kaufrecht »United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods (CISG)« deshalb global – und ganz anders als viele Versuche zuvor – durchsetzen, weil das es konstituierende, über ein Jahrzehnt dauernde Verhandlungssystem2 so beschaffen war, dass rechtliche, wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche Eigenwerte realisiert werden konnten: Neue Konfliktlösungsmöglichkeiten für das Recht, neues Wissen um Vereinheitlichungsmethoden für die Wissenschaft, die Aussicht auf Gemeinwohlsteigerung (und dadurch die Aussicht auf Wiederwahl) für die Politik und eine vereinfachte Verkettung von Zahlungen für die Wirtschaft (Mölders 2011: 289f.; Schlechtriem & Schwenzer 2008; Honnold 1989). Damit kann nicht gemeint sein, dass ein Aufeinandertreffen differenzierter Verstehenskontexte stets in diesem Sinne produktiv wirkt, vielmehr ging es darum zu zeigen, dass ein Aufeinandertreffen weder Strukturaufbau verhindert noch in Entdifferenzierung umschlagen muss. Man kann vermuten, dass Knorr Cetinas Beitrag so oft als differenzierungstheoretische Kontrastfolie Verwendung findet, weil sie mit ihren Stichworten schon die Vorlagen für die Verteidigung liefert: Inkommensurabilität ist nicht gleichbedeutend mit Unverträglichkeit; NichtÜbertragbarkeit ist nicht gleichbedeutend mit Nicht-Übersetzbarkeit.3 Für die hier 2 Zu Faktoren gelingender Verhandlungssysteme siehe Mölders (2014a). 3 Der Aufsatztitel »Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie« hat sicher einen Anteil an dieser Rezeptionsgeschichte.
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verfolgte Argumentation bietet das Stichwort der Nicht-Übersetzbarkeit eine besonders brauchbare Fortsetzungsmöglichkeit. Die These lautet, dass Übersetzungen nicht nur möglich sind, sondern gezielt zu Übersetzungen angeregt werden kann.
III.3 Von Verträglichkeit zur Bedeutsamkeit von Übersetzungsanregungen Peter Fuchs (1992: 97) hat mit dem Begriff der »Kompossibilität« die Frage aufgeworfen, »wie alle diese Indifferenzen und Offenheiten als kompossibel und im Blick auf die Inkompatibilitäten der Weltausschnitte dennoch als verträglich gedacht werden können«. Fuchs stellt dabei vor allem auf die kognitive Offenheit der Programmebene ab. Programme als Bedingungen der Richtigkeit von Anschlüssen regeln auch die »soziale Abstimmbarkeit der Prozeßresultate« (ebd.: 104). In Bezug auf die Leitungsbeziehungen der Funktionssysteme, so Fuchs (ebd.) weiter, »muß die durch den eigenen Code nichtcodierte Welt des anderen Systems in Programmen des leistungsproduzierenden Systems repräsentiert sein, wie umgekehrt das bestimmte Leistungen benötigende System seine Aufnahmeprogramme auszustatten hat mit Programmstellen, die das ›Fremde‹ für die eigenen Zwecke spezifizieren.« Systeme rechnen miteinander. Man mag an dieser Stelle vor allem an Leistungsbeziehungen im Besonderen, an Interdependenz im Allgemeinen denken. Systeme regen einander zu Übersetzungen an, reden sie regelrecht in bestimmte evolutionäre Entwicklungen hinein.4 Am Beispiel der Entwicklung des Arzneimittelpatentrechts hat Hutter (1989) dies sowohl theoretisch als auch empirisch mit dem Modell der Konversationskreise gezeigt. Konversationskreise werden konzipiert als verstetigte Interaktionssysteme, in denen Gesprächsorte, -zeitpunkte und -teilnehmende zunehmend standardisiert werden. Wenn Kommunikationen einem solchen Kreis und nicht seinen einzelnen Elementen zugerechnet werden, ist von einer Neubildung auszugehen. Eine interne Verdichtung ist zu beobachten, wenn neben den vorgesehenen Themen auch über sich selbst gesprochen wird. Arbeitsgemeinschaften oder Vereinigungen, um einfache Beispiele zu nennen, beginnen mit einem Zusammentreffen, dann aber kommt der Eindruck auf, man könne es bei der für Interaktionssysteme typischen Vergänglichkeit nicht belassen (vgl. ebd.: 99f.). Hutter betont, es sei gerade nicht naheliegend, dass Konversationskreise gemacht oder gegründet würden (ebd.: 94). Ebendies macht die Konversationskreise zu einem 4 In Anlehnung an die kaum übersetzbare(!) Wendung des englischen Titels von Hutters (1992) Modell: »How the Economy Talks the Law into Co-Evolution«.
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idealen kommunikationsbasierten Theorem für Formen intersystemischer Abstimmung. Themen können ferner auch in bereits etablierte andere Konversationskreise »eingepflanzt« werden, was etwa an neuen Ausschüssen, Abteilungen oder neuen ständigen Tagesordnungspunkten sichtbar würde. Eine letzte Entstehungsmöglichkeit ist der Umweg über ein Drittsystem. In der von Hutter fokussierten Beziehung zwischen Wirtschaft und Recht käme hierzu wegen der besonders engen Symbiose mit dem Recht die Politik in Frage (ebd.: 101).5 Hutter nimmt an und zeigt dies auch empirisch, dass im Verlauf einer solchen Verstetigung »soziale Formen« entstehen können, durch die Mitteilungen, wie in seinem Beispiel, dann etwa sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus rechtlicher Perspektive »besser formuliert und besser verständlich werden. […] Soziale Systeme, die auf die Durchführung von Konversationen spezialisiert sind, werden wir Konversationskreise nennen« (ebd.: 94). Konversationskreisen gelingt es, Mitteilungen zu produzieren, die für die daran beteiligten Systeme in ihrem je eigenen Sinne anschlussfähig sind; so lässt sich das oben als »verträglich« Bezeichnete auch empirisch fassen. Besser formuliert und besser verständlich meint empirisch, dass ein und das gleiche Element in unterschiedliche Verstehenskontexte eingebunden werden kann. Das Recht versteht die Information, der Wirtschaft seien ihre Handlungsrechte im Zusammenhang mit Arzneimittelpatenten unklar, in der Dimension retrospektiv gerichteter Rekursivität als Aufforderung, die Rechtsgeltung nach bestehenden Lösungsmöglichkeiten zu durchforsten. Hieran schließen dann rechtliche Kommunikationen an: Verweise auf geltendes Recht, Initiierung von Rechtsschöpfung o.Ä. Doch das Wirtschaftssystem versteht ebendies anders, was sich wiederum erst an der Reaktion zeigt, wenn beispielsweise Investitionen in Territorien verlagert werden, in denen nicht mit rechtlichen Schwierigkeiten zu rechnen ist. Im Grunde ist es eine einfache Maxime, die Hutter formuliert, wie zu Übersetzungen anzuregen ist: Man mache sich intern ein Bild, das den eigenen Bedürfnissen genügt, »und die Kunst besteht darin, mit dem geringsten Aufwand an Detailstrukturierung dieses Images eine erwünschte Leistung zu erzielen« (ebd.: 138). Doch auch der geringste Aufwand bedeutet noch, dass »Myriaden von Gesprächen geführt werden, in denen immer wieder ähnlich konstruierte Mitteilungen vorkommen« und zwar »bei Cocktailparties, bei Konferenzen und Sitzungen« – kurzum: bei allen sich bietenden Gelegenheiten (ebd.: 132). Somit ist deutlich, wie bedeutsam zeitliche Verstetigung für dieses Modell ist. Mit Übersetzung kann dann gerade kein Simultandolmetschen gemeint sein, vielmehr ist von der Abfolge einiger Sequenzen auszugehen. 5 Dieser Umweg-Gedanke wird in Kap. VII.2 aufgenommen.
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Der konkrete Fall des Arzneimittelpatentrechts beginnt mit wirtschaftsinternen Transaktionen, die zu Diskussionen in entsprechenden Verbänden führen. Von dort aus sind Tagesordnungspunkte in Ausschüssen und Tagungsthemen bei Vereinen die nächsten Schritte. Dort angekommen wird der Versuch unternommen, Rechtsfälle zu initiieren, um die gewünschte Reaktion im Recht anzuregen, nämlich das Gewähren von Handlungsrechten. Dahinter steckt eine vermeintlich simple Maxime: Wer im Recht Resonanz erzeugen will, muss Fälle auslösen. Im behandelten Fall hat dies Jahrzehnte in Anspruch genommen. Die ökonomische Frage nach Eigentumsrechten musste in einer für das Rechtssystem anschlussfähigen Weise formuliert werden. Die entscheidende Veränderung ergab sich, als der Court of Custom and Patent Appeals (CCPA) ankündigte, die relevante rechtliche Unterscheidung sei nicht die zwischen belebt/unbelebt – mit dieser konnte das Recht nämlich buchstäblich nichts anfangen –, sondern diejenige zwischen natürlichen und menschlich‐geschaffenen Inventionen. Hiermit war denn der Weg zu einem verbindlichen Arzneimittelpatentrecht geebnet. Vom Recht aus gesehen erhielt das wirtschaftliche Ansinnen von Patentierbarkeit erst dann Informationswert, als es dieses als Inkonsistenz der eigenen Regelkonfiguration verstand. Die entsprechende Übersetzung zeigte also zunächst an, dass es an diesem Ansinnen etwas rechtlich zu verstehen gab. Die routinemäßige Informationsverarbeitung versuchte zunächst, diese Informationen (Fälle) im vorhandenen Kontext (bestehende Regelungen) zu interpretieren. Zu einer Änderung der Informationsverarbeitung (neues Recht) kam es erst, als deutlich wurde, dass rechtlich relevante Konflikte mit dem Bestehenden nicht zu bearbeiten waren. Schließlich ergibt sich auch eine Steigerung der Eigenkomplexität des Rechts. Für solche Fälle gezielten Hineinredens reserviert Hutter (2015) inzwischen den Begriff der Intervention. Damit grenzt er solche Konstellationen von Entwicklungen ab, in denen autonome Verstehenskontexte6 ineinander geraten. Gemeint ist, dass Systeme einander irritieren und damit evolutionäre Veränderungen auslösen, die zu neuen und im Weiteren stabilen Systemerrungenschaften führen können. Ein so konzipiertes Ineinandergeraten bezeichnet Hutter (ebd.: 31) dann als Prozess der Koevolution. Das Anregen zu Übersetzungen7 geschieht – im Unterschied zu Interventionen – durch Irritation. Systeme produzieren Kommunikationen – Spielzüge, wie Hutter sagt –, die andere irritieren. Ist dieser Begriff gemeinhin eher negativ konnotiert, so schlägt Hutter vor, von positiven wie negativen Irritationen auszugehen. 6 Mit dieser Monographie stellt Hutter auf die Einheit »Ernster Spiele« um. 7 Hutter (2015) spricht hier von »Translation« und verweist zum einen auf die große Aufmerksamkeit, die diesem Begriff in jüngerer Zeit in den Sozial- und Geisteswissenschaften gefunden hat. Zum anderen betont er die Bedeutung französischer Beiträge (Callon 1986; Latour 1987), die zudem dort gerade nicht semantische Übersetzung, sondern physische Bewegung meine.
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Variationen treten unablässig auf. Als negative Irritationen werden sie erkennbar, wenn sie Verwunderung auslösen: Unverständnis, Verärgerung, Zögern, Kritik, bis hin zum Einleiten von Maßnahmen gegen die verstörende Neuerung, die sich besonders in Kontroversen über den Wert8 bestimmter Neuerungen dokumentieren. Aber Koevolution kenne gleichermaßen positive Irritationen, die Bewunderung auslösen: Faszination, Begeisterung, Imitation bis hin zum Wahn. Dieses Mal die Beziehung von Wirtschaft und Kunst fokussierend, findet Hutter empirische Korrelate in Modewellen, dem vollständigen Involvieren der Mitspielenden und gemeinsamem Gefesselt‐sein. Koevolution als Geschichte gegenseitigen Irritierens erhält erst dann Struktur, wenn die anfängliche Be- oder Verwunderung sukzessive in den eigenen Kontext übertragen wird und sich dort stabilisiert. Die »Variation des Gewöhnlichen«, wie sie die ökonomische Massenproduktion kennzeichnet, nahmen die Künstler der »Pop Art« auf, übersetzten sie in künstlerische Ausdrucksformen, die einen »Zirkel der gegenseitigen Irritation und Übertragung zwischen den Märkten für Erlebnisgüter und dem Bildkunstspiel antreiben« (240ff.). Aus Hutters Unterscheidung zwischen Intervention (beabsichtigtes Anregen zu Übersetzungen) und Irritation (unbeabsichtigtes Auftauchen von »Wunderlichem« – im Sinne einer Einheit der Differenz von Be- und Verwunderung – als Anlass für Übersetzungen) geht hervor, dass das Postulat der Nicht-Übersetzbarkeit nicht nur unzutreffend ist, sondern wie bedeutsam Übersetzungen für sozialen Wandel schlechthin sind. Übersetzungen sind also nicht nur möglich, sie sind sogar nötig.
III.4 Von der Bedeutsamkeit zur Ubiquität von Übersetzungsanregungen Dass zu Übersetzungen angeregt werden kann, ist für das Korrekturthema offensichtlich relevant. Wenn vor der Bearbeitung gesellschaftlicher Folgeprobleme die Umwandlung von Irritationen in je eigensinnig prozessierte Informationen steht, ist hieraus doch immerhin zu folgern, dass autonome Verstehenskontexte in Entwicklungen regelrecht hineinzureden sind, wie Hutter gezeigt hat. Doch diese Bedeutsamkeit von Übersetzungsanregungen ist nur die eine Seite. Die nun verfolgte These lautet vielmehr, Übersetzungen sind geradezu der Normalfall für das Aufeinandertreffen differenzierter Verstehenskontexte. Systeme müssen nichts voneinander wollen, Leistungen geradezu erzwingen, sie kommen gar nicht umhin, einander zur Kenntnis zu nehmen und beständig zu übersetzen. Die »unterschiedlichen Logiken einer modernen Gesellschaft«, so Nassehi (2015: 258) »warten geradezu darauf, ineinander übersetzt zu werden.« Systemische Anschlussroutinen können sich schon aus empirischen Gründen nicht 8 Auch als Beitrag zu einer »Soziologie der Bewertung« (vgl. Meier et al. 2016).
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ignorieren – »oder besser: [können] sich paradoxerweise nur ignorieren, indem sie das aktiv tun« (ders. 2011: 28). Ebendies ist mit dem in der o.a. These »Normalfall« Genannten gemeint. Das Aufeinandertreffen differenzierter Einheiten führt unweigerlich zu Übersetzungen, mehr noch: Es ist das Kennzeichen der Gegenwartsgesellschaft bzw., um es erneut mit Nassehi zu sagen, das Charakteristikum einer »Gesellschaft der Gegenwarten«. Im Aufeinandertreffen limitieren und erweitern Systeme wechselseitig Möglichkeitshorizonte, konfrontieren einander mit positiven wie negativen Überraschungen. Dies kommt bloß situativ, aber auch strukturell, in Interaktionen sowie in Organisationen vor. Es ist diese »Banalität der Integration«, die einerseits Luhmanns Ersetzung des Begriffspaars Differenzierung/Integration motiviert, andererseits dessen Vorschlag Autopoiesis/strukturelle Kopplung als wenig überzeugend erscheinen lässt. Strukturelle Kopplungen sind, dies ist sogleich ausführlicher zu begründen, nur ein – und obendrein ziemlich spezieller – Fall von Intersystembeziehungen bzw. von Übersetzungsverhältnissen. Struktureller Kopplung wird bisweilen vorgehalten, ein Residualbegriff zu sein, der im Theoriebau immer dann zum Einsatz komme, wenn es um Intersystembeziehungen geht. Dabei muss nicht einmal auf Verfechter_innen von Entdifferenzierung verwiesen werden, wie etwa Arlena Jung (2009) gezeigt hat.9 Auch Frank Nullmeier (2015) begründet seine Verwunderung zunächst über Grad und Art struktureller Kopplungen, betont die Unterschiedlichkeit von Universitäten (als Kopplung zwischen Erziehung und Wissenschaft) und Verfassungen (zwischen Recht und Politik). Doch er fügt diesem Aspekt die interessante Beobachtung hinzu, dass das Konstatieren struktureller Kopplungen allein nichts über deren unterschiedliche Intensität aussage. Das »Ausmaß der Irritationen, das ausgelöst wird, die Symmetrie oder Asymmetrie dieser Irritationsauslösung« (ebd.: 291) verbleibe im Unklaren. Schließlich muss es als hochgradig unwahrscheinlich gelten, dass jede in Kanälen struktureller Kopplung laufende Kommunikation gleichermaßen schwer ignorierbar sein soll. Worin sich diese überaus plausible Intuition von Unterschiedlichkeit manifestieren könnte, wird wieder aufzunehmen sein (Kap. VII.2, IX.1). Der soziologischen Tradition folgend hat der vorliegende Abschnitt untersucht, inwiefern das Zusammenspiel des Differenzierten Aufschluss über die Korrektur der Gesellschaft erlaubt. Doch weder das klassische Schema von Differenzierung/Integration noch Luhmanns Ersetzung durch Autopoiesis/strukturelle Kopplung erscheint für das Thema der Korrektur der Gesellschaft besonders geeignet. Kritische Lesarten des systemtheoretischen Integrationskonzepts postulierten entweder eine aus der Annahme operativer Geschlossenheit folgende 9 Jung (2009) etwa identifiziert bei Luhmann vier Kopplungstypen: (1) Kopplung über die Identität der Elemente; (2) über (a) identische bzw. (b) strukturähnliche Differenzschemata; (3) über Mehrsystemereignisse; (4) operative Kopplung.
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Unmöglichkeit von Integration bzw. Übersetzung. Eine andere Kritiklinie diagnostiziert Entdifferenzierung. Im Gegensatz dazu lautet das Ergebnis dieses Untersuchungsteils, dass Übersetzungen nicht nur möglich, sondern geradezu der Normalfall von Intersystembeziehungen sind, was die Kurzformel einer »Banalität der Integration« motivierte. Das vorangegangene Kapitel schloss mit der Feststellung, dass sich die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung als Übersetzungskonflikte darstellen. Sofern also nicht länger fraglich sein muss, ob übersetzt werden kann, ist nun danach zu fragen, wie übersetzt wird. Für das Korrekturthema muss dann von besonderer Relevanz sein, wie zu einer Bearbeitung jener Folgeprobleme anzuregen ist.
III.5 Von struktureller Kopplung zu Übersetzungsverhältnissen Wenn also die Autonomie systemischer Informationsverarbeitung der Korrektur der Gesellschaft nicht prinzipiell im Wege steht, ist das Problem vielleicht eher, was aus den Problemen im Laufe solcher Übersetzungsprozesse wird. Denn mit der Annahme einer Ubiquität von Übersetzungen muss für Korrekturanregungen gelten, was für jede andere Kommunikation postuliert wird. Eine geradezu klassische Referenz für Übersetzungsprozesse, die soziale Probleme durchlaufen, findet sich erneut in der Wissenschaftsforschung. Ausgehend von der Frage nach der politischen Steuerung der wissenschaftlichen Entwicklung stieß die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Wissenschaft zwischen Autonomie und Steuerung« Ende der 1970er Jahre über alle untersuchten Fallbeispiele (Biotechnologie, Informatik, Krebs-, Umwelt-, Fusions- und Schwerionenforschung) hinweg auf das Phänomen der Übersetzungsprozesse: »Soziale Ziele oder Probleme werden in politische übersetzt, die politischen in wissenschaftspolitische, und diese in technische und wissenschaftliche« (van den Daele et al. 1979: 19ff.).10 Dabei ging es nicht darum, das Scheitern politischer Einflussnahme durch Übersetzungsprozesse zu erklären. Es sollte vielmehr gezeigt werden, dass Wissenschaft nur dann nicht selbstgewählte Probleme aufnimmt, wenn sich der Steuerungsimpuls »methodisch und theoretisch an existierende Wissenschaft anschließen« lässt (ebd.: 50). Nie lässt sich eine Eins‐zu-eins-Übertragung sozialer Probleme in politische oder eben wissenschaftliche Programme beobachten. Damit muss aber eben nicht gleichermaßen ausgeschlossen sein, dass Probleme produktiv bearbeitet werden. Die Arbeitsgruppe richtete ihren Blick dabei vornehmlich auf die wissenschaftliche Informationsverarbeitung. Eine produktive Bearbeitung wird demzufolge vor allem sichtbar in weiteren Publikationen, der Gründung neuer Forschungsinstitute oder Fachzeitschriften. Die Gemeinsamkeiten der fokus10 Hierzu ausführlicher siehe Mölders (2014b).
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sierten »drängenden sozialen Probleme« – Krebstherapie, Umweltschutz, Energieversorgung – mit den o.a. Beispielen für Folgen funktionaler Differenzierung sind offenkundig. Wenn sich die Differenzierungstheorie für das Aufeinandertreffen je eigenlogisch operierender Anschlussroutinen interessiert, erscheint Integration nicht als geeigneter begrifflicher Kandidat. Das trifft allerdings gleichermaßen auf Luhmanns Ersetzung durch strukturelle Kopplungen zu. Beide Angebote verdecken eher die Ubiquität von Aufeinandertreffen, die nicht für Entdifferenzierung sorgen, sondern für stetiges Übersetzen. In diesem Sinne schlägt auch Joachim Renns (2006) pragmatistische Differenzierungstheorie vor, von struktureller Kopplung auf Übersetzung umzustellen, wenn es um Intersystembeziehungen geht. Präziser muss an dieser Stelle formuliert werden, dass Systeme nur eine Differenzierungsebene im Rahmen dieser Theorie darstellen. Die hierin angenommene multiple Differenzierung postuliert, dass das Problem der Übersetzung zwischen Gesellschaftsteilen erst dann vollständig beschrieben sei, »wenn sowohl funktionale als auch praktisch‐kulturelle Differenzierung sowie die Differenzierung von Integrationsformen in Rechnung gestellt werden« (ebd.: 21). Systembildung erscheint hierin schon als Form der Übersetzung, nämlich als in die Etablierung abstrakter Sprachspiele mündende Explikation impliziten Wissens. Zu Systemen als Einheiten abstrakter Integration verdichten sie sich, sobald ihre Selbstbezüglichkeit auf ein spezielles Kommunikationsmedium zugreifen kann (ebd.: 25). Renn differenziert Integrationseinheiten11 (Systeme, Organisationen, Milieus12 und Personen) und -formen (abstrakt bzw. systemisch und konkret bzw. kulturell‐praktisch). Mit Integrationsformen sind Koordinationsprinzipien und -weisen der unterschiedlichen Einheiten angesprochen: »Gruppensolidarität und Identität sind auf eine Art integriert, die sich von der Organisation der Arbeit oder schließlich von der abstrakten (systemischen) Koordination wirtschaftlichen Handelns unterscheidet« (ebd.: 78). Übersetzungen zwischen abstrakten Systemen sind möglich. Das liegt bereits in der konzeptionellen Weichenstellung begründet, nicht von operativer Geschlos11 Netzwerke werden als mögliche eigenständige Integrationseinheit diskutiert, Renn (ebd.: 426f.) sieht sie allerdings eher als Beziehungsstrukturen innerhalb von Integrationseinheiten: »Sie spielen aber als Formen der Bahnung und Verdichtung im Zusammenhang der grenzüberschreitenden Beziehungen vielleicht darum eine besondere Rolle.« 12 Milieus werden konzipiert als kollektive Lebensformen, die »als Integrationseinheiten vornehmlich an das Medium der Interaktion gebunden sind.« Sie »unterscheiden sich voneinander in der habituell praktischen Dimension« und »sind gegeneinander abgegrenzte Einheiten habitueller Routinen und Gewissheiten, also ›gleichsinnigen‹ (impliziten) Hintergrundwissens, von dem aus oder auch: auf dessen Grundlage Handlungen in der Interaktion zwischen Angehörigen des Milieus integriert werden« (ebd.: 410). Milieus seien »kein Epiphänomen struktureller oder funktionaler Differenzierung« (ebd.: 413).
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senheit, sondern operativer Kopplung zwischen »Sprachen« auf der Basis praktischer Übergänge auszugehen (vgl. ebd.: 407). Die hier zunächst zu skizzierende Besonderheit des Vorschlags findet sich in der Beschreibung des Umwegs, über den solche Übersetzungsprozesse laufen müssen: »dass die Übersetzung zwischen abstrakten Integrationseinheiten den Umweg über die Respezifikation abstrakter Typen durch eine konkretere Integrationseinheit (Organisation) nehmen muss, der dann in Richtung eines wieder abstrakten Systems als Re-Generalisierung zur Übersetzung in die andere abstrakte Sprache der Handlungsbestimmung führt. Die ›Teil-Übersetzung‹ zwischen einem System und der Organisation geht ihrerseits den Umweg über die Übersetzung zwischen Organisation und Person bzw. Milieu« (ebd.: 409). Selbst in Bezug auf das von Hutter als besonders enge Symbiose bezeichnete Verhältnis zwischen Politik und Recht kann, Renn zufolge, nicht von einer einfachen »Übertragung von einem Lexikon in das andere« ausgegangen werden. Bis etwa eine politische Entscheidung eine rechtliche Bedeutung erhält, hat diese bereits den Umweg der Auslegung der Entscheidungskonsequenzen hinter sich, und zwar »unter Rückgriff auf implizite Kompetenzen der Regelauslegung und -anwendung (also kulturell praktische Horizonte)« (ebd.: 153). Jede Übersetzung zwischen abstrakten Systemen ist gekennzeichnet durch Übersetzungskaskaden, in die zwar alle Typen von Integrationseinheiten verstrickt sind, in der aber eine besondere Bedeutung von (formalen) Organisationen unübersehbar ist. Aufgrund ihrer, den Abstraktionsgrad betreffend, Stellung zwischen Funktionssystemen und Milieus könnte Organisationen zugetraut werden, die Pluralisierung von Integrationsformen und -einheiten zu bearbeiten. Eine Zähmung so aufgefasster Pluralisierung mit der Kapazität formaler Organisation schließt Renn (ebd.: 419) zwar aus, sieht diese aber doch als »zentrale ›Verteilerköpfe‹ […] zwischen funktionssystemischen Koordinierungsleistungen und situativen bzw. lokalen Kontexten und Bedingungen« (ebd.). Ausgehend von System A (im obigen Beispiel: Politik) spezifizieren oder konkretisieren Organisationen bzw. Organisationsprogramme zunächst abstrakt codierte Kommunikation. Auf dem Weg zu System B (oben: Recht) re‐generalisieren Organisationen dann wieder das zuvor Kleingearbeitete. Diese »Reflexivität der Kleinarbeitung funktionssystemspezifischer Aufgaben« kann aber keine Abkürzung im Übergehen des Person-MilieuUmwegs nehmen (ebd.: 417). Das Politik-Recht-Beispiel fortsetzend, wird dieses Theorem illustriert und plausibilisiert durch die »Sphäre des Publikumsverkehrs«, in der »zusätzliche Interessenlagen der Behörde und ihrer personalen Repräsentanten« hineinkommen. Organisationaler Eigensinn (z.B. Eigenwerte der Organisationsselbsterhaltung) oder auch personale Karrierefragen kontaminieren die vermeintlich klare Operationalisierung und Implementierung systemischer Imperative (ebd.: 420).
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Bislang blieb weitgehend unthematisiert, wie zur Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung angeregt wird – und von wem eigentlich. Eher wurde betont, dass für solche Anfragen gilt, was für die Gegenwartsgesellschaft generell gilt: Sie werden übersetzt. Befragt man nun Renns Übersetzungskaskaden, wie die Korrektur der Gesellschaft, die Bearbeitung der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung initiiert und über unterschiedliche Einheiten hinweg prozessiert wird, so zeigen sich im Prinzip an jeder Station Chancen zur Initiierung von Wandel, die gerade aus der Kaskadenformation selbst erwachsen: Funktionssysteme etwa könnten »Informationen aus und Erfahrungen mit anderen Integrationseinheiten in die eigene Reproduktion einspeisen« (ebd.: 408), Personen könnten prinzipiell das Milieu wechseln und andernorts »Gewissheiten explizit herausfordern, damit wieder die Reflexivität des Milieus durch Kontrasterfahrungen provozieren« (ebd.: 416). Zwar wird unmittelbar darauf verwiesen, dass ebenso an jeder Schwelle die Wahrscheinlichkeit nicht‐intendierter Effekte, Nebenfolgen und/oder Streuungen steigt (vgl. ebd.: 409). Dennoch sind aus diesem Modell zwei Richtungen zu gewinnen: Top‐down, von den abstrakten Integrationseinheiten (Funktionssysteme) ausgehend und bottom‐up, von den konkreten Integrationseinheiten (Personen, Milieus) aus, in jedem Fall über formale Organisationen als Verteilerköpfe vermittelt. Recht wird »top down« aus einem Konditionalprogramm überführt in eine performativ anschlussfähige Form situierter Imperative. Wirkungen von »bottom up«Korrekturanfragen seien nicht ausgeschlossen, machten sich allerdings eher evolutionär bemerkbar, zumal die Reaktionen des Rechtssystems auf Anfragen von außen, die in kürzere Zeithorizonte eingeordnet sind, rück-übersetzt werden müssen, bevor sie im Rechtssystem intern koordinierte Variationen (»Mutationen«) mit Aussichten auf Stabilisierung anregen können (Renn 2016a). Diese Konzeption hat im Übrigen Folgen für den Gesellschaftsbegriff bzw. die Frage nach der Einheit der Gesellschaft. Demzufolge ist Gesellschaft »als Gesamtheit der miteinander in Beziehungen stehenden Integrationseinheiten und ihrer Interdependenzen die implizite Einheit praktischer Übersetzungsverhältnisse« (Renn 2006: 492). Zu Beginn des zweiten Kapitels hieß es, dass gerade die Beobachtung von Korrekturbemühungen an einer differenzierten Gesellschaft einen Gesellschaftsbegriff einfordert. Diese Ankündigung lässt sich nun einlösen. Jedes Korrekturbegehren kann »über die indirekten Verbindungen zwischen allen Integrationseinheiten im Zuge des Durchlaufs durch Übersetzungskaskaden zum Referenten und zur in einen anderen Bedeutungshorizont gestellten Konstituente der Kommunikation potentialiter jeder anderen Integrationseinheit werden« (ebd.: 493). Darum hat jedes kommunikative Ereignis potentialiter Implikationen für jede Integrationseinheit, so weit die Übersetzungskaskaden reichen. Ebendieser Potentialität wegen leuchtet der Verzicht auf einen Gesellschaftsbegriff differenzierungstheoretisch nicht ein.
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Die »übersetzungstheoretische« Theorie der Evolution lenkt den Blick auch auf zeitliche Aspekte von Korrekturübersetzungskaskaden, hier auf die unterschiedlichen Zeithorizonte des Rechts und der Korrekturanfragenden. Das daraus resultierende Problem der Synchronisation (vgl. Kap. IX.1) wird hier zunächst konsequent evolutionstheoretisch aufgelöst: Das Recht nimmt sich die Zeit für RückÜbersetzungen, was eine Veränderung anlässlich der in dichtere Taktungen eingelassenen Korrekturanfragen nicht ausschließt, sich aber eben eher evolutionär – und damit: später und kaum in einem unmittelbaren Verhältnis zur Anfrage – bemerkbar macht. Das sieht Luhmanns Ausführungen zu den systemischerseits als structural drift ankommenden Korrekturanfragen von Protest zum Verwechseln ähnlich. Dieses Verhältnis wird in Kap. IV.1 ausführlicher beleuchtet. Dennoch bietet das Stichwort Protest bereits an dieser Stelle eine gangbare Überleitung. Protestbewegungen haben Luhmanns Theoriearchitektur irritiert; sie ließen sich nicht an die dreigliedrige Typologie aus Interaktion, Organisation und Gesellschaft assimilieren. Was aus dem Konstatieren eines Sondertyps folgen sollte, ist immer wieder diskutiert worden (Ahlemeyer 1989, 1995; Hellmann 1996; Japp 1986a, b; Tratschin 2016). Im Grunde lautete die Frage im Kern stets: Kann die Informationsverarbeitung dieser Theorie das Phänomen Protest an die eigenen Strukturen anpassen, oder muss sich die Theorie dem Phänomen anpassen und also einen größeren eigenen Schemataauf- und -umbau vornehmen? Renns Vorschlag einer viergliedrigen Typologie von Integrationseinheiten lässt sich auch als diesbezügliche Lösungsoption auffassen. Die, im Vergleich zur systemtheoretischen Ausgangslage, Hinzunahme der Einheiten Person und Milieu und die Verlagerung von Interaktion von einem eigenen Systemtyp zu einem Integrationsmedium dient Renn selbst aber nicht (nur) zur Korrektur der Liste von relevanten Einheiten der funktional differenzierten Gesellschaft, sondern als Argument für seine Diagnose multipler Differenzierung. Das Multiple verweist dabei eben nicht auf eine bloße Hinzunahme weiterer relevanter Einheiten, sondern weiterer relevanter Differenzierungsarten: praktisch‐kulturelle und abstrakt‐systemische bzw. funktionale Differenzierung. Eine Untersuchung, die nach der Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung fragt, kommt an dieser Problemstellung nicht vorbei.
III.6 Von funktionaler zu multipler Differenzierung? Wohin mit Bewegungen, Milieus, mit Kultur-, Raum- oder Geschlechterdifferenzen – mit anderen Humandifferenzierungen? (Hirschauer 2014, 2017) Diese Liste ließe sich mühelos verlängern, überhaupt herrscht kein Mangel an differenzierungstheoretisch interpretierbaren Konzepten, die Antworten auf Fragen nach (wesentlichen) gesellschaftlichen Differenzen und deren Zusammenspiel geben:
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Das gilt für so heterogene Vorschläge wie Andreas Reckwitzʼ (2017: 274) sozial‐kulturelle Klassen13 , Gesa Lindemanns (2014: 326) Subsinnwelten, Athanasios Karafillidisʼ (2010) soziale Formen14 oder die fragmentale Differenzierung nach JanHendrik Passoth und Werner Rammert (2019). Eine systemtheoretisch offenbar präferierte Option ist die Anerkennung anderer als funktionaler Differenzierung unter Aufrechterhaltung des Primats dieses Typs. Eine aufschlussreiche Begründung für die Primat-These findet sich bei Nassehi (1997). Sie wird abgeleitet aus der Diagnose: »Was auch immer wir tun, wir finden uns immer schon im Bestimmungsbereich von Funktionssystemen vor« (ebd.: 133). Das kann aus dieser Perspektive auch gar nicht anders sein, denn hierin sind Funktionssysteme gerade dadurch gekennzeichnet, dass alles Soziale in ihren Bestimmungsbereich fallen könnte. Mit ihren Begriffen »gesellschaftsweite Penetration« (Tyrell 1978) und »globale Zugriffsweise« (Türk 1995) hatten schon Hartmann Tyrell und Klaus Türk vorgeschlagen, nur solche Kommunikationszusammenhänge Funktionssysteme zu nennen, die jedes kommunikative Ereignis in ihren je eigenen Verstehenskontext stellen können. Diese Bestimmung kann als vergleichsweise scharf und schlank gelten, verzichtet sie doch auf einen wie eine Checkliste zu behandelnden Kriterienkatalog.15 Diese Eigenschaften konnten aber nicht verhindern, dass über die Zahl von Funktionssystemen spekuliert wird: Hutter (2015) kommt mit sechs aus, Stichweh (2014: 10f.) sieht zehn und Schimank (2011) bietet zwölf Funktionssysteme. Relevanter als die konkrete Zahl bleibt die qualitative Bestimmung. Halten wir uns an das Kriterium gesellschaftsweiter Penetration, einer Bestimmung, der im Übrigen auch die pragmatistische Differenzierungstheorie folgen kann, dann scheint es vielen hieran anschließenden Beiträgen eindeutig, dass alles sozial Relevante sich auf ebendieser Ebene abspielen muss. Das gilt dann auch (und gerade?) für die Korrektur der Gesellschaft. Der Korrekturbedarf liegt in der Borniertheit von Funktionssystemen begründet, Korrekturfolgen zeigen sich ebenso auf dieser Ebene. Wieder geschieht dies ohne in Abrede zu stellen, dass es anderweitige Differenzierungen gibt, nur scheint die Primat-These abzufordern, solche Differenzen buchstäblich hintanzustellen. Stichweh (2014) geht etwa davon aus, dass alle Sozialsysteme mikrodivers seien. Damit ist gemeint, dass diese aus einer Vielzahl höchst diverser Einzelelemente be13 Definiert als »soziale Gruppe, die ein kulturelles Muster der gemeinsamen Lebensführung und zugleich eine bestimmbare gemeinsame soziale Position in Form der Ausstattung mit sozial relevanten Ressourcen (Kapital) sowie einer bestimmten Form der Arbeit teilt« (ebd.). 14 Karafillidisʼ soziale Formen sind aus Sicht der Systemtheorie am wenigsten exotisch. Gleichwohl landet auch Lindemann mit den Subsinnwelten bei funktionaler Differenzierung, auf gleichwohl anderem Wege; ihr Augenmerk richtet sich auf die Ermöglichungsbedingungen der Bildung solcher Differenzierungen. 15 Die ausführlichste Liste könnte Zocks (2015) sechzehn Kriterien umfassender Katalog sein.
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stehen. Jede weitere wissenschaftliche Publikation sei ein solches Element für das Wissenschaftssystem, jede Publikation produziere soziokulturelle Evolution (evolutionary drift) (ebd.: 13). Funktionale Differenzierung taucht in diesem Modell nicht nur als Primärdifferenzierung moderner Gesellschaft auf, sondern wird zudem als Prinzip der Binnendifferenzierung bestimmt, nämlich als »Wiederholung des Prinzips funktionale Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme selbst, die immense Vielfalt von systembildenden sachlichen Unterscheidungen, die innerhalb der Funktionssysteme teilweise zu Tausenden von autonomen Subsystemen führt.« Dabei handele es sich nicht um Sozialkollektive, die Individuen mit der Gesamtheit ihrer Lebensführung einschließen, sondern um sachbestimmte Kommunikationszusammenhänge (ebd.: 16). Außer den tausenden(!) autonomer Subsysteme, die fast alle dem Prinzip funktionaler Differenzierung folgen, erkennt Stichweh (ebd.: 2007) weitere »Eigenstrukturen der Weltgesellschaft«: Organisationen, Netzwerke und epistemic communities. Letztere sind für das hier verfolgte Argument von besonderem Interesse. Als globale Community von Expert_innen stünden diese manchmal im Zentrum funktionssystemischer Kommunikation (etwa: Ärzt_innen im Gesundheitssystem), allerdings lägen gleichermaßen Fälle vor, in denen eine »weitreichende Unabhängigkeit von den Sinnperspektiven jedes einzelnen Funktionssystems offen zutage« liege (Stichweh 2014: 17). Stichweh (ebd.) wählt das Beispiel der globalen epistemischen Community der Schachspieler, »die weder den analytischen Perspektiven der Wissenschaft noch dem Wettkampfgeschehen des Sports subsumiert werden kann.« Es geht nun weniger um die Frage, inwiefern Sport als Funktionssystem taugt (vgl. Werron 2010), eher ist von Interesse, was aus dem Konstatieren einer Einheit folgt, die offenbar über distinkte Schemata der Informationsverarbeitung verfügt, sich aber der systemtheoretischen Typologie widersetzt. Für die Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung resultiert hieraus scheinbar nichts Relevantes. Globale Funktionssysteme sind mikrodivers, es mag vielfältige Differenzierungseinheiten geben, auch regionale Diversifikation wird einbezogen, nur bleiben es am Ende bei Stichweh Weltsysteme, an deren Strukturen die Diffusion aller mikrodiversen Variationen ablesbar ist. Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür ist, dass der amerikanische Supreme Court einerseits ganz selbstverständlich Entscheidungen anderer Verfassungsgerichte zitiere, andererseits aber ein regionaler bias unübersehbar sei, der sich darin manifestiere, dass im globalen Maßstab umgekehrt der Rückgriff auf Entscheidungen amerikanischer Gerichte präferiert werde (Stichweh 2014: 13). Aufschlussreich ist hieran weniger die Vernachlässigung der für die Diffusion wohl als Erfolgsbedingung zu notierenden Unterschiedlichkeit der anglo‐amerikanischen gegenüber der kontinentaleuropäischen Rechtskultur (Tilch & Arloth 2001: 981f.). Denn dieser Zug wird ohnehin argumentativ nur dazu benötigt, zu »konzedieren, dass die Verfas-
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sungsrechtsprechung heute ein Weltsystem ist; aber es ist ein Weltsystem mit regionaler Diversifikation« (Stichweh 2014: 13). Auf der Ebene der Informationsverarbeitung ändert auch die Berücksichtigung regionaler Diversität nichts; der Primat funktionaler Differenzierung bedeutet hier, dass alle gesellschaftlich produzierten Variationen, darunter selbstredend auch Korrekturanregungen, früher oder später auf funktionssystemspezifischen Eigensinn treffen. Augenscheinlich ist also die Primat-These für die Korrektur der Gesellschaft ein praktisches Problem, was in Nassehis (1997: 141) Begründung plastisch deutlich wird: »daß kulturelle und ästhetische Ungleichheiten und Pluralitäten auf horizontaler Ebene wie auch materielle Differenzen und Ungleichheiten von Lebenschancen keine Systemdifferenzierungen des Gesellschaftssystems sind, sondern daß diese selbst quer zu den funktionalen Differenzierungsgrenzen verlaufen. Damit wird übrigens keineswegs das Theorem der funktionalen Differenzierung in Zweifel gezogen.« Vielmehr lasse sich zeigen, dass soziale Ungleichheiten als Parasiten16 der funktionalen Differenzierung fungieren und sich gerade deshalb der Gesellschaftsstruktur selbst entzögen: »Die empirische Brisanz sozialer Ungleichheit liegt ja gerade darin, daß sie im Geflecht wechselseitiger Beobachtungsleistungen funktionaler Teilsysteme kaum stört« (ebd.). Kurzum: Es gibt zwar andere als funktionale Differenzierung, die dann quer zu dieser läge. Die Pointe wird aber darin gesehen, dass sich empirisch aus dieser Querstellung keine irritationsfähige Verflechtung mit Funktionssystemen rekonstruieren lasse. Funktionssysteme prozessieren weitestgehend ungestört von anderen Differenzierungsarten. Wenn Funktionssysteme überhaupt zu Veränderungen anzuregen sind, muss sie etwas stören; hierüber herrscht Einigkeit. Renns Differenzierungstheorie postuliert nun, dass solche Veränderungen prinzipiell in Übersetzungskaskaden eingelassen sind. Auf Systeme bezogen bedeutet dies, dass, um im uns interessierenden Gegenstandsbereich zu bleiben, Korrekturanliegen zuvor von Personen und Milieus bedeutungsbrechend übersetzt worden sind, bevor Organisationen Korrekturtranslate ihrerseits explizieren und generalisieren, was dann in einen veränderten Systemzustand mündet, wenn der Funktionssysteme definierende Abstraktionsgrad erreicht ist. Von dort aus, dies wiederum ist die Pointe der Übersetzungskaskaden, ist weiter zu übersetzen, indem Organisationen nun eine maximal abstrakte Regel re‐spezifizieren, was die konkrete Praxis aber nicht determinieren kann, weil sich hier wiederum die Bedeutungsbrüche in den Übersetzungen von Milieus und Personen praktische Geltung in dem Sinne verschaffen, dass sie einen Unterschied machen: Ein und dieselbe organisationale Implementation einer auf
16 Zu Parasiten sozialer Systeme siehe Schneider (2015); Serres (1981).
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Systemebene generalisierten Regel wird zunächst in Milieus und dann in Personen je anders verarbeitet. Nassehi, hier nun als Stellvertreter für die Primat-These, müsste all dies nicht einmal bezweifeln, sondern könnte das reduktionistische Argument probieren, dass damit seine These gleichermaßen untermauert wäre, dass nämlich in letzter Instanz doch wieder die Eigenlogiken der Funktionssysteme ausschlaggebend wären. Aus diesem hier nur simulierten Streit wäre seinerseits eine Kaskade abzuleiten, denn eine Entgegnung der pragmatistischen Differenzierungstheorie müsste nun wieder darauf verweisen, dass es in Kaskaden keine letzte Instanz gebe usw. Der hier verfolgte Argumentationsstrang interessiert sich für das Prozessieren von Korrekturkommunikationen. Somit muss die entscheidende Frage sein, wie zu verfolgen ist, dass sich die mit der übereinstimmend als mit maximaler Reichweite ausgestatteten Einheiten dazu anregen lassen, sich mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu beschäftigen. Dieser Übereinstimmung ist hinzuzufügen, dass ebendiese Probleme offenbar nur mehr oder weniger produktiv verschieben lassen. In komplexitätsreduzierendem Personalisierungsmodus gesprochen: Eine zwischen Nassehi und Renn angesiedelte Position kann darauf abstellen, dass differente Schemata der Informationsverarbeitung weitaus mehr Typen implizieren als es die klassische systemtheoretische Typologie vorsieht. Dabei kann an Stichwehs Schachspieler, Nassehis pflegerische Anschlussroutine oder Luhmanns Versicherungen gedacht werden. Welche mit distinkten Schemata der Informationsverarbeitung operierenden Einheiten in konkreten Prozessen beteiligt sind, ist eine stets aufs Neue zu beantwortende empirische Frage. Dies mag als typisch theoretische Ausflucht aus eigenen Operationalisierungs- oder eben Implementierungsproblemen markiert werden, wesentlich ist hierbei der Hinweis, dass sich diese Begrenzungen nur in (ggf. ausbleibenden) Anschlüssen zeigen, in konkreten Settings also gerade eine Subsumption unter bereits bekannte Informationsverarbeitungstypen zu vermeiden ist. Dieses Postulat kann sich auf empirische Prüfungen berufen. So haben etwa Niklas Barth & Katharina Mayr (2017: 167) am Beispiel von Mediationsrollen gezeigt, wie differenzierte Perspektiven empirisch überhaupt aufeinander Bezug nehmen können und dass die Rekonstruktion solcher Formate sich besonders eignet, je relevante Differenzen überhaupt in den Blick zu bekommen. Im Kontext der postmortalen Organspende etwa ließe sich eine Differenzbearbeitung beobachten, an der sich insbesondere rechtliche, medizinische und patientisch‐emische Perspektiven absetzten. Eine solche Forschungsgestaltung folgt auch dem Plädoyer Stefan Hirschauers (2014: 181) »Leitunterscheidungen einzelner Forschungsfelder (…) empirisch aufs Spiel setzen und deren Relevanzclaims fallweise aufgeben, nämlich der Konkurrenz ihrer Leitunterscheidungen in der sozialen Praxis Raum geben.«
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Rogers Brubaker (2002: 174f.) plädiert ebenso dringlich für die Umstellung auf differente Informationsverarbeitungen, wenn es um Studien zu »Ethnicity, race and nationhood« geht. Diese seien nicht in diskreten Gruppen erfass- und erfahrbar, sondern »[t]hey include ethnically oriented frames, schemas and narratives and the situational cues that activate them, such as the ubiquitous televised images that have played such an important role in the latest intifada. They include systems of classification, categorization and identification, formal and informal. And they include the tacit, taken‐for-granted background knowledge, embodied in persons and embedded in institutionalized routines and practices, through which people recognize and experience objects, places, persons, actions or situations as ethnically, racially or nationally marked or meaningful.« Sollen Nationalität, Ethnizität o.Ä. erfahrungswissenschaftlich eine Rolle spielen, dann müssen diese Kategorien als unterschiedliche Informationsverarbeitungen konzipiert werden; ein für die Konfliktsoziologie zweifelsohne herausfordernder Zugang. Ulf Ortmann und Alfons Bora (2015) haben untersucht, welche distinkten Strukturschemata sich innerhalb eines Industriebetriebs rekonstruieren lassen. Multiperspektivität (Banse & Reher 2008), so die Annahme, ende nicht vor den Toren eines Betriebs, sondern setze sich in spezifischer Weise innerhalb von Unternehmen fort. Ortmann & Bora (2015) interessierten sich für dafür, was die als »Industrie 4.0« betitelte Entwicklung konkret für Mitarbeitende bedeute. Die Erwartung einer »sozialverträglichen Technikgestaltung« lasse sich nicht einmal operationalisieren, sofern unklar bleibt, was sich eigentlich womit vertragen soll. Die Konfrontation mit durch Industrie 4.0 einhergehenden Veränderungen fassten die Autoren als Störung auf, anhand derer sich distinkte Schlüsselkonzepte17 (Oevermann 2001: 67) rekonstruieren ließen. Diese Störung traf in Vertrieb, Betriebsrat, Produktionsmanagement, Softwareentwicklung, Elektrotechnik und Maschinenbau auf je eigene Informationsverarbeitungen. Diese Positionen waren aber das Ergebnis der Analyse, nicht ihr Ausgangspunkt. Dieser empirische Exkurs verbürgt obendrein noch so etwas wie eine praktische Relevanz differenzierungstheoretischer Grundlagenforschung. Eine Hierarchisierung, denn auf nichts Anderes läuft der Quer-Hinweis ja hinaus, von funktionaler gegenüber kultureller Differenzierung ist dann ganz unnötig,
17 Oevermann (2001: 67) definiert Schlüsselkonzepte als »Prinzipien, mit denen die Probleme, vor die sich eine Alltagspraxis gestellt sieht, einerseits strukturiert als bestimmt und lösbar interpretiert werden können, und die andererseits gegen Argumente wirksam abdichten, mit denen die Inkonsistenzen in diesen Lösungen kenntlich gemacht werden können.«
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wenn es um das Identifizieren dessen geht, was jeweils zum Zwecke der Informationsverarbeitung in Anschlag gebracht wird. Es geht dann immer um Schemata, die Beobachtende gewiss unterschiedlich zuschlagen können. Doch ist die Koexistenz funktionaler und kultureller Differenzierung hiermit womöglich überbefriedet? Fraglich ist dies schon durch Nassehis als empirisch brisant benanntes Postulat, dass andere als funktionale Ungleichheiten die Beziehungen zwischen Funktionssystemen kaum störten. Renn hingegen sieht durch sein Verständnis von Gesellschaft alles in Übersetzungsverhältnisse eingelassen, weshalb von keiner Handlung ex ante auszuschließen sei, dass sie, auf unser Interesse bezogen, prinzipiell korrekturveranlassend wirken könnte. Was Systeme auf eine Weise stört, dass sich diese zur Revision bislang bewährter Informationsverarbeitungen hinreißen lassen, wird abermals zu einer offenen empirischen Frage deklariert. Dieses Mal aber mit dem Hinweis darauf, dass diese im weiteren Verlauf der Untersuchung zumindest bearbeitet wird. Die These, dass nur Funktionssysteme einander zu stören vermögen, kann verworfen werden. Diese weitere Vorbereitung hat sich im Wesentlichen die Abkürzung über die Arbeiten der konkreten Personen Armin Nassehi und Joachim Renn zu nehmen erlaubt. Dies sollte gerade nicht in eine Zusammenschau jeweiliger Idiosynkrasien (oder: personaler Informationsverarbeitungen) münden, sondern systematische Kompositionsprobleme des Themas der Korrektur der Gesellschaft aufschlüsseln und bearbeitbar machen. Im Vorangegangenen wurden zu diesem Zwecke die Unterschiede der beiden Konzeptionen betont, was nicht den Blick darauf verstellen soll, dass es gerade ein gemeinsamer Ausgangspunkt ist, der diesen Kontrast für besonders geboten erscheinen lässt. Auf beide ließe sich der von Beginn an als Ausgangspunkt für die Korrektur der Gesellschaft gezogene Schluss beziehen, wesentliche gesellschaftliche Probleme seien als Übersetzungskonflikte aufzufassen.
III.7 Zwischenfazit: Kleine Korrekturen Weitere Gemeinsamkeiten sind zu finden, wenn jüngere Publikationen Nassehis (2015, 2016, 2017) als Maßstab dienen. Hierin hält Nassehi einerseits unverändert am Primat funktionaler Differenzierung fest, fragt andererseits aber durchaus danach, wie (und: wo) zu Übersetzungen anzuregen sei. Weil systemische Anschlussroutinen Kommunikationen nie ohne Bedeutungsbruch für sich übersetzen können, spricht Nassehi (2015: 276) von einer punktuellen »Koordination von Unkoordinierbarem«. Punktuell verweist hier auf konkrete Situationen, (system-)theoretisch präziser: auf Interaktionssysteme, auf Kommunikationen also, für die die wechselseitig wahrgenommene Anwesenheit der Sprecher_innen konstitutiv ist. Koordination versteht sich als Gegensatz zu zentraler Kontrolle oder Steuerung. Und weil es eine solche Zentralinstanz in einer differenzierten Gesellschaft nicht
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geben kann, finde die Koordination »jeweils gegenwärtig, jeweils praktisch, jeweils in Echtzeit, jeweils in Form temporärer Anpassungsprozesse und vor allem nur an konkreten und begrenzten Fällen statt, nicht allgemein zwischen ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹18 « (ebd.: 262). Koordination meint hier also durchaus eine trotz oder gerade durch unterschiedliche(r) Logiken gefundene Problemlösung, mit der entscheidenden Restriktion, dass dies nur in konkreten und begrenzten Fällen möglich sei. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn es den beteiligten Sinnperspektiven gelingt, »die Restriktionen der je anderen Seite, der anderen Profession, der anderen Logik, des anderen Problemaufrisses in Rechnung zu stellen« (ebd.: 282). Exakt hierzu kommen diesem Modell zufolge nur Interaktionssysteme in Frage, weil nur wechselseitig wahrgenommene Anwesenheit diese Form der Reflexion ermögliche: denn »in dem Moment, in dem Kritiker unterschiedlicher Couleur nicht mehr alleine sprechen und ihre Statements unabhängig voneinander formulieren, [werden] aus glühenden Moralisten mit unbedingten Standpunkten vernünftige Sprecher, die sich auf ihr sichtbares Gegenüber einstellen« (ebd.: 285). Umgelegt auf Fragen nach der Korrektur der Gesellschaft ist festzuhalten, dass Anregungen zur Bearbeitung von Übersetzungskonflikten für möglich gehalten werden. Wenn die ›Restriktionen der Anderen‹ eingerechnet werden, sind konkrete, praktische, je gegenwärtige etc. Problemlösungen möglich. So sehr Nassehi die Begrenztheit der »Koordination des Unkoordinierbaren« betont, so spricht andererseits nichts dagegen, nach der Diffusion von Problemlösungen zu fragen, die Restriktionen unterschiedlicher Logiken einkalkulieren. Schließlich könnten diese auch andernorts, für andere Probleme, Beteiligte usw. hilfreich sein. Zumindest das Format der Interaktion selbst kann auf eine Diffusionskarriere verweisen, die sich der Annahme verdankt, Anwesenheit ermögliche Koordination zum Zwecke der Problemlösung. Im Vergleich zu Nassehi geradezu entgrenzend stehen die Forschungen von Bettina Heintz (2007, 2015) dafür, Interaktionssystemen eine entscheidende Bedeutung für Strukturbildungen unter weltgesellschaftlichen Bedingungen nachzuweisen. Sie nennt die Verhandlungen des Ruanda-Tribunals, Sitzungen des International Accounting Standards Comitee (IASC), eine Verhandlungsrunde der World Trade Organization (WTO) sowie Besprechungen in internationalen Anwaltskanzleien oder diplomatische Kontakte, aber auch »lokale Protestkundgebungen, sofern sie global beobachtet werden und dies auch in Rechnung stellen« (Heintz 2007: 348f.). Somit wird die Frage nach der Diffusion ursprünglich begrenzter Koordinationsergebnisse gleich wieder relativiert. Mit Heintz könnte argumentiert werden, 18 Das Verhältnis von Politik und Ökonomie ist kein zufällig gewähltes Beispiel, es wird vielmehr von Nassehi (2015: 258ff.) als Schlüsseldifferenz bestimmt.
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dass selbst für »Weltprobleme«, für grand challenges, die Folgen funktionaler Differenzierung, die Übersetzungskonflikte der Gegenwartsgesellschaft »globale Interaktionssysteme« eingesetzt werden könnten. Hinweise auf die Bedeutung von Interaktionen erhellen zudem das Rätsel, dass etwa das Weltwirtschaftsforum in Davos, die Digitalisierungskonferenz re:publica oder auch die G20-Gipfel die Anwesenheitsbedingung nicht als anachronistisch formatieren, auch wenn sie in unterschiedlichem Maße auf digitalisierte Verbreitung und Beteiligung in Echtzeit setzen. Doch auch wenn es hierin sachdimensional um die Korrektur von Weltproblemen gehen mag, lässt sich damit der sozial- und zeitdimensionale Aspekt der Diffusion nicht stillstellen. Mögen globale Interaktionssysteme für das Finden von Problemlösungen noch eine Abkürzung darstellen, so ist für deren Implementation oder Applikation aus diesen Entstehungsbedingungen noch kein Schritt getan. Ebendiese Diagnose lässt zu den o.a. weiteren Gemeinsamkeiten zwischen Nassehi und Renn zurückkehren. Auch Renns diesbezüglicher Ausgangspunkt ist das Konstatieren einer Leerstelle, wenn es um zentrale gesellschaftliche Kontrollinstanzen gehen soll. Auch die pragmatistische Differenzierungstheorie betont stattdessen dezentrale Konstellationen. Die Ausdifferenzierung immer spezifischerer Informationsverarbeitungen mündet bei Renn in der These, dass der gemeinhin mit Individualisierung bezeichnete Prozess besser verstanden sei, würde hieraus der Schluss gezogen, Personen als eigenständige Integrationseinheiten (Renn 2016b) aufzufassen. Wenn also die Eigenheit individueller Informationsverarbeitung es rechtfertigt, hierin Schemata zu erkennen, die nicht mit denen von Milieus, denen Personen ansonsten angehören mögen, zur Deckung kommen, dann ist ebendiese Herausbildung von unzähligen Applikationskulturen (Renn 2006: 507) einerseits eine Folge gesellschaftlicher Differenzierung und andererseits eben wesentliches Hemmnis jedweder Folgenkorrektur. Auch die beste, was immer das bedeuten mag, Korrekturregel19 hat ihren konkret‐praktischen Einsatz nicht selbst in der Hand, sondern ist von entgegenkommenden Applikationskulturen abhängig. Und wieder: so weit ein Weg hinter einem Entgegenkommen auch sein mag, ohne Bedeutungsbrüche ist keine Applikation zu haben, folgt man dieser Theorie. Für die Korrektur der Gesellschaft liegt hiermit zunächst eine genauere Problemdiagnose vor. Für das Interesse an Problembearbeitungen verweist Renn (2006: 507) darauf, dass immerhin nicht auszuschließen sei, dass 19 Renn (2006: 478) gibt tatsächlich ein prozedurales Kriterium der adäquaten Form von Austauschbeziehungen zwischen Integrationseinheiten an: »Systeme, Organisationen, Milieus und Personen müssen – jeweils für sie typische und von anderen Integrationstypen unterschiedene – ›Übersetzungskompetenz‹ erbringen und erhalten. Dazu gehört neben der Erhaltung der eigenen Revisionsfähigkeit in Gegenrichtung eine Form des Exports, die auch extern diesen den Spielraum für Revisionen und die Reproduktion der Ressource ›Übersetzungskompetenz‹ erlaubt.« Verkürzt gesprochen: revidieren und revidieren lassen.
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»die Verteilung der impliziten Einheit der Gesellschaft auf Myriaden lokaler und generalisierender Übersetzungspraktiken ihre Reflexe in den semantischen Explikationen und in den impliziten Routinen hinterlässt, die zu kreativen Bearbeitungen komplexer Problemlagen in lokalen Kontexten führen.« Das ist die Korrektur im Kleinen. Dieses Kleine sind bei Nassehi Interaktionen, bei Renn lokale Kontexte. In der pragmatistischen Differenzierungstheorie findet sich aber noch eine weitere Besonderheit. Korrekturen können sich überall ereignen, müssen nicht einmal expliziert werden. Zur Wirkung kommt sie auch als »stille Transformation der Einheit eines Typs oder einer Regel. Sie vollzieht sich in den Umdeutungsstrategien und Abweichungen als unspektakuläre Veränderung des Anwendungsbereiches einer Regel und der Bedeutung eines semantischen Typs« (Renn 2006: 317f.), ähnlich der Butlerschen Re-Significations (Butler 2006). Dieser Rekurs auf Judith Butler dient der Untermauerung der These, dass Korrekturen ihren Ausgang implizit und unintendiert nehmen können: »Die Geschlechternormen gehen uns zwar voraus und wirken auf uns ein […], aber wir sind verpflichtet, sie zu reproduzieren, und sobald wir – immer ohne es zu wissen – beginnen sie zu reproduzieren, kann immer etwas schiefgehen. Und doch offenbart sich im Verlauf dieser Reproduktion eine Schwäche der Norm, oder eine andere Reihe kultureller Konventionen dringt in das Normenfeld ein und sorgt für Konflikte« (Butler 2016: 45f.). Jede noch so sehr auf Reproduktion ausgelegte Routine kann nicht verhindern, dass Kopierfehler oder Mutationen auftauchen. In dieser Theorietradition wird diese Figur meist mit Derridas (1988) »Iterabilität« assoziiert, also der Wiederholung, die nie ganz dieselbe sein kann. Hierdurch wird es möglich, dies als ein evolutionstheoretisches Modell zu lesen. Butlers Hinweis auf Konfliktpotentiale mündet in die Annahme von Gegendiskursen zu herrschenden und alles prägenden Auffassungen. Spätestens an dieser Stelle landen wir also wieder im Expliziten. Dennoch ist dies sehr deutlich ein Ansatz, der sich für den Beginn von Korrekturanregung interessiert und diesen ebenso im Kleinen, gar im Impliziten und Unintendierten zu sehen vermag. Reckwitz (2003: 294) siedelt Praktiken »zwischen einer relativen ›Geschlossenheit‹ der Wiederholung und einer relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs« an.20 Das Motiv der Abweichungsproduktion gibt es allerdings auch auf höher aggregierten Ebenen. Es geht auch hier dann nicht nur um explizite Korrekturanregungen, sondern auch um praktische Abweichungen von als zu überwinden erachteten (eben: korrekturbedürftigen) Strukturen. Vielzitiert21 ist das other‐doing 20 Hilmar Schäfer (2013) durchkämmt die Theorien von Bourdieu, Foucault, Butler und Latour auf die Unterscheidung Stabilität/Instabilität hin. 21 Siehe die Übersichten in Holloway (2002).
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der Zapatistas, »leben sie doch im Widerstand gegen die mexikanische Regierung und gestalten gleichzeitig ihr Leben autonom, gemeinschaftlich und haben den Anspruch, ihre (Lebens-)Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen« (Ertl 2015: 342). Einerseits liegt hierin ein Beispiel für eine durch praktische Abweichung konstituierte Korrekturanregung, andererseits, folgt man etwa Holloway (2002), stellt sich hier die Diffusionsfrage gerade nicht. Es geht um das Aufrechterhalten und Verteidigen autonomer Lebensräume und -weisen. Helmut Thome (2016: 277) fasst ebendies als anti‐anomische Potentiale innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft. Beispielhaft verweist auch er auf autonome Selbststeuerung und -korrektur im Lokalen: »Auch auf lokaler Ebene gibt es beachtliche Entwicklungen wie z.B. eine Zunahme von Selbsthilfe-Gruppen, Nachbarschaftsinitiativen und Ansätze zu einer (teilweise allerdings auch wieder sehr problematischen) ›Ökonomie des Teilens‹« (ebd.).22 Wachsende Aufmerksamkeit richtet sich auf »Commons«, die über Subsidiarität und Selbstgenügsamkeit hinaus Größeres anvisieren: »Der große Einwand gegen Commons lautet gewöhnlich, sie seien zu klein, um Klimakrise, Armut und andere Weltprobleme zu bekämpfen. […] Es geht. Gerade die kleinteilige Selbstorganisation birgt die Rettung« (Helfrich & Bollier 2019: 7). Die Produktion von Abweichung, genauer: »die Konstruktion einer Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität« bestimmt Luhmann (1995b: 229) als Funktion der Kunst: »Alles ›künstlich‹ Hergestellte provoziert den, der es wahrnimmt, zu der Frage: wozu?« (ebd.: 42) Dies unterscheide die Kunst »vom normalen Wegarbeiten leichter Irritationen in den Wahrnehmungen des Alltagslebens« (ebd.: 228). Eine schwer ignorierbare Irritation zeichnet Kunstwerke als solche also geradezu aus. Das praktische Problem ist hierbei stets, wie aus der konstitutiv irritierenden Betrachtung von Kunst bestimmte Anschlüsse folgen sollen. Holger Kube Ventura (2002: 199ff.) spricht etwa dann von Impulskunst – im Unterschied zu Informations- und Interventionskunst –, wenn Kunstaktionen zu einer Weiterverarbeitung beim Publikum anregen und zeitlich versetzte Auswirkungen haben. Ebendies kommt empirisch als reflexive Strategie der Übersetzungsanregung vor, wie etwa Mirjam Pot (2015) am Beispiel des Kollektivs »Freunde des Wohlstands« gezeigt hat. Bei deren Aktionen geht es zunächst darum, Zweifel aufkommen zu lassen, womit man es im konkreten Fall zu tun hat. Allerdings soll das Publikum gerade nicht bis zum Schluss im Unklaren gelassen werden. Im Verlauf soll es durchschauen können, dass es sich nicht um eine »reale« Situation handeln könne. 22 Zu Korrekturpotentialen im Kleinen der Alternativökonomie siehe Dierkes (2014). Hierin werden solche Betriebe als Orte untersucht, an denen Widersprüchlichkeit in einer Weise erfahren werden kann, die potentiell eine Quelle von Widerstand sei.
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Hierin ist eine Doppelstrategie angelegt: »Irritation und darauf folgend eigenständige Erkenntnis« (Pot 2015: 62). Auf den Zustand der Irritation sattelt eine Auseinandersetzung damit auf, was da eigentlich wie gestört hat. Irritiert sind in solchen Fällen Rezipierende. Allerdings belässt es die die Kunstpraxis beobachtende Kunsttheorie nicht dabei, sondern stellt, in den Worten der vorliegenden Arbeit, durchaus die Diffusionsfrage. Kunst, insbesondere die hier diskutierte Aktionskunst, ist räumlich begrenzt: »Der räumliche Aspekt kann sich durch die Reproduktion von aktivistischer Kunst in den Massenmedien und insbesondere über das Internet von der lokalen auf die globale Ebene ausweiten, wenn auch dann nicht materiell, sondern eher diskursiv« (Bogerts 2017: 16). Diese Problematik ist der Forschung zu wie auch der Praxis von Protestbewegungen geläufig. Einerseits ist man zur Diffusion auf die Massenmedien geradezu verwiesen, andererseits droht an dieser Stelle die »Enteignung der Informationsurheberschaft« (Hellmann 1996: 251f.). Auch eine genuin künstlerische Korrekturanregung »droht in die Falle der Medialisierung zu treten, indem sie ›gute Geschichten‹ und ›plakativen Ungehorsam‹ bietet und ihre Kampagnen somit am ›Nützlichkeitsdenken der Mediengesellschaft‹ ausrichtet.«23 Doch auch an dieser Stelle endet die Antizipation der Kunst(theorie) auf das Verarbeiten von Kunst noch nicht. Zudem gelte es, der Gefahr zu begegnen, Teil des Systems zu werden, gegen das sich die Kritik originär wendet (Hynes et al. 2007: 111). Das von Pot (2015: 49) untersuchte Kollektiv der »Freunde des Wohlstands« arbeitet mit der Taktik der »affirmativen Überidentifikation«: »Mittels der Übernahme und Überspitzung von Zeichen, Symbolen und Inhalten des kritisierten Gegenstands wird Ambivalenz bei den ZuseherInnen erzeugt. Die dadurch entstehenden Interpretationsspielräume laden das Publikum dazu ein, eigene Standpunkte zu entwickeln und schaffen die Möglichkeit, Diskurse zu hinterfragen und zu erweitern.« Als Reaktion auf einen weltweiten Occupy-Aktionstag organisierte das Kollektiv etwa eine Kundgebung in Linz, auf der auf die sich verschlechternde Lage der Reichen durch die Besteuerung von Vermögen aufmerksam gemacht werden sollte. Von dieser Taktik der Übernahme von Sprache und Positionen des dominanten Diskurses sowie der Schaffung von Ambivalenz verspricht man (wiederum: Theorie und Praxis) sich, vom (neuen Geist des) Kapitalismus24 »weit schwieriger zu disziplinieren« zu sein (Murtola 2012: 336). 23 So Lisa Bogerts im Sicherheitspolitik-Blog: www.sicherheitspolitik‐blog.de/author/ lisabogerts/. 24 Diese Dialektik ist verlängerbar, wie ein mit »It’s Time to Tax Us More« betitelter offener Brief einiger Milliardäre an US-Präsidentschaftskandidat_innen zeigt: https://medium. com/@letterforawealthtax/an‐open-letter‐to-the-2020-presidential‐candidates-its‐time-totax-us‐more-6eb3a548b2fe.
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Dieser Exkurs in die Welt der Kunst zeigt einerseits, wie ubiquitär das Anregen zur Gesellschaftskorrektur ist. Andererseits drückt sich hierin eine Reflexivität ebendieser Ansinnen aus, nämlich schon mit Ignorieren oder gar Vereinnahmung zu rechnen und dies wiederum in den eigenen Initiativen zu berücksichtigen. Genau dieser Punkt rückt den Exkurs wieder an die soziologischen Erörterungen heran.25 Mit Renn wurde schon konstatiert, dass Korrektur entgegenkommende Applikationskulturen impliziert. Die entsprechende Anschlussfrage könnte lauten: Wie macht man ein Entgegenkommen schmackhaft? Oder, in Anbetracht der Vereinnahmungsgefahr: Wie sind Korrekturanliegen kaum ignorier- oder eben inkorporierbar? Wie kann Resonanz in Organisationen, Milieus und/oder Personen erzeugt werden? Naheliegend schiene die Maxime, nach dem zu suchen, worauf die anvisierten Einheiten typischerweise ansprechen. Doch die Moderne wäre nicht die Moderne, wüsste sie nicht schon längst darum. Konkret: Für Renn (2006: 494) erscheint Reflexivität, und hierin dann wieder von Nassehi unterschieden, eher als Problem denn als Lösung für die Korrektur der Gesellschaft: »Die Erfahrung dieser Selektivität muss indessen den Teilperspektiven nicht verschlossen bleiben.« Soll heißen: Dass die moderne Gesellschaft von Bedeutungsbrüchen und unterschiedlich übersetzenden Einheiten durchsetzt ist, ist gerade keine bloß (differenzierungs-)theoretische Spitzfindigkeit, sondern längst den Praktizierenden selbst bekannt, hier schon »strategiefähig«. Vielleicht müsste man eher umgekehrt sagen: Die Theorie hat ebendiese längst gesellschaftlich vorfindliche Praxis eher spät in ihre Sprache übersetzt. Weil schon allenthalben mit den jeweiligen Restriktionen (Nassehi) gerechnet wird, sind Resonanzfindungsstrategien ihrerseits reflexiv. Nicht nur rechnen Korrekturanfragende damit, dass ihre Gesuche übersetzt werden, sie passen vielmehr ihre Anfragen diesem Umstand bereits an. Und potentielle Korrekturziele können ebendies wieder einkalkulieren. Dennoch liegt mit dem Stichwort der Resonanzfindung jeweils nächster Einheiten in Übersetzungskaskaden eine Formel vor, die einerseits Bedeutungsbrüche ernstnimmt, sie geradezu zum Ausgangspunkt hat, und dennoch andererseits ein Erfolgskriterium für weiter prozessierte Korrekturanfragen liefert. Nur wenn, so lässt sich auf dieser Grundlage schließen, Korrekturanfragen Resonanz auslösen, werden sie überhaupt weiterprozessiert. Stoßen Korrekturkommunikationen 25 Zur Irritationsgestaltung des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) siehe Jacobs (2018). Hierin wird zudem der Punkt gemacht, dass der Kunst Irritationspotentiale zukommen, die anderen Gesellschaftsbereichen nicht zur Verfügung stehen. Dabei lässt sich an die Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen denken, zudem, dass Kunst in der Sachdimension radikaler sein darf als andere Kommunikationsformen, da sie nicht an Wahrheit und Konventionen gebunden ist.
III. Korrektur und das Zusammenspiel des Differenzierten (war: Integration)
auf substantialistische, fundamentalistische, lern- und revisionsunwillige Applikationskulturen, kommen sie zum Erliegen bzw. werden dann in einer Weise übersetzt, deren Translate keine Spur des Korrekturanliegens mehr aufweisen. Das mag der Korrektur der Gesellschaft keinen allzu hellen Hoffnungsschimmer verleihen, aber darum ist es hier erstens ohnehin nicht zu tun, zweitens wird die Spur der Resonanzerzeugung wiederaufzunehmen sein (vgl. Kap. IV.1). Dass die letzten Ausführungen sich mit Renn und Nassehi wesentlich auf zwei Differenzierungstheoretiker konzentriert haben, kann einerseits komplexitätsreduzierenden Strukturierungsabsichten des Autors zugeschrieben werden. Ein weniger idiosynkratischer Grund ist allerdings darin zu finden, dass die Differenzierungstheorie ihrerseits heterogene Applikationskulturen aufweist. Hierin zeichnet sich eben eine ganz andere (Weiter-)Entwicklung ab, als die im Vorlauf skizzierte. Fragen der Anregung, zu deren Voraussetzungen wie Folgen, treten dabei einem Motiv gegenüber in den Hintergrund: Die Auto-Korrektur der Gesellschaft. Mit dieser Kurzformel ist die Annahme angezeigt, dass gesellschaftliche Differenzierung nicht nur für wesentliche Probleme, sondern gleichermaßen auch für deren Bearbeitung sorgt, die Fragen des Anregens dann verzichtbar erscheinen lassen.
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Wenn das Schicksal »kleiner Korrekturen« ohnehin eine Frage der Evolution und damit der Unplanbarkeit ist, so könnte daraus auch geschlossen werden, sich nicht für Korrekturanregungen zu interessieren, sondern den Blick ausschließlich auf Translate zu richten, die sich als schon verarbeitete Anliegen plausibilisieren lassen. Es müsste dann nicht bestritten werden, dass großformatige Korrekturen im Kleinen begonnen haben, aber schon unrekonstruierbarer Kausalität wegen beschränkt sich die Analyse dann auf Reaktionen. Diesen Zugang empfiehlt die evolutionstheoretische Säule der Systemtheorie: »Die Welt wird aus sich heraus dynamisch, und zwar gerade wegen der Gleichzeitigkeit des Geschehenden und wegen der damit verbundenen Unmöglichkeit einer Koordination. Wenn […] sowohl das System, das man beobachtet, als auch die Systeme in seiner Umwelt evoluieren (also: co‐evoluieren), […] können Beobachter nur mit der Beobachtung von ›Zufällen‹ reagieren. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche Rolle der ›Zufall‹ in der Evolutionstheorie spielt« (Luhmann 1997: 434). Diese Empfehlung erscheint unmittelbar plausibel. Wenn alles im stetigen Fluss ist, wenn alles einer je eigenen Entwicklung folgt, was bedeuten kann, dass Veränderungen hier für neue Voraussetzungen dort sorgen können, ohne dass ein solcher Wandel überhaupt zu antizipieren war, dann sorgt diese Dynamik dafür, so Luhmann, dass Beobachtenden nichts Anderes übrigbleibt, als Zufall zu diagnostizieren.1 Luhmanns Augenmerk dürfte der »Unmöglichkeit einer Koordination« gelten; es gibt keine Orchestrierung der Gesellschaft. Unterscheidet man aber 1 Die unveränderte Gültigkeit dieser Figur für die gegenwärtige Systemtheorie dokumentiert Stichweh (2017: 116): »What none of these individual and collective actors can anticipate are the many other control projects which are instituted concurrently. And this is the point where sociocultural evolution takes over once more and is selective and determinative in shaping the conditions of success for these competing projects in a way that no one can anticipate. Therefore, in the end, sociocultural evolution is the force which brings about results which nobody anticipates or predicts and which can only be understood when they are realised and cognitive expectations are restructured.«
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zwischen Koordination und Anregung, so bieten sich Beobachtenden weit mehr Möglichkeiten, als nur mit der Beobachtung von Zufällen reagieren zu können. Wenn Anregungen so gestaltet werden können, dass man sich mit ihnen beschäftigt, nicht aber dahingehend, wie, und schon gar nicht, was exakt aus ihnen im fremden Kontext folgt, dann erscheint Zufall kaum als akkurate Beschreibung. Doch weite Teile der Differenzierungstheorie beschränken sich auf die Beobachtung von Zufällen. Präziser gefasst: Sie verbleiben auf der Makro-Ebene (der Funktionssysteme), beobachten dort durchaus Wandel, der sich als Korrektur der Gesellschaft paraphrasieren lässt, kommen dabei aber ohne Relationen zu Anregungen aus. Und das nicht nur, weil Kausalität aus Komplexitätsgründen nicht nachzuweisen sei, sondern weil hier ein ganz anderes Verständnis von Anregung in Anschlag gebracht wird: Zur Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung regt die Evolution der funktional differenzierten Gesellschaft selbst an. Einmal mehr in Form zweier Thesen wird zum Abschluss dieses Kapitels zu zeigen sein, dass (1) die Beobachtung von Wandel auf der Makro-Ebene allein nicht hinreicht, um der Korrektur der Gesellschaft auf die Spur zu kommen sowie (2) dass Anregungsfragen nicht nur mit evolutionstheoretischen Annahmen verträglich sind, sondern Beobachtenden die Möglichkeit bieten, mit mehr als der Beobachtung von Zufall arbeiten zu können.
IV.1 Protest Korrekturanfragen, die auf die Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung zielen, werden übersetzt. Das schließt einerseits eine punktgenaue Übertragung aus, daraus folgt aber andererseits gerade nicht zwingend, Übersetzung mit Scheitern gleichzusetzen. Wie aber kommen Korrekturanfragen auf den Schirm autonom operierender Verstehenskontexte? Bei Luhmann (1991b: 153f.) fungiert ebendies als die Leistung »protestierender Reflexion«: Themen aufzugreifen, die Funktionssysteme sonst nicht als eigene erkennen würden. Damit kompensiere sie deutliche Reflexionsdefizite der modernen Gesellschaft. »Wie Wachhunde haben sie das starke Bedürfnis, Ordnung wiederherzustellen oder zumindest eine Verschlimmerung zu verhindern. Und wie Wachhunde haben sie nur die Möglichkeit, zu bellen und zu beißen« (ebd.: 154). An dieser Formulierung fällt nicht unmittelbar auf, dass sich die Funktion von Protest nicht im Alarmieren erschöpft – das Bellen –, sondern dass auch gebissen wird. Proteste definiert Luhmann (ebd.: 135) als »Kommunikationen, die an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen. Sie kritisieren Praktiken oder Zustände, machen sich aber nicht selber anheischig, an die Stelle dessen zu treten, der für Ordnung sorgen sollte.« Damit relativiert sich auch das Beißen, denn es
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ist gerade nicht gemeint, dass sich das Kritisierte verändern lässt. Ebendies muss Protest anderen überlassen. Protestkommunikation kann folglich Themen lancieren, die Initiative aber müssen andere ergreifen; weder kann noch will, Luhmann zufolge, Protest auch dies noch leisten. Zur Beantwortung der bereits aufgeworfenen Frage nach dem Auftauchweg von Korrekturanfragen scheint einerseits kein Weg an Protest vorbeizuführen, andererseits wird Protestkommunikation gerade diesbezüglich als wenig systematisch charakterisiert. Besonders klar kommt dies in der Wendung zum Ausdruck, »Protestbewegungen und Presseaktivitäten« verarbeiteten Themen »auf eine schon halb geordnete Weise« weiter (ders. 1996b: 168). Dies täten sie in einer »Semantik des ›Anprangerns‹ von Mißständen« und generalisierter Besorgnisse, um hierüber die öffentliche Meinung zu beeinflussen (ebd.: 169f.). Luhmann (ebd.) konstatiert durchaus, dass die »großen Funktionssysteme […] diese Anstöße in ihren ›structural drift‹ auf[nehmen] und sich entsprechend [verändern].« Für die Wirtschaft etwa seien ökologische Probleme nicht nur Kostengesichtspunkte, vielmehr habe sie hierin inzwischen einen neuen Markt entdeckt, auch Massenmedien und »die Organisationsformen der Bürokratie« (ebd.: 171) ließen sich so beeinflussen. Hierin kommt bereits die Doppelrolle des Medialen zum Vorschein, einerseits als Verbreitungsmedium ansonsten lokal begrenzter Protestkommunikation, andererseits als selbst tätiger Anreger von Protest durch die Aufdeckung von Unzumutbarkeiten. Oliver Bidlo et al. (2012) sehen hierin gar einen Rollenwechsel der Medien: Aus Vermittlern würden Akteure. Luhmann stellt Presseaktivitäten neben Protest und zeigt am vielleicht berühmtesten Fall des (westlichen) Investigativ-Journalismusʼ – Watergate –, worin er die entscheidende Gemeinsamkeit erkennt: Sowohl Presse als auch Protest seien praktisch ratlos, wenn es um die Korrektur des von ihnen Angeprangerten geht: »Aus der Entrüstung, die leicht zu erregen ist, folgt noch nicht, was praktisch wirksam zu tun ist. […] Helfen kann nur das Recht, das Verstöße mit gravierenden Folgen sanktioniert (wenn es korruptionsfrei gehandhabt werden kann)« (Luhmann 1997: 405). Für praktische Wirksamkeit, für strukturelle Korrekturen, muss das Recht einbzw. anspringen. Zwischen der Bekanntmachung eines zu korrigierenden Problems und dessen Bearbeitung wird keine praktische Verbindung gesehen. Dass es einen Zusammenhang gibt, wird nicht bestritten, die Kluft zwischen Bekanntmachung und Strukturänderung ist die Position, auf der das evolutionstheoretische Theorem eines »structural drift« platziert wird. Ähnliches hatte auch die auf Institutionalismus setzende Arbeitsgruppe »Wissenschaft zwischen Autonomie und Steuerung« schon diagnostiziert:
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»Dafür, daß soziale Probleme zu politischen Programmpunkten werden, kann es viele Faktoren geben: die Mobilisierung der Bevölkerung in Bürgerinitiativen, Lobbying von Interessengruppen, Diskussion in Massenmedien etc., ohne daß in der Regel deren Kausalität klar zu bestimmen wäre. Auch der Aktivismus von Wissenschaftlern ist dabei ein Faktor« (van den Daele et al. 1979: 24). Die institutionalistische, kommunikationstheoretische und pragmatistische Differenzierungstheorie weisen hier eine erstaunliche Konvergenz auf. Alle betonen die Bedeutung bzw. die Leistung von Protest, sie alle weisen aber im gleichen Atemzug auf die Unklarheit eines Zusammenhangs zwischen Thematisierung und Bearbeitung hin, verlagern Analysen größtenteils in die ihn dankbar aufnehmende Evolutionstheorie. Umweltbewussten Gruppierungen rechnet Luhmann (1996b: 170) durchaus zu, »ein feines Gespür für Rechtsbrüche« aufzuweisen und auf deren Sanktionierung zu bestehen. Obwohl also offenkundig mit Rechtsexpertise und Standhaftigkeit ausgestattet, interessiert sich Luhmann nicht dafür, wie sachliche Kenntnis und zeitliche Ausdauer ausgespielt werden, stattdessen verweist er darauf, dass solche Initiativen keine eigenen subjektiven Rechte, also auch kein Klagerecht einbringen können. Vom heute vielfach in Anschlag gebrachten Verbandsklagerecht konnte Luhmann seinerzeit nicht ausgehen. Gleichwohl steht zu vermuten, dass es für ihn ohnehin dabei geblieben wäre, in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung über die Massenmedien den eigentlichen Wirkgang von Protestkommunikation zu sehen. Medien nämlich, nun wieder als Verbreitungsmedien angesprochen, erkennen in Protestaktionen und -kommunikationen eigene Weiterverarbeitungsoptionen. Protest weist wesentliche massenmediale Selektionskriterien auf, die Nachrichtenwerte Neuheit, Konflikt, lokale Bezüge, Gewalt und Skandalnähe u.a. (Galtung & Ruge 1965). Diese Affinität aber habe beachtliche Kehrseiten. Massenmedien sorgten eher für schnelle Resonanz, was mit einem hohen Themenverschleiß bezahlt würde. Dahinter liegt die kaum kontrollierbare Synchronisation der Protestbewegungen und der Massenmedien (Luhmann 1991b: 152). Medien verbreiten also Protestthemen, die dann aber eine Metamorphose durchlaufen. Medien wiesen die Tendenz auf, Themen zu enteignen. Ebendiesen Aspekt greift Kai-Uwe Hellmann (1996) in seiner Weiterführung systemtheoretischer Bewegungsforschung auf. Bewegungen bemerkten, dass sie in ihrer Umwelt Resonanz auslösten; hierauf könnten sie sich einstellen. Hellmann (ebd.: 250) untersucht dieses Einstellen in Bezug auf Öffentlichkeit (»in Form von Massenmedien«), Politik und Gesellschaft. Doch diese Analyse fördert wenig planvolles Einstellen zutage. Massenmedien interessierten sich aus bereits benannten Gründen für Protestkommunikation, allerdings um den Preis einer »Enteignung der Informationsurheberschaft« (ebd.: 251f.). Wohl aber schließt sich Hellmann
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(ebd.) Rüdiger Schmitt-Beck (1992) darin an, dass die Anpassung an mediale Gesetzmäßigkeiten zu einer Professionalisierung bzw. rollenförmigen Ausdifferenzierung beigetragen habe: dem Bewegungsunternehmer. Schon die Nennung dieser Figur zeigt an, dass das Ausgeliefertsein zumindest organisatorisch bearbeitet wird, dennoch wiegt für Hellmann offenbar die Enteignungsthese schwerer. Auch in Richtung Politik nimmt sich das benannte Einstellen wenig gestalterisch aus. Das politische System komme nicht umhin, sich zu Protestkommunikation zu verhalten, sei ihr gegenüber (ab einer gewissen Größenordnung bzw. unterstellbarer Popularität) gar ohnmächtig, weil Bewegungen Macht ausübten, also sich im selben Medium wie die Politik bemerkbar machen könnten (Hellmann 1996: 257f.). Es sei allerdings zweifelhaft, ob sie auf Politik strategisch Einfluss zu nehmen vermögen (ebd.: 258). Was die Resonanzerzeugungsfähigkeit von Protest anbetrifft, ist bis hierhin Automatismus oder Dilettantismus zu diagnostizieren: Entweder die Systeme in ihrer Umwelt können gar nicht anders als Themen (dann aber: eigensinnig und tendenziell enteignend) aufzunehmen, oder aber Protestkommunikation ist praktisch ratlos. Wie kommen Themen, mit denen sie sich ansonsten nicht beschäftigt hätten, auf den Schirm autonomer Verstehenskontexte? Mit dieser Frage hatte der vorliegende Abschnitt begonnen. Bevor gründlich auf diese Frage eingegangen werden kann, bleibt zunächst zu fragen: Auf wessen Schirme? Hellmann hatte besonderes Augenmerk auf Politik und Massenmedien gelegt, Luhmann auf die öffentliche Meinung. Auch für Stefan Kühl (2015) bietet sich die Politik als Adressatin von Protest in besonderer Weise an. Allerdings kann es sich bei den formulierten Anliegen ebenfalls um Fehlentwicklungen sämtlicher anderer Funktionssysteme handeln; Kühl (ebd.: 70) nennt Wissenschaft, Wirtschaft oder Religion. Doch das Finden »operationalisierbarer Zwecksetzungen« oder »handlungsstrukturierender Programmatiken« sei, Überlegungen Friedhelm Neidhardts (1985) aufnehmend, nicht die Stärke von Bewegungen. Es bleibt folglich auch hier bei der Diagnose praktischer Ratlosigkeit. Dagegen spricht sich auch Kieserling (2003) nicht aus. Er sieht zwei Arten von Adressen für Protestbewegungen. Der naheliegende Kandidat ist der Staat im Zentrum des politischen Systems, darüber hinaus aber könnte Protest »auch in irgendwelchen anderen Funktionsbereichen der modernen Gesellschaft operieren« und dies direkt, also ohne Umweg über den politischen Gesetzgeber (ebd.: 436). Wo Kühl also Themen aus sämtlichen Gesellschaftsbereichen sieht, erkennt Kieserling die prinzipielle Alladressierbarkeit ebendieser Themen. Bewegungen aber kennzeichne zudem, dass mikropolitisches Engagement in Rollen in anderen Systemen – bis zum Familienleben – ausgespielt werde. Man kann hierin immerhin eine Anspielung auf die das letzte Kapitel beschließenden »kleinen Korrekturen« erkennen. Die hohe Identifikation der Bewegungsteilnehmer_innen sorgt dafür,
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dass zahllose Interaktionssysteme mit bewegungsrelevanten Themen angereichert werden. Einmal mehr: Dies kann sich aufschaukeln, bis ein Funktionssystem ein solches Thema als eigenes erkennt, nur geht dies über ein Im-Prinzip-Argument nicht hinaus. Vielleicht lässt die an diesen Textteil gestellte Frage danach, wie ansonsten unberücksichtigte Themen zu solchen von Funktionssystemen werden, übersehen, dass Protest gar nicht auf diese Ebene hinaus will, sondern sehr viel gezielter adressiert. Für das politische System hatte Klaus Peter Japp (2001) am Beispiel des Giftmüllskandals von Love Canal 1978 gezeigt, wie dieses System mit abstrakten Wertansprüchen (»mehr Gesundheitsschutz«) umgeht. Zunächst, so Japp, können maximalistische Ansprüche nur an Personen gerichtet werden, im betreffenden Falle solche der regionalen Politik und/oder der Medien. Ebendiese fungierten dann als Alibi-Adresse für »die Politik«, die eben keine sozial anschlussfähige Adresse ist. Diese Konstruktion trägt dann so lange, bis das Problem eine Organisation gefunden hat, die es kleinarbeiten kann; im Fall von Love Canal endete dies mit einer Umdefinition des Problems in eines der Anspruchsbefriedigung auf Evakuierung und monetäre Unterstützung. Hierfür gab es dann organisierte Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten (ebd.: 193f.). Hier aber findet das Problem die Organisation, die es bearbeiten wird. Damit findet sich diese Argumentation bereits in der noch genauer zu thematisierenden Theorietradition der Auto-Korrektur. Gezielteres Adressieren heißt im Kontext der Systemtheorie stets, Kommunikationen an Organisationssysteme zu richten. Ihre Intuition, sofern sie sich mit Protest und -bewegungen befasst, lautet, dass solche Kollektive dazu neigten, »die Gesellschaft« oder »die Politik« anzusprechen. Da es sich dabei, der Theorie zufolge, aber nicht um adressable Systeme handelt, verpufft entweder ihre Kritik, oder das Problem findet zu gegebener Zeit eine Organisation, die es dann ihren Schemata gemäß übersetzt. Dies ist auch die Ausgangsintuition in Fuchsʼ (2013) »Gesellschaftskritik als Organisationskritik«. Wenn Gesellschaft nicht adressabel ist, weil man es mit synchron koexistierenden Verstehenskontexten zu tun hat, lässt sich immer noch die Frage stellen, ob diese Verstehenskontexte irritabel sind: »Kann man Anlässe lancieren für strukturell weitreichende Selbständerungen? Wenn Durchgriffskausalität nicht funktioniert bei derart geschlossenen Systemen, lässt sich dann über das Mittel der Auslösekausalität nachdenken?« (ebd.: 107) Für Fuchs folgt hieraus, dass Gesellschaftskritik in dieser Konstellation nur als Organisationskritik möglich sei, eben weil nur Organisationen adressabel und damit auch irritabel seien. Kritische Kommunikationen müssten so gestaltet sein, dass
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sie für Organisationen als Irritation lesbar werden; das meint der Begriff der Auslösekausalität.2 Im weiteren Verlauf wird geprüft, ob es sich bei Fuchsʼ Empfehlung auch um ein empirisch beobachtbares Phänomen handelt. Explizit auf Fuchs aufbauend beschäftigen sich Sven Kette & Veronika Tacke (2015) mit Organisationen als Autorinnen wie als Adressatinnen kritischer Kommunikation. Die hierin für eine Soziologie der Organisationskritik formulierten Forschungsfragen lesen sich wie Arbeitsaufträge für die weiteren Kapitel der vorliegenden Arbeit. Grundlegend sei etwa die Frage »nach den strukturellen Bedingungen der Erreichbarkeit von Organisationen für Kritik, sei es dann gesellschafts- oder organisationskritische Kommunikation. Eine Soziologie der Kritik hätte komplementär aufzuklären, von wem, wie und mit welchem Erfolg Organisationen kritisiert werden. In welchen Medien geschieht dies – und mit welchem Effekt und Erfolg? Welche Rolle spielen soziale Bewegungen einerseits und Massenmedien andererseits, etwa auch im Vergleich zu direkt an einzelne Organisationen adressierter Kritik? In welchen Formen erreicht kritische Kommunikation Organisationen nicht? […] nicht zuletzt: Wie weit reicht die organisatorische Immunität gegen Kritik?« (ebd.: 251) Auf zahlreiche dieser Fragen wird zurückzukommen sein (Kap. VII.) Auffallend ist zunächst, dass diese Passage auf ein Desiderat verweist. An wen sich kritische Kommunikation – in den Termini dieser Arbeit: Korrekturkommunikation – wie richtet, muss dann weder in theoretischer noch in empirischer Hinsicht hinreichend bearbeitet worden sein. Eine diesbezüglich sichtbare Weiterarbeit stellt Luca Tratschins (2016) Studie dar. Gerade nicht darauf verweisend, dass sich Probleme ihre Organisationen suchen, hält er fest, dass konkrete Organisationen, er bezieht sich auf die katholische Kirche und Unternehmen, durchaus attraktive Adressen für Protest abgeben (ebd.: 222). Dass Bewegungen Verantwortung anmahnen, sich »jedoch nicht zuständig für die Korrektur der Dysfunktionen« [i.e. Folgeprobleme funktionaler Differenzierung; M.M.] sehen, teilt Tratschin (ebd.: 247) noch mit Luhmann. Er geht aber über dessen Vorlage hinaus, wenn er den kreativen Beitrag sozialer Bewegungen darin bestimmt, die von ihnen beobachteten Folgeprobleme funktionaler Differenzierung »in eine Form zu bringen, die Resonanz in den Sensibilitäten ausgewählter Funktionsbereiche finden« (ebd.). Solche Sensibilitäten können aber nicht nur durch direktes Adressieren zu erreichen versucht werden, sondern auch und gerade über relevante Publika: potentielle Wähler_innen im politischen, Konsument_innen im Wirtschaftssystem (vgl. Holzer 2010). 2 Aus systemtheoretischer Perspektive, so Fuchs, empfiehlt sich hierzu die Methode des Äquivalenzfunktionalismus (vgl. Luhmann 1970, 2000b: 401).
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Zur Frage, an wen sich kritische Kommunikation wenden kann, ist eine stattliche Liste entstanden: Organisationen (im Allgemeinen wie Besonderen), Massenmedien, relevante Publika und mikropolitisch betrachtet sogar jede_n »greifbar« Anwesende_n als Multiplikator_in. Wie sich Korrektive (vgl. Kap. VII.1) an solche Adressen richten – und was daraus folgt – nimmt durchgängig die Form eines Desiderats an. Dabei bildet die systemtheoretische Protestforschung keine Ausnahme. Üblicherweise ist die Bewegungsforschung nicht gut auf die systemtheoretischen Beiträge zu ihrem Thema zu sprechen (für viele: Rucht & Roth 1992). Wie der vorliegende Abschnitt gezeigt hat, ist einerseits tatsächlich oftmals wenig Tiefenschärfe kennzeichnend für die entsprechende differenzierungstheoretische Literatur. Andererseits wird bei der Kritik an ihr oftmals übersehen, als wie bedeutsam die Protest und -bewegungen zugeschriebene Leistung deklariert wird. Nur eben: Wie diese Leistung erbracht wird, bleibt außen vor. Es bleibt bemerkenswert, dass die soeben skizzierten differenzierungstheoretischen Desiderate sich ebenfalls in der Bewegungsforschung finden lassen. Auch Dieter Rucht (2016: 479) sieht nur wenige Studien (z.B. Giugni 1998; Kolb 2007), die sich der Frage widmen, wie soziale Bewegungen zu welchen »outcomes« beitragen, »after all the raison d’être of almost all social movement activity« (ebd.). Zwar würde die Vielzahl von Kausalfaktoren Messbarkeit erheblich erschweren, dennoch sollte die Frage gestellt werden können. Für die deutschsprachige Protest- und Bewegungsforschung fragen Sebastian Haunss & Peter Ullrich (2013: 295) ähnlich nach politischen Gelegenheitsstrukturen, die es sozialen Bewegungen erleichtern, für ihre Forderungen Unterstützung zu finden und diese auch durchzusetzen (Kitschelt 1986; Kriesi 1995; Tarrow 1994). Spezifischer: »Welche diskursiven und performativen Strategien erlauben es Bewegungen, die in der Regel weder über große finanzielle noch über Machtressourcen verfügen, dennoch gegenüber finanzstarken, institutionalisierten und machtvollen GegnerInnen3 zu bestehen? Welche ihrer Problemdeutungen erzielen gesellschaftliche Resonanz und entsprechende Mobilisierungserfolge4 ?« (ebd.) Hier wird folglich gefragt nach expliziten (diskursiven) wie impliziten (performativen) Strategien im Suchen und Finden von Resonanz. Dies wiederum findet sich in der seitens Tratschin (2016: 247) Bewegungen zugetrauten Fähigkeit, Dysfunktionen in resonanzfähige Form zu bringen – entgegen der differenzierungstheoretischen Tradition – nun auch in systemtheoretischem Vokabular. Adressierungsund Gestaltungsfragen beschäftigen also Systemtheorie und Bewegungsforschung gleichermaßen. 3 An dieser Stelle i.O. zitiert: Benford & Snow (2000); Gamson (1992). 4 An dieser Stelle i.O. zitiert: Snow et al. (1986); Gerhard & Rucht (1992); Ferree et al. (2002).
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Auch für die internationalen Movement Studies konstatieren Cristina Flesher Fominaya & Kevin Gillan (2017: 18), dass hierin oftmals übersehen würde, »how often social movement media campaigns fail to create resonance and impact in a media environment full of competing demands for attention and the continuing presence of other powerful voices with greater access to the public.« Weil so viele Ansprüche in das Öffentliche drängen, wird Resonanzfindung zu einer praktischen Gestaltungsaufgabe, über deren konkrete Formen sich empirisch offenbar wenig sagen lässt. Dass sich ebendies im sogenannten digitalen Zeitalter eher verschärft hat, wird in Kap. VII.1 wieder aufgenommen. Bevor das Verhältnis zwischen Bewegungsforschung und Systemtheorie in zu harmonischer Eintracht erscheinen kann, ist gleich wieder eine Einschränkung vorzunehmen. Denn es fällt der Differenzierungstheorie nicht schwer, Adressierungs- und Gestaltungsfragen für obsolet erklären zu können. Zum Ausdruck kommt diese Position etwa in Thorsten Bonackers (2003) Vorschlag, Protest als sekundäres Funktionssystem aufzufassen, also als Systembildung, die auf »gesellschaftlich selbstproduzierte Probleme funktionaler Differenzierung reagiert« (Bonacker 2003: 209). Bonackers Modell fußt auf der Annahme, dass sich Funktionssysteme – primäre wie sekundäre – dadurch auszeichneten, die Umwelt nach Interessantem abzusuchen. Möglicherweise sollen hiermit funktionssystemische Expansionstendenzen (Hypostasierung) paraphrasiert werden. Die empirische Untersuchung (Kap. XIII, IX) wird auf gesellschaftliche Instanzen zurückkommen, die ihre Umwelt genau nach dem absuchen, was Bonacker hier als charakteristisch für Protest proklamiert: Ereignisse als Entscheidungen zu beobachten, die dann als umzumutbar zurückgewiesen werden können (ebd.: 201). Solche Unzumutbarkeiten müssen mitgeteilt werden. Genau diese Maxime bildet das Leitmotiv für den folgenden Abschnitt: Nicht nur die Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung erscheint hierin als Produkt des Differenzierungstyps, sondern bereits das Hinweisen auf diese Probleme.
IV.2 Folgenkorrektur als Folge funktionaler Differenzierung Die funktional differenzierte Gesellschaft reagiert auf die Folgeprobleme ihrer Differenzierungsform mit weiterer Systembildung, insbesondere mit dem sekundären Funktionssystem Protest. Damit ist Bonackers Position nicht als eine isolierte oder gar exotische zusammengefasst. Wie der folgende Abschnitt zeigen wird, lässt sich problemlos von einer Traditionslinie sprechen. Den Beginn dieser Tendenz kann man in Dirk Baeckers (1994) Überlegungen zu »Sozialer Hilfe als Funktionssystem« sehen. Hierin unterscheidet Baecker zwischen einer Primär- und einer Sekundärgesellschaft. Erstere meint funktionale
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Differenzierung. Eine Sekundärgesellschaft ergibt sich als Folge funktionaler Differenzierung und bezeichnet den Umstand, dass es weiten Teilen einer Bevölkerung nur noch ums Überleben ginge, eine Teilnahme an Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion, Kunst oder Wissenschaft jedenfalls blockiert sei (Baecker 1994: 95). Offensichtlich bezieht sich diese Diagnose vor allem auf die Inklusionsprobleme der modernen Gesellschaft. Dieselbe Gesellschaft antwortet auf diese Problematik nun mit der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Sozialhilfe. Ohne die Folgen funktionaler Differenzierung gäbe es diese Systembildung nicht. Ganz ähnlich gebaut ist ein Aufsatz von Peter Fuchs und Dietrich Schneider (1995). Klarer noch als Baecker formulieren die Autoren eine Systembildung aus »zweiter Hand«, die sich als Reaktion auf die vom Differenzierungstyp funktionaler Differenzierung selbstgeschaffenen, selbstinduzierten Probleme versteht. Funktionale Differenzierung erzeugt Probleme und hierauf bezogene Lösungen in derselben Form: Systembildung. Lösungssysteme, dieser Terminologie folgend, firmieren dann als »sekundäre Primärsysteme«, nämlich als Lösung von Problemen, die durch die Differenzierungstypik selbst überhaupt erst auftreten (Fuchs & Schneider 1995: 204). Wieder am »Superproblem Inklusion« illustriert, kommen die Autoren zu der These, dass sekundäre Systembildung einsetzt, um Exklusionsverkettung einzudämmen: »Begrenzung, Korrektur, Kompensation des spill‐over-Effektes« (ebd.: 210). Hiermit ist das Unmögliche einer Teilnahme an Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion, Kunst oder Wissenschaft gemeint. Ebenfalls in diese Linie aufzunehmen ist Michael Bommesʼ (1999) Vorschlag, nationale Wohlfahrtsstaaten als sekundäre Ordnungsbildungen zu verstehen. Das Problem der (gerechten) Verteilung, ein von Luhmann selbst so benanntes Folgeproblem funktionaler Differenzierung (Kap. II.1), kommt überhaupt nur durch die politische Semantik der Gleichheit in die Welt (Bommes 1999: 150). Um die hiermit gerufenen Geister wieder einzufangen, bildet sich das Gefüge heraus, das moderne Gesellschaften »Wohlfahrtsstaat« nennen. Exklusion tritt dann als »empirische Folge funktionaler Differenzierung« (ebd.) auf. Mit dem Wohlfahrtsstaat liegt dann eine sekundäre Ordnungsbildung vor, die nicht umhinkommt, sich diesen Folgen anzunehmen. Formen der Ordnungsbildung, so formuliert es Bommes (ebd.: 153), haben funktionale Differenzierung stets begleitet. Als primär gelten die Inklusionsgebote der Funktionssysteme, deren Scheitern muss dann sekundär bearbeitet werden, hierzu treten dann eben die Organisationen des modernen, nationalen Wohlfahrtsstaats am deutlichsten hervor.5 Schimank (2015: 254f.) konzipiert den Wohlfahrtsstaat hingegen sehr viel deutlicher als Folge funktionaler Differenzierung, wenn er fragt, »wie es die kapitalistische Gesellschaft sozusagen mit sich selbst aushält? Die Antwort lautet: als Wohl5 Das Konzept sekundärer Ordnungsbildung wurde durch Christine Weinbach (2010, 2013), etwa an den Hartz IV-Reformen, aktualisiert und europäisiert.
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fahrtsgesellschaft […].« Der Wohlfahrtsstaat erscheint als das Korrektiv (ebd.) zur Bearbeitung gesellschaftlicher Dysfunktionalitäten, die sich aus ihrer Differenzierungsform ergeben. André Reichel (2011) diskutiert Technik als sekundäres Primärsystem im Sinne von Fuchs & Schneider. Schließlich aber optiert er für Technik als System und als emergenten Typus neben sozialen, psychischen Systemen und Organismen (vgl. Luhmann 1984: 16). Damit verbindet er die Annahme, dass auch Technik, etwa durch Ingenieur_innen (»engineers«), bestenfalls irritierbar sei, die Verarbeitung der Irritation dann aber wiederum von der Technik selbst und damit jenseits der Eingriffsmöglichkeiten von Entwickler_innen vollzogen würde. Wohl aber könne man die Möglichkeiten des Irritierens ausschöpfen »by creating a physical shape with causal determinations and/or a design« (Reichel 2011: 113). Zunächst erinnern solche Hinweise stark an Baeckers (2005) Überlegungen zu Design.6 Baecker untersucht darin die Gestaltung von Schnittstellen.7 Design stiftet die Einheit der Differenz von Irritation und Faszination. Minimale Störungen des ansonsten reibungslos Funktionierenden, und das ist der Aspekt der Gestaltung, genügen, »um Irritation und Faszination in unerträglicher Identität zu erleben und entweder das Weite zu suchen oder bewusst und kommunikativ an den Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu landen« (ebd.: 270f.). Das bedeutet, dass es aus Baeckers Sicht eine Frage des Gestaltens sein kann, das Ignorieren einer Irritation zu verunmöglichen. Ist dieses Schnittstellendesign explizit offen für die Gestaltung von »Türklinken, Bedienungsknöpfen elektrischer Geräte, Münzen, Kleidern, Fleischtresen, Hausfassaden, Stadtlandschaften, Flughäfen und Fußballstadien« (ebd.: 270), geht es Reichel (2011: 117) viel eindeutiger um die Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung: »climate change, overconsumption, resource depletion, loss of biodiversity.« Hierzu empfiehlt er aber nun gerade keine Verhaltens- oder Lebensstiländerung, sondern stellt auf technischen Wandel von Lebensstilen und Gesellschaft ab: »Not only is the future of technology solely decided within and through technology, but the future of society is also decided technologically« (ebd.). 6 Für die wiederum Martin Heideggers (2006|1927) »Zeuganalyse« Pate steht, schließlich fällt Technik in diesem Sinne als Zeug erst in einem der drei Modi der Störung auf: Auffälligkeit: es ist defekt; Aufdringlichkeit: es fehlt, die Erfüllung seines Zwecks ist unmöglich und Aufsässigkeit: es steht im Weg und/oder kann nicht bedient werden. Siehe einführend hierzu Dean (2005). 7 Hier geht es ihm um die Schnittstelle von Kommunikation und Bewusstsein: »Eine Teetasse, ein Fernsehgerät, eine Flagge, ein Logo, eine Kneipe, ein Internetportal oder eine Corporate Identity sind in allen jenen Hinsichten ein Design, in denen sie kommunikativ die Wahrnehmungsfähigkeit eines Bewusstseins ansprechen (ebd.: 268). Allerdings seien auch andere Typen von Schnittstellen gestaltbar: »zwischen Mensch und Maschine, Körper und Ding, Organisation und Gesellschaft, Familie und Schule, Politik und Wirtschaft, Religion und Erziehung oder Wahrheit und Wissenschaft« (ebd.: 271).
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Als empirisches Korrelat lässt sich an »climate/geo engineering« denken. Dessen Entwicklung aber müsste ja, würde man Reichel folgen, emergent prozessiert werden, also als technische Entwicklung von und durch Technik. Diese Prognostik geht sehr deutlich und fast buchstäblich in Richtung einer Auto-Korrektur der Gesellschaft. Will man diese unübersehbare Tendenz der Differenzierungstheorie, die hier mit dem Stichwort der Auto-Korrektur versehen wurde, deuten, so fällt auf, dass Fragen des Anregens sozialen Wandels geradezu gemieden werden. Eher erklärt man Korrekturphänomene ihrerseits als Folge funktionaler Differenzierung als sich dafür zu interessieren, wie zur Arbeit an Folgeproblemen angeregt wird. Theoreme wie die des »structural drift« dienen dann buchstäblich als Fluchtpunkte, mit denen Wandel behauptet werden kann, ohne ihn rekonstruieren oder gar als Ergebnis von Gestaltung oder Planung fassen zu müssen. Wie die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung zu eigenen Themen der Funktionssysteme werden, bleibt also weiterhin unklar. Diese Diagnose teilt das Konzept der Responsivität noch. Der damit vorgenommene entscheidende Wandel betrifft die Anerkennung der Themen als eigene. Postuliert wird nämlich, dass die Genese funktionaler Differenzierung an einem Punkt angelangt ist, an dem Funktionssysteme gesamtgesellschaftliche Problemlagen von sich aus reflektieren.
IV.3 Responsivität Die funktional differenzierte Gesellschaft sorgt, dies kann als Zwischenfazit des vorliegenden Kapitels gelten, nicht nur für ihre eigenen Probleme, sie produziert gleichermaßen auf diese Probleme antwortende Korrekturformen. Wenn mit Responsivität, wie im Folgenden genauer erläutert, angesprochen sein soll, dass Funktionssysteme gesamtgesellschaftliche Problemlagen längst reflektieren, kann hierin auf den ersten Blick eine Entlastung gesehen werden. Ohnehin scheint die Frage kaum beantwortbar, wie Übersetzungsprozesse, die die Bearbeitung der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung zum Gegenstand haben, zu rekonstruieren sein sollen. Responsivität hingegen richtet den Blick auf das Systeminnere, weil davon ausgegangen wird, dass jene Probleme sich bereits hinreichend aufgedrängt haben. Genauer gesagt: Funktionale Differenzierung sei in einem Stadium angekommen, in dem soziale Systeme gesamtgesellschaftliche Problemlagen reflektieren und bearbeiten. Vielleicht bleibt Protest das historische Verdienst, Systeme dorthin geführt zu haben, aber der Ausgangspunkt dieses Konzepts lautet: Es wird bereits übersetzt und weiterverarbeitet. Wie dies geschieht, liegt im Fokus des Interesses. Das Konzept der Responsivität als aktuellste Entwicklung soziologischer Differenzierungstheorie zu bezeichnen, kann nicht meinen, dass der Responsivitäts-
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begriff ebenso jung ist. Die philosophische Tradition hat insbesondere Bernhard Waldenfels (1994, 1999) aufgearbeitet und fortgeführt. Es ist aber eine andere Tradition, die einen Anknüpfungspunkt für das hier verfolgte Interesse anbietet. In der Rechtssoziologie kommt die Figur des »responsiven Rechts« Ende der 1970er Jahre auf. Phillippe Nonet & Philip Selznick (1978) weisen schon mit dem Untertitel ihrer Pionierarbeit darauf hin, dass sie eine historisch‐genetische, genauer: eine evolutionäre Perspektive einnehmen: »Law and Society in Transition: Toward Responsive Law.« Hierin klingt die Annahme einer spezifischen Genese des Rechts bereits an. Nonet & Selznick entwickeln ein idealtypisch zu verstehendes Stadienmodell. Im (1) repressiven Recht wird politische Herrschaft bloß legitimiert, die bestehende Ordnung ist zu verteidigen. Es folgt das (2) autonome Recht, das sich zwar immer noch auf politische Herrschaft bezieht, funktional nun aber auf Kontrolle umgestellt ist und diese operativ nach eigenen Orientierungskriterien ausübt. Das (3) responsive Recht schließlich sieht eine lernfähige gesellschaftliche Institution vor, die – und das ist die entscheidende Wende – auf soziale und also externe Bedürfnisse reagiert und das eigene Prozessieren hierauf einstellt. Es geht an dieser Stelle nicht darum, dieses Modell im engeren Sinne zu diskutieren.8 Eher ist hieraus die These abzuleiten, dass zwei Aspekte dieses vergleichsweise frühen sozialwissenschaftlichen Konzepts auch für die aktuellste differenzierungstheoretische Fassung von Responsivität wesentlich sind: (1) Responsivität selbst als Ergebnis einer evolutionären Entwicklung zu bestimmen und (2) damit das Einstellen auf externe gesellschaftliche Erwartungen anzusprechen. Stichweh (2014: 17f.) sieht für den Beginn von Ausdifferenzierungsprozessen Autonomie- und Reinheitssemantiken (»reine« und »fundamentale« Wissenschaft, »l’art pour l’art« etc.) und das Ausbilden eines Kollektivsingulars (die Wissenschaft, die Kunst etc.) als wesentlich an. Selbständigkeits- und Herauslösungsformeln werden gesucht und gefunden, bis es ab Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts zur Selbstverständlichkeit wird, dass etwa Wissenschaft gerade keine Rücksicht auf andere Wertsphären (vor allem: Religion) nehmen muss. Es folgt eine je interne Differenzierung und damit gleichermaßen Stabilisierung der Autonomie – die Ausbildung von Disziplinen im Fall der Wissenschaft (Stichweh 1984). Nach dieser Phase der Innenorientierung aber macht Stichweh (2014: 17f.) einen Richtungs-, gar einen »Trendwechsel« aus: »Funktionssysteme werden responsiv und expansiv. Sie wollen wirksam und wichtig sein und sie wollen auch von außen gestützt werden. Als eine Folge bauen sie eine Vielzahl von Fremdperspektiven in sich ein, deren Multiplizität Garant von Autonomie ist.« 8 Sie hierzu aber: Teubner (1982, 1983).
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Für die Politik hält Stichweh (2016: 11) hierzu exemplarisch fest, dass ein autonomes politisches System die Autonomie anderer Gesellschaftsbereiche beobachte, in diesen Bereichen seine Leistungsverpflichtung gegenüber der Gesellschaft erkenne und sich in diesem Sinne responsiv verhalte. Als Bezugskontexte werden andere Funktionssysteme und die Gesamtheit der Gesellschaft ausgemacht, was als Kern von Responsivität vermutet wird (ebd.). Die Formulierung einer »Gesamtheit der Gesellschaft« wird in einem Forschungsprogramm ausbuchstabiert als gesellschaftliche Großprobleme, sogenannte »Grand Challenges«. Beispiele hierfür liefern Kaldewey et al. (2015) mit Klimawandel, Energiesicherheit, demographischem Wandel und globalen Gesundheitsproblemen. Diese stehen wiederum in einem offensichtlichen Zusammenhang mit den Folgen funktionaler Differenzierung.9 Die Pointe ist hier aber offensichtlich, dass es seinerseits als Folge funktionaler Differenzierung aufgefasst wird, dass seitens der Funktionssysteme gesellschaftlichen Großproblemen Rechnung getragen wird. Funktionale Differenzierung selbst sei in einem Stadium angekommen, in dem Funktionssysteme nicht anders könnten, als sich »Grand Challenges« anzunehmen. Prägnant fasst Kaldewey (2015: 229) zusammen: »Dagegen impliziert der Responsivitätsbegriff einen Beobachter auf der Innenseite, einen Beobachter, der die Strukturen und Mechanismen zu erfassen sucht, über die externe Problemlagen und Ansprüche vermittelt, übersetzt, reflektiert und bearbeitet werden. Ob diese Strukturen und Mechanismen selbst systemintern erzeugt sind (wie es die Systemtheorie durch Begriffe wie ›Resonanz‹ oder ›Irritation‹ nahelegt), der Umwelt zugerechnet werden müssen (wie die Handlungstheorie mit Begriffen wie ›Macht‹ oder ›Einfluss‹ geneigt ist anzunehmen) oder sich eben dieser Innen/Außen-Logik widersetzen, kann hier offenbleiben.« Woher der Anstoß zur Ausbildung responsiver Strukturen und Mechanismen stammt, bleibt unthematisiert. Vielmehr wird aus der Theorietradition selbst hergeleitet, dass wenn Autonomie ohnehin nach sich ziehe, dass jedweder Wandel nur systemintern und auf Grundlagen bereits aufgebauter Strukturen vollzogen werden könne, der beobachtende Blick gleich bei der internen Verarbeitung verbleiben kann. In Bezug auf die Bearbeitung gesellschaftlicher Großprobleme des Funktionssystems Wissenschaft fragen Kaldewey et al. (2015: 16) durchaus nach der 9 Gleiches gilt für diese von Nassehi (2015: 274f.) diagnostizierten Probleme: »Die Frage neuer sozialstaatlicher Arrangements etwa, die Frage des Umgangs mit Arbeitslosigkeit, vor allem aber die Frage nach einer neuen Passung von Familie, Geschlechterrollen, Freizeit, Karrieremustern und produktiver Arbeit.«
IV. Die Auto-Korrektur der Gesellschaft
Aufdringlichkeit der »Grand Challenges«. Unter dem Stichwort des AgendaSettings soll gerade erforscht werden, ob und inwiefern Wissenschaft extern motiviert (oder auch gezwungen) werden muss, um sich dieser Art von Problemen zuzuwenden. Möglich sei andererseits, dass innerwissenschaftliche Dynamiken dies nahegelegt hätten, ferner müsse zudem nach systematischen Zusammenhängen zwischen dem Agenda-Setting in Politik oder Medien und der Problemwahl in der Wissenschaft gefragt werden. Dies erinnert stark an die Zielbestimmung des Investigativ-Journalismus als »media agenda building« (über weitere Medien) und »policy agenda building« (über die Kenntnisnahme eigener Veröffentlichung durch politische Entscheidungsträger_innen). Die primäre Zielsetzung sei aber erst erreicht, »when media disclosures grab policy makersʼ attention and produce reforms« (Protess et al. 1992: 239). Dieses Grundmodell hatte ja schon Luhmanns Diagnose der zentralen Leistung von Protest motiviert, dass selbst in der Wirtschaft Umweltgesichtspunkte nicht länger nur als Kosten eingerechnet, sondern als Marktchance behandelt würden. In der Wirtschaftswissenschaft geht man der Übernahme originär externer Themen etwa in der Theorie der »learning economy« nach. Bengt-Åke Lundvall (1985, 1988) fragt danach, wie es zu einem messbar höheren Grad an reflexiver Aktivität in der Sphäre des Ökonomischen kommen konnte. Als Erklärung für diesen Wandel bietet er die Intensivierung von Nutzer-Produzenten-Relationen an. Weil man sich damit beschäftigen muss, was potentielle Abnehmende umtreibt, stoßen Unternehmen auf ihnen zuvor unbekannte Präferenzen und passen sich diesen an. Björn Johnson (2011) hat diese Erklärung verfeinert und charakterisiert den Antrieb der »learning economy« durch interne Widersprüche und institutionelle Antworten auf diese Widersprüche. Die Ökonomie müsse also nicht von externem Druck zu Veränderungen angeregt werden, sondern sucht intern nach Störungen, die zu fragen Anlass geben, wo die Quelle solcher Widersprüche liegt. Lernen sei, so Johnson (ebd.: 706) verankert in den Institutionen und Strukturen der Gesellschaft. Er gibt ein aufschlussreiches Beispiel mit dem Hinweis, dass die genuin ökonomische Profitmaxime gestört wird durch die Beobachtung, dass die Beschränkung unternehmerischer Gier den Stellenwert eines »basic value in society« (ebd.) aufweise. Diese Beobachtung löse nun ökonomieinterne Suchprozesse aus, die zu verträglicheren Produkten und Dienstleistungen führen können, deren Sichtbarkeit es dann wiederum erschwert, der Ökonomie reine Profitorientierung zu unterstellen.10 Natürlich sei dies ein langer Prozess gewesen, inzwischen aber so verinnerlicht, dass Unternehmen eigene Abteilungen für Beobachtungen dieser Art abstel10 Wie etwa die Luftfahrtindustrie Nachhaltigkeit durch die Produktion von »green aviation technologies« als »change agent« (Voß et al. 2006: 422) der Politik sowie insbesondere Gewerkschaften gegenüber einsetzt, siehe Mölders (2014c).
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len; damit sind nicht in erster Linie Public Relations oder Unternehmenskommunikation angesprochen.11 Eher schon erinnern diese Ausführungen an Luhmanns (1964: 220ff.) »Grenzstellen« oder Baeckers (2011: 100ff.) »Corporate Management«, die sich durch die Beobachtung des Verhältnisses zu (relevanten) Umwelten auszeichnen und erste Übersetzungen solcher Beobachtungen in den und für die jeweiligen Organisationen anfertigen. Funktionale Differenzierung erscheint in den zuvor präsentierten Ansätzen beinahe wie ein unendlicher Kreislauf aus selbstproduzierten Problemen und hierauf bezogenen selbstproduzierten Lösungen; dies motivierte die Umschreibung als Auto-Korrektur der Gesellschaft. Bevor das anschließende Kapitel die Richtung umkehrt, um das Anregen der Korrektur der Gesellschaft in den Blick zu nehmen, ist so etwas wie ein dritter Weg zu beschreiben. Man kann, wie das zurückliegende Kapitel gezeigt hat, annehmen, funktionale Differenzierung habe sich in einer Weise entwickelt, dass Systeme responsive Strukturen ausgebildet haben. Man kann, wie im kommenden Kapitel zu dokumentieren sein wird, ebenso behaupten, Systeme müssten vergleichsweise aufwendig dazu gebracht werden, sich mit Folgeproblemen zu beschäftigen. Ein dritter Weg schließlich könnte einen anderen Ausgangspunkt wählen: Die Probleme drängen sich geradezu physisch auf. Ebendiese Linie verfolgen Joren Jacobs und Kristof Van Assche (2014) mit dem Konzept der »empirical boundaries«. Diese werden definiert als »boundaries that function as boundaries but do not originate in the internal semantics of the observing system« (ebd.: 194). Funktionssysteme könnten, dies ist die Folgerung, durch räumliche Differenzen (»spatial differences«) irritiert werden. »Hit the wall« bezeichnet dann den Moment einer Irritation durch das Stoßen an »hard boundaries«. Die von Luhmann am gründlichsten diskutierten Folgeprobleme, nämlich ökologische Gefährdungen, sind hier beispielgebend. Empirical boundaries aber bezeichnen für Jacobs & Van Assche alle Hindernisse »that may be produced by the physical context without communication making any explicit reference to this matter of fact by means of boundary concepts. The empirical boundary […] is a pre‐social (or post‐social) boundary, existing in the environment of society« (ebd.: 199). Das Stoßen an harte Grenzen kann aber auch anderweitig evolutionäre Entwicklungen beeinträchtigen. Hierzu geben die Autoren ein illustratives Beispiel. Das Stoßen auf Schiefergas mag zu ökonomischer Prosperität führen. Die hierdurch ausgelöste wissenschaftliche Forschung kann dann aber zu dem Ergebnis kommen, dass zugehörige Bohrungen zu Gesundheits- und Umweltproblemen führen, was dann politische und rechtliche Anschlusskommunikation motivieren mag. In jedem Fall muss hierzu eine widerständige Umwelt angenommen werden, die »pre‐social« sein mag, denn etwa Schiefergasvorkommen sind mutmaßlich 11 Für PR-Stellen als Reflexionszentren multireferentieller Organisationen siehe Kussin (2009).
IV. Die Auto-Korrektur der Gesellschaft
älter als die Menschheit; sie mag »post‐social« sein, was auf alle Umweltphänomene zutrifft, die erst durch Sozialität buchstäblich in die Welt gekommen sind. Luhmanns (1986: 63) bekanntes Diktum erscheint somit als halbe Wahrheit: »Es mögen Fische sterben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krankheiten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen: solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine gesellschaftlichen Auswirkungen.« Wo sich Umwelt nicht selbst aufdrängt (ob letztlich als Ergebnis sozialer oder natürlicher Evolution, sei dahingestellt), wird sie erst dann zu einem sozialen Phänomen, wenn über sie kommuniziert wird. Aber die andere Hälfte würde dann die Annahme beinhalten, dass Physisch-Räumliches sich einer Thematisierung aufzudrängen vermag.12 Auch wenn dieser Ansatz sich in der eben beschriebenen Dimension vergleichsweise deutlich von anderen hier zuletzt diskutierten Konzepten unterscheidet, eine Gemeinsamkeit bleibt: Wieder geht es gerade nicht um ein soziales Aufdrängen zur Korrektur der Gesellschaft. Dass es genau dieser Art der Anregung bedarf, man sich gerade nicht auf gesteigerte Reflexionskapazitäten autonomer Systeme verlassen kann, kennzeichnet die im Folgenden thematisierte Traditionslinie differenzierungstheoretischer Korrekturkonzepte. Auch diese wird bei Korrektiven jenseits des Staates landen. Wie sich Korrektive an wen richten ist ein der Differenzierungstheorie und der (internationalen) Bewegungsforschung gemeinsames Desiderat. Die Unwahrscheinlichkeit dieser Liaison allein rechtfertigt diese Erinnerung.
12 Rückhalt für diese These liefert Nassehi (2002). Marcelo Neves (2017) beschreibt drastisch, dass soziale Systeme die Tendenz aufwiesen, ihre Umwelt mit Müll (»garbage«) zu überlasten, was hierzu führe: »Not only in the form of the wave of terrorism and global criminality does the garbage come back, but also, and above all else, through the uncontrollable refugee flows caused by war, hunger and oppression« (Neves 2017: 393).
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V. 1984 und die Folgen: Die Korrektur der Steuerungstheorie
Von synchron koexistierenden Verstehenskontexten auszugehen, hat u.a. zur Folge, dass Korrekturanregungen stetig und über zahlreiche Zwischenstationen übersetzt werden. Angestoßen werden Revisionen über Reflexion überhaupt nur im Kleinen, in lokalen Kontexten bzw. in Interaktionen, so zumindest schloss Kapitel III.7. Wenn man sich also für die Korrektur der Gesellschaft interessiert, so der Tenor des vorangegangenen Kapitels, schaut man besser darauf, welche internen Strukturen und Mechanismen Systeme ausbilden, um originär externe (Groß-)Probleme zu bearbeiten. Gleichwohl gibt es eine über dreißig Jahre währende Traditionslinie, die sich auf Anregungen zur Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung spezialisiert hat. Sie beginnt als (reflexive) Steuerungstheorie, führt über Supervision des Staates bis zur Verfassungssoziologie. Welche Bezeichnung auch immer im Laufe dieser drei Jahrzehnte gewählt wurde, immer ist der Ausgangspunkt derselbe: Auf der Grundlage der Annahme funktionaler Differenzierung und autonomer Sozialsysteme nach verbleibenden Irritationspotentialen zur Folgenkorrektur zu fragen. Doch nicht nur die Bezeichnungen der Ansätze haben sich seit den ersten Überlegungen hierzu gewandelt. Auf zwei Entwicklungen wird das folgende Kapitel im Besonderen eingehen: (1) Den Wandel der wesentlich für Reflexionsanregung zuständigen Instanz: von Recht zu zivilgesellschaftlichen Gegenmächten sowie (2) die veränderte Einschätzung in der Empfehlung des korrekturbegünstigenden Mediums: von Interaktion zu Publizität. Insbesondere der zweite Aspekt wird nicht nur die weitere Arbeit strukturieren, sondern auch einen Bezug zu den in Kapitel III von Teilen der Differenzierungstheorie favorisierten »Korrekturen im Kleinen« herstellen, die auf Unmittelbarkeit und gerade nicht auf Publizität setzten.
V.1 Grenzen der Steuerung Bei Stichweh (2014: 17f.) gehören Expansion und Responsivität zusammen, für die gesamte im Folgenden skizzierte Genese differenzierungstheoretischer Korrektur-
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Die Korrektur der Gesellschaft
konzepte hingegen ist Expansion ein wesentlicher Teil des Problems und Responsivität gerade nicht Diagnose, sondern Desiderat.1 Schematisch gesprochen können aus den Bedingungen funktionaler Differenzierung in steuerungstheoretischer Absicht zwei Konsequenzen gezogen werden: Eine restriktive Schlussfolgerung wäre, dass ebendiese Bedingungen planvolle Steuerung ausschließen, sich gesellschaftliche Teilbereiche selbst steuern und es für Kollisionen zwischen diesen Selbststeuerungen keine koordinierenden Instanzen gibt – es wäre dann nichts weniger als das logische Schicksal einer Gesellschaft »ohne Spitze und ohne Zentrum« (Luhmann 1981: 22). In konstruktiver Absicht eröffnet sich dagegen hieraus erst die Frage, welche Form Steuerung unter diesen Bedingungen noch annehmen kann bzw. sollte. Beide Lesarten finden sich bei Luhmann, auch wenn man die konstruktive Variante zugegebenermaßen gründlicher suchen muss. Das letzte Kapitel der »Wirtschaft der Gesellschaft« etwa ist vielsagend mit »Grenzen der Steuerung« überschrieben. Dass Steuerung an Grenzen stoßen kann, muss gleichermaßen bedeuten, dass sie möglich ist. Ausgangspunkt der dort angestellten Überlegungen ist die Möglichkeit politischer Steuerung der Wirtschaft. Argumentatives Ziel ist zwar einerseits festzustellen, dass jedes Steuern immer nur Selbststeuerung sein kann und man daher von Begriffen wie (politischer) Gesellschaftssteuerung Abstand nehmen sollte, andererseits finden sich hier allerdings auch Überlegungen dazu, was produktive Irritationen fremder Selbststeuerungen auszeichnet. Auf eine Formel gebracht, spricht Luhmann von der Möglichkeit einer Einflussnahme auf Differenzminimierungsprogramme, nach denen man sich in anderen Systemen richtet (vgl. Luhmann 1988: 346f.). Ein besonders naheliegendes und uneingeschränkt zeitgemäßes Beispiel findet Luhmann zunächst in der Familienpolitik. Wie auch an Reformen der jüngeren Vergangenheit unschwer abzulesen ist, lässt sich in Familien nicht hineinregieren. Die Politik »kann allenfalls die behördliche Implementation eigener Programme zur Verfügung stellen, Frauenhäuser finanzieren, Scheidungen erleichtern oder erschweren, Versorgungslasten verteilen und damit Drohmittel schaffen oder auch von unbesonnenem Heiraten abschrecken – kurz: Politik machen« (ebd.: 228). Dient dieses Beispiel noch der Verdeutlichung, was Selbststeuerung in der politischen Praxis bedeutet, sind die Ausführungen zur Wirtschaftspolitik vor allem mit Blick auf eine Frage erbaulicher: Wie kann die Selbststeuerung anderer Systeme zumindest in eine gewisse Richtung angestoßen werden? Natürlich kann Politik die Selbststeuerung der Wirtschaft vor bestimmte Bedingungen stellen, sie kann verbieten, sie kann Kosten schaffen etc. (vgl. ebd.: 346). Das garantiert selbstredend nicht, dass das möglicherweise mit diesen Maßnahmen verbundene politische Ziel auch erreicht wird. Jedoch findet sich hier die zwar 1 Responsivität und Steuerung werden in Mölders (2015c) in Relation gesetzt.
V. 1984 und die Folgen: Die Korrektur der Steuerungstheorie
recht vage, dennoch aber bemerkenswerte Angabe, dass es »meistens darum gehen wird, in die relative Attraktivität der Programme einzugreifen« (ebd.: 347). Kurz: Eine Übersetzung originär politischer Bedingungen in wirtschaftseigene Programme ist dann wahrscheinlich, wenn sie sich wirtschaftlich (buchstäblich) auszahlt – wenn sie relativ attraktiv ist. Es handelt sich dann aber immer noch um ein wirtschaftliches Programm und dieses kommt mit dem politischen nicht zur Deckung. Im besten Fall profitieren beide: Politik kann einen Erfolg vorweisen, wenn sich Schadstoffwerte nach der Implementation einer entsprechenden Verordnung verbessern und sich dies in steigender Wählergunst niederschlägt. Zusätzlich kann Wirtschaft punkten, etwa wenn ein Unternehmen seine Marktposition dadurch stärken kann, sich als besonders grüner Produzent darzustellen und sich dies in Absatzzahlen manifestiert. Bezeichnenderweise aber führt Luhmann seine Argumentation in die fast entgegengesetzte Richtung weiter. Umweltauflagen könnten eben auch zum Konkurs gewisser Betriebe führen, der politische Gewinn durch verbesserte Schadstoffwerte würde bleiben, auf steigende Konkurszahlen könnte politisch dann mit einem neuen, etwa einem Konkursrettungsprogramm geantwortet werden usw. (ebd.). Hier zeigt sich also, dass der steuerungspessimistische Ruf einerseits nicht von ungefähr kommt. Andererseits wurde ersichtlich, dass es mit den begrifflichen Mitteln der Systemtheorie möglich ist, auch gelingende Steuerung zu beschreiben.
V.2 Reflexionsinstanzen der ersten Generation: Recht und Politik Wenn man, was im Folgenden unternommen wird, im Aufsatz »Kontext und Autonomie« von Gunther Teubner und Helmut Willke (1984) den Beginn differenzierungstheoretischer Steuerungskonzepte sieht, so lässt sich von einer bereits drei Jahrzehnte andauernden Tradition sprechen.2 Im Folgenden wird diese Tradition weniger in nostalgischer als vielmehr in systematischer Absicht rekonstruiert. Im Aufsatztitel »Kontext und Autonomie« ist das Programm eines differenzierungstheoretischen Steuerungskonzepts bereits angelegt. Auf Autonomie zu verweisen, bedeutet in diesem Zusammenhang, das systemtheoretische Postulat ernst zu nehmen, dass soziale Systeme operativ geschlossen sind. Was immer aus ihrer Umwelt an sie herangetragen wird, die Verarbeitung kann stets nur auf der Grundlage je eigener Strukturen erfolgen. Steuerungstheoretisch folgenreich ist die Annahme, dass unmittelbare Eingriffe von einem System in ein anderes unmöglich sind. Teubner und Willke haben dieses Postulat zu ihrem Ausgangspunkt gemacht und fragen danach, wie unter diesen Bedingungen dennoch Veränderungen fremder Systeme anzuregen sind. 2 Siehe hierzu auch Mölders (2012b, 2013, 2015a, b).
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Ein Schlüssel zum Verständnis ihres Modells »reflexiven Rechts« bzw. »reflexiver Steuerung« liegt im Begriff des Kontexts. Von autonomen Sozialsystemen auszugehen, müsse steuerungstheoretisch zwingend nach sich ziehen, die Eigenlogiken je anderer Kontexte zu respektieren. Steuerungskommunikationen, die Veränderungen an der Sinnverarbeitung anderer Kontexte zu initiieren suchen, müssten also so gebaut sein, dass an sie im fremden Kontext in spezifischer Weise angeschlossen wird. Diese spezifische Weise erhält bei Teubner und Willke die Bezeichnung »Sozialverfassung«. Gemeint ist damit, dass gesellschaftliche Teilsysteme ihre Operationen darauf einstellen, »dass in ihrer relevanten Umwelt andere Teilsysteme in Interdependenzbeziehungen agieren und sie selbst deshalb für diese anderen Teilsysteme eine brauchbare Umwelt darstellen müssen« (Teubner & Willke 1984: 14). Um zu dieser Einsicht fähig zu sein, müssten Systeme zur Reflexion angehalten werden. Hieraus leitet sich für die Autoren die Frage ab, wie eigensinnige Einheiten zu dieser Art von Reflexion gebracht werden könnten. Es sei die Rolle des reflexiven Rechts, »integrative Mechanismen für Verfahren und Organisation innerhalb der betroffenen Teilsysteme selbst bereitzustellen, ihnen eine Sozialverfassung zu geben, die ihre Eigendynamik respektiert, ihnen aber zugleich jene gesellschaftlichen Restriktionen auferlegt, die aus den Bedingungen des Zusammenspiels aller Teile als Kontextregeln für jedes einzelne Teil folgen« (ebd.: 7). Reflexives Recht zielt auf »regulierte Autonomie« und damit auf nichts weniger als die Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung (ebd.: 24). Man kann die Bedeutung dieses Aufsatzes schon rein chronologisch herleiten; in sachlicher Hinsicht begründet ebendies die Stellung dieser Figur: Die Autonomie sozialer Systeme hat selbst-, fremd- und umweltschädigende Folgen. Die Bearbeitung dieser Folgen ergibt sich gerade nicht von selbst, sondern es bedarf Instanzen, die »aktiv selbst‐regulierende ›lernende‹ Sozialsysteme [fördern] und zugleich [versuchen], deren negative externe Effekte mit kompensatorischen Korrekturen abzubauen.« Die bereits angesprochenen Mechanismen für Verfahren und Organisation innerhalb der betroffenen Systeme stellt das reflexive Recht bereit. Ebendies sei gerade nicht empirisch beobachtbar, das reflexive Recht ist ein sowohl normatives als auch prospektives Modell; so sollte post‐moderne, nämlich reflexive Steuerung einmal funktionieren. Kurzum: Teubner & Willke proklamierten: »Reflexives Recht als Reaktion auf funktionale gesellschaftliche Differenzierung« (ebd.). Luhmann (1985) nahm diesen Beitrag mit Skepsis auf, auch wenn der erste Satz seiner Replik lautete: »Ein mutiger Vorschlag!« Für ihn aber war das Initiieren von Reflexion im Rahmen von Verhandlungssystemen gewissermaßen zu direkt gedacht. Autonome Systeme seien durchaus zu Reflexionen anzuregen, ansonsten wären sie zu bestandserhaltendem Wandel gar nicht fähig, aber: »Allenfalls auf Umwegen würde man mithin zu rechtstheoretischen, rechtsdogmatischen oder gar
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rechtspolitischen Konsequenzen kommen (aber eben dieser Verweis auf Umwege über hohe Abstraktionslagen dürfte das Fruchtbare an dem Gedanken sein)« (ebd.: 2). Dieser Gedanke an Umwege weist nicht nur zurück zu den Übersetzungskaskaden der pragmatistischen Differenzierungstheorie (Kap. III.5), auch Teubner wird, wie der folgende Abschnitt zeigt, bereit sein, Umwege in Kauf zu nehmen. Doch damit wird auch bereits ein Ausblick eröffnet auf Korrekturanregungen jenseits des Lokalen und Interaktiven, wie sie Kap. VI thematisieren wird. Viele wesentliche Momente der Überlegungen zur reflexiven Steuerung finden sich in den darauffolgenden Werken Helmut Willkes wieder – mit einer gewichtigen Veränderung. Willke verlagert die Instanz, die für die Reflexion des eigenen teilsystemischen Handelns für andere bzw. für die gesellschaftliche Reproduktion sorgen soll, in die Sphäre der Politik bzw. des Staates. In der »Supervision des Staates« bringt er das Ansinnen einer systemtheoretisch induzierten Steuerungsidee auf den Punkt: »Die Frage ist damit, wie es gelingen könnte, selbstreferentiell operierende Systeme dazu zu bringen, über den Schatten ihrer Selbstbeschränkung zu springen und gegenwärtige Verluste oder Nachteile mit Blick auf zukünftige Gewinne zu akzeptieren« (Willke 1997: 111). Seine Antwort hierauf lässt sich in zwei Teile gliedern, einer davon antwortet auf das Wer, der andere auf das Wie. Um den »Teufelskreis bornierter Selbstreferentialität konkurrierender Akteure« (ebd.) zu unterbrechen, bedarf es einer dritten Instanz – eines Supervisors. In dieser Rolle sieht Willke den »Supervisionsstaat«. Auch er verwehrt sich gegen ein Primat des Politischen, indem er auf die der Politik eigene Funktion verweist, die er in »ihrer Verantwortlichkeit für die Produktion und Sicherung der für die Gesellschaft unabdingbaren kollektiven Güter« sieht (ders. 1992: 335). Der Supervisionsstaat kann, so Willke, andere Systeme in einer Weise irritieren, dass diese über Alternativen nachdenken und diese Alternativen in Relation zueinander und zur je gegenwärtigen Praxis setzen. Auch für Willke nimmt der Begriff der Reflexion eine unabdingbare Schlüsselposition ein, die er in dieser Weise ausbuchstabiert: »[…] die Beobachtung der Wirkungen der eigenen Identität in der Umwelt […] im Unterschied zu den Wirkungen, die andere Systeme in ihrer Umwelt erzeugen« (ebd.: 75f.). Dass es an vielen Stellen heißt, Systeme müssten »zu etwas gebracht werden«, lässt womöglich eine entscheidende Wendung dieser Überlegungen übersehen. Willke konzipiert Reflexion nämlich gerade nicht als Fremdkörper für das je eigene teilsystemische Prozessieren. Vielmehr lenkt er den Blick darauf, dass Reflexion für soziale Systeme ganz zwanglos attraktiv sei, weil ein Verständnis übergreifender Systemzusammenhänge eine bessere Einpassung eines Systems darin erlaube. Wer die Verflechtung der Leistungsbeziehungen zu erkennen vermag, kann die-
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se auch besser in Anspruch nehmen, ohne dabei die eigene Autonomie einbüßen zu müssen (ebd.). Wie schon in Luhmanns Wendung der »relativen Attraktivität« von Differenzminimierungsprogrammen findet sich auch hier eine Figur der Art, »selbst davon zu profitieren, andere ins Kalkül zu ziehen«. Willkes spätere Werke spitzen diesen Zusammenhang weiter zu. Nach wie vor geht es ihm um verbliebene Steuerungsmöglichkeiten des politischen Systems bzw. des Staates und deren Notwendigkeit. Um der Politik unter diesen Bedingungen überhaupt noch die Möglichkeit einzuräumen, einen steuernden Unterschied zu machen, müsste sie davon überzeugt werden, dass es sich lohnt, mehr zu wissen. Gemeint ist damit, dass politische Entscheidungen stärker »von inhaltlichen Kriterien der Expertise und Kompetenz bestimmt« werden (Willke 2006: 121). Wissen solle, so Willke, das Spektrum politischer Ressourcen erweitern und es müsse der Politik und ihren Akteur_innen verdeutlicht werden, dass dies ganz in ihrem Sinne, nämlich in »ihrer eigenen Logik der Machtgewinnung und Machterhaltung« sei (ebd.: 122). Mehr und besser zu wissen, könnte demzufolge einen Mehrwert für das politische System bedeuten. Im Anschluss an seine Ironie des Staates (1992) spricht Willke später von der »Ironie symbolischer Steuerung«. Man kann angesichts der Komplexität der Welt (verkürzt gesagt) auch fatalistisch kapitulieren – dies wäre, so Willke, die Position des Tragikers. Der Ironiker hingegen lässt sich hiervon nicht abhalten, sondern konstatiert, was unter diesen Bedingungen dann noch übrig bleibt: »Dann könnte sich erweisen, dass die Kunst der Steuerung nicht darin besteht, in fremde Welten zu intervenieren, sondern darin, die Beobachtung fremder Welten zum Anlass zu nehmen, in die eigene Welt so zu intervenieren, dass Selbststeuerung auch und gerade unter Bedingungen der Selbstbeschränkung unvermutete Optionen schafft« (ders. 2005: 335). Die Figur »unvermuteter Optionen« lässt sich wieder umstandslos im Sinne eines Mehrwerts übersetzen. Hier aber kommt die Wendung hinzu, in Akten der Selbstbeschränkung, also dem Eindämmen von Differenzierungsfolgen, die Realisierung von Mehrwerten für möglich zu halten. Doch die Frage bleibt offen, wie Politik hiervon zu überzeugen ist. Eine ausgesprochen indirekte Antwort hierauf findet sich in einem jüngeren Beitrag, wenn Willke (2014: 159) seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, dass es zu sachlich besseren kollektiv verbindlichen Entscheidungen käme, würden diese dorthin ausgelagert, wo das notwendige Wissen vorhanden ist. So könnte es zu einer Neubewertung »guter Politik« kommen, die sich dann auch in politischer Währung auszahlte. Zwar bliebe es bei der »Supervision der Politik«, aber aufgrund von Kompliziertheit und nicht zuletzt auch der Zeitdynamik des Politischen wegen, seien Aufgabenstellungen (i.e. die Bearbeitung der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung) in spezialisierten Institutionen und Agenturen (Vorbild: Zentralbanken)
V. 1984 und die Folgen: Die Korrektur der Steuerungstheorie
besser aufgehoben (ebd.). In solchen Agenturen könne der Versuch unternommen werden, unterschiedliche Systemlogiken zu übersetzen (ebd.: 118). Wem das techno- oder expertokratisch anmutet, dem hält Willke entgegen, dass sein Modell »differenzierte Partizipation auf der Basis von Kompetenz« kennzeichne (ebd.: 158). Wer Expertise entwickelt habe, solle ja gerade beteiligt werden, allein der Zugang zum Aufbau von Expertise müsste entsprechend geregelt werden. Die Rolle der Politik ist hierbei erneut prospektiv aufzufassen. Hingegen verweist Willke (ebd.) auf bereits beobachtbare Leistungen von »Bürgerbewegungen, engagierten NGOs, ökologisch und nachhaltig orientierten Stiftungen, Denkfabriken, Sachverständigengremien und verwandten Einrichtungen, die insbesondere auch über nationalstaatliche Grenzen hinaus denken und agieren und in der Lage sind, globale Problemzusammenhänge zu erkennen und zu bearbeiten.« Diese Erweiterung ist bemerkenswert, auch und gerade in ihrem, wiederum prospektiven, Zusammenspiel mit Politik (als Smart Governance-Regime). Denn dieses Modell – spezialisierte Institutionen und Agenturen unter der Supervision der Politik – verweist die Korrektur der Gesellschaft an Fragen der Institutionsgestaltung. Auch auf globaler Ebene geht es Willke (ebd.: 150) um »Mechanismen, Regeln, Verfahren und Institutionen«, um »geeignete Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zu installieren.« Bemerkenswert ist an diesem Konzept auch, dass eine Figur aus seinen früheren Beiträgen auffällig abwesend ist: Die Erziehung sozialer Systeme durch »eine (durch Krisen aufgerüttelte) Öffentlichkeit« (ders. 1989: 121). Die für GovernanceAnsätze (Benz et al. 2007; Bröchler 2007; Jansen 2010; Mayntz 2008; Schuppert 2006) typische und für den Beginn differenzierungstheoretischer Steuerungskonzepte ganz undenkbare Aufnahme neuer Spieler_innen – hier von NGOs über Think Tanks bis zu Stiftungen – meint gerade nicht Aufbau öffentlichen Drucks; man arbeitet zusammen, bringt spezifische Kompetenzen ein.3 Für die Theoriegenese bleibt diese Betonung neuer Kräfte, die vormals allenfalls der Peripherie zugeordnet waren, bemerkenswert. Noch sehr viel radikaler nimmt sich der Wandel aus, den Teubner, der zweite Pionier differenzierungstheoretischer Steuerungskonzepte, in jüngeren Arbeiten vorgenommen hat. Nicht nur werden hierin die neuen Kräfte zu den wesentlichen Reflexionsinitiierenden (und dies in kompetenterer Rolle als Politik und/oder Recht), sie irritieren obendrein nicht mehr vornehmlich in Interaktionssystemen, sondern im Medium der Publizität.
3 Für ein aktualisiertes Verständnis des Bezugsproblems der Governance-Forschung siehe Bora (2017); Paul & Mölders (2017).
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V.3 Entgrenzte Instanzen zivilgesellschaftlicher Gegenmacht Mit Stiftungen, Denkfabriken, NGOs u.Ä. hatte Willke Instanzen ins Spiel gebracht, die in den mit Teubner gemeinsamen Anfängen keineswegs bereits angelegt waren. Teubners jüngere Arbeiten weisen, wie gleich zu zeigen sein wird, ganz ähnlichen Kräften eine starke Bedeutung zu. Gleichwohl sieht Teubner sie kaum an Verhandlungstischen und in gemeinsamen Institutionen, sondern als wesentlichen Bestandteil einer Antwort auf die Frage: »Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen ihrer Handlungsoptionen wirksam werden?« (Teubner 2011a: 60) Mit dem Hinweis auf Selbstbeschränkung wird dann gleich auch deutlich, dass sich am Ziel differenzierungstheoretischer Korrekturkonzepte nichts verändert hat. Bis in die Begriffswahl einer »Sozialverfassung« hinein, ist diesbezüglich keine Veränderung festzustellen. Der Weg dorthin führt, zumindest in der Weiterführung Teubners, allerdings nicht länger über Verhandlungssysteme (z.B. Teubner 1989), sondern über exogene Pressionen. Dieser Um-Weg (zum selben Ziel) markiert zweifelsohne die weitreichendste theorieimmanente Verschiebung. Er sieht nicht nur neue Mitspieler_innen vor – diese benutzen obendrein Mittel, die nichts Verfahrensförmiges an sich haben. In einer kurzen Passage weist Teubner (2011a: 63) sowohl auf die Konstanz in der Zielsetzung als auch auf das Innovative des Weges hin: »Die gewünschte Richtung für gesellschaftliche Teilverfassungen heißt […]: Beschränkung von endogenen Tendenzen der Selbstzerstörung und der Umweltschädigung über exogene Pressionen.« Eine gesellschaftliche Teilverfassung ist ein die üblichen systemischen Programme überlagerndes law of the laws. Bevor die ansonsten in Anschlag gebrachten Bedingungen für die Richtigkeit von Anschlüssen exekutiert werden, schaltet sich eine Reflexion darüber vor, ob es sich um selbst- und umweltverträgliche Optionen handelt. Doch bereits am Schluss des o.a. Zitats fällt die Neuerung unmittelbar auf; es geht nunmehr um exogene Pressionen. Zunächst sind unter dem Exogenen die durchaus klassischen Protagonistinnen der Steuerungstheorie angesprochen: staatliche Macht sowie rechtliche Normierung. Exogen sind diese mit Blick auf die Zielsysteme, die ebenfalls nahezu unverändert vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich gesehen werden.4 Es spricht allerdings nichts dagegen, wie zu zeigen sein wird, den Pressionsmechanismus selbst für generalisierbar zu halten bzw. von einer Kontingenz der Zieladressen auszugehen. Darüber hinaus jedoch, und dies betrifft die wohl bedeutsamste Veränderung, kommen Instanzen »zivilgesellschaftlicher Gegenmacht« ins Spiel, die in den zuvor 4 Dass mit Kjaer et al. (2011) ein ganzer Band zur Einhegung der Finanzmärkte vorliegt, überrascht folglich nicht.
V. 1984 und die Folgen: Die Korrektur der Steuerungstheorie
skizzierten Anfängen dieser Überlegung keinen systematischen Ort hatten: »Medien, öffentliche Diskussion, spontaner Protest, Intellektuelle, Protestbewegungen, NGOs, Gewerkschaften« (ebd.: 61).5 Erst der im Verein aufgebaute Druck kann so massiv werden, dass ein expansionistisches Funktionssystem innere Selbstbeschränkungen aufbaut, die dann zu einer rekonstruierbar veränderten Programmierung führen. Doch die Kräfteverhältnisse innerhalb dieses Zusammenspiels werden in spezifischer Hinsicht als asymmetrisch gekennzeichnet. Die von der Staatenwelt formulierten völkerrechtlichen Vereinbarungen oder die Normen internationaler Organisationen erscheinen so als ein Teil dieser konstitutionellen Lernanstöße. Nicht nur geht Teubner (2010: 20f.; 2011b: 194) davon aus, dass es überhaupt weitere Druckinstanzen gibt, vielmehr wiesen massive, über Medien weltweit verbreitete öffentliche Kritik sowie offensive Aktionen von Protestbewegungen und NGOs ein sehr viel stärkeres Druckpotential auf im Vergleich zu den vormals als hard law firmierenden Codices der Staatenwelt. Diese Wendung im Nachdenken über die Steuerbarkeit autonomer Sozialsysteme zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie Politik und Recht aus dem Scheinwerferlicht nimmt, was für einen dezidiert rechtssoziologischen Zugang durchaus zu überraschen vermag. Einerseits wird auf andere wirkmächtige Einheiten verwiesen, andererseits geht es kaum mehr um »Verfahren und Organisation«. Das empirisch‐materielle Ziel dieser Korrekturkonzeption wird in den unternehmensinternen Codes, wie es am Beispiel transnationaler Unternehmen heißt, gesehen; jedenfalls fungieren die Programme der Zielsysteme selbst als hard law, diese bestimmen Anschlussbedingungen und weisen Verordnungen der Staatenwelt operativ den Status von soft law zu (Teubner 2010: 20f.). Dieser Zug verweist auch auf die theorieimmanente Reaktion auf die Bedingungen von Weltgesellschaft bzw. Globalisierung (Thornhill 2014; Kjaer 2014). Einerseits erschweren diese Bedingungen die Bestimmung eines je relevanten Kontextes. An Intersystem-Verhandlungssystemen etwa waren stets Organisationen beteiligt, von denen angenommen wurde, sie repräsentierten differente Systemlogiken. Empirische Beispiele, wie die »Konzertierten Aktionen« (Willke 1992: 79), rekurrierten vor allem auf nationalstaatliche, jedenfalls eindeutiger fassbare Kontexte. Andererseits kompensiert die gegenwärtige Fokussierung auf transnationale Unternehmen dies insofern, als konkrete Adressaten benannt werden können – wobei Kompensation für einige Autor_innen wohl zu milde formuliert sein durfte. Weil global operierende Systeme mit ihrer »Eigenrationalitätsmaximierung« ebenso weit diffundierende Folgen produzierten, deren Einhegung einer unverändert 5 Aufschlussreich erscheint hierzu im Kontrast diese kritische Einschätzung Münchs (2018: 76) zu den Kapazitäten sehr ähnlicher Instanzen: »Die Verbreitung neoliberaler Reformen im Bildungssektor wird durch weltumspannende Netzwerke von Think Tanks, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (…) befördert.«
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nationalstaatlich organisierten politischen wie rechtlichen Staatenwelt nicht mehr zugetraut wird, setzt man auf zivilgesellschaftliche Gegenmächte unter der Annahme, diese agierten nicht zuletzt dank eines erleichterten Medienzugangs auf globaler Augenhöhe: »Damit erhält das Politische einen neuen Ort; es wird vom internationalen Staatensystem gelöst und in die Sozialprozesse der jeweiligen Regime hineinverlegt« (Möller 2013: 177). Mit »dem Politischen« ist dann das Korrigieren jeweiliger Expansionstendenzen angesprochen, also weder exklusiv durch die noch der Politik als Staatensystem (vgl. Horst 2013). SystematischeUnterschiede in derEntwicklung systemtheoretischer Steuerungsbzw. eben Korrekturkonzepte beziehen sich auf den Weg (und nicht das Ziel). Für diesen Weg ist relevant, dass es viele externe Druckinstanzen gibt, die Zielsysteme nicht zwingend unmittelbar adressieren. Vielmehr sind ultrazyklische Umwege angesprochen, also Perturbationskreisläufe, die die Autonomie beteiligter Systeme unangetastet lassen, diese aber beständig mit Irritationen versorgen, die wiederum je systemspezifisch verarbeitet werden. Bis eine Irritation das »hard law der unternehmensinternen Codes« (Teubner 2010: 21) erreicht, sind bereits einige Übersetzungsschritte getan, etwa von der »Sprache des Expertenwissens, das Modelle entwirft und Monitoring organisiert, in die interorganisatorische Macht von politischen Verhandlungen zwischen internationalen Organisationen, NGOs und transnationalen Unternehmen, in die der Reputationsmechanismen der Öffentlichkeit und in die der monetären Anreize und Sanktionen« (ebd.). Wieder landen wir in Übersetzungskaskaden. Was hier hinzutritt, ist die Annahme, dass solche Kaskaden angeregt, ja geradezu erzwungen werden können. Teubner findet hierzu die Formulierung von Lern-Pressionen als interne Änderungen aufgrund externen Zwangs (ebd.: 20). Lernen rekurriert dabei auf Änderungen kognitiver Strukturen. Oben (Kap. II.3) wurde bereits zwischen solchen Schemata unterschieden, die Informationen überhaupt als relevant für ein bestimmtes System kennzeichnen, und jenen, die diese Informationen dann prozessieren, also Anschlüsse festlegen. An dieser Stelle zeigt sich nochmals der Wert dieser Unterscheidung. Der erste Lern-Effekt, auf den Teubner verweist, betrifft Schemata der Relevanzmarkierung. Warum sollten transnationale Unternehmen staatliche Codes überhaupt für relevant halten? Sie tun dies gerade nicht im Sinne von Sanktionserwartungen, sondern weil sie hieran geradezu buchstäblich ablesen könnten, welche gesellschaftlichen Erwartungen an sie gestellt werden. Insofern fungieren staatliche Codes als Lernanstöße, die dann, um im Beispiel zu bleiben, unternehmensintern weiterverarbeitet werden. Doch Lernanstöße sind noch kein Zwang. Einen solchen Zwang können die »Instrumente der Staatenwelt« auch gar nicht mehr ausüben: »Rechtssanktionen spielen in diesem Prozess der Lernpressionen keine entscheidende Rolle« (ebd.). Es ist diese Stelle, an der die zivilgesellschaftliche Gegenmacht (Medien, NGOs, Protest etc.) für deutlich wirkmächtiger gehalten wird. Diese Einheiten treten gerade
V. 1984 und die Folgen: Die Korrektur der Steuerungstheorie
nicht unmittelbar an die Zielsysteme heran, sondern wählten den zwar indirekten, hier aber gerade für effektiver erachteten Weg über »öffentliche Reputationsmechanismen«. Im Gegensatz zu den Instrumenten der Staatenwelt, so wird hier angenommen, ist der indirekte Weg über massenmediale Verbreitung viel geeigneter für einen Druckaufbau, auch und gerade, weil massenmediale Verbreitung nationalstaatliche Grenzen zu überwinden vermag. Doch dieser Diffusionsaspekt ist nur ein Teil der Zwang-Formel. Mit dem Hinweis auf Reputationsmechanismen ist vor allem gemeint, dass das öffentliche Bild eines Adressaten als wirksamstes Einfallstor erkannt wird. Sind an staatlichen Codes gesellschaftliche Erwartungen ablesbar, so bezieht sich die Reputation darauf, wie Zielsysteme beobachtet werden. Diese Beobachtungen würden, so Teubner, eher rückübersetzt in unternehmensinterne Codes, also in ihre Programme (ebd.: 21). Gelingt es also, auf die Reputation eines fokalen Systems Einfluss zu nehmen, wirkt dies wie ein Zwang, ebendies zum Anlass zu nehmen, intern Übersetzungsleistungen vorzunehmen. Dieser theorieimmanente Wandel – die Betonung der Wirkmächtigkeit zivilgesellschaftlicher Gegenmächte gegenüber staatlichen Einflusspotentialen – ist in mindestens zwei Hinsichten geradezu spektakulär. Zum einen spielten diese, wie gezeigt, in den Anfängen differenzierungstheoretischer Korrekturkonzepte überhaupt keine Rolle. Darüber hinaus werden damit solche Instanzen promoviert, von denen es aus demselben theoretischen Lager heißt, sie seien praktisch ratlos. Soll nun also, überspitzt formuliert, die Korrektur der Gesellschaft jenen überlassen werden, die nicht wissen, was zu tun ist?
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VI. Publizität als Korrekturmedium
Das vorangegangene Kapitel hat in die Tradition differenzierungstheoretischer Korrekturkonzepte eingeführt. Auch diese setzten an der Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung an. Ohne einem Funktionssystem eine Führungsrolle zuzuschreiben, begannen diese Überlegungen mit dem Recht und dem Staat als denjenigen Instanzen, die autonome Systeme zu Reflexionen anzuregen vermögen. Die Korrektur der Gesellschaft sollte sich in den Teilsystemen durch die Erkenntnis einstellen, anderen, auch aus eigenem Antrieb, eine brauchbare Umwelt darzustellen. Diesen zu Beginn herausgestellten »Instrumenten der Staatenwelt« wird in jüngeren Entwicklungen kaum mehr zugetraut, korrekturinitiativ wirken zu können. Stattdessen wird über Medien weltweit verbreitete öffentliche Kritik als aussichtsreicherer Mechanismus gesehen, den »Teufelskreis bornierter Selbstreferentialität« zu unterbrechen. Damit kommt auch ein nun zu diskutierendes, weiteres Korrekturmedium in Betracht: Publizität. Die »kleinen Korrekturen« setzten vor allem auf Unmittelbarkeit, auf Interaktionen. Die Auto-Korrektur verblieb auf der Makro-Ebene der Funktionssysteme und blendete den Anstoß zu einer Beschäftigung mit originär externen Themen im Wesentlichen aus. In der soziologischen Theorie weist Publizität allerdings die Eigentümlichkeit auf, als wie automatisch ablaufender Wirkmechanismus verstanden zu werden. Dann aber wäre man wieder im Bereich der Auto-Korrektur, zumindest wäre die Korrektur der Gesellschaft dann vor allem eine Frage der Diffusion von Publiziertem. Im Laufe des folgenden Kapitels aber wird sich zeigen, dass es nicht nur um Herstellung von Verbreitung gehen kann, sondern vor allem um die Produktion von Zumutungsgehalt – und dass beides nicht in eins fällt. Mit dieser Fabrikationsthese wird dann das hierauf folgende Kapitel zur Organisation von Gesellschaftskorrektur vorbereitet.
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VI.1 Einwirkungskapazität von Interaktionen und Kritik strukturierende Organisationen Luhmann folgend vermögen Protestbewegungen und Presseaktivitäten zu alarmieren, müssen dann aber darauf hoffen, dass die eigentliche Korrektur vom Recht vollzogen wird. Wie es von der Alarmierung zur Strukturveränderung kommt, wird in evolutionstheoretische Figuren wie die des »structural drift« verschoben. Allerdings wäre es ein Kurzschluss, hiermit auch zu behaupten, Luhmann hätte sich zur Anregbarkeit von Wandel nicht geäußert. Jedoch spielt Publizität hierin eine explizit untergeordnete Rolle, stattdessen werden die Anregungspotentiale von Interaktionen und Organisationen in den Blick genommen. In einer auf einen Vortrag aus dem Jahr 1975 zurückgehenden, allerdings erst 2011 veröffentlichten Publikation etwa fragt Luhmann (2011|1975) nach Potentialen der »Strukturauflösung durch Interaktion«. Dabei beginnt Luhmann mit einem Punkt, den Jean Piaget (1974) bezogen auf kognitive Systeme »Primat der Affirmation bzw. Assimilation« genannt hat: Nach Möglichkeit werden Strukturen stabil gehalten.1 Das kann nicht bedeuten, Strukturen für invariant zu erklären, es stellt vielmehr erst die Aufgabe dieses Textes dar, nach Auflösepotential von Interaktionen zu fragen. Beinahe versteckt in einer Fußnote weist Luhmann (2011|1975: 8) darauf hin, dass es ihm hier zwar nicht darum gehe, man aber sehr wohl annehmen könne, dass »eine gezielte Änderung von Systemen durch Systeme« ganz andere Probleme stellt, aber auch ganz andere Chancen böte. Das muss bedeuten, dass er die Annahme gezielter Änderbarkeit für plausibel hält; eine beachtenswerte Einschätzung. Strukturauflösung definiert er als »Wiederherstellung des quantitativen Überschusses an Relationierungsmöglichkeiten, also Erzeugung einer entsprechenden Unbestimmtheit bzw. Unterbestimmtheit des Systems« (ebd.: 11; Herv. i.O.). Im Zustand vor der Strukturauflösung also hatte das System Klarheit über das eigene Anschließen, die nun einsetzende und korrespondierende Unklarheit markiert den Moment der Strukturauflösung. Der Hinweis auf das Momenthafte erscheint Luhmann zwingend, spricht er doch von »einer logischen Sekunde Anarchie« (ebd.: 12). Hiernach stellt sich die Ordnung unaufhaltsam wieder ein. Inwiefern sich im Anschluss eine Strukturänderung finden lässt, ist mit diesem Zustand nicht determiniert und liegt ohnehin einzig und allein in den strukturellen Händen des beobachteten Systems. Irritation wird Luhmann später2 (1997: 790) einen Systemzustand nennen, 1 Die inzwischen gängigere Bezeichnung des »confirmation bias« wird in Kap. IX.2 hinzugezogen. 2 Diese Verbindung zwischen früher und später Theoriesprache sieht auch Stäheli (2000: 42), wenn er in Bezug auf Irritationen von momentaner Orientierungslosigkeit spricht, »die fast einem Staunen und Stutzen ähnelt.«
VI. Publizität als Korrekturmedium
»der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation, zunächst offen läßt, ob dazu Strukturen geändert werden müssen oder nicht; ob also über weitere Irritationen Lernprozesse eingeleitet werden oder ob das System sich darauf verläßt, daß die Irritation mit der Zeit von selbst verschwinden werde, weil sie ein nur einmaliges Ereignis war.« Zieht man nun beide Texte zusammen, so lässt sich danach fragen, welche Irritationspotentiale Interaktionen innewohnen. Das Einräumen eines gezielten Anregens systemischer Veränderung durch (andere) Systeme zeigt bereits an, dass das später (Kap. VII.2) einzuführende Konzept der Irritationsgestaltung bei Luhmann angelegt ist, dass es sich also gerade nicht um die Integration eines Fremdkörpers handelt.3 Luhmann macht drei Randbedingungen aus, die über die Einwirkungskapazität von Interaktion Auskunft zu geben versprechen. Dabei handelt es sich um Professionalisierung (auf Strukturauflösung spezialisierte Rollenträger_innen, wie etwa Therapeut_innen, Anwält_innen, Kleriker), organisatorische Disziplinierung (etwa organisierte Gerichtsverfahren, in denen ein Teil der Beteiligten durch zähe, symbolisch‐zeremonielle Kleinarbeit [ders. 1969] zu lernen angeregt wird, nicht im Recht zu sein) und Öffentlichkeit (ders. 2011|1975: 17ff.). Für die Frage nach dem Korrekturmedium Publizität ist der letzte Punkt von offenkundiger Relevanz. Gleichwohl gesteht Luhmann Öffentlichkeit »den wohl geringsten Effekt in Richtung auf Strukturauflösung« zu (ebd.: 20). Damit nimmt er ganz explizit diesbezüglich eine Gegenposition zu Jürgen Habermas‹ (1962) »soziologischem Versuch der Klärung«, dem Abschlusskapitel im »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, ein. Habermas war hier daran interessiert, wie dem Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit – und dem damit einhergehenden Verlust an kritischer Publizität – unter diesen gewandelten Bedingungen zu begegnen sei. Sein Lösungsversuch sieht hierzu vor, dass die (verbliebenen) räsonierenden Privatleute Teil der internen Öffentlichkeit der Institutionen der formellen Meinung werden; er nennt hier etwa Regierungskommissionen, Verwaltungsgremien, Parlamentsausschüsse, Parteivorstände, Verbandskomitees, Konzernverwaltungen, Gewerkschaftssekretariate usw. (ebd.: 356f.). Informelle Meinungen müssten in den Kreislauf der quasi-öffentlichen Meinungen eingeschleust werden, sodass dieser sukzessive umgewandelt würde und so an kritischer Öffentlichkeit gewänne. Exakt hiervon verspricht sich Luhmann wenig. Die »Entlarvung des Machtgebrauchs in Bürokratien« etwa, die ohne kritische Öffentlichkeit verborgen geblieben wäre, sei viel zu mühsam und fast vollständig sinnlos, da dies niemanden interessiere und schon deshalb eher keinen Beitrag zur Strukturauflösung und 3 Ausführlicher hierzu Mölders (2014d).
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-rekonstruktion leisten könne (Luhmann 2011|1975: 20). Öffentlichkeit sei allenfalls ein »Medium für eine Belastungsprobe«, dies aber auch nur in Form reiner Negation im Sinne eines »So‐nicht« (ebd.). Kurzum: Üblicherweise kann das Veröffentlichte keinen Druck entfalten, schon weil das hierdurch bekannt Gewordene niemanden interessiert. Kommt es doch zu belastenden Effekten, geht es allein um die Skandalisierung des Gegenwärtigen unter Absehung von Alternativlösungen. Umso erstaunlicher mag die Ähnlichkeit mit Habermasʼ Klärungsversuch des Einschleusens kritischer Öffentlichkeit in die Organisationen der quasiöffentlichen Meinungen in den Überlegungen zu einer »soziologischen Aufklärung« beim frühen Luhmann (1967) anmuten.4 Mit Blick auf Kants (1784) Abhandlung »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« konstatiert Luhmann (1967: 110), dass nur Systeme als Medium der Aufklärung dienen können und kein frei diskutierendes Publikum. Aufklärung definiert er mit der kryptischen Wendung der »Erfassung und Reduktion von Komplexität«. Einerseits müsse es darum gehen, »viele Möglichkeiten sinngemäß zu berücksichtigen« (Erfassung von Komplexität), um andererseits »doch rasch zu handeln« (Reduktion von Komplexität). In Luhmanns (2010: 434) Vorlesungen zur »Politischen Soziologie« aus den späten 1960er-Jahren findet sich eine präzisere Fassung dieses Arguments, in der auch gleich auf Habermas verwiesen wird: »Will man den Gedanken der Öffentlichkeit als einer kritischen Instanz festhalten, muß man sie sich durch Organisation bzw. durch Organisationen strukturiert vorstellen; denn nicht die unstrukturierte Öffentlichkeit, sondern nur Systeme können unter Bedingung hoher Komplexität sinnvolle Kritik und wirkliche Aufklärung leisten.« Sinnvolle Kritik und wirkliche Aufklärung müssen also die Qualität aufweisen, viele Möglichkeiten zu berücksichtigen, ohne dass dies zu unüberwindbaren Entscheidungsblockaden führt. Wie man sich dies öffentlich vermittelt konkret vorstellen könnte, lässt Luhmann weitgehend offen. Dass dies weniger ein Versäumnis darstellt als vielmehr programmatisch für Luhmanns entsprechende Überlegungen ist, hat viel mit dem Geschlossenheitspostulat zu tun. Obliegt die Informationsverarbeitung der Autonomie der beobachteten Systeme, ist mehr als der Zustand der Irritation für Einwirkende nicht zu erreichen. Insofern lautet das manifeste und von Luhmann explizit benannte Ziel: Unsicherheitserzeugung. Hierfür muss die Änderungsintention sich zurücknehmen, nicht auf Strukturänderung, sondern auf Strukturauflösung setzen. Da es ohne einen gestörten Zustand ohnehin nicht zu einer Änderung kommen kann, können sich Irritierende (mit dem frühen Luhmann gesprochen: Aufklärende) auf diesen ersten Schritt 4 Ausführlicher hierzu Mölders (2014e).
VI. Publizität als Korrekturmedium
konzentrieren, »der sowieso getan werden muss« (ders. 2011|1975: 25). Störung ist folglich die conditio sine qua non jedes gezielten systemischen Strukturwandels. Obwohl es explizit um die Einwirkungskapazität von Interaktion geht, kommt Luhmann im diskutierten Beitrag auch auf die Korrektur der Gesellschaft, auf die Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung zu sprechen. Der gesellschaftsstrukturell induzierte Bedarf, so Luhmann (ebd.), sei groß und könne weder ignoriert noch abgelehnt werden. Hier jedoch kommt es dann nicht mehr auf Einwirkungskapazitäten – ganz gleich auf welcher Ebene – an. Entweder habe man es mit einer »Selbstselektion der Probleme« zu tun: »man riecht die Slums, hier ist auf jeden Fall etwas zu tun« (ebd.), oder die Legitimationsgrundlage sei generalisierender und rein ideologischer Natur: »…[D]as System ist schlecht« (ebd.: 26). Wieder landen wir entweder bei sich selbst aufdrängenden Problemen oder bei einer Komplettnegation (vgl. Japp 2001), die zu keiner Korrektur Anlass zu geben vermag, bis sich eine die Probleme kleinarbeitende Organisation gefunden hat. Dass also vielleicht erst Unsicherheit zu erzeugen sein könnte, damit Systeme sich Themen annehmen, die sie zuvor nicht als eigene erkannt haben, ist hierin nicht vorgesehen. Dies trifft auch auf einen späteren Beitrag Luhmanns zu, der abermals die Erzeugung (und: Erzeugbarkeit) von Unsicherheit zum Thema hat. Orientiert an der Frage, wie es um eine Verständigung über Risiken und Gefahren unter Bedingungen von Polykontexturalität bestellt ist, wirbt Luhmann erneut für das Erzeugen von Ungewissheit und spricht sich damit einerseits gegen Überredungen und andererseits gegen die Erzeugung von Sicherheit aus. Es müsse darum gehen, Empfänger_innen zu irritieren, um diese zur Umgestaltung des Kontexts (im Beispiel: wie bzw. was als Risiko beobachtet wird) anzuregen (Luhmann 2008a: 359f.). Die günstigsten Randbedingungen hierfür sieht er in »Gesprächen«. Die eigene Systemtypologie im Blick, weist Luhmann darauf hin, dass die in solchen Gesprächen erzeugte Unsicherheit dann immer noch »zu Hause« (und d.h.: in der je eigenen Organisation) durchzusetzen wäre. Recht praktisch gedacht, meint dies die verunsicherte Rückkehr ins eigene System zum Anlass zu nehmen, dort nach Mitteln und Wegen zur Behebung dieser Unsicherheit Ausschau zu halten (ebd.). Damit wird sogar so etwas wie ein Diffusionsmechanismus (von Interaktionen zu unterschiedlichen Organisationen) sichtbar. Es ist also gut zu sehen, dass Luhmann vergleichsweise konkrete Ansätze zu Fragen der Anregbarkeit sozialen Wandels aufzuweisen hat. In diesen Überlegungen aber spielt Öffentlichkeit bzw. Publizität eine allenfalls untergeordnete Rolle. Umso spektakulärer mutet in diesem Lichte der im vorangegangenen Kapitel erörterte Einbau öffentlicher Reputationsmechanismen und zivilgesellschaftlicher Gegenmächte an. Doch, so mag man einwenden, hierbei handele es sich um künstliches Verwundern, um eines, das nur aus der Perspektive einer konventionellen Differenzierungstheorie heraus entstehen kann. Wer ohnehin davon ausgeht, dass
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die Korrektur der Gesellschaft nur als »Weltinnenpolitik« zu denken sei, hält dies für geradezu selbstverständlich. In diesem Sinne formuliert die Theorie der reflexiven Modernisierung, dass es das Verdienst von NGOs und einer weltumspannenden Öffentlichkeit sei, dass überhaupt an globalen Problemen gearbeitet werde (Beck 2002: 22, 2010).
VI.2 Publizität als Zumutung für Selbstbeschreibungen Um der Frage nachzugehen, wie die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung zu Themen abstrakter Integrationseinheiten bzw. von Funktionssystemen werden, scheint kein Weg an Massenmedien vorbeizuführen. Wie sonst sollte überhaupt Aufmerksamkeit erregt werden? Bedenkt man gleichermaßen den medialen Aufmerksamkeitszyklus, so wird unmittelbar fraglich, wieso es manchen Themen gelingt, Bearbeitungen einzufordern, obwohl immer so viel Anderes thematisierbar wäre. Außerdem folgt aus bloßer Thematisierung noch nicht das, was etwa Teubner als medial vermittelte Lern-Pression beschrieben hatte. Frank Marcinkowski (1993) definiert thematisch geformte und gebündelte Aufmerksamkeit als »Medium der Publizität«. Er geht gar von einem publizistischen Funktionssystem aus, dessen Aufgabe in der Ermöglichung gesellschaftlicher Selbstbeobachtung zu finden sei. Die Publizistik fülle die Monitore sämtlicher Systeme mit Bildern und reichere diese »mit weiterem Zumutungsgehalt, nämlich mit Publizität« an (Marcinkowski 1993: 147). Dieser Zumutungsgehalt wiederum ergebe sich schon durch die allem Veröffentlichten unterstellbare Bekanntheit. Vor allem aber käme der Publizistik die Funktion eines sozialen Korrektivs gegen jedwede Form der Sonderperspektive gesellschaftlicher Reflexion zu. Im günstigsten Fall, so Marcinkowskis eher als Hoffnung formulierte These, könnte die Publizistik die auseinanderdriftenden Funktionsbereiche der Gesellschaft wieder einfangen und aneinanderknüpfen (d.h. integrieren). Diese Bestimmung hat Marcinkowski (2002) später selbst als »etwas vorschnell« qualifiziert und sie durch die Fassung korrigiert, eher von Massenmedien als Reflexionsermöglichenden auszugehen; sie sensibilisierten für das Faktum des Beobachtetwerdens und böten damit die Möglichkeit, sich selbst als Teil der Weltsicht anderer aufzufassen, also: Reflexion. Die Analogie zur Funktionalität des Rechts in den frühen rechtssoziologischen Korrekturansätzen ist augenfällig.5 Doch wenn Publizität als Korrekturmedium zu diskutieren ist, erscheint der Hinweis auf dessen Zumutungsgehalt hilfreich. Er ermöglicht, die Frage zu konkretisieren, wie Veröffentlichtes zur Reflexion autonomer Verstehenskontexte führen kann. 5 Hierzu siehe Mölders (2017a).
VI. Publizität als Korrekturmedium
Ausgerechnet eine Theorietradition, die als so staatszentriert wie kaum eine andere gilt, vermag aufzuzeigen, wie öffentlich vermittelter Druck in diesem Sinne wirksam wird. Tatsächlich hat sich die Regulierungstheorie mit Formen und Funktionen öffentlichen Drucks beschäftigt, ehe dieses Spielfeld durch das GovernanceParadigma eingenommen wurde (vgl. Kagan 1994; Aoki & Cioffi 1999). Was in der Regulierungsforschung gemeinhin als »social pressures« bezeichnet wird, erlaubt als Ausgangspunkt die Fragen: Was hieran ist das Soziale? Und was macht dies so druckvoll?6 Ein in dieser Hinsicht besonders aufschlussreiches Konzept ist das der »social license«, das Neil Gunningham et al. (2004: 308) so definieren: »the demands on and expectations for a business enterprise that emerge from neighborhoods, environmental groups, community members, and other elements of the surrounding civil society. In some instances the conditions demanded by ›social licensors‹ may be tougher than those imposed by regulation, resulting in ›beyond compliance‹ corporate environmental measures even in circumstances where these are unlikely to be profitable.« Eine erste auffallende Ähnlichkeit mit den neueren Konzepten, wie sie insbesondere bei Teubner zu finden sind, betrifft die Wahl der Zielsysteme: Unternehmen. Da es hier nun zunächst um den Druckmechanismus gehen soll, kann eine Diskussion der Übertragbarkeit auf andere Einheiten vorerst zurückgestellt werden. Wesentlich für die hier verfolgte Argumentation ist eher schon die ebenfalls übereinstimmende Diagnose, dass Fälle beobachtbar seien, in denen die Ansprüche der Soziallizenzgebenden stärker wirkten (und sich nicht in bloß fassadenartiger Compliance manifestierten) als Regulierung. Für eine gleichnamige Forschungstradition ist dies ein bemerkenswerter Schluss. Sozial sind solche Lizenzen in einem spezifischen Sinne. Es geht um Erwartungen, die den Adressat_innen (hier: Unternehmen) extern sind und nicht mit den politisch‐rechtlichen Instrumenten der Staatenwelt zur Deckung kommen. Stärker als rechtliche Sanktionen, nämlich als Zwang (»obligation«), wirkt die Aufforderung zur Annahme einer Soziallizenz »imposed by the public and the media« (ebd.: 321). Medien transportieren Korrekturanliegen, doch was macht das Transportierte druckvoll? Noch ohne auf den Mechanismus einzugehen, wird ein Effekt auf das »reputation capital« (Joyce & Thompson 1999) der Lizenznehmenden als manifestes Ziel ausgegeben. Die Annahme ist, dass Unternehmen, um im Beispiel zu bleiben, sich zur Erstellung eines eigenen Bildes an öffentlicher Fremdbeschreibung orientieren. Orientierung meint in diesem Fall nicht weniger als das Einstellen von 6 Hierzu siehe Mölders (2017b).
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Entscheidungsprämissen auf damit zu erzielende Wirkungen auf dieses öffentliche Bild bzw. eine Steigerung des Reputationskapitals. Die Regulierungsforschung betont dabei, dass es sich nicht nur um öffentlich vorgebrachte Kritik handele, sondern sich lediglich die Vorzeichen änderten, wenn Unternehmen öffentlich gelobt werden. Auch dies kann mit Veränderungen von Entscheidungsprämissen einhergehen, wenn etwa Investitionspläne zugunsten von öffentlich Befürwortetem geändert werden. Somit könnte die »public credibility« von Änderungsadressen zum Einfallstor der Korrektur der Gesellschaft werden. Mit diesem begrifflichen Vorschlag regt Agnes Ku (2000) eine Neufassung der Öffentlichkeit (»public sphere«) nach Habermas (1962) an. Öffentlichkeit sei dann eine Sphäre, »which actors could draw on to establish their public credibility or undermine that of their opponents at particular political moments« (Ku 2000: 230). Wieder finden sich hier beide Richtungen, credibility könne sowohl ab- als auch aufgebaut werden. Wieder finden sich keinerlei Hinweise darauf, wie Kommunikationen beschaffen sein müssten, um ebendiese Wirkung zu erzielen. Womöglich ist diese Auslassung aber gerade kein Versehen, sondern bereits programmatisch. Dies könnte dann gelten, wenn – und durchaus im Anschluss an die Ausführungen Teubners –, Bekräftigendes oder auch Unterminierendes nur möglichst weit gestreut sei. Nicht zu unterschlagen ist ferner Kus Hinweis darauf, dass es hierzu besonderer politischer Momente bedarf. Was hieran als das Politische in Frage kommt, ist kaum zu beantworten. Vermuten lässt sich, dass damit eine Gestaltbarkeit angenommen wird, die aber nur zu bestimmten Zeitpunkten gegeben zu sein scheint. Der insbesondere in der Innovationsforschung prominente Begriff der »windows of opportunity« (exemplarisch: Geels & Schot 2007) könnte hier also so etwas wie eine politische Entsprechung finden. Wie bereits angedeutet, tritt Kus Konzept an, um eine aktualisierte Fassung des Strukturwandels der Öffentlichkeit einzubringen. Das Auslassen einer Beschreibung von Druckaufbaumechanismen schließt dabei passgenau, wie der nächste Abschnitt zeigt, an Habermasʼ Vorlage an. Festzuhalten ist, dass als Spielfeld zum Anregen oder gar Erzwingen von Übersetzungen die Öffentlichkeit gefasst ist. Publizität, definiert als veröffentlichte Kommunikationen mit Einfluss auf die public credibility von Adressen, wird zum zentralen Korrekturmedium.
VI.3 Strukturwandel der Öffentlichkeit Für den Einfluss von Öffentlichkeit auf ohne sie anders getroffene Entscheidungen steht mit Habermasʼ »Strukturwandel der Öffentlichkeit« eine Vorlage Pate, die seit mehr als fünfzig Jahren kontrovers diskutiert wird (Negt & Kluge 1990; Calhoun 1992; Bisky et al. 2009; Adolf & Stehr 2010; Imhof 2011; O’Mahony 2013).
VI. Publizität als Korrekturmedium
Im Ideal der bürgerlichen Öffentlichkeit musste sich jede kollektiv verbindliche Entscheidung gegenüber dem »Räsonnement der zum Publikum versammelten Privatleute« bewähren. Als legitim konnten nur Entscheidungen gelten, die dem öffentlichen Abwägen ihrer Begründungen standhielten. Die Rolle der Medien war lediglich, das etwa in Salons abgehaltene Räsonnement zu verbreiten. Der Zerfall dieser Öffentlichkeit ist für Habermas wesentlich mit dem Aufkommen moderner Massenmedien verbunden. Die Kommerzialisierung und die ökonomische, technologische sowie organisatorische Konzentration der vormaligen Einrichtungen des räsonierenden Publikums, so Habermas (1962: 284), habe die kritische Funktion der Publizistik bedroht: »Während die Presse früher das Räsonnement der zum Publikum versammelten Privatleute bloß vermitteln und verstärken konnte, wird dieses nun umgekehrt durch die Massenmedien erst geprägt. Auf dem Wege vom Journalismus der schriftstellernden Privatleute zu den öffentlichen Dienstleistungen der Massenmedien verändert sich die Sphäre der Öffentlichkeit durch das Einströmen privater Interessen.« Was später als »veröffentlichte Meinung« in den semantischen Haushalt Eingang finden sollte, bezeichnet Habermas (ebd.: 293) hier als das »umfunktionierte Prinzip der Publizität«. Publizität meint dann die bloße Veröffentlichung und nicht mehr, dass das Veröffentlichte auf das Räsonnement einer als Öffentlichkeit fungierenden Gemeinschaft zurückgeht. Vielmehr würde das Publikum in einen Sog demonstrativ oder manipulativ entfalteter Publizität hineingezogen (ebd.: 357). Habermas (ebd.: 300) sieht allerdings auch in dieser Form noch einen Rückbezug auf die bürgerliche Öffentlichkeit: »Diese Publizität taugt nun über eine Beeinflussung der Konsumentenentscheidungen hinaus auch zur politischen Pression, weil sie ein Potential unartikulierter Zustimmungsbereitschaft mobil macht, das notfalls in eine plebiszitär definierte Akklamation übersetzt werden kann. Die neue Öffentlichkeit bleibt insofern auf die bürgerliche noch rückbezogen, als deren institutionelle Formen der Legitimation weiterhin in Kraft sind; auch demonstrative Publizität entfaltet politische Wirksamkeit nur in dem Maße, in dem sie ein Kapital potentieller Wählerentscheidungen glaubhaft machen oder tatsächlich einlösen kann.« Kurzum: Auch ohne die legitimatorische Kraft bürgerlichen Räsonnements hat diese Form der Publizität noch ein hohes politisches Gewicht. Die öffentliche Meinung drängt sich politischer Informationsverarbeitung als Medium eines Beobachtens zweiter Ordnung geradezu auf. Sobald eine bestimmte politische Reaktion auf ein öffentliches Thema potentielle Wahlentscheidungen in Aussicht zu stellen vermag, kommen Entscheidungsträger_innen kaum umhin, dieser Antizipation nachzugehen; das ist hier mit »politischer Pression« gemeint. Weil aber nicht länger ein
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räsonierendes Publikum in eine bestimmte Richtung drängt, sondern weil die privaten Interessen organisierter Massenmedien dahinter vermutet werden, ist der Weg über die öffentliche Meinung, der so viel Resonanz- bzw. Korrekturpotential hat, kein legitim gangbarer und insofern ein riskanter. Für das hier verfolgte Argument fällt vor allem eine Qualität demonstrativer Publizität auf: Sie stellt sich wie von selbst ein. Zwar verweist Habermas auf organisatorisch‐professionelle Aspekte, vor allem von PR-Agenturen. Öffentlichkeit dränge sich eben nicht mehr selbst als zwingend zu berücksichtigen auf, sondern muss – eben organisiert – von Fall zu Fall erst hergestellt werden, was das Wort »Öffentlichkeitsarbeit« bereits verrate (ebd.). Wer dieses (umfunktionierte) Prinzip aber durchschaut habe, kann es bedienen und öffentlichen Druck ein- und ausschalten. Über weite Strecken seiner Argumentation schildert Habermas den Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit in eine Sphäre, in der sie nunmehr zur Manipulation missbraucht wird. Erst mit der Entstehung anonymer Massenmedien werde moderne Propaganda möglich. Propaganda aber trage das »Janusgesicht der Aufklärung und der Lenkung, der Information und der Reklame, der Pädagogik und der Manipulation« (ebd.: 302). Im Prinzip also kann Publizität in mindestens zwei Richtungen wirken: Lenkung und Aufklärung. Fortgeführt wird die Argumentation ausschließlich in Richtung Lenkung; auf das Zusammenspiel beider Blickrichtungen des Janusgesichts wird zurückzukommen sein (Kap. IX.2). An den entsprechenden Stellen im »Strukturwandel der Öffentlichkeit« aber wird nicht weniger als Durchgriff postuliert. Wirksame Publizität übt einen in diesem Sinne unwiderstehlichen Übersetzungsdruck aus, weil, Habermas folgend, notfalls gezeigt werden könnte, dass viele der (über ihre Köpfe) veröffentlichten Forderung Nachdruck verleihen würden. Es muss sich dabei gerade nicht um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments (ders. 1981) handeln. Damit ist eine merkwürdige Polarität zu konstatieren. Während Luhmann behauptete, Öffentlichkeit spiele für Korrekturanregungen keine bedeutsame Rolle, postuliert Habermas in diesem Sinne Gegenteiliges: Nichts wirkt so druckvoll wie demonstrative Publizität. Allerdings gilt dies insbesondere für Unkritisches, also insbesondere durch private Interessen motiviertes Überzeugen von Massen. Kombiniert werden diese Positionen wiederum in den zuvor geschilderten neueren Beiträgen Teubners oder in der Regulierungstheorie. Dort wird schließlich angenommen, dass Publizität wirksamer öffentliche Interessen durchsetze als die Instrumente der Staatenwelt, wenn es etwa um das Einhegen multinationaler Unternehmen ginge. Ansätze, die sich für die Anregbarkeit von Übersetzungen zur Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung – i.e. die Korrektur der Gesellschaft – interessieren, machen medial vermittelten, auf das öffentliche Bild (public credibility) eines Ziels wirkenden Druck als wesentlichen Hebel aus. Damit sind diese klar
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gegenüber den zuvor vorgestellten Ansätzen zur Auto-Korrektur der Gesellschaft abgegrenzt. Gleichwohl wird die Frage nach der Anregbarkeit in dieser Hinsicht ähnlich »automatisiert«. Gelingt es, Publizität als Korrekturmedium zum Einsatz zu bringen, so können die Adressat_innen scheinbar nicht anders, als das öffentlich an sie Herangetragene zu übersetzen. Publizität reagiert auf die zuvor ausgemachten Modi. Den »Korrekturen im Kleinen« stellte sich das Problem der Diffusion; Publizität scheint überbrücken bzw. gleich höher einsteigen zu können. Gleichermaßen misstrauen diese zuletzt vorgestellten Ansätze der Auto-Korrektur der Gesellschaft. Autonome Verstehenskontexte stellen sich nicht auf gesamtgesellschaftliche Herausforderungen ein, sie werden mit Anregungen konfrontiert. Endlich scheint eine Antwort auf die längst gestellte Frage, wie Korrekturanliegen auf den Schirm autonomer Systeme auftauchen, möglich: »massive öffentliche Kritik, die über die Medien weltweit verbreitet wird« (Teubner 2010: 2). Ebendies sah Teubner als wirkmächtiger an im Vergleich zu den der Staatenwelt des 21. Jahrhunderts verbliebenen Möglichkeiten der Korrektur. Begründet wird diese Umstellung mit der Natur der Folgeprobleme bzw. der »grand challenges« (Kaldewey 2017) funktionaler Differenzierung: Diese kennen weder räumliche Grenzen noch Grenzen funktionaler Zuständigkeit; die Grenzen des Rechts aber fielen nach wie vor zumeist mit denen der Staatenwelt zusammen. Unternehmen, NGOs und viele zeitgenössische Formen medialer Öffentlichkeit operierten hingegen auf globaler Ebene und in ihrer stetigen Suche nach Neuem, das einen Unterschied macht (i.e. Information), in beschleunigtem Takt. Wenn Publizität dasjenige Medium ist, das zu den Folgen funktionaler Differenzierung am besten passt, müssen darauf zielende Übersetzungsanregungen veröffentlichte sein. Doch das macht aus Veröffentlichung ein notwendiges, aber noch nicht hinreichendes Merkmal. Der folgende Abschnitt thematisiert dementsprechend, wie Publikationen mit Zumutungsgehalt angereichert werden. Die darin nachgezeichnete Beschäftigung mit Publizität als Korrekturmedium reicht bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück.
VI.4 Frühe Zumutungsanreicherungen (1885-1917) Auf den Schirm autonomer Verstehenskontexte kommen Korrekturanregungen im Medium der Publizität. So zumindest schloss der vorangegangene Absatz. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erschien das Veröffentlichen noch als hinreichende Korrekturbedingung denk- und praktizierbar, wie dieses berühmte Zitat von Joseph Pulitzer zum Ausdruck bringt:
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»We are a democracy, and there is only one way to get a democracy on its feet in the matter of its individual, its social, its municipal, its state, its national conduct, and that is by keeping the public informed about what is going on. There is not a crime, there is not a dodge, there is not a trick, there is not a swindle, there is not a vice which does not live by secrecy. Get these things out in the open, describe them, attack them, ridicule them in the press, and sooner or later public opinion will sweep them away« (zit.n. Ireland 1914: 115). Einerseits ist dieses Zitat beinahe uneingeschränkt zeitgemäß. Den gegenwärtigen »Transparenz-Imperativ« (Osrecki & August 2019) kennzeichnet die Überzeugung, dass maximale Veröffentlichung zu maximaler Korrekturwirkung führte. Andererseits erscheint es insofern als Kind seiner Zeit, als der seither zu konstatierende Medienwandel es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass dieser Mechanismus davon unberührt geblieben sein soll.7 Doch zuvor ist aufzuklären, was an dieser Stelle überhaupt mit Mechanismus gemeint ist. Die These lautet: bloßes Veröffentlichen – »get these things out in the open« – hat noch nie hingereicht. Es ist die Art und Weise der Zumutungsanreicherung, die schon zu Pulitzers Zeiten notwendig war, und deren Wandel hier beleuchtet wird. Dieser Wandel wiederum ist nicht allein technischer Natur. Die stetig verfügbarer werdenden Verbreitungsmöglichkeiten, von landesweiten Radiostationen bis zur Internet-Entwicklung, erklären viele Veränderungen für das Medium der Publizität, erschöpfend ist eine rein technische Fokussierung allerdings nicht. Es ist kein Zufall, dass das Pulitzer-Zitat gleich an Investigativ-Journalismus denken lässt. Er ist der wohl nächstliegende Kandidat für ein in Medium der Publizität operierendes Korrektiv. Als solches sucht es nach Fehlentwicklungen und veröffentlicht diesbezügliche Ergebnisse. Dieser Aufdeckung-VerbreitungMechanismus ist gleichwohl an spezifische Bedingungen geknüpft. Zu den bemerkenswertesten durch Investigativ-Journalist_innen angeregten Korrekturen gehört sicher der 17. Zusatz zur US-amerikanischen Verfassung (»the Seventeenth Amendment to the US constitution«). Bis zu dieser wurden Senatoren ernannt, nun mussten sie sich wählen lassen. Diese Änderung aber musste vom Senat selbst beschlossen werden, kurzum: Senatoren mussten dafür stimmen, nicht länger ernannt, sondern frei gewählt zu werden. Alexander Dyck et al. (2013) haben nachgezeichnet, wie es zu dieser unwahrscheinlichen Konstellation kommen konnte. Der Cosmopolitan hatte intensiv über diese Reform berichtet. Die Autoren zeigen, dass Senatoren aus Bundesstaaten, in denen der Cosmopolitan weiter verbreitet war, mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit ihre Stimme im Zeitraum zwischen 1902 und 1911 von ›Nein‹ zu ›Ja‹ (zum Amendment) änderten. 7 Vertiefend hierzu und für den gesamten Absatz siehe Mölders (2019).
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Den Senatoren war vollkommen klar, dass sie nicht gegen das öffentliche Interesse handeln konnten, ohne die politische Stabilität zu riskieren. Entscheidend ist jedoch, dass sie Auskunft über das öffentliche Interesse offenbar in diesem Magazin (oder in anderen Regionen vergleichbaren, wie McClure’s) zu finden suchten. Diese frühen Magazine waren, in einer gelungenen Wendung James Hamiltons (2016: 42), »tied to the political machine«, sie begründeten die muckraking period. Dyck et al. (2013) untersuchen diese Magazine aber nicht nur aus einem originär historischen Interesse, sondern vor allem aus methodologischen Gründen. Mit der wenig später folgenden Durchsetzung landesweiter Radio- und Fernsehstationen sei die Verbindung zwischen Berichterstattung und regulatorischen Auswirkungen (»regulatory outcomes«) – geschweige denn die Internet-Entwicklung einbeziehend – nicht mehr in überzeugender Weise überprüfbar. Weil also immer mehr Medien mit immer größerer Reichweite entstünden, würden jeweilige Einflussgrößen für die Forschung kaum noch isolierbar, was unmittelbar damit zusammenhänge, dass auch den Entscheider_innen ein Blick in ein bestimmtes Magazin nicht mehr ausreichen konnte, um sich über die öffentliche Meinung zu informieren. Diese technische Entwicklung erklärt einen Teil der Veränderungen für das Ausüben einer Funktion Vierter Gewalt. Dyck et al. (2013) machen allerdings einen zusätzlichen Faktor aus, der zu erklären vermag, warum die muckraking period nur von 1902 bis 1917 dauerte. Den Magazin-Redaktionen musste ihr Erfolg – gemessen sowohl an ökonomisch verwertbarer Auflagensteigerung als auch am Impact – auffallen. Sie reduzierten dabei, dies machen die Autoren als entscheidenden Punkt aus, ihren eigenen Nachrichtenwert; sie übersättigten die Öffentlichkeit mit Skandalen (ebd.: 549). Wenn Entrüstung nicht mehr plausibilisiert werden kann, verlieren entsprechende Veröffentlichungen ihre orientierende Funktion. Ebendies hatte ja Luhmann (1975 [2011]: 20) erwartet und konstatiert, dass etwa die Entlarvung des Machtgebrauchs in Bürokratien viel zu mühsam und fast vollständig sinnlos sei, da es niemanden interessiere und schon deshalb eher keinen Beitrag zur Strukturauflösung und -rekonstruktion leisten könne. Die »muckraking period« als goldenes Zeitalter des Investigativ-Journalismus ist ein aufschlussreiches Beispiel für frühe Zumutungsanreicherungen im Medium der Publizität. Magazine wie Cosmopolitan oder McClure’s operierten dabei als etwas, das Stichweh (2002) als »Spiegel zweiter Ordnung« fasst. In einem solchen Spiegel sieht man nicht sich selbst, kann aber der Beobachtung der Beobachtungen anderer orientierende Informationen über sich entnehmen. Er verweist dabei auf die »öffentliche Meinung« als Spiegel zweiter Ordnung des politischen Systems. Hier lassen sich solche Spiegel mit den benannten Magazinen sogar klar benennen. Wie kommen, so lautete die zentrale Frage, Korrekturanregungen auf den Schirm autonomer Verstehenskontexte? Nun lautet eine plausible Antwort: Indem
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sie auf Spiegeln zweiter Ordnung sichtbar werden, in Publikationen also, in denen relevante Andere Informationen suchen. Hierzu lässt sich umstandslos eine Linie zu einem pragmatistischen Verständnis von Öffentlichkeit (»publics«) ziehen, die hierin als stets orientierungsbedürftig in unsicheren Situationen aufgefasst wird (Lippmann 1925; Dewey 1927).8 Mit Spiegeln zweiter Ordnung ist so etwas wie eine Adresse der Zumutungsanreicherung anzugeben. Ebenfalls schon in dieser Frühphase war allerdings die Berücksichtigung einer weiteren Dimension notwendig: die der Zeit. Hugo de Burgh (2008: 44f.) sieht in William T. Steads »The Maiden Tribute of Modern Babylon« von 1885 gar die Geburtsstunde des modernen Investigativ-Journalismus.9 Er begründet dies gerade damit, dass Stead das Thema des Mädchenhandels im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts über ein Jahr verfolgte, immer wieder darüber schrieb und mit vermeintlich modernen Methoden wie cliff‐hangers operierte. Darin manifestiert sich die Auffassung, dass einmaliges Veröffentlichen (der sogenannte »scoop«) nicht korrekturwirksam sein könne. Ein Thema muss dauerhaft als zu korrigierendes veröffentlicht werden. Ebendies wird zu einem Problem, auf das dann etwa cliff‐hangers eine Lösung darstellen. Im Sinne eines vorgreifenden Rückblicks ist bereits an dieser Stelle zu fragen, was in diesem Lichte an den später untersuchten Praxen der Gegenwart in dieser Hinsicht neu sein soll. Waren Protestbewegungen und Presseaktivitäten jemals so praktisch ratlos? Neu sind die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entstandenen und verwendeten Technologien, von denen man sich gerade zur Gesellschaftskorrektur mancherorts ausgesprochen viel verspricht, wie der nächste Abschnitt zeigen wird. Doch noch etwas scheint von Beginn an ausgeprägt zu sein: Die Presse interessiere sich, so Requate (2003) unter Bezugnahme auf Stead (1886), im Gegensatz zum Parlament, für sämtliche Lebensbereiche. Der im Ausdruck »Vierte Gewalt« scheinbar implizierte Fokus auf die »Ersten Drei Gewalten« erhält somit kein empirisches Korrelat. Diese Beobachtungsbreite sah schon Stead allein aus ökonomischen Gründen geboten, da jenseits des Politischen die interessanteren Geschichten zu finden seien. Bergsdorf (1980: 87) bestätigt dies für die deutsche Entwicklung, wenn er wie selbstverständlich darauf hinweist, dass die Massenmedien ihre Kritik- und Kontrollfunktion aus eigenem Impuls vor allem in den
8 Birkbak & Carlsen (2016) fragen auf dieser pragmatistischen Grundlage, welche Öffentlichkeit die von Google, Facebook und Twitter produzierten Zeichen als bedeutungsvoll, nützlich und legitim erachten würde. 9 Als erstes unabhängiges und kritisches Kontrollorgan überhaupt machte Löffler (1960: 199) das Amt der Volkstribunen der römischen Republik aus. Da »Gesellschaftsweite« im zweiten vorchristlichen Jahrhundert mit der Grenze erreichbarer Interaktion zusammenfällt, kann man durchaus von einem gesamtgesellschaftlichen Wächteramt sprechen. Ihre Zumutungskapazität allerdings war eine rechtlich verliehene und symbolisch abgesicherte (Waffenlosigkeit).
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gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen wahrnehmen, die sich einer parlamentarischen Kontrolle entziehen. Folgt man den o.a. Darstellungen von Dyck et al., dann ist das Ableben dieses goldenen Zeitalters bereits etwas mehr als ein Jahrhundert alt. In dieser Zeit entwickelten sich frühe Verbreitungsmedien weiter, Fernsehen und Radio konnten ihren Sendebereich immer weiter ausdehnen. Doch natürlich ist insbesondere an die Entwicklung des Internets zu denken. Dabei muss es nun nicht um den Zusammenhang von Demokratie und Digitalisierung im Großen und Ganzen gehen. Die Untersuchung kann spezifischer ansetzen und danach fragen, welche Implikationen diese technische Entwicklung dafür hat, wie Korrekturanregungen auf den Schirm autonomer Verstehenskontexte gelangen.
VI.5 Digitale Zumutungen (seit 1970) Das Besondere an »Neuen Medien« für den hier interessierenden Zusammenhang scheint zu sein, dass Soziale Medien, Microbloggingdienste, digitale Plattformen etc. einerseits selbst als Schirme, um in dieser Metaphorik zu bleiben, autonomer Verstehenskontexte fungieren und andererseits, gewissermaßen am anderen Ende, von nahezu jedem bedient werden können. Für hieran geknüpfte Erwartungen bezüglich einer Korrektur der Gesellschaft muss aber nicht auf das 21. Jahrhundert gewartet werden. Jan-Felix Schrape (2011, 2015a) hat gezeigt, dass solche Hoffnungen schon an heute längst in Vergessenheit geratene Technologien wie die Bildkassette (1970) oder den Bildschirmtext (1980) gerichtet wurden. Seit Mitte der 1990er Jahre dominiert das Internet Vorstellungen von einer technikinduzierten Korrektur der Gesellschaft. Mit der Effektivierung der Kommunikation durch Dienste wie Facebook, WhatsApp, Snapchat, YouTube oder Twitter werden Korrekturanregungen nun selbsttätig und ohne Rückgriff auf Synthetisierungsund Distributionsstellen wie die Massenmedien gesellschaftsweit verbreitbar: »The network allows all citizens to change their relationship to the public sphere. They no longer need be consumers and passive spectators. They can become creators and primary subjects« (Benkler 2006: 272).10 Darüber hinaus werden die Onlinetechnologien als »organizing agents« beschrieben, welche die kommunikative Formierung kollektiver Protestnetzwerke durch eine neue »logic of connective action« (Bennett & Segerberg 2012, 2013) beförderten, in der sich individuelle Unzufriedenheiten ohne weitergehende Organisierungsleistungen zu sozialen Bewegungen verdichten könnten. Die Pointe hier ist, dass sich diese für wirkmächtig gehaltenen »Neuen Kräfte« ohne weitergehende Organisierungsleistungen formierten. Unschwer lässt 10 Diese Zusammenhänge diskutieren Mölders & Schrape (2017, 2019) tiefer.
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sich hier die Verbindung zu den früher diskutierten Ansätzen zur Auto-Korrektur erkennen. Gesellschaftskorrektur geschieht, sie passiert, so die Kernannahme, gerade ohne Organisation(en). Bennett & Segerberg nehmen dabei keine exotische Position ein. Viele Autor_innen bauen auf dieser Vorlage auf und sehen, dass Social Media »enanbles ›mobilizations without leaders, revolutions without organizations‹« (Flesher Fominaya & Gillan 2016: 11). Stets geht es hier um individuelle und unkonzertierte Handlungen, die ihre Wucht erst durch ein unkoordiniertes Zusammenwachsen entfalten: »petition, signing, voting, clicking, liking, sharing, and so on« (ebd.: 12; Hwang et al. 2006; Brym et al. 2014). Auch die deutschsprachige Bewegungsliteratur nimmt an, dass die »Digitalisierung der Kommunikation den wichtigsten Unterschied zu früheren Sozialen Bewegungen darstellt« (Beyer & Schnabel 2017: 198). Hier wird allerdings offengehalten, inwieweit die Verbreitung neuer Medien eine neue Qualität bedeutet, die sich dann in neuen Theorien oder gar in einem Paradigmenwechsel niederschlagen müsste (ebd.: 203). Diese Konnektivitätsthese nimmt den exakten Kontrapunkt zur vorliegenden Studie ein, insbesondere die empirische Untersuchung betreffend (Kap. VIII, IX). Dort wird sich zeigen, dass möglichst wenig dem Zufall überlassen werden soll, dabei gerade in Kenntnis darüber, keine (Durchgriffs-)Kontrolle in den eigenen Händen zu halten. Dafür muss kein neues Paradigma gestiftet werden. Gleichwohl wird damit das Plädoyer einhergehen, sich genauer anzusehen, welche Unterschiede Digitalisierung für die Organisation von Gesellschaftskorrektur macht. Wie digitale Medien eingesetzt werden, ist dann gerade kein unkoordiniertes Perpetuum mobile, sondern geht zurück auf Entscheidungen. Für die systemtheoretische Bewegungsforschung ist der Schritt womöglich größer, in Korrektiven (vgl. Kap. VII.1) strategiefähige Einheiten zu sehen, als der diskutierte Medienwandel. Wird in den soeben diskutierten Konzepten eine Beschleunigung von Korrektur postuliert, so erkennen andere in Digitalisierungsprozessen eine Beschleunigung der Korrekturbedürftigkeit. Diese umgekehrten Vorzeichen kennzeichnen die ausgesprochen populäre Beschleunigungsthese Hartmut Rosas (2005). Mit der Digitalisierung steige die Korrekturbedürftigkeit der modernen Gesellschaft und der funktional zuständigen Korrekturinstanz – der Politik – würden zugleich adäquate Antworten auf diese Herausforderungen erschwert. In seiner Beschreibung korrekturbedürftiger Folgen der gesellschaftlichen Entwicklung diagnostiziert Rosa (2016: 78f.) – der Differenzierungstheorie nicht unähnlich11 – eine »kapitalistische 11 Auch die Differenzierungstheorie postuliert, dass Funktionssysteme davon beseelt seien, ihre jeweiligen Umwelten mit immer weiterer Steigerung und weiterem Wachstum der je eigenen Funktion zu beglücken (Marcinkowski 2002: 112). Zwar diagnostiziert die Beschleunigungsthese demgegenüber maßgeblich einen neuen Geschwindigkeitstypus; sie gewinnt ihre gesellschaftstheoretische Relevanz ebenso erst durch die hinzugezogene Annahme unterschiedlicher Eigenzeiten in den entsprechenden gesellschaftlichen Kontexten (Laux & Rosa 2015: 54ff.), die
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Steigerungsmoderne«. In die heutigen »Funktionsweisen der Wissenschaft, der Massenmedien, des Rechts und der Politik« sei eine universale Steigerungsorientierung »als struktureller Zwang« eingeschrieben; generalisiert auf »die soziale Formation der Moderne als Ganzes« bestimme sie »das orientierungsstiftende, operative Normensystem ebenso wie die Allokationsmechanismen der Gesellschaft«. Diese Steigerungslogik erzwinge entfremdete Weltbeziehungen, denn mit ihr entstünde das Gefühl, die soziopolitische Welt antworte nicht mehr auf Anfragen bzw. könne sich stets auf Sachzwänge berufen, wodurch sich der Einzelne unverbunden mit dieser Sphäre fühle, sie nur als fremden Kontext erlebe – und Anfragen verstummten. Diese entfremdeten Weltbeziehungen seien aber nicht bloß abhängige Variablen, sondern bildeten »zugleich das soziokulturelle Fundament der gesellschaftlichen und sozioökonomischen Formation« (ebd.). Konkret formuliert: Die kapitalistische Steigerungsmoderne sei nicht nur Ursache, sondern auch Folge und materiales Korrelat des spezifisch modernen Weltverhältnisses; die ineinander wirkenden Dynamiken der Steigerungsorientierung und Entfremdung begründen aus dieser Perspektive die beschleunigte Korrekturbedürftigkeit der Gesellschaft. Das Konstatieren des »Universaltrends Steigerung« mündet bei Rosa im Primat der Politik als zentrale Korrekturinstanz. Dieses Primat sei gerade kein »semantisches Überbleibsel ›Alteuropas‹, wie die Systemtheorie nahelegt, sondern die gleichsam funktional unverzichtbare Voraussetzung dafür, eine konstitutive und unüberwindliche Entfremdung […] zwischen den Subjekten und der sozialen Welt zu vermeiden« (ebd.: 380), und überdies kulturell wie verfassungsrechtlich verankert. Das ebenso einer Steigerungslogik unterworfene Recht dient der Politik aus dieser Beobachtungswarte also vorrangig als Erfüllungsgarant zur Entfremdungsvermeidung. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe würde »unter dem Druck von Börsentickern, multinationalen Konzernen, Onlineredaktionen oder in ›Echtzeit‹ kommunizierenden sozialen Netzwerken« (Laux & Rosa 2015: 53) allerdings weiter erschwert. Der Blick richtet sich stets, der Primat-These geschuldet, auf die Politik. (Digitale) Medien verketten Umweltereignisse rascher mit ihren Strukturen als die Politik das kann, woraus die Beschleunigungstheorie die These ableitet, dass Medien die Politik an ihr Tempo heranzuführen trachteten und die Kurzfristigkeit des Politischen durch die Digitalisierung in erneut kürzere Kontingente eingelassen würde. Oftmals positiv eingefasste sogenannte und weiter unten vertiefte »social media rebellions« wie der »Arabische Frühling« (Fuchs 2015: 354) erscheinen mit Rosas Verständnis demokratischer Politik als Resonanzsphäre unvereinbar bzw. tragen eher noch zur fortschreitenden Entfremdung und damit Korrekturbedürftigkeit der Gesellschaft bei: Heute sei es zwar »leicht möglich, gewaltige, grenzüberschreitende politische Erregungs-, Empörungs- und Mobilisieals »distinkte Zeitregime aufeinanderprallen, interferieren und in Konflikt miteinander geraten« (ebd.: 58; Nassehi 2011).
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rungswellen zu generieren« (Rosa 2016: 378f.), daraus folgten aber keine wesentlichen strukturellen Konsequenzen. Eine medial hochvernetzte Welt sei im Gegenteil kontraproduktiv, um genuine kollektive Selbstwirksamkeit zu erfahren. Damit ist Luhmanns (1997: 404f.) Formulierung, öffentliche Empörung sei leicht zu haben, woraus aber gerade nicht folge, was praktisch wirksam zu tun sei, treffend paraphrasiert. Ein weiteres Lager weist vor allem auf die Inflationierung des Mediums der Publizität hin. Allein die schiere Vielzahl umstandslos verfügbarer Publikationskanäle nehme Veröffentlichtem den Zumutungsgehalt, erlaube vergleichsweise einfaches Ignorieren. Wie soll aus einer Publikation ein Druckerzeugnis werden, wenn als gesichert gelten kann, dass andere und womöglich entgegengesetzte Inhalte ebenfalls irgendwo im Netz zu finden sein werden? Was zudem als tatsächliche Nutzung der verheißungsvollen Dienste auffalle, lasse sich akkurater als Fragmentierung oder auch Balkanisierung der Öffentlichkeit beschreiben (Sunstein 2001; Davis 2005; Schrape 2015a; Dolata & Schrape 2016). Die These der Fragmentierung nimmt an, dass Soziale Medien nur dann Einfluss ausüben können, wenn es ihnen gelingt, die Aufmerksamkeit klassischer Medien zu gewinnen (Habermas 2006; Imhof 2015). Vielfach geprüft wurde dieser Einfluss Sozialer Medien am Beispiel des »Arabischen Frühlings« bzw. der »Arabellion«. Anfangs als Facebook- bzw. TwitterRevolution bezeichnet, machten Beobachter_innen mit etwas größerem zeitlichen Abstand andere Einflussfaktoren als das Verfügen über Social Media-Accounts aus. Hier wird konstatiert, dass Publizität sich erst entfaltete, als die privaten Fernsehsender Al-Jazeera und Al-Arabiya ausgewähltes Bildmaterial aus Social Media-Kanälen verbreiteten. Außerdem wurden die Regimewechsel dann nicht mehr durch Aktivist_innen getragen, sondern durch gut organisierte soziale Einheiten wie das Militär und die Muslimbruderschaft (Tufekçi & Wilson 2012; Alexander & Aourag 2014). Kentaro Toyama (2015) hat die These aufgestellt, dass Technologie menschliche Kräfte (»human forces«) lediglich verstärken kann (»amplification thesis«). So ließe sich erklären, warum Social Media in einigen Ländern zum Erfolg einer Revolution beitragen konnte, in anderen aber nicht. Bezieht man den Faktor »organisierte Zivilgesellschaft« ein, so sei leicht zu sehen, wie Social Media diese in Tunesien und Ägypten verstärken konnte, in Bahrain und Saudi-Arabien Technik allein aber nichts Vergleichbares auszurichten vermochte. Social Media, so schließt Toyama, könnten ein unterstützender Faktor sein, nicht aber eine primäre Ursache diesbezüglich darstellen. Die Thesen der Fragmentierung und der Amplifikation nehmen an, dass die bloße Verfügbarkeit solcher Technologien nutzlos sei, ihre potentielle Wirkmächtigkeit von vorgängigen Bedingungen abhinge: von traditionellen Massenmedien im einen, von einer organisierten Zivilgesellschaft im anderen Fall.
VI. Publizität als Korrekturmedium
Im Vergleich zu den Anfangsjahren der arabischen Revolutionszeit mit heutigen Bedingungen macht Jessi Hempel (2016) noch einen weiteren Unterschied aus. Die Unternehmungen um 2011 konnten auch deswegen vergleichsweise erfolgreich sein, weil die betreffenden autoritären Regime seinerzeit nicht viel von Social Media verstanden. Die hierzu verwendeten Werkzeuge, allen voran eben Facebook und Twitter, seien auch nur so gut oder so schlecht, wie diejenigen, die sie benutzten. Die Regime dieser Region aber hätten die Zwischenzeit genutzt, um ihrerseits Social Media für ihre Zwecke einsatzfähig zu gestalten. Wenn die interessierende Frage in diesem Zusammenhang unverändert lautet, wie Korrekturanregungen die Aufmerksamkeitsschirme autonomer Verstehenskontexte erreichen, ist zu fragen, was sich diesbezüglich im »digitalen Zeitalter« verändert hat. Ebendieser Frage hat sich Diógenes Lycarião (2015) angenommen. Im Fluss politischer Kommunikation (»the flow of political communication«) scheint die Antwort hierauf zu sein: vieles ist beim Alten geblieben. Auf das klassische Modell von Elihu Katz & Paul Lazarsfeld (2006|1955) rekurrierend, führt Lycarião das eines »two‐step flow of communication« ein. In einem ersten Schritt verbreiten sich Ideen von Radio und Print zu Meinungsführer_innen (»opinion leaders«). Der zweite Schritt bezieht sich auf die Ideendiffusion zu weniger aktiven Teilen einer gegebenen Population. Seine These ist nun, dass dieser Fluss unverändert geblieben ist, sich lediglich in anderen Medien abspiele. Das klassische sowie das aktualisierte Flussmodell setzt Meinungsführende an eine zentrale Stelle. Denn die Annahme ist, dass ohne ihre Verbreitungsfähigkeit das »publicity principle« (Parkinson 2006) nicht funktioniere. Exakt deswegen seien die weniger aktiven Teile wichtig, sie sind als Masse von Bedeutung, ein nur durch Massenmedien herzustellendes großes Publikum werde gebraucht »to exert an influence on the deliberation of decisions makers and prevent them from making decisions that are difficult to justify publicly and can be expected to find widespread disapproval in media discourse« (Wessler 2008: 6). Folgt man nun Lycarião, kennen Meinungsführende gewissermaßen die Zugangsdaten, um Mitteilungen auf relevanten Schirmen auftauchen zu lassen. Was, so lässt sich nun unter Rekurs auf Stichwehs begrifflichen Vorschlag fragen, fungiert als Spiegel zweiter Ordnung für Meinungsführende? Einerseits informierten diese sich tatsächlich zunehmend über Blogs oder Social Networkings Sites (SNS), dies ist der Eintrittspunkt Neuer Medien. Andererseits aber ließe sich zeigen, dass der dort konsumierte und geteilte (»shared«) Inhalt (»content«) im Wesentlichen auf Angebote traditioneller Medien, vor allem der »quality press« zurückgehe (Lycarião 2015: 8f.).12 Genau dieser Umstand lässt ihn folgern: 12 Für Deutschland betonen Schenk & Mangold (2011) die große Bedeutung der Qualitätspresse (und ihrer Digitalangebote) für Meinungsführende. Für Europa kommen Pfetsch et al. (2010) zu ähnlichen Ergebnissen.
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»in short, old wine in new bottles. It is the same wine because the media system is yet responsible for making the public agenda discernible, for the production of visibility and therefore for arranging the cognitive and symbolic resources that promote the self‐understanding of highly differentiated societies« (ebd.). Für Korrekturanregungen im Medium der Publizität sei der Wirkmechanismus im Grunde vom medialen Wandel unbeeinträchtigt. Es gelte, die publizistischen Orte zu erreichen, an denen sich relevante Andere bzw. Meinungsführende orientieren. Gegenwärtig komme dies eben noch mit den Angeboten traditioneller Massenmedien zur Deckung. Dies mag eine künftig offene »Frage der Generation« sein, die wiederum andere für längst beantwortet halten (vgl. Schulz 2016). Unzweifelhaft aber gibt es sehr viel mehr potentielle Spiegel zweiter Ordnung. An der vor einem Jahrhundert bereits konstatierten Skandalübersättigung des Publikums dürfte sich jedenfalls wenig zum Guten verändert haben. Formal gesprochen gibt es zwei Möglichkeiten, mit dieser erschwerten Lage für orientierende Publizität umzugehen. Zum einen kann die Erwartung selbst angepasst und also aufgegeben werden. Selbst gesellschaftliche Korrekturen anzustoßen, wäre dann nicht mehr von beispielsweise sich als Vierte Gewalt verstehenden Investigativ-Journalist_innen zu erwarten. Genau dies ist, wie das nächste Kapitel zeigen wird, auf der Ebene der Fremdbeschreibung zu finden. Die Formel »Kontrolle und Kritik« bezeichnet dann das Aufgabenspektrum einer Vierten Gewalt, wie die aus Kontrolle und Kritik entstehenden Produkte andernorts verarbeitet werden, ist dann nicht mehr aufgerufen. Eine zweite Möglichkeit liegt darin, an der Erwartung festzuhalten, zu ihrer Erfüllung aber zu anderen Mitteln zu greifen. Zu Mitteln zu greifen impliziert bereits, dass dies weder planlos noch im Vertrauen auf die Tatkraft anderer »einfach passiert«, wie etwa die o.a. Konnektivitätsthese suggeriert. Stattdessen, so der Kern des nachstehenden Kapitels, wird in der Korrektur der Gesellschaft möglichst wenig dem Zufall überlassen, wozu die Form der Organisation und der Prozess des Organisierens herangezogen werden.
VII. Zur Organisation von Gesellschaftskorrektur
Gleich zu Beginn wurde die zentrale Fragestellung der vorliegenden Untersuchung wie folgt angekündigt: Wie werden zur Bearbeitung gesellschaftlicher Folgen funktionaler Differenzierung Irritationen in Informationen umgewandelt? Eine erste, eher vage hierzu formulierbare These lautet inzwischen, dies geschehe auf organisierte Art und Weise. Zwar können Korrekturen auch in performativen Kopierfehlern – »im Kleinen« (Kap. III.7) – ihren Ausgang nehmen, doch früher oder später landen Korrekturanfragen auf den Aufmerksamkeitsschirmen von Organisationen. Bei diesem prinzipiellen Argument muss es nicht bleiben. Stattdessen lässt sich behaupten, dass es Organisationen sind, in denen Übersetzungsarbeit geleistet wird, die Korrekturanfragen entgegennehmen und absetzen. Cristina Besio (2014) spricht sogar davon, dass es gerade Organisationen seien, die zwischen unterschiedlichen Logiken vermitteln und damit Differenzierungsfolgen abfedern können. Äußere Einflüsse werden von Organisationen selegiert, gefiltert und sich anverwandelt, wofür Besio (ebd.: 95f.) den Begriff der Respezifikation vorsieht. Hierdurch machen sie einprasselnde Umwelt für sich lesbar und verändern und gestalten ihrerseits ihre Umwelt. Die pragmatistische Differenzierungstheorie bezeichnet Organisationen, wie oben (Kap. III.5) beschrieben, als »Verteilerköpfe«. In ihnen werden funktionssystemische Imperative kleingearbeitet, gleichermaßen sind es wiederum Organisationen, die erst dafür sorgen, dass von Personen oder Milieus vorgebrachte Anregungen systemisch generalisierend übersetzt werden. Für die Systemtheorie sind Organisationen ohnehin die einzig adressablen1 Sozialsysteme, hierauf zielte ja Fuchsʼ Plädoyer, Gesellschaftskritik als Organisationskritik einzurichten. Kette & Tacke hatten ergänzt, dass Organisationen als Autorinnen wie als Adressatinnen kritischer Kommunikation zu beachten seien. Auch jenseits der exklusiven Adressierbarkeit von Organisationssystemen spricht ein weiteres pragmatisches Argument für diese Ebene. Ihre im Medium der Publizität vorgebrachte Korrekturkommunikation muss (öffentlich) sichtbar sein, sie kann ihren Zumutungsgehalt andernfalls nicht entfalten; ebendies ist in 1 Zur Adressabilität von Psychen siehe Balgo (2015).
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Habermasʼ Verweis auf ein Wörtlichnehmen der »Öffentlichkeitsarbeit« impliziert. Für die später anstehenden empirischen Kapitel (VIII, IX) erwächst hieraus der maßgebliche Vorteil der Rekonstruierbarkeit. Weil das Medium der Publizität gewählt wird, kann daran überhaupt erst untersucht werden, wie Informationen derart mit Zumutungsgehalt angereichert werden. Einflussgesuchen im Medium der Interaktion ist insbesondere empirisch oft schwer beizukommen bzw. beizuwohnen. Somit wird hier nicht bloß einem empirischen Fatalismus das Wort geredet – es gäbe schließlich keine anderen Adressen. Positiv formuliert wird es nun darum gehen, dass Gesellschaftskorrektur als organisierbare Aufgabe erscheint. Auskunft darüber zu geben, wie ebendies prozessiert wird, ist Aufgabe des Nachstehenden. Dass dies keineswegs trivial ist, erscheint angesichts der im vorangegangenen Kapitel eingeführten Konnektivitätsthese offenkundig. Diese machte es schließlich geradezu als Kennzeichen der modernen Gesellschaftskorrektur aus, auf Organisation(en) weitestgehend verzichten zu können. Im Lichte der bisherigen Argumentation erscheint die Ebene der Organisation ohnehin merkwürdig unterrepräsentiert. Mit den »kleinen Korrekturen« (Kap. III.7) wurden Möglichkeiten diskutiert, zu lokalen Lösungen zu kommen, die dann einer Diffusionsfrage überantwortet werden. Anschließend wurden die Verhältnisse beinahe auf den Kopf gestellt, als im vierten Kapitel Ansätze untersucht wurden, die selbstkorrigierende Anpassungen auf der Ebene von Funktionssystemen ausmachten. Der folgende Abschnitt zu den »Korrektiven der Gesellschaft« wird keineswegs ausschließlich Organisationen behandeln. Hierin wird es auch etwa um sogenannte »formlose Aktionen« gehen, um Kundgebungen, Proteste, Märsche, Demonstrationen und außergewerkschaftliche Streiks. Dass die vorliegende Studie sich auch weiterhin dennoch auf Organisationen beruft, kann, wie skizziert, pragmatisch und pragmatistisch begründet werden. Was oben als Exempel formloser Aktionen herhielt, muss dann erst gar nicht in ein Widerspruchsverhältnis gebracht werden, wenn es sich empirisch als Aspekt der Organisation von Gesellschaftskorrektur zeigt. Über die Korrekturorganisation hinaus wird anschließend das Konzept der Irritationsgestaltung eingeführt. Mit diesem lässt sich theoretisch besser fassen, dass sich Organisationen empirisch darauf eingestellt haben, auf Durchgriffskausalität verzichten zu müssen. Dass und warum der gemeinnützige InvestigativJournalismus ein besonders aussagekräftiges Untersuchungsfeld abgibt, wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels begründet.
VII. Zur Organisation von Gesellschaftskorrektur
VII.1 Die Korrektive der Gesellschaft Gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu beobachten und im Medium der Publizität zu ihrer Behebung beizutragen, liest sich wie eine Definition Vierter Gewalt. Eher Regel als Ausnahme dürfte es sein, bei diesem Ausdruck zunächst an Presseerzeugnisse zu denken. Doch weder diese Exklusivität noch die scheinbar zugehörige Selbstverständlichkeit lässt sich historisch aufrechterhalten. Die Figur einer die Staatsgewalt(en) kontrollierend beobachtenden Vierten Gewalt wird gemeinhin auf Jean-Jacques Rousseau zurückgeführt (vgl. Bidlo 2012). Hugo de Burgh (2008) wählt einen anderen Zugang, wenn er den Englischen Bürgerkrieg (1642-1649) insofern als Weichen stellend benennt, als hier zum ersten Mal die Möglichkeit konkurrierender Ereignisbeobachtung dokumentiert ist. Hiermit kommt zudem das Konzept des Augenzeugen in die Welt, noch bevor die Aufklärung den Szientismus befördert. Doch damit eine Vierte Gewalt entstehen konnte, die über Kontrolle und Kritik hinaus Korrekturen anmahnt, waren weitere Entwicklungen notwendig. Vor Mitte des 19. Jahrhunderts sind vom politischen Zentrum unabhängige Zeitungen faktisch unmöglich.2 Erst eine informationshungrige und an Einfluss gewinnende Bourgeoisie meldete einen Bedarf an Orten schriftlich verbreitbarer Debatten an und fand diese in der englischen Times. Für die Idee des Reporters als jemandem, der hinausgeht, um herauszufinden, was tatsächlich passiert, macht de Burgh (ebd.: 40) erneut einen Krieg als initiierend aus. Als Times-Korrespondent berichtet William Howard Russell vom Krimkrieg (1853-1856) und deckt dabei auf, wie ineffizient die britische Marine im Vergleich zur französischen operiere. Die medizinische Versorgung sowie die Organisation von Nachschub würden es den Briten unmöglich machen, diesen Krieg zu gewinnen. Russells Berichterstattung wurde in der Folge zum ersten Beispiel von durch Enthüllungen initiiertem politischen Wandel: Die Regierung kam zu Fall, das Amt des Kriegsministers wurde geschaffen, die medizinische Truppenversorgung als kriegsentscheidend erkannt (vgl. Requate 2003: 63). Demzufolge überrascht es nicht, dass auch Habermas (1962: 122ff.) in seiner Studie das Ideal einer bürgerlichen Öffentlichkeit am Modellfall der englischen Entwicklung untersucht. Im Deutschsprachigen wird das Konzept der Vierten Gewalt erst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sichtbar. Es tritt auf im Rahmen der Forderung nach einem neuen Pressegesetz mit Verfassungsrang. Federführend ist dabei der österreichische Rechtsphilosoph René Marcic. Als Vertreter einer kritischen Naturrechtslehre kennzeichnet sein Schaffen die Vorstellung, dass 2 Zwar konstatiert Hannes Wimmer (2000: 477ff.) schon für die 1640er Jahre den Zusammenbruch der Regierungskontrolle über die Druckerpressen, die Stamp Tax aber, die Stempelsteuer auf Zeitungspapier, wird erst 1855 abgeschafft.
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sich der Gemeinwille von unten nach oben bilden solle: Je verantwortungsbewusster der Einzelne, desto weniger habe sich der Staat zu kümmern. Als zugehörige Grundvoraussetzung erkannte Marcic (1957: 445) die Belebung und Pflege der Freude des einzelnen Menschen an der Eigeninitiative. Hierzu müsse an Universitäten, in Filmen und Theaterstücken und auch in Presse, Rundfunk und Fernsehen angeregt werden. Ebendies sei die wirklich große Aufgabe »für den Denker, für den Forscher, für den Gelehrten […], Schriftsteller und Publizisten, aber auch für den Beamten, der das Recht und die Sache des Staates verwaltet, und für den Richter, wenn er Recht spricht« (ebd.: 449). Wie zeitgemäß diese Aufgabe erscheint, wird Gegenstand von Kap. IX.2 sein. In seiner »Skizze einer Magna Charta der Presse« erkennt Marcic (1955) drei staatspolitische Funktionen der Presse: Initiative, Kontrolle und Kritik. Der Verfassungsrang sei unabdingbar, da es sich bei diesen Funktionen um genuin öffentliche Aufgaben handele, »indem sie die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß unterrichtet, politische Maßnahmen anregt (Initiative), sachlich Kritik übt und die Rechtmäßigkeit des Staatslebens (Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung) überwacht (Kontrolle)« (ebd.: 195). Was im Abschnitt VI.4 als Impact der frühen muckraker bezeichnet wurde, findet hier eine Entsprechung in der Funktion der Initiative, verstanden als das Anregen politischer Maßnahmen durch wahrheitsgemäßes Unterrichten der Öffentlichkeit. Dabei ging es insbesondere um das Einhegen des Staatsapparats, was durch ein Argument begründet wird, in dem Systemtheoretiker_innen die Hypostasierung der Funktion des politischen Systems leicht entdecken können: »Die politischen Kräfte, die an der Macht sind, würden widernatürlich handeln, wenn sie nicht die Gelegenheit, die sich ihnen im Kampf gegeneinander und im gemeinsamen Kampf gegen außenstehende Faktoren bietet, reichlich nützten!« (ebd.) Auffällig ist, bei aller Betonung der Einhegungsbedürftigkeit der »Ersten Drei Gewalten«, dass Vierte Gewalt von Beginn an als Kontrolleurin, Kritikerin und Initiatorin des gesamten Gesellschaftsbetriebs aufgefasst wird. Bei Marcic ist schon von politischer, wissenschaftlicher und Kunstkritik die Rede, Martin Löfflers (1960: 200) »Verfassungsauftrag der Publizistik« betont das »Wächteramt gegenüber Staat und Wirtschaft«. Anhand dieser drei »staatspolitischen Funktionen« lässt sich, so behaupte ich, eine gegenwärtig gültige wie brauchbare Definition gesellschaftlicher Korrektive gewinnen. Von solchen ist im Folgenden immer dann die Rede, wenn andere Gesellschaftsbereiche, von denen keiner von vornherein ausgeschlossen ist, nach Fehlerbeseitigung oder auch Verbesserungspotentialen abgesucht (Kontrolle), entsprechende Entdeckungen öffentlich und explizit kundgetan (Kritik) und zumindest Überlegungen über Wege angestellt werden, auf denen Kontrolle und Kritik ihre Ziele finden könnten, sich jedenfalls mit dem Kritisieren des Kontrollierten nicht zufrieden zu geben (Initiative).
VII. Zur Organisation von Gesellschaftskorrektur
Bemerkenswert ist ferner, dass Marcic (1957: 394) wie selbstverständlich davon ausgeht, dass mit Vierter Gewalt zunächst alles Außerparlamentarische gemeint ist: »Gewerkschaften, Interessenverbände, Kammern, Betriebsgemeinschaften, Leistungsgemeinschaften mit ständischen Merkmalen und der verschiedenen Genossenschaftsformen auf der einen Seite – und formlose[r] außerparlamentarische[r] Aktionen, wie: Kundgebungen, Proteste, Märsche, Demonstrationen und außergewerkschaftliche Streiks, also Aktionen, hinter denen keine greifbaren Organisationen sichtbar stehen.« Zu einer solchen Gewalt solle, so Marcic (ebd.: 395), auch die parteiunabhängige Presse gehören. Die gegenwärtige Tendenz, Presse und Vierte Gewalt synonym zu verwenden, hat ihren Ursprung also in der Forderung, Presse als dem Außerparlamentarischen ebenbürtig anzuerkennen. Der eingeforderte Verfassungsrang hatte aber nicht nur staatstheoretische, sondern auch praktische Implikationen. Weil es der Publizistik um öffentliche Aufgaben zu tun sei, forderte Löffler (1960: 197), dass Publizist_innen dasselbe Recht zukomme wie »dem Geistlichen, dem Anwalt, dem Steuerberater, dem Arzt, dem Apotheker, der Hebamme und dem Parlamentarier […] das gleiche volle Recht auf Wahrung des Berufsgeheimnisses«.3 Wenn die Vierte Gewalt (auch) den Staat kontrollieren und kritisieren soll, dann darf der Kontrollierte und Kritisierte nicht einfordern preiszugeben, wie sie an der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellte, wahrheitsgemäße Informationen gekommen ist. Schon bei Löffler, also drei bzw. fünf Jahre nach Marcics ersten Erörterungen, wird die Funktion der Initiative getilgt. Fortan ist diesbezüglich ausschließlich von Kontrolle und Kritik die Rede, auch noch in den gegenwärtig gültigen Standardwerken von Armin Scholl und Siegfried Weischenberg (1998) oder Ulrich Sarcinelli (1992).4 Im Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 19585 wird die Pressefreiheit noch als vom Grundrecht auf freie Meinungsäuße-
3 H. Wagner (2007) prüft Marcics und Löfflers Verständnis Vierter Gewalt kritisch. 4 Zu vermuten steht, dass der Siegeszug des Begriffspaars von Kontrolle und Kritik durch die den »Fourth Estate« begründende Formulierung des zeitweiligen Times-Redakteurs Henry Reeve (1855: 249f.) geebnet wurde: »Journalism, therefore, is not the instrument by which various divisions of the ruling classes express themselves; it is rather the instrument by means of which the aggregate intelligence of the nation criticises and controls them all. It is indeed the ›Fourth Estate‹ of the Realm […].« 5 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51 – Rn. (1-75), www.bverfg.de/e/rs19580115_1bvr040051.html.
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rung bereits abgedeckt betrachtet. Erst am 25. April 19726 urteilt das Bundesverfassungsgericht dann, dass »die freie geistige Auseinandersetzung ein Lebenselement der freiheitlichen demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik und für diese Ordnung schlechthin konstituierend [ist]. Sie beruht entscheidend auf der Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, die als gleichwertige Garanten selbständig nebeneinander stehen.« Erst aus dieser Form der grundgesetzlich geschützten Pressefreiheit konnte dann abgeleitet werden, dass das Zeugnisverweigerungsrecht auch für Journalist_innen in Anschlag zu bringen sei; das »Gesetz vom 25.07.1975 über das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter von Presse und Rundfunk« ist seit dem 1.8.1975 in Kraft7 (§ 53 Abs. 1 Nr. 5 der Strafprozessordnung): »Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken, Rundfunksendungen, Filmberichten oder der Unterrichtung oder Meinungsbildung dienenden Informationsund Kommunikationsdiensten berufsmäßig mitwirken oder mitgewirkt haben.« Um ihrer gesellschaftlichen Aufgabe gerecht werden zu können, ein tendenziell gesamtgesellschaftliches Wächteramt auszuüben, wurde der Vierten Gewalt zugestanden, Geheimnisse für sich behalten zu dürfen. Als Abwehrrecht war dies (selbstredend) »den Fangarmen des Riesenkraken Staat« (Marcic 1955: 194) gegenüber konzipiert worden. Im weiteren Verlauf (Kap. IX.1) wird sich zeigen, dass gegenwärtig auch anderweitige Zugriffsversuche zu beobachten sind, und zwar von der außerparlamentarischen Seite aus, die Marcic den Mächtigen noch entgegengestellt hatte. Die Kongruenz von Marcics Liste Vierter Gewalten mit der Aufzählung der Instanzen zivilgesellschaftlicher Gegenmacht bei Teubner (2010, 2011a, b, 2015) ist frappierend. Schon deswegen bieten sich Medien, Gewerkschaften, Proteste, Bewegungen usw. zur Untersuchung der Korrektive der Gesellschaft an. Teubner allerdings sah deren Druckhoheit darin begründet, dass ihre Grenzen so wenig mit nationalstaatlichen zusammenfielen wie die der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung. Zu Übersetzungen, die auf die Korrektur gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zielen, kann angeregt werden. Doch gilt es unmittelbar anzufügen, dass mit so zahlreichen differenzierten, je mit eigener Informationsverarbeitung ausgestatteten Verstehenskontexten zu rechnen ist, dass etappenreiche Übersetzungskaska6 Mit Löffler (1960) lässt sich hierin auch ein Anschluss an das Reichspressegesetz »von 1874 mit dem Begriff der ›formellen Pressefreiheit‹« erkennen. Für das Urteil von 1972 siehe www.servat.unibe.ch/dfr/bv033052.html. 7 www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl175s1973.pdf. Seit 2002 (in Kraft) sind nun auch Mitarbeiter_innen nicht‐periodisch erscheinender Medien eingeschlossen: http://initiative‐tageszeitung.de/lexikon/zeugnisverweigerungsrecht/.
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den – mit der unvermeidlichen »Anarchie der Nebenfolgen« – unumgänglich scheinen. Ferner war zu konstatieren, dass autonome Systeme sich bereits selbst und eigensinnig um Korrekturen kümmern. Darüber hinaus müssen die Folgen funktionaler Differenzierung als globalisierte Probleme gelten, das sogenannte Zeitalter der Digitalisierung erschwert, zumindest angesichts der Kanalmultiplikation, überdies den Einsatz des Mediums der Publizität. Dies kennzeichnet nun die Bedingungen, unter denen die gegenwärtigen Korrektive der Gesellschaft zu operieren haben, wenn sie über Kontrolle und Kritik hinaus auch die vermeintlich in Vergessenheit geratene dritte Funktion Vierter Gewalt praktizieren: die Initiative. Die den folgenden Abschnitt anleitende These sieht vor, dass die Korrektive der Gesellschaft in einer derart grenzsensiblen Art und Weise die Initiative ergreifen, dass sich ob ihrer Beobachtung die Entwicklung eines Konzepts der Irritationsgestaltung aufdrängt.
VII.2 Irritationsgestaltung Oft schon wurde im bisherigen Verlauf von Marcinkowskis (1993) Wendung einer »Anreicherung von Zumutungsgehalt« Gebrauch gemacht. Zumutung meint dabei, nicht umhinzukommen, sich mit etwas zu beschäftigen. Es zielt gerade nicht auf Durchgriff ab, sondern auf den Effekt, sich von etwas in einem Maße beeinträchtigt zu sehen, dass ein Normalablauf für den Moment unmöglich erscheint. Exakt dies paraphrasiert Luhmanns (1997: 791) Irritationsbegriff. Dieser ist vergleichsweise schlank definiert: »Um für Irritation offen zu sein, sind Sinnstrukturen so gebaut, daß sie Erwartungshorizonte bilden, die mit Redundanzen, also mit Wiederholung desselben in anderen Situationen rechnen. Irritationen werden dann in der Form von enttäuschten Erwartungen registriert. Dabei kann es sich um positive und um negative, um freudige und um leidige Überraschungen handeln. In beiden Fällen geht es einerseits um momentane Inkonsistenzen, die auch vergessen werden können; man sieht die Konsequenzen nicht oder verdrängt sie. Andererseits kann die Irritation aber auch eigene Wiederholbarkeit anmelden und auf dieser Ebene zu den Erwartungsstrukturen des Systems in Widerspruch treten.« Welche der zahllosen Kommunikationen aus der Umwelt eines Systems die Qualität einer Irritation aufweisen, zeigt sich, diesem Verständnis folgend, immer erst im Anschluss. Erst wenn eine normale, strukturell vorgezeichnete Operationsabfolge nicht wie gewohnt exekutiert wird, sondern zunächst einmal unklar ist, wie angeschlossen werden kann, fällt eine Information als Irritation auf. Klar ist nur, dass der routinierte Weg einer Informationsverarbeitung in diesem Fall nicht gangbar ist. Allerdings ist daraus kein Veränderungsautomatismus abzuleiten. Irritationen
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setzen, hierauf weist Stäheli (2000: 43) entschieden hin, immer schon Übersetzungsprozesse voraus, die letztlich darüber im Unklaren lassen, was eigentlich übersetzt werden soll. Zudem aber fällt die merkwürdige Wendung auf, Irritationen könnten eigene Wiederholbarkeit anmelden. So erratisch diese Aussage erscheint, muss es sich doch um Fälle handeln, in denen es für ein fokussiertes System erwartbar schwieriger wird, solche Kommunikationen als lediglich momentane Inkonsistenzen zu behandeln. Ebendies ist der Ankerpunkt für das Konzept der Irritationsgestaltung: Kommunikationen an der Erwartung zu orientieren, es dem Adressierten möglichst zu erschweren, sie als situativ und ignorierbar auszublenden. Wie dies erschwert werden kann, ist das Moment der Gestaltbarkeit. Mit der hier vorgeschlagenen Erweiterung einer Irritationsgestaltung ist also angezeigt, dass der Verarbeitungsaspekt unverändert jenseits der Kapazitäten des Irritierenden liegt, es geht folglich nicht, Fuchs (2013) aufnehmend, um Durchgriffs-, sondern um Auslösekausalität; es kann nur irritiert werden. Auf dieser Grundlage aber lässt sich zusätzlich annehmen, dass unterschiedlich wirksam (und gekonnt) irritiert werden kann. Genau diese Kombination versucht der Begriff der Irritationsgestaltung in sich zu vereinen: Es kann nur irritiert werden, dies allerdings in unterschiedlicher Qualität. Gestaltung mag als Fremdkörper innerhalb der systemtheoretischen Terminologie erscheinen. Gleichwohl sei daran erinnert, dass Luhmann (2011|1975: 8) selbst darauf hinwies, dass man aber sehr wohl annehmen könne, dass »eine gezielte Änderung von Systemen durch Systeme« ganz andere Probleme stelle, aber auch ganz andere Chancen böte. Worauf aber bezieht sich diese unterschiedliche Qualität? Damit ist zunächst offensichtlich schon die erwartbare Reaktion angesprochen. Mit Irritation ist zunächst nicht mehr gemeint als eine ins Stocken geratene Erwartungsstruktur. Von den unzähligen auf Systeme einprasselnden Informationen tauchen nur wenige auf deren Schirm auf, ist nur bei wenigen unklar, wie hieran anzuschließen ist. Die Literatur sieht drei Fortsetzungsmöglichkeiten vor. Diese sind in auffallend ähnlicher Weise zu den drei Phasen eines Äquilibrationsprozesses in der genetischen Epistemologie Jean Piagets (1976) gebaut.8 Eine erste Reaktion ist das Ignorieren solcher Störungen; die Irritation wird nach »einer logischen Sekunde Anarchie« (Luhmann 2011|1975: 12) als momentane Inkonsistenz verbucht. Piaget bezeichnet diese als α-Phase eines Äquilibrationsprozesses, alles ist dem »Primat der Affirmation« untergeordnet (vgl. Kap. VI.1). Es geht einzig und allein um das Bestätigen des bereits Aufgebauten. Dies ändert sich zum Teil in der zweiten Phase. Noch immer ist das System bestrebt, etablierte Schemata bzw. Problemlösungsroutinen aufrechtzuerhalten, es gelingt aber nicht länger, nichts zu unternehmen. Diese β-Phase kennzeichnet, 8 Ohne diese und andere Referenzen kommt Gerhard Preyer (2013: 21) zu denselben drei Optionen.
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dass zur Integration einer Störung neue Schemata ausgebildet werden; hiernach läuft das Bewährte ungestört weiter. Hierzu gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Stichweh (2004: 193) verweist etwa darauf, dass Störungen mit Verweis auf kontradiktorische Impulse gegeneinander ausgespielt werden können. In Piagets Experimenten zeigt sich diese Phase in dem Hinweis der Probanden, die Störung sei darauf zurückzuführen, dass etwas übersehen oder vergessen wurde. Das ausgebildete Neue hat, das ist das Entscheidende, die Funktion, das ins Stocken geratene Alte hiernach wieder reibungslos operieren zu lassen. Ein organisationssoziologisches Paradebeispiel ist die Fassadenkorrektur (Kühl 2011: 136ff.). Zwar entsteht zum Beispiel mit dem Umweltbeauftragten womöglich eine neue Zuständigkeit, diese wird aber nur geschaffen, um den operativen Kern unverändert weiterlaufen zu lassen: business as usual. Erst im dritten Schritt werden die Problemlösungsroutinen dem Problem angepasst (und nicht länger umgekehrt). Das alte Assimilationsschema wird in der γ-Phase endgültig so transformiert, dass die Störung keine mehr ist. Die Irritation wird, in Luhmanns (1997: 791) Formulierung, durch angepasste Strukturen konsumiert, die Störung in einer sie synthetisierenden Reaktion aufgenommen (Stichweh 2004: 193). Die vorgenommenen Bestimmungen beziehen sich noch ganz allgemein auf System‐zu-System-Beziehungen. Im Folgenden wird es nun um die Irritationsgestaltung gesellschaftlicher Korrektive gehen. Wie wird zur Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung angeregt? Wie wird versucht, solche Anstöße weder ignorieren noch mit bloßer Fassadenarbeit stillstellen zu können? Der Anfang jeder Folgebearbeitung muss in einer Störung liegen. Auch hierzu kann man sich auf den frühen Luhmann berufen. Änderungsintentionen müssen sich zurücknehmen, nicht auf Strukturänderung, sondern auf -auflösung setzen; ohne Störung keine Änderung.9 Insofern könne man sich im Stören auf den ersten, ohnehin notwendigen Schritt konzentrieren (vgl. Kap. VI.1). In Bezug auf die Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung richtet dies den Blick auf die gesellschaftliche Alarmierungsfunktion10 von »Protestbewegungen und Presseaktivitäten«. Im Alarmieren aber erschöpfe sich diese Aufgabe auch schon, Luhmann folgend, sie könnten für Entrüstung und Aufmerksamkeit, nicht aber für praktisch wirksame Korrekturen sorgen. Darin liegt ein arbeitsteiliges Modell: Es gibt diejenigen, die ihre Umwelt nach Fehlentwicklungen absuchen und andere, die solche Fehler korrigieren (und also die Initiative ergreifen), wobei für Luhmann das Recht hierin eine herausragende Stellung einnimmt. Dass Alarmieren etwas mit Irritationsgestaltung zu tun haben könnte, legt die Systemtheorie nicht nahe. Eher im 9 Diesen Schluss diskutieren einige Beiträge in Gansel & Ächtler (2013). 10 Diese Alarmierungsfunktion hat insbesondere Poul Kjaer (2006, 2012) weiterführend analysiert.
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Gegenteil wird angenommen, dass Entrüstung leicht zu erregen sei. Das hierzu auch von Luhmann bediente Bild des Wachhundes (Kap. IV.1) umschrieb das Alarmieren als Bellen, wobei es das korrespondierende Zitat dabei nicht beließ, sondern dem Bellen noch das Beißen zur Seite stellte. Obwohl dies dem Ergreifen von Initiative nahe scheint, betont Luhmann, dass am Ende das Recht gefragt ist, soll es um dauerhafte Korrektur von Erwartungsstrukturen gehen. Nicht nur der auffälligen Verwendung der Wachhund-Metapher wegen wird der nachstehende Abschnitt mit dem Investigativ-Journalismus eine gesellschaftliche Korrektivinstanz im Besonderen beleuchten.
VII.3 Nonprofit Investigativ-Journalismus Im Folgenden wird der gegenwärtige, gemeinnützige Investigativ-Journalismus als besonders relevantes gesellschaftliches Korrektiv auf seine Irritationsgestaltung hin untersucht. Doch zuvor ist auszuführen, warum es ausgerechnet um Investigativ-Journalismus gehen soll, und weshalb die Ergänzungen »gegenwärtig« sowie »gemeinnützig« bzw. non‐profit gewählt wurden. Die bisherige Untersuchung hat nahegelegt, dass sich Funktionssysteme nicht von selbst mit der Bearbeitung von Folgeproblemen befassen, sondern sie dazu angeregt werden müssen. Dies kommt etwa in dem von Horst Pöttker (2008) vorgeschlagenen Begriff einer Seismographenfunktion der Medien im Allgemeinen und des Investigativ-Journalismus im Besonderen zum Ausdruck. Im Unterschied zu einem Frühwarnsystem bezögen sich Enthüllungen auf bereits eingetretene Fehlleistungen, was eine »soziale Regulierungsfunktion« wahrscheinlicher mache als eine Anpassung ante festum. Dem Investigativ-Journalismus geht es um die Publikation von Informationen (also Neuheiten), die a) ansonsten verborgen geblieben wären und b) veröffentlicht werden, weil die beschriebenen Aspekte der Wirklichkeit als gesellschaftlich nicht hinnehmbar kommuniziert werden. Im Anglo-Amerikanischen dominiert die Umschreibung als »watchdog« die Selbst- aber auch Fremdbeschreibungen11 des Investigativ-Journalismus: »Journalists as a whole adopted this agenda, seeing themselves as ›watchdogs‹ and as members of the Fourth Estate ›watching, questioning, analysing and informing‹« (Haxton 2002: 33; Schultz 1998: 6, zit.n. Bromley 2008: 179). Ein Wachhund beschützt ein Haus und soll Alarm schlagen, wenn er etwas in seiner Wahrnehmung Bedrohliches bemerkt. Ein erstes Problem mit dieser Metapher ergibt sich daraus, 11 Diese Bezeichnung ist allerdings auch im Deutschen gängig. So beschrieb schon Weischenberg (1983) den investigativen Reporter als Wachhund mit den Primärfunktionen der Kontrolle und der Kritik.
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dass hierin ein konstitutives Merkmal des Investigativ-Journalismus unberücksichtigt bleibt. Während sich im Bild die Gefahr dem Bewacher aufdrängt, zeichnet sich dieser durch Recherchieren und das Aufspüren verdeckter Gefahren aus.12 Auch bezüglich der Frage, welches Haus hier zu bewachen sei, wird man in den Fremd- wie Selbstbeschreibungen schnell fündig. Es geht um das öffentliche Interesse (public interest): »They expose, but they expose in the public interest, which they define. Their efforts, if successful, alert us to failures in the system and lead to politicians, lawyers and policemen taking action […] that may result in legislation or regulation« (de Burgh 2008b: 20). Im Bild des Wachhundes alarmiert der Investigativ-Journalismus die Öffentlichkeit, wenn er Verstöße gegen das öffentliche Interesse beobachtet. Genau dies, im öffentlichen Interesse zu sprechen, sei, Habermas (1962) zufolge, seit dem Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit unmöglich. Ihm kam es vor allem auf diese Umkehrung an, dass dort, wo sich vormals eine öffentliche Meinung überhaupt erst bildete, sich nun nur noch Privatinteressen Geltung zu verschaffen suchten. Aus ganz ähnlichen Gründen lehnte auch Bourdieu eine Diskussion des journalistischen Feldes als Vierte Gewalt ab (vgl. Kap. II.1). Der Investigativ-Journalismus hat in der jüngeren Vergangenheit seinerseits große Veränderungen erlebt. Als besonders kostspieliges Ressort unterlag es mitunter drastischen Stellen- und Ressourcenkürzungen (Houston 2010; Pickard 2017). Viele der zahlreichen neuen Organisationen verstehen sich als Wiederbelebung der Vierten Gewalt mit neuen Mitteln. Es ist ganz naheliegend, diese Veränderungen mit dem in Richtung Digitalisierung weisenden Medienwandel in Verbindung zu bringen. Allein das Wegbrechen von Anzeigenverkäufen für Printprodukte mag als Hinweis genügen. Aus organisationssoziologischer Perspektive ist hieran vor allem interessant, was ein solcher Wandel mit der sozialen Funktion und der »seismographischen Leistung« des Journalismus macht. Bernd Blöbaum (2008: 127) etwa verbindet den Wandel redaktioneller Strukturen, von der insbesondere in Deutschland traditionellen Aufteilung in Ressorts und entsprechende Zuständigkeiten hin zu unterschiedliche Themenbereiche und Verbreitungskanäle koordinierenden Newsrooms, mit der Veränderung von Funktionsbearbeitungen. Für den Investigativ-Journalismus fällt dabei auf, dass »die auf Politik bezogene Kritik- und Kontrollfunktion« tendenziell relativiert werde, dafür aber »Fehlleistungen in Themenfeldern wie Sport, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Regionales« steige. 12 Ebendies illustriert Jonathan Calvert besonders plastisch: »Some stories you make five calls on, some twenty. When you are making a hundred, that’s investigative journalism« (zit.n. de Burgh 2008b: 17).
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Diese theoretisch wie empirisch folgenreiche Ausdehnung des Beobachtungsspektrums ist bereits beschrieben worden (Kap. VI.4). Hier bezieht sie sich allerdings auf den Wandel innerhalb von Redaktionen, die unter dem Verdacht stehen, in letzter Instanz einer Marktlogik zu folgen. Als eine weltweit zu beobachtende Antwort auf beides, den Verdacht in Richtung Privatinteresse sowie auf die erschwerte ökonomische Lage, haben sich zahlreiche non profit-Redaktionen gegründet, die zumeist stiftungs- und spendenfinanziert operieren.13 Formal scheint der gemeinnützige Investigativ-Journalismus somit nicht der Marktlogik unterworfen zu sein. Er muss keinen Gewinn erwirtschaften und kann seine Ressourcen ganz der Recherche und dem Aufdecken im öffentlichen Interesse widmen. Dies verweist auf die sehr viel seltener zitierte Fortsetzung des PulitzerStatements: »Publicity may not be the only thing needed, but it is the one thing without which all other agencies will fail. If a newspaper is to be of real service to the public it must have a big circulation, first because its news and its comment must reach the largest possible number of people, second, because circulation means advertising and advertising means money, and money means independence« (zit.n. Ireland 1914: 115f.). Hierin nimmt Pulitzer eine spezifische Kausalitätskette in Anspruch. Weil Zeitungen zur Drucksteigerung eine möglichst weite Verbreitung benötigen und weil Auflage mit Werbung einhergeht und Werbung Geld bedeutet, meint Geld in letzter Instanz Unabhängigkeit. Auf den Zusammenhang hoher Auflage bzw. Reichweite wird zurückzukommen sein (Kap. VIII.1). Für den Moment ist das Stichwort der Unabhängigkeit zu besprechen. Insbesondere in Fällen, in denen ein Großteil des gemeinnützigen Organisationen zur Verfügung stehenden Kapitals von Stiftungen kommt, wird die Verbindung von ökonomischem Kapital und publizistischer Freiheit in Zweifel gezogen. Stiftungen, so etwa Joan Roelofs (1987, 2003), förderten nur Formen von Aktivismus, die Machtstrukturen nicht wirklich gefährdeten; systemische Kritik (»systemic critique«) sei immer schon eingehegt. Viele Stiftungen verlangen Impact Reports, die darüber Auskunft geben, welche Art von Wandel durch die Recherchen und Publikationen gemeinnütziger Redaktionen angestoßen werden konnten (vgl. Kap. VIII.2). Rodney Benson (2016) erkennt darin mehrere Probleme. Schließlich erwächst für die Geförderten dadurch die schwer operationalisierbare Aufgabe, Wandel ihnen zuzurechnen und messbar zu machen. Dazu sei erforderlich, dass es sich um realistischen Wandel handele, neue und gerechtere Gesellschaftsentwürfe würden so systematisch aus dem Blick geraten. Ebenso systemerhaltend wirke, dass für solche Reformen, im Unterschied eben zu Revolutionen, das Erreichen von Eliten unabdingbar sei. Überhaupt sei Reichweite (»re13 Für eine stetig aktualisierte Liste siehe http://gijn.org/member/.
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ach«) häufig ein zentraler Indikator für Impact. Um Reichweite zu erzielen, und weil sie es dank des Stiftungsgeldes nicht nötig hätten, verschenkten viele Redaktionen ihre Recherchen an mainstram media. Diese vermeintliche win‐win-Situation aber sorge vor allem dafür, dass der gemeinnützige Journalismus niemals unabhängig operieren könne; die schon von Pulitzer gezogene Verbindung von finanzieller und publizistischer Unabhängigkeit wird hier also in anderem Gewand aufgerufen. Dass Systemisches außen vor bleibt, bekräftigt auch Dean Starkman (2014), der Unterstützung für diese These aus der Beobachtung zieht, dass der Wachhund keinen Alarm im Vorfeld der Finanzkrise 2008 schlug. Starkman macht dabei allerdings den zusätzlichen Punkt aus, dass zu viel Zugang (»access journalism«) zu den politischen wie wirtschaftlichen Zentren die Kritik- und Alarmierungsfähigkeit der Vierten Gewalt sukzessive einschränke. Im Sinne der bislang erarbeiteten Argumentation lässt sich dies auch als ein Plädoyer für das Korrekturmedium der Publizität lesen. Denn das Medium der Interaktion weist seinerseits riskante – weil implizite – Merkmale für Anregungswillige auf; Nähe kann korrumpieren, weil sich eine Gleichsinnigkeit einzuschleifen vermag, die bei den Korrekturinstanzen keine geringeren Spuren hinterlassen muss als bei den -adressat_innen.14 Wer grundsätzlich vermutet, Stiftungen würden auf subtile, implizite Art und Weise dafür sorgen, dass die von ihnen benötigte Umwelt unangetastet bliebe, sieht das Durchströmen privater Interessen auch in diesen Konstellationen. Ließen sich Einflüsse privater Interessen auf Redaktionsentscheidungen (wie auch unhaltbare Konstruktionen von Indizien) nachweisen, böte dies breite Angriffsflächen gegenüber diesen Organisationen. Schon für das organisationale Überlebensinteresse wären solche Eingriffe ein nicht‐hinnehmbares Risiko, das in dieser Hinsicht wohl nur von der Existenz einer gerechten Welt übertroffen werden könnte. Kommt also systemische Kritik nicht auf den Schirm des gemeinnützigen Investigativ-Journalismus? Der Definition de Burghs (2008b: 20) folgend kommen auf den Monitor des Investigativ-Journalismus Verstöße gegen ein selbst‐definiertes öffentliches Interesse. Stichweh (2002: 62) sieht im Beruf des Journalisten eine Professionalisierung des Publikumsstatusʼ. Der Investigativ-Journalismus gibt sich mit diesem Status nicht zufrieden und will als Publikum für ein als Öffentlichkeit verstandenes Publikum einschreiten. Schon aus Kap. VII.1 ging hervor, dass kaum jemals von einer exklusiven Fokussierung auf die »Ersten Drei Gewalten« die Rede sein konnte. Schon in den 1950er-Jahren ist von der Beobachtung der Kunst, der Wissenschaft und der Wirtschaft die Rede. Paul Steiger, seinerzeit Executive Chairman bei der später (Kap. VIII.1) noch genauer zu beleuchtenden Redaktion von ProPublica, führt hierzu aus:
14 Systematisch werden die Unterschiede zwischen Interaktion und Publizität in Mölders (2018) erörtert.
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»We would focus on abuse of power and failures to (uphold) public interest, not just at government and business – which is after all where most of the power is – but also at other institutions with power. Education institutions, the medical establishment, the media, the courts and lawyers, non‐profits – even non‐profits like our own.«15 Der gegenwärtige Investigativ-Journalismus, für den ProPublica hier vorerst stellvertretend steht, sieht sich folglich als kritisches Publikum fast sämtlicher Gesellschaftsbereiche. Auf den Systemschirm kommen Verstöße gegen ein selbst‐definiertes öffentliches Interesse ebendieser. Diese von Steiger vorgenommene Erweiterung führt den Investigativ-Journalismus in eine ähnliche Konstellation, wie Luhmann sie für Protestbewegungen ausmachte: Sich als jenseits der »Ersten Drei Gewalten« zu positionieren, dürfte jedenfalls unproblematischer sein als auch etwa »media« oder »non‐profits« wie von außerhalb zu kritisieren. Im Sinne der Doppelfunktion von Schemata (vgl. Kap. II.2): Die Erkenntnis ermöglichenden Schemata des Investigativ-Journalismus flaggen Kommunikationen mit Informationswert aus, in denen die von ihnen Beobachteten gegen ein selbstdefiniertes öffentliches Interesse verstoßen. Wie solche Informationen dann weiterverarbeitet werden, regeln ebenfalls als Schemata verstandene Programme. Das Einschreitende, nicht bloß Beobachtende, wie es in den entsprechenden Selbstbeschreibungen hervorgehoben wird, manifestiert sich operativ in Veröffentlichungen. Für Luhmann (1996c: 53) sind in Bezug auf die Massenmedien für die Erarbeitung/Verarbeitung von Informationen am deutlichsten die Programmbereiche »Nachrichten und Berichte« erkennbar. Mit Blick auf die bereits thematisierten zeitgenössischen Organisationen ist zu konstatieren, dass es zu einer starken internen Differenzierung dieser (Veröffentlichungs-)Programme gekommen ist: Reportagen, Berichte, Zeitungsartikel, Videos, Songs, Comics, Blogbeiträge, Podcasts, Hörbücher usw. Welche Informationen wie weiterverarbeitet werden, also eigene Anschlüsse festlegen, orientiert sich dabei an der wiederum selbst angenommenen größten Einflussmöglichkeit: »Each story we publish is distributed in a manner designed to maximize its impact.«16 15 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=tV0mA2rA01k. Ganz ähnlich heißt es auf der ProPublica-Homepage: »We look hard at the critical functions of business and of government, the two biggest centers of power, in areas ranging from product safety to securities fraud, from flaws in our system of criminal justice to practices that undermine fair elections. But we also focus on such institutions as unions, universities, hospitals, foundations and on the media when they constitute the strong exploiting or oppressing the weak, or when they are abusing the public trust« (www.propublica.org/about/). 16 Siehe www.propublica.org/about. Auch die Forderung nach cross media oder multi‐channel Strategien hat historische Vorläufer. Schon mit Blick auf eine schmalere Medienpalette argumentierte der Politikwissenschaftler und ehemalige Kohl-Berater Wolfgang Bergsdorf (1980: 86),
VII. Zur Organisation von Gesellschaftskorrektur
Der vorstehende Absatz hat plausibilisiert, dass der gegenwärtige, gemeinnützige Investigativ-Journalismus ein lohnendes Untersuchungsfeld für das hier verfolgte Interesse abgibt. Er ist Spezialist im Alarmieren über gesellschaftliche Fehlentwicklungen und operiert im Medium der Publizität. Würde dieser tatsächlich wie ein Wachhund arbeiten, gäbe es eher keine überzeugenden Beweggründe, sich detaillierter mit ihm zu befassen. Jedoch versprechen die bisherigen Ausführungen eher eine Analogie zu einer Wachturm-Metapher, spricht doch einiges dafür, dass sich der Investigativ-Journalismus – und nicht nur der gegenwärtige – als gesellschaftsweites Korrektiv auffasst. Empirisch wird es im Folgenden nun nicht nur darum gehen, wie ein solches Korrektiv seine Umwelt kontrolliert und kritisiert, sondern zusätzlich, wie es die Initiative zur Korrektur der Gesellschaft ergreift.
dass im politischen Raum wirkende Gruppierungen »sich auf die Gesamtheit der Massenkommunikationsmittel beziehen« müssten.
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VIII. Die Korrektur der Gesellschaft – empirisch
Wie wird die Initiative zur Gesellschaftskorrektur ergriffen? Und was sagt das über die Gesellschaft aus, die da korrigiert werden soll? Um die Bearbeitung ebendieser Leitfragen ist es den folgenden beiden empirischen Kapiteln zu tun. Doch zunächst sind einige methodische wie methodologische Bemerkungen anzustellen. Wenn schon die so wirkmächtige Metapher des Wachhunds an der Praxis gesellschaftlicher Korrektive im Allgemeinen sowie der des Investigativ-Journalismus im Besonderen vorbeizielt, ist hierauf fußenden Beschreibungen ebenfalls zu misstrauen. Diese Intuition leitet die folgende Darstellung empirischer Ergebnisse. Es wird, dies ist bereits angedeutet worden, darauf verzichtet, einzelne Analysen darzustellen. Auf das Aufdecken eines Forschungsprozesses in Publikationen trifft beinahe das zu, was Luhmann über die Entlarvung des Machtgebrauchs in Bürokratien diagnostizierte: Es sei viel zu mühsam und fast vollständig sinnlos, da es niemanden interessiere. In dieser Schärfe und Generalisierung lässt sich dieser Schluss zwar nicht auf ausführliche empirische Analysen übertragen. Da die Darstellung jeder einzelnen Analyse allerdings nicht praktikabel ist, muss eine dementsprechende Selektion ohnehin begründet werden. Die Mühsal führt bereits der Datenkorpus vor Augen: Als erhobenes Material liegen elf leitfadengestützte Expert_innen-Interviews vor (acht mit Mitarbeitern von Correctiv, drei mit Mitarbeiter_innen von ProPublica) sowie Protokolle aus der Teilnahme an Branchenveranstaltungen. Zieht man darüber hinaus hierzu gesammeltes Material hinzu, so ergänzen zahlreiche (Zeitungs-)Artikel über und von Investigativ-Journalist_innen, Aufzeichnungen in Ton und Bild von Vorträgen und Diskussionsrunden, Selbstbeschreibungen auf Homepages, FAQs und investigativ‐journalistische Beiträge in unterschiedlichsten Formaten (traditionelle Medien, aber auch Comics, Videos, Songs etc.) den Datenkorpus. Dass sich die im Folgenden fokussierten Organisationen allesamt dem Transparenz-Imperativ verpflichtet sehen, hat forschungspraktisch auch zur Folge, dass eine unüberblickbare Materialfülle frei verfügbar ist. Die Analyse versteht sich als theoriegeleitete empirische Sozialforschung. Sie ist einerseits von der differenzierungstheoretischen Diagnose ausgegangen und angeleitet, dass die zentralen Konflikte der modernen Gesellschaft Übersetzungs-
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Die Korrektur der Gesellschaft
konflikte sind. Sie hat sich andererseits davon überraschen lassen, wie etwa empirisch zu Übersetzungen angeregt wird. Ebendiese Offenheit hat dazu geführt, dass die Daten sich anderen differenzierungstheoretischen Diagnosen gegenüber als widerstandsfähig erwiesen haben und somit ein subsumtionslogisches Vorgehen auszuschließen ist. Doch hiervon wird das neunte Kapitel mehr zu berichten wissen. Nach einer knappen Begründung der herausgehobenen Stellung eines Korrektivs – ProPublica – für die Untersuchung, werden die Analyseergebnisse eines Dokuments präsentiert, von dem die Praxis, wie sich zeigen lassen wird, sich selbst einiges verspricht. Die hierin rekonstruierten Widersprüche und Spannungen werden dann aber nicht der Idiosynkrasie eines Dokuments oder einer Sprecher_innen-Position zugeschrieben. Stattdessen wird der dieses Kapitel beschließende Abschnitt (VIII.3) plausibilisieren, dass sich hierin Spuren nachweisen lassen, die Aufschluss darüber geben, in welcher Gesellschaft die untersuchten Korrektive ihrem gemeinnützigen Geschäft nachgehen. Dabei wird eine Gesellschaft erkennbar, die von ihren Korrektiven Transparenz, Quantifizierung und Differenzierung erwartet.
VIII.1 ProPublica als primus inter pares Am Fall des gemeinnützigen Investigativ-Journalismusʼ wird im Folgenden die These plausibilisiert, dass gesellschaftliche Korrektive damit rechnen, dass sich wesentliche Konflikte als Übersetzungskonflikte darstellen und ihre Korrekturanregungen darauf einstellen. ProPublica ist aus mehreren Gründen für die vorliegende Forschungsfrage von besonderem Interesse. Diese Organisation dürfte, zumindest im globalen Maßstab, die prominenteste unter zahlreichen neugegründeten Organisationen sein. Diese Prominenz verdankt sie u.a. dem Gewinn von fünf Pulitzer Preisen1 , darunter der erste jemals für eine Nicht-Print-Publikation verliehene Award, und der Aufnahme in die Liste »100 great things about America«.2 Für einige der anderen Neugründungen fungiert ProPublica teils explizit als Vorbild.3 Dass über 75 Journalist_innen hier arbeiten, gilt in den allermeisten ähnlich ansetzenden Organisationen als beneidenswert. Überhaupt liegt in ihrer finanziellen Ausstattung eine weitere Außergewöhnlichkeit. ProPublica wurde 2007 gegründet und nahm 2008 den Betrieb auf. Ermöglicht wurde dies durch die Sandler Foundation. Das erste Jahresbudget der vom Milliardärsehepaar Sandler ins Leben gerufenen Stiftung 1 https://www.propublica.org/awards/ (Stand: 16.2.18). 2 http://money.cnn.com/interactive/news/economy/100-great‐things-america.fortune/. 3 Für Correctiv etwa: Lilienthal (2017).
VIII. Die Korrektur der Gesellschaft – empirisch
betrug zehn Millionen US-Dollar. 2014 lag ihr Anteil noch bei 39 Prozent, der Rest kam und kommt aus weiteren (philanthropischen) Stiftungen sowie (privaten) Einzelspenden.4 Dass der Stiftungsanteil seither tendenziell sinkt und stattdessen ein immenser Zuwachs an Privatspenden zu beobachten ist, hat nach eigenen Angaben viel mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA zu tun. Nach einem Spendenaufruf in der TV-Sendung Last Week Tonight with John Oliver verzehnfachte sich die Spendenquote.5 Über die Bedeutung von Impact für die gegenwärtigen Nachfolger der frühen muckraker ist oben (Kap. VII.1) bereits Auskunft gegeben worden. Hierin bildet ProPublica keine Ausnahme, worauf schon im sogenannten Mission Statement hingewiesen wird: »To expose abuses of power and betrayals of the public trust by government, business, and other institutions, using the moral force of investigative journalism to spur reform through the sustained spotlighting of wrongdoing.«6 In einer älteren Fassung wird ein für die folgende Analyse wesentliches Element noch stärker betont, wenn es heißt: »We address one of the occasional past failings of investigative journalism by being persistent, by shining a light on inappropriate practices, by holding them up to public opprobrium and by continuing to do so until change comes about«.7 Ein entscheidender Fehler des investigativen Journalismus der Vergangenheit sei es also, nicht persistent, nicht hartnäckig genug gewesen zu sein – beinahe könnte man sagen, der Medienlogik allzu bereitwillig Folge geleistet zu haben, der eifrigen Suche nach dem nächsten Neuen alles andere untergeordnet zu haben. Das ist zunächst einmal durchaus verwunderlich, machte de Burgh (2008: 44f.) die Geburtsstunde des modernen Investigativ-Journalismus doch gerade am kontinuierlichen Verfolgen des Themas Mädchenhandel im ausgehenden 19. Jahrhundert fest (vgl. Kap. VI.4). Ebendies leistet einem allgemeineren Einwand Vorschub, nämlich Selbstbeschreibungen auf den Leim zu gehen. Hierin, so die rasch zu formulierende Kritik, könne man schlicht behaupten, alles drehe sich um impact und alle anderen seien nur an der schnellen Schlagzeile bzw. der Erhöhung von traffic interessiert. Die nachstehende Analyse interessiert sich dafür, wie im gegenwärtigen, gemeinnützigen Investigativ-Journalismus solche Aspekte der Selbstbeschreibung, nicht zuletzt: persistent zu sein, das eigene Operieren anleiten. Solche Wie-Fragen legen zunächst ein qualitatives Forschungsdesign nahe. In diesem Paradigma werden die Antworten auf Wie-Fragen als Konstruktionsleistungen begriffen, die eine 4 https://www.propublica.org/reports/. 5 www.niemanlab.org/2016/11/after‐trumps-election‐news-organizations‐see-a‐bump-in-subscri ptions-and‐donations/. Dies kann ferner als Indiz für die Mobilisierungskraft »alter Medien« gelesen werden. 6 https://www.propublica.org/about/. 7 www.borgenmagazine.com/propublica‐journalism-mission/.
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Untersuchung dann zu rekonstruieren sucht. So kann man sich in ethnographischer Manier in das investigativ‐journalistische Milieu einleben und es maximal dicht beschreiben, man kann in unterschiedlichen Interviewformen über Unterschiedliches Auskunft einholen, in Form von zuvor ungewussten Informationen, Narrationen, Deutungsmustern, Frames u.v.m. Andererseits lässt sich behaupten, ein solcher Aufwand sei unverhältnismäßig. Die große Bedeutung, die der Wert der Transparenz hier genießt, erschöpft sich nicht nur in der Offenlegung finanzieller Angelegenheiten. Auch die Arbeitsweise selbst soll frei verfügbar sein, mehr noch: sie soll erlernbar sein und von möglichst vielen »Nicht-Journalisten« aufgenommen werden. Um dies wiederum tun zu können, ist Explikation erforderlich. Genau dies versucht das Berliner Recherchebüro Correctiv. Seiner Maxime folgend, kann jedermann Journalist werden. Ihrem steuerrechtlich erforderlichen Bildungsauftrag kommt die Organisation auch durch entsprechende Workshops, Tutorials und Schulungen nach.8 Somit empfiehlt sich eine Suche nach mehr oder weniger formalen Dokumenten, die denjenigen eine Orientierung bieten, die im Medium der Publizität zu korrigierenden Übersetzungen anregen. Schon im ersten Experten-Interview (IntCo-01) der im Folgenden darzustellenden Fallstudie wird auf ein solches Orientierungsdokument verwiesen; es wird Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.
VIII.2 »Issues Around Impact« – Ergebnisse einer konversationsanalytisch ausgerichteten Dokumentenanalyse Wenn das von nun an im analytischen Fokus stehende Dokument zu dem Zweck erstellt wurde, Korrekturpraktiker_innen zu helfen, erscheint eine methodisch kontrollierte Rekonstruktion unverhältnismäßig; wie Zumutungsanreicherung funktioniert, kann an diesem Datum abgelesen werden. Die Versuchung liegt nahe, dieses Dokument »auf die Funktion eines Informations-Containers« zu reduzieren (Wolff 2017: 511). Stephan Wolff (ebd.) merkt hierzu an, dass Dokumente grundsätzlich »als methodisch gestaltete Kommunikationszüge« zu behandeln und zu analysieren sind. Für den vorliegenden Fall bedeutet das: Um als Auskunft darüber verstanden werden zu können, wie Publikationen mit Zumutungsgehalt anzureichern sind, sind Gestaltungsleistungen erforderlich. Es ist damit zu rechnen, dass hier Lösungen (für das Problem der Übersetzungsanregung) präsentiert werden. Die konversationsanalytisch ausgerichtete Dokumentenanalyse nimmt nun an, dass zur Präsentierbarkeit von Lösungen wiederum spezifische Probleme gelöst werden müs8 Siehe nur https://correctiv.org/correctiv/faq/ DnwtJyFT7JQ.
oder
https://www.youtube.com/watch?v=
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sen, die dann den Gegenstand der Rekonstruktion bilden (Bergmann 1991; Wolff 1995).9 Dem Dokument sind dann immer noch Informationen zu entnehmen, nur wird es nicht wie ein Handbuch oder Lexikon gelesen, sondern zunächst gefragt, vor welchem Hintergrund diese Informationen als zu explizierende sinnhaft erscheinen. Der nachfolgende Abschnitt fasst die wesentlichen Analyseergebnisse dieses im untersuchten Feld selbst als zentral erachteten Dokuments zusammen. Gezeigt wird also nicht der aufwendige Untersuchungsprozess, sondern dessen Resultate. Zuvor ist eine weitere Einschränkung zu konstatieren. Die nachstehend dargestellten Resultate beziehen sich vor allem auf die Textebene, obwohl Wolff (2017: 512) zufolge »[s]elbst scheinbare Äußerlichkeiten (wie Layout, Zeilenabstand, Farbe, Papierqualität, die Reihenfolge der Gliederungspunkte)« weder als zufällig noch als unerheblich betrachtet werden sollen. Zwar werden einige solcher Aspekte thematisiert, gleichwohl wird eine gesonderte Analysedarstellung der Bildsprache ausgelassen. Um nur ein Beispiel hierfür zu geben, ist schon das für das Papier verwendete Logo von ProPublica sowie dessen Anordnung instruktiv. Abbildung 1 :Issues Around Impact | Logos
Die Lupe als Insignie des Detektivischen unterstellt zwingend, dass etwas in einem positivistischen Sinne Vorliegendes vergrößert, nicht aber erst hergestellt oder erst in Zukunft eintreten wird. Die Lupe ruht auf dem auch durch die blaue Einfärbung bereits hervorgehobene »Pro«. Betont wird also das »Für«, was durch die Unterschrift »Journalism in the public interest« noch verstärkt wird. Durch diese zweifache Aufwertung kommt erst in den Blick, worauf diese graphisch‐textuelle Redundanz zu antworten vermag. Ruhte das Lupenglas auf »Publica«, läge zum einen der Schluss nahe, dass die Öffentlichkeit selbst unter Beobachtung stünde. Über die damit gelingende Vermeidung einer solchen Implikation hinaus wappnet sich diese Gestaltung gegen den Vorwurf von Eigennutz. Was wir tun, tun wir für jemanden oder etwas – sogleich spezifiziert durch »the public interest«. In aller Kürze: Dokumentiert wird uneigennütziges Interesse an der Vergrößerung von unzweifelhaft existenten Dingen, die aber mit bloßem Auge nicht erkennbar sind, 9 Für den Bezug dieser Analyseoption auf die Medienforschung siehe Ayaß (2004) sowie Ayaß & Bergmann (2011).
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denn nur hierfür werden Lupen überhaupt benötigt. Solchen Aspekten zur Lesbarkeit zu verhelfen, liegt dieser Darstellung zufolge im öffentlichen Interesse. Da vorab schon benannt wird, dass der Autor des Papiers sich dem Hause ProPublica zurechnet, ist die Stellung an (nach westlicher Lesart) letzter Stelle offenbar dem Gebot zuzuschreiben, sich selbst stets zuletzt zu nennen. Darüber hinaus unterstützt auch dies die benannte Uneigennützigkeitsdokumentation. Die Voranstellung des LFA-Group Logos vor dem der Bill & Melinda Gates Foundation ist schon wegen der nicht‐alphabetischen Reihenfolge auffallend. Wer alphabetisch reiht, vermeidet damit zunächst einmal eine nicht‐formale Hierarchisierung, die zweidimensionaler Reihung inhärent ist. Was diese Reihenfolge motiviert, ist erst auf der ersten paginierten Seite zu erfahren, die darüber hinaus in deutlich vergrößertem Schriftgrad gehalten und zentriert ausgerichtet ist sowie im Blau der ansonsten in Kapitälchen gehaltenen Absatzüberschriften und Bildelemente. Diese zeigen allesamt Symbole des traditionellen oder modernen Journalismus. Ihnen dürfte die Funktion zugedacht sein, für etwas Auflockerung zu sorgen, womit stets impliziert ist, Autor_innen könnten das von ihnen Verfasste für auflockerungsbedürftig halten. Im untersuchten Dokument ist ein dosierter Umgang mit diesen Symbolen zu verzeichnen, sie fügen sich farblich in derselben Weise ein und kommen keineswegs auf jeder Seite vor. Gleichermaßen hebt sich diese Gestaltung von wissenschaftlichen Texten ab, ohne auf einen exklusiv‐populären Kontext beschränkt zu sein.
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Abbildung 2: Illustrationen aus Tofel (2013: 12 )
Das im Folgenden behandelte Dokument ist frei zugänglich.10 Es musste allerdings gar nicht erst gesucht werden, da im ersten Interview der dieser Untersuchung zugrundeliegenden Fallstudie unmittelbar hierauf verwiesen wurde. Wer etwas über das Erzielen von »Impact« wissen wolle, so der erste Interviewee, müsse dieses Dokument lesen. Diese Eindeutigkeit gerät unmittelbar in ein Spannungsverhältnis zur Vagheit des Titels: »Issues Around Impact«. Dass diese Vagheit ein spezifisches Problem löst, erschließt sich (erst) ab der ersten paginierten Seite, auf die nun zurückzukommen ist. Hier wird darüber aufgeklärt, dass das vorliegende Papier beauftragt 10 https://s3.amazonaws.com/propublica/assets/about/LFA_ProPublica‐white-paper_2.1.pdf.
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worden ist von »LFA Group«, und zwar im Namen der »Bill and Melinda Gates Foundation«. Das Besondere an dieser Konstellation ist zunächst die Stellung der LFA Group. Auch wenn der konkrete Auftragstext unbekannt ist, geht aus der hier gewählten Darstellung hervor, dass eine Organisation mit folgendem »Mission Statement« offenbar andere, eben ProPublica bzw. Richard J. Tofel, eher in der Lage sieht, zu »Issues Around Impact« Auskunft zu geben: »We partner with social sector organizations to maximize their impact and sustainability for greater health, equity, and well‐being in our communities.«11 Learning for Action, hierfür steht das Akronym LFA, berät normalerweise Stiftungen, Gemeinnützige und öffentliche Agenturen (Foundations, Nonprofits, Public Agencies). Das vom hier fokussierten Papier zu bearbeitende Problem ist also womöglich kein eigenes, vielmehr handelte es sich dann um eine stellvertretende Problemlösung. Zieht man nun die Sachebene hinzu, dass es um Auskünfte darüber geht, wie Wirkung (»Impact«) zu erzielen ist, so entsteht hieraus sogleich ein weiteres Problem: Man könnte sich der eigenen Schlagkraft berauben, gibt man allzu mutwillig preis, wie Wirkmacht herzustellen ist. Die Bearbeitung dieser Spannung – man soll über Wirkung berichten und kann dabei nicht ins Detail gehen – kennzeichnet wesentlich alles Folgende. Somit wird dann auch ersichtlich, warum die bereits im Titel angelegte Vagheit eher Lösung als Problem darstellt. Mit der allerersten Absatzüberschrift (»THE QUEST FOR MEASUREMENT«) steht nicht das Erzielen, sondern das Messen von Impact im Vordergrund. Für die als zentral ausgemachte Spannung, über Impact Auskunft zu geben, ohne aus dem organisationalen Nähkästchen zu plaudern, ist dies zunächst ein sehr viel unverfänglicher Fluchtpunkt. Dieser wird ebenfalls als einer externen Erwartung folgend beschrieben. Gemeinnützige (»Non‐profits«) Organisationen seien einem zunehmenden Druck ausgesetzt, quantifizierbare Resultate vorzuzeigen (»increasing pressure for quantifiable results«). Geldgeber_innen, allen voran: Stiftungen, wollen wissen, was sie für ihr Geld erhalten, »legislators and regulators« beaufsichtigten die entsprechenden Auflagen zur Steuerbefreiung streng und schließlich habe der Aufschwung digitaler Technologien dafür gesorgt, dass »social phenomena« instantan und präzise messbar geworden seien, die zuvor allenfalls anekdotisch oder bestenfalls mit jährlichen Erhebungen erfassbar waren. Tofel, ganz in der Pragmatik einer Bestandsaufnahme, spricht in diesem ersten Abschnitt durchgängig von Non‐profits, wobei seine Organisation ProPublica allenfalls impliziert wird.12 Ebendies ändert sich mit der Überschrift des nächsten Abschnitts: »WHAT DO WE MEAN BY IMPACT? A TAXONOMY«. Eine Taxonomie ruft einen tendenziell 11 http://learningforaction.com/#home; Das Gebot der Kontextfreiheit wurde in der Analyse berücksichtigt. 12 Offenbar findet sich hier Stoff für den Einsatz von »Membership Categorization Devices« (vgl. Sacks 1972 a, b).
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wissenschaftlichen Kontext auf. Tatsächlich besteht der Absatz wesentlich aus Unterscheidungen (news vs. entertainment vs. opinion journalism; explanatory vs. investigative journalism etc.) und Definitionen. Pragmatisch nimmt er eine Scharnierfunktion ein: Das Taxonomische erlaubt die nüchterne und distanzierte Bilanzierung, während gelegentliches Referieren auf das eigene Haus darauf reagiert, dass der Autor darum weiß, dass er bzw. seine Organisation bewusst ausgewählt wurde. Die Unterscheidung zwischen »reach« und »impact«, zwischen Reichweite und Wirkung wird fortan herausgehoben. Im Gegensatz zu vielen anderen journalistischen Spielarten gelte für den Investigativ-Journalismus gerade nicht »More is better« (ebd.: 5), jedenfalls nicht im Sinne einer vergrößerten Reichweite. Begründet wird dieser zunächst einmal kontraintuitive Zug mit der Bedeutung, die Impact im Investigativ-Journalismus annimmt. Hierin ginge es nämlich immer um Wandel (»changes«) jenseits von Lesereinstellungen (»beyond […] the minds of readers«). Vielmehr sei es um Wandel in der »real world« zu tun. Auch dieser wird näher spezifiziert: »behaviors, policies, practices, legislation or some such« (ebd.: 6). Nachdem Tofel dies festgehalten hat, betont er die Wichtigkeit darauf hinzuweisen, dass was auch immer als Wirkung einer Geschichte oder Serie resultieren möge, nicht in der Kontrolle der diese verfassenden Journalist_innen läge: »Happenstance«, also Zufälle bzw. glückliche Umstände könnten und würden immer eine entscheidende Rolle spielen. Wiederum auf die grundlegende Spannung dieses Papiers bezogen, wird die Relevanz dieser Schlussfolgerung noch augenscheinlicher. Danach gefragt, wie außermediale Korrekturwirkung zu erzielen sei, lautet ein Zwischenfazit: Ebendies hätten Journalist_innen gerade nicht in der Hand, so etwas hätte stets mit Glück zu tun. Zufall kennzeichnet ja gerade, nicht aus dem bislang Vorliegenden ableitbar zu sein. Wäre dies nicht nur ein Zwischenfazit, wäre ein solches Resultat nicht anders als ein Affront gegen die Auftraggebenden zu lesen: Was ihr wissen möchtet, das gibt es gar nicht. Insofern ist hier strukturell bereits angelegt, dass Einlassungen zu erwarten sind, die den Auftrag überhaupt bearbeitbar machen. Das leitende Motiv ist dann folgerichtig: Sollte schließlich der Faktor Zufall nicht auszuschalten sein, kann man zuvor alles daransetzen, ihm, dem Zufall, möglichst wenig zu überlassen. Damit hat sich Tofel zudem in eine Position gebracht, in der jede Zufallsminimierungsoperation Auskunft im Sinne des spannungsgeladenen Auftrags darstellt. Die Unterscheidung von »reach« und »impact« wiederaufnehmend, konzediert er im unmittelbaren Anschluss, dass es durchaus Wege »to effect change« (ebd.) gebe, in denen es darum gehe, die Aufmerksamkeit vieler Leser_innen zu wecken, um dann darauf zu vertrauen, dass jene den Wandel herbeiführten. In solchen Fällen hätten Reichweitenmessung und Wirkungsforschung Überschneidungen.
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»In many more cases« aber läge das Wirkungspotential für investigativen Journalismus in den Händen »of a few key decision‐makers, or with larger issue elites« (ebd.). Die hierzu passende Strategie wird benannt als »[t]argeting particular specialized audiences« (ebd.). Ebendies hätte sich für ProPublica bereits einige Male als effektiver erwiesen. Im Lichte der bislang freigelegten Fallstruktur wird hiermit ein Umschlagpunkt angekündigt. Nachdem die Bedeutung des Zufalls noch wenige Zeilen zuvor betont wurde, folgt nun, wie man im Hause des Verfassers versucht das zu tun, was oben als Zufallsminimierung bezeichnet wurde: Wie zielt man auf besondere, spezialisierte Publika? Wie erreicht man für entscheidend gehaltene Zielgruppen? Tofel gibt hierzu zwei hauseigene Beispiele. Die Besonderheit des ersten Falls – der institutionalisierten Anerkennung traumatischer Erkrankungen (»traumatic brain injuries«) amerikanischer Truppen durch das Pentagon – ist die quantitativ auffällige Lücke zwischen erster Verbreitung und der hier für die Korrekturwirksamkeit als entscheidend bezeichneten späteren Publikation. Die primäre Zusammenarbeit mit dem National Public Radio (NPR) bedeutete viele Millionen Hörer_innen, doch diese weite Verbreitung der zugehörigen Recherche zeitigte keine sichtbaren Veränderungen. Erst als die »stories« in der Stars and Stripes veröffentlicht wurden, einer unabhängigen Zeitschrift, die in allen einheimischen wie ausländischen US-Militärbasen vertrieben wird, begann das Pentagon »to change policies, alter practices, and appropriately recognize and support the injured« (ebd.). Die tägliche Auflage von etwa 300.000 Stück konnte also bei weitem nicht mit der NPR-Reichweite mithalten. Der wesentliche Unterschied aber sei, die Stars and Stripes werde »closely read by senior officers« (ebd.). Im zweiten Beispiel, ein Menschen mit Behinderung benachteiligendes Studienkreditrückzahlungsverfahren des Bildungsministeriums (Department of Education) betreffend, geht es nicht um einen Vergleich, sondern um die mit 65.000 imposant niedrige Auflage des Chronicle of Higher Education, dem es gelang, Leser_innen »empowered to change things« zu erreichen. Beide Beispiele reagieren auf den Umstand, dass eine mit »Issues Around Impact« betitelte Auftragsstudie nicht damit enden kann, jede Form von Wirkung hinge entscheidend vom Zufall ab. Als wesentlich wird hier deklariert, »reporting« bzw. »stories« für Entscheidungsträger_innen lesbar zu machen. Ebendies erklärt dann auch die zentrale Stellung der Unterscheidung von »impact« und »reach«. Wenn unter Millionen von Erreichten niemand ist, der den offengelegten Missstand zu bearbeiten in der Lage ist, ist damit eben nicht die Wirkung erzielt, die Organisationen wie ProPublica für sich als maßgeblich beschreiben. Mit derselben Unterscheidung wird im Weiteren ein anderes Problem thematisiert. Eine vergleichsweise bruchlose Fortsetzung hätte darauf eingehen können, wie die als wesentlich ausgemachten Zielgruppen bzw. eben die für diese orientierungsstiftenden (Nischen-)Publikationen zu erreichen sind.
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Doch der Text führt die Unterscheidung anders fort. Schon für den Aspekt der Reichweite gelte, dass sofern dieser nicht mit Auflagenhöhe gleichgesetzt werde, eine tatsächliche Leserschaft schwierig zu erheben sei. Dieses Problem potenziere sich für die Wirkungsseite, wenn damit, wie bei ProPublica, »change that spurs or embodies reform« gemeint sei (ebd.: 7). Nach einer tendenziell wissenschaftlich anmutenden Taxonomie, deren Gegenstand nicht zuletzt Probleme der Messbarkeit von Wirkung war, wird diese Relation umgekehrt. Fortan wird Messbarkeit – und deren Wirkung – als Problem diskutiert. Gerahmt als »a major problem in American philanthropy today« heißt es: »Donors frequently say that they seek outcomes (or impact), and nearly always say that they place greater importance than previously on evaluation, measurement, ›return on investment‹« (ebd.: 8). Hieraus erwachsen zweierlei Spannungsverhältnisse. Zum einen ist es augenscheinlich heikel, dem eigenen Finanzierungssystem – American philanthropy – ein großes Problem zu attestieren. Dies wiederum ließe sich darin auflösen, an dieser Stelle die Gelegenheit zu nutzen, sich gegen wiederkehrende Vorwürfe an die eigene Adresse ebendieser Finanzierung wegen zu positionieren. Die zweite Spannung betrifft das Impact-Motiv. Einerseits flaggt ProPublica es als Leitorientierung aus, andererseits werden eine diesbezügliche Messbarkeit und Bewertung hier kritisiert. Hieraus resultiere, so setzt Tofel fort, eine Verwechslung von Mitteln und Wegen, die in der Tendenz sichtbar werde, gerade Linien von Outputs (stories produced, audiences reached, page views recorded, perhaps even journalists able to be employed13 ) zu der Sorte Wandel zu ziehen, um die es geht. Aus der Erwartung, messbare Resultate zu erzeugen und nachweisen zu können, entsteht also eine Art zwanghafter Suche nach Verbindungen zwischen eigenen Aktionen und fremden Veränderungen. Was hier pragmatisch gelingt, ist die Anerkennung des Differenzierungsvermögens, das der Operationalisierung eines der Auftraggeber des Papiers – der Gates Foundation – zugrunde liegt, mit dem Hinweisen auf so etwas wie unintendierte Nebenfolgen zu verbinden: Das Beharren auf einer Dokumentation messbarer Resultate kann in diesem Sinne zur Folge 13 Tofels (ebd.) Definitionen von Output, Outcome und Impact lehnen sich explizit an die Operationalisierungen der Gates Foundation an. Hieran lässt sich die Bemerkung anschließen, dass ein »return on investment« nicht exklusiv ökonomisch zu verstehen ist. Gemein ist der Verwendung von »Impact« in so heterogenen Kontexten wie Medizin, Bergbau, Geophysik, Psychologie oder Materialwissenschaft, dass hiermit stets ein erkennbarer Unterschied zwischen zwei Zeitpunkten angesprochen ist. Ferner geht es hierbei ebenso ausnahmslos um Wirkungen, Effekte oder Einflüsse, die den erkennbaren Unterschied ursächlich einem Außen zurechnen. Sowohl der Asteroid, der ein sichtbares Loch in die Erdoberfläche schlägt, als auch der erkennbare Mitarbeiterschwund nach einer Konzernfusion sind nicht aus sich heraus entstanden, sondern in diesem Sinne extern herbeigeführt worden.
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haben, dass eine Dokumentierbarkeit hergestellt wird, deren empirische Korrelate als sehr viel linearer verknüpft dargestellt werden, als dies redlicherweise möglich ist. Aus dem Schildern der eigenen Praxis ist hier ein Supervisionsbericht der gesamten Branche geworden. Dies erfüllt passgenau die Struktur eines Fehlanreizes, der den Auftraggeber_innen gegenüber nun zu begründen ist. Dass Fördernde wissen möchten, was mit ihrem Geld geschieht, wird als legitime Erwartung kommuniziert. Wer auf messbare Ergebnisse insistiert, so der erste Teil dieser Problemdiagnose, übersieht gleichwohl Kontraproduktives. Die Struktur dieser Bestandsaufnahme wird mit »Timelines must also be borne in mind« (ebd.: 8) fortgesetzt. Impact stelle sich häufig erst nach Monaten, nicht selten nach Jahren ein, während Förderzeiträume oder Fristen für journalistische Preise eben auf bestimmte Dauer festgelegt seien. Als Vereinbarkeitsvorschlag zwischen der Ergebnisorientierung einerseits und der Sensibilisierung für Langfristigkeit andererseits präsentiert Tofel: »Sophisticated funders will want to make sure they are evaluating impact when they must—but then perhaps occasionally re‐evaluating it as time passes« (ebd.). Es ist evident, dass es das Papier nicht beim Ausführen von Problematischem belassen kann, das ist für die hier vorliegende Rahmung hoch unwahrscheinlich. Es ist nun Auskunft darüber zu erwarten, wie das Haus ProPublica mit diesen widersprüchlichen Tendenzen umgeht. Doch auch dies findet dann immer noch unter der grundlegenden Ambivalenz statt, die eigene Praxis zu torpedieren, gibt man allzu bereitwillig Auskunft. Hinzu komme ein nicht unmittelbar mit philanthropischer Förderung verbundenes Problem: Veränderungen des »news ecosystem«. Leser_innen kämen mit Reportagen und Geschichten eher in »atomistic fashion« in Berührung, durch »social media or search« (ebd.: 12). In einem solchen Ökosystem, an dieser Stelle schlägt der Text erstmals in Richtung Problembearbeitung um, »rigorous follow‐ups, repeated attention to complex subjects, and varying approaches to telling a story to varied audiences, may be the only way to actually bring a subject to widespread attention« (ebd.). Zunächst einmal ist an dieser Passage bemerkenswert, dass es nun nicht in erster Linie um »key decision‐makers« geht, sondern um die Leser_innen im Allgemeinen. Offenkundig aber ist es ein praktisches Problem, das Publikum längerfristig zu binden, insbesondere bei komplexen Themen. Hier werden nun clues angeboten, was dagegen zu tun sei. Wie man sich konkret »varying approaches to telling a story to varied audiences« vorzustellen hat, bleibt unthematisiert. Dieses Schema, Problemdiagnose mit anschließenden Indizien zu ihrer Bearbeitung, kehrt wieder. So sei es unmöglich, den Impact einer Story im Vorhinein vollständig antizipieren zu können. »But there should be an argument that impact is possible« (ebd.: 13). Organisationen wie ProPublica, deren selbstgesetztes Ziel Impact ist, sollten sich nicht mit unabänderlichen Ungerechtigkeiten oder unlösbaren
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Problemen (»irremediable injustice or problem beyond solution«) befassen; wo dies der Fall ist, sollte ein anderes Thema gewählt werden. Das wirft natürlich die Frage erst auf, wie dieses scheinbare Dilemma gelöst wird: Nicht um die tatsächliche Wirkung wissen zu können, mögliche Wirkung aber zu einem konstitutiven Element der Themenauswahl zu erklären. »Identifying these possible impacts can be critical in framing a story for publication, and in designing a communications and social media plan to accompany it—in short, maximizing the chances for impact« (ebd.). Hier liegen die clues vor allem im »designing«, denn hiermit ist planvolle Gestaltung zwingend impliziert. Um die Chancen einer Veröffentlichung unter den skizzierten widrigen Umständen zu maximieren, Wirkung zu entfalten, bedarf es eines Plans. Dieser hat etwas mit »communications and social media« zu tun, mehr aber erfährt man nicht. Dem Autor gelingt es, sich dem Vorwurf zu entziehen, nichts zu sagen. Seinem Gegenüber, in diesem Fall also zunächst: den Auftraggeber_innen, wird damit eine Sensibilisierung für Zufälle, für Entwicklungen, die man nicht in den eigenen Händen hat, kommuniziert. Gleichzeitig sucht das Papier soweit davon zu überzeugen, dass man diesen Zufall zu minimieren trachtet, ohne dabei wiederum kontraproduktive (weil etwa gegenbeobachtbare) Details preiszugeben. Diese Problemkonstellation prägt dieses Dokument signifikant. »Having laid out the issues surrounding the impact of non‐profit journalism, it remains to chart how such questions play out in the life of one such organization, ProPublica« (ebd.: 14). Nachdem sich das Problem verschärft hatte, Auskunft darüber zu geben, wie man es im eigenen Hause mit dem Impact hält, verbliebe nun aufzuzeigen, wie solche Fragen bei ProPublica umgesetzt werden. Und damit ist im Folgenden gemeint: Wie diese Organisation Impact misst. Der entsprechenden Schilderung wird diese aufschlussreiche Passage vorangestellt: »ProPublica takes great pains to track the impact of its work. One of its guiding principles in doing so is that transparency in claiming (or disclaiming) impact is essential, precisely so that those outside ProPublica can concur in its own judgments about where impact has taken place—or can challenge those judgments« (ebd.). Man nimmt folglich große Mühen auf sich, um es außerhalb von ProPublica Stehenden zu ermöglichen, darüber zu befinden, ob sich etwas als Impact qualifizieren ließe. Hierzu wird Transparenz im Behaupten und Dementieren von Wirkung als Leitprinzip benannt. Was Außenstehenden zur Evaluation angeboten wird – transparent gemacht wird –, ist allerdings selbst Gegenstand einer Entscheidung der Organisation. Genau hierauf reagiert die Unterscheidung von internen und externen Berichten (»internal and external reports«). Als wichtigster (»most significant«) dieser Reports wird ein interner Bericht namens »Tracking Report« bzw. »ProPublica Tracker« genannt.
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Abbildung 3: ProPublica Tracker (Tofel 2013: 15 )
Wie Abbildung 3 zeigt, wird die Entwicklung jeder Story hierin verfolgt. In die letzten Spalten, also denen zur Dokumentation resultierten Wandels (»Change that has Resulted«) und hieraus gezogenen Schlüssen (»Lessons Learned«), werde nur dann etwas eingetragen, »when ProPublica management believes, usually from the public record, that reasonable people would be satisfied that a clear causal link exists between ProPublica’s reporting and the opportunity for change or impact itself« (ebd.). Das Management entscheidet demzufolge für einen Change-Eintrag, wenn es davon ausgeht, dass vernünftige Leute mit einer eindeutigen Kausalverbindung zwischen der Berichterstattung ProPublicas und den Folgen einverstanden wären. Die eigene Berichterstattung würde so über Wochen bis hin zu Jahren verfolgt und dokumentiert. Wenn sich im Laufe der Jahre andere Initiativen des Themas angenommen hätten, wäre der Kausalzusammenhang ungleich schwieriger zu beurteilen (»causation becomes much more difficult to assess as time goes on«) (ebd.: 15). Abbildungen aus insgesamt fünf unterschiedlichen Berichtsformen dokumentieren über ihren Inhalt hinaus, dass man zum Zwecke der Rekonstruktion von Impact über Instrumente verfügt, die unterschiedlichen Anspruchsgruppen (»stakeholder«) gerecht werden sollen. Aufschlussreich ist, welche organisatorischen Tätigkeiten präziser beschrieben werden. Man erfährt, dass zwei Vollzeitkräfte »track each media interview and conference appearance by ProPublica reporters and editors, organized by story subject« (ebd.: 17) oder dass in Bezug auf den »Daily Traffic Report«, die »news applications group—a cluster of seven full‐time coder/designer/journalists—has automated the creation of these reports« (ebd.: 19).
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Die bis hierhin freigelegte Struktur offenbart, dass hier einerseits mit Adressat_innen gerechnet wird, die man dafür zu sensibilisieren hat, dass es zufällige Entwicklungen gibt, die Handelnde nicht kontrollieren können. Andererseits positionierte sich das Papier diesen Adressat_innen gegenüber insofern entgegenkommend, als dokumentiert wird, dass es gemessene Versuche gibt, Zufälle zu minimieren. Dabei zeigte der Text recht präzise, wie Wirkung im eigenen Haus gemessen wird, weit weniger genau aber das, was hier unternommen wird, um in unterschiedlichen Formen Gemessenes zu bewirken. Dass das Offenlegen von Strategien deren Absicht zu konterkarieren vermag, erklärt eine solche Zurückhaltung befriedigend. Doch den abschließenden Absatz »A Few Tentative Lessons« beschreibt Sensibilisierung dann nicht mehr treffend. Dem angekündigten vorsichtigen – eben tentativen – Charakter dieser Lehren steht schon formal entgegen, dass die erste Lektion gleichermaßen im ersten Fettdruck des gesamten Papiers aufscheint. »First, true impact—in the real world change sense that we have been discussing it in this paper—is relatively rare« (ebd.: 20; Herv. i.O.). Seltenheit wird häufig (sic!) ganz besonders wertgeschätzt, ist per se weder minderwertig noch begründungsbedürftig. Rares wird nur dort problematisiert, wo Häufigkeit mit Höherwertigkeit verknüpft wird. Es muss von besonderer Bedeutung sein, hierauf gleich als erstes zu verweisen. Ob sich Güte eher quantitativ oder qualitativ erkennen lässt, darf in vielen Fällen und Bereichen als umstritten gelten. Im Text wird eine Bedingung der Möglichkeit einer solchen Erkennenskapazität klar benannt: »The point is that without understanding the degree of difficulty inherent in any craft, it is impossible to intuit an objective standard of excellence« (ebd.). Wer nicht den jedem Handwerk (»craft«) inhärenten Schwierigkeitsgrad verstehe, kann keine Vorstellung objektiver Gütekriterien entwickeln. Diese sprachliche Fassung lässt im Prinzip offen, ob man selbst das Handwerk beherrschen muss, da als entscheidend benannt wird, die damit einhergehenden Schwierigkeiten zu verstehen. Somit wird ein unmittelbarer Affront allen NichtPraktiker_innen gegenüber vermieden. Einige der Arbeiten von ProPublica seien einer Kosten-Nutzen-Analyse unmittelbar zugänglich, jedoch müsse eine Warnung (»caution«) genannt werden: »Not all impact is quantifiable in this way« (ebd.). Die abermalige Betonung, dass Wirkung nicht immer quantifizierbar ist, wird hier durch das auf »cost‐benefit analysis« bezogene »in this way« noch relativiert. Doch schon die nächste Lektion aus der Erfahrung ProPublicas relativiert die Relativierung: »the importance of acknowledging that impact is easier to identify than to conclusively ›prove,‹ and that those seeking to chart it must not shy away from an attitude that ›I know it when I see it‹« (ebd.; Herv. i.O.). Die hier benannte Attitüde bezeichnet als erfahrungsbasiertes Erkennen das Gegenteil von auf Messbarkeit zielender Operationalisierung. Betont wird dabei
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die Bedeutung ebendies anzuerkennen: Wirkung zu identifizieren sei einfacher als sie endgültig zu beweisen. Jede Attitüde des Typs »Ich erkenne xy, wenn ich es vor mir habe« impliziert eine erfahrungsbasierte Expertise, die hier selbstbewusst einzunehmen ermutigt wird. Aufgerufen ist damit zweifellos auch der Unterschied zwischen implizitem und explizitem Wissen. Dies ist nur vor dem Hintergrund sinnvoll, dass ein Verlassen auf die Fähigkeiten Erfahrener in Zweifel gezogen wird, dass Anderes zur Rechtfertigung von Vertrauen eingefordert wird. Dieses Andere kann durch die bis hierhin rekonstruierte Struktur nur das Messbare, Explizite, Quantifizierbare sein, etwas, mit dem Beweise geführt werden können. Viele der für Wirkung zitierten Beispiele würden weder einen Gerichtshof (»court of law«) noch einem Philosophie-Seminar standhalten. In ihren Kausalzusammenhängen könne von einem Übergewicht an Evidenz (»preponderance of the evidence«) nicht die Rede sein: »Especially not if we deconstruct the slippery notion of causation itself« (ebd.). Was als Sensibilisierung für Unkontrollierbares begann, geht in einen Appell über, es mit der Messbarkeit nicht zu übertreiben, auch und gerade, wenn Wandel das Ziel ist: »we must not fool ourselves into thinking that it is subject to mathematical proof or even, in some cases, statistical reliability. Moreover, while holding organizations like ProPublica to their missions, to their commitment to change, we need also recognize what Emily Bell has aptly termed the »alchemy of impact,« the very unscientific way in which impact often occurs. This alchemy includes a substantial measure of happenstance« (ebd.: 21; Herv. i.O.). Der Alchemie-Topos ist das Gegenstück zur wissenschaftlichen Systematik schlechthin. Dabei wird nicht das Unsystematische an der Alchemie betont, sondern die überaus systematische Suche nach etwas, das es nicht gibt, wie den Stein der Weisen oder das Universallösungsmittel Alkahest. Ebendies wird nun der Art und Weise zugeschrieben, in der Impact häufig auftrete. Verdeutlicht man sich nochmals die Sequentialität, dass vor diesem Fazit fünf verschiedene bei ProPublica eingesetzte Instrumente zur Erhebung und Auswertung von Impact vorgestellt wurden, so werden diese Methoden hier ex post als systematische Rekonstruktionen von etwas präsentiert, das sich ganz und gar chaotisch verhalte. Nicht das Messen von Wirkung wird mit Alchemie verknüpft, sondern Wirkweisen selbst. Kurzum: Wer nach einer Systematik der Wirkungserzielung suche, muss mit einem erheblichen Maß(!) an Zufall rechnen (»substantial measure[!] of happenstance«). Appelle unterstellen konstitutiv eine Gegenposition, die es zu überwinden gilt. Diese muss hier dadurch gekennzeichnet sein, das Bewirken gesellschaftlichen Wandels als nach beweisbaren Regeln folgend aufzufassen. Einem solchen Verständnis werden hier Grenzen gesetzt. Die Erklärungslast trägt allein der Faktor Zufall, mit dem einhergehen muss, dass ihm Unsystematisches, Unrekonstruierbares und Unvorhersehbares innewohnt.
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Der gesamte hier fokussierte Absatz ist in einem inklusiven Wir verfasst: Wir dürfen uns nicht täuschen, wir müssen anerkennen usw. Allerdings treten die unterschiedlichen Positionierungen im Rahmen dieses Wirs offen zutage: Zum einen geht es um diejenigen, die davon überzeugt sind, dass es Regeln der Wirkungserzielung gibt. Demzufolge ist es eher eine Frage des Einsatzes (von Zeit, Geld usw.), diese Regeln zu bergen. Auf der anderen Seite stehen jene, die nicht von der Existenz einer solchen Gesetzmäßigkeit überzeugt sind. Sequentiell schließt sich nun zur Plausibilisierung der Bedeutung des Zufalls an: »One of ProPublica’s most successful stories may offer an illustration« (ebd.). An diesem selbstbewusst als Erfolgsgeschichte bezeichneten Fall soll konsequent gerade nicht etwas bewiesen, sondern illustriert werden. Diese Schilderung zeichnet sich dadurch aus, den Zufallsbedeutungsaspekten solche zur Seite zu stellen, aus denen hervorgeht, was man im Wissen um die Bedeutung des Zufalls trotzdem systematisch einkalkuliert. Die Erfolgsgeschichte bezeichnet die Reform der Aufsicht des Krankenpflegepersonals in Kalifornien. Die Verfehlungen des bis dahin geltenden Systems veröffentlichte ProPublica in Kooperation mit der Los Angeles Times. Einen Tag nach der Veröffentlichung entließ der damalige Gouverneur, Arnold Schwarzenegger, die meisten Mitglieder der Aufsichtsbehörde: »A reform process began immediately« (ebd.). Neben diese politische Wirkung trat wenig später auch noch eine mediale »as a finalist for the Pulitzer Medal for Public Service« (ebd.). Die Darstellung der Einschränkungen der eigenen Einwirkungskapazität beginnt damit, dass der Gouverneur die Story gar nicht hätte sehen können, »with the largest newspaper in his state, made this unlikely« (ebd.). Ein anderer Grund könnte in der konkreten Person liegen, »a person of different temperament«. Ferner hätten genuin politische Erwägungen für einen anderen Ausgang sorgen können: »the political problem that he had appointed many of the Board members he then summarily dismissed« oder »because of a perceived need to keep public attention elsewhere« (ebd.). Die Darstellung möglicher Limitierungen ist von der Auskunft über eine planvolle Berücksichtigung im Sinne einer Publikationsstrategie allenfalls analytisch zu unterscheiden. Denn in der oben zitierten Passage kommuniziert man unweigerlich mit, um die politische Qualität von Problemen nicht nur zu wissen, sondern zudem vergleichsweise konkrete Beispiele benennen zu können. In der Pragmatik eines Fazits sowie einer Überleitung heißt es »But with any given story, this sort of happenstance may well play a leading role. Those seeking to evaluate the impact of any given story (as opposed to a broader body of work) will need to bear this in mind« (ebd.). Daran, dass Zufälle immer eine Hauptrolle spielen können, wird hier mit wenig Zurückhaltung erinnert (»will need to«). Der Schlusspunkt soll dann mit dem letzten Fettdruck gesetzt werden: »With all of this, perhaps the most important lesson is that there is no one reliable me-
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asure of journalism’s impact, no single algorithm that can be devised, no magic formula to load into a spreadsheet or deploy in an app« (ebd.; Herv. i.O.). Während an dieser Stelle die Betonung unmissverständlich darauf zu liegen scheint, dass es das eine Mittel nicht geben kann, wird aus dem Anschluss ersichtlich, dass es weniger um die Zahl als um die Art solcher Mittel geht: »Some—perhaps most, and the most important—of these measures will be expressed in words. […] That is still data, but it’s qualitative (stories) instead of quantitative (numbers)« (ebd.). Die Kontrastfigur einer übersteigerten und tendenziell ins Kontraproduktive umschlagenden Messbarkeitserwartung wird hier deutlich auf Quantifizierung hin spezifiziert. Wirkung datenorientiert zu evaluieren, ist somit nicht per se problematisch, nur, so wird hier kommuniziert, muss dann abermals für eine Anerkennung sensibilisiert werden, an dieser Stelle den Datenstatus von Qualitativem betreffend. Genau dies kennzeichne die Reports bei ProPublica. Nimmt man nochmals die Überschrift dieses Abschnitts hinzu – »A Few Tentative Lessons« –, so wäre dieser Umstand als Lehrsatz aufzufassen: Auch qualitative Daten sind Daten bzw. Daten gibt es auch unabhängig von Zahlen. »Those reports, in turn, reveal the next important lesson with regard to impact: that it is often a long time in coming, and any effort to measure impact should necessarily stretch over the longest possible period« (ebd.: 22). Einerseits war dieser Aspekt weiter oben inhaltlich schon untergebracht, andererseits war die Reaktionszeit im vergleichsweise ausführlich geschilderten Schwarzenegger-Fall besonders kurz: »So while the 24-hour impact of the California nurses story is not unique, it is also not the norm« (ebd.). So habe es auch bei »Watergate« acht oder neun Monate gebraucht, bis aus dem Skandal eine Krise wurde und weitere sechzehn Monate vergingen, bis Präsident Nixon zurücktrat. Wer auf Quartalszahlen insistiere, »will distort behavior, and reward thinking that focuses on smaller but more visible objectives over longer‐term, larger targets« (ebd.). Je mehr Zeit sich eine Reportage nehmen könne, desto wahrscheinlicher und stärker sei eine Wirkung, desto schwieriger würde allerdings auch die Auslösezurechnung. Diese Passage ist wieder im inklusiven Wir verfasst, diese Form wird auch im letzten, tendenziell wieder entgegenkommenden und relativierenden Abschnitt durchgehalten. »At the same time, we need to recognize the practical problems this reality presents: those with oversight responsibility for investigative journalism (such as board members at non‐profits, or top editors or publishers at large for‐profit newspapers) cannot always wait two years to reach judgments about performance« (ebd.). Allerdings kann dieses Wir gleichermaßen an die eigene Adresse gerichtet sein, dass die Praktiker_innen (etwa bei ProPublica) auch die praktischen Probleme derjenigen anerkennen müssten, die sich ihrer Urteile nicht zwei Jahre enthalten können. Auch wenn an Sachzwängen dieser Art nichts zu ändern sei (»To a significant extent, this tension cannot be eased«), so könne Problembewusstsein das Problem schon begrenzen (»awareness of the problem may limit it«). Dieser Gemeinplatz wird um
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einen abschließenden und vergleichsweise praktischen Rat ergänzt: »promote sensible changes, such as instituting different (and longer) terms for evaluation of management performance and grant effectiveness« (ebd.). Die herausgehobene Stellung eines jeden Schlusspunkts verdeutlicht letztmals die Bedeutung von Langfristigkeit. Für sinnvolle Veränderungen zu werben (»promote sensible changes«) betont schließlich über die Berücksichtigung der vielfach angesprochenen »timelines« hinaus, dass diese Perspektive im status quo nicht zu verzeichnen ist. Es bietet sich zum Ende dieser Analysedarstellung an, wieder zum Beginn, genauer gesagt, zur Überschrift zurückzukehren. Das dem Titel »Issues Around Impact« inhärente Kreisende findet schließlich auch darin seinen Ausdruck, dem eigenen Wirkungsanspruch einerseits treu zu bleiben, andererseits aber zu dokumentieren, dass die Erwartung Wirkung sicht- und besser noch zählbar zu machen, auf die eigene Einwirkungskapazität rückwirkt.
VIII.3 Die Gesellschaft der Gesellschaftskorrektur – Übersetzungstheoretische Spurensuche Die Relevanz des vorstehend analysierten Papiers »Issues Around Impact« für eine ganze Branche ist bereits angeführt worden. In den methodischen Vorbemerkungen war ferner schon festgehalten worden, dass es in der Analyse vor allem darum ging, das Papier daraufhin zu befragen, für was es eine Lösung darstellt – und welche Probleme es auf dem sequentiell nachzuzeichnenden Wege dorthin löst. Zweifellos geht es Methoden wie der konversationsanalytisch ausgerichteten Dokumentenanalyse immer darum, dass der jeweils vorliegende Einzelfall gemäß seiner spezifischen Eigengesetzlichkeit behandelt wird, dass ebendiese Logik selbst der zu rekonstruierende Aspekt sei. Der vorliegende Abschnitt geht von der Annahme aus, dass die in diesem Papier aufgedeckten Probleme in einem systematischen Zusammenhang zu ihrem gesellschaftlichen Kontext stehen. M.a.W.: Dass sie Auskunft darüber geben, in welche Gesellschaft Gesellschaftskorrektur eingebettet ist. Damit betritt diese Studie keineswegs differenzierungstheoretisches Neuland. Im Gegenteil, Luhmanns Wissenssoziologie unter dem Titel »Sozialstruktur und Semantik« war es genau darum zu tun, den Übergang zu funktionaler Differenzierung mit semantischen Verschiebungen zu korrelieren.14 Dennoch ist das nun verfolgte Vorgehen von einer ande14 »Es bestehen […] Abhängigkeitsverhältnisse zwischen gesellschaftsstruktureller Evolution und Ideenevolution. […] Es geht um das Verhältnis zweier Evolutionen, die beide sich der Möglichkeit von Sinnevolution verdanken, die beide, aber in je unterschiedlicher Weise, auf eine Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung angewiesen sind, und die bei-
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ren Art, weil es nicht bereits vorab wusste, wonach es zu suchen hatte (etwa: aufkeimende Indifferenz gegenüber anderen gesellschaftlichen Kontexten, vgl. Kap. II.3). Damit bewegt sich eine solche Konzeption in der Nähe der von Renn (2014, 2018b) vorgeschlagenen »Makroanalytischen Tiefenhermeneutik«. Diese will eine rein äußerliche Bezugnahme auf makrotheoretische Modelle – etwa: die »Gouvernementalität«, die »zweite Moderne« oder eben: die »funktionale Differenzierung« – vermeiden, da eine solche meist »ein rein rhetorisches Element zur Simulation von generalisierter Relevanz der eigenen Forschung« sei (ders. 2014: 330). Stattdessen müsse es darum gehen, Sinnschichten freizulegen, »die plausibel als Spuren, Symptome oder ›Übersetzungen‹ der Wirkungen des Differenzierungsmusters gelesen werden können« (ebd.: 331). Die von solchen Wirkungen hinterlassenen Spuren nennt die Übersetzungstheorie »Translate«, hierin schlagen sich »Einflüsse externer Organisationen und abstrakter systemischer Imperative […] nur indirekt in Gestalt der Wirkung von Interferenzen« nieder (ebd.: 332). Dass im untersuchten Papier externe Einflüsse rekonstruierbar sind, mutet zunächst trivial an; es handelt sich um ein extern in Auftrag gegebenes Dokument. Jedoch ist übersetzungstheoretisch selbst die engste Relation von Auftrag und Ausführung nicht ohne aneignenden Bedeutungsbruch vorstellbar. Es sind, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, insbesondere drei Interferenzausprägungen, deren Wirkungen sich in der Kontur des Dokuments manifestieren: Transparenz, Quantifizierung und Differenzierung. Transparent macht sich das Dokument zunächst einmal damit, dass es im Internet frei verfügbar ist. Wählt man auf der ProPublica-Homepage die Rubrik ›Impact‹ an, so ist der Link zu »Issues Around Impact« auch gleich der erste angebotene.15 Im Gegensatz zu der erst später zu diskutierenden Quantifizierungserwartung wird von Transparenz hier nicht als externer Erwartung oder gar als Druck gesprochen. Schon hierin, so ließe sich folgern, äußert sich die Transparenzerwartung implizit. Kurzum: Weder kann man sich als Non-Profit über Transparenzdruck öffentlich beschweren, noch ist öffentlich bekannte Intransparenz eine ergreifbare Option. Geht man davon aus, dass das Erzielen von Impact nicht ohne weiteres öffentlich bekannt sein, sondern eher wie eine Art Betriebsgeheimnis gehütet werden soll, so lässt sich schließen, dass das Einsehbarmachen von allem, was nicht in diesem Sinne geheimnisvoll erscheint, als Lösung dieses Problems dient. Insofern ist wenig verwunderlich, dass auch ProPublica Transparenz als Leitprinzip (»guiding principle«) ausweist. Doch dabei handelt es sich eben um Transde historisch simultan aufeinander einwirken, also nicht als Verhältnis von vorher/nachher, Ursache/Wirkung, Grund/Folge, höhere/niedrigere Ebene begriffen werden können. Wenn es zu einem grundlegenden Umbau der Form gesellschaftlicher Differenzierung kommt, kann demnach die soziale Semantik (Ideen, ›Kultur‹) nicht einfach als Ursache, aber auch nicht bloß als Wirkung der sozialstrukturellen Veränderungen begriffen werden« (Luhmann 2008b: 56f.). 15 So zumindest bis zum 26. Oktober 2018.
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parenz in bestimmter Hinsicht, die anderes abblendet. Hier wird darauf verwiesen, dass Transparenz im Behaupten und Dementieren von Wirkung entscheidend sei (»transparency in claiming (or disclaiming) impact is essential«). Damit macht man einerseits aus den eigenen Rechercheergebnissen Thesen, die außerhalb von ProPublica Stehende dann kritisieren oder übernehmen können. Andererseits bleibt damit uneinsehbar, wie es zu diesen dann öffentlich kritisierbaren Resultaten gekommen ist. Diesbezüglich gibt es durchaus Hinweise, die der Maxime zu folgen scheinen: So konkret wie nötig, so elliptisch wie möglich. Nötig sind sie, weil Vertrauensverlust riskiert, wer sich allzu intransparent gibt. Am deutlichsten tritt dieses Moment wohl an den Stellen zutage, an denen man sich von einer Kontrollierbarkeit des Impact-Erzielens distanziert, an denen die Bedeutung des Zufalls hervorgehoben wird. Wieder kaschieren solche Bekenntnisse eher, dass man alles daransetzt, den Zufall zu minimieren. Eine solche Spur hinterlässt etwa die Passage, in der der Unterschied zwischen Reichweite und Wirkung erläutert wird. Hier kann man es dann als clou darstellen, dass Impact gar nicht auf maximaler Reichweite beruhe, sondern man vor allem die Richtigen erreichen müsse, was in der Formel »targeting particular specialized audiences« zum Ausdruck kommt. Wieder bleibt unklar, wie eine solche Erreichbarkeit zu organisieren ist. Doch wenn man zuvor hinreichend die Bedeutung von Zufällen und Unvorhersehbarem betont hat, erscheint jede Explikation von Dagegengehaltenem als Pionierarbeit, die weitergehende Nachfragen demotiviert. Das Papier gewährt Einblick in den wichtigsten, eigentlich internen Impact Report (»The most significant of these is an internal document«). In der zugehörigen Abbildung sind die als besonders relevant ausgewiesenen letzten drei Spalten dann allerdings leer. Quantifizierung wird explizit als externe Erwartung bezeichnet, die den gesamten Non-Profit-Sektor unter Druck setze. Stiftungen, aber auch Regulierungsinstanzen forderten zahlenförmige Resultate ein. Diese im Papier zunehmend als problematisch ausgewiesene Erwartung fungiert allerdings gleichermaßen als Lösung. Wann immer der Text auf Offenlegungen zur Wirkungserzielung zusteuert, findet sich eine Übersetzung in Richtung Messbarkeit von Wirkung, genauer gesagt zu deren Quantifizierung. Man sieht sich von einer Gesellschaft umgeben, die Zahlen erwartet, wo – nach Auffassung des Papiers und dessen Autors – Qualitatives aufschlussreicher wäre. Es ist dieser Zusammenhang, in dem Digitalisierung zunächst nicht als Chance erscheint, sondern eher als Vehikel für die Erwartung vereinfachter Messbarkeit. Diese Einbettung von Digitalisierung in das Problem der Quantifizierung, aus dem sich, wie dargestellt, auch Lösungsmöglichkeiten ableiten lassen, macht diese nicht
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in gleichem Maße zu einer Signatur der Gesellschaft der Gesellschaftskorrektur, wie Quantifizierung, Transparenz und schließlich Differenzierung.16 Digitaltechnologien gehen mit dem Versprechen einher, so etwas Unübersichtliches wie Impact »in beobachtbare Sachverhalte zu übersetzen, die die involvierten Teilnehmer dazu anhalten, sich – unter den Augen eines Publikums – auf metrisch definierte Abstände, Unter- und Überordnungen, Erfolge und Misserfolge hin zu beobachten, um daraus Impulse für interne Weiterentwicklungen zu gewinnen« (Wehner et al. 2012: 66). Ebendies nennen Josef Wehner et al. (ebd.) Massenmedien im immer breiter werdenden Fahrwasser einer »Quantifizierung der Gesellschaft.« Mit einer differenzierten Gesellschaft rechnet dieses Dokument in vielen Hinsichten. Erste Hinweise liegen in den bereits erörterten »specialized particular audiences«, in der Annahme also, relevante Ziele würden auf unterschiedliche Spezialpublikationen ansprechen. Es fällt nicht schwer, im Text das einkalkulierende Unterscheiden von Personen (»a person of different temperament«), Organisationen (z.B. Stiftungen, Regulierungsbehörden, Preisjurys) bis hin zu Systemen (das Ausmachen spezifisch politischer Probleme) zu erkennen. Hiermit sind dann nicht nur unterschiedliche Informationsverarbeitungen im Allgemeinen angesprochen – es zählen andere Dinge –, sondern auch unterschiedliche Verarbeitungstemporalitäten im Besonderen. Dies beginnt etwa mit der profanen Feststellung, dass sich Preisjurys nun einmal an Jahresfristen halten müssten und setzt sich etwa darin fort, dass ansonsten in eher wirtschaftlichen Kontexten operierende Stiftungen in Quartalen zu denken und handeln gewohnt sind. Auch weil relevante Entscheidungsträger_innen oftmals unter Zeitdruck stünden, wird daraus für das eigene Vorgehen abgeleitet, dass echte Wirkung ihre Zeit braucht. Ebendies anders getakteten Personen und Organisationen näherzubringen, ist der Kern von »Issues Around Impact«. Dieser hier lediglich skizzierte Differenzierungsaspekt wird im folgenden Kapitel vertieft. Doch schon dieser Anriss nährt die Zweifel an Luhmanns Diktum vom »praktisch ratlosen Protest«. Diesem lässt sich bereits an dieser Stelle die These entgegenstellen, dass der praktische Einfallsreichtum eher vor dem Problem steht, seine Gestaltungsmittel nicht zu bekannt werden zu lassen, um einerseits nicht kopiert werden zu können und andererseits Reaktionsstrategien nicht zu viel Zeit einzuräumen.
16 Gleichwohl wird Kap. X.2 den Zusammenhang von Gesellschaftskorrektur und Digitalisierung wieder aufnehmen. Steffen Mau (2017: 27) bezeichnet Quantifizierung als Übersetzungsleistung.
IX. Differenzierungstheoretische Konsequenzen rekonstruierter Korrektivpraxen
Schon oben (Kap. IV.1) wurde auf Luhmanns Beitrag zur Reproduktion der Wachhund-Semantik verwiesen. Protest (im Allgemeinen) kennzeichne – diesbezüglich Wachhunden gleich – das starke Bedürfnis, Ordnung wiederherzustellen oder zumindest eine Verschlimmerung zu verhindern. Er hätte dazu – wiederum wie der Wachhund – nur die Möglichkeit, zu bellen und zu beißen. Dass schon das Beißen über das alarmierende Bellen hinausgeht, ist ebenso oben bereits konstatiert worden. Schon dies könnte in empirische Fragen übersetzt werden: Wird immer gleich gebellt? Wie bekommt man wen in Hörweite? Wer wird gebissen? Geht es nur um das Zufügen äußerlich sichtbarer Wunden? Dass solche Fragen von der Differenzierungstheorie nicht gestellt werden, ist gewissermaßen einer nicht empirisch offenen theoretischen Setzung geschuldet. Am deutlichsten kommt dies in der ebenfalls bereits zitierten (Kap. IV.1) WatergatePassage zum Ausdruck: »In all diesen Fällen wird das Problem durch die Berichterstattung der Massenmedien in Skandale transformiert und damit moralisch aufgewertet. Andererseits führt die Verbreitung dieser Phänomene (die Skandale leben davon, daß andere Fälle nicht entdeckt werden) zu praktischer Ratlosigkeit. Aus der Entrüstung, die leicht zu erregen ist, folgt noch nicht, was praktisch wirksam zu tun ist. […] Helfen kann nur das Recht, das Verstöße mit gravierenden Folgen sanktioniert (wenn es korruptionsfrei gehandhabt werden kann)« (Luhmann 1997: 404f.). Dass sich die zahlreichen und zunächst verstreuten Analyseresultate entlang von drei Elementen aus dieser Passage – (1) praktische Ratlosigkeit, (2) leicht erregbare Empörung, (3) Hilfe des Rechts – aufbereiten lassen, ist bereits ein empirisch gewonnenes Ergebnis und war nicht Ausgangspunkt der Analyse. Tatsächlich hat insbesondere das Codieren der Interviews es ab einem bestimmten Zeitpunkt geradezu unübersehbar werden lassen, dass sich die wesentlichen differenzierungstheoretischen Konsequenzen anhand ebendieser Passage aufzeigen lassen. Dementsprechend lauten die drei die nächsten Abschnitte leitenden Thesen in ihrer ex negativo-Variante: (1) Die Verbreitung als korrekturbedürftig kommunizier-
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ter Phänomene führt nicht zu praktischer Ratlosigkeit; (2) Entrüstung ist nicht leicht zu erregen; (3) Dass nur das Recht helfen kann, wird von Korrektiven nicht in Abrede gestellt.
IX.1 Praktische Ratlosigkeit vs. Irritationsgestaltung Praktisch wirksam zu werden kommt, wie die Analyse des Tofel-Papiers verdeutlicht hat, als interne wie auch als externe Erwartung für Organisationen wie ProPublica vor. Das ist für neue zivilgesellschaftliche Gegenmächte wie den InvestigativJournalismus auch nicht weiter überraschend. Das Papier arbeitete sich an dem Spagat ab, einerseits auf die Bedeutung des Zufalls zu verweisen, andererseits aber glaubhaft zu vermitteln, dass alles darangesetzt werde, dem Zufall bestmöglich zu trotzen. Mit »happenstance« ist eine Bezeichnung gewählt worden, die auch als »glücklicher Umstand« oder »Fügung« übersetzt werden kann. Doch die im Text selbst vorgenommenen Beschreibungen solcher Zufälle haben kaum etwas mit einem Verständnis zu tun, das darauf hofft, etwas möge vom Himmel fallen. Es ist von (Ziel-)Personen unterschiedlichen Temperaments, organisationalen Erfordernissen oder systemischen, hier: politischen Problemen die Rede. Gemein haben diese Umstände, dass sie außerhalb des eigenen (hier also: ProPublicas) Kontrollbereichs liegen. Das allerdings bezeichnet eine grundlegend andere Konstellation als dem Zufall ausgeliefert zu sein. In fremde Verstehenskontexte kann nicht von außen eingegriffen werden. Diese Annahme vertritt die Differenzierungstheorie offenkundig nicht exklusiv. Was man somit als Umstellung von Durchgriffs- auf Auslösekausalität bezeichnen kann, mag zunächst als Antwort an überzogene Erwartungen interpretiert werden. Fuchsʼ (2013) Überlegungen zur Auslösekausalität bezogen sich auf Gesellschaftskritik. Dieser empfahl er, die besagte Umstellung vorzunehmen, indem sie ihre Kommunikationen für adressable Organisationen lesbar machten »in der Form von Irritationstableaus« (ebd.: 108). Mag die Wendung »Irritationstableau« letztlich erratisch bleiben, so ist doch sicher, dass ebendies auf die Berücksichtigung von Sinngrenzen bezogen ist, die als gezielt anregbar, nicht aber extern änderbar gefasst werden. Das oben (Kap. VII.2) eingeführte Konzept der Irritationsgestaltung fragt exakt danach, wie sich ein solches Anregen unter Beachtung von Sinngrenzen ausnimmt. Nun lässt sich an ProPublica im Besonderen und einigen Initiativen des gegenwärtigen Investigativ-Journalismus im Allgemeinen besonders gut zeigen, dass Grenzen dieser Art nicht nur beachtet, sondern einkalkuliert werden; ebendies wiederum hat dann Implikationen für die Annahme praktischer Ratlosigkeit.
IX. Differenzierungstheoretische Konsequenzen rekonstruierter Korrektivpraxen
Irritationsgestaltung in der Sachdimension Lesbarmachen scheint in diesem Zusammenhang unmittelbar auf die Sachdimension zu verweisen. Es müsste sich dann etwa um Formulierungen handeln, die gewählt werden, weil von ihnen eher als von anderen erwartet wird, sie fänden bei Adressat_innen Beachtung. Für genau diesen Umstand hat die Konversationsanalyse den Begriff des »recipient designs« vorgeschlagen (Sacks et al. 1974).1 Methodisch könnte nun genau dieses Konzept auf Veröffentlichungen von ProPublica angewendet werden, um die sprachlichen Mittel zu rekonstruieren, die zur gezielten Adressierung Verwendung finden. Fraglos wäre ein solches Vorgehen hilf- wie erkenntnisreich. Die Praxis jedoch beantwortet, wie sogleich zu zeigen sein wird, solche Wie-Fragen mit Wo-Auskünften. Natürlich wird auch auf der für Fragen in bzw. nach der Sachdimension besonders relevanten Ebene konkreter Formulierungen nichts dem Zufall überlassen. Ein instruktives Beispiel hierfür liefert das Lancieren eines Themas, von dem zum Entstehungszeitpunkt angenommen wird, es sei weitgehend unbekannt: »when (›)we started that coverage – it=was, I think, two thousand eight – uhm and I remember it, the reporte::r – we had a big debate here, whether we could (›)call it ›fracking‹ because that was such a term‐of-art and people wouldn’t know what that (›)meant and whether – (I: uh‐huh) how we would (›)spell ›fracking‹ and could we call it ›hydro‐fracki:ng‹? – and so, when we (›)started uhm there was very little coverage of this and it was quite a (›)niche (I: yeah) uh thing and we stayed on it for years and years and years. And this was a, you know, it was at (›)that point – and sounds silly now, because it’s such a huge story now – but uhm, you know, at that point it seemed like this very uhm (.) somewhat obscure technical thing that activists knew about, but most people didn’t, and we had this kind of ›introduce it to you as that thing you didn’t know existed‹, in order to tell you, you know, (›)why it was problematic and what the debate was. (.) (I: Right, yeah.) So we arrived early and stayed late and to some extend we’re (›)still doing hydrofracking stories » (IntPP-02: 237ff.). Ob das Thema also Fracking oder Hydro-Fracking genannt werden sollte, wie man das überhaupt zu buchstabieren hätte, ist mit Blick auf ein spezifisches Publikum problematisch. Das kommunikativ zu lösende Problem bestand zunächst darin, dem Publikum zu zeigen, dass es sich um ein wichtiges Thema handelt, es aber kein eigenes Verschulden darstellt, wenn man von dessen Existenz noch nichts wusste. ProPublica kennt seinen Ausschnitt aus der »general public« (inzwischen): »ProPublica readers uhm tend to- or ProPublica-(›)users I gotta – uh tend to be: 1 In seiner Fallstudie zu Correctiv zeigt Volker Lilienthal (2017: 667), wie viel Arbeitszeit auf das »mediengerechte Konfektionieren von Inhalt« entfällt.
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uh (.) a bit o:lder, a bit more educated uhm but sort of the – I like to say (?)- uh a curious and uh- a curious person« (Int-PP-01: 181ff.). Die aufschlussreiche Korrektur von »readers« zu »users« deutet schon darauf hin, dass die zitierte Interviewte im später (Kap IX.2) noch genauer zu beleuchtenden Engagement-Bereich tätig ist. Schon hierin ist impliziert, dass es nicht nur darum gehen kann, Leser_innen zu gewinnen, sondern das Gelesene für etwas zu nutzen. Die von ProPublica zur Verfügung gestellten Produkte sollen verwendet werden und dies geht über bloße Lektüre offenbar hinaus. Jährlich wird ein »Reader Survey« durchgeführt. Aus den Ergebnissen für 2017 ging hervor, dass »Eight‐four percent of you are white (down from 88 percent in 2015), 3 percent Latino, 3 percent Asian, and 2 percent black. (The remainder are a combination of »other« and preferring not to answer).«2 Nicht nur diese Häufigkeitsauszählung deutet auf eine unübersehbare Homogenität hin. Diese wird, nicht zuletzt mit dieser jährlichen Veröffentlichung, a) transparent gemacht und b) organisational bearbeitet, etwa durch explizite Formalisierungen der Einstellungspolitik: »We will interview at least one person of color for every posted job in line with the practice pioneered by the NFL and known as the ›Rooney Rule‹«.3 Wenn Irritationsgestaltung in der Sachdimension vor allem meint, eigene Kommunikationen im Lichte der Aufnahme anderer Verstehenskontexte aufzubereiten, vollzieht sich dies in der Auskunft der Praxis stets über die Grundeinheit »story« bzw. »stories«: »Each story we publish is distributed in a manner designed to maximize its impact.«4 Womit man andernorts also eine sichtbare Wirkung erzielen will, sind Geschichten. Dies mag zunächst kontraintuitiv anmuten, da man eine Zustandsänderung, die eine Geschichte zu evozieren in der Lage ist, eher im Unterhalterischen vermuten könnte. Verortet man »stories« im (systemischen) Bereich der Kunst, erschließt sich diese Form(ulierungs)wahl im Lichte des Konzepts der Irritationsgestaltung. Luhmann (1995a: 42; Kap. III.7) hatte diesbezüglich festgestellt, dass Kunst Wahrnehmende stets zu der Frage provozierte: Wozu? Aus dieser Perspektive ist es gerade Sache der Kunst, aufdringlich werden zu können, was sie vom normalen Wegarbeiten leichter Irritationen des Alltagslebens unterscheide (ebd.: 228). Mit Blick auf die investigativ‐journalistische Respezifikation dieses theoretischen Postulats, lässt die empirische Analyse den Zusatz erforderlich werden, dass sich das Irritationspotential des »›künstlich‹ Hergestellten« – hier eben in Form 2 https://www.propublica.org/article/results‐of-our-2017-reader‐survey. 3 https://www.propublica.org/article/what‐propublica-is‐doing-about‐diversity-in-2018; nachzulesen ist auch, dass in 2018 76 % der Newsroom-Mitarbeiter_innen weiß sind, zu 45 % weiblich, 54 % männlich und 1 % Transgender. 4 Siehe www.propublica.org/about; vgl. Kap. VIII.1.
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von Geschichten – erst am richtigen Ort entfaltet. »[D]oing service to the story (›)itself« wird diesbezüglich in ein aufschlussreiches Modell gebracht: »we may decide tha:t the:, you know, that what a given story nee:ds i:s (.) a magazine writing‐style (I: uh‐huh). Tha:t we have a sto– a tale to tell. A:nd uhm a newspape:r is (›)not always a great place, doesn’t– isn’t always comfortable with a magazine‐like storytelling uh approach. And if we decide that what (›)best tells a story uhm is a magazine‐like approach, we will think uh early on about reaching out to a magazine. Like The New Yorker« (Int-PP-02: 131ff.). Die Reparatur »a sto– a tale« kann dahingehend ausgelegt werden, dass mit »Tale« der Stilunterschied zwischen dem markiert wird, was Magazine gemeinhin als sprachlich adäquat betrachten und dem von Tageszeitungen diesbezüglich Präferierten. Darüber, welche Aufbereitungsweise sich eher in den Dienst der Geschichte stellen lässt, wird entschieden. Irritationsgestaltung, dies steht ohnehin über dem gesamten Teil dieser Analyse, ist eine organisierte Praxis. Die Geschichte wird insofern mit einer Eigenqualität ausgestattet, als es gilt, ihr gerecht zu werden. Man markiert damit gerade nicht den eigenen Selektions- und Konstruktionsaspekt hieran, sondern lässt die Story als die Aktantin dastehen, an die man gestalterische Entscheidungen dann anzupassen hat. Umso autonomer gibt man sich dann aber in der Wahl der Zusammenarbeit zur Publikation.5 Mit The New Yorker wird selbstredend nicht irgendein »magazine‐like approach« benannt, sondern ein Magazin, das seinerseits als Vorbild für andere Publikationen dieses Typs gelten dürfte. Den Hinweis, dass ProPublica frühzeitig (»early on«) über geeignete Publikationsorte nachdenkt, leitet praktisch bereits über zur Sozial- und Zeitdimension. Das Lesbarmachen kritischer Kommunikationen für konkrete Adressat_innen wurde mit Fuchs zu Beginn dieses Abschnitts als Kern von Irritationsgestaltung in der Sachdimension aufgefasst. Eher Regel als Ausnahme ist es, dass systemtheoretische Überlegungen es bei solchen Erörterungen in der Sachdimension belassen (vgl. Mölders 2018). Das Konzept der Irritationsgestaltung, das seinerseits am hier gewählten Fallbeispiel geschärft wird, beleuchtet die Sozial- und Zeitdimension dabei nicht nur in ihrem eigenen Recht, sondern die folgenden Darstellungen werden die These nahelegen, dass Sachliches diesen beiden Dimensionen eher nachgelagert ist. 5 Genau diese Hinwendung zum Erzählerischen wurde im Zuge der Enthüllungsgeschichte um die Fälschungen des preisgekrönten SPIEGEL-Reporter Claas Relotius wiederum problematisiert: https://uebermedien.de/33962/der‐spiegel-und‐die-gefaehrliche‐kultur-des‐geschichtenerzaehlens/.
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Irritationsgestaltung in der Sozialdimension An nicht wenigen Stellen im Datenkorpus ist in Bezug auf ProPublica ein gewisses Selbstbewusstsein des eigenen Rufs und der eigenen Möglichkeiten unverkennbar. Dies ist schon gegen Ende des letzten Absatzes auffällig geworden, als The New Yorker als erstes Beispiel dafür genannt wurde, an wen man sich wenden könne, wenn ein Magazinstil einer Geschichte eher gerecht würde. Abgeschlossen wird diese Antwortpassage im Interview mit »that is also an approach that’s open to us« (Int-PP-02: 138). Was die Weiterveröffentlichung eigener Texte und Recherchen anbetrifft, folgt ProPublica dem Prinzip »Steal Our Stories«.6 Damit ist angesprochen, dass jede_r frei, ja geradezu aufgefordert ist, sich an den Stories zu bedienen. Gebeten wird lediglich darum, einen kurzen Javascript-Code (PixelPing) zu verwenden, der ProPublica über eine solche Weiterverwendung informiert.7 Diese ausgesprochen schlanke Technologie zeigt also an, wo und ggf. wie hauseigene Veröffentlichungen andernorts weiterverarbeitet werden. Das ist auch insofern praktisch, als manche Aufnahme wiederum zum Anlass genommen werden kann, die eigene Berichterstattung fortzusetzen. Inwiefern eine variable wie persistente Fortführung einen Schlüssel für das Verständnis der Irritationsgestaltung sozialer Korrektive darstellt, wird in der später hinzugezogenen Erörterung der Zeitdimension wieder aufzunehmen sein. Die nun anstehende Beleuchtung von Irritationsgestaltung in der Sozialdimension kann es bei der Selbstbeschreibung des »Prinzips Steal Our Stories« nicht belassen. Sie kann eher als Ausgangspunkt für eine These verwendet werden: Das eigentliche Prinzip in dieser Hinsicht ist gerade nicht das zufällige Aufnehmen und Weiterführen, sondern das planvolle Unterbringen an nicht‐zufällig gewählten Publikationsorten. Schon die Dokumentenanalyse (Kap. VIII.2) förderte das Ergebnis zutage, dass es zur Wirkungserzielung weniger um maximale Reichweite als vielmehr um »targeting particular specialized audiences« gehe. Weniger deutlich wurde, wie dieses Prinzip praktisch umgesetzt wird. Zunächst geht es darum, »people‐who-can‐make-a‐difference« zu identifizieren, »that can mean policy‐makers, that can mean corporate‐lea:ders, that can mean uh – you know – activists« (Int-PP-02: 36ff.). Hat man solche Differenzmacher_innen eruiert, und dies ist für die Irritationsgestaltung in der Sozialdimension entscheidend, werden diese aber nicht direkt und unmittelbar angesprochen. Die zu beantwortende Frage lautet stattdessen, woran sich Differenzmachende orientieren: Wo sehen sie hin, wenn 6 https://www.propublica.org/steal‐our-stories/. Correctiv verwendet dieselbe Bezeichnung: https://correctiv.org/en/correctiv/content/steal‐our-stories/. 7 https://www.propublica.org/pixelping.
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sie sich orientieren? Ebendies liest sich wie eine Paraphrase dessen, was Stichweh als Spiegel zweiter Ordnung (vgl. Kap VI.4) fasste: Veröffentlichtem orientierende Informationen über sich selbst zu entnehmen; auf genau solchen Spiegeln wollen ProPublica und viele andere sichtbar werden. »Uhm essentially uhm in exchange for if we (›)think tha:t uhm this news organization uhm has the ear of somebody who can make a difference« (Int-PP-02: 45ff.). Für Organisationen wie die hier untersuchten steht dabei außer Frage, dass es sich bei solchen Orientierungspunkten um Medienprodukte handelt. Die finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht es dann, das eigene Material genau dort zur Verfügung zu stellen. Beispiele hierfür lieferte schon Tofel (2013): Um das Pentagon zu institutionellen Maßnahmen gegen die Erkrankung »traumatic brain injury« (TBI) in der Folge des Afghanistan-Kriegs anzuregen, hatte man die eigenen Rechercheergebnisse zunächst über National Public Radio (NPR) verbreitet, über Programme, die viele Millionen Hörer täglich erreichen. Veränderungen aber stellten sich erst nach Veröffentlichung in (und in Kooperation mit) Stars & Stripes ein Diese hat eine Auflage von etwa 300.000 und wird auf allen einheimischen wie ausländischen US-Militärbasen vertrieben. Um das Bundesbildungsministerium (DoE) zu einer Änderung seiner Ausnahmeregelungen für Menschen mit Behinderung zur Rückzahlung von Bildungskrediten zu bewegen, war mit dem Chronicle of Higher Education eine Publikation wirksam, die eine Auflagenhöhe von gerade einmal 65.000 aufweist. Ausschlaggebend für das Verbot der Fördermethode Fracking im Staat New York, nicht im Tofel-Papier erwähnt, sicher aber einer der berühmtesten Fälle, sei eine Titelgeschichte in der Times Union gewesen. Von dieser Zeitung wusste man, dass sie es ist, die von den (relevanten) Abgeordneten gelesen wird, sodass die geringe Auflage von gerade einmal 66.835 keine Rolle spielte.8 Das zugehörige Narrativ ist stets dasselbe: Nicht auf die Auflagenstärke o.Ä. kommt es an, sondern darauf, die für Differenzmacher_innen relevanten publizistischen Orientierungspunkte zu treffen, die mitunter besonders klein sind. Das ist für sich genommen ein interessanter, geradezu kontraintuitiver Schluss. Diese bereitwillige Auskunft lenkt den Blick allerdings eher ab von der hier interessierenden Frage: Wie wird diese Anvisierungsarbeit organisiert? Bevor diese empirisch angegangen wird, ist theoretisch festzuhalten, dass es dieses kleine Publikum davon zu überzeugen gilt, das Angesprochene sei in öffentlichem Interesse. Die Referenz – Öffentlichkeit – bleibt die imaginierte Repräsentation eines vermeintlichen Ganzen; in Anschlüssen an solche Kommunikationsangebote zeigt sich, dass das von 8 Siehe www.propublica.org/article/new‐york-state‐bans-fracking. Dass diese Titelgeschichte unmittelbar vor der Abstimmung erschien, ist zudem kaum zu überschätzen, gehört aber in die Erörterung der Zeitdimension.
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Habermas (vgl. Kap. VI.3) so benannte Potential unartikulierter Zustimmungsbereitschaft mobil gemacht werden konnte. Vor jeder Story stellt ProPublica eine sogenannte »Promotion Squad« zusammen. Ein solches Team beinhaltet Expert_innen, die auf die Auffindbarkeit durch Suchmaschinen spezialisiert sind, ein »Social Editor« entscheidet darüber, welche sozialen Netzwerke jeweils geeignet erscheinen und sucht dort ebenfalls nach einflussreichen Multiplikator_innen. Ein »Marketer« kümmert sich um weitere Verbreitung über Telefonie oder EMails an andere Medienhäuser sowie eventuell interessierte Organisationen. Auch der »Story Editor« nimmt teil, um eine aus seiner Sicht angemessene Bewerbung sicherzustellen. Schließlich evaluiert ein »Data Analyst« den Impact der Verbreitungsmaßnahmen. Dass dieses »Erfolgsrezept« überhaupt öffentlich bekannt wurde, ist dem nicht ironiefreien Umstand zu verdanken, dass es in einem geleakten, nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen »Report on Innovation« im Auftrag der New York Times detailliert beschrieben wurde.9 »Promotion Squad« ist dabei als Fremdbeschreibung seitens der New York Times zu verstehen, wie die folgende Interviewsequenz zeigt, in der danach gefragt wird, ob die Interviewte schon einmal Teil einer Promotion Squad war: »(.) U::h (›)wow, I’ve never heard it put that way, but that is probably uhm sort of going from our (.) social- Our social team has a lot of uhmare very involved from the beginning« (Int-PP-01: 54f.). Auch bei Correctiv wird diese gezielte, gleichwohl indirekte Variante des Ansprechens praktiziert. Ein Interviewee vergibt den Differenzmacher_innen eine konkrete Kategorie: die Relevanten. Diese »Leute, um die es geht« (Int-Co-08: 106) sind aber ihrerseits nicht identisch mit den Entscheider_innen, sondern selbst in der Position einer unhintergehbaren Orientierungsgröße für diese. Die Operationalisierung wird an einem Beispiel erklärt: »Also muss ich das Bewusstsein verändern der Menschen, die halt die Politiker nachher nicht wählen, sondern deren Programminhalte bestimmen (I: mhm). Also verantwortliche Menschen, die (›)mit den Politikern (›)in den Kommunen diskutieren. […] So, wie erreich‹ ich die: Leute, die mit den anderen reden?« (ebd.: 119ff.). Nicht Wähler_innen sind hier gemeint als unhintergehbare Bezugsgröße. Der Sprecher verfolgt hier gerade keine demokratietheoretische Argumentation, sondern eine genuin praktische. Es gibt »verantwortliche Menschen«, die auf die Entscheidungsträger_innen Einfluss haben, indem sie mit ihnen reden, denen zugehört wird: Hier ist das o.a. »having the ear of somebody who can make a difference« als Interaktion konzipiert. Doch wie man diese – gewissermaßen vorletzte – Station erreicht, diese Frage stellt sich der Interviewee im o.a. Zitat ja gleich selbst, wird dann wieder medial beantwortet: »(›)Kann ich erreichen über ʼne (›)Lokalzeitung. 9 https://www.buzzfeednews.com/article/mylestanzer/exclusive‐times-internal‐report-painteddire-digital‐picture#.jxnQvWP7e.
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Und das, sagte=ich eben, dann ist=es halt ahm (.), ja, verpufft. (›)Oder ich erreich‹ die halt über’n Blog sehr (›)lange, dass ich die sehr lange, sehr oft ansprechen kann. Sehr individuell, sehr einzeln. °So- ist das.°« (ebd.: 124ff.). Das Problem, auf das die Form Blog antwortet, ist ein zeitliches. Wenn es um strukturelle Fehler und deren Korrektur geht, im Interview wird das Beispiel verfilzter Kommunalverwaltungen gegeben, dann ist der eine große Zeitungsartikel (»der kurzfristige (›)Pop«; ebd.: 102) geradezu kontraproduktiv, weil der thematische Inhalt dann verpufft. »Und in dem (›)Blog können=wir das (›)so präsentieren, dass halt diese: Informatio:n permanent wieder nach oben gespült wird (I: hmm). Da haben=wir ahm kurzfristig vielleicht wenige:r ah F– (›)Seher, erreichen aber die Leute, um die es geht, wesentlich länger und wesentlich besser« (ebd.: 104ff.). Das Medium Blog erlaubt es, Themen über einen längeren Zeitraum hinweg dadurch nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, dass auch die kleinste hinzugefügte Information dafür sorgt, dass das zu Korrigierende wieder nach oben gespült wird, selbst wenn sich aus dieser Information kein eigenständiger Artikel ergeben hätte. Ferner wird man hierdurch selbst als jemand beobachtbar, der hartnäckig ist. Auch für die Demonstration von Hartnäckigkeit ist das Medium Blog ein dankbares. Irritationsgestaltung in der Sozialdimension bedeutet demzufolge vor allem danach zu fragen, wen man in der Lage sieht, eine Korrektur in die Wege zu leiten.10 Es geht dann nicht darum, diese Positionen unmittelbar zu erreichen, sondern Personen oder Publikationsorte, an denen sich die als korrekturkompetent Erachteten orientieren. Auf die Frage, auf welchem Weg man wen zu dem Ende zu irritieren versucht, einem zu verändernden Zustand zu begegnen, verweist die Antwort in den hier skizzierten Fällen auf das Medium der Publizität. Wo Publizität klassischerweise verwendet wurde, um durch große Reichweiten Einflusspotentiale zu steigern, wird hier nicht der medialen Masse, sondern der erreichten Klasse die größte Wirkkapazität zugetraut. Im selben Interview wird allerdings auch ein Beispiel für Korrekturanregungen im Medium der Interaktion gegeben. Das Center for Investigative Reporting (CIR) veranstaltet, so wird es hier geschildert, »so ʼne Art Townhall-Meeting« (ebd.: 194). Bei solchen Formaten geht es darum, Entscheider_innen, Betroffene und Expert_innen zur Lösung eines lokalen Problems für einen Tag zu versammeln und miteinander ins Gespräch zu bringen. Diese Treffen sollen dann möglichst mit Beschlüssen enden. Um zu verstetigten Lösungen zu kommen, setzt man hiernach wieder auf das 10 Die global agierende Petitionsplattform »Avaaz« erklärt in ihrer Anleitung, wie man eine gute Petition erstellt, dass man immer eine Person adressieren sollte, die in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen. Dabei sollte es sich tunlichst um ein Individuum handeln, keine Gruppe oder Körperschaft, denn nur Personen verfügten über Gefühle, professionelle Ziele, Freunde, Familien und alles, was andere Personen haben. Die Losung »Make it winnable« deutet abermals auf die immense Bedeutung des Machbaren für die Korrektur der Gesellschaft hin. https://secure. avaaz.org/en/petition/how_to_create_petition/.
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Medium der Publizität, wenngleich in einer sehr bescheidenen Variante: »U:nd– So, dann wird halt nachher geguckt, ›wird das gemacht?‹. Also klassisch journalistische Aufgabe. Das kann dann jede (›)Lokalzeitung machen. Da muss dann nicht mehr ʼn Center wie wir dabei sein. Deswegen gehört zu solchen Treffen auch=immer das Medium, was vor Ort ist, was vor Ort ähm nah (›)dran ist. Und da sind wir wieder bei der Auflösung der klassischen Medienzusammenhänge, das kann auch ʼn Blog sein« (ebd.: 234ff.). Im Idealfall kommt also ein solcher Lösungsdiskurs noch vor Ort zu Beschlüssen, deren Einhaltung dann wieder publizistisch überwacht wird, was hier einerseits als klassische journalistische Arbeit bezeichnet wird, andererseits aber als von so überschaubarer Komplexität, dass das »auch nur (›)einer sein [kann], de:r ähm Facebook (.) (›)betreibt in ʼner Stadt, in ʼner Gemeinde. (›)Das ist klassische öffentliche Arbeit, da brauchst=du halt=jemanden« (ebd.: 239f.). Bemerkenswert ist an dieser Schilderung im Besonderen, dass hier der Unwiderstehlichkeit diskursiv eruierter Resultate misstraut wird. Mit der mündlichen Absichtserklärung will man sich offenbar nicht zufriedengeben, stattdessen steht die Umsetzung der Diskursbeschlüsse explizit unter weiterer Beobachtung. Irritationsgestaltung in der Sozialdimension fragt danach, welchen Weg zivilgesellschaftliche Gegenmächte für ihre Korrekturanliegen anpeilen. Auch wenn beide im analytischen Mittelpunkt stehenden Organisationen das »Steal Our Stories«-Prinzip buchstäblich nach vorne stellen, sind im vorangegangenen Abschnitt einige Aspekte aufgezeigt worden, die verdeutlichen, dass sich hier niemand auf eine ungeplante Fortführung verlässt. An einigen Stellen ging es bereits darum, Korrekturthemen über längere Zeiträume hinweg in öffentlicher Erinnerung zu halten. Schon diese Indizien weisen auf die wesentliche Komponente hin: Soziale Korrektive rechnen damit, dass die von ihnen anvisierten Veränderungen sich auch in zeitlicher Hinsicht nicht unmittelbar einstellen werden. Wie sich dieser Teil der Widerlegung praktischer Ratlosigkeit empirisch ausnimmt, beleuchtet der folgende Abschnitt.
Irritationsgestaltung in der Zeitdimension Intuitiv wird man für den Zusammenhang von Irritationsgestaltung mit der zeitlichen Sinndimension an Aspekte des timings denken und damit nicht falsch liegen. Um Ignorierbarkeit zu erschweren, macht es einen Unterschied, wann ein Störungsversuch eintrifft. Die Beispiele aus der Empirie sind reichhaltig. Besonders anschaulich ist auch in dieser Hinsicht der bereits mehrfach thematisierte Fracking-Fall. Das Kernergebnis dieser Recherche lautete, dass eine Fortführung von Fracking nachweisbar bekannte Gesundheits- und Umweltschäden billigend in Kauf nähme. Ebendies war der Story auf der Titelseite der bereits eingeführten Times Union zu entnehmen, just der Zeitung, deren Auflagenstärke zwar überschau-
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bar ist, von der ProPublica gleichwohl überzeugt war, dass die Abgeordneten ihr die größte Aufmerksamkeit zukommen lassen würden. Der Artikel erschien kurz vor der entscheidenden Abstimmung. Am Mittag desselben Tages wurden die Enthüllungen im Radiosender WNYC gesendet und abends auf der ProPublica-Homepage veröffentlicht. Hier zeichnet sich auch schon die Bedeutung der Verfügbarkeit unterschiedlicher Medienformate ab, schon in dieser Kurzzusammenfassung geht es um dasselbe Thema (und um dieselbe Mitteilungsintention) in Druckpresse, Radio und Internet. In einem der Expert_innen-Interviews wird ein diesbezüglich relevanter Unterschied des investigativen gegenüber anderen Formen des Journalismus betont. Während viele andere Formen sich an den Themen orientieren, um die es gerade nun einmal öffentlich geht, muss der Investigativ-Journalismus seine Themen immer erst setzen, sie als Themen etablieren. Daher kann die Orientierung am weiteren Nachrichtenfluss hier als längst etablierte Praxis gelten: »klar gucken wir irgendwie, oka:y, morgen ist Champions League-Fina:le, vielleicht kommen wir da nicht mit der‐und-der Geschichte raus (I: mhm). Ode:r (.) keine Ahnung, jetzt war German Wings-Absturz, da wäre=es sinnvoll, vielleicht noch mit der Geschichte noch=mal drei Tage zu warten oder ähnliches so. Das also schon, dass man da irgendwie so=ein Zeitfenster hat, wo man nicht komplett (.) (›)untergeht. Plus, wenn irgendwo, wenn man eh eine Geschichte macht und dann ist dann irgendwie was:, was in den Bereich fällt, dann macht das halt total: Sinn, Jahrestage, Veröffentlichungen von irgendwelchen Berichten« (Int-Co-02: 94ff.). Diese hervorgehobene Bedeutung des günstigsten Zeitpunkts – Kairos [Καιρό ς] – findet sich an so zahlreichen Stellen, dass man hieran die Vermutung knüpfen könnte, andere Ausprägungen von Irritationsgestaltung sollten damit aus dem Fokus genommen werden. Hierfür ist der Fall der Panama Papers überaus instruktiv.11 Das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) koordinierte das »Projekt Prometheus«, aus dem später, im Zuge einer organisationalen Entscheidung, das Label Panama Papers wurde. Das ICIJ ist einerseits eines jener non‐profit Investigativ-Büros, wie sie in den letzten Jahren an zahlreichen Orten der Welt als Antwort auf die nicht zuletzt durch Digitalisierung erschwerte Lage klassischer Print-Investigativ-Ressorts ins Leben gerufen wurden. Andererseits unterscheidet es sich erheblich von anderen Organisationen, insofern es seine Aufgabe vor allem in der projektbezogenen Koordinierung und Vernetzung anderer Journalist_innen versteht. Mitglied im ICIJ kann man nur auf Empfehlung und Einladung anderer Mitglieder werden. Hierunter finden sich dann auch viele for profit-Anbieter, 11 Dieser Fall wird in Mölders (2019) sowie Mölders & Schrape (2017, 2019) ausführlicher untersucht.
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was etwa auf die Süddeutsche Zeitung (SZ) zutrifft, Arbeitgeberin der Panama PapersInitiatoren Bastian Obermayer und Frederik Obermaier. Die Aufarbeitung und Berichterstattung der Panama Papers betont zumeist drei Aspekte: Internationalität, Koordination und Umfang. Fast 400 Journalist_innen aus knapp 80 Ländern durchforsten 11,5 Millionen Dokumente, die ein Datenvolumen von 2,6 Terabyte ergeben. Über diese großen Zahlen hinaus ist es die konzertierte Aktion, in der am 3. April 2016 um 20 Uhr mitteleuropäischer Zeit die Partner_innen aus 76 Ländern ihre Beiträge öffentlich machten. In der Tat ist diese Koordination bemerkenswert. Dass es angesichts so zahlreicher Beteiligter gelang, sich auf diesen Zeitpunkt zu einigen und früheren Publikationen Einhalt zu gebieten, ist nicht selbstverständlich. Die SZ-Journalisten beschreiben die Schwierigkeiten aufschlussreich: »Die meisten sind sich einig, dass wir einen Sonntagabend anpeilen wollen, um die ganze Woche das Thema setzen zu können, und dass Mitte März oder Anfang April ein guter Zeitpunkt wäre. […] Am 7. und 8. März erscheinen in Russland keine Zeitungen: Frauentag. Keine Option. Am 13. März sind in Deutschland drei Landtagswahlen […] am 3. April sind in Peru Präsidentschaftswahlen« (Obermayer & Obermaier 2016: 177). Das zugehörige Buch »Panama Papers. Die Geschichte einer weltweiten Enthüllung« endet mit der konzertierten Erstveröffentlichung. Die eigentliche Gestaltungsarbeit in zeitlicher Hinsicht fällt aber vor allem nach diesem Auftakt an. Dann erst geht es praktisch darum, Luhmanns (1997: 791) theoretisches Postulat, Irritationen könnten eigene Wiederholbarkeit anmelden, mit organisationalem Leben zu füllen. Die Welt verbessern wollen alle, nur haben nicht alle die Zeit dazu. So lässt sich das folgende Interviewzitat paraphrasieren: »most newsrooms uhm, you know, have as their mission […] to make the world better place –, but most have a mission to publish the (›)newspaper everyday. (I: uh‐huh) Uhm (›)our mission goes well beyond that. And uh the life of our stories after we publish uh is important to us as when we (›)make them« (Int-PP-02: 10ff.). Der Interviewee stellt zunächst fest, dass es die Mission durchaus vieler Redaktionen sei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Nur hätten die meisten mindestens eine weitere Mission, nämlich täglich eine Zeitung zu veröffentlichen. Hieraus werden die Besonderheiten von und für ProPublica abgeleitet. Dort muss eben nicht täglich etwas veröffentlicht werden – und schon gar nicht im vorgegebenen Rahmen etwa einer Zeitung12 , vor allem aber gibt es für die Geschichten aus diesem Hause ein Leben nach der Veröffentlichung, das mindestens so wichtig wie das Vorleben ist. 12 Unweigerlich kommt das Zitat Karl Valentins in den Sinn »Es ist doch erstaunlich, dass jeden Tag genau so viel passiert, wie in eine Zeitung passt.«
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Auch die an den Panama Papers beteiligten ICIJ-Mitglieder stimmten (sich) über die Publikationsagenda ab, folgten nicht ihren »Tageszeitungsreflexen« (Obermayer & Obermaier 2016: 40). Sie passen ihren Takt an den erwarteten Rhythmus anderer Sinnsysteme an; Taktgeber ist vor allem das Recht, worauf im weiteren Verlauf (Kap. IX.3) zurückzukommen sein wird. Für den Moment lässt sich hieran der Unterschied zwischen organisierter Gleichzeitigkeit und organisierter Synchronisation bestimmen. Für Letzteres muss der Versuch hinzutreten, »günstige Formen zu finden«, die auf »Chancen, Risiken und Gefahren im Bereich des derzeit Inaktuellen« außerhalb des eigenen Sinnverfügungsbereichs hinweisen (Luhmann 1990b: 109f.). Synchronisation richtet den Blick auf Beziehungen zwischen Einheiten mit unterschiedlichen Eigenzeiten: Zu einem Zeitpunkt t0 (aktuell) beschäftigt sich ein beobachtetes System noch nicht mit einem Thema X (Sachdimension), wird dann aber durch das Prozessieren eines anderen (Sozialdimension) auf dieses Thema aufmerksam und bemerkt so den Zustand der Inaktualität, kann es anschließend (Zeitpunkt t1 ) als Chance, Risiko, Gefahr etc. verarbeiten und strukturelle Schlüsse daraus ziehen (Thema ignorieren, Thema an eigene Struktur anpassen, Struktur an Thema anpassen). Der Gestaltungsaspekt betrifft dann die von Luhmann ignorierte Unterscheidung zwischen aufmerksam werden und aufmerksam machen. Dieses Irritationspotential speist sich gerade nicht aus singulären scoops oder situativ aufmerksamkeitsbindenden Ereignissen, sondern aus der Organisation von Persistenz. Hierfür macht auf der einen Seite die nie gekannte Vielzahl an medialen Kanälen auf den ersten Blick bereits einen erheblichen Unterschied; für die Panama Papers reicht die Variabilität von klassischen Büchern und Zeitungen über Social Media bis zum Online-Spiel »Stairway to Tax Heaven«. Zur Praxis von Correctiv wird angeführt: »die unterschiedlichen ah (.) Formen, die man (›)hat, dazu zu – ah einzusetzen, damit ah man an ʼnem Thema (›)dranbleibt und damit’s nicht (›)langweilig wird.&Also eben nicht nur den (›)Artikel, sondern die Veranstaltung SO:=und dann das (›)Buch=SO:=und dann ʼne Fernsehsendung, ja? Wenn man jetzt statt den vier Elementen (›)viermal ʼn Artikel macht, ist=es sozusagen eher (I: mhm) ah enervierend wie sozusagen (›)in den Formaten sich auch abzuwechseln« (Int-Co-06: 571ff.). Auf der anderen Seite geht es in der Herstellung von Synchronisationspotentialen aber nicht nur darum, auf möglichst vielen Kanälen Gleiches verschiedenartig formatiert zu verbreiten. Das impliziert zwei Aufgaben: Einerseits Neues im gleichen (alten) Thema zu entdecken und andererseits dieses Neue als Neues im gleichen Rahmen zu präsentieren (vgl. Tratschin 2016). Für die zweite Teilaufgabe entwickelte das ICIJ im Vorfeld der Veröffentlichung in einem aufwändigen Prozess einheitliche Präsentationsstrukturen, um für sich genommen heterogene Falle erkennbar dem Label Panama Papers zurechnen zu können – angefangen bei diesem Titel selbst über den zugehörigen Twitter-Hashtag
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bis hin zu einer eigenen Illustrationssprache. Eine solche Wiedererkennbarkeit wird wiederum erst in der Organisation von Persistenz relevant und stellt insofern den Versuch dar, langfristigen Eingang in die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion zu finden. Möglichst bald soll dafür gesorgt sein, dieses Thema möglichst lang als bekannt voraussetzen zu können. Um Neues im gleichen (alten) Thema zu entdecken, die andere der beiden benannten Teilaufgaben, wird von »Big Data« Gebrauch gemacht. Damit sind zunächst weder Algorithmen noch Künstliche Intelligenz (KI) gemeint. Um irritationsfähige Daten zu finden, mussten zunächst 11,5 Millionen Dokumente im ICIJ mit Worterkennungssystemen aufbereitet werden, um etwa Offshore-Fälle mit »Staatschefnähe« herauszufiltern – was in vordigitalen Zeiten unmöglich gewesen wäre. Hier scheint der mit Digitalisierung wohl gemeinte Wandel praktisch den größten Unterschied zu machen. Die Geschichten, so die Annahme, sind alle schon da, sie müssen nur in der Datenbank gefunden werden. Mit jeder neuen Geschichte, die aber erkennbar im selben Rahmen präsentierbar ist, wird Persistenz organisiert, melden Irritationen eigene Wiederholbarkeit an. Für die Frage der organisationsinternen Aufbereitung – Übersetzung – dieser Maxime war ein Interview mit einem Datenjournalisten überaus aufschlussreich. Zunächst ist ein arbeitsteiliges Prinzip unübersehbar, einige Kolleg_innen sammeln Daten in den unterschiedlichsten Formaten, »und das muss halt alles in ein Format gebracht werden, damit wir da quasi in einer (›)Datenbank drin arbeiten können« (Int-Co-03: 12f.). Der für Aspekte der Irritationsgestaltung in zeitlicher Hinsicht wohl entscheidende Zusammenhang wird hier so beschrieben: »Weil das ist halt (›)ein Vorteil von diesen Datenbanken. Da hat man halt nicht nur ein Jahr was von, sondern man kann=es halt jedes Jahr aktualisieren (I: ja) und die Datenbank wächst, wächst und wächst und äh man kann halt immer neue Erkenntnisse daraus ziehen. Vielleicht gibt’s ja °irgendwie° noch (›)neue Geschichten« (ebd.: 23ff.). Über möglichst viele Daten zu verfügen, ist für die Irritationsgestaltung des gegenwärtigen und gemeinnützigen Investigativ-Journalismus offenbar eher in zeitlicher als in sachlicher Hinsicht von herausgehobener Relevanz. Das allgemeine Postulat – je mehr Daten, desto einfacher lässt sich langfristiges Irritieren bewerkstelligen – impliziert einmal mehr diverse Übersetzungsarbeiten: »dann habe=ich denen gesagt, okay, ihr habt jetzt irgendwie ganz viel rausgefunden, aber packt das hier mal (›)strukturiert in Tabellen, ja? Wie heißen die Leute, wo haben sie früher gearbeitet, ähm an welchen Verhand-
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lungen13 haben sie teilgenommen, wie heißt das (›)Kapitel dazu. Halt alles möglichst immer strukturiert, so dass man das halt im Nachhinein ähm auch in=eine Art Datenbank überführen kann und die haben wir halt dann hier so: aufbereitet (I: mhm), dieses=mal ein=bisschen gra:phischer« (ebd.: 47ff.). Was auch immer herausgefunden wird, es muss strukturiert vorliegen bzw. strukturiert werden, was im konkreten Fall bedeutet, in einer Tabelle abbildbar zu sein. Doch auch ein sich anschließender Übersetzungsschritt ist aufschlussreich: das graphische(re) Aufbereiten. Waren die Anfänge des Datenjournalismus scheinbar noch von der Hoffnung getragen, mit insbesondere numerischen Daten überzeugen bzw. anregen zu können, so ist inzwischen Graphisches geradezu konstitutiv für diese Art des Journalismus. Daran knüpfen sich gleich mehrere Erwartungen, die allesamt etwas mit Revisionszumutungen zu tun haben. Zum einen verspricht man sich von graphisch Aufbereitetem eine Ansprache jenseits des Faktischen. Wen Daten nicht überzeugen bzw. wer Daten eher an das bereits vorhandene Weltbild assimiliert, der ist womöglich eher über Graphisches erreichbar bzw. eben irritierbar. Ein anderer Aspekt ist dem üblichen Verständnis von Übersetzung näher: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. In diesem Zusammenhang bedeutet dies, ein Thema über dessen graphische Aufbereitung unterschiedlichen Welt- und Sprachregionen zugänglich zu machen. Ein Musterbeispiel hierfür bietet das Correctiv-Projekt »Searise«14 , in dem 700.000 Pegeldaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts verarbeitet wurden. In der Laudatio anlässlich der Verleihung des Deutsch-Französischen Journalistenpreises heißt es: »Das Projekt ›Searise‹ (›Steigende Meere‹) macht das globale Problem des Klimawandels auf lokaler und regionaler Ebene erfahrbar. Durch seine anschauliche Präsentationsform lädt ›Searise‹ die Nutzer dazu ein, sprichwörtlich tiefer in das Thema einzutauchen.«15 Der Zusammenhang globaler (Folge-)Probleme mit lokalen Lösungen ist für die vorliegende Studie kein neues Thema. An ihm ließe sich auch die theoretische Frage diskutieren, ob es einer weiteren Sinndimension des Räumlichen bedarf (vgl. Nassehi 2002). Empirisch fällt hieran im Besonderen auf, dass die Fremdbeschreibung schon von globalen Korrektiven auszugehen scheint, die Praxis aber andere Schlüsse zieht. Das o.a. Searise-Projekt lässt sich durchaus als Versuch lesen, mit einem (jeweils nur leicht angepassten) Format möglichst weltweite Anschlüsse zu evozieren. Für die Panama Papers ist das Gegenteil zu konstatieren, auch wenn insbesondere in der (inner)medialen Beobachtung betont wird: 13 Diese Ausführungen beziehen sich auf die hauseigenen Recherchen zu den Verhandlungen über ein »Transatlantic Trade and Investment Partnership« (TTIP). 14 https://searise.correctiv.org/. 15 https://tageswoche.ch/gesellschaft/preisgekroente‐reportage-so‐versinkt-die‐welt-im‐meer/.
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»Diese Sternstunde des investigativen Journalismus wird zu Recht weltweit gefeiert. Zum ersten Mal vernetzen sich Medien, um einem Phänomen auf die Spur zu kommen, das den alten, national agierenden Journalismus überforderte: den globalen Strömen des Kapitals. An diesem neuen Typ des transnationalen, machtkritischen Datenjournalismus könnten sich die national‐autoritären Regime demnächst die Zähne ausbeißen. Vieles spricht dafür, dass die Zukunft des Journalismus als vierte Gewalt sich jenseits nationaler Grenzen abspielen wird.«16 Operativ aber hatten sich die Beteiligten darauf verständigt, die Folgen der Berichterstattung je national bzw. sprachräumlich weiter zu beobachten. Zur Organisation von Persistenz gehört somit auch die Applikationsbeobachtung: Was folgt hier aus der Berichterstattung? Und damit ist – einmal mehr – insbesondere gemeint, welche Spuren im Recht beobachtbar werden. Es geht um die konkrete bzw. lokale Umsetzung abstrakter Regeln; praktisch glaubt niemand an eine »Weltöffentlichkeit« (vgl. Ulrich 2016). Für eine solche Folgekontrolle und -aufnahme ist die Weiterverarbeitung eines Vorschlags zu einem Transparenzregister des (damaligen) deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble ein besonders instruktives Beispiel. In einem solchen Register sollte offengelegt werden, welche natürlichen oder juristischen Personen die wahren Eigentümer_innen von Unternehmen und Stiftungen seien. In der SZ wird dieser Vorschlag allerdings als Geheimregister disqualifiziert. Es gelte demgemäß nämlich keine echte Transparenz, sondern ein stark eingeschränkter Zugang: Nur wer ein »berechtigtes Interesse« vorweisen könne, habe eine Chance auf Einsicht. Personen sollten darin gar nicht erst auffindbar sein, eine Suchmaske sei nur für Firmennamen vorgesehen.17 Für das Problem, ein Thema so lange zu bespielen, bis man sich mit einer Übersetzung einverstanden erklärt, wird die Beobachtung des Übersetzungsverlaufs selbst zur Lösung. Man setzt ein Thema, überlässt es einerseits nicht dem Zufall, wo die ersten Übersetzungen angefertigt werden und rechnet andererseits mit unkontrollierbarer Diffusion, setzt »Radartechnologien« ein, um dann solche veröffentlichten Translate zu finden, die für Folgeberichterstattung attraktiv erscheinen. Mit Radartechnologien können dabei einerseits organisationale Lösungen gemeint sein, etwa das Bestimmen von entsprechendem Beobachtungspersonal. Im Fall von ProPublica gibt es hierzu interne wie externe Reporte (ProPublica Tracker; vgl. Kap. VIII.2), die über Jahre hinweg »Actions Influenced by the Story«, »Opportunites to Influence Change«, »Change that has Resulted« und »Lessons Learned« dokumentieren. Andererseits kommt hier auch Technologie im engeren Sinne zum Einsatz, wie etwa der oben bereits thematisierte kurze Javascript-Code 16 www.zeit.de/2016/17/pressefreiheit‐extra-3-jan‐boehmermann-verfolgung‐journalisten. 17 www.sueddeutsche.de/wirtschaft/briefkastenfirmen‐das-transparenzregister‐hat-seinen-na men-nicht‐verdient-1.3387170.
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PixelPing (vgl. Kap IX.1). So werden Translate gewissermaßen automatisiert angezeigt. Ein gutes Beispiel hierfür liefert abermals ProPublicas Ansinnen, ein Verbot von Fracking im Staat New York zu erwirken.18 Dem Thema Fracking widmet sich ProPublica von Beginn an. Der bereits beschriebene Auftakt in Kooperation mit der Times Union und dem Sender WNYC erfolgt im Sommer 2008. Die Gasvorkommen im Staat New York (»Marcellus Shale«) sind beträchtlich, womit die ökonomischen Argumente zugunsten dieser Fördertechnik auf der Hand liegen. Am Tag nach der ersten größeren Story ProPublicas, im Juli 2008, wird das Health Department New Yorks mit einer Studie beauftragt, die insbesondere die gesundheitlichen Risiken (durch Luft- und Trinkwasserverschmutzung) eruieren soll. Erst fast sechseinhalb Jahre später kommt der entsprechende Report zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Risiken überwiegen den Nutzen. Theoretisch mag man dies als besonders gründliche interne Konsistenzprüfung auffassen, als Arbeit an kognitiven Defiziten oder auch als bewährtes politisches Mittel zur sachlichen, zeitlichen und sozialen Externalisierung von Risikofragen rekonstruieren (Luhmann 1996b: 172). All das muss sich wechselseitig schon dadurch nicht ausschließen, als es einerseits von der Beobachtungsperspektive, andererseits von einer genaueren Kenntnis des empirischen Ablaufs abhängt. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist ohnehin, dass ProPublica und andere das Aussitzen dieser Frage maximal erschwert haben. Zu warten, bis sich der Widerstand legt, wurde immer deutlicher keine Position, auf die sich politische Informationsverarbeitung hätte zurückziehen können. In der Zwischenzeit ließen sich die von ProPublica und sogenannten »AntiDrilling-Groups«19 benannten Bedenken untermauern. Der Nachbarstaat Pennsylvania reagierte wegen einer drastischen Zunahme von Krankheitsfällen, die mit Fracking in Verbindung gebracht wurden, mit einer Straffung seiner Umweltgesetzgebung. Hierzu wurde auf peer‐reviewed Forschungsergebnisse verwiesen, die eine Verbindung der Bohrungen mit Nervenerkrankungen, Hautverletzungen oder auch Geburtsfehlern plausibilisierten. ProPublica deckte zudem zu Beginn 2014 auf, dass vereinbarte Lizenzzahlungen der Energieunternehmen den Landbesitzer_innen der Bohrgebiete vorenthal18 Nachzuvollziehen unter https://www.propublica.org/series/fracking. 19 Diese Art der Kooperation mit anderen Instanzen zivilgesellschaftlicher Gegenmacht kommt in der offiziellen Selbstbeschreibung in bemerkenswerter Weise nicht vor. So wird Mike Webb, ehemaliger »Vice president/communications« zitiert: »Wir arbeiten nicht außerhalb des Ökosystems Journalismus. Lobbygruppen können unsere Arbeit aufgreifen und etwas daraus machen. Das ist aber nichts, was wir anstreben oder wo wir uns engagieren wollen. Wir sind keine politische Organisation. Unser Ziel ist es, die Informationen zu präsentieren und zu hoffen, dass sie in die richtigen Hände gelangen« (http://de.ejo‐online.eu/7153/ethik‐qualitat/non‐profitals‐systemstutze).
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ten wurden. So schließt der bei ProPublica zu diesem Thema federführende Autor Abrahm Lustgarten: »All of this, it now seems, must have made Cuomo’s decision this week a lot easier. But the ban also reflects the conclusion of a lengthy learning curve for New York State.«20 Kurzum: Die gesamte (technisch wie organisational vermittelte) Übersetzungskaskadenbeobachtung – wie reagieren andere Medien, politische Positionen, wissenschaftliche, ökonomische Argumente u.v.m. – hat eine kontinuierliche Berichterstattung ermöglicht, die ein Aussitzen der Störungen zunehmend erschwert hat. Zum temporären Schlussstein der Berichterstattung wird der Hinweis auf die verschärfte Implementierung der novellierten Umweltgesetzgebung Pennsylvanias. Auch dieser Verweis auf die herausgehobene Bedeutung des Rechts wird wieder aufzunehmen sein (vgl. Kap. IX.3). Wenig später erlässt der Staat New York ebenfalls einen »Fracking Ban« und damit ebbt die Berichterstattung bis auf Weiteres ab, seit 2014 sind lediglich drei weitere Beiträge zu verzeichnen – zum Vergleich: Allein im zweiten Halbjahr 2009 waren es noch 31 Beiträge. Für die Korrektur der Gesellschaft, dies ist so etwas wie die Quintessenz des vorigen Abschnitts, nimmt die Organisation von Persistenz eine Schlüsselposition ein. Große (Folge-)Probleme lassen sich nicht von heute auf morgen lösen, vor allem aber dauert es, bis als entscheidend angenommene Positionen diese Probleme als eigene erkennen. Für die bislang im empirischen Fokus stehenden Initiativen des gegenwärtigen und gemeinnützigen Investigativ-Journalismus folgt hieraus – erneut in temporaler Hinsicht – zweierlei. Zum einen, dass sie die herkömmliche mediale Operationsgeschwindigkeit drosseln. Wenn man als üblichen massenmedialen Tempomodus annimmt, Neues schnellstmöglich zu verbreiten, schon um der Gefahr zu begegnen, dass es sich andernfalls nicht mehr um eine Information handelt, charakterisiert das zuvor rekonstruierte Vorgehen das Merkmal der Entschleunigung. Die Veröffentlichungen folgen gerade nicht der Medienlogik, sondern orientieren sich an der Zeitlichkeit des Einwirkungsbezirks, der in aller Regel ein rechtlicher ist. Das ist auch in theoretischer Hinsicht aufschlussreich, da die Beschleunigungsthese (Rosa 2005) hierdurch eine empirische Relativierung erfährt. Insbesondere digitalen Medien wird hier zugeschrieben, die eigentlich für das Gemeinwohl zuständigen Zentren unter zeitlichen Druck zu setzen, eben: zu beschleunigen. Eine ohnehin an kurzen Fristen (nicht zuletzt: Legislaturperioden) orientierte Politik werde dazu angehalten, sich auf noch kürzere Zeitkontingente einzulassen. Das mag für manche Konstellationen nicht von der Hand zu weisen sein, zwingt aber nicht zur Diagnose einer temporalen Einbahnstraße. Um politische und/oder rechtliche Adressen zu irritieren (und diese Irritationen nicht als bloß momentane Inkonsistenzen verarbeiten zu lassen), entschleunigen die hier untersuchten Organisationen ihren Publikationstakt: 20 www.propublica.org/article/new‐york-state‐bans-fracking.
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»I think that’s (›)probably one of the biggest advantages that we do have at ProPublica, that other organizations who are publishing (.) daily- I mean, we publish things daily, but typically not these big investigations uhm- and if those- you know (.) if we have the luxury of spending a year on something, then we can spend a lot of time on (.) the (›)desi:gn, on the uhm the exact sort of massage, on the reporting, on double and triple checking all of the (›)facts and statistics and data uhm (›)on a project. So I think that that is for sure an advantage that we have, that we’re not under sort of tight, very pressurized deadline schedule« (Int-PP-01: 114ff.). Der Druck, schneller (und mehr) zu veröffentlichen, entspringt nicht nur der mutmaßlich originären Medienlogik, sondern kommt auch aus der Gesellschaft der Gesellschaftskorrektur. Ein strategisch vorgehender und sich entschleunigender Enthüllungsjournalismus riskiert, sich dem Vorwurf einer Salami-Taktik aussetzen zu müssen.21 In Reinform ließ sich eine entsprechende Kontroverse auf einem Panel der Re:Publica 2016 beobachten. Zum Thema »Panama Papers: Investigative Journalism, the ›Lügenpresse‹ and the age of Big Leaks« diskutierten Frederik Obermaier von der SZ und Renata Avila von Web We Want bzw. der World Wide Web Foundation.22 Solche Initiativen als Transparenz-Organisationen zu bezeichnen, liegt nahe. Ihnen geht es um das Offenlegen von allem, was andernorts geheim gehalten werden soll. Hierzu zählt auch Cryptome.org, denen es gelungen ist, Glenn Greenwald und Laura Poitras von The Intercept dazu zu bringen, ganze Jahrgänge von Sid Today zu veröffentlichen, der Intrawebsite der NSA-Abhörabteilung Signal Intelligence (SIGINT). Zuvor kennzeichnete die Salami-Taktik exakt das planvolle Vorgehen von The Intercept.23 Schon hierdurch wird deutlich, dass der Transparenz-Imperativ strukturwirksame Folgen hat, hier: das Überdenken einer Publikationspraxis, die sich zuvor genau daran ausrichtete, durch sukzessives Offenlegen einen dauerhaften Störfaktor bilden zu können. Ebendies ersucht Avila in der Diskussion mit dem SZJournalisten zu erwirken. Sie erkennt in der Salami-Taktik des ICIJ gerade keinen Aspekt einer Wirkungsstrategie, sondern ausschließlich den Durchbruch privater Interessen: »Even more than ninety‐nine percent of the information will never be published. […] It is a balance […] it is protecting the source, exclusivity of the news outlets, the economy of the news and the really flawed model of how journalism gets funded and at the same time the right to know of the people globally on a truth that only 21 Hierzu ausführlicher: Mölders (2019). 22 https://re‐publica.com/16/session/panama‐papers-investigative‐journalism-lugenpresse‐andage‐big-leaks. 23 www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ueberwachung/edward‐snowden-dokumente-geben -einblicke‐in-agentenalltag-14244478.html.
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400 journalists have access to and that they can decide with a bias and a specific agenda what to do with them.« Obermaier rekurriert in seiner Replik nicht auf Wirkungstaktik, sondern auf Quellenschutz. Dem Whistleblower könnte nach dem Leben getrachtet werden, da nicht zu garantieren sei, dass nicht irgendwo in der immensen Datenmenge der entscheidende Hinweis zur Entschlüsselung dieser Person zu finden sei. Avila aber sieht nicht zuletzt technische Möglichkeiten, diesen Sicherheitsaspekt zu gewährleisten. Ihr Modell und das ihrer Organisation basiert auf der Annahme: Je mehr offengelegte Daten, desto größer ist der wirksame Druck. Das ist nicht weit vom Pulitzer-Ideal entfernt (vgl. Kap. VI.4). Das Vorbild für just diese Praxis ist erkennbar WikiLeaks.24 Hier wird Speicherplatz auf verschlüsselten Servern sowie verschlüsseltes Hochladen von Daten angeboten, es findet gerade keine redaktionelle Betreuung statt. Avila erinnert das Operieren des ICIJ allerdings an andere Zeiten: »I thought that we have left behind the debate of whether WikiLeaks is journalism or is not. I mean it is.« Die Bearbeitung von Daten, insbesondere ihre zeitliche Gestaltung, kommt in diesem Modell nicht als Mehrwert vor. Daten müssen dann für sich sprechen. Journalistische Einordnung mag gemacht werden, diese darf aber nicht das schnellstmögliche Veröffentlichen sämtlicher Datengrundlagen blockieren. »A specific agenda what to do with them [the data; M.M.]« ist exakt der Vorwurf, der Web We Want dem ICIJ macht. Dass ebendiese Agenda ein wesentlicher Aspekt der Wirkungsstrategie des ICIJ sein könnte, gerät dabei gar nicht erst in den Blick. Die Kehrseite – und dies ist die zweite Folge in temporaler Hinsicht – langfristiger, organisierter Hartnäckigkeit ist, dass sich mit der Zeit Gelegenheiten zum Kontern der irritierenden Korrektive ergeben bzw. ihrerseits organisiert werden. Wieder vermag der Fracking-Fall dies zu illustrieren. Zwischen der rechtlichen Entscheidung (»Fracking Ban«) und den ersten Veröffentlichungen liegen sechseinhalb Jahre. Die zu regulierenden Unternehmen konnten diese Zwischenzeit ihrerseits 24 Auch die Sozialwissenschaften sprachen mitunter emphatisch hierüber: »WikiLeaks und vergleichbare Plattformen verstehen sich explizit als global agierende neue vierte Gewalt, die eine neue Form des Polizierens […] auf globaler Ebene betreiben. Damit stehen Wikileaks und vergleichbare Netzaktivisten zweifellos in der Nähe des klassischen investigativen Journalismus und knüpfen an deren Verständnis als Vierte Gewalt nicht nur im Staate, sondern auf der gesamten Welt an« (Reichertz et al. 2012, S. 199). Judith Beyrle (2016, S. 164) zeigt für den Fall der Botschaftsdepeschen, dass gerade nicht alles auf einmal online gestellt wurde, »sondern begleitend zur Print-Veröffentlichung […] nur wenige hundert Dokumente«. Die Idee von WikiLeaks treffe sich mit dem klassischen Ideal Vierter Gewalt »in der Hoffnung auf eine qualitative Änderung von Politik durch Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit der Dokumente würde nun die Arbeit der Einordnung und Einschätzung den Lesern überlassen« (ebd., S. 206). Dass das große Rätsel bleibt, wie man die Leser_innen dazu anregt, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.
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nutzen: Sie konnten Gegenstudien zur Verträglichkeit dieser Fördermethode in Auftrag geben, sie konnten Investitionspläne umstellen, sie konnten andernorts Bohrprojekte lancieren etc. Irritationsgestaltung im Medium der Publizität kann nicht anders als laut nachzudenken – und damit andernorts Reaktionszeit einzuräumen.
Irritationsgestaltung und das Bekenntnis zur Auslösekausalität Die vorangegangenen Abschnitte haben sich am Postulat praktischer Ratlosigkeit abgearbeitet; das Konzept der Irritationsgestaltung antwortet exakt hierauf. Die untersuchten Korrektive wissen durchaus, was sie tun, rechnen aber gerade nicht mit unmittelbarem Durchgriff. Sie stellen sich, die jeweiligen Absätze haben dies empirisch gezeigt, auf sachliche, soziale und zeitliche Widerstände ein. Die Beobachtung dessen, was in den Praxen des gegenwärtigen, gemeinnützigen Investigativ-Journalismus in Rechnung gestellt wird, lässt sich zwanglos als Irritationsgestaltung beschreiben. Es ist deutlich geworden, dass hier gerade nicht eine Praxis unter ein theoretisches Konzept subsumiert wird, sondern geradezu umkehrt die empirische Analyse ein theoretisches Gerüst erst sukzessive plausibilisiert. Den hier untersuchten Praxen muss niemand, zumal kein soziologischer Beobachter, verdeutlichen, dass Durchgriff in einer differenzierten Gesellschaft nicht zu haben ist, dass folglich mehr als Irritation nicht zu wollen, diese aber unterschiedlich raffiniert zu gestalten ist. Sie rechnen u.a. mit Übersetzungen (sachlich), damit, einen langen Atem haben zu müssen (zeitlich) und Umwege in Kauf nehmen zu müssen (sozial). Fuchs (2013) hatte kritischer Kommunikation nur dann Verarbeitungschancen zugetraut, sofern sie von Durchgriffs- auf Auslösekausalität umzustellen in der Lage sei. Auch dieser Zug ist deutlich in der Empirie zu erkennen. Nun sind entsprechende »Bekenntnisse zur Auslösekausalität« – und damit Relativierungen von Durchgriffskausalität – einigermaßen unwahrscheinlich, schließlich hängen Renommee sowie finanzielle Zuwendungen nicht zuletzt davon ab, den Nachweis zu führen, etwas (Bestimmbares) erreicht zu haben. Für inzwischen beinahe klassisch zu nennende Korrektive wie Greenpeace erscheint ein bloßer Beitrag zur Auslösung eher nicht als Option, wie Alexa J. Trumpy (2008) gezeigt hat. Greenpeace nutzte zunächst eine Beratungsfunktion im Rahmen der Olympischen Sommerspiele von Sydney im Jahre 2000 und setzte hier durch, dass keine FCKW-Kühlschränke verwendet wurden (Trumpy 2008: 489). Coca-Cola, einer der offiziellen Hauptsponsoren, gab bekannt, bis 2004 weltweit auf die Verwendung von FCKW zu verzichten, in Forschung zu alternativen Kühlmitteln zu investieren und Zulieferer verpflichten zu wollen, ebenfalls kein FCKW mehr zu verwenden. Greenpeace lobte dieses Einlenken öffentlich, gab aber bekannt, die Einhaltung der Zusagen – Applikationsbeobachtung – überwachen zu wollen. Abweichend
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von vorangegangenen Aussagen legte Coca-Cola schließlich den Plan vor, keine FCKW-Kühlschränke mehr anzuschaffen, sofern kosteneffiziente Alternativen vorlägen sowie Zulieferer zur Energieeffizienz zu verpflichten. Diese Diskrepanz zwischen ursprünglicher Zusage und diesem Aktionsplan blieb von Greenpeace nicht unbeachtet; die Kampagne Coca-Cola wurde dennoch als Erfolg gewertet (ebd.: 492). Coca-Cola investierte zwar in die Erforschung alternativer Kühlmittel, die vormals verkündete Abschaffung von FCKW-Kühlschränken wurde jedoch nur in Japan durchgesetzt – auch dies wurde von Greenpeace nicht kommentiert (ebd.: 493f.). M.a.W.: Greenpeace bestand auf Auslösekausalität, obwohl der Wandel selbst kaum exklusiv Greenpeace zuzurechnen sein dürfte und dieser deutlich weniger weitreichend durchgesetzt wurde als (beidseitig) öffentlich verkündet. Diesbezüglich findet sich Gegenteiliges in der Organisation von Gesellschaftskorrektur sowohl bei ProPublica als auch bei Correctiv. Für ProPublica reicht im Grunde bereits der Verweis auf die Dokumentenanalyse hin (Kap. VIII.2). Schließlich, so wurde dort gezeigt, hatte Tofel bereits deutlich gemacht, dass sich selbst zum Narren hält, wer glaubt, Impact mathematisch oder gar statistisch reliabel beweisen zu können. Für Correctiv illustriert dies das folgende Interview-Zitat: »Also ich hab jahrelang auch dagegen angeschrieben, dass ähm dass Schmiergeldzahlungen von Pharmaunternehmen an Ärzte nicht (›)strafbar sind, ja?, das war sozusagen eines der großen Themen. Ich hab (›)immer wieder gezeigt, wie Schmiergeld gezahlt – ich hab immer wieder gezeigt, wie (›)straflos das alles=ist, der ganze – also angefangen mit=dem Ratiopharm-Skandal, aber=auch viele Be– Krebsmedikamente und sowas und (›)jetzt gibt’s halt in diesem Frühjahr 2016 [klopft auf den Tisch] gibt’s ʼne Gesetzesänderung [klopft auf den Tisch], ja? Ähm (.) aber hat die jetzt der Spiegel (.) quasi herbeigeschrieben? Hat die der Stern her– hab (›)ich sie persönlich herbeigeschrieben? Das– sowas lässt sich nicht (›)sagen, ja?« (Int-Co-06: 455ff.) Man mag das für eine persönliche Idiosynkrasie halten, gerät dann aber in Erklärungsnot, wenn es schon in den FAQs25 heißt: »Eine Folge des digitalen Medienumbruchs spielt uns hierbei ausgezeichnet in die Karten: Wichtige Nachrichten und Informationen werden mittlerweile ohnehin so schnell und auf so vielen Wegen verbreitet, dass es im Nachhinein nur schwer möglich ist, den originären Urheber einer Recherche zu identifizieren.« Als wesentliche Signaturen der Gesellschaft der Gesellschaftskorrektur wurden in Kap. VIII.3 neben Differenzierung auch Transparenz und Quantifizierung rekonstruiert. Transparenz kann es Korrektiven erschweren, insbesondere in zeitlicher Hinsicht strategisch vorzugehen. Quantifizierung als an Korrektive herangetragene Erwartung lässt sich leichter »wegorganisieren«. In beiden besuchten Re25 https://correctiv.org/correctiv/faq/.
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daktionen wird auf eine konkrete für Messbarkeit zuständige bzw. diesbezüglich besonders kundige Person verwiesen.26 Das soeben beschriebene Bekennen zur Auslösekausalität erscheint aus der Beobachterperspektive realistischer, motivierte schließlich auch zur Bezeichnung Irritationsgestaltung. Praktisch gehen damit Probleme einher: Wer keinerlei Erfolg vorweisen bzw. vorrechnen kann, dem wird weniger Vertrauen entgegengebracht und wohl auch weniger Geld zur Verfügung gestellt. Insofern kommen den Korrektiven selbst die zumeist von Stiftungen eingeforderten Zahlen auch entgegen: Man kann einerseits reklamieren, dass man es zwar so genau nicht ausrechnen könnte – und somit nicht als zahlengläubig und naiv beobachtbar wird (etwa von soziologischer Seite). Andererseits erhält man aber allein durch die Versuche schon Material, auf das man im Zweifel verweisen könnte, sollten Zusammenhänge zwischen eigenen Aktivitäten und als positiv ausflaggbarem Wandel gefragt sein. Mit Sicherheit muss man sich ein gesteigertes Maß an Distanzierung in dieser Hinsicht leisten können. Was zur Korrektur der Gesellschaft praktisch wirksam zu tun ist, maßen sich die hier untersuchten Korrektive nicht an und bedienen insofern passgenau Luhmanns Definition von Protest (vgl. Kap. IV.1), Verantwortung andernorts anzumahnen. Doch damit gerät das Organisieren des Anmahnens aus dem Blick. Es wird gerade keine adresslose allgemeine Öffentlichkeit, die bloß als Chiffre existente Politik o.Ä. angesprochen, sondern, wie gezeigt, es wird angesteuert, was verspricht, den als Differenzmacher_innen Ausgemachten zur Orientierung zu dienen. Schon dies wird – etwa im »Social Team« – systematisch angegangen. Man kann nur irritieren, will dazu aber nichts dem Zufall überlassen, weder in sachlicher noch in zeitlicher oder sozialer Hinsicht; genau dies lässt sich als Irritationsgestaltung beschreiben.
IX.2 Leicht erregbare Entrüstung vs. Empörungsorganisation Die Annahme, dass öffentliche Empörung leicht zu haben sei, sich geradezu wie von selbst einstelle, eint so unterschiedliche Autoren wie Niklas Luhmann (1997: 405), Hartmut Rosa (2016: 378f.) oder Bernhard Pörksen (2018). Mitunter wird besonders betont, dass sich im Social Media-Zeitalter Erregungskonnektive ganz oh-
26 Für Correctiv: »Messbarkeit macht [VORNAME]. (2) Impact-Messung (I: mhm). Ähm da hab ich nichts mit zu tun und äh kennʼ ich=mich=nicht mit aus. Ähm (.) für (›)mich heißt Erfolg, dass ich halt merke, dass sich was (›)andert. Eben vielleicht ʼn Bewusstsein. VIELLEICHT ʼne Politik« (Int-Co-08: 251ff.). Und für ProPublica: » Gosh. So, yeah, that’s all– (I: Yeah.) That– [PP-03] would know the answer to all of those things« (Int-PP-02: 180f.).
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ne organisationalen Kern entwickelten und dabei enorme Wirkungen27 entfalteten (stilbildend: Bennett & Segerberg 2012, 2013). Schon alltägliche Beobachtungen scheinen weitere Evidenz zu liefern, von »Wutbürger_innen«, die ihren Ärger dank barrierefreier Technologie ungezügelt ausbreiten können, ist nicht selten die öffentliche Rede. Jedoch lässt dies leicht ein für den vorliegenden Zusammenhang entscheidendes Detail übersehen: Die hier nur verzerrt dargestellten Wutbürger_innen sind schon ihrer Meinung – und bleiben dabei. Nicht dass sie sich empören wird problematisiert, sondern dass sie scheinbar durch nichts – jedenfalls nicht über faktische Gegendarstellungen o.Ä. – von ihrer Meinung abzubringen sind. Kehrseitig wird der Verwunderung Ausdruck verliehen, warum anderen Korrekturthemen gegenüber gerade keine Entrüstung entgegengebracht wird. Das betrifft im Besonderen Aspekte des Datenschutzes und der Überwachung in digitalen Umgebungen. So formuliert die (ehemals) bei ProPublica für »Investigating Algorithmic Injustice« zuständige Senior Reporterin Julia Angwin »[O]utrage is the new porn« als Desiderat und nicht als Diagnose.28 Wenn im Folgenden von Empörungsorganisation die Rede ist, so sind damit Aufgaben gemeint, die von den hier untersuchten Organisationen auf aufschlussreiche Art und Weise bearbeitet werden. Das Problem ist ganz offenkundig nicht, dass zu wenig Empörung sichtbar ist. Problematisch erscheint eher, Rezipient_innen für Themen zu interessieren, die sie nicht ohnehin schon ansprechen. Ein solches Interesse nicht nur aufflammen zu lassen, sondern gar zu verstetigen, geht noch darüber hinaus. Als Königsdisziplin schließlich darf gelten, Meinungen, Haltungen, Weltbilder o.Ä. zu korrigieren, wo die Beibehaltung derselben ihrerseits als zu korrigierendes Problem erscheint. Für keine dieser Aufgaben vertrauen die untersuchten Organisationen auf die Bereitstellung von Fakten allein. Schon in Kap. VI.4 war vom inzwischen seit über hundert Jahren skandalübersättigten Publikum die Rede. Die Erfolge der frühen muckraker setzten eine Spirale in Gang, an deren vermeintlichem Ende sich nicht mehr hinreichend über Korrekturbedarf empört wurde. Früh wurde demnach deutlich, dass bloßes Enthüllen nicht länger ausreichen würde. Es gibt gute Gründe Zweifel daran zu hegen, ob es diesen Reinzustand jemals gegeben hat, wenn schon eine in sensationalistischem Stil gehaltene Fortsetzungsstory – eben Steads »The Maiden Tribute of Modern Babylon« – als Geburtsstunde des modernen Investigativ-Journalismus gilt. Für Hannes Wimmer (2000: 470) gilt ohnehin: »Der vielbeklagte Sensationsjournalismus ist keine Degenerationserscheinung seit der 27 Das zumindest im Deutschsprachigen beliebteste Beispiel dürfte das »GuttenPlag-Wiki« von 2011 sein (Schrape 2015b: 79ff.; Reimer & Ruppert 2013). Dass es auch später noch regelmäßig zitiert wird, gibt Aufschluss über die Seltenheit des Phänomens. 28 https://www.fastcompany.com/90160486/how‐propublica-became‐big-techs‐scariestwatchdog.
IX. Differenzierungstheoretische Konsequenzen rekonstruierter Korrektivpraxen
2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern steht schon am Beginn der modernen Publizistik.« Immer liegt der Kern des Problems darin, Bestehendes ins Wanken zu bringen. Am einfachen Ignorieren von Irritationen, in Kap. VII.2 mit Verweis auf Piagets α-Phase eines Äquilibrationsprozesses (Primat der Affirmation) beschrieben, arbeiten sich ganze Engagement-Abteilungen ab. Stets werde versucht, Neues bereits ausgebildeten Schemata zu assimilieren. Dass dies auch in Bezug auf faktische Aussagen zu beobachten sei, ist unter dem Stichwort des »confirmation bias« bekannt geworden (vgl. Flynn et al. 2017). Für den vorliegenden Zusammenhang ist hierbei besonders interessant, dass gerade bei Korrekturversuchen von (politischen) Fehlwahrnehmungen ein »Backfire-Effekt« zu beobachten sei. Nicht nur blieben Glaubenssysteme durch eine Konfrontation mit Fakten unerschüttert, in einigen Fällen sei gar zu konstatieren, dass »ideological groups« Informationen in einer Art und Weise ihrer Informationsverarbeitung anpassten, dass sie sich in ihrer ursprünglichen Sichtweise sogar bestärkt sehen (Nyhan & Reifler 2010, 2012). Die Autoren benennen allerdings auch Auswege. Um den »confirmation bias« zu kontern, hätten sich insbesondere Visualisierungen als erfolgreich erwiesen (Nyhan & Reifler 2012: 17), etwa die Zahl(!) von Aufständen im Irak oder gar den Wandel globaler Temperaturen der letzten dreißig Jahre betreffend. Dass auch im Datenjournalismus die Tendenz zur Visualisierung unübersehbar sei, ist bereits mit Blick auf die Annahme diskutiert worden, Datenbanken spielten eine zentrale Rolle in der Organisation von Persistenz. Ein wesentlicher Aspekt dessen, was im Folgenden als Empörungsorganisation zu beschreiben sein wird, liegt in der Differenz von Ratio und Emotio begründet. Wenn Argumente nicht stören – weder um Interesse zu wecken bzw. gewecktes Interesse zu verstetigen, noch etablierte Schemata zu akkommodieren –, dann erscheint der Versuch attraktiv, das emotionale Register anzusprechen. Auch diesbezüglich gilt, dass die untersuchten Organisationen möglichst wenig dem Zufall überlassen. Ein Interviewee liefert ein so illustratives Deutungsmuster dieses Zusammenhangs, dass es sich lohnt, die entsprechende Passage trotz ihrer Länge in Gänze zu zitieren: »Die ÜBERLEGUNG, die dahinter steckt, ist– (.) Geht nicht um ʼn Format an (›)sich, sondern es geht (›)darum, dass man– dass (›)ich mir überleg‹ – oder dass (›)wir uns hier überlegen – ähm (.) (›)wenn wir ʼn Thema haben, mit=dem wir Leute erreichen wollen, dann haben wir verschiedene Erzählebenen, die wir benutzen können. Also du hast, wenn du schreibst, die Ebene ›Schrift‹.&In der Schrift kannst=du halt durch die Steuerung der Figu:ren, durch die Steuerung der Hintergrundgeschichte, kannst=du halt so drei=vier=fünf Erzählebenen erreichen (I: °mhm°). So. Das ist so das Klassische. Ähm dann fügst du dem Erzählebenen hinzu:. Das ist halt bei ähm bei ʼner ähm (.) bei ›ne::r – was=weiß=ich – beim Fernsehen haste halt
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noch ›Bild‹ und ›Dramaturgie‹. Dann haste b- ähm bei ›Ton‹ haste noch ʼn bisschen was. So, dann haste vielleicht sechs=sieben=acht=neun Ebenen. Wenn=du ähm graphische Reportage nimmst, haste (›)dann=noch ähm die Ebenen, die aus- die aus der Farbgebung ergeben, aus dem (›)Perspektivwechsel ergeben, aus den– äh der (›)Frage, der großen Frage, ›Wie vergeht Zeit?‹. So. Da haste halt wieder mäh, na nicht (›)sechs Ebenen da, sondern fünfzehn Ebenen oder so, mit denen=du Geschichten erzählen kannst. Und (.) da geht’s halt drum, a, zu lernen, wie sind die äh Ebenen, b, zu lernen, wie kann ich mit den Ebenen umgehen, c, wie kann ich damit ʼn Punkt machen und d, wie kann ich das schaffen, ähm das was=ich an Inhalten vermitteln will, Leuten zugängig zu machen, die halt mit den (›)Inhalten nichts zu tun haben wollen. Also machen wir das konkret an dem Comic. (I: Mhm.) Hätte=ich daraus ʼne normale (›)Geschichte geschrieben, hätten das ʼn paar Leute gelesen, die das (›)sowieso gelesen hätten (I: MHM). Also sprich, ich hättʼ die katholisch- Katholiken katholisch gemacht. Ich muss aber ʼne (›)Grenze überspringen und muss (›)Leute erreichen, die sich mit dem Thema gar nicht beschäftigen wollen. So. Dann mach'=ich daraus ʼne graphische Reportage, erzähl das anders, bring den gleichen (›)Inhalt rüber und erreichʼ die Leute nicht auf (›)drei Ebenen, sondern auf fünfzehn Ebenen. Das heißt, die Effekte, die ich damit erreichen kann, sind wesentlich größer. Und (›)jetzt kommen wir zum: Theaterstück. Ähm (.) (›)alles was ich bisher erzählt habʼ – auch diese fünfzehn Ebenen – das sind halt die Ebenen äh der (›)Blockflöten. Also das ist halt so, [imitiert Flötengeräusch], ne?, (›)eine Blockflöte oder (›)fünfzehn Blockflöten. Im Theater haste das Symphonieorchester. (I: °@Hm@°.) Da haste dann mit einem=Mal Erzählebenen in der Handlung °und° in der Person. Du hast äh– kannst in den emotionalen Bereichen auf sechs, sieben äh verschiedenen Ebenen erzählen. Und (›)das macht das in (›)meinen Augen als ähm als Format für (›)Inhalte unglaublich attraktiv. Weil (›)damit hab ich dann die Chance, ʼne GESCHICHTE über Zeit und Raum hinaus ähm in die Zukunft zu schicken.&Ich kann halt ʼne Geschichte packen und wenn ich die (›)vernünftig erzähl‹ und (›)gut erzählt krieg, dann kann ich das schaffen, mit den Emotionen, die dahinter stehen, die Geschichte auf ʼne Zeitreise fünfzig Jahre in die Zukunft zu schicken (I: mhm). °Na?° Und (›)das ist halt das– Das hat mit ›Unterhaltung‹ jetzt erstmal (›)nichts zu tun« (Int-Co-08: 444ff.). Das Schlüsselkonzept dieses Deutungsmusters (Oevermann 2001: 67; vgl. Kap. III.6) liegt in dieser Annahme: Je mehr Erzählebenen ein Format aufweist, desto stärker seine Wirkung – auch und gerade bezüglich der Frage, wie »Leute« zu erreichen sind, die sich mit dem Thema eigentlich gar nicht beschäftigen wollen. Hierzu sieht der Interviewee das Theater als die ergiebigste Instanz an. Einmal in Bezug auf emotionale Ansprechbarkeit, außerdem auch in zeitlicher Hinsicht, denn eine so erzählte Geschichte kann über lange Zeit hinweg wirken, sie kann,
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theoretisch gewendet, Eingang in den semantischen Haushalt29 einer Gesellschaft finden. Dem reinen Text wird in dieser Hinsicht am wenigsten zugetraut. Dieses Schlüsselkonzept – je mehr Erzählebenen, desto umfassender die Wirkung – dichtet auch wirksam gegen die Frage ab, wie Leute zu einem Theaterbesuch anzuhalten sein sollen, wenn der Stoff sich obendrein noch eines Themas annimmt, mit dem eine Beschäftigung bis dato erfolgreich vermieden wurde. Als unzweifelhaft wird jedenfalls dargestellt, dass wenn eine Chance bestehen soll, andere zu interessieren oder gar zu einer anderen Haltung anzuregen, ebendies über Emotion zu erreichen ist, über eine sinnliche Erfahrung, die den »confirmation bias« oder den Primat der Affirmation implizit austrickst. Die Wirkweise muss folglich eine sein, die sich gerade nicht ausbuchstabieren lässt, auch damit die Ratio (und also der Bias) nicht doch wieder die Oberhand gewinnen kann. Die Wirkweise mag eine ganz und gar unterschwellige, implizite sein, sie auszulösen wird formal und explizit angegangen: Es gibt Zuständige, mitunter in Form ganzer Abteilungen. Auch wenn die Bezeichnungen variieren, üblicherweise taucht in ihnen »Engagement« auf. In einem Interview wird so etwas wie die Gretchenfrage dieses Metiers formuliert: »how do we get somebody who (›)could be reading any number of- uh looking at any number of things on the internet right now, how do we really grab their attentio:n a:nd make them uhm (.) stay with us rather than somebody else?« (Int-PP-01: 205ff.) Das Internet hat das zentrale Problem von Massenmedien weiter verschärft: Wie bringt man potentielle Konsumierende dazu, sich ausgerechnet diesem und keinem der zahlreichen anderen Angebote zu widmen? Doch das Erregen von Aufmerksamkeit kann immer nur der erste Schritt sein, sie zu konservieren, aufrechtzuerhalten ist der nächste und schwierigere. Im oben ausführlich zitierten Deutungsmuster war auch diesbezüglich ein Modell angelegt: Je mehr Erzählebenen, desto eher gelingt es der Emotio eine langfristige Veränderung des Bewusstseins zu evozieren und damit wiederum Verhaltensänderungen wahrscheinlich werden zu lassen. Dazu müssen, so wurde es geschildert, Geschichten auf Zeitreise geschickt werden, worin nicht zuletzt erneut eine Distanzierung von Auslösekausalität zu erkennen ist. All dies aber bleibt symptomatisch für ein wesentliches Muster der Korrektur der Gesellschaft: Im sicheren Wissen, Korrekturen nicht unmittelbar veranlassen zu können und selbst bei gewissenhaftester Planung noch unkontrollierbaren Zufällen ausgesetzt zu sein, wird alles organisational Mögliche in Gang gesetzt, gewünschten Veränderungen auf die Sprünge zu helfen. 29 An einer früheren Stelle im Interview wird zu Protokoll gegeben: »Dann gibt’s halt bei ›Wirkung‹ kurzfristige Wirkung, langfristige Wirkung, ʼne Veränderung von ʼnem Grundgefühl. (I: Mhm, mhm.) Ähm wenn man diese (›)ganz langfristigen Sachen anschaut, da sind=wir halt – oder experimentieren wir grade sehr viel mit (›)Theater« (ebd.: 79ff.). Tatsächlich gibt es inzwischen ein solches Stück: https://www.lichthof‐theater.de/event‐reader/events/cum‐ex-papers.html.
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Einmal mehr kann auch hier die Praxis von ProPublica als vorbildlich gelten. Der Bezug auf ein als wesentlich ausgeflaggtes Prinzip gibt einen Einblick in die Vorstellungen, wie aus Aufmerksamkeits- Entrüstungsorganisation werden soll: »grabbing people’s attention and interest, giving them context, and then drawing them in closer and showing them the details.«30 Operationalisiert wird dieses Prinzip durch einen Vergleich mit der Gestaltung von Plakaten. Ein in dieser Hinsicht gut gestaltetes Plakat würde man daran erkennen, dass es jemanden auf der anderen Straßenseite dazu anregt, diese zu wechseln, um es sich dann aus der Nähe anzusehen: »the (›)near and the far view« (ebd.: 132). Doch damit wäre ja nur der erste Schritt getan. Ist Aufmerksamkeit erregt, gilt es, die Betrachtenden hineinzuziehen. Hierzu wiederum wird versucht, abstrakte und strukturelle Probleme so zu übersetzen, dass eine persönliche Bezugnahme ermöglicht wird: »And then uhm – we do this a lot with our news apps – so we have sort of these multiple layers uhm if I then am interested in ›okay, how does this particular issue relate to my pool or my city or my doctor‹, then I can- usually with– we have sort of search components or you can sort of zoom in uhm and then see exactly how this data applies to (›)you in a more (.), like, close‐up and personal, detailed way« (ebd.: 148ff.). Wieder handelt es sich dabei oftmals um Datenbanken, deren Inhalte wiederum im Graphikelemente übersetzt werden. Sogenannte »›you do it‹ graphics« wie die folgende reizen zunächst zum spielerischen Mitmachen.31
30 https://www.propublica.org/nerds/design‐principles-for‐news-apps‐graphics. Als wesentliche Quelle für Designprinzipien gilt hier Zacks & Tversky (1999). 31 https://projects.propublica.org/graphics/workers‐compensation-benefits‐by-limb.
IX. Differenzierungstheoretische Konsequenzen rekonstruierter Korrektivpraxen
Abbildung 4 »you do it« graphic: Workersʼ Comp Benefits; Lena Groeger, Michael Grabell & Cynthia Cotts
Die gestalterische Annahme – und Hoffnung – geht nun aber darüber hinaus. Aus dem Spiel soll insofern Ernst werden, als irgendwann zu registrieren sein soll, dass es, um im Beispiel zu bleiben, ungerecht ist, wenn Arbeiter_innen in Alabama gerade einmal 44.000 Dollar Entschädigung erhalten, während in Nevada das Zehnfache zu erwarten steht. Visualisierte Ungleichheit wird damit als Motor der Empörung angenommen. Die Idee solcher Graphiken ist zudem, dass durch den eigenen Beitrag zur Erstellung der visualisierten Ausgabe die Motivation steigt, sich über das einmalige Erleben hinaus mit dem übergeordneten Thema zu beschäftigen. Wieder finden sich einerseits erhebliche organisatorische Anstrengungen der Wirkungskontrolle und andererseits das Wissen um die Bedeutung des Zufalls und ein Bekennt-
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nis zur Auslösekausalität, hier nun insbesondere die konkrete Rezeption (Muhle & Wehner 2017; Sutter 2010: 97ff.; Ang 2001) betreffend. So ist vollkommen klar, dass Rezeption und Wirkung schon vor einer Publikation erprobt werden: »a lot of user(›)-testing before we publish a graphic or a data visualization« (ebd.: 82) und danach »we also uhm ha:ve (.) a way for trying to collect responses afterward and often that takes the form of ›(›)Oh, – you know – how did this happen to you? Please contact so (named?) reporter.‹ o:r uhm if (.) you recognize something or wanna fill out a form about a bad experience that you’ve had, then we try to (.) ask those sort of questions to uh to get people involved. Uhm and (›)that’s I guess in addition to all the feedback we get just from other channels like on Twitte::r and on social media:« (Int-PP-01: 87ff.). Und doch bleibt es letztendlich bei einem Impuls, dessen konkrete Verarbeitung unbekannt bleibt – erneut eine Paraphrase des Konzepts der Irritationsgestaltung: »Aber gleichzeitig ist=natürlich so, was bisher auch meine ganz Erfahrung war, äh (.) man kann- man=kann schlecht messen, wie der wirkliche- wie der wirkliche Impact (›)ist, ja? (I: Mhm.) Ich meine, das ist so, Sie senden immer so (›)Impulse in die Öffentlichkeit, Sie senden Impulse und ich weiß nicht, wie stark die Impulse ankommen. Also wenn Sie einen Artikel vo– ich weiß zum Beispiel w– ich kann (›)messen, wie viele Leser ich habe, ja? – das geht noch, ja? – aber ich weiß nicht, wenn (›)Sie in Bielefeld sitzen und äh Sie lesen meine Geschichte über Psychiatrie, ob Sie die langweilt, oder ob Sie die äh– ob Sie danach über das Thema anfangen anders zu (›)denken. Und wozu dieses Anders-Denken führt, ob Sie sich zwei Jahre später irgendwie– ob Sie mal ʼn Leserbrief schreiben, zum Beispiel @zu dem THEMA@ oder sowas, ja?, das sind alles Dinge, die ich ja nicht weiß, ja? Also das heißt, man (›)kann ganz viel auch nicht messen. Man macht halt die Dinge, die man für richtig hält @als Journalist@ und hofft dass es dann äh Auswirkungen hat« (IntCo-06: 383ff.). Im Wissen darum, dass es keinen Zugriff auf die je individuelle Verarbeitung medial vermittelter Informationen gibt, wird das Möglichste getan, diese zumindest richtungsweisend aufzubereiten und die Richtung gleichermaßen miterheben zu können. Pointiert fasst Tilmann Sutter (2016: 208) zusammen: »Dieses Publikum muss gewissermaßen im Blindflug, aber doch mit leistungsfähigen Bordinstrumenten beobachtet, eingeschätzt und gebunden werden.« Gerade bei Correctiv lassen sich die organisatorischen Aspekte von Empörung an einem Beispiel besonders gut studieren. Dabei handelt es sich um den sogenannten Crowdnewsroom »Die Sparkassen-Recherche«.32 Daten zu Kontogebühren, 32 Dokumentiert unter https://correctiv.org/recherchen/sparkassen/.
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Zinssätzen, Vorstandsgehältern, Aufsichtsratsbezügen, Beteiligungen, Rücklagen und versteckten Risiken aller über 400 Sparkassen in Deutschland sollten, falls nicht bereits frei verfügbar, erhoben und ausgewertet werden. Weil diese Aufgabe so umfangreich sei, wolle man dies gemeinsam mit interessierten Laien – der »Crowd« – recherchieren. Dieses Projekt wurde bereits vor der offiziellen Gründung der Organisation Correctiv angekündigt. Mag dieser Schluss nicht in einem strengen Sinne empirisch belastbar sein, so ist doch die Annahme plausibel, dass man es spätestens mit dieser Ankündigung den Sparkassen ermöglichte, sich auf öffentliche Reputationsschäden vorzubereiten. Damit muss nicht einmal gesagt sein, dass das ursprüngliche Ziel – eine Steigerung der Transparenz seitens der Sparkassen – verfehlt werden muss. Begründet wurde dieser frühe Zeitpunkt einerseits gerade über die Gründungsphase. Es musste sich um eine »offene Recherche« handeln, weil darüber öffentlich geredet werden können sollte. Eine neue Organisation muss sich dem Aufmerksamkeitsmarkt gegenüber erst einmal bekannt machen. Andererseits wird eingeräumt, »dass wir ähm den Zeitraum auch fal- falsch eingeschätzt haben äh, den wir brauchen, um das ganze Ding umzusetzen« (Int-Co-07: 16ff.). »Das ganze Ding« ist eben der Crowdnewsroom. Über das Timing hinaus ist hieran besonders aufschlussreich, wie Beteiligung hier organisiert wurde. Man hatte hierzu nicht nur ein Thema gewählt, über das man bereits vorab öffentlich sprechen konnte, sondern gleichermaßen eines, bei dem es ganz sicher etwas zu enthüllen gab. Wenn vorab bekannt ist, dass nicht alle Jahresberichte öffentlich zugänglich sind, dies aber sein könnten, dann ist hiermit sichergestellt, dass vormals Verdecktes enthüllbar ist. Nicht damit schon gewährleistet ist die Skandalisierung ebendieses vormals Verdeckten. So wurden zunächst Jahresberichte gesammelt und – einmal mehr – mit Worterkennungssoftware lesbar gemacht, um hierin etwa nach unterschiedlichen Vorstandsgehältern suchen zu können. Die von Correctiv vorgenommene technische Vorarbeit erschöpfte sich allerdings bei weitem nicht nur in dieser Form des Lesbarmachens. Darüber hinaus wurden auch noch die Stellen in den entsprechenden Dokumenten markiert, an denen sich dann die Kennziffern finden lassen sollten, die in wiederum vorbereitete Tabellen auf der Website einzutragen waren. Die vermeintliche Arbeitsermöglichung – eine so umfangreiche Recherche also überhaupt durchführen zu können – wurde tendenziell dadurch konterkariert, dass die Vorbereitungen der Beteilung und auch die Überprüfung des Beteiligten einen enormen Aufwand nach sich zogen. Die beitragbaren Aufgaben wurden so kleingearbeitet, dass sie als erfüllbar gelten konnten und dabei auf ein Ergebnis hinarbeiteten, dass im Allgemeinen bereits vorab als hinreichend sicher und erreichbar angenommen werden konnte. Auch der Recherchepartnerin, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der es nicht zuletzt darum ging »im Onlinebereich auch was Neues auszuprobieren« (ebd.: 122f.),
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»kann man an dem Produkt ja auch (›)sehr gut zeigen, was: der Output ist und der ist auch garantiert, der Output« (ebd.: 135f.). Die Tendenz geht dabei deutlich in die Richtung weiterer Barrierefreiheit: »[V]ielleicht muss man sich auf eine Fragestellung konzentrieren (I: mhm), die wirklich jeder jede:r- (.) äh jede Person‐ab-achtzehn‐in-Deutschland, so in etwa, beantworten kann« (ebd.: 75f.). Bei der Suche nach korrespondierenden Fragestellungen wiederum könnte es hilfreich sein, diese von technischen Möglichkeiten aus herzuleiten, Technik als Technik und also als funktionierende Simplifikation (Dickel & Lipp 2016; Luhmann 1996b: 163f.) walten zu lassen: »[W]elche Frage könnte man zu möglichst vielen Menschen in Deutschland stellen, die sie am besten sogar mit ihrem Smartphone irgendwie beantworten (I: mhm) können, indem sie da irgendwie mit ihrem Smartphone irgendwas photographieren oder (.) durch ʼne (›)App pf- d- ä:h über was- so über (I: mhm) das sensor‐journalism-Feld irgendwie was äh (›)generieren können vor Ort oder so, was sozusagen (›)jeder ganz einfach äh da beitragen kann« (ebd.: 230ff.). Diese »Dinge auf den unterschiedlichen Geräten (I: mhm) zum Laufen zu bringen, es technisch so umzusetzen, dass man (›)navigieren kann, dass es eine einfache Menüführung ist, das es dem Nutzer wirklich auch (›)leicht macht, in so=eine Visualisierung oder sowas einzusteigen (I: ja). Und ähm das spielt für uns eine der (›)Hauptrollen ähm, diese Zusammenarbeit zwischen der inhaltlichen Recherche (I:mhm) und dann aber auch der technischen und visuellen Umsetzung« (Int-Co-05: 70ff.). Technik soll möglichst reibungslose Partizipation gewährleisten, auch das aber ist mit gehörigem organisatorischem Aufwand verbunden, den man wieder nach Möglichkeit technisch zu überbrücken versucht. Nicht selten führt aber gerade dies zu nicht‐technischen Problemen. Die Vorbereitungs- und Überprüfungsarbeit im Rahmen des Sparkassen-Projekts wurde auch deswegen in Kauf genommen, weil man sich hiervon einen Beitrag zur Lösung des Motivationsproblems versprach: »es ist auch schwer die Motivation da zu erzeugen, dass man äh °pf° den- den äh Leuten die mitarbeiten in der virtuellen=Redaktion dann auch wirklich (.) das (›)glaubhaft zeigt, ›wenn ihr hier mitarbeitet, könnt ihr was bewirken, was‹ (I: ja) ›was sich auch wirklich dann verändert‹. Das ist natürlich bei ʼner Großbank vie:l schwieriger. Also da glaube=ich ja (›)selbst noch nicht mal richtig dran. @(.)@« (Int-Co-07: 304ff.). Man muss die Aufgabe – nicht zuletzt technisch – so dekomponieren, dass sie scheiterresistent lösbar wird und verbindet damit die Annahme, dass sich eher beteiligt, wer die Aussicht hat, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Dabei dürfte es sich um einen äußerst schmalen Grat handeln, denn wenn zu leicht erkennbar wird, dass es um reine Fleißaufgaben geht, dürfte dies etwa einen Teil der prinzipiell Ansprechbaren bereits von weiterem Engagement abhalten, und selbstredend lau-
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ert auch eine kehrseitige Gefahr: »[I]ch möchte das halt (›)einerseits transparent machen – was halt hier sehr gut geschieht – und äh gleichzeitig aber äh natürlich nicht von meiner ähm-(.) Ich möchte halt nicht runterdummen, ja?, ich das natürlich genauso komplex und kompliziert (I: ja) äh wie=es ist« (Int-Co-03: 257ff.). Organisiert werden will ferner der Mehrwert einer Mitgliedschaft. Mit zahlenden Mitgliedern kann man einerseits die Erwartung verknüpfen, Wirkungschancen zu erhöhen, sofern es gelingt, Interesse für das Initiieren von Korrekturen bis zu eigener Aktivität zu steigern. Andererseits lässt sich auf diese Weise sukzessive der Stiftungsanteil senken und damit auch ein Einfallstor für Skepsis schließen. Auch dies wird durch technische Hilfsmittel stark vereinfacht, ein »DonateButton« etwa findet sich gut sichtbar auf fast allem, das ProPublica veröffentlicht. Die sich anschließende Möglichkeit des elektronischen Zahlungsverkehrs lässt aus Interessierten in kürzester Zeit auch Spender_innen werden. Dass Spender_innen zu Mitgliedern werden, ist organisationssoziologisch kaum nachvollziehbar, aber praktisch ist hiermit gemeint, dass wer sich monetär beteiligt, gleichermaßen Anteil an den Veränderungsanstößen hat, an denen sich die begünstigte Organisation ihrerseits beteiligt. Man ist mehr als Unterstützer_in, man ist Teil des Korrektivs – ob man will oder nicht. Wer nicht Mitglied werden möchte, aber unterstützen will, kauft im Shop33 ein. Dieses emphatische Verständnis von und die technisch möglichst barrierefreie Zugänglichkeit zu einer Mitgliedschaft wirft wiederum nicht‐technische Organisationsprobleme auf. Obwohl man als gemeinnützige und der Transparenz verpflichtete Organisation sich ohnehin dazu angehalten sieht, offenen Zugang zu ermöglichen, sieht man sich andererseits in der Pflicht, Mitgliedern ein gewisses Maß an sichtbarer Exklusivität zukommen zu lassen. Ein Beispiel hierfür sind etwa Rechercheprotokolle, also Einblicke in die konkrete Arbeitsweise zu einem frühen Zeitpunkt.34 Für die Mitarbeiter_innen bedeutet dies erneut zunächst mehr Arbeit, schließlich ist nicht zu erwarten, dass Rechercheprotokolle sich herkömmlicherweise in einem publikationsfähigen Zustand befinden, aber »das ist halt für uns als, ne?, ›non‐profit‹, auch ganz wichtig, dass wir den Leuten halt auch was zurückgeben, was ähm halt sonst-(.) Also sie wollen-Sie geben halt Geld und größtenteils nur aus (.) ideellen Gründen sozusagen (I: mhm). Sie erwarten ja kein Produkt zurück oder so. Äh wir geben ihnen aber trotzdem halt irgendwie–Ne? Es gibt=ein Mitgliedermagazi:n und halt auch diese community, wo äh halt hier Events, Diskussionen-&Es gibt irgendwie äh einige (›)Extras, die halt nur für unsere Mitglieder verfügbar sin:d äh (I: mhm), wie e-Books und äh Rechercheprotokolle« (Int-Co-03: 125ff.). 33 https://shop.correctiv.org/. 34 https://correctiv.org/account/login/?next=/community/diskussion/.
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Obwohl man antizipiert, dass die Leute nichts zurückhaben wollen, scheint man nicht umhin zu kommen, hieraus eine Aufgabe abzuleiten. Dies lässt sich als ein letztes Indiz dafür lesen, wie viel Arbeit das Herstellen von Empörung einer Organisation bereitet, wenn damit gemeint ist, öffentlich sichtbar werden zu lassen, dass die von ihr anzuregende Korrektur im öffentlichen Interesse ist. Dass auflagenmäßig kleine, aber spezifische Publika ansprechende »Spiegel zweiter Ordnung« oftmals von der Praxis als aussichtsreicher aufgefasst werden, war ein wesentliches Resultat des vorangegangenen Abschnitts. Das kann aber nicht bedeuten, dass Reichweite vollkommen irrelevant wäre. Nun ist lediglich klarer anzugeben, inwiefern Masse einen Unterschied macht: Man braucht sie, um den Differenzmacher_innen gegenüber öffentliche Empörung plausibilisieren zu können. Wenn nicht angenommen werden kann, dass es eine »kritische Masse« gibt, auf die man die eigene Behauptung »öffentlichen Interesses« stützen kann, wird es Irritationen nicht gelingen, Ignorierbarkeit zu erschweren. Organisationen werden in der pragmatistischen Differenzierungstheorie als »Verteilerköpfe« bezeichnet; sie arbeiten einerseits abstrakte, funktionssystemische Imperative klein und konfrontieren Milieus und Personen mit ihren Translaten. In diese Richtung bewegt sich auch das Dasein von Correctiv als Bildungseinrichtung: »Das=ist tota::l wichtig. (I: ja) Also, wir sind ja auch ne Bildungseinrichtung (I: mhm) nach Abgabenordnung und ähm wir machen investigativen Journalismus, kla:r, aber was halt extrem wichtig ist (.) fast noch wichtiger, dass man halt den Leuten zeigt, wie funktioniert das eigentlich, was wir machen (I: mhm). Also, es gibt ja verschiedene Sachen, wie man Leute befähigen kann. Man kann die: Originalquellen zur Verfügung stellen, man kann (.) die Sachen so weit runterbrechen, dass je:der was vor der Haustür damit anfangen kann (I: ja). Man (›)kann aber auch zeigen, wie wir an Informationen (›)gekommen sind, man kann (.) zeigen, wie die Leute selbst an Informationen kommen können, wie die Leute sich auch (.) vielleicht im (›)nächsten Schritt – was wir bisher noch sehr wenig gemacht haben – wie die Leute sich auch=organisieren können, wie die Leute selbst vielleicht für Veränderung äh sorgen können, also das (I: ja) wäre vielleicht äh so ein nächster Schritt, was wir- was (›)ich total spannend fand« (Int-Co-01: 111ff.). Abstraktes Veränderungswissen soll hier auf eine Weise heruntergebrochen werden, durch die schließlich Personen in die Lage versetzt werden, selbst für Veränderung zu sorgen. Ebendiese Vermittlung, gleichsam das Vorführen des Kleinarbeitens, nimmt oftmals die Gestalt von Workshops an, setzt also auf das Medium der Interaktion (vgl. Kap. VII). Dieses Modell sieht vor, dass Organisationen – pragmatistisch: zwingend über den Umweg des Milieus – Personen dazu anregen bottom up Korrekturen zu initiieren, die dann ihrerseits eine Übersetzungskaskade über die Stationen Milieu – Organisation – System zurückzulegen haben. Der nächste Ab-
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schnitt wird plausibilisieren, dass es sich bei der hier allgemein gehaltenen Station »System« signifikant häufig um das Recht handelt. Auf den zuletzt geschilderten Aspekt des »Personenbefähigens« – was wohl seinerseits als Übersetzung von »Empowerment« taugt – bezogen, lässt sich hinzufügen, dass das Recht nicht nur als Ziellinie zu illustrieren wäre, sondern schon von der anderen Richtung her drückt: Dass etwa Correctiv Formate veranstalten muss, die erkennbar einem Bildungsprogramm zuzurechnen sind, ist seinerseits eine Respezifizierung eines rechtlichen Imperativs: der Abgabenordnung (AO).35 Da Journalismus in Deutschland steuerrechtlich bis dato nicht zur Gemeinnützigkeit verhelfen kann, müssen sich diese Organisationen einen Zweck zu eigen machen – also: in die eigene Informationsverarbeitung übersetzen –, der diese Bedingung erfüllt. Was immer Korrektive tun, das Recht ist immer schon da, es strukturiert die eigenen Möglichkeiten und es markiert das zu erreichende Ziel. Genau dies hatte Luhmann erwartet, nicht aber, dass er diesbezüglich die Zustimmung der Korrektive der Gesellschaft finden würde.
IX.3 Helfen kann nur das Recht In diesem dritten und letzten Teil dieses Untersuchungskapitels wird keine Oppositionsbeziehung aufgemacht. Das liegt daran, dass sich die hier studierte Praxis dem theoretischen Postulat nicht widersetzt, sondern dieses geradezu untermauert: Am Ende hilft nur das Recht, wenn es um nachhaltige Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung gehen soll. Wenn etwa die Maxime ProPublicas lautet: »being persistent until change comes about«, dann ist damit in aller Regel ein Wandel des Rechts gemeint, mit dem wiederum strengere Implementation bereits bestehenden Rechts oder die Schaffung neuer rechtlicher Regeln gemeint sein kann. In diesem Sinne schildert ein Interviewee anschaulich eine ganze Korrekturkaskade: »Also=eine Diskussion anstoßen ist schonma:l gut (I: genau) und nett und macht Sinn: so. Dann (.) Verordnungen oder Gesetze, das=ist natürlich su:per. Also das finde ich-Ich glaube=ein Gesetz ändern ist fast (.) fast das (›)Höchste, was es – glau:be ich – (.) ge:ben kann« (Int-Co-02: 63ff.). Und weiter: »Aber ähm so dieses (.) (›)strukturelle, »die Gesellschaft diskutiert stärker darüber, es gibt (›)Druck äh, die Politik reagiert, am Ende steht=ein neues Gesetz und dadurch wird das Problem (.) gemindert oder (.) beseitigt«, ist natürlich größer einfach« (ebd.: 71ff.). Für seinen Kollegen muss es nicht zwingend ein neues Gesetz sein: »Also vielleicht würde=ich=es mal (›)so ausdrücken, also man- vielleicht ist erstmal das Ziel, das 35 https://dejure.org/gesetze/AO/52.html.
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Recht was es gibt erstmal (›)auszuschöpfen« (Int-Co-04: 83f.). Beiden Varianten bleibt gemein, dass der klare und finale Referenzpunkt im Recht liegt, sei es als Fluchtpunkt im Neuen oder als Hebel im Bestehenden. Die hier leitende Luhmann-Passage ist allerdings noch mit einem Zusatz versehen: »(wenn es korruptionsfrei gehandhabt werden kann)« (Luhmann 1997: 405). Die Bedeutung des Rechts, weit über die hier fokussierte Praxis des InvestigativJournalismus hinaus, lässt sich nicht nur theoretisch ableiten, sondern schon an den Bemühungen erkennen, es zu beeinflussen. Man muss dabei nicht zuerst an Korruption oder Bestechung denken, ungeachtet der Tatsache, dass diese Arten von Revisionsansporn empirisch vorkommen. Schon in Kap. III.3 wurden Hutters Konversationskreise eingeführt. Die entsprechende Studie hatte untersucht, wie es Arzneimittelkonzernen gelingen konnte, die Entwicklung eines Patentrechts zu entwickeln, dessen Sinn sich dem Recht lange nicht erschloss. Dabei ging es gerade nicht um Korruption, sondern das Recht wurde in ebendiese Entwicklung hineingeredet. Bevor die spezifisch an das Recht adressierten Übersetzungsanregungen des Investigativ-Journalismus wieder aufgenommen werden, lohnt der Hinweis, dass solche Korrektive das Recht nicht in etwas hineinreden können, weil sie es nicht als Gesprächspartner zu gewinnen vermögen; ihre Wirkstrategien beziehen sich stets auf das Medium der Publizität. Lobbyismus taugt als Bezeichnung eines anderen allgemeinen Typs, der sich durch Anregungen im Medium der Interaktion auszeichnet. Natürlich operieren Lobbyist_innen auch im Medium der Publizität, wer aber Lobbyismus als »fünfte Gewalt« (Leif & Speth 2006) kennzeichnet, meint dabei das Ausspielen von Einflusskapazitäten im Verborgenen, wobei eben das Verborgene nur ein Aspekt ist, denn was nicht zu sehen und zu hören sein soll, ist eben das, was sich in Kommunikationen unter der Bedingung wechselseitig wahrgenommener Anwesenheit – Interaktionen eben – vollzieht. Doch das Medium der Interaktion, wie im Folgenden zu zeigen sein wird und woran auch Hutter keinen Zweifel hegt, erschöpft sich nicht in geschickter Gesprächsführung. Lobbyismus kennzeichnet einen besonderen Zugang zu wichtigen Positionen, genauer gesagt zu solchen, von denen aus weitreichende Entscheidungen getroffen werden können, die vom an sie Herantretenden nicht in gleicher Weise ausführbar sind. Wie dieser Zugang faktisch genutzt wird, bleibt buchstäblich unbeleuchtet. Ebendieser Umstand soll eine ansonsten überaus heikle methodologische Entscheidung plausibilisieren. Für die im Folgenden dargestellte Fallskizze berufe ich mich auf Veröffentlichungen von Correctiv zur Praxis der auf Versicherungsrecht spezialisierten Kanzlei »Bach Langheid Dallmayr« (BLD).36 In der zugehörigen Reportage wird der enge Kontakt zwischen Richter_innen und der Kanzlei problema36 Zitate sind dieser Seite entnommen: https://correctiv.org/recherchen/justiz/artikel/2017/02/15/ anwaltskanzlei‐bld-maechtigergegner‐fuer-versicherte/.
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tisiert. Bei allen Vorbehalten, die man solchen Verflechtungen gegenüber haben mag, übersieht man womöglich etwas vorschnell, wie diese als unzulässig markierte Nähe wirkt. In Form einer These: Das Medium der Interaktion erschöpft sich nicht in der Kunst des Findens anschlussgünstiger Formulierungen, sondern weist eigenständige Charakteristika auf. Zunächst jedoch fällt auf, dass die Kanzlei die Strategie des InvestigativJournalismus geradezu perfektioniert. Sie erreicht exakt die Publikationsorte, an denen sich Richter_innen orientieren: Kommentare, Standardwerke zum Versicherungsvertragsrecht, auch in der Redaktionsleitung der einschlägigen Zeitschrift »Versicherungsrecht« ist man vertreten. Wenn man nur dies in Rechnung stellt, wäre es unnötig, von einem anderen Typus einer Übersetzungsstrategie auszugehen.37 Doch diese Seite der Strategie bezeichnet nur den expliziten Teil. Die im Fokus stehende Kanzlei aber, so wird es aufgedeckt, belässt es nicht bei Explikation und Publizität. Was hier hinzutritt, ist ein Mehrwert, der sich nur im Medium der Interaktion realisieren lässt. Die Kanzlei helfe, Seminare zu konzipieren, bei denen die hauseigenen Jurist_innen »und Versicherungsvertreter neben hochrangigen Richtern auf einem Podium sitzen. Man kennt sich.« Erst in dieser lapidaren Formulierung gerät das Spezifische dieser Übersetzungsanregung in den Blick. Dass man sich kennt, verweist soziologisch auf Aspekte der Gleichsinnigkeit. Man weiß eben nicht nur, mit wem man es zu tun hat, sondern kann damit rechnen, gleiche Informationen ähnlich zu verarbeiten. Es ist mehr als bekannt voraussetzbar, weniger erscheint erklärungsbedürftig: »Der Kontrast zwischen differenten Lebensformen macht sich in der direkten Begegnung als das Fehlen jener Gleichsinnigkeit bemerkbar, die innerhalb einer Lebensform durch den gemeinsamen Habitus getragen wird. Der Kontrast macht die Grenze einer Lebensform im Scheitern der Fortsetzung des Handelns sichtbar. Dabei wird nicht nur die Differenz der anderen Lebensform auffällig, sondern indirekt offenbart sich die Gleichsinnigkeit innerhalb einer Lebensform als zuvor unauffällige Voraussetzung der Kommunikation« (Renn 2006: 332). Die Kanzlei BLD sei, so die Correctiv-Recherche, seit vielen Jahren in der Ausbildung von Richter_innen an der Deutschen Richterakademie engagiert, an den Universitäten präsent, aktiv in Fördervereinen, zudem fungierten ihre Anwält_innen als Dozent_innen. Hier wird das Medium der Interaktion wirksam. Auf diese Weise können Milieukenntnisse und Gleichsinnigkeit professionssozialisatorisch früh, 37 Insbesondere hierfür ist algorithmische richterliche Entscheidungshilfe, etwa zur Rückfälligkeitsvorhersage, hochinteressant, kann hier aber nicht thematisiert werden (vgl. Angwin et al. 2016).
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vor allem aber implizit vermittelt und erworben werden. Das Wie der Übersetzungsanregung ist hier sehr viel schwieriger nachzuzeichnen. Es mangelt nicht an Ratgebern zu strategischer oder subtiler Gesprächsführung. Doch damit zielt man am Wesen des Impliziten vorbei. Könnte in Sequenzanalysen der zuvor beschriebenen Seminare wohl noch rekonstruiert werden, wie Aspekte als selbsterklärend behandelt werden, sich also etwa durch das Fehlen ansonsten erwartbarer Erklärungseinschübe auszeichnen, stellt die Praxis der Vermittlung von Gleichsinnigkeit im Medium der Interaktion eine gesonderte Herausforderung dar, gerade aufgrund des impliziten Charakters. Naheliegend erscheint etwa, sich an Albert Banduras (1979) »Lernen durch Beobachtung« bzw. »Lernen am Modell« zu orientieren. Geradezu als eine Weiterentwicklung der genetischen Epistemologie Jean Piagets (1976) interpretierbar, ist der von Bandura gesetzte entscheidende Unterschied zu Piaget, dass sich Schemata nicht nur durch Selbstentdeckung irritieren lassen, sondern auch durch Beobachtung (vgl. Mölders 2011: 23ff.). Für den vorliegenden Zusammenhang erscheint wesentlich, dass sich Richter_innen versicherungsrechtlichen Kanzleien gegenüber als entgegenkommende Applikationskultur beschreiben lassen. Dieses Entgegenkommen mag auch sachlich, etwa unter Verweis auf die Komplexität des Versicherungsrechts, motiviert sein. Doch sachliche Komplexitätsreduktion allein als revisionshinreichend anzunehmen, ist unplausibel angesichts der empirisch selten beobachtbaren Durchsetzung des besseren Arguments.38 Dass sich in richterlichen Revisionen auch Gleichsinnigkeit manifestiert, bleibt methodisch deutlich schwieriger in den Griff zu bekommen. Bei aller Implizitheit und Schwierigkeit, das hierzu in Anschlag gebrachte Wissen zu artikulieren, geschweige denn zu formalisieren, ist die Wirkmächtigkeit des Mediums der Interaktion als Übersetzungsanregung wie auch spezifischer in sozialisatorischer Absicht, bereits breit diffundiert. Nicht anders lassen sich beispielsweise Initiativen verstehen, Ökonomie, (digitale) Medienkompetenz u.v.m. als Schulfach zu etablieren. Auch die (Kritische) Soziologie hat ebendiesen Mechanismus entdeckt. So schlägt etwa Thilo Hagendorff (2014: 282ff.) vor, Reflexion in Form der akademischen Teildisziplin »kritische Soziologie« als obligatorischen Bestandteil in Programmen des Bildungs- und Erziehungssystems zu etablieren. Mit der Zeit würden die entsprechend Ausgebildeten einflussreiche gesellschaftliche Positionen besetzen: »Derart würde nach dem zweiwertigen Zeitschema von erwünschter und unerwünschter Zukunft ›von unten‹ Einfluss auf die codespezifischen Selektionsprogramme der Funktionssysteme genommen werden« (Hagendorff 2014: 283).39 38 Dass dies auch und gerade für eine diesbezüglich ambitionierte Rechtssoziologie, etwa die Kritische Systemtheorie des Rechts, gilt, führt Mölders (2018) aus. 39 Ausführlicher zu diesem Buch: Mölders (2014f).
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Korrekturen visieren das Recht an; damit es weniger zu korrigieren gibt, setzt man vielerorts auf das Erziehungssystem. Dass das Recht auch in der Zeitdimension als Taktgeber fungiert und insbesondere die Operationsgeschwindigkeit von im Medium der Publizität agierenden Organisationen tendenziell entschleunigt, ist oben bereits angesprochen worden. Veröffentlichungen werden dosiert, unterschiedliche Medienformate verwendet, weil man erst dann Ruhe geben will, bis das Problem rechtlich gemindert oder beseitigt wurde. Am Beispiel des »Fracking Ban« ließ sich zeigen, dass nach ebendieser rechtswirksamen Entscheidung die Irritationsgestaltung ProPublicas nachließ. Dass es allerdings hiernach überhaupt weitere Artikel etc. gibt, liegt am selbstgesetzten Auftrag, auch die rechtliche Umsetzung weiter zu kontrollieren, Mängel ggf. zu kritisieren und bei Bedarf erneut initiativ(er) zu werden. Recht ist die zu beherrschende Sprache für die Korrektur der Gesellschaft. Dieses Bild trägt sogar noch etwas weiter, denn auch diesbezüglich gibt es keine Weltsprache, nicht die eine lingua franca. Insofern lässt sich Recht eher als Sprachfamilie auffassen. Jenseits solcher Metaphorik lässt sich empirisch beobachten, dass sich die rechtlicher Kommunikation beigemessene Korrekturkapazität an diversen, mitunter überraschenden Positionen finden lässt. Hierzu ist zunächst erneut der Fall der Panama Papers instruktiv. Das Problem intransparenter Briefkastenfirmen als auch dessen Lösung werden beide im Recht lokalisiert: »Die gelebte Verantwortungslosigkeit in den Offshore-Zentren dieser Welt beruht auf Gesetzen, die man ändern kann« (Obermayer & Obermaier 2016: 311). Die eigene Taktung, wann was veröffentlicht wird, rechnet sowohl mit der Eigenzeit als auch der Differenzierung des Rechts in Nationalstaaten. Gäbe es einen funktionierenden, weltweiten automatischen Informationsaustausch über Bankkonten, bräuchte es nur noch weltweit transparente Unternehmensregister »mit der Bedingung, dass Falschinformation strafrechtlich verfolgt und rigoros bestraft wird« (ebd.). Wichtig aber sei es, dass ein solches Register auch offen sei »für Wissenschaftler, Nichtregierungsorganisationen – Experten eben, die Zeit und Muße haben« (ebd.: 316). Dass eine solche rechtliche Lösung dann wahrscheinlicher werde, wenn man das Thema öffentlich – durchaus in heterogenen Medienformaten – präsent hält, ist als Teil der Publikationsstrategie, als Teil der Irritationsgestaltung in der Zeitdimension bereits thematisiert worden. Diese Strategie wiederum wurde von anderer Stelle, besonders pointiert von Web We Want bzw. der World Wide Web Foundation, dafür kritisiert, lediglich Privatinteressen Genüge zu tun, wenn der allgemeinen Öffentlichkeit der Einblick in den gesamten Datenvorrat verweigert würde. Insofern scheinen sich die Taktiken des gegenwärtigen Enthüllungsjournalismus und die von Transparenz-Organisationen unversöhnlich gegenüber zu stehen. Wo die einen im zeitlichen Aufschub von Offenlegungen ein wesentliches Mittel sehen, um
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unter gegenwärtigen Bedingungen überhaupt im öffentlichen Interesse über Publiziertes Handlungsdruck auf Entscheider_innen ausüben zu können, wird ebendiese Agenda als Privatinteresse von der anderen Seite abgelehnt. Ein sukzessives Veröffentlichen zum Zwecke der Aufrechterhaltung öffentlichen Drucks kommt hier nur als zu skandalisierende Salami-Taktik in den Blick: »full docs or it didn’t happen«.40 Dass nur das Recht helfen kann, wird nun weder vom Investigativ-Journalismus noch von Transparenz-Organisationen bestritten. Man mag hierin gar eine Konvergenz entdecken: Auf unterschiedlichen Wegen wollen beide hier über weite Strecken getrennt behandelte Initiativen ins Recht. Sie eint die Auffassung, dass praktische Wirksamkeit nur vom Recht zu erwarten sei. Für das ICIJ wurde bereits skizziert, welche rechtliche Lösung hier gesehen wird: Gefordert wurde ein transparentes, ggf. strafrechtlich verwertbares Unternehmensregister. Hieran wurde allerdings geknüpft, dass ein solches Register offen sein müsse für Wissenschaft und NGOs. Somit treffen sich das ICIJ und Web We Want nicht nur – im Recht – am selben Ort. Denn Avila fordert im Allgemeinen zwar die Veröffentlichung des gesamten Leaks im Namen der Öffentlichkeit. Im Besonderen aber wären die Dokumente hilfreich für »my community of lawyers and human rights lawyers, we are quite familiar with what kind of documents, which kind of information we could found in those papers, if we had access to the whole database.« Ob nun das Recht im Medium der Publizität über den Gesetzgeber (im Beispielfall: das Finanzministerium) oder im Gerichtssaal (über Menschenrechtsanwält_innen) erreicht werden soll, am Ende benötigen beide hier verglichenen Korrekturvorstellungen eine Expertise, die wesentlich in der Beherrschung bestimmter Rechtssprachen liegt. Eine pikante Differenz findet sich schließlich darin, wie unterschiedlich transparent der Status von Expert_innen ist.41 Diese Auseinandersetzung bietet darüber hinaus einen starken Hinweis darauf, dass das Recht nicht nur in der Zeitdimension den Takt vorgibt. Um – sachdimensional – überhaupt einen Eindruck davon haben zu können, was als korrekturbedürftig zu kommunizieren wäre, muss präsent sein, was als funktionierend im Unmarkierten belassen werden kann. Wohin zu schauen ist, um ebendies zu eruieren, ist diesem aufschlussreichen Interviewzitat zu entnehmen: 40 So ein vom Moderator paraphrasierter Tweet Avilas in besagtem Re:Publica Panel. 41 Selbst vermeintlich »aktionistischen« Kampagnen der Online-Petitionsplattform Campact geht es um Korrekturanstöße, die nach umfassender politischer wie rechtlicher Bearbeitung in Gesetzentwürfe einfließen sollen. Auch hier wird gerade nicht mit unmittelbarer Erreichbarkeit, sondern mit aufwändigen kommunikativen Übersetzungsprozessen gerechnet (vgl. Bautz 2008; Mölders & Schrape 2017, 2019).
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»[W]e’ve had conversations with organizations outside the US. You know, (›)as a US-based uh organizatio:n who: ʼs, you know– I think, we wanna keep our focus pretty sharp on the US and we sort of understa:nd open (›)data in the US doc– uh (.) the freedom of information la:ws in=the United States, we kind=of know how the US works, so I think that uhm, you know– While I certainly think, the model can be followed elsewhere and you see Correctiv and the Bureau of Investigative Journalism and ICIJ and all sorts=of organizations outside the US (I: yeah) doing excellent work – Uhm you know, whether we start doing things internationally– I think that we would probably need to think really hard about that« (Int-PP-02: 190ff.). Wie das eigene Land, hier: die Vereinigten Staaten, funktioniert, wird wesentlich über die Kenntnis entsprechender Gesetze hergeleitet. Man muss sich in den spezifischen Informationsfreiheitsgesetzen auskennen und hierfür finden sich vor Ort – bzw. vor unterschiedlichen Orten – stets kenntnisreichere Expert_innen. Das eigene Modell, theoretisch reformuliert: die eigene Irritationsgestaltung, funktioniert (vor allem) in den USA, kann allerdings exportiert werden und andernorts den geltenden – allen voran: rechtlichen – Bedingungen angepasst werden. Übersetzungstheoretisch ist hierbei auffällig, dass nicht zunächst sprachliche Gründe angeführt werden, die gegen eine Expansion des eigenen Einflussgebiets sprechen, sondern eben unterschiedliche rechtliche Regelungen. Dabei gibt man sich die internationale Szene betreffend durchaus kenntnisreich; man sieht, was Correctiv, das Bureau of Investigative Journalism und das ICIJ tun und bringt ebendies mit dem eigenen Modell in Verbindung. Was hier als Modell bezeichnet wird, beinhaltet nicht zuletzt, die eigene Praxis der segmentären Binnendifferenzierung des Rechts anzupassen. Auch bezüglich der Sozialdimension überwiegen die Unterschiede so stark, dass man sich an den Rahmen hält, den abermals vor allem das Recht setzt: »I- I try to (.) remain very cognizant of the fact that the- (.) the environment is (›)quite different (I: uh‐huh) uhm (›)in other places and (›)not just sort of over(.)do that. Uhm you know, ranging from the competitive step, to publishing no:rms, to: business models, to tax laws, to: regulations. So, you know, uh w:- we do know there are uh lots of differences« (Int-PP-03: 99ff.). Wenn für die Irritationsgestaltung in der Sozialdimension entscheidend ist, die Orientierungspunkte von Differenzmacher_innen zu erreichen, dann gelingt auch dies am besten, wo das als bekannt gelten darf, was hier Umwelt genannt wird. Ebendies wiederum ist aber gleichermaßen rechtlich eingehegt, worauf der Hinweis auf unterschiedliche Steuergesetzgebungen aufmerksam macht. Es wurde bereits konstatiert, dass der Status der Gemeinnützigkeit in Deutschland nicht über journalistische Zwecke allein beantragt werden kann, was zur Folge hat, dass
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originär journalistisch operierende Organisationen Leistungen anbieten müssen, die dann der Abgabenordnung gemäß etwa als Bildungsprogramm anerkannt werden. Auch dieses Zitat schließt mit der Betonung unterschiedlichen Rechts bzw. unterschiedlicher Regulierung. Dabei bleibt ungenannt, ob es dabei um einhegende Regulierungen oder das abermalige Verorten eigener Ziele geht. Unzweifelhaft aber dürfte deutlich geworden sein, dass für die hier untersuchte Praxis des gegenwärtigen, gemeinnützigen Investigativ-Journalismus gilt: Am Ende hilft nur das Recht. Diese Überzeugung kommt auch im steuerrechtlich bedingten Bildungsauftrag von Correctiv zum Ausdruck, wenn man Workshops zum Thema »Behörden zur Auskunft zwingen« anbietet. Darin will man Bürger_innen befähigen, von verfügbaren Auskunftsrechten (Informationsfreiheitsgesetz) Gebrauch zu machen.
Differenzierungstheoretische Konsequenzen rekonstruierter Korrektivpraxen – ein Fazit An dieser Stelle endet das Abarbeiten an dem o.a. dreigeteilten differenzierungstheoretischen Zitat. Würden sich die gezogenen Schlüsse ausschließlich auf diese wenigen Zeilen beziehen lassen, müsste die Frage der Verhältnismäßigkeit aufgeworfen werden. Es lässt sich hierüber hinaus vor allem generalisieren, dass die hier fokussierte Praxis in einer Weise operiert, als habe sie differenzierungstheoretische Postulate geradezu internalisiert; ebendies motivierte und präzisierte das Konzept der Irritationsgestaltung. Unterschiedlichste sachliche, soziale und zeitliche Widerstände werden in die Korrektivkalküle einbezogen. Ein besonders intensiv zu bearbeitender Widerstand wird in der Schwierigkeit gesehen, Entrüstung zu erregen. Viele Maßnahmen und Techniken der Organisation von Empörung konnten skizziert werden. Was die systemtheoretische Variante der Differenzierungstheorie »Protestbewegungen und Presseaktivitäten« immer entgegenhalten wollte, dass letztlich nur das Recht helfe, büßt seinen appellativen Charakter ein, wenn dies, wie gezeigt, praktisch gar nicht als Entgegenhalten aufgefasst, sondern unterstützt wird. Die im Vorangegangenen untersuchten Protestbewegungen und Presseaktivitäten operieren in einer Zeit, die nicht Luhmanns war. Inwiefern die insbesondere technischen Innovationen Unterschiede produzieren, ist an einigen Stellen thematisiert worden. Allein die hinzugekommene Vielfalt medialer Kanäle vereinfacht Persistenz, die nicht so leicht Gefahr läuft, mit Penetranz oder Langeweile in Verbindung gebracht zu werden. Doch derselbe Umstand sorgt auch dafür, dass es ungekannt viele medial vermittelte Informationsangebote gibt, ohne dass die Aufmerksamkeitskapazität des Publikums sich gleichermaßen hätte steigern lassen. Kehrseitig steht also auch zu vermuten, dass Korrektive, deren Anmahnen sich als
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Irritationsgestaltung beschreiben lässt, nicht erst in der digitalen Gesellschaft den Betrieb aufgenommen haben. Kurzum: Die Praxis der Gesellschaftskorrektur scheint besser auf die Differenzierungstheorie eingestellt zu sein als es umgekehrt die (Differenzierungs-)Theorie der Gesellschaftskorrektur auf die Praxis ist. Das fünfte Kapitel hatte den langen Weg beschrieben, den die Differenzierungstheorie benötigte, um mit »Instanzen zivilgesellschaftlicher Gegenmacht« überhaupt Korrektivkräfte jenseits der Instrumente der Staatenwelt für denkmöglich zu halten. Der gegenwärtige gemeinnützige Investigativ-Journalismus wurde hier als eine besondere Gegenmacht herausgehoben, ohne damit Exklusivität zu behaupten. Überhaupt sind die skizzierten Initiativen im Zusammenhang zu betrachten. Die temporale Irritationsgestaltung eines Projekts wie dem der Panama Papers wird schließlich nicht zuletzt von den Agenden ähnlich gelagerter Unternehmungen beeinträchtigt. Es wird also zu beobachten sein, wen oder was die Flut an »Leaks«, »Papers« und »Files« wegspült.42 Was also in diesem Lichte als »Neue Soziale Korrektive«, um die Analogie zu den »Neuen Sozialen Bewegungen« explizit zu machen, erscheint, wirkt von anderer Warte aus eher wie ein Teil der »alten Welt«. Denn Digitalisierungstechnologie kann, so wird behauptet, in einer Weise unmittelbar korrigierend wirken, dass die Wege der Gewalten eins bis vier als vollkommen ausgetretene Pfade erscheinen. Damit kommt, wie das nächste Kapitel aufgreifen wird, dem gemeinhin Digitalisierung genannten Prozess für Fragen der Korrektur der Gesellschaft eine aufschlussreiche Doppelrolle zu: Digitalisierung erscheint ihrerseits als große gesellschaftliche Herausforderung, als eine der am dringlichsten zu bearbeitenden gesellschaftlichen Folgen und tritt erneut auf als wesentlicher Aspekt der Lösung solcher Grand Challenges. Dieser Wendung kann sich eine »Korrektur der Gesellschaft« betitelte Studie ebenso wenig verschließen wie der Frage, ob hier nicht »westlich« geprägte Vorstellungen sowohl von Korrektur als auch von Gesellschaft in einer Weise dominieren, die andernorts beobachtbare Initiativen systematisch übersehen lässt. Mit diesen Aspekten wird sich das abschließende Kapitel auseinandersetzen.
42 Seit den Panama Papers sind zu verzeichnen: 09/16 Bahamas-Leaks, 05/17 Malta Files, 11/17 Paradise Papers, 10/18 CumEx-Files, 11/18 Football Leaks, 12/18 Implant-Files, Black Sites Turkey, 05/19 Grand Theft Europe. Wikipedia unterhält nur für Leaks zu Steuerdaten eine Liste: https://de.wikipedia. org/wiki/Liste_von_Leaks_zu_Steuerdaten.
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X. Abschluss & Fortführung
X.1 Varianten der Gesellschaftskorrektur Soziale Korrektive, wie die organisierten Initiativen des gegenwärtigen und gemeinnützigen Investigativ-Journalismus, wollen funktionale Differenzierung gerade nicht überwinden, sondern beziehen sie systematisch in ihre Korrekturkommunikation ein. Nun verbindet sich mit der Diagnose funktionaler Differenzierung seit jeher eine Debatte, wie auf dieser Grundlage mit Weltregionen begrifflich umzugehen ist, die diesen Primat strukturell nicht aufweisen (vgl. PhilippopoulosMihalopoulos 2010: 161ff.).1 Im Folgenden wird kein Korrektur-Atlas gezeichnet, sondern besondere Fälle beschrieben, anhand derer sich allgemeine Tendenzen aufzeigen lassen. Ina Kerner (2015) hat mit Botswana einen Fall beschrieben, in dem die Durchsetzung funktionaler Differenzierung selbst korrekturbedürftige Folgen produzierte. Die vorkoloniale Ordnung der Setswana basierte auf einem System von nach Geburtsrecht eingesetzten Oberhäuptern (»Chiefs«), ließ sich also als eine stratifizierte Gesellschaft fassen. Anders als an europäischen Höfen üblich musste diese privilegierte Stellung allerdings performativ durch Praktiken guter Regierungsführung gerechtfertigt werden. Hierzu zählten wesentlich partizipativ‐konsultative Prozesse, zu denen nicht zuletzt öffentliche Versammlungen gehörten. Hier wurden anstehende Sachentscheidungen diskutiert, mit denen stets eine Bewertung der Regierungsführung einherging (Kerner 2015: 76).2 Die ersten demokratischen Wahlen nach westlichem Vorbild hatten 1965 mit der Botswana Democractic Party (BDP) eine eindeutige Siegerin, die Wahlbeteiligung lag mit 74 Prozent sehr hoch. In den darauffolgenden Wahlen sank diese allerdings beträchtlich. Kerner erklärt dies über die tradierte politische Kultur, der zufolge es für viele Wahlberechtigte wenig sinnvoll schien, sich an einer Wahl zur Bestätigung des Amtsinhabers zu beteiligen; einen solchen Akt hatte es auch zu Chief-Zeiten nicht gegeben. Doch damit sei gerade kein Politikverdruss zu konstatieren, was 1 Ausführlicher zu diesem Buch: Mölders (2010). 2 Kerner bezieht sich in ihrer Analyse wesentlich auf die Ergebnisse der anthropologischen Studie von Comaroff & Comaroff (2012).
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schon daran erkennbar sei, dass die Versammlungen der Regierungspartei stets gut besucht waren, auch bei sinkender Wahlbeteiligung. Die zuvor bereits praktizierten Konsultationen und Deliberationen wurden fortgesetzt. Aus westlicher Sicht mutet geradezu spektakulär an, dass es Mitte der 1970er Jahre zu Diskussionen um die Einführung des Einparteiensystems kam – mit der Begründung von der Opposition entfacht, das Einparteiensystem würde bei Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen zu einer besseren Regierung und zu partizipatorischerer Demokratie führen (ebd.: 77). Für den vorliegenden Zusammenhang ist nun von besonderem Interesse, dass sich hiermit die Vorstellung verknüpfte, eine konstante Kontrolle der Regierungsmacht zu ermöglichen, die in dieser Form durch Wahlen allein nicht zu gewährleisten sei. Das Einparteiensystem sollte also gerade eine öffentliche »Kultur der Kritik« befördern, die man durch die westlich geprägte Demokratie als gefährdet ansah (ebd.: 78). Erkennbar geht es hier an keiner Stelle um Medien als Vierte Gewalt oder das Medium der Publizität. Ganz im Gegenteil wird hier auf eine Form der Kontrolle und Kritik gesetzt, die auf das Medium der Interaktion vertraut, auf Versammlungen etwa, in denen auch unmittelbar die (Korrektur-)Initiative ergriffen werden kann. Darüber hinaus lässt sich diese Praxis als Beispiel für die in Kap. III.7 beschriebene »Korrektur im Kleinen« zitieren. Auch dort wurde zunächst Interaktionen am ehesten zugetraut, zu lokalen Lösungen zu führen – und dass mehr womöglich auch nicht zu haben sei. Ebendort waren auch schon performative Abweichungen thematisch, die sich zu Korrekturen verdichten können. Wieder findet sich hierfür ein interessantes Beispiel in einer anderen Weltregion. Als »Pious Fashion« (fromme Mode) beschreibt Elizabeth Bucar (2017) einen Mechanismus, der es insbesondere muslimischen Frauen ermöglicht, kleine, als modisch beobachtbare Abweichungen vom strengen religiösen dress code in die Welt zu setzen. Sie studierte dabei die Verhältnisse im Iran, in Indonesien und der Türkei. Im Iran, dessen Rechtssystem der Religion nicht indifferent gegenübersteht, machte sie überdies die aufschlussreiche Beobachtung einer durch fromme Mode angeregten Änderung islamischen Rechts. Weil es in Teheran an heißen Tagen nicht genügend Polizisten gäbe, um jede junge Frau in Capri-Hosen zu verhaften, geschweige denn die vorgesehenen 74 Peitschenhiebe für das Auftragen von Nagellack auszuführen, hat man es nicht bei einem stillen Tolerieren belassen, sondern den »legal dress code« formal und explizit abgemildert. Doch nicht nur performativ und interaktiv bietet die Weltgesellschaft eine Varietät an Korrekturpraxen. Auch und gerade das Medium der Publizität betreffend lohnt es sich, über den Tellerrand des »Global North« zu blicken. In zahlreichen Regionen kommen Medien schon deshalb nicht als Korrektive in Betracht, weil sie entweder Eigentum des Staates sind oder zumindest regierungsnah kontrolliert
X. Abschluss & Fortführung
werden (Voltmer 2008; Hem 2014). Auch weil mit massenmedialen Organisationen demzufolge (klassische) Vierte Gewalten ausfallen, sind Teile der Literatur auf das Konzept der Fünften Gewalt bzw. eines Fifth Estate verfallen (Dutton 2009). Ein weiterer Grund für diese Aufstockung liegt – einmal mehr – in den hierfür zur Verfügung stehenden digitalen Mitteln, die als derart anders im Vergleich zu herkömmlichen Kritik- und Kontrolloptionen beobachtet werden, dass ein neuer Typus erforderlich erscheint. Der Paradefall hierfür ist die Volksrepublik China, weil sie beides erfüllt, nämlich eine staatseigene bzw. -nahe Presse und eine entwickelte Internetkultur, betrieben von Inlands- wie Auslandschines_innen. Darüber hinaus ist China selbstredend schon ob seiner Größe sowie seiner scheinbar stetig wachsenden globalen Bedeutung von besonderem Interesse.3 William H. Dutton et al. (2015: 10) definieren die in China zu beobachtende Fünfte Gewalt als eine der Vierten äquifunktionale: »[I]t can fulfil many of the same functions of holding the activities of government, business and other institutions up to the light of a networked public.« Hieraus geht bereits hervor, dass zum einen unter Fünfter Gewalt vernetzte Individuen (»netizens«; MacKinnon 2012) zu verstehen seien, die sowohl im Alleingang als auch kollaborativ, jedenfalls dezentral zu wirken versuchten. Zum Zweiten geht hieraus hervor, dass auch hier eine tendenziell gesellschaftsweite Beobachtung impliziert ist: Politik, Wirtschaft sowie andere Institutionen. So legen die Autor_innen Wert auf die Feststellung, dass es sich bei Ausprägungen der Fünften Gewalt nicht um soziale Bewegungen handele. Traditionelle Medien und Bewegungen stünden vielmehr ebenfalls unter Beobachtung. Insbesondere die Fallschilderung der »Nanjing Gas Explosion« liefert auch in anderer Hinsicht ein aufschlussreiches Beispiel. Diese Gasexplosion blieb zunächst öffentlich nahezu unkommentiert bis sie insbesondere über Twitter veröffentlicht wurde. Offenbar hatte die politische Führung versucht, den Zwischenfall ohne Kenntnisnahme der Öffentlichkeit zu beheben. Als dann jedoch deutlich wurde, dass gemeinhin mit dem Bekanntsein der Explosion zu rechnen war, präsentierte ein Minister eine Erklärung – für die ausgebliebene Verbreitung, nicht für die Explosion –, die vorbereitet anmutet. Weil man Chaos und öffentliche Panik vermeiden wollte, hielt man es auch für das Ansehen der lokalen Regierung für besser, erst nachträglich von dem Ereignis zu berichten, habe aber sukzessive feststellen müssen, dass die Verunsicherung auf diesem Wege eher gestiegen sei (ebd.: 16). Ferner bedauere man, dass über regierungsferne Medien so viele Falschmeldungen und Gerüchte in Umlauf gebracht wurden – was zweifelsohne der Wahrheit entsprach und rasch den Spieß wieder umdrehte. Das Wirkpotential des Digitalen steht nicht nur Korrektiven zur Verfügung, sondern auch denjenigen, die diese als Ziele ausmachen (vgl. Morozov 2011). 3 Natürlich lässt sich die Kommunistische Partei Chinas auch als ein Korrektiv auf Weltgesellschaftsebene auffassen.
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Dieser Fall zeigt auch, dass ständig mit den anderen gerechnet wird, sich Korrektive auf ihre Zielsysteme vorbereiten, dies aber nicht weniger auch umgekehrt zu beobachten ist, sodass ein Antizipationswettlauf entsteht, der wohl von keiner Seite zu gewinnen ist, aber zu einer organisationalen Hochrüstung von Grenzstellen (Luhmann 1964; Tacke 1997; Kap. IV.3) führt, die jeweilige Umwelten beständig nach neuen Angriffs- bzw. eben Verteidigungsoptionen absuchen. Auch hier lassen sich interessante Gestaltungsunterschiede ausmachen: Vom vergleichsweise simplen Abschalten bestimmter Netzdienste über das Imitieren von Graswurzelbewegungen durch Behörden oder Konzerne (»Astroturfing«; Irmisch 2011) bis hin zu subtiler operierenden »psychological firewalls«4 , die das Internet als beängstigende und daher unattraktive Welt zeichnen.
X.2 Die Korrektur der nächsten Gesellschaft? Die These von der »nächsten Gesellschaft« lässt sich vergleichsweise unaufwändig zusammenfassen: Wenn mit den großen Übergängen in der Evolution von Gesellschaftsformationen – von segmentärer über stratifikatorische bis zu funktionaler Differenzierung – stets auch das Verfügbarwerden neuer Medien einherging – von Sprache über Schrift bis zum Buchdruck –, dann müsste diese Kopplung von Medien- und Gesellschaftsentwicklung angesichts der zunehmenden Bedeutung und des zunehmenden Gebrauchs elektronischer Medien indizieren, dass wir gegenwärtig auf der Schwelle5 von der funktional differenzierten in eine »nächste Gesellschaft« seien (Baecker 2007). Digitalisierung ist in der Gegenwartsgesellschaft in einer Art und Weise präsent, dass ein Bedarf an einer sozialwissenschaftlich fundierten Definition auf den ersten Blick keine Dringlichkeit anmeldet. Baecker (2017: 1) verbindet diese scheinbare Selbstverständlichkeit mit einer begrifflichen Annäherung: »Jeder weiß, was darunter zu verstehen ist. Es spielt an auf eine zunehmende Beteiligung von Computern an privaten und beruflichen Aktivitäten der Menschen, auf eine zunehmende Durchsetzung der Infrastruktur der Gesellschaft mit elektronischen Rechnern, auf das Wachsen von Datenspeichern mit dem Versprechen des Gewinns neuartiger Kenntnisse aus raffinierten statistischen Verfahren (›Big Data‹), auf die verblüffende Reduktion multimedialer Kommunikation mit Bildern, Texten, Tönen und Videos auf einen digitalen 0/1-Code, der diese Kommunikation überdies vielfach bearbeitbar macht, und nicht zuletzt auf die große Frage, 4 So Elizabeth Stoycheff & Erik C. Nisbet unter https://theconversation.com/is‐internetfreedom‐a-tool‐for-democracy‐or-authoritarianism-61956. 5 Zum konstitutiven Gebrauch dieser Schwellenfigur für jedwede Zeitdiagnose siehe Osrecki (2011).
X. Abschluss & Fortführung
was den Menschen noch Menschliches bleibt, wenn ihr Intellekt, ihre Wahrnehmung, ihre Kommunikation, ihr Gedächtnis in die Maschinen auswandern.« Damit ist eher ein Umriss als eine Definition von Digitalisierung gegeben. Wesentlich scheint jedoch zu sein, dass »intelligente Maschinen eine Rolle der Teilnahme an Kommunikation [spielen], die noch vor kurzem nur Menschen zugestanden worden wäre« (ebd.). Dabei geht es jedoch nicht um ein einfaches Ersetzungs-, sondern einmal mehr um ein komplexes Übersetzungsverhältnis. Maschinen mögen sehr wohl an dieselbe Stelle treten, die vormals analoge Technik (z.B. der Mensch) innehatte, sie füllen diese Position allerdings mit einer so signifikant anderen (und tendenziell intransparenten) Informationsverarbeitung aus, dass es zu ebenso ungekannten Bedeutungsbrüchen kommt. Für den vorliegenden Zusammenhang resultiert aus diesem Umstand der Doppelcharakter des Digitalen in Bezug auf die Korrektur der Gesellschaft: Es stellt seinerseits eine große gesellschaftliche Herausforderung dar, fungiert andererseits aber gleichermaßen als neuartiger Problemlösungspool. Ansätze, die in der Digitalisierung eine Möglichkeit sehen, Gesellschaft nicht nur effektiver zu korrigieren, sondern gar zu revolutionieren, wurden zum Teil bereits in Kap. VI.5 vorgestellt. Die beiden im Folgenden vorgestellten Konzepte befinden sich also in großer Gesellschaft, ihre Auswahl verdankt sich weniger einer merklichen Aufnahme in den wissenschaftlichen Diskurs als vielmehr einer erfolgreichen Popularisierung. Diese wiederum mag auch damit zu tun haben, dass sie sich beide Manifest nennen: Das akzelerationistische und das digitale Manifest. Beide sehen im Klimawandel das größte Problem dieser Welt, darüber hinaus stimmen beide darin überein, dass der Prozess namens Digitalisierung die Mittel aufweise, diese Aufgaben bearbeitbar zu machen, dass es hierzu allerdings eines anderen Modusʼ von Digitalisierung bedürfe. Die Akzelerationist_innen sehen keinerlei Sinn darin, wie sie von Beginn an verdeutlichen, durch die Institutionen zu marschieren, politische oder rechtliche Organisationen zu adressieren (Srnicek & Williams 2013: 21). Aber auch traditioneller Protest wird als »folkloristischer Lokalismus« (ebd.: 28) der Lächerlichkeit preisgegeben. Damit sind nahezu sämtliche Instanzen der Gesellschaftskorrektur ausgeschlossen, was einen anderen Plan erforderlich macht und buchstäblich das ist, was den Autoren vorschwebt. In ihren eigenen Worten: »Das Gebot des Plans muss mit der improvisierten Ordnung des Netzwerks versöhnt werden« (ebd.: 34). Vorbild hierfür seien die sowjetische Ökonomie der 1950er und 1960er, die Mittel der Kybernetik und der linearen Programmierung. Dass sich diese seinerzeit nicht durchsetzen konnten, lag an den politischen sowie technologischen Zwängen ebendieser Zeit. Nun aber sei die Technologie reif und die alte politische Infrastruktur ohnehin zumindest porös. Digitaltechnologie könne viel mehr Daten verarbeiten,
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was für den kybernetischen Soll-Ist-Vergleich wesentlich ist und eine ungekannt bessere Prognostik erlaubt. So stellt sich vor allem die Frage, warum die Welt noch keine bessere ist, wenn doch die Werkzeuge längst buchstäblich greifbar sind. Auch hierauf haben die Akzelerationist_innen eine Antwort. Es fehle an einer entsprechenden intellektuellen Infrastruktur, als Vorbild dient das, was die Mont Pelerin Society für den Neoliberalismus geleistet habe. Weil traditionelle Medien unverändert Narrative selektierten und rahmten, müssten diese möglichst unter öffentliche Kontrolle gebracht werden. Schließlich – und wohl entscheidend – müsste Klassenmacht wiederhergestellt werden, da es ein Irrglaube sei, dass ein »organisch gewachsenes globales Proletariat bereits existiert« (ebd.: 35). Das betrifft ganz offensichtlich die alt‐marxistische Frage nach dem Wecken eines Klassenbewusstseins. Um dies zu ändern, gelte es, »den Aufbau einer Ökologie schlagkräftiger akzelerationistischer linker Organisationen einzuleiten« (ebd.: 36). Ganz im Gegensatz zum Beginn dieses Manifests, sind Organisationen nicht (nur) Teil einer alten Welt, sondern exakt das, was fehlt, sollen die mit der Digitalisierung prinzipiell verfügbaren Mittel zur Lösung der größten gesellschaftlichen Probleme auch eingesetzt werden. Was Digitalisierung nicht ohne weiteres leisten kann, ist es, die (eigenen) Leute aufmerksam dafür zu machen, dass die Mittel zur Lösung der Probleme der alten Welt sowie zum Übergang in die nächste Gesellschaft in ihren eigenen Händen liegen. Genau hierin, das zeigt Sascha Dickel (2015) überzeugend, liegt ein wesentlicher Unterschied in der oftmals zum Vergleich herangezogenen TechnokratieDebatte. Zwar ist auch in Bezug auf Digitalisierung oftmals von einer maschinellen Welle die Rede, die ohnehin über die Gesellschaft hereinbrechen wird, das post‐technokratische Verantwortungsregime aber rufe zur partizipativen Mitgestaltung auf (ebd.: 284), wobei Partizipation dann, wie in der akzelerationistischen Argumentation, nicht Teilnahme an veraltet anmutenden politischen Diskursen meint, sondern »Kompetenz im ›gegenstrukturellen‹ Gebrauch von Technologie« (ebd.: 294).6 Doch einmal mehr ist das Anregen zum Aneignenwollen problematisch. Hiermit beschäftigt sich das Digital-Manifest ausführlich. Für Dirk Helbing et al. (2015) repräsentieren die sogenannten »Silicon Valley Tech Giants« Digitalisierung auf der Problemseite. Google, Amazon oder Facebook seien inzwischen davon gelangweilt, sich Betriebssysteme für Geräte auszudenken, stattdessen arbeiteten diese Unternehmen längst an Betriebssystemen zur Gesellschaftssteuerung. Die Autor_innen nennen dies »big nudging«, also den datengestützten Versuch, Entscheidungen zu ungezwungener Übereinstimmung (»non‐forced compliance«) zu beeinflussen. Die o.a. Unternehmen bringen ihre Nutzer_innen also zu Entscheidungen, die v.a. den Anbietenden selbst nutzen und 6 Zur Figur der »Gegenstrukturalität« siehe Fuhse (2001).
X. Abschluss & Fortführung
den Nutzer_innen gar nicht als Entscheidung auffallen. An dieser Stelle kommt Digitalisierung als Problemlösung ins Spiel – Crowd Sourcing: »Hierbei erhebt die Crowd Daten und wertet sie aus, also viele dezentral arbeitende Menschen oder Datensammelpunkte. Dadurch können wir unseren Planeten neu vermessen, unser Sozialverhalten präziser analysieren und mehr Bewusstsein für die Bedeutung unserer Umwelt generieren. Auf diese Weise werden wir uns klarer werden über die Probleme, aber auch über die Lösungsmöglichkeiten. Wir werden lernen, mit der Umwelt, aber auch miteinander besser umzugehen und kulturelle Hürden zu überwinden« (Helbing 2017: 54). Übersetzungstheoretisch fällt an dieser Passage natürlich auf, dass Daten in diesem Deutungsmuster nichts sind, das noch zu übersetzen wäre, sondern etwas, das ob seiner Eigenschaften sogar kulturelle Hürden überwindet, also bruchlos weiterverwendet werden kann. Auch für dieses Modell ist der »Soll-Ist-Vergleich in Echtzeit« konstitutiv, weshalb nicht weniger, sondern weitaus mehr Daten gesammelt werden sollen. »Big Data« ist Teil der Lösung; das Problem ist vielmehr, dass die Daten gegenwärtig in den falschen, nämlich den privatinteressierten Händen großer Konzerne lagerten. Eine naheliegende Lösung für dieses Problem könnte in Regulierung7 gesehen werden.8 Doch Regulierung hält Helbing einer anderen Möglichkeit gegenüber unterlegen: individuelles Empowerment als »technikinduizierte[s] ›Empowerment der Massen‹« (Dickel & Schrape 2015: 444ff.). Wer an der Gestaltung digitaler Technologien, die ihrerseits wiederum Gesellschaft gestalten, mitarbeiten wolle, müsse das Codieren lernen, müsse Programmiersprachen beherrschen; exakt dies fungiert hier als Operationalisierung von Empowerment. Doch hierzu wiederum braucht es erneut jemanden oder etwas, um die bis dato Passiven dazu zu bringen, Codierung lernen zu wollen. Die Antwort hierauf weist einmal mehr ins Erziehungssystem: »[Wo] die Zukunft vorbereitet wird – in Schulen, Hochschulen, Forschungseinrichtungen –, da müssen die neuen Fähigkeiten gelernt werden können, was heute noch selten der Fall ist« (Helbing 2017: 55). Das ist insofern konsequent, als technisches Anregen – nudging – bereits auf der Problemseite auftauchte und es sich somit verbietet, es erneut auf der Lösungsseite erscheinen zu lassen. Wo hingegen nudging von vornherein auf die Lösungsseite gesetzt wird (Thaler & Sunstein 2008), kann wenigstens vom Technologiedefizit der Pädagogik abgesehen werden, also von dem Problem, dass die Verarbeitung didaktischen Inputs
7 Für eine aktualisierte Regulierungstheorie siehe Bora (2014). 8 Genau um diese Opposition: staatlicher Eingriff vs. individuelles Empowerment geht es in diesem bemerkenswerten Interview zwischen Helbing und dem damaligen Correctiv-Chefredakteur Markus Grill: https://www.youtube.com/watch?v=83cEm‐kPEeg.
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nicht in den Händen der Lehrenden liegt (Luhmann & Schorr 1979).9 Empirisch lässt sich hierzu nicht nur auf China10 zeigen, wie Peter John (2018) am Beispiel des Behavioural Insights Team (BIT) in Großbritannien oder des US-amerikanischen White House’s Social and Behavioral Sciences Team gezeigt hat, die für Probleme dieser Größenordnung ins Leben gerufen wurden: »[O]besity, climate change, terrorism, race discrimination, corruption, and youth unemployment« (John 2018: 1).11 Schon in Kap. IX.2 wurde das von Julia Angwin, in ihrer Funktion als Leiterin der Berichterstattung bei ProPublica zu »Investigating Algorithmic Injustice«, vorgebrachte Desiderat zitiert: »[O]utrage is the new porn.« Thematisch bezog sie sich dabei auf das öffentliche Desinteresse an der Funktionalität von Algorithmen12 und der dafür umso größeren Freizügigkeit in der Gewährung des Einblicks in persönliche Daten. Auch bei ProPublica tauchen die »Silicon Valley Tech Giants« auf den Kritik- und Kontrollschirmen auf. Dass Vierte Gewalten sich historisch vielleicht nie exklusiv auf die »Ersten Drei Gewalten« bezogen haben (vgl. Kap. VII.1), findet hier eine aktuelle Fortsetzung. An der Praxis ProPublicas lässt sich allerdings auch eine gewisse Janusköpfigkeit im Verhältnis von Vierter Gewalt zu Algorithmenorientierung und SNS zeigen: als »Korrekturobjekt« sowie als »Korrekturvehikel«. Einerseits tauchen die »Silicon Valley Tech Giants« durchaus als Mächtige der Welt auf den Kritik- und Kontrollschirmen auf (Korrekturobjekt). Wird ihnen gegenüber zudem die Initiative ergriffen, so ist nicht selten beobachtbar, dass der Gegner mit den eigenen Waffen attackiert wird (»fighting fire with fire«). So jedenfalls lassen sich Fälle beschreiben, wie das Nutzen von Servern einer Amazon-Tochtergesellschaft (AWS) durch ProPublica, um Amazons Preisalgorithmus zu beleuchten, oder das Bauen von Facebook Messenger bots, um herauszufinden, ob sich die Facebook »censors« an die hauseigenen Regeln halten. Zu einer gewissen Bekanntheit hat es der bereits in acht Ländern (hierunter die Schweiz und Deutschland) eingesetzte Political Ad Collector (PAC) gebracht, der über eine Browsererweiterung zu sammeln in der Lage ist, wer welche Art gezielter politischer Internet-Werbung zu sehen bekommt – wozu wiederum
9 Die damit verbundene Erwartungsüberfrachtung an den Bildungssektor beleuchtet aktualisiert auch Münch (2018), wenn er von »Schule als Reparaturbetrieb einer zerrissenen Gesellschaft« spricht. 10 https://www.wired.com/story/age‐of-social‐credit/. 11 Zum Siegeszug der Verhaltensökonomie in historischer Perspektive siehe Graf (2018); Straßheim & Korinek (2018). 12 Algorithmen werden hier, Mario Martini (2017: 1017) folgend, verstanden als »Schritt‐fürSchritt-Anleitungen zur Lösung eines (mathematischen) Problems. Als solche sind sie kein Phänomen des digitalen Zeitalters; […]«, gemeint ist »eine in Programmiersprache(n) transformierbare Vorgehensweise, nach der ein Rechner eine bestimmte Aufgabe in endlicher Zeit bewältigt.«
X. Abschluss & Fortführung
»machine learning Artificial Intelligence (AI)« kreiert wurde, die automatisiert zwischen politischer und unpolitischer Werbung unterscheidet. Andererseits werden von diesen Anbietern erstellte Algorithmen und Infrastruktur auch für nicht‐technologiespezifische Korrekturthemen genutzt (Korrekturvehikel). Bei einer Recherche zu ärztlichen Operationsfehlern etwa nutzte man eine Facebook community, die es bereits Jahre vor der Enthüllungsstory gab; die Suche nach Betroffenen erfolgt generell häufig auf diesem Wege. Doch auch »as a way to pull people into our the reporting itself« (Int-PP-02: 81) werden SNS im Allgemeinen und Facebook im Besonderen verwendet. Amazon wird ferner auch als Vertriebsweg genutzt, ProPublica veröffentlicht ausgewählte Reportagen als Kindle Edition. Facebook etwa hat seine Eingriffsregeln tatsächlich Rechercheergebnissen ProPublicas angepasst. Facebook verpflichtete sich sogar rechtlich bindend dazu, es Werbenden für Wohnungen, Stellen und Kredite zu untersagen, nach »race, national origin, ethnicity, age, sex, sexual orientation, disability, family status, or other characteristics covered by federal, state, and local civil rights laws« zu diskriminieren.13 Um dies zu erreichen, so Angwin, sei vor allem »small data« entscheidend. Sich darüber zu beklagen, dass Big Tech über zu viel Macht verfüge, sei für »lawmaker« nicht anschlussfähig. Diese bräuchten spezifische Evidenz für Fehlverhalten, um dann agieren zu können – dazu müsse Big Data kleingearbeitet werden in Small Data.14 Insofern erscheint es schwieriger, öffentliche Entrüstung zu erregen, als einen der größten Konzerne der Gegenwart zu einer Regeländerung anzuregen. Auch andere Resultate der vorliegenden Studie wiederholen sich hier wie unter einem Brennglas; das gesamte »Investigating Algorithmic Injustice«-Projekt15 von ProPublica wirkt nicht praktisch ratlos und wieder wird nach Strategien gesucht, den Gesetzgeber zu erreichen, weil man sich unverändert davon überzeugt gibt, dass am Ende nur das Recht hilft. Auch wenn sich Kap. X.1 bemüht hat, den Blick zu weiten, so wird man doch den Eindruck nicht los, immer wieder im Silicon Valley zu landen. Von hier aus versuche das »Weltverbessererunternehmertum« (Nachtwey & Seidl 2017) die Welt vor allem mit technischen Lösungen zu einem besseren Ort zu machen. Ebendies wird als »Solutionismus« (Morozov 2013, 2019) kritisiert; nicht nur finden sich für alle gesellschaftlichen Großprobleme technologische Lösungen, Probleme lassen sich überdies in Aufgaben übersetzen und werden damit überhaupt erst lösbar. 13 https://www.aclu.org/other/summary‐settlements-between‐civil-rights‐advocates-and-face book; https://www.propublica.org/article/facebook‐ads-discrimination‐settlement-housing ‐employment-credit. 14 https://www.fastcompany.com/90160486/how‐propublica-became‐big-techs‐scariest-watch dog. 15 https://www.propublica.org/series/machine‐bias.
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Unter anderen Vorzeichen, gerade nicht als Kritik, wird die These des Philanthrokapitalismus formuliert (Bishop & Green 2008, 2015). Diese von den super‐rich gestifteten Initiativen zielen stets auf die Welt – »How Giving Can Save the World« (Bishop & Green 2008), »improving the world« (dies. 2015: 541). Wer durch Entscheidungen sehr reich werden konnte, dem ist auch eher dies zuzutrauen: »addressing the biggest social and environmental challenges facing the planet« (ebd.).16 Beide, die Solutionismus-Kritik sowie die Philanthrokapitalismus-Hoffnung, lassen durch ihre Generalisierungen das Moment des Kleinarbeitens übersehen.17 Eine in Übersetzungsverhältnisse eingelassene Welt lässt sich nicht »durchverbessern«, auch nicht mit Technik. Weltverbesserer- und Big Tech-Unternehmer haben Filter zu überwinden und mit mehr oder weniger entgegenkommenden Applikationskulturen zu rechnen. Hierzu könnte es den Blick schärfen, wenn man solche Initiativen nicht nur nach Technik absucht, sondern mit Stefan Meißner (2017: 224) Technik als ein Schema bzw. Weltverhältnis fasst, das die Welt gemäß der Unterscheidung »kontrollierbar/nichtkontrollierbar« beobachtet. Meißner macht zudem die Tendenz aus, Soziales, also etwa zur Technikanwendung vorgesehene, aber widerspenstige Menschen, von der nichtkontrollierbaren auf die kontrollierbare Seite zu verschieben. Als solche »Techniken des Sozialen« kommen dann auch Gesprächstechniken o.Ä. in den Blick, die zu beherrschen sind, hat man es mit weniger entgegenkommenden Applikationskulturen zu tun. »Disruption« spielt in der Selbstbeschreibung des Weltverbessererunternehmertums eine herausragende Rolle (Nachtwey & Seidl 2017: 19f.). Operativ wird eher der weit weniger schillernde Begriff der Respezifikation wirksam. Als sei er für das Kleinarbeiten von Weltverbesserung entworfen worden, sprach Luhmann (2002: 143) von der »Respezifikation von gesamtgesellschaftlich einleuchtenden, aber zu allgemein geratenen Kriterien« und dass »der Sinn von Organisation in der Bereitstellung von Respezifikationsmöglichkeiten für zu allgemein geratene Ziele« liegen könnte (ebd.: 158). Digitalisierung oder Studien zur nächsten Gesellschaft – Themen dieser Art haben immer beide Extreme zu vermeiden, einen »Rezentialismus« einerseits, der die Besonderheit des Gegenwärtigen überbetont, andererseits Neues durch den vorschnellen Verweis zu übersehen, alles sei schon einmal dagewesen. Hieran versucht sich der an- und abschließende Abschnitt. 16 Zur gesellschaftlichen Funktion des Stiftungswesens, auch in historischer Perspektive siehe Adloff (2004, 2010). Kritisch gegenüber der wachsenden Bedeutung von Stiftungen: Browne (2010, 2013); Giridharadas (2018); Reich (2018). 17 Im Konzept der »Venture Philanthropy« ist allerdings mit dem Stichwort der »Scalability« vorgesehen, das Kleingearbeitete wieder großzuarbeiten. In diesem Sinne erfolgreiche Projekte könnten schließlich in größerem Maßstab wiederholt werden, womit deren Effekte sich multiplizierten (vgl. Oldenburg 2010).
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X.3 Zeitdiagnose & Ausblick Die Organisation von Gesellschaftskorrektur ist derart ubiquitär, dass es verlockend wirkt, hieraus eine Zeitdiagnose abzuleiten: die Korrekturgesellschaft.18 Das Bemerkenswerte ist über die Allgegenwart von Korrekturansinnen hinaus die Art und Weise, das also, was hier als »das Organisierte« abgekürzt wird. Mit diesem Hinweis ist stets beides angesprochen, das Planvolle in der Ausführung, das Erstellen von Programmen und Bestimmen von Zuständigkeiten, die Arbeit an der Tilgung des Zufälligen einerseits sowie die Organisation als diejenige Form, als derjenige Systemtypus bzw. diejenige Integrationseinheit, in der ebendiese Tätigkeiten (beobachtbar) ausgeführt werden. Deshalb haben sich auch die im Vorlauf dokumentierten Beobachtungen ausnahmslos auf das Organisieren von Gesellschaftskorrektur in Organisationen bezogen. Hier werden andere Differenzen ein-, umund kleingearbeitet, werden etwa die Imperative der Transparenz, Quantifizierung und Differenzierung (vgl. Kap. VIII.3) in Abarbeitbares übersetzt. Die Differenzierungstheorie, sowohl in pragmatistischer als auch in systemtheoretischer Variante, ist gerade in Bezug auf das verfolgte Korrekturthema bereit, in der Frage zu differenzierender Einheit bis (hinunter) ins Persönliche zu gehen: »Um noch einmal das Beispiel des Klimawandels und der ökologischen Gefährdungen der Gesellschaft aufzunehmen: Die Gesellschaft verarbeitet diese Gefährdungen eben nicht als eine einheitliche Gesellschaft, sondern gleichzeitig politisch, ökonomisch, rechtlich, wissenschaftlich, künstlerisch, religiös, pädagogisch, medial und nicht zuletzt in konkreten privaten Entscheidungsprogrammen. Und innerhalb dieser unterschiedlichen Logiken wird dieses Problem ganz unterschiedlich und vielfältig verarbeitet« (Nassehi 2017: 200). Betont wird in diesem Zusammenhang zumeist das für die Korrektur der Gesellschaft Problematische an der Multiplizität von Differenzen – Differenzierung als Korrekturanlass und -problem (Kap. II). Auch wenn dies nicht bestritten wird, so lag der Schwerpunkt der vorliegenden Studie doch kehrseitig auf Versuchen, mit Differenzen an der Korrektur der Gesellschaft zu arbeiten – sie etwa zu einem wesentlichen Aspekt von Irritationsgestaltung zu machen (Kap. VII.2). Wie auch immer die Debatte um zu ziehende Grenzen gesellschaftlicher Differenzen verlaufen wird – ein eigener Vorschlag wurde in Kap. III.6 unterbreitet –, empirisch kann auch ohnedies rekonstruiert werden, welche Differenzen wie und zu welchem Ende, denn Gesellschaftskorrektur ist nur eines von vielen anderen Zielen, eingesetzt werden. Die Blickrichtung derart zu drehen, um den einkalkulierenden Einsatz 18 Ins Englische übersetzt kommen sich das Zeitdiagnostische und die Arbeit an Gesellschaftskorrektur in der Wendung Correcting Society noch näher (Mölders 2015e).
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von Differenzen auf der Lösungsseite betrachten zu können, impliziert eine starke Skepsis an der Auto-Korrektur der Gesellschaft (Kap. IV). Zur Ubiquität bzw. zum Zeitdiagnostikpotential von Gesellschaftskorrektur zählt allerdings auch, dass es Initiativen gibt, die weder im Medium der Publizität operieren noch im Recht landen wollen. Gerade diesbezüglich ist weiterer Forschungsbedarf angezeigt. Zu denken wäre etwa an die Initiative Numerai, die versucht, das Finanzmarktprinzip – nicht zuletzt das der Wall Street – von Kompetition auf Kooperation umzustellen.19 Die eigene Kryptowährung »Numeraire«, also ein Beispiel für ein über Datenbanktechnologie erzeugtes Zahlungsmittel, wird für die Teilnehmer_innen wertvoller, desto größer der Fonds wird, da die ausgeschüttete Summe auch für Einzelne ansteigt; jede_r profitiert von einer großen Anzahl guter Prognosen, womit das ansonsten in Anschlag gebrachte egoistische Prinzip ausgehebelt werden soll. Erarbeitet werden soll ein Algorithmus »to find patterns in that data, and they test their models by uploading their predictions to the website, which so far has received about 40 billion predictions.«20 Eine Beteiligung ist prinzipiell für jede_n möglich, sofern Programmiersprache beherrscht wird. Hier immerhin schon im Hinweis auf in Daten zu suchende Muster impliziert ist ein Stichwort, das sich für diesen Ausblick zur Berücksichtigung geradezu aufdrängt: Evidenzbasierung. Viele der im empirischen Teil nicht thematisierten Korrektive bezeichnen ebendies als wesentliches Prinzip bzw. als Leitwert. Dazu zählt auch etwa die vom Oxford-Philosophen William MacAskill ins Leben gerufene Initiative 80,000 Hours, die wesentlich auf dem Konzept des »Effektiven Altruismus« beruht (MacAskill 2014). Durchschnittlich stünden im Rahmen einer Karriere 80.000 Stunden Arbeitszeit zur Verfügung, die entscheidende Frage für diesen Ansatz ist nun, wie diese Stunden am effektivsten dazu genutzt werden können, Gutes (bzw.: Bestes) zu tun. Dabei weist MacAskill nach, dass eine Position im gemeinnützigen Sektor im Vergleich zu einer »morally controversial career« wesentlich ineffektiver sei (ebd.: 270). Das liege einerseits daran, dass man mit jenen Anstellungen mehr Geld verdient, andererseits und entscheidend aber sei das Replaceability-Argument; die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderer auf dieser Position ebenso viel in Gutes investieren würde, sei außerordentlich gering, wohingegen Positionen im Charity-Sektor vergleichsweise einfach ersetzbar seien. Wohin man etwa das mehr verdiente überweisen sollte, schlägt die ebenfalls von MacAskill unterstützte Initiative Giving What We Can vor, deren Ziel es ist, die Effektivität von spendenbasierter Organisationen zu errechnen, sodass im Idealfall 19 https://numer.ai/homepage. 20 https://www.forbes.com/sites/laurashin/2017/02/21/this‐is-the‐worlds-first‐cryptocurrencyissued‐by-a‐hedge-fund/#597bcee960b6.
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unterstützt wird, wo der eingesetzte Dollar die größte Wirkung hat – günstige, aber hoch effektive Wurmkuren in Afrika etwa.21 Zum Abschluss dieser Studie kann nicht mehr überraschen, dass auch die Initiativen des Effektiven Altruismus wiederum von anderer Warte aus kritisiert werden (vgl. Bruns & Niekamp 2016). Damit lässt sich ein letztes Charakteristikum der Korrektur dieser Gesellschaft zeigen: Gegenbeobachtung. Was immer unternommen wird, es wird kontrolliert und kritisiert. Wer der Differenzierungstheorie weniger zugeneigt ist, findet hierin Anlass zu konstatieren, dass eben alles mit allem zusammenhänge. Anderen mag darin eine aufschlussreiche Ähnlichkeit zu dem auffallen, was Baecker (2010: 22) als Vierte Gewalt vorgeschlagen hatte, nämlich »diese Beweglichkeit, Lebendigkeit, Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit für das Kennzeichen der vierten Gewalt zu halten. Die Öffentlichkeit der Massenmedien produziert eine ganz bestimmte Unbestimmtheit von Meinungen […]. Gewalt liegt darin, dass die Themen, Meinungen und Akteure unerbittlich fallen gelassen werden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Gewalt liegt aber auch darin, dass jederzeit ein neues Thema, eine neue Meinung, ein neuer Akteur beginnen kann, eine Rolle zu spielen, die eingespielte Meinungen und Institutionen in schwere Bedrängnis bringen kann. Gewalt ist dies aber auch insofern, als sie als konkurrierende Meinung, konkurrierendes Thema und konkurrierende Darstellungsform selbst diejenigen im Griff hat, die glauben, sie auszuüben.« Hieraus schloss er, dass diese Instabilität entscheidend zur Stabilität dieser Gesellschaft beiträgt. Dies wäre abermals ein starker Hinweis darauf, warum es empirisch so viel mehr zur Korrektur als zur Revolution der Gesellschaft zu sehen gibt; es kann nicht durchkorrigiert werden. Die Kapazität, Beobachtungen anzufertigen, die andernorts zu Revisionen führen, sind ungleich verteilt – in diesem Sinne gibt es »Gewaltunterschiede«. Welche Rolle (Digital-)Technologie im Auslösen von Revisionen spielen wird, erscheint derzeit als eine der interessantesten Fragen. Ob auch nur die Relevanz einer solchen Frage in Jahren noch nachvollziehbar sein wird, lässt sich schon nicht mehr mit Gewissheit sagen. Dies gilt nicht zuletzt, da eine in der vorliegenden Studie vielfach aufgekommene Korrekturerschwernis darin zu finden war, dass öffentliche Erregung zwar nicht selten zu beobachten ist, diese aber nur selten in dem Fahrwasser schwimmt, in das Korrektive sie gerne setzen würden. Das »Janusgesicht der Aufklärung und der Lenkung« scheint lenkungssichtig zu sein und folglich Mühe zu haben, die Aufklärungsseite scharfzustellen. Dies alles hatte auch der Transporteur des Konzepts Vierter Gewalt ins Deutschsprachige, René Marcic, schon einige Jahrzehnte zuvor ausgemacht. Auf der Seite der Kontrollobjekte sah er nicht nur die Staatsgewalten, sondern auch 21 https://www.givingwhatwecan.org/impact/.
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»einzelne, besonders ausgeprägte Persönlichkeiten, vermögende Menschen « etc. (Marcic 1970: 182). Zu kontrollieren sei dies alles durch organisierte, hoheitliche Instanzen, aber auch in Form unorganisierter Kontrolle durch die außerparlamentarische Opposition, durch »Wirtschaftsverbände, die Wissenschaft, die Kirche, die Medien der öffentlichen Meinung: Presse, Rundfunk, Fernsehen, Film, Theater, Kabarett u. dgl. m.« (ebd.: 183). Im Rechtsstaat, so schloss er, kontrollieren alle alle. Seine Sorge aber war, dass sich dies institutionell verselbständige und die Eigeninitiative (vgl. Kap. VII.1) stetig schwäche. Beinahe ein halbes Jahrhundert und mindestens eine technologische »Revolution« später kann man zu ganz ähnlichen Schlüssen kommen.Dies gilt auch für die Beobachtung, dass für das Wecken und Erhalten von öffentlichem Interesse an der Bearbeitung der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung keine verlässliche Technologie zur Verfügung steht. Es ist davon auszugehen, dass hieran weitergearbeitet wird – auch und gerade im Wissen über Barrieren.
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Die Korrektur der Gesellschaft
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Abbildungen
Abbildung 1: Issues Around Impact | Logos ............................................................ 141 Abbildung 2: Illustrationen aus Tofel (2013: 12 ) ....................................................... 143 Abbildung 3: ProPublica Tracker (Tofel 2013: 15 ) ..................................................... 150 Abbildung 4: »you do it« graphic: Workersʼ Comp Benefits; Lena Groeger, Michael Grabell & Cynthia Cotts ....................................................... 187
Sach- und Personenregister
Agenda-Setting 85, 120, 171, 178 Algorithmus 154, 172, 182, 195, 208ff., 214 Amazon 143, 208, 210f. Angwin, Julia 182, 195, 210f. Auf klärung 19, 104, 110, 123, 215 Autonomie 17, 23f., 43ff., 52, 58, 66, 72ff., 83f., 87ff., 91ff., 101ff., 111ff., 127, 160 Avila, Renata 177f., 198 Baecker, Dirk 79ff., 86, 206, 215 Beschleunigung 13, 116f., 176 Big Data 172, 177, 206, 208f., 211ff., 214 Boltanski, Luc 24f., 27 Bora, Alfons 45, 61, 95, 209 Botswana 18, 203f. Bourdieu, Pierre 21, 24ff., 65, 131 Bürokratie 73, 103, 113, 137 Butler, Judith 65 Chiapello, Ève 25, 27 China 18, 205f., 210 Confirmation Bias 10, 102, 183, 185 Crowd 188f., 209 Datenbank 172f., 183, 186, 198, 214 de Burgh, Hugo 114, 123, 131, 133, 139 Derrida, Jacques 36, 65 Dickel, Sascha 190, 208f. Digitalisierung 13, 18, 64, 79, 115ff., 157f., 172, 201, 206ff., 215 Disruption 19, 212
Durkheim, Émile 30, 43 Elias, Norbert 17 Empowerment 18, 193, 209 Engagement 162, 183, 185, 190f. Eurozentrismus 18, 201, 203ff. Evolution 32, 38f., 47ff., 55f., 58f., 65, 71ff., 83, 86f., 155f., 206 Expertise 74, 94f., 98, 152, 197f. Facebook 114f., 118f., 168, 208, 210f. Familie 75, 81, 84, 90, 167, 211 Foucault, Michel 65 Fracking 161, 165, 168, 175f., 178f., 197 Fuchs, Peter 31f., 47, 76f., 80f., 121, 128, 160, 163, 179 Fünfte Gewalt 18, 194, 205 Gates, Bill und Melinda 141ff. Gericht 58, 103, 124ff., 134, 152, 194f., 198 Geschlecht 56, 65, 84, 162, 211 Gesundheit 58, 76, 84, 86, 144, 168, 175 Gewerkschaft 12, 85, 97, 103, 125f. Google 114f., 208 Governance 12, 95, 107 Habermas, Jürgen 103f., 108ff., 118, 122f., 131, 166, 215 Heidegger, Martin 81 Hirschauer, Stefan 56, 60 Hutter, Michael 24, 47ff., 50, 54, 57, 194
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Die Korrektur der Gesellschaft
Impact 15f., 113, 124, 132f., 139, 140ff., 156ff., 162, 166, 180f., 188 Industrie 25, 39, 61 Intellektuelle 12, 97, 208 Iran 18, 204 Japp, Klaus Peter 56, 76, 105 Kaldewey, David 38, 84, 111 Kant, Immanuel 104 Kapitalismus 25, 67, 80, 116, 212, 214 Kieserling, André 24, 26, 36, 38f., 75 Klasse 22, 57, 208 Klimawandel 9, 66, 81f., 84, 86f., 173, 207, 213 Konnektivität 13, 115f., 120, 122, 181f. Konversationskreise 47f., 194 Krieg 123, 165, 183 Kunst 14, 22, 26f., 50, 66ff., 80, 83, 124, 133, 162 Künstliche Intelligenz (KI) 172, 208f., 211 Latour, Bruno 21, 25, 27ff., 49, 65 Lernen 85, 92, 98, 103, 196 Lindemann, Gesa 57 Lobby 46, 74, 175, 194, 206 Luhmann, Niklas 10, 14f., 17f., 22ff., 29ff., 32ff., 43ff., 51, 52ff., 60, 66, 71f., 72ff., 80f., 85ff., 90ff., 102ff., 110, 113, 118, 127ff., 134, 155f., 159, 162, 170f., 175, 181, 193f., 200, 206, 210ff. Marcic, René 14, 123ff., 215f. Marcinkowski, Frank 106, 116, 127 Massenmedien 11ff., 67, 73ff., 85, 97ff., 106, 113ff., 124ff., 158f., 171, 177, 185, 205f., 215f. Messbarkeit 15ff., 78, 113, 132. 144ff., 157, 181, 188, 209 Morozov, Evgeny 205, 211f. Münch, Richard 45, 97, 210 Nassehi, Armin 30ff., 40f., 46, 50f., 57, 59f., 62ff., 84, 87, 117, 173, 213
Netzwerk 53, 58, 115, 117, 207 NGOs 12, 95ff., 106, 111, 134, 144, 197f. Nudging 19, 208ff. Osrecki, Fran 17, 112, 137, 206 Panama Papers 18, 169ff., 177, 197f., 201 Parsons, Talcott 32, 43, 45 Philanthropie 139, 147f., 212, 214 Piaget, Jean 10, 102, 128f., 183, 196 Praxis 38, 44, 59, 61, 66f., 72, 161, 173, 179, 200f. Profession 63, 75, 103, 133, 195f. Propaganda 14, 110 Protest 12, 23, 39, 56, 63, 67, 72ff., 79, 82, 85, 97ff., 114ff., 125f., 129, 153, 181, 200 Pulitzer, Joseph 12, 111f., 132ff., 138, 153, 178 Quantifizierung 17, 138, 144, 151ff., 180, 213 Race 61, 210f. Raum 31, 56, 58, 66f., 74, 86f., 111, 173 Reckwitz, Andreas 57, 65 Reeve, Henry 125 Relotius, Claas 163 Renn, Joachim 10, 24, 29, 40ff., 51, 53ff., 59f., 62, 64f., 68f., 98, 155ff., 176, 192f., 195, 199, 212 Reputation 36, 98ff., 105, 108, 179 Resonanz 49, 68f., 74ff., 84, 110, 117 Respezifikation 16, 54, 121, 162, 193, 212 Revolution 13, 19, 116ff., 132, 207, 215f. Risiko 105, 133, 171, 175, 177 Rosa, Hartmut 13, 17, 116ff., 176, 181 Rousseau, Jean-Jacques 123 Re:Publica 10, 64, 177, 198 Sacks, Harvey 144, 161 Schimank, Uwe 30, 57, 80f. Schneider, Wolfgang Ludwig 33f., 37, 59
Sach- und Personenregister
Schrape, Jan-Felix 115, 118, 169, 182, 198, 209 Schwarzenegger, Arnold 153f. Schwinn, Thomas 30ff., Silicon Valley 19, 208, 210f. Simmel, Georg 24 Skandal 12, 18, 74, 76, 104, 113, 120, 154, 159, 180, 182, 189, 198 Solutionismus 211f. Stäheli, Urs 36, 102, 128 Stead, William T. 114, 182 Stichweh, Rudolf 11, 57ff., 71, 82ff., 89, 113, 119, 129, 133, 165 Stiftung 12, 14, 16, 95f., 134, 138, 142ff., 157f., 177, 197 Story (Geschichte) 134, 148ff., 162ff., 174f., 182ff., 190f., 211 Structural Drift 56, 73, 82, 102 Synchronisation 44, 56, 74, 171 Tacke, Veronika 14, 77, 121, 206 Teubner, Gunther 11, 46, 83, 91ff., 96ff., 106ff., 110f., 126 Theater 124, 184f., 216 Tofel, Richard 16, 138ff., 140ff., 160, 165, 180 Translat 16, 59, 69, 71, 156, 174f., 192 Transparenz 17, 112, 137f., 140, 149, 156ff., 174, 177, 180, 189ff., 197f., 213 Tratschin, Luca 56, 77f., 171 Trump, Donald 139
Twitter 114f., 118f., 119, 171, 198, 205 Tyrell, Hartmann 37, 57 Ungleichheit 25, 59, 62, 187, 215 Unternehmen 12, 19, 39, 61, 66, 77, 85f., 90f., 97ff., 103, 107ff., 117, 174ff., 180, 194ff., 206, 208f., 211f. Verfassung 14, 44, 51, 58f., 88, 92, 96, 117, 123f. Verhandlungssystem 46, 92f., 96ff. Verwaltung 103, 124, 167 Vierte Gewalt 14, 26, 113f., 120, 123ff., 130ff., 174, 204f., 210, 215 Wachhund (watchdog) 15, 72, 130ff., 137, 159, 182 Watergate 73, 154, 159 Weber, Max 29f. Weltgesellschaft 18f., 59, 63, 97, 106, 203ff. WikiLeaks 178 Willke, Helmut 11, 89, 91ff., 96f., 101 Wolff, Stephan 140f. Worterkennung 172, 189 YouTube 115, 134, 140, 209 Zivilgesellschaft 11ff., 89, 96ff., 105, 118, 126, 160, 168, 175, 201 Zufall 16, 44, 71f., 116, 120, 145ff., 155ff., 160f., 164, 174, 181ff., 213 Zumutungsgehalt 13f., 17f., 101, 106ff., 111ff., 118, 121, 127, 140
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Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018
Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6
Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
Heike Delitz
Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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