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German Pages 248 [249] Year 2004
TILL PLATTE
Die Konstellation des Ubergangs
Philosophische Schriften Band 55
Die Konstellation des .. Ubergangs Technik und Würde bei Heidegger
Von
Till Platte
Duncker & Humblot . Berlin
Die Philosophische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11J9l-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Internet: hUp://www.duncker-humblot.de
Karf und Rosemarie
"Ta be men not destroyers." "Mensch sein - nicht Verheerer."
Ezra Pound
"Ich darf wieder an alle, die das Erbe Heideggers verwalten wollen, appellieren: Man darf und soll wohl aufgrund eines Heideggerschen Ausdrucks versuchen, selber zu denken, aber man darf nie seine Worte benutzen, als wären sie solche, die von uns schon gedacht sind."
Hans-Georg Gadamer
Vorwort Die Untersuchung wurde nach Ostern 1999 begonnen und im Sommersemester 2002 als Dissertation den Philosophischen Fakultäten der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i. B. vorgelegt. Sie entstand unter dem Gesichtspunkt, nicht Exegese um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern die philosophische Auseinandersetzung mit Heidegger zu wagen, um das Verständnis für die Lage des heutigen Menschen zu vertiefen. Gedacht wird nur dort, wo Klarheit herrscht - und die Frage, inwieweit es die Untersuchung vermag, ihre Sache zu klären, sei der Prüfstein für dieses Buch. Mein Dank gilt zunächst Herrn Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, dem Betreuer meines Vorhabens, für die Aufgeschlossenheit, die er von Anfang an meinem Anliegen gegenüber erwiesen hat. Mit Nachdruck danke ich Herrn Prof. Dr. Alexander Hollerbach für seine Übernahme des Korreferats, die - aus der Perspektive des Rechts - die Möglichkeit eines interdisziplinären Diskurses akzentuiert und zugleich offen läßt. Nicht weniger zu Dank verpflichtet bin ich allen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die meinem Unternehmen durch Rat und Tat, besonders aber durch ihre Bereitschaft zu Frage und Gespräch gedient haben. Der Abdruck aus einem unveröffentlichten Brief Ernst Jüngers geschieht mit sehr freundlicher Erlaubnis von Frau Dr. Liselotte Jünger und Genehmigung des Deutschen Literaturarchivs (Marbach am Neckar). Ich widme die Dissertation dem Andenken meiner Eltern, die mir beide während ihrer Abfassung entrissen worden sind. Freiburg, im Juli 2003
Till Platte
Inhaltsverzeichnis Einleitung und Aufriß der Untersuchung
15
§ 1
Einleitende Exposition des Themas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
15
§2
Weg und Aufriß der Untersuchung ..................... . ............
16
Erstes Kapitel
Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
23
§3
Grundstruktur des Menschenverständnisses der Renaissance in der "Oratio de hominis dignitate" von Pico della Mirandola ...............
23
§4
Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens" aus der abendländischen Metaphysikgeschichte und dessen neuzeitliche Ausprägung durch Rene Descartes ........................................................
45
"Der Begriff der Freiheit ist der Stein des Anstoßes für alle Empiristen" - Kants Entgegenstellung von sittlicher Freiheit und mathematisierter Natur............................................................
58
"Werdet nicht der Menschen Knechte" - Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst" ...................................
67
§5
§6
Zweites Kapitel
Menschenwürde und Leiblichkeit
77
§7
Die Bestimmung der "Animalitas" als fortwährende und sich in der Neuzeit steigernde Verdinglichung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
77
§8
Die Eröffnung des ekstatischen Wesens des Menschen in der "leibenden Stimmung" bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
90
§9
Der Wesensrang der Hand und die Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes .................................. 108
12
Inhaltsverzeichnis
Drittes Kapitel
Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
123
§ 10 Ansätze zur Technikkritik im fundamentalontologischen Denken von
"Sein und Zeit" ................................................... 123
§ 11 Ernst Jüngers Essay "Über den Schmerz" als literarisches Zeugnis für
die vergegenständlichende "Selbst"-Erfahrung des Menschen in der Modeme ......................................................... 145
§ 12 Gerhard Ritters historistische Lehre von der "Dämonie der Macht" und
Heideggers Einblick in das seinsgeschichtliche Wesen der Macht ....... 158
§ 13 Das Machtwesen der Modemen Technik ("des Gestells") als das der
Wahrung der Menschenwürde widrige Geschick der Wahrheit des Seins. a) Das "Erschrecken" in der Gewahrwerdung des Wesensverfalls des Vernünftigen Lebewesens zum "technisierten Tier" ............... . b) Stefan Georges Gedicht: "Da das zittern noch waltet ... .. als Zeugnis für eine dichterische Erfahrung mit der Unverfügbarkeit des Seins ........................................................ c) Die seins vergessene "Belagerung des Menschen durch das Seiende" als Ursprung der "Wesensfeindschaft" zwischen "Macht" und "Würde" .....................................................
173 173 189 195
Viertes Kapitel
Der Wesenswandel vom Machthaber des Seienden zum Hirten des Seins § 14 Der "Hirt des Seins" oder die Möglichkeit der Gewährtheit der höchsten
Wesens würde des Menschen aus dem sich kehrenden Ereignis . . . . . . . . . . a) Die Entfaltung eines Fragens ................................... b) Zur ersten Frage: Wie nötigt die in der "Wesensfeindschaft" zwischen dem zum "Unseienden" erstarrten, machtenden Seienden und der höchsten Würde des Seins als Ereignis erfahrene Not in den Wandel des Menschenwesens? .................................. c) Zur zweiten Frage: Wie ermöglicht gerade das der Wahrheit des Seins nachstellende Machtwesen der Modemen Technik in seinem Nach-Stellen einen diese Wahrheit erst eigens erfragenden und damit erfahrenden gewandelten Menschen? ............................ d) Zur dritten Frage: Wie hängt die Möglichkeit eines gewandelten Menschenwesens untrennbar mit der Möglichkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins zusammen, so daß beides nur als eine einfache und einzige Möglichkeit gedacht und vorbereitet werden kann? .................................................
210
210 210
214
216
220
Inhaltsverzeichnis
13
e) Zur vierten Frage: Wie versammeln sich die voneinander unterschiedenen und als solche einander zugewandten Bezüge des Denkerischen und des Dichterischen in den Wesenswandel des Menschen? . 224 § 15 Schlußbetrachtung ................................................ 229
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Sachwortverzeichnis ............... . .................................... 244
Einleitung und Aufriß der Untersuchung § 1 Einleitende Exposition des Themas Die Frage Jean Beaufrets, mit der sich Heideggers "Brief über den Humanismus" auseinandersetzt, lautet: "Comment redonner un sens au mot ,Humanism,?"l Dieses Anliegen einer neuen Sinngebung eines Begriffes der abendländischen Denk- und Kulturtradition ist für Heideggers Briefpartner ein ethisches Anliegen, i. S. einer als Möglichkeit zugleich in Frage stehenden, auf dem Boden der Fundamentalontologie von Heideggers Grundwerk "Sein und Zeit" erst noch zu entwerfenden philosophischen Ethik. 2 Das Zitat setzt stillschweigend voraus, daß das Wort "Humanismus" heute - konkret: zur Zeit des Briefwechsels ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg - seinen geschichtlich überlieferten Sinn verloren hat. Europa steht vor den Trümmern seiner in Jahrtausenden über Völkerwanderungen, Pestepidemien und Religionskriege hinweg sich durchhaltenden geschichtlichen und kulturellen Kontinuität. Das ungeheuerliche Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen wird offenbar. Dadurch scheint der Mensch i. S. eines jeglichen möglichen Begriffs von "Humanismus" widerlegt worden zu sein und der Begriff selbst wirkt wie entleert, weil er mit der "Humanitas" eine Bereitschaft zum Guten voraussetzt, die durch das Geschehnis des Holocaust offensichtlich ad absurdum geführt worden ist. Noch ein anderes Geschehnis wird für die Nüchternheit, aber auch für die Not der Frage Jean Beaufrets entscheidend gewesen sein: Mit dem Abwurf der beiden amerikanischen Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki wird der Mensch nicht bloß mit der totalen Entschränkung der modernen Kriegsführung durch die Massenvernichtungswaffe, sondern auch mit der Möglichkeit seiner gattungsmäßigen Selbstvernichtung konfrontiert. Heidegger nimmt in zweierlei Hinsicht zu Jean Beaufrets Anliegen, dem Begriff "Humanismus" einen neuen d. h. den Zeiterscheinungen korrespondierenden und damit erst wieder gewachsenen Sinn zurückzugeben, Stellung. Erstens: Der Abwehr aller traditionellen, d. h. auf der Ontologie des I Brief über den Humanismus. Brief an Jean Beaufret, verfaßt im Herbst des Jahres 1946, der für die Veröffentlichung überarbeitet und erweitert wurde. Erstmals Bern 1947. Im folgenden zitiert nach der 9. Aufl. der Einzelausgabe (EA), Frankfurt am Main 1991, S. 7. 2 Brief über den Humanismus, S. 43.
Einleitung und Aufriß der Untersuchung
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animal rationale aufbauenden Humanismen. Diese Abwehr geschieht zum einen als eine Abwehr der Animalitas, also der metaphysischen Ausrichtung des Leibwesens des Menschen an der Vorstellung eines unter anderen Lebedingen vorhandenen Lebedinges: "Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas hin."} Zum anderen geschieht die Abwehr des animal rationale als Abwehr der Ratio, die sich in der Neuzeit als Herrschaft der Subjektivität entfaltet, die in dem Seins geschick der Modemen Technik sich gleichermaßen vollendet und auflöst. Zweitens nimmt Heidegger Stellung in der Weise der Zuwendung zur ekstatischen Dimension der Wahrheit des Seins selbst als dem Herkunfts- und Zukunftsraum der Würde des Menschen. Die Wahrheit des Seins bleibt der an der Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale ausgerichteten philosophischen Tradition verschlossen: "Die Metaphysik fragt nicht nach der Wahrheit des Seins selbst. Sie fragt daher auch nie, in welcher Weise das Wesen des Menschen zur Wahrheit des Seins gehört. Diese Frage hat die Metaphysik nicht nur bisher nicht gestellt. Diese Frage ist der Metaphysik als Metaphysik unzugänglich. Noch wartet das Sein, daß Es selbst dem Menschen denkwürdig werde. ,,4 Die Untersuchung setzt sich die Aufgabe einer systematischen Entfaltung des inneren Zusammenhangs, in welchem Heideggers Kritik der humanistischen Tradition mit der Frage nach der Modemen Technik steht. Sie geht von der Annahme aus, daß der Sinn der Humanismuskritik erst im Lichte von Heideggers seinsgeschichtlicher Erfahrung des Wesens der Modemen Technik klar hervortritt und umgekehrt die Frage nach der Technik von der Auseinandersetzung mit der metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen motiviert ist und auf dem Boden dieser Auseinandersetzung erst fragbar wird. Es gilt, hochbedeutsame Wesenszusammenhänge, die in der vergegenständlichenden Hinblicknahme der Einzelwissenschaften verschüttet bleiben müssen, von den Sachen selbst her zum Aufweis zu bringen.
§ 2 Weg und Aufriß der Untersuchung Das die Untersuchung eröffnende Erste Kapitel: "Die Würde des ,Vernünftigen Lebewesens'" setzt sich mit der traditionellen, an der Ontologie des animal rationale ausgerichteten Festlegung der "Humanitas" auseinander. Dies geschieht vorerst an Hand der Italienischen Renaissance, die nicht } Brief über den Humanismus, S. 15. 4
S. 14.
§ 2 Weg und Aufriß der Untersuchung
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den ersten Humanismus, aber zum ersten Mal einen philosophischen Begriff der Menschenwürde zur vollen Entfaltung brachte (§ 3 der Untersuchung: "Die Herausarbeitung der Grundstruktur des Menschenverständnisses der Renaissance am Beispiel der ,oratio de hominis dignitate"'). Exemplarisch steht dabei die Schrift: "oratio de hominis dignitate" von G. Pico della Mirandola (1463-1494) im Vordergrund, die den hervorragendsten Quellen der Epoche zuzuordnen ist. Als moderne Auseinandersetzung wird eine bedeutende Arbeit Ernst Cassirers hinzugezogen werden, die nicht zuletzt auch in Hinblick auf ihre Entstehungszeit - NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg - gelesen werden sollte. Die Thematisierung des Renaissancebegriffs der Menschenwürde verfolgt keine historische, sondern eine "destruktive" Absicht, i. S. des gerichteten Freilegens der verborgenen Grundlagen jenes als "Entdeckung des Menschen" glänzenden Konzeptes. Die wichtigste, alles weitere tragende Bestimmung ist diejenige des Menschen als animal rationale, welche die Renaissance von der antik-mittelalterlichen Ontologie übernimmt, ohne sie von dem ihr zur Verfügung stehenden Instrumentarium her in Frage stellen, oder auch bloß als frag-würdige Determination erfahren zu können. Im folgenden § 4 ("Die Herkunft des ,Vernünftigen Lebewesens' aus der abendländischen Metaphysikgeschichte und dessen neuzeitliche Ausprägung durch Rene Descartes") wird die grundlegende Verwandlung, welche die tradierte Wesensbestimmung des animal rationale durch Descartes erfährt, als epochebestimmende metaphysische Grundentscheidung herausgearbeitet. In den §§ 5 und 6 setzen wir uns mit Kants Begriff der Menschenwürde auseinander, der nicht bloß innerhalb der Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale eine überragende Position einnimmt, sondern auch schon in den Sichtkreis desjenigen Sachverhaltes ragt, der als Thema unserer Untersuchung aufgegeben ist: Angesprochen ist die Unvereinbarkeit des von sich her uneingeschränkte, absolute Geltung für sich einfordernden technisch-naturwissenschaftlichen Natur- und Weltentwurfs mit einer jeglichen denkbaren Konzeption menschlicher Freiheit und Würde (§ 5: "Kants Entgegenstellung von sittlicher Freiheit und mathematisierter Natur"). Die Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Würde ist bei Kant auf dem Boden und in den Grenzen seiner metaphysischen Grundstellung klar gesehen in dem Zusammenhang mit Rechtlichkeit und Sittlichkeit. Kants sehr bedeutende Thematisierung der "Achtung" weist aber schon in die Notwendigkeit einer künftigen Phänomenologie der Menschenwürde, den Boden des animal rationale und der Subjektivität zugunsten einer ursprünglicheren Erfahrung des Menschseins aufzugeben (§ 6: "Kants Bestimmung des Menschen als ,Zweck an sich selbst' "). In dem Zweiten Kapitel: "Menschenwürde und Leiblichkeit" wird die phänomenologische Destruktion der "Animalitas" durchgeführt und der 2 Platte
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Einleitung und Aufriß der Untersuchung
Aufweis des wesenhaft Seinsverständnis erst konstituierenden, ekstatischen Ranges der Leiblichkeit erbracht. Dieser Aufweis steht schon im sachlichen Zusammenhang mit dem seinsgeschichtlichen Wesen der Modemen Technik. Das Kapitel ist in drei Paragraphen unterteilt: Im § 7 ("Die Bestimmung der ,Animalitas' als fortwährende und sich in der Neuzeit steigernde Verdinglichung des Menschen") erfolgt der gerichtete Abbau der "Animalitas" als eine den Menschen verdinglichende, die ekstatische Dimension und damit das Worum willen des Menschseins verschüttende metaphysische Determination. Dieser Abbau geschieht mit Blick auf die modeme Medizin und Psychologie unter Miteinbeziehung von Edmund Husserls höchst bedeutendem Einblick in die "Substruktion" der ideal typisierenden Abstraktionswelt der modemen Wissenschaften unter die natürlich-primär gegebene Geradehineinstellung der "Lebenswelt". Im § 8 ("Die Eröffnung des ekstatischen Wesens des Menschen in der ,leibenden Stimmung' bei Heidegger") wird die unauflösliche Verflochtenheit von Leiblichkeit und Seinsverständnis an Hand der "leibenden Stimmung" zum Aufweis gebracht, i. S. von Heideggers Bestimmung des Menschen als des seinsverstehenden Daseins, welcher den Begriff der "leibenden Stimmung" in der Auseinandersetzung mit Nietzsches Leibdenken gewinnt. Im § 9 ("Der Wesensrang der Hand und die Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes") wird mit der Hand ein Leibbereich in den Blick genommen, der das In-eins-Fallen von Leiblichkeit und Sprache und Seinsverständnis in ausgezeichneter Weise sehen läßt. Dies geschieht unter Berücksichtigung von Derridas dekonstruktivistischer "Entlarvung" Heideggers. Mit dem Dritten Kapitel: "Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde" gelangt unsere Untersuchung in das ihr zugewiesene Zielgebiet. Aus verschiedenen Blickrichtungen wird derjenige Sachverhalt geklärt, den Heidegger die "Wesensfeindschaft" zwischen "Macht" und "Würde" nennt. Gemeint ist die "Wesensfeindschaft" zwischen dem auf dem Boden der Subjektivität vor- und zugestellten Seienden, welche Vor- und Zugestelltheit bedrängend als "Macht" erfahren wird, und der allem menschlichen Gemächte unverfügbaren höchsten Würde des Seins. Es wird vorerst gezeigt, wie der im seinsgeschichtlichen Denken innerhalb der Phänomenologie der Technik erfahrene Sachverhalt schon in den Grenzen der Fundamentalontologie von "Sein und Zeit" (1927) unthematisch dem Denker vor Augen steht, wie an einer auf diesen Sachverhalt abzielenden Auslegung der Begriffe der "Verfallenheit" und des "Man" aufgewiesen werden wird. Die in "Sein und Zeit" schon aus der Auseinandersetzung mit der - erst im seins geschichtlichen Denken geschickhaft erfahr-
§ 2 Weg und Aufriß der Untersuchung
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baren - Herrschaft der Subjektivität gedachten5 zentralen Begriffe der "Eigentlichkeit" und der "Uneigentlichkeit" erfahren erst im Blickkreis der Erfahrung der die Lebenswelt bestimmenden Macht der Metaphysik der Subjektivität ihre letzte Klärung. Es wird in diesem Paragraphen ferner gezeigt, wie Heidegger schon in "Sein und Zeit" die den Menschen in seinem welterschließenden Wesen gefährdende Macht des Technischen erfährt eine Erfahrung, die allerdings innerhalb der Fundamentalontologie verbleibt, worin sich ihr das Geschick der Modemen Technik als solches noch verhüllen muß (§ 10 der Untersuchung: "Ansätze zur Technikkritik im fundamentalontologischen Denken von ,Sein und Zeit'''). In dem folgenden § 11 ("Ernst Jüngers Essay ,Über den Schmerz' als literarisches Zeugnis für die vergegenständlichende ,Selbst'-Erfahrung des Menschen in der Modeme") wendet sich die Untersuchung nur scheinbar von Heidegger ab: Mit Ernst Jünger wird ein Autor eingeführt, der für die Phänomenologie der Technik - wie für das seins geschichtliche Denken überhaupt - eine kaum zu überschätzende Bedeutung für sich beanspruchen kann. Diese Bedeutung ist jedoch in sich zweideutig: Zwar hat Jünger den Blick des Denkens für den alles Seinsverständnis mehr und mehr bestimmenden Einfluß des Technischen auf alle Lebensbereiche geschärft. Aber diese höchst bedeutsame Beschreibung des wachsenden Vorranges der Technik im (post-) modemen Leben bleibt doch ihrerseits mit der Konzeption des "Arbeiters", als demjenigen Menschenschlag, der allen Widerspruch zu dem Bereich des Technischen in sich auflöst, indem er sich selbst der Technik gemäß abrichtet, zu hinterfragen: Die Konzeption des "Arbeiters" bleibt dem Bannkreis der Metaphysik in besonderem Maße verhaftet, i. S. ihrer Gebanntheit an das total mobilgemachte Seiende und in einem hiermit ihrer äußersten Verbannung aus der Frage nach der Wahrheit des Seins. Ziel ist, die Leistungsfähigkeit und die Gebundenheit der Optik Ernst Jüngers am Beispiel des Essays "Über den Schmerz" (1934) herauszuarbeiten, um von dort her das Verständnis der eigensten Aufgabe und der Notwendigkeit des seins geschichtlichen Denkens zu fördern. In dem § 12 ("G. Ritters historistische Lehre von der ,Dämonie der Macht' und Heideggers Einblick in das seinsgeschichtliche Wesen der Macht' ") soll am Beispiel von Heideggers Auseinandersetzung mit Gerhard Ritters historischer Reflexion über die "Dämonie der Macht" ("Machtstaat und Utopie", 1940 und später), ein Begriff, der an Jaspers "Dämonie der Technik" nicht von Ungefähr erinnert, die Hilflosigkeit und Bedenklichkeit des herkömmlichen, historischen Vorstellens und seines ontischen Machtbegriffes angesichts des erst als Herrschaft der Subjektivität seinsgeschichtlich 5 Heidegger nennt das "Man" das ,,,Subjekt' der Alltäglichkeit". Sein und Zeit. Tübingen, 16. Aufl. 1986, S. 114. 2*
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erfahrbaren modernen Machtphänomens gezeigt werden. Unter Hinzuziehung der Machtbegriffe Droysens und Burckhardts wird in diesem Zusammenhang gezeigt werden, wie der ontische Machtbegriff der Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale korreliert. Die §§ 11 und 12 haben den Sinn, den Blick für das Wesen der Macht als einem nur dem seinsgeschichtlichen Denken in seiner Geschichtlichkeit geschickhaft offenbaren Sachverhalt zu befreien. Dieses geschichtliche Wesen der Macht waltet als das Machtwesen der Modemen Technik, welches Walten zu der Würde des Seins und in einem hiermit zu der von jener Würde belehnten Würde des Menschen im Verhältnis einer "Wesensfeindschaft" steht, wie in dem das Kapitel beschließenden § 13 darzulegen ist. Dieser Kemparagraph ("Das Machtwesen der Modemen Technik - ,des Gestells' - als das der Wahrung der Menschenwürde widrige Geschick der Wahrheit des Seins") entfaltet die "Wesensfeindschaft" innerhalb des sechsfach gefügten Denkens der "Beiträge zur Philosophie" (entstanden 193638, erstmals veröffentlicht 1989) und der sich daran anschließenden Schriften. Ausgegangen wird von dem "Erschrecken", jener Grundstimmung des seins geschichtlichen Denkens, von welcher durchstimmt das Denken des Wesens verfalls des Menschen zum "technisierten Tier" gewahr wird (§ 13 a: "Das ,Erschrecken' in der Gewahrwerdung des Wesensverfalls des Vernünftigen Lebewesens zum ,technisierten Tier' "). Von dieser Grundstimmung durchstimmt, bereitet das Denken den Absprung von der das Sein in die Verfügbarkeit der Vorgestelltheit ver- und entstellenden Subjektivität vor. Ziel des "Sprunges" ist die Lichtung der unverstellten Wahrheit des Seins, die als das dem menschlichen Gemächte Unverfügbare im Absprung von der Subjektivität erst noch denkerisch-fragend zu erspringen ist. Es muß gefragt werden: Wie gelangt der Mensch aus der Seinsverstelltheit der Wesensmacht der Modemen Technik in die vorenthaltene Fülle seines Wesensraumes ? Das Gespräch des Denkens mit dem Dichten ist einem solchen Gelingen unentbehrlich. Stefan George, der in den "Beiträgen zur Philosophie" verborgen gegenwärtig ist, dichtet die Unverfügbarkeit des Seins, darin dem Denken einen Wink gebend, sich dem Offenen der Wahrheit des Seins selbst erstmals in der Geschichte der Philosophie eigens auszusetzen (§ 13b: "Stefan Georges Gedicht: ,Da das zittern noch waltet ...6 als Zeugnis für eine dichterische Erfahrung mit der Unverfügbarkeit des Seins"). Es gilt, das zum "Unseienden" erstarrte technisch vor- und zugestellte Seiende in seiner "Wesensjeindschajt,,7 zur höchsten Würde des Seins zu erfahren. Als seinsgeschichtliche Denkerfahrung verdankt sich die Erfahrung der 6 Stefan George, Das Neue Reich. Gesamt-Ausgabe der Werke endgültige Fassung. Neunter Band. Berlin 1937, S. 94.
§ 2 Weg und Aufriß der Untersuchung
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"Wesensfeindschaft" der das Sein von der Vormacht des Seienden ent-setzenden Grundstimmung des "Entsetzens" (§ 13 c: "Die seinsvergessene ,Belagerung des Menschen durch das Seiende' als Ursprung der Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde"). In dem abschließenden Vierten Kapitel: "Der Wesenswandel vom Machthaber des Seienden zum Hirten des Seins" soll gezeigt werden, inwiefern die seinsgeschichtliche Erfahrung der Modemen Technik den Wesenswandel des Menschen - weg vom "Machthaber des Seienden"s, hin zum "Hirten des Seins" - nicht bloß fordert, sondern gerade erst ennöglicht. Den seinsgeschichtlichen Ort dieser möglichen "Kehre" nennen wir im verbindenden Rückgriff auf zwei Begriffe Heideggers die Konstellation des Übergangs. Der in die Dimension des Wesenswandels vor-fragende § 14 ("Der ,Hirt des Seins' oder die Möglichkeit der Gewährtheit der höchsten Wesenswürde des Menschen aus dem sich kehrenden Ereignis") versteht sich als "Die Entfaltung eines Fragens" (§ 14a), i. S. eines methodischen Erfragens des zu Grunde liegenden Sachverhaltes. Abgewehrt werden soll die immer wieder einfallende Gefahr einer ontischen Perversion des Verständnisses des "Hirten des Seins", eines Begriffes, der sehr zum Unheil idyllische und sogar sozialutopische Fehlinterpretationen provoziert hat. Ziel ist, die höchste Wesenswürde des Menschen aus dem Bezug der Wahrheit des Seins zu ihm zu entfalten, welcher höchsten Wesenswürde erst derjenige Mensch entspricht, der die Wahrheit des Seins selbst eigens in die Hut nimmt. Gefragt wird: Erstens: "Wie nötigt die in der Wesensfeindschaft zwischen dem zum Unseienden erstarrten Seienden und der unverfügbaren Würde des Seins als Ereignis erfahrene Not in den Wandel des Menschenwesens?" (§ 14b) Zweitens: "Wie ermöglicht gerade das der Wahrheit des Seins nachstellende Machtwesen der Modemen Technik in seinem Nach-Stellen einen diese Wahrheit erst eigens erfragenden und damit erfahrenden gewandelten Menschen?" (§ 14c) Drittens: "Wie hängt endlich die Möglichkeit eines gewandelten Menschenwesens untrennbar mit der Möglichkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins zusammen, so daß beides nur als eine einfache und einzige Möglichkeit gedacht und vorbereitet werden kann?" (§ 14d) 7 Vgl. zu diesem für die Untersuchung bedeutsamen Begriff: Heidegger, Die Geschichte des Seyns. Gesamtausgabe Bd. 69. Hrsg. v. Peter Trawny. Frankfurt am Main 1998, S. 74. 8 So lautet Heideggers Übersetzung der Cartesischen Begriffsbestimmung des Menschen als "maitre de la nature".
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Einleitung und Aufriß der Untersuchung
Es soll in diesem Zusammenhang schließlich gefragt werden, wie die denkerische Bewältigung der Konstellation des Übergangs auf den Dialog mit dem Dichten angewiesen ist und wieweit das Gespräch Heideggers mit Hölderlin von der Not-wendigkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins getragen ist, mithin erst im Kontext der Verwindung der Wesensmacht der Modemen Technik ("des Gestells") verstanden werden kann, daher die Systematik des seinsgeschichtlichen Denkens nicht von seiner eigensten geschichtlichen "Faktizität" losgelöst werden darf. Diese Frage lautet (Viertens): "Wie versammeln sich die voneinander verschiedenen und doch einander zugewandten Bezüge des Dichterischen und der Denkerischen in den Wesenswandel des Menschen?" (§ 14e). Die Hut der Wahrheit des Seins geschieht nicht als Preisgabe des Menschen für ein mystisches Abstraktum, sondern zugleich in einem mit der Wächterschaft des Seins als die Hut des Geheimnisses von Mensch und Ding, zu Gunsten der Zulassung des unerschöpflichen Wesensreichtums des Seienden im Ganzen. Die Forderung, "daß der Mensch sich selbst ein unaussetzendes Geheimnis sei,,9 konzentriert die Kemintention Heideggers, indem er sein Denken der höchsten Gefahr des Wesensabsturzes des Menschen zum "technisierten Tier" aussetzt, auf das Wesentliche ("Schlußbetrachtung", § 15).
9 Besinnung. Gesamtausgabe Bd. 66. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt am Main 1999, S. 55.
Erstes Kapitel
Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens" § 3 Grundstruktur des Menschenverständnisses der Renaissance in der "Oratio de hominis dignitate" von Pico della Mirandola Mit seiner Rede "Über die Würde des Menschen", die ursprünglich als Einleitung zu einer öffentlichen Diskussion konzipiert wurde, die allerdings der Papst mit dem Verdikt der Häresie verhinderte, steht der Graf Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) bei weitem nicht allein unter den Humanisten seiner Zeit. Was Picos "Oratio" gegenüber einer literarisch bedeutenden Schrift wie Manettis "De dignitate et excellentia hominis" 1, die sich gegen einen Traktat des späteren Papstes Innozenz IH. "De miseria humanae conditionis" richtet, unmittelbar abhebt, ist die Entfaltung der erstmals von Petrarca in Auseinandersetzung mit dem besagten Traktat bearbeiteten Menschenwürdeproblematik2 innerhalb eines philosophischen Rahmens, eines ausgearbeiteten metaphysischen Systems. Den Ansatz seines akademischen Lehrers Marsiglio Ficino (1433-1499) weiterverfolgend, unternimmt es Pico, die Würde des Menschen zu rechtfertigen und zu bestimmen in Hinblick auf dessen metaphysische Position innerhalb eines universalen Systems? Damit ist die "Oratio" Picos ein ausgezeichnetes Zeugnis für einen bedeutenden geschichtlichen Standort, für einen Sachverhalt, den Heidegger "Metaphysische Grundstellung" nennt. Hierzu Heidegger: H'" in der Bezeichnung ,metaphysische Grundstellung' ist ,metaphysisch' nicht ein Beiwort, das eine besondere Art von Grundstellungen anzeigt, sondern ,metaphysisch' nennt den Bereich, der sich durch das Gefüge einer Grundstellung erst als metaphysischer entfaltet.,,4
1 Gianozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen. Hamburg 1990. 2 Einleitung von August Buck, S. IX. 3 Paul Oskar Kristeller, Studien zur Geschichte der Rhetorik und zum Begriff des Menschen in der Renaissance. Göttingen 1981, S. 70. 4 Martin Heidegger, Nietzsehe Erster Band. Hrsg. v. Brigitte Schillbach, Stuttgart, 6. Auf!. 1998, S. 402.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
Der sich innerhalb des Gefüges von Picos Grundstellung entfaltende Bereich ist, wie innerhalb jeder Metaphysik, das Seiende im Ganzen. Kennzeichnend für eine jede fragende Entfaltung des Seienden im Ganzen ist, daß sie den Fragenden in die Fragestellung immer mit hineinzieht. Je nachdem, wie die Frage nach dem Seienden neu gestellt wird, kommt der Fragende im Seienden im Ganzen und zum Seienden im Ganzen in verwandelter Weise zum Stehen: Mit dem Wandel des Standortes des Fragenden zum Seienden im Ganzen modifiziert sich zugleich die Bestimmung des Wesens des Menschen, als einem ausgezeichneten Bereich innerhalb des Seienden im Ganzen. Heidegger kennzeichnet diesen Sachverhalt in den "Beiträgen zur Philosophie": "Das Geschehen der Frage nach dem Seienden als solchen (sie!), das Geschehen des Erfagens der Seiendheit, ist in sich ein bestimmtes Eröffnen des Seienden als solchen dergestalt, daß der Mensch dabei seine Wesens bestimmung erfahrt, die aus dieser Eröffnung entspringt (homo animal rationale)."s Wie Heidegger ausführt, handelt es sich bei der Wesensbestimmung des die "Leitfrage" nach dem Sein des Seienden fragenden Menschen um diejenige des Menschen als "animal rationale", dem "Vernünftigen Lebewesen". Diese, die "Leitfrage" der Metaphysik nach dem Sein des Seienden bestimmende und tragende Wesens bestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen unterliegt im Geschehen der Geschichte der Metaphysik einem ständigen Wandel, der allerdings nie die Grundverfassung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen betrifft. Im Folgenden gilt es, diesen sachlichen Zusammenhang zwischen der Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen und der Offenbarkeit des Seins des Seienden an Hand von Picos Konzeption der Menschenwürde zum Aufweis zu bringen. Gegenüber dem mittelalterlichen Denken, ja gegenüber der mittelalterlichen Kultur überhaupt, geschieht in der italienischen Renaissance eine eigentümliche Verlagerung, eine neue Eröffnung des Diesseits, welche die thematische Konzentration auf den Menschen und seine irdischen Belange in Literatur und Kunst ermöglicht und eine "Wiedergeburt" der Antike auszulösen scheint. So oder ähnlich lautet die gängige Vorstellung von der Epoche, die als Übergang zur Neuzeit verstanden werden mag, zugleich aber eine reiche Produktion auf nahezu allen Feldern schöpferischer Tätigkeit zeigt, daher nicht bloß teleologisch, als Trittbrett zur Neuzeit gedeutet werden kann. Die oben formal angezeigte Kohärenz zwischen der "Leitfrage" der Metaphysik nach dem Sein des Seienden, also der Frage nach der "Seiendheit", und der Wesens bestimmung des Menschen findet in der "Entdeckung S Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65. Hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Frankfurt am Main, 1. Auf!. 1989, S. 175.
§ 3 Grundstruktur des Menschenverständnisses der Renaissance
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der Welt und des Menschen" (Burckhardt) eine Entsprechung, die allerdings die Fragehaltung des im engeren Sinne philosophischen Bereiches weit übersteigt und alle Bereiche schöpferischer Tätigkeit, vor allem aber die Kunst umgreift und prägt. So könnte die schöne Schilderung von Petrarcas (1304-1374) Bergbesteigung des Mont Ventoux in Burckhardts "Kultur der Renaissance" als Beleg für eine spezifisch dichterische, bisherige Sehgewohnheiten revolutionierende Erfahrung der Natur als einer von einer Stimmung durchwalteten Landschaft dienen: 6 Nach äußerst beschwerlichem Aufstieg, von dem ihm ein Einheimischer abgeraten hatte, erreicht er gemeinsam mit seinem Bruder den Gipfel, wo die Wolken unter ihren Füßen schweben. Durch den gewaltigen Eindruck erschüttert, offenbart sich vor dem inneren Auge des Dichters sein ganzes bisheriges Leben mit all seinen Torheiten und Versäumnissen. Er schlägt ein mitgebrachtes Buch auf und liest wie zufällig die Stelle (X. Buch, Kap. 8) aus den "Confessiones" des Augustinus (Übersetzung von Burckhardt): "Und da gehen die Menschen hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluten und mächtig daherrauschende Ströme und den Ozean und den Lauf der Gestirne und verlassen sich darob. ,,7 Der Bruder, dem er die Stelle vorliest, versteht nicht, warum er darauf das Buch schließt und schweigt. Für Ernst Cassirer ist dies von Petrarca selbst durch einen Brief dokumentierte Ereignis ein Beleg für die innere Unfreiheit des Dichters, dem, noch von der christlichen Ausrichtung der Seele auf Gott gefesselt, zwar Natur und Mensch und Welt und Geschichte in einem neuen Glanz erscheinen, doch der diesen Glanz als gefährliche Verblendung und Verführung erlebe. 8 Um diese Spannung zu überbrücken, wird dann - so Cassirer - bei Petrarca die Natur nicht um ihrer selbst willen gesucht und dargestellt: "... sondern ihr Wert liegt darin, daß der moderne Mensch in ihr ein neues Ausdrucksmittel (von Cassirer hervorgehoben) für sich selbst, für die Lebendigkeit und die Vielgestaltigkeit seines Innern gefunden hat." Das Naturgefühl des Dichters wäre dementsprechend zur "bloßen Folie des Selbstgefühls" herabgesunken, womit dem Augustinischen "Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas" (De vera religione, Kap. 39) und damit dem nach wie vor christlichen Selbstverständnis Rechnung getragen werden würde. 6 Jakob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Hrsg. v. L. Heinemann, eingeleitet durch Wilhelm von Bode, Berlin 1928, S. 296 f. mit Nachweisen. 7 Burckhardt, S. 279. Zum Originaltext vgl. Augustinus, Bekenntnisse. Lat.-dt. Eingeleitet und übersetzt von Thomas Bernhard. Erstmals 1955. Frankfurt am Main, 1. Aufl. 1987, S. 508. 8 Ernst Cassirer, Das Subjekt-Objekt Problem in der Philosophie der Renaissance. In: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig und Berlin 1927, S. 130-203, S. 151 f.
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Gegen diese Interpretation ließe sich einwenden, daß damit der vergegenständlichende Bezug von Innen und Außen, als ein die Neuzeit tragender, schon vorausgesetzt ist, woran sich der Einwand des Anachronismus anschließen müßte. Weit bedeutender ist jedoch die "Blindheit" Cassirers für die erschließende Kraft eines "Naturgefühls", die mit der Fixierung auf die Natur als einem "Außen", also einem Gegenstand, von vornherein verhüllt bleibt. Diese "Blindheit" hat jedoch nichts mit einer Unachtsamkeit des Denkers und hervorragenden Kenners der Geistesgeschichte der Renaissance zu schaffen. Sie liegt vielmehr in der erkenntnistheoretischen Grundstellung Cassirers begründet. Darauf wird noch einzugehen sein. Für die folgende Entfaltung der metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen durch Pico bleibt festzuhalten, daß Petrarcas Dokumentation einer Bergbesteigung offenbar mit der stimmungshaft erschlossenen Landschaft zugleich eine Erschließung des Selbst bezeugt, eine Erschließung, die über das bloße "Ich" hinausgehend, die jene Epoche erschütternde Frage nach dem Wesen des Menschen betrifft. Pico beginnt nicht mit der ausdrücklichen Stellung dieser Frage. 9 Stattdessen stellt er die These an den Anfang: "Magnum miraculum est homo" - ein großes Wunder ist der Mensch. Es gibt auf dieser Erde nichts Staunenswerteres (nihil admirabilius) zu betrachten (spectari) als den Menschen. Dieses "nihil admirabilius" kennzeichnet die Stimmung, innerhalb derer Pico philosophiert. Der Mensch ist das Anzustaunende. Damit steht dieses Denken in seinem gestimmten Eröffnen in einem unübersehbaren Zusammenhang mit dem "thaumazein", dem Staunen, als der tragenden Stimmung des Platonischen Denkens: Hier wie dort geht es um die Eröffnung des Seienden als solchen in seinem Was- und Wie-Sein, wie es sich dem Staunenden auftut. 10 "Außer dem Menschen gibt es nichts Großes auf Erden." Und: "Nichts ist groß im Menschen außer der Geist." Diese weiteren Kennzeichnungen Picos ll machen deutlich: Der geistige Mensch ist für ihn der eigentliche Mensch. Nicht der sichtbare, körperliche Mensch ist ihm wahrer Mensch. Er ist bloßes Schemen, ein Schatten, wie alles Irdische: 9 Giovanni Pico delta Mirandola, De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen). Hrsg. u. eingeleitet von August Buck, übersetzt von Norbert Baumgarten, Hamburg 1990, S. 3 ff. !O Zum Staunen, der Grundstimmung des ersten Anfangs des Denkens, vgl. Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte "Probleme" der "Logik". Hrsg. v. F.-W. v. Herrrnann, Gesamtausgabe Bd. 45, Frankfurt am Main 1984, S. 169: "Der er-staunende Mensch ist ja schon der Er-staunte, will sagen: durch diese Grundstimmung in sein von ihr gestimmtes Wesen versetzt. Das Er-staunen versetzt den Menschen aus der wirren Unentschiedenheit des Gewöhnlichen und Ungewöhnlichen in die erste Entschiedenheit seines Wesens." 11 Monnerjahn, G. Pico della Mirandola, Ein Beitrag zur philosophischen Theologie des italienischen Humanismus, Wiesbaden 1960. Zu den Zitaten aus Picos "Disputationes adv. Astrologos" und "Heptaplus", S. 33 f., S. 100.
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"Neque enim homo (... ) hoc quod videmus fragile et terrenum, sed animus est sed intellectus ... " 12
Diese Bestimmung unterscheidet Pico einerseits von der thomanischen Theologie 13 , die eine substantielle Verbindung der Seele mit dem Körper annimmt, andererseits von dem Humanismus Manettis, der gerade den christlichen Standpunkt von der "miseria hominis" mit der ebenfalls christlichen, aus der Gottessohnschaft des Menschen abgeleiteten Lehre von der "dignitas hominis" ergänzt: Das erste Buch seines Traktates "De dignitate et excellentia hominis" (1452 dem König von Neapel vorgelegt) gleicht einer anatomischen Abhandlung. Sie stellt die, auch gegenüber den anderen Lebewesen, vortreffliche Beschaffenheit des menschlichen Körpers in all seinen Bauteilen dar und versteht sich damit als Lobpreisung seines Schöpfers, "daß die Gefäße unserer Seele so beschaffen und so wunderbar sind.,,14 Mit der Hervorhebung der Schönheit des menschlichen Körpers geht bei Manetti eine Hochschätzung von dessen künstlerischer Darstellung und eine sich gegenüber der traditionellen Theologie absetzende Hochschätzung der Geschlechtsliebe einher. Prüfstein der inneren Konsequenz seines Denkens ist der Schmerz, dem Manetti in der Trostrede auf seinen früh verstorbenen Sohn eine positive Bedeutung beimißt. Das innerhalb des nach wie vor christlichen Renaissancedenkens auftretende Spannungsverhältnis zwischen der "miseria hominis" und der "dignitas hominis" erfahrt im deutschen Protestantismus, besonders bei Luther und dann bei Kant, eine Verschiebung zu Gunsten der "miseria hominis". Zweifellos entspricht Manettis Thematisierung des leiblichen Menschen und seine Hochschätzung des Irdischen unter Einschließung der traditionell als Sündenstrafe interpretierten Arbeit in weit höherem Maße dem herrschenden Verständnis der Renaissance als Kulturepoche. Dennoch rechtfertigt sich die Konzentration auf den Philosophen Pico aus dem systematischen, metaphysischen Charakter seines Denkens, das die Grundstruktur eines Menschenverständnisses zum Aufweis bringen wird, weIches über die metaphysischen Grundstellungen der Neuzeit weiter vermittelt und entfaltet, in seinen Auswirkungen heute noch bestimmend wirkt. Nach der Voranzeige der Wesensbestimmung des Menschen als "animus" und "intellectus" bei Pico gilt es, einen Blick zu werfen auf dessen Thematisierung des Seienden im Ganzen, die in Kohärenz zur Wesens bestimmung 12 Pico della Mirandola, Opera Omnia. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Basel 1557. Con una introduzione di Cesare Vasoli. Hildesheim 1969, Bd. 1, S. 22. Zum vollständigen Zitat und der Übersetzung vgl. unten, § 8, S. 106 der Untersuchung. Es ist dem Schöpfungskommentar "Heptaplus" entnommen. 13 Thomas v. Aquin, Summa Theologiae I, Quaestio LXXV: Zu dem Begriff der Person gehört bei Thomas die leibliche Verfassung: "Homo ... qui ex spirituali et corporali substantia componitur." 14 Manetti, S. 35; sowie die Einleitung von August Ruck, S. XII.
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geschieht und diese Wesensbestimmung zugleich zur weiteren Entfaltung bringt: "Summus pater architectus Deus" hatte, nachdem er diese Welt, seinen Tempel, nach den Gesetzen verborgener Weisheit errichtete, den Himmel mit ewigen Seelen belebte und die schmutzigen Teile ("excrementarias ac feculentas") der unteren Welt mit allerlei Getier anfüllte, den Menschen geschaffen, "damit er die Gesetzmäßigkeit eines so großen Werkes erwöge, seine Schönheit liebe und seine Größe bewundere.,,15
Im Unterschied zu dem lebensoffenen Humanisten Manetti empfängt der Mensch seine Würde nicht aus seinen handwerklichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten, sondern aus seiner Bezogenheit zu dem Seienden im Ganzen - mundus (Welt) - dessen Abbild er "ist" als Mikrokosmos gegenüber dem Makrokosmos, womit ein altes Denkmodell aufgegriffen wird. 16 Diese Allbezogenheit erhebt den Menschen noch über den Engel, weil er in sich nicht nur seine eigene Natur und diejenige des Engels, sondern auch alle anderen im Universum gesetzten Naturen umschließt. Als "terrestrium et caelestium vinculum et nodus", Band und Knoten der irdischen und himmlischen Sphären, obliegt dem Menschen die Rückführung und Einigung der von Gott ausgehenden Mannigfaltigkeit. Alle Wesen soll der Mensch in sich aufnehmen und zu Gott 17 zurückführen. Diese bevorzugte Stellung des Menschen wird erst deutlich, wenn man sich den drei stufigen, im Sinne des Platonismus "vergeistigten" Charakter des Universums vor Augen hält. Pico unterscheidet (in seinem Genesiskommentar "Heptaplus") zwischen dem "mondo intelligibile" (mundus angelicus), d.i. die Welt rein geistiger Wesen und der Welt der Himmelskörper (mundus caelestis) und als dritter rangniedrigster Stufe der "sublunaren" Welt, "pars mundana". Die Rangniedrigkeit dieses schmutzigen Teils des Universums ("feculentae partes inferioris mundi") ergibt sich aus der platonistischen Setzung, daß das innerste Wesen, das Sein des Universums, geistiger Natur ist. Als "mundus angelicus", "mondo intelligibile" ist sie die zunächst hervorgebrachte Welt, von der die beiden anderen lediglich neue "Verwirklichungen" (Monnerjahn) sind. Die "mutua continentia mundorum" bedeutet, daß Alles in jeder der drei Welten jeweils enthalten ist. Zum Beispiel das Feuer: In der beschmutzten, sinnlich-körperlichen, der sublunaren Welt ist es ein körperliches Element. In der Welt der Himmelskörper existiert es als Sonne. In der Engelwelt entspricht dem Feuer der Erde und der Sonne des Himmels der Intellekt der Seraphim, die in Liebe zu Gott brennen. Pico: "Qui Seraph, idest amator est, in Deo est, et Deus in eo, immo Pico della Mirandola, Oratio, S. 4/5. Die Hervorhebungen von mir. Einige Nachweise finden sich in der "Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie", Artikel "Makrokosmos". Hrsg. v. Jürgen Mittelstraß. Mannheim, Wien, Zürich 1984, Bd. 2, S. 748 ff. 17 Monnerjahn, S. 25. 15
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et Deus et ipse unum sunt." Übersetzt 18 : "Wer Seraph, das heißt ein Liebender ist, der ist in Gott und Gott in ihm, ja vielmehr sind Gott und er eins". Gleiches gilt für den "Cherub", den Betrachter und den "Thronus", den gerechten Richter. Es sind Annäherungen, ja Vereingungen des nach dem höchsten strebenden Menschenwesens mit Gott. Pico: "Dedignemur terrestria, caelestia contemnamus, et quicquid mundi est denique posthabentes, ultramundanam curiam eminentissimae divinitati proximam advolemus." Übersetzt 19 : "Laßt uns die irdischen Dinge verschmähen und die Himmelskörper verachten, und indem wir alles zu dieser Welt Gehörige schließlich hinter uns lassen, dem überweltlichen Hof zueilen, welcher der erhabenen Gottheit am nächsten ist." Die Allbezogenheit des Menschen zum Seienden im Ganzen ist Grund für dessen Würde, nur weil er diesen Bezug in Freiheit vollzieht. Im Unterschied zur übrigen Natur, die von im voraus festgelegten Gesetzen von Gott gebändigt wird, soll der Mensch, ohne jede Zügelung eingeengt, nach seinem Willen sich seine eigene Natur selbst bestimmen. Willensfreiheit ist Selbstbestimmung. Dieser freien Selbstbestimmung hat Gott den Menschen übergeben und ihn damit als verantwortlich für sich selbst erschaffen: "Definita ceteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur. Tu, nullis angustiis coercitus, pro tuo arbitria (hervorgehoben v. mir), in cuius manu te posui, tibi illam (naturam! Anm. v. mir) praefinies?O Spiegelbildlich zu dem Entwurf des Seienden im Ganzen (Makrokosmos), das in seinem Wesens kern übersinnlich ist ("mundus angelicus", "mondo intelligibile"), hat der Mensch als Mikrokosmos die Möglichkeit, sein Wesen selbst zu gestalten und zu vervollkommnen. Indem er seine sinnlichen Keime entfaltet, degeneriert er zum Tier. Indem er die Keime der Vernunft hegt und pflegt, wird er ein himmlisches Wesen werden; sind es schließlich geistige Keime, dann ein Engel und Gottes Sohn: "... et si nulla creaturarum sorte contentus in unitatis centrum suae se receperit, unus cum Deo spiritus factus, in solitaria Patris caligine qui est super omnia constitutus omnibus antestabit." Übersetzt: "Wenn er sich, mit keinem Los der Geschöpfe zufrieden, ins Zentrum seiner Einheit zurückgezogen hat, wird er, eines Geistes mit Gott geworden, in der einsamen Dunkelheit des über allen stehenden Vaters alles überragen.,,21 Als "Bildhauer" seiner selbst steht der sich selbst gestaltende Mensch, den Pico wegen seiner W andlungsfähigkeit mit einem Chamäleon vergleicht, im ständigen SpannungsPico, S. 12/13. Die Übersetzung ist von Baumgarten. Pico, S. 10/11. Baumgartens Übersetzung, weil zu ungenau, von mir geändert. 20 Pico, S. 617. Mit "arbitrium" nennt Pico zweifellos seinen Begriff der Freiheit als Gestaltungsfreiheit des sittlichen Selbst! 21 Pico, S. 617. Baumgartens Übersetzung wurde von mir nur wenig geändert. 18
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feld zwischen Sinnlichkeit und Geist. Dieses Spannungsverhältnis ist gerade das für uns Entscheidende, denn darin tritt Picos Orientierung am Leitfaden des Vernünftigen Lebewesens zutage. Diese doppelt determinierende Wesensbestimmung des Menschen als "animal rationale", die das Wesen des Menschen aufspaltet in eine leiblichsinnliche Animalitas und in eine geistig-seelische Ratio geht urspünglich auf Platons Ideenlehre und Aristoteles' Definition des Menschen als "zoon logon echon" zurück?2 Diese grundlegende Wesensbestimmung, die, weiter entfaltet, den Gang der neuzeitlichen Geschichte bis zur technisch-wissenschaftlichen Gegenwart bestimmen soll, erfährt bei Pico eine gewisse Zuspitzung: In seiner leiblich-sinnlichen Verfassung erfährt der Mensch sein eigenes Unwesen. Aus der "wüsten Einöde unseres Körpers,,23 werden wir erst durch den Tod befreit. Das platonistisch begriffene Wesen des Menschen kann nicht im Zerbrechlichen, Wechselhaftigen, Irdischen liegen. Nur insofern der Mensch Geisteswesen ist, nur insofern er seine Leiblichkeit und Sinnlichkeit überwindet und hinter sich läßt, hat er Anteil am Sein, das nur im Beständigen "ist" und nicht im Wechselhaften, Flüchtigen. Nur im Geistigen, im "Rationalen" vermag der Mensch seine Wesenswürde zu entfalten. Dieser Dualismus, dessen Problematisierung diese Untersuchung durchgängig begleiten wird, ist, um dies vorausgreifend anzuzeigen, zutiefst fragwürdig. Erst mit der Heraufkunft des neuzeitlichen, naturwissenschaftlichen Weltbildes zeigt und zeitigt er seine eigentliche Brisanz: Erscheint der Geist - ratio - als das eigentlich den Menschen in seiner Animalitas Ausmachende, bzw. Auszeichnende, so gilt nur die vergeistigte Welt, jetzt nicht mehr, wie bei Pico, der platonistisch entfaltete mondo intelligibile, sondern die aufgrund einer idealtypisierenden Abstraktion von der "Lebenswelt" (Husserl) more geometrico erschlossene vergegenständlichte "Welt" der exakten, messenden Naturwissenschaften als die eigentliche, wesentliche, wahre Welt?4 Deren Thema, die vergegenständlichte Natur, ist für Pico allerdings noch nicht erfahrbar. Wie viele italienische Humanisten seiner Zeit hängt er einem magischen Naturverständnis an, das, wie Cassirer25 betont, den Weg der neuzeitlichen Naturwissenschaften eher aufhielt als förderte: Die magisch erfahrene und "erforschte" Natur verweigert sich der Vergegenständlichung. Sie ist nicht "Objekt" eines vorstellend-vergegenständli22 23 24
Aristoteles, Politik A2, 1253a, 10; Protreptikos, Fragment B66. Pico, S. 22/23. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die tranzendentale
Phänomenologie. Hrsg. von Walter Biemel, Husserliana VI. Den Haag, 2. Auf!. 1962, S. 54 ff. 25 Cassirer, Das Subjekt-Objekt Problem in der Philosophie der Renaissance. In: Individuum und Kosmos, S. 155 ff., S. 159 ff.
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chenden Verhaltens, wie dem Messen und Experimentieren der in der späten Renaissance keimenden neuzeitlichen Naturwissenschaft, womit an den großen Namen Galilei erinnert sei. Fehl geht daher August Buck26 mit seiner Behauptung, der magische Naturforscher habe "dank der totalen Erkenntnis der Natur die Herrschaft über sie erlangt" und sei derjenige, der "sie ("die Natur") nach seinem Willen (hervorgehoben v. mir) formt". Diese Uminterpretation des Renaissancehumanisten im Sinne moderner Naturbeherrschung und Naturmanipulation ist eine Entstellung: Picos Sinngebung der Naturerforschung ist eingebettet in dessen platonistische Pädagogik der Seelenläuterung. Unter Verweis auf das Alte Testament: "Pleni sunt caeli, plena est omnis terra maiestate gloriae tuae" (Jesaja 6,3) bemerkt Pico, daß nichts Religion und Gottesdienst mehr fördere ("promovet") als die "ständige Betrachtung der Wunder Gottes" ("assidua contemplatio mirabilium Dei,,).27 Pico unterscheidet - Unter Verweis auf Plotin - zwischen einer guten Magie, die als Dienerin der Natur nicht deren Schöpfer ist ("naturae ministrum esse et non artificem Magum"), und einer solchen, die den Menschen "üblen Mächten" ("improbis potestatibus") als "willfährigen Sklaven" ("obnoxium Mancipatum") unterwirft. Im Unterschied zu dieser VOn Gott wegführenden Magie, die nicht einmal die Bezeichnung "Kunst" oder "Wissenschaft" verdiene, erforscht die gute Magie die "Sympatheia", den "consensus universi", den sie in der Mannigfaltigkeit der göttlichen Geheimnisse schauend, "aus dem Verborgenen ans Licht ruft" ("de latebris evocans in lucem"). Entgegen Bucks entstellender Behauptung eines Zusammenfallens von Naturerforschung und Naturbeherrschung bei Pico, die, wie sich noch zeigen wird, den metaphysischen Entwurf der "Natur" durch die neuzeitliche Naturwissenschaft tatsächlich kennzeichnet, "wirkt die Magie nicht so sehr Wunder, wie sie der hevorbringenden Natur emsig dienstbar ist" ("non tarn facit miranda quam facienti naturae sedula famulatur,,).28 Freiheit ist bei Pico als Gestaltungsfreiheit des sittlichen Selbst noch längst nicht Gestaltungsfreiheit im vergegenständlichenden, neuzeitlichen Sinne, die ein Objekt in seiner Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit und Vernutzbarkeit aufgehen läßt. Sie ist vielmehr sittlich-geistige Freiheit des - im platonistischen Sinne - nach Vervollkommnung Strebenden. Der Naturbetrachtung bzw. Naturphilosophie kommt im Rahmen dieser Vervollkommnung die Bedeutung eines Zwischenschrittes zu: Nachdem sich die Seele mittels der Moral von der Unreinheit des Leibes, "in dessen Wüste wir 26 27 28
Pico, Einleitung von August Buck S. XXII. Pico, S. 16/17, zum Zitat: S. 56/57. Pico, S. 54/55. Baumgarten übersetzt "facienti naturae" mit "der wirkenden
Natur" zu modem, weil hiermit "Natur" als Gewirk einer Wirkung, als neuzeitliches Denk-Schema, den Renaissancebegriff der "Natur" verfälscht.
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wohnen", gereinigt hat, mittels der Dialektik Seeschärfe erlangt hat, soll sie durch die Naturbetrachtung dazu in Stand gesetzt werden, "das noch schwache Licht der Wahrheit, gleichsam die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, auszuhalten." Dieser Zwischenschritt hat lediglich die vorbereitende Aufgabe, die Seele zu befähigen, "wie die Adler des Himmels den strahlendsten Glanz der Mittagssonne" - das göttliche Wissen der Theologie "tapfer zu ertragen. ,,29 Pico vergleicht die Tätigkeit des Naturforschers mit einem durch Plutarch überlieferten Bild der ägyptischen Mythologie: Gleich dem zerhackten und dann wieder zusammengefügten Leib des Fruchtbarkeitsgottes Osiris, soll die Natur mit "Titanischer Gewalt" zerstückelt, dann aber wieder mit "Phoebischer Macht" zusammengefügt werden. Mit der Macht des Sonnenund Lichtgottes Appoll (Phoebus) soll die Mannigfaltigkeit der zergliederten Natur wieder zur Einheit zurückgeführt werden?O Indem er dieses dichterische Bild aufgreift, verbleibt Pico innerhalb seiner oben bereits skizzierten metaphysischen Grundstellung. Als "Band und Knoten" der Mannigfaltigkeit des Seienden obliegt dem menschlichen Geist die Aufgabe, die von Gott ausgehende Mannigfaltigkeit wieder zur Einheit, d.h. zu Gott zurückzuführen. Ein Vorgang, der an eine Kreisbewegung erinnert. Als Mitte der Welt und Mittler zwischen Welt und Gott soll der Mensch die verströmende Vielfalt des Universums in sich einigen und zusammenbinden, um sie zu Gott zurückzuführen. Diese einigende Aufgabe impliziert nicht, wie Monnerjahn gegen Cassirer und Garin deutlich macht, eine Identität von Geist und Gott im Sinne des deutschen Idealismus. 3l Die einigende Funktion des Menschen in Hinblick auf das Seiende im Ganzen verschafft ihm allerdings seine Gott-ähnliche Stellung: Er hat das Ziel "unus cum Deo spiritus" zu werden. Die 1485/86 von dem kaum dreiundzwanzigjährigen Denker verfaßte "Oratio de hominis dignitate" ist der Sprachgestalt nach eher als dichterischer denn als philosophischer Text anzusprechen. In kunstvollem, wieder zum Leben erweckten klassischen Latein abgefaßt, ist die Rede reich an Bildern und Allegorien. Es wurde jedoch gesagt, daß die von Pico geleistete Grundlegung der Menschenwürde den Gedanken der Wesens würde des Menschen innerhalb eines wohldurchdachten, metaphysischen Systems entfaltet: Dem Leitfaden des ersten Anfangs der abendländischen Philosophie folgend, bestimmt sich diese Wesenswürde aus dem Bezug des Menschen zum Seienden im Ganzen, als dessen "Band und Knoten" er fungiert, indem er dessen Einheit erneuert. Hinsichtlich desjenigen Seienden, was er Pico, S. 16/17, S. 30/31. Pico, S. 16/17. Zu dem Osiris-Mythos vgl. Plutarch, Moralia V., griech.-engl., übersetzt von F. L. Babbitt, Cambridge, London 1969, S. 7-191. 29
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Monnerjahn, S. 29.
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selbst ist, bestimmt sich dieser Bezug als freier. "Frei" bedeutet Freiheit zur "Vervollkommnung" im Sinne einer platonistischen Negation des Leibes. Hinsichtlich desjenigen Seienden, das er nicht selbst ist, der Natur, bestimmt sich dieser Bezug als dienender: Die Natur soll in ihrem geheimnisvollen Eigenwesen geachtet und in Respekt zu den daraus resultierenden Grenzen erforscht werden. Aber beide Bereiche, Mensch und Natur, unterliegen zugleich einer eigentümlichen Abwertung: Als Bereiche innerhalb der vergänglichen, wechselhaften, sublunaren Welt gehören sie der rangniedrigsten der drei Welten des Universums an, rangniedriger noch als die Welt der Himmelskörper (mundus caelestis), rangniedriger vor allem als der mondo intelligibile (mundus angelicus). Zu dieser "Welt rein geistiger Wesen" steht allerdings wiederum das Wesen des Menschen in einem bestimmenden Bezug, das durch diesen Bezug zugleich mit der Erniedrigung aus der Zugehörigkeit zur sublunaren Welt eine charakteristische Erhöhung erfährt: Nur insofern der Mensch sichtbar und Leib ist, gehört er der vergänglichen, beschmutzten Welt an. Dort "ist" er nur als Schemen, als Schatten seiner selbst: "Neque enim homo (... ) hoc quod videmus fragile et terrenum, sed animus est, sed intellectus ... ,,32 Erst insofern der Mensch "Geist" i. S. von "intellectus", Erkenntnisvermögen "ist", kommt ihm Wesenswürde zu. Eine Position, die erst aus Platons Bestimmung des Seins des Seienden als "idea", bzw. "ontos on" verständlich wird. Diese Festlegung des Seins, die allem Seienden erst das Offene seiner beständigen Anwesenheit eröffnet, ist von einer bestimmten, vorgreifenden Festlegung des Wesens des Menschen aus getroffen worden: Es handelt sich um die bei Platon noch nicht ausdrücklich ausgesprochene, durch Aristoteles überlieferte, Wesensbestimmung des Menschen als "Vernünftiges Lebewesen", dem "zoon 10gon echon"; in der auf Seneca zurückgehenden machtvollen Übersetzung: das "animal rationale". Picos Begriff der Vernunft und damit unmittelbar verknüpft sein Begriff des Menschen und dessen Würde und Freiheit darf keinesfalls - und dies ist schärfstens zu beachten! - mit dem neuzeitlichen Begriff der Vernunft und der damit unmittelbar verknüpften cartesischen Festlegung des Menschen als Subjekt zusammengeworfen werden: Handelt es sich bei Pico doch um im Menschen angelegte "germina intellectualia", "Keime der Vernunft", im Sinne des Neuplatonismus, der nicht einem vergegenständlichenden, den exakten Naturwissenschaften entgegenkommenden, sondern einem theologischen Vernunftsbegriff anhängt. Der vergegenständlichende Vernunftsbegriff der Neuzeit, der noch näher erläutert werden wird, steht allerdings in einer deutlichen Affinität zu dem theologischen Vernunfts begriff des Renaissancedenkers. Beide Begriffe setzen den Menschen als vorhandenes Lebewesen voraus, das gegenüber Pflanze und Tier mit einem Hinzu32
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Opera Omnia, Bd. 1, S. 22.
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kommenden begabt ist: der freilich ganz unterschiedlich begriffenen Vernunft. Diese eröffnet dem durch sie ausgezeichneten Lebewesen "Mensch" ein Reich ewigen, beständigen Seins - sei dies moralisch-theologisch erfahren wie bei Pico, oder vergegenständlichend-mathematisch wie später bei Descartes. In bei den Setzungen wird die leibliche Verfassung des Menschen dem Animalisch-Tierhaften und dieses dem un-seienden Bereich der "Welt" zugeordnet und damit die sinnlich wahrnehmbare Mannigfaltigkeit der bloß scheinbaren, vergänglichen "Lebenswelt" zum bloßen Schatten, zur täuschenden Nichtigkeit herabgewürdigt. In beiden Setzungen bildet die Vernunft den Bereich des Offenen, in dem erst ein Seiendes ist, was es ist und wie es ist. Dieses durch die Vernunft dergestalt bestimmte Offene liefert insofern das Seiende im Ganzen einer "Vennenschlichung" - um vorgreifend einen Begriff Heideggers einzuführen - aus, insoweit Vernunft als menschliche Vernunft diktatorisch über Wahrheit und Unwahrheit eines jeglichen Seienden entscheidet. 33 Soweit kann die noch weiter zu verfolgende "Anthropomorphismus"-Problematik hier nur angedeutet werden. Es bleibt zu fragen: Inwiefern ist es möglich, auf der Grundlage von Picos Menschenwürdekonzeption zu einem allgemeinen Begriff des Menschenverständnisses der Renaissancephilosophie vorzudringen? Diese Frage ist für den metaphysikgeschichtlichen Aspekt unserer Aufgabe von großer Bedeutung. Handelte es sich bei Pico bloß um eine interessante, metaphysische Position inmitten einer diffusen Mannigfaltigkeit von Denkansätzen zwischen Mittelalter und Neuzeit, dann wäre es nicht möglich, einen metaphysikgeschichtlichen Zusammenhang zwischen jener Epoche und unserer von Technik und Naturwissenschaft beherrschten Gegenwart herauszustellen. Es bliebe alles Episode. Und tatsächlich bietet gerade die frühe Renaissance eine kaum übersehbare Vielfalt an Ansätzen zu mehr oder weniger selbständigen Denkentwürfen. So urteilt Kristeller: ,,( ... ) die Philosophien des dreizehnten und des siebzehnten Jahrhunderts stehen auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien. Das Denken der Renaissance hingegen hat gemeinsame Probleme und gemeinsame Bestrebungen, aber es ennangelt gemeinsamer Prinzipien oder Lösungen. ,,34 Träfe Kristellers Resurne zu, wäre es auch in seinem Sinne unmöglich, von einem "Renaissance Thought", einem Denken oder besser: von einem Grundgedanken der Renaissance zu sprechen. Es wäre schon um Willen der Frage der Legitimität des Begriffes "Renaissance Thought", dann aber für die hier vor allem interessierende Frage nach der möglicherweise grund33 Heidegger, Besinnung, Gesamtausgabe Bd. 66. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt am Main 1997, S. 159-163. 34 Kristeller, Ficino and Pomponazzi on the Place of Man in the Uni verse. In: Studies in Renaissance Thought and Letters, Rom 1956, S. 284.
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legenden Bedeutung dieses Denkens für den modemen Begriff des Menschen und der Menschenwürde bedeutsam, inwiefern sich so etwas wie eine Grundstruktur des Menschenverständnisses innerhalb dieser Denkpositionen freilegen läßt. Hiermit verknüpft ist ein weiteres Problem: Ganz klar ist das Lebensgefühl der Renaissance nicht ausschließlich und vielleicht noch nicht einmal vorrangig das Werk des im engeren Sinne philosophischen Denkens der Zeit: Die Rückwendung zur Antike, bzw. der ungeheure Versuch einer Wiedergeburt der abendländischen Kultur aus einer bewußten Erneuerung der Antike ist das die italienische Renaissance Auszeichnende. Erneuerungen, wie die "karolingische Renaissance", eine Erfindung der Mediaevistik, adaptierten bloß einzelne Elemente der Antike. Hier geschieht aber eine bewußte und übergreifende Erneuerung als gewollte Wiedergeburt?5 Die "Wiedergeburt" konnte naive und dramatische Formen annehmen, wie die Revolution, die die Auffindung einer alten Bronzetafel mit einem Fragment der "Lex de imperio Vespasiani" durch Cola di Rienzo (1314-1354) in Rom auslöste. Man erhoffte sich von diesem Umsturz, der die Unterstützung des Papstes fand, eine Befreiung von der Tyrannei des Stadtadels durch eine Restauration des antiken Prinzipats. 36 Die "Wiedergeburt" führte die bildende Kunst auf eine höchste Höhe, so in Botticellis Allegorie der Geburt der Venus. Das Gemälde steht als Rückwendung zur Antike für eine ganz neue, revolutionäre Erfahrung des Leibes. Das Mittelalter war nicht prüde. Stichwörter wie Badehaus oder Liebesgarten mögen genügen. Aber hier geschieht etwas neues: Indem die Einheit von Eros und Sexus als Gottheit erfahren wird, wird auch der sinnliche, leibliche Mensch vergöttlicht geschaut. Mit dem Zerfall des christlich-platonistischen Jenseits, wie ihn Machiavelli (1469-1527) in den "Discorsi" bezeuge 7 , geht eine Aufwertung des endlichen Lebens einher. Das ist der Bereich, auf den sich mehr und mehr aller Ehrgeiz und alle Erwartungen konzentrieren, die sich vormals an ein Übersinnliches, Jenseitiges geklammert haben. Innerhalb des daraus entstehenden politischen und künstlerischen Agons erfährt sich der Mensch gewandelt als uomo singulare. Das Individuum ist "entdeckt".38 Burckhardt 3S Kristeller, The Philosophie of Man in the Italien Renaissance. In: Studies in Renaissance Thought and Letters, S. 264. 36 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter 11. Hrsg. v. Schillmann 1926, S. 307-385. 37 Machiavelli, Discorsi - Gedanken über Politik und Staatsführung. Übers. u. erl. v. Rudolf Zorn. Stuttgart, 2. Aufl. 1977, S. 47 (Überschrift des XII. Kapitels): "Von welcher Wichtigkeit es ist, die Religion zu erhalten und wie Italien dies durch die Schuld der römischen Kirche versäumte und dadurch in Verfall geriet." 38 Interessant ist, wie der frühe Heidegger die Aufläsung der Individualität in der "absoluten Hingabe" und der "temperamentvollen Versenkung" in den "Erkenntnisstoff' bei dem Typus des mittelalterlichen Denkers gegenüber der Moderne betont.
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sieht gerade in dieser - von Michelet übernommenen - "Entdeckung des Menschen", in der erstmals der "ganze volle Gehalt des Menschen entdeckt und zutage" gefördert wurde, die gegenüber der gleichlaufenden "Entdekkung der Welt" größere Leistung der Renaissancekultur. 39 Im Unterschied zu Burckhardt geht es in unserer Untersuchung aber nicht um eine empirische Erforschung der Renaissancekultur als einer zentralen Epoche der als Kontinuum vorgestellten abendländischen Geschichte. Ziel ist vielmehr, den Ursprung des modemen Begriffes der Menschenwürde von seinen Wurzeln her freizulegen. Um die Fragestellung wieder aufzunehmen: Läßt sich eine Grundstruktur des Menschenverständnisses zumindest in einigen Zügen freilegen? Ein Vergleich Picos mit Ficinos und Pomponazzis Thematisierungen der Menschenwürde läßt eine solche Grundstruktur deutlicher hervortreten. Diese drei sind deswegen miteinander vergleichbar, weil sie als metaphysische Denker der "Leitfrage" nach dem Seienden als solchem und damit der Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen folgen. 4o Eine Grundstruktur soll vorerst sichtbarer gemacht werden durch die Heranziehung von der Menschenwürdekonzeption Marsilio Ficinos (14331499), dem Lehrer Picos in dessen letzten und fruchtbarsten Lebensjahren in Florenz, dem geistigen Zentrum des Abendlandes im Quattrocento. Dieser Mann war als Leiter einer platonischen Akademie und Schützling der Medicis die zentrale Persönlichkeit des Florentiner Renaissanceplatonismus. Es handelt sich dabei um eine Schule, die, über die Philosophie hinaus, sowohl auf die Wissenschaft als auf die bildende Kunst einflußreich wirkte. Auf die Verwurzelung der Ursprünge der neuzeitlichen Naturwissenschaften im Platonismus der Renaissance, wie sie unlösbar mit dem Namen Galilei verknüpft sind, kann hier nicht näher eingegangen werden. Als Beispiel für den Einfluß auf die Kunst könnte Sandro Botticellis (1444/45-1510) erwähnte "Geburt der Venus" dienen, die wohl von Ficinos Liebesmetaphysik beeinflußt ist. Es ist jedoch in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß Ficino der irdischen Liebe nur insoweit Wert beimißt, als sie zur Liebe ihres, von Ficino gesetzten, eigentlichen Gegenstandes, zur Liebe Gottes Vgl. Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, Tübingen 1916. Frühe Schriften, Frankfurt am Main, 1972, S. 140; S. 141 zur "Transzendenz" (d.h. hier: Gott), die den mittelalterlichen Menschen von der "rein menschlichen Attitüde gegenüber der Gesamtwirklichkeit" abhält, wie sie heute bestimmend ist. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, inwiefern der hier vage anklingende, später seinsgeschichtlich als "Anthropomorphismus" bedachte Sachverhalt schon Mittelalter und Renaissance betrifft. 39 Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 303 f. 40 Heidegger. Nietzsche Zweiter Band. Hrsg. v. Brigitte Schillbach, Stuttgart, 6. Auf!. 1998, S. 25 ff., sowie die oben zu Beginn des § 3 zitierten Nachweise aus Heidegger, Nietzsche Erster Band und den "Beiträgen zur Philosophie".
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hinführt. Den Geschlechtsakt vergleicht Ficino mit einem epileptischen Anfall, darin Hippokrates folgend, in dessen vom Griechischen her bestimmtem Sichtkreis die Epilepsie allerdings den Rang einer heiligen Krankheit hatte. Entsprechend der Wahrnehmungslehre in Ficinos Erkenntnismetaphysik, hat auch die Liebesmetaphysik das eigentliche Ziel, die Unabhängigkeit der Seele von den Einwirkungen der körperlichen Gegenstände zu beweisen. Um die Seele ("animus") frei und selbständig in ihrem Aufnehmen von Eindrücken denken zu können, nimmt Ficino einen feinen Stoff ("spiritus") an, der die Aufgabe hat, zwischen Körper und Seele zu vermitteln. Der Titel von Ficinos Hauptwerk, der "Theologia Platonica", soll uns daran erinnern, daß Ficino erstmals das gesamte Werk Platons übersetzt hat und in dieser Eigenschaft als Platonübersetzer bis in das ausgehende 18. Jahrhundert hinein, bis zur Einführung der historisch-kritischen Methode in der Philologie, eine Autorität blieb: "Wer die platonischen Schriften (... ) sorgsam liest, wird zwar alles erlangen, aber unter allen Dingen vorzüglich zwei, nämlich die fromme Verehrung des erkannten Gottes und die Göttlichkeit der Seelen, und hierin besteht die gesamte Erfassung der Dinge und alle Einrichtung des Lebens und die ganze GlÜckseligkeit".41 Für Ficino ist in der Erkenntnis Gottes die Erkenntnis der Dinge enthalten. Aus dem Zitat spricht eine Position, nicht allein des Platonismus überhaupt, sondern eines christlichen Platonismus, "welcher das intelligible Sein durch den Begriff der Gottheit ersetzt", wie Kristeller hervorhebt. KristeIler, welcher der Erforschung der Theologia Platonica ein Lebenswerk widmete, bemerkt die geistige Verarmung des Renaissanceplatonismus sowohl gegenüber Platon als auch gegenüber Plotin. "Von der begrifflichen Dialektik der platonischen Lehre oder von dem konkreten Aufbau der intelligiblen Welt Plotins ist bei Ficino so gut wie nichts übrig geblieben. Im Grunde beschränkt sich alles, was er über Ideen sagt, auf die Behauptung ihrer Existenz und auf die Feststellung einiger ontologischer Grundbeziehungen zwischen den Ideen und der Gottheit, den angeborenen Vernunftbegriffen, den empirischen Dingen. ,,42 Grund für die Verarmung ist das, was Kristeller "die Absorbtion der Ideenlehre durch den christlichen Gottesbegriff' nennt: Der Verarmung gegenüber dem antiken Denken entspricht ein neu gewonnener, metaphysischer Reichtum durch die Verwandlung der Platonischen Ideen im Sinne einer christlichen Gnadenlehre. Kristeller: ,,( ... ) wenn die ewige Seeligkeit ein Geschenk der göttlichen Gnade ist, die unmittelbare Gottesanschauung aber gleichsam einen Vorgeschmack des jenseitigen Lebens darstellt, so ist auch folgerichtig das menschliche Bewußtsein nicht aus eigener Kraft imstande, den Akt der höchsten Kontemplation 41 Aus dem Prooemium der Theologia Platonica zitiert nach der Übersetzung von Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt am Main 1972, S. 188. 42 Kristeller, Die Philosophie des M. Ficino, S. 223.
1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
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zu vollziehen; sondern es ist die Gottheit selbst, welche die strebende Seele zu sich emporzieht und erleuchtet. ,,43 Die Ideen sind Gedanken Gottes. Jede einzelne Idee ist ein Aspekt des göttlichen Seins, "eine Farbe in der Gesamtfülle des göttlichen Lichts. ,,44 Da das Ziel des sterblichen Menschen die reine Betrachtung Gottes ist, dies Ziel aber nur Wenige in diesem Leben erreichen können, ist die Unsterblichkeit der Seele ein notwendiger Bestandteil der göttlichen Gerechtigkeit: Die Behauptung und Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele ist das Grund- und Hauptanliegen der ganzen Theologia Platonica, deren Untertitel lautet: "De immortalitate animorum" und deren erstes Kapitel überschrieben ist mit dem Satz: "Si animus non esset immortalis, nullum animal esset infelicius homine". Wenn die menschliche Seele nicht unsterblich wäre, so würde kein Tier, verglichen mit dem Menschen, unglücklicher sein. 45 Die Unsterblichkeit der Seele ist daher für Ficino die eigentliche Grundlage menschlicher Würde, im Unterschied zu Pico, für den die Menschenwürde ihre Grundlage in der Gestaltungsfreiheit des Selbst hat. Da diese Gestaltungsfreiheit jedoch auch auf die kontemplative Annäherung Gottes und das Ziel einer Vereinigung mit Gott angelegt ist, kann von einem Gegensatz zu Ficino nicht die Rede sein, wohl aber von einer Akzentverschiebung. Betont Pico, der mit Ficino die universale Bestimmung des Menschen als "Band und Knoten der Welt" teilt, die Gestaltungsfreiheit des sittlichen Selbst, die es dem Menschen ermögliche, zum Tier herab- und zum gottähnlichen Wesen heraufzusteigen, sagt Ficino über die Seele, das "gößte aller Wunder" im Ganzen des Seienden: "Hoc maximum est in natura miraculorum. Reliqua enim sub Deo unum quiddam in se singula sunt, haec omnia simul (... ) ut merito dici possit centrum naturae, universorum medium, mundi series, vultus omnium nodusque et copula mundi.,,46
Erfährt er mit diesem die Übernahme der alten Vorstellung des Menschen als Mikrokosmos, der alle Bereiche des Universums, des Makrokosmos in sich vereinigt, so wird auch die mit Pico vergleichbare Akzentuierung der zentralen Stellung des Menschen deutlich: Er ist "vultus omnium", das Antlitz der Dinge, die durch ihn erst aufgeschlossen und damit "wahr" werden. Er ist damit "nodus et copula", also Knoten und Band der Welt ("mundi series" ist mit "Verknüpfung der Welt" wiederzugeben), indem er den Bereich der sinnlich erfahrbaren Natur mit dem übersinnlichen Bereich der Ideen, und das heißt für den Renaissanceplatonismus: Gottes - verbindet. S. 228 f. S. 229. 45 Marsilio Ficino, Opera Omnia. Eingel. v. Paul Oskar Kristeller, m. e. Vorwort von Mario Sancipiano. 2 Bde. Turin 1962 (Nachdruck der Ausgabe Basel 1576), Bd. I, S. 79. 46 Ficino, Opera Omnia, Theologia Platonica, Bd. 1, S. 121. 43
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Pico nennt den Menschen, das "große Wunder", "terrestrium et caelestium vinculum et nodus", also "Band und Knoten der irdischen und überirdischen Bereiche,,47. Nachweislich hat Ficino das plotinische Schema abgeändert, um diese zentrale Stellung dem Menschen zuzuweisen und damit an den nichtphilosophischen Humanismus anzuknüpfen, mit seiner starken Hervorhebung der Stellung des Menschen, so bei Manetti. 48 Der betont christliche Charakter seiner Konzeption ist allerdings mit der leitenden Grundannahme der Unsterblichkeit der Seele gegeben: Diese ist schon deswegen als heilsbedürftig gesetzt, womit die Notwendigkeit einer Vervollkommnung aus eigener Kraft - das Grundmotiv in Picos "Oratio" über die Würde des Menschen bei Ficino entfällt. Die reine, unbegrenzte Kontemplation Gottes ist als höchstes Ziel des Menschen nicht, wie die geistige und sittliche Vervollkommnung bei Pico, als zu ergreifende Möglichkeit in die Hand des Menschen gelegt, sondern als Frucht der Unsterblichkeit dem Heilswirken Gottes anheimgegeben. Dieser entscheidende Unterschied zwischen den bei den Denkern zeigt sich auch in der Terminologie: Spricht Ficino dort, wo er vom Menschen spricht, durchweg von der Seele ("animus"), so heißt es bei Pico schlicht "homo". Das innere Spannungsfeld der Renaissancephilosophie wird deutlich, wenn Ficinos Denken, das aus der grundlegenden Setzung der Unsterblichkeit der Seele seine innere Gesetzmäßigkeit empfängt, die dann die konkreten Bereiche der Erkenntnis- und Liebesmetaphysik und der Ästhetik durchformt und prägt, verglichen wird mit dem Denken des Arztes und Aristotelesinterpreten Pietro Pomponazzi (1462-1524): Entgegen den Florentiner Platonikern ist ein philosophisch-logischer Beweis der Unsterblichkeit der Seele nicht möglich. Offenbarungswissen und das Wissen der Philosophie müssen streng unterschieden werden (Tractatus de Immortalitate Animae49 , 1516). Pomponazzi verteidigt daher die diesseitige Legitimation der Tugend, die sich als Ziel selbst genug sein muß, - wie dementsprechend Sünde an sich schon Bestrafung des Sünders ist. Was verbindet die scheinbar Geschiedenen? Der thematische Schwerpunkt. Angesichts der Vielfalt der Denkansätze legitimiert der grundlegende thematische Schwerpunkt des Menschen und seiner Würde und Freiheit allein den Begriff eines Renaissancedenkens, als ein durch dieses Thema gedanklich vereinigtes Denken ("Renaissance Thought"). So wie das "Ich" im 47 Pico, Heptaplus, Opera Omnia, Bd. I, S. 39: "Homini mancipantur terrestria, homini favent caelestia, quia caelestium et terrestrium vinculum et nodus est ... " 48 Kristeller, Acht Philosophen der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, S.38. 49 Pomponazzi, Tractatus de immortalitate animae. Übers. u. eingel. v. B. Mojsisch (Lat.-dt.), Hamburg 1990.
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I. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
Zentrum der Literatur steht, der Brief zum Zeugnis der Individualität des Verfassers wird, gelangt der Mensch in das Zentrum der Betrachtung: Eine philosophische Theologie (Ficino) nimmt jetzt nicht mehr ihren Ausgang von Gott, wie die Summa Theologiae des Thomas von Aquin, sondern von der Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele. Es ist eine weittragende Verengung des Renaissance-Begriffes, wie er von Burckhardt geprägt wurde, mit seiner Lieblingsidee vom "Weiterklingen des uralten Saitenspiels" der antiken Kultur, den nach wie vor tragenden Gehalt des Christlichen für diese Epoche zu verdecken: Ein Gehalt, der allerdings eine entscheidende thematische Umformung von der mittelalterlichen Gottesmetaphysik hin zum Menschen erfährt. Wie wegweisend ist diese Neu- "Entdeckung" des Menschen? Im Folgenden soll versucht werden, diesen Sachverhalt zu klären anhand einer Auseinandersetzung mit dem Gespräch Ernst Cassirers mit Pico della Mirandolas "Oratio". Am Anfang von Cassirers Untersuchung 50 , die er eine "Studie über die Ideengeschichte der Renaissance" nennt ("A Study in the History of Renaissance Ideas"), steht die Feststellung, Pico gehöre zu den großen, repräsentativen Denkern seiner Epoche. Er falle aber zugleich aus dieser Kategorie der Repräsentanz durch eine Vielzahl seiner Besonderheiten heraus. In Hinblick auf die von Kristeller festgestellte, essentielle Vielfalt des Renaissancedenkens ist eine solche Kennzeichnung einerseits frag-würdig, wie sie andererseits aus der neukantianischen, erkenntnistheoretischen Grundstellung Cassirers verständlich ist: Repräsentative Denker der Renaissance sind ihm solche, die - wie Nikolaus von Kues, Leonardo und Galilei - auf das neuzeitliche, naturwissenschaftlich-mathematische Weltbild vorbereitend wirkten. Das geht aus der genannten Studie ebenso hervor, wie aus dem mehrere Einzelstudien umfassenden, bereits zitierten Werk "Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance" (1927), alles Schriften, die auf Cassirers Hauptwerk "Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit" (1906-1920) aufbauen. Als besonderes Kennzeichen Picos weist Cassirer allerdings zu Recht auf dessen ausgedehnten Geist hin, der zum einen auf Bewahrung der antiken und mittelalterlichen Tradition, der "aurea catena", zum anderen auf intensiven Studien der arabischen Philosophie und der jüdischen Kabbala aufbaut. Cassirer erkennt in Pico einen nicht auf Durchsetzung einer bestimmten Dogmatik, sondern auf Integration und Ausgleich bedachten Denker, als welcher der "Princeps Concordiae" schon seinen Zeitgenossen galt: Die "pax philosophica" war Picos eigenstes Anliegen, wie ein von Cassirer zi50 Cassirer, Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance Ideas. In: Journal of the History of Ideas. Bd. III 1942, S. 123-144 und S.319-346.
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tiertes Selbstzeugnis dokumentiert. Ein solches Denken läuft, wie Cassirer deutlich macht, naturgemäß Gefahr, den inneren Zusammenhalt, das Systematische, zu verlieren und sich in einem diffusen Eklektizismus aufzulösen. Diesen Vorwurf abzuwehren, zieht Cassirer einen aus einem Selbstzeugnis überlieferten Begriff heran: den der "occulta concatenatio", der "Dunklen Zusammengehörigkeit" von Picos Denkansätzen, wie sie in den "Neunhundert Thesen" ausgesprochen wurden, denen die "Oratio" über die Würde des Menschen als Einleitung dienen sollte Diesen inneren Zusammenhalt aufzuweisen, benutzt Cassirer allerdings ein eigenes Denkschema, unter das er alle metaphysischen und theologischen Anstrenungen glaubt subsumieren zu können: Für Cassirer bilden die Ideen von Einheit ("One") und Vielfalt ("Many") die beiden Pole, um die sich alles philosophische und theologische Denken drehe. 51 Ungeachtet der Problematik, ein solches Denken auf alle Metaphysik übertragen zu wollen, ist zu fragen, ob diese Gegenüberstellung, die Cassirer bei Pico in dessen vorgeblich leitender Kategorie des "Symbolischen Denkens" konkretisiert, nicht grundlegende, gerade für Pico charakteristische, metaphysische Determinationen verdunkelt. Dies gilt zumal für dessen besondere, vom Neuplatonismus geprägte Auslegung der Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen. Die Gegenüberstellung von Gott ("The One") einerseits, und von Welt und Mensch ("The Many") andererseits, unterschlägt, indem es Welt und Mensch dem "Einen" gegenüberstellt, die grundlegende Beziehung des Wesens des Menschen zum Seienden im Ganzen, welches Wesen durch diese Beziehung erst bestimmt und bestimmbar wird. Als generalisierendes Denkschema läuft Cassirers Gegenüberstellung daher Gefahr, den eigensten Denkansatz Picos, der die Wesenswürde des Menschen aus seiner freien Bezogenheit auf sich selbst und zum Seienden im Ganzen herleitet, zu verhüllen. Unabhängig von solchen Einschränkungen ist Cassirers Darstellung von Picos Bedeutung für die neuzeitliche Begründung der Menschenwürde für diese Untersuchung von Wichtigkeit. Cassirers Position ist durch seine erkenntnistheoretische Blickbahn vorgezeichnet. Er behandelt die Renaissance daher als Wegbereiterin der neuzeitlichen, mathematischen Naturwissenschaften. Innerhalb dieses Ansatzes erscheint das Denken Picos in einem deutlichen Gegensatz zu der "repräsentativen" Linie des auf der Mathematik aufbauenden Denkens, dessen Urstifter für Cassirer Nikolaus von Kues (1401-1464) ist und dessen herausragende Gestalten Leonardo und Galilei sind. 52 Pico steht der Mathematik nämlich ganz anders gegenüber:
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Cassirer, Pico della Mirandola, S. 137 f. S. 321.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
Betont der Kusaner den Modellcharakter der Mathematik für jegliche Form der Gewißheit ("nihil certi habemus in nostra scientia, ni si nostra Mathematica"), so folgt Pico einem grundverschiedenen Erkenntnisbegriff. Das ist die "abdita intelligentia". Diese ist eine dunkle, ahnende Erkenntnisform, im Unterschied zu der Klarheit mathematischer Gewißheit. Für Pico sind die mathematischen Wissenschaften daher überhaupt keine an sich wahren Wissenschaften. Ihre Legitimation als "scientiae quaerendae" liegt nicht in ihnen selbst, sondern in einer hinleitenden, bahnenden Funktion zu anderen, höherrangigen Wissenschaften, welche die reine Spekulation und damit die Glückseligkeit zum Ziele haben. 53 Für Cassirer ist die "abdita intelligentia" Picos grundsätzlich obsolet. Aber er bemerkt, daß in dieser Dunkelheit auf einmal ein neues Licht aufscheint, - an Stelle der erloschenen mathematischen Wahrheit als Gewißheit - das "Licht menschlicher Freiheit.,,54 Diese "Freiheit" kontrastiert Cassirer mit der strengen Notwendigkeit der Naturgesetzmäßigkeiten: "Natura non rompe sua legge"; "die Natur zerbricht nicht ihr Gesetz", wie es Leonardo ausdrückte. 55 Aus der Gesetzmäßigkeit der Natur folgt strenge Notwendigkeit aller Naturvorgänge. Leonardo: "La necessita e maestra e tutrice della natura"; "die Notwendigkeit ist Herrin und Vormund der Natur". "La necessita e tema e inventrice della natura, e freno e regola eterna" - "die Notwendigkeit ist Aufgabe und Erfinderin der Natur, ihr Rahmen und ihre ewige Regel".56 Als ein der Regel und der Notwendigkeit unterworfener Gegenstandsbereich kann die Natur zu Nikolaus von Kues und zu Leonardo jedoch nur gelangen als ein berechenbarer, d.h. vorgängig mathematisierter Bereich. Cassirer sieht in Pico einen Denker, der, indem er die menschliche Freiheit von der Naturnotwendigkeit unabhängig macht, diese Freiheit erst als Selbstgestaltungsfreiheit zum Aufweis bringen kann. Das Problem dieser Argumentation liegt darin, daß es zu Picos Zeiten noch kaum mathematische Naturwissenschaft gab und sich für diesen Denker das Freiheitsproblem auch vor dem Hintergrund der damals sehr einflußreichen Astrologie stellte, die eine Abhängigkeit aller menschlichen Geschicke von den Sternen behauptete. Pico unternahm es daher, die Astrologie in seiner Schrift "In Astrologiam" grundsätzlich in Frage zu stellen. 57 Picos Kritik der Mathematik trägt allerdings grundsätzliche Züge, und es kann kein Zufall sein, daß derjenige Denker, der in einer frühesten Zeit keimenden mathematischen Denkens eine philosophische Begründung menschCassirer. Pico della Mirandola, S. 143. S. 321. 55 Leonardo da Vinci. Philosophische Tagebücher. Hrsg. Giuseppe Zamboni (it.dt.), S. 32/33. 56 Leonardo. Philosophische Tagebücher, S. 32/33. 57 Cassirer. Pico della Mirandola, S. 321. 53
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licher Freiheit und Würde versuchte, sich gegen einen zu großen Einfluß der später grundlegend wirkenden Euklidischen Geometrie auf das philosophische und theologische Denken wandte. In seinen "Conclusiones de mathematicis" - "Schlußfolgerungen über die Mathematik" - schreibt er: "Nihil magis nocivum theologo quam frequens et assidua in mathematicis Euclidis exercitatio. ,,58 Nichts ist also dem höchsten Wissen schädlicher als übertriebene mathematische Studien. Für Pico hat die Mathematik, recht verstanden, ihre Berechtigung als Weg zur Spekulation, und zwar in der Gestalt neupythagoreischer Zahlenmystik. Die mathematische Mathematik, in ihrer Anwendung auf die Mannigfaltigkeit des Seienden, verbaut den Zugang zu dem höchsten Wissen von Gott und damit den Zugang zu dem eigentlichen Wesen des Menschen in seiner Ausrichtung auf Ihn. Diese Ausgerichtetheit des Menschen auf Gott trägt, wie Cassirer59 deutlich macht, jedoch wesentlich andere Züge als die Gottbezogenheit des Menschen in der Theologie: Zwar ist der Mensch auch dort frei erschaffen worden, welche Freiheit die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gerade ausmacht. Soweit besteht Konsens zwischen der traditionellen Theologie und Pico. Der Bruch mit der Tradition liegt darin, daß Pico, im Unterschied zu dieser, dem Sündenfall keine fundamentale, den Zustand des gefallenen Menschen restlos bestimmende Kraft einräumt: Indem Gott es dem Menschen anheim gegeben hat, ob er zum gottähnlichen Wesen aufsteige oder zum Tier verkomme, übergibt er den Menschen zugleich sich selbst. Dies geschieht, indem er dazu aufgerufen ist, Bildhauer ("fictor") und insofern Schöpfer seiner selbst zu werden. Frei von den Gesetzen, die der übrigen Natur vorgegeben sind, soll der Mensch sich in seinem Wesen ("natura") selbst bestimmen ("praefinire,,).6o Weder an den überirdischen Bereich gebunden, wie die Engel, noch an die Erde gefesselt, wie die Tiere und Pflanzen, ist der Mensch weder sterblich noch unsterblich erschaffen worden: sterblich als Körper, unsterblich als Seele: "Nec te caelestem neque terrenum, neque mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tute formam effingas.,,61
Indem der Mensch auf der Grundlage einer eigenen Willensenscheidung seiner Vernunftsseele ("animi sententia") sich selbst gestaltet, entscheidet er über seine Gestalt ("forma") aus eigener Kraft. Damit ist er, im Unterschied zum herrschenden Dogma, nicht mehr auf göttliche Gnade angewiesen, um den Sündenfall zu überwinden. 58 59 60 61
Zitiert nach Cassirer, S. 143. Cassirer, Pico della Mirandola, S. 330 f. Pico della Mirandola, Oratio, S. 6/7. Ibd.
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1. Kap.: Die Würde des "Vemünftigen Lebewesens"
Mit anderen Worten: Die Willensfreiheit, die bei Augustinus einerseits ein von Gott verliehenes Gut, andererseits aber durch die unumschränkte Auslieferung an die Gnade in ihrem Vermögen begrenzt ist62 , wird bei Pico zur Quelle der Selbstgestaltung des Menschen. Damit wird dem Willen ("arbitrio"), der erst durch die christliche Philosophie des Augustinus zu einem zentralen Begriff und einer Grundlage des abendländischen Denkens werden konnte, eine neue, im Menschen gegründete Macht eingeräumt. Die Entscheidungsmacht über die eigene Identität liegt nicht mehr in Gottes, sondern in eigenen Händen. Entscheidend ist weniger das Neue dieses Gedankens, Ansätze zu einer theologischen Begrenzung der Unterworfenheit der menschlichen Natur unter den Sündenfall finden sich schon bei dem von Augustinus bekämpften Pelagius63 (ca. 35~13), weshalb man Picos Denken auch als "Pelagianismus" bezeichnet hat, sondern der überragende Rang des Selbstgestaltungsgedankens bei Pico. Ferner der Zeitpunkt: In einer Epoche, in der die Kirche den Glauben mit diktatorischer Gewalt und Grausamkeit kontrollierte, mußte eine philosophische Infragestellung ihrer Dogmen auch einen gemäßigten und auf Integration bedachten Denker, wie Pico, zum Ketzer und Verfolgten machen. 64 Zu beachten ist allerdings, daß entgegen dem von Pico gebrauchten Bilde des "Bildhauers", der eine statische Gestalt des Menschen als Ergebnis seiner Selbstgestaltungsfreiheit nahelegt, der Mensch als "Chamäleon" seine Farben ständig wechselt, er sich somit nicht darauf festlegen läßt, "gut" oder "böse" zu sein. In dieser wunderbaren Verwandlungsfähigkeit65 liege, wie Cassirer hervorhebt66 , eine gegenüber dem mittelalterlichen Denken, das in der Unstetigkeit des Menschen den Ausdruck der "vanitas" seiner irdischen Bemühungen erblickte, neue Erfahrung von der Größe des Menschen, die gerade in dieser Unbeständigkeit begründet sei und sich auf dieser Grundlage als Würde entfaltet. Mit anderen Worten: Die sich in der Unbeständigkeit offenbarende Endlichkeit menschlichen Seins ist kein Einwand gegen dessen Größe, sondern deren Voraussetzung. 67
Augustinus, De libero arbitrio, lib. 11., 18. Zu Pelagius und "Pelagianismus" vgl. die entsprechenden Artikel im "Lexikon für Theologie und Kirche", Freiburg, Basel, Wien, Rom 1999, Bd. 8. 64 Zur Biographie vgl. Kristeller, Philosophen der italienischen Renaissance; das Kapitel IV. über Pico della Mirandola. 65 Vgl. die grundlegende Bestimmung des Menschen bei Pico als Wunder: "Magnum miraculum (... ) est homo." Oratio, S. 2. 66 Cassirer, Pico della Mirandola, S. 330 f. 67 Dagegen aber grundSätzlich die fortwirkende platonistische Setzung von "Sein" als Beständigkeit! 62 63
§ 4 Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens"
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§ 4 Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens" aus der abendländischen Metaphysikgeschichte und dessen neuzeitliche Ausprägung durch Rene Descartes Die Schwierigkeit, das Renaissancedenken auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen, wurde, unter Hinweis auf Kristellers Stellungnahme hierzu, bereits hervorgehoben: Im Grunde ist es weniger ein gemeinsames Denkfundament, als vielmehr das gemeinsame Thema der Menschenwürde, das als neugewonnenes Thema den Absprung von der Scholastik bis zu einem gewissen Grade ermöglicht und damit den Grund für eine gewandelte, zentrale Positionierung des Menschen und eine gewandelte Eröffnung des Seienden im Ganzen legt. Diese thematische Konzentration geschieht jedoch nicht zufällig, von irgendwoher, sondern auf der Grundlage einer von keinem Renaissancedenker hinterfragten, grundsätzlichen Wesensbestimmung des Menschen: Das ist die bereits mehrfach erwähnte Grundbestimmung des Menschen als "Vernünftiges Lebewesen". In Anbetracht des "irrationalen" Einschlages in Picos Denken, der etwa in der Kennzeichnung der menschlichen Erkenntnis als einem "dunklen" Vermögen, als "abdita intelligentia", und in der magischen Naturerforschung zu Tage zu treten scheint, ist das eine eher befremdende Feststellung. Aber der Begriff der "Vernunft" muß aus seiner von der Aufklärungsphilosophie und der Französischen Revolution geprägten späten Fassung auf seine Ursprünge zurückgeführt werden, um seine volle metaphysische Tragweite zu erfassen. Die "Vernunft" des "siede de la lumiere" hat eine Vorgeschichte, die bis in die Anfänge des philosophischen Denkens zurückreicht. Schon Parmenides erhob das Denken zum Maßstab für das Sein des Seienden, indem er die Selbigkeit von Sein und Denken begründete. 68 Im Denken Platons wird das Sein des Seienden zur idea. Das Sein ist das geistige und unsinnliche Sein des Seienden, das nur im Wege des reinen Denkens, frei von aller Sinnlichkeit, erfahrbar ist. Die im natürlichen Lebensvollzug begegnende Mannigfaltigkeit des Seienden, Tier und Pflanze, Ding und Mensch, ist eigentlich nicht, denn Wahrheit ist nicht in der alltäglich begegnenden Mannigfaltigkeit, sondern im Denken. Die im ständigen Werden und Vergehen wogende Natur ist nichtig gegenüber der Beständigkeit der idea und ousia im menschlichen Denken. So hat bei Platon die Mathematik die Aufgabe, es der Seele zu erleichtern, sich vom Werden ab (apo geneseos) und zur Wahrheit und dem Sein (ep' aletheian te kai ousian) hinzuwenden. 69
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Parmenides, Lehrgedicht, Gr.-dt. v. H. Diels, Berlin 1897, Fragment 5, S. 33.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
Damit wird die menschliche Vernunft zum Forum für die Wahrheit und die Unwahrheit eines Seienden erhoben. Das dergestalt nur nach Maßgabe der Vernunft zugelassene Seiende wird insofern einer "Vermenschlichung" unterworfen. Die "Vermenschlichung des Seienden", die ihren Grund in einer "Vermenschung des Seins" und in einer "Vermenschung des Menschen" hat, ist, von Platon an, ein die Geschichte des Abendlandes, bis in die vom Wesen der Modemen Technik beherrschte Gegenwart hinein, in sich steigerndem Maße bestimmender Sachverhalt. 7o Schon in seinem bereits 1930 erstmals gehaltenen, aber erst 1943 veröffentlichten, mehrfach überarbeiteten Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit,,7l hat Heidegger diesen grundlegenden Sachverhalt der "Vermenschlichung" des Seienden an Hand einer Auslegung der klassischen Wahrheitsformel unausdrücklich zum Aufweis gebracht. Diese lautet: "veritas est adaequatio rei et intellectus". Diese Formel sagt zweierlei. Einmal hat sie die geläufige Bedeutung einer Angleichung der Erkenntnis an das zu Erkennende, wie das die Variante der Formel: "veritas est adaequatio intellectus ad rem" betont. Dann hat sie aber noch eine zweite Bedeutung, die diese geläufige Bedeutung erst ermöglicht, indem sie für diese das Fundament schafft. Das ist die vorgängige Übereinstimmung der Sache mit der Erkenntnis. Diese Übereinstimmung ("adaequatio") ist deswegen vorgängig gegenüber derjenigen der Erkenntnis mit der Sache, weil die "Sagbarkeit", also die Ansprechbarkeit des Seienden mit einem vernünftigen Wesensbegriff, als "Sachwahrheit" die Herrschaft der Vernunft und ihrer Begriffe über die Mannigfaltigkeit des Seienden zur Voraussetzung hat. Heidegger hebt die besondere Prägung hervor, welche die klassische Wahrheitsformel durch die christliche Theologie erfahren hat. 72 Gemäß dieser religiös-metaphysischen Grundstellung sind "die Sachen in dem, was sie sind und ob sie sind, nur (... ), sofern sie als je erschaffene (ens creatum) der im intellectus divinus, d.h. im Geiste Gottes, vorgedachten idea entsprechen und somit idee-gerecht (richtig) und in diesem Sinne ,wahr' sind." Ein solches Geschöpf ist auch das menschliche Erkenntnisvermögen. Dieser "intellectus humanus" vollzieht sich auf der Grundlage der Geschöpflichkeit alles Seienden, an der er selbst als Geschöpf teilhat und insofern auf der selben Ebene mit allem innerweltlichen Seienden steht. Daher erklärt sich die befremdende grammatikalische Gleichordnung von "intellectus" 69 Platon, Politeia. Werke Bd. IV. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Darmstadt 1971, 1990, S. 589, Rz. 525C. 70 Zu den drei Begriffen Heideggers vgl. Besinnung, Gesamtausgabe Bd. 66. Hrsg. v. F.-W. v. Herrrnann. Frankfurt am Main 1997. S. 159-163. 71 Abgedruckt in: Wegmarken (zugleich: Gesamtausgabe Bd. 9). Hrsg. v. F.-W. v. Herrrnann, Frankfurt am Main, 3. Auf!. 1996, S. 177-202, S. 180 ff. 72 Wegmarken, S. 181.
§ 4 Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens"
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und "res" als Genetivattribute der "adaequatio" in der Formel: "veritas est adaequatio rei et intellectus." Heidegger: "Die Möglichkeit der Wahrheit menschlicher Erkenntnis gründet, wenn alles Seiende ein "geschöpfliches" ist, darin, daß Sache und Satz in gleicher Weise idee gerecht (d.h. der im Geiste Gottes vorgedachten Idee entsprechen, Anm. v. mir) und deshalb aus der Einheit des Schöpfungsplanes aufeinander zugerichtet sind.'.73
Dieser von Heidegger angesprochene, religiös-metaphysische Erkenntnisbegriff, der dem Wesen des Menschen als Erkenntnisvermögen (intellectus humanus) seine Entfaltung als Geschöpf, innerhalb eines Schöpfungsplanes, zuweist, begegnet in gewandelter Weise auch in der Renaissancephilosophie. Die Modifikation gegenüber der Scholastik besteht darin, daß der Mensch als "Band und Knoten" des Universums in einer Weise in den Vordergrund rückt, die dem bisherigen christlichen Denken fremd war. Augustinus und Thomas betonen in unterschiedlicher Weise das Angewiesensein des "intellectus humanus" auf den "intellectus divinus", der Quelle aller menschlichen Erkenntnis. Demgegenüber erscheint das Erkenntnisvermögen in der Renaissance zwar als ein theoretisch aus dieser Quelle abgeleitetes Vermögen, das aber gegenüber der Tradition in sich uneingeschränkt, alles erfassend und in diesem Sinne auf sich selbst gegründet ist. 74 Die zentrale Positionierung des Menschen als "Mikrokosmos", der die hohen und niedrigen Bereiche des Universums erkennend in sich vereinigt, ist allerdings, und dies wurde gegenüber Bucks Fehlinterpretation von Picos Naturbegriff eingewandt, nicht herrschaftlich angelegt, im Sinne der späteren Bewußtseinsphilosophie das seiner selbst gewisse Selbstbewußtsein in seinem Verhältnis zu Natur. Die zentrale Positionierung des Menschen hat noch keinen machtenden, ausbeutenden Charakter. Gott hat den Menschen in das Zentrum des innerweltlichen Seienden gestellt, "ut circumspiceres inde commodius quicquid est in mundo", "damit Du dich von dort aus besser umsehen kannst, was es in der Welt gibt." Dieser Hinweis in Picos "Oratio,,75 auf die Stellung des Menschen in der Welt findet in dem magischen Naturverständnis seine Entsprechung, das sich die Natur nicht unterwirft, sondern der Natur, indem es Naturforschung betreibt, zugleich dienstbar bleibe6 : ,,( ... ) denn nichts fördert die Verehrung Gottes mehr als die ständige Betrachtung der Wunder Gottes" ("assidua contemplatio mirabilium Dei,,).77 Der schonende, bewahrende Bezug des Menschen zur Natur (im Sinne des nichtmenschlichen, innerweltlichen Seienden) hat seinen Grund in der Wegmarken, S. 18l. Vgl. hierzu die Positionierung des Menschen bei Ficino, Opera Omnia, Bd. 1, S. 12l. 75 Oratio, S. 6/7. 76 S. 54/55. 77 S. 56/57. 73
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
alles umfassenden Schöpfungsordnung, die Mensch und Naturwesen als Geschöpfe einander zuordnet. Die metaphysische Grundstellung Picos ist durch dessen Schöpfungsglauben geprägt. Ihren grundlegenden metaphysischen Gehalt empfängt sie aus der Wesensbestimmung des Menschen, die platonistisch, unter Abstoßung des sinnlich erfahrbaren leiblichen Menschen erfolgt: " ... neque enim homo hoc quod videmus fragile et terrenum, sed animus est, sed intellectus."78
Mit "animus" nennt Pico denjenigen Bereich der Seele, der von den Einwirkungen der Sinnenwelt und damit von dem Leibe vollkommen losgelöst gedacht ist, und der sich mit dem Erkenntnisvermögen - dem "intellectus" - deckt. Demgegenüber steht die "anima sensualis", die sinnes abhängige Seele des Tieres. 79 Diese sinnesabhängige Seele wird auch dem Menschen zuerkannt, der sich von ihr allerdings in einem Abstoßungsprozess befreien soll: Der Mensch gewinnt sein Wesen als "animus" bzw. "intellectus" erst durch die in seine Selbstgestaltungsfreiheit gelegte Überwindung seiner Eigenschaft als Sinneswesen, andernfalls er zu Tier und Pflanze degeneriert. Nachdem eine gänzliche Abstoßung des Leibes im Wege der "Reinigung" ("purgatio") durch die Moral nur vorbereitet werden kann, findet der Mensch seine eigentliche Befreiung auch nicht in den auf die "purgatio" aufbauenden, höheren Stufen der "illuminatio" (Studium der Wissenschaften) und der perfectio" (Erlangung des höchsten Wissens der Theologie). Die eigentliche Befreiung des Menschen geschieht erst im Tode, d. i. die "Fülle des Lebens" ("plentitudo vitae") in Gott, dem Bräutigam ("sponsus") der Seele. Wenn hier der Begriff "leibfeindlich" zur Kennzeichnung dieses Denkens gebraucht wurde, so geschieht das in Anführungszeichen, um damit anzuzeigen, daß hier nicht im Sinne einer "sinnesfrohen" Mode gegen das Christentum polemisiert werden soll. Ein Denken, das in der Vernichtung des leiblichen Menschen in seiner Leiblichkeit, im Tode, erst die Erfüllung der Bestimmung des Menschen als Geistseele ("animus") erblickt, müßte eigentlich "menschenfeindlich" genannt werden, da zur Wesens verfassung des Menschen die Leiblichkeit nicht nur gehört, wie ein Bestandteil im Sinne der Leib-Seele-Einheit. Die Wesensverfassung des Menschen besteht vielmehr gerade in seiner Leiblichkeit, die ihn in allen seinen Verhaltungen durchdringt und prägt, daher grundverschieden ist von einem tierischen Organismus. 8o Diesen Sachverhalt muß alle geschichtliche Besinnung auf den Menschen und seine Würde 78 Zu dem Zitat aus dem "Heptaplus" vgl. Pico delta Mirandola, Opera Omnia Bd. 1, S. 22. 79 Oratio, S. 8/9. 80 Vgl. hierzu grundlegend: Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 16.
§ 4 Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens"
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im Auge behalten, da der Machtanspruch, den leiblichen Menschen zu klassifizieren, heute von der christlichen Metaphysik auf die modeme Chemie, Biologie und Medizin übergegangen ist, ohne daß damit der metaphysische Boden verlassen worden wäre, in dem "Körper" mehr zu sehen als einen bloßen Bestandteil des Menschen, der dann nicht mehr in seiner Einheit mit der "Seele" sondern in seiner Einheit mit dem "Gehirn" funktioniert (vgl. hierzu das Kapitel "Menschenwürde und Leiblichkeit", §§ 7 ff. dieser Untersuchung).81 Picos "Oratio" ist ein Zeugnis für eine metaphysische Grundstellung, deren Auslegungshorizont des Seienden im Ganzen von einer christlich-platonistischen Wesens bestimmung des Menschen geprägt ist. Diese Bestimmung hat ihren tragenden Grund in der die abendländische Metaphysik tragenden Festlegung des Wesens des Menschen als einem "Vernünftigen Lebewesen". Die besondere Auslegung des Menschen als einem "Vernünftigen Lebewesen" ist bei Pico wie folgt gekennzeichnet: Das Leben des Lebewesens und das Verstandeshandeln der Vernunft stehen innerhalb von dessen Auslegung des Menschen als "animal rationale" gegeneinander: Das Verstandeshandeln des christlich-platonistisch begriffenen "intellectus" hat die schrittweise Abstoßung des Leibes und damit des Lebewesens, bzw. Tieres zum Zwecke. Diese Abstoßung findet schließlich im Tode ihr Ziel in der "Befreiung" des Menschen. Das Vernunfts- und Erkenntnisvermögen des Menschen ist daher nicht Selbstzweck, im Sinne einer Ausrichtung des Menschen auf einen Wissenserwerb und eine Wahrheitsfindung, die um ihrer selbst willen geschähe, auch wenn Pico eine Rechtfertigung des Erkenntnisstrebens um seiner selbst willen gegenüber denjenigen fordert, die eine standesgemäße Bezahlung des Philosophen verlangen. Die "Vernunft" hat vielmehr die Bestimmung, den leiblichen Menschen, das Tier, abzudrängen, um mit Pico zu sprechen: "das Opferschwein abzustechen"s2, damit er schließlich im Tode in den Genuß der "Fülle des Lebens" gelange. Diese Paradoxie, den Tod mit der "Fülle des Lebens" gleichzusetzen, erklärt sich aus der moralisch-metaphysischen Sicht des sinnlich-leiblichen Menschen: Er ist das "me on" gegenüber der "idea", dem übersinnlichen Reich des "Guten". In diesem Zusammenhang soll der große und für unsere Untersuchung bedeutende Komplex der Metaphysikkritik Nietzsches und der Nietzschekritik Heideggers nur angedeutet werden. Als bloßer "Umkehrer der Metaphysik" konnte Nietzsehe - aus Heideggers Sicht - die Metaphysik und damit die von Nietzsche "Nihilismus" genannte Sinnkrise der Modeme nicht überwinden, da er selbst der Metaphysik verhaftet blieb, sie 81 Es ist allerdings zu beachten, daß die jeweilige Bestimmung des Menschen als Leib-Seele Enheit innerhalb der verschiedenen Grundstellungen des christlichen Denkens stark variiert. 82 Pico, Oratio, S. 18/19.
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sogar in gewissem Sinne "vollendete". Die Metaphysikkritik Nietzsches scheint sich aber, in ihrer Radikalität und Polarisierung und Vereinfachung in Hinblick auf Pico zu bestätigen. Nietzsche schreibt: "Mit der moralischen Interpretation ist die Welt unerträglich. Das Christenthum war der Versuch, damit (mit der Moral, Anm. v. mir) die Welt zu überwinden: das heißt zu verneinen.,,83
Heidegger legt Nietzsches Kritik der Moral, als einer Grundunterscheidung von "gut" und "böse", wie folgt aus: "Das "Gute" ist das "Ideal", die Idee und was noch über sie hinausliegt, das eigentlich Seiende, ontos on. Das "Böse" ist der metaphysische Name für das, was nicht ein Seiendes sein soll, das me on. ,,84 Im Denken des Renaissanceplatonismus erscheint der sinnlich-leibliche Mensch nicht bloß als nichtig, sondern darüber hinaus als ein zu vernichtendes Seiendes, etwas, das nicht sein soll. Die Vernunftseele, das eigentliche Wesen des Menschen, kommt über die Zwischenstadien der moralischen Reinigung und geistigen Näherung Gottes erst im Tode, also in der Vernichtung des Leibmenschen zu ihrem Ziele. Hiermit berühren wir ein zentrales Grundproblem der Menschenwürdekonzeption Picos und mit ihr einer jeden metaphysischen, an der Wesens bestimmung des Menschen als "Vernünftiges Lebewesen" ausgerichteten Menschenwürdekonzeption: Indem der Mensch als Vemunftseele bestimmt und dementsprechend auf sein (unterschiedlich akzentuiertes) Vernunftswesen reduziert und ausgerichtet und auf ein (jeweils gewandeltes) Vernunftsziel angesetzt wird, bleibt der eigentliche Boden, auf dem dieses so Begriffene steht, vollkommen ausgegrenzt von allem Denken. Bei diesem durch die Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen achtlos übergangenen Boden handelt es sich um nichts anderes, als um das Leben selbst in seiner Fülle, seinem Reichtum, seinem Handeln und Leiden und Sterben. Dieses Leben, im weitesten Sinne genommen als die natürliche Geradehineinstellung der alltäglichen Verhaltungen, wo allein der größte Augenblick wurzelt, kann überhaupt nicht in das Blickfeld von Picos Menschenwürdekonzeption gelangen, weil er den Menschen, als Vernunftswesen, von vornherein aus dem sinnlich-leiblichen Bereich herauslöst, um ihm seinen Ort in der Mitte zwischen diesem "beschmutzten" Bereich und der übersinnlichen Welt zuzuweisen. 85 Das platonistisch bestimmte Wesen des 83 Nietzsehe, Nachgelassene Fragmente 1885-1887. Kritische Studienausgabe (KSA). Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 12, S. 119. 84 Der Wille zur Macht als Erkenntnis. Vorlesung vom Sommer 1939. In: Heidegger, Nietzsche Erster Band, S. 585. 85 Wenn Picos Konzeption auf Grund des Fehlens eines "Lebens-Bodens" radikal in Frage gestellt werden muß, so ist damit noch nichts gesagt gegen die Möglichkeit einer christlichen Auslegung des Lebensvollzuges, wie bei Augustinus, der in
§ 4 Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens"
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Menschen ist ortslos, der Erde entfremdet. Die Erde wird nicht als Grundlage der "Lebenswelt" gewürdigt. Sie ist vielmehr eine Stätte des Abgleitens, der in die Selbstgestaltungsfreiheit des Menschen gestellten Möglichkeit der Entartung zu Tier und Pflanze. Die wahre Heimat des dergestalt von seinem natürlichen Lebensvollzug amputierten Menschenwesens ist der übersinnliche Bereich der Engelwelt (mundus angelicus). Der Deklassierung der Lebenswelt als "Kot" entspricht die Deklassierung des Leibes als "Wüste".86 Das Verhalten des in die Mitte der Welt gestellten Menschen ist daher nicht ursprünglich erfahren: Die metaphysische Konzeption der im Kern übersinnlichen "Welt" verlangt eine dieser Konzeption entsprechende Konzeption des Menschenwesens. Dieses Menschenwesen ist das christlich-platonistisch ausgelegte Vernunftswesen, das sich gegenüber dieser, im Kern übersinnlichen "Welt" nicht natürlich, d.h. im weitesten Sinne leiblich verhalten kann, sondern rein theoretisch verhalten muß. Pico kennzeichnet dieses Verhalten als "circumspicere", ein Sich-Umsehen, das abzielt auf das platonistisch gedachte Seiende in seiner Vielfalt und als ein Ganzes. Dieses Sich-Umsehen blickt von der beschmutzten Erde hin zu dem Reich übersinnlicher Wesen, ist im Grunde die Sichtung einer Bewegung vom Nichthaften zum eigentlich Seienden. 87 Die treffenden Beobachtungen Picos über die "Vielgestaltigkeit" und die "Sprunghaftigkeit" der menschlichen Natur, deren Wandlungfähigkeit, die den Menschen einem Chamäleon ähnlich macht, empfangen aus dessen metaphysischer Bestimmung des Menschenwesens eine bestimmte Auslegung im moralischen Sinne. Indem Pico die fundamentale Unterscheidung des Menschenwesens gegenüber dem Wesen der übrigen Natur in dem freien, gesetzlosen Verhältnis des Menschen zu sich selbst erfährt, glückt ihm ein ganz entscheidender Einblick. Es bleibt allerdings zu fragen, inwiefern der Mensch, der gegenüber Tier und Pflanze darin ausgezeichnet ist, sich zu seinem eigenen Sein stets irgend wie verhalten zu müssen, darin faktisch vollkommen frei und auf sich selbst gegründet ist, wie das Picos Begriff des Menschen, als dem "Bildhauer" seiner selbst, voraussetzt. In dem Gottesbezug des Menschen erfährt Pico einen zweiten grundlegenden Sachverhalt, der - neben dem Selbstbezug - die Freiheit und damit die Würde des Menschen begründet. Es bleibt aber, ebenso wie hinsichtlich des Selbstbezuges, zu fragen, ob die moralische Festlegung dieses Verhältnisses genüdiesem Zusammenhang auch Heidegger beeinflußt hat. Vgl. Martin Heidegger, Augustinus und der Neuplatonismus. Vorlesung vom Sommer 1921. Abgedruckt in: Phänomenologie des religiösen Lebens. Gesamtausgabe Bd. 60. Hrsg. v. Matthias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, Frankfurt am Main 1995, S. 160-299. 86 Oratio, S. 2/5, S. 22/23. 87 Oratio, S. 617. 4*
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
gen kann, in dem Sinne, daß Gott als das "Gute", als das Ziel des daraufhin ausgerichteten Menschenwesens, aufgerichtet wird. Wie sind Selbstbezug und Gottesbezug von der Endlichkeit des Menschenwesens getragen? Diese Fragen gilt es, im folgenden im Auge zu behalten. Picos Blick auf den Menschen scheint, bei aller Beobachtungsgabe des jugendlichen Denkers, bei dessen ungeheurem Bücherwissen, von einer religiös-metaphysischen Konzeption des Menschenwesens überlagert zu sein, die es verweigert, die Vielfalt der Phänomene des Lebensvollzuges unverfälscht, d.h. für uns stets so, wie sie, dem Begriffe der Phänomenologie gemäß, sich von sich selbst her sehen lassen, zum Aufweis zu bringen. Man könnte meinen: Was Wunder, handelt es sich bei Pico doch im Grunde noch um einen mittelalterlichen Denker, dessen Bewegungen durch die Kontrolle der Kirche und ihrer Dogmen und das verpflichtende Vorbild der scholastischen Tradition in Fesseln liegen. Ein sich von den Fesseln der "vetus opinio" befreiendes Denken müßte dann scheinbar das zutreffende Wesen des Menschen zum Aufweis bringen. Damit müßte sich zugleich Menschliche Vernunft, ungetrübt von den Überschattungen der Tradition, in ihrer Klarheit und Größe zeigen. Nur in einer von Vorurteilen gereinigten Vernunft könnte die Grundlage menschlicher Würde liegen, - so scheint es. Wie wird das neu erfahrene Vernunftswesen des Menschen in der philosophischen Grundstiftung der Neuzeit, wie wird dieser Begriff im Denken Rene Descartes' offenbar? Die Reinigung der Vernunft und damit des menschlichen Erkenntnisvermögens von den Vorurteilen der Tradition, erfolgt bei Descartes (15961650) durch die Erhebung des radikalen, d.h. methodischen Zweifels. Dieser Zweifel erfaßt grundsätzlich alles, woran sich überhaupt zweifeln läßt. Er zielt aber besonders ab auf den Wahrheitscharakter des sinnlich Wahrgenommenen, den der materiellen Dinge. Das Wesentliche dieses Zweifels liegt einmal darin, daß er das auch nur im geringsten Zweifelhafte nicht bloß in dieser Zweifelhaftigkeit herausstellt, sondern als Zweifelhaftes gleichordnet mit dem offensichtlich Falschen ("falsum,,).88 Zum anderen ist der Cartesische Zweifel geprägt von einer bestimmten Hinblicknahme auf einen bestimmten Begriff der Gewißheit ("certitudo"), dem alles Seiende im voraus unterworfen wird: An Stelle der Heilsgewißheit der christlichen Offenbarung ("Veritas") tritt bei Descartes die das Seiende verrechnende "certitudo", die ihren hohen Rang allerdings nicht allein aus sich begründen kann, wie das im heilsgeschichtlichen Denken hinsichtlich der Offenbarung gilt. Grundlage aller Wahrheit, als Gewißheit im Sinne der "certitudo", kann für Descartes nur diejenige Wahrheit sein, die von vornherein aller 88 Meditationes de prima philosophia. Lat.-dt., hrsg. v. L. Gäbe. Hamburg, 3. Aufl. 1993, S. 30/31.
§ 4 Die Herkunft des "Vemünftigen Lebewesens"
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Zweifelsmöglichkeit enthoben ist. Bei diesem "fundamentum inconcussum" handelt es sich um das sich selbst wissende Selbstbewußtsein des meditierenden "lch". Läßt sich an aller sinnlichen Wahrnehmung zweifeln, sie könnte ja auf Täuschungen beruhen, ich könnte glauben ich wachte, da ich träume, läßt sich selbst an der apriorischen Gewißheit mathematischer Sätze zweifeln: 89 Daß ich es bin, der sich diese oder jene Wahrnehmungen vorstellt oder der sich diese geometrische Figur innerlich vergegenwärtigt, daran kann keinesfalls gezweifelt werden 9o . Wie Heidegger hervorgehoben hat, ist die grundlegende Cartesische Formel: "cogito ergo sum" nicht im Sinne einer Konklusion zu übersetzen, wie das gewöhnlich geschieht. Demnach lautete die Formel: "Ich denke also bin ich.'.9l Demnach "bin" ich darum, weil ich "denke". Es handelt sich aber vielmehr um eine Gleichung, formal ausgedrückt, um eine Tautologie, wie das Descartes selbst hervorgehoben hat. 92 Der Mensch ist das sich selbst wissende Selbstbewußtsein, dergestalt, daß er seine Identität erst im "cogitare" gewinnt: ,,(Die Identität) gewinnt neuzeitlich ihre Auszeichnung im Ich, das als die ausgezeichnete, nämlich als die eigens sich zugehörige Identität begriffen wird, jene Identität, die sich wissend, in diesem Wissen gerade ist. ,m
Das "cogitare", als welches das Cartesische "Ich" sich selber als diese ausgezeichnete und sich selber zugehörige Identität weiß, ist daher nicht mit "Denken" zu übersetzen, sondern mit "Vorstellen", im Sinne von ,,sichbewußt-werden". Der Wesensverfassung des Menschen, als das sich selbst wissende Selbstbewußtsein, entspricht eine der Hinblicknahme auf die Wahrheit als Gewißheit ("certitudo") folgende Ausrichtung des dergestalt sich seiner selbst gewissen "Ich" auf das Seiende. Dieses wird - als Einzelnes, wie als Seiendes im Ganzen, Welt - nur zugelassen, insofern es dem aus dem Selbstbewußtsein erwachsenden Anspruch des "clare et distincte percipere" genügen kann. Nur, was vollkommen deutlich und von anderem geschieden erkannt werden kann, vermag dem Anspruch des sich selbst wissenden "ego cogito" zu entsprechen, das bei allen Erkenntnisakten, als das "fundamenturn inconcussum" aller Erkenntnisakte, mitvorgestellt bleibt: Nur auf der Grundlage des sich seiner selbst ständig vergewissernden Selbstbewußtseins kann das Seiende, als das Seiende, in seinem Sein gelichtet werden. Die im Selbstbezug des "ego cogito" gegründete AusrichMeditationes, S. 36/37. Meditationes, S. 42/43, S. 44/45. 91 Heidegger, Nietzsche Zweiter Band, S. 132 f. 92 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 200. Vgl. Meditationes, S. 46/47: "Cogitare? hic invenio: cogitatio est, haec sola a me divelli nequit; ego sum, ego existo, certum est." (Meditatio 11.) 93 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 199. 89
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I. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
tung des Menschenwesens auf das vorgestellte Seiende ("cogitata") besorgt das Seiende Unter einer bestimmten Hinblicknahme, die Heidegger in seiner ersten Marburger Vorlesung "Sorge um erkannte Erkenntnis" und "Sorge der Gewißheit" nennt. 94 Diese Besorgung des Seienden geschieht als eine Begrenzung innerhalb der möglichen Ausrichtungen auf das Seiende. Nur solche Ausrichtungen auf das Seiende können der Erkenntnissicherung im Sinne der Gewißheit ("certitudo") genügen, die das Seiende als das "dare et distincte perceptum" sicherstellen. Wie wird das Seiende als das "dare et distincte perceptum" sichergestellt? Descartes erläutert dies in der fünften Meditation wie folgt: 95 " ... distincte imaginor quantitatem, quam vulgo Philosophi appellant continuam, sive eius quantitatis aut potius rei quantae extensionem in longum latum et profundum; nomero in ea varias partes; quaslibet istis partibus magnitudines, figuras, situs et motus locales, motibus istis quaslibet durationes assigno." "Deutlich ("distincte") stellt sich meinem Vorstellen diejenige Größe ("quantitas") dar, die die Philosophen gewöhnlich die stetige ("continua") nennen, d.h. die Ausdehnung ("extensio") dieser Größe, oder vielmehr des so und so großen Dinges ("res"), nach Länge, Breite und Tiefe. An diesem Ding ("res") berechne ich verschiedenartige Teile. Diesen Teilen messe ich allerlei Größe ("magnitudo"), Gestalt ("figura"), Lage ("situs") und Ortsbewegung ("motus") bei. Dieser Bewegung messe ich wiederum irgendwelche Dauer ("duratio") bei."
Diese für das Verständnis der geschichtlichen Macht des Cartesischen Denkens zentrale Stelle zeigt deutlich: Die Sicherstellung des Seienden kann auf der Grundlage des seiner selbst gewissen Selbstbewußtseins nur durch eine Reduktion des Seienden auf eine verrechenbare Größe erfolgen. Das ist die "extensio". Die Feststellung des Seienden Unter dem Gesichtspunkt der verrechenbaren Ausdehnung wird ergänzt durch die ihm korrelierenden Gesichtspunkte der Gestalt ("figura"), der Lage ("situs"), der Bewegung ("motus") und der Dauer ("duratio"). Unter diesen meßbaren Gesichtspunkten wird das Seiende feststell bar und damit sicherbar im Sinne der Gewißheit ("certitudo") als "res extensa", dem "Ausdehnungs-Ding". Das gilt für die Mannigfaltigkeit des je Einzelnen, der "res extensae", wie auch für das Seiende im Ganzen als der Cartesisch gedachten Welt, "res extensa". Für unsere Untersuchung entscheidend 94 Einführung in die phänomenologische Forschung. Vorlesung Winter 1923/24. Gesamtausgabe Bd. 17. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt am Main 1994. Das Thema der "Sorge um erkannte Erkenntnis", bzw. "Gewißheit" durchzieht die ganze Vorlesung und bringt diese gemeinsame Grundlage des Husserlschen Denkens und der Cartesischen Bewußtseinsphilosophie zum Aufweis. Vgl. hierzu: F.-W. v. Herrmann, Husserl-Heidegger und die Sachen selbst. In: Inmitten der Zeit, Festschrift für Manfred Riedel, S. 277-289. 95 Meditationes, S. 1141115. Die Übersetzung (Buchenau/Gäbe) wurde von mir geändert.
§ 4 Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens"
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ist, daß es genau diese Gesichtspunkte (bzw. Begriffe) der Cartesischen Metaphysik sind, unter denen die von Galilei begründete neuzeitliche, mathematische Naturwissenschaft, die Physik, das Seiende in den Griff nimmt, um es zu erforschen und d.h. stets: zu berechnen. Die Physik bildet für Descartes, dem Erfinder der analytischen Geometrie und größten Mathematiker seiner Zeit, dann auch den Stamm aller wissenschaftlichen Erkenntnis, aus dem sich alle Einzelwissenschaften wie Zweige entfalten. Eine solche Einzelwissenschaft, die aus dem Stamm der Physik entspringt, ist auch die Ethik, ein Bereich, dem Descartes durchaus eine höchste Bedeutung zumaß. 96 Die Wesensbestimmung des Menschen als "res cogitans", "Vorstellendes Ich", bei Descartes, ist auf eine vorgreifende Wesensbestimmung der Welt und der innerweltlichen Dinge ("res extensae" und "res extensa") ausgerichtet, die wiederum umgekehrt als das vorgestellte ("cogitata") und damit sichergestellte ("percepta") Seiende auf die Wesensverfassung des Menschen als "res cogitans" zugeschnitten sind. Edmund Husserl hat in dieser Bindung des Cartesischen "ego cogito" an eine keinesfalls dem methodischen Zweifel unterworfene und damit unzweifelhafte, mathematisierte Körperwelt zu Recht ein Durchbrechen der mit dem methodischen Zweifel intendierten Voraussetzungslosigkeit des Cartesischen Denkens erkannt. 97 Aber die mathematisierte Natur bildet gerade das unabdingbare Gegenüber zur "res cogitans", denn diese "res cogitans" könnte ohne die mathematisierte Körperwelt als Gegenüber nicht in der Weise der Subjektsontologie gedacht werden. Hinter der scheinbaren Unzulänglichkeit der Cartesischen Epoche (Enthaltung) von allen ,,vorgeltungen von Weltlichem" (Husserl) verbirgt sich die ganze Macht und der Herrschaftsanspruch der grundlegenden metaphysischen Grundstellung der Neuzeit. Innerhalb dieser Grundstellung bedingen sich die ermächtigende Setzung des Subjekts, der "res cogitans" als der neuzeitlichen Ausprägung des "Vernünftigen Lebewesens", und die übermächtigende Setzung des nichtmenschlichen Seienden als Objekt einander. Die eine Setzung kann nicht ohne die andere Setzung sein. Mensch, "res cogitans", ist dabei für Descartes wesenhaft die unter Ausschaltung des leiblich-sinnlichen Bereiches gewonnene Vernunft, die den Menschen allein vom Tier unterscheidet. 98 Als 96 Zu dem von Descartes gebrauchten, berühmten Bild des Erkenntnis-Baumes, dessen Wurzeln die Metaphysik sind, vgl. den Brief an seinen Übersetzer Picot in: Die Prinzipien der Philosophie. Übers. von Buchenau. Hamburg 1992, S. XLII. 97 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI. Hrsg. v. W. Biemel, Den Haag 1976, S. 81. 98 Descartes, Discours de la methode. Frz.-dt., übers. u. hrsg. v. Lüder Gäbe, Hamburg, 2. Auf!. 1997, S. 4/5.
1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
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Leib ist der Mensch dem Tier gleichgeschaltet, als Mechanismus und Maschine99 , was Descartes eine gänzlich neue und revolutionäre Sicht auf das Funktionieren dieser "Maschine" ermöglicht. 100 Die zeitgebundene Dürftigkeit der Kenntnisse des Descartes auf diesem Gebiet, z. B. seine falschen Bestimmungen des Blutkreislaufes, dürfen nicht über den bahnbrechenden Charakter des "Traite de l'homme" hinwegtäuschen. Von nun an wird der Mensch in seiner natürlichen Gegebenheit, als leibliches Wesen, zur Maschine, und dementsprechend als kausaler und berechenbarer Funktionszusammenhang sichergestellt und auseinandergenommen. Ebenso wie gegenüber den Naturdingen, ist das erkennende Verhalten des seiner selbst gewissen Subjekts auch hinsichtlich des menschlichen Körpers kein Selbstzweck. Wie bei Pico das "circumspicere" des in die Mitte der Schöpfung gestellten Vernunftswesen "Mensch" eingebunden bleibt in die Aufgabe der "Befreiung" des Menschen von seiner sinnlichen Natur und somit der Befreiung des Menschen zur Selbstgestaltung als Annäherung zu Gott, so ist auch das "cogitare" bei Descartes zweckgebunden. Ziel des "cogitare", dessen ermächtigender Charakter im "percipere" der "c1ara et distincta perceptio" deutlich wird, ist aber nicht die Annäherung an Gott auf dem Wege der Mächtigkeit des Menschen über sein Selbst, wie bei Pico, sondern die Errichtung der Herrschaftsstellung des Menschen über die Natur. 101 So schreibt Descartes in dem 1637, vier Jahre vor den "Meditationen", erschienenen "Discours de la methode" über die Physik, sie vermöchte, im Unterschied zur spekulativen Schulmetaphysik, dem Menschen zu lehren, die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und anderer Körper ebenso genau zu begreifen, wie die Techniken der Handwerker gelernt werden können: ,,( ... ) nous les pourrions employer en meme fa~on a tous les usages (!) auxquelles ils sont propres, et ainsi nous rendre comme maitres et pos ses se urs de la nature.,,102 Der Mensch, der die Mechanismen der Natur ebenso begreift, wie der Handwerker den Mechanismus seiner Herstellungstechniken, wird, entsprechend diesem Handwerker hinsichtlich dessen Beherrschung der Herstellungstechniken, zum "Meister und Besitzer der Natur". Als konkretes Anwendungsgebiet dieser neu gewonnenen Herrschaftsstellung des Subjekts nennt Descartes, im Zusammenhang der zitierten Stelle, den menschDiscours de la methode, S. 90/91. Über den Menschen (1632) und Beschreibung des Menschlichen Körpers (1648). Übers. u. eingel. v. Karl. E. Rothschuh, Heidelberg 1969. 101 Vgl. hierzu die Erläuterung von Heideggers Descartes-Auslegung: F.-W. v. Herrmann, Sein und Cogitationes. Zu Heideggers Descartes-Kritik. Abgedruckt in: Durchblicke - Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, S. 248: "Der Vorstellende ,stellt' dem Vorzustellenden gleichsam nach, stellt es vor sich, bringt es in seine Verfügungsgewalt und stellt es damit sicher." 102 Discours de la methode, S. 1001101. 99
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§ 4 Die Herkunft des "Vernünftigen Lebewesens"
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lichen Körper, der auf dem Wege dieser Machtergreifung vor Krankheiten und Altersschwäche bewahrt werden soll. Hiermit scheint uns ein verwandtes Motiv wie bei Picos Selbstgestaltungsfreiheit des Menschen zu begegnen. Es handelt sich bei Descartes aber nicht um eine solche Gestaltungsfreiheit, die als Selbstgestaltungsfreiheit aus der Gottbezogenheit des Menschen bestimmt ist, sondern um eine Gestaltungsfreiheit, die auf die möglichst uneingeschränkte Erhaltung des physischen Menschen abzielt, der als "Maschine" festgelegt wird. Die Gewähr für die Gewißheit der vorgestellten Dinge, die das seiner selbst gewisse Selbstbewußtsein erkennt und sicherstellt, verschafft jedoch erst die Existenz Gottes bei Descartes. Dem Beweis der Wirklichkeit Gottes als einem "dare et distincte perceptum" geht - und das ist entscheidend! die auch diesen Beweis tragende Gewißheit des sich selbst wissenden Selbstbewußtseins vorauf. Demgegenüber ist der sogenannte "ontologische Gottesbeweis", den Descartes außer dem bewußtseinsanalytischen Gottesbeweis zusätzlich durchführt, eine Denkfigur der vorscholastischen, mittelalterlichen Philosophie.103 Diese Fundierung auch der Erkenntnis Gottes im "fundamentum inconcussum" des Selbstbewußtseins ist das eigentlich Neue des Cartesischen Gottesbezuges: Für die christliche Spätantike und für das Mittelalter war die Existenz Gottes die Voraussetzung aller Erkenntnisakte des Menschen, folglich auch der Erkenntnis Gottes selbst. Die Gewißheit des "fundamentum inconcussum", des sich selbst wissenden Selbstbewußtseins, hat bei Descartes das "nihil Veritatis verius" des weiterhin verbindlichen christlichen Offenbarungs wissens, als unerschütterlichen Boden alles Wissens, das für jegliche Wissenschaft erst den tragenden Grund schafft, in dieser Eigenschaft als Grundlegung alles Wissens abgelöst. Da das Menschenwesen zwar in seiner Willensfreiheit unbegrenzt ist und darin seine Gottesebenbildlichkeit erfährt lO4 , in seiner Erkenntnismöglichkeit aber stets durch die Möglichkeit des Irrens ausgezeichnet ist und in seiner Ausrichtung auf das innerweltliche Seiende zu dessen Erkenntnis des göttlichen Lichtes ("lumen naturale") bedarf, ist es endlich ("res limitata"). Heidegger spricht aus diesem Grunde dem Denken Descartes' den Charakter einer "bedingten Subjektivität" zu, im Unterschied zu der "unbedingten Subjektivität" Hegels und Nietzsches. 105 Als Begründer der Herrschaftsstellung des neuzeitlichen Menschen bleibt Descartes zugleich Zögling der Scholastik. Das Wesen des Menschen ist zwar herrschaftlich angelegt; als "ens creatum", Geschöpfliches, ist es aber zugleich zur Erfüllung seines Herrschaftsanspruches auf die Existenz Gottes verwiesen. Heidegger kann 103 Der "ontologische Gottesbeweis" wird Anselm von Canterbury (1033/341109) zugeschrieben. 104 Descartes, Meditationes (IV.), S. 1041105. 105 Heidegger, Nietzsche Zweiter Band, S. 174.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
daher sagen: "Ein entscheidender Wendepunkt ist Descartes nur in der Weise, wie das Heute unter der Herrschaft des theoretischen Erkennens sich selbst und seine Geschichte interpretiert, obzwar Descartes eigentlich durchaus mittelalterlich ist."lo6
§ 5 "Der Begriff der Freiheit ist der Stein des Anstoßes
für alle Empiristen" - Kants Entgegenstellung von sittlicher Freiheit und mathematisierter Natur
Trotz seiner Abhängigkeit von scholastischen Positionen gilt Descartes zu Recht als eigentlicher Begründer des neuzeitlichen Denkens. Dieses Denken ist als die methodische und systematische Verankerung aller Wahrheit des Seienden im sich selbst wissenden Selbstbewußtsein ein machtendes Denken. Es erhebt das Bewußtsein, mit anderen Worten: die neuzeitlich ausgelegte "Ratio" des "animal rationale", zum einzig gültigen Maßstab für das Sein des von diesem Bewußtsein vorgestellten und damit, im Sinne Heideggers, vermenschlichten Seienden. Diese "Vermenschlichung" des Seienden geschieht in der Neuzeit als Mathematisierung der Natur. Es ist daher nicht nur irreführend, sondern sachlich falsch, den "Anthropomorphismus" für eine Eigenart bloß des Aristotelischen Naturbegriffes mit dessen teleologischer Ausrichtung zu halten. Auch und gerade der neuzeitliche, mathematische Naturbegriff ist als Verankerung alles Seienden im vorstellenden, vergegenständlichenden und rechnenden Bewußtsein ein anthropomorpher Naturbegriff. 107 Erst mit der Mathematisierung der Natur nähert sich der schon durch den frühen englischen Empirismus - so von Francis Bacon (1561-1626) - erhobene Anspruch der restlosen Beherrschung und Manipulation und Vernutzung der Natur für menschliche Zwecke in sich ständig beschleunigendem Maße seiner Erfüllbarkeit. Am Ende seines Denkweges resümiert Husserl: "Mit der fortwachsenden und immer vollkommeneren Erkenntnismacht über das All erringt der Mensch auch eine immer vollkommenere Herrschaft über seine praktische Umwelt, eine sich in unendlichem Progressus erweiternde. Darin beschlossen ist auch die Herrschaft über die zur realen Umwelt gehörige Menschheit, also auch über sich selbst und die Mitmenschheit, eine immer größere Macht über sein Schicksal, und so eine immer vollere - die für den Menschen überhaupt denkbare - ,Glückseligkeit,,,.108 Einführung in die phänomenologische Forschung GA 17, S. 128. Zu der Ansicht, der neuzeitliche Naturbegriff sei eine Überwindung des Anthropomorphismus, vgl. als Vertreter dieser verbreiteten Auffassung, Gerold Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main 1983, S. 19-28. Prauss ist allerdings sehr differenziert und problem bewußt hinsichtlich der im neuzeitlichen Naturbegriff zu Tage tretenden Gefahr einer "Naturalisierung" des Menschen. 106 107
§ 5 Kants Entgegenstellung von sittlicher Freiheit und mathematisierter Natur 59
Husserl schreibt "Glückseligkeit" in Anführungszeichen und wir fragen: Korreliert dem sich in der Neuzeit manifestierenden und in der Gegenwart radikalisierenden Macht- und Herrschaftsanspruch der westlichen Zivilisation faktisch ein ständig wachsendes "Glück,,?109 Ferner: Bedeutet die von Husserl angesprochene Rationalisierung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, wie sie Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem "Leviathan" more geometrico dachte, außer Erhöhung der äußeren und inneren Sicherheit, nicht auch eine Gefährdung und sogar Preisgabe der wohl erworbenen Rechte und alten Freiheiten? Offenbar geht mit der zunehmenden technischen Beherrschung der Natur, die mit deren Mathematisierung möglich geworden ist, eine Erleichterung der menschlichen Lebensverhältnisse einher. Es könnte jedoch sein, daß in diesem herrschaftlichen Entwurf der Natur, der Sicherstellung des Seienden als ein im voraus berechenbarer Mechanismus, ein Moment zum Tragen kommt, das dem Anspruch neuzeitlicher Denker, den Menschen zu befreien und "glücklich" zu machen, gerade entgegensteht. Ein solches, allen erdenklichen Definitionen des Begriffes "Freiheit" entgegenstehendes Moment ist aber als Determinismus der mathematisierten Natur unabweisbar zugleich mit dem er- und übermächtigenden Charakter dieses Allgemeingültigkeit beanspruchenden Naturentwurfs gegeben. Diesen Gegensatz zwischen der menschlichen Freiheit einerseits und der mathematisierten, streng allgemeingültigen "Naturgesetzen" unterworfenen Natur andererseits zum Kernstück seines Denkens zu erheben, war die Aufgabe Kants, des Denkers, der die von Descartes begründete Bewußtseinsphilosophie erst zu ihrer reifen Gestalt entfaltete. Mit der Entdeckung der "synthetischen Einheit der Apperzeption" gelingt es Kant, das Wesen des Selbstbewußtseins rein aus sich selbst zu begründen und im Unterschied zu Descartes weitestgehend frei zu halten von Denkelementen der scholastischen Tradition. 110 Mit der Unterscheidung zwischen "Erscheinung" und "Ding an sich" schränkt Kant unser Erkenntnisvermögen auf das Erkennen der "Erscheinungen" der verhüllten "Dinge an sich" ein. Hiermit wird durch Kant der Grund für die Begrenztheit, mit einem anderen Wort: die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, in der Verfassung des Bewußtseins selbst zum Aufweis gebracht. Unsere auf die vergegenständlichte Natur gerichteten Anschauungen sind "nur sinnlich", lassen daher auch "keine speDie Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 67. Vgl. hierzu: Hannah Arendt, Action and the "Pursuit of Happiness". In: Politische Ordnung und Menschliche Existenz. E. Voegelin zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. H. Arendt u.a., München 1962. 110 Die verglichen mit Descartes größere Eigenständigkeit gegenüber der philosophischen Tradition findet allerdings ihre Grenze in Kants Übernahme der antikchristlichen Ontologie und Anthropologie. Vgl. hierzu oben § 6 der Untersuchung. 108
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kulative Erkenntnis möglich werden (... ), die weiter ginge, als mögliche Erfahrung reicht (... ),,111. Die von Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" entwickelten Grundsätze der spekulativen Erkenntnis (spekulativen Vernunft) können daher "nichts weiter ausrichten, als Erfahrung ( ... ) von gegebenen Gegenständen (... ) (welche Gegenstände) niemals (... ) vollständig gegeben sind, möglich machen.,,112 Von dieser spekulativen, theoretischen Erkenntnis unterscheidet Kant in der Einleitung der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" (1787) "gewisse Erkenntnisse, die sogar das Feld aller mögliche Erfahrungen verlassen, und durch Begriffe, denen überall kein entsprechender Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, den Umfang unserer Urteile über alle Grenzen derselben zu erweitern den Anschein haben.'.! 13 Gerade in diesen Erkenntnissen, " ... welche über die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch Berichtigung geben kann, liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir, der Wichtigkeit nach, für weit vorzüglicher, und ihre Endabsicht für viel erhabener halten, als alles was der Verstand im Falle der Erscheinungen lernen kann ... ,,114
Der Denker soll, wie Kant weiter ausführt, sich auch durch die in diesem Bereich in besonderem Maße drohende Gefahr des Irrtums nicht abschrekken lassen, sondern vielmehr "alles wagen" und die "unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst" in Angriff nehmen. Diese Aufgaben sind: "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit". Unter diesen drei Begriffen, die Kant in der "Kritik der praktischen Vernunft" (erstmals 1788) "Postulate", also Forderungen der reinen praktischen Vernunft nennt, nimmt der Begriff der Freiheit eine zentrale Stellung ein. Über diesen Begriff bemerkt Kant in der Vorrede dieser "Kritik": "Der Begriff der Freiheit ist der Stein des Anstoßes für alle Empiristen, aber auch der Schlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsätzen für kritische Moralisten, die dadurch einsehen, daß sie notwendig rational verfahren müssen" (Hervorhebungen von Kant).115
Unter "Empiristen" versteht Kant diejenigen Anhänger des auch von ihm selbst vertretenen mathematisch-kausal-mechanischen Naturentwurfs, die diesen Entwurf aber im Unterschied zu Kant absolut setzen und damit die Möglichkeit aller Unbedingtheit und Spontaneität menschlicher Entschei111 Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. K. Vorländer. Hamburg 10. Aufl. 1990, S. 53 f. IIZ Ibd. 113 Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten u. zweiten Ausgabe hrsg. v. R. Schmidt. Hamburg 3. Aufl. 1990, S. 42 (B7). 114 Ibd. 115 Kritik der praktischen Vernunft, S. 8.
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dungen leugnen müssen. "Naturnotwendigkeit" und "Freiheit", die bei den "einander widerwärtigen Begriffe" miteinander in eine systematische Übereinstimmung zu bringen, ist die eigentliche Aufgabe und das große Thema der "Kritik der praktischen Vernunft" - dem Kernstück von Kants praktischer Philosophie - keine leichte Aufgabe, selbst für Kant. Gegen den Empirismus "in der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit" denkt Kant: "Der Begriff der Kausalität als Naturnotwendigkeit zum Unterschiede derselben als Freiheit betrifft nur die Existenz der Dinge, sofern sie in der Zeit bestimmbar sind, folglich als Erscheinungen im Gegensatze ihrer Kausalität als Dinge an sich selbst" (Hervorhebungen von Kant).116
Die schon in der "Kritik der reinen Vernunft" getroffene Unterscheidung zwischen dem "Ding an sich" und den in den reinen Formen der sinnlichen Anschauung, Raum und Zeit nach Maßgabe der Kategorien vorgestellten "Erscheinungen", ermöglicht es Kant, den Kausalismus der Naturvorgänge mit einer übersinnlichen Kausalität in Beziehung zu bringen. Menschliche Freiheit muß, als Freiheit von allen sinnlich wahrnehmbaren, kausal-mechanistischen Naturvorgängen, als Willens- und Handlungsfreiheit, notwendig ihren Grund in einer aller Sinneswahrnehmung enthobenen Dimension suchen. Mit anderen Worten: Wille und Handlung sind nur dann frei, wenn sie ihre Kraft aus einer ganz anderen Quelle beziehen, als aus dem Naturmechanismus. Die grundsätzliche Ablehnung aller Einflußnahme von sinnlichen Antrieben und Neigungen auf den Willen als freien Willen schöpft ihre Legitimation - mit Blick auf die systematische Einheit und Geschlossenheit von Kants Denken - aus der in der "Kritik der reinen Vernunft" getroffenen Unterscheidung zwischen "Ding an sich" und "Erscheinungen". Diese grundlegende Unterscheidung Kants ist auch in Hinblick auf den berühmten Diskurs des Philosophen mit Schiller zu beachten: Eine gleichberechtigte Harmonisierung von Vernunft und Sinnlichkeit im Sinne der "Schönen Seele" Schillers muß Kant ablehnen, um seine Konzeption von Freiheit, als Freiheit von der empirischen Natur durch- und aufrechtzuerhalten, die ihm allein als Mechanismus offenbar ist und daher gerade als Sinnlichkeit und Neigung, ihren animalischen Erscheinungsformen, der Freiheit des Willens "widerwärtig" ist. 117 Wir fragen: In welchem Grund gründet der freie Wille Kants, aus welcher Quelle entspringt seine, den Menschen in seiner Wesenswürde erst ermöglichende Kraft? Grund und Quelle ist die reine Vernunft selbst, die Be116 S. 110. 117 Zu der Auseinandersetzung zwischen dem Dichter und dem Denker, vgl: Materialien zu Kants "Kritik der praktischen Vernunft". Hrsg. v. Bittner u. Cramer, Frankfurt am Main, 1975, S. 211 ff., S. 221 ff. Vgl. hierzu Gerold Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 240--277.
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fehle erteilt. Die reine, praktische Vernunft wirkt "unrnittelbar gesetzgebend". Kant unterstreicht die "Befremdlichkeit" seines Gedankens: "Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. Die Sache ist befremdlich genug und hat ihresgleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntnis nicht (Hervorhebung von Kant).,,118 Einzige Triebfeder des menschlichen Willens hat das "moralische Gesetz" zu sein, das sich seinerseits der Gesetzgebung der reinen Vernunft verdankt. Das wichtigste dieser "Gesetze" ist der berühmte Kategorische Imperativ, das "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft": "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."119,,Maxime" ist der subjektive Grundsatz, dessen "Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird.,,12o Demgegenüber wird die Bedingung des von der Vernunft gegebenen Gesetzes "als objektiv, d.i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt.,d21 Dieses Gesetz bestimmt den Willen als Willen, d. h. es geht nicht auf eine "begehrte Wirkung", sondern bezieht sich allein auf den Willen, den es als Willen und nur als Willen bestimmt. Kant: ,,( ... ) ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetz gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht gut und die oberste Bedingung alles Guten.'d22 Es ist ganz offensichtlich, daß Kant - wie er auch selbst hervorhebt sich bei seiner Definition des moralischen Gesetzes als einem objektiven Grundsatz von strenger Notwendigkeit und allgemeiner Gültigkeit von dem Vorbild des physikalischen Naturgesetzes leiten läßt: Das moralische Gesetz als Gesetz der Freiheit könne "seiner Form nach" sogar als "Naturgesetz" bezeichnet werden. 123 Im Unterschied zu dem physikalischen Naturgesetz, z. B. dem Prinzip der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung in der Mitteilung der Bewegung, kann aber dem "Begriffe des Unbedingt-Guten keine Anschauung, mithin kein Schema (entsprechend demjenigen der reinen Verstandesbegriffe in der ,Kritik der reinen Vernunft', Anm. v. mir) zum Behufe seiner Anwendung in concreto untergelegt werden." Dem "Gesetz der Freiheit" entspricht daher kein anderes Erkenntnisvermögen als die reine (praktische!) Vernunft selbst, die als intelligibles Vermögen, losgelöst von aller Sinnlichkeit zu denken ist. 118 119 120 121 122 123
Kritik der praktischen Vernunft, S. 36. Ibd. S. 21.
Ibd. S. 73. S. 81.
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Entscheidend ist für Kant, "was die Vernunft selbst sagt".124 Wie Kant klar macht, erhebt den Menschen die Vernunft als solche noch keinesfalls über die "Tierheit", also die Animalitas des animal rationale, "wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet.,,125 Hiermit hätte der Mensch als Vernunftswesen noch keine höhere Bestimmung als das Tier, das Instinktwesen. Der Mensch wäre dann bloß das kraft seines Vernunftvermögens mächtigste Tier. Das eigentliche, freie Vernunftswesen dieses mächtigsten Tieres bliebe verdunkelt. Wie ist der Begriff der "Unbedingtheit", die den Menschen erst zu seiner spezifischen gesetzlichen Freiheit befreit, näher bestimmt bei Kant? In der Einleitung seines Hauptwerkes, der "Kritik der reinen Vernunft", nennt Kant "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" als "unvermeidliche Aufgaben der reinen Vernunft".126 Das Gewicht, das diesen drei Begriffen in Hinblick auf Kants Begründung der Wesenswürde des Menschen zukommt, muß ebenso aus dem Denkhorizont von dessen bewußtseinsphilosophischer Grundstellung erwogen werden, wie das Spannungsverhältnis, in dem diese drei für die praktische Philosophie Kants so zentralen Begriffe zu dessen spekulativer, theoretischer Philosophie stehen, wie sie in der "Kritik der reinen Vernunft" in großer Klarheit entfaltet ist. Das Spannungsverhältnis zwischen Kants praktischer und Kants theoretischer Philosophie wird in dessen Bestimmung von "Gedanke" und "Begriff" deutlich. Kant schreibt in der "Kritik der reinen Vernunft": "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen).,,127 Den Begriffen "Gott", "Freiheit" und "Unsterblichkeit" entspricht aber keinerlei sinnliche Anschauung. Um mit Kant zu reden: Diesen drei Begriffen kann in der Anschauung kein Gegenstand beigefügt werden, da zum Begriffe des Gegenstandes dessen sinnliche Anschauung gehört. Vorerst sei der unter den drei Begriffen die Würde des Menschen konstituierende Begriff der Freiheit in den Blick genommen. Kant sagt in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft über das Verhältnis zwischen Freiheit und moralischem Gesetz, "daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können" (Hervorhebung von Kant).128 Anders gewendet: Das moralische Gesetz hat zwar den Seins124 125
s. 72 f. S.73.
126 Kritik der reinen Vernunft, S. 42. 127 Kritik der reinen Vernunft, S. 95. 128 Kritik der praktischen Vernunft, S. 4; die Anmerkung auf der seIben Seite unten.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
grund (die "ratio essendi") in der Freiheit, aber, daß wir überhaupt dazu berechtigt sind, daß so etwas wie "Freiheit" ist, anzunehmen, liegt in dem moralischen Gesetze beschlossen, welches "in unserer Vernunft eher (Hervorhebung von Kant) deutlich gedacht" werden kann, hiermit die "ratio cognoscendi" der Freiheit ausmacht. Im Unterschied zu Schelling, für den Menschliche Freiheit in dem Gefühl der Freiheit zur Evidenz gelangt 129 , gibt es bei Kant keine Evidenz der Freiheit aus sich selbst heraus, im Sinne einer Selbstgegebenheit der Freiheit als einem Phänomen. Die Vergewisserung ihrer "Wirklichkeit" erfolgt auf dem Umwege der Kenntnisnahme des Moralischen Gesetzes. Ihre "Wirklichkeit" ist somit bei Kant nicht aus sich selbst aufweisbar, sondern "postuliert", gefordert durch die reine Vernunft, der Gesetzgeberin des Moralischen Gesetzes. Von der reinen Vernunft "postuliert", gefordert sind auch die bei den anderen Konstituanten der praktischen Philosophie Kants: die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes. Die Unsterblichkeit der Seele ist gefordert, weil das Sittengesetz, wie es im Sinne Kants von der Vernunft gesetzt ist, in diesem Leben nicht erfüllbar ist. Im Unterschied zu den antiken Denkströmungen der "Cyniker", der "Epikureer" und der "Stoiker" mit ihren "Ideen" der "Natureinfalt", der "Klugheit" und der "Weisheit" fordert die Christliche Morallehre, die für Kant den Maßstab für das moralische Vernunftgesetz liefert, die "Heiligkeit" von dem Menschen. Diese ist aber in diesem Leben nicht erreichbar: Der Tugendhafte heißt nicht so, weil er dazu imstande ist, das Sittengesetz zu erfüllen, sondern weil er diese Erfüllung als etwas im Leben Unerreichbares erstrebt. Ihm bleibt daher nur die Hoffnung, dies, was nicht in seinem gegenwärtigen Vermögen steht, werde ihm in einem zweiten Leben zuteil werden. 130 Die Vereinigung der Sittlichkeit mit der Glückseligkeit, demjenigen "Zustand" eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im ganzen seiner Existenz "alles nach Wunsch und Willen geht", verlangt, für Kant, nach einer von der Natur geschiedenen Ursache der gesamten Natur. Diese Vereinigung, "das höchste Gut", geschieht allein in der christlichen Lehre vom Reich Gottes der "strengsten Forderung der praktischen Vernunft" gemäß. Die Uneinlösbarkeit des sittlichen Gesetzes verlangt dem Menschen "eine mit Demut verbundene Selbstschätzung, und also in der Ansehung der Heiligkeit, welche das christliche Gesetz fordert, nichts als Fortschritt ins Un129 Schelling, Schriften von 1806-1813. Darmstadt 1976, S. 280. Von dieser Bestimmung der Freiheit als "Thatsache" nimmt Heideggers phänomenologische Untersuchung der Abhandlung ScheIlings ihren Ausgang. Vgl. ders.: Schelling, "Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809)." Gesamtausgabe Bd. 42. Hrsg. v. Ingrid Schüßler, Frankfurt am Main, 1988. 130 Kritik der reinen Vernunft, S. 350 f. (B372). Vgl. ferner: Kritik der praktischen Vernunft, S. 146 f. Wichtig ist besonders die Anmerkung, ibd.!
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endliche dem Geschöpf übrig läßt, eben daher aber auch dasselbe zur Hoffnung seiner ins Unendliche gehenden Fortdauer berechtigt." 131 Wenn sich Kants Denken mit den "Postulaten der reinen Vernunft" als eine späte Grundstellung des christlichen Platonismus erweist, womit eine enge Beziehung zum Renaissanceplatonismus, insbesondere zu Pico della Mirandola aufleuchtet, so ist diese Grundstellung doch in der Weise, in der das Ich und der Wille grundlegend werden, neuzeitlich und wegweisend für alles Kommende: " ... ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandes welt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei ... ,,132.
Die Entgegenstellung Kants von sittlicher Freiheit und kausal-mechanistischem Naturentwurf, der als solcher bei Kant stets vollkommen fraglos gültig ist, wird in besonders eindrucksvoller Weise durch den "Beschluß" der "Kritik der praktischen Vernunft" dokumentiert, der zugleich auch etwas über die Verlorenheit des neuzeitlichen "Ich" sagt, das sich als Selbstbewußtsein zur Grundlage der Wahrheit des Alls macht, um in diesem unermeßlichen Weltall dann als Sinneswesen wie ein Staubkorn zu verschwinden (Hervorhebungen von Kant): "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. ,,133
Diese von großer Leidenschaft getragene Stelle offenbart das schöpferische Spannungsverhältnis, das Kants metaphysische Grundstellung auszeichnet. Der "bestirnte Himmel über mir" ist die Natur im Ganzen, wie sie bei Kant nach Maßgabe der Klassischen Mechanik Izaak Newtons vorgestellt ist. Dieses Ding "fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlosen Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer." Wie der "Anblick" des "moralischen Gesetzes in mir" ist der "Anblick" der Natur im Ganzen nicht in "Dunkelheiten verhüllt"; "ich sehe sie vor mir" - d. h. ich habe ein Bewußtsein von diesem Ding, da ich es, wie Kant sagt, "unmittelbar mit dem Bewußtsein (Hervorhebung v. mir) meiner Existenz verknüpfe." Nur in der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins liegt das Fundament und zugleich die Einheit der praktischen wie auch der theoretischen Vernunft, damit überhaupt die Grundlage eines einheitlichen Be131
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Kritik der praktischen Vernunft, S. 147. S. 164. S. 186.
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griffes einer "reinen Vernunft", der die Transzendentalphilosophie mit der praktischen Philosophie vereinigt, indem sie "die Prinzipien, etwas schlechthin apriori zu erkennen" enthält. 134 Kant erfahrt die Natur in ihrer unermeßlichen Weite nach Maßgabe der neuzeitlichen Physik vergegenständlicht und doch zugleich als unbedingt ehrfurchtsgebietend, den Menschen als "ein tierisches Geschöpf' gleichsam vernichtend. Dieser Vernichtung steht nicht meine "Erkenntnismacht" i. S. Husserls entgegen 135, sondern zugleich mit der Erfahrung des "moralischen Gesetzes in mir", die Erfahrung meines Selbst als "Intelligenz" und als "Persönlichkeit", welche Erfahrung meinen Wert ins Unendliche erhebt. Ist der Mensch als "tierisches Geschöpf' Erscheinung gegenüber dem vorstellenden Selbstbewußtsein, so ist er in anderer Weise bloße Erscheinung als vorstellendes, vergegenständlichendes Selbstbewußtsein im Verhältnis zu eben diesem, im Rahmen der spekulativen Vernunft analysierten Vermögen, also im Selbstbezug des Selbstbewußtseins. Erst "das moralische Gesetz in mir" offenbart mir "ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben." Erst in dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes erfahre ich meine Zugehörigkeit zu einem Reich der Freiheit, das losgelöst von allen Naturgesetzen zu denken ist. In dieser Zugehörigkeit offenbart sich mir mein eigenstes Wesen als "Ding an sich". Prauss hat auf das Vorbild des Rousseauschen Freiheitsbegriffes für Kants praktische Philosophie hingewiesen und meint, in dieser Übernahme erst habe sich die Wesensverfassung des griechisch-römischen "animal rationale" zum neuzeitlichen "animal liberum" modifiziert. 136 Zu bedenken ist aber die konstituierende Kraft des Christlichen im Denken Kants und die fernere Herkunft seines Freiheitsbegriffes aus der christlichen Denktradition, deren wichtigste Quelle Augustinus' Dialog "de libero arbitrio" ist. Geht es bei Augustinus um die Vereinbarkeit menschlicher Willensfreiheit mit der Allmacht Gottes, so geht es bei Kant um die Vereinbarkeit eben dieser christlichen, wenn auch im Sinne der neuzeitlichen Subjektsontologie gewandelt ausgelegten Freiheit, mit dem mechanistischen Weltbild der herrschenden neuzeitlichen Naturwissenschaft. Darüber hinausgehend verweist aber das in Kants Denken offenbar werdende Spannungsverhältnis zwischen menschlicher Freiheit und mechanistischem Naturentwurf auf die substantielle Gefährdung von Freiheit und Würde des Menschen unter der in den nachfolgenden bei den Jahrhunderten 134 Kritik der reinen Vernunft, S. 55 (All). Die praktische Philosophie unterscheidet sich aber grundlegend von der Transzendentalphilosophie, da, obzwar ihre moralischen Grundsätze bei Kant apriori gültig sind, sie sich doch auf Gefühle, mithin empirische Erkenntnisquellen bezieht. 135 Vgl. das Husserl-Zitat zu Beginn des § 5 der Untersuchung. 136 Prauss, S. 40 ff.
§ 6 Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst"
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ständig wachsenden Herrschaft eben dieses mathematisch-mechanistischen Entwurfes der Natur, der mehr und mehr den Menschen in sich einbezieht und damit sich unterwirft. Mit dem Wachstum der "Erkenntnismacht" des neuzeitlichen Menschen geht ein Überhandnehmen des absolut gesetzten mathematischen Naturentwurfes auf zunehmend alle Lebensbereiche einher, auch wenn diese Unterwerfung unter ein rechnendes Denken meist verhüllt wird. Die Vergegenständlichung als Folge der Mathematisierung verliert mehr und mehr den Anschein, eine bloß kontemplative Verhaltung zum Seinden im Ganzen und zum Menschen selbst zu sein und offenbart ihr tieferes Wesen als Gestaltung der Welt durch das herrschaftliche Menschentum der Gegenwart, für das Freiheit mehr und mehr zur Illusion wird oder sich auf den reinen Machtcharakter reduziert. Der Bauer führt den Pflug - der Arbeiter bedient die Maschine - der Kranke wird zum "Patientengut".
§ 6 "Werdet nicht der Menschen Knechte,,137 Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst" Für den Entwurf des Seienden im Ganzen bei Kant ist es entscheidend, daß er den ungeheuer komplexen Bereich empirischer Wahrheit, die "Sinnenwelt", nicht anders als in der Weise des "Mechanismus der ganzen Natur" denken kannYs Daher ist auch der Mensch, insofern er "Tier", also "Sinnenwesen" ist, nur als Mechanismus offenbar. Die sinnlich-animalischen Neigungen des Menschen sind in diesem Mechanismus unfrei verspannt. Erst in der Erfüllung der Pflicht ("du erhabener großer Name"), die ein Gesetz aufstellt, "vor dem alle Neigungen verstummen", erhebt sich der Mensch in seiner Tierheit, als Bestandteil der Sinnenwelt, über sich als Sinneswesen und erfährt sich in diesem, unter Abstoßung der Sinnlichkeit gewonnenen, erhabenen Selbst als "Persönlichkeit d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur,,139. Das Erheben des Menschen über sich selbst als Sinneswesen, die Überwindung der Animalitas des animal rationale, ist daher zugleich, als Unterwerfung dieser Sinnesnatur unter die eigene Persönlichkeit, die Erfahrung des eigenen Selbst als Vernunftwesen. Es ist für Kant "nicht zu verwundern", "wenn der Mensch, als zu bei den Welten gehörig (also der Sinnenwelt als tierischer Organismus und dem I37 Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Bd. VI. Gesammelte Schriften hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Unveränderter Nachdruck. Berlin 1968, S. 436. 138 Kritik der praktischen Vernunft, S. 101. 139 Ibd.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
Reich der Freiheit als Persönlichkeit, Anm. v. mir), sein eigenes Wesen in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß,,140. Diese Gesetze sind eigentümliche, von meiner eigenen Vernunft gegebene Gesetze. Erst mit dem "Eigentümlichen" und "Eigenen" des Selbstbezuges erfährt der Mensch seine ihm eigentümliche Freiheit und Würde als Vernunftswesen (Hervorh. v. Kant): "Daß in der Ordnung der Zwecke der Mensch (... ) Zweck an sich selbst sei, d.i. niemals bloß als Mittel von jemandem (... ), ohne zugleich hierbei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, daß also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil er das Subjekt des moralischen Gesetzes, mithin dessen ist, was an sich heilig ist, um dessen willen und in Einstimmung mit welchem auch überhaupt nur etwas heilig genannt werden kann".141 Mit der Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst" offenbart sich die Heiligkeit der Menschheit, der Humanitas, in der jeweils als Zweck ihrer selbst existierenden und daher stets auch um ihrer selbst willen existierenden Person. Als "Subjekt des moralischen Gesetzes" ist der Mensch Subjekt dessen, "was an sich heilig ist". Worin liegt der Grund der Heiligkeit des moralischen Gesetzes? Der Grund der Heiligkeit des moralischen Gesetzes, "um dessen willen und in Übereinstimmung mit welchem überhaupt nur etwas heilig genannt werden kann", ist die "Autonomie des Willens als freier Wille". Dieser "freie Wille" muß "nach seinen allgemeinen Gesetzen notwendig zu demjenigen zugleich (... ) einstimmen können, welchem er sich unterwerfen soll.,,142 Den großen Gedanken von der Freiheit des Willens, als dem schlichtweg Heiligenden selbst, entfaltet Kant in seiner Rechts- und Staatsphilosophie: "Gesetzliche Freiheit" besteht darin, daß der zur bürgerlichen Gesellschaft vereinigte, auf einer Vereinigung der Staatsbürger beruhende "vereinigte Volkswille" keinem anderen Gesetz gehorchen soll, "als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat".143 Damit legt Kant die "Gesellschaft" im Sinne des Subjektes der neuzeitlichen Ontologie aus. Diese Übertragung der Personalität der selbstverantwortlichen Person auf die Gemeinschaft der Staatsbürger scheint Gefahr zu laufen, sich über die Freiheit des jeweiligen Individualwillens hinwegsetzen zu können, um diese Freiheit damit zu vernichten. Ein Konflikt, den Rousse au in seiner Lehre von der "volonte generale", die nicht identisch ist mit der "volonte de tous", zu Gunsten des vereinigten Volkswillens entschieden 140 141 142 143
Ibd. Kritik der praktischen Vernunft, S. 151. Kritik der praktischen Vernunft, S. 151. Metaphysik der Sitten, AA VI., S. 314.
§ 6 Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst"
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hat. Das neuzeitliche Wesen der "volonte generale" zeigt sich darin, daß sie gegenüber den nicht zustimmenden, widerspenstigen Individualwillen stets im Recht ist - und damit das Unrecht derer, die ihr entgegenstehen beweist, um sie entsprechend zu entlarven und zu überführen. Kant ist sich allerdings dieser naheliegenden Konsequenz des neuzeitlich interpretierten Demokratieprinzips bewußt. Er bemerkt in der 1795 erschienenen, somit schon unter dem Eindruck der Exzesse der von ihm grundsätzlich differenziert bewerteten Revolution l44 entstandenen Schrift "Zum ewigen Frieden" über die Demokratie, die er als "Staatsform" von den Staatsformen der Autokratie und der Aristokratie unterscheidet: "Unter den drei Staatsformen ist die Demokratie im eigentlichen Verstande des Worts notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin Alle, die doch nicht Alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.,,145
Dieser Widerspruch des "allgemeinen Willens" mit der Freiheit, wenn er sich also nicht mehr mit dem Willen aller einzelnen Staatsbürger deckt, ist bei Kant gegeben, weil er seinen Begriff der rechtlichen Freiheit ganz im Ich-Subjekt der verantwortlichen Persönlichkeit gründet. Rechtliche Freiheit "ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich (hervorgehoben v. mir) meine Beistimmung habe geben können."l46 Diese Definition der rechtlichen Freiheit ist eine genaue Übertragung der Definition der allgemeinen Willensfreiheit, nämlich "demjenigen zugleich einstimmen zu können, dem er sich unterwerfen soll" aus der "Kritik der praktischen Vernunft" auf das Rechtsdenken. 147 Aus dem in dieser Konkretisierung der Willensfreiheit deutlich werdenden Primat des Willens, als Individualwillen, gegenüber dem eher fiktiven "Willen" einer Volksgemeinschaft, wird deutlich, wie viel Sprengstoff die Forderung Kants, der Einzelne habe die Befugnis, jederzeit als sein eigener Gesetzgeber wirken zu können, gegenüber allen kollektivistischen Inanspruchnahmen der Willensfreiheit enthält. Die Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst" verlangt, wie es Heidegger in einer für uns wichtigen Interpretation genannt hat, ein "unterwerfendes Sicherheben mei144 Kant konnte allerdings, obwohl den politischen Ideen der Revolution nahestehend, diese grundsätzlich - als Auflösung des rechtlichen Zustandes - erst im Nachhinein, nach Wiederentstehung einer rechtlichen Ordnung, bejahen. Im Gespräch sagte Kant 1798, auf die Frage eines Besuchers, welche Folgen die Französische Republik (nicht die Revolution!) haben müsse: "Groß, unendlich groß und wohltätig". Vgl. Johann Friedrich Abegg, Reisetagebuch von 1798. Hrsg. v. Walter u. lo1anda Abegg, Frankfurt am Main 1987, S. 249. 145 Zum ewigen Frieden, AA VIII. Nachdruck 1969, S. 352. 146 Zum ewigen Frieden, S. 350. 147 Kritik der praktischen Vernunft, S. 151.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
ner selbst zu mir selbst.,,148 Das für sich selbst verantwortliche Selbst ist damit gleichermaßen die Quelle der Unterwerfung, wie es die Quelle der Freiheit ist. Freiheit ist nicht Selbstverwirklichung, sondern, als ungezwungener Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen moralischen Gesetz, Erhebung des Selbst zur Pflichterfüllung und damit die Gewinnung des eigensten Selbst als Persönlichkeit. Die Bewahrung der Integrität des Selbst, als Zweck an sich selbst, bildet daher den einzigen Maßstab für die Pflichtgemäßheit einer Handlung. Zweck an sich selbst bin ich aber nicht für mich allein, Zwecke an sich selbst sind gleichermaßen auch die Mitmenschen. So sagt Kant: "Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit auch als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.,,149
Diese Würde, die dem Menschen, als Menschen, als Wesensfolge eigentümlich ist, verpflichtet mich gegenüber meinem Mitmenschen unmittelbar: "Gleichwie der Mensch also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widersprechen würde), so kann er auch nicht der ebenso notwendigen Selbstschätzung Anderer als Menschen entgegen handeln". Deswegen ist der Mensch "verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.,,15o Der Mensch wahrt seine "Menschheit", also sein Wesen als Mensch, im handelnden Vollzug der Achtung sowohl des Selbst, wie jedes anderen Menschen. Handelnd "vermag" der Mensch dergestalt sein Mensch-sein in einem Reich der Zwecke, als einem Reich der Freiheit. Heidegger hierzu: "Das Reich der Zwecke ist das Miteinander-Sein, das Commercium der Personen als solches, und deshalb das Reich der Freiheit.,,151 Damit wird der Grund des Vorrangs der praktischen Philosophie Kants gegenüber dessen theoretischer Philosophie offenbar, ein Vorrang, den der Denker in der "Kritik der reinen Vernunft" feststellte. 152 Als Reich der Zwecke an sich selbst ist das Reich der Freiheit, in dem sich unser Mensch-sein vollzieht, höheren Ranges 148 Die Grundprobleme der Phänomenologie, Marburger Vorlesung Sommer 1927, Gesamtausgabe Bd. 24. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt am Main, 3. Aufl. 1997, S. 192. 149 Metaphysik der Sitten, AA VI., S. 462. 150 Ibd. 151 Die Grundprobleme der Phänomenologie GA 24, S. 197 (Hervorhebungen v. Heidegger). 152 Kritik der reinen Vernunft, S. 42 (B7).
§ 6 Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst"
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als das Reich der Naturgesetzlichkeit, dessen Erkenntnismöglichkeit die theoretische Philosophie thematisiert. Dieser von Kant innerhalb seiner Denkposition erfahrene Rangunterschied zwischen den "Erkenntnissen" der praktischen Philosophie gegenüber denjenigen der theoretischen, steht in einem lebendigen, in der Sache gegründeten Verhältnis zu dem von Husserl phänomenologisch begründeten Vorrang der Lebenswelt gegenüber der von dieser Lebenswelt abstrahierten, mathematisierten "Welt" der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Während für Kant sich alle objektive Wahrheit des Seienden, soweit sie überhaupt, und das heißt: mit den Sinnen erkannt werden kann, auf dessen Erscheinungen beschränkt, muß er die Aufgabengebiete der praktischen Vernunft, die Ethik und das Recht, im übersinnlichen Bereich der "Dinge an sich" aufsuchen. Diese mit gutem Grund bisweilen mystisch anmutende Unterscheidung Kants zwischen "Erscheinung" und "Ding an sich" hält durchaus einer Bewährung an den konkreten Gegenständen des Rechtsdenkens stand. So nimmt Kant die Unterscheidung zwischen Besitz und Eigentum entsprechend seiner metaphysischen Unterscheidung vor. Ob eine Sache mir gehört oder nicht, ist sinnlich nicht zu fassen. Der bloße Besitz - i. S. der reinen Sachherrschaft - als etwas äußerlich zutage Tretendes, sagt gar nichts darüber aus, ob mir die Sache, die ich in der Hand halte, auch gehört. Dies ist die Frage eines un-sinnlichen Bezugsverhältnisses, die Frage des "intelligiblen Besitzes", wie es Kant nennt. 153 Die mit der metaphysischen Unterscheidung zwischen sinnlicher "Erscheinung" und intelligiblem "Ding an sich" zwingend gegebene Aufspaltung des Menschen in ein Sinneswesen, in ein erkennendes Selbstbewußtsein, und schließlich in sein eigenstes Wesen als Persönlichkeit und Zweck an sich selbst, hat im Einzelnen aber befremdliche Folgen. Dies wird zumal im 3. Abschnitt desjenigen Teils der "Metaphysik der Sitten" deutlich, der mit "Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" überschrieben ist. Kant handelt darin von dem "auf dingliche Art persönlichen Recht". Die Eigenartigkeit und die "Sach"-Fremdheit der Ausführungen Kants darf nicht über den Ernst und das Gewicht dieser Paragraphen hinwegtäuschen, die sich mit nichts Geringerem als dem Fundament menschlicher Lebensordnung befassen. Die Definition des "auf dingliche Art persönlichen Rechts" durch Kant: "Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person ,,154 (Hervorhebungen v. Kant). In dem folgenden Paragraphen 23 nennt Kant die konkreten Figuren dieses auf dingliche Art persönlichen Besitz153 Metaphysik der Sitten, AA VI., S. 245. Folgerichtig ist für Kant eine "bloß empirische Rechtslehre" eine Dummheit, S. 230: "Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus' Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur Schade! daß er kein Gehirn hat." 154 Metaphysik der Sitten, AA VI., S. 276.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
rechtes: "Der Mann erwirbt ein Weib, das Paar erwirbt Kinder und die Familie Gesinde."lss Die im "Eherecht" (§§ 24 ff.) von Kant dargelegten Konkretisierungen seiner Grundsätze und Unterscheidungen sind von besonderer Bedeutung, da sich hier in eindringlicher Weise zeigt, daß sich dessen künstliche Aufsplitterung des Wesens des Menschen in eine sinnlich erfahrbare Sache und eine intelligible, übersinnliche Persönlichkeit an den konkreten Lebensverhältnissen nicht uneingeschränkt bewährt. Nach einigen Ausführungen über "unnatürliche Geschlechtsgemeinschaften" unterscheidet Kant innerhalb der "natürlichen Geschlechtsgemeinschaft": Sie "ist nun entweder die nach der bloß tierischen Natur (... ) oder nach dem Gesetz".IS6 Damit wird deutlich, daß für Kant allein die Legalisierung eines solchen Verhältnisses es von einem zoologischen Sachverhalt unterscheidet. Animalische Sexualität und menschliche Geschlechtsliebe werden von Kant vollkommen auf die selbe Ebene gezwungen, mehr noch: miteinander identifiziert. Durch den Geschlechtsakt "macht sich der Mensch selbst zur Sache, welches dem Recht der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet" .157 Kant führt weiter aus: "Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, daß, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her." 158 Kant sagt also, daß sich die Versklavung des einen Geschlechtspartners nur durch die wechselseitige Versklavung auch des anderen Partners aufheben läßt, welche Wechselseitigkeit die vertragliche und damit wechselseitig verpflichtende Basis des Geschlechtsverhältnisses als Ehe "nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft" unbedingt erfordert. Vom logischen Standpunkt sind diese Ausführungen Kants nicht verfehlt. Mit dem Erwerb des anderen als "Sache" geht jeweils die Wiederinbesitznahme des als "Sache" preisgegebenen eigenen Körpers einher. Das Widrige dieser Darlegungen läßt sich auf die unzulängliche Ontologie der "Menschheit" des Menschen als "Persönlich155 Metaphysik der Sitten, AA VI., S. 276 f. Diese drei Bereiche gehören zu dem "Recht der häuslichen Gemeinschaft". Ein verfassungsgeschichtlich äußerst wichtiger Sachverhalt, "das ganze Haus" (Wilhelm Heinrich Rieh!) als die grundlegende Herrschafts- und Wirtschaftseinheit der Antike, des Mittelalters und noch der frühen Neuzeit findet damit in Kants Rechtsdenken eine Quelle ersten Ranges. 156 Metaphysik der Sitten, AA VI., S. 277. Hervorhebungen von Kant. 157 Metaphysilk der Sitten, AA VI., S. 278. Befremdend ist, daß bei Kant "Menschheit" hier scheinbar in der Personifizierung eines dem Einzelnen gegenüber berechtigten Subjektes auftritt. Da bei Kant mit "Menschheit" aber nicht - wie heute gewöhnlich - die als ein Ganzes vorgestellte Summe aller lebenden Menschen gemeint ist, sondern die Humanitas i. S. der Wesensverfassung des Selbst und des Mitmenschen, die sowohl im Selbst als auch im Mitmenschen erst errungen werden muß, müßte Kant sagen: ,,( ... ) dem Recht der Menschheit in seiner eigenen Person widerstreitet." 158 Ibd.
§ 6 Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst"
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keit" zurückführen, die eben nur in dem un-sinnlichen Reich der Vernunft ihr Wesen entfaltet. Nur als das Handeln der praktischen Vernunft und als freier Wille ist der Mensch "Zweck an sich selbst". In seiner leiblichen, d. h. natürlichen Gegebenheit ist er bloße Sache und kann dementsprechend auch gleich unbelebten und belebten Sachen gebraucht werden. Damit wird der Mensch als Sinneswesen zum Mittel erklärt und somit verdinglicht. Er wird als Sinneswesen einem Gebrauch als Instrument zugänglich gemacht, gleichwohl er als intelligible Persönlichkeit doch als Zweck seiner selbst "gebraucht" werden muß. Persönlichkeit und Sache, Vernunftwesen und Tierheit, Ratio und Animalitas stehen für Kant aber nicht beziehungs los nebeneinander: "Der Erwerb eines Gliedmaßes (ist) zugleich Erwerb der ganzen Person, - weil diese eine absolute Einheit ist". Aus dem klaren Bewußtsein dieser unauflöslichen "Einheit der Person" wendet sich Kant gegen "schimpfliche und die Menschheit selbst entehrende Strafen", die am menschlichen Leib vollzogen werden: ,,( ... ) wie das Vierteilen, von Hunden zerreißen lassen, Nasen und Ohren abschneiden.,,159 Solche Strafen sind "nicht bloß dem Ehrliebenden (der auf Achtung Anderer Anspruch macht, was ein jeder tun muß) schmerzhafter (... ) als der Verlust der Güter und des Lebens, sondern (werden) dem Zuschauer Schamröte abjagen, zu einer Gattung zu gehören, mit der man so verfahren darf d6o . Hiermit zeigt Kant, daß er durchaus darum weiß, wie die Leiblichkeit zur Ganzheitsstruktur der Wesensverfassung des Menschen konstitutiv gehört. Es ist aber deutlich geworden, daß er die Leiblichkeit, obwohl er sie auch als unablösbar von der Wesenswürde des Menschen erfaßt, doch immer wieder und geradezu zwanghaft unter dem einseitigen Aspekt der "Tierheit" des Menschen als Eigenschaft einer "Saehe" sehen muß. Die Verdinglichung des Menschen bis hin zur Entfremdungsproblematik im modemen Arbeitsprozess scheint somit schon in der traditionellen Wesensbestimmung des Menschen als "Vernünftiges Lebewesen" angelegt zu sein, der auch Kant verhaftet bleibt, selbst dort, wo er das Wesen des Menschen als "Zweck an sich selbst" neu und zutreffend zu begründen unternimmt. Die phänomenologische Auslegung von Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck" durch Heidegger ist deswegen zugleich eine Aufhellung von Kants Abhängigkeit von der philosophischen Tradition, die dessen Denken immer wieder bindet. Heideggers phänomenologisches Gespräch mit Kants Wesens bestimmung des Menschen als Person und "Zweck an sich selbst" schließt mit dem Ergebnis: "Obwohl Kant weiter als andere vor ihm in die ontologische Struktur der Personalität vordringt, kann er doch (... ) nicht dazu kommen, die Frage nach der Seinsart der Person ausdrücklich zu stellen.'.J61 159 Metaphysik der Sitten, AA VI., S. 463. 160 Ibd.
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
Für Heidegger ist Kant einerseits der Entdecker der immanenten Struktur der Personalität, damit derjenige, dem es gelingt, die Wesenswürde des Menschen in dessen Verfassung als "Zweck an sich selbst" zum Aufweis zu bringen. Andererseits unterbleibt bei Kant die Frage nach der Existentia, dem Wie-sein der dergestalt als Zweck offenbar gewordenen Person. Die angemessene Bestimmung der Seinsart des Menschen unterbleibt bei Kant, weil er ihn als Subjekt von vornherein in einen unangemessenen Horizont stellt, indem er dessen Seinsart als "Vorhandenheit", also Wirklichkeit, im Sinne eines vorgestellten, vergegenständlichten "Dinges" nicht von der Seinsart des nichtmenschlichen Seienden unterscheidet. Diese "indifferente Charakteristik des Subjekts" geht auf die in Kants Denken verhüllt nachwirkende antik-christliche Ontologie zurück, die die körperlichen und die geistigen Substanzen als geschaffene und somit endliche ontologisch insofern untereinander gleichordnet, indem sie jene auf Gott, als deren Schöpfer, als den "eigentlich" Erkennenden und damit den "eigentlich" Seienden hinordnet. 162 Die von Heidegger angegriffene "Indifferenz" der Person gegenüber dem nichtmenschlichen Seienden hat ihren metaphysischen Grund in der Geschöpflichkeit von Mensch, Tier und Stein, also in einer religiös-metaphysischen Ontologie, die jedenfalls dann bedenklich wird, wenn sie dazu verführt, damit die Frage nach der spezifischen Seinsart des Menschen - im Unterschied zu den belebten und unbelebten Bereichen der Natur - gar nicht erst aufkommen zu lassen. Mit der religiös-metaphysischen Setzung der Geschöpflichkeit dieses Seienden scheint ja die Frage nach dessen Seinsart schon beantwortet und somit erledigt zu sein. Mit dem Vorwurf Heideggers, die Frage nach der Seinsart der Person unterlassen zu haben, ist der Vorwurf an Kant von der Sache her zwingend geboten, die Einheit von erkennendem Selbstbewußtsein und von dem handelnden Selbst als Persönlichkeit und schließlich von dem Menschen als Sinneswesen überhaupt übergangen zu haben. Indem Kant seine Unterscheidungen vornimmt, bleibt gerade der einigende Grund der existenziellen Einheit der verleiblichten Person - als welche Einheit ich als sterbliches Wesen bin und einzig sein kann - verdunkelt. 163 Im Unterschied zu dieser, aus der Sache begründeten Kritik, die - knapp gesagt - gegenüber Kants rein erkenntnisbezogener Thematisierung der Zeit kulminieren muß, die die Zeitlichkeit und damit das Wesen des Menschen als Dasein verhüllt läßt, steht die positive Auslegung der praktischen Philosophie Kants als "Phänomenologie" bei Heidegger. Diese Auslegung konzentriert sich auf dessen "Interpretation des Phänomens der Achtung".I64 161 162 163 164
Die Grundprobleme der Phänomenologie GA 24, S. 218. S. 214. Die Grundprobleme der Phänomenologie GA 24, S. 208. S. 185-194 (überschrieben: "Die personalitas moralis").
§ 6 Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst"
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Sie bezieht sich auf einen Abschnitt der "Kritik der praktischen Vernunft", der die Überschrift trägt: "Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft".165 Kant beschreibt das Gefühl der Achtung, als "Triebfeder der praktischen Vernunft". Damit ist für Kant das Gefühl der Achtung durch einen rationalen Grund, nämlich das moralische Gesetz "gewirkt". Hiermit bleibt die Vernunft der wirkende Grund für das sich in der Achtung Bezeugende. Dieses sich bei Kant in der Achtung Bezeugende ist die Würde des Menschen, sowohl in der eigenen Person, wie in der Person des anderen Menschen, mit dem ich zu tun habe. In diesem Abschnitt sieht Heidegger die "glänzendste phänomenologische Analyse des Phänomens der Moralität, die wir von Kant besitzen".166 Mit seiner phänomenologischen Auslegung von Kants "Achtung" verläßt Heidegger aber dessen bewußtseinsphilosophische Grundstellung. Heidegger denkt Kants "Achtung" nicht mehr bewußtseinsphilosophisch, als Gewirk der praktischen Vernunft, sondern im Sinne des gestimmten, sich im Gefühl der Achtung selbst offenbar und durchsichtig werdenden ,,Daseins": "Gefühl drückt für Kant formal allgemein gefaßt einen eigenen Modus des Offenbarwerdens des Ich aus. Im Gefühlhaben für etwas liegt immer zugleich ein Sichfühlen und im Sichfühlen ein Modus des sich selbst Offenbarwerdens".167 Heidegger geht noch weiter, indem er ganz entgegen Kants Bestimmung der praktischen Vernunft, als handelnde, gesetzgebende und gesetzmäßige Ratio, das "moralische Selbstbewußtsein" bestimmen will: "Das moralische Selbstbewußtsein muß ein Gefühl sein, wenn es sich vom theoretischen Wissen im Sinne des theoretischen ,ich denke mich' unterscheiden soll". 168 Demgegenüber ist das moralische Selbstbewußtsein bei Kant keineswegs ein Gefühl, sondern als reine praktische Vernunft ein Vermögen aus Prinzipien, die apriori gültig sind. Mit anderen Worten: Die praktische Vernunft ist frei von aller Sinnlichkeit zu denken. Die von ihr gegebenen Gesetze orientieren sich in ihrer Notwendigkeit und Allgemeinheit an dem Vorbild des physikalischen Naturgesetzes. Kants Bestimmungen der "praktischen Vernunft" offenbaren eine Leitbildfunktion der "theoretischen Vernunft" bei der Bestimmung der "reinen Vernunft" als dem übergeordneten, beide Bereiche umfassenden Begriff. Die "reine Vernunft" ist "diejenige, welche die Prinzipien etwas schlechthin apriori zu erkennen, enthält. ,,169 Kennzeichnend für diese Orientierung der praktischen Philosophie an der Arbeits- und Denkweise der theoretischen ist der Versuch Kants, angesichts der Einsicht, 165 Kritik der praktischen Vernunft, S. 84-104 ("Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft"). 166 Die Grundprobleme der Phänomenologie GA 24, S. 189. 167 S. 187. Hervorhebungen v. Heidegger. 168 S. 188. Hervorhebung v. Heidegger. 169 Kritik der reinen Vernunft, S. 55 (All).
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1. Kap.: Die Würde des "Vernünftigen Lebewesens"
daß die Kategorien der theoretischen Vernunft auf die Natur beschränkt sind, damit für das freie Handeln der Person keine Anwendung finden, diesem freien Handeln des für sich selbst verantwortlichen Menschen eine "Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen" zu Grunde zu legen. 170 Wenn Kant auch in der "Kritik der reinen Vernunft" die höhere Dignität der praktischen Philosophie gegenüber der theoretischen hervorhebt l7l , so bildet für ihn doch die die spekulative Philosophie tragende Frage "Was kann ich wissen?" die erste Frage seines Philosophierens, der er die Frage "Was soll ich tun?", als die Grundfrage der praktischen Philosophie als zweite Frage nachordnet. 172 Letztlich münden diese beiden Fragen, wie auch die dritte von Kant gestellte: "Was darf ich hoffen?" in die entscheidende Frage ein: "Was ist der Mensch?", die Kant in diesem Zusammenhang allerdings nicht in der "Kritik der reinen Vernunft", sondern in einer Logik-Vorlesung stellt. 173 Wir stoßen bei Kants praktischer Philosophie auf eigenartige, schwer zu erklärende Asymmetrien: Der Konzentration auf einen von aller Sinnlichkeit befreiten Begriff einer "reinen Vernunft" steht die Notwendigkeit gegenüber, einen Bezug zwischen den ermittelten moralischen Prinzipien, die apriori Gültigkeit beanspruchen, und empirischen Erkenntnisquellen, Gefühlen, herzustellen, in denen, wie in dem Gefühl der Achtung, diese Grundsätze der praktischen Vernunft erst zur Evidenz gelangen. Erklärt sich die Kompliziertheit der Konstruktion eines von der Vernunft "gewirkten Gefühls" aus der Gebundenheit von Kants Denken durch eine Ontologie, die es ihm, bei allem "phänomenologischen" Sehen der Uneinlösbarkeit einer Moral auf rein rechnerisch-rationaler Grundlage, nicht erlaubt, die von Heidegger "Gefühlhaben-für" und "Sich-fühlen" genannten Phänomene unvoreingenommen in den Blick zu bekommen?174 Weist Kants Denken am Ende auf Grenzen hin, denen jede an dem Verständnis des Menschen als "Vernünftiges Lebewesen" ausgerichtete Ethik und Rechtsphilosophie unterworfen ist? Die eigentümlich verkrampfte Konzeption der "Achtung" als einem "gewirkten Gefühl" scheint sowohl Klarsicht als auch Gebundenheit Kants offenbar zu machen.
Kritik der praktischen Vernunft, S. 78 f. Kritik der reinen Vernunft, S. 42 (B20). 172 Kritik der reinen Vernunft, S. 728 (A80S, B833). "Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?" 173 Vorlesungen Kants über Logik. Kants Werke. Hrsg. Ernst Cassirer u. a., Berlin 1923. Bd. 8, S. 342 f. 174 Die Grundprobleme der Phänomenologie GA 24, S. 191. 170 171
Zweites Kapitel
Menschenwürde und Leiblichkeit § 7 Die Bestimmung der "Animalitas" als fortwährende und sich in der Neuzeit steigernde Verdinglichung des Menschen Im vorangegangenen Kapitel wurden einige für Heideggers Metaphysikkritik entscheidende Strukturen des im weitesten Sinne humanistischen Denkens geschichtlich entfaltet. Grundlage der verschieden ausgestalteten Positionen dieses Denkens bleibt stets eine scheinbar selbstverständliche, nicht hinterfragte und innerhalb der Fragestellung der Metaphysik auch nicht hinterfragbare Grundkonzeption dessen, was der Mensch jedenfalls und unzweifelhaft ist. Bei dieser Grundkonzeption handelt es sich um die Bestimmung des Menschen als einem Vernünftigen Lebewesen (animal rationale). Diese metaphysische Bestimmung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie es unternimmt, das Wesen (essentia) des Menschen auf der Grundlage des Begriffes des Lebewesens und des Lebendigen zu definieren. So spricht Kant von der "Tierheit" des Menschen, wenn er die sinnliche Erscheinung der Person nennt. Heidegger greift die lateinische Definition des "animal rationale" auf, indem er in seinen phänomenologischen Analysen diese ihm frag-würdig gewordene "Tierheit" die "Animalitas" nennt. 1 Der Mensch ist damit in seiner Geschöpflichkeit oder Gegenständlichkeit, in der Weise, in der er als ein Wirkliches begegnet, im Grunde nicht unterschieden von den nichtmenschlichen Lebewesen. Erst auf der Grundlage dieser Indifferenz der übergreifenden "Animalitas" von Tier und Mensch wird die spezifische, auf die "Tierheit" aufstockende Bestimmung des Menschen als Vernunfts wesen unternommen. Die Vernunft bildet das Vermögen, welches der "Tierheit" hinzugefügt, das Besondere, das den Menschen gegenüber den anderen Kreaturen Auszeichnende innerhalb der Wesensbestimmung des "animal rationale" nennt. Diese, den Menschen gegenüber dem Tier qualifizierende Bestimmung 1
Brief über den Humanismus, S. 14.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
scheint durch eine Fülle VOn vergleichenden Beobachtungen von Mensch und Tier bestätigt zu werden. Teilt der Mensch mit dem Tier doch offensichtlich sehr viel: Bedürfnisse, Begrenztheit der Lebensdauer, Aufgehen des Individuums in Gemeinschaften, von familienartigen Zusammenschlüssen bis zu herdenartigen Verbänden. So spricht man nicht ohne Grund VOn den "Königinnen" der "Insektenstaaten". Dieses scheinbar Ver-gleichbare, das sich in Sexualität und Aggression, Art- und Selbsterhaltungstrieb, dem "objektiven", "nüchternen" und scheinbar unvoreingenommenen Forscherblick zeigt, scheint dann die Möglichkeit, ja die zwingende Gebotenheit einer "Vergleichenden Verhaltensforschung" geradezu aufzudrängen. 2 Desgleichen läßt sich der menschliche Körper, die Konstruktion des Skeletts, die Funktion der Organe und die Sekretion der Drüsen offensichtlich in gleicher Weise untersuchen, erforschen und lehren, wie ein tierischer Organismus. Darüber gibt jedes Schul-Biologiebuch Auskunft. "Der Mensch" wird abgehandelt wie "der Hund", oder "die Stubenfliege". Dem Gegenstand "der Mensch" wird das großzügige Zugeständnis gemacht, daß man ihm mehr Raum gibt und den aufrechten Gang und das Volumen des größeren Gehirns hervorhebt.
In den drei Paragraphen dieses Kapitels geht es einmal darum, die Tragweite der mit der Herrschaft der Metaphysik der "Animalitas" eingetretenen Verdinglichung des Menschen aufzuweisen. Ferner soll mit der "Leiblichkeit" eine existenziale Konstituante des Daseins zur Entfaltung gebracht werden. Diese Entfaltung weist in die Richtung einer Überwindung der traditionellen Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen. Die traditionelle Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen bleibt im Vollzug des Fortschreitens von Wissenschaft und Technik zunächst und zumeist unerfahren und unerfahrbar. Gerade auf dem Boden der prinzipiellen empirischen Unerfahrbarkeit der metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen entfaltet diese Festlegung des Menschenwesens ihre Herrschaft. Je mehr die Metaphysik als etwas scheinbar Abgelebtes und Überholtes abgetan und aus dem akademischen Lehrbetrieb verbannt wird, desto mehr wächst die Gefahr der Entwurzelung aus der eigenen Geschichte. Unser Zeitalter bleibt aus der Metaphysik bestimmt, auch und gerade dann, wenn wir glauben, die Metaphysik als etwas scheinbar zwecklos Gewordenes und Überlebtes hinter uns lassen zu können, um UnS den "realen" Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. 2 Konrad Lorenz und Paul Leyhausen sind Namen, die hier genannt werden müssen. Bei aller dringend gebotenen Achtung vor dem Ernst der Forschungen auf diesem Gebiet, ist die innerhalb dieser Forschungen stets vorausgesetzte und nie erfahrbare ontologische Indifferenz von Tier und Mensch im Auge zu behalten. Forschungsergebnisse dürfen daher nie unreflektiert übernommen werden in die phänomenologische Arbeit.
§ 7 Die Bestimmung der "Animalitas"
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Zu den Dokumenten, die die Bestimmtheit des 20. Jahrhunderts aus der Metaphysik belegen können, gehören auch die Prozeßakten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. In den schriftlichen Dokumentationen seines Wirkens, die der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Generalfeldmarschall Keitel, während seines Prozesses niederlegte, stoßen wir auf einen für unsere Untersuchung wichtigen Terminus. Keitel stellte fest, daß eines der Hauptproblerne der deutschen Eroberungspolitik, das während des ganzen Krieges nicht ausreichend gelöst werden konnte, der ökonomische Umgang mit dem "Sparstojf Mensch" gewesen sei. 3 Diese Qualifizierung des Menschen als "Sparstoff Mensch" ist historisch aus dem Charakter des Zweiten Weltkrieges als einem in zunehmendem, in der Fortdauer des Krieges sich immer mehr radikalisierendem Maße "total" geführten Krieges zu erklären. Der Historiker Dietrich Eichholtz hat in einer 1999 erschienenen Veröffentlichung diesen Typus des modemen Krieges charakterisiert: "Der ,Totale Krieg' (... ) spiegelt objektive Gegebenheiten des ,modemen Krieges' wider, nämlich die Einbeziehung der gesamten Gesellschaft (Front, Hinterland; Politik, Wirtschaft, soziale Strukturen) in Kriegsgeschehen und Kriegführung und den Vernichtungscharakter, den der imperialistische Krieg infolge der Qualität von Kriegstechnik und Kriegführung hat, trägt. Nach der Theorie des ,Totalen Krieges' erringt, grob gesagt, derjenige den Sieg, der den Gegner totaler und radikaler bekämpft und der den eigenen Staat und die eigene Gesellschaft totaler und radikaler auf den Krieg um- und einstellt. ,,4
Diese Definition des "Totalen Krieges", die den Vernichtungscharakter als Ergebnis einer bestimmten, kühl abwägenden Theorie des Krieges (Ludendorff!)5 betont, steht im Gegensatz zu gängigen Vorstellungen, die Kriegsverbrechen und Völkermord einer fanatischen, also stark emotional gefärbten Haltung zuschreiben. Der Terminus "Sparstoff Mensch" wird durch die historische Definition insofern deutlich, als er auf die begrenzte Menschenzahl hinweist, die der "totalen" Kriegführung in Deutschland und in den eroberten Gebieten zur Verfügung stand. Die Frage, die vorerst im Vordergrund steht, ist: Wie wird der Mensch überhaupt erst zum "Stoff'? 3 Vgl. Bernhard Kroener, Soldaten der Arbeit. Menschenpotential und Menschenmangel in Wehrmacht und Kriegswirtschaft. In: Eichholtz (Hrsg.), Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. 1939-1945. Berlin 1999, S. 109-127, S. 109. Vgl. ferner B. Kroener, Der Kampf um den "Sparstoff Mensch". Führungskontroversen über die Mobilisierung der deutschen Kriegswirtschaft 19391942. In: Michalka (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg. München und Zürich. 2. Auf!. 1990. 4 D. Eichholtz, Ökonomie, Politik und Kriegführung. In: Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 1939-1945, S. 20. S Erich Ludendorff veröffentlichte die Schrift "Der totale Krieg" 1935.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
Wie ist eine solche vollkommene Verblendung über die Natur dessen, der wir selbst jeweils sind, überhaupt möglich? Eine entsprechende Fragestellung muß notwendig den Bereich des historischen VorsteIlens verlassen. Es geht nicht mehr um die bloße Wirklichkeit der historischen "Gegebenheiten". Es geht um eine ontologische Problematik. Diese Problematik, die uns bei dem technizistischen Terminus "Sparstoff Mensch" er-schreckt und zugleich in einem unbarmherzig kalten Licht erscheint, ist die Problematik der Verdinglichung des Menschen: Innerhalb des Horizontes des militärischen Denkens wird die ontische Verdinglichung des Menschen nicht losgelöst vollzogen. 6 Die innerhalb des militärischen Planens durchgeführte Reduktion des Menschen geschieht schon immer auf der Grundlage einer voraufgegangenen ontologischen Reduktion, ohne daß diese vorgängige Reduktion selbst jemals in den Blick des planenden Denkens gelangen kann. Ebenso unfrei bleibt der historische Positivismus, der in seiner Beschränkung auf die ontischen Gegebenheiten ("Tatsachen") niemals in den Bereich einer bloßen Erfahrung, geschweige denn Hinterfragung einer ontologischen Determination als solcher gelangen kann. Vorerst gilt es, den Zusammenhang zwischen der ontischen Verdinglichung, etwa im Bereich moderner Planungen, und der ontologischen Verdinglichung im Bereich des metaphysischen Denkens deutlich zu machen. Heidegger hat in seiner bereits mehrfach zitierten Vorlesung über "Die Grundprobleme der Phänomenologie" (1927) die Verdinglichung der Person bei Kant hervorgehoben. Er hat diese Verdinglichung als Folge von Kants Gebundenheit an die traditionelle antik-christliche Ontologie der Indifferenz der Existentia (Wirklichkeit) von Tier und Mensch als Geschöpf (ens creaturn) im Rahmen eines phänomenologischen Zurückbauens der Ontologie der Person auf ihre antik-christlichen Grundlagen aufgewiesen? Heidegger sagt nach seiner ausführlichen, von Hochachtung und Ehrerbietung getragenen Auseinandersetzung mit Kants Ontologie der Person: "Auffallend bleibt das eine: Kant spricht vom Dasein der Person als vom Dasein eines Dinges. Er sagt, die Person existiert als Zweck an sich selbst. Existieren gebraucht er im Sinne von Vorhandensein. Gerade, wo er die eigentliche Struktur der personalitas moralis berührt, Selbstzweck zu sein, weist er diesem Seienden die Seinsart der Vorhandenheit zu" (Hervorhebungen von Heidegger).8
Heidegger billigt Kant damit zu, die Ontologie der Person als "Zweck an sich selbst" auf die Höhe des innerhalb seines Denkhorizontes Möglichen 6 Die Verdinglichung innerhalb des militärischen Planens kann auch als Verdinglichung im Sinne des aktiven Nihilismus erfahren werden. Insofern gehört Keitels Terminus in das seins geschichtliche Wesen des Nihilismus. Dieser Zusammenhang wird unten, Viertes Kapitel, § 13 a erörtert werden. 7 Die Grundprobleme der Phänomenologie GA 24, S. 209-218. 8 Die Grundprobleme der Phänomenologie GA 24, S. 209.
§ 7 Die Bestimmung der "Animalitas"
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geführt zu haben. Das Denken Kants bleibt auch da, wo er es unternimmt, "unbewußt die Last der überlieferten Ontologie abzuschütteln", wie in der brillanten Analyse der Achtung und der damit engstens verbundenen Konzeption der "Moralischen Person" in einen von der antik-christlichen Ontologie gezogenen Denkhorizont gebannt. Der Mensch ist als Person "Zweck an sich selbst" und damit im Wesen (essentia) unterschieden von den anderen Geschöpfen, die bloß als "Mittel" gebraucht werden können. In seiner Wirklichkeit als "Vorhandensein" bleibt er aber gerade gegenüber dem nichtmenschlichen Geschöpf indifferent. In Begriffen der Metaphysik gesagt: Die Leistungsfähigkeit der Ontologie der Person zeigt sich in ihrer Fähigkeit, das Wesen (essentia) des Menschen als "Zweck" von dem Wesen (essentia) des Naturdinges als "Mittel" zu unterscheiden. Die Ontologie der Person offenbart aber ihre immanenten Grenzen, indem sie es nicht vermag, die Frage nach der spezifischen Seinsart der als Zweck offenbar gewordenen Person zu stellen oder gar zu beantworten. Schon in seinem Grundwerk "Sein und Zeit" (1927) hat Heidegger betont, wie sehr selbst moderne Strömungen der Philosophie (Max Scheler und Wilhelm Dilthey) innerhalb der von der "antik-christlichen Anthropologie" gezogenen Grenze verbleiben. So schreibt Heidegger dort: "Die für die traditionelle Anthropologie relevanten Ursprünge, die griechische Definition (die des Menschen als zoon logon echon, Anm. von mir) und der theologische Leitfaden (der Leitfaden des ens creatum, bzw. des Geschöpfes, Anm. von mir), zeigen an, daß über eine Wesensbestimmung des Seienden ,Mensch' die Frage nach dessen Sein vergessen bleibt, dieses Sein vielmehr als ,selbstverständlich' im Sinne des Vorhandenseins (hervorgehoben von Heidegger) der übrigen geschaffenen Dinge begriffen wird.,,9
In dieser grundlegenden Kritik liegt schon beschlossen, was Heidegger später in dem "Humanismusbrief' (1947) die "Verirrung des Biologismus" nennen wird. 1O Die Fraglosigkeit der ganz selbstverständlichen Wirklichkeit des Menschen als einem "Vorhandenen" macht die Meinung möglich, das Wesen des Menschen beruhe in dem als ein Wirkliches wissenschaftlich Erforschbaren, dem Organismus. Im Biologismus, der wissenschaftlich oder weltanschaulich durchgeführten Subsumption des Menschen unter einen übergreifenden und mit dem Tier insofern gleichordnenden Begriff des "Lebens", geschieht eine Reduktion des Menschen auf seine Wirklichkeit als ein "Vorhandenes", entsprechend dem "Vorkommen" des Tieres. Die "Verirrung des Biologismus" ist jedoch kein bloßer Einfall des Wissenschaftsbetriebes. Die "Verirrung des 9 10
Heidegger. Sein und Zeit. Einzelausgabe, Tübingen 16. Auf!. 1986, S. 49. Brief über den Humanismus, S. 16.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
Biologismus" ist vielmehr in der Geschichte des Abendlandes fest verwurzelt. Sie liegt schon in der antiken Definition des Menschen als zoon logon echon und animal rationale vorgezeichnet. Mit der Definition des Menschen als "Lebewesen" (zoon, animal) geschieht schon die Bestimmung des Menschen, die ihn dem Tier ontologisch gleichordnet im Sinne des von Heidegger in "Sein und Zeit" genannten "Vorhandenseins und Vorkommens".!! Die Vernunft (logos, ratio) bildet zwar eine "höhere Ausstattung" des Menschen. Diese qualifizierende Ausstattung beläßt den Menschen aber in seiner Wirklichkeit ("Vorhandensein") als ein Seiendes, das - scheinbar ganz selbstverständlich - neben anderen Lebewesen und unbelebten Naturdingen, "vorkommt". Der Mensch begegnet somit als eine Wirklichkeit, die gleich der Wirklichkeit des Tieres und der Pflanze feststellbar und erforschbar ist. Der derart Festgestellte und Erforschte kann dann möglicherweise, wie die Wirklichkeit von Tier und Pflanze, einer ökonomischen oder andersgearteten Vernutzung zugeführt werden. Die höhere Ausstattung der Vernunft hindert eine solche Reduktion durchaus nicht. Wie noch zu zeigen sein wird, ist es gerade dieses Vernunftvermögen, das als "Intelligenz" und als "fachliche Bildung" den wichtigsten "Rohstoff' einer modemen Industrienation bildet, die in ihrem Selbstverständnis schon längst auf dem Weg ist zum "Informationszeitalter" und zur "Globalisierung". Die ontologische Verdinglichung, die ausgehend von der antiken Wesensbestimmung des Menschen als "animal rationale", die abendländische Wissenschafts- und Geistesgeschichte beeinflußt hat, erfährt in der Neuzeit eine erste, entscheidende Verschärfung und Radikalisierung. Diese Verschärfung der Verdinglichung ist mit der neuzeitlichen Subjektsontologie und der damit unmittelbar verknüpften Heraufkunft eines vergegenständlichenden Denkens gegeben. Erst jetzt bestehen die ontologischen Voraussetzungen, den auf die bloße "Vorhandenheit" reduzierten Menschen in seiner Wirklichkeit als "res extensa" einer verrechnenden Vergegenständlichung zugänglich zu machen. Diese verrechnende Vergegenständlichung, die Descartes in seinen medizinischen Traktaten erstmals systematisch in Angriff nahm, bestimmt von nun an die Arbeitsweise der neuzeitlichen Medizin. Genauer: Die neuzeitliche Medizin etabliert sich erst durch die Vergegenständlichung ihres Themas, des Kranken. Diese Medizin unterscheidet sich durch die Vergegenständlichung des Menschen von dem Heilwissen des Hippokrates fast ebenso, wie von der chinesischen Heilkunde. Wenn Descartes den menschlichen Körper eine "Maschine" nennt,!2 dann ist das kein stilistischer, möglicherweise ironisierender Kunstgriff. Die Benennung des Menschen als Sein und Zeit, S. 48. Descartes, Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten französschen Ausgabe von 1664 übersetzt von Karl Rothschuh, Heide1berg 1969. 11
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Maschine kennzeichnet vielmehr die geschichtliche Erfahrung, wie er den physischen Menschen vor Augen hat. Diese Benennung des Menschen als Maschine kennzeichnet ferner, über Descartes hinausweisend, die Art und Weise, wie dem im Sinne der modemen Schulmedizin ausgebildeten Mediziner der physische Mensch, also besonders der Erkrankte, der Patient offenbar ist. Verdinglicht, und zwar neuzeitlich, im Sinne einer Vergegenständlichung, erscheint der Patient dem Arzt als berechenbarer Funktionszusammenhang. Die physiologischen Abläufe werden dadurch kontrollierbar und insofern beherrschbar. Der Tod erscheint in diesem Vorstellen als eine im voraus kalkulierbare, und dadurch beherrschbare Unwägbarkeit. Kann er unter Einsatz aller technischen Möglichkeiten nicht vermieden werden, verbleibt der Sterbende doch innerhalb einer eigens zur Organisation des Ablebens bereitgestellten Maschinerie, aus der er erst "befreit" wird, wenn der letzte Pulsschlag und die letzte Himstromfrequenz festgestellt und gesichert worden ist. Der Vollzug der Vergegenständlichung des Menschen verlangt wiederum nach einem kühlen, sachlichen Sprachgebrauch. So spricht man heute in den Ausschreibungen für Krankenhausbauten mit der größten Selbstverständlichkeit von Baugruppen, in denen das "Krankenmaterial" oder das "Patientengut" untergebracht werden SOll.13 Der Übergang des "Patientengutes" zum "Seziergut" bildet dann innerhalb des vergegenständlichenden Denkens einen restlos berechenbaren Vorgang, dem jeder Geheimnischarakter abgeht. Gewiß liegt die Vergegenständlichung des menschlichen Körpers dem medizinischen Fortschritt der vergangenen bei den Jahrhunderte ganz wesentlich zu Grunde. Zu erinnern ist hier vor allem an die durch die Vergegenständlichung überhaupt erst möglich gewordene Enttabuisierung der Leichensektion. Es muß aber gefragt werden, ob sich die modeme Medizin nicht einer fortwährenden und fortschreitenden Gebietsüberschreitung schuldig macht, wenn sie den Patienten mit dem von ihr nach Maßgabe der Physiologie objektivierten Körperwesen identifiziert. Der medizinische Fortschritt ist kein Fortschritt, wenn der Mensch ein längeres Leben mit der Preisgabe seiner Wesens würde bezahlen muß. Denn ein Denken, das unter Aufgabe der Personenqualität des Zweckwesens des Menschen den Menschen zum "Material" erniedrigt, setzt sich über alle denkbaren Konzeptionen der Menschenwürde hinweg. Es ist aber zu fragen, ob das moralische 13 Diesen Hinweis verdanke ich bestätigten Äußerungen aus Fachkreisen. Martin Heidegger weist auf den Sprachgebrach des "Krankenmaterial(s) einer Klinik" in dem 1950 gehaltenen Vortrag: "Die Frage nach der Technik" hin. Es wäre interessant, nachzuprüfen, wann und unter welchen Umständen dieses Begriffsgebilde erstmals in den Gebrauch gekommen ist. Vgl. Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 7. Auf!. 1988, S. 17. Zum Begriff "Ausschreibung" vgl. Wasmuths Lexikon der Baukunst. Hrsg. v. Günther Wasmuth. Berlin 1929. Bd. 1, S.252.
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Argument, so berechtigt es ist, allein ausreicht, den modemen Krankenhausbetrieb zu "humanisieren". Ebenso unzureichend wäre es, das neuzeitliche Denken einfach verwerfen zu wollen. Wer - um ein Beispiel zu nennen die modeme, vergegenständlichende Medizin verwirft, erhält damit noch keine Alternativmedizin. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Möglichkeit, das Wissen der modemen Medizin zu achten, als Ergebnis des vergegenständlichenden Blickes des neuzeitlichen, cartesischen Subjekts, und zugleich die Macht des sich absolut setzenden medizinischen Fachwissens zu brechen. In einer Untersuchung zu "Heideggers Descartes-Kritik" wurde von Friedrich-Wilhelm von Herrmann die Möglichkeit in Betracht gezogen, den vergegenständlichenden Blick der neuzeitlichen Bemächtigung des Seienden, damit auch des Menschen, in einer ursprünglichen Erfahrung des Seins zu verwahren: "Vielleicht (... ) ist es möglich, die sich auf sich selbst stellende und sich selbst begründende Subjektivität des vorstellenden Subjekts auch dadurch zu überwinden, daß wir den vorstellenden Menschen und den vorgestellten Gegenstand, dieses Bezugsganze, zurückbetten in die ursprüngliche Offenständigkeit des Menschen für die Unverborgenheit des Seins, ohne (hervorgehoben v. von Herrmann) damit das Vorstellen als eine eigenständige und legitime Seinsweise des Menschen preiszugeben.'d4 Mit dem "Vorstellen" als "eigenständige" und "legitime Seinsweise" nennt von Herrmann das selbe, was wir "Vergegenständlichung" oder den "vergegenständlichenden Blick" genannt haben. Die Abwägung der Möglichkeit einer Hannonisierung des "vorstellenden Menschen" mit dessen ursprünglicher "Offenständigkeit für die Unverborgenheit des Seins" müßte die Unverfügbarkeit des Seins wahren. Eine "Zurückbettung" wäre nicht mach-bar, aber möglicherweise einst gewährt. Ein möglicher Weg, dieser geschichtlichen Möglichkeit zu entsprechen, spricht sich in Heideggers Kritik der metaphysischen Bestimmung der "Animalitas" und dessen phänomenologischer Erfahrung der Leiblichkeit aus. Vorerst soll aber das Augenmerk Husserls Freilegung der "Substruktion" des Wissenschaftswissens unter die "Lebenswelt" gelten. Diese phänomenologische Einsicht ist für Heideggers Denken der Leiblichkeit von Bedeutung. Von großer Bedeutung ist dieser grundlegende Einblick Husserls ferner für ein seinsgeschichtliches Verständnis der Verdinglichung und Vergegenständlichung des Menschen. Dieses Verständnis, das erst in Heideggers 14 F.- W. v. Herrmann, Sein und Cogitationes - Zu Heideggers Descartes-Kritik. In: Durchblicke, Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, S. 252.
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Erfahrung des Wesens der modemen Technik als dem "Gestell" deutlich werden wird, soll vorerst nur vorbereitet werden. In seinem unvollendet gebliebenen, letzten Werk, der "Krisis der europäischen Wissenschaften,,15 hat Edmund Husserl die Summe seines philosophischen Weges vorgelegt. Dies geschah schon unter dem Eindruck der sich verfestigenden Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland. Als Jude war Husserl von dieser politischen Entwicklung in besonderem Maße betroffen. Dennoch knüpfte Husserls Einschätzung des politischen Ereignisses als Ausbruch der Krisis an einen weit umfassenderen geschichtlichen Zusammenhang an, als den des bloßen politischen Geschehens. 16 Der Grund der alle Bereiche erfassenden "Krisis" der Europäischen Wissenschaften liegt für Husserl in dem Verlust der "Lebensbedeutsarnkeit" dieser, das neuzeitliche Europa tragenden Wissenschaften. Der Mathematiker Husserl hat dabei die neuzeitlichen Naturwissenschaften vor Augen. Die die Renaissance noch bestimmende "Lebensbedeutsarnkeit" der Wissenschaften geht mit dem "Vergessen" der "Lebenswelt" in der Neuzeit mehr und mehr verloren. Die "Lebenswelt" ist das in der Neuzeit vergessene "Sinnesfundament" der mathematischen Naturwissenschaften. Der Begriff der "mathematischen Naturwissenschaft" ist, jedenfalls in der von Husserl untersuchten frühen Neuzeit, bedeutungs gleich mit dem Begriff der Physik. Die von Husserl hiermit geforderte Wiederherstellung der Lebensbedeutsamkeit der Wissenschaften ist keine weltanschauliche Forderung, etwa dergestalt, daß die Wissenschaften dem "Leben" als dem einzig Sinn stiftenden zu dienen hätten. Die Forderung Husserls verdankt sich vielmehr dem Einblick des mathematisch hochgebildeten Denkers in die Arbeitsweise der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Die Arbeitsweise der Naturwissenschaften ist aber schon seit Galilei durch die "methodische Objektivierung der anschaulichen Welt,,17 getragen. Diese "Objektivierung" ergibt "allgemeine Zahlfonneln" (hervorgehoben von Husserl). Diese Zahlformeln dienen, einmal entdeckt, dazu, "an den darunter zu subsumierenden Einzelfällen die faktische Objektivierung zu vollziehen.,,18 Ein Beispiel für eine solche Formel ist das Newtonsche Beschleunigungsgesetz: F = m x a; Beschleuni15 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI. Hrsg. v. Walter Biemel. Den Haag 1976. 16 Über den Bezug der Krisisschrift zur politischen Wirklichkeit des NS-Regimes schreibt Gadamer: "Husserl sah darin den Ausbruch der Krisis und hat mit unbeirrbarer Vertiefung seiner eigenen Bemühungen und Ehrlichkeit des Philosophierens geantwortet." In: Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewegung. Hrsg. v. H. R. Sepp. Freiburg, München 1988, S. 16. 17 Krisis, S. 40 (TextsteIle von Husserl hervorgehoben). 18 Ibd.
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gende Kraft ("F") ist gleich Masse ("m") mal Beschleunigung ("a,,).19 Mit Hilfe dieser Formel der klassischen Mechanik lassen sich Bewegungen auf diesem Planeten im voraus berechnen. Bis zu einem gewissen Grade lassen sich mit Hilfe der klassischen Mechanik sogar Bewegungen der Himmelskörper berechnen. Allen Operationen gemeinsam ist: Die nach Maßgabe der physikalischen Formel "objektivierte" Welt unterscheidet sich von der den Berechnungen vorgegebenen, natürlichen oder anschaulichen "Lebenswelt" ganz wesentlich. Dabei bleiben die wissenschaftlichen Objektivierungen auf ein noch nicht Objektiviertes stets angewiesen, an dem diese Objektivierung und Mathematisierung erst durchgeführt werden kann. Bei dieser Arbeitsgrundlage handelt es sich gerade um die anschaulich gegebene "Lebenswelt", zu der wir uns zunächst auch als Wissenschaftler "natürlich" verhalten, im Sinne einer Bewältigung des Lebenskampfes oder der "fruitio vitae". Aber diese Fundiertheit ihrer Arbeit auf dem Fundament der anschaulich und natürlich gegebenen "LebensweIt" leugnet die neuzeitliche Naturwissenschaft, so die Kritik Husserls, indem sie die mathematische, also die erst auf der Grundlage der anschaulichen Natur mathematisierte Natur, zur Natur an sich, der einzig "wahren" Natur erhebt. Die Arbeitsgrundlage der Naturwissenschaften, die anschaulich gegebene Natur, wird, obschon sie von allen abstrahierenden und idealtypisierenden Verfahren der Physik selbstverständlich vorausgesetzt ist, zugleich zum bloßen Schein, und damit für nichtig erklärt. Ein paradoxer, in seiner Tragweite kaum zu ermessender Vorgang! Der Vorgang ist paradox, weil er das zum bloßen Vorurteil und falschen Schein erniedrigt, was nicht nur dem konkreten Lebensvollzug eines jeden Menschen das selbstverständliche Umfeld absteckt, sondern auch dasjenige in seiner Arbeitsbedeutung leugnet, was als Arbeitsstoff den idealtypisierenden und somit mathematisierenden Verfahren erst die Grundlage liefert: die Lebenswelt. Der Name Galileis, mit dem Husserl diesen Vorgang von grundlegender Bedeutung verknüpft sieht, steht dabei für eine Entwicklung, die schon vor Galilei anfing, in der Gestalt des Mathematikers in Florenz aber eine Vollendung erfuhr. Aus dem Gesagten wird deutlich, warum Husserl ihn den "zugleich entdeckenden und verdeckenden Genius" nennt. 20 Mit der Entdeckung des Kausalgesetzes, damit der Entdecktheit der Natur, als idealisierte Natur unter exakten, jederzeit nachprüfbaren Gesetzen zu stehen, geht eine Verdekkung der Füllen und ihrer sich allen Messungen entziehenden Bedeutungen 19 Vgl. Dorn, Physik. Unterrichts werk für die gymnasiale Oberstufe. Hannover, 16. Aufl. 1972, S. 27. 20 Krisis, S. 53.
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einher. Diese Füllen sind nur in der Lebenswelt erfahrbar, so in der lebensweltlich begegnenden Natur als "Feld und Flur". In dieser Weise hat die Natur unmittelbar Anteil an unserem Lebensvollzug, und nicht etwa als "Photosynthese" und "Ackergare". Solche biochemischen Prozesse, die ihrerseits auf rein physikalische Größen reduziert werden können, müssen erst auf der Grundlage einer Abstraktion von der lebensweltlich begegnenden Natur festgestellt werden. Nun scheint die sich in den 30-er Jahren entfaltende "neue Atomphysik" mit ihrer Kritik des "klassischen Kausalgesetzes" die Idealisierung des Kausalgesetzes doch zurückzunehmen. Dem hält Husserl entgegen, bei allen wissenschaftlichen Neuerungen verbleibe doch das "prinzipiell Wesentliche: die an sich mathematische Natur, die in Formeln gegebene, aus den Formeln erst heraus zu interpretierende,,21. Die durch das "Kleid" der mathematischen Symbole und Theorien "verkleidete" Natur vertritt als ",objektiv wirkliche und wahre' Natur" (Hervorhebungen und Anführungszeichen von Husserl) die Lebenswelt. 22 So schafft das neue, die Geometrie instrumentalisierende Denken scheinbar eine "eigenständige absolute Wahrheit", die in der ständig fortschreitenden "Beherrschbarkeit" des Seienden im Ganzen, der neuzeitlichen "Welt", durch idealtypisierende "Konstruktion" ihre Bestätigung findet. Aber nicht bloß die sich mit der Mathematisierung der Natur eröffnende, ins Unendliche fortschreitende wissenschaftliche Durchdringung und Beherrschung des Seienden im Ganzen, auch die Sinnentleerung der naturwissenschaftlichen Methode zur bloßen Technik tragen Schuld daran, daß die Fundiertheit der mathematisierten Natur im Fortgang der Wissenschaften vergessen wird; ebenso der Wandel innerhalb der Mathematisierung der Natur, von der die Abstraktion noch bewußt vollziehenden, angewandten Geometrie hin zur algebraischen Formalisierung der Geometrie. Husserl: "Die wirklichen raumzeitlichen Idealitäten, so wie sie sich unter dem üblichen Titel ,reine Anschauungen' im geometrischen Denken originär darstellen, verwandeln sich sozusagen in pure Zahlengestalten, in algebraische Gebilde.,,23 Aus dem Gesagten wird Husserls Definition der "Substruktion" deutlich. Husserl definiert: "Aber nun ist als höchst wichtig zu beachten eine schon bei Galilei sich vollziehende Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahmehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt - unsere alltägliche Lebenswelt.,,24
"Substruktion" kommt von "substruere", ein Wort der Baukunst, das soviel bedeutet wie "den Unterbau anlegen", so wie man die Fundamente 21
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Ibd. Krisis, S. 52. Krisis, S. 44. Krisis, S. 49.
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eines Gebäudes aus Zement oder Bruchsteinen anlegt, worauf dann das eigentliche Haus aufgebaut wird und somit aufruht. Diese Assoziation ist aber insofern irreführend, als der von Husserl beschriebene Vorgang nicht bloß die Umkehrung und somit Verkehrung des im Vollzug der Mathematisierung vorausgesetzten Fundierungsverhältnisses nennt. Husserl zielt nicht bloß auf das Selbstverständnis der Naturwissenschaften ab, das Fundament der Lebenswelt zum Gegenstand zu haben, die Lebenswelt mithin auf meßbare Größen und exakte Gesetzmäßigkeiten reduzieren zu können, die dann scheinbar die Grundlage der lebens weltlich begegnenden Phänomene bilden. Diese "mathematisch substruierte Welt der Idealitäten" wird nicht bloß zur Grundlage der Lebenswelt erklärt, dies entspräche dem naiven Verständnis der Wissenschaften, denen ein Vorrang der Erkenntnis eingeräumt wird, ohne daß man darum der eigenen Lebenserfahrung gänzlich entraten kann. Die "mathematisch substruierte Welt der Idealitäten" wird vielmehr "für" (. .. ) "die je erfahrene und erfahrbare Welt" - untergeschoben. "Je" erfahrbar ist die vorwissenschaftliche Welt. "Vorwissenschaftlich" ist dabei schon irreführend, da der Begriff pejorativen Charakter hat, zumindest die Assoziation nahelegt, ein "vorwissenschaftliches" Wissen könnte sich im Fortschritt der Forschung schließlich zu wissenschaftlicher Erkenntnis verhärten. Das der alltäglichen Lebenswelt entsprechende Wissen ist aber durch keine wissenschaftliche Erkenntnis einhol-, geschweige denn ersetzbar. Dies täuscht aber der von Husserl "Unterschiebung" genannte Prozess gerade vor. Untergeschoben wird die erst aus einer idealtypisierenden Abstraktion gewonnene "Welt" für die dieser Idealtypisierung und Abstraktion stets unthematisch vorausgesetzte und zu Grunde liegende Lebenswelt. "Unterschiebung" ist die verhüllende falsche Ausgabe eines Seienden für ein anderes Seiendes. (So tritt im Falle der "Kindsunterschiebung" der "Wechselbalg" an die Stelle des eigenen Kindes, um den Eindruck zu erwecken, es handelte sich bei dem untergeschobenen Kind um das eigene.) Die "in einer in ihrer Art unübertrefflichen Bewährung,,25 gegebene Lebenswelt wird gerade in ihrem Bewährungscharakter als wahre Welt geleugnet. Sie wird gleichsam entzogen und verschwindet in der Qualität des "bloß Subjektiven". Dieses Feld des "bloß Subjektiven" hat allenfalls so etwas wie einen dilatorischen Wahrheitscharakter. In dem Augenblick, in dem meßbare, objektive Ergebnisse vorliegen, hat es allen Geltungsanspruch verloren. Über die in der Substruktion vollzogene Entwertung der "sinnlichen Qualitäten" schreibt Husserl unter Verweis auf Hobbes' Lehre von der "Subjektivität der gesamten konkreten Phänomene der sinnlich anschaulichen Natur und Welt überhaupt":
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Krisis, S. 51.
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"Die Phänomene sind nur in den Subjekten; sie sind in ihnen nur als kausale Folgen der in der wahren Natur stattfindenden Vorgänge, die ihrerseits nur in mathematischen Eigenschaften existieren. Ist die anschauliche Welt unseres Lebens bloß subjektiv, so sind die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet. Nur insofern sind sie nicht bedeutungslos, als sie, obschon falsch, ein hinter dieser Welt möglicher Erfahrung liegendes, ein ihr transzendentes An-sich vage bekunden. ,,26
Die zitierte Stelle verweist auf die unenneßliche Tragweite der von den Naturwissenschaften durchgeführten logischen Substruktion der mathematisierten und methodisch objektivierten "Welt" allgemeingültiger Zahlfonneln unter die Lebenswelt. Die Unermeßlichkeit der Folgen dieses Vorganges liegen in der darin vollzogenen Entwertung des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens. Denn dieses ist in seinem "tatsächlichen Sein" nicht bloß relativiert. Es ist vollkommen außer Geltung gesetzt hinsichtlich seines Wahrheitscharakters und insofern auch wert-los. Ihm bleibt bloß die Tritthalterfunktion, auf ein hinter der Welt der subjektiven Anschauungen liegendes, an sich Wahres vage hinzuweisen. Husserls Freilegung der Substruktion der "Welt" der Wissenschaften unter die Lebenswelt, als das venneintlich der Lebenswelt zu Grunde Liegende, macht die Ursache offenbar, warum die vorwissenschaftliehe, natürliche Erfahrung innerhalb des VorsteIlens der Wissenschaften, so auch innerhalb der Vergegenständlichung der modemen Medizin, einen bloß schemenhaften und eigentlich unwahren Charakter hat: Der Patient wird heute höchstens noch routinemäßig und von älteren Ärzten nach seinem "Befinden" gefragt. Entscheidend dafür, wie es objektiv mit einem Patienten steht, ist selbstverständlich nicht seine subjektive, persönliche Äußerung. Denn als subjektive Äußerung ist sie ungewiß und im Grunde unwahr. Gewißheit erlangt der Arzt über das wahre Befinden des Patienten nur auf dem Wege der exakten Messung. Diese geschieht z. B. auf dem Wege der Blutdruckmessung. Es gibt heute eine unübersehbare Zahl verschiedener Meßapparaturen in den Krankenhäusern. Alle diese Geräte dienen der Gewährleistung der mathematisch exakten Gewißheit. Nach der Maßgabe dieser Gewißheit kann es einem sich wohl fühlenden Patienten geschehen, daß er von dem Arzt darüber ins Bild gesetzt wird, daß es ihm in Wahrheit sehr schlecht geht. Umgekehrt kann es einem Patienten aber auch geschehen, daß er sich sehr schlecht fühlt, und der dann von den Ärzten die Berichtigung erfährt, daß es ihm doch gut gehe - weil die Messungen "stimmen". Das Unheimliche an diesem Vorgang ist die Art und Weise, wie der Mensch als konkreter Mensch, Mann oder Frau, verschwindet und durch 26
Krisis, S. 54.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
ein instrumental beherrschbares, abstraktes Körperwesen ersetzt wird. Das Bewußtsein der Abstraktion bleibt dabei verhüllt und wird im Interesse des "reibungslosen" Krankenhausbetriebes niedergehalten. Dieser Betrieb unterliegt, wie jeder andere auch, letztlich ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. So sind die Kapazitäten möglichst "auszulasten". Eine Besinnung, die sich das Ungeheuerliche dieses Vorgangs zumutet, darf sich nicht mit Halbwahrheiten, im Sinne einer bloß moralischen Argumentation begnügen. Sie muß die darin vollzogene Verdinglichung des Menschen radikal, d.h. geschichtlich erfahren, um aus dieser Erfahrung jegliche Verdinglichung des Menschen als Wesensentstellung zu verneinen. So schreibt Heidegger im "Humanismusbrief': "Daß die Physiologie und die physiologische Chemie den Menschen als Organismus naturwissenschaftlich untersuchen kann, ist kein Beweis dafür, daß in diesem ,organischen', das heißt in dem wissenschaftlich erklärten Leib, das Wesen des Menschen beruht. Dies gilt so wenig wie die Meinung, in der Atomenergie sei das Wesen der Natur beschlossen.,,27
Schon in "Sein und Zeit" heißt es über den Menschen: "Dieses Seiende hat nicht und nie die Seinsart des innerhalb der Welt nur Vorhandenen"?S
§ 8 Die Eröffnung des ekstatischen Wesens des Menschen
in der "leibenden Stimmung" bei Heidegger
Die Verdinglichung des Menschen zum Objekt der modemen Medizin und zum "Material" des modemen Krankenhausbetriebes offenbart eine Reduktion des Menschen zur bloßen Wirklichkeit eines vorhandenen Gegenstandes. Diese Reduktion steht in offenem Widerspruch zu der rechtlichen und ethischen Forderung nach der Achtung der "unantastbaren" Menschenwürde. Gerade die "Unantastbarkeit" der Menschenwürde verbietet eine Sonderbehandlung und Ausgrenzung des Kranken, an dem sich dieser Grundsatz gleichermaßen bewähren müßte, wie an dem jungen Rekruten oder politisch Verfolgten, wie an dem einer unpersönlichen, mächtigen Organisation Ausgelieferten und somit Schutzbedürftigen schlechthin. Die damit verknüpfte rechtliche und auch politische Problematik könnte durchsichtiger werden, wenn die in einer monströsen Begrifflichkeit sich offenbarende Dimension in den Blick genommen werden könnte. Betriebsinterne Begriffe wie "das Krankenmaterial" oder "das Patientengut" wären nicht sagbar ohne die metaphysikgeschichtliche Dimension, die in den Alltag des Pflegebedürftigen und Schwerkranken hineinragt, um diesen Alltag zu 27 28
Brief über den Humanismus, S. 16. Sein und Zeit, S. 43.
§ 8 Die Eröffnung des ekstatischen Wesens des Menschen
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durchdringen und zu prägen. Die Herkunft der praktischen, "ontischen" Verdinglichung des Menschen aus der Geschichte einer fortwährenden und sich in der Neuzeit radikalisierenden, ontologischen Verdinglichung macht folgende Überlegung deutlich: Die Dingheit des zum bloßen "Material" erniedrigten Kranken wäre niemals als solche erfahrbar und anzusprechen aus der Perspektive der natürlichen Geradehineinstellung der "Lebenswelt". Innerhalb der lebens weltlichen Einstellung begegnet der Kranke als Leidender, als Adressat mitmenschlicher Fürsorge oder auch als Opfer einer Vernachlässigung, aber nicht als Sache, entsprechend dem "Baumaterial" oder dem "Saatgut". Dieser Tatbestand wird auch bei der Bereitstellung des sogenannten "Gehirntoten" zur Organ transplantation zum Problem. Vor Jahren hat der Leiter des St. Barbara Hospitals in Gladbeck, Professor Linus Geisler, in einem Leserbrief hervorgehoben: "Ob der endgültige Hirnausfall den Tod eines Kranken bedeutet, ist eine Frage, die die Naturwissenschaften nicht alleine beantworten können." Geisler wies in diesem Zusammenhang auf die "anthropologischen", die "theologischen" und die "philosophischen" "Aspekte" des "Hirntodes" hin. Er wendet sich ausdrücklich gegen eine "Vergewaltigung" der "natürlichen Anschauung". Er denkt dabei an die Angehörigen des für eine Transplantation vorgesehenen "Hirntoten", denen der Betroffene eben nicht als Toter, sondern als schlafender Lebender begegnet. 29 Mit der "unbefangenen Anschauung" nennt der Arzt gerade die natürliche Geradehineinstellung der Lebenswelt. Diese ist im medizinischen, wie in jedem objektiv - wissenschaftlichen Kontext, durch den Stempel "bloß subjektiv-relativ" gekennzeichnet, wie es Husserl mit Blick auf die Selbsttäuschung der Wissenschaften genannt hat, die diese Sphäre des "bloß Subjektiv-relativen" überwinden wollen, ohne zu bedenken, daß sie der Lebenswelt stets bedürfen, "als das für alle objektive Bewährung die theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle. ,,30 Nun gehört die Abstraktion von der subjektiv-relativen Anschauung der Lebenswelt, die "Idealtypisierung", zum Leistungssinn und damit zur Substanz von moderner Wissenschaft überhaupt. So recht gesehen gibt es nur Wissenschaft, insofern das "bloß" Subjektive in seiner Relativität und Ungenauigkeit überwunden wird. Die Überwindung des "Subjektiv-relativen" wird aber dadurch verhängnisvoll, daß sein alle Abstraktionen erst fundierender Charakter durch die metaphysische Rangerhebung des naturwissenschaftlichen Wissens, und der damit gleichlaufenden logischen Substruktion dieses Wissens unter die Lebenswelt, als das vermeintlich Alles begrün29 Der Leserbrief ist abgedruckt in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) Nr. 245 vom 21.X.1994. 30 Edmund Husserl, Krisis S. 129.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
dende Wissen, ausgelöscht wird. Dieses Erlöschen des Fundamentes aller Mathematisierung der Natur wirkt dort zwingend besonders befremdlich, wo man eine unmittelbare, elementare Beziehung zum Leben und dessen Erhaltung annehmen möchte, wie im Arbeitsbereich der Medizin. So kann der genannte Fall des "Himtoten" sich soweit auf rein technische und ökonomische Daten reduzieren, das der "Himtote" vollkommen in der Eigenschaft als "Ersatzteillager Mensch" aufgeht. 3l Es ist aber auch kennzeichnend für die im modemen Gesundheitswesen geschehende Substruktion des Wissenschafts wissens unter die natürliche Geradehineinstellung der Lebenswelt, daß dem Schmerz Objektivität und damit "Wahrheit an sich" abgesprochen wird. Er ist "bloß subjektiv", wie man das etwa aus den Aufzeichnungen Peter Nolls erfahren kann, der die letzten Monate seiner Krebserkrankung und die hiermit verbundenen Begegnungen mit Ärzten durch "Diktate über Sterben und Tod" dokumentiert hat. 32 Es wurde schon wiederholt auf den metaphysischen Charakter hingewiesen, den die von Husserl aufgewiesene Substruktion der wissenschaftlichen Wahrheit unter die Lebenswelt auszeichnet. Es handelt sich also nicht etwa um einen Denkfehler der Wissenschaftler oder um deren Nachlässigkeit, die die Lebenswelt als "Sinnesfundament" der Wissenschaften vergessen und verschüttet hat. Schon Husserl war sich der geschichtlichen Macht bewußt, die das neuzeitliche, vergegenständlichende Denken erlangte, indem es das Erbe des Absolutheitsanspruches der metaphysischen Auslegung der christlichen Offenbarung antrat. Heidegger hat diese Verwandlung des Absolutheitsanspruches der scholastischen "Veritas" durch die cartesische, neuzeitliche "certitudo" dann mehrfach erörtert. 33 In der zweiten Fuge der "Beiträge zur Philosophie", dem "Zuspiel" der Geschichte der Metaphysik, sagt Heidegger über diese philosophische Grundlegung der Neuzeit (Hervorhebung von Heidegger): "Jetzt kam die Möglichkeit einer Lage, in der der ratio recht sein mußte, was dem Glauben billig war, sofern alles auf diesen gestellt und alle Möglichkeiten in ihm erschöpft wurden. Warum soll nicht auch die ratio, zunächst noch im Verein mit der fides, dasselbe für sich selbst beanspruchen, ihrer selbst sich versichern und diese Sicherheit zum Maßstab aller Verfestigung und Be-,gründung' (ratio als Grund) machen? Jetzt 31 So lautet der deutsche Titel von Andrew Kimbrells Untersuchung: "The human body shop. The engineering and marketing of life". Aus dem Amerikanischen von Thomas Steiner. Frankfurt am Main 1990. 32 Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod. Mit Totenrede von Max Frisch. Zürich 1984. 33 So in der ersten Marburger Vorlesung vom Wintersemester 1923/24 unter dem Titel: Einführung in die phänomenologische Forschung. Gesamtausgabe Bd. 17. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt am Main 1994. Der Sachverhalt ist schwierig und kann hier nur angedeutet werden.
§ 8 Die Eröffnung des ekstatischen Wesens des Menschen
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beginnt eine Verlegung des Gewichtes des Denkens in die Selbstsicherheit des Denkens (veritas wird zur certitudo), und in der Formel muß daher jetzt zuerst das Denken und zwar in den gewandelten Leistungsanspruch gesetzt werden. Entsprechend wandelt sich die Bestimmung der Seiendheit des Seienden zur Gegenständlichkeit. ,,34
Heidegger läßt einen Aufriß der wesentlichsten metaphysischen Grundstellungen folgen, die den sich selbst setzenden "Grund", das vergegenständlichende neuzeitliche Denken, entfalten. Das Gewicht des Denkens verlagert sich von der Glaubensgewij3heit in die "Selbstsicherheit des Denkens". Der Selbstsicherheit des Denkens entspricht die Auslegung des Wesens der Wahrheit als "certitudo", der Gewißheit des sich ständig seiner selbst vergewissernden Selbstbewußtseins. Dieses Selbstbewußtsein bestimmt sich darin, daß es sich selbst als das "Subjekt" für alles nichtmenschliche Seiende, den "Objekten", zum einzig gültigen Maßstab aufspreizt. 35 Einzig gültiger Maßstab kann das Selbstbewußtsein nur werden, weil es als das "fundamenturn inconcussum" einzig gegenüber dem methodischen cartesischen Zweifel unbezweifelbar bleibt; etwa im Unterschied zu dem Dasein Gottes, dessen Gewißheit sich erst auf der Grundlage des "fundamenturn inconcussum" des Selbstbewußtseins ergibt. 36 Indem sich das neuzeitliche Subjekt zum Maßstab für das Sein des auf seiner Grundlage vergegenständlichten Seienden aufspreizt, bereitet es über die damit vollzogene Vergegenständlichung der Natur zugleich den Boden für die Herrschaftsstellung der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Mit der Grundlegung der Herrschaftsstellung der neuzeitlichen, mathematischen Naturwissenschaften geht die Entfaltung einer neuen, vergegenständlichenden Physiologie einher. Es kommt im institutionellen Bereich zur "Geburt der Klinik,,37. Der Substruktion des Wissenschaftswissens, etwa des Wissens der Physiologie, unter die Lebenswelt, kommt daher weniger der Charakter einer zu überwindenden negativen Begleiterscheinung zu, wie dies Husserls Phänomenologie nahezulegen scheint. Denn die Substruktion hat durchaus den Charakter der Erringung und Sicherung der Herrschaftsstellung des neuzeitlichen Subjektes auf dem Wege der wissenschaftlichen Forschung und Arbeit. Als "Material" und "Gut" oder auch als "Stoff' kann nur ge34 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 180 f. Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß Heidegger mit "Glauben" hier nicht den existenziellen christlichen Glauben meint, sondern das aus der scholastischen Auslegung der Offenbarung und der Herrschaft der Kirche bestimmte Christentum. 35 Vgl. hierzu auch den bereits zitierten Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit", in: Wegmarken, S. 196. 36 Vgl. den § 4 dieser Untersuchung mit den entsprechenden Nachweisen auf einschlägige TextsteIlen der Schriften Descartes'. 37 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik: eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt am Main 1993.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
kennzeichnet werden, wer aus der Blickbahn des neuzeitlichen Subjektes diesem als Objekt entgegensteht. Erst auf dem Boden der Subjektivität, dem "fundamenturn inconcussum" aller Gewißheit, kann und muß es zur Vergegenständlichung des leiblichen Menschen kommen. Erst unter der Herrschaft des vergegenständlichenden Vorstellens, das den Menschen als Vernunftswesen zum "maitre et possesseur de la nature" ermächtigt, kann der leibliche Mensch zum beliebig gestaltbaren Material festgelegt und insofern entwürdigt werden. Wenn hier von "Entwürdigung" gesprochen wird, so ist damit zweierlei gesagt: Einmal, daß die herkömmliche Aufteilung des Menschen in ein Geist- und in ein Leibwesen nicht zureichend ist und unter der Herrschaft des neuzeitlichen Subjekt-Objekt Schemas vielmehr höchst fatale Folgen zeitigen kann. Ein Beispiel für diese Folgen ist die erwähnte ontische Verdinglichung des Menschen im modemen Krankenhausbetrieb. Ferner wird damit zugleich gesagt, daß eine tiefere, wesentlichere Erfahrung des Menschenwesens die Leiblichkeit als eine dieses Wesen gerade strukturierende und sogar auszeichnende Dimension berücksichtigen müßte. Es wurde aber gezeigt, wie innerhalb der Grundstellung des christlichen Renaissanceplatonismus Geist und Körper gegeneinander stehen. Der Geist hat hinsichtlich des Körpers die überwindende und schließlich vernichtende Funktion, das "Opferschwein abzustechen" und somit die Geistseele aus ihrer Körperwüste zu ihrem eigentlichen Ziel, dem übersinnlichen Gott zu befreien. 38 Es wurde gezeigt, wie auch Kant innerhalb des Schemas der Entgegenstellung von Geist und Körper verbleibt. Selbst die hohe und wesentliche Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst" bleibt bei Kant an einer verdinglichenden Ontologie orientiert, da sich der Mensch in seinem "Dasein", d.h. bei Kant aber in seiner Wirklichkeit - als ein Wirkliches unter anderem Wirklichen - vom Tier, der Pflanze oder dem unbelebten Seienden insofern grundsätzlich nicht unterscheidet. 39 Innerhalb der phänomenologischen Klärung des Seins dieses Seienden, des Menschen, kommt daher gerade mit Blick auf die Bedrohung der Würde dieses Seienden dem Thema der Leiblichkeit als grundlegender, konstituierender Struktur dieses Seienden besonderes Gewicht zu. Wie konstituiert die Leiblichkeit den Menschen in seiner Wesenswürde? Wie wird gerade qua Leiblichkeit die höchste Wesenswürde des Menschen offenbar? Oberflächlich betrachtet, scheint das Thema "Leiblichkeit" geradezu ein Stiefkind der hermeneutischen Phänomenologie zu sein. Ausdrücklich geht Heidegger in "Sein und Zeit" nur einmal darauf ein, und zwar in Zusammenhang mit der "Räumlichkeit" und ihrer unmittelbaren Beziehung zur 38 39
Vgl. oben § 4 der Untersuchung. Vgl. oben § 7 der Untersuchung.
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Leiblichkeit, wie dies an Hand der an der menschlichen Leibgestalt ausgerichteten Richtungsanzeigen "rechts" und "links" aufweisbar ist. 4o Die diesbezügliche polemische Kritik, etwa von Sartre41 , hat übersehen, daß die Leiblichkeit unausdrücklich bei allen, die Wesensverfassung des Menschen aufweisenden Analysen von "Sein und Zeit" mit im Blick steht, daher geradezu als anonym gebliebenes, großes Thema dieses Grundwerkes angesehen werden könnte. So ist etwa die Kennzeichnung des Dinges, dessen ich zum Lebensvollzug bedarf, als "zuhandenes Zeug" gänzlich von einer Auslegung bestimmt, daß ein "zuhandenes Zeug", z. B. ein Hammer, mehr oder weniger gut zu Händen geht. Auch das mit dem Werk-Zeug angefertigte "Werk" wird seinem Besteller "auf den Leib zugeschnitten, er ,ist' im Entstehen des Werkes mit dabei".42 Der Einbezug des Leibes in die Fundamentalontologie des Daseins ist deswegen unabdingbar, weil der Leib uns in allen unseren Verhaltungen zu uns selbst, wie zu dem Mitmenschen, und auch zu dem nichtdaseinsmäßigen innerweltlichen Seienden als Wesensstruktur mit zu Grunde liegt. Diese Wesensstruktur verbietet in ihrer Ursprünglichkeit als Fundamentalstruktur des Daseins eine Scheidung des Menschen von ihr, weIche Scheidung jedoch in der christlichen SeelenMetaphysik vollzogen wurde. 43 Die Leiblichkeit konstituiert das Wesen des Menschen, sobald es als ekstatisches Innestehen in der Wahrheit des Seins erfahren wird, derart ursprünglich, daß selbst der "entseelte" Leib, der Leichnam noch mehr, weil Anderes ist als ein bloßes "Körperding" (Hervorhebungen von Heidegger): "Der ,Verstorbene', der im Unterschied zu dem Gestorbenen den ,Hinterbliebenen' entrissen wurde, ist Gegenstand des ,Besorgens' in der Weise der Totenfeier, des Begräbnisses, des Gräberkultes. Und das wiederum deshalb, weil er in seiner Seinsart ,noch mehr' ist als ein nur besorgbares umweltliches zuhandenes Zeug. Im trauernd-gedenkenden Verweilen bei ihm sind die Hinterbliebenen mit ihm, in einem Modus der ehrenden Fürsorge. Das Seinsverständnis zum Toten darf deshalb auch nicht als besorgendes Sein bei einem Zuhandenen aufgefaßt werden. ,,44
Das Verbot, den Leichnam als "Zeug" aufzufassen, erinnert an die von Heidegger ausgesprochene Notwendigkeit, bei der Bestimmung der formalen Vorgabe des Seins des Menschen, die von der Tradition diktierte BeSein und Zeit, S. 108 f. Vgl. den Hinweis Heideggers in: Zollikoner Seminare, Protokolle - Gespräche - Briefe. Hrsg. von Medard Boss. Frankfurt am Main 1987, S. 108. 42 Sein und Zeit, S. 70 f. 43 Vgl. hierzu die aus der fundamentalontologischen Blickbahn durchgeführte Auseinandersetzung mit der Memoria-Analyse des Augustinus bei F.- W. v. Herrmann, Bewußtsein, Zeit und Weltverständnis. Frankfurt am Main 1971, § 23. Zur Leiblichkeit in "Sein und Zeit" vgl. ders., Subjekt und Dasein. Interpretationen zu "Sein und Zeit". Frankfurt am Main 2. Aufl. 1985, S. 140 f. 44 Sein und Zeit, S. 238. 40 41
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
stimmung dieses Seienden als eines vorfindbaren Seienden, also etwa als "Organismus", kategorisch auszuschließen. 45 Der kategorische, unbedingt gebietende Charakter dieses Verbotes erklärt sich aus seinem Ausspruch im Rahmen der formalen Voranzeige des "Themas der Analytik des Daseins" in "Sein und Zeit". Hier ringt Heidegger um den phänomen gerechten Ansatz des Denkens, der sich vorerst nur formal bestimmen kann, unter ausdrücklicher Zurückweisung der Tradition, die sich, indem sie den Menschen als ein vorfindliches Vorhandenes unter anderen ansetzte, schon der Möglichkeit begab, die Frage nach dessen Sein zu stellen. 46 Die viel späteren "Zollikoner Seminare", die Heidegger von 1959-1969 zusammen mit dem Schweizer Psychiater Medard Boss durchführte, gewähren eine Mannigfaltigkeit von Einblicken, wie sehr das in der formalen Vorgabe des Themas der Daseinsanalyse in "Sein und Zeit" ausgesprochene Verbot, den Menschen als "Vorhandenes" anzusetzen, die phänomenologische Behandlung der Leiblichkeit bestimmen muß: Schon eine separate "Phänomenologie des Leibes" darf es nach Heidegger nicht geben, "weil der Leib kein Körper ist".47 Wollte man die Daseinsanalyse von "Sein und Zeit" durch eine Leiblichkeitsanalyse "ergänzen", so verfiele man wieder der metaphysischen, künstlichen Aufspaltung des Menschen in ein Geist- und in ein Körperwesen. Gerade die herrschende Schulmedizin, deren Arbeitsschema Heidegger in den "Zollikoner Seminaren" immer wieder in Frage stellt, erliegt dieser Aufspaltung, gleichermaßen aber auch "fortschrittliche" Strömungen, wie die Psychosomatik Thure von Uexkülls: Auch die Erforschung der Wechsel wirkungen zwischen "Psyche" und "Soma" krankt, so berechtigt der Ansatz im interdisziplinären Kontext zweifellos ist, an der phänomenologischen Unausgewiesenheit sowohl der "Seele" als auch des "Körpers". Streng gedacht "gibt" es weder Körper noch Seele. 48 Das will sagen: "Körper" und "Seele" lassen sich nie als Phänomene isoliert, als je ein von sich selbst her sich Zeigendes, an dem thematisierten Bereich des Seienden, also an dem Menschen in seiner Selbstgegebenheit, aufweisen. So trifft die medizinische Behandlung des "Körpers" scheinbar eine ganz selbstverständliche Gegebenheit an. Sieht man jedoch genauer hin, so zeigt sich, daß diese "Selbstverständlichkeit" Ergebnis einer langgeübten Denkgewohnheit oder besser gesagt der Unfahigkeit ist, ein verfestigtes Vorstellungsschema als solches in den Blick zu bekommen. Bei diesem Schema handelt es sich um das Subjekt-Objekt-Schema, das im Rahmen der Physiologie den Sachbezug zum Menschen methodisch dergestalt leitet, daß das Sein und Zeit, S. 43. Vgl. ferner: Brief über den Humanismus, S. 16. Sein und Zeit, S. 49. 47 Zollikoner Seminare, S. 23l. 48 Zollikoner Seminare, S. 248. Zu dem verhüllten "Dogmatismus" von Uexkülls vgl. auch a. a. 0., S. 133 f. 45
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Vorstellen des Arzt-Subjektes sich den Patienten als berechenbaren Funktionszusammenhang als Objekt entgegenhält und entgegenstellt. Damit der Patient als physiologisch zu untersuchender "Körper" in den Computertomographen gelangen kann, bedarf es einer vorgängigen Reduktion im Sinne der Vergegenständlichung auf die Berechenbarkeit. Indem der Mensch in der Physiologie und in der medizinischen Praxis auf einen berechenbaren Funktionszusammenhang reduziert wird, wird gerade die Verbautheit deutlich, der Medizin und Physiologie erliegen, indem sie innerhalb einer Denk- und Vorstellungs struktur verbleiben, die den Menschen als ein "Vorhandenes" im Sinne der Terminologie von "Sein und Zeit" verdinglicht. Unmittelbar an die formale Anzeige des Themas der "Analytik des Daseins" in "Sein und Zeit" knüpft Heidegger an in einem Gespräch mit Medard Boss: "Das Leibliche des Menschen kann nie, grundsätzlich nie als etwas bloß Vorhandenes betrachtet werden, wenn man es sachgerecht betrachten will; wenn ich das Leibliche des Menschen als etwas Vorhandenes ansetze, habe ich es zum Vorhinein schon als Leib zerstört. ,,49 Die "sachgerechte", besser: die dem Menschen und seiner Wesenswürde gemäße Betrachtung des Menschen in seiner leiblichen Verfassung wird von der modemen Medizin schon im "Vorhinein" verbaut, weil sie den Leib, indem sie ihn als Objekt vorstellt, nicht als Leib in seiner Leiblichkeit zulassen kann. Dem vergegenständlichten, zum bloßen "Körper" objektivierten Leib bleibt es versagt, sich noch in seiner Selbstgegebenheit als Leibphänomen zu zeigen und zu melden. Hiermit wird der Leib als Leib in seiner Leiblichkeit in gewisser Hinsicht "zerstört", selbst dort, wo die vergegenständlichende Untersuchung und Behandlung des Kranken seine Genesung oder Besserung unterstützen mögen. Hierzu eine Bemerkung Heideggers aus den zitierten "Zollikoner Seminaren": "Das Leibphänomen als solches ist für die Mediziner am stärksten zugedeckt, weil sie sich nur mit dem Leib-Körper beschäftigen, ihn als körperliche Funktion uminterpretieren. Das Leibphänomen ist ganz einzigartig, unreduzierbar auf etwas anderes, zum Beispiel unreduzierbar auf Mechanismen. Man muß das Leibphänomen als solches unversehrt akzeptieren können."so Heideggers Forderung, das Leibphänomen gegenüber den substruktiven Tendenzen5 \ der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin in seiner 49 Sein und Zeit, S. 43. Zum Zitat: Vgl. Zollikoner Seminare, S. 215. Die protokollierte Aussage Heideggers stammt vom Frühjahr 1963, während gemeinsamer Ferien von Heidegger und Boss auf Sizilien. 50 Zollikoner Seminare, S. 232 f. 51 Heidegger verwendet allerdings dort, wo Husserl "Substruktion" sagen würde, den bedeutungsgleichen Begriff der "Subposition". Er betont allerdings gegenüber Husserl, der die "Substruktion" als logischen Denkprozeß beschreibt, den ontologi7 Platte
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
Selbstgegebenheit zu bewahren und damit vor dem Zugriff einer mechanistischen Reduktion auf eine bloße Äußerung innerhalb eines kausalen Funktionszusammenhangs zu retten, sagt uns etwas über das Grundanliegen der Phänomenologie überhaupt. Wie bei Husserls Thematisierung der "Lebenswelt", geht es bei Heideggers Kritik der modemen Medizin nicht um die Verwerfung der wissenschaftlichen Einstellung als solcher, sondern darum, den Absolutheitsanspruch der Wissenschaften um Willen der Rettung des unvoreingenommenen Sachbezuges zu den Phänomenen in ihrer Selbstgegebenheit zu delegitimieren. Gerade die Tendenz des "Physiologischen" als eine "auf eine Extratour erfolgte Vergegenständlichung von etwas am Menschen", die als eine "Vergegenständlichung nicht mehr ins Menschliche zurückgenommen werden"s2 könne, läßt sich auf den metaphysisch bedingten und sachlich nicht zu rechtfertigenden Absolutheitsanspruch der Physiologie zurückführen. Indem sich das Wissen auf dem Niveau der Abstraktion des Menschen als einem Objekt absolut setzt, ist die an sich vielleicht doch bestehende Möglichkeit verbaut, das auf der Weise der Vergegenständlichung Gewonnene wieder zurückzubergen in die Dimension des "Menschlichen". "Preisgegeben" bleibt diese Dimension, der Mensch in seiner Menschlichkeit, jedoch stets, wenn man im Bereich der Physiologie ausschließlich "kausalgenetisch" denkt. s3 Jenes Denken, besser: Vorstellen, geht mit der Vergegenständlichung und Vermessung des Leibes einher. Dem Untersuchen des auf den bloßen Körper reduzierten Leibes, das man auch kausalanalytisch nennen könnte, entspricht ganz entscheidend und wesentlich die Unfähigkeit der Physiologie, zwischen Bedingung und Grund zu unterscheiden. So läßt sich mit Gewißheit nach- und beweisen, daß chemische Prozesse innerhalb des als "Körper" ausgelegten Leibes eine Wirkung entfalten. Diese Prozesse, sei es, daß ein Hormon oder ein Transmitter in einer Unteroder Überproduktion des Körpers die psychophysische Verfassung des Patienten bedingt, sei es, daß diese Verfassung medikamentös beeinflußt wird, stets handelt es sich um eine Bedingung der jeweiligen Verfassung des Kranken und nicht etwa um den Grund. So leidet ein psychisch Kranker unter Wahnvorstellungen und ist suizidär. Bei der Untersuchung wird festgestellt, daß die Transmitterkonzentration in den Synapsen der Nerven des Kranken erhöht ist. Also glaubt man seitens der Medizin irrig, die Ursache schen Charakter der Gründung des wissenschaftlichen Forschungsbereiches "auf dem Subponierten". Damit wird der gegenüber Husserl weiter gefaßte Bezirk der Metaphysikgeschichte als Seinsgeschichte in seiner den Grund des modemen, wissenschaftlichen Denkens legenden Funktion betont. Vgl. Zollikoner Seminare, S. 37. 52 Zollikoner Seminare, S. 200. 53 Zollikoner Seminare, S. 243.
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der Krankheit zu bekämpfen, indem man die Transmitterkonzentration medikamentös verringert, denn das "Physiologische" ist nicht der "Grund des Menschlichen", wie Heidegger hier zu Bedenken geben würde. 54 Was bloße Bedingung der Wahnzustände und Verfolgungsängste ist, wird von seinem Grund abgekoppelt, indem man diese Bedingung selbst als Grundlage, gewissermaßen als Wurzel der Krankheit, substruiert, die es medikamentös auszuroden gelte. Hilft da die Psychologie weiter? Das kausalanalytische Denkschema begegnet aber auch in der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Für Heidegger haben die "Erklärungsversuche" Freuds, menschliche Phänomene aus sogenannten "Trieben" zu begründen, den "methodischen Charakter einer Wissenschaft, deren Sachgebiet gar nicht der Mensch ist, sondern die Mechanik".55 Dieser methodische Charakter der Psychoanalyse ist jedoch keineswegs Folge eines Einfalls oder einer Gedankenlosigkeit. Er ergibt sich in der ihm eigenen Strenge aus dem vergegenständlichenden Denken, das in der Gestalt des Neukantianismus Freud maßgeblich beeinflußt hat. Worin besteht nun das Unmenschliche des absolut gesetzten Physiologischen, wie auch das den Menschen von vornherein Verfehlende des Psychoanalismus? Das Unmenschliche dieser Arbeitsweisen liegt darin, daß sie den Menschen immer schon übergangen haben. Indem sie kausalanalytisch ein bestimmtes Symptom auf seine vermeintliche "Ursache" hin zurückverfolgen, bleibt ihnen der aufweisende Sinn des Symptoms innerhalb der Selbstgegebenheit des Phänomens ebenso verborgen wie der eigentliche Grund, die wesenhafte Ursache des jeweiligen, in seiner Selbstgegebenheit zu achtenden Phänomens. Ein am Menschen aufweisbares Phänomen bleibt in seinem Phänomensinn ungeklärt und übergangen, wenn es, auf eine von der Norm abweichende chemische Zusammensetzung oder einen "Trieb", analog der Zusammensetzung eines Treibstoffgemischs oder der Triebfeder eines mechanischen Verschlusses, kausalanalytisch zurückgeführt wird. Es darf nichts erklärt werden. Alles muß gezeigt werden. Grund und Ursache eines Phänomens im "pathologischen" Sinne ist stets in einem wesensgemäßen, d.h. nicht kausalen Sinne, das leiblich-leibende "Wesen" des Menschen als Existenz. Eine bloß mechanistische Unterscheidung im Sinne der Kausalanalyse, zwischen Krankheitssymptom und Krankheitsursache, verbietet sich zumindest bei den "seelischen" Erkrankungen, wenn das jeweilige Krankheitszeichen als Phänomen in seinem Sich-zeigen unangetastet bleiben soll. Jetzt ist, so könnte man in gewissem Sinne sagen, der Kranke die "Ursache" der Krankheit: Der Kranke ist eben unter anderem auch in seiner Krankheit "da", wenn auch vorzugsweise in einem privativen Sinne. 54 5S 7*
S. 200, S. 243. S.217.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
Heideggers Denken ist nicht "wissenschaftsfeindlich". Es geht ihm aber darum, die Physiologie hinsichtlich der Absolutsetzung ihres "Sach"-bezuges auf den Leib zu entthronen, weil dieser Anspruch auf den allein maßgeblichen, legitimen Sachbezug - eine zumeist verhüllte Gestalt des Herrschaftsanspruchs des neuzeitlichen Subjektums - den Leib in seiner Leiblichkeit als Vollzugsstruktur der Existenz (des Daseins) verbaut. Wie zeigt sich diese Einbehaltenheit des Leibes in das "Wesen" des Menschen als Existenz? Mit den Anführungszeichen ("Wesen") betont Heidegger den Vollzugscharakter der "Ek-sistenz" als dem Offenstehen in die Wahrheit des Seins, im Unterschied zu dem Gattungswesen (essentia) der philosophischen Tradition. 56 Erst die Einbehaltenheit des Leibes in den Existenzvollzug als das Offenstehen in die Wahrheit des Seins wird erweisen, warum bei Heidegger der menschliche Leib "etwas wesentlich anderes (ist) als ein tierischer Organismus.,,57 Erst die Verwobenheit des Leibes als ein Leiben in den Existenzvollzug des Offenstehens in die Wahrheit des Seins macht deutlich, inwiefern die humanistische Tradition den Menschen in den "Wesensbereich der Animalitas verstoßen,,58 hat, indem sie ihn in seiner Wirklichkeit als ein vorhandenes belebtes Körperwesen unter anderen ansetzte, von denen es sich dann durch die Vernunft oder die Personenqualität unterscheiden soll. Aber nicht erst diese, durch Aufstockung auf die "Animalitas" aufgebauten Qualitäten konstituieren die Menschlichkeit des Menschen, der schon und gerade in seiner Verfassung als Leib vom Tier in dessen geheimnisvoller Lebendigkeit unterschieden bleibt. Wenn dieser Abgrund der unendlich femen "leiblichen Verwandtschaft" des Menschen mit dem Tier bei Heidegger aufbricht, so bedeutet dies jedoch keinesfalls, daß damit die "leibliche" Verfassung des Tieres, schließlich die Problematik des Seins des nichtdaseinsmäßigen Lebens überhaupt, aus hermeneutisch-phänomenologischer Sicht einfach zu klären sei, oder gar der Zoologie und Botanik überlassen bleiben dürfte. Denn es ist, im Grunde ebenso wie hinsichtlich des Menschen, sehr zu bestreiten, ob das Wesen von Tier und Pflanze durch die radikale Vergegenständlichung des neuzeitlichen Denkens und des darauf aufbauenden wissenschaftlichen Forschens wesens gemäß gedacht und erfahren werden kann. Auch aus diesem Grund ist "vermutlich", so Heidegger, für uns von allem Seiendem, das überhaupt "ist", d.h. das uns in unserem Lebensvollzug begegnet, das "Lebe-Wesen", also das Wesen von Tier und Pflanze, "am schwersten zu denken".59 Der menschliche Leib ist nicht des56 Sein und Zeit, S. 42 und die Erläuterung der Anführungsstriche im "Brief über den Humanismus", S. 18. 57 Brief über den Humanismus, S. 15 f. 58 S. 15.
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wegen etwas "wesentlich anderes als ein tierischer Organismus", weil das Tier als bloßer "Organismus", im mechanistischen Sinne, ausreichend gedacht werden könnte und der menschliche Leib einer besonderen Ontologie bedürfte, sondern er ist deswegen etwas wesentlich anderes, weil die traditionelle Bestimmung des Menschen als einem "Vernünftigen Lebewesen" mit seiner Gebundenheit an den Körper-Leib als einem unter anderen Organismen vorkommender Organismus, niemals in die Dimension vordringen kann, aus der die Würde des Menschen, als einem, gerade in seiner, ihm einzig möglichen, leiblich-leibenden Verfassung ek-sistierenden und dadurch ausgezeichneten Seienden, erst erfahrbar wird. Bei dieser Dimension handelt es sich um die Wahrheit des Seins, die das leiblich-leibende Dasein, das wesentlich erfahrene "Wesen" des Menschen, vollzugshaft auszustehen hat. Indem der traditionelle Humanismus sich auf die "Animalitas" versteifte und den leiblichen Menschen als eine bloße Wirklichkeit mißverstanden hat, blieb ihm zugleich die Möglichkeit verschlossen, das Wesen des Menschen eben nicht bloß vom Menschen, sondern vom Sein her zu denken. 60 Diese Problematik wird uns noch im Dritten Kapitel dieser Untersuchung beschäftigen. Vorerst gilt es zu zeigen, wie Leiblichkeit und Existenz unauflösbar vollzugshaft miteinander verwoben sind und in dieser Verwobenheit erst den Blick auf die eigentliche Würde des Menschen frei machen. Die zitierte Stelle in "Sein und Zeit", in der Heidegger ausdrücklich die Leiblichkeitsproblematik streift, bringt das Leibphänomen nicht zufällig in Zusammenhang mit einer anderen, die existenziale Verfassung des Menschen als Dasein konstituierenden Struktur. Das ist die Räumlichkeit des Daseins, die ihren Grund in der Wesensverfassung des Menschen als "Inder-WeIt-sein" hat. 61 In den späten "Zollikoner Seminaren" nimmt Heidegger auf diese knapp gehaltene TextsteIle des Grundwerkes ausdrücklich Bezug (Hervorhebungen von Heidegger): "Das Dasein des Menschen ist in sich räumlich in dem Sinne des Einräumens von Raum und der Verräumlichung des Daseins in seiner Leiblichkeit. Das Dasein ist nicht räumlich, weil es leiblich ist, sondern die Leiblichkeit ist nur möglich, weil das Dasein räumlich ist im Sinne von einräumend.,,62
Das Zitat scheint, vordergründig betrachtet, so etwas wie eine möglicherweise sogar kausale Ableitbarkeit der Leiblichkeit aus der Räumlichkeit S. 17. Vgl. hierzu den "Brief über den Humanismus", S. 15. 61 Sein und Zeit, § 23: "Die Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins" (S. 104-110. Zur "Leiblichkeit" S. 108). 62 Zollikoner Seminare, S. 105 (Protokollierte Seminarsitzung vom 11. Mai 1965, die Protokollierung der Seminare wurden von Heidegger persönlich korrigiert, wie aus der Einleitung von Boss hervorgeht. Die Hervorhebungen sind also authentisch). 59
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
nahezulegen. Dies wäre aber eine Fehlinterpretation. Denn stets bleibt nicht bloß diejenige Verfassung des Menschen, die Heidegger die "Leiblichkeit" nennt, auf die "Verräumlichung" dieses Wesens verwiesen, denn alles "Einräumen von Raum" kann immer nur als leiblich-leibender Existenzvollzug vonstatten gehen. Der Weltbezug des "In-der-Welt-seins", worin die Räumlichkeit des Daseins "gründet", kann stets nur als leiblich-leibendes Existieren vollzogen werden. Die existenzialen Konstituanten des Daseins: Leiblichkeit, Räumlichkeit und In-der-Welt-sein dürfen daher nicht in einem Ableitungsverhältnis zueinander ausgelegt werden, etwa dergestalt, daß die Räumlichkeit aus dem In-der-Welt-sein folge, oder daß die Leiblichkeit einseitig aus der wesenhaften Räumlichkeit des Daseins ableitbar sei. Die Existenzialien der Leiblichkeit, der Räumlichkeit und des In-derWelt-seins müssen vielmehr stets aus ihrem wechselseitigen Aufeinanderbezogensein verstanden werden. Über eine der drei Strukturen kann nur dann Klarheit gewonnen werden, wenn die bei den anderen zugleich mitgesehen werden. Die von Heidegger hervorgehobene Gründung der Leiblichkeit in der Räumlichkeit, und wiederum der Räumlichkeit im In-der-Welt-sein hat jedoch eine anzeigende Funktion. Im Unterschied zu Nietzsche, dessen "umgekehrter Platonismus" den Leib in gewissem Sinne übermächtig 63 werden läßt, indem er ihn als das einzig Maßgebliche, Wirkliche gegenüber dem illusionären, dem Leibe gegenüber zum Dienst geknechteten "Geist" bestimmt, will Heidegger eine Verwiesenheit des Leibes innerhalb des Existenzvollzuges zum Aufweis bringen, der die auch noch im "umgekehrten Platonismus" Nietzsches von der Tradition übernommene Leib-Seele (LeibGeist) - Scheidung hinfällig macht. Nietzsche sagt in "Also sprach Zarathustra": "Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ,Geist' nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner gros sen Vernunft. ,,64 Der erste Satz scheint eine sehr wesentliche Erfahrung der leiblichen Dimension auszusprechen. Gerade der Begriff "eine Vielheit mit einem Sinne" und das Bild: "eine Heerde und ein Hirt" verweisen uns darauf, daß 63 Nietzsche hat sein Denken selbst als "umgekehrten Platonismus" begriffen. Der treffende Begriff von der "Vormacht des Leibes" bei Nietzsche findet sich bei Daniela Neu, Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion. Zur Gründung in Heideggers "Beiträgen zur Philosphie" unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion. Universitätsdissertation Berlin 1997, S. 295 ff. 64 Nietzsehe, Also sprach Zarathustra I-IV. Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 4. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, S. 39. In seiner Tiefe und Sehschärfe verweist dieses Zitat eine metaphysikkritische phänomenologische Destruktion allerdings in ihre Grenzen: Nietzsche spricht noch aus anderen Quellen, als aus derjenigen des "umgekehrten Platonismus".
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der Mensch in seiner leiblichen Verfassung immer sich ausrichtend, übersteigend ek-sistiert und sich erst selbst gewinnt als einigend - hütender "Sinn" und "Hirte" einer sonst auf sich zurückgeworfenen, im Kriege mit sich befindlichen, vielköpfigen "Heerde". Spricht aus dem ersten Satz also offenbar eine sehr wesentliche Erfahrung von der Macht, mit der die Leiblichkeit das Wesen des Menschen mitbestimmt, so zeigt der zweite Satz doch die eher rohe Entgegenstellung des "umgekehrten Platonismus'''. Der Leib tritt ganz einfach an die Stelle des Geistes. So wie bisher der Geist sich des Körpers als eines äußeren Gegenstandes bediente, so stellt jetzt der Leib den Geist in seine Dienste als "Werk- und Spielzeug" der "grossen Vernunft", als die er waltet. Nietzsche sieht viel. Aber er vernichtet das Gesehene zugleich in einem gewissen Sinne, indem er des Gesehenen unbedingt mächtig werden will. Das geschieht bei ihm durch die zuweilen gewalttätig anmutende Unterwerfung des Gesehenen unter das Raster der "umgekehrten" Metaphysik. Es ist jedoch gerade die Tiefe von Nietzsches Sehen, die Heideggers Denken der Leiblichkeit in seinem Gespräch mit ihm in die höchste Höhe geleitet. Dieses Gespräch entfaltet sich innerhalb der Nietzsche-Vorlesung vom Wintersemester 1936/37 in Freiburg: "Der Wille zur Macht als Kunst". Thema ist jetzt nicht das pathologische "Leibphänomen", wie in den "Zollikoner Seminaren". Es ist vorerst nicht die in "Sein und Zeit" unterschwellig behandelte Eingebundenheit der Leiblichkeit in den Weltbezug des Daseins. Heidegger untersucht in der Nietzsche-Vorlesung keinen besonderen Leibbereich wie die Hand oder den Mund, die er andernorts und zwar überwiegend in ihrem Verhältnis zur Sprache zum Thema macht. 65 Untersucht wird vielmehr diejenige qualifizierte Gestalt der leiblich-leibenden Existenzvollzuges, die Heidegger die "leibende Stimmung" nennt. Eine solche Stimmung, in der die Leiblichkeit als Vollzugsstruktur des Daseins in ausgezeichneter Weise zum Aufweis gebracht wird, ist der Rausch: 66 "Der Rausch ist Gefühl, leibendes Gestimmtsein, das Leiben einbehalten in die Gestimmtheit, die Gestimmtheit verwoben in das Leiben. Das Gestimmtsein aber eröffnet das Dasein als ein steigendes und breitet es aus in die Fülle seiner Vermögen, die sich wechselweise erregen und ins Steigen bringen."
Heidegger hat hier gerade nicht den Zustand des im vulgären Sinne Berauschten, des Volltrunkenen im Auge. Wie wir umgangssprachlich treffend 65 Vgl. zur "Hand": Martin Heidegger, Was heißt Denken? Tübingen, 5. Auf!. 1997, S. 51. Ich beziehe mich auf einen Stundenübergang der ersten Vorlesung vom Winter 1951/52. Zum "Mund" vgl. Heideggers Gespräch mit der Dichtung Hölderlins und dem in diesem Gespräch gewonnenen, gewandelten Verständnis der Sprache als der "Blume des Mundes" in: Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache. Pfullingen, 9. Auf!. 1990, S. 204 ff., S. 206. 66 Heidegger, Nietzsche Erster Band. Pfullingen, 6. Auf!. 1998, S. 106.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
sagen, ist der hochgradig Alkoholisierte "zu" oder "dicht". Er ist in sich verschlossen. Stumpf und stier geht sein Blick durch den Raum der Wirtschaft. Er versteht die Lage nicht, in der er sich befindet, fängt sinnlos Streit an, "fällt aus der Rolle" oder "kippt vollkommen weg". Der Volltrunkene ist daher, wie Heidegger sagt, nie "bei sich selbst über sich hinaus".67 Der Seins-verstehende Bezug, als Bezug zu sich selbst und als gleichursprünglicher Bezug zum Mitmenschen, ist ebenso verbaut, wie derjenige zum außermenschlichen, nichtdaseinsmäßigen Seienden. Er ist geradezu verschüttet. Die Volltrunkenheit, der vulgäre "Rausch", ist daher ein reines Privationsphänomen, im Unterschied zur Krankheit, die, neben der unabweisbaren Privation der Existenz, auch eine eigenartige existenzielle Möglichkeit des Daseins in sich birgt, sich selbst zu eigen zu werden - eine Möglichkeit, die in der Novelle "Der Tod des Iwan Iljitsch" von Leo Tostoi und in Peter Nolls "Diktaten über Sterben und Tod" aufleuchtet. 68 Der Volltrunkene ist demgegenüber in sich gefangen. Dem Gefühl des Rausches als "leibendes Gestimmtsein" entspricht aber ebenso wenig der flüchtige Rausch, im Sinne eines oberflächlichen Abweichens aus dem "Alltagstrott"; so wie wenn der Soldat abends "einen drauf macht", um die Zeit "totzuschlagen", die ihn noch von dem nächsten Wochenende und der Freundin trennt. Der Rausch als "leibendes Gestimmtsein" ist die Herrschaft der wesentlichen "Einheit" der Stimmung. 69 Diese bedarf einer ausgeprägten Selbstdisziplin, bedeutet mithin gerade das Gegenteil von den Verfallsphänomenen des flüchtigen Rausches und der Volltrunkenheit. Der Rausch ist eine seltene und unverfügbare Möglichkeit der leiblich-leibenden Existenz. Die Selbstdisziplin, die im Sinne des "unterwerfenden Sicherheben meiner selbst zu mir selbst",70 wie es Heidegger in einer Kant-Interpretation genannt hat, zu verstehen ist, kann dieser Möglichkeit als Möglichkeit die Voraussetzungen schaffen, erzwingen kann er sie nicht. Als seltene und unverfügbare Möglichkeit der Existenz kennzeichnet der Rausch einen Leibzustand, der uns über uns hinweghebt, und uns damit das eigene Dasein, das Dasein des Mitmenschen und die Dinge des Lebens reicher, durchsichtiger und wesentlicher erfahren läßt. Im Rauschzustand bricht das Dasein für die Erfahrung der ihm bislang vorenthaltenen Füllen auf. In dieser leibenden Stimmung läßt sich das Gestimmtsein so bestimmen: Heidegger, Nietzsehe Erster Band, S. 100. Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod. Mit Totenrede von Max Frisch. Zürich 1984. Das klassische Beispiel für diese Möglichkeit bleibt aber Leo Tolstois Novelle: "Der Tod des Iwan Iljitsch" (1886), Stuttgart 1998. Übersetzt von Johannes v. Guenther, Nachwort von Konrad Fuhnnann. 69 Heidegger, Nietzsehe Erster Band, S. 100. 70 Zu dieser Interpretation in "Die Grundprobleme der Phänomenologie", GA 24, S. 192, vgl. oben im Zusammenhang mit Kant § 6 der Untersuchung. 67 68
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" ... daß ihm nichts fremd und nichts zuviel ist, das allem offen ist und für alles auf dem Sprung: die größte Tollheit und das größte Wagnis dicht nebeneinander.,,71
Ein solcher Zustand ist niemals Ergebnis einer vorsätzlich geplanten und insofern selbstursächlichen Be-rauschung. Er muß vielmehr stets aus der Unverfügbarkeit des Seins gedacht und erfahren werden. Er läßt sich daher auch nicht organisieren, etwa im Sinne einer Erlebnisindustrie, wozu sowohl die Massenmedien als auch der modeme Massentourismus gezählt werden könnten. All das, was im Zeichen des Ablenkens, der Sensation, der Abwechslung und des inszenierten Abenteuers steht, fällt unter die von Heidegger in den "Beiträgen zur Philosophie" als "Erlebnistrunkenboldigkeil" gekennzeichnete, organisierte Verhüllung der Verbautheit des heutigen Menschen. 72 Gerade in der von den Massenmedien beherrschten Weltlage besteht die Gefahr, daß die echten Existenzmöglichkeiten in einer Weise in Anspruch genommen werden, die sie im Sinne der organisierten "Erlebnistrunkenboldigkeit" verbraucht und in ihrem Erschließungssinn vernichtet. Das gilt für die Liebe ebenso wie für den Sport und den Kampf. Das betrifft die Erfahrung der Natur, die sich in einem Frühlingsrausch ebenso wesentlich in ihrem Sein lichten kann, wie sie als Wirtschaftsgrundlage einer "Outdoor"-Industrie weggestellt und verhüllt bleibt. Es wäre eine lohnende Aufgabe, den Zusammenhang zwischen dem Drogen- und Alkoholmißbrauch in der nördlichen Hemisphäre mit der fortschreitenden Verbauung der ursprünglichen leibenden Gestimmtheit des "Rausches" und der damit zusammenhängenden Verödung des Lebens, einer Untersuchung zu unterziehen. 73 Wenn gesagt wurde, daß der Rausch eine Möglichkeit der leiblich-leibenden und als solcher stets gestimmten Existenz sei, so ist dies nicht so zu verstehen, daß diese Möglichkeit zu der Existenz hinzuträte, vielmehr muß das Wesen des Menschen ganz aus seinem Möglichsein, d. h. auch aus der Möglichkeit des Rausches gedacht werden, als einer dem Menschen unverfügbaren, faktischen Möglichkeit, die er selber ist. 74 Diese Möglichkeit des Rausches als einem gestimmten und zugleich stimmenden Leibzustand ist 71 Heidegger, Nietzsche Erster Band, S. 101. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 139: " ... in dieser lärmenden ,Erlebnis'Trunkenboldigkeit ist der größte Nihilismus das organisierte Augenschließen vor der Ziellosigkeit des Menschen ... " Die TextsteIle läßt unschwer den zeitlichen Kontext zur organisierten Erlebnisindustrie des "Dritten Reichs" erkennen. Es ist allerdings sehr zu fragen, ob sie sich in diesem zeitgeschichtlichen Bezug erschöpft. Das Zitat hat seinen fugenmäßigen Ort in der ersten Fuge des "Anklangs" der Wesung des "Seyns" in der "Seinsverlassenheit". Vgl. Beiträge GA 65, S. 107 ff. 73 Ernst Jünger umkreist eine verwandte Problemstellung in der sehr facettenreichen Darstellung: Annäherungen, Drogen und Rausch (erstmals 1970). In: Sämtliche Werke, Essays V. - Annäherungen Bd. 11, Stuttgart 1978. 72
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
deswegen eine ausgezeichnete Möglichkeit des Daseins, weil der Rausch das Dasein eröffnend ausbreitet in die Fülle seiner Vermögen und in dieser Ausfaltung der Vermögen des Daseins das Dasein selbst zum "Steigen" bringt. 75 Dieses "Steigen" des leiblich-leibenden, VOn der Stimmung des wesentlichen "Rausches" durchwalteten und eröffneten Daseins geschieht als ein Steigen in die "Fülle seiner Vermögen", die sich als einzelne Vermögen "wechselweise erregen" und ihrerseits "ins Steigen bringen,,76. Mit dem "Steigen" greift Heidegger eine tiefe Einsicht der Metaphysik auf, daß der Mensch in seinem Wesen dergestalt ist, daß er das Seiende im Ganzen übersteigt. Was damit gemeint ist, soll ein Rückblick auf Pico della Mirandola klären. In seinem Schöpfungskommentar "Heptaplus" ("de Dei creatoris sex dierum opere Geneseos") sagt Pico über den Menschen: "Neque nostram conditionem de hoc infirmo corpore metiamur. Neque enim homo (ut scripturn in Alcibiade) hoc quod videmus fragile et terrenum, sed animus est, sed intellectus, qui omnem ambiturn caeli, omnem decursum temporis excedit.,m "Laßt uns unsere Wesensverfassung als Geschöpfe nicht nach Maßgabe dieses schwachen Körpers ausmessen. Denn der Mensch ist, wie in Platons Dialog ,AIkibiades' geschrieben steht, nicht dasjenige, was wir mit unseren Sinnen sehen, dieses zerbrechliche und der Erde verhaftete Wesen. Sondern Mensch ist Geist. Mensch ist Erkenntnisvermögen. Als solcher überragt er das Weltall im Ganzen und allen Ablauf der Zeit."
Das Vollzugshafte des Überragens ("excedere") dieses Menschen-Geistes, als ein Übersteigen des Seienden im Ganzen, verdeutlicht ein weiteres Zitat Picos aus seiner Streitschrift "Gegen die Astrologie": "Nihil magnum in terra praeter hominem, nihil magnum in homine praeter mentem et animum, huc si ascendis caelum transcendis, si ad corpus inclinas, et caelum suspicis, muscam te vides, et muscam aliquid minus.,,78 "Nichts ist groß auf dieser Erde, außer dem Menschen. Nichts ist groß im Menschen, außer Vernunft und Geist. Wenn du bis dort hinauf steigst, so übersteigst du noch das Himmelsgewölbe. Aber wenn du zu deinem Leib hinabsinkst und zum Himmel heraufblickst, so siehst du dich als Maus, ja als etwas noch Geringeres als eine Maus."
Indem der Mensch sein eigentliches Wesen, seine Humanitas ersteigt ("ascendere"), übersteigt ("transcendere") er das Seiende im Ganzen in 74 Vgl. zu dieser Problematik: Sein und Zeit, S. 143: "Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein. Dasein ist je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist." 75 Heidegger, Nietzsehe Erster Band, S. 106. 76 Heidegger, Nietzsehe Erster Band, S. 106. 77 Pico della Mirandola, Opera Omnia. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Basel 1557. Con una introduzione di Cesare Vasoli. Hildesheim 1969, Bd. 1, S. 22. 78 Opera Omnia, Bd. I, S. 519. Übersetzung beider TextsteIlen von mir.
§ 8 Die Eröffnung des ekstatischen Wesens des Menschen
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seiner größten sinnlich wahrnehmbaren Gestalt, dem Himmelsgewölbe ("caelum"). Das Wesen des wesentlichen Menschen als "animus" oder "mens" oder "intellectus", als Geistseele und Erkenntnisvermögen des Übersinnlichen, west und waltet für Pico in einem sich ersteigenden Übersteigen der sinnlich wahrnehmbaren, der Körperwelt. In diesem sich ersteigenden Übersteigen, dem Transzendieren des Seienden im Ganzen auf ein übersinnliches Wesen hin, west der wesentliche Mensch Picos und wird also in seiner Würde offenbar: Als Geistseele ("animus") und Erkenntnisvermögen des Übersinnlichen ("intellectus") überragt der Mensch selbst noch das Weltall und den Ablauf der Zeit. So gewinnt er sein der Vergänglichkeit enthobenes Wesen, indem er seine Leibverfassung, das "Mäuschen" verachten lernt. Das Wesensmerkmal des Steigens erscheint verwandelt auch bei Heidegger, erhellt dort aber den grundlegenden Unterschied gegenüber der Wesensbestimmung des Menschen als "animal rationale": Das leiblich-leibende "Gestimmtsein (... ) eröffnet das Dasein als ein steigendes" (hervorgehoben von mir)79. Erringt der Mensch bei Pico sein eigenstes Wesen, indem er den eigenen Leib niederringt, um als dergestalt von den Schlacken des Körpers und des Irdischen befreite Geistseele sich mit dem übersinnlichen Gott zu vereinigen,80 so gelangt bei Heidegger der Mensch als Dasein gerade im "leibenden Gestimmtsein", im "Rausch" in das "Steigen" in die "Fülle seiner Vermögen". Diese Vermögen, verwurzelt in dem leibenden Gestimmtsein des Rausches, erregen und steigern sich "wechselweise" und erheben das Dasein damit erst in das höchste Vermögen seiner selbst. Damit wird die Kluft im Verhältnis zur Auslegung des Transzendierens des Seienden innerhalb der Wesensbestimmung des Menschen als "animal rationale" deutlich: Denn dort ist die Leiblichkeit rein negativ verstanden, als das Sinnlich-Böse, das den Aufstieg der Seele zu dem Übersinnlichen Wesen behindert, oder als "Sinnlichkeit" der Urteilsfähigkeit der praktischen Vernunft entgegensteht. 81 Mit der fundamentalen Verwandlung der Leibauslegung des Menschen geschieht zugleich eine ebenso revolutionäre Verwandlung des Selbst-Bezuges und des Bezuges zum Mitmenschen, wie des Bezuges zum Seienden im Ganzen, Welt, überhaupt. Die Leiblichkeit, die vordem den Menschen in seiner Wesensentfaltung zu behindern schien, sei es als nach der Vereinigung mit Gott strebende Geistseele, sei es als nach sittlicher Vollkommenheit strebende Person, ermöglicht, befreit den Menschen erst, wird sein Wesen als Dasein erfahren. 82 79 80
Heidegger, Nietzsche Erster Band, S. 106. Vgl. hierzu die entsprechende Stelle in Picos "Oratio de hominis dignitate",
S. 20/2l. 81 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 73.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
§ 9 Der Wesensrang der Hand und die Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes Um dem Thema dieses Kapitels "Menschenwürde und Leiblichkeit" schärfere Konturen zu verleihen, wollen wir uns noch einem ausgezeichneten Leibbereich zuwenden. An diesem Leibbereich wird die leibliche Dimension der Wesenswürde des Menschen, die Leibwürde des seinsverstehenden Daseins, mit dem Aufweis ihrer Gefährdung durch die konkrete technische Apparatur zum Aufweis gebracht werden. Bei jenem ausgezeichneten Leibbereich haben wir es nun ursprünglich keineswegs mit einem Körperteil oder einem Organ zu tun. Wenn der Mensch seinen Leib nicht als ein Ding mit sich trägt, sondern in sich leiblich verfaßt ist, dann ist auch entsprechend der jeweilige Leibbereich kein abgetrennt vorzustellendes Körper-Teil, sondern eine besondere Region des in sich leiblich verfaßten, ekstatischen Wesens des Menschen. Erst auf der Grundlage der leiblichen Verfassung der Existenz ist es möglich, einen bestimmten Leibbereich als Körperteil, sei es in therapeutischer Absicht oder als Präparat, zu isolieren und zu untersuchen. Von sich selbst her gesehen ist aber der jeweilige Leibbereich aus der ekstatischen Verfassung des Menschen durch und durch bestimmt. Das "Haben" einer bestimmten Leibregion wird in ihrer prinzipiellen Verschiedenheit von dem "Haben" eines bestimmten Zeugs als Besitz oder Eigentum nur dann leibgerecht verstanden, wenn die jeweilige Leibregion als wesensmäßig hineingehörig in das Existieren erfahren wird. 83 Wie Eugen Fink dargelegt hat, entstammt die die Leiblichkeit verunstaltende Vorstellung von dem Körperbesitz einer sehr künstlichen Übertragung des dinglichen Besitzverhältnisses auf die Leiblichkeit, welche somit nicht mehr als solche, so wie sie sich von sich selbst her zeigt, zugelassen wird: Die wesenhafte Verleiblichung der ekstatischen Verfassung des Menschen wird durch die Vorstellung des Körperbesitzes niedergehalten und verhüllt, indem das alles Sacheigentum erst Ermöglichende, die Leiblichkeitsstruktur der Existenz, von dem durch sie erst Ermöglichten her, dem Sachbesitz, mißdeutend ausgelegt wird. 84 Der aus der Überlieferung bestimmten Analo82 Vgl. zur Problematik auch: Rafael Capurro, "Herausdrehung aus dem Platonismus". Heideggers existenziale Erstreckung der Sinnlichkeit. Abgedruckt in: "Verwechselt mich vor allem nicht!" Heidegger und Nietzsche. Schriftenreihe der M. Heidegger-Gesellschaft Bd. 3. Frankfurt am Main 1994, S. 139-156. 83 Zollikoner Seminare, S. 293. 84 Eugen Fink, Das Schicksal leibhafter Existenz. In: Gesundheit als Schicksal. Hrsg. v. Deutscher Jugendgesundheitsdienst. Wiesbaden 1960, S. 181-189, S. 185.
§ 9 Die Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes
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gie zwischen dem Leibverhältnis des Menschen und dem dinglichen Herrschaftsverhältnis von Besitz und Eigentum tritt auch Heidegger entgegen in dem letzten aufgezeichneten Gespräch, das der zweiundachtzigjährige Denker mit Medard Boss führte. Heidegger wendet sich dort dem ausgezeichneten Leibbereich des Auges zu: "Wir können nicht ,sehen', weil wir Augen haben, vielmehr können wir nur Augen haben, weil wir unserer Grundnatur nach sehenden Wesens sind ... 85
Mit den Anführungszeichen signalisiert Heidegger, daß das innerhalb des VorsteIlens des Leibverhältnisses als einem verdinglichenden Besitzverhältnis unumgängliche instrumentale "Sehen mit den Augen" nicht der Grund der Möglichkeit des Sehens ist, soweit es als Sehen aus der ekstatischen Verfassung des Menschen erfahren wird. Als bloßer physiologischer Befund genommen wäre das "Augen-Haben" nur dann eine mögliche Charakterisierung der anatomischen Verfassung des Menschen, wenn dieser Befund als physiologischer, als solcher in seiner Fundierungsbedürftigkeit erkannt und nur in deren Grenzen zugelassen würde. Fundiert ist das "Augen-Haben" aber in der Wesensverfassung des Menschen als Existenz und Dasein. Nur insoweit der Mensch seiner Grundnatur nach existierend-sehenden, also aufgeschlossen-erschließenden Wesens ist, wird ihm das "Augen-Haben" zur Notwendigkeit und das Entbehren des Augenlichts zur bitteren Not. Mit gleichem Recht hätte Heidegger dort, wo er den ausgezeichneten Leibbereich der Hand, bzw. des "HändeHabens" behandelt, sagen können: Der Mensch kann nicht deswegen Dinge handhaben, handeln im weitesten Sinne, weil er Hände hat, sondern er "hat" Hände, weil er handelnden, d.h. Dinge handhabenden Wesens ist. Dieses handelnd-handhabende Wesen empfängt der Mensch als leiblich verfaßte Existenz aus seiner geworfenen Verwiesenheit auf das jeweils so oder so aufgeschlossene innerweltliche Seiende, das Heidegger in "Sein und Zeit" das "zuhandene Zeug" nennt. Eingedenk dessen, daß der Mensch stets auf das handelnde Besorgen von innerweltlich Seiendem angewiesen bleibt, erklärt sich scheinbar schon, daß die Hand "zur Wesensauszeichnung des Menschen" gehört. Wie Heidegger in der im Kriegswinter 1942/43 gehaltenen Parmenides-Vorlesung sagt:
Die Fundiertheit auch des Sacheigentums (also des legitimierten Zuordnungsverhältnisses von einer Sache zu einer Person i. U. zur bloß faktischen Sachherrschaft des Besitzes) in der Leiblichkeit muß bei einer phänomenologischen Beurteilung von Kants Rechtsdenken des Eigentums als "Intelligiblem Besitz" hervorgehoben werden. Vgl. F.-W. v. Herrmann, Besitz und Leib. In: Philosophische Perspektiven. Hrsg. v. R. Berlinger und E. Fink. Bd. 3, 1971, S. 195-216, S. 209 ff. 85 Zollikoner Seminare, S. 293. Das Gespräch fand am 3. März 1972 in Heideggers Wohnung in Freiburg-Zähringen statt.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
"Der Mensch ,hat' nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen des Menschen inne (... )" - aber der Grund, den Heidegger für diese Wesensauszeichnung der Hand, die eine Wesensauszeichnung des Menschen meint, angibt, befremdet vorerst noch: ,,( ... ) weil das Wort als der Wesensbereich der Hand der Wesensgrund des Menschen ist. ,,86
Dort heißt es auch, daß die Hand "in einem mit dem Wort" die "Wesensauszeichnung des Menschen" ist. 87 Die Wendung "in einem" ist wichtig. Denn gerade in dem In-eins-Fallen von Hand und Wort beruht das Wesen des Menschen. Es ist offensichtlich, daß Heidegger an dieser Stelle die grundlegende Wesens bestimmung der Tradition aufnehmend modifiziert. Ist für diese der Mensch doch das "zoon logon echon", das "Tier, das die Sprache hat,,88; damit - wie Heidegger andernorts betont, nicht als ein Tier unter anderen Tieren dadurch ausgezeichnet ist, die Sprache zu haben, sondern er ist dasjenige "Tier", das erst durch die Sprache dieses besondere "Tier", eben Mensch ist. 89 In dem In-eins-Fallen von Hand und Wort beruht das Wesen des Menschen, weil Hand und Wort nur dann - und mit diesen beiden das Wesen des Menschen - wesensgemäß gedacht werden können, wenn Hand und Wort nicht als Seiendes innerhalb von anderem Seienden vorgestellt werden, sondern aus dem ekstatischen Offenstehen in das lichtend-verbergende Walten des Seins selbst gedacht und erfahren werden. So ist der Satz Heideggers zu verstehen: "Die Hand west nur als Hand, wo Lichtung und Verbergung ist.,,9o Zugleich, in einem hiermit, muß gedacht werden: Das Wort ist nur als Wort zugelassen, wo es als Wort aus dem lichtend-verbergenden Wesungsgeschehen des Seins selbst erfahren wird. Hand und Wort verlangen aber nicht nur danach, dort zu walten, wo Entbergung und Verbergung geschieht. Sie haben in ihrem Walten unmittelbaren Anteil an dem Entbergen und Verbergen, das in der Weise des Handelns der Hand und des Sprechens des Wortes waltet und währt. So kommen wir dem Sinn des Satzes näher: "Der Mensch ,hat' nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen des Menschen inne, weil das Wort als der Wesensbereich der Hand der Wesensgrund des Menschen ist. ,.9\ 86 Martin Heidegger, Parmenides. Gesamtausgabe Bd. 54. Hrsg. v. Manfred S. Frings. Frankfurt am Main 1982, S. 119. 87 Heidegger, Parmenides GA 54, S. 118. 88 Aristoteles, Politik 1252 b. 89 Martin Heidegger, Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes. Zu Herders Abhandlung "Über den Ursprung der Sprache". Oberseminar Sommer 1939. Gesamtausgabe Bd. 85. Hrsg. v. Ingrid Schüßler. Frankfurt am Main 1999, 29. Abschnitt, S. 35. 90 Heidegger, Parmenides GA 54, S. 118. 91 S. 119.
§ 9 Die Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes
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Nur innerhalb des durch das Wort gewährten Offenen vennag die Hand, Hand zu sein. Nur dort, wo das Wort - und mit ihm das Wesen der Sprache - aus dem lichtend-verbergenden Geschehen der Wahrheit des Seins erfahren und zugelassen wird, erscheint auch die Hand in dem Lichte ihres Wesensranges. Das handelnde Wesen der Hand bezeugt sich dergestalt gleichennaßen aus seinem Verwiesensein auf das innerweltliche Seiende, das es herzustellen und zu bearbeiten gilt, wie aus seinem alles Handeln erst ennöglichenden, noch ursprünglicheren Angewiesensein auf das Offene des Wortes. Aus dem Offenen des Wortes heraus fällt von vornherein die Pranke, die Klaue, die Pfote, der Huf und der Fang des Tieres. In dem Offenen des Wortes steht von vornherein "das Gebet und der Mord, der Gruß und der Dank, der Schwur und der Wink, aber auch das ,Werk' der Hand, das ,Handwerk' und das Gerät.'.92 Nur innerhalb des Offenen des Wortes vermögen diese Griffe als freie, als menschliche Handgriffe und Handlungen vollbracht zu werden. Als "Wesensgrund des Menschen" geht das Wort auch allen Werken der bildenden Künste vorauf, welches den bildenden Künsten erst das Offene ihres Werkschaffens gewährt und sie darin freigibt. 93 Die Hand bedarf des Wortes zur Entfaltung ihres Wesensbereiches. Nur innerhalb des Offenen des Wortes vennag die Hand ihr handelndes Wesen zu entfalten und dergestalt das Wesen des Menschen innezuhaben. Die Hand ist aber nicht einseitig bestimmt von dem gesprochenen Wort; sie gehört vielmehr selbst der Sprache und schafft in ihrem Handeln an dem Offenen des Wortes mit. So ist die grüßende Geste eine Weise, den Mitmenschen anzusprechen. Der Redner spricht nicht nur mit Worten, er spricht auch mit den Händen. In dem Werkschaffen des Handwerks muß die Hand ihr Werk selbst erfahren und darf sich nicht auf mündliche Anweisungen verlassen. Sie bedarf einer eigensten Schulung und Übung, um das ihr aufgegebene Werk in das Offene hervorzubringen und im Offenen stehen zu lassen. Schließlich ist nicht bloß das Dichten des Sprachkünstlers, sondern auch das Bilden des bildenden Künstlers ein ausgezeichnetes Sprechen. 94 S. 118. Vgl. auch: Martin Heidegger, Was heißt Denken? S. 51. Heidegger, Parmenides GA 54, S. 171-173. 94 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Holzwege (erstmals 1950), hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1997, S. 1-74, S. 21. Ferner: Bemerkungen zu Kunst - Plastik - Raum. Ansprache zur Eröffnung einer Ausstellung von Werken Bernhard Heiligers vom 3. Oktober 1964. Hrsg. v. Hermann Heidegger, St. Gallen 1996, S. 5 f. Gegenüber dieser Einsicht Heideggers in das besondere Sprechen des bildnerischen Werkes scheint mir jeder Versuch des philosophischen Denkens, eine Hierarchisierung innerhalb der Künste zu Gunsten des Sprachkunstwerkes durchzuführen, fragwürdig zu sein. Vgl. hierzu aber: Heidegger, Parmenides GA 54, S. 171-173. 92 93
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
Die Hand zeichnet und schreibt. In der Handschrift, die mir zugehört, wird die selbsthafte Erschlossenheit der Existenz offenbar. Gestalt der Hand und der Handschrift sagen etwas über den jeweiligen Menschen, lassen diesen über sich sprechen. So verdeckt man bei der Leichensektion außer dem Antlitz auch die Hände des Leichnams, um die aus den Händen noch sprechende, erloschene selbsthafte Existenz zum Schweigen zu bringen. Hände zeichnen und schreiben nicht bloß, sie sind auch besonders schwer zu zeichnen, wie jeder Zeichner weiß. Die Weise, wie mir jemand die Hand "gibt", sagt vielleicht mehr und anderes über mein Verhältnis zu ihm, als ein langes Gespräch zur Sprache bringen könnte. Die Zueinandergehörigkeit von Hand und Wort zeigt sich aber besonders klar in der Hand-Schrift. Dort "kommt und geht das Wort" noch durch die "schreibende und eigentlich handelnde Hand".95 Dort handelt die Hand noch in ihrem Wesens bereich, der als solcher zugleich der Wesens bereich des Wortes ist. Dort ist die Hand noch zugelassen als die im Bereich des Wortes handelnde und schaffende Hand. Die dergestalt zugelassene Hand empfängt ihren "Wesensrang" aus ihrer Zusammengehörigkeit mit dem Wort und damit aus ihrer Zugehörigkeit zu dem Bereich, "wo Entbergung und Verbergung ist".96 Als Verwahmis des Wechselbezuges zwischen dem Seienden und dem Menschen handelt die Hand nur dort, wo "das Seiende als solches unverborgen erscheint und der Mensch entbergend sich zum Seienden verhält.'.97 Erst diese Zugehörigkeit der Hand zu Entbergung und Verbergung läßt den unüberbrückbaren Abgrund aufreißen zu der Klaue des Tieres, die eben jener Zugehörigkeit gerade entbehrt. Es ist der gleiche unüberbrückbare Abgrund, der zwischen dem gesprochenen Wort des Menschen und dem Schrei des Tieres aufklafft. Dieser Bereich der Entbergung und Verbergung ist der Bereich des Offenen, den der Mensch als das seinsverstehende Dasein existierend, also aufgeschlossen-erschließend, auszustehen hat. Erst aus diesem Offenen empfängt die Hand ihr den Menschen zu sich selbst versammelndes und befreiendes Wesen und damit als ausgezeichneter Leibbereich ihren spezifischen Rang. Heidegger kennzeichnet das Handeln der Hand im Bereich der Schrift, in welchem die "Zusammengehörigkeit von Hand und Wort" als die "Wesensauszeichnung des Menschen,,98 offenbar wird, phänomenologisch als ein Zeigen. Das Schreiben ist ein Zeichnen, das als ein Zeigen zeigende Zeichen zu Gebilden bildet und somit Verborgenes entbirgt. 99 Das zeigende Zeichnen der Handschrift hat damit Anteil am Offenen des Wortes, das als ein solches, 95 96 97
98
Heidegger, Parmenides GA 54, S. 119. S. 118. S. 124 f. S. 118.
§ 9 Die Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes
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als Offenes, der Handschrift und damit der Hand bedarf. Das Offene des Wortes ist aber nichts anderes als der Bezug des Seins zum Menschen: "Sein, Wort, Lese, Schrift nennen einen ursprünglichen Wesenszusammenhang, in den die zeigend-schreibende Hand gehört. In die Handschrift ist nun der Bezug des Seins zum Menschen, nämlich das Wort, in das Seiende selbst eingezeichnet."IOO Auf den "ursprünglichen Wesenszusammenhang" von Wort, Schrift und Sein muß weiter unten noch eingegangen werden in Zusammenhang mit dem Vorwurf Derridas an Heidegger, er betreibe eine allgemeine Herabsetzung der Schriftkultur und des Intellektuellen. Wir fragen: Was geschieht dem Wort, was geschieht der Hand, wenn das handwerkliche Schreibzeug, Bleistift oder Füllfederhalter, durch die Schreib-Maschine ersetzt wird? Kann hier überhaupt von einem grundlegenden Wandel die Rede sein? Der getippte Buchstabe orientiert sich nach wie vor an dem zeichnungshaften, den zeichnenden Bewegungen der Hand angepaßten Gebilden, den handgeschriebenen, "gezeichneten" Buchstaben. Auch beim tippenden Bedienen der Schreibmaschine bleibt die Hand notwendig im Spiel. Noch weniger als ein moderner "Schreib"-Computer hat die "klassische" mechanische Schreibmaschine, die Heidegger vor Augen hat, den Charakter einer Maschine "im strengen Sinne der Maschinentechnik".lOl Sie ist vielmehr, da ihre Arbeitsweise noch ganz durch unmittelbar ansetzende Handgriffe bestimmt ist, von denen jeder einzelne, für sich betrachtet, den Charakter eines bloßen Werkzeuggebrauchs hat, ein "Mechanismus". Dieser steht als solcher zwischen einem echten Werkzeug, wie dem Hammer, der noch ganz von dem Handeln der Hand bestimmt ist und aus diesem Handeln hervorgeht, um die bloße Hand für das Einschlagen der Nägel zu bewaffnen, und einer echten Maschine, wie der Antriebsturbine eines Schiffes, die einmal in Gang gesetzt, das Fahrzeug fortwährend antreibt, somit des Handgriffs nur allenfalls zu der Regulierung der Fahrgeschwindigkeit bedarf, wobei an die Möglichkeit der Computersteuerung aller Bewegungen eines Fahrzeugs zu denken ist.
Im Unterschied zu der mechanischen Schreibmaschine ist der "Schreib"Computer in seiner Funktionsweise zwar noch auf den auslösenden Handgriff angewiesen, diese Handgriffe stehen aber in keinem unmittelbaren, instrumentalen Bezug mehr zu dem Drucken der Buchstaben und damit dem 99 S. 125. Heidegger verweist in diesem Zusammenhang auf das altgriechische Verb "graphein", das sowohl das Schreiben als auch das Zeichnen benennt. Die ursprüngliche Bedeutung von "graphein" ist: etwas einritzen oder eingraben (in Wachs oder Stein). Vgl. Benseier, Griechisch-Deutsches Schulwörterbuch, 8. Auf!. Leipzig 1886, S. 150 f. 100 S. 125. 101 Heidegger, Parmenides GA 54, S. 127.
8 Platte
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
Erstellen des gedruckten Textes, weil der Schreibvorgang selbst, der bei der Bedienung der mechanischen Schreibmaschine, dem "Tippen", noch einheitlich ist, auseinandergerissen wird: Streng genommen "schreibe" ich nicht "mit" dem Computer, sondern ich konzipiere einen Text mit Hilfe eines Programms, der gespeichert beliebig kopier- und ausdruckbar ist. Gegenüber der Schreibmaschine betreibt das "Schreiben" mit dem "Schreib"Computer daher eine höhere Abstraktion, einen weiteren Wegriß (lat. abstrahere: "wegreißen" und "trennen") des Schreibens von der Hand und der Handschrift. Wenden wir uns wieder der Schreibmaschine zu. Was geschieht mit dem Ersatz der verhältnismäßig langsamen und charakteristischen Handschrift durch die so viel effizientere, uniforme und immer leicht und schnell zu lesende Maschinenschrift? Haben wir es hier nicht mit einem offensichtlichen Fortschritt zu tun? In der Tat. Aber die Frage ist, was mit der Mechanisierung des Schreibvorganges einem fortschreitenden und sich radikalisierenden Wandel unterworfen wird. Heidegger sagt in unmittelbarem Anschluß an die oben zitierte Stelle: "Der Ursprung und die Behandlungsart der Schrift ist in sich schon ein Entscheid über den Bezug des Seins und des Wortes zum Menschen und damit über das Verhältnis des Menschen zum Seienden und die Art, wie beide, Mensch und Ding, im Unverborgenen stehen oder ihm entzogen sind.,,102 Der Bezug des Seins zum Menschen ist gewährt in dem Wort. Dieser Bezug waltet sowohl in der Weise des gesprochenen als auch in der Weise des geschriebenen Wortes. Das geschriebene Wort ist ursprünglich Handschrift. Im ursprünglichen Zeichnungscharakter der Schrift zeigt sich die Zusammengehörigkeit von Wort und Hand. Darin wird zugleich die Wesensauszeichnung des Menschen offenbar. Er ist das einzige sprechende und als solches das einzige handelnde Wesen. Die Schreibmaschine zerstört aber gerade den ursprünglichen Zusammenhang von Wort und Hand. Während in der Handschrift "der Bezug des Seins zum Wesen des Menschen, nämlich das Wort, in das Seiende selbst eingezeichnet ist," wird durch die Übertragung des Schreibens auf die Maschine die Schrift der Hand und damit ihrem "Wesensursprung" entzogen. Indem die Schrift ihrem Wesens ursprung, der Hand, entzogen wird, geschieht aber zugleich eine Verwandlung des Bezuges des Wortes, als dem Wesens grund des Menschen, zu dem Menschen selbst. Mit dem Wandel in der Behandlungsart der Schrift durch die Schreib-Maschine geschieht nichts weniger als ein "Entscheid" über den "Bezug des Seins zum Menschen". Dieser Entscheid entscheidet gleichursprünglich über das Verhältnis des Menschen zum nichtdaseinsmäßigen Seienden und darüber, wie Mensch und Ding in der Unverborgenheit ihres Wesens zu stehen kommen oder ihr 102
Heidegger, Parmenides GA 54, S. 125.
§ 9 Die Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes
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entzogen sind. Die Entscheidung weg von der Handschrift, hin zu der Schreibmaschine, unterstellt sich jenem Entscheid, der das von der Hand gehaltene, handelnde Wesen des Menschen in eine Verborgenheit verhüllt. So nähern wir uns einem Verständnis des Satzes: "Die Schreib-maschine verhüllt das Wesen des Schreibens und der Schrift. Sie entzieht dem Menschen den Wesensrang der Hand, ohne daß der Mensch diesen Entzug gebührend erfährt und erkennt, daß sich hier bereits ein Wandel des Bezugs des Seins zum Wesen des Menschen ereignet hat.,,103 Der erste Satz wird klarer, wenn wir uns die zuvor zitierte TextsteIle in Erinnerung rufen. Inwiefern verhüllt die Schreibmaschine das Wesen der Schrift? In der Handschrift ist der Bezug des Seins zum Wesen des Menschen, das Wort, in das Seiende selbst eingezeichnet. Es verklingt nicht, wie das gesprochene oder gerufene Wort, sondern wird verwahrt im Seienden. "Seiendes" meint das Papier oder Pergament, auf dem die Schriftzeichen eingezeichnet sind. Man könnte erwidern: In der modemen Maschinenschrift geschieht doch auch eine, und zwar sehr effektive, weil jederzeit reproduzierbare Bewahrung des Wortes. Aber dort ist das Wort nicht eingezeichnet, sondern getippt und bloß noch festgehalten. Der ursprüngliche Bezug von Hand und Wort zum Wesen des Menschen ist damit vernichtet, weil die Hand nicht mehr in ihrem zeigend-zeichnenden, das Wesen des Menschen haltenden Walten zugelassen wird und das Wort nicht mehr als der Wesensgrund des Menschen erfahren wird, wenn es zum bloßen maschinal instrumentalisierten Informationsträger degradiert wird. Nur als derjenige Leibbereich, der das Wesen des Menschen "hält" und damit zu seinem Wesen als das leiblich-leibende Offen stehen der Existenz befreit, empfängt die menschliche Hand ihren hohen Rang. Gerade in der Maschinenschrift geschieht aber eine Reduzierung des so komplexen Schreibvorganges auf eine bloß noch die Buchstaben einschlagende, flüssig oder abgehackt hämmernde, stereotype Bewegung. Mit der Maschinenschrift geschieht zugleich mit dem "Einbruch des Mechanismus in den Bereich des Wortes" ein Entzug des Wesensranges der Hand. 104 Indem die Schreibmaschine die Schrift dem Wesensbereich der Hand entreißt, welcher als das Wort der Wesensgrund des Menschen ist, geschieht jener Entzug des Ranges der leiblichen, der handelnden Hand. Diese wird von der Maschine, die sie bedient, dergestalt in den Dienst gestellt, daß sie ihr die jeweiligen Handgriffe diktiert. In der Maschinenschrift verschwindet das Charakteristische der jeweilige Handschrift und die darin zu Tage tretende selbsthafte Freiheit. Hierin erweist sich, daß dem Entzug des Ranges der Hand auch 103 104 8*
Heidegger, Parmenides GA 54, S. 126.
Ibd.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
ein Rangverlust des Menschen als solchem in seiner selbsthaften und leiblich-leibenden Offenständigkeit entspricht. "Einbruch" und "Entreißen", die Worte Heideggers für das Geschehen der Verbreitung der Maschinenschrift, sind Worte, die mit Bedacht auf den gewaltsamen Charakter des Geschehens als einem "Brechen" und "Reißen" hinweisen. Der so angezeigte gewaltsame Charakter dieses Geschehens weist wiederum auf dessen Unwählbarkeit hin. Anders gesagt: Die Verbreitung der Schreib-maschine geschieht zwar nicht ohne Zutun des Menschen, aber sie geschieht doch als ein Geschehen, das als solches der freien Verfügbarkeit des Menschen entzogen bleibt. Heidegger kennzeichnet dieses Geschehen in seinem bedrängenden Charakter. Die Maschine "drängt" sich auf. Selbst dort, wo auf ihren Gebrauch verzichtet wird und die Handschrift ausdrücklich gepflegt wird, geschieht doch eine "Rücksichtnahme" auf die - sich in dieser Rücksichtnahme zugleich offenbarende - "Herrschaft der Schreibmaschine" in der Weise des Verzichtes und des Umgehens. 105 In diesem Bedrängen und Ausweichen zeigt sich gerade die Unverfügbarkeit des Geschehens, das als solches der Wahlfreiheit entzogen bleibt. Auch dort, wo jemand auf die Maschine verzichtet, muß er sich der Herrschaft der Maschine stellen, d. h. zu ihr Stellung nehmen und sich insofern hinnehmend zu ihr verhalten. Dieser Zwang erscheint heute in Hinblick auf den Computer in der immer drängenderen Frage: "Haben Sie noch immer keinen Computer?" - oder auch in StellenangeboJ;en von Firmen, in denen die Schulung mit einem bestimmten Computerschreibprogramm als Bedingung für eine aussichtsreiche Bewerbung wichtiger erscheint als die akademische Ausbildung. Weil der Ersatz der Handschrift durch die Maschinen-Schrift vordergründig eine bloße Erleichterung darstellt und als "Fortschritt" begrüßt wird, bleibt der Entzug des Wesensranges der Hand und die Entzweiung von Wort und Hand, als ursprünglich einander zugehöriger Bereiche, dem Menschen vorerst unerfahrbar. Heidegger kann daher sagen: "Die Schreibmaschine ist eine zeichenlose Wolke, d.h. eine bei aller Aufdringlichkeit sich entziehende Verbergung, durch die der Bezug des Seins zum Menschen sich wandelt.'.J 06
Als "zeichen lose Wolke" umwölkt die Schreibmaschine den Wandel des Bezugs des Seins zum Wesen des Menschen. Indem sich die Schreib-maschine dem Tun und Lassen des modernen Menschen stets und immer aufdrängt, wo das gesprochene Wort in Schrift gerinnen soll, entzieht sich zugleich der in diesem Sichaufdrängen geschehende Entzug in die Verborgen-
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Heidegger, Parmenides GA 54, S. 119, S. 127. S. 126.
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heit. Wie ist es nun möglich, daß dies Sichaufdrängen in seinem einbrechenden und in seinem entreißenden Charakter sich verhüllt? Es bleibt verhüllt, weil weder der Einbruch der Schreibmaschine in den Bereich des Wortes, noch deren Entreißen der Schrift aus dem Wesensbereich der Hand erfahrbar werden. Zugleich verhüllt sich hiermit der Entzug des Wesensranges der Hand, die ihren "Rang" nicht als ein Körperteil innehat, das den Menschen gegenüber anderen Lebewesen zu besonderer Geschicklichkeit befähigt, sondern dadurch empfängt, daß sie als ausgezeichneter Leibbereich "Verborgenes entbirgt, indem sie zeigt und zeigend zeichnet und zeichnend die zeigenden Zeichen zu Gebilden bildet.,,107 Schon die bloße Erfahrung des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes als Entzug des Wesensranges der Hand setzt daher eine andere als die instrumentale Bestimmung des Wortes, d. h. des Wesens der Sprache, ebenso voraus, wie eine andere als die physiologische Bestimmung der Hand, d. h. der Leiblichkeit des Menschen. Die instrumentale Bestimmung des Wortes ist jedoch - etwa in der Gestalt der modernen Sprachwissenschaft und Linguistik - die durchaus herrschende, wie auch die physiologische Leibauslegung, mit ihrer Bagatellisierung der Hand zu einem Organ, die durchaus herrschende ist. Sowohl in dem Brechen des Einbruchs der Maschine in das Reich des Wortes und dem Entreißen der Schrift aus dem Wesensbereich der Hand, welcher als solcher der Wesensbereich des Wortes ist, als auch in der Verhüllung dieses Geschehens durch eine verdunkelnde Auslegung des Wesens der Sprache und des Leibwesens des Menschen wird der herrschaftliche Charakter des Wesens der Modernen Technik phänomenologisch aufweisbar. Die Moderne Technik bedarf zur Sicherstellung ihrer Herrschaft sowohl der Gewalt, als auch zugleich der Verhüllung dieses ihres gewaltsamen, den Menschen beanspruchenden und beschneidenden Waltens. Als eine geschichtliche Gestalt des Bezuges des Seins zum Wesen des Menschen bedarf die Moderne Technik wesens notwendig des verhüllendverhüllten Entzuges, gewissermaßen der Nacht- und Kehrseite ihres Waltens. Verhüllend waltet der Entzug, insofern er die existenzielle Dimension von Wort und Hand dem Menschen zunehmend entzieht und somit das Wesen des Menschen, wird es als Existenz und Dasein erfahren, verarmen läßt. Verhüllt waltet der Entzug, insofern er dieses sein entziehendes Walten niemals veröffentlichen darf, sondern zur Sicherung des reibungslosen Ablaufs des Lebens als "Technischen Fortschritt" propagieren muß. Die Zunahme des Entzugs zeigt sich daher nur einem Denken, das bereit ist, diesen vermeintlichen "Fortschritt" in seinem absoluten Charakter als 107
S. 125.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
überholte Kategorie fallenzulassen. Die Zunahme des Entzuges zeigt sich dann in dem höheren Maße, in dem die Sprache dem Zugriff der Technik seit dem Aufkommen des Computers ausgesetzt ist. \08 Denn jetzt wird zunehmend nicht bloß die Schrift und mit ihr die Hand in Anspruch genommen, sondern der Sprachcharakter selbst wird einem Wandel unterworfen hin zur technischen Sprache, wie sich das in der jüngsten "Rechtschreibreform", die nicht zufällig große Ähnlichkeit mit einem Reformversuch aus den letzten Jahren des "Dritten Reichs" zeigt, angekündigt hat. lo9 Aber nicht erst dort, wo die Sprache und mit ihr die Schrift "auf die Formeln eines Logikkalküls umgeschrieben wird", sondern schon überall, wo man den Informationscharakter von Wort und Buchstabe als das Wesentliche der Sprache bestimmt, unterliegt die Sprache einer technischen Auslegung, wie Heidegger in einem späten Vortrag betont. l \0 Den Umfang, wie weit die Sprache dem Zugriff der Technik ausgesetzt werden wird, hat Heidegger schon sehr früh, seit den 50-er Jahren vorausgesehen. Das gilt etwa für die damals noch kaum absehbare Konstruktion von "Übersetzungsmaschinen", eine noch heute mit den modernsten Computern und entsprechenden Programmen kaum realisierbare Möglichkeit zukünftiger Entwicklung. I I 1 Auf ein verbreitetes Mißverständnis von Heideggers Analyse des technischen Gerätes muß noch eingegangen werden. Es handelt sich dabei um diejenige Deutung von Heideggers Auslegung der technischen Apparatur, die dem Denker eine archaisierende, die althergebrachten Lebensformen des handwerklichen und bäuerlichen Berufs idealisierende Intention unterstellt. Diese Intention scheint sich ja schon in der sich an den genannten Lebensformen bloß beispielhaft orientierenden Zeuganalyse, also der existenzanalytischen Dingontologie, in "Sein und Zeit"ll2 anzukündigen. Dadurch geschieht aber eine vollkommene Verstellung des philosophischen Charakters dieser Analysen, indem man dem Denker im Grunde eine welt108 Der Computer wurde etwa gleichzeitig während des Zweiten Weltkrieges in Deutschland und in den USA erfunden. 109 Vgl. zu der Koinzidenz von Heideggers Technik- und Faschismuskritik den Essay von Silvio Vietta: Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989. Hier besteht freilich tendenziell die Gefahr, Heideggers Phänomenologie der Technik zu sehr auf diesen konkreten, zeitgeschichtlichen Kontext zu verengen, wenn Vietta selbst auch eine derartige Einschränkung durchaus nicht beabsichtigt. Nur der phänomenologische Mitvollzug entgeht der Gefahr der Historisierung. 110 Martin Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache. Hrsg. v. Hermann Heidegger. St. Gallen 1989, S. 20 ff. Der Vortrag wurde am 18. Juli 1962 an der Staatlichen Akademie für Lehrerfortbildung in Schwäbisch Hall gehalten. 111 Vgl. Martin Heidegger, Hebel der Hausfreund. Erstmals 1957,5. Aufl. Pfullingen 1985, S. 26 ff. ll2 Sein und Zeit, § 15 f.
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anschauliche Intention an Stelle der philosophischen und als solcher notwendig fragenden Haltung unterstellt. Diese vermeintliche weltanschauliche Intention wird dann sehr billig mit einem "Blut und Boden"-Mythus und folklorehaften Agrarismus konnotiert, ohne zu bedenken, daß gerade der Nationalsozialismus, mit dem man einen derartigen vermeintlichen, rückwärts gewandten Utopismus gemeinhin mehr oder weniger deutlich assoziiert, den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland in Hinblick auf eine sich steigernde Entwurzelung und Nivellierung und Technisierung aller Lebensbereiche beschleunigt hat. I I3 Dem Mißverständnis des philosophischen Fragens Heideggers entspricht daher ein ebensolches Mißverständnis des seins geschichtlichen WesenS des Faschismus, das nicht von seinen vordergründigen ideologischen Bestandteilen her, sondern erst aus dem geschichtlichen Walten des Seins als Wille zur Macht verständlich wird. In diesem Zusammenhang muß die Kritik erwähnt werden, die Heideggers phänomenologische Auslegung der Hand und der Schreibmaschine durch einen Essay von Jacques Derrida erfahren hat. 114 Dessen Kritik zielt allerdings weniger auf Heideggers Intention ab, die sich für ihn auf einen "handwerklichen Einspruch gegen die Austilgung oder Herabminderung der Hand in der industriellen Automatisierung des modernen Maschinenbetriebes" reduzieren läßt, als auf die "zweifelhaften Wirkungen" VOn Heideggers vermeintlicher "Strategie". Diese Wirkungen will Derrida in einer (gefährlichen?) "archaisierenden Rückwendung hin zum ländlichen Handwerk", verbunden mit der (impliziten?) "Denunziation" von Handel und Kapital sehen. Die vermeintliche Herabsetzung von Handel und Gewerbe unterliegt natürlich 1942, dem Jahr der Konzeption der Parmenides-Vorlesung, der Assoziation einer geistigen Verwandtschaft mit dem fanatischen Antisemitismus der Machthaber, ein Gedanke, den Derrida nicht deutlich ausspricht, aber mit dem undeutlichen Hinweis auf die damalige Assoziation von Kapital und "Judentum" nahelegt. 115 Ferner werde durch Heideggers Verteidigung der Hand und des 113 Diesen Sachverhalt hat Ralf Dahrendorf sehr deutlich gesehen in seiner Studie: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München, 4. Auf!. 1975. 114 Jacques Derrida, Geschlecht (Heidegger), Sexuelle Differenz, ontologische Differenz, Heideggers Hand (Geschlecht 11). Hrsg. v. P. Engelmann, übers. v. H.-D. Gondek, S. 45-99. 115 Derrida, S. 64. Derrida vermeidet allerdings geflissentlich die Begriffe "Antisemitismus" und "Judentum". Der Kontext läßt aber keinen Zweifel, worauf er sich bezieht. Die Setzung von "Judentum" in Anführungszeichen wurde von mir durchgeführt, um damit die Problematik dieses Begriffes als politische Kategorie anzuzeigen. In Anbetracht dieser Frag-Würdigkeit scheint mir schon die religionsund kulturgeschichtliche Verwendung von "Judentum" - analog etwa zu "Christentum" - problematisierungsbedürftig zu sein, weil sie polarisierende Gegenüberstellungen und damit ein subjektivierendes Freund-Feind Schema nahelegt.
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Handwerks zusammen mit der Arbeitsteilung die "intellektuelle Arbeit" als solche in Mißkredit gebracht. 116 Die These der Diskriminierung der intellektuellen Arbeit durch Heidegger wird durch dessen vorgebliche Ablehnung der Schrift, die Heidegger als wachsende Zerstörung des Wortes und des Sprechens verwerfe, zu untermauern versucht. Diese These von der allgemeinen Verwerfung der Schrift durch Heidegger stützt Derrida einzig auf Heideggers Hervorhebung des besonderen Ranges von Sokrates, als demjenigen unter den großen Denkern, dessen besonderer Rang darin liege, daß er nicht schrieb. Sokrates ist deswegen für Heidegger der "reinste Denker des Abendlandes".117 Abgesehen von dem hermeneutischen Problem, daß Derrida hier mit der Vorlesung "Was heißt Denken?" einen gegenüber der Parmenides-Vorlesung neun Jahre späteren Text unmittelbar heranzieht, der allerdings auch die "Hand" thematisiert, stellt sich das Problem: Zum einen impliziert die - durchaus eine Hinterfragung fordernde These Heideggers von der größten Reinheit des noch nicht in Schrift geronnenen Denkens bei Sokrates keinesfalls, daß die nachfolgenden, schreibenden Denker eine "wachsende Zerstörung des Wortes" betrieben hätten, weil sie mit Tinte und Feder geschrieben haben, wie Derrida unterstellt. 118 Die Erfindung der Schreibmaschine bedeute für Heidegger dann nur noch eine "Verschlimmerung des Übels" der Schrift. Aus dem Kontext des Hinweises auf Sokrates durch Heidegger geht jedoch hervor, daß Heidegger keinesfalls den Rang der nachfolgenden, schreibenden Denker in Frage stellen wollte, denn: "Es könnte also sein, daß einer der reinste Denker bliebe, ohne zu den größten zu gehören,'.! 19 Der eigentliche Sinn der Hervorhebung des Sokrates durch Heidegger ist nicht eine Diskriminierung der Schriftkultur und des Intellektuellen, der Literatur im weitesten Sinne. Der eigentliche Sinn dieser Hervorhebung ist vielmehr die Feststellung, daß Sokrates, als der nicht Schreibende unter den Denkern, einen Sturm des Denkens nicht nur aushielt, sondern in gewissem Sinne selbst entfachte, dem sich die nachfolgenden Denker nicht wieder in gleicher Weise von neuem aussetzen konnten, indem sie sich erst in den "Windschatten" dieses Denkens stellen mußten, um das darin erstmals Entworfene weiter zu entfalten. Zum anderen ist zu bemängeln, daß Derrida diese Stellungnahme Heideggers aus ihrem philosophischen Umfeld herauslöst, um sie im Grunde in eine vermeintlich bei ihm existierende, zivilisationsfeindliche, archaische 116 117 118 119
Ibd. Derrida, S. 77 mit Verweis auf Heidegger: Was heißt Denken? S. 52. Derrida, S. 77. Heidegger, Was heißt Denken? S. 56.
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Verhältnisse idealisierende Weltanschauung einzuordnen, für die die phänomenologische Analyse der "Hand" und der "Schreibmaschine" in der Parmenides-Vorlesung aber keinerlei Anhalt bietet. Wie in dem späteren Gelassenheits-Denken 120 weiter entfaltet wird, erörtert Heidegger schon in der Parmenides-Vorlesung die Möglichkeit eines verantwortungsbewußten Gebrauchs des technischen Gerätes. Dort, wo sich das Handhaben der Schreibmaschine nicht mehr besinnungslos dem Entreißen der Schrift aus dem Wesensbereich von Wort und Hand hingibt, sondern, indem es um diesen Entzug weiß, die Maschinenschrift in die "begrenzte Bedeutung" der bloßen Aufbewahrung von Wort und Schrift fügt, geschieht ein eingrenzender Gebrauch der Maschine. 121 Diesen ge-Iassenen, weil jederzeit loslassen-könnenden Gebrauch der Schreibmaschine, der das Eigenwesen des Wortes wahrt, will ich einen hegenden, weil eingrenzenden Gebrauch der Maschine nennen. 122 Im Ganzen scheint Derridas vermeintliche, enttarnende "Entlarvung" von Heideggers "Hand" als einem düsteren, am Horizont ragenden Ungeheuer, das den Weg zurück weist in altertümliche Urzustände (Derrida verweist auf den Zusammenhang der französischen Worte "monstre" und "montrer") nicht weiterzuführen. Allerdings birgt dessen Polemik gegen Heidegger auch durchaus eine positive Chance in sich: Mag sie doch den Interpreten der Analyse von Hand und Maschine dazu anhalten, eine Auslegung im Sinne einer Verklärung untergegangener Lebensformen grundsätzlich zu vermeiden, um das dort phänomenologisch Gesehene klar und sauber von sich selbst her sehen zu lassen und damit sachgerecht denkend mitzuvollziehen. Eine Auslegung Heideggers im Sinne eines rückwärtsgewandten Utopismus greift immer viel zu kurz, weil sie stets auf das ontisch Gegebene zurückgeworfen bleibt und die von Heidegger behandelten, ontologischen Sachverhalte nicht als solche in den Blick bekommen kann. Heideggers Ausführungen in der Parmenides-Vorlesung sind von der Frage nach dem Sein von Hand und Wort und damit von der Frage nach dem Sein des handelnden und sprechenden Wesens - des Menschen geleitet. Sie stehen schon innerhalb der Frage nach dem seins geschichtlichen Wesen der Modemen Technik und damit innerhalb der Frage, wie das Wesen des Menschen von der Technik in Anspruch genommen wird. Die "weltanschauliche" Auslegung von Heideggers Technikkritik im Sinne eines rückwärtsgewandten Utopismus oder Romantizismus unterläuft das 120 Martin Heidegger, Gelassenheit. Vortrag gehalten am 30. Oktober 1955 in Meßkirch zum 175. Geburtstag von Conradin Kreutzer. 10. Auf!. Pfullingen 1992. 121 Martin Heidegger, Parrnenides GA 54, S. 119. 122 Die ursprüngliche Bedeutung von "Hegen" ist: "mit einern Hag oder einer Hege umgeben, umzäunen". Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, DWB Bd. 10, Spalte 777 ff.
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2. Kap.: Menschenwürde und Leiblichkeit
philosophische Niveau der Fragestellungen und erweist sich als eine dem Nach- und Mitvollzug dieser Fragestellungen nicht gewachsene Publizistik. 123
123 Es ist von Interesse, daß innerhalb des Sichtkreises der "Dialektik der Aufklärung" die Schattenseite der instrumentellen Vernunft und damit der Vorrang des Technischen i. S. einer die Gesellschaft total erfassenden Substruktion am Beispiel des Nationalsozialismus in höchstem Maße evident wurde. Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Erstmals New York 1944. In: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3. 1. Auf!. 1981, S. 15 f.: "Daß der hygienische Fabrikraum und alles, was dazu gehört, Volkswagen und Sportpalast, die Metaphysik stumpfsinnig liquidiert, wäre noch gleichgültig, aber daß sie im gesellschaftlichen Ganzen selbst zur Metaphysik werden, zum ideologischen Vorhang, hinter dem sich das reale Unheil zusammenzieht, ist nicht gleichgültig. Davon gehen unsere Fragmente aus." Es ist ferner von Belang, daß ein bedeutender Essay, der sich, wie Heideggers Phänomenologie der Technik, der Auseinandersetzung mit Ernst Jüngers "Arbeiter" (1932) verdankt, im Laufe des Jahres 1939 zur Ausführung gelangte. Die Klarheit der Gedankenführung läßt z. T. zu wünschen übrig, keinesfalls kann in Friedrich Georg Jüngers "Perfektion der Technik" aber von einer ontischen Einengung des Technischen auf die technischen Apparaturen die Rede sein. Folgende Textselle belegt, wie Friedrich Georg Jünger die Totalerfahrung der Technik, wie sie dem Essay des Bruders zugrunde liegt, i. S. eines konservativen Humanismus interpretiert: "Die Technik ist - jede Beobachtung bestätigt es - ein durchaus intakter Bestand unserer Zeit. Sie hat eine neue, rationale Organisation der Arbeit geschaffen. Sie entfaltet diese Organisation mit Hilfe jenes mechanischen Automatismus, der ein Kennzeichen ihrer wachsenden Perfektion ist. Sie ist eine verändernde, eine umwandelnde, eine zerstörende Macht. Sie ist intakt, nicht weil sie die Elemente einer neuen Ordnung enthält, sondern weil sie das kräftigste Element ist, um den Abbau einer alten Ordnung zu betreiben, die Gefälle einzuebnen, eine grundlegende NivelIierung herbeizuführen." Vgl. ders., Die Perfektion der Technik, Frankfurt am Main, 7. Auf!. 1993, S. 171. Wir fragen: Wie steht die pervertierte Logik des "hygienischen Fabrikraums", wie steht die scheinbar zu einem Ende abrollende "Perfektion der Technik" zur Frage nach der Wahrheit des Seins?
Drittes Kapitel
Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde § 10 Ansätze zur Technikkritik im
fundamentalontologischen Denken von "Sein und Zeit" Menschenwürde und Leiblichkeit werden phänomenologisch nicht mehr, wie innerhalb der metaphysischen Ontologie der Person bei Kant, als Widerspiel gesetzt, sondern als einheitliches und ganzes Phänomen zum Aufweis gebracht. Die Würde des Menschen als seinsverstehendes Dasein ist eine leibhafte Würde; sie offenbart sich stets in der Weise des leibenden Offenstehens der Existenz. Das gilt für die einfachsten, scheinbar banalen Verhaltungen des alltäglichen In-der-Welt-seins ebenso, wie für die ausgezeichneten Verhaltungen des künstlerischen und dichterischen Schaffens, sowie des Denkens, das - innerhalb der Seinsverfassung des Menschen als Dasein erfahren - stets und immer ein leibendes Handeln ist. Der erst aus der Wesens bestimmung des Menschen als Existenz zu verstehende Handlungscharakter des Denkens wird besonders dort greifbar, wo Heidegger die Zusammengehörigkeit von Sein und Wort und Schrift phänomenologisch zum Aufweis bringt, wie oben erörtert wurde.! Die essentielle Verleiblichung des Denkens zeigt sich aber gleichursprünglich in der notwendigen Gestimmtheit eines jeglichen Denkens, das als ein solches, als gestimmtes und durchstimmtes Denken, ein verleiblichtes und nur als ein solches ein aufgeschlossen-erschließendes Denken ist. Ein jegliches Denken ist in sich als ein stets von einer Stimmung getragenes und innerhalb dieser aufgeschlossenes Denken zugleich ein leibendes Denken. Auch schon das an der Frage nach dem Sein des Seienden ausgerichtete Denken des ersten Anfangs der Philosophie ist in der Mannigfaltigkeit seiner Grundstellungen von der Leitstimmung des Staunens durchherrscht. Das Denken des ersten Anfangs, dasjenige der Metaphysik, ist in der Entfaltung des Reichtums seiner Grundstellungen als ein das Seiende in seinem Sein erschließendes, aufgeschlossenes Denken erst durch die Durchstimmtheit der als solcher wesenhaft leibenden Leitstimmung ermöglicht. 1 Zum Handlungscharakter des Denkens vgl. die einleitenden Sätze des "Humanismusbriefes" EA, S. 5. Zu der Zusammengehörigkeit von Sein, Wort und Schrift vgl. oben § 9, S. 103 ff. dieser Untersuchung.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
Auch dort wo, wie bei Descartes, der Bereich des Sinnlich-Leiblichen ausdrücklich in seinem Charakter als Evidenz- und Bewährungsquelle geleugnet wird und die Grundlage des Denkens einzig in dem sich selbst wissenden Selbstbewußtsein des ego cogito erschlossen wird, geschieht doch ein gestimmtes Denken. Dieses gestimmte Denken ist aber in seiner durchstimmten Aufgeschlossenheit für die ihm obliegenden Fragen ein leibendes Denken. Heidegger kennzeichnet die Stimmung des Cartesischen Denkens als zweifelnde "Zuversicht" in die "jederzeit erreichbare absolute Gewißheit der Erkenntnis.,,2 Gegenüber dem sich selbst aus einem Näheverhältnis zum Dichten erfahrenden Denken des späteren Heidegger hat die leibende Durchstimmtheit der sich an dem Methodenideal der mathematischen Naturwissenschaften ausrichtenden neuzeitlichen Metaphysik freilich einen privativen, weil die Leiblichkeit in ihrem Erschließungssinn nicht zulassenden Charakter. Heidegger hat zwar in den späten "Zollikoner Seminaren" bemerkt, daß innerhalb der "Begrenzung des Horizontes des Seins-Verständnisses" durch das Denken "kein Leiben" geschehe. 3 Wird jedoch das "Leiben" als notwendige Konstituante der "Stimmung" und die "Stimmung" als notwendige Konstituante eines jeglichen Denkens erfahren, so verbleibt kein leibfreier Raum für ein leibloses Denken. Es ist daher anzunehmen, daß Heidegger hier einen anderen, obgleich verwandten Begriff des "Leibens" aufgreift als in der Nietzsche-Vorlesung vom Winter 1936/37, in der das "Leiben einbehalten in die Gestimmtheit (und) die Gestimmtheit verwoben in das Leiben" am Beispiel des existenziellen Rauschzustandes zum Aufweis gebracht wurden. 4
In den "Zollikoner Seminaren" geht es aber Heidegger darum, zu zeigen, wie das "Leiben" stets als solches verwiesen bleibt auf ein leitendes Seinsverständnis. So kann das Weisen auf ein Fensterkreuz, Heideggers Beispiel für ein "Leiben", nur erfolgen, wenn es von einem Seinsverständnis des Seienden "Fensterkreuz" getragen wird. Diese Behandlung des Seinsverständnisses des alltäglichen Umgangsverhaltens folgt in dem überlieferten Text bruchlos auf eine Aussage über das Seinsverständnis der denkenden phänomenologischen Besinnung. Die offenbar nicht ausreichend überlieferte, aus einem Seminarprotokoll hervorgegangene Textstelle erweckt aber 2 Martin Heidegger. Was ist das - die Philosophie? Vortrag im August 1955 gehalten in Cerisy-la-Salle (Normandie). Pfullingen, 3. Auf!. 1963, S. 41 f. 3 Zollikoner Seminare, S. 244: "Das Leiben gehört als solches zum In-der-Weltsein. Aber das In-der-Welt-sein erschöpft sich nicht im Leiben. Zum Beispiel gehört zum In-der-Welt-sein auch das Seins-verständnis, das Verstehen dessen, daß ich in der Lichtung des Seins stehe, und das jeweilige Verständnis des Seins, dessen, wie Sein im Verständnis bestimmt ist. Diese Begrenzung ist der Horizont des Seins-Verständnisses. Hierbei geschieht kein Leiben." (Hervorhebung von Heidegger) 4 Martin Heidegger. Nietzsche Erster Band, S. 106. Vgl. zu dieser Stelle oben § 8 der Untersuchung.
§ 10 Ansätze zur Technikkritik
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den Eindruck, als ob es ein Seinsverständnis geben könnte, das ein Seiendes losgelöst von allem "Leiben" in seinem Sein verstehen könnte. So wird aber schon in "Sein und Zeit" hervorgehoben, daß das fundierende, vortheoretische Seinsverständnis, das Heidegger auch in den "Zollikoner Seminaren" vor Augen hat, wie das Beispiel des Weisens auf ein Fensterkreuz zeigt, gerade nicht aus einem von dem handelnden Umgang losgelösten, theoretischen "Begaffen" des Seienden hervorgeht. 5 Je "zugreifender" der Hammer gebraucht wird, also desto verwobener das Leiben in dem Arbeitsvorgang wirkt und handelt, desto "ursprünglicher wird das Verhältnis" zu dem Hammer. Das "Hämmern" entdeckt den Hammer. Das sagt aber nichts anderes als: Der nächstliegende leiblich-handelnde Gebrauch des Hammers erfährt das Sein dieses Seienden, des Hammerdings, je wesentlicher, desto handelnder er ist. Das Seinsverständnis des Seienden "Zeug", des Hammers, ist dort am vollkommensten, wo dieses Verständnis im leiblich-handelnden Umgang, damit verwurzelt in der Leiblichkeit, als Seinsverständnis vollkommen aufgeht. Der Unterscheidung zwischen Leiblichkeit und Seinsverständnis, wie sie Heidegger in den Zollikoner Seminaren vornahm, kann daher bloß eine didaktische Bedeutung zukommen. Es geht Heidegger darum, zu zeigen, wie auch die selbstverständlichste leibende Handlung des Seinsverständnisses bedarf. 6 Die wesenhafte Zugehörigkeit der Leiblichkeit zum Seinsverständnis, die in "Sein und Zeit" - wie soeben gezeigt - schon aufweisbar ist, wird um dieses didaktischen Motivs Willen - Heidegger sprach vor philosophisch großenteils ungeschulten Ärzten - in den Hintergrund gedrängt. Aber nicht bloß dort, wo im vortheoretischen Umgangsverhalten das Zeug in den handelnden Gebrauch genommen und darin in seinem Sein erschlossen wird, auch dort, wo eine theoretische Zugangsweise zu einem innerhalb dieser Zugangsweise als Gegenstand erschlossenen vorhandenen Ding vollzogen wird, geschieht dieser Zugang unter Einbehaltung des Lcibens, das aber im Unterschied zu dem vortheoretischen Umgangsverhalten innerhalb des wissenschaftlichen Untersuchens und Beobachtens in seinem existenziellen Rang weniger deutlich zu Tage tritt. So kann innerhalb des wissenschaftlichen und technischen Hantierens die Hand als bloßes "Werkzeug" erfahrbar werden. Derart instrumentalisiert, kann die Hand sogar als Sein und Zeit, S. 69. Der Hinweis von Daniela Neu auf die zitierte TextsteIle scheint mir dennoch im seinsgeschichtlichen Kontext sehr beachtenswert, vgl. dies.: Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion, S. 306. Demgegenüber trifft die bündige Fonnulierung von Ho/ger Helling die Unabläslichkeit der existenzialen Leiblichkeitsstruktur von allen menschlichen Verhaltungen: "Das Menschenwesen leibt." Vgl. ders.: Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen. Ein Beitrag zur Grundlagenforschung der Daseinsanalyse. Berlin 1999, S. 686 f. 5
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
recht grobes und daher unzulängliches Arbeitsmaterial erscheinen, etwa wenn man bei der Manipulation der DNA in der Gentechnik mit mikroskopisch kleinen Scheren arbeitet. Aber auch dort bleibt die Hand im Spiel in der Weise der Bedienung der Apparatur. Eine privative Schwund- und Vernichtungsgestalt der Leitstimmung des Staunens, das den ersten Anfang des abendländischen Denkens trägt, ist diejenige Langeweile, die in bestimmten Formen des positivistischen Wissensehaftsbetriebes zur Aufrechterhaltung der Materialaufbereitung und Verarbeitung notwendig konstitutiv wird für die reibungslose Verwertung der Ergebnisse dieser Forschungen. Derart durchstimmt, stehen die arbeitsmäßigen Verhaltungen in dem Bereiche eines nur noch betriebsamen, positivistischen Wissenschaftsbetriebes in einem unauflöslichen Näheverhältnis zum Schmerz, als welcher diese Langeweile - als "Auflösung des Schmerzes in der Zeit" - erscheinen kann? In dem bloßen Betreiben der nur noch funktionierenden Wissenschaft und Forschung spiegelt sich die Monotonie der Fließbandarbeit im industriellen Verfertigungsprozeß, die auch dort nicht überwunden wird, wo man keiner unmittelbar ansetzender menschlicher Tätigkeit mehr bedarf und alle Arbeitsgänge vollautomatisiert von einer Computerzentrale aus steuert. Der einheitlichen Charakteristik der Steuerung im modemen Arbeitsprozeß - handle es sich um den Produktionsprozeß der industriellen Verfertigung oder um den Forschungsbetrieb eines Wissenschaftszweiges - entspricht die Übertragbarkeit kybernetischer Modelle auf die unterschiedlichsten Sachgebiete. So läßt sich das Modell der "Negativen Rückkopplung" gleichermaßen auf der Sache nach so unterschiedliche Bereiche wie die Ge7 Vgl. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 157, 76. Abschnitt: "Sätze über die Wissenschaft", Ziffer 23: "Die, Wissenschaft' betreibt so die Sicherstellung des Zustandes einer völligen Bedürfnislosigkeit im Wissen und bleibt deshalb im Zeitalter der völligen Fraglosigkeit stets das ,Modernste'. Alle Zwecke und Nutzen stehen fest, alle Mittel sind zur Hand, jede Nutznießung ist ausführbar, es gilt nur noch, Gradunterschiede der Verfeinerung zu überwinden und den Ergebnissen die größtmögliche Breite der leichtesten Nutzung zu verschaffen. Das verborgene Ziel, dem all dieses und anderes zueilt, ohne das Geringste davon zu ahnen und ahnen zu können, ist der Zustand der völligen Langeweile im Umkreis der eigensten Errungenschaften, die eines Tages nicht mehr den Charakter der Langweiligkeit verbergen können, falls dann noch ein Rest von Wissenskraft geblieben ist, um mindestens in diesem Zustand zu erschrecken und ihn selbst und die darin gähnende Seinsverlassenheit des Seienden zu enthüllen." (Hervorhebungen von mir) Heidegger weist an dieser Stelle auf das Thema der "Langeweile" in der Freiburger Vorlesung vom Winter 1929/30 hin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit. Gesamtausgabe Bd. 29130. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt am Main, 2. Auf!. 1992. Das Zitat ist dem Essay von Ernst Jünger "Über den Schmerz" entnommen, der uns im folgenden § 11 beschäftigen wird. Vgl. ders. Sämtliche Werke Bd. 7, Essays 1. - Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 141-191, S. 156.
§ 10 Ansätze zur Technikkritik
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genstände der Biologie und der Volkswirtschaftslehre, aber auch auf rein technische Installationen wie Heizungsrelais anwenden. Nicht zufällig galt daher der Kybernetik ein Hauptaugenmerk des späten Heidegger, der in dieser Disziplin die mögliche Generalwissenschaft des künftigen, praktisch-technisch organisierten Wissenschaftsbetriebes sah, die in dieser Eigenschaft als die Einzelfächer durchherrschende und strukturierende Führungswissenschaft die stets immer weiter entmachtete Philosophie ablösen könnte. 8 Da mittlerweile der Begriff, nicht die Arbeits- und Denkweise der Kybernetik in den Hintergrund gedrängt worden ist, stellt sich die Frage, inwiefern sich eine Führungswissenschaft unter anderem Namen realisieren könnte. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an das Bestreben, menschliche und künstliche "Intelligenz" miteinander soweit zu identifizieren, daß die zuerst genannte "natürliche" menschliche Intelligenz in ihrer Begrenztheit und Fehlbarkeit durch die sich der Idee nach immer weiter perfektiorende künstliche Intelligenz in einem evolution ären Prozeß nach und nach ersetzt werden soll. Für den Intelligenzbegriff der Kognitionswissenschaft ist kennzeichnend, daß er nicht nur menschliche und künstliche "Intelligenz", sondern auch animalische "Intelligenz" unter sich begreift und als solche miteinander identifiziert hinsichtlich ihres gleichförmigen Leistungssinnes. Der Leistungssinn des jeweiligen Systems besteht in seiner einheitlichen Kontrolle in bezug auf seine Erhaltung und Effizienzsteigerung. Der Leistungssinn der technischen Auslegung der "Intelligenz" liegt letztlich in der Tendenz auf Machterhaltung und Machtsteigerung begründet, die innerhalb der technischen Auslegung der "Intelligenz" leistungsmäßig erbringbar ist. So bietet das von Heidegger erwähnte Flugabwehrgeschütz, das sich selbst auf die von ihm "beobachtete" und vermittels der Einarbeitung in ein Regelsystem vorausberechnete Flugbahn des Feindflugzeugs richtet, ein Modell für das kybernetische Verständnis von "Intelligenz" schlechthin. Dieses Modell zeigt die Reduktion der "Intelligenz" auf einen bloßen Regulierungsautomatismus. 9 Diese Reduktion geschieht unter dem Gesichtspunkt der Effizienz- und Machtsteigerung: Je genauer die Flugbahn des Feindflugzeugs im voraus berechnet werden kann, d.h. desto verläßlicher die im Regelsystem eingearbeiteten Daten erfaßt und umgesetzt werden können, desto höher ist die Trefferquote des Geschützes, desto größer ist der militärische Einsatzwert und damit die Chance auf Erlangung oder Absicherung auch ökonomischer und politischer Macht durch den Vertrieb oder Einsatz derartiger Waffen. Das Kriterium der Beherrschung auto8 Martin Heidegger, Zur Frage nach der Bestimmung des Denkens. Erweiterte Fassung des Vortrages zu Ehren von Ludwig Binswanger in Amriswil vom 30. Oktober 1965. Hrsg. v. Hermann Heidegger. St. Gallen 1984, S. 9. 9 Zollikoner Seminare, S. 118 f.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
matischer Steuerungstechniken kann in einem modernen Konflikt derart wirken, daß der in dieser Technik Unterlegene vollkommen ausgelöscht wird, wie das Beispiel der Operation "Dessert Storm" gegen die zahlenmäßig starke Armee des Irak gezeigt hat. Dem Mechanismus der Berechenbarkeit und Steuerung unterliegt auch die Wirtschaft in ihrem internationalen Konkurrenzkampf, der zu immer billigeren Produktions methoden und damit zur Verlagerung der Produktion in die "Niedriglohnländer" zwingt. Schließlich gewinnen Berechenbarkeit und Steuerung im Versicherungswesen immer mehr Zugriffsmöglichkeiten, insoweit mit der unlängst zelebrierten Entschlüsselung des "Genetischen Codes" der "gläserne Mensch" nicht mehr fern ist und Kosten und Risiken des jeweiligen Versicherungsnehmers im voraus genau berechenbar werden könnten. Gegenüber dem bloßen Sachverhalt der Technisierung ist seitens der Phänomenologie Zurückhaltung geboten. Allzuleicht gleitet eine bloß vordergründige Kritik in den Bereich der Kritik ontischer Zustände und Vorgänge und damit in die vergegenständlichende Hinblicknahme der Weltanschauung ab. "Tatsachen", wie die soeben genannten, müssen stets in die Blickbahn einer Besinnung über die ontologischen Grundlagen jener Taten und Sachen gehoben werden. Die einflußreichste ontologische Grundlegung der Auslegung des menschlichen Geistes als rechnend-steuernde Intelligenz liegt in der aller spezifisch technischen Auslegung des menschlichen Intelligenzvermögens voraufgehenden metaphysischen Setzung des Wesens des Menschen als "Vernünftiges Lebewesen" begründet; eine Auslegung, die in der Weise der Grundlegung eines ganzen Zeitalters - der Neuzeit - eine sehr weittragende Modifikation erfährt im Sinne des das Seiende im Ganzen vergegenständlichenden, vorstellenden "ego cogito" der neuzeitlichen Subjektivität. lO Diese vergegenständlichende Hinblicknahme der Cartesischen Auslegung des Menschen als "res cogitans" ist von einer dieser Auslegung entsprechenden Auslegung des Wesens der Wahrheit als mathematisch beweisfähiger Gewißheit, "certitudo" geleitet. Diese Geleitetheit alles vergegenständlichenden Vorstellens von dem Ideal mathematischer Gewißheit erfährt zunächst in der Physik, dem Archetyp der modernen Wissenschaft überhaupt, ihre konkrete Ausgestaltung. Ihre "Absicht", d. h. ihr Ab-sehen liegt darin, die Natur "der Mathematik in die Hände zu arbeiten", wie Lichtenberg sehr treffend und nicht nur für Newtons klassische Mechanik, sondern auch noch für die moderne Atomphysik formuliert hat. ll Denn solange, mit eiVgl. § 4 dieser Untersuchung. Vgl. Wolfgang Schmidle, Die Theorie der krummen Linien. Lichtenberg und die Mathematik. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1999. Hrsg. i. Auftrag der Lichtenbergge10 11
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nem Wort Max Plancks gesagt, "wirklich" nur ist, was sich "messen" läßt, bleibt der neuzeitliche Naturentwurf im Sinne der Cartesischen Auslegung des Wesens der Wahrheit als mathematisch beweiskräftiger Gewißheit in Geltung. So sagt Heidegger in "Sein und Zeit" über die "mathematische Physik": "Das Entscheidende für ihre Auslegung liegt weder in der höheren Schätzung der Beobachtung der ,Tatsachen', noch in der ,Anwendung' von Mathematik in der Bestimmung der Naturvorgänge - sondern im mathematischen Entwurf der Natur selbst... 12
Wie Heidegger in der im Anschluß an die Veröffentlichung des Grundwerkes gehaltenen Marburger Kant -Vorlesung näher ausführt, ist - entgegen der landläufigen Meinung - durchaus nicht die Tatsachenbeobachtung das entscheidend Neue der modemen Physik, denn sowohl antike als auch mittelalterliche "Naturwissenschaft" beobachteten Tatsachen. 13 Ein hervorragendes Beispiel für eine auf Beobachtung gegründete vorneuzeitliche Naturwissenschaft bietet das Werk: "Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen" von dem Stauferkaiser Friedrich 11. Dieses Werk ist deswegen von hohem Interesse, weil der Verfasser eine vortheoretische, eine lebensweltliche Verhaltung, die Beize mit dem Jagdfalken als einer hochkultivierten Gestalt der Jagd, zum Ausgangspunkt nimmt für eine stets von dieser Verhaltung getragene und gerechtfertigte Naturbeobachtung. 14 Die Hinblicknahme auf die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Vogelarten ist daher geleitet von deren vorgängiger Auslegung entweder als Beizvogel oder als Jagdbeute. Das erklärt, warum die "Singvögel" kaum Beachtung finden. In der Praxis verwurzelt, ist das Werk des Stauferkaisers dennoch ein theoretisches: Es beobachtet, die Natur begegnet, mit einem Wort Heideggers gesagt, in der "Vorhandenheit", die zu unterscheiden ist von der Begegnungsweise der Natur innerhalb des tätigen Lebensvollzuges, z. B. bei einem Jagdausflug. Erst dort kann das im tätigen Umgangsverhalten begegnende Naturding in seiner Zuhandenheit offenbar werden. Wir empfangen von dem Jagdbuch des Stauferkaisers einen Wink, Heideggers Begriff der "Vorhandenheit" nicht grundsätzlich und überstürzt mit der Vergegenständlichung des neuzeitlichen Subjekts zu identifizieren, auch wenn Heidegger sellschaft, S. 49-80, S. 58. Die von Schmidle zitierte Notiz Lichtenbergs ist mit dem Sigel "J 1899" gekennzeichnet: "Der Mathematik in die Hände zu arbeiten ist die Absicht des Physikers". 12 Sein und Zeit, S. 362 (§ 69b), Hervorhebungen von Heidegger. 13 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Marburger Vorlesung vom Winter 1927/28. Hrsg. v. Ingtraut Görland. Gesamtausgabe Bd. 25. Frankfurt am Main, 3. Auf!. 1995, S. 30. 14 Fredericus 1/., De arte venandi cum avibus. Bibliotheca Apostolica Vaticana, Graz 1969. 9 Platte
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bei dem Gebrauch dieses Begriffes zumeist diesen Sachverhalt vor Augen hat. 15 Jedoch scheint die experimentelle Vorgehensweise der neuzeitlichen Wissenschaft ganz wesentlich diese in ihrer von vorangehenden Wissenschaftskonzepten unterschiedenen Verfassung zu konstituieren. Dem hält Heidegger entgegen, daß schon in Antike und Mittelalter experimentiert wurde, wie überhaupt in den Arbeitsweisen des Handwerks. 16 Ebensowenig wie in der Tatsachenforschung kann daher das Wesentliche, Neue, Revolutionäre der neuzeitlichen Naturwissenschaft im Experiment zu suchen sein; wenn auch die modeme Naturwissenschaft durch Tatsachenbeobachtung und Experiment mitbestimmt ist. Aber recht besehen liegt auch nicht in der von Heidegger in Anführungszeichen gesetzten "Anwendung" der Mathematik das umwälzende Wesen der neuzeitlichen Naturwissenschaft begründet. 17 "Angewandt" hat man Mathematik als "Zahl und Maß" in der Naturerkenntnis schon in der Antike. 18 Heidegger setzt "Anwendung" in Anführungszeichen, um damit in Frage zu stellen, ob die neuzeitliche Inanspruchnahme der Mathematik überhaupt mit dem instrumentellen Verwenden und Anwenden sachgemäß benannt werden kann. Die Vorstellung einer Instrumentalisierung der Mathematik könnte den Sachverhalt insofern eher verdunkeln als erhellen, als damit der wesenhaften Bestimmtheit der neuzeitlichen Naturwissenschaft durch die Mathematik nicht gemäß Rechnung getragen werden würde. Diese wesenhafte Bestimmtheit ist gerade der "mathematische Entwurf der Natur selbst". Dieser "Entwurf', als das theoretische Apriori des Seinsverständnisses des Seienden im Ganzen als "Natur", entwirft "Natur" dergestalt, daß die "Natur" als die Totalität des Seienden in seiner Ganzheit der "rechnenden Erkenntnis" zugänglich gemacht wird. 19 Es handelt sich bei dem mathematischen Naturentwurf, der allen experimentellen Tatsachenforschungen voraufgeht, nicht um eine Indienststellung der Mathematik für die Naturerkenntnis, sondern gerade umgekehrt, um eine Unterwerfung der Natur unter die Mathematik, welche Aufgabe der Physik obliegt, indem sie die Natur - das Ganze des Seienden unter Einschluß des Menschen - der Mathematik in die Hände arbeitet. Die Wendung Lichtenbergs ist auch deswegen so treffend, weil sie den Arbeitscharakter des Vorganges hervorhebt, und damit zum Ausdruck bringt, daß erst durch dieses "In-die-Hände-Arbeiten" die Natur zu dem berechenbaren 15 16 17
18 19
Sein und Zeit, S. 88.
Heidegger, Kant GA 25, S. 30.
Sein und Zeit, S. 362. Heidegger, Kant GA 25, S. 30. Heidegger, Kant GA 25, S. 30 f.
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Teilchen- und Kräftefeld wird, das als Forschungsbereich der Physik jener ganz selbstverständlich "gegeben" ist. 20 Dies setzt den Begriff einer noch nicht mathematisierten Natur stillschweigend voraus, die als der Gegenstandsbereich - man könnte in gewissem Sinne auch sagen: als das Opfer - der Physik der Mathematik in die Hände gearbeitet wird. Dieser Arbeitscharakter des Einbruchs der Wissenschaften in das Ganze des Seienden wird bei Heidegger innerhalb der seinsgeschichtlichen Blickbahn unter dem Begriff der Machenschaft und der machenschaftlichen Aufmachung des Seienden abgehandelt. Wir werden noch darauf eingehen. Der mathematische Entwurf der Natur konstituiert ein Seinsverständnis, ein theoretisches Apriori des Ganzen des Seienden. In dieser Aufrichtung eines das Seiende im Ganzen lichtenden Seinsverständnisses liegt der hohe metaphysische Rang der neuzeitlichen Naturwissenschaften und damit ihre eingestandene oder verschwiegene Vorbildlichkeit für alle anderen Wissensgebiete begründet. So sagt Heidegger in "Sein und Zeit" (Hervorhebungen von Heidegger): "Am mathematischen Entwurf der Natur ist primär nicht das Mathematische als solches entscheidend, sondern daß er ein Apriori erschließt. Und so besteht denn auch das Vorbildliche der mathematischen Naturwissenschaft nicht in ihrer spezifischen Exaktheit und Verbindlichkeit für ,Jedermann', sondern darin, daß in ihr das thematische Seiende so entdeckt ist, wie Seiendes einzig entdeckt werden kann: im vorgängigen Entwurf seiner Seinsverfassung."ZI
Obgleich das Seinsverständnis des Seienden auf der Grundlage der mathematisierten Natur in sich gültig ist und das Seiende in seiner naturwissenschaftlich-mathematisch bestimmten Unverborgenheit entdeckt, besteht doch die ganz wesentliche Aufgabe darin, diesen die Neuzeit bestimmenden Entwurf des Ganzen des Seienden zu begrenzen. Wird diese Aufgabe geleugnet, wie innerhalb der naiven Absolutsetzung des mathematischen Naturentwurfs durch die Naturwissenschaft selbst oder durch eine "wissenschaftliche" Weltanschauung, so ist der von Husserl begrifflich geprägte geistesgeschichtliche Tatbestand des "Naturalismus" die weittragende Konsequenz. 22
20 Diese scheinbar selbstverständliche Gegebenheit der mathematisierten Natur für die Naturwissenschaft macht die spezifische "Naivität" dieser aus, wie Husserl diagnostiziert hat: "Alle Naturwissenschaft ist ihren Ausgangspunkten nach naiv. Die Natur, die sie erforschen will, ist für sie einfach da." Vgl. ders.: Philosophie als strenge Wissenschaft (erstmals abgedruckt in "Logos I", 1911). Hrsg. v. Wilhelm Szilasi. Frankfurt am Main 1965, S. 18. 21 Sein und Zeit, S. 362. 22 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 13 ff. 9*
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Eine Extremgestalt des Naturalismus war - wie Husserl noch selbst erfahren und bestätigen mußte - im politischen Bereich die Unterwerfung der Geschichtsbetrachtung unter rassebiologische Kategorien. Aber auch die sich die Entdeckung des "natürlichen Menschen" zumutende Anthropologie von Karl Marx erliegt einer naturalistischen Entstellung der Wesensverfassung des Menschen (Hervorhebungen von Marx): " ... die Naturwissenschaft (muß, Erg. v. mir) ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaft werden, wie sie jetzt schon - obgleich in entfremdeter Gestalt - zur Basis des wirklichen menschlichen Lebens geworden ist; eine andre Basis für das Leben, eine andre für die Wissenschaft, ist von vornherein eine Lüge.,,23
Während die grobschlächtige Substruktion eines der Biologie entliehenen Rassebegriffs unter die Geschichte heute kaum noch einen Vertreter finden mag, entspricht doch der Naturalismus in dem Sinne, in der Naturwissenschaft die selbstverständliche und einzige "Basis" für das Leben zu substruieren, faktisch der herrschenden Vorstellung vom Wesen des Menschen: Man denke an den Geltungsanspruch der Gehimforschung und Neuropsychologie, die den Menschen im Vorauf als mathematisch bestimm- und berechenbaren Mechanismus festsetzen. Einer mechanistischen Verdinglichung unterliegt auch das menschliche Selbstbewußtsein, als der metaphysischen Vollzugs grundlage dieser wissenschaflichen Disziplinen, selbst, indem es auf den Gehimmechanismus als einem verrechenbaren Objektzusammenhang reduktiv zurückgeführt wird. Die im weitesten Sinne des Wortes mechanistische Auslegung des Menschen, die Rückführung aller "Intelligenz" auf die Schaltzentrale des Gehirns, weist auf einen von Heidegger in dem späten Technik-Vortrag problematisierten Sachverhalt hin: Die wesenhafte Koinzidenz von neuzeitlicher Naturwissenschaft und moderner Technik. Von der dort vollzogenen seinsgeschichtlichen Erfahrung dieser Koinzidenz sehen wir vorerst noch ab?4 23 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Karl Marx, Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA) Bd. I.2. Karl Marx Werke März 1843-August 1844. Erste Wiedergabe, Heft I, S. 271 f. 24 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre. Pfullingen. 7. Auf!. 1988, S. 21 ff. Der Vortrag wurde am 18. November 1953 innerhalb der Vortragsreihe "Die Künste im technischen Zeitalter", veranstaltet von der "Bayerischen Akademie der schönen Künste", im Auditorium Maximum der Technischen Hochschule in München gehalten unter dem Titel: "Die Frage nach der Technik". Der Hinweis in der Vorbemerkung der erwähnten Einzelausgabe, der Vortrag sei am 18. November 1955 in München gehalten worden, ist daher falsch. Der Vortrag wurde zusammen mit den anderen Beiträgen der Vortragsreihe (u. a. von Heisenberg, F. G. Jünger und Guardini) im Jahrbuch "Gestalt und Gedanke" unter dem Titel "Die Künste im technischen Zeitalter", München (Oldenburg), 1954 erstmals veröffentlicht. Im sei ben Jahr erschien der Vortrag zusammen mit anderen, z. T. auch thematisch verwandten Texten Heideggers in den "Vorträgen und Aufsätzen" bei Neske.
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Zweifellos kann innerhalb der das Sein im Ausgang von einer transzendental-horizontalen Blickbahn erfragenden Besinnung von "Sein und Zeit", die die horizontale Zeit der ekstatischen Zeitlichkeit schließlich als den Horizont des Seins erfährt, noch nicht von einer Technikkritik im engeren Sinne die Rede sein. Eine solche verlangt, will sie das Wesen der Technik geschichtlich, d.h. aus der Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seins erfahren und beurteilen, nach einer Verwandlung der transzendental-horizontalen in die seins geschichtliche Blickbahn. Die "Kehre" seines Denkweges, die den "Standpunkt von ,Sein und Zeit'" nicht aufgibt, sondern in die erweiterte Denkerfahrung des Ereignisdenkens zurückbirgt, vollzieht Heidegger etwa von 1930 an. In diesem Jahr hat Heidegger den Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit" gedacht und erstmals mitgeteilt. Dort wurde erstmals ein "Einblick" in das sich kehrende Denken gewährt, wie aus einer Bemerkung des Humanismusbriefes hervorgeht. 25 Dennoch stoßen wir in den Analysen des Grundwerkes immer wieder auf die Bemühung des Denkers, die schon die Phänomenologie Husserls bestimmende Auseinandersetzung mit dem Herrschaftsanspruch der neuzeitlichen, vergegenständlichenden Naturwissenschaften auf gewandelter philosophischer Grundlage weiterzuführen. So steht schon die "Vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins", der Erste Abschnitt des einzig zu Veröffentlichung gelangten Ersten Teils von "Sein und Zeit", unter dem Anspruch, gegenüber dem Vorstellen der Naturwissenschaften und den an ihrer Methodik ausgerichteten Sozialwissenschaften eine dieses Vorstellen erst fundierende Phänomenologie des Wesens des Menschen als seinsverstehendes Dasein zum Aufweis zu bringen. Gegenüber Husserl findet dort insofern eine Radikalisierung der philosophischen Auseinandersetzung statt, als diese Auseinandersetzung selbst zum Anlaß einer die - bei Husserl in Geltung bleibende und tragende - Metaphysik der Subjektivität überwindenden, gewandelten Auslegung des Wesens des Menschen als Dasein und Seinsverständnis wird?6 Grundlegende Einzelanalysen der "vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins", die Analyse der existenziellen Welt, des darin im umsichtig besorgenden Umgang in seiner Bewandtnisbestimmtheit entdeckten und damit ursprünglich in seinem Sein verstandenen und erschlossenen "zuhandenen Zeugs", stehen als phänomenologische Analysen nicht nur in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition, sondern gleichermaßen mit dem aus der Tradition erst verständlichen absoluten Geltungsanspruch 25 Brief über den Humanismus, S. 19. Der Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit" ist abgedruckt in: Wegmarken, S. 177-222. 26 Zu diesem Thema, das im Rahmen unserer Untersuchung leider nicht vertieft werden kann, vg!. die grundlegende Abhandlung von F.-W. v. Herrmann, Hermeneutik und Reflexion: der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husser!. Frankfurt am Main 2000.
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der Naturwissenschaften. Gleiches gilt für die existenzialontologische Auslegung des Raumes und der Zeit, die die parametrische Auslegung von Raum und Zeit - wie sie nicht nur der neuzeitlichen Physik, sondern auch der an dieser ausgerichteten Metaphysik Kants als "Fonnen der Anschauung" zugrunde liegt - zu fundieren beansprucht. Die Naturwissenschaften sollen innerhalb der Fundamentalontologie von "Sein und Zeit" nicht bekämpft, d. h. in den Grenzen des ihnen eigentümlichen Arbeitsbereichs in Frage gestellt oder gar verneint werden. Aber sie sollen - zugleich mit den an ihrem Methodenideal ausgerichteten Sozialwissenschaften - in ihrer Fundierungsbedürftigkeit zum Aufweis gebracht werden. Fundierungsbedürftig bleibt die neuzeitliche Naturwissenschaft stets, weil sie in ihrer Arbeit auf einer ideal typisierenden Abstraktion von der Alltagswelt beruht. Sie bedarf eines idealtypisierenden und somit abstrahierenden, also wegreißenden Absehens von der ihren Verhaltungen stets unthematisch vorausgesetzten Alltagswelt, sei diese nun im Sinne Husserls als bewußtseinsphilosophisch ausgelegte "natürliche Geradehineinstellung der Lebenswelt" oder im Sinne von Heidegger als existenzielle, d.h. in einem Seinsverständnis gelichtete Welt erfahren. Die Naturwissenschaft bedarf der "Entweltlichung,,27 der natürlichen, der Daseinswelt zu ihrem Vollzug, dessen, was Lichtenberg das der Mathematik In-die-Hände-Arbeiten genannt hat. Das gilt auch für die Biologie, die in einem ihrer scheinbar noch der natürlichen Welt verhafteten Zweige, demjenigen der Verhaltensforschung (Ethologie), heute einer radikalen Mathematisierung ihrer Arbeitsmethoden zustrebt. Letztlich "wahr" im Sinne der Naturwissenschaft sind nur diejenigen - animalischen oder menschlichen Verhaltensweisen, die einem Meßverfahren zugänglich sind. Die Physik bestätigt die These von ihrem höchsten Rang innerhalb der Naturwissenschaft darin, daß ihr Methodenideal der Mathematisierbarkeit der jeweiligen Region des Seienden den Maßstab abgibt für die Wissenschaftlichkeit und die Förderungswürdigkeit eines Forschungszweiges. 27 Sein und Zeit, S. 65: "Das Seiende als Natur in diesem Sinne kann das Dasein nur in einem bestimmten Modus seines In-der-Welt-seins entdecken. Dieses Erkennen hat den Charakter einer bestimmten Entweltlichung der Welt." Wie bestimmend diese originär phänomenologische Problematik das Denken Heideggers von den ersten Anfängen an durchdringt und prägt, belegt schon die Kriegsnotsemestervorlesung, die Heidegger 1919 vor Kriegsheimkehrern in Freiburg hielt: "Nach der Realität des Umweltlichen zu fragen, dem gegenüber alle Realität bereits eine mehrfach umgeformte und ent-deutete Ableitung darstellt, heißt alle echte Problematik auf den Kopf stellen. Das Umweltliche hat seine genuine Sichselbstausweisung in sich selbst." Vgl. ders: Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 56/57. Hrsg. v. Bemd Heimbüchel. Frankfurt am Main, 2. Aufl 1999. Darin: "Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem", S. 91.
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Indem die Naturwissenschaft der Entweltlichung bedarf, bleibt sie jedoch zugleich auf die von ihr entweltlichte Lebenswelt angewiesen, als dem "Material", das sie ihrer Arbeit stets unthematisch zu Grunde legt - schließlich auch als diejenige Dimension, aus der her ihre Forschungen eine Rechtfertigung empfangen mögen. Die phänomenologische Aufweisung des Primats der Lebenswelt gegenüber den wissenschaftlichen "Einbrüchen" in das Ganze des Seienden,28 steht schon in "Sein und Zeit" in einer unausdrücklichen Abwehr dessen, was Husserl den substruktiven "Naturalismus" genannt hat. Erst dieser phänomenologische Aufweis einer vortheoretischen, einer existenziellen Welt, mithin der Aufweis der Wesensverfassung des Menschen als das für ein Bewandtnisganzes aufgeschlossene In-der-Welt-sein, schafft den Grund und Boden für die Möglichkeit, das darin fundierte theoretische Apriori des mathematischen Naturentwurfs zum Aufweis zu bringen. Das erklärt die Genauigkeit der Analysen von "Sein und Zeit", so des "Zeugs" in seiner "Zuhandenheit" und "Bewandtnisbestimmtheit", aus welcher Verwiesenheit das Weltphänomen Schritt für Schritt zum Aufweis gebracht wird: 29 Je genauer und klarer das existenzielle Weltphänomen in seiner Räumlichkeits- und Zeitlichkeitsstruktur offenbar gemacht wird, desto fragwürdiger erscheint der Anspruch des Naturalismus, ein bei aller Wissensmodifikation prinzipiell absolutes Wissen zu verwalten, desto schärfer stellt sich die Forderung nach einer Fundierung und geltungsmäßigen Eingrenzung des Wissenschafts wissens, als einer möglichen aber der bei weitem nicht einzigen Gestalt menschlichen Wissens. Der Absolutheitsanspruch der Naturwissenschaft, den Husserl den "naiven Naturalismus" genannt hat, ist allerdings nicht bloß eine reine Ahnungslosigkeit der Wissenschaften über ihre lebensweltliche Grundlage. Er hat als Anspruch, über ein die Natur in ihrem vollen An-sieh-Sein erfahrendes Wissen zu verfügen, seine ihm verhüllten ontologischen Wurzeln in der absoluten Selbstgewißheit des neuzeitlichen Subjekts, dem fundamenturn 28 Vgl. hierzu die Formulierung Heideggers in der Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 "Was ist Metaphysik?" Frankfurt am Main, 14. Aufl. 1992, S. 26: "Der Mensch - ein Seiendes unter anderem - ,treibt Wissenschaft'. In diesem ,Treiben' geschieht nichts Geringeres als der Einbruch eines Seienden, genannt Mensch, in das Ganze des Seienden, so zwar, daß in und durch diesen Einbruch das Seiende in dem, was und wie es ist, aufbricht." (Hervorhebungen von mir) Heidegger selbst hat "Einbruch" hervorgehoben in dem Erstdruck des Textes von 1929, Bonn (Verlag von Friedrich Cohen), S. 9. 29 Vgl. Sein und Zeit, S. 68: "Ein Zeug ,ist' strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist." (Hervorhebung von Heidegger). Dieses "Zeugganze", z. B. eine Werkstatt, ist allerdings noch nicht das WeItphänomen, für das das Dasein als In-der-Welt-sein aufgeschlossen existiert.
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absolutum inconcussum aller wissenschaftlichen, i. S. der im Bereich der Auslegung der Wahrheit als mathematisch beweisbarer Gewißheit möglichen Erkenntnis. Dieser Kontext kann allerdings in seiner vollen Tragweite erst im seinsgeschichtlichen Denken erfahrbar werden: Das in sich gültige Seinsverständnis des Seienden, wie es sowohl in der neuzeitlichen Metaphysik, als auch in der modemen Naturwissenschaft zum Austrag kommt, erscheint dort erst in seiner geschickhaften Dimension: Zeigt sich doch jetzt erst der Absolutheitsanspruch der Naturwissenschaften innerhalb der geschichtlichen Wesung des Seins als das "Gestell". Dementsprechend bleibt auch für eine seinsgeschichtliche Verwindung des Machtwesens der Modernen Technik die Fundierungsproblematik und damit die "vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins" in "Sein und Zeit" notwendig konstitutiv. Neben dem Aufweis der existenziellen Welt - und mithin des darin fundierten und in dieser Fundiertheit erst offenbaren theoretischen Apriori der modemen Natur- und Sozialwissenschaften - steht ein weiteres Existenzial im Zeichen der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Subjektivität und damit schon im Vorfeld der späteren Phänomenologie der Technik: Hierbei handelt es sich um diejenige Weise des daseins mäßigen Existierens, in der sich der Mensch nicht zu eigen ist und von "den Anderen" gelebt wird. Heidegger hat den Begriff des "Man" schon seit den frühen 20-er Jahren in sein Denken eingeführt: "Das ,man' ist es, das faktisch das einzelne Leben lebt (... ),,30 So spricht Heidegger erstmals diese für das Verständnis des philosophischen Grundmotivs von "Sein und Zeit", dem Aufweis eines möglichen existenziellen Ganzseinkönnens des Daseins als eigentliches Sein zum Tode, so zentrale existenziale Struktur an. Heidegger nennt diese Struktur, von welcher bestimmt sich das Dasein zunächst und zumeist gerade nicht zu eigen ist, in "Sein und Zeit" das ",Subjekt' der Alltäglichkeit".3! Das deutet schon an, daß es ihm um mehr und ganz anderes geht 30 Vgl. Phänomenologische Interpretationen zu Aristote1es. Anzeige der hermeneutischen Situation (1922). Hrsg. v. H.-U. Lessing. Dieser als "Natorp-Bericht" bekannte Text ist abgedruckt in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989), S. 237-269, S. 243. Zum "Man" vgl. ferner: Mark Michalski, Fremdwahrnehmung und Mitsein. Zur Grundlegung der Sozialphilosophie im Denken Max Schelers und Martin Heideggers. Universitätsdissertation (Freiburg i.B.), Bonn 1997, S. 172 ff. Gegenüber dieser überaus detaillierten Untersuchung muß jedoch die Frage gestellt werden, ob und wenn, dann inwiefern, innerhalb des Umfeldes von Heideggers Auslegung der Wesensverfassung des Menschen als seinsverstehendes Dasein der Titel und die Behandlungsart der "Sozialphilosophie" (wie auch der "Sozialethik"!) noch angängig ist. 31 Sein und Zeit, S. 114, S. 128. Heidegger setzt "Subjekt" und "realstes Subjekt" in Anführungszeichen; wohl um damit anzuzeigen, daß der Subjektsbegriff innerhalb seines Denkens keine selbstverständliche, tragende Kategorie bildet, sondern als solcher grundsätzlich in Frage steht. Vgl. hierzu: Sein und Zeit §§ 13, 25, 43a,64.
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als um eine soziologische Kategorie, wie sie Emile Durkheim mit dem "Kollektivbewußtsein" einführte?2 Im Unterschied zu soziologischen Kategorien hat das "Man" keinen anthropologisch-konstanten, sondern einen phänomenologisch-aufweisenden Charakter, der allerdings in "Sein und Zeit" noch nicht in seiner vollen Geschichtlichkeitsstruktur, also aus der Geschichte der Wahrheit des Seins erfahrbar ist. Dennoch weist Heidegger schon auf das "geschichtliche" Wechseln von "Eindringlichkeit" und "Ausdrücklichkeit" der "Herrschaft" des "Man" hin?3 Eine spätere Bemerkung in dem Humanismusbrief macht deutlich, daß Heidegger bei dem "Man" schon an mehr dachte, als er innerhalb der Terminologie des fundamentalontologischen Denkens sagen konnte. Dort, nach dem Vollzug der Kehre des fundamentalontologischen Denkens in das seinsgeschichtliche Denken, nennt Heidegger die Struktur des "Man" in "Sein und Zeit" das "Subjekt der Ö./fentlichkeit".34 Erst nach dem Vollzug der Einkehr in die seinsgeschichtliche Blickbahn, die in den "Beiträgen zur Philosophie" ihre erste systematische Entfaltung erfahren hat, erscheint die Struktur des "Man" als eine der Herrschaftsgestalten der neuzeitlichen Subjektivität, und zwar als eine sehr aufdringliche, die Alltagswelt und die Alltagssprache zunehmend durchdringende und zersetzende Größe. Heidegger nennt das "Man" allerdings schon in "Sein und Zeit" auch" ,die Öffentlichkeit' ", wobei er durch Anführungszeichen hervorhebt, wie dieser uns selbstverständliche Begriff phänomenologisch in seiner ganzen Bedenklichkeit und Fragwürdigkeit aufbricht. 35 Als Existenzial steht das "Man" einerseits in einem grundsätzlich ebenbürtigen Verhältnis zu anderen Existenzialien, wie dem Mitdasein und dem Mitsein. Ande32 Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Erstmals 1895 (Les regles de la methode sociologique). Hrsg. u. einge!. v. R. König. Frankfurt am Main, 3. Aufl. 1995. Vg!. in diesem Zusammenhang auch den Hinweis Heideggers zu der Möglichkeit eines "soziologischen" Mißverständnisses von "Sein und Zeit" im Humanismusbrief, S. 9. 33 Sein und Zeit, S. 129. 34 Brief über den Humanismus, S. 9 (Hervorhebung von mir). 35 Sein und Zeit, S. 127. Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, daß weder Antike noch Mittelalter eine "Öffentliche Meinung" kannten. Entscheidender Schrittmacher für deren Ausbildung war der Buchdruck, der seit dem 17. Jahrhundert die Entstehung der Presse und der Zeitungen auf den Weg brachte. Wir haben es also bei der "Öffentlichen Meinung" und mithin bei der "Öffentlichkeit" mit einem ganz und gar neuzeitlichen Sachverhalt zu tun. Der Unterschied zwischen "privater" und "öffentlicher Existenz", den Heidegger im Humanismusbrief aufgreift (EA, S. 9), geht zwar auf die Römer zurück, hatte dort aber eine von unserer ganz verschiedene Bedeutung der Unterscheidung.Vg!. hierzu den Hinweis Ciceros in der ersten Rede gegen Catilina, der vormalige Pontifex Maximus P. Scipio Nasica habe den wegen seiner Agrarreform vom Senat bekämpften "linken" Tiberius Gracchus nicht in seiner Eigenschaft als Höchster Priester, sondern als Privatmann getötet. In L. Catilinam Orationes Quattuor, Oratio Prima, 3.
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rerseits trägt die Charakterisierung des "Man" schon wesentliche Züge der betriebshaft organisierten "Seinsentlastung,,36, die allerdings erst im seinsgeschichtlichen Denken in ihrer geschichtlichen Tragweite als Verhüllungsgestalt der "Seinsverlassenheit" aufweisbar wird?? Diese "Seinsentlastung", die die Verdeckung eigentlicher Existenzmöglichkeiten betreibt, entfaltet sich in herrschaftlicher Weise. Das "Man" errichtet eine "Diktatur".38 Diese Diktatur organisiert sich als eine allgemeine Nivellierung der existenziellen Möglichkeiten in eine beruhigte Durchschnittlichkeit. Innerhalb dieser Beruhigtheit wird dem Dasein die Verantwortung und die Last der Entscheidung abgenommen. Es vertritt die Gemeinplätze, die "man" vertritt. "Man" bildet sich seine Meinung und nimmt Stellung. Es hält sich an die Regeln, die "man" einzuhalten hat. Es treibt aber auch zur Selbstverwirklichung, wie "man" soll, und strebt zugleich nach Absicherung seiner "Existenz". In strukturalen Charakteren, wie dem "Gerede", der "Neugier", der "Zweideutigkeit" und der konkurrierenden "Abständigkeit" zum Mitmenschen konstituiert sich die Diktatur des "Man" als ein "Betrieb,,?9 Ein scheinbar paradoxes Geschehen: eignet dem "Man" doch gerade die Organisation der Beruhigtheit und der Seinsentlastung! Diese Organisation bedarf aber gerade der Hemmungslosigkeit des "Betriebs". Worin hat dieser Betriebscharakter des "Man", als dem Subjekt der Öffentlichkeit, das dem Dasein die eigentliche Verantwortung abnimmt, indem es seine Seinsentlastung betreibt, seine ontologischen Wurzeln? Indem dem aus dem "Man" autoritativ bestimmten Dasein Möglichkeiten als echte vorgetäuscht werden, die es faktisch nicht sind, verliert es sich an die innerweltlich vorhandenen Dinge, zu denen dem an die öffentliche Ausgelegtheit des "Man" verfallenen Dasein kein ursprünglicher, wurzelhafter Bezug mehr möglich ist. Dementsprechend findet sich das verfallene Dasein selbst als ein vorhandenes Seiendes unter anderen vorhandenen Seienden vor. Das bedeutet: ausgeliefert an die Diktatur des "Man" bleibt dem Dasein die Möglichkeit des Wesensverständnisses seiner selbst verborgen. In einem hiermit bleibt die Möglichkeit einer aus dem Selbst-Verständnis erst erwachenden Aufgeschlossenheit für das Selbstsein des Mitmenschen verschüttet. Erscheint dieser doch innerhalb der öffentlichen Ausgelegtheit des "Man" als ein Vorhandenes unter anderen Vorhandenen, so z. B. als Sein und Zeit, S. 127 (unten). Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 121 über die "Schnelligkeit" als eine der Verhüllungsgestalten der Seinsverlassenheit. Heidegger spricht dort von der "Ruhelosigkeit des stets erfinderischen Betriebes, der von der Angst vor der Langeweile an sich selbst gejagt wird." 38 Sein und Zeit, S. 126. 39 Sein und Zeit, S. 168, S. 174, S. 177. Heidegger setzt "Betrieb" in Anführungszeichen, wohl mit hervorhebender Absicht. 36
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"Sexualobjekt". Dergestalt verdinglicht, wird die Seins verfassung der Mitexistenz als einer Möglichkeit, die sie wesenhaft selber ist, indem es ihr in ihrem existierenden Offenstehen um dieses Offenstehen selbst geht, verschüttet und verbaut. Innerhalb der Diktatur des "Man" verschwindet diese Möglichkeit zugleich in einem mit der existenziellen, der Daseinswelt, innerhalb derer das Dasein als In-der-Welt-sein aufgeschlossen existiert, denn die "Welt", aus der sich das verfallene Dasein "versteht", ist nicht die existenzielle Welt! - sondern bloßer Andrang des in seinem Wesen verschlossenen und eingeebneten Seienden. 4o Indem das Dasein von dieser hinsichtlich der Seins verfassung indifferenten Masse des Seienden verschlungen wird, darin "aufgeht", wird das existenzielle Weltphänomen, die Daseinswelt verhüllt, mit den Worten Heideggers: "übersprungen".41 In solchen Verhüllungs- und Verschüttungsbewegungen der öffentlichen Ausgelegtheit von Selbst und Welt durch das "Man" deutet sich der in seiner ganzen Tragweite erst innerhalb einer seinsgeschichtlichen Besinnung erfahrbare, metaphysische Charakter des "Man", als einer bestimmten geschichtlich herrschenden Gestalt der Bestimmtheit des Einzelnen durch die Anderen an. So geißelt Heidegger im "Humanismusbrief', in dem er das Phänomen des "Man" (1946!) seinsgeschichtlich auslegt, mit der "Verknechtung an die Öffentlichkeit" zugleich die "aus der Herrschaft der Subjektivität stammende Einrichtung und Ermächtigung der Offenheit des Seienden in die unbedingte Vergegenständlichung von allem. ,,42 Diese eröffnend-verhüllende Herrschaft der Subjektivität über das Seiende im Ganzen ist aber nichts anderes, als die metaphysische Organisationsstruktur des "Man". Diese ist allerdings innerhalb der fundamentalontologischen Blickbahn von "Sein und Zeit" noch nicht im vollen Sinne geschichtlich, das hieße aber für uns: aus der Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seins selbst erfahrbar. So kann Heidegger dort noch sagen, daß "Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit" der Herrschaft des "Man" "geschichtlich wechseln".43 In dieser Wendung des geschichtlichen "Wechselns" deutet sich aber die Unzulänglichkeit der allerdings in sich durchsichtigen Blickbahn von "Sein und 40 Sein und Zeit, S. 130. "Welt" müßte daher hier in Anführungszeichen gesetzt stehen. 41 Ibd. Wie die Weltlichkeit der existenziellen Welt durch die fürsorgliche Aufgeschlossenheit für das existenzielle Mitdasein mitkonstituiert wird, zeigt Heidegger a. a. 0., S. 123. Das "Überspringen" der existenziellen Welt vollzieht die subjektsontologische Auslegung, insoweit sie sich an einem kategorial-ontologischen Weltbegriff orientiert, wie bei Kant. Das "Überspringen" der Daseinswelt geschieht aber darüberhinaus innerhalb der Herrschaft der Subjektivität überhaupt - so besonders durch die der Daseinswelt entfremdete und diese als solche entwurzelnde "Öffentlichkeit". 42 Brief über den Humanismus, S. 9. 43 Sein und Zeit, S. 129.
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Zeit" zur Fassung der Geschichtlichkeit der dort als Existenzial, also auf dem Boden der Wesensverfassung des Menschen als Dasein erfahrenen Struktur des "Man" an. Die "Herrschaft der Subjektivität" kann in der Fundamentalontologie nicht als solche in den Sichtkreis des philosophischen Fragens gelangen, da dort in gewissem Sinne noch vom Menschen aus allerdings in einer revolutionären Verwandlung seiner Wesensbestimmung vorgegangen wird. Die Daseinsanalyse bildet den Ausgangspunkt für den Aufweis der transzendentalen, das Sein des Seienden offenbarenden und umgrenzenden Zeitlichkeit und damit das Fundament für die Frage nach dem Sein. Innerhalb dieser Hinblicknahme erscheint die herrschaftlichmachtende Subjektivität in der dunklen Gestalt eines Existenzials, das zusammen mit anderen Existenzialien wie Weltlichkeit und Räumlichkeit und Zeitlichkeit die offenständige Verfassung des Daseins in seiner Geworfenheit konstituiert: Verfallen an die öffentliche Ausgelegtheit des "Man", existiert das Dasein zunächst und zumeist "uneigentlich". Demgegenüber muß das Sein als solches aus seiner geschichtlichen Wesung erfahren und diese Erfahrung darin zurückgenommen werden, soll eine im vollen Sinne geschichtliche, eine aus dem sich ereignenden Geschick der Wahrheit des Seins erfahrbare "Herrschaft der Subjektivität" zum Aufweis gebracht werden können. Hieraus wird deutlich, warum den "Titeln" der "Eigentlichkeit" und der "Uneigentlichkeit" in dem aus einer seinsgeschichtlichen Besinnung ermöglichten, und doch immer wieder auf das Grundwerk als dem Gesprächspartner bekannte Quelle Bezug nehmenden Humanismusbrief nur eine "präludierende" Bedeutung eingeräumt wird. 44 Unsere seinsgeschichtliche Vorerinnerung macht den Sinn der Struktur des "Man" deutlicher. Sie erhellt zumal den herrschaftlichen, ja wie Heidegger schon in "Sein und Zeit" sagt, den autoritativen, diktatorischen Charakter dieser Weise, in der der Mensch von den Anderen gelebt wird: In der gespenstischen "Diktatur der Öffentlichkeit", als welche das "Man" seine Herrschaft errichtet, verschleiert sich das machtende Wesen der neuzeitlichen Subjektivität. Als das noch nicht seinsgeschichtlich erfahrene "realste ,Subjekt' der Alltäglichkeit,,45 schickt sich das "Man" in die "Einrichtung und Ermächtigung der Offenheit des Seienden in die unbedingte Vergegenständlichung von allem.,,46 Diese einebnende Vergegenständlichung des Seienden im Ganzen und in der Mannigfaltigkeit seiner Regionen ist, wie Hei44 Brief über den Humanismus, S. 23. Der Adressat des Humanismusbriefes war bekanntlich Jean Beaufret. Entgegen dem Wortlaut des Briefes hat Heidegger aber auch noch im Ereignisdenken die Begriffe "Eigentlichkeit" und "Uneigentlichkeit", mit welchen der "der Philosophie bisher verborgene ,ekstatische' Bezug des Menschenwesens zur Wahrheit des Seins" gedacht werden soll, gebraucht, so in den "Beiträgen zur Philosophie", vgl. GA 65, S. 284, S. 412. 45 Sein und Zeit, S. 128. 46 Brief über den Humanismus, S. 9.
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degger sehr prägnant im Humanismusbrief sagt, eine "Vergegenständlichung als die gleichförmige Zugänglichkeit von Allem für Alle".47 Die Vergegenständlichung als Einebnung eines jeglichen Seienden zum Objekt einer öffentlich betriebenen Machenschaft geschieht als Bewerkstelligung einer gleichförmigen Zugänglichkeit "von Allem für Alle". Diese Herrichtung des Seienden "für Alle" geschieht unter Mißachtung jeder Grenze, die das Seiende von sich aus fordern könnte, um in seinem Wesensumkreis gewahrt zu bleiben. Die vergegenständlichende Zugänglichkeit "von Allem für Alle" hat somit eine übermächtig ende und zugleich ermächtigende Charakteristik: Indem sie den Einzelnen ihrer Diktatur unterwirft, ihn damit überrnächtigt, ermächtigt sie ihn doch zugleich seinerseits in die Übermächtigung des Seienden. In der Weise der Teilhabe an der diktatorisch-machtenden Vergegenständlichung des "Man" geschieht eine Ermächtigung des informierten Menschen, der mit der Zeit geht, dem nunmehr alle Wege offen stehen. So sagt Heidegger in "Sein und Zeit": "Die Vermeintlichkeit des Man, das volle und echte ,Leben' zu nähren und zu führen, bringt eine Beruhigung in das Dasein, für die alles in ,bester Ordnung' ist, und der alle Türen offenstehen. ,,48
Diese Beruhigung innerhalb der öffentlichen Ausgelegtheit des "Man", also innerhalb der uneigentlichen, verfallenen Existenz, offenbart sich jedoch gerade nicht in der Tatenlosigkeit des Herumhängens, sondern zeigt sich in der "Hemmungslosigkeit des Betriebs".49 Hemmungslos, und zwar in einem sich steigernden Sinne, ist der "Betrieb", weil er unter Mißachtung jeder Grenze und damit unter Mißachtung jeder Begrenzung von Eingriffs- und Verbrauchsmöglichkeiten des Seienden geschieht. Wenn das Dasein in seiner Geworfenheit "zunächst und zumeist" im "Man" aufgeht, von ihm geradezu "gemeistert" wird, so heißt das nichts anderes, als daß der Mensch zunächst in einer Verhülltheit seiner existenziellen Möglichkeiten "uneigentlich" existiert. 50 So geschieht alles echte, verstehende Sichaneignen aus der öffentlichen Ausgelegtheit des "Man" heraus und zugleich gegen sie: als ein "Wegräumen der Verdeckungen und Verdunkelungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt.,,51 Wenn Heidegger die dem Dasein mögliche und aufgegebene "Eigentlichkeit" als eine "Modifikation,,52 der an das "Man" verfallenen Existenz der "Uneigentlichkeit" kennzeichnet, so trägt er 47 48
49
50 51 52
Ibd. Sein Ibd. Sein Sein Sein
und Zeit, S. 177. Hervorhebung von Heidegger. und Zeit, S. 167. und Zeit, S. 129, S. 169. und Zeit, S. 130.
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dem Sachverhalt der faktischen Geworfenheit des Daseins Rechnung: Zunächst und zumeist findet sich das Dasein in seiner Faktizität hineingewirbelt vor in die öffentliche Ausgelegtheit des "Man". Erst aus dieser Verfallenheit heraus sich erhebend, vermag sich das Dasein in seiner Eigentlichkeit selbst zu finden und zu übernehmen. Dennoch trägt der Begriff der "Modifikation" dem Sachverhalt des Sicherhebens nur unzulänglich Rechnung, denn er suggeriert ein Mißverständnis der "Eigentlichkeit" dahingehend, daß diese eine bloße Abwandlung oder Veränderung der "Uneigentlichkeit" sei. 53 Faktisch handelt es sich bei der "Eigentlichkeit" aber um die Erringung eines sich erst selbst Zueigenwerdens des Daseins, im Sinne einer Verwurzelung in dem eigensten Seinkönnen, um das es dem Dasein "eigentlich" auch im Modus seiner Verfallenheit an die öffentliche Ausgelegtheit des "Man" geht. Nur weil es ihm um dieses eigenste Seinkönnen geht, vermag es zu "verfallen". Dennoch vermag das sich erringende Dasein die öffentliche Ausgelegtheit durch das "Man" nicht - einmal überwunden - hinter sich zu lassen, denn es bleibt in seiner Faktizität stets in seinem aufgeschlossenen Erschließen von Seiendem auf den Kampf mit dem "Man" angewiesen: "In ihr und aus ihr (der öffentlichen Ausgelegtheit, Anm. von mir) und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen. ,,54 (Hervorhebungen von mir) Die Uneigentlichkeit des Zunächst und Zumeist ist, in die Blickbahn einer seinsgeschichtlichen Besinnung gehoben, die Überantwortung des Daseins an das Geschick des Seins in der Gestalt der neuzeitlichen Subjektivität, die die "Diktatur der Öffentlichkeit" konstituiert. Die geschichtsbestimmende neuzeitliche Subjektivität kulminiert im Machtwesen der Modemen Technik, dem "Gestell". Die in der Herrschaft der Subjektivität geschehende Einebnung des Seienden in die Gegenständlichkeit und die Verfügbarkeit "für Alle" entdeckt das Seiende in einer Weise, die in den "Beiträgen zur Philosophie" die "Seinsverlassenheit des Seienden" genannt werden wird. 55 Erst aus der Erfahrung der Seinsverlassenheit des Seienden wird die "Seinsvergessenheit", als das Geschick der abendländischen Philosophiegeschichte, zum Thema einer Besinnung. 56 Hierbei handelt es sich jedoch um 53 Vgl. Duden, Fremdwörterbuch. 3. Aufl. 1974, S. 470, Artikel "Modifikation". Das Wörterbuch nennt die folgenden drei Bedeutungen: "Abwandlung, Veränderung, Einschränkung", sowie an zweiter Stelle: "Das Abgewandelte, Veränderte, die durch äußere Faktoren bedingte nichterbliche Änderung von Pflanzen, Tieren oder Menschen." (Hervorhebung von mir) 54 Sein und Zeit, S. 169. 55 Vgl. die Erste Fuge, des "Anklangs", m: Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 107-166. 56 Vgl. die Zweite Fuge, des "Zuspiels", in: Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 167-224.
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einen seinsgeschichtlichen Sachverhalt, der sich faktisch mit einer "Grunderfahrung" deckt, aus der schon das fundamental ontologische Denken von "Sein und Zeit" unthematisch bestimmt worden ist, wie aus einer Bemerkung des Humanismusbriefes deutlich hervorgeht. 57 Von dieser Grunderfahrung der Seinsvergessenheit aus wird erst die metaphysikgeschichtliche Dimension des "Verfallens" an die öffentliche Ausgelegtheit des "Man" als solche durchsichtig. 58 Für unsere Aufgabe ist die den Einzelnen gleichermaßen diktatorischmeisternde, wie in die Verantwortungs- und Entscheidungslosigkeit ermächtigende Struktur des "Man", die eine allgemeine Seinsentlastung betreibt, deswegen von besonderem Interesse, weil in der verfügbarmachenden Vergegenständlichung "von Allem für Alle" durch das "Man" auch der Mensch mitinbegriffen ist: als der verfügbare, in seiner Seinsverfassung eingeebnete und verdinglichte Mensch. Wie wird von diesem Sachverhalt her die Menschenwürde tangiert? Zu denken ist hier an die Bedeutung, die den modemen Massenmedien innerhalb der nivellierenden Abrichtung und Organisation der Öffentlichkeit zukommt. Sie scheinen für die Mission des Besorgens einer beruhigten "Durchschnittlichkeit", worum es dem "Man" in seinem Sein wesentlich geht, geradezu geschaffen. 59 Wir stoßen jetzt auf die einzige Stelle in "Sein und Zeit", in der auf eine konkrete Technik unmittelbar Bezug genommen wird, im Sinne einer kritischen, die Auswirkungen dieser Technik auf die existenzielle Welt beurteilenden Stellungnahme des Denkers. 6o Heidegger nennt im Rahmen der Räumlichkeitsanalyse des § 23 den "Rundfunk", das sich in den 20-er Jahren entwickelnde neue Massenmedium des Radios. Die Textstelle ist kurz und knapp: "Mit dem Rundfunk ( ... ) vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-fernung der ,Welt' auf dem Wege einer Erweiterung und Zerstörung der alltäglichen Umwelt.,,61
57 Brief über den Humanismus, S. 19. Vgl. ferner hierzu den Hinweis in: Besinnung GA 66, S. 145. 58 Brief über den Humanismus, S. 23.: "Das Vergessen der Wahrheit des Seins zugunsten des Andrangs des im Wesen unbedachten Seienden ist der Sinn des in ,Sein und Zeit' genannten ,Verfallens'." 59 Sein und Zeit, S. 127. "Durchschnittlichkeit" wurde von Heidegger hervorgehoben. Hier klingt die existenziale Fundamentalstruktur der "Sorge" als dem Sein des Daseins an, die wir im § 13 behandeln. 60 Sein und Zeit, S. 105. Heidegger hat allerdings auch andernorts in "Sein und Zeit" das technische Gerät, auch modernster Art - wie das Automobil - in die phänomenologische Analyse positiv miteinbezogen, vgl. z. B. a. a. 0., S. 78. 61 Sein und Zeit, S. 105.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
Die Fonnulierung des in ihrem "Daseinssinn" noch nicht "Übersehbaren" deutet auf die Denkerfahrung Heideggers hin, dem Sachverhalt noch nicht in vollem Maße entsprechen und damit auch noch nicht im Ganzen gerecht werden zu können: Der in "Sein und Zeit" als noch nicht "übersehbar" erfahrene Sachverhalt ist derjenige des machtenden Wesens der Modemen Technik, als der seinsgeschichtlich herrschenden Gestalt der Wesung des Seins. In der transzendental-horizontalen Blickbahn von "Sein und Zeit" kann das Phänomen des Einbruchs der Rundfunktechnik in die Alltagswelt, im Sinne der fundierenden existenziellen Welt, in welche, diese erschließend, das Dasein ursprünglich eingelassen offensteht, bislang erst nach seinem "Daseinssinn" befragt werden. Der Ausgangspunkt für die Erfahrbarkeit der Technik liegt noch im daseinsmäßigen Vollzug der jeweiligen Technisierung begründet. Indem der daseinsmäßige Vollzug der Technisierung zum Ausgangspunkt des Denkens genommen wird, bleiben die Herkunft und die geschichtliche Einbindung der Technisierung noch dem Denken verhüllt. Die Erfahrung der Technisierung im Ausgang vom Dasein her verdient dennoch Beachtung: Mit dem Vollzug der Technisierung im Sinne der Rundfunktechnik vollzieht der Mensch eine "Ent-fernung" der ", Welt'''. Mit "Ent-fernung" meint Heidegger, wie aus einer Randbemerkung aus einem der Handexemplare des Autors hervorgeht, den Vollzug der "Näherung" schärfer akzentuieren zu können, mit Blick auf die "Überwindung der Entferntheit". 62 Die "Welt", zu der auf dem Wege des Rundfunks die Entfernung überwunden werden soll, ist aber nicht die existenzielle Welt, die Lebenswelt im ursprünglichen, daseins mäßig erfahrenen Sinne. Die", Welt' ", die Heidegger um Willen dieser Anzeige in Anführungszeichen setzt, ist vielmehr die vergegenständlichte "Welt," wie sie dem verfallenen Seinsverständnis des "Man" entspricht. Gerade diese vergegenständlichte "Welt", als der Andrang des in seinem Sein unbedachten Seienden, wird erst aus einer Verhaltung des Daseins zugänglich, die zur ursprünglichen Aufgeschlossenheit des Daseins gehört, mithin die existenzielle Welt in ihrer Räumlichkeit erst konstituiert: "Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe. ,,63 Das Dasein ist ursprünglich nähernden Wesens. Diese Tendenz, die innerhalb der Erschließung des räumlichen In-der-Welt-seins eine diese Erschließung gerade erst mitennöglichende Bestimmung innehat, schlägt durch ihre technische Umwandlung als Näherung der vergegenständlichten "Welt" gerade in die "Zerstörung" der existenziellen Welt um, die allerdings vorerst noch als 62 Sein und Zeit, S. 442 zu Randzeichen "c". Die Veröffentlichung der Randbemerkungen besorgte F.-W. v. Herrmann nach den Richtlinien Heideggers. 63 Sein und Zeit, S. 105. Der Satz wurde von Heidegger hervorgehoben.
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die technisch ermöglichte "Erweiterung" dieser erfahren wird. 64 Diese "Erweiterung" der Daseinswelt auf dem Wege der technischen Massenmedien ist ein unmittelbar nachvollziehbarer Vorgang: Der Möglichkeit nach bedeutet die Einführung eines technischen Mediums eine Potenzierung der bislang von der Presse besorgten Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten seitens der über die entsprechende Apparatur verfügenden Menschen somit ein Wachstum an individueller Macht. 65 Inwiefern zeitigt sich diese Erweiterung der existenziellen Welt zur vergegenständlichten "Welt" zugleich als eine Zerstörung der Daseinswelt, mithin der ursprünglichen Aufgeschlossenheit für das Seiende im Ganzen, welche offenhaltend das Dasein als In-der-Welt-sein ekstatisch existiert? Haben wir es bei dieser Zerstörung, die sich zunächst und zumeist als Erweiterung zeigt, mit einem verwandten Phänomen, wie bei der durch die Wissenschaften vollzogenen und deren Erfolg erst ermöglichenden "Entweltlichung der Welt" zu tun? Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daran zu erinnern, daß Heidegger den "Rundfunk" - paradigmatisch für alle technischen Massenmedien in seiner Entwicklung in engstem Zusammenhang erfährt mit den Massenverkehrsmitteln, die allerdings nur indirekt erwähnt werden: "Alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder gezwungen mitmachen, drängen auf Überwindung der Entferntheit. ,,66
§ 11 Ernst Jüngers Essay "Über den Schmerz" als literarisches Zeugnis für die vergegenständlichende "Selbst"-Erfahrung des Menschen in der Moderne In dem vorangegangenen Kapitel wurde das Thema "Leiblichkeit" vor allem mit Blick auf die metaphysische Auslegung dieser existenzialen Struktur behandelt. Dort zeigte sich schon die Radikalisierung der innerhalb der metaphysischen Auslegung vorgenommenen Verdinglichung des Leibes als vergegenständlichter "Körper" im Blickfeld der Modemen Technik. Diese Verdinglichung des Menschenleibes und damit des Menschen selbst geschieht auf den unterschiedlichsten Ebenen. Zu nennen wären: Medizin, Krankenhauswesen; Wissenschaft, insofern sie mit dem menschlichen 64 Vgl. in diesem Zusammenhang den Slogan von der" schönen, neuen Medienwelt", in dem der Fluchtcharakter des "Man" vor der Last der eigentlichen, die Lichtung des Todes ausstehenden Existenz deutlich zu Tage tritt in seiner Verschüttungs- und Vernichtungsstendenz hinsichtlich der existenziellen Welt. 65 Vgl. in diesem Zusammenhang in der öffentlichen Diskussion die Argumentation mit der Gefahr, es könnte durch die noch nicht von dem Durchschnitt beherrschbare Technik des "Internet" zu Ausgrenzungen kommen. 66 Sein und Zeit, S. 105. 10 Platte
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"Körper" zu tun hat; der Schulunterricht, insoweit er den menschlichen "Körper" behandelt. Ferner aber auch die Werbung und die Medien überhaupt, da sie sich des menschlichen "Körpers" zur Aufrechterhaltung und Steigerung ihres Einflusses bedienen. Ein wichtiges Element dieser Einflußnahme ist in zunehmendem, sich ständig steigerndem Maße die öffentliche Zurschaustellung des unbekleideten menschlichen "Körpers". Diese hat offenbar einen wesentlich anderen Charakter, als die Erscheinung des unbekleideten Menschen in dem agonalen Wettkampf und in dem daran anknüpfenden Bildwerk der Antike. Dieser offensichtlich andersartige Charakter wird erst deutlich, wenn man die Vergegenständlichung als den Grundzug der heutigen Lebenswirklichkeit in Betracht zieht. Faktisch erscheint das spezifische, vergegenständlichende Verhältnis zu dem menschlichen Leib und damit das Selbstverhältnis des Menschen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit einer übergreifenden Vergegenständlichung des Seienden im Ganzen, von "Welt" überhaupt. In der besonderen Vergegenständlichung des menschlichen "Körpers" offenbart sich der Grundzug der heute herrschenden Offenbarkeitsweise des Seienden im Ganzen und in den einzelnen Regionen als der Totalerfahrung dessen, was "ist". Woher nimmt eine derart gewagte These ihr Recht? Sie baut darauf auf, daß sich das Seiende im Ganzen und in einem hiermit der Mensch geschichtlich unterschiedlich zeigt, sich in unterschiedlicher Weise offenbart. Sie hat ihre Grundlage darin, daß nicht bloß Menschen und Völker, sondern gerade die Wahrheit - im Sinne der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen - ihre Geschichte "hat", in sich als geschichtlich, als ein Geschehen zu erfahren ist. Eine besondere Erfahrung des Ganzen des Seienden auf dem Boden der modemen Physik bezeugt sich bei Werner Heisenberg: "Es sind die gleichen ordnenden Kräfte, die die Natur in allen ihren Formen gebildet haben und die für die Struktur unserer Seele, also auch unseres Denkvermögens, verantwortlich sind ...67
Einem heutigen Neuropsychologen oder Physiker wird der Satz Heisenbergs schon altertümlich anmuten: Ist da doch noch von "Seele" die Rede, wird also noch auf eine tradierte Bestimmung zurückgegriffen, die sich der Berechenbarkeit und damit der exakten Wissenschaft entzieht. Dennoch spricht aus dem Zitat eine Totalerfahrung, die in einem sich steigernden, alle Lebensbereiche zunehmend konsumierenden Sinne auch noch die heute vorherrschende ist. Hier erscheint das Ganze des Seienden insofern eingeebnet, als an seinen unterschiedlichen Regionen, so der belebten und unbelebten Materie, der Natur und des Menschen, stets die gleichen, mathematisch bestimmten Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden können. Innerhalb dieser 67
Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. München 1969, S. 142.
§ 11 Ernst Jüngers Essay "Über den Schmerz"
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stets und immer nachweisbaren Gesetzmäßigkeiten verwischen sich die Unterscheidungen verschiedener Regionen des Seienden, und alle Bereiche erscheinen im Lichte einer unerbittlichen Gleichförmigkeit. Es ist nicht einzusehen, wie einer menschlichen Handlung als solcher Freiheit zukommen soll, wenn sie genau den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, wie die Bewegung eines Tausendfüßlers, welche wiederum in den gleichen Gesetzmäßigkeiten steht wie ein Automat. Aber nicht bloß die Einebnung der Regionen des Seienden unter dem Gesichtspunkt der gleichförmigen Gesetzmäßigkeit kennzeichnet den herrschenden mathematischen Naturentwurf. Wichtiger noch ist der Gesichtspunkt der Bewegung, unter dem alles Seiende erst in seiner mathematisch bestimmbaren Gesetzmäßigkeit erfahrbar wird. In der veränderten Auffassung der Bewegung, im Sinne der Idealität als Grundbedingung der Mathematisierbarkeit, liegt für Cassirer dann auch die Möglichkeit der Schöpfung eines "neuen Weltbegriffs" seit Galilei begründet. 68 Ernst Jünger benennt die Weise, in der das Ganze des Seienden als zugleich mobilisiert und eingeebnet erscheint, nicht zufällig mit einem Wort, das der Physik als Begriff dient: der "Arbeit": "Arbeit ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tage und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg: Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und Sonnensysteme bewegt.,,69 In dem Sichtkreis desjenigen Menschenschlages, dem die Mobilisierung der Welt durch die Technik aufgegeben ist, erscheint das Ganze des Seienden als ständig in "Arbeit" und zugleich in einem hiermit eingeebnet in der Mannigfaltigkeit seiner Regionen, die nur, insofern sie in "Arbeit" sind, erschließbar werden und überhaupt als "wahr" erscheinen können. Der Rang des Einzelnen bestimmt sich aus dem Maße her, in dem er der Offenbarkeit des Ganzen des Seienden als "Arbeit" zu entsprechen vermag; sein Leben als "Arbeit" erfährt und übernimmt und führt und damit die "Gestalt des Arbeiters" in sich zur Darstellung bringt. Innerhalb der Arbeitswelt - also innerhalb der Erfahrung des Ganzen des Seienden als "Arbeit" - erscheint daher der bürgerlich-liberale Freiheitsgedanke der Handlungsfreiheit als anachronistisch. Im totalen Arbeitsraum ist der Freiheitsanspruch nur in 68 Ernst Cassirer, Das Subjekt-Objekt-Problem in der Philosophie der Renaissance. In: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Leipzig 1927, S. 182 f.: "Die Bewegung, ja die materielle Masse selbst besitzt, als Gegenstand des Wissens genommen, Idealität: denn an bei den lassen sich gewisse unabänderliche Bestimmungen, die immer in der gleichen Weise sich verhalten, lassen sich somit echte mathematische Wesensgesetze aufweisen. Damit erst war die Erfahrung selbst zur strengen Erkenntnis erhoben." (Hervorhebung von Cassirer) 69 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Erstmals 1932. Stuttgart
1982, S. 68.
10'
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dem Grade legitim, insofern er als "Arbeitsanspruch" auftritt. 7o Nur diese Freiheit der "Arbeit" als Mobilisierung des Ganzen des Seienden ist als solche legitim und als Recht einzufordern, weil sie allein wahr ist innerhalb einer Auslegung des Ganzen des Seienden als "Arbeit". Da der Herrschaftsanspruch der "Arbeit", der dergestalt als Arbeitsanspruch erscheint, stets auf das Ganze des Seienden geht, kann ihr jedoch die Vorhandenheit von solchen, jene Auslegung des Seienden im Ganzen als "Arbeit" nicht mitvollziehenden Lebensweisen nicht gleichgültig sein. Es handelt sich bei der "Arbeit" um eine wesenhaft übermächtigende Lebensart, die andere - bürgerliche und religiöse, besonders christliche - Lebensformen neben sich nicht duldet und zum Kränkeln, Absterben und schließlich Erlöschen bringt. Dieses Erlöschen anderer Lebensformen erarbeitet sich die "Arbeit", indem sie diese mit ihren Symbolen, den technischen Apparaturen, in Berührung bringt. 71 Dieser Hinweis war notwendig, um ein angemessenes Vorverständnis dafür zu gewinnen, welchen Sachverhalt Jünger in dem zwei Jahre nach dem "Arbeiter" (1932), also 1934 veröffentlichten Essay "Über den Schmerz" vor Augen hat. 72 Wie noch der "Arbeiter", verdankt sich auch diese Schrift vor allem einer konkreten Erfahrung, an der Jünger unmittelbar tätig teilgenommen hat: dem Ersten Weltkrieg und dem mit dem "Großen Krieg,,73 einhergehenden Zusammenbruch der bürgerlich-liberalen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts. Jünger, vielfach verwundeter und hochdekorierter Infanterieoffizier, hat seine Kriegserfahrung in "In Stahlgewittern" und anderen Kriegsbüchern beschrieben74 und in viel weniger bekannten Aufsätzen und Einzelabhandlungen analysiert, die wissenschaftlichen Charakter haben und die infanteristische Taktik bis auf den heutigen Tag beeinflussen. Die weit größere Bedeutung dieser Einzelstudien liegt aber in der ganzheitlichen, eine neue Wirklichkeit offenbarenden Erfahrung des Krieges begründet, die schließlich in die Abhandlung "Die Totale Mobilmachung" (1930) einmündet, die, indem sie den Ersten Weltkrieg und das militärische Scheitern des Deutschen Reichs abschließend analysiert, zugleich vorausweisenden Charakter hat: Die gegenüber den westlichen Kriegsgegnern geS. 67. S. 161. 72 Erstmals zusammen erschienen mit weiteren zentralen Texten ("Die Totale Mobilmachung", "Staubdämonen" u. a.) in der Sammlung "Blätter und Steine", Hamburg (Hanseatische Verlagsanstalt) 1934. Im folgenden zitiert nach Sämtliche Werke, Essays I. - Betrachtungen zur Zeit, Bd. 7 Stuttgart 1980, S. 145-191. 73 In Deutschland hat die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges als eines Totalen Krieges die Erinnerung an den ersten Krieg in den Hintergrund gedrängt. Für die Engländer ist der Erste Weltkrieg aber heute immer noch "the Great War"; das selbe gilt für Frankreich ("Ia Grande Guerre"). 74 In Stahlgewittern. Erstmals 1920.39. Aufl. Stuttgart 1998. 70 71
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ringere Fähigkeit Deutschlands, eine Totalumstellung der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne der "Mobilmachung" durchzuführen, wird für die militärische Niederlage verantwortlich gemacht. 75 Aus diesem Einblick in den Grundcharakter der Zeitlage ergibt sich für Jünger der unausweichliche Zwang, sich entweder an der "Totalen Mobilmachung" zu beteiligen oder unterzugehen. 76 Wie kommt aber Jünger dazu, von der Kriegserfahrung zu einer Erfahrung des Ganzen der Weltwirklichkeit vorzudringen? Die ganzheitliche Erfahrung einer Verwandlung der Welt durch den Weltkrieg geschieht als Technisierung des Krieges, die einen neuen Typus des Kämpfers hervorbringt. Das Scheitern des bürgerlichen Individuums an der durch den Krieg geschaffenen neuen Wirklichkeit geschieht für Jünger symbolhaft in dem Sturmangriff von Langemark, wo die stürmenden jungen deutschen Kriegsfreiwilligen in ungeheuren Massen in dem Abwehrfeuer einiger weniger englischer Maschinengewehre fielen. 77 Die Erfahrung der neuen Wirklichkeit zeigt sich inmitten des Krieges, in der Materialschlacht, aber auch in der mathematischen Präzision, mit der die deutsche Frühjahrsoffensive von 1918 vorbereitet und durchgeführt wurde. Inmitten eines solchen Geschehens erscheint der Einzelne vollkommen aufgelöst in technischen Beziehungen. Er wird zum bloßen "Menschenmaterial". Folgendes Zitat aus einem von dem Expressionismus beeinflußten Kriegsbuch Ernst Jüngers, dem "Kampf als inneres Erlebnis", zeugt für die Vision eines Übergreifens der im Kriege erstmals offenbar gewordenen neuen Wirklichkeit auf das Ganze des Seienden, das sich jetzt nur noch im Sinne des Machtwesens der Modemen Technik zeigen kann: 75 Erstmals in dem Sammelband "Krieg und Krieger" (1930) abgedruckt; jetzt in: Sämtliche Werke Bd. 7, S. 121-142. 76 Die Totale Mobilmachung, Sämtliche Werke Bd. 7, S. 135 ff. 77 Der Angriff bei dem westflandrischen Ort Langemark (Langemarck) geschah am 10. November 1914. Der bei dem Ort gelegene Friedhof birgt über 45 000 deutsche Soldatengräber. Die in diesem Angriff zu Tage tretende Schwäche der Masse im Angesicht der Modemen Technik ist ein Grund dafür, warum Jünger die Masse dem 19. Jahrhundert zuordnet und für die Arbeitswelt für überholt hält. So trägt ein Kapitel des "Arbeiters" die bezeichnende Überschrift: "Der Untergang der Masse und des Individuums" (S. 98 ff.). Von dort aus wird es auch verständlich, warum Jünger den politischen Massenbewegungen nur eine Übergangsfunktion in Hinblick auf die Entwicklung zum modemen Arbeiterstaat zubilligen kann. An ihre Stelle tritt die Herrschaft des "Typus" und der "Organischen Konstruktion". In dieser Stellungnahme unterscheidet sich Jünger radikal von Ortega y Gasset, der in dem "Aufstand der Massen" den Grundcharakter der Modeme sehen wollte. Aus der Blickrichtung des "Arbeiters" ist der "Aufstand der Massen" ein noch dem bürgerlichen Zeitalter verhaftetes Phänomen, das - soweit es heute noch geduldet wird einen anachronistischen Zug trägt und die Herrschaft des Arbeiters, als die einzig legitime, verhüllt. Vgl. lose Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen (im Original: "La rebeli6n de las masas", 1930) Stuttgart, erweiterte Neuausgabe 1965.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
"Wenn ich beobachte, wie sie geräuschlos Gassen in den Drahtverhau schneiden, Sturmstufen graben, Leuchtuhren vergleichen, nach den Gestirnen die Nordrichtung bestimmen, dann überkommt mich die Erkenntnis: Das ist der neue Mensch, der Sturmpionier, die Auslese Mitteleuropas. Eine ganz neue Rasse, klug, stark und Willens voll. Was hier im Kampfe als Erscheinung sich offenbart, wird morgen die Achse sein, um die das Leben schneller und schneller schwirrt. Nicht immer wird, wie hier, der Weg zu bahnen sein durch Trichter, Feuer und Stahl, aber der Sturmschritt, mit dem das Geschehen hier vorgetragen wird, das eisengewohnte Tempo, das wird das selbe bleiben. Das glühende Abendrot einer versinkenden Zeit ist zugleich ein Morgenrot, in dem man zu neuen, härteren Kämpfen rüstet. Weit hinten erwarten die riesigen Städte, die Heere von Maschinen, die Reiche, deren innere Bindungen im Sturme zerrissen werden, den neuen Menschen, den kühneren, den kampfgewohnten, den rücksichtslosen gegenüber sich selbst und andere. Dieser Krieg ist nicht das Ende, sondern der Auftakt der Gewalt. Er ist die Hammerschmiede, in der die Welt in neue Grenzen und in neue Gemeinschaften zerschlagen wird. Neue Formen wollen mit Blut erfüllt werden, und die Macht will gepackt werden mit harter Faust. Der Krieg ist eine große Schule und der neue Mensch wird von unserem Schlage sein.,,78
Es ist offensichtlich: Das Übergreifen der durch den Krieg geschaffenen neuen Wirklichkeit auf das Ganze des Seienden ist ein Übergreifen-Wollen. Der Krieg soll zur Geburtshelferin eines neuen, eines technischen Zeitalters werden. Es ist dann vor allem das hochmoderne Berlin der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, in dem sich die Zeitströmungen verdichten, wo die im "Kampf als inneres Erlebnis" (1922) erstmals ausgesprochene Vision eines epochalen Wandels ihre Bestätigung findet. 79 Eine sich gegenüber der expressionistischen Sprachrnacht des "Kampfes als inneres Erlebnis" durch kühle Distanz und Präzision der militärwissenschaftlichen und militärgeschichtlichen Ausführungen auszeichnende Abhandlung über "Krieg und Technik" ist für uns von besonderem Interesse, weil sie das technische Kriegsmittel zwar noch als Mittel des technischen Kriegs erfährt, diese instrumentale Bestimmung aber dadurch wesentlich vertieft und erweitert wird, indem die Kriegsmaschine zugleich als "Ausdrucksmittel" einer neuen Geistesepoche erfahrbar wird: "Der Tank ist nur ein Mittel, nur eines der Mittel im technischen Raum, dessen Gesetze er nicht bestimmt, sondern vollzieht, und denen er seine Entstehung verdankt. Er ist ein Ausdrucksmittel einer neuen kriegerischen Epoche, ebenso wie die Maschine selbst nicht den Beginn, sondern den Ausdruck einer neuen Epoche des Geistes repräsentiert. Daher schafft der Tank nicht das Bild der technischen Schlacht, sondern er ist eine Erscheinung, die in ihren Rahmen gehört. Wie dieser 78 Der Kampf als inneres Erlebnis, erstmals 1922; abgedruckt in: Sämtliche Werke Bd. 7, S. 11-103. Zum Zitat S. 72 f. 79 Dieser Zeitabschnitt ist gut dokumentiert durch das Buch Friedrich Georg Jüngers, der damals - ebenso wie der Bruder Ernst - in Berlin lebte. Vgl. ders.: Spiegel der Jahre: Erinnerungen. München 1958.
§ 11 Ernst Jüngers Essay "Über den Schmerz"
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Rahmen durch die Wirksamkeit eines neuen Denkens entsteht, ist ebenso schwer zu beschreiben, wie die Entstehung einer modemen Großstadt zu beschreiben ist. Die Schlacht bedient sich nicht nur in steigendem Maße der Maschine, sondern sie wird als Ganzes von dem Geiste durchsetzt, der die Maschinen schafft. ,,80
Die Bedeutung des Krieges liegt nicht darin, daß er in einem bis dahin unvorstellbaren Maße von der technischen Kriegsmaschinerie bestimmt wurde, sondern in seiner zunehmenden Durchsetztheit von dem "Geiste", "der die Maschinen schafft". Dieser Geist, der die Maschinen schafft, also als die Quelle aller technischen Apparaturen fungiert, hat über die bloße Maschinenproduktion hinaus einen transzendierenden, das Ganze des Seienden übersteigenden Charakter: So schafft er den "Rahmen" der modemen Schlacht, wie er auch die Wirklichkeit der modemen Großstadt hervorbringt. Für den Maschinengeist zeigt sich ein jegliches, was ist, ein jegliches Seiendes, in besonderer Weise. Gegenüber dessen Transzendieren des Ganzen des Seienden verbleibt die instrumentale Bestimmung der Kriegstechnik als "Mittel" zwar legitim und richtig, aber sie kann "Mittel" bloß sein für den von Grund auf gewandelten, ihrem Wesen entsprechenden Geist, den Geist, "der die Maschinen schafft". Die zunehmende Durchsetzung aller Lebensbereiche durch diesen Geist, "der die Maschinen schafft", bewirkt - über Stellungskrieg, Trommelfeuer und Gasangriffe weit hinausgehend - eine Erschütterung der bürgerlichen Lebenswelt, die schließlich in deren Untergang einmündet. Diese "notwendige" Zerstörung der überkommenen Lebenswelt ist Thema des Gesprächs, das Ernst Jünger mit dem österreichischen Zeichner und Autor Alfred Kubin geführt hat, der der dekadenten österreichischen Gesellschaft der Vorkriegszeit ein Denkmal setzte. 81 Dieses Gespräch macht den politischen Radikalismus Jüngers deutlich: Dem Krieg fällt für ihn ein verwahrlostes, ein abgelebtes Menschentum zum Opfer und der aus dem Ringen hervorgehende, gestählte Krieger ist dazu berufen, die zukünftige Lebenswirklichkeit zu gestalten. Das ist im Groben Jüngers Auslegung der Nachkriegszeit, innerhalb derer der "Arbeiter" seinen Ort hat. Die Blickrichtung dieses zentralen Essays, von dem Heidegger mehrere Handexemplare glossierte, und den er zum Thema eines bald von den nationalsozialistischen Machthabern unterbundenen Arbeitskreises machte 82 , ist sowohl durch die Weltdeutung 80 Ernst Jünger, Krieg und Technik; abgedruckt in: Das Antlitz des Weltkrieges. FronterIebnisse deutscher Soldaten. Hrsg. v. Ernst Jünger. Berlin 1930, S. 222-237, S. 236 f. 81 Vgl. hierzu u. a.: Ernst Jünger, Alfred Kubin; Eine Begegnung. 8 Abbildungen nach Zeichnungen und Briefen von Ernst Jünger und Alfred Kubin. Frankfurt am Main 1975. 82 Die Erläuterungen zu diesem Arbeitskreis werden als Bd. 90 im Rahmen der Gesamtausgabe erscheinen. Zur Zeit der Abfassung dieser Untersuchung waren sie noch nicht verfügbar. Der Hinweis auf die Überwachung und Auflösung des Ar-
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
Nietzsches als "Wille zur Macht,,83 als auch durch die politische Haltung des "Nationalbolschewismus" um Ernst Niekisch mitbestimmt, dem Ernst Jünger und sein Bruder Friedrich Georg in den Jahren vor der Machtergreifung der Nazis nahestanden. Beiden Einflüssen verdankt die Gegenwartsdeutung Ernst Jüngers ihr Licht; sie ist aber zugleich durch diese Einflüsse festgelegt und oftmals überschattet. Die Lichtseite zeigt sich darin, daß es Jünger im Sichtkreis der von Nietzsche übernommenen - metaphysischen - Auslegung des Seienden im Ganzen als "Wille zur Macht" vennag, die technische Welterfahrung in ihrer zugleich aufreizenden wie narkotisierenden Gleichfönnigkeit als Totalerfahrung deutlich zu machen. Diese Aufgabe versteht sich allerdings nicht bloß als Sichtung und Beschreibung, sondern als Teilnahme an der "Totalen Mobilmachung", die, entsprechend der Weltauslegung Nietzsches als "Wille zur Macht", kein Ausweichen vor ihr zuläßt, indem sie denjenigen, der sich nicht an der Rüstung beteiligt, zum Erlöschen bringt. Der damaligen Nähe zum "Nationalbolschewismus" verdankt Jünger den politischen Standpunkt, der sowohl antibürgerlich wie patriotisch ist. Die Ennächtigung der "Arbeit" in das entfesselte Machtwesen zerbricht die bürgerlich-liberale Lebenswelt und soll zugleich in einem hiennit einem neuen "Ethos" an die Macht verhelfen, das dazu berufen ist, die aus dem verlorenen Nationalkrieg hervorgegangene Schmach zu überwinden. 84 Dieses Überwinden ist allerdings bei Jünger 1932 nicht mehr im Sinne des "Nationalismus,,85, sondern auf dem Boden der Weltgeltung der planetarischen - also übernationalen - Gestalt des Arbeiters zu verstehen. Die Verdächtigung, daß der "Arbeiter" im unmittelbaren Kontext der Nationalen Revolution gelesen und verstanden werden müßte, ist daher in seiner vollkommenen Ahnungslosigkeit über den Inhalt und die Intention des Buches schon im Ansatz verfehlt. Richtig ist allerdings, daß eine noch unausgereifte Aufnahme dieses Buches bei großen Zeitgenossen wie Gottfried Benn und Martin Heidegger die anfängliche Fehleinschätzung der politischen Bedeutung der Machtergreifung von 1933 mitprovoziert hat. Der "Arbeiter" ist denn auch erheblichen Bedenken zu unterwerfen: Die Nietzsche scheinbar rezipierende Identifizierung des Bürgertums mit dessen "letztem Menschen" und die noch gewagbeitskreises findet sich in Wegmarken, S. 390, in dem an Jünger gerichteten Text "Zur Seinsfrage", auf den noch einzugehen ist. 83 Zur Weltauslegung Nietzsches, die allerdings nur die formale Orientierung für Jüngers "Arbeit" und "Totale Mobilmachung" bieten kann, da sie in ihrem Zurückgehen auf den Mythos und die Vorsokratik wesentlich anderen Charakters ist, vgl. Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 11, Nachgelassene Fragmente Juni-Juli 1885, S. 610 f. 84 Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 27. 85 Diese Begriffsschöpfung geht - wie die "Totale Mobilmachung" - allerdings u. a. auf Jünger zurück!
§ II Ernst Jüngers Essay "Über den Schmerz"
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tere Identifizierung des "Übennenschen" mit dem "Arbeiter" des technischen Zeitalters tut nicht nur Nietzsche Gewalt an, dessen Konzeption doch ganz anderer, vor allem auch technikkritischer Natur ist: Sie verführt Jünger zu einer einseitigen Schablonierung, die in ihrer sturen Dialektik derjenigen von Marx nicht fern steht. Der "Arbeiter" ist im Recht, weil ihm die Geschichte Recht gibt, indem sie ihn zur Mobilisierung der Welt ennächtigt. Der "Bürger" muß verschwinden, weil seine Lebensweise und sein Begriff der individuellen Freiheit mit der Technik nicht konfonn gehen. Gegenüber Marx handelt es sich bei dem "Arbeiter" allerdings um keine klassenkämpferische Konzeption. Der "Arbeiter" empfindet sich nicht als Ausgebeuteter und Unterdrückter. Er will keiner Befreiung von einer durch technisch-ökonomische Ausbeutungsstrukturen bedingten "Entfremdung" zugeführt werden. Bei Jünger ist der Dienst an der Maschine, schließlich die Verwandlung des bisherigen Menschen in den gestählten und unerbittlichen Bezwinger der Naturkräfte, der dem Maschinenwesen entspricht, gerade nicht als "Entfremdung" von seiner wahren, menschlichen Natur gedeutet. Gegenüber der gleichennaßen materialistischen wie romantischen Gesellschaftskritik von Marx findet der neue Mensch seine heroische Bestätigung vielmehr gerade darin, daß er sich selbst, indem er als Maschine gebraucht wird, nicht als entwürdigt empfindet, sondern leidenschaftlich bejaht. Im Dienste an der Maschine zugleich selbst Maschine findet der "Arbeiter" seine höchste Erfüllung. Sein Glück liegt darin, "geopfert" zu werden. 86 Dieser Hintergrund, diese Grundentscheidung für die Technik und für denjenigen Menschenschlag, der sich, indem er sich bedingungslos ihrer spezifischen Rationalität fügt, einen Planeten unterwirft, ist im Auge zu behalten bei dem zwei Jahre später (1934) erschienenen Essay "Über den Schmerz". Von dort aus wird allerdings auch manches im "Arbeiter" über den neuen Menschen Gesagte klarer. Das gilt zumal für das schon angesprochene Leibverhältnis: Der Rang des einzelnen Menschen wie auch einer Führungsschicht bemißt sich für Jünger an dem Maße, in dem der eigene Körper als bloßer "Gegenstand" empfunden werden kann, womit er sich dem Schmerz gegenüber erst als gewachsen erweisen könne. 87 Der Schmerz ist aber die große Bewegung, der das Leben immer unterworfen 86 Michel Philippon sieht den "Arbeiter" in der cartesischen Tradition und hebt zugleich die von Jüngers Konzeption vollzogene Aufgabe der bei Marx noch nachwirkenden christlich-abendländischen Auslegung des Menschen als freie und selbstverantwortliche Person hervor: "La revolution de I' ,Arbeiter' consiste non point dans la constatation de ce que la machine domine l'homme (00') mais en l'acceptation absolue de cette nouvelle hierarchie comme dispositifaxiologique legitime, comme diapason d'une ere nouvelle. L'homme serviteur de la Technique: le vrai scandale de I' ,Arbeiter' est precisement que cela ne soit plus scandale, mais que ce fait soit nonne." Vgl. ders.: De Descartes a Jünger: Le Travail et son Travailleur. In: Les Carnets Ernst Jünger. Revue du centre de recherche et de documentation Ernst Jünger. W2-1997, S. 53-66, S. 61 f.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
bleibt. Mit unerbittlicher Macht nähert sich ein jegliches Menschenleben der roten Zone seiner Zerrnalmung. Wie in einer mechanischen Mühle das Weizenkorn dem ersten und vielleicht auch noch dem zweiten Mahlgang entrinnen mag; unweigerlich wird der Mensch doch sehr bald von dem Getriebe ergriffen und unter unausdenkbaren Qualen zum Erlöschen gebracht. Der Schmerz ist der "Schatten des Lebens, dem man sich durch keinen Vertrag entziehen kann ... 88 Als dem Schmerz gegenüber gewachsen erweist sich daher nur das sich vergegenständlichende Menschenleben, das sich selbst zur bloßen Sache wird. In der Fähigkeit der Versachlichung aller menschlichen Verhältnisse und des Menschen selbst liegt dann auch für Jünger das Maß der Herrschaftsfähigkeit begründet. Es ist kein Zufall, daß Jünger das technische Bild der mechanischen Mühle gebraucht, um die unerbittliche Zugriffsweise des Schmerzes, vor dem es kein Entrinnen gibt, zu illustrieren. 89 Denn der Schmerz und seine Abwehr durch die Vergegenständlichung des Menschen stehen von vornherein innerhalb des Sichtkreises der Inanspruchnahme des Menschen durch die Technik und der Notwendigkeit, ein dem Anspruch der Technik gewachsenes, stählernes Menschentum zu begründen. So heißt es schon in dem "Arbeiter": "Überall, wo der Mensch in den Bannkreis der Technik gerät, sieht er sich vor ein unausweichliches Entweder-Oder gestellt. Es gilt für ihn, entweder die eigentümlichen Mittel zu akzeptieren und ihre Sprache zu sprechen oder unterzugehen. Wenn man aber akzeptiert, und das ist sehr wichtig, macht man sich nicht nur zum Subjekt der technischen Vorgänge, sondern gleichzeitig zu ihrem Objekt.,,9o
Der Zwang zur Vergegenständlichung des Selbst, die Verobjektivierung des eigenen Körpers, folgte demnach nicht allein aus der Notwendigkeit der Stählung gegenüber dem Schmerz schlechthin, sondern gegenüber demjenigen Schmerz, der den "Bannkreis der Technik" charakterisiert. In diesem technischen Raum, in dem sich die Herrschaft der Subjektivität als "Totale Mobilmachung" entfaltet, gilt es zugleich, den eigenen Körper mit größter Rücksichtslosigkeit ins Treffen zu bringen, was für Jünger nur möglich ist, insoweit er zum bloßen "Objekt" vergegenständlicht, mit Gleichmut der Vernichtung geweiht werden kann. Wir stoßen bei Jünger somit auf das Zusammenfallen von dem höchsten Machtanspruch mit der größten Bereitschaft der Selbstnegierung, sei diese 87 Erstmals 1934 in "Blätter und Steine"; abgedruckt in: Sämtliche Werke Bd. 7, S. 143-191, S. 159. 88 S. 147. 89 Es ist von einigem Interesse, daß Eichmann später bei seinem Prozeß in Jerusalem eben dieses Bild der mechanischen Mühle benutzte, um den Vorgang der schrittweisen Auslöschung der Persönlichkeit der Opfer des "Holocaust", die den Vergasungen vorausging, durch die Menschenvernichtungsmaschinerie des "Dritten Reichs" zu charakterisieren. 90 Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 166.
§ 11 Ernst Jüngers Essay "Über den Schmerz"
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nun als Selbstaufgabe oder als Opfer zu bewerten. Eine eigenartige Beobachtung ist, daß die Technik in dem Maße, in dem sie den Menschen in die Herrschaft über das Seiende ermächtigt, der Mensch zugleich als konkreter Mensch seine Bedeutung verliert, indem er in die herrschaftliche Vergegenständlichung des Seienden unweigerlich miteinbezogen wird. Jünger nennt in diesem Zusammenhang ein Beispiel, das für seine Betrachtungsweise ganz charakteristisch ist: In der japanischen Kriegsmarine wurde - zeitgenössische illustrierte Zeitschriften berichteten darüber - ein "intelligenter" Torpedo entwickelt, der, von einem Soldaten als Suchkopf gesteuert, auf feindliche Schiffe angesetzt werden sollte. Hier findet eine vollkommene Vergegenständlichung des Menschen in der Weise seiner vollständigen Verbauung mit einer Kriegsmaschine statt, die nur ein Ziel kennt: Die Vernichtung des Gegners. 91 Die Totalität des "Arbeitscharakters", das Hineinzwingen von immer mehr, schließlich allen Lebensbereichen in die unbedingte Gleichförmigkeit des bloßen Betriebs, verwandelt auch den Sport, der, indem er zur "Arbeit" wird, seinen Charakter als Spiel und Wettkampf verlieren muß. Entsprechend tritt die Individualität des Sportlers in dem Maße zurück, indem man den Sport einer allgemeinen Verwissenschaftlichung unterwirft, innerhalb derer nur noch die in einer Ziffer auszudrückende "Leistung" zählt. Im Sport tritt dann auch das neuartige Verhältnis zum Leibe deutlich hervor: "Dieses Fleisch, durch den Willen mit einer so peinlichen Sorgfalt diszipliniert und uniformiert, ruft die Vorstellung hervor, daß es gegen die Verletzung gleichgültiger geworden sei.'.92 Der Uniformierung des Körpers entspricht die zunehmende "Maskenhaftigkeit" des Gesichtes, die durch Bartlosigkeit, Frisur und enganliegende Kopfbedeckungen gesteigert, bei "Männern einen stählernen, bei Frauen einen kosmetischen Eindruck erweckt.'.93 In der durch Uniformierung und Maskenhaftigkeit sich bezeugenden Einebnung und Erlöschung der Individualität und der individuellen "seelischen" Regung wird aber der Grundzug des Gestaltenwandels weg vom "Bürger" und hin zum "Arbeiter" offenbar. Gegenüber Kants Bestimmung des Menschen als "Zweck an sich selbst,,94 hat der Mensch innerhalb des totalen Arbeitsraumes seinen Anspruch auf individuelle Freiheit ebenso preiszugeben, wie den Anspruch, nie bloß als Mittel, sondern stets auch immer als Zweck behandelt zu werden. Innerhalb des totalen Arbeitsraumes erlischt hiermit das Ideal der freien, selbstverantwortlichen Persönlichkeit: Der "Freiheitsanspruch" des 91 Über den Schmerz, a. a. 0., S. 160. Im Zweiten Weltkrieg kam dieser Torpedo zum Einsatz. 92 93 94
S. 187.
Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 122. Vgl. den § 6 dieser Untersuchung.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
neuen Menschen löst sich darin ein, "Arbeitsanspruch" zu sein. Nur in dem Maße bestimmt sich seine Tätigkeit als "freie" Tätigkeit, insofern sie als "Arbeit" die Mobilisierung der Welt durchführt. Die Akzeptanz einer Tätigkeit, die Bereitschaft, ihr Subjekt zu erhalten, hängt daher von dem Maße ab, indem der Betreffende in sich und seiner Tätigkeit die "Gestalt" des Arbeiters zur Darstellung bringt, so dem Geiste in seiner Tätigkeit entspricht, der "die Maschinen schafft".95 Diese gewandelte Bedeutung des Menschen hat seinen Grund in der Weise, in der er innerhalb des technischen Raumes der "Legitimation eines neuartigen und besonderen Willens zur Macht" zu dienen hat. Innerhalb dieses Raumes, wie innerhalb der Vergegenständlichung des naturwissenschaftlich-technischen Denkens überhaupt, wird der individuelle Freiheitsanspruch zur Illusion, hiermit das Ideal der freien, selbstverantwortlichen Persönlichkeit zur wissenschaftlich nicht haltbaren, weltfremden Fiktion. Innerhalb dieses totalen Arbeitsraumes ist der "neue Mensch" daran zu erkennen, daß ihm und seiner "Haltung" ein "wirkliches Verhältnis zur Macht" gegeben ist. Sie gibt sich darin zu erkennen, "daß sie den Menschen nicht als Ziel, sondern als Mittel, als den Träger sowohl der Macht wie der Freiheit begreift".96 (Hervorhebungen v. mir) Ein weiterer Bereich, in dem die Vergegenständlichung des Menschen und in einem hiermit die Charakteristik, bloßes Mittel zu sein, besonders deutlich hervortritt, ist die moderne Medizin. Kennzeichnend für deren Verhältnis zum Schmerz und zum Menschenleib ist die Narkose: Indem sie von dem Schmerz befreit, verwandelt sie doch zugleich "den Körper in ein Objekt, das dem mechanischen Eingriff in der Art eines leblosen Stoffes offensteht.,,97 In einem etwa ein Jahr später verfaßten Brief an den Bruder Friedrich Georg führt Ernst Jünger diese Erfahrung weiter aus: "Das Geheimnis unserer Medizin liegt darin, daß ihr im Grunde an der Heilung nicht gelegen ist. Ihr kommt es auf ganz andere Dinge, vor allem auf Steigerung der Arbeitsleistung, an. Auch ist zu bedenken, daß die Aufteilung und Vergesellschaftung des Arbeitsvorgangs den ganzen Menschen nicht mehr braucht (... ). Entsprechend sieht man den Grad der Technizität, die dem Kranken gegenüber zur Anwendung kommt und zu dem die Naturheilkunde die romantische Begleitmusik spielt, anwachsen. An manchen Stellen nehmen die Eingriffe mit der Art, in der man Maschinen behandelt, verblüffende Ähnlichkeit an. So konnte ich neu95 Es wäre von Interesse, zu untersuchen, inwiefern heute die Anschaffung eines technischen Gerätes darüber entscheidet, ob eine bestimmte Tätigkeit oder ein bestimmter Mensch "sozial akzeptiert" ist; ferner, wie eine an sich verfemte Handlung, wie die Tötung eines Menschen, mildernden Gesichtspunkten unterliegt, wenn sie im Zusammenhang mit der Bedienung einer technischen Apparatur unterläuft, so z. B. im Straßenverkehr. 96 Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 74. 97 Über den Schmerz, a.a.O., S. 188.
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lieh in Berlin große, als Schneidebrenner wirkende Apparate bewundern, mit denen das Fleisch der Patienten nach Art der Panzerplatten behandelt wird. ( ... ),,98
Wie Jünger weiter ausführt, läßt sich die Vergegenständlichung des Menschen besonders auch an der Bedeutung demonstrieren, die die "Einspritzung" gewonnen hat, dem "idealen Mittel" in Verhältnissen, "in denen weder die Ärzte noch die Kranken Zeit haben." Überhaupt ist für Jünger das Gesundheitswesen - neben dem Krieg, der Wissenschaft und der Großstadt - einer jener Bereiche, in denen der Gestaltenwandel vom "Bürger" zum "Arbeiter" besonders klar zu zeigen ist: "Die Ärzte, noch vor fünfzig Jahren oft große Herren mit Kutscher und Köchin, empfangen uns heute in weißleinenen Monteurkitteln und in ihren Laboratorien, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Die Krankenkassen haben sie zu Angestellten gemacht, und der Staat vollendet den Vorgang, indem er sie zu Arbeitern macht, als welche sie eo ipso zugleich Soldaten sind.,,99
Die Auslegung des Schmerzes bei Jünger hat seine Ausrichtung darin, daß der Schmerz gegenüber der Schmerzverdrängung der "bürgerlichen" Welt in seiner unerbittlichen, die Illusionen der "bürgerlichen" Welt und ihren Luxus entkleidenden Bewegung zutage tritt. Dem entspricht die Konzeption eines neuen Menschen, der sich dem unerbittlichen Zugriff des Schmerzes gewachsen zeigt. Gegenüber dieser Auslegungstendenz des Schmerzes bei Jünger stellt sich jedoch die unausweichliche Frage, ob hiermit schon der Schmerz als solcher in seinem existenziellen Rang erfahren und zugelassen wird? Diese Frage ist zu verneinen. In seinem existenziellen Rang als eine Möglichkeit des Seinsverständnisses wird der Schmerz nicht erfahren, denn seine Erfahrung steht von vornherein im Sichtkreis der Vergegenständlichung des menschlichen "Körpers", der durch diese Vergegenständlichung gestählt und so dem Willen zur Macht gemäß werden soll. Im Schatten der Weltauslegung als "Wille zur Macht" und "Arbeit" stehen dann auch die Ausführungen über den "Seelenschmerz" , der als eine "der niederen Arten des Schmerzes" auf das unterlassene Opfer hinweist, und die "Langeweile", die nichts anderes ist als die "Auflösung des Schmerzes in der Zeit. ,,100 Obwohl der Schmerz als das Stählende einer Stählung der Totalen Mobilmachung dient, hat er doch ganz und gar die Charakteristik eines Negativums: Der Wille bedarf des Schmerzes zur Stählung und diese Stählung bestätigt sich in der Abwehr des Schmerzes. Eine gewandelte und wesentlichere Erfahrung Jüngers mit dem Schmerz als dem Befreier verborgener Kraft98 Myrdun, Briefe aus Norwegen. Mit Zeichnungen von Alfred Kubin. Stuttgart 1975. Brief vom 5. August 1935, S. 46 f. 99 Myrdun, S. 47. 100 Über den Schmerz, a.a.O., S. 156.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
quellen zeigt sich bei ihm nicht zufällig in einem späteren Essay, das man als Gegenentwurf zu der früher vertretenen Position bezeichnen könnte: "Der Reichtum des Menschen ist unendlich größer, als er ahnt. Es ist ein Reichtum, den niemand ihm rauben kann und der im Lauf der Zeiten auch immer wieder sichtbar anflutet, vor allem, wenn der Schmerz die Tiefen aufgegraben hat.,,101
§ 12 Gerhard Ritters historistische Lehre
von der "Dämonie der Macht" und Heideggers Einblick in das seinsgeschichtliche Wesen der Macht Schon im § 9 der Untersuchung, in dem die Erfahrung des Einbruchs des Maschinenwesens in das Reich der Sprache behandelt wurde, stießen wir auf den eigentümlichen Sachverhalt der Erfahrbarkeit dieses Einbruchs als einem übermächtigenden Geschehen. Diese übermächtigende "Macht" zeigt sich darin, daß sie dem Einzelnen Erwerb und Gebrauch technischer Apparaturen aufdrängt. Dieses Sichaufdrängen geschieht unter dem Anschein des freiwilligen Erwerbs und der freiwilligen Ingebrauchnahme, welcher Anschein umso täuschender wirkt, als mit dem Besitz eines technischen Gerätes gewöhnlich ein Wachstum an individueller Verfügungsfreiheit über Seiendes, mithin ein Wachstum an persönlicher Macht verbunden ist. Zwischen beiden Strukturmomenten der Übermächtigung, dem Sichaufdrängen durch die Öffentlichkeit und der wachsenden Verfügungsrnacht des sich diesem Sichaufdrängen Fügenden über das Seiende im Ganzen besteht ein strukturaler Zusammenhang, wie im § 10 an Hand der Auslegung einer Textstelle von "Sein und Zeit" gezeigt werden konnte. 102 Indem sich der Einzelne dem "Man" - also dem Subjekt der Öffentlichkeit - gegenüber als fügsam erweist, nimmt er zugleich Teil an dieser besonderen Gestalt der Herrschaft der Subjektivität, an welcher teilhabend er in den Genuß einer erweiterten Verfügungsrnacht über Seiendes gelangt - so durch den Erwerb eines Kraftfahrzeugs oder eines Fernsehgeräts oder eines Internet-Anschlusses. Der strukturale Zusammenhang zwischen dem Sich-Unterwerfen unter die "Autorität" der Gemeinplätze und dem aus dieser Unterwerfung verfügten, übermächtigenden Sich-Werfen auf das andrängende, vergegenständlichte und eingeebnete Seiende bleibt dem alltäglichen Daseinsvollzug zunächst und zumeist verhüllt: Macht ist zunächst nur als Verfügungsrnacht über daseinsmäßiges und nichtdaseinsmäßiges Seiendes erfahrbar. Der gän101 Der Waldgang. Erstmals 1951. Abgedruckt in: Sämtliche Werke Bd. 7, S. 281371, S. 370. 102 Sein und Zeit, S. 177. Vgl. oben S. 141 der Untersuchung.
§ 12 Gerhard Ritters historistische Lehre von der "Dämonie der Macht"
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gi ge Machtbegriff, der immer dann gebraucht wird, wenn von "Macht" die Rede ist, ist daher ein ontischer Machtbegriff, der ein Verhältnis zwischen Seiendem begreifen will. Um den grundlegenden Unterschied zwischen dem im Alltagsgebrauch einzig bekannten ontischen Machtbegriff und dem seinsgeschichtlichen Machtbegriff darzulegen, soll vorerst eine Textstelle aus der ParmenidesVorlesung nochmals herangezogen werden: Dort sagt Heidegger über die "Maschine": "Sie entzieht dem Menschen den Wesensrang der Hand, ohne daß der Mensch diesen Entzug gebührend erfährt und erkennt, daß sich hier bereits ein Wandel des Bezugs des Seins zum Wesen des Menschen ereignet hat. ,"03 (Hervorhebung v. mir)
Bisher wurde der entscheidende Begriff, den Heidegger hier einführt, nicht weiter erörtert, da es innerhalb des § 9 der Untersuchung noch allein um die Frage ging, inwiefern der Mensch in seiner "leibhaften Existenz" in seinem, dem ihm einzig möglichen, dem leibenden Existenzvollzug von dem metaphysischen Wesen der Modemen Technik in Anspruch genommen und in der Entfaltung seiner existenziellen Möglichkeiten umdroht und beschnitten wird. Dort zeigte sich aber schon das bedeutsame Phänomen, daß die Bedrohung, die Heidegger im Blick hat, nicht von der Apparatur als solcher ausgeht, deren Gebrauch nicht schon als bloßer Gebrauch von existenziellen Möglichkeiten fortführt, sondern aus dem "Bezug des Seins zum Wesen des Menschen" herrührt: Noch nicht in dem bloßen Gebrauch, aber in der "Herrschaft" der Maschine offenbart sich ein Entzug, der wiederum auf einen Wandel des Bezugs des Seins zum Wesen des Menschen verweist. Das "herrschaftliche" Wirken der Maschine zeigt sich zumal in dem rätselhaften Druck und öffentlichen Zwang, eine bestimmte technische Apparatur zu erwerben und in Gebrauch zu nehmen. Dieses "herrschaftliche" Wirken zeigt sich aber auch darin, daß die Maschine dem Gebrauch bestimmte Verhaltungen abzwingt und diktiert, die sich mit Blick auf die leibliche Struktur der Existenz als Entzug und Schwund beschreiben lassen. So zeigt nicht bloß die Umstellung von der individuellen Hand- zur Maschinenschrift, sondern jedes Aufgehen eines Handwerkes in einer soviel leistungsfähigeren Industrie einen Entzug des Werkes von der handelnden Hand und damit von der leiblich-leibenden Existenz: Die Existenz empfangt sich nicht mehr in ihrem leiblich-selbsthaften Vollzug aus der Werkwelt, sie wird innerhalb dieser nicht mehr als solche in ihrem Erschließungssinn zugelassen, indem der Industriearbeiter zur bloßen, jederzeit austauschbaren "Nummer" geworden ist. Die Produkte der Industrie lassen die 103
Parmenides, GA Bd. 54, S. 126.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
werkschaffende Existenz nicht mehr aus sich "sprechen", wie das noch bei handwerklich erzeugten Dingen der Fall sein kann.
In Heideggers phänomenologischem Sehen zeigt sich das übermächtigende Walten der Herrschaft der Maschine schon in dem Entzug des Ranges der Existenz durch die Bedienung der sich aufdrängenden Apparatur, also nicht, wie bei Marx, erst innerhalb eines die technische Arbeit als solche unhinterfragt gelten lassenden Zurückführens der "Entfremdung" auf ein ökonomisches Ausbeutungsverhältnis. Bei den mannigfaltigen ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen handelt es sich noch nicht um den ursprünglichen Grund der "Entfremdung" des Menschen von seinem wesentlichen Selbstseinkönnen. Dieser wird erst in der Art und Weise offenbar, wie sich im Prozeß der Technisierung des Daseinsvollzugs bereits, allen ontischen Ausbeutungsverhältnissen voraufgehend, "ein Wandel des Bezuges des Seins zum Wesen des Menschen ereignet hat."I04 Dieser Begriff, das "Ereignis" muß ganz in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, handelt es sich doch, einem Selbstzeugnis des Denkers zu Folge, um das "Leitwort" des seinsgeschichtlichen Denkens, innerhalb dessen die Frage nach der Technik und die Frage nach dem Menschen in ihrem inneren Zusammenhang aufbrechen und zum Austrag kommen. I05 Das ontische Ausbeutungsverhältnis, als ökonomische Konkretion eines ontischen Machtverhältnisses, erscheint im Lichte dieses Begriffes, des Ereignisses der Wahrheit des Seins, als ein abkünftiges Verhältnis: Alle Machtverhältnisse innerhalb und zwischen Seiendem währen als abkünftige, ontische Bezüge aus einer Herkunft. Wie bestimmt sich diese dunkel und geheimnisvoll anmutende Herkunft, aus welcher herkommend die konkreten, scheinbar in sich selbst gegründeten Machtverhältnisse zwischen Seiendem sich wandelnd in ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit entfalten? Wird hier eine blind-waltende Schicksalsmacht unterstellt und die Beteiligung des Menschen an dem Geschehen der Wahrheit des Seins, mithin 104 Martin Heidegger, Pannenides GA 54, S. 126 (Hervorhebung v. mir). Zu dieser Stelle aus der Pannenides-Vorlesung vgl. auch oben § 9, S. 115 der Untersuchung. Zur "Entfremdung" vgl. grundlegend die bereits zitierten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte. In: K. Marx, F. Engels Gesamtausgabe (MEGA) Bd. 1.2., Karl Marx, Werke - Artikel - Entwürfe März 1843-August 1844. 105 Vgl. die höchst bedeutsame Randbemerkung Heideggers aus einem Handexemplar zu dem Humanismusbrief, die allerdings nicht in der bisher zitierten Einzelausgabe, sondern nur in den "Weg marken" verzeichnet ist, wo der Brief abgedruckt ist. Vgl. Wegmarken, S. 316 zu dem Satz des Briefes: "Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört." Unten "a": "Nur ein Wink in der Sprache der Metaphysik. Denn ,Ereignis' seit 1936 das Leitwort meines Denkens."
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seine Möglichkeit, Lebens- und Arbeitswelten im Zusammenhandeln mit dem Mitdasein "frei" und "human" zu gestalten, vollkommen verworfen? Wie muß - aus dem "Ereignis" erfahren - menschliche Freiheit und Verantwortung bestimmt werden, nicht zuletzt auch mit Blick auf das den Menschen umgebende nichtdaseinsmäßige Seiende, die "Natur"? Diese Fragen mögen einer Beantwortung näher rücken, wenn wir den seinsgeschichtlichen Begriff der Macht in Abgrenzung zu dem ontischen Machtbegriff - wie ihn u. a. der Historiker gebraucht - zur Entfaltung bringen. Hierbei entfalten wir einen Begriff, der ein ganz bestimmtes, geschichtlich waltendes Ereignis der Wahrheit des Seins benennt. Jenes Ereignis der Wahrheit des Seins, das Heidegger die "Macht" nennt, ist dasjenige Ereignis, aus welchem her sich gegenwärtig der Wandel des Bezuges des Seins zum Wesen des Menschen ereignet. Es ist des selben Wesens mit demjenigen Ereignis der Wahrheit des Seins, das Heidegger später das Wesen der Modemen Technik, das "Gestell" nennen wird. Innerhalb jenes Ereignisses zeigt sich dem phänomenologischen Sehen der machtende und stellende Bezug der Wahrheit des Seins zugleich als ein Entzug, als ein Schwund an ursprünglichen existenziellen Möglichkeiten, der darin kulminiert, daß das Sein des Seienden nur noch im Blickfeld des technischen Vorstellens als "Bestand" erscheinen kann. Ein derart vorgestelltes und herausgefordert-entborgenes Seiendes ist in besonderer Weise auch der Mensch, als das seins verlassene Dasein, der nun als "Menschenmaterial" nutzbar gemacht wird, wobei die Nutzbarmachung in die Vemutzung, selbst i. S. eines gezielten Verbrauchs unerwünschter Bevölkerungsgruppen einmünden kann. 106 Halten wir fest: Der Wandel des Bezugs des Seins zum Wesen des Menschen geschieht in der Weise des Ereignisses der "Macht", als der gewandelten Offenbarkeitsweise des Seins. Das Ereignis der "Macht" verwandelt, indem es als der geschichtlich waltende Bezug des Seins zum Wesen des Menschen das Sein des Seienden in besonderer Weise offenbart, in einem hiermit alle ontischen Bezüge der konkreten Machtverhältnisse der Menschen untereinander und zu dem nichtdaseinsmäßigen Seienden. Die grundlegende Unterscheidung zwischen dem ontischen Machtbegriff des alltäglichen Sprachgebrauchs wie auch der Wissenschaft, und dem seinsgeschicht106 So ist das Großprojekt der SS der "Vernichtung durch Arbeit" zweifellos ein Versuch gewesen, den an sich ungemein nachteiligen Massenmord ökonomisch zu gestalten. Das selbe gilt für die Ausbeutung des Zahngoldes der Ennordeten und das grotesk-makabre Unterfangen, Leichenteile zu Gebrauchsgegenständen zu verarbeiten. Eine andere Weise des gezielten Verbrauchs war bekanntlich der wissenschaftlich und medizinisch motivierte Menschenversuch. Dem entspricht ein Wandel im Selbstverständnis des Arztes, wie es in der Fonnel "Heilen und Vernichten" zum Ausdruck kommt.
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lichen Machtbegriff des Denkens erscheint trotz diesen Ausführungen noch recht abstrakt und nichtssagend. Wenden wir uns daher einer Textstelle Heideggers zu, in der dieser Unterschied zur Grundlage eines fast polemisch anmutenden Angriffs gegen eine bestimmte, rekonstruierbare, ontische Auffassung der Macht erhoben wird. Die Aufzeichnung findet sich innerhalb der "Geschichte des Seyns", also in einem ursprünglich nicht für die Veröffentlichung vorgesehenen Textkonvolut, das in seinem fragmentarischen Charakter an die "Beiträge zur Philosophie" erinnert, mit denen es in engem sachlichen Zusammenhang steht, indem es die dort innerhalb der Ersten Fuge, des "Anklangs" erstmals erfahrene Seinsverlassenheit des Seienden seinsgeschichtlich entfaltet und aus der Seinsvergessenheit des abendländischen Denkens zu deuten unternimmt. Dieser besondere Charakter des Textes, der vornehmlich für den Eigengebrauch bestimmt war, mag eine gewisse "Ruppigkeit" der Ausführung entschuldigen. Innerhalb des in sich zusammenhängenden Teils VI. des Textes, in dem das seinsgeschichtliche Wesen der Macht in dreißig Abschnitten abgehandelt wird, stoßen wir auf den knappen Abschnitt 63, der von Heidegger mit der Überschrift versehen wurde: "Dämonie der Macht", woraus schon ersichtlich ist, daß es sich um ein Zitat handelt: ,,( ... ) Die Rede von der "Dämonie der Macht" setzt voraus, daß die Macht "eigentlich" und "natürlich" berechtigt und in gewissen Grenzen nötig sei, nur müßte sie eben sittlich gebunden und geleitet werden.,,107 Heidegger kritisiert die "flache Gleichsetzung" der ontisch ausgelegten "Macht" mit der "Gewalt" (von Heidegger in Anführungszeichen gesetzt), deren "Dämonie" angeblich dann ausbräche, wenn die sittliche Steuerung wegfiele. Für ihn ist die "Hilflosigkeit" dieser Kennzeichnung der Macht bezeichnend für "die üblichen Schulmeisterurteile der Historiker über die Geschichte.,,108 Bei der von Heidegger beurteilten Auffassung der Macht handelt es sich um eine besondere, ontische Auffassung der Macht: Diese historische Auffassung von der Macht beschränkt sich auf die Macht von Seiendem über Seiendes; sie hat die ontische Macht zum Gegenstand. Diese ontische Macht hat scheinbar den Charakter einer anthropologischen Konstante. Sie gehört dem Bereich des Politischen von jeher an. Ihre Heimat ist der Staat.
In seiner berühmten Methodenlehre, der "Historik" knüpfte Droysen an Hegels Bestimmung des Staates als der "Wirklichkeit der sittlichen Idee" und der "Wirklichkeit des substanziellen Willens,,109 an und nimmt zugleich auf die altrechtliche, gewachsene Aufgabe der Schutz- und Schirm107 Martin Heidegger, Die Geschichte des Seyns. Gesamtausgabe Bd. 69. Hrsg. v. Peter Trawny. Frankfurt am Main 1998, S. 79. 108 Ibd.
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gerechtigkeit Bezug, die historisch betrachtet der Begründung des neuzeitlichen Staates vorausging und doch auch dessen theoretische Legitimation noch beeinflußt hat. Droysen gibt sodann eine indirekte Definition der Macht im ontischen Sinne, die ihrer großen Klarheit wegen zitiert sei: "Im Leben des Staates (... ) ist die Macht so das wesentliche, wie im Bereich der Familie die Liebe, im Bereich der Kirche der Glaube, im Bereich der Kunst das Schöne usw. In der politischen Welt gilt das Gesetz der Macht wie in der Körperwelt das der Schwere. (... ) Nur der Staat hat die Befugnis und die Pflicht Macht zu sein.,,110 Die Macht wird von Droysen als der eigenste Tätigkeitsbereich, die Sphäre des Waltens des Willens subjektes "Staat" begriffen. Dort machtet die Macht analog den Gesetzen der Physik. Indem aber nur dem Staate die Qualität, Macht zu sein zukommt, werden die anderen Bereiche zugleich in ihn miteinbezogen; er umfaßt diese, unterstellt sie seiner "Obhut und Verantwortlichkeit". Diese sittliche Idee des Staates (d.h. der Macht) sieht Droysen von dem "rohen" "adversus hostem aeterna auctoritas esto" über rechtliche Bindungen zwischen Staaten und friedlichem Handelsverkehr bis hin zu der Gründung von Staatenbündnissen und schließlich einem "Weltstaatensystem" im sittlichen Forschreiten der Menschheit sich verwirklichen. 111 Mit dem Wandel des Gewaltstaates hin zur Verwirklichung der sittlichen Idee geschieht zugleich die Verwirklichung von Freiheit. Gegenüber Droysens "optimistischer" Bestimmung der Macht, die das neuzeitliche Staats subjekt in Verbindung bringt mit der antik-christlichen Wesensbestimmung des Menschen als animal sociale und einem "verweltlichten" Heilsdenken, steht Burckhardts "pessimistische" Bestimmung der Macht: ,,(Die Macht) ist an sich böse, gleichviel, wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.'.! 12 Wo könnte der Gegensatz bei der Positionen seine Grundlage haben? Es ist nach allem über die geschichtsbestimmende Kraft der Wesens bestimmung des Menschen als "animal rationale" Gesagten unschwer einzusehen: Die Stellungnahmen Droysens und Burckhardts spiegeln in ihrem Aus109 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 4. Auf!. 1955, §§ 257 f. Hervorhebung von Hege!. 110 Johann Gustav Droysen, Grundriß der Historik. Erstmals 1858. Hrsg. v. Erich Rothacker. Halle/Saale 1925, § 71 (76), S. 31 f. 111 Ibd. 112 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" neu hrsg. v. Peter Ganz, München (Beck) 1982, S. 302. Der Text wurde als Vorlesung in den Wintern 1868/69 und 1870171 in Basel gelesen und erst 1905 aus dem Nachlaß erstmals veröffentlicht. Ein begeisterter Hörer der Vorlesungen war der junge Nietzsche. 11*
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einanderklaffen gegenüber der historischen Realität der Macht die beiden Elemente wider, aus denen der Mensch als "Vernünftiges Lebewesen" metaphysisch zusammengesetzt ist: der Ratio (Vernunft) und der Animalitas, die Kant die "Tierheit" des Menschen nennt. Während Droysen, Hegel folgend, die Macht und somit in einem hiermit den Staat der Sphäre der Sittlichkeit und damit der Vernunft des "Vernünftigen Lebewesens" zuweist, erfährt Burckhardt das Wesen der Macht aus dem ungebändigten, wilden und gierigen Treiben der Tierheit des Menschenwesens. Droysen sieht in der Macht die Vernunft sich entfalten, während sein Schüler Burckhardt darin der unersättlichen, unglücklichen und somit Unglück stiftenden Begierde des Tiers gewahr wird. Es konnte gezeigt werden: Die scheinbar einander ganz fremden, entgegengesetzten und im Falle Burckhardts auch bewußt entgegnenden Positionen l13 vereinigen sich in ihrem gemeinsamen metaphysischen Ursprung: der Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale. Die aus dieser Wesensbestimmung des Menschen je so oder so abgeleitete Kennzeichnung der ontischen Macht hat in ihrer Bestimmung der Macht vom vorhandenen "Vernünftigen Lebewesen" her die Charakteristik dessen, was Heidegger die "Vermenschlichung des Seienden" genannt hat: Die Macht wird als ontischer Bezug, als ein Seiendes zwischen Seiendem vorgestellt und so vom metaphysisch gedeuteten Menschen her erfahren und - mißverstanden. 1 14 Innerhalb einer anthropomorphen, aus der unterschiedlich akzentuierten metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen unbewußt abgeleiteten Bestimmung der ontischen Macht verbleibt auch ein Charakterisierungsversuch der Macht, der nur scheinbar gegenüber den bei den genannten Positionen den Vorteil größerer Ausgewogenheit und Sachnähe für sich geltend machen kann. Gemeint ist die Lehre von der "Dämonie der Macht", die Heidegger vor Augen hat. 115 Diese Lehre wurde von dem angesehenen Freiburger Historiker Gerhard Ritter (1888-1967) vertreten und schließlich zum Thema eines Essays gemacht, dessen Abfassungszeit mit der Zeit der Entstehung der Aufzeichnungen der "Geschichte des Seyns" zusammenfällt: 116 dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Ausbreitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf nahezu ganz Europa. Beide Männer standen damals in einem zwar nicht freundschaft113 Burckhardt setzt sich in seinem von Thukydides und Schopenhauer beeinflußten Geschichtsdenken u. a. auch mit Hegel und dessen Schülern auseinander. Als Denker hat Burckhardt gegenüber Droysen, der stark an Hegel gebunden bleibt, weitaus höhere Selbständigkeit. 114 Besinnung GA 66, S. 159 ff. 115 Vgl. das Zitat oben, S. 162 der Untersuchung. 116 Der Text entstand, einer Angabe des Herausgebers Peter Trawny zu Folge, in den Jahren 1938/40.
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lichen, so doch kollegialen Verhältnis zueinander, das nicht zuletzt in der gemeinsamen Gegnerschaft zu dem Regime seine Grundlage hatte. 117 1945 ist Ritter, der als Regimegegner inhaftiert worden war, dann mit Erfolg bei den Besatzungsbehörden für die Belange Heideggers eingetreten. Der historische Essay Ritters trägt den Titel: "Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und MoruS.,,118 Gegenüber den Stellungnahmen Droysens einerseits und Burckhardts andererseits scheint Ritters Deutung der Macht eine gewisse Einseitigkeit der beiden großen Geschichtsschreiber zu vermeiden: Ist er doch um einen Ausgleich zwischen der "Dämonie der Macht" und einem "frommen Rationalismus" bemüht. Als Entdecker der "Dämonie" gilt ihm Machiavelli, der in seinem "Principe" (1516 vollendet) "die wilde, hemmungslose Gewalt der Leidenschaften" und die Umtriebe "menschlicher Selbstsucht" in ihrer "politischen Bedeutung" erkannt habe. 119 Diese "Einsicht" in das "Wesen des echten Machtkampfes" hat für Ritter geradezu "überzeitliche Gültigkeit". Als Vertreter eines "frommen Rationalismus" gilt ihm hingegen der englische Zeitgenosse Machiavellis, Thomas Morus, dessen "Utopia" ein frühes Beispiel für die träumende Vernunft ist. Zwischen beidem, dem im Sinne der Erasmischen Synthese von Renaissancehumanismus und Christentum erträumten, insularen Idealstaat und dem bei Machiavelli auf der Grundlage von dessen "nacktem naturhaften Menschenbildnis,,12o erkanntem "Wesen des echten Machtkampfes,,121 glaubt Ritter nun so etwas wie eine vermittelnde Synthese herstellen zu können. Gegen diesen Versuch 122 richtet sich der Einwand Heideggers: Die gängige Vorstellung einer Eingrenzung VOn Macht durch das Regulativ einer Moral, besonders einer christlich-humanitären Moral, wird der "Macht" nicht gerecht, weil sie innerhalb einer Auslegung der "Macht" als einer ontischen Beziehung zwischen Seiendem verbleibt. Diese Auslegung hält sich noch in einem Bereich auf, in dem die Herkunft der ontischen Macht unerfahren und unerfahrbar bleibt. Dabei braucht es sich nicht um die historisch-politische Vorstellung einer sittlichen Eindämmung staatlicher 117 Dank einem Hinweis von Herrn Professor Alexander HoJlerbach kann auf die Tagebücher Erik Wolfs hingewiesen werden, die Gespräche in einem Professorenzirkel u. a. zwischen Ritter und Heidegger bezeugen - so über Nietzsche (Sept. 40) und am 19. 12.42 ging es um Ritters Essay. 118 München und Berlin 1940. Der Essay erschien nach dem Krieg in mehreren, überarbeiteten Auflagen unter dem Titel: "Die Dämonie der Macht", der das Grundmotiv noch deutlicher hervortreten läßt. Diese Auflagen wurden um eine Schlußbetrachtung vermehrt. 119 S. 35. 120 S. 32. 121 Ibd. 122 S. 89-143.
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Machtbefugnis zu handeln - dieser noch aus der antik-christlichen Naturrechtstradition 123 herkommenden Idee entspricht im modemen staatsrechtlichen Denken das Konzept der "checks and balances", wo das Augenmerk weniger den theoretischen Grundlagen als der praktischen Eindämmung und Kontrolle staatlicher Macht - und nur dieser! - gilt. Der Wesensursprung der ontischen Macht bleibt all diesen gängigen Vorstellungsweisen verborgen. Sie tragen - und das ist für Heidegger essentiell - zu der Verbergung des Wesensursprungs der ontischen Macht sogar bei, indem sie diese für die eigentliche, unabkünftige Macht ausgeben und einseitig mit dem - in seiner metaphysischen Herkunft ebenfalls zumeist ungeklärten Staat in Zusammenhang bringen. Wird die ontische Macht aber aus ihrem Ursprung, dem Ereignis der Wahrheit des Seins erfahrbar, so wird der ontische Begriff der Macht, der die Möglichkeit und Notwendigkeit einer ebenfalls ontischen Limitierung der Macht durch Sitte, Recht oder Institution nahelegt, hinfällig, zumindest insoweit die Verwendung dieses Begriffs nicht von einem Wissen um die Herkunft getragen ist. Indem Macht bloß ontisch erfahren wird, verbleibt auch die Vorstellung der moralischen oder rechtlichen Bindung der Macht innerhalb einer ontischen Auslegung der "Moral" und des "Rechts", i. S. des Regulativs oder der Schranke. Von dort her klärt sich die Einschätzung der Moral als Flucht vor dem Sein: Der "Rückzug ins Moralische" vermag das der Macht gemäße Wahrheits wesen nicht zu ergründen, indem er sich der Täuschung einer Regulierbarkeit der ontisch ausgelegten, und somit mißverstandenen Macht durch eine maßgebliche, womöglich sogar "überzeitliche" moralische "Wahrheit" hingibt. 124 In einem hiermit vermag der "Rückzug ins Moralische" niemals das Wesen der Macht als ein seins geschichtliches Geschehnis zu ergründen. Müßte man also sagen, Heidegger sei "gegen" die Moral? Wenn auch die Äußerungen Heideggers über die "Kläglichkeit" des sterbenden Christentums, seine Enttäuschung über dessen Prostitution gegenüber den "unbedingten Machtpositionen,,125 des Faschismus und des Bolschewismus über den zeitlichen Kontext hinaus ernst genommen werden müssen, gilt es doch, seine Kritik des "Rückzugs ins Moralische" auf dessen Besinnungsebene zu heben, d.h. aber seinsgeschichtlich zu denken. Entscheidend für diese Ebene ist aber die Einsicht, von welcher her gesehen eine jegliche ontische Auslegung der Macht sowie die daran anknüpfenden 123 Vgl. hierzu die klassische Frage des Augustinus: "Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia; quia et latrocinia quid sunt nisi parva regna?" (De civitate Dei, !ib. IV, 4.) Die Frage ist allerdings, wie die Substanz dieser Erfahrung unter den gewandelten Bedingungen unserer Zeit zu bewahren ist. 124 Die Geschichte des Seyns, GA 69, S. 80. 125 Ibd.
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Vorstellungen des ebenfalls ontischen Regulativs in ihrer unbeholfenen Unzulänglichkeit offenbar werden: Das seins geschichtliche Wesen der "Macht" läßt das jeweils für "wahr" Geglaubte, Gewußte und Behauptete - so auch und gerade das "Wahre" i. S. des Rechts oder der Moral und Ethik, überhaupt nicht mehr als solches, als irgend wie Verbindliches, weil eben den Staat in seiner Gewaltausübung Verpflichtendes, gelten. Wie ist eine solche Verabschiedung und Auflösung aller verpflichtenden, normativen Geltungen möglich? Diese Auflösung aller tradierten Bindungen ist möglich, weil dem seinsgeschichtlichen Wesen der "Macht" eigentlich nur dasjenige "wahr" sein kann, was der "Macht" gemäß ist. "Nur das Machtgemäße" ist "wahr".126 Diese sehr treffende Beobachtung Heideggers meint: Ist das schrankenlose Machtwesen einmal zur Macht gelangt, so wird eine ethische oder eine rechtliche "Wahrheit", entsprechend eine "Wahrheit" im Bereiche der Kunst oder der Wissenschaften, nicht mehr als solche zugelassen, indem sie stets den Belangen der seinsgeschichtlich erfahrenen "Macht" untergeordnet wird. Wie geschieht nun aber diese Unterordnung? Die Unterordnung einer jeglichen "Wahrheit" geschieht durch deren Indienststellung für die Belange der "Macht". Diese bedarf zwar in einem besonderen Sinne noch der "Wahrheit"; aber, indem sie deren nun illusionären Anspruch für sich instrumentalisiert, bedient sie sich dieser zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung und Steigerung. Heidegger verweist auf Nietzsche, der dieses Wahrheitswesen "erkannt" habe. 127 Er verweist damit auf dessen Auslegung der "Welt" als "Wille zur Macht". Innerhalb dieser Bestimmung des Ganzen des Seienden verwandelt sich eine jegliche "Wahrheit" nach Maßgabe des "Willens zur Macht": Innerhalb des Sichtkreises des "Willens zur Macht" be mißt sich der Geltungsanspruch, man könnte auch sagen: die Legitimität des jeweils als "wahr" Propagierten danach, inwiefern dieses "Wahre", entsprechend der Auslegung der Welt als "Wille zur Macht", dem Machterhalt und der Machtsteigerung dient. Diese vorgängige Indienstnahme alles "Wahren" durch den "Willen zur Macht" ernötigt ein "Wahrheitswesen", dem gemäß "das Wahre" auch ruhig "das Falsche" sein kann und sogar das Falsche sein muß. 128 Ist einmal dieses "Wahrheitswesen" im Sinne des "Wahren" als des jeweils Machtgemäßen zur Macht gelangt, so muß alles Messen der Macht an einem ihr übergeordneten Maßstab als Frevel erscheinen. Als Substanz alles Seienden erhebt die "Macht" den Anspruch, über alle Maßstäbe zu verfügen, sie sich unterzuordnen oder sie zu zerbrechen, wenn sie sich nicht ihrem Gewaltwesen unterordnen und dienstbar machen lassen. 126 127 128
Die Geschichte des Seyns, GA 69, S. 80. Ibd. Ibd.
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Wenn auch der von Heidegger gesehene Sachverhalt Erfahrungen mit den Propagandabewegungen totalitärer Systeme bezeugt, so läßt sich doch das dergestalt Erfahrene und Beschriebene nicht auf diesen Bereich des Waltens der "Macht" einschränken. !29 Überall da, wo im Bereich der Kunst oder im Bereich der Wissenschaft die Frage im Vordergrund steht - ob sich das "auszahlt"? - ist dieses "Wahrheitswesen" unerfahren am Walten: Indem die Vermarktbarkeit, z. B. von einer Sprachwissenschaft, wenn nicht zum alleingültigen so doch zum letztentscheidenden Kriterium erhoben wird für das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung dieser Tätigkeitsund Forschungsbereiche, so ist das "Wahrheitswesen" im Sinne des Willens zur Macht am Walten und in Kraft und Geltung. Wie im folgenden § 13 weiter ausgeführt wird, hat dieses "Wahrheitswesen" einen extremen Schwundcharakter in Hinblick auf die eigenste, ursprüngliche Erfahrungsmöglichkeit der Offenheit des Seins, wie sie zumal in den Bereichen des Künstlerischen Schaffens noch immer geschehen und zum Austrag kommen kann.!30 Wird die Wissenschaft, als "Geistes"- wie als Naturwissenschaft, darauf reduziert, ihre Legitimation, ihr Lebensrecht, von dorther zu beziehen, in irgendeiner Weise nützlich zu sein - sei es für die "Volksgemeinschaft", sei es für die "Wirtschaft,,!3! - so wird die ihr ursprünglich gemäße Würde als eigenständige, über das Seiende erstaunende Zugangs- und Bewahrungsweise des Seienden niedergeschlagen zum Vorteil der Eingliederung der Wissenschaften in das Gemächte des Willens zur Macht, der seinsgeschichtlich erfahren nur noch sich selber will und so als der "Wille zum Willen" west. Der eigentliche Sinn der Kritik Heideggers an Ritters Lehre von der "Dämonie der Macht" wird noch deutlicher, wenn wir unser Augenmerk auf diejenige wissenschaftliche Haltung richten, die Heidegger den "Historismus" nennt: Dieser Begriff hat zwar eine gewisse Affinität mit dem wissenschaftsimmanenten Begriff des "Historismus", wie in Friedrich Meinecke gebrauchte,132 muß aber bei Heidegger - wie in bezug auf Nietz129 In diesem Zusammenhang muß auf ein Buch hingewiesen werden, das die Grundsatzlosigkeit und den unvermittelten Wechsel in der Propaganda des NS-Regimes als Kennzeichen einer "nihilistischen Revolution" beschrieben hat. Vgl. Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus: Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich. 5. erg. u. verb. Auf!. Zürich 1938; neu hrsg. v. Golo Mann, Zürich 1964. Als ehemaliger NS-Politiker, der 1936 erst in die Schweiz und dann nach den USA emigrierte, wo er als Farmer lebte, verfügt Rauschning über profunde Kenntnisse des Innenlebens des Regimes. 130 Vgl. hierzu den Satz des Denkers am Ende des Vortrags "Die Frage nach der Technik" (1953): "Je fragender wir (... ) das Wesen der Technik bedenken, desto geheimnisvoller wird das Wesen der Kunst." Die Technik und die Kehre, S. 36. 131 Je nachdem, wie das Subjekt des "Willens zur Macht", bzw. des "Willens zum Willen" angesetzt wird!
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sches "Willen zur Macht" - als seinsgeschichtlicher Begriff, d.h. als ein aus dem Ereignis zu denkender Inbegriff ausgelegt werden. Die Auseinandersetzung mit demjenigen Sachverhalt, den Heidegger seins geschichtlich unter dem Begriff des "Historismus" denkt, steht im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem "machenschaftlichen" Wesen der modemen Wissenschaft, die die Seinsverlassenheit des Seienden betreibt. Die philosophische Betrachtung der "Historie" nimmt dabei, wie nicht zuletzt der Freiburger Habilitationsvortrag aus dem Jahre 1915 belegt,133 von Anfang an eine zentrale Stellung im Denken des Phänomenologen ein, die nicht zuletzt auch in "Sein und Zeit" nachgewiesen werden kann. 134 Eine ausführliche seinsgeschichtliche Behandlung erfährt die modeme Geschichtswissenschaft in dem unter dem Titel "Besinnung" veröffentlichten Textkonvolut, das in den Jahren 1939/40 entstanden, wie "Die Geschichte des Seyns" in engem sachlichen Zusammenhang mit den "Beiträgen zur Philosophie" steht 135 , innerhalb deren sechsfach gefügten Aufrisses sich auch die Frage nach dem seinsgeschichtlichen Zusammenhang von "Historie und Technik" entfaltet. 136 Für den Blickbereich der Historie (bzw. des "Historismus") ist kennzeichnend, daß sie, indem sie das Vergangene auf die Bedürfnisse des Gegenwärtigen hin verrechnet, sich gerade abwendet von der Geschichte im wesentlichen Sinne: der Geschichte der Wahrheit des Seins. Diese verrechnende Verfallenheit an das Vergangene, die dieses für die Bedürfnisse des Heutigen zurechtmacht, konstituiert sich in der Verfestigung alles Bezugs zum Vergangenen im "Subjectum".137 "Subjekt" in diesem Sinne wird nicht allein der Wissenschaftler oder die Wissenschaft sein, die sich ihren historischen Gegenstand "vorstellt" und hieraus ihre "Objektivität" bezieht. Als Subjekt kann auch z. B. das Volk oder die Nation oder auch eine Klasse Ausgebeuteter fungieren, deren politischen Belangen die jeweilige Historie dient. Indem die neuzeitliche Ontologie der Subjektivität die unhinterfragte Grundlage des geschichtswissenschaftlichen VorsteIlens und seiner Grundbegriffe (z. B. Volk, Rasse, Nation, Klasse, Wirtschaft usw.) bildet, ist ihr die Möglichkeit genommen, über die Subjektivität als solche nachzudenken. 132
1936.
Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus. München, 1. Aufl.
133 Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft. Vortrag zur Erlangung der Venia Legendi vom 27. Juli 1915 vor der Philosophischen Fakultät in Freiburg. Abgedruckt in: Frühe Schriften. Frankfurt am Main 1972, S. 355-375. 134 Sein und Zeit, Zweiter Abschnitt, Fünftes Kapitel, §§ 72-77. 135 Besinnung, Gesamtausgabe Bd. 66. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt am Main 1997. 136 XII. Teil des Textkonvoluts, S. 179-184. 137 S. 183.
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Die Subjektivität bleibt für den Historiker in den mannigfaltigsten Gestalten die selbstverständlichste und daher als solche verborgende Grundlage aller klassifizierenden und verknüpfenden Ausrichtungen auf das Vergangene. So setzt das dem Historiker selbstverständliche Verfahren des Forschens nach Ursachen und Zusammenhängen zwischen historischen Vorkommnissen, Ideologemen und "Mentalitäten", als ein kausalanalytisches Verfahren des Erklärens aus Gründen, die Vergegenständlichung des Vergangenen und damit die "Verfestigung alles Bezugs zum Seienden im Subjectum,,138 voraus. Diese metaphysische Grundlage der Geschichtswissenschaft bleibt dem Historiker jedoch zunächst und zumeist verhüllt. Die unerfahrene Fesselung an diese Grundlage zeigt sich u. a. in der großen Schwierigkeit der Historie, vormoderne Herrschafts- und Lebensformen in ihrer Besonderheit zu verstehen. So hat die modeme Vorstellung des Staatssubjektes, dem eine von ihm unterschiedene Gesellschaft als "Objekt" gegenübersteht, über hundert Jahre die Mediaevistik und die Verfassungsgeschichtsschreibung irregeleitet. 139 Die Einsicht Heideggers in die metaphysischen Voraussetzungen der Historie bringt aber auch Licht in den unübersehbaren Sachverhalt der "Hilflosigkeit" der herkömmlichen Geschichtswissenschaft angesichts totalitärer und radikal nihilistischer Erscheinungen moderner Machtausübung, die in ihrem Sichtkreis, den Vorstellungen von Staatsgewalt und Mißbrauch derselben - z. B. infolge der "Dämonie der Macht" - einfach nicht geklärt werden können. 140 Geradezu symptomatisch für die Hilflosigkeit des Historikers sowohl gegenüber dem Alten wie gegenüber dem Neuen ist Ritters Identifizierung der nationalsozialistischen "Erziehung" zur Volksgemeinschaft mit Machiavellis Ideal der politischen "virtu" und seine noch erIbd. 139 Vgl. hierzu grundlegend: Emst-Wolfgang Bäckenfärde. Die verfassungs geschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder. Universitätsdissertation, Berlin 1961. Die Auflösung der "zeitgebundenen" Behandlung der am liberal-rechtsstaatlichen Staatsbegriff ausgerichteten Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die wegweisende "Volksgeschichte" Duo Brunners verbleibt jedoch innerhalb der Verankerung alles Bezugs zum Seienden in der neuzeitlichen Subjektivität. Diese nimmt jetzt im Rahmen eines dezidiert politischen Wissenschaftsverständnisses das "Volk" als der "Träger der Geschichte" ein. Vgl. hierzu die das Bild des mittelalterlichen "Staats" radikal verwandelnde Untersuchung von Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der Territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Erstmals 1939. Wien 5. Aufl. 1965. 140 Es ist daher bezeichnend, daß die sachgerechte Erarbeitung dieser Formen der Machtausübung nicht von einem Historiker durchgeführt wurde, sondern im Rahmen einer an dem Denken Hegels und Heideggers geschulten Wissenschaft des Politischen. Vgl. Hannah Arendt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Erstmals unter dem Titel: "The Origins of Totalitarianism", New York 1951. München 2. Aufl. 1991. 138
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schreckendere Vergleichung dieser "Volksgemeinschaft" mit dem antiken Stadtstaat (!).141 Diese schiefen Vergleiche schöpfen ihre Motiviation aus einem ganz ungeschichtlichen Insistieren auf das Außergeltungsein christlich-sittlicher Maßstäbe, die in dem einen Fall (antike Polis) noch nicht, in dem anderen Fall ("Volksgemeinschaft") eben nicht mehr in Geltung sind. So haben wir es also hier wie dort scheinbar mit Herrschaftsformen zu tun, die, indem sie des für das Abendland charakteristischen, "doppelpoligen", kirchlich-säkularen Erscheinungsbildes entbehren, ganz offensichtlich schon "vergleichbar" sind! Die methodische Voraussetzung dieser scheinbaren Ver-gleich-barkeit liegt, wie Heidegger gegenüber Ritter einwendet, in der formalen Gleichsetzung von "Macht" und "Gewalt".142 Diese "Macht" erscheint dann - so wie analog die Gesetze der Physik theoretisch stets die selben bleiben immer als die gleiche Gewalt, sei es die eines antiken Stadtstaats, sei es die des Renaissancedespoten im Sinne des "Principe" Machiavellis, sei es die der Erscheinungsformen moderner Staatlichkeit. Heidegger nennt diese einebnende, nivellierende Behandlung der ontischen Macht auch ein "Ausweichen vor der Geschichte".143 Als verfallende Verlorenheit an das historisch Seiende, das Vergangene, das von der Gegenwart aus "bespiegelt" wird, einem scheinbar sehr geistreichen und interessanten Verfahren, bleibt die Herkunft aller ontischen Machtverhältnisse, die Herkunft auch der "Ereignisse" im Rankesehen Sinne, verhüllt. Dies meint das "Ausweichen vor der Geschichte" als einem Ausweichen vor der "Entscheidung aus dem Seyn". Indem der ereignishafte Ursprung der Geschichte, als der Geschichte des Seins, unerfahren bleibt, wird zugleich die notwendige Bezugnahme der Geschichtsschreibung auf das Künftige, auf die Zukunft verbaut. Die Historie stellt sich außerhalb des Bezugs der Geschichte im wesentlichen Sinne der geschehenden, aus der Wahrheit des Seins sich ereignenden Geschichte. Indem sie ihre eigene Verfallenheit an das verglichene Seiende betreibt, bleibt sie außerhalb aller Entscheidung des Seins und somit in einem herkunfts- wie zukunftslos. Das betriebene und "bespiegelte" Seiende wird entsprechend nicht in seiner geschichtlichen Offenbarkeitsweise zugelassen: Die "Machtmittel" der antiken Polis werden innerhalb der "seinsvergessenen" Betrachtungsweise des Historikers mit den "Machtmitteln" eines modemen Staats auf eine Ebene gezwungen. Dies kann auf sehr scharfsinnige Weise geschehen, indem man heute z. B. auf die Funktion so auf die "Propagandafunktion" eines Kunstwerkes während der Regierungszeit des Augustus' - abhebt: Die technische Verrechnung des Vergan141 142 143
Machtstaat und Utopie, S. 142 f. Die Geschichte des Seyns GA 69, S. 79. Besinnung GA 66, S. 183.
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genen schafft den Ersatz für die verbaute Möglichkeit einer geschichtlichen Erfahrung des Gewesenen aus dem Geschehen der Wahrheit des Seins und somit einer solchen Erfahrung, die, indem sie das Seiende in seiner Gewesenheit aus dem Ereignis i. S. eines gewesenen Entbergungsgeschicks des Seins erfährt, eine Bereicherung der eigensten geschichtlichen Existenz ermöglichen mag. Von der Kritik der kausalanalytischen Einebnung des Seienden her wird verständlich, warum Heidegger die Auslegung des Vergangenen durch die Historie mit der Erfahrung der "Arbeit" bei Ernst Jünger verbunden sieht. Hierzu ist es wichtig, zu erinnern, daß "Arbeit" sich für Jünger nicht in der technischen Tätigkeit erschöpft. Die Technik als technisches Mittel bedarf jenes "eigenartigen Willens" zur Mobilisierung der Welt. Ohne diesen "Willen" sind die technischen Apparaturen bloße "Spiel zeuge. ,,144 "Arbeit" geschieht also auch dort, wo technische Apparaturen nicht oder nur in beschränktem Umfang in Gebrauch sind, die Tätigkeit aber durch die "Totale Mobilmachung" bestimmt bleibt: Im Sichtkreis des "Arbeiters" gibt es nichts, das nicht in "Arbeit" ist. Die Überwindung des Widerspruchs zwischen Technik und Lebensstil, der für die bürgerliche Welt kennzeichnend ist, bedeutet zugleich - als "widerspruchslose Verschmelzung des Lebens mit den (technischen!) Mitteln, die ihm zu Gebote stehen" - den Eintritt in die "organische Konstruktion".145 Diese Verwandlung vollziehen die unterschiedlichsten Gruppierungen; an die Stelle von Masse und Individuum tritt die "Zuverlässigkeit und Gleichartigkeit des Bestandes".146 In diese Verwandlung tritt auch die Geschichtsbetrachtung ein. 147 Belege für diesen Wandel sind die weitgehende Ablösung der Geschichte der großen Individuen und der bedeutenden "Ereignisse" durch die Volks- und Sozial- bzw. Strukturgeschichte. Diese tiefgreifende Verwandlung hat Heidegger im Auge, indem er das Wesen der modemen Geschichtswissenschaft durch eine seinsgeschichtliche Aufnahme von Jüngers Begriff der "organischen Konstruktion" zu umreißen unternimmt (Hervorhebungen von Heidegger): "Historismus vollendet sich in der ,organischen Konstruktion' .,,148
Weil der "Historismus" und mit ihm die modeme Geschichtswissenschaft von Anbeginn außerhalb einer Besinnung auf das Sein steht und somit verfallen an das Vergangen-Seiende dem Geschick der Metaphysik der SeinsDer Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 90. S. 237. Vgl. hierzu: Thomas Pekar, "Organische Konstruktion". Ernst Jüngers Idee einer Symbiose von Mensch und Maschine. In: Strack (Hrsg.), Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzburg 2000, S.99-117. 146 S. 272. 147 S. 212. 148 Besinnung GA 66, S. 181. 144 145
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vergessenheit unterliegt, muß er sich in der "organischen Konstruktion" vollenden. Die Geschichtswissenschaft verendet, indem sie mit der "Technik" eines Wesens wird.
§ 13 Das Machtwesen der Modernen Technik ("des Gestells") als das der Wahrung der Menschenwürde widrige Geschick der Wahrheit des Seins a) Das "Erschrecken" in der Gewahrwerdung des Wesensverfalls des Vernünftigen Lebewesens zum "technisierten Tier" Auf die ein jegliches Seinsverständnis erst ermöglichende und allem Denken stets und immer schon voraufgehende Kraft der Stimmungen wurde im Rahmen der Untersuchung schon wiederholt hingewiesen. Schon im fundamentalontologischen Denken von "Sein und Zeit" leuchtet innerhalb der dort zur Entfaltung gebrachten Erfahrung des Denkens mit der Charakterisierung der "Stimmung" die sich darin dem Denken zeigende Unverfügbarkeit des Seins auf: Die Stimmung "überfällt" das Dasein - eine Wendung der gehobenen Alltags- und der Literatursprache empfängt im Sprechen des Denkens ihr besonderes Gewicht - und sie "steigt" in einem hiermit aus dem Dasein "auf".149 Die erstgenannte Wendung aus "Sein und Zeit" könnte - in das Ereignisdenken übertragen - mit dem stimmenden Zu wurf aus der Wahrheit des Seins identifiziert werden: Die Stimmung übeifällt und in diesem Fallen des Über-fallens geschieht jenes Stimmende der Stimmung, darin die Unverfügbarkeit des Seins aufleuchtet. Aber auch in der von Heidegger gebrauchten Wendung des ,,Aufsteigens" der Stimmungen kommt die Unverfügbarkeit des Seins zur Sprache: Mit jenem Auf-steigen kommt die existenzielle Aufgeschlossenheit des Daseins in einer Weise zum Steigen, die ihm selbst unverfügbar bleibt. Die existenzielle Aufgeschlossenheit erfährt sich selbst als eine der stets unverfügbaren Stimmung bedürftige Aufgeschlossenheit, die damit nur als gestimmt-geworfene Aufgeschlossenheit aufgeschlossen-erschließend ek-sistieren kann. Mit der radikaleren und wesentlicheren Erfahrung der Unverfügbarkeit des Seins bezeugt das Ereignisdenken die damit einhergehende Erfahrung der Geschichtlichkeit des Seins. Diese Geschichtlichkeit geschieht als jeweilige, sich wandelnde Offenheit der Wahrheit des Seins dem Menschen, der in dieser Weise in seinem Sein geschichtlich ist. Nur als das gestimmte und in einem hiermit geschichtliche Wesen versteht sich der Mensch auf das Seiende im Ganzen, wie Heidegger schon in dem den Übergang vom
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Sein und Zeit, S. 136.
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fundamentalontologischen in das Ereignisdenken markierenden Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit" (1930) betont: "Jedes Verhalten des geschichtlichen Menschen ist, ob betont oder nicht, ob begriffen oder nicht, gestimmt und durch diese Stimmung hineingehoben in das Seiende im Ganzen. Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen fällt nicht zusammen mit der Summe des gerade bekannten Seienden.,,15o
Heidegger spricht von dem gestimmten Hineingehobensein des Daseins und mag damit an die Wendung der Alltagssprache erinnern, daß jemand in einem bestimmten Augenblick in "gehobener Stimmung" iSt. 1S1 Die Alltagssprache unterscheidet damit von der gedrückten Stimmung. Dem Denken zeigt sich das in einer Stimmung Hineinhobene als das Dasein, im Sinne der seinsverstehenden Existenz, die in der Stimmung erst in ihr Wesen als Seinsverständnis hineingehoben wird. Durch die Stimmung in das Seinsverständnis hineingehoben, ist der Mensch gerade erst in die Möglichkeit seines Wesensranges ver-fügt. Als in die Stimmung Gehobener ist er zugleich in einem hiermit hineingehoben in ein durch die Stimmung gelichtetes Verständnis des Seienden im Ganzen. Fast wäre es überflüssig zu betonen, daß diese qua Stimmung ermöglichte "Offenbarkeit des Seienden im Ganzen" ganz und gar nicht zusammenfällt mit der "Summe des gerade bekannten Seienden". Es wäre sogar geradezu möglich zu sagen, daß das von Heidegger angesprochene, in einer Stimmung offenbar gewordene Seiende im Ganzen und der Wissensbestand der heute gegenüber 1930 gewaltig angewachsenen Wissenschaften einander Feind sind. Diese Feindschaft zwischen dem Wissenschaftswissen im Sinne des bloßen, quantifizierbaren Wissensbestandes und dem wesentlichen existenziellen Wissen der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen wäre im Folgenden zu klären. Wie das "Seiende im Ganzen", das die Stimmung aufschließt, näher zu verstehen ist, erfahren wir schon aus der Stelle von "Sein und Zeit", auf die soeben verwiesen wurde. Die Stimmung "steigt als Weise des In-der-Weltseins aus diesem selbst auf."lS2 Dies bedeutet aber: Die Stimmung läßt in einem mit der Eröffnung eines Ganzen von Bedeutsamkeit, von Welt im existenziellen Sinne, das Dasein im Verstehen seines "Selbst" aufbrechen. Inwiefern schließen sich die stimmungshafte Erschlossenheit eines Ganzen von Seiendem, im Sinne einer stimmungshaft aufgeschlossenen Welt, und die bloße Summierung von Kenntnissen zu einem "herrschenden", sich ständig modifizierenden und wachsenden "Wissensstand" in ihrer gegenseiISO Wegmarken, S. 192. 151 In "Sein und Zeit" bezeichnet die "gehobene Stimmung" allerdings gerade diejenige verfallene Stimmung, die den unverfügbaren Geworfenheitscharakter der aufgeschlossenen Erschlossenheit und damit den "Lastcharakter des Daseins" flieht. Vgl. a.a.O., S. 134. 152 Sein und Zeit, S. 136.
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tigen Befremdung derart aus, daß man gar schon von einem feindschaftlichen Verhältnis beider zueinander sprechen könnte? Heidegger nennt den gesamten Wissensbestand der Gegenwart "die Summe des gerade bekannten Seienden".153 Diese Summierung bekannter Fakten im weitesten Sinne geschieht in der Weise des Betreibens eines Betriebs, des Wissenschaftsbetriebs. In dieser Betriebsamkeit des Wissenschaftsbetriebs "gebärdet" sich die "technische Beherrschbarkeit der Dinge grenzenlos" 154. Die technische Beherrschbarkeit im Sinne der technischen Bemächtigung des Seienden steht innerhalb der Blickbahn des "Ereignisses" im Dienste der ständigen Übermächtigung der Macht durch die Macht. 155 Alle ehrfürchtig vergötzte Wissensmultiplikation des Wissenschaftswissens unterstellt sich dem machtenden Machtwesen des Seins und kann sich nur in dieser Unterstelltheit immer weiter steigern. In diesem Geschehen zeigt sich die produktive Seite der sich ständig steigernden technischen Beherrschbarkeit der Dinge und nicht bloß der Dinge.
In diesem Betriebscharakter der Wissenschaften, der auf die technische Beherrschbarkeit des Planeten und der Ausbeutung seiner Ressourcen abzielt, ist jedoch eine Reduktion, ein Schwundgeschehen aufweisbar, den das Fortschreiten der Erkenntnismacht über das Seiende, das die Wissenschaften kraft ihrer zunehmenden Spezialisierung und Technisierung vollziehen, bislang verhüllt und verstellt hat. Inwiefern dieser Schwundcharakter schon innerhalb der vorneuzeitlichen Metaphysik verankert ist und sich auf die Ontologie des Platonischen und des Aristotelischen Denkens zurückführen, ja gar mit dem christlichen Schöpfungsgedanken in Verbindung bringen läßt, wie Heidegger in den "Beiträgen zur Philosophie,,156 meint belegen zu können, muß im Rahmen unserer Untersuchung weitgehend unbehandelt bleiben. Dies rechtfertigt sich zum einen aus der notwendigen thematischen Eingrenzung. Zum anderen scheint uns der von Heidegger im Rahmen der Geschichte des neuzeitlichen Denkens und der modemen Entwicklung von Wissenschaft und Technik waltende Schwundprozeß aus sich selbst heraus Wegmarken, S. 192. Ibd. Hervorhebung von mir. 155 Vgl. oben § 12 der Untersuchung. 156 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 132: "Das Heraufkommen des machenschaftlichen Wesens des Seienden ist geschichtlich sehr schwer zu fassen, weil es im Grunde seit dem ersten Anfang des abendländischen Denkens (... ) sich in die Auswirkung setzt." Zu dem Zusammenhang zwischen "Machenschaft" und Christentum, vgl. a. a. 0., S. 111, 126 ff. Ein eingrenzendes Verständnis von "Machenschaft" in dem von uns vorgeschlagenen Sinne zeigt Heidegger a.a.O., S. 127, wo er das "Heraufkommen der Machenschaft als Wesen der Seiendheit im neuzeitlichen Denken" anspricht (Hervorhebung v. Heidegger). 153
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aufweis- und darlegbar zu sein. Er bedarf als ein an ihm selbst und von ihm selbst her zu zeigender Sachverhalt keines Rückgangs bis zu den Ursprüngen des griechischen Denkens, um sich ausweisen zu können. Ein ständiges Zurückgehen "ad fontes" läuft zudem Gefahr, die Geschichte der Wahrheit des Seins nicht mehr aus dem Ereignis zu denken, indem es in evolutionäre und somit das Sein vergegenständlichende Vorstellungsweisen abgleitet. Ein solches abgleitendes, das Sein vergegenständlichendes Mißverstehen des seinsgeschichtlichen Denkens ist jedoch in Günter Figals These, Heidegger habe eine Verfallsgeschichte des Seins schreiben wollen, zu sehen. 157 Dennoch soll der geschichtlichen Weite, innerhalb derer Heidegger die "Machenschaft" erfährt, nicht die Bedeutung abgesprochen werden. Klärt sich doch erst aus diesem Sichtkreis, der sich bis zu den Ursprüngen zurücktastet, das Selbstverständnis des Denkers, an die Jahrtausende beherrschende Leitfrage der Metaphysik nach dem Sein des Seienden die Grundfrage nach der Wahrheit des Seins richten zu können. Wie wird aber das Schwundgeschehen, das mit dem Hervorkommen der Machenschaft einhergeht, sobald diese sich in die machenschaftliche Aufmachung des Seienden ausbreitet und einrichtet, aufweis bar? Zur Beantwortung dieser Frage ist es von entscheidender Bedeutung, nochmals die alles Seinsverständnis erst begründende Kraft, die die "Stimmung" in Heideggers Denken gewinnt, zu vergegenwärtigen. Eine Textstelle aus den "Beiträgen" zeigt, wie radikal der Denker sein Denken erst aus derjenigen Stimmung vermochte, die er die "Grundstimmung" nennt: "Alles wesentliche Denken verlangt, daß seine Gedanken und Sätze jedesmal neu wie Erz aus der Grundstimmung herausgeschlagen werden. Bleibt die Grundstimmung aus, dann ist alles ein erzwungenes Geklapper von Begriffen und Worthülsen. ,,158
Im Ausbleiben der Grundstimmung erfährt das Denken allerdings nicht bloß sein eigenes Unvermögen, sondern mit dem Angewiesensein auf das Sein zugleich mit der Unverfügbarkeit in einem die Würde des Seins. 159 Die in dem Angewiesensein des Denkens auf die Grundstimmung zutage tretende Unverfügbarkeit des Seins bestimmt den verhaltenen Stil und Gang des seinsgeschichtlichen Denkens: "Jede Besinnung auf diese Grundstimmung ist stets nur eine sachte Zurüstung auf den stimmenden Einfall der Grundstimmung, die von Grund auf ein Zu-fall bleiben muß.,,160 157 Günfer Figal, Nochmals über die Linie. In: Magie der Heiterkeit. Ernst jünger zum Hundertsten. Hrsg. v. G. Figal u. H. Schwilk. Stuttgart 1995, S. 25-40, S.37. 158 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 2l. 159 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 5, S. 158 (Ziffer 24 der "Sätze über die Wissenschaft").
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Die in der Stimmung offenbar werdende Unverfügbarkeit des Seins klingt schon in der nicht näher bezeichneten Stimmung an, die Heidegger in dem Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit" anspricht. Jene Stimmung offenbart das "Seiende im Ganzen".161 Das Offenbarende dieser Offenbarkeit ist jedoch das Sein. Eine solche Stimmung, die das Seiende im Ganzen eröffnet und damit eine ausgezeichnete Erschlossenheit eines Ganzen von Seiendem, d. h. von Welt ermöglicht, ist diejenige Stimmung, die Heidegger in der Freiburger Antrittsvorlesung die "Freude" über die Nähe eines geliebten Menschen genannt hat: "Eine ( ... ) Möglichkeit solcher Offenbarung birgt die Freude aus der Gegenwart des Daseins - nicht der bloßen Person - eines geliebten Menschen.,,162
Heidegger muß hier die Auslegung des Wesens des Menschen als "Person" zurückweisen, weil sie - indem sie, wie bei Kant, der Ontologie des Vernünftigen Lebewesens verhaftet bleibt - es nicht vermag, dem gesehenen Sachverhalt gerecht zu werden. Denn dort wird Liebe als Affekt der Animalitas des Menschen zugeordnet und damit in ihrer welterschließenden Möglichkeit verkannt. Es bedarf einer von Grund auf gewandelten Auslegung des Wesens des Menschen, um die Denunziation der "Gefühle" durch die "Vernunft" zurückzuweisen und den alles Seinsverständnis erst begründenden Rang der Stimmungen zu verteidigen. Die Stimmung, die Heidegger die "Freude" nennt, ist deswegen von besonderem Interesse, weil Heidegger hier mit dem Mitdasein der sich einander Liebenden zugleich das Angewiesensein des Daseins auf den Anderen und die Andere zu seiner vollen Konkretion als Seinsverständnis zeigt. Im Unterschied zu der Langeweile als derjenigen Stimmung, in der das Seiende im Ganzen zwar als Ganzes erfahrbar wird, aber doch zugleich in seiner Einebnung bedrängt, indem es den Gelangweilten leer läßt, erfährt der Liebende mit der Nähe des geliebten Daseins zugleich ein Ganzes von Seiendem in seiner unerschöpflichen Fülle und seinem unermeßlichen Reichtum. Auch wenn Heidegger in "Was ist Metaphysik" diesen Begriff nicht verwendet, so nennt er doch zweifellos mit der "Freude" eine solche Stimmung, die in ausgezeichneter Weise ein Ganzes von Seiendem erschließt, mithin eine existenzielle Welt eröffnet; eine Erfahrung, die wohl am erfülltesten im dichterischen Wort zum Sprechen kommen mag. Von woher wird aber nun die Grundstimmung des seinsgeschichtlichen Denkens bestimmt? Die Grundstimmung ist "die Versprühung der Erzitterung des Seyns als Ereignis im Dasein".163 Damit wird die Möglichkeit der Erfahrung des Sei160 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 22. 161 Wegmarken, S. 192. 162 Was ist Metaphysik? Öffentliche Antrittsvorlesung gehalten am 24. Juli 1929 in der Aula der Universität Freiburg i.Br. Bonn 1929, S. 13. Wegen der Hervorhebung, die in späteren Ausgaben fehlt, wurde nach dem Erstdruck zitiert. 12
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enden als solches und im Ganzen und in einem hiermit die Möglichkeit der Erfahrung eines Weltschwundes und einer Weltarmut in das Ereignis zurückgenommen und von dort aus gedanklich entfaltet. Heidegger nennt die Grundstimmung des seinsgeschichtlichen Denkens zumeist die "Verhaltenheit", so in dem einleitenden "Vorblick" der Beiträge zur Philosophie. Diese Stimmung hat einen bahnenden Charakter mit Blick auf das, was Heidegger die "Kehre im Ereignis" nennt - ein Begriff, der uns noch beschäftigen wird. Es handelt sich bei der "Verhaltenheit" nicht um irgendeine aufgelesene, vorfindbare Stimmung, sondern um diejenige Stimmung, die das seinsgeschichtliche Denken begründet und trägt in seinem Bestreben, eine Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins vorzubereiten. Heidegger nennt die Grundstimmung der Verhaltenheit daher auch den Stil des gegenüber dem ersten Anfang der von der Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen bestimmten Metaphysik - andersanfänglichen Denkens. Verhaltenheit ist der "an sich haltende Vorsprung in der Kehre des Ereignisses.'d64 Die Verhaltenheit hat demnach eine abwehrende und eine vordringende Seite. Indem sie dazu anhält, sich des Betriebes der machenschaftlichen Aufmachung und Vernutzung des Seienden zu enthalten, stimmt sie zugleich in die Vorbereitung dessen, was Heidegger den "Sprung" nennt. Die "Verhaltenheit" zweigt sich aus und ist zugleich getragen von ihren Konkretionen: dem "Erschrecken" und der "Scheu." Die Grundstimmung der "Scheu" ist keinesfalls mit Schüchternheit oder Ängstlichkeit zu verwechseln. Im Gegenteil, sie ist diejenige Stimmung, die das Denken erst auf den "Sprung" bringt. So nennt Heidegger die - nach dem "Anklang" und dem "Zuspiel" dritte Fuge des sechsfach gefügten Gefüges des seinsgeschichtlichen Denkens. Der "Sprung" ist das "Gewagteste im Vorgehen des anfänglichen Denkens". Das von der "Scheu" durchstimmte Denken kommt auf den Sprung, indem es alles Geläufige - das Seiende als solches - hinter sich läßt. Es erwartet nichts vom Seienden als solchem, sondern "erspringt allem zuvor die Zugehörigkeit zum Seyn in dessen voller Wesung als Ereignis.'d65 In der Stimmung der "Scheu" offenbart sich dem Denken erst die Unverfügbarkeit und damit die Würde des Seins. Es kommt darin auf den "Sprung", indem es von der neuzeitlichen Begründung aller Wahrheit des Seienden im vorstellenden Subjekt abspringt, um sich die bisher dem Denken unerfahrbare Wahrheit des Seins denkend zu erspringen. Diese gründet nicht in der Subjektivität des vergegenständlichenden Selbstbewußtseins, sondern im Ereignis, womit sie der berechnenden Übermächtigung durch die Subjektivität stets entzogen - also nicht etwa bloß unverfügbar! - bleibt. 163 164 165
Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 2l. S. 36. S. 227.
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Doch wenden wir uns wieder der abwehrenden Seite der Verhaltenheit zu. Diese kann in ihrem Stimmen nur deswegen dazu anhalten, sich des Mitvollzugs der machenschaftlichen Aufmachung und Betreibung des Seienden zu enthalten, weil sie verwurzelt ist in der Grundstimmung des "Erschreckens". Das "Erschrecken" ist diejenige Stimmung, die den "Anklang" durchstimmt. In dieser ersten Fuge des sechsfach gefügten seinsgeschichtlichen Denkens wird die Seinsverlassenheit des Seienden offenbar: "Das Erschrecken läßt den Menschen zurückfahren vor dem, daß das Seiende ist während zuvor ihm das Seiende eben das Seiende war: daß das Seiende ist und daß dieses Cist', Erg. v. mir) - das Seyn - alles "Seiende" und was so schien verlassen, sich ihm entzogen hat.'d66 Es ist ganz offensichtlich: dieses "Erschrecken" gilt nicht einem ontischen Seienden als einem solchen, dem Schrecklichen und Entsetzlichen, sondern wird erst von demjenigen Denken erfahren, das sich der Wahrheit des Seins eigens öffnet. Nur, indem sich das Denken für dessen Wahrheit und d.h. zugleich für dessen Verbergung und Verstellung offenhält, vermag es die anklingende Erfahrung der Seinsverlassenheit des Seienden zu machen. "Zuvor", nämlich innerhalb des Denkhorizontes der Seinsvergessenheit, die den ersten Anfang bestimmt, bleibt dem Denken und erst recht dem Forschen das Sein des Seienden eine Selbstverständlichkeit i. S. der Allgemeinheit der Vorgestelltheit des Vorgestellten, die fraglos hingenommen wird. Das Seiende ist als Gegenstand gegeben und steht mit anderem in kausaler Verknüpfung - so bei den verschiedenen historischen Fakten, die die Geschichtswissenschaft in ihrem Zusammenhang untersucht. Dem derart aus der Tradition des ersten Anfangs bestimmten Vorstellen ist das Seiende eben das Seiende. So sind innerhalb des Rechtspositivismus Besinnungen auf das Wesen des Rechts und die Gerechtigkeit nicht erlaubt im Bereich der rechtlichen Argumentation und Entscheidung. Der praktische Jurist hat sich an den seienden positiven Normenbestand und nur daran zu halten gleichgültig, ob er wissenschaftlich oder etwa als Richter tätig wird. Diese Beispiele sollen zeigen, daß die Möglichkeit des Einfalls der Grundstimmung des Erschreckens die verhaltene Bereitschaft des Denkens, sich von der Seinsfrage bestimmen zu lassen, bereits voraussetzt. Andernfalls bleibt es nur bei der Möglichkeit der Erfahrung des Schrecklichen schlechthin, soweit auch diese Möglichkeit nicht durch die Öffentlichkeit verschüttet wird. 167
166 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 15. "Ist" wurde von Heidegger hervorgehoben. 167 Vgl. hierzu das in "Sein und Zeit" über die "Beruhigung" durch das "Man" Gesagte. Sein und Zeit, S. 177. 12"
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Erst wenn das "ist", das Sein, das der Bergung im Seienden bedarf und ohne welches das Seiende niemals "sein" kann, denkerisch erfahrbar wird und aus dem Gängigen und Selbstverständlichen des Gewöhnlichen emporgehoben wird, kann das Denken im "Zurückfahren" vor dem Gewöhnlichen der Gegenständlichkeit des Seienden erschrecken. 168 In diesem "Erschrecken" offenbart sich dem Denken, daß das Seiende zwar in gewissem Sinne noch "ist" - eben als Gegenstand für die vorstellende und verrechnende Subjektivität - darin aber in gewissem Sinne schon nicht mehr "ist", indem es gerade nur noch "ist". Im Zulassen des Einfalls der Grundstimmung erfährt das verhaltene Denken, daß dieses "ist", das Sein, sich allem - dem eben noch so scheinbar selbstverständlich Seienden in seiner Gegenständlichkeit und Berechenbarkeit und Vernutzbarkeit entzogen hat. Wie betrifft nun die Seins verlassenheit des Seienden den Menschen, insofern er an dem Betreiben der Seinsverlassenheit des Seienden in der Weise des geworfenen Entwurfs der Wahrheit des Seins teilnimmt und zugleich als ein Seiendes unter anderem Seienden der Seins verlassenheit ausgesetzt bleibt? Wenn gesagt wird, daß in der Stimmung des Erschreckens die Seinsverlassenheit alles Seienden offenbar wird, so ist hiermit schon gesagt: Ein solches seinsverlassenes Seiendes ist auch der Mensch, sobald er in den Machtbereich der Modemen Technik gelangt, den Heidegger als die Wesung des "Gestells" kennzeichnet. Indem der Mensch von dessen Walten gestellt wird, das Seiende in der Weise des "Bestandes" zu entbergen, rückt er zugleich in einem mit dem nichtdaseinsmäßigen Seienden in die unbedingte Gleichförmigkeit des "Bestandes", d.h. des von dem herausfordernden Entbergen betroffenen Seienden ein. 169 Indem aber die Zugangsweise des technischen und des wissenschaftlichen VorsteIlens zur einzig geduldeten wird, unterwirft sich der Mensch einer Selbstauslegung, die die Unterschiede zwischen daseinsmäßigem und nichtdaseinsmäßigem Seienden mehr und mehr zum Erlöschen bringt. Schon im Rahmen unserer Erörterung der Ontologie der Person bei Kant wurde das dort auftretende Phänomen der ontologischen Verdinglichung des Menschen gezeigt. 170 Diese Tendenz hat ihre seins geschichtliche Herkunft aus der Verwurzelung der Ontologie der Person in der Auslegung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen. Demnach bleibt der Mensch in seiner lebendigen Vorfindlichkeit (Animalitas) ein vorhandenes Lebeding unter anderen vorhandenen Lebedingen, das sich von diesen anderen, nichtdaseinsmäßigen Lebedingen durch die auf die Animalitas aufgestockte Vernunft und die erst zu erringende persönliche Würde auszeichnet. Innerhalb der Einebnung, die für das 168 169 170
Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 15. Die Frage nach der Technik EA, S. 16 ff. Vgl. oben § 7 der Untersuchung.
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Denken im Machtbereich der Modemen Technik charakteristisch ist, verliert die Vernunft als sittliche Vernunft ihre maßgebliche Bedeutung. Indem das Seiende ausschließlich technischen Kategorien unterworfen wird, erlischt ein jeglicher Bereich des Seienden als eigenständiger Bereich in seiner Eigenständigkeit - so auch der Bereich des Menschlichen. Der "Biologismus", wie er sich in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Machtpolitik austobte, läßt sich daher von Heidegger als das Walten der Modemen Technik beschreiben. Das verhaltene Erschrecken in Anbetracht des Schrecklichen der Vernichtungspolitik läßt die seinsgeschichtliche Dimension von Auschwitz anklingen. Schon in den "Beiträgen", die zwischen 1936 und 1938 entstanden sind, heißt es: "Die mechanistische und die biologistische Denkweise sind immer nur Folgen der verborgenen machenschaftlichen Auslegung des Seienden."l7I In dem Vortrag "Das Gestell", aus dem der Vortrag "Die Frage nach der Technik" hervorgehen sollte, sagt Heidegger schonungslos: "Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben." 172 In dem ebenfalls 1949 in Bremen gehaltenen Vortrag "Die Gefahr" heißt es entsprechend: "Hunderttausende sterben in Massen. Sterben Sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sie werden Bestandstücke eines Bestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben sie? Sie werden in Vernichtungslagern unauffällig liquidiert.,,1?3 Diese Erfahrung des Denkers innerhalb seines Denkens konnte Hannah Arendt in ihrer phänomenologisch bestimmten Wissenschaft des Politischen bestätigen: Die Massenmorde wurden derart gehandhabt, daß die instrumentelle Rationalität des Vernichtungs betriebes, innerhalb dessen die Opfer nur noch Bestandteile waren, in einer Weise in den Vordergrund trat, die diese ungeheuerliche Maschinerie, zur Perfektion gebracht, in der Vorstellung der Beteiligten gewissermaßen "entkeimte" und moralisch neutralisierte. 174 Ein Beleg für diesen ganz besonderen Prozeß ist das Protokoll der von 171 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 127. Die Hervorhebung von Heidegger ist hier besonders zu beachten, weil sie - wie so viele Stellen in den "Beiträgen" zeigt, wie sehr der Denker das Wesen der Technik und die Seinsverlassenheit aus der denkenden Auseinandersetzung mit der damaligen Gegenwart und ihren "Ideen" erfuhr. 172 Bremer und Freiburger Vorträge. Gesamtausgabe Bd. 79. Hrsg. v. Petra Jaeger. Frankfurt am Main 1994, S. 27. 173 Bremer und Freiburger Vorträge, S. 56. 174 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerikanischen v. Brigitte Granzow. München, 8. Auf!. 1998.
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R. Heydrich geleiteten "Wannseekonferenz", das von A. Eichmann verfaßt wurde. Die Berliner Konferenz vom 20. Januar 1942, die die Organisation des Massenmordes an den Europäischen Juden zum Thema hatte, ist auch deswegen von besonderem Interesse, weil sie die Beteiligung der Wissenschaften an diesem Geschehen dokumentiert. Acht von fünfzehn Beteiligten waren Akademiker mit Doktortitel. Das Durchschnittsalter betrug gerade 41 Jahre. Neuere Forschungen zeigen, wie sehr der Holocaust überhaupt von wissenschaftlichen Kadern vorbereitet wurde und seine "Vordenker" aus den Universitäten rekrutierte, die somit den gezielten Aufbau einer "Expertokratie" ermöglichten. Auch das von Hannah Arendt noch bestrittene ökonomische Kriterium wurde offensichtlich in das Zentrum der Planungen gerückt. So war man bestrebt, in dem angeblich übervölkerten und hoffnungslos "rückständigen" ländlichen osteuropäischen Raum nach "Herauslösung der Juden" - so der Terminus des mit "Umsiedlungs"-Planungen beauftragten Historikers Th. Schieder - und weitgehender Vernichtung der slavischen Bevölkerung eine bei stark verminderter Bevölkerungsdichte rentable und leistungsfähige, motorisierte "arische" Ernährungsindustrie aufzubauen. Dem Volkswagen sollte der "Volkspflug", ein massenhaft zu produzierender Traktor, folgen. 175 Über die Textgestalt des Protokolls der Wannseekonferenz berichtet der Historiker Götz Aly: "Es ist in der üblichen Tarnsprache der ,Geheimen Reichssache' fonnuliert, die Begriffe wie ,abschieben', ,evakuieren', ,durchschleusen' der klaren Benennung des Tötens vorzog. Diese Sprache diente nicht wirklich der Geheimhaltung, sondern sollte den Massenmord mit Hilfe aseptischer Begriffe leichter verwaltbar machen und in den bürokratischen Alltag des deutschen Staates einfügen.,,176
Wie zeigt sich dieser Tatbestand dem seinsgeschichtlichen Denken?
175 Vgl. Götz AlylSusanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Erstmals 1991. Frankfurt am Main 1993. Zur Beteiligung der Geschichtswissenschaft an den Planungen, vgl. Götz Aly, Rückwärtsgewandte Propheten. Willige Historiker - Bemerkung in eigener Sache. Abgedruckt in: Macht-Geist-Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens. Berlin 1997. Wenn Th. Schieder von uns als beteiligter Historiker erwähnt wurde, so geschieht dies im Bewußtsein, daß besagtem Historiker nach dem Krieg eine glänzende wissenschaftliche Karriere vergönnt war. Aus der seinsgeschichtlichen Blickbahn erfahren, läßt sich der in diesem Zusammenhang bemühte Gegensatz zwischen politischer Überzeugung und nüchterner, fortschrittlicher wissenschaftlicher Gesinnung nicht mehr aufrechterhalten, da beides dem Geschick der Seinsverlassenheit unterworfen ist und erst innerhalb dieses Geschicks geschichtlich begriffen werden kann. Vgl. hierzu: Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 145-159, 76. Abschnitt "Sätze über die Wissenschaft". 176 Vordenker der Vernichtung, S. 454.
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Schon in den "Beiträgen" bemerkt Heidegger in den eminent wichtigen "Sätzen über die Wissenschaft", die "die Wissenschaft in ihrer jetzigen wirklichen Verfassung" im Rahmen der ersten Fuge des "Anklangs" untersuchen!77, die "Vorrangstellung des Verfahrens vor der Sache" und die Vorrangstellung "der Urteilsrichtigkeit vor der Wahrheit des Seienden" sowie die "je nach Bedürfnis regelbare Umschaltung" der Wissenschaften "auf verschiedene Zwecke" 178. Die "Vorrangstellung des Verfahrens vor der Sache" und der Vorrang der Urteilsrichtigkeit vor dem Beurteilten kennzeichnen die methodisch vorgehende neuzeitliche Wissenschaft und einen damit einhergehenden formalisierten Wahrheitsbegriff, wie er der Mathematisierung bzw. der Logifizierung des Seins des Seienden eigentümlich ist. Gerade in diesem Vorrang liegt aber die Voraussetzung dafür, daß die Wissenschaften jetzt als politische Wissenschaften je nach Bedürfnis der Politik auf verschiedene Zwecksetzungen "umgeschaltet" und ausgerichtet werden können.!79 Von dieser Erfahrung des Denkers mit den neuzeitlichen Wissenschaften, die sich natürlich keinesfalls bloß aus der Kenntnisnahme des Wissenschaftsbetriebs der NS-Zeit nährt, bestimmt sich jene erste Definition der "Technik", die Heidegger in den "Beiträgen" wagt (Hervorhebungen von Heidegger): ",Technik' - der Vorrang des Machenschaftlichen, der Maßregeln und des Verfahrens vor dem, was darein eingeht und davon betroffen wird.,,180 Dieser Vorrang übernimmt, wie Heidegger dort ausführt, in der Gegenwart die "Herrschaft". Dieser Begriff ist nicht unproblematisch: So nennt Heidegger schon in den "Beiträgen" und in dem im Anschluß an die "Beiträge" entstandenen Manuskript "Die Geschichte des Seyns" mit "Herrschaft" bzw. "Herr-schaft" gerade das volle Wesungsgefüge des Seins, wie es von dem gewandelten Wesen des Menschen innerhalb der Kehre im Ereignis erfahren wird.!8! Demgegenüber nennt Heidegger die "Herrschaft" der Denkweise, die den besagten Vorrang des Verfahrens vor der Sache fordert, in den seinsgeschichtlichen Texten der 30-er Jahre vorzugsweise die "Macht". Damit meint Heidegger aber nicht bloß ein bestimmtes Denken unter anderen Denkweisen, sondern er kennzeichnet mit dem Begriff der 177 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 144. 178 S. 148, Ziffer 10. 179 Ibd. 180 S. 336. 181 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 281 f. (159. Abschnitt "Die Zerklüftung"), ferner: Die Geschichte des Seyns GA 69, S. 69. Allerdings hat auch in diesem Text das Wort "Herrschaft" die seinsgeschichtliche Bedeutung von "Macht", wie auch gelegentlich "Macht" bei Heidegger eine positive Bedeutung hat, so zweifellos in "Beiträge zur Philosophie" GA 65, S. 318.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
"Macht" diejenige Offenbarkeitsweise des Seins, die als das Wesen der Modemen Technik waltet. Jene Offenbarkeitsweise des Seins, die sich in steigendem Maße aller Bereiche des Seienden bermächtigt, hat ihre seins geschichtlichen Wurzeln im Wesen der Subjektivität. Diese Bestimmtheit der "Macht" im seinsgeschichtlichen Sinne macht es Heidegger notwendig, alle Versuche zurückzuweisen, die Macht im Sinne der Historie zu ontifizieren, weil dort die wesentliche Dimension der Geschichte des Seins ausgeblendet wird. Historie ist ihm "Ausweichen vor der Geschichte".182 Die "Befreiung der Geschichte", d.h. der Geschichte des Seins zu sich selbst, geschieht nur auf dem Wege der Befreiung dieser allein wesentlichen Geschichte "aus dem Ring der Vergegenständlichung durch die Historie." 183 Wir stießen auf diese Kritik des Denkers schon im Zusammenhang mit dessen Auseinandersetzung mit Gerhard Ritter, die auch aus dieser Bemerkung der NietzscheVorlesung von 1940 "Der europäische Nihilismus" spricht. Heidegger nennt dort die Geschichte der Neuzeit das Geschehen der "Wesensermächtigung der Macht" als "Grundwirklichkeit": "Es ist also nicht so, daß es in früheren Zeitaltern auch schon die Macht gab und daß sie dann etwa seit Machiavelli einseitig und übertrieben zur Geltung gebracht wurde, sondern ,Macht' im recht verstandenen neuzeitlichen Sinne, d.h. als Wille zur Macht, wird metaphysisch erst als neuzeitliche Geschichte möglich.,,184
Indem die Historie Seiendes ver-gleicht, so z. B. das Verhältnis der Geschlechter in den verschiedenen Epochen der Kulturentwicklung, verlegt sie den Weg zur Geschichte, die Seiendes nie gleich "sein" läßt. Diese Geschichte ist jedoch als Geschichte des Seins in der Neuzeit mit dem Geschehen der "Macht" in einem sich steigernden Maße eines Wesens. Wie geschieht diese Ermächtigung des Machtwesens des Seins? Wie wird das metaphysisch bestimmte Wesen des Menschen darin hineingezogen und verbraucht? Die Ermächtigung des Machtwesens des Seins geschieht genau in dem "Vorrang des Machenschaftlichen", also, wie Heidegger präzisiert, "der Maßregeln und des Verfahrens" vor dem gemaßregelten Seienden, das dem Verfahren unterworfen wird. 185 In der späteren Sprache der Technik-Vorträge gesagt: Das Seiende wird, indem es nur noch als bloßes Bestandstück eines Bestandes der Verwertung oder Beseitigung zugelassen wird, zugleich in die bloße Verbrauchbarkeit erniedrigt. In einem voll ausgearbeiteten Manuskript aus der Zeit der soeben zitierten Nietzsche-Vorlesung äußert 182 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 152. Vgl. ferner Besinnung GA 66, S. 163-184. 183 Besinnung GA 66, S. 184. 184 Nietzsche Zweiter Band, S. 127. Zur Auseinandersetzung mit Ritter vgl. oben § 12. 185 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 336.
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sich Heidegger über diese seinsgeschichtliche "Macht" (Hervorhebung von Heidegger): "Der Vordrang der Macht hat die Form einer unautbaltsamen Zurücknahme jeder Bestimmbarkeit der Macht durch solches, was nicht sie selbst ist. Das deutet an, daß der Macht Alles an der ausschließlichen Ermächtigung ihres Wesens liegt, das in der unbedingten Übermächtigung ihrer selbst sich findet. Deshalb gilt ihr das, was sie unter sich bringt, nichts, wohl dagegen die Möglichkeit der unbeschränkten Unterjochung Alles. Diese Möglichkeit sichert sich die Macht auf eine unwiderstehliche Weise. Sie läßt im Voraus das Seiende nur als das Seiende zu, sofern es machbar ist.,,186
Der letzte Satz müßte eigentlich mit einem Doppelpunktsatzzeichen unmittelbar an den vorangehenden anschließen, denn die Macht bedarf zur Entfaltung ihres Machtwesens gerade der Seinsverlassenheit des Seienden, das nur als seinsverlassenes Seiendes machtgemäß ge- und verbraucht werden kann. Da der "Macht" nur an der Ermächtigung ihres sich selbst ständig übermächtigenden Wesens liegt, ist dort, wo sie - wie in der Wirklichkeit des "Dritten Reichs" - zur einzigen zugelassenen Offenbarkeitsweise des Seins wird, "alle Moralität und Rechtlichkeit verbannt und zwar unbedingt." Das schließt nicht aus, sondern vielmehr ein, daß man nach wie vor und sogar in wachsendem Maße des "Rechts" bedarf, zur Sicherung des reibungslosen Ablaufs der machtgemäßen Einrichtung des Seienden. Das Recht ist damit aber nicht mehr als ein Seiendes in seinem eigensten Wesen zugelassen, "als Anspruch des in sich Gehörigen und deshalb Gültigen und somit der Macht Entzogenen.,,187 Es verwandelt sich im Sinne der machbaren Verordnung, der Sicherheitsbestimmung und des Befehls. Die zunehmende Entmachtung des Juristen zugunsten des Technikers im Verwaltungswesen und der Ersatz des Gesetzes durch die Verordnung wären in diesem Zusammenhang zu erinnern. Die Weise, wie der Mensch von dem Machtwesen des Seins in Anspruch genommen wird, insofern er der Technik nicht bloß ausgeliefert ist, sondern an der Entfaltung ihres Machtwesens aktiv teilhat, kommt vielleicht am besten an diesem Begriffspaar zur Sprache: Heidegger nennt in der "Besinnung", wo es im Anschluß an die "Beiträge" zu einer ersten Ausarbeitung der Frage nach der Technik kommt, diese gegenwärtig machtende Gestalt der Wahrheit des Seins "das Gemächte und Gestellte des Menschen.,,188 Damit ist nicht bloß gesagt, daß der Mensch, obzwar ihm das 186 Koinon. Aus der Geschichte des Seyns. Abgedruckt in: Die Geschichte des Seyns GA 69, S. 175-198, S. 185. Einer Angabe des Herausgebers zu folge entstand der Text in den Jahren 1939/40. 187 Die Geschichte des Seyns GA 69, S. 64 Ziffer 6, S. 77. (Erstes Manuskript des Bandes). 188 Besinnung GA 66, S. 136. Zur "Technik" vgl. ferner die Abschnitte 63. und 64. dieses Manuskripts.
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3. Kap.: Die Wesens feindschaft zwischen Macht und Würde
Sein unverfügbar bleibt, doch stets in dessen Walten verwoben bleibt, als der Forschende, Führende und Werktätige. Indem das Sein als das Machtwesen waltet, ist sogar gerade diese Gestalt der Wahrheit des Seins in besonderer Weise vom Menschen und seinen "Bedürfnissen" her bestimmt. Dieser Bestimmtheit korreliert eine bestimmte Auslegung des Seins als "Seiendheit" - Sein ist Sein von Seiendem, welche als Entborgenheit des Seins des Seienden scheinbar ausschließlich durch den menschlichen "Nutzen" und "Bedarf' bestimmt wird. Die "Überschattung des Seins durch das Seiende,,189, die durch die metaphysische Frage nach dem Sein des Seienden unter Außerachtlassung der Frage nach der Wahrheit des Seins auf den Weg gebracht worden ist, tritt jetzt in ihr Endstadium ein. Mit dieser "Überschattung" tritt der Mensch zunehmend aus demjenigen Bereich heraus, in welchem gründend er einzig als Seins verständnis existieren kann. Der Mensch wird "wesensflüchtig".190 Diese "Wesensflucht" ist, obzwar in der erstanfänglichen Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale verankert, dennoch ein Geschehen, das erst auf dem Boden der neuzeitlichen Subjektivität geschehen kann: Erst auf diesem Boden maßt sich das Denken als vorstellend-vergegenständlichendes Selbstbewußtsein an, als die Substanz des vorgestellt-vergegenständlichten Seienden fungieren zu können. Dem Andrang des vergegenständlichten Seienden, den die neuzeitliche Wissenschaft vollzieht, wird jedoch durch das Denken Kants eine Grenze gesetzt. Die praktische Vernunft errichtet ein Reich der Freiheit, das sich dem durch die neuzeitliche Subjektivität begründeten Reich der Naturnotwendigkeit entgegenstellt. Diese in der Subjektivität verankerte und doch zugleich den christlichen Freiheitsbegriff aufnehmende praktische Vernunft fordert die selbstverantwortliche Persönlichkeit, die sich ständig neu in der selbstüberwindenden Erringung ihrer selbst erkämpfen muß. Das sich innerhalb des auf der neuzeitlichen Subjektivität aufbauenden neuzeitlichen mathematischen Naturentwurfs zeigende Seiende erhebt allerdings zunehmend den Anspruch, das einzig wirklich "wahre" Seiende zu sein, wie die Auseinandersetzung zwischen Goethe und den Anhängern der Newtonschen "Optik" belegt. 191 Der Zusammenbruch der neuzeitlichen, aufgeklärten Kultur- und Lebenswelt, die in Deutschland der Neuhumanismus hervorgebracht hat, mit ihren imponierenden Leistungen auf nahezu allen Gebieten menschlicher Geistestätigkeit, ist als ein sehr umfassender und noch längst nicht abgeschlossener Prozeß geschildert worden. 192 Es scheint, daß man zuerst an der Peripherie S. 149. S. 139. 191 Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit einer Einführung hrsg. v. E. Beutler. München 1999, besonders S. 189 f. 189 190
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dieser Lebenswelt, in der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, darauf aufmerksam wurde. Eines der ersten Zeugnisse, das den Begriff des "Nihilisten" kennt, ist Turgenjews "Väter und Söhne". Der Held dieses Buches ist ein werdender Mediziner, der, beruflich hochmotiviert, Religion und Lebenskultur der Generation der "Väter" zutiefst verachtet. 193 Vereinfacht könnte man sagen, daß mit der wachsenden Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen und des technischen Denkens andere Erfahrungsmöglichkeiten des Seienden, so der Kunst oder auch des Religiösen, zunehmend unter einen Rechtfertigungsdruck geraten, der endlich in eine Rechtfertigungsnot einmündet, die schließlich in der Leugnung dieser Bereiche als eigenständige Bereiche und in deren Inanspruchnahme durch das einzig noch legitime wissenschaftlich-technische Vor- und Zustellen verendet. Diese Art und Weise der Inanspruchnahme wird in den seltensten Fällen explizit "technisch" sein. So wird man auf die psychologische Erklärung des Religiösen stoßen und auf Künstlerbiographien, die den Charakter medizinischer Gutachten haben. Zum Schein bleibt alles oft beim Alten. Nur ist jetzt Gottesdienst nicht mehr Andacht, sondern "Erholung bei Gott" und Kunst wird zum Bestandteil eines organisierten Kulturbetriebes. Die geduldete und sogar geförderte Vielfalt des Angebots ist der Hauptgrund dafür, warum zumeist unerfahrbar bleibt, mit welcher Gewalt das Seiende nur noch als das Verrechenbare und irgendwie Vernutzbare zugelassen bleibt. Auch Vernunft, Freiheit und ethische Grundsätze geraten in den Sog dieser Gewalt. Indem die Geschichte der neuesten Neuzeit geleitet bleibt von der Wesensbestimmung des Vernünftigen Lebewesens, so ist doch innerhalb der Gewichtung der beiden Bausteine dieser Bestimmung im Sog jener Gewalt eine tiefgreifende Verlagerung festzustellen. Bildet bei Pico della Mirandola und bei Kant die Vernunft das Wesentliche und die Animalitas das im Grunde Wesens widrige des Menschen 194, so setzt sich jetzt - wie Heidegger betont - mehr und mehr das metaphysische "Tier" gegenüber der metaphysischen "Vernunft" durch, deren einzige Funktion nun in der Bewerkstelligung der Mächtigkeit des Tieres liegt. 195 In den "Beiträgen" wird die 192 So von Ernst Jünger in dem Festschriftbeitrag "Über die Linie". Erstmals in: Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main 1950. 193 Iwan Turgenjew, Väter und Söhne. Roman aus dem Russischen übersetzt von Fega Frisch. Zürich, 5. Auf!. 1984. Heidegger verweist zu Beginn der zitierten Nietzsche-Vorlesung "Der europäische Nihilismus" auf Turgenjews Werk, wo mit "Nihilismus" eine Anschauung genannt wird, die "nur das in der sinnlichen Wahrnehmung zugängliche, d.h. selbsterfahrene Seiende wirklich und seiend" sein läßt "und sonst nichts". Dieser "Nihilismus" ist mit dem "Positivismus" bedeutungsgleich. Vgl. Heidegger, Nietzsche Zweiter Band, S. 23. 194 Vgl. § 8 dieser Untersuchung. 195 Vgl. hierzu Besinnung GA 66, S. 139 ff.
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3. Kap.: Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde
Möglichkeit angesprochen, daß das dem Wesen der Technik entsprechende Entbergungsgeschehen dergestalt als das einzig gültige in den Vordergrund treten wird, daß es zum "Rückfall des letzten Menschen in das technisierte Tier" kommen wird, welcher Rückfall das "Ende" bedeute. 196 Andernorts nennt Heidegger die "technische Produktion" die "Organisation des Abschieds,,197 oder auch die "Organisation des Mangels.,,198 Der "Abschied" des Menschen, der sich in seinem geschichtlichen Existieren vollkommen in dem machenschaftlichen Betreiben des Technischen auflöst, vollzieht, wie Heidegger betont, keinen Abschied von etwas, sondern den "Ab-schied gegen das Offene" der Wahrheit des Seins. 199 Dieser Abschied zeitigt sich darin, daß - so schon die "Beiträge" - das "Quantitative" des Verrechnens des Seienden zur einzig maßgeblichen "Qualität" wird. Dieses Geschehen, innerhalb dessen sich die Seinsverlassenheit des Seienden vollendet, nennt Heidegger "das Riesenhafte". Hier ist die sich zunächst aufdrängende Vorstellung des ontischen Riesigen, das den Willen zur Macht repräsentiert, zurückzuhalten, wenn es auch innerhalb des Waltens des "Riesenhaften" zum Bau und Einsatz riesiger Machtmittel und zur Überwindung riesiger Entfernungen und zur Schaffung riesiger Kapazitäten kommt. Dieses "Riesenhafte" kennt nicht mehr den "Überfluß", weil es aus der "Verheimlichung" des "Mangels" entspringt, welcher Überfluß das Offene der Wahrheit des Seins meint, gegen die sich der Mensch auf dem Weg zum "technisierten Tier" mehr und mehr abriegelt, derer er damit - ihm verborgen und insofern "verheimlicht" - ennangelt. Der Mangel bleibt als Mangel unerfahrbar. Diese Erfahrung wird als solche durch das Machtwesen des Seins nicht zugelassen: Die klaffende Leere, die sich im Machtraum des reinen Machtwesens auftut, wird durch das "Erlebnis" des Auslebens der Animalitas verhüllt, in welchem Aktionismus - "Betrieb" - das Machtwesen des Seins in einem mit der "Verheimlichung des Mangels" die ständige Übennachtung seiner selbst sicherstellt. 2oo Das Bedenklichste dieses Vordrängens der Animalitas innerhalb der metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen liegt aber darin, daß sich jetzt "im Grunde" das "Wesen des Lebens", also die Animalitas des animal rationale, "selbst der technischen Herstellung ausliefern soll." Dieses Motiv aus dem Rilke-Vortrag 201 von 1946 nimmt Heidegger in der "Frage nach Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 275. Wozu Dichter? (1946) in: Holzwege, S. 294. 198 Überwindung der Metaphysik (entstanden: 1936-1946), in: Vorträge und Aufsätze, PfuIIingen, 6. Aufl. 1990, S. 9l. 199 Holzwege, S. 294. 200 Zu dem inneren Zusammenhang von "Machen schaft" und "Erlebnis" vgI. Beiträge zur Philosophie GA 65, besonders S. 129 ff., wo dieser Zusammenhang innerhalb der Ersten Fuge des "Anklangs" erfahren wird. 201 Holzwege, S. 290. 196 197
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der Technik" wieder auf, indem er dort von der "höchsten Gefahr" des "Absturzes" des Menschen dahin spricht, sich selbst nur noch in der Weise des bestellbaren Bestandes zu nehmen. 202 Im diametralen Gegensatz zu Jüngers "Arbeiter" wird der Mensch, der sich der Technik fügt, nicht als Überwindung, sondern als "Rückfall" gegenüber Nietzsches "letztem Menschen,,203 gedacht, von dem Nietzsche sagt, daß er "nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus" werfe. Dem Walten der Technik in der "Machsamkeit des Seienden" entspricht ein "Menschentum", ein bestimmter Schlag, der sich durch beliebige "Einsetzbarkeit" und "Ersetzbarkeit" auszeichnet: "Das Menschentum erhält durch die Machsamkeit des Seienden, d.h. durch die Ermächtigung der Macht zum Sein des Seienden, das Gepräge des ,Menschenmaterials', das beliebig verschickt werden kann. ,,204
In den "Beiträgen" nennt Heidegger diesen Menschen, der seinen Wesensabsturz organisiert, das "weltarme Wesen".205 Weltarmut, geschehentlich gesagt: Weltschwund i. S. des Schwundes der aus dem ereignenden Zuwurf übernommenen ereigneten Erschlossenheit eines Ganzen von Bedeutsamkeit, wäre damit das Auszeichnende jenes Menschentums. Dieses existenzielle Schwundgeschehen könnte auch in einem Wort Ganzheitsschwund und Ganzheitsverlust genannt werden. Heidegger spricht dort daher auch von der "Verödung des Menschen.,,206 b) Das Aufleuchten der Unverfügbarkeit des Seins in Stefan Georges Gedicht: "Da das zittern noch waltet ... " als Zeugnis für eine dichterische Erfahrung mit der Unverfügbarkeit des Seins Bislang wurde die Unverfügbarkeit des Seins als eine wesentliche Erfahrung des Denkens mit der Wahrheit des Seins nur angedeutet im Zusammenhang mit der "Scheu", also derjenigen Grundstimmung, von welcher Die Frage nach der Technik EA, S. 26. Zu diesem Begriff Nietzsches vgl. KSA Bd. 4, S. 19 f. 204 Die Geschichte des Seyns GA 69, S. 185 (Zweites Manuskript). 205 Beiträge zur Philiosophie GA 65, S. 309. 206 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 406. Vor dem Hintergrund des Weltschwundes als Ergebnis der Vergegenständlichung und Verstellung des Seienden im Ganzen wird erst die Notwendigkeit der Zuwendung des Denkens zum Dichten klar. Wie das Denken Heideggers von den Anfängen her schon von dem Dichten begleitet wurde, zeigt die Kriegsnotsemestervorlesung von 1919: "Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem", abgedruckt in GA 56/57, S. 3-117. Dort (S. 74) zeigt Heidegger am Beispiel einer TextsteIle aus der "Antigone" des Sophok1es, wie die Dichtung eine ursprüngliche Erfahrung eines lebensweltlichen Phänomens - des Sonnenaufgangs - offenbart, die in ihrer ausgezeichneten Erschließungsweise durch das Vorstellen der vergegenständlichenden Wissenschaft (hier: der Astronomie) nicht überholt, geschweige denn ersetzt werden kann. 202
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durchstimmt dem Denken die Unverfügbarkeit des Seins aufleuchtet. Unverfügbarkeit heißt: Das Sein steht dem Denken nicht zur Verfügung. Das Sein fügt sich nicht dem Denken - so wie die Kategorien der Vergegenständlichung des Seienden durch das vorstellende Selbstbewußtsein dienen und dem Denken zur Verfügung stehen auf der Grundlage der ursprünglichen synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption bei Kant. 207 Aber denkt das Denken dort die Grundlage der Möglichkeit der Wahrheit des Seienden in seiner erkenntnishaften Sicherung, so erfahrt das seinsgeschichtliche Denken die Herkunft der Wahrheit eines jeglichen Seienden ursprünglicher in der lichtend-verbergenden Wahrheit des Seins selbst. Innerhalb dieser kann ein Seiendes allein geschichtlich "sein", in der Weise der Bergung der geschichtlich waltenden Wahrheit des Seins im Seienden. Der geschichtlich waltenden Wahrheit des Seins entspricht ein Entbergungsgeschick des Seienden, an welchem Geschick der Mensch in der Weise des geworfenen Entwurfs wesenhaft Anteil hat. Die Freiheit des Menschen geschieht in der Weise der Bergung der ereigneten Unverborgenheit des Seins im Seienden?08 Freiheit ist existenzielle Freiheit und als solche geschichtlich. Die Möglichkeit einer "Freiheit" im Sinne der philosophischen Tradition, als Streben nach dem Guten oder als selbstverantwortliche Handlungsfreiheit, wird damit nicht verworfen, sondern in seiner Fundierungsbedürftigkeit erfahren. Die fundierende existenzielle Freiheit ist ihrer Möglichkeit nach jedoch wesentlich anders bestimmt als die darin fundierten metaphysischen Interpretationen menschlicher Freiheit - die in ihrer Weise wesentliche Aspekte menschlicher Freiheit ansprechen. Der entscheidende Grund für diese ganz unterschiedliche Bestimmung der Möglichkeit menschlicher Freiheit liegt in der denkerischen Erfahrung der existenziellen Unverfügbarkeit des Seins begründet. Wenn auch das Überfallen werden von einer Stimmung eine Möglichkeit eines jeglichen Daseinsvollzugs ist, so setzt doch die darin aufweisbare Unverfügbarkeit des Seins, um überhaupt als Erfahrung des Denkens in ihrem Rang zugelassen zu werden, ein gewandeltes Denken und eine gewandelte Wesensbestimmung des Menschen voraus. Wie in der Literatur schon dargelegt wurde, ist es gerade das von Grund auf gewandelte Verhältnis des Denkens zur Dichtung, was den neu gelegten Boden des seinsgeschichtlichen Denkens charakterisiert. 209 207 Kritik der reinen Vernunft, S. 137 ff., §§ 15 ff. (Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe nach Ausgabe B). 208 Die Frage nach der Technik EA, S. 25: "Alles Entbergen kommt aus dem Freien, geht ins Freie und bringt ins Freie." 209 Vgl. F. - W. v. Herrmann, Die zarte, aber helle Differenz. Heidegger und Stefan George. Frankfurt am Main 1999, besonders S. 194 f.
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Wenn es im Ausgang von demjenigen Denken, das sich an der Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale und an der Bestimmung der Wahrheit als certitudo ausrichtete, zu Berührungen mit dem Dichten kam, so geschah das trotz den Erschwernissen, die für einen solchen Dialog in jenen Auslegungen begründet liegen. Das gilt für den Briefwechsel zwischen Schiller und Kant ebenso, wie für die Einladungen Hegels in dem Hause Goethes. Denn jene metaphysischen Bestimmungen des Menschen und der Wahrheit schließen die Behauptung einer prinzipiellen Inferiorität des dichterischen Schaffens gegenüber dem vorstellenden Denken derart ein, daß die "dichterische Einbildungskraft" als Sekret der Sinnlichkeit i. S. der Animalitas des Vernünftigen Lebewesens das Sein des Seienden, wie es auf der Grundlage der Vorgestelltheit des vorstellenden Selbstbewußtseins erfahren wird, nicht erreicht. Diese scheinbare Schwäche des Dichtens bildet jedoch gerade seine Stärke dort, wo es - bei Heidegger um die Überwindung des neuzeitlichen Denkens der Begründung des Seins des Seienden im vorstellenden Selbstbewußtsein geht. Die damit notwendig gewordene Abkehr von der Ontologie des animal rationale bzw. Subjektums macht das denkende Gespräch mit der Dichtung nicht bloß erst eigentlich möglich, sondern sie fordert dieses Gespräch sogar in der Weise der Zukehr zu ihr: Nur indem sich das Denken als Nähe zum Dichten neu erfährt, vermag es sich, von den anthropomorphen Bestimmungen der Tradition abspringend, einen neuen Anfang zu erspringen. Umgekehrt bedarf die Dichtung nicht notwendig des Gesprächs mit dem Denken. Das Sagen des Sprachkunstwerkes bedarf in seiner eigensten Unerreichbarkeit durch das Denken keiner Anleitungen durch dieses. Das schließt nicht aus, daß ein Dichten durch ein Denken aufgebrochen wird - so wie Paul Celan durch Heidegger Anstöße empfing. 2lO Der Grund für die offensichtliche Asymmetrie der Abhängigkeit liegt darin, daß das Dichten in sich schon eine unüberholbare Erfahrung mit dem seinsvergebenden Wesen der Sprache und damit mit der Unverfügbarkeit des Seins ausbildet. Für das Gelingen des Denkens ist es ganz entscheidend, diese Erfahrung aufnehmend denkend zu entfalten, ohne deswegen zu einer hybriden Zwischenform zwischen Denken und Dichten zu werden. Die Schwere eines solchen Gelingens bezeugt die unthematische Auslegung der dichterischen Erfahrung Stefan Georges mit der Unverfügbarkeit des Seins in den "Beiträgen zur Philosophie". Diese Aufnahme unterscheidet sich darin, daß sie George nicht namentlich nennt, einerseits von dem thematischen Gespräch mit Hölderlin und andererseits von der späteren thematischen Auslegung der Spätdichtung Georges in den Vorträgen über das Wesen der Sprache. 211 210
S. 114.
Vgl. besonders: Das Wesen der Sprache. Drei Vorträge im Studium Generale der Universität Freiburg im Winter 1957/58. Ferner: Dichten und Denken. Zu Ste211
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Das knappe strenggefügte Gedicht, an dem jene Aufnahme Georges durch das seins geschichtliche Denken dargelegt werden soll, ist - wie der für das Sprachdenken Heideggers so bedeutsame Zyklus "Das Lied" - der Spätdichtung Georges zuzuordnen. Es erschien zusammen mit diesem in dem letzten Gedichtband Georges 1928, der den nur aus der Gedankenwelt des Georgekreises zu verstehenden Titel trägt: Das Neue Reich. Eine größere Gruppe von Gedichten trägt die Überschrift: Sprüche an die Lebenden. Eine knappe Gruppe jene: Sprüche an die Toten. Das bedeutet: Die Toten verbleiben in einer bestimmten Weise in der Gemeinschaft der Lebenden. Die Lebenden beziehen die Toten mit ein in ihren Daseinsvollzug. Mit dem Andenken an die, die nicht mehr sind, wird zugleich das Geheimnis des Nichts zugelassen in seiner Zusammengehörigkeit mit der Wahrheit des Seins. Das Sein wird erst in seiner Zusammengehörigkeit mit dem Nichts dichterisch erfahrbar. Dies geschieht vermöge des unverfügbaren dichterischen Wortes: Da das zittern noch waltet Da ein dunkles noch droht Das dir zu gründen versagt ist: Dringe die bitte dir zu Dass den klängen du lauschst Deren seele du bist.
Das Gedicht gehört dem ersten Zyklus, den "Sprüchen an die Lebenden" an?12 Der Dichter erfährt das Walten eines "Zitterns" und mahnt, das darin sich Bekundende nicht voreilig zu "gründen", wobei an die Möglichkeit der dichterischen "Gründung" vermöge des Wortes zu erinnern ist. 213 Es wäre jedoch durchaus sinnvoll, sich in der Auslegung nicht darauf zu beschränken und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Verwiesenheit des gesamten menschlichen Existenzvollzugs auf ein ihm Unverfügbares in dem Gedicht genannt wird, wobei allerdings die Unverfügbarkeit des dichterischen Wortes die besondere Erfahrung des Dichtens mit dem ihm Unverfügbaren, es erst Ermöglichenden bekundet. Indem der Dichter das "Zittern" als ein "Walten" erfuhr, vermittelte er eine verwandte Erfahrung, die Heidegger als die "Erzitterung des Seyns fan Georges Gedicht "Das Wort". Unter dem Titel "Das Wort" zusammen mit den drei anderen Vorträgen abgedruckt in: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen, 9. Auf!. 1990. 212 SIe/an George, Das Neue Reich. Gesamt-Ausgabe der Werke endgültige Fassung. Neunter Band. Berlin, 2. Auf!. 1937, S. 94. 2I3 Vgl. hierzu die eminent wichtige Aufnahme von Georges Gedicht "Das Wort" in dem Sprachdenken Heideggers. Unterwegs zur Sprache, S. 159 ff. und S. 219 ff. Das Gedicht ist abgedruckt in: Das Neue Reich, S. 134 innerhalb des Zyklus "Das Lied". Vgl. hierzu v. Herrmann, Die zarte, aber helle Differenz, besonders § 9, S. 67 ff.
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selbst" phänomenologisch ausgelegt hat. Nachdem der Denker die "Stimmung" als die "Versprühung der Erzitterung des Seyns als Ereignis im Dasein" erfahren hat, bezeugt sich ihm das "Nichts" in eben dieser Weise der "Erzitterung": Das "Nichts" ist die "wesentliche Erzitterung des Seyns selbst,,?14 Heidegger nennt diese "Erzitterung" auch "Erzitterung des Götterns". Diese "erbreitet" den Zeit-Spiel-Raum215 • Es gilt, Raum und Zeit von ihrer neuzeitlichen, parametrischen Auslegung zu befreien, um Raum und Zeit - wie auch das Göttliche - streng aus dem Ereignis der Wahrheit des Seins zu denken. Dies ist jedoch ein Denken, das sich selbst aus der Unverfügbarkeit des ereignenden Zuwurfs der Wahrheit des Seins erfährt und sich damit auch aus dem Ver-sagen des Seins, dem "Nichts" versteht. Mit der "Erzitterung des Seyns selbst" spricht der Denker hingegen die Gebrauchtheit des selbsthaften Existenzvollzugs innerhalb der Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins an; i. S. des Ausstehens der selbsthaften, todesbereiten und für das Mitdasein aufgeschlossenen und daher reifen Existenz. Dieser bedarf es für die Gründung der sich kehrenden Wahrheit des Seins im Ereignis. Dieses Selbst der Wahrheit des Seins ist wesenhaft aus dem ereignenden Zu wurf der Wahrheit des Seins zu denken, d.h. aber aus dem ihm Unverfügbaren erfahren, welche Erfahrung Heidegger in der Nähe zu George die "Erzitterung" nennt: "Die Selbstheit ist die aus der Ereignung aufgefangene und sie ausstehende Erzitterung der Widerwendigkeit des Streites in der Erklüftung.,,216
Die "Erzitterung" erfährt mit der Widerwendigkeit des Streites von "Welt und Erde,,217 die "Abgründigkeit" des Seins 218 , damit den "Ab-grund" als "die zögernde Versagung des Grundes,,219. Diese zögernde "Versagung" ein Begriff, dessen Nähe zu der dichterischen Erfahrung des Versagtseins bei George offenkundig ist220 - ist als solche Zögerung "erstwesentliche lichtende Verbergung, die Wesung der Wahrheit" (Hervorhebung v. Heidegger)221. Das existenzielle "Ausstehen" der Abgründigkeit des Seins ist jedoch nicht bloß so zu verstehen, daß das Denken diese aushalten müßte, indem es sich z. B. der illusionären öffentlichen Verhüllungen des Todes entledigt, sondern die Abgründigkeit hat im Existenzvollzug selbst den 214 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 21, S. 266. 215 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 244. 216 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 321. Der Satz wurde von Heidegger hervorgehoben. 217 Vgl. zu diesem Begriff "Vom Ursprung des Kunstwerkes" in: Holzwege, besonders S. 35: "Das Gegeneinander von Welt und Erde ist ein Streit." 218 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 379 ff. 219 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 380. 220 Vgl. "Da das zittern noch waltet ... " die 3. Zeile: " C... ) Das dir zu gründen versagt ist." 221 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 380. 13 Platte
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Sinn, daß sie erst zu diesem eigentlich befreit: Mit "ErziUerung" und "Erklüftung" - Begriffe in denen das Er-eignis anklingt - nennt Heidegger die Weise, wie das Sein und damit das Da-sein des Nichts wesenhaft bedarf. Die Entbergung bedarf der Verbergung. Die "Welt" bedarf der "Erde" im widerwendigen Streit beider. Und das "Leben" im existenziellen Sinne bedarf des Todes, als des ihm geoffenbarten und doch versiegelten Geheimnisses, im Sinne derjenigen "erschlossenen Verschlossenheit", die der "unerschöpfliche Quellgrund" (von Herrmann) des Existenzvollzugs bleibt. 222 Erst innerhalb der Erfahrung der Abgründigkeit des Seins blitzt der Tod als das "höchste und äußerste Zeugnis des Seyns" auf. 223 Das "Nichts" als das an sich haltende, das sich versagende Sein ist drohendes Dunkel im Sinne Georges, das das Dichten derart umdroht, daß es sich zugestehen muß, auf ein ihm Unverfügbares verwiesen zu sein. Dieses Zugeständnis zwingt dem Dichten den Verzicht ab, in welchem Verzicht das Dichten erst die höchste Würde des Seins erfährt und gelten läßt. Die Haltung, die das dergestalt in seiner höchsten Würde scheu geahnte Sein dem Dichten und dem sich als Nähe zu diesem entfaltenden Denken abverlangt, ist jedoch nicht feige Resignation, dem Zuspruch des Seins nicht entsprechen zu können, sondern jene Haltung, die fordert: Dass den klängen du lauschst Deren seele du bist.
Damit bleibt sowohl die dichterische, wie auch die denkerische Existenz in einer nachbarschaftlichen Weise in Anspruch genommen, die Heidegger entsprechend in dem einleitenden "Vorblick" der "Beiträge" benannt hat mit den Worten: "Sucher, Wahrer, Wächter sein,,?24 Hiermit spricht der Denker nichts Geringeres als die Grundverfassung der menschlichen Exi222 Die Begriffe der "Erschlossenheit der Verschlossenheit" und des "unerschöpflichen Quellgrundes" finden sich in: F.- W. v. Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers. Meisenheim am Glan 1964, S. 109 ff., S. 113. v. Herrmann hat "Quellgrund" durch Anführungszeichen hervorgehoben. Heidegger kommentiert in den "Beiträgen" dieses "Sein zum Tode": "Die Einzigkeit des Todes im Da-sein des Menschen gehört in die ursprünglichste Bestimmung des Da-seins, nämlich vom Seyn selbst er-eignet zu werden, um die Wahrheit (Offenheit des Sichverbergens) zu gründen." Vgl. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 283 ("Der Sprung"). 223 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 284. 224 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 17. Hervorhebungen von Heidegger. Den Einfluß Georges auf Heidegger bezeugt u. a. auch ein früher Brief des Denkers an Hannah Arendt vom 13. Mai 1925. Vgl. Hannah Arendt - Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Aus den Nachlässen hrsg. v. Ursula Ludz. Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1999, S. 30. Zu Georges Einfluß auf die Generation der vor dem Ersten Weltkrieg Aufgewachsenen, der wohl nur mit demjenigen Nietzsches vergleichbar ist, vgl. H.-G. Gadamer: Der Dichter Stefan George. In: Ästhetik und Poetik I, Henneneutik im Vollzug. Gesammelte Werke Bd. 9. Tübingen 1993, S.211-228.
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stenz an, die er in "Sein und Zeit" die "ursprüngliche Strukturganzheit" genannt hat. Dieses Strukturganze unseres Seins, die "Sorge" wird dort charakterisiert: "Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzialontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. ,,225 Dieses Seinkönnen, worum es dem Dasein eigens geht, erfährt im seinsgeschichtlichen Denken eine grundlegende Modifikation und Radikalisierung, indem es jetzt aus der Notwendigkeit der Verwandlung der "Not der Seins verlassenheit" in eine "Wiederbringung" des Seienden begriffen wird. 226 Diese Not zu erfahren und denkend auszustehen, um sie verwandelnd zu verwinden, bedarf das seins geschichtliche Denken aber der Nähe zum Dichten.
c) Die seinsvergessene "Belagerung des Menschen durch das Seiende" als Ursprung der "Wesensfeindschaft" zwischen "Macht" und "Würde"
In einer auf die Jahre 1938-40 bestimmbaren seinsgeschichtlichen Aufzeichnung Heideggers kommt die dort so benannte "Wesensfeindschaft" zwischen "Macht" und "Würde" zur Sprache227 : Gemeint ist das Wesensverhältnis zwischen dem Machtwesen des Seins, als der das Zeitalter bestimmenden Gestalt der Wahrheit des Seins und der "Würde des Anfänglichen". Das das Zeitalter der neuesten Neuzeit, das dieses Technische Zeitalter, in dem wir leben, bestimmende Geschick der Wahrheit des Seins ist dasjenige Geschick des Seins, das in zunehmendem und sich ständig steigerndem Maße das Wesen der Modemen Technik als die einzig in Geltung bleibende Offenbarkeit des Seins des Seienden in ihr Machtwesen ausbreitet. Diese Ausbreitung geschieht als ständige ermächtigende Übermächtigung des Machtwesens des Seins durch sich selbst, die das Sein des bemächtigten Seienden auf die Wirklichkeit des Wirklichen reduziert, welche Auslegung des Seienden allein dem technischen Vor- und Zustellen des Seienden entspricht. Wie bestimmt sich von dieser Voranzeige her die uns noch so dunkle "Wesensfeindschaft" zwischen Macht und Würde? Bezeugt nicht doch - wie Heidegger selbst gegenüber der traditionellen instrumentalen Bestimmung der Technik als einem vom Menschen be-
225 226 227 13*
Sein und Zeit, S. 193. Hervorhebungen von Heidegger. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 17 f. Die Geschichte des Seyns GA 69, S. 74.
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stimmten Werkzeug zu einem von diesem bestimmten Zweck eingewandt hat - auch die Technik noch die Würde des Seins? Diese letzte Frage ist durchaus zu bejahen: Wird die "Technik" nicht mehr anthropologisch-instrumental 228 ausgelegt, wie dies z. B. bei Karl Jaspers noch geschieht auf dem dort unhinterfragten Boden der Subjektivität,229 sondern aus der Wahrheit des Seins geschichtlich erfragt und erfahren, so ist sie mit dem Sein in gewisser Hinsicht eines Wesens: "In Wahrheit wird ( ... ) die Technik, wo sie instrumental oder gar als Werkzeug gilt, in ihrem Wesen herabgewürdigt. Sie gilt als etwas Seiendes unter vielem anderen Seienden, während doch in ihr und als sie das Sein selber west: mo
Auch noch als Geschick des Wesens der Modemen Technik bleibt die Unverfügbarkeit des Seins und in einem hiermit die höchste Würde des Seins dem Denken erfahrbar. Diese seinsgeschichtliche Erfahrung der Technik und in einem hiermit das seinsgeschichtliche Denken überhaupt verdanken sich zu einem schwerlich zu überschätzenden Anteil dem Gespräch des Denkers mit der Autorschaft Ernst Jüngers, dessen Schriften "Die totale Mobilmachung" (1930) und "Der Arbeiter"(1932) chronologisch mit der von Heidegger vollzogenen Kehre seines Denkweges zusammenfallen. In den Essays Ernst Jüngers zeigt sich erstmals das totale und als solches planetarische Wesen der Modemen Technik, das allerdings dort innerhalb der unhinterfragten und unbegriffenen Metaphysik der Subjektivität und zwar deren Endgestalt, des "Willens zur Macht" steht und auf diesem unbegriffenen Boden stehend niemals in den Bereich einer philosophischen Besinnung über den Ursprung der Technik und ihres globalen Machtwesens gelangen kann?3) Inwiefern es bei Jünger später zu einer dichterischen Aus228 Zur ausführlichen Erörterung dieser "richtigen" Bestimmung der Technik, vgl. Die Frage nach der Technik, EA, S. 6 ff. 229 Kar! Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949, S. 127179. S. 129: "Technik ist das Verfahren der Naturbeherrschung durch den wissenschaftlichen Menschen für den Zweck, sein Dasein zu gestalten, um sich von der Natur zu entlasten und die ihn ansprechende Form seiner Umwelt zu gewinnen." Jaspers ist sich der geschichtlichen Tragweite der Technisierung als einem wahrheitsverwandelnden und den Menschen im Kern gefährdenden Prozeß jedoch durchaus bewußt und zeigt hiermit, inwiefern auch auf einem von der Tradition bestimmten Boden noch gebaut werden kann. 230 Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, S. 60 (Aus dem Bremer Vortrag von 1949: "Die Gefahr"). Heidegger wehrt die instrumentale Bestimmung der Technik u.a. ab in: Parmenides GA 54, S. 128; Die Frage nach der Technik EA, S. 6 ff.; Identität und Differenz EA, Pfullingen, 9. Auf!. 1990, S. 22. Der Freiburger Vortrag von 1957 ist auch abgedruckt in: Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, S. 115129, S. 123. 23\ So belegen die Hinweise Heideggers, das seinsgeschichtliche Denken habe durch Jüngers Beschreibung der neuen, den gesamten Planeten umspannenden und sich sowohl in Faschismus, wie in Kommunismus und "Weltdemokratie" manifestie-
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einandersetzung mit der Technik kommt, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht erörtert werden. In dem "Arbeiter" stoßen wir auf eine kennzeichnende Dissonanz zwischen dem Willen, eine "neue Wirklichkeit" die technischen Welt als eine sich verwirklichende und ausbreitende Ganzheit - zu beschreiben 232 und dem Selbstverständnis Jüngers, sich in seiner damaligen Autorschaft als Autor an der "Rüstung" zu beteiligen - eine Beteiligung, die offensichtlich gerade in der Weise der Beschreibung der "neuen Wirklichkeit" geschieht. 233 Dies zeigt, wie vollkommen verborgen die Herkunftsquelle aller wohlverstandenen Beschreibung gegenüber dem bloßen Aktivismus der "Totalen Mobilmachung" dem Autor in seiner Autorschaft bleibt. Diese Verborgenheit ist keine Einschränkung der Bedeutung der Essays von Jünger. Wie sehr sie die "neue Wirklichkeit" treffen, belegt nicht zuletzt der Ausspruch Roosevelts von 1944, daß ihm die "größte totale Mobilmachung der Welt" gelungen sei. Aber die Notwendigkeit einer weitergehenden Besinnung zeigt folgende Überlegung: Wäre die Bestimmung der Welt als "Arbeit", die sich als "Totale Mobilmachung" konkretisieren muß, faktisch nur so zu vollziehen, daß sie als Totalbestimmung folgerichtig auch die Position des Betrachters miteinbezöge, so müßte sich diese Autorschaft innerhalb jenes Weltganzen auflösen, das seine "Wahrheit" ausschließlich darin hätte, ein Machtkampf zwischen dem Seienden als solchem zu sein. Die von Jünger wohlverstandene Beschreibung renden neuen Wirklichkeit "eine nachhaltige Förderung" erhalten, die immense Bedeutung Jüngers für Heidegger, die sich auch an Hand der Begrifflichkeit im Einzelnen nachweisen läßt: "Gestalt", "Bestand", "Macht", "Organische Konstruktion", "Arbeit", "Totale Mobilmachung" tauchen in den seinsgeschichtlichen Manuskripten der 30-er Jahre immer wieder auf und belegen, wie sehr sich dieses Denken einer Auseinandersetzung mit Jüngers Beschreibung des technischen Weltalters verdankt. Als Denken steht Heidegger aber nicht bloß in einem Gegensatz zu Jünger, sondern die bei Jünger offensichtlich werdende nihilistische Konsequenz des okzidentalen Rationalismus nötigt ihn gerade erst in die Notwendigkeit eines andersanfänglichen Denkens. Vgl. den ursprünglich als Festschriftbeitrag zum sechzigsten Geburtstag Jüngers veröffentlichten Text "Zur Seinsfrage" in: Wegmarken, S. 387426, S. 391. Ferner: Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken. In: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede gehalten bei der feierlichen Übergabe des Rektorats der Universität Freiburg LBr. am 27.5.1933. Hrsg. v. Hermann Heidegger. Frankfurt am Main (1983) 2. Auf!. 1990, S. 21--43, S. 24 f. 232 Vgl. das Vorwort von 1932, a.a.O. S. 9. 233 In einem unveröffentlichten Brief "An die Freunde" vom 15. Juli 1945 bemerkt Jünger mit Bezug auf die mitten im Zweiten Weltkrieg entstandene "Friedensschrift", die er seinem gefallenen Sohn widmete, in ihrem Verhältnis zu der "Totalen Mobilmachung" (1930): "Ich möchte nicht zu den Zahllosen gehören, die heute nicht mehr an das erinnert werden wollen, was sie gestern gewesen sind. Wenn ich mich dem Gedanken des Friedens zuwende, so deshalb, weil ich fühle, daß die Stunde trotz allem dafür reif geworden ist, und ich der Sache dienen kann. Ich rechne es mir nicht minder zur Ehre an, daß ich mich, als ich das Vaterland in ungerechten Ketten sah, mich dem Gedanken der Rüstung zuwandte (... )."
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der "neuen Wirklichkeit" verlangt nach dem Bezug der Herkunftsquelle existenzieller menschlicher Freiheit und zugleich in einem hiermit nach der Ablösung - Epoche - der Autorschaft von dem im Sichtkreis des "Willens zur Macht" allein noch zugelassenen, überall anbrandenden seinsverlassenen Seienden. Wie naturwissenschaftliche Erkenntnis auch, stehen Jüngers Essays im Spielraum jenes Bezuges, ohne davon eine begreifende Erfahrung zu haben, die ihrerseits erst innerhalb einer denkenden Erfragung der Wahrheit des Seins möglich und zur Aufgabe wird. In eine seins ge schichtliche Besinnung gehoben, reduziert sich der Wahrheitsanspruch innerhalb der total mobilgemachten "Welt" auf die Machtgemäßheit des jeweils als "wahr" Propagierten und Vertretenen und Durchgesetzten. Der Maßstab für wahr und richtig liegt jetzt nicht in der Sachgerechtigkeit einer Beschreibung, sondern in deren Machtgemäßheit begründet: Wahr ist, was der Macht frommt. Diese eigenartige Verzwingung der technischen Weltauslegung mit sich selbst und in sich selbst betrifft nicht zuletzt auch die "Objektivität" der wissenschaftlichen Wahrheit. So erhebt der Physiker doch immer noch den Anspruch, daß seine Berechnungen, die Sätze, die er aufstellt, in einem anderen Sinne "wahr" seien, als daß sie bloße Sekretionen eines maschinen haften Mechanismus - der Wissenschaft im Machtkreis der Technik - seien. Stets zu Recht? Es ist eine sehr weitreichende Entdeckung Heideggers, daß mit der letzten Verwandlung der neuzeitlichen Subjektivität in das Wesen der Modemen Technik auch noch der Gegenstand als das dem neuzeitlichen Subjektum als Korrelat Entgegenstehende zerfällt. So schreibt Heidegger in einem späten Brief an Erhart Kästner: "Wenn Sie sagen: ,Die Forscher sind die Getriebenen', dann frage ich: wer oder was treibt? Soweit ich sehe, treibt das Wesen der Technik, worin der Wandel des Seins von der Gegenständlichkeit zur durchgängigen Bestellbarkeit von allem waltet. ,,234 Im Andrängen des eingeebneten Seienden macht sich dieses als das "Abstandslose" breit. 235 Inmitten des Soges des Abstandslosen hineingewirbelt erlischt auch zuletzt der Mensch in seiner Verfassung als vorstellendes Subjekt: Träger der Subjektivität werden jetzt über den Einzelmenschen scheinbar hinausreichende Größen wie z. B. die "Volksgemeinschaft,,236 oder, um ein modemes Beispiel zu nennen: die "Globalisierung", worin der planetarische Wille zur Macht Ernst Jüngers "Arbeiter" nach 70 Jahren bestätigt237 , um zugleich die Bewährung für dessen Ablehnung ausgrenzender 234 Martin Heidegger - Erhart Kästner. Briefwechsel 1953-1974. Hrsg. v. Heinrich W. Petzet. 1. Auf!. 1986, S. 121 f. Brief vom 30. Juli 1973. 235 Bremer und Freiburger Vorträge. GA 79, S. 25 f. ("Das Ge-Stell"); Die Frage nach der Technik EA, S. 16: "Was im Sinne des Bestandes steht, steht uns nicht mehr als Gegenstand gegenüber." 236 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 321,4. Absatz.
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Schemata wie derjenigen des Sozialismus (klassenspezifisch) oder des Nationalismus zu liefern, die er einem veralteten - eben nicht der Technik entsprechenden - Freiheitsbegriff verhaftet sieht, hinter dessen "Phraseologie" sich allerdings der "dynamisch-nivellierende Charakter" verberge?38 Erst in der sogenannten "Globalisierung" erfüllt sich das planetarische Schicksal der aus dem Wesen der Modemen Technik bestimmten Menschheit. Die seinsgeschichtliche Erfahrung der Technik offenbart sich als diejenige wesenhafte Not, aus welcher Erfahrung erst die Notwendigkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins dem Denken zumutbar wird. Aber schon im Blickbereich des fundamentalontologischen Denkens zeigt sich die Möglichkeit, das andrängend-bedrängende Seiende in diesem andrängenden Charakter dem Denken als wesenhafte Not erfahrbar zu machen. Dies zeigt sich in derjenigen Grundstimmung, die Heidegger in der Freiburger Vorlesung vom Winter 1929/30 die "tiefe Langeweile" genannt hat. 239 Von dieser aufschließenden Stimmung durchstimmt, erfährt sich das Dasein in seiner "Ausgeliefertheit" an das sich "im Ganzen versagende Seiende".24o Diese "tiefe Langeweile" vennag das Denken nur zu stimmen, indem es sich der öffentlich diktierten, seinsentlastenden Abdrängungen dieser wesentlichen Grundstimmung erwehrt: Das Denken, das sich dergestalt freihält für das in der "tiefen Langeweile" Erschlossene, ist nur möglich als ein "Gezwungenwerden im Sinne des Zwanges, den alles Eigentliche im Dasein hat, das demnach auf die innerste Freiheit Bezug hat.,,241 Dergestalt zu einer unverfügbaren und doch das "heutige Dasein" unterschwellig beherrschenden Stimmung be-freit, offenbaren sich dem Denken zwei Struktunnomente: die "Leergelassenheit" von dem "sich im Ganzen versagenden Seienden" und in einem hiennit die "Hingehaltenheit" an die sich gleichursprünglich in der "tiefen Langeweile" offenbarende "Zeit". Inmitten der Zulassung der äußersten Not des Anfalls der Leere des sich im Ganzen versagenden Seienden, der das Dasein selbst noch in seinem Selbstbezug verschlingt, indem es sich selbst gleichgültig wird, erfährt das Denken die Notwendigkeit " ... daß wir, daß das Dasein in uns in die Weite des Zeithorizontes seiner Zeitlichkeit hinausschwingt und so gerade nur einschwingen kann in den Augenblick des wesentlichen Handelns.,,242 Wir er237 Der Arbeiter, S. 306: "Das Ziel, in dem sich die Anstrengungen treffen, besteht in der planetarischen Herrschaft als dem höchsten Symbol der neuen Gestalt (des Arbeiters, Erg v. mir)." 238 Der Arbeiter, S. 249. 239 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. GA 29/
30, S. 199-249. 240 S. 210. 241 S.205.
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innern, indem wir zugleich über den fundamentalontologischen Denkansatz hinausgehen: Das Wesen der Wahrheit ist zugleich in einem lichtend und verbergend. Die Lichtung als stimmungshafte Offenbarwerdung der "Zeit" bedarf der als solcher zugelassenen Not der Leere des sich versagenden Seienden im Ganzen als ein sich zeigendes Sichversagen des Seienden im Ganzen. Die Betonung liegt hier auf "im Ganzen": Das Seiende ist zwar positiv "da" und insofern gegeben, aber in der Weise, wie es das Dasein angeht, läßt es sich diesem "im Ganzen" doch versagt sein. In den "Beiträgen" sagt Heidegger rückblickend zu der phänomenologischen Auslegung der "Zeit" innerhalb der ersten Entfaltung der Seinsfrage in "Sein und Zeit": ,,( ... ) "Zeit" (meint) die erste Anzeige des Wesens der Wahrheit im Sinne der entrückungsmäßig offenen Lichtung des Spielraums, in dem das Seyn sich verbirgt und verbergend sich erstmals eigens in seiner Wahrheit verschenkt.,,243
"Erstmals" bedeutet, daß in "Sein und Zeit" das Sein ("Seyn") zum ersten Mal in der Geschichte des abendländischen Denkens für das Denken (das meint "eigens") erfahrbar wird. Heidegger will damit nicht sagen, daß das Denken des ersten Anfangs - von Platon bis Nietzsche - außerhalb einer jeglichen Erfahrung dessen stünde, was er "Sein" nennt. Im Gegenteil: Indem sich dieses Denken dem Geschick des Fragens der Leitfrage nach dem Sein des Seienden unterstellte, erfuhr es in seiner bestimmten und unüberholbaren Weise das Sein des Seienden als eines solchen. Gerade indem der erste Anfang des abendländischen Denkens 244 das Sein als Seyn nicht eigens erfuhr, vermochte er die Frage nach dem Sein des Seienden auf den Weg zu bringen und schließlich dem im Seienden machtenden Technischen Zeitalter die Bahn vorzubereiten und endlich als Positivismus, Erkenntnistheorie und "Logistik" auch zu brechen. Aber der innere Reichtum des erstanfänglichen Denkens und die Mächtigkeit der von der Spätgestalt dieses Denkens, der neuzeitlichen Metaphysik vorbereiteten Weltzivilisation, die andere Lebensformen neben sich nicht duldet und zum Erlöschen bringt, verdanken sich einem Versäumnis. Dieses Versäumnis ist als eine die Geschichte des Seins bestimmende Gestalt der Verborgenheit und damit des "Nichts" nicht durch eine bloß hinzukommende Reflexion wettzumachen, weil es als Versäumnis gerade den ungegründeten aber als solchen tragenden Grund für das wissenschaftliche und technische Vor- und Zustellen abgibt. Wir stoßen stets auf den selben Grundgedanken Heideggers: Die Wahrheit des Seins bedarf des Nichts S. 227. Hervorhebungen v. mir. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 433. 244 Diese etwas altertümlich anmutende Wendung ist hier bewußt beibehalten, um zu erinnern: Es gibt auch ein östliches Denken, von dem mehr zu wissen heute Not tut. 242 243
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i. S. der Verborgenheit; im Kontext der "Technik" - als der geschichtlich waltenden Gestalt der Wahrheit des Seins - der Verborgenheit ihrer Wesens wahrheit. Auch wenn die Verborgenheit der Wesenswahrheit des Seins schon den ersten Anfang des Denkens ursprünglich auf den Weg gebracht hat, so gilt es doch zu betonen: Das Wesen der Modemen Technik, das "Gestell", bedarf als im Seienden machtende Gestalt der Wahrheit des Seins in besonderem Maße des Nichts der Verbergung seiner Wesenswahrheit und Wesensherkunft. Worin ließe sich dieses auszeichnende Bedürfnis des technischen Vor- und Zustellens zum Aufweis bringen? Schon in der Freiburger Antrittsvorlesung (1929) betont Heidegger die ganz eigenartige Unbedürftigkeit der Wissenschaft hinsichtlich der Frage nach dem Sein, die sich für ihn jetzt als Frage nach dem Nichts stellt: Indem sich die Wissenschaft ausschließlich an das "Seiende selbst" und "sonst nichts,,245 hält, gilt: "Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen",246 d.h. die Wissenschaft will von dem Sein, das mit dem Nichts des selben Wesens ist, "nichts" wissen. Die Quelle der Herkunft des Seins des Seienden i. S. der Gegenständlichkeit der Gegenstände der Wissenschaft bleibt als lichtend-verbergende Wesung des Seins dem wissenschaftlichen Vorstellen des Seienden - d. h. dem Vorstellen nur des Seienden und sonst "nichts" - verschlossen?47 Diese Verschlossenheit erscheint innerhalb der seinsgeschichtlichen Besinnung aber gerade als wesens notwendig für die geschichtliche Entbergungsgestalt des Seins des Seienden, dem der modeme Wissenschafts betrieb zwangsweise - "ducunt volentem fata, nolentem trahunt" - angehört: dem Wesen der Modemen Technik. Indem sich die Wissenschaft an das Seiende selbst und sonst nichts hält und aus dieser Konzentration auf das Seiende ihre eigenste Strenge und ihr gegenüber allen über das Seiende hinausgehenden Fragestellungen stets entsagungsvolles Ethos empfängt, bedarf sie zugleich der Verborgenheit ihres Wesens grundes. Erst von dieser Verborgenheit her läßt sich die Verwurzelung der neuzeitlichen Naturwissenschaft im Wesen der Modemen Technik, die Heidegger betont, verstehen?48 Gemeint ist diejenige Wissenschaft und diejenige Technik, in denen das Geschick der Seinsvergessenheit des Denkens und der Seins verlassenheit des Seienden geschieht und sich vollendet. Entscheidend für den "technischen" Charakter der Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts ist der matheWas ist Metaphysik?, Frankfurt am Main, 14. Aufl. 1992, S. 26. S. 27. 247 Geheimnisvoll ist allerdings, daß die Wissenschaft in ihrer Weise, indem sie das Seiende selbst erforscht und sonst "nichts", doch dasjenige, eben das "Nichts", in Anspruch nehmen muß, von dem sie "nichts" wissen will. Darin zeigt sich für Heidegger ihr "zwiespältiges Wesen" (5. 27). 248 Die Frage nach der Technik EA, S. 22 f. 245
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matische Naturentwurf und damit der Eingriffscharakter der experimentellen Wissenschaften in das erforschte Seiende im Ganzen. So kommt es, daß sich in Heideggers Denken das historisch später in Erscheinung Tretende, die Technik, als das schon die frühe neuzeitliche Naturwissenschaft Bestimmende zeigt. Aber erst im modemen Wissenschafts betrieb zeigt sich das technische Wesen der Wissenschaften, die das Seiende jeweils auf ihre Weise als Bestand erfahren und dem Betrieb zustellen, der auf eine immer effektivere Vernutzung des Seienden abgestellt ist. Die Vor- und Zustellung des Seienden ist nur scheinbar Zulassung des Seienden in seinem Sein. Die Würde der Einzigkeit des Seienden wird in der einebnenden Verallgemeinerung des Vor- und Zustellens niedergehalten. Das Vor- und Zustellen des Seienden - scheinbar dessen höchste Weihe - bedarf gerade der Niederhaltung des Seienden in seinem Sein. Die Einebnung des Seienden auf seine Beständigkeit und seine damit unbedingt verknüpfte Entleerung verbürgen erst dessen machtermächtigungsgemäße Zurechtmachung. Heidegger nennt das Seiende im Sichtfeld der Modemen Technik daher zuweilen auch das "Unseiende". Das noch als Gegenstand vorgestellte Seiende wird in seiner Gegenständlichkeit soweit in die Vernutzbarkeit aufgelöst, daß auch dieser metaphysische Rang des Seienden noch erlischt. Die Seins verlassenheit des Seienden vollendet sich. Diese "Seinsverlassenheit" ist wörtlich zu nehmen: "Mit einem Schlag wird das Verfahren und die Einrichtung, das Vermitteln und das Vertreiben wesentlicher als das, dem all dieses gilt.,,249
Die Einebnung des Seienden in die Verläßlichkeit des Bestandes betrifft im Geschick der Modemen Technik, das Heidegger das "Gestell" nennt, ein jegliches Seiendes in seinem Sein - unabhängig von seinem Sein. So entsprechen die Standardisierungen der industriellen Massenproduktion in genau dem selben Maße dem Entbergungsgeschick der Modemen Technik, wie die grauenhafte Praxis der systematischen Persönlichkeits vernichtung in Konzentrationslagern: Nur der innerlich gebrochene Mensch kann in vollem Maße dem Anspruch der Verläßlichkeit genügen, wenn man die Arbeitskraft des Häftlings verbrauchen oder man ihn seiner reibungslosen und "hygienegerechten" physischen Vernichtung entgegenführen will. Allgemein gilt: Nur das eingeebnete, berechenbare und abrutbare "Menschenmaterial" - heute sagt man: "human ressources" - genügt den Anforderungen des "Bestandes". Die heroische Interpretation des den technischen Raum bevölkernden Schlags erweist sich als ein für Jünger charakteristischer Rückgriff auf die Geschichte, der der Sachlage nicht gerecht werden kann: Helden darf es jetzt nicht mehr geben, es sei denn als fiktionale Figuren zu Propagandazwecken, denn zum Helden gehört das freiwillige Opfer und vom
249 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 449 f.
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"Arbeiter", seI er Soldat, sei er Ingenieur, wird erwartet, daß er funktioniert. Die heroische Interpretation des von dem Wesen der Modemen Technik belangten Menschen trifft allerdings etwas Wahres: Der Mensch ist im Grunde niemals bloßer "Bestand", wie das nichtdaseinsmäßige Seiende im Blickfeld des herausfordemen, stellenden Entbergens. 25o Denn der Mensch hat an dem Entbergungsgeschick der Modemen Technik, dem "Bestellen", stets in der Weise des geworfenen Entwurfs wesenhaften Anteil. 251 Wenn auch die Technik als Entbergungsgeschick des Seins dem geworfenen Entwurf unverfügbar bleibt - der Mensch ist nicht "Herr des Seins", die Technik entsprechend kein "Gemächte" des Menschen 252 - so geschieht doch kein Entbergen der Wahrheit des Seins als "Bestellen" des Bestandes ohne den Menschen: "Das Geschehnis des Entbergens, d.h. der Wahrheit, ist es, zu dem die Freiheit in der nächsten und innigsten Verwandtschaft steht. ,,253
Die Hineingenommenheit und Gebrauchtheit des Existenzgeschehens innerhalb des Wesungsgeschehens der Wahrheit des Seins läßt allerdings den heroischen Fatalismus Jüngerscher Prägung in seiner ganzen Fragwürdigkeit erscheinen: Als geschichtliche Gestalt der Wahrheit des Seins ist die Modeme Technik niemals bloß schicksalhaft hinzunehmendes und auszustehendes Los. Seinsgeschichtlich, aus dem Ereignis erfahren, ist die Technik ein Anspruch der Freiheit an den Menschen, wird "Freiheit" als existenzielle Freiheit aus dem Ereignis denkend erfahren. Gegenüber der Technik steht der Mensch daher nicht in dem Verhältnis einer durch diese ihm auferlegten Bewährung und Stählung, sondern er erfährt in der Technik mit dem Bezug der Wahrheit des Seins zugleich auch den Ursprung seiner Freiheit und Verantwortung. Die Technik ist jetzt nicht mehr das unerbittliche Richtmaß für den Menschen und seine Überlebensfähigkeit in dem von traditionellen Werten entblößten Raum: "Immer geht die Unverborgenheit dessen, was ist, auf einem Weg des Entbergens. Immer durch waltet den Menschen das Geschick der Entbergung. Aber es ist nie das Verhängnis eines Zwanges. Denn der Mensch wird gerade erst frei, insofern er in den Bereich des Geschickes gehört und so ein Hörender wird, nicht aber ein Höriger. ,,254
Die Frage nach der Technik, S. 20. S. 18. 252 S. 20, vgl. ferner in der selben EA: Die Kehre, S. 38. 253 Die Frage nach der Technik, S. 25. 254 Die Frage nach der Technik, S. 24. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch Heideggers Ausführung über die Zusammengehörigkeit von "Ruf' (Ereignendem Zu wurf) und "Gehör" (Ereignetem Entwerfen) im Ereignis, welche in ihrem 250 251
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Wenn der Mensch stets der Gebrauchte innerhalb des Geschehens der Wahrheit des Seins ist, mithin das Entbergungsgeschick der Modemen Technik seiner stets wesensnotwendig bedarf, solange es waltet und währt, so erhellt das seinsgeschichtliche Denken in einem mit der Gefährdung zugleich auch den Grund für den unantastbaren Wesensrang des Menschen: Jener aus der Wahrheit des Seins gewährte Rang west in der im geworfenen Entwurf der Wahrheit des Seins sich entfaltenden existenziellen Freiheit. Dieser darin sich bekundende Wesensrang, der die Kluft zu allem nichtdaseinsmäßigen Seienden aufbrechen läßt255 , ist als solcher zu unterscheiden von der Wesenswürde des Menschen. Der Wesensrang, i. S. des Wesensvorranges des Menschen, kann dem Menschen niemals genommen werden. Auch wenn die Technik soweit machtet, daß der Mensch selbst in ihrem Vor- und Zustellen vollkommen aufgeht, so geht er doch insofern nicht unter in seinem Menschsein, als er fernerhin in der Weise des geworfenen Entwurfs gebraucht ist, da die Technik seiner stets bedarf, um als Entbergungsgeschick des Seins fortzuwähren in ihrem nach und nach alle Gegenstandsbereiche aufsaugenden Walten. Im Unterschied zu dem unabdingbaren Wesensvorrang des Menschen ist die Wesenswürde des Menschen, als dessen eigenste und höchste Möglichkeit, im Machtbereich der Technik jedoch weitestgehend und sogar in wachsendem Maße entzogen. In dem Maße, in dem der Mensch sich zum vermöge der Technik mächtigsten Tier aufsteigert, wird an ihm zugleich die Reduktion zum "Bestand" i. S. des Rohstoffs oder Materials aufzeigbar. Das technische Vor- und Zustellen hat in sich Schwundcharakter und läßt den Menschen nur noch als Schwundwesen zu: "Der Mensch, d. h. das als solches vergessene Subjektum, gehört in das Ganze des Seienden im Sinne des ,Objektiven' und ist innerhalb desselben nur ein flüchtiges Staubkorn. Die Aufsteigerung des Menschen in das schrankenlose Machtwesen und die Auslieferung des Menschen an das unerkennbare Schicksal des Ablaufs des Seienden im Ganzen gehören zusammen, sind dasselbe. ,,256
In dem selben Maße, in dem der Mensch den stellenden Zuwurf der Wahrheit des Seins in der Weise des gestellten Entwerfens übernimmt, erlangt er Mächtigkeit über das Seiende der verschiedensten Regionen. Er unterliegt aber zugleich dem selben stellenden Zuwurf des Gestells, das ihn nur noch in der Weise des Bestandes auf seine Bestellbarkeit hin zuläßt. Ausgeliefert an das "Schicksal" der vergegenständlichten "Welt" als ein Bestands stück dieser, unterscheidet er sich in seinem Bestandscharakter doch grundwesentlich von dem Bestandsein der nichtdaseinsmäßigen Seienden: Zusammengehören erst das "Sein" ausmachen, in dem an Jünger gerichteten Text "Zur Seinsfrage", Wegmarken, S. 408. 255 Vgl. hierzu das über die "Hand" Gesagte in dem § 9 dieser Untersuchung. 256 Besinnung GA 66, S. 160. Hervorhebungen durch Heidegger.
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Die Qualität des Menschen, im Sichtkreis der Modemen Technik nicht irgendein, sondern der "wichtigste Rohstoff' zu sein, verdankt sich gerade eben jener Gebrauchtheit innerhalb des Schwingungs ganzen des Ereignisses. Das Entbergungsgeschick der Wahrheit des Seins als Modeme Technik vermag das Existenzgeschehen als gestellten Entwurf zwar niemals derart zu fesseln, daß es als ein nur noch hinzunehmendes Verhängnis walte. Aber der Mensch vermag sich auch niemals durch einen Gewaltakt, bloß aus eigener Kraft, jenem Walten der Wahrheit des Seins zu entziehen. Die unverfügbare Möglichkeit einer den Menschen in seinem Wesensrang bestätigenden und in seiner Wesenswürde rettenden Kehre im Geschick der Wahrheit des Seins kann nur dann sich eröffnen, wenn es gelingt, den Menschen der in der Technik und als Technik waltenden Übermacht des Seienden zu entziehen, um ihn zugleich in einem hiermit der Wahrheit des Seins zu übereignen. Das als Modeme Technik machtende Sein ist als Schwundgestalt des in sich unerschöpflich reichen vollen Wesungsgefüges des Seins mit der Vormacht des Seienden eines Wesens: In dem Machtwesen der Modemen Technik west das Sein nicht mehr als die Lichtung seiner Unverborgenheit, sondern als das andrängend-bedrängende Unseiende: Nur noch das Seiende "gilt", und zwar in der Gestalt seiner machtgemäßen Vernutzbarung. Machtgemäßheit i. S. des "Machtermächtigungsgerechten" bildet den letzten, trüben Schimmer der nunmehr gänzlich verhüllten Wahrheit des Seins. Wie kommt es, daß das von der Wahrheit des Seins verlassene Seiende in dieser seiner Seinsverlassenheit zugleich bedrängt und "herrscht"? Wir lesen hierzu Heideggers Wesensbestimmung der Modemen Technik: "Das Wesen des Gestells ist das in sich gesammelte Stellen, das seiner eigenen Wesenswahrheit mit der Vergessenheit nachstellt, welches Nachstellen sich dadurch verstellt, daß es sich in das Bestellen alles Anwesenden als den Bestand entfaltet, sich in diesem einrichtet und als dieser herrscht. ..257 Dieser erste Satz des Bremer Vortrags "Die Kehre" (1949) mutete den damaligen Zuhörern gewiß zuviel zu. Erfragt werden sollte die Möglichkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins: Die Frage nach dieser Möglichkeit wird erst angesichts des sich ständig selbst übermächtigenden Wesens der Modemen Technik zum Gebot für das fromme, d.h. auf die unverfügbare Wahrheit des Seins hörende Denken. Anders gesagt: Die Technik ist nicht irgendein "Thema" des Denkens unter anderen, sondern diejenige "Not der Notlosigkeit", welche als die Not erfahren wird, die das diese Not auszustehen sich zumutende seinsgeschichtliche Denken erst auf den Weg bringt und in seine Notwendigkeit fügt. Hiermit ist zugleich gesagt: Die Technik als Seinsgeschick liegt als das Denken in seine Notwen257
Die Kehre EA, S. 37.
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digkeit nötigende Erfahrung den "Beiträgen zur Philosophie" stets und immer vor Augen. Erst aus der nötigenden Not des sich einrichtenden und herrschenden "Bestandes" des Unseienden erfährt das Denken der "Beiträge" sein sechsfach gefügtes Gefüge. Die Sprache ist allerdings noch nicht diejenige der Technik-Vorträge, zu denen auch "Die Kehre" gehört. Der Begriff der "Technik" tritt in den "Beiträgen" zwar schon auf, es dominieren aber Wendungen wie: Machenschaft, Machsamkeit und machenschaftliehe Aufmachung des Seienden. 258 Wenden wir uns aber wieder der zitierten Stelle aus der "Kehre" zu: Die bündig-konzise Wesensbestimmung der Modernen Technik versammelt in sich das in den zuvor in Bremen gehaltenen Vorträgen über das Wesen der Modernen Technik Gedachte 259 in einem Satz. Demnach waltet die Moderne Technik als ein zwiefaches EntStellen: Der Nachstellung ihrer eigenen Wesenswahrheit und der Verstellung eben dieser Nachstellung ihrer eigenen Wesenswahrheit durch sich selbst. Diese Nachstellung der Wesenswahrheit als Gestalt der Wahrheit des Seins geschieht als ein Nachstellen "mit" der "Vergessenheit. ,,260 Gemeint ist nicht, daß sich das Wesen der Technik der Vergessenheit zur Verstellung ihrer eigenen Wesenswahrheit bediente, sondern gemeint ist, daß sich jenes Der-Wahrheit-des-Seins-Nachstellen als Vergessenheit des Seins entfaltet. Diese nachstellende Vergessenheit ihrer eigenen Wesenswahrheit entfaltet sich zugleich in einem hiermit als das Bestellen des auf seine Vor- und Zustellbarkeit reduzierten Seienden. Die nachstellende Vergessenheit ihrer Wesenswahrheit "entfaltet" sich als das Unseiende: das auf seine Vor- und Zustellbarkeit eingeebnete Seiende. Die nachstellende Vergessenheit ihrer Wesenswahrheit "richtet sich" in dem in seiner Wesenswahrheit entstellten Seienden in wachsendem Maße soweit "ein", daß sie schließlich als das Seiend-Unseiende im Ganzen - die auf den reinen Bestandscharakter reduzierte "Welt" - machtet und insofern "herrscht,,?61 Für unsere Untersuchung entscheidend ist die letzte Wendung Heideggers: Gerade, indem das seiner eigenen Wesenswahrheit nachstellende We258 Der Begriff der "Technik" findet sich in den "Beiträgen zur Philosophie" GA 65, S. 63, S. 98, S. 107, S. 124, S. 132, S. 148, S. 274 f., S. 392, S. 496. Die weite Streuung des Begriffs belegt, wie sehr das seinsgeschichtliche Denken von der gestimmten Erfahrung der "Machenschaft" erst auf den Weg gebracht, immer nur im Ineinanderschwingen der Fugen nachvollziehbar ist: Der "Anklang", als die Erfahrung der in der "Technik" waltenden Seinsverlassenheit, steht diejenige Not aus, ohne welche die anderen fünf Fugen (Das Zuspiel - Der Sprung - Die Gründung - Die Zukünftigen - Der letzte Gott) im Leeren hängen würden. 259 Die Vorträge sind zusammen abgedruckt unter dem Titel: "Einblick in das was ist" in: Bremer und Freiburger Vorträge GA 79, S. 1-77. Ihre Überschriften lauten: Das Ding, Das Ge-stell, Die Gefahr, Die Kehre. 260 Die Kehre EA, S. 37. 261 Ibd.
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sen der Modemen Technik das Seiende in seiner Reduktion auf das Vorund Zugestellte zum Unseienden verwesen läßt, entfaltet sich dieses nachstellende Wesen nicht nur in, sondern zugleich auch als jenes Seiend-Unseiende: Das Seiende "herrscht" - machtet als der "Bestand". Die Wahrheit des Seins vermag sich innerhalb dieses Andrangs des von allen Seiten hereinstürzenden Seiend-Unseienden nicht mehr zu zeigen, weil es scheint, das Seiende und nur das Seiende wäre und in seinem Sein fraglos "gegeben". Das Seiende drängt ständig vor, indem es zugleich den Menschen überall und in wachsendem Maße in Anspruch nimmt. In der Verfallenheit an das machenschaftlich ausgelegte und als solches andrängende Seiende bleibt dem Menschen zugleich das Seiende in einem mit der Wahrheit des Seins entzogen: Das Seiende versinkt im "Unseienden". Von dort her bestimmt sich die Aufgabe dessen, was Heidegger die "Befreiung" des Seienden aus dem "Mißbrauch der Machenschaft" genannt hat. 262 Diese Befreiung des Seienden aus dem Gemächte der Modemen Technik ist als "Wiederbringung des Seienden" aber nur möglich, insofern der Mensch von der das Seiende vergegenständlichenden Selbstauslegung der Subjektivität abspringend, in die Weite seines Wesensraumes als Seinsverständnis zurückfindet. Der sich als "Meister" des Seienden erfahrende Mensch verfällt in einem mit seiner Meisterung immer entlegenerer Bereiche des Seienden zugleich dem Seienden in verhängnisvoller Weise. Indem der Mensch sich seiner Meisterschaft über das Seiende ständig versichert, er sich an das Seiende und sonst nichts hält, erliegt er zugleich dem Seienden, dessen Vormacht gegenüber dem Sein ihn selbst in seinen eigensten existenziellen Möglichkeiten mehr und mehr aufsaugt. Das gilt für die Selbstauslegung, sich nur noch als ein Seiendes unter anderem Seienden erfahren zu können 263 und für das damit engstens verbundene Unvermögen, von der Wahrheit des Seins - dem "Ungewöhnlichen" inmitten des einzig noch zugelassenen "Gewöhnlichen" des machenschaftlich verunstalteten Seienden - erschüttert zu werden. "Verfallenheit an das (Un-) Seiende" bedeutet daher auch machenschaftliche Auffassung des Selbst. Das Geschehen dieser Verfallenheit verschärft sich, indem sich der Mensch in seinem Betreiben der Organisation, der sinnentleerten Planung und der nur noch funktionalen Absicherungen inmitten des technisch vor- und zugestellten Seienden als ein Bestandstück des Seienden im Ganzen verliert. Der Meister des Seienden wird zu dessen Sklaven: Mit der Wahrheit des Seins bleibt die Herkunftsquelle existenzieller, d.h. ursprünglicher Freiheit verschüttet. Nur noch das Seiende gilt und in dem Andrang seiner Übermacht gebärdet sich das "technisierte Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 417. Heidegger sieht in der aus der Tradition bestimmten verdinglichenden "Selbstauffassung" des Menschen das "härteste Hindernis" für sein Denken, vgl. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 61. 262
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Tier" allmächtig. Mit der Herkunftsquelle der Freiheit bleibt der dem Sein in der Gestalt der "Technik" ausgesetzten Existenz auch der Grund seiner Verantwortung und damit die Quelle einer jeglichen "Ethik" verbaut. Wir sehen: die "Wesensfeindschaft" zwischen Macht und Würde ist keine bloße Gegnerschaft. Es handelt sich um keinen Gegensatz, der sich auf dem Wege der dialektischen Vermittlung auflösen ließe. Derartiges würde doch Macht und Würde noch die "Selbigkeit eines Wesensumkreises" zugestehen?64 Macht und Würde stehen einander so fremd gegenüber wie entsprechend Weltanschauung und Philosophie. "Weltanschauung" als neuzeitliches Derivat der Subjektivität steht in dem selben Maße unter dem Bann des Seienden, dem sie auch den Menschen ausliefert, wie die Technik, deren Seinsgeschick sie sich unterstellt. Das Denken, das sich aus seiner Nachbarschaft zum Dichten versteht, kann einen Weg der Zukehr des Anfänglichen in seiner höchsten Würde, d. h. Unverfügbarkeit offenhalten?65 Diese Zukehr bedürfte der Übereignung des Menschen in sein ursprünglicheres, d. h. wesentlicheres Wesen. Die Übereignung müßte als Zueignung der Wahrheit des Seins vorbereitet werden, in dem Sinne, daß der Mensch der Wahrheit des Seins wieder zu eigen wird und sich selbst als Eigentum des Seins übernimmt. Eine solche denkende Vorbereitung wäre nur dann der unverfügbaren Würde des Seins gemäß, wenn sie die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde aus dem stimmenden Zuwurf der Wahrheit des Seins selbst erführe. Diese Erfahrung überkommt das Denken in der Grundstimmung des "Entsetzens". Das "Entsetzen" ist als das "Ent-setzen" diejenige Stimmung, als welche das Sein selbst aus dem andrängenden Seienden "heraus setzt". Wir kennen auch die militärische Bedeutung, daß eine belagerte Festung "entsetzt" wird; diese occasionelle Bedeutung von "Entsetzen" hat Heidegger hier mit im Blick: "Das Seyn selbst muß uns aus dem Seienden heraus setzen, uns als die im Seienden, von diesem Belagerten dieser Belagerung ent-setzen.,,266
Wie hinsichtlich der Stimmung der "tiefen Langeweile" ist es dem Denken auferlegt, die negative Konnotation des "Entsetzens" als dem "Wüsten" und "Grausigen" abzuwehren, um das von der Stimmung des "Entsetzens" be-stimmte Denken aus der Flut des Gewöhnlichen - dem Andrang des auf seine machenschaftliche Vernutzbarung reduzierten Seienden - herauszureißen und damit das Denken der Wahrheit des Seins auszusetzen, welche 264 Die Geschichte des Seyns GA 69, S. 74. 265 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 39, 2. Absatz. Zu der Weltanschauungsproblematik vgl. auch den unter dem Titel: "Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik" in Freiburg 1938 öffentlich gehaltenen Vortrag:"Die Zeit des Weltbildes", den eine qualifizierte Untersuchung von Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus ins Zentrum rücken müßte. Vgl. Wegmarken, S. 75-113. 266 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 481. Hervorhebung durch Heidegger.
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selbst nichts anderes ist als das "Ent-setzende und Ent-setzliche". Dieses sich von der Wahrheit des Seins "entsetzen" lassende Denken setzt sich damit - gegenüber dem "Zuspiel" des ersten Anfangs des Denkens - erstmals der Wahrheit des Seins selbst aus und begründet damit ein andersanfängliches Denken.
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Viertes Kapitel
Der Wesenswandel vom Machthaber des Seienden zum Hirten des Seins § 14 Der "Hirt des Seins" oder die Möglichkeit der Gewährtheit der höchsten Wesenswürde des Menschen aus dem sich kehrenden Ereignis a) Die Entfaltung eines Fragens Wie aus dem Humanismusbrief klar hervorgeht, versammelt sich Heideggers Kritik an den höchsten Bestimmungen des Wesens des Menschen durch die philosophische Tradition in dem einzigen Gedanken: Die auf der das bisherige Denken beherrschenden Wesensbestimmung des Menschen als Vernünftiges Lebewesen aufbauenden Menschenwürdekonzeptionen sind nicht falsch oder widerlegbar. Aber die auf dieser epochebestimmenden metaphysischen Grundentscheidung über das Wesen des Menschen aufbauenden Konzeptionen des "terrestrium et caelestium vinculum et nodus" der Renaissance!, der cartesischen res cogitans als "maitre de la nature,,2 und der "Persönlichkeit" bei Kant 3 werden darin und nur darin in Frage gestellt, daß sie "die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren,,4 . Wie aus der Stelle des Briefes weiter hervorgeht, stehen die wesentlichen metaphysischen Grundstellungen der Tradition außerhalb der Erfahrbarkeit der höchsten Wesenswürde des Menschen, weil sie die "Humanitas", nach Kants Sprachgebrauch: die "Menschheit" des Menschen, nicht hoch genug ansetzen. Diejenige Wesens bestimmung, der Heidegger zumutet, die höchste Wesenswürde des Menschen zu erfahren und damit das Menschenwesen seinem eigentlichen Wesensrang gemäß anzusetzen, ist jene Bestimmung, die er als Entfaltung der Wesensverfassung als "Hinaus-stehen in die Wahrheit des Seins"s ("Ek-sistenz") den "Hirten des Seins,,6 nennt. Es handelt sich I Heidegger erwähnt diese Bestimmung allerdings nicht. Der Sache nach gehört sie aber hier her. Vgl. hierzu den § 3 der Untersuchung. 2 Vgl. § 4 der Untersuchung. 3 Vgl. §§ 5 f. der Untersuchung. 4 Brief über den Humanismus, S. 21.
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hierbei um eine seins geschichtliche Auslegung dessen, was im Blickkreis von "Sein und Zeit" als die "Sorge", also als die "ursprüngliche Strukturganzheit" des Daseins erfahren wurde. 7 Das Menschenwesen ist dasjenige Seiende (unter anderen Seienden und gerade im Unterschied zu jenen), dem es in seinem Sein um sein Sein selbst geht. Wenn das Menschenwesen in seinem Sein Offenstehen in die Wahrheit des Seins ist, dann heißt das nichts anderes, als daß es diesem Wesen in seinem Sein als Offenstehen in die Wahrheit des Seins um dieses Offen stehen selbst geht. Der Mensch ist dasjenige selbsthafte Seiende, dem es in seinem selbsthaften Sein als Offenstehen in die Wahrheit des Seins um die Aufgeschlossenheit des Selbst, des Mitdaseins, des nichtdaseinsmäßigen Seienden, des Seienden im Ganzen von Sein überhaupt - geht. Da diese je selbsthaft auszustehende Aufgeschlossenheit der Wahrheit des Seins stets, dem lichtend-verbergenden Wesen der Wahrheit des Seins gemäß, in einer Verschlossenheit gründet, obliegt dem Menschenwesen zugleich in einem mit der Hut des Seins die Hut des Nichts: Schon in der Freiburger Antrittsvorlesung (1929) nennt Heidegger den Menschen den "Platzhalter des Nichts"g. Erst indem der Mensch sich dem Nichts aussetzt, dem Nichts den Platz frei hält9 und damit in seinem endlichen und für seine Endlichkeit aufgeschlossenen todesbereiten Existieren das Sein als Sein erst in seiner Abgründigkeit zuläßt, genügt er der Weisung, das lichtend-verbergende Wesen der Wahrheit des Seins selbst auszustehen. Diese Weisung ist keine Forderung, i. S. eines Befehls, der an den Menschen erginge, sondern eine milde und zugleich strenge Fügung, die das Wesen des Seins selbst dem Menschen in seiner Sterblichkeit abver-
Brief über den Humanismus, S. 18. Brief über den Humanismus, S. 22. Der zentrale Begriff der" Wächterschaft" findet sich in verschiedenen Abwandlungen in den "Beiträgen zur Philosophie" GA 65, S. 16 f., S. 62, S. 230, S. 240, S. 297 f., S. 300, S. 305, S. 309, S. 414 f., S. 423, S. 440, S. 460, S. 468, S. 471, S. 483, S. 485, S. 488 f., S. 492. Ferner in "Besinnung" GA 66, S. 59, S. 100, S. 129, S. 136, S. 148, S. 242, S. 269, S. 322, S. 328. In "Die Geschichte des Seyns" GA 69, S. 93, S. 124, S. 132, S. 138, S. 150. Diese Beispiele mögen zeigen, wie sehr der Gedanke des "Hirten des Seins" bzw. der "Wächterschaft der Wahrheit des Seins" das seinsgeschichtliche Denken in seiner Ganzheit durchdringt und prägt. 7 Sein und Zeit, § 41, S. 193. Vgl. aber auch schon die Voranzeige, Sein und Zeit, § 9, S. 42. 8 Was ist Metaphysik? EA, S. 38: "Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts." 9 Unter den Bedeutungen, die Grimm DWB für "Platz" nennt, sind besonders hervorzuheben diejenige des Turnierplatzes, des Ortes für friedliche Zusammenkünfte und schließlich der "freie raum zu spiel und tanz", von welch letzterer Bedeutung sich "Platzhalter" i. S. von "Vortänzer" herleitet. Vgl. Bd. 13, Spalte 1916 ff., 1924. 5 6
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4. Kap.: Vom Machthaber des Seienden zum Hirten des Seins
langt, insofern er sich als ekstatisches Innestehen in der Wahrheit des Seins selbst erfährt und als solches Innestehen übernimmt und bewältigt. Erst derjenige Mensch, der sich aus jenem Innestehen in seinem selbsthaften Möglichsein erfährt, läßt sich eigens aus der Wahrheit des Seins bestimmen. Er ist insofern "weniger" als das neuzeitliche Subjektum, das sich als die Substanz des Seienden auslegt, als er sich nicht auf dem "unerschütterlichen Fundament" des reflexiven Selbstbewußtseins stehend, seiner Machthaberschaft über das Sein des Seienden ständig versichern kann. Indem sich der Mensch der Anmaßung enthält, als Substanz und Meister des Seienden dieses nur noch nach Maßgabe der rechnenden Vernunft zuzulassen und somit zu "vermenschlichen"10, büßt er aber nichts ein, sondern er gewinnt, indem er erstmals denkend, d. h. fragend in die Wahrheit des Seins selbst einspringt: ,,( ... ) die wesenhafte Armut des Hirten, dessen Würde darin beruht, vom Sein selbst in die Wahmis seiner Wahrheit gerufen zu sein.,,11
Der Ruf des Seins ist der ereignende Zu wurf der Wahrheit des Seins, dem der Mensch als "der ek-sistierende Gegenwurf des Seins" ge-hört in der Weise der Wahrnis der Wächterschaft der Wahrheit des Seins selbst. Der "Armut" des Hirten entspricht sein faktischer Reichtum, weil sie einem Verzichtenkönnen entspringt. Im Absprung von der Subjektivität des Subjektums als Machthaber des Seins des Seienden wahrt das Denken die Unverfügbarkeit des Seins selbst erstmals in der "Wächterschaft der Verweigerung".12 Jene Wächterschaft der Verweigerung - Heidegger spricht auch von dem "Ragenlassen der Verzichtung,,13 - nimmt in sich auf und verwandelt in sich die dichterische Erfahrung mit der Unverfügbarkeit des Seins: den erlernten Verzicht bei Stefan George. 14 Jener erlernte Verzicht des Dichtens und des sich in dessen Nähe entfaltenden Denkens entspringt dem Wissen der Wächterschaft, jenem "höchsten Wissen", das "stark genug" ist, 10 Zu dem damit angesprochenen seinsgeschichtlichen Sachverhalt des "Anthropomorphismus", vgl. Besinnung GA 66, S. 159-163. S. 162: "Im Anthropomorphismus ist die Vermenschlichung des Seienden im Ganzen und d. h. des Seienden als eines solchen behauptet." Mit der Hervorhebung "als eines solchen" betont Heidegger, daß der "Anthropomorphismus" stets verklammert ist mit dem erstanfänglichen Fragen nach dem Seienden als einem solchen (to on he on): Die Erfragung des Seins als Seiendheit bleibt stets von der Vernunft (nous, logos, ratio) des Menschen als "Vernünftiges Lebewesen" her bestimmt, die damit für das Sein des Seienden maßstäblich wird. 11 Brief über den Humanismus, S. 33. 12 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 487, 3. Absatz. 13 Ibd. 14 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 175, S. 228. Vgl. hierzu die letzte Strophe des großen Gedichtes "Das Wort" in: Das Neue Reich, S. 134: "So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht."
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um sich selbst der "Ursprung eines Verzichtes zu sein. 15 Indem sich das Denken als Bereitschaft zum Verzicht das Nichts eigens zumutet,16 hält es sich selbst erstmals in der ungeschützten Bereitschaft, den "Stoß" des Seins zu empfangen und den "Sturm" des Seins über sich ergehen zu lassen. Das im erlernten Verzicht das Sein als das Nichts zulassende Denken ist als die höchste Würdigung des jetzt erst in seiner Unverfügbarkeit denkend gewahrten Seins zugleich Wächterschaft und Hut der Wahrheit des Seins selbst. So bestimmt sich in noch groben Konturen Heideggers Begriff des "Hirten des Seins". Die volle Tragweite dieses seinsgeschichtlichen Inbegriffs i. S. einer aus dem Ereignis erfahrenen Benennung, wer der Mensch seiner eigensten und höchsten und wesentlichsten Möglichkeit nach sei, wird aber erst auf dem Hintergrund der "Wesensfeindschaft" zwischen Macht und Würde deutlich. Die Wesensfeindschaft zwischen Macht und Würde bezeugt die Not der Bedrängnis durch das Unseiende und damit erst die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erfragung der Wahrheit des Seins selbst als solcher. Wir fragen: Erstens: Wie nötigt die in der Wesensfeindschaft zwischen dem zum Unseienden erstarrten, machtenden Seienden und der unverfügbaren Würde des Seins als Ereignis erfahrene Not in den Wandel des Menschenwesens? (b) Zweitens: Wie ermöglicht gerade das der Wahrheit des Seins nachstellende Machtwesen der Modemen Technik in seinem Nach-Stellen einen diese Wahrheit erst eigens erfragenden und damit erfahrenden gewandelten Menschen? (c) Drittens: Wie hängt endlich die Möglichkeit eines gewandelten Mensehen wesens untrennbar mit der Möglichkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins zusammen, so daß beides nur als eine einfache und einzige Möglichkeit gedacht und vorbereitet werden kann? (d) Viertens: Wie versammeln sich schließlich die voneinander verschiedenen und doch einander zugewandten Bezüge des Dichterischen und des Denkerischen in den Wesenswandel des Menschen? (e)
Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 62. Heidegger hebt "Verzicht" hervor. Mit Blick auf die Todesthematik in "Sein und Zeit" als erster Hinweis in das "tiefste Wesen des Nichts" - und damit des Seins! - ist von größter Bedeutung der Abschnitt 202. der "Beiträge zur Philosophie", S. 324 f., die somit hier - wie andernorts auch - den inneren Zusammenhalt von Heideggers Denken in besonderem Maße bezeugen. 15
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4. Kap.: Vom Machthaber des Seienden zum Hirten des Seins b) Zur ersten Frage
Wie nötigt die in der Wesensfeindschaft zwischen dem zum Unseienden erstarrten machtenden Seienden und der höchsten Würde des Seins als Ereignis eifahrene Not in den Wandel des Menschenwesens?
Die Frage knüpft unmittelbar an das oben (§ 13) Gesagte an: Als Geschick der Seinsvergessenheit erweist sich die aus der Metaphysik bestimmte okzidentale Geschichte in zunehmendem Maße als ein Verbergungsgeschehen, i. S. der Geschichte der Vergessenheit der Wahrheit des Seins. Inmitten dieses Geschicks der Seinsvergessenheit kommt es endlich zur Heraufkunft des Nihilismus, der sich als Grundgeschehen der okzidentalen Geschichte mehr und mehr zum Weltschicksal ausweitet. Im Äußersten dieser Bedrohung, indem das Seiende im Ganzen als "Bestand" mehr und mehr von der Wahrheit des Seins verlassen wird, gelangt das Denken jedoch in seine bisher verschlossene eigenste Möglichkeit: Inmitten des einzig noch zugelassenen, überall selbstverständlichen und "gewöhnlichen" Seienden wird dem Denken die bislang von dem Sein vorenthaltene Möglichkeit eröffnet, sich erstmals der Wahrheit des Seins eigens auszusetzen. Indem sich das Denken aus seinem erst noch zu gewinnenden Näheverhältnis zum Dichten gewandelt erfährt, vermag es erst den inmitten der ständigen Fortschritte, Leistungen und Errungenschaften im Seienden waltenden Entzug als Entzug der Wahrheit des Seins zu erfahren. Erstmals wird so das Denken der Wahrheit des Seins eigens überantwortet. Erstmals wird das Denken aus der Wahrheit des Seins selbst dahin verfügt, die Vormacht des Seienden zu brechen. Erstmals wird das Denken im Brechen der Vormacht des Seienden zu sich selbst befreit: das Sein in seiner Wahrheit eigens zu denken. Dieses, dem ersten Anfang der Metaphysik entgegnende Denken heißt: das "Er-denken" des Seins. 17 Solches "Er-denken" bedarf der Denkenden, die anderen, gewandelten Wesens sind als jene, die sich auf dem Boden des reflexiven Selbstbewußtseins in der Erkenntnis des Seienden als solchen erschöpfen. Diese der Wahrheit des Seins nachdenkenden Denker müssen immer erst lernen, ihr wesentliches Wissen gerade im Absprung von dem Seienden als solchem zu erlangen, indem sie sich dem Offenen der Wahrheit des Seins selbst eigens aussetzen. Solche Denkenden erfahren jedoch vorerst die höchste Würde des Seins in dem Entzug der Wahrheit des Seins: Inmitten des überall andrängenden Seienden geschieht die "Verwüstung des Seins".18 Die Wüste läßt sich nicht denkend überwinden: Der Nihilismus 17
Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 456 ff. (Abschnitt 267.)
18 Besinnung GA 66, S. 175. Hervorhebung von Heidegger. Heidegger erinnert
so bewußt damit an Nietzsches "Dionysos Dithyramben": "Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!" (Hervorhebung von Nietzsche) Vgl. KSA Bd. 6, S. 382.
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läßt sich überhaupt nicht durch bloße menschliche Anstrengungen beseitigen. Die Wüste des Nihilismus muß als Not vielmehr erst erfahren, d.h. zugelassen werden. Daher rühren Heideggers Ablehnungen von allen den Nihilismus nur vordergründig bekämpfenden Restaurationen im bestehenden Seienden. Das äußerliche Festklammern an Institutionen und tradierten Glaubensformen entzieht sich der faktischen Möglichkeit, in dem Entzug, der die Weltnacht des Nihilismus bestimmt, des entzogenen, darin ahnungsvoll erfahrbaren Heils zu harren. Der als das Entzugsgeschehen des Nihilismus waltende Schwund des Heilen - sei er als Flucht der Götter bei Hölderlin 19, als Tod Gottes bei Nietzsche 20 oder als "Dieu se retire" bei Leon Bloy21 erfahren - muß von dem "beherzten" Denken ausgestanden werden: In diesem Ausstehen wahrt und hütet das Denken die Unverfügbarkeit des Seins. Erst in der Wahrung und Hut der Unverfügbarkeit des Seins wird die Wahrheit des Seins in einem mit seiner Verborgenheit zugelassen. Erst auf dem Boden eines solchen Zulassens der Unverfügbarkeit und Abgründigkeit des Seins vermag sich das Wesen des Nihilismus als das "Heil-lose" in eine einzige "Verweisung ins Heile" zu kehren. 22 Damit ist grundsätzlich nichts gegen das Festhalten am Herkommen gesagt. Im Gegenteil: Mit der Abkehr von der Sicherung des überlieferten Seienden um des überlieferten Seienden willen wendet sich das Denken erstmals der Quelle aller geschichts- und zukunftsträchtigen Bewahrung des Herkommens zu: Der Wahrheit des Seins selbst.
19 Vgl. die Hymne "Germanien" in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1, Gedichte. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1992, S. 334337, S. 335. Vgl. hierzu Heideggers Interpretation in: Gesamtausgabe Bd. 39. Hölderlins Hymnen "Germanien" und der "Rhein". Freiburger Vorlesung vom Winter 1934/35. Hrsg. v. Susanne Ziegler. Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1989. 20 Vgl. Also sprach Zarathustra. Erster Teil. KSA Bd. 4, S. 14. Nachdem Zarathustra in dem Wald den Einsiedler traf und wieder allein war "sprach er also zu seinem Herzen: ,Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Wald noch Nichts davon gehört, dass Gott todt ist'." (Hervorhebung von Nietzsche) 21 Ernst Jünger beruft sich wiederholt auf diese "Grundthese" Bloys, die "die Lage genauer" träfe als "Nietzsches apodiktisches ,Gott ist tot'." Vgl. Strahlungen 11, Stuttgart, 8. Aufl. 1980, S. 454 f. Eintragung vom 23. Mai 1945 mit Verweis auf Bloys "Le Salut par les Juifs". 22 Vgl. den Nachweis in dem an Ernst Jünger gerichteten Text: Zur Seinsfrage. Wegmarken, S. 388. Vgl. ferner: Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 175: Das "Wissen", "daß zum Wesen des Seyns die Verweigerung gehört" ist "die eigentliche Überwindung des Nihilismus."
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4. Kap.: Vom Machthaber des Seienden zum Hirten des Seins
c) Zur zweiten Frage
Wie ennöglicht gerade das der Wahrheit des Seins nachstellende Machtwesen der Modernen Technik in seinem Nach-Stellen einen diese Wahrheit erst eigens eifragenden und damit eifahrenden gewandelten Menschen? Die Frage zielt darauf ab, daß sich inmitten der Übennächtigung des Seins durch das Seiende eine angreifende, der Offenheit des Seins nachstellende Grundtendenz des technischen Vor- und Zustellens aufweisen läßt. Diese Diktatur der Fraglosigkeit besorgt, indem sie die Frage nach der Wahrheit stets niederhält, indem sie diese als "Störung und abseitiges Grübeln,,23 abtut, zugleich die globale Einrichtung des Wesens der Technik in die schrankenlose Herrschaft der Durchschnittlichkeit. 24 Verläßlichkeit und Ersetzbarkeit und Standardisierung um willen beider sind Auswahlkriterien, nach denen der Mensch gemessen wird. In dem eingeebneten Zustand einer fortwährenden, beruhigten "Notlosigkeit,,25 erscheint die denkerische Frage nach der Wahrheit des Seins ebenso wie die dichterische Nennung des Geheimnisses im Zeichen der Betriebsstörung, die es abzustellen gilt, um den erreichten Zustand der eingeebneten, beruhigten und allgemeinen Notlosigkeit dauerhaft abzusichern: Der wissenschaftlich und massenmedial eingerichtete Feldzug gegen das Geheimnis wird zur Bedingung der Aufrechterhaltung der Diktatur der Fraglosigkeit. Alles, was sich nicht an das vorund zustell bare Seiende hält, darin aufgeht und in seinen Be- und Verrechnungen machtet, wird der Veröffentlichung seiner venneintlichen Abwegigkeit, "Absurdität" und "Romantik" unterworfen und allenfalls zugleich noch als Bestand des Kulturbetriebs zugelassen und "erlebt". Darin liegt eine weitreichende Abkehr von der Wahrheit des Seins - eine Abkehr i. S. einer blicklosen Abwendung und weiter nichts? Das gerade wehrt Heidegger ab; denn für die seinsgeschichtliche Epoche der Modemen Technik gilt: "Das Seyn selber west, insofern es sich von seinem Wesen wegkehrt, indem es sich diesem Wesen mit der Vergessenheit seiner zukehrt."z6
Das Geschick der Modemen Technik könnte daher auch heißen: Die Wegkehr des Seins. Das "Sein" darf jedoch niemals vergegenständlicht vorgestellt werden: Das Sein west, waltet selbst als diese Wegkehr seiner Wesenswahrheit i. S. des Entzugs der Wahrheit des Seins?7 Die Wesung des Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 125. S. 124. 2S S. 112 ff., S. 125. 26 Vgl. den Bremer Vortrag "Die Gefahr" in GA 79, S. 67 (Schlußsatz des Vortrags). 27 Vgl. hierzu die Kritik Heideggers an Jüngers Versuch, seinem Denken entgegenzukommen mit der Wendung der "neue(n) Zuwendung des Seins" als Benennung der Überquerung der Linie des Nihilismus in "Zur Seinsfrage", Wegmarken, 23
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Seins als Modeme Technik ist Wegkehr. Das Verblüffende und allem bisherigen Denken Uneinsehbare ist der Gedanke, inmitten dieser Weg-kehr zeige sich unverhofft derjenige Weg, der sich dahin kehre, die Wahrheit des Seins erstmals eigens zu denken: Je auswegloser, je totaler sich die Machenschaft gebärdet, indem sie das Wesen des Menschen selbst der "technischen Herstellung" zunehmend "ausliefert,,28, indem sie den Menschen als "Bestand" zum "Material" der Machenschaft erniedrigt, desto leuchtender zeigt sich der Weg, die Wahrheit des Seins erstmals in der Geschichte eigens zu denken. Heidegger nennt diese unverhoffte Möglichkeit die "Zweideutigkeit" der Technik?9 In dieser "Zweideutigkeit" erweist und bewährt sich der Geheimnischarakter der Wahrheit des Seins: Sie ist in ihrem Walten zugleich lichtend und verbergend. Indem sich die Wahrheit des Seins in der Seinsvergessenheit des Denkens und in der Seinsverlassenheit des Seienden zunehmend entzieht, verfügt sie das Denken erstmals dazu, sich dem Denken eigens zu zeigen als die Wahrheit des Seins, die sich wegkehrt, indem sie sich der Vergessenheit ihrer "zukehrt".3o Diese Möglichkeit zu zeigen, bedarf es einer sehr weitgehenden Loslösung von gewohnten Vorstellungsweisen, die sich auch dann noch einschleichen können, wenn die Technik als Geschick der Seinsverlassenheit in ihrem Entzugscharakter schon offenbar geworden ist: "Stellt" doch die Technik gerade der Wahrheit des Seins "nach", indem sie das Seiende im Ganzen, die "Welt" als Gegenstand aufbaut und den Menschen als ein Bestandstück dieses Weltbestandes darein verbaut. Die Technik waltet damit als Verbauung des Offenen der Wahrheit des Seins. Inmitten des Vor- und Zustellens des Seienden im Ganzen hineingezogen, erlischt dem Menschen die faktische Möglichkeit, seinem Schicksal als Sterblicher gemäß zu leben, das Ding in seiner Einzigkeit zu wahren und einer Welt im ursprünglichen, todesbereiten Sinne teilhaftig zu werden. Mit der technischen Negation des S. 406 f.: "Vermutlich ist die Zuwendung selber, aber noch verhüllterweise, Jenes, was wir verlegen genug und unbestimmt ,das Sein' nennen." Gleiches gilt für die "Abwendung", die ich die "Wegkehr" nenne. 28 Vgl. den Rilke-Vortrag "Wozu Dichter" von 1946 in Holzwege, S. 290: "Im Grunde soll sich das Wesen des Lebens selbst der technischen Herstellung ausliefern." Das ist eine Formulierung, die einerseits vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen, staatlich organisierten und ansatzweise verwirklichten ("Lebensbom") gigantomanen Menschenzüchtungsplanung gelesen werden will, die aber andererseits in Hinblick auf die heute zunehmend verfügbaren Möglichkeiten gezielter Einwirkung auf das Erbmaterial erst ihre epochale, die wesentliche Gefahr treffende Bedeutung offenbart. 29 Die Frage nach der Technik EA, S. 33. 30 Vgl. hierzu die Etymologie des griechischen Wortes "aletheia" i. S. der Un-verborgenheit, die wir Heidegger verdanken: Das ursprünglichere Phänomen ist die Verbergung ("lethe"), der das unverborgen Seiende immer erst geraubt werden muß; daher das alpha privativum der "aletheia".
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Todes 3l geht die technische Negation der Freiheit als das Auszeichnende des Menschenwesens einher. Indem der Tod vergegenständlicht und somit aus Ursachen erklärt und zum exakt bestimmbaren bloßen Vorkommnis herabgewürdigt wird, erlischt die Möglichkeit, im Geheimnis des Todes das "höchste Zeugnis des Seins,,32 und damit aus jenem, die Wahrheit des Seins im Höchsten Bezeugenden den Wesensgrund existenzieller Freiheit zu erfahren. Hineingezogen in den Sog der Vergegenständlichung erscheint der Mensch als ein Seiendes unter anderem Seienden in sich abgesperrt, ohne durch den existenziell auszustehenden Tod - als äußerste Möglichkeit zugleich das Geheimnis des Seins 33 - zu seinem endlichen und gerade erst in dieser Endlichkeit großen Möglichsein befreit zu werden. 34 Daß es kein Geheimnis mehr geben darf, ist somit die Grundbedingung des reibungslosen Funktionierens der technisch organisierten "Welt" und ihrer Öffentlichkeit. Gefragt ist der Funktionsträger ohne Schicksal, den Bindungen des Herkommens und der Heimat entfremdet, der jederzeit mobilisierbar, seine "Freiheit" als Mobilität inmitten der Wirklichkeit des Wirklichen erfährt: Je wirklicher die Wirklichkeit des vor- und zugestellten Seienden im Ganzen werden soll, desto wirksamerer Betreiber jener Wirklichkeit bedarf es inmitten jener Wirklichkeit, die kein Ziel mehr kennt, als den Kreislauf zwischen dem herausfordernden, "stellenden" Entbergen der Wahrheit des Seienden und dem Verbrauch der damit verfügbaren "erschlossenen" Ressourcen i. S. ihrer immer effektiveren Vernutzung: "Die Kette des BesteIlens läuft auf nichts hinaus; sie geht vielmehr nur in ihren Kreisgang hinein. Nur in ihm hat das Bestellbare seinen Bestand.,,35
Verkettet inmitten des als Bestand VOf- und zugestellten Seienden im Ganzen ist die Natur - sie wird zur ungeheuren "Tankstelle", die auf ihre Abzapfbarkeit hin ausgelegt und sichergestellt wird. 36 Verkettet inmitten 31 Vgl. Wozu Dichter? in: Holzwege, S. 303: "Das Sichdurchsetzen der technischen Vergegenständlichung ist die ständige Negation (i. S. der Determination als eines bloß Negativen, Erg. v. mir) des Todes." 32 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 230. S. 284 nennt Heidegger den Tod "das höchste und äußerste Zeugnis des Seins." 33 Vgl. den erstmals zusammen mit den Technik-Vorträgen in Bremen im Dezember 1949 gehaltenen und mit diesen in engstem Zusammenhang stehenden Vortrag "Das Ding" in: Vorträge und Aufsätze, S. 157-175, S. 171. 34 Vgl. zu dem wesentlichen Gedanken menschlicher Größe, als einer solchen, die sich der Endlichkeit gerade verdankt als "Größe der Endlichkeit", die Freiburger Vorlesung vom Sommer 1930 "Vom Wesen der menschlichen Freiheit", die Heideggers Kritik jener Herabwürdigung der "Endlichkeit", die nur "im Lichte einer falschen und verlogenen Unendlichkeit" erscheinen kann, bezeugt: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 31. Hrsg. v. Hartrnut Tietjen. Frankfurt am Main, 2. Auf!. 1994, S. 136. 35 Vgl. den Bremer Vortrag "Das Gestell" (1949) in GA 79, S. 29.
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der einzelnen Bestandstücke des Bestandes im Ganzen ist auch der Mensch als ein Bestandstück besonderer Art. Heidegger nennt den Rundfunkhörer als Bestand der Unterhaltungsindustrie als Beispiel, der seinen Verfall in den Bestandscharakter im Falle des Nichtmehrfunktionierens der Unterhaltungsindustrie offenbart: 37 Er weiß buchstäblich nicht mehr "wohin" vor Langeweile. Vollkommen verbaut und verschmolzen mit dem Gesamtbestand der Unterhaltungsindustrie, findet sich der Rundfunkteilnehmer, der gewohnt ist, täglich mehrere Stunden vor seinem Gerät zu verbringen, als ein aus dem Gesamtbestand herausgelöstes und in seiner Aus- und Abgerichtetheit auf den Gesamtbestand nunmehr von dem Gesamtbestand im Stich gelassenes, gewissermaßen "sinnentleertes" Funktionsstück vor. 38 Rätselhaft ist die "Abgesperrtheit" des Rundfunkhörers in seiner Offenbarkeit als ein mit anderen Bestandstücken - Rundfunksender, Geräteindustrie, Erlebniswelt - zusammengekettetes Bestandstück. Mit der Abgesperrtheit "in den Stückcharakter des Bestandstücks" kennzeichnet Heidegger die Verdinglichung, welcher der Rundfunkteilnehmer ausgesetzt wird, indem er innerhalb des Gesamtbestandes in seinem allein maßgeblichen Funktionscharakter mit den im Gesamtbestand verbauten nichtdaseinsmäßigen Bestandstücken auf eine Ebene gezwungen wird. "Abgesperrtheit" ist jedoch immer eine Abgesperrtheit von ... : Abgesperrt kann nur sein, wer zumindest seiner Möglichkeit nach frei ist. Diese Möglichkeit ist zu beachten bei der Würdigung von Heideggers entscheidendem Einblick in die "Kehre": In der äußersten Wegkehr und Verweigerung der Wahrheit des Seins, die als das Wesen der Modemen Technik waltet, liegt die mögliche Gewähr einer erstmaligen Zukehr der in der Vergessenheit verstellten Wahrheit des Seins für das Denken begründet: "Das Seyn selber west, insofern es sich von seinem Wesen wegkehrt, indem es sich diesem Wesen mit der Vergessenheit seiner zukehrt:.39 Indem das "Seyn" als Modeme Technik sich von dem Gefüge der Wesensfülle seiner Wahrheit wegkehrt, "west" und währt es in einer bestimmten geschichtlichen Gestalt seiner Wahrheit: derjenigen der äußersten Verweigerung. In dieser Wegkehr in die äußerste Verweigerung liegt jedoch eine allem bisherigen Denken vorenthaltene, aus dem Ereignis gewährte "Gunst" beschlossen: die Wahrheit des Seins eigens zu erfragen und damit denkend zu erfahren. 4o Gerade das der Wahrheit des Seins mit der Verges36 Gelassenheit EA, S. 18: "Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die modeme Technik und Industrie." 37 Vgl. "Das Gestell" in GA 79, S. 38 f. 38 Als in den 80-er Jahren in Frankreich die Fernsehsender bestreikt wurden, stieg die Selbsttätungsziffer dramatisch an. 39 Vgl. "Die Gefahr" GA 79, S. 67. 40 Vgl. "Die Kehre" in: Die Technik und die Kehre EA, S. 42.
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senheit ihrer selbst nachstellende Geschick der Wahrheit des Seins - die Modeme Technik - gewährt als der äußerste Entzug der Wahrheit des Seins dem Denken erstmals in seiner Geschichte die Gunst der Zukehr ihrer Wesenswahrheit: das Sein als Sein eigens zu erfahren. Bei dieser Gunst handelt es sich aber durchaus nicht um eine unvermittelte Gewährung aus dem Wesen der Modemen Technik als dem Gestell als solchem. Deren Wesungsgeschick entfaltet sich gerade in der Weise der nachstellenden Verstellung ihrer Wesenswahrheit. Sie bleibt dem als Bestand vor- und zugestellten Menschenschlag am verborgensten: Innerhalb der totalen Einrichtung des Wesens der Technik erstickt die Übermacht des Seienden die Möglichkeit der Frage nach dem Sein. Der "Arbeiter" steht gerade für denjenigen Menschenschlag, der aus jener Möglichkeit - der Seinsfrage - am weitesten herausgestoßen ist in seiner bestandsmäßigen Eingerichtetheit inmitten des von ihm betriebenen Seienden im Ganzen. Die Möglichkeit der Gewähr der höchsten Gunst geschieht einzig aus dem ursprünglichen Wesungsgefüge der Wahrheit des Seins, und sie geschieht nur denjenigen Denkenden, die sich der Wahrheit des Seins eigens öffnen. Die Frage nach der Möglichkeit der Gewähr jener höchsten Gunst steht daher in engstem Zusammenhang mit den beiden letzten Fragen, die wir zu erörtern haben: Die unauflösliche Zusammengehörigkeit der Frage nach der Wahrheit des Seins mit der Forderung nach einem dieser Frage erst gewachsenen, gewandelten Menschen (d). Ferner: die Frage nach der Notwendigkeit einer ursprünglich gewährten Erfahrung des Seins für jene Fragenden, die solche Erfahrung ausstehend, ihr Wohnen in der Nähe zum Sein einzig in der diese Nähe erst eröffnenden Nachbarschaft zum Dichten vermögen (e).
d) Zur dritten Frage Wie hängt die Möglichkeit eines gewandelten Menschenwesens untrennbar mit der Möglichkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins zusammen, so daß beides nur als eine einfache und einzige Möglichkeit gedacht und vorbereitet werden kann?
Bislang wurden die Notwendigkeit einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins und die Notwendigkeit eines Wandels des Menschenwesens genannt als denkerische Entsprechung der Not der Seinsverlassenheit. Zu erörtern bleibt die Zusammengehörigkeit beider. Handelt es sich doch bei der Kehre im Ereignis und bei dem Wesenswandel des Menschen um ein und den sei ben Sachverhalt, der allerdings in zweierlei Hinsicht in den phänomenologischen Blick genommen wird. Dieses Doppelte der Hinblicknahmen ist jedoch nicht willkürlich, so daß sich etwa noch eine beliebige Zahl von "Perspektiven" hinzu einrichten ließe, sondern ergibt sich aus dem in-
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neren Wesungsgefüge des Schwingungsganzen des Ereignisses selbst. Diese Selbigkeit des Sachverhalts muß immer wieder der Verhüllung entrissen werden: Scheint es doch zuweilen so, als nenne Heidegger mit ,,sein" und dem Geschick der "Technik" so etwas wie ein "mythisches Abstraktum".41 Gewarnt werden muß vor einer theologischen Verfälschung des Seins begriffs - selbst wenn die "Gnade" im religiösen Kontext als eine Erfahrung mit der Unverfügbarkeit des Seins ausgelegt werden könnte - ebenso wie vor platonistischen oder idealistischen Assoziationen, die den Zugang zu dem von Heidegger denkend erfahrenen und aus sich selbst aufweisbaren Sachverhalt verbauen: Das Verständnis ist hier wie stets aus den Sachen selbst zu gewinnen. Der darauf gerichtete phänomenologische Blick fordert in der ihm eigenen Klarheit, bei der Nennung des Grundwortes "Sein" stets das "Wesen des Menschen" mitzudenken. Die Zusammen-gehörigkeit von dem ereignenden Zuwurf ("Ruf') der Wahrheit des Seins und dem Wesen des Menschen als dem geworfen-ereigneten Entwurf ("Gehör") zwingt Heidegger dazu, sogar die Frage nach der "Beziehung" zwischen der Wahrheit des Seins und dem Wesen des Menschen abzuwehren: "Die Frage nach der Beziehung bei der enthüllte (coniunctivus irrealis, Erg. v. mir) sich als unzureichend, weil sie niemals in den Bereich dessen gelangt, was sie erfragen mächte. ,,42
Diese dem in ihr Erfragten nicht recht gemäße Frage gründet in derjenigen Frage, die Heidegger die "Grundfrage" nennt: Die einer Entscheidung vordenkende Frage nach der Wahrheit des Seins, die von der Wahrheit des Seienden - wie sie innerhalb der "Leitfrage" der Metaphysik erfragt wurde - abspringend erstmals dem Denken sein eigenstes Reich erschließt: die Wahrheit des Seins als den abgründigen Grund zu denken. Dieses unverfügbare, aber vorzubereitende Aufbrechen der Wahrheit des Seins als solcher geschieht als der Sprung in die Wahrheit des Seins, den das andersanfängliche Denken vollzieht, indem es von der bisherigen Auslegung als animal rationale abspringend, sich sein wesentlicheres Wesen als Seinsverständnis erspringt. 43 Das seins geschichtliche Denken maßt sich jedoch nicht an, diesen "Sprung" (vgl. die dritte Fuge der "Beiträge": "Der Sprung") schon abschließend vollzogen und hinter sich zu haben. Heidegger nennt daher den ständig wiederholt zum Sprunge neu ansetzenden, wegbahnenden, vorbereitenden Charakter seines Denkens die "Anwartschaft auf das Da-sein. ,,44 Diese Bescheidenheit in Hinblick auf die einzige Aufgabe des von der Wahrheit des Seins scheu durchstimmten Denkens - eben diese Wahrheit eigens zu erfragen - weiß sich aber schon als "Riß": Mit der Erspringung 41
42 43 44
Die Frage nach der Technik EA, S. 31. Zur Seinsfrage, Wegmarken, S. 408. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 10 f. Besinnung GA 66, S. 48.
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der Frage nach der Wahrheit des Seins eröffnet sich im Absprung von dem Seienden als solchem der andere Anfang als das Geschehen der erstmals denkerisch aufgebrochenen, abgründigen Wahrheit des Seins. Mit der Aufgebrochenheit der Wahrheit des Seins ereignet sich ein gewandeltes Geschick seiner Wesenswahrheit. Die bisherige, aus der Metaphysik bestimmte Geschichte der Wahrheit des Seins geschieht als das Geschick der Verbergung seiner Wesenswahrheit, das sich als die Auslegung des Seins als Seiendheit entfaltet. Indem das Denken erstmals in die Wahrheit des Seins als solchem einspringend einkehrt, kehrt sich die Geschichte der Wahrheit des Seins - nunmehr der Verhülltheit der Seinsvergessenheit entrissen - in den "Übergang" des anderen Anfangs seiner aufgebrochenen Wesenswahrheit. Das Geschick der Seinsvergessenheit, das erst in der Endgestalt der Metaphysik als Modeme Technik dem Denken offenbar wird, und das mögliche Geschick der Einkehr des Denkens in die Wesenswahrheit des Seins markieren zusammen das "zweideutige Wesen der Technik": in der höchsten Not der Seinsverlassenheit erst die Frage nach der Wahrheit des Seins aufbrechen zu lassen und so in einem mit dem äußersten Entzug der Wahrheit des Seins die höchste Gunst der Zukehr eben dieser Wesenswahrheit zu gewähren. Dieses zweideutige Wesen nennt Heidegger auch die "Konstellation", also den "Sternengang" der Wahrheit des Seins.45 Der eigenartige Begriff, der nicht mit der sich aufdrängenden Vorstellung eines dichterischen Bildes identifiziert werden darf, verdient nähere Aufmerksamkeit. Zwei Sterne ziehen aneinander vorbei "im Gang der Gestirne". D.h. sie folgen nicht aufeinander wie der Mittag auf den Morgen, der Wechsel der Jahreszeiten oder die Jahre der historischen Zeitrechnung. Gerade das von der letzteren bestimmte Vorstellen nimmt aber immer wieder unsere Aufmerksamkeit gefangen, wenn wir dazu aufgefordert sind, "Geschichte" geschickhaft aus dem Ereignis zu erfahren, indem wir den Ring der vergegenständlichenden Vorstellung eines Verlaufs historischer Vorkommnisse von Seiendem sprengen. In einem Brief nennt Heidegger daher die Hut des Seins, die "Wächterschaft", die "Wachsamkeit" für das Geschick des Seins, die sich für dessen "gewesend-kommende" Wahrheit erinnernd und gegenwärtigend und vorbereitend offenhält. Diese sich "stets erneuernde" Wachsamkeit entfaltet sich als eine Hut, die die Wahrheit des Seins hütet, indem sie auf die Weisungen achtet, wie sich die Wahrheit des Seins bekundet. Die dergestalt in die Hut genommene Wahrheit des Seins bekundet sich von sich aus: "Im Geschick des Seins gibt es nie ein bloßes Nacheinander; jetzt Gestell, dann Welt und Ding, sondern jeweils Vorbeigang und Gleichzeitigkeit des Frühen und Späten.,,46 45 Heidegger sagt: "Sternengang des Geheimnisses" (v gl. lat. "stella" - Stern); vgl. Die Frage nach der Technik EA, S. 33.
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Aus dem Ursprung erfahren, offenbart sich eine jegliche Vorstellung von der Geschichte als einem vergegenständlichten Kontinuum als fundierungsbedürftig im Be- und Entrückungsgefüge des "Zeitspielraumes".47 Von dort her gesehen, erscheint aber auch eine jegliche utopische Inanspruchnahme oder Denunziation des Ereignisdenkens als nicht ursprünglich aus der Sache selbst erfahren, da sie stets auf der gängigen und scheinbar selbstverständlichen Annahme von "Geschichte" als einem Kontinuum beruht, die dann sinnentstellend auf die Zukunft ausgedehnt wird. Auf dem Hintergrund der "Vorherrschaft des Denkens,,48, die sich zumal in dem Geschick der Technik als die Vormacht des Seienden entfaltet, erscheint der Zeitspielraum die Gründungstätte des Ereignisses der Wahrheit des Seins als des Seyns als die erst noch zu gründende Ortschaft des übergänglichen Denkens. Dieser aus der Wahrheit des Seins gewährte Ort gründet sich aber darin gerade im Übergänglichen, indem er sich in der Schwebe hält. Dem Denken des Überganges ist das die Wahrheit des Seins selbst wahrende "Suchen" selbst das "Ziel" der Wächterschaft der Wahrheit des Seins. 49 Diese seinsgeschichtliche Heuristik wehrt alle Verortung im Ortslosen ab. Sie kennt keine "Ziele,,5o, i. S. des konkretisierbaren oder doch auf Konkretisierung angelegten Traumes der Utopie. 51 Alte Gewohnheiten des abendländischen Denkens drohen immer wieder, den seinsgeschichtlichen Sachverhalt zu verdunkeln. Inwieweit eine solche Gefahr sogar bei Heidegger selbst gelegentlich anklingt, kann im Rahmen unserer Untersuchung nur angedeutet werden. Es darf der Frage nicht ausgewichen werden: Wie verträgt sich das Postulat des Denkens, sich selbst in seinem Selbstsein schon der im "Suchen liegende Fund,,52 und damit insofern sich selbst genug zu sein, mit der doch immer wieder andrängenden Vorwegnahme des Wartens auf den "Vorbeigang des letzten Gottes,,53? Besteht hier nicht - zumindest in der 46 Vgl. den als "Nachwort" zu dem Vortrag "Das Ding" abgedruckten "Brief an einen jungen Studenten" von 1950 in: Vorträge und Aufsätze, S. 177. 47 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 379-388. Vgl. hierzu: Paola-Ludovica Coriando. Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-grundigen Zeit-Räumlichkeit des Übergangs in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie". München 1998, S. 84-117. 48 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 456. 49 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 18. 50 Besinnung GA 66, S. 9. 51 Zur Frage, inwiefern der projektionistische Drang der Modeme an sich schon den konkreten "Traum der Vernunft" zur Voraussetzung hat, vgl. den klärenden Aufsatz von Wilhelm Hennis: Iconologia politica. Die Vernunft Goyas und das Projekt der Modeme. Ein Versuch zum Verständnis des "Traums der Vernunft" (Capricho 43). Erstmals Bologna 1994. Abgedruckt in: Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II. Tübingen 2000, S. 350 ff. 52 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 398. 53 Vgl. Beiträge zur Philosphie GA 65, S. 413 (Abwehr einer "Erlösung"), aber auch S. 414.
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Interpretation - die Gefahr eines Zurückgleitens in eine programmatische Inanspruchnahme der Zukunft? Wie ist diese Gefahr in der Verantwortlichkeit des sich der Wahrheit des Seins aussetzenden und insofern sich selbst ungenügsamen Denkens angelegt? "Zurückgleiten" meint hier die Gefahr, daß das Denken auf seinem Weg von dem Stern einer Kehre im Ereignis der Wahrheit des Seins geleitet abgleitend, wieder vor-stellend werden könnte, indem es von der Frage nach der Wahrheit des Seins verfällt in die Ortlosigkeit eines wünschbaren Zustandes des Seienden im Ganzen. e) Zur vierten Frage
Wie versammeln sich die voneinander unterschiedenen und als solche einander zugewandten Bezüge des Denkerischen und des Dichterischen in den Wesenswandel des Menschen? Was schon im Zusammenhang mit Heideggers Gespräch mit der Spätdichtung Georges gezeigt wurde: Bei dem Näheverhältnis der hermeneutischen Phänomenologie zu dem Sagen des Sprachkunstwerkes handelt es sich keinesfalls um einen erbaulichen Exkurs, sondern um eine aus dem Äußersten des zu Denkenden geforderte Notwendigkeit des die Wahrheit des Seins erfragenden Denkens. Erst indem das Denken sich in seinem Denken gewandelt aus dem Näheverhältnis zum Dichten neu erfährt, vermag es in den "Abgrund" zu reichen und sich damit dem unverstellten Wesungsgefüge des Seins eigens auszusetzen. Diese Nachbarschaft, die dem Denken erst die unbeschränkte Möglichkeit eröffnet, von der auf dem Boden der Subjektivität vor-gestellten Übermacht des Seienden abzuspringen, um darin die Subjektivität erst ursprünglich verwindend in das Offene der Wahrheit des Seins einzuspringen, vermag das Denken jedoch nicht aus eigener Kraft zu begründen. In die Nähe der Nachbarschaft verfügt die ursprüngliche, unverstellte Wahrheit des Seins selbst, indem sie als die "Nähe" waltend Denken und Dichten in ihre Nachbarschaft unter-scheidet. Dieses verfügte Verhältnis der Geschieden-einander-Zugekehrten kennzeichnet Heidegger als die "zarte aber helle Differenz. ,,54 Wir fragen: Warum verlangt gerade der aus dem metaphysischen Wesen der modernen Technik ernötigte Wesenswandel des Menschen - weg vom Machthaber des Seienden, hin zum Hirten des Seins - die Nachbarschaft des Denkens zu dem Dichten Hölderlins? Warum gerade zu diesem Dichter und nicht zu einem anderen? Wie weit ist die Nachbarschaft des Denkens zu jenem Dichten wesentlich von der zu denkenden Sache getragen und 54 Vgl. Unterwegs zur Sprache, S. 196. Es sei hier auch nochmals auf die bereits zitierte Abhandlung von F.- W. v. Herrmann hingewiesen: Die zarte aber helle Differenz. Heidegger und Stefan George. Frankfurt am Main 1999.
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gefordert? Inwiefern muß das Gespräch Heideggers mit dem Dichten Hölderlins von sachfremden "Ingredienzen" gereinigt werden, um diesen Sachbezug noch klarer hervortreten zu lassen? Zu erinnern ist an das noch im Humanismusbrief anklingende Motiv, daß das Wort des Dichters "den Deutschen gesagt" sei, wobei allerdings jenes "Deutsche" aus der Zugehörigkeit zu den anderen Völkern begriffen worden ist. 55 Wenn aber das Dichten Hölderlins bedacht wird, um das Geschick der Modemen Technik im Lichte seiner möglichen Verwindung zu erfahren, so ist das Wort des Dichters all denen gesagt, die jenes planetarische Geschick bedenken, womit die Beschränkung auf das "Deutsche" als offensichtlich sachfremd entfiele. 56 Seine sachliche Grundlage hat das Selbstverständnis des Denkens, sich aus der Nachbarschaft zu dem Dichten Hölderlins zu erfahren, in dem, was wir in Anknüpfung an zwei Begriffe Heideggers die "Konstellation des Übergangs" nennen. Die Zumutung, die an das Denken ergeht, gerade in dem äußersten Entzug der Wahrheit des Seins in die Gunst der Zukehr der unerschöpflichen Wesenswahrheit des Seins einzukehren, verlangt nach einer Verwurzelung des Denkens in der dichterisch empfundenen, ursprünglich aus dem unverstellten Walten des Seins verfügten Sage von Welt, Ding und Mensch. Indem Heidegger die Konstellation des Übergangs bedenkt in den Technik-Vorträgen57 - läßt er diese Konstellation im Hellen einer Hölderlin-Stelle erscheinen. Das Zitat stammt aus der Hymne "Patmos", die der Dichter wohl im Herbst 1802, nach seinem frühzeitig abgebrochenen Aufenthalt in Südfrankreich verfaßt hat: Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.
Im Zusammenhang der ersten Strophe der nach dem Vorbild der Siegeslieder Pindars in Strophentriaden gegliederten Hymne lautet die Stelle: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brüken. Drum, da gehäuft sind rings Brief über den Humanismus, S. 29. Das gilt auch "umgekehrt": So hat Heinrich W. Petzet als Freund Heideggers dessen rege Anteilnahme an Dichtem anderer Sprachräume, so besonders an Joseph Conrad und Federico Garcia Lorca, bezeugt. Vgl. ders. "Auf einen Stern zugehen". Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger 1929-1976. Frankfurt am Main 1983. 57 Die Frage nach der Technik EA, S. 28, 35. Die Kehre EA, S. 41. 55
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4. Kap.: Vom Machthaber des Seienden zum Hirten des Seins Die Gipfel der Zeit, Und die Liebsten nahe wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gieb unschuldig Wasser, o Fittige gieb uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren.
Der Möglichkeit, die Hymne 58 historisch und philologisch einzuordnen, darf nicht die Berechtigung abgesprochen werden. Diese Textkritik stößt jedoch in dem Versuch, Hölderlin der Spekulation des deutschen Idealismus zuzurechnen, an die ihr von ihren eigenen methodischen Voraussetzungen Erforschung des Seienden in seinem Zusammenhang mit anderem Seienden - gezogenen Grenzen. 59 Gleichwohl soll hier keine umfassende hermeneutisch-phänomenologische Analyse der Hymne versucht werden. 6o Das Augenmerk gilt einzig der Bedeutung Hölderlins innerhalb der Frage nach der Technik und der Frage nach deren möglicher Verwindung. Heideggers Erläuterung der zitierten Stelle: "Wo aber Gefahr ist ... " schließt: "Das mit Vergessenheit sich nachstellende Sichverweigern der Wahrheit des Seins ("die Gefahr", Erg. v. mir) birgt die noch ungewährte Gunst ("das Wachstum des Rettenden", Erg. v. mir), daß dieses Sichnachstellen sich kehrt, daß in solcher Kehre die Vergessenheit sich wendet und zur Wahrnis des Wesens des Seins wird, statt dieses Wesen in die Verstellung entfallen zu lassen.,,61
Der Satz überrascht durch die kennzeichnende Häufung reflexiver Verbalkonstruktionen: Es sind deren fünf, davon zwei substantiviert. Das "Sichnachstellen" der Wahrheit des Seins im Geschick des "Gestells" ereignet sich als das "Sichverweigern" jener Wahrheit. Es scheint also, als ob die Wahrheit des Seins aus "sich", also aus ihrem innersten Walten, ohne Beteiligung des Menschen verweigert würde. Demgegenüber ist "die Wahrheit des Seins" jedoch nicht abstrakt zu verstehen: Das Wesen des Menschen ist vielmehr stets in jenem Wahrheitsgeschehen, das sichnachstellend sichverweigert, mitinbegriffen. Der Mensch in der herrschenden Ausgelegtheit als animal rationale hat auch noch in dem Verfallsstadium des "technisierten Tiers" wesenhaften Anteil an dem "sich" des Sichverstellens der Wahrheit des Seins. Der zentrale Gedanke ist: Wird das Wesen der Modemen Technik erst als "die Gefahr" offenbar, dann ist dieses Wesen in seinem Offenbarwerden 58 Zitiert nach Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Vierter Band. Besorgt durch Norbert v. Hellingrath. Gedichte 1800-1806. Berlin, Dritte Auf!. 1943, S.199ff. 59 Vgl. den Kommentar von Jochen Schmidt zu "Patmos" in: Werke, S. 350 ff., S. 969 ff. 60 Heidegger legte "Patmos" nicht als Ganzes, sondern stellenweise aus, so in der Vorlesung zu Hälderlins Hymnen "Germanien" und "Der Rhein" in GA 39, S. 52 ff. 61 Die Kehre EA, S. 42.
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verwandelt. Die sich-nachstellende Vergessenheit bleibt als solche "die Gefahr", indem sie weiterhin der Wahrheit des Seins nachstellend waltet. Aber sie waltet in diesem Nachstellen zugleich als der Aufbruch ihres der Wahrheit des Seins nachstellenden Wesens. Als solcher, auf die Wahrheit des Seins deutender und damit diese erst verdeutlichender Aufbruch ist die Moderne Technik zugleich gewürdigt und zugelassen als "die Gefahr". Problematisch ist jedoch der weitere Denkschritt Heideggers, der viel mehr an Denkerfahrung voraussetzt, als die gedrängte, abgemagerte Formulierung zur Sprache bringt: "Wenn dieses mit- Vergessenheit-Nachstellen eigens sich ereignet, dann kehrt die Vergessenheit als solche ein. Dergestalt durch die Einkehr dem Entfallen entrissen, ist sie nicht mehr Vergessenheit. Bei solcher Einkehr ist die Vergessenheit der Wahrnis des Seins nicht mehr die Vergessenheit des Seins, sondern einkehrend kehrt sie sich in die Wahrnis des Seins.,,62
Die Gedrängtheit und Abstraktion der Formulierungen verführen den Leser dazu, hier ein vom Menschen losgelöstes Geschehen, das sich gewissermaßen automatisch vollzieht, anzunehmen. In Wahrheit liegt das eigentliche Problem dabei darin, daß der Denker die Ebene des Denkens - eine endliche und stets selbsthaft je wieder zu übernehmende Möglichkeit - mit dem Geschick der Wahrheit des Seins, das sich gegenwärtig epochebestimmend als Moderne Technik entfaltet, soweit zu identifizieren scheint, daß sich mit der denkerischen Aufgebrochenheit der Seinsvergessenheit jenes Geschick in das Geschick der "Wahrnis des Seins" kehre. Demgegenüber ist zu beachten: Wo die Gefahr der sich nachstellenden Wahrheit des Seins als die Gefahr west, d.h. aber als die Gefahr dem Denken offenbar geworden ist, dort geschieht jedoch zunächst bloß insofern das "Wachstum des Rettenden", als dem Denken in seinem Denken die Möglichkeit gewährt ist, die Wahrheit des Seins erstmals eigens zu erfahren. Der Aufbruch der Wesenswahrheit des Seins ist daher zunächst noch kein epochebestimmendes Geschick, sondern ein seltener und unverfügbarer, dem Denken in seinem Denken zugemuteter Einblick in das was ist. Die folgende Formulierung steigert sich noch in der Zusammendrängung des in ihr Gedachten, derweil sich in ihrem scheinbar formal-implikatorischen Charakter ein riesiger Denkweg verbirgt: "Wenn die Gefahr als die Gefahr ist, ereignet sich mit der Kehre der Vergessenheit die Wahrnis des Seins, ereignet sich Welt. Daß Welt sich ereigne als Welt, daß dinge das Ding, dies ist die feme Ankunft des Wesens des Seins selbst. ,,63
Im voraus muß gesagt werden: Hier scheint die höchst problematische Identifikation der Ebene des in einem seltenen Augenblick gewährten Denkens mit dem, was als Geschick der Wahrheit des Seins epoche bestimmend 62 Die Kehre EA, S. 42. Hervorhebung von Heidegger. 63 Ibd. 15*
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ist, weitergeführt zu werden. Jedoch ist der Wechsel vom Indikativ (erster Satz) zum Konjunktiv (zweiter Satz) zu beachten. Der indikativisch formulierte Satz: "Wenn die Gefahr als die Gefahr ist, ereignet sich mit der Kehre der Vergessenheit die Wahmis des Seins, ereignet sich Welt" benennt die Erfahrung des Denkers in seinem Denken, das sich in der Nähe zu dem Dichten Hölderlins entfaltet. Der konjunktivisch formulierte Satz: "Daß Welt sich ereigne als Welt, daß dinge das Ding (00 .)" greift das in dem unmittelbar vorhergehenden Teilsatz "ereignet sich Welt" noch indikativisch Gesagte auf, indem es darin "die feme Ankunft des Seins selbst" mit dem "Welten" der Welt und dem "Dingen" des Dinges ge schicklich benennt. Damit ist die Möglichkeit ausgesprochen, daß die Erfahrung, die das Denken mit dem sichversagenden Wesen des Seins macht, in einem mit dieser Erfahrung die vorenthaltene Gunst zuläßt, daß aus der erst offenbar gewordenen Wahrheit des Seins dem das Wachstum des Rettenden hütenden Menschenwesen ein anderer Anfang seiner Geschichte gewährt sein mag. Solche Möglichkeit ist "fern", d.h. in der Feme der sich in die Verstelltheit entziehenden Wahrheit des Seins als noch "ungewährte Gunst',64 geborgen. Diese feme Ankunft der Wahrheit des Seins ereignet sich geschickhaft in dem Dingen der Dinge und in dem Welten von Welt. Dieses mögliche Geschick ereignet als der "Unterschied" das Ding "in das Gebären von Welt" und ereignet Welt "in das Gönnen von Dingen".65 Da jene Gunst noch ungewährt ist, haben alle Versuche des Denkens, jener Gunst der ursprünglich gewährten Wahrheit des Seins den Ort zu bereiten, einen vorläufigen, keineswegs abschließend-bestimmenden Charakter. Das gilt selbst für Heideggers Weg, die "Welt" als die Offenheit des Seins in der Nähe zu Hölderlin als das Welt-"Geviert" zu denken - als die Einfalt der einander bedürfenden, zugleich in Einem erklingenden Stimmen der Vier: dem einfach-innigen Widerspiel von Erde und Himmel, Gott und Mensch. 66
Jener vorläufige Denkweg, das Sein in dem von dem Wesen der Modernen Technik verstellten Reichtum seiner noch ungewährten Wesensfülle zu erfahren, hat das ihm stets Vorausgedachte in dem Wesens wandel des MenIbd. Unterwegs zur Sprache, S. 25. 66 Vgl. Hölderlins Erde und Himmel (1959). In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Frankurt am Main, 6. Auf!. 1996, S. 152181, S. 170 ff. Vgl. die Entfaltung des Geviertsdenkens in Vorträge und Aufsätze, S. 157-175 ("Das Ding") und S. 139-156 ("Bauen - Wohnen - Denken"). Angedeutet ist das Geviertsdenken schon in den "Beiträgen zur Philosophie", GA 65, S. 310, S. 479. Vgl. hierzu besonders Daniela Neu, a.a.O., S. 268-295. Sehr zu Recht betont Neu die Gefügtheit der Vier des Gevierts aus einem Einfachen, in welchem sie sich miteinander ringend ineinander spiegeln, und diesem "SpiegelSpiel der Welt" erst ihr jeweiliges, gleichursprüngliches Wesen verdanken, damit notwendig einander bedürfen. Vgl. S. 276 f., S. 294. 64
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schen: dem Hirten des Seins, der die Befreiung von der Vormacht des Unseienden, inmitten dessen das "technisierte Tier" sich austobend gefangen gehalten ist, erst dem Offenen der Wahrheit des Seins verdankt, welcher Offenheit der Dichter in seinem Dichten von jeher in ursprünglicher und unüberholbarer Weise vertraut ist. Von dorther wird erst verständlich, warum Hölderlin als der Heidegger in seinem Denken in maßgeblicher Weise begleitende Dichter schon in den "Beiträgen" in einem ausgezeichneten Sinne "der Hirt des Seyns" genannt wird. 67 Es ist jedoch sehr die Frage, ob darin nicht die Gefahr einer verengenden Auslegung der unerschöpflichen Möglichkeiten der Begegnungen zwischen Denkenden und Dichtenden, die die Sprachen gewähren, angelegt sein könnte. Das Öffnen des Tores durch das Denken Heideggers darf nicht über das darin Erschließbare, so das mögliche Gespräch ohne Grenzen zwischen Denkenden und Dichtenden, zwischen Philosophie und Kunst, entscheiden. Andernfalls würde das die Wahrheit des Seins erfragende Denken sich selber untreu werden.
§ 15 Schlußbetrachtung Während Heidegger in den "Beiträgen" die Frage, wer wir sind, als den gefährlichen aber einzigen Weg "um zu uns selbst zu kommen" schildert68 , wird diese Fragestellung, die auf die gewandelte Wesenserfahrung des Menschen als des Hirten des Seins abzielt, im Humanismusbrief als solche scheinbar verworfen: "Diese Frage (nach dem Wesen des Menschen, Erg. v. mir) pflegen wir gleich ungemäß zu stellen, ob wir fragen, was der Mensch sei, oder ob wir fragen, wer der Mensch sei. Denn im Wer? oder Was? halten wir schon nach einem Personenhaften oder nach einem Gegenstand Ausschau. Allein das Personenhafte verfehlt und verbaut zugleich das Wesende der seinsgeschichtlichen Ek-sistenz nicht weniger als das Gegenständliche. ,,69 Wir empfangen aus dieser späteren Äußerung, die sich ganz und gar im Gedankenkreis der "Beiträge" und damit der notwendigen Erfragung des seinsgeschichtlichen Wesens des Menschen als des "Hirten des Seins" aufhält, einen Wink, worin das Gefährliche der Frage "wer wir sind" eigentlich liegt: Indem die Wer-Frage die vergegenständlichende Fragerichtung der Was-Frage überwindet, droht sie in ihrer Unverzichtbarkeit doch den Wesensraum des Menschen: d. i. die Wahrheit des Seins, zu verfehlen, indem sie sich im "Personenhaften" verfängt. 67 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 464; ferner zu Hälderlin und der Wächterschaft des Seins: S. 432, S. 485. 68 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 54. 69 Brief über den Humanismus, S. 18.
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Jener Gefahr der VeITÜckung der Wer-Frage aus dem Wesensraum des Menschen entgegnet Heideggers provokante Äußerung, daß "nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz."7o Der tiefe Sinn dieser scheinbar die Unmenschlichkeit seines Denkens bezeugenden Stelle - "Unmenschlichkeit", weil hier der Mensch offensichtlich einem mystischen Abstraktum preisgegeben werden soll - erschließt sich erst auf der Grundlage von Heideggers Abwehr dessen, was er den "Anthropomorphismus,,7l nennt. Schon in "Sein und Zeit" ist die Lichtung des Seins nichts Menschliches, d. h. unbestimmbar und untragbar durch die traditionelle Wesens bestimmung des Menschen als animal rationale oder Subjektum. 72 Ein Humanismus "a non ho mine" entsprechend dem "lucus a non lucendo,,73 - muß aber ganz offensichtlich die Sorge aller humanistischen Bestrebungen, daß der Mensch in sein Wesen finde, korrumpieren, weil nun nicht mehr der Mensch als "terrestrium et caelestium vinculum et nodus" und freier Schöpfer seiner selbst im Zentrum des Ganzen des Seienden steht und aus seinem Vorrang innerhalb des Seienden seine Wesenswürde empfängt. Abgewehrt wird aber durch Heidegger eine jegliche Herleitung menschlicher Würde und - stets untrennbar hiermit verknüpft - Freiheit aus der Vorrangstellung des Menschen innerhalb des Seienden. An das auf dem Boden der Subjektivität vorgestellte Seiende verfallen bleibt Kants Unterscheidung zwischen "Kausalität aus Naturnotwendigkeit" und "Spontaneität" bzw. "Kausalität aus Freiheit". Indem Freiheit als Vermögen eines "eigenen und ausgezeichneten Ursacheseins" (Heidegger) bestimmt wird, bleibt der Grund menschlicher Freiheit und Würde dem Denken verschüttet. Schon in der mit dem Beginn des seinsgeschichtlichen Denkens zeitlich zusammenfallenden Vorlesung "Vom Wesen der menschlichen Freiheit" (1930) wurde in einer detaillierten Analyse gezeigt, wie Kants Begriff der "Kausalität aus Freiheit" ausgerichtet bleibt auf den "Zusammenhang im Vorhandensein von Vorhandenem. ,,74 Dennoch ist Kant
Brief über den Humanismus, S. 24. Vgl. zu diesem Begriff: Besinnung GA 66, S. 157 ff. 72 Das Motiv der Hut des Seins begegnet uns schon in: Sein und Zeit, S. 264: "Das Dasein behütet sich, vorlaufend (zum Tode, Erg. v. mir), davor, hinter sich selbst und das verstandene Seinkönnen zurückzufallen und ,für seine Siege zu alt zu werden'''. Heideggers Zitat aus Nietzsches "Zarathustra" ist nicht ganz korrekt. Vgl. KSA, Bd. 4, S. 94. 73 Brief über den Humanismus, S. 36. Angespielt ist auf die Etymologie, lat. "lucus", der Hain werde von "lucere", leuchten hergeleitet, als Benennung eines Ortes, der sich gerade durch die Abwesenheit von Licht auszeichnet. 74 Vom Wesen der menschlichen Freiheit GA 31, S. 163. Hervorhebungen von Heidegger. 70
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derjenige, der "das Freiheitsproblem zum erstenmal am radikalsten in seiner philosophischen Tragweite gesehen hat.,,75 Heidegger will nicht den Menschen für unwesentlich erklären, sondern in einer andersanfänglichen Entgegnung der neuzeitlichen Begründung der Wesenswürde in der Subjektivität der Person dessen Angewiesensein auf die Wahrheit des Seins als den würdegewährenden Grund seines endlichen "geworfenen" Existierens zeigen. Dieser würdegewährende Quell- und Abgrund erweist sich als dem Menschen unverfügbar, indem er ihm die Weite seines Wesensraumes gewährt und ist dennoch kein Abstraktum: Der Mensch hat an allem Entbergungs- und Verbergungsgeschick der Wahrheit des Seins wesenhaft Anteil. Der ereignende Zuwurf der Wahrheit des Seins wird durch den Menschen qua geworfenen Entwurf zwar nie ausgeschöpft, aber die Wahrheit des Seins als das Schwingungsganze des Ereignisses geschieht doch nur insofern und solange der Mensch ist, der damit wesenhaft zum Ereignis ge-hört. Die sich radikalisierende Erfahrung des Menschenwesens aus dem Bezug der Wahrheit des Seins eröffnet sich in der Abkehr von dem Fokussieren auf den Menschen als einem Seienden unter anderem Seienden - der "Person" - und der Zukehr in den Wesensraum des Menschen: der Wahrheit des Seins. So kennzeichnet Heidegger in der vierten Fuge der "Gründung" der "Beiträge" mit "Da-sein" den erst noch zu erspringenden "Grund eines künftigen Menschseins,,76: "Das Da-sein im Sinne des anderen Anfangs ist das uns noch ganz Befremdliche, das wir nie vorfinden, das wir allein erspringen im Einsprung in die Gründung der Offenheit des Sichverbergenden, jener Lichtung des Seyns, in die der künftige Mensch sich stellen muß, um sie offen zu halten.,,77
Heidegger macht in seinem Denken des Menschenwesens eine befremdende und sogar bestürzende Erfahrung: Dieses Wesen wird desto wesentlicher gedacht, desto entschiedener der Blick sich von dem Menschen als einem Seienden abwendet, um sich in einem hiermit dem Wesensraum des Menschen, d.i. die Wahrheit des Seins, zuzuwenden. Erst aus diesem Wesensraum empfängt der Mensch "die ihm eigene, d.h. zu-geeignete, er-eignete Würde".78 Da sie ursprünglich aus dem Sein ereignet und damit aus Vom Wesen der menschlichen Freiheit GA 31, S. 157. Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 300, 6. Absatz von oben. Zur Auseinandersetzung mit "Sein und Zeit" in den "Beiträgen", vgl. außer dieser Stelle auch a.a.O., S. 318: "Die Geworfenheit wird erst erfahren aus der Wahrheit des Seyns. In der ersten Vordeutung (,Sein und Zeit') bleibt sie noch mißdeutbar im Sinne eines zufälligen Vorkommens des Menschen unter dem anderen Seienden." 77 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 297. 78 Vgl. die Marginalie aus dem Handexemplar Heideggers in: Wegmarken, S. 330 (Brief über den Humanismus). 75
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einem dem Menschen Unverfügbaren gewährt ist, läßt sich Menschenwürde auch niemals "herstellen" und abschließend "sichern".79 Mit "Sichern" und "Herstellen" nennt Heidegger Charaktere des Waltens der Modemen Technik als der sich mit der Vergessenheit ihrer selbst nachstellenden Offenbarkeit des Seins, die die Wesenswahrheit des Seins des Seienden in die Seinsverlassenheit verstellt. Anders als das Ding einzig in seinem Rang zugelassen und in die Wesentlichkeit seiner Bestimmung gefügt werden kann, indem es im "Spielraum seines Geheimnisses"so aufbewahrt wird, wahrt der Mensch als der dem Ereignis eigens Übereignete nur darin seine höchste Wesenswürde, indem er sich selbst als "ein unaussetzendes Geheimnis"sl zuläßt. Das Geheimnis, als der Wesens- und Herkunftsraum sowohl des Ranges des Dinges als auch der Würde des Menschen, wird dem Denken erst dort offenbar, wo inmitten des Andrangs des "erstarrten" Unseienden s2 das Geheimnis seiner äußersten Bedrohung ausgesetzt ist und damit dem Denken zum Fragwürdigsten wird. Die Offenbarwerdung jenes Her- und Zukunftsraumes des Menschen ereignet sich damit dort, wo wir heute stehen: in der Konstellation des Übergangs als der Konstellation der sich in die Vergessenheit ihrer selbst verstellenden Wahrheit des Seins, die in dieser Vergessenheit als Wahrheit und höchste Würde des Seins dem Denken erstmals denkbar wird. Der Mensch, bewahrt vor dem "Wesensabsturz" zum "technisierten Tier", verfügt in den "Wesensumsturz zur Wächterschaft"s3 der Wahrheit des Seins, erfährt sein dem Geheimnis vertrautes Wesen, das sich damit selbst ein abgründiges Geheimnis ist und bleibt, in dem Wort Hölderlins: s4 (... ) Nicht vermögen Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen Die Sterblichen eh' in den Abgrund. Also wendet es sich Mit diesen. Lang ist Die Zeit, es ereignet sich aber Das Wahre.
79 Vgl. Metaphysik und Nihilismus. Gesamtausgabe Bd. 67. Hrsg. v. Hans-Joachi m Friedrich. Frankfurt am Main 1999, S. 260. 80 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 278. Ferner: S. 417. 81 Besinnung GA 66, S. 55. 82 Beiträge zur Philosophie GA 65, S. 241. 83 Besinnung GA 66, S. 322. 84 Sämtliche Werke, ed. v. Hellingrath Bd. IV, S. 225: "Mnemosyne". Andere Ausgaben lesen: ,,( ... ) an den Abgrund"; so die Große Stuttgarter Ausgabe und die von Jochen Schmidt besorgte.
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16*
Sachwortverzeichnis Hermetische Begriffe Heideggers sind durch Kursivierung hervorgehoben. Eingeklammerte Seitenangaben beziehen sich auf Fußnoten Abgründigkeit 193 f., 211, 215 Abgrund 112, 224, 231 f., (232) Absturz 189, 232 Achtung 70, 74 ff., 81 Anfang 123, 179, 200, 209, 214, 222, 228, 231 animal rationale (Vernünftiges Lebewesen) 24, 30, 33, 36, 45, 49, 58 63, 73, 76 ff., 82, 107, 128, 163 f., 178, 180, 188, 191, 210, (212), 221, 226, 230 animal sociale 163 Animalitas 30, 63, 77, 84, 100, 164, 180, 187 f., 191 Der Anklang (142), 179, (206) Anthropologie 81 Anthropomorphismus 34, 46, 58, 164, 191, (212), 230 Anwartschaft 221 Apparatur 118, 145, 151, (156), 158 f., 172 Apperzeption 59, 190 Arbeit 27, 73, 86, 120, 122, 130 f., 135, 152, 155-157, 172 Auge 109 Augenblick 50, 199, 227 Ausbeutung 160
Beobachtung 129 Besinnung 142,176,196 Bergung 180, 190 Bestand 161, 180, 184, 189, (197), (198), 202-207, 217-219 Bestellen 203, 206, 218 Biologismus 81 f., 132, 181 Böse, das 107, 163
certitudo (Gewißheit) 42, 52, 54, 92 f., 128, 191 Christentum, christlich 25, 35, 37, 39 f., 48, 52, 57, 64 ff., 80, 92 f., (93), 95, 148, 163, 165 f., 171, 175, (175), 186 circumspicere 47,51 Computer 113 f., 118, (118) Dämonie der Macht 162, 164 f., 170 Dasein 74, 78, 95, 10{}-109, 123, 133, 136-145, 158 (Vollzug), 177, 190 und 192 (Vollzug), 199 (Zeit) Daseinsanalyse 96 Denken 123 ff., 133, 144, 160, 173, 176 (Griechen), 178 ff., 190-195 (Verhältnis z. Dichten), 196 f., 199 (Zeit), 200 (Sein), 205 f. (Notwendigkeit), 208, 214 (Wahrheit), 219224, 227-229 (Vorläufigkeit), 230, 232 Dichten 123 f., 212, 177, (189), 190195 (Verhältnis z. Denken), 208, 224-229 Dichterische Einbildungskraft 191 Ding 175,227,232 Eigentlichkeit 140, (140), 141 f., Eigentum des Seins 208 Eksistenz 229 f. Endlichkeit 44, 57, 59, 211, (218) (und Größe) Entbergung 194 (u. Verbergung), 218 (herausfordernd), 231 (u. bergung)
199
218, 203, Ver-
Sachwortverzeichnis
Entbergungsgeschick 172, 180, 190, 203 Entfremdung 73, 153 Entsetzen 208 f. Entscheidung 171 Entweltlichung 134, (134) Entwurf 180, 190, (203 f.), 204, 221, 231 Er-denken 214 Ereignis 115, 133, 140, 160, (160), 166, 169, 171-178, 193 f., 203, (203 0, 205 Erkenntnismacht 58, 66 f., 175 Erklüftung 193 f. Erlebnis 188 Erlebnistrunkenboldigkeit 105, (105) Eros (Einheit mit Sexus) 35 Erschrecken 178 ff. Erzitterung 177, 192 ff. Existenz 99 ff., 123, 159 (leibliche Struktur), 193 f. (Vollzug) Experiment 130 Fatalismus, heroischer 202 f. Fortschritt 114, 117 Freiheit 29, 31, 33, 38 f., 41~4, 51, 57, 59, 60-70, 111 f., 115, 147, 153, 155 f., 163, 186 f., 190, 199, 203 f., 208, 218, 230 f. Freude 177 Gefühl 75 f., 103 Geheimnis 83, 194,216-218, 232 Gehirn 91, 132 Geist 30, 33, 94, 102, 106, 151, 156 Gentechnik 126 Geschichte 30, 78, 84 f., 133, 137, 142 f., 146, 163, 171 (Sein), 184 (Sein), 214, 222 Geschichtswissenschaft s. "Historie" Geschlecht 27, 35, 37, 72 Gesetz 62 ff., 66, 68, 70, 75 Gestalt 147, 155 f., (197), (199) Gestell 136, 142, 161, 180, 202, 204 f., 220 Geviert 228, (228)
245
Geworfenheit 140 Globalisierung 82, 198 f. Götter (Flucht) 215 Gott 28 f., 32, 38, 41, 43, 46, 48, 51 f., 56, 60, 63-66, 74, 93 f., 107, 187, 215 und (215) (Tod Gottes), 228 (Geviert) Der letzte Gott (206), 223 Gottheit 35 Grund 221, 230 f. Grundfrage 176,221 Die Gründung (206), 231 Hand 103, 109-121, 125, 159 Handlungscharakter des Denkens 123 Handwerk 111, 119, 130, 159 Herrschaft 183 Heuristik, seinsgeschichtliche 223 Hirt des Seins 210-213, (211), 224, 229 Historie (Geschichtswissenschaft) 80, 162-173, 179, (182), 184 Historismus 168-173 Humanismus 15 f., 17, 122,230 "human ressources" 202 Idealismus 226 ln-der-Welt-sein 102, 123, (124), 135, 139 f., 145 Individualität 155 Individuum 35, 149 Industrie 159, 219 Ineinanderschwingen der Fugen (206) instrumental 150 f., 196 Jagd 129 Kausalität 86 f., 98, 170, 172, 179, 230 Kehre 127, 133, 178, 183, 196, 199, 205, 219-224, 226-228 Körper 27, 30, 43, 72, 90, 94, 96 (u. Seele), 100 (u. Vernunft), 106 (u. Geist), 145 f., 153 f. (Vergegenständlichung), 155 (Uniformierung), 156 f.
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Sachwortverzeichnis
Körperteil 108 Konstellation des Übergangs 222, 225, 232 Konzentrationslager (KZ) 202 "Krankenmaterial" 83 (83) Krieg 79, 148 ff., 164 Kunst 35f., 111, (111),123, 167f., (168), 187,229 Kybernetik 126 f. Langeweile 126, (126),177,199,208 Lebeding 180 Leben 49, 52, 64, 67, 86, 92, 104 f., 129, 136, 145 ff., 153, 172, 188 (Wesen), 194 (u. Tod) Lebenswelt 30,34,51,71, 84-92,98, 129, 135, 148, 189 Leiblichkeit 30 ff., 35, 55 f., 73 f., 78, 84,94-125, 145 f., 153 ff. Leitfrage 24, 36, 176, 200, 221 Liebe 36 f., 105, 177 Macht 67, 92, 152, 156, 158 f., 161171, 175, 183 f., (183) 185, 188 f., 195 (u. Würde), (197), 198 (u. Wahrheit), 204 f., 208 Machtbegriff, ontischer 158 f., 161 f. Machtbegriff, seinsgeschichtlicher 161 ff. Machenschaft 131, 141, (175), 176, 184, 206, (206) Machthaber des Seienden 212, 224 Man 136--143, (145), 158 Masse 149, (149) Massenproduktion 202 Medizin 82 ff., 145, 156 f. "Menschenmaterial" 149, 161, 189, 202 Metaphysik 23 f., 41, 49, 55, 65, 74, 77 ff., 92, 95, 106, (122), 123 f., 170, 172, 178, 196, 221 f. metaphysische Organisationsstruktur 138 Methode 87 miseria hominis 27
Möglichkeit 105 f., (106), 139, 190, 195, 217, 218 (äußerste), 220, 228 Moral 50, 63-68, 76, 90, 165 ff. Moralität (b. Heidegger) 75, 185
Nationalsozialismus ("Drittes Reich") 15, (85), 105, 118 f. (118), (122), 152, (154), 164, 170, 181-185, (217) Natur 28 ff., 38, 42, 45, 47, 51, 56, 58 ff., 62, 66 f., 74, 86 ff., 93 f. (Vergegenständlichung), 105, (134), 128 ff., 135, 146, 154, 218 ("Tankstelle") Naturalismus 131 f., 135 NaturentwurJ 58-67, 130 f., 147 Naturwissenschaft (Physik) 30 f., 55 f., 65 ff., 71, 75, 85 ff., 93, 97, 124, 128 ff., (129), 132 (Koinzidenz mit Technik) - 136, 146, 198 (Wahrheit), 201 f. naturwissenschaftlich-technisch 156 Nichts 193, 200 f., (201), 211, (211), 213, (213) Nihilismus 49, (80), (105), 168, (187), 214 ff., (215) Öffentlichkeit 137, (137), 140, 143, 158, 179 Offenständigkeit 84, 100, 111, 115, 139, 211 Organ 108, 117 Organische Konstruktion (149), 172, (197) Organismus 48,67, 81, 101 "Patientengut" 83 Persönlichkeit 67 f., 72, 74, 155 f., 186, 210 Person 68, 71-81, 100, (153), 177, 180, 231 das Personenhafte 229 Philosophie 208, 229 Physik s. "Naturwissenschaft" Physiologie 83, 93, 96, 98 ff., 117 planetarisch 152, 198 f. Platonismus 28, 30 ff., 35 f., 49, 65, 102 (umgekehrter), (102)
Sachwortverzeichnis Platzhalter des Nichts 211, (211) Psychoanalyse 99 Psychosomatik 96 Räumlichkeit 94 f., 101 f., 140, 143 f. Rang des Menschen 174, 204 f., 230 Ratio s. "Vernunft" Raum 134 Rausch 103-107, 124 Recht 166, 179, 185 Reduktion, ontologische 80 Riß 221 Rüstung 152 Rundfunk 143 ff., 219 Scheu 178, 189,221 Schmerz 27,92, 126, 153-158 Schrift 112-121,123, 159 Seiendes als solches: 33 f., 36, (212), 214; Andrang: l39 ff., 186,205; Bemächtigung: 155; Ganzes des S.: 130f, (135), 146f, 151; Herrschaft: 207; S. im Ganzen: 32, 38, 41, 45, 87,106,131, 139f., 145f., 174f., 177, 199 f., 202, 204, 217, 220, 224; Macht über: 158; Mannigfaltiges: 32, 43, 45 f., 140; Übermacht: 205, 224; Verwiesenheit: 111; Vormacht: 223; Wechselbezug: 112 Sein 30, 33, 45, 58, 84, 101, 123, 180; kein Abstraktum: 221; Begriff: 221; Bezug: 113 ff., 159, 161, 204, 231; Entzug: 117, 159, 214 ff., 220 und 225 (äußerster); Geschick: 142, 195, 222; Horizont: 133; Offenheit: 168, 228 f.; Unverfügbarkeit: 84, 173, 176, 178, 189-196, 212, 215; Vergegenständlichung: 176; Wahrheit: s. "Wahrheit des Seins"; Walten: 119; Wesung: 136; Würde: s. "Würde"; Zuwendung: (217) Sein des Menschen 96 Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden 100, 114 Sein des Seienden 93, 179, 191, 195, 200 f. Seinsentlastung 138
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Seinsfrage 179, 200 Seinsvergessenheit 142 f., 172 f., 179, 201, 206, 214, 217, 219, 226 f., 231 f. Seinsverlassenheit 138, 142, 179 f. (181), 182, 185, 195, 201 f., 205, (206), 217, 232 Seinsverständnis 104, 125, 130 f., 133, 157, 176 f., 186,207,221 Selbstbewußtsein 47, 53 f., 57 ff., 65 f., 74 f., 93, 132, 177, 186, 190 f., 214 Selbstbezug 43, 51-56, 67, 70, 74, 107, 115 f., 193, 199,207, 223 Sexus (Einheit mit Eros) 35 Seyn 200, 219 Sinnlichkeit 61 f., 75, 191 "Sparstoff Mensch" 55, 75, 79 Spielraum 200, 232 Sport 105, 155 Sprache 103,111,117-121 Sprachwissenschaft 117, 168 Der Sprung 178, (206), 221 Staat 162 f., 170 f., (170) Staunen 26, 123, 126 Stimmung 103, 107, 123-126, 173180, 189 f., 199, 208 Streit von Welt und Erde 194 Subjekt, Subjektivität 55 ff., 66, 68 f., 74, 82, 84, 93 f., 128, 133, 135 f., (136), 138, 140, 142, 156, 158, 169, 178, 180, 186 Substruktion (unter die Lebenswelt) 84, 87 ff., 93, 97, (97), (122)
Technik (s. auch "Gestell") 85, 87, 117, (122), 128, 132 (Koinzidenz: Naturwissenschaft), 142 f., 149, 153 f., 159, 161 (Wesen), 173, 175, 180, (181), 183, 185 (Frage), 189, 195-209, (196), (Definition: 205 ff.), 216-220 (Möglichkeit) Technisierung 144, (196) Technizität 156 Tierheit 66 f., 77
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Sachwortverzeichnis
Tod 30, 48 f., 83, 91, 136 (Sein zum Tode), 194 (Zeugnis des Seyns), (195), (213),217 f. (Negation) Totale Mobilmachung 148 f., 152, 157, 172, 197 Transzendieren 106 f., 151 Übergang 222 f. Unsterblichkeit der Seele 60,63 f. Utopie 121, 165, 223
38 ff., 43,
Verbergung 193, 194 und 231 (u. Entbergung) Verborgenheit 201,215, (217) Verdinglichung 73 f., 80, 82 f., 84, 90,94,97,132, 145, 180,219 Verfallenheit 134, 207 Verfallsgeschichte 176 Vergangen-Seiendes 169 ff., 173 Verhaltenheit 176, 178 f. Verhaltensforschung 78, (78), 134 Vernünftiges Lebewesen s. "animal rationale" Vernunft (Ratio) 33, 45 f., 49 ff., 55, 60 ff., 65, 67, 75 f. (u. Sinnlichkeit), 77, 82, 164 f., 180 f., 187, (212), 223 (Traum der Vernunft) Venveigerung 212, (215), 219 Venvindung 226 Venvüstung 214 Verzicht 194, 212 f. Vorhandenheit 74, 80 f., 97, 100, 129, 138 f., 230 Wächterschaft 194, (211), 212, 222, 232 Wahrheit 52 f., 58, 89, 92 f., 146, 167 f., 183, 193, 197 f. (u. Macht), 200 Wahrheit des Seins 84, 100 f., 133, (143), 161, 171, 178, 187-190, 196, 200-232
Wegkehr des Seins 216 f., (217), 219 Welt 28, 30, 33, 41, 85, 87 f., 102, 106 f., 133, 135, 139, 144 f., (145), 149 (Welt-Krieg), 156 (Mobilisierung), 157 (Auslegung), 174, 177 f. u. 189 u. (189) (Weltschwund), 217, 227 f., (228) Weltanschauung 119, 121, 131, 208, (208) Weltbild 40 Wesen des Menschen 26, 41, 48, 57, 63, 73 f., 94, 100, 114, 123 132, 190,210, 221 (u. Sein), 226 Wesensfeindschaft 195, 208, 213 f. Wesenswandel des Menschen 220224 Wille 57, 62, 65, 68, 155, 157, 162 Wille zur Macht 119, 152, 156 f., 167, 184, 188, 196, 198 Wissenschaft 36, 84, 88, 93, 98, 100, 126, (126), 128 ff., (135), 146, 167 f., 175, 182 f., (189), 201, (201) Wort 110-121, 123 Würde des Menschen 23, 27 f., 30 ff., 36, 39, 41, 44, 48, 75, 83, 94, 123, 180,204 f., 210, 230 ff. (u. Ereignis) Würde des Seins 176, 178, 194 ff. (u. Macht), 208, 232 Zeichnung 112, 115 Zeit 74, 104, 106, 133 f., 199 f. Zeitlichkeit 140 Zeitspielraum 193, 223 Zeug 95, 108 f., 118, 133, 135, (135) zoon logon echon 110 Zukehr 219 f., 225, 231 Die Zukünftigen (206) Das Zuspiel (206), 209 Zuwurf 193, (203 f.), 204 (stellender), 208,221, 231 Zweifel 52, 55, 93