Bild und Technik. Heidegger, Klee und die Moderne Kunst. 3770536754, 9783770536757


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Bild und Technik. Heidegger, Klee und die Moderne Kunst.
 3770536754, 9783770536757

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Otto Pöggeler

Bild und Technik Heidegger, Klee und die Moderne Kunst

Wilhelm Fink Verlag

PVA 2 2 8 7

Umschlagabbildung: Paul Klee, Tod und Feuer (1940), 332 (G 12), 46 x 44 cm '" un< ^ Kleisterfarbe auf Jute auf kleistergrundierter Jute auf Keilrahmen; iginale, doppelte Rahmenleisten. Paul Klee Stiftung, Kunstmuseum Bern © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

ISBN 3-7705-3675-4 © 2002 Wilhelm Fink Verlag, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn Bayerische l Staatsbibliothek Miinr hpn

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Inhalt

Einleitung

I.

IL

1. Verschüttete Ansätze: Jena 2. Die wiedergewonnene Tradition

9 14

Klee und die Moderne

25

1. Stationen des Lebens und Schaffens 2. Positionen der Wirkungsgeschichte

25 42

Philosophie und Kunst bei Heidegger

61

1. Handwerk - Wissenschaft - Glaube 2. Natur - Kunst - Mythos 3. Die Kunst im anderen Anfang

61 73 94

III. Klee im Blickfeld Heideggers 1. Besuche in Basel 2. Austausch mit Bern 3. Der Wandel im Wesen der Kunst IV. Von van Gogh zu Cezanne

V

7

117 125 138 147 159

1. Briefe und Bilder: van Gogh 2. Ein Weg zu Cezanne 3. Worpswede

159 170 184

Klee oder Picasso?

195

1. Die Bauhausnachfolge 2. Klee - Picasso - Braque 3. Klee und Ostasien

196 199 204

6

INHALT

VI. Die Bildhauer

217

1. Bernhard Heiliger

218

2. Eduardo Chiliida

225

VII. Techniken und Künste in der Globalisierung

233

Abbildungsnachweis

246

Einleitung

Im Januar 1924 konnte Paul Klee in Jena im Prinzessinnenschlößchen (dem einstigen Gartenhaus des Theologieprofessors Griesbach) Aquarelle - neueste Arbeiten aus der Zeit am Bauhaus - zeigen. Träger der Ausstellung war der Jenaer Kunstverein; er hatte sich der modernen Kunst seit langem angenommen. Konnte man die Arbeit des Bauhauses stützen, indem man wieder einmal Klee und damit einen der hervorragendsten Maler aus dem Kreis um Gropius präsentierte? Am 24. Januar faßte Klee vor seinen Bildern die Lehre, die er im Bauhaus gab, in einem programmatischen Vortrag über moderne Kunst zusammen. Gleich im folgenden Jahr mußte das Bauhaus aus Weimar und Thüringen weichen und nach Dessau in Anhalt ziehen: Das Jahr 1933 kündigte sich schon an. Klees Jenaer Vortrag wurde erst postum - 1945 in der Schweiz - veröffentlicht. Seit 1956 wurden Klees Vorlesungen aus dem Bauhaus editorisch aufgearbeitet und publiziert. Auch ein Philosoph wie Martin Heidegger wurde aufmerksam auf Klee: er wollte damals ein »Pendant« oder einen »zweiten Teil« zu seinem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks aus den dreißiger Jahren schreiben; die »moderne Kunst« stand, von der Malerei her, nun im Zentrum des Fragens. Ließ sich in Freiburg im Breisgau und damit in der Nähe zur Schweiz, wo Klee Zuflucht in der Zeit der Gewaltherrschaft gefunden hatte, wieder anknüpfen an die Gedanken, die Klee in Jena vorgetragen hatte? Ludwig Grote hatte seinerzeit als Landeskonservator in Dessau und als Direktor der Anhaltischen Gemäldegalerie den Umzug des Bauhauses von Weimar nach dort gefördert und den Malern im Bauhaus eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er konnte 1949 in München im Haus der Kunst die Ausstellung Der Blaue Reiter organisieren. Aufgrund seines Einsatzes wurden ebendort im folgenden Jahr Die Maler des Bauhauses gezeigt. Konnte die deutsche Kunst, immer noch angeführt durch das freie Malen, nicht über die dunklen zwölf Jahre hinweg wieder anschließen an jene Künstler, die in Deutschland der Malerei so eine Weltgeltung verschafften, wie Picasso und Braque in Frankreich es getan hatten? In München bildete sich damals die Gruppe Zen 49; in ihr verstanden sich etwa Willi Baumeister und Fritz Winter als abstrakte Maler. Das konnte aber nicht heißen, daß man der älteren deutschen Tradition eine Absage erteilte; vielmehr wollte man durchaus mit Klee eine »kühle Romantik« fortsetzen. Damals zeigte Hans Sedlmayr in seinem Buch

8

EINLEITUNG

Verlust der Mitte (1948), daß am Ende des 18. Jahrhunderts Schloß und Kirche als führende Aufgaben der Kunst verlorengingen; seitdem habe der Mensch sich und seine Kunst autonom gesetzt, aber nur den Zerfall dessen erreicht, was der Schöpfungsordnung sich entzog. Um 1925 habe der Prozeß seinen Kulminationspunkt erreicht; es sei die Malerei gewesen, die am hemmungslosesten den Zerfall vorangetrieben habe. Gegen diese Diagnose sollte mit den Münchener Ausstellungen gezeigt werden, daß auch und gerade die abstrakte Kunst die Natur mit ihren Ordnungen erschließe, ja - gemäß den Grundüberzeugungen Klees - die Genesis der Natur von ungeahnten Möglichkeiten her fortbilde. Paul Klee hatte seine Freunde Macke und Marc, die im Ersten Weltkrieg fielen, um mehr als zwanzig Jahre überlebt und sein Werk auch durch die theoretische Lehre am Bauhaus gestützt. Ihm fiel nun die Rolle zu, in Deutschland ein Pendant zu Picasso zu sein, so aber ein Vater der modernen Malerei. Diese Botschaft erreichte auch einen Philosophen wie Martin Heidegger, als eine bedeutende Klee-Sammlung aus Amerika zurückkam. Sie wurde durch die Galerie Beyeler in Basel gezeigt, ehe sie dann vom damals noch reichen Bundesland Nordrhein-Westfalen gekauft und zum Grundstock einer Landesgalerie in Düsseldorf bestimmt wurde. Um 1950 verdeckten die Maler vom Blauen Reiter und vom Bauhaus noch den Blick auf das, was etwa mit Pollock in Amerika hervorgetreten war. Die langsam entstehende Düsseldorfer Landesgalerie hatte das ehrgeizige Ziel, um Klee herum alle Maler zu versammeln, die in unserem Jahrhundert neue Formmöglichkeiten gefunden hatten. Nach einigen Jahrzehnten der Bemühungen um Klee und um Heidegger zeigt sich, daß allzu vereinfachte Vorstellungen vom Weg und vom Werk des Malers und des Philosophen die geistige Situation der fünfziger Jahre prägten. Die Publikation von Klees theoretischen Äußerungen brach ab; seine Weise des Malens sollte in neuen Ansätzen entschlüsselt werden. Eine erste »Gesamtausgabe« von Heideggers Werk wird auf mehr als 100 Bände veranschlagt; doch längst hat sich gezeigt, daß es zusätzliche editorische und historische Fragen gibt. Müssen nicht die »Mythen«, die sich über Heidegger und Klee gebildet haben, aber auch die Selbststilisierungen der beiden über ihren Weg zuerst einmal zerstört werden, ehe es zu angemessenen Deutungen kommen kann? In dieser offenen Situation bleibt die Aufgabe aber bestehen, das sachliche Verhältnis von Kunst und Technik aufzuhellen. Dieses Verhältnis wurde im Bauhaus nach wenigen Jahren seines Bestehens zum zentralen Problem; von Heidegger wurde es von den Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs her neu artikuliert. Schon zwischen Klees Jenaer Vortrag von 1924 und Heideggers Bremer Überlegungen Einblick in das, was ist von 1949 liegen unterschiedliche Bemühungen, die an verschiedenen Orten stattfanden.

VERSCHÜTTETE ANSÄTZE: JENA

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1. Verschüttete Ansätze: Jena Der Ort Jena am Übergang über die Saale hatte sich im Kreis der mittelalterlichen Burgen rundum schließlich durchgesetzt. Als die Wogen der Reformation hochgingen, hatte Luther in der Stadtkirche gegen seine radikaleren Parteigänger und Widersacher gepredigt. In den beiden Jahrzehnten um 1800 rückte die Universität in einmaliger Weise an die Spitze der geistigen Bemühungen: Als Goethe von Weimar aus die Geschicke der Universität lenkte, konnte Schiller dort ebenso lehren wie die idealistischen Philosophen von Fichte und Schelling bis Hegel. Auch die Romantiker fanden in Jena zusammen zu ihrem neuen Aufbruch. Noch steht das Haus des Buchhändlers Frommann, wo man sich getroffen hat, aber auch Fichtes Wohnhaus am Löbdergraben; untergegangen ist das Romantikerhaus zwischen Leutragasse und Brüdergasse, wo die Brüder Schlegel mit ihren Frauen wohnten und wohin dann Novalis, Schelling und Tieck zu Gesprächen kamen.1 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten die Firmen Zeiss und Schott durch eine technisch hochspezialisierte Industrie das Bild der Stadt bestimmen. Recht spät kam es 1903 in der kunstlosen Stadt zur Gründung eines Kunstvereins; doch hat dieser sich dann in einer einmaligen Weise um die moderne Kunst verdient gemacht. Jena blieb eine Stadt ohne tätige Künstler. Man hatte in seinen Alleen Portraitbüsten der Professoren aufgestellt; nach dem Tode von Ernst Abbe 1905 kam es zu heftigen Debatten, ehe Henry van de Velde, Constantin Meunier und Max Klinger das große Abbe-Denkmal schaffen konnten. Als das neue Universitätsgebäude gebaut wurde, gewann man Ferdinand Hodler für eine große Darstellung des Auszugs der Jenaer Studenten in den Freiheitskrieg von 1813. Auch im Kunstverein waren es vor allem Professoren der Universität, welche die entscheidenden Impulse gaben. Der Rechtshistoriker Hans Fehr konnte seine Beziehungen zu Nolde fruchtbar machen (der Maler kam sogar zeitweise nach Jena, um in der Umgebung zu malen). Der Philosoph Eberhard Grisebach setzte sich für die Neue Künstlervereinigung in München ein. Der Archäologe und Kunsthistoriker Botho Graef konnte von Kirchner einen reichen Bilderschatz erwerben. Natürlich gab es Einwände gegen diese Zuwendung zur modernen Kunst. So schrieb die Jenaische Zeitung 1912 zur Ausstellung der Neuen

1 Das jetzt so genannte »Romantikerhaus« ist also in Wahrheit das Haus Fichtes; vgl. dazu Ernst Behler in: Evolution des Geistes: Jena um 1800. Hrsg. von Friedrich Strack. Stuttgart 1994. S. 412 f. - Die Gedanken der vorliegenden Schrift wurden am 10. Januar 1994 an der Friedrich Schiller-Universität in Jena vorgetragen (vorher in München und Bochum); vgl. Otto Pöggeler: »Über die moderne Kunst«. Heidegger und Klees Jenaer Rede von 1924 (Jenaer Philosophische Vorträge und Studien 13). Erlangen und Jena 1995.

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EINLEITUNG

Künstlervereinigung München, in diesen »Farbenklecksen« sei von Kunst so wenig zu spüren »wie bei einem Hottentotten von Goetheschem Geist«. Gegenüber den »Degenerations-Erscheinungen« und der »Masse des Impotenten« wurde nach »guter deutscher Kunst« gerufen. Doch konnte vor allem Walter Dexel, der als Maler dem Konstruktivismus folgte und zugleich promovierter Kunsthistoriker war, als »Assistent« des Kunstvereins von 1916 bis 1928 die Ausstellungen - vor allem in den zwanziger Jahren - auf ihre höchste Höhe führen, dazu eine bedeutende Bildersammlung erwerben. Seit 1928 konnte das Prinzessinnenschlößchen nicht nur genutzt, sondern zur ständigen Galerie ausgebaut werden. 2 Die Industrie- und Universitätsstadt Jena mußte selbstverständlich mit der Nachbarstadt Weimar zusammenarbeiten. Die einstige Stadt Goethes hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ein bedeutendes Musikleben gehabt. Es gab in ihr Stätten für die Ausbildung von Künstlern und für die Förderung des Kunstgewerbes. Seit 1898 stellte der Thüringische Ausstellungsverein bildender Künstler Werke der Weimarer Maler auch in Jena aus. Mit der Gründung des Deutschen Künstlerbundes setzte Harry Graf Kessler 1903 in Weimar eine spektakuläre Initiative für die Förderung moderner Tendenzen. 3 Doch scheiterte Kessler, als ein Vorstoß Jenaer Professoren in Weimar auf die reaktionäre Kunstgesinnung stieß. Man hatte Rodin 1905 den Jenaer Ehrendoktor verliehen; der französische Künstler stiftete dann z. B. auch Aktzeichnungen, die dem Großherzog in Weimar angetragen wurden. Der Hinweis auf das angeblich Unsittliche in diesen Zeichnungen brachte dem Vermittler Kessler das Ende seiner Weimarer Tätigkeit. Louise Dumont war in Weimar mit ihren Bemühungen um ein Nationaltheater gescheitert und mußte nach Düsseldorf ziehen; Henry van de Velde wurde im Ersten Weltkrieg trotz seiner Verdienste um die Weimarer Einrichtungen unter demütigenden Umständen ausgewiesen. Der Aufbruch zu neuen Ufern nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schien Weimar endgültig in die Mitte eines neuen Deutschland zu rücken. Gleich zu Anfang des Jahres 1919 wurde das Weimarer Theater zum Nationaltheater erklärt; dort trat dann die Deutsche Nationalversammlung zusammen, um den Deutschen die Weimarer Verfassung zu geben. Im April 1919 rief Walter Gropius im Anschluß an bestehende Einrichtungen das Staatliche Bauhaus Weimar ins Leben. Leitend war die Überzeugung, daß ein demokratisches Zusammenleben der Menschen auch ein neues Wohnen brauche. Wie in den Bauhütten des 2 Volker Wahl hat als Jenaer Universitätsarchivar seit 1976 diese Geschehnisse untersucht und seine Untersuchungen schließlich zusammengefaßt: Jena als Kunststadt. Begegnungen mit der modernen Kunst in der thüringischen Universitätsstadt zwischen 1900 und 1933. Leipzig 1988; vgl. vor allem S. 33, 52. 3 Vgl. Volker Wahl (s. Anm. 2). S. 14 f; zum folgenden vgl. S. 56 ff.

VERSCHÜTTETE ANSÄTZE: JENA

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Mittelalters sollte wiederum die Architektur den anderen Künsten ihren Ort geben. So gehörten zum Bauhaus denn auch die Maler, aber eingebunden ins breite Spektrum handwerklichen Tuns. Während Gropius zuerst eher jene Ten denzen fortsetzte, die z. B. vom Deutschen Werkbund aus sich am Handwerk orientierten, ging er nach den ersten drei Jahren dazu über, die technische Welt als die entscheidende Herausforderung der Architektur und der Künste zu sehen. Im Rückblick konnte er deshalb sagen, das Bauhaus habe sich in seiner Arbeit hauptsächlich darauf konzentriert, »was heute allgemein eine Aufgabe von zwingender Notwendigkeit geworden ist, nämlich die Versklavung des Menschen durch die Maschine zu verhindern, indem man das Massenprodukt und das Heim vor mechanischer Anarchie bewahrt und sie wieder mit lebendi gem Zwecksinn erfüllt«. Es sollten »Waren und Bauten« entwickelt werden, die »ausdrücklich für industrielle Produktion« entworfen worden waren. 4 Natürlich hatten die Künstler des Bauhauses im Jenaer Kunstverein ihre Ein zelausstellungen: Feininger im Sommer 1922, Kandinsky und Gerhard Marcks im Sommer 1923. Gropius selbst baute das Jenaer Stadttheater im Sinne des Bauhauses um und hatte damit schließlich trotz unverständiger Kritik Erfolg. Seit dem Frühjahr 1924 spitzte sich der Widerstand gegen das Bauhaus in Wei mar so zu, daß um die Fortführung des Unternehmens gekämpft werden mußte. Als die Jenaische Zeitung die Kritik am Bauhaus vorgetragen hatte, tra ten führende Bürger Jenas am 11. April in einem Aufruf für das Bauhaus ein. Am 24. September forderte der Kunstverein den Erhalt des Bauhauses und legte seiner Eingabe an den Landtag den genannten Aufruf bei. Zu dieser Rettungs aktion gehörte, daß die Ausstellungen im Kunstverein auf das Bauhaus aus gerichtet wurden. Im September/Oktober 1924 gab es eine Ausstellung der Holzschnitte von Gerhard Marcks. Es folgte die Ausstellung Neue Deutsche Baukunst; der dort vertretene Gropius hielt auch einen Vortrag. Weitere Aus stellungen galten Schlemmer und dann Kandinsky; Kandinsky hielt am 15. März 1925 den Vortrag Über abstrakte Kunst. Paul Klee hatte schon um die Jahreswende 1917/18 im Jenaer Kunstverein eine Gemäldeausstellung zusammen mit Albert Bloch. Er war dann in weiteren Ausstellungen vertreten, hatte im Sommer 1920 auch eine Einzelausstellung mit Zeichnungen und Radierungen. Im Januar 1924 sprach er vor seinen Aquarellen in einer Zeit, die noch knapp vor den großen Schwierigkeiten lag, die man dem Bauhaus dann machte. Dexel hatte Mühe gehabt, Klee für den Vortrag zu ge winnen. Gemäß einer Zeitungsnachricht sprach Klee im Prinzessinnenschlöß chen »von dem geheimnisvollen Prozeß des Schaffens in sich und von seinem

4 Vgl. Walter Gropius: Architektur. Wege zu einer optischen Kultur. Frankfurt a. M. und Hamburg 1956. S. 15 f.

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EINLEITUNG

Wollen im allgemeinen«. Eine studentische Zuhörerin erinnerte sich nach mehr als 50 Jahren an den großen Eindruck, den Klee gemacht hatte: »Das Gewinnende dieses Mannes mit dem damals ungewöhnlichen Bart, fein, gepflegt, umgänglich und freundlich Dinge darstellend, die, wie er wußte, vielen fremd vorkommen mußten, aber hier als etwas Selbstverständliches, etwas überraschend Schönes, ein wahres Märchen erschienen. Klee konnte, was Künstlern selten gegeben ist, in Worten genau das sagen, was die Bilder aussprechen.« 5 Als Klee 1925 mit dem Bauhaus nach Dessau gegangen war, konnten seine dortigen Schüler noch 1930 im Kunstverein in Jena ausstellen (obgleich die Zeit der großen Ausstellungen nach dem berufsbedingten Weggang Dexels 1928 zu Ende gegangen war). Das Bauhaus selbst geriet in Auseinandersetzungen. Es hatte mit bedeutenden Malern Tendenzen des Blauen Reiter, auch den Konstruktivismus in sich aufgenommen; allmählich aber wurde alles Expressionistische zugunsten des Formalismus verdrängt. Künstler wie Itten, Schreyer, Marcks verließen das Bauhaus. In der Ausrichtung auf Industrial Design bekamen Moholy-Nagy und Albers Gewicht. Als Hannes Meyer 1928 anstelle von Gropius die Leitung übernahm, war der Absturz in die Veräußerlichung entschieden. Vergeblich versuchte Mies van der Rohe 1930 in Dessau und 1932 in Berlin einen neuen Anfang. In Thüringen wurde nach den Landtagswahlen vom Dezember 1929 ein Nationalsozialist, Wilhelm Frick, Innenminister. Der Erlaß vom April 1930 Wider die Negerkultur -für deutsches Volkstum wurde zu einem Signal; er war vorbereitet durch das Buch Kunst und Rasse, das der Direktor der Vereinigten Kunstlehranstalten in Weimar, Paul Schultze-Naumburg, 1928 veröffentlichte. Schultze-Naumburg ließ im Oktober 1930 siebzig moderne Arbeiten aus der Weimarer Kunstsammlung entfernen, die Wandfresken und Reliefs Schlemmers in der Hochschule zerstören. Im Mai 1933 wurde das Bauhaus, inzwischen in Berlin, als »Keimzelle des Bolschewismus« geschlossen; Paul Klee, inzwischen an der Düsseldorfer Kunstakademie, wurde aus Deutschland vertrieben. Der Jenaer Kunstverein wurde »gleichgeschaltet«. Als 1937 bei Weimar das Konzentrationslager Buchenwald errichtet wurde, in München eine große Ausstellung »entartete« Kunst anprangerte, wurden in Jena 203 Sammlungsstücke des Kunstvereins und 70 Exponate des Stadtmuseums beschlagnahmt. 6 Klee

5 Vgl. Volker Wahl (s. Anm. 2). S. 225; zum folgenden S. 290. Klee selbst betonte damals gegenüber Gropius, er habe sich bewußt auf ein Laienpublikum eingestellt; für die Bauhauspublikationen sei der Vortrag nur von einer »geringen« Eignung. Dagegen wollte Meyer-Benteli ein Großprojekt »über die moderne Kunst« eröffnen und gab dem Vortrag selbst diesen programmatischen Titel. Vgl. Paul Klee in Jena. Der Vortrag (s. Anm. 7). S. 202, 71 ff. 6 Vgl. Magdalena Droste: Bauhaus 1919-1933. Köln 1993. S. 236; Volker Wahl (s. Anm. 2). S. 55.

VERSCHÜTTETE ANSÄTZE: JENA

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hatte außerhalb Deutschlands längst wachsende Beachtung gefunden; doch wurde er in der Schweiz von seiner Todeskrankheit überfallen. Er antwortete auf Verfolgung und Krankheit mit der einmaligen Eruption der Bilder seiner letzten Jahre. Westdeutsche Museen konnten nach 1945 durch Neuankäufe die Verluste aus der Zeit der Gewaltherrschaft wettmachen. Dieses Glück war dem Jenaer Kunstverein und dem Städtischen Museum Jena nicht beschieden. So findet man heute im ehemaligen Haus Fichtes, dem sog. Romantikerhaus, nur einen kläglichen Rest aus der einstigen großen Sammlung. Das Haus Fichtes, in dem allerdings die Romantiker verkehrten, wird heute in Jena als »Romantikerhaus« präsentiert. Die Überlieferungen vom idealistisch-romantischen Aufbruch laufen immer noch zu Legenden zusammen. Inzwischen ist aber das Philosophische Seminar der Universität in einem Haus untergebracht, in dem die Großen der Zeit um 1800 wohnten; so ist die Verpflichtung unmittelbar sichtbar, in neuer Freiheit die Überlieferung einzuholen. Das Kunstgeschichtliche Institut sieht einen Schwerpunkt seiner Arbeit in der Zuwendung zu Paul Klee; der Jenaer Kunstverein ist wiederbegründet worden. Die Universität konnte 1995 Werke von Klee kaufen. Das kunstgeschichtliche Institut zeigte auf Grund einer langen Vorarbeit 75 Jahre nach Klees Jenaer Vortrag Werke von Klee. Diese reichen von den frühen satirisch geprägten Zeichnungen und Graphiken bis zu Aquarellen aus dem Vortragsjahr 1924. Neben dem Katalog steht ein stattlicher Band, der Klees Jenaer Vortrag im Faksimile mit Transkription und Kommentierung bringt; Aufsätze zur Thematik zeigen neue Perspektiven. So wird eine Wunde geschlossen, die durch den nationalsozialistischen Angriff auf die moderne Kunst und durch deren Ächtung im kommunistischen Machtbereich geschlagen worden war. Eine lebendige Geistigkeit in Jena hängt aber auch heute noch davon ab, was in Thüringen überhaupt, vor allem im benachbarten Weimar geschieht.7 Der Name Goethes mag Scharen von Touristen nach Weimar locken; doch darf das, was an Goethe erinnert, keine bloße Staffage bleiben. Der Rückblick auf die Geschichte Weimars bedeutet eher Mahnung als Zuversicht. Es bleibt ein düsteres Omen, daß ein Franz Liszt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Weimar die kulturelle Erneuerung versuchte, dabei aber scheiterte. Lange vor dem Umsturz von 1933 wurden die Demokratie und das Bauhaus aus Stadt und Land verstoßen. Dagegen stellte Nietzsches Schwester ihren

7 Vgl. Paul Klee in Jena 1924; ferner: Paul Klee in Jena 1924. Der Vortrag. Hrsg. von A. M. Ehrmann-Schindlbeck, M. Schmid und F.-J. Verspohl. Jena 1999. - Zum folgenden Marion Heinz, Theodore Kisiel: Heideggers Beziehungen zum Nietzsche-Archiv im Dritten Reich. In: Annäherungen an Martin Heidegger. Festschrift für Hugo Ott. Hrsg. von Hermann Schäfer. Frankfurt/New York 1966. S. 103 ff. - Vgl. ferner Otto Pöggeler: Von Nietzsche zu Hitler? Heideggers politische Optionen. Ebenda. S. 81 ff.

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EINLEITUNG

kranken Bruder im Schatten von Goethes Weltruhm zur Schau; ein NietzscheArchiv sollte Nietzsches Erbe pflegen. Martin Heidegger wollte Max Schelers Nachlaß edieren und die Publikationsweise »in Entsprechung zur Veröffentlichung von Nietzsches Willen zur Macht« gestalten. Nach dem Tod von Nietzsches Schwester holte der Philologe Walter F. Otto den berühmten Philosophen in den »Wissenschaftlichen Ausschuß« für die Nietzsche-Ausgabe. Gleich in diesem Jahr (1935) mußte der Verleger Klostermann sich jedoch dagegen wehren, daß Richard Oehler, der für Nietzsche sprechen wollte, »die Heideggersche Philosophie als Judenphilosophie« bezeichnete. Mochte Heidegger sich durch Nietzsche über die Goethezeit hinausgeführt sehen: zwischen ihm und dem Weimarer Archiv mußte es bald zum Bruch kommen. Lassen sich heute Wieland und Goethe, Nietzsche und das Bauhaus in Weimar verbinden? Im Jahre 1999 (das den 250. Geburtstag Goethes brachte) wurde Weimar die Rolle einer Kulturhauptstadt Europas zugedacht. Ein Klassikermuseum gedenkt Goethes wie Schillers, Wielands wie Herders. Auch von deutschen Forschern wird Nietzsches Nachlaß aufgearbeitet und erörtert. An das einst vertriebene Bauhaus wird eigens erinnert. Wenn die Kunst des letzten halben Jahrhunderts vorgestellt werden soll, bricht der Gegensatz zwischen dem einstigen Osten und dem Westen freilich neu auf. Liegt nicht eine Ungerechtigkeit darin, daß der Westen oft für sich und seine Demokratie allein die Offenheit für moderne Kunst reserviert? Die Innovationen, Blockierungen und geheimen Widerstandshaltungen in der geschehenen Geschichte widersetzen sich solchen Vereinfachungen. Das, was in der Kunst bleibende Qualität hat, kann sowieso nicht über Abstimmungen in irgendwelchen Organisationen ausgemacht werden. In jedem Fall sind Jena wie Weimar nun einbezogen in den Versuch, die Demokratie im politischen Bereich mit der Offenheit für moderne Kunst zu verbinden. Doch der Versuch, die Tradition zurückzugewinnen, mußte in anderen Regionen beginnen.

2. Die wiedergewonnene Tradition Paul Klee hatte 1933 Zuflucht in jenem Land gesucht, wo er geboren worden war. Der Versuch, in Bern das Bürgerrecht zu erwerben, wurde durch den Tod abgebrochen. Die Stadt, in der Klee in der Nähe des elterlichen Hauses die letzten Lebensjahre verbrachte, hat ihn aber nicht vergessen. Dort erschien 1945 zum ersten Mal Klees Jenaer Rede Über die moderne Kunst im Druck. Im Jahre 1947 wurde die Paul-Klee-Stiftung am Berner Kunstmuseum gegründet. Die Stiftung hat Klees Werke zuerst einmal durch Ausstellungen präsentiert. Jürg Spiller begann 1956 mit der Publikation von Klees Bauhaus-Vorlesungen; eine Ausgabe der Tagebücher 1898 - 1918 durch Felix Klee folgte 1957. Die Briefe an die Familie

DlK WIEDERGEWONNENE TRADITION

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1893 - 1940 erschienen 1979 in zwei Bänden. Jürgen Glaesemer begann in den siebziger Jahren, das Berner Archiv auszubauen und Klees Werke durch Kataloge zu erschließen. Jürg Spiller konnte seine Ausgabe nach dem zweiten Band nicht mehr fortsetzen, obwohl er vier Bände versprochen hatte. Die Weise, wie er Texte zusammenfügte, war sowieso fragwürdig geworden. So legte Glaesemer 1979 Klees ersten Vortragszyklus am Bauhaus zur bildnerischen Formenlehre im Faksimile und transkribiert vor; ein früher Tod riß ihn 1988 aus seiner Arbeit. Christian Geelhaar hat 1979 in einem wichtigen Aufsatz Journal intime oder Autobiographie? nach dem Charakter des Tagebuches von Paul Klee gefragt. Klee hat sein Tagebuch mehrmals umgeschrieben; so verdanken offenbar Formulierungen, die unter frühen Daten stehen, ihre Leitworte späteren Jahren. 8 Nunmehr stand die Frage im Raum: hat Klee nicht selbst sein Leben und Wirken zu einem »Mythos« stilisiert, der der historischen Aufklärung nicht immer standhält? Muß die Klee-Forschung nicht Wege einschlagen, die diesen Mythos zuerst einmal zerstören, um ohne Vorurteile die Geschichte zu sehen? Klees Tagebücher wurden 1988 von Wolf gang Kersten in einer »textkritischen Neuedition« vorgelegt; die Neuedition soll die Grundlage für die nötige Kommentierung bieten, die aber noch aussteht. Vierzig Jahre nach dem Tod Paul Klees veranstaltete die Klee-Stiftung im Berner Kunstmuseum die Ausstellung Paul Klee. Das Schaffen im Todesjahr. Der Katalog ist Jürgen Glaesemer gewidmet, doch spricht er ausdrücklich die Kontroverse an, die über Klees spätes Schaffen entstanden war. Im Jahre 1936 hatte Klees Arbeit wegen der fortschreitenden Krankheit zeitweise ausgesetzt. Ab 1937 entstand dann das Wunder eines überreichen Spätwerks. Jürgen Glaesemer verstand Klees Werk vom Leben her; das Spätwerk bekam eine herausragende Rolle, weil Klee in den letzten Lebensjahren seine Frau Briefe beantworten ließ und überhaupt statt sprachlicher Äußerungen mehr und mehr allein Bilder vorlegte. Dürfen wir uns aber überhaupt von diesem Bezug zwischen Leben und Werk leiten lassen, müssen wir nicht vielmehr Klees Spätwerk als Antwort auf die Weiterbildung der formalen Möglichkeiten der Malerei sehen, bestimmt überdies durch marktstrategische Überlegungen? 9 Durchaus nicht alle Bilder, vielmehr nur einige beziehen sich auf die Todesproblematik. Zum Ausstellungskatalog, vorbereitet durch ihn, trat 1991 ein erster Band eines Werkverzeichnisses, das also mit dem Ende, dem Todesjahr, begann. Der Band

8 Vgl. Christian Geelhaar: Journal intime oder Autobiographie? Über Paul Klees Tagebücher. In: Paul Klee. Das Frühwerk 1883-1922. Hrsg. von Armin Zweite (Katalog zur Ausstellung in der Städtischen Galerie im Lehnbachhaus). München 1979. S. 246-260. 9 Vgl. Paul Klee. Das Schaffen im Todesjahr. Hrsg. von Josef Helfenstein und Stefan Frei (Katalog zur Ausstellung des Berner Kunstmuseums). Stuttgart 1990. - Zum folgenden vgl. Paul Klee. Verzeichnis der Werke des Jahres 1940. Bearbeitet von Stefan Frei und Josef Helfenstein. Stuttgart 1991.

16

EINLEITUNG

markiert eine neue Etappe der Klee-Rezeption und Klee-Forschung, den Anfang einer hochspezialisierten Erschließung des Werkes. Sie soll einmal einen zentralen Ort im neu zu bauenden Berner Paul Klee-Museum haben. Als Paul Klee nach dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr zum Repräsentanten der »klassischen Moderne« wurde, zeigte man seine Bilder auch in Freiburg im Breisgau. So veranstaltete der Kunstverein dort 1949 mit Berner Leihgaben die Ausstellung Späte Werke von Paul Klee. Vor allem tat sich das nahe Basel hervor, wo Georg Schmidt wirkte, der 1940 bei der Gedächtnisfeier für Klee in Bern gesprochen hatte. Als die Baseler Galerie Beyeler eine Pittsburgher Klee-Sammlung erwerben konnte, wurden die Bilder in ihren Räumen gezeigt, ehe sie 1960 vom Lande Nordrhein-Westfalen erworben wurden. Zwei Jahre später begann die Sammeltätigkeit für die Kunstsammlung dieses Bundeslandes. Die Bilder von Klee wurden nicht nur im Schloß Jägerhof gezeigt, sondern reisten auch durch die ganze Welt. Im März 1986 konnte Werner Schmalenbach seine langjährige Tätigkeit als Leiter der Düsseldorfer Sammlung mit der Eröffnung eines Museumsneubaus am Grabbeplatz krönen. Die Zahl der Klee-Bilder war von achtundachtzig durch Zukaufe auf einundneunzig gewachsen; doch haben diese Bilder nun nur noch einen bescheidenen Raum im Ganzen des Hauses. Zweifellos ist die Düsseldorfer Sammlung eines der ganz wenigen Museen moderner Kunst von Weltgeltung; zweifelhaft aber wird, ob die moderne Kunst mit ihren Ansätzen vorzüglich von Klee her entschlüsselt werden kann. Die Klee-Sammlung, die jetzt in Düsseldorf zu sehen ist, hatte längst wichtige Anstöße gegeben, ehe sie in die Zusammenhänge einer neu entstehenden Landesgalerie eingefügt wurde. Als sie vor dem Verkauf in der Baseler Galerie Beyeler gezeigt wurde, gehörte der Philosoph Martin Heidegger zu den Besuchern. Heidegger war längst nicht mehr nur der Autor von Sein und Zeit, sondern ein Denkender, der aus der Nachbarschaft zum Dichten und zur Kunst das Rettende in großer geschichtlicher Gefahr suchte. In seinem Brief über den Humanismus hatte Heidegger sich 1947 dagegen gewehrt, daß sein Denken mit der Existenzphilosophie oder gar einem »humanistischen« Existenzialismus vermischt wurde; er bestand auf der entscheidenden Bedeutung, die Hölderlins späte Hymnen für ihn gehabt hatten. Der Sammelband Holzwege, 1949 hergestellt und mit der Jahreszahl 1950 publiziert, wollte die Geschichte der Wahrheit von der Kunst und von der Entfaltung der Frage nach dem Sein im abendländischen Denken her in eine »Kehre« führen. Am Anfang dieses Bandes steht der Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes von 1935/36. Was eine weltstiftende, große Kunst sein könne, sollte vom griechischen Tempel und seiner Götterstatue her gezeigt werden. Die Frage, ob es eine Kunst in diesem Sinne auch in unserer Zeit gebe, wurde durch Nebenbemerkungen zu skeptischen Äußerungen Hegels und zu den scheiternden Bemühungen um eine neue Kunst bei Vincent van Gogh angezeigt.

DIE WIEDERGEWONNENE TRADITION

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Heidegger begann eine neue öffentliche Wirkung mit der Vortragsreihe blick in das, was ist, die im Dezember 1949 in Bremen abseits von den Universitäten gehalten wurde. Die Themen dieser Vorträge wurden in den folgenden Jahren an der Münchener Akademie der schönen Künste zur Diskussion gestellt. Kann es in einer Zeit, die nur technische Bestände vernutzt, noch »Dinge« geben - den Krug Laotses, dazu Kreuz und Krone, Baum und Teich? Kann die Kunst im Zeitalter der Technik das Rettende zeigen, das den Menschen wieder in einer Welt wohnen läßt? Heidegger hörte Hölderlin nun von dem Echo her, das dieser auf Trakls Weg zum Untergang schon im Ersten Weltkrieg gehabt hatte. Konnte zu einem Lyriker wie Trakl nicht der Maler Paul Klee treten, der nun in aller Munde war? Zu Klees Bildern kam die scheinbar verwandte ostasiatische Malerei und Dichtung. Die Frage war somit gestellt, ob Japan nicht einen anderen oder gar besseren Weg in das technische Zeitalter finde als Europa und als Amerika. Wer Heidegger um 1960 über Klee sprechen hörte, konnte zu der Auffassung kommen, daß die Vorträge über den Ursprung des Kunstwerkes durch eine neue Besinnung auf Kunst im Zeitalter der Technik überholt waren. Blieben die Vorträge aus den dreißiger Jahren nicht einer »romantischen« Position verhaftet? »Romantisch« wäre dann die Überzeugung, daß auch in unserer Zeit die Menschen wieder ein »Volk« werden müssen, wenn es geschichtliche Größe geben soll; die »großen Schaffenden«, von denen Nietzsche gesprochen hatte, müssen dann durch ihre Werke eine gemeinsame Orientierung geben. Die griechische Polis kann ebenso Vorbild sein wie das Mittelalter oder der Aufbruch der Künste in der beginnenden Neuzeit. Noch Heideggers Beiträge zur sophie von 1936-38 gehen von diesen Voraussetzungen aus, um sie dann in Frage zu stellen. Sie warnen vor der »Romantik«, die in einer »Re-aktion« auf die durchgängige Berechnung noch einmal mit einer »Verklärung des Seienden« antwortet. Auch ein Sichzurückretten zu Goethes Naturanschauungen gehöre hierher. Jede bloße »Gegenbewegung« bleibe sowieso dem Verfall, gegen den sie sich wende, verhaftet. Einer der zuletzt geschriebenen Texte der Beiträge will im Wissen um große Kunst ohne jede Ausflucht das Zeitalter der »Kunst-losigkeit« annehmen. Damit wird jene Hoffnung aufgegeben, mit der die erste Vorlesung über Nietzsche vom Winter 1936/37 auf die Kunst geblickt hatte. 10 Bei diesem weiteren Begriff von Romantik muß man die Weise beiseite lassen, in der die germanistische Forschung von einer Jenaer deutschen Romantik oder einer Heidelberger Romantik spricht. Eher ist ein Anschluß an die Überlegungen zur europäischen Romantik möglich. Vor allem kann so gesprochen 10 Vgl. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie. Frankfun a. M. 1989. S. 496,186 f, 505 f. - Zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Die neue Mythologie. Grenzen der Brauchbarkeit des deutschen Romantik-Begriffs. In: Romantik in Deutschland. Hrsg. von Richard Brinkmann. Stuttgart 1978. S. 341 ff.

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EINLEITUNG

werden, wie man in der englisch-amerikanischen und in der französischen Sprache von Romantik spricht. Schiller ist dann ebenso romantisch wie die Brüder Schlegel, Hölderlins Rückgriff auf die Griechen ebenso wie der Rückgriff des Novalis auf das Mittelalter. Romantisch in diesem Sinn ist die Weise, wie der junge Hegel aus seiner Frankfurter Nähe zu Hölderlin im Systemfragment von 1800 die Kunst von den Prozessionen der Griechen her sieht, die zum Tempel ziehen, ihre Hymnen zu den Statuen hinaufsingen und so die Mächte der Liebe und Tapferkeit in die Herzen der Menschen einziehen lassen. Nicht romantisch ist die Weise, wie Hegel später die Geschichte der europäischen Malerei von den Bildern der Sammlung der Brüder Boisseree her historisch aufarbeitet. Gegen Hegel aber stellt sich die Frage, ob die Malerei nicht noch eine ganz andere und neue Zukunft hat - in einer kühlen Romantik, wie Klee sie forderte, nämlich im Anschluß an die Modernen und nicht an die Alten. Der Kunstwerk-Aufsatz stellt zum Tempel (oder zu den Tempeln) in Paestum den Bamberger Dom, zur geschichtlichen Stiftung der Kunst bei den Griechen die Epochen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Die Vorträge der fünfziger Jahre orientieren sich an neuen Leitphänomenen wie dem Krug Laotses, dem Schwarzwaldhof oder der alten Brücke. Bleibt Heideggers Besinnung auf die Kunst nicht in der Nähe der Beschreibungen, wie etwa Mircea Eliade sie vom Heiligen in den Religionen gibt? Sieht man die Dinge so, dann muß man auch zugestehen, daß Heidegger durch seinen spezifischen Zugang zur Kunst die moderne Kunst nicht zu erfassen vermag.11 In einem Nachwort zum KunstwerkAufsatz, das zum Teil später geschrieben wurde, hält Heidegger ausdrücklich fest, daß die weltstiftende Kunst, wie Hegel es aussprach, für uns ein Vergangenes sei. Heidegger schickt dieser Feststellung die These voraus, daß die große Kunst dann, wenn sie ästhetisch aufgefaßt werde, untergehe, daß sie also im »Element des Erlebnisses« sterbe. In der Reclam-Ausgabe des Kunstwerk-Aufsatzes von 1960 gibt Heidegger später Erläuterungen zu diesen Feststellungen. Zuerst stellt er eine Alternative auf: »Rückt die moderne Kunst aus dem Erlebnishaften heraus? Oder wechselt nur das, was erlebt wird, so freilich, daß jetzt das Erleben noch subjektiver wird als bisher?« Wenn das Erleben zum Technologischen des Schaffenstriebes werde, dann sei das eine Steigerung der Subjektivierung. Doch besteht eine zweite Anmerkung auf der Aufgabe, »aus dem Erleben ins Da-sein zu gelangen« und damit ein anderes Element für das Werden der Kunst zu erlangen. Die Frage wird nicht angesprochen, wo denn Klee mit seinen Werken und seinen Überlegungen auf diesem Weg anzusiedeln sei. 11 Vgl. Wilhelm Perpeet: Heideggers Kunstlehre. Jetzt in: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks. Hrsg. von Otto Pöggeler. 3. Aufl. Weinheim 1994. S. 217 ff. Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Band 5: Holzwege. Frankfurt a. M. 1977. S. 67.

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Heideggers spätere Bemühungen zur Kunst schienen mir genug Anlaß dafür zu geben, den Zugang zur Kunst im Kunstwerk-Aufsatz nur auf eine Strecke des Weges von Heidegger zu beziehen. Das tut Heidegger ja auch selber in den späteren Randbemerkungen zur Reclam-Ausgabe. So hält er gleich zum Titel fest: »Der Versuch (1935/37) unzureichend zufolge des ungemäßen Gebrauchs des Namens >Wahrheit< für die noch zurückgehaltene Lichtung und das Gelichtete.« Die Relativierung des Kunstwerk-Aufsatzes auf eine bestimmte Strecke des Weges von Heidegger hin besagte nach meiner Auffassung auch, daß dort die moderne Kunst noch nicht zum Problem geworden sei. Gegen diese Auffassung wandten sich Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Joseph J. Kockelmans; sie suchten zu zeigen, daß Heideggers Kunstwerk-Aufsatz sich auf das Wesen von Kunst überhaupt beziehe und es auch zu erfassen vermöge.12 Günter Seubold trennt dagegen Heideggers Denken nicht nur in die Phase von Sein und Zeit vor der Kehre und die Phase des Kunstwerk-Aufsatzes nach der Kehre; er läßt eine dritte Phase folgen und kann so den Überlegungen über Klee ihre Eigenständigkeit lassen. Aber auch er will der Bildung von »Legenden« entgegentreten, wenn er Heideggers Überlegungen wenigstens in der Auswahl des Wichtigsten ediert und so zu belegen meint, daß Heidegger über bloße Ansätze nicht hinausgekommen sei. Von Heideggers Beschäftigung mit Klee zeugen nur oder nur noch siebzehn Zettel mit Notizen. Heidegger selbst soll angeordnet haben, daß Zettel wie diese erst nach Ablauf des Urheberrechts zu edieren und selbst dann nur der Diskussion unter Fachleuten zu überlassen seien. Zu den Zetteln kommt jedoch Klees Rede Über die moderne Kunst in der Ausgabe Bern-Bümpliz 1949 mit zahlreichen Lesespuren Heideggers. Darüber hinaus gab es nach einer Liste von Frau Dr. Almuth Heidegger in der Freiburger Bibliothek ihres Großvaters folgende Klee-Bücher: Georg Schmidt: Paul Klee. Engel bringt das Gewünschte. Baden-Baden 1953 (mit Bildern aus der Sammlung Doetsch-Benziger, Basel). Carola Giedion-Welcker: Paul Klee. Stuttgart 1954 (auf dem Vorsatzblatt Verse in Petzets Schjrift und die Widmung »von einigen dankbaren Hörern aus dem Wintersemester 1955/56«; unterschrieben haben z.B. Inge Schroth und Hein12 Vgl. meine Replik auf diese Kritik: Heidegger und die Kunst. In: Martin Heidegger. Kunst - Politik - Technik. Hrsg. von Christoph Jamme und Karsten Harries. München 1992. S. 59 ff. Auch Günter Seubold besteht auf einer dritten Phase von Heideggers Denkweg: Kunst als Enteignis. Bonn 1996. S. 45 ff. Zum folgenden vgl. Günter Seubold: Heideggers nachgelassene Klee-Notizen. In: Heidegger Studies 9 (1993). S. 5 ff. Ich danke Herrn Dr. Hermann Heidegger herzlich für eine Photokopie dieser Notizen.

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rieh Petzet; Visitenkarten stammen von Senator Ludwig Helmken, Dr. med. Martin Nagel. Heidegger hat hier einen Artikel über die Düsseldorfer KleeSammlung im Schloß Jägerhof von Petzet aus der National-Zeitung Basel vom 31. Juli 1960 eingelegt: Ein Schloß für Paul Klee. Notizen von einer Reise nach Düsseldorf. Eingelegt sind auch ein Klee- Autograph Beyelers als Weihnachtsgabe für 1960 mit einer Karte von Hildy und Ernst Beyeler). Im Zwischenreich. Aquarelle und Zeichnungen von Paul Klee. Köln 1957 (mit Farbabbildungen und der Schöpferischen Konfession, einem Aufsatz über Klee von Werner Haftmann sowie Bildbeschreibungen von Carola Giedion- Welcker, Will Grohmann, Werner Schmalenbach, Georg Schmidt). Erinnerungen an Klee. Hrsg. von Ludwig Grote. München 1959. Am 29. IX. 1969 bekam Heidegger mit der Widmung »in Verehrung des anschauenden Denkers« Klees Tagebücher 1898-1918. Aus den Jahren nach Heideggers erster Griechenlandreise stammen folgende Bücher: Paul Klee: Bern und Umgebung. Aquarelle und Zeichnungen 1897-1915 (Neujahrsdruck 1963 für die Freunde des Hauses Klipstein und Kornfeld, Bern). Bern 1962. Christian Geelhaar: Paul Klee und das Bauhaus. Köln 1972 (mit der Widmung »Martin Heidegger für viele wertvolle Lesestunden« von Herbert Huber, Lahn). Paul Klee. Die Ordnung der Dinge. Bilder und Zitate, zusammengestellt und kommentiert von Tilman Ostwold. Stuttgart 1975. Nach Günter Seubold gibt es ferner die folgenden Klee-Bücher Heideggers im Besitz von Almuth Heidegger: Paul Klee: Handzeichnungen druck des Bandes von 1934.

II1921-1930.

Hrsg. von W Grohmann. Neu-

Novalis: Die Lehrlinge von Sais I Paul Klee: 51 Zeichnungen. Bern 1949. - Das Märchen erschließt die Natur durch Chiffern und findet deren Geheimnis in der Liebe.

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Damit sind in der Tat Grundgedanken von Klee angegeben, doch hat Klee selbst niemals die Dichtungen des Novalis illustriert. Wenn man nach seinem Tode ausgewählte Zeichnungen zu dem romantischen Text stellte, dann ergab sich nicht immer die nötige Entsprechung, wie Klee sie selbst gefordert hätte. In diesem Band lagen in fremder Schrift die folgenden Gedichte von Klee: ...von der Katze ein Stück, Land ohne Band (Elend), Eine Art von Stille leuchtet zum Grund, Weil ich kam erschlossen sich Blüten. In der Augabe Paul Klee: Gedichte. Hamburg 1996 finden sich diese Gedichte auf S. 7, 88, 94 und 95. Ebenfalls sei eingelegt gewesen: Einst dem Grau der Nacht enttaucht, Schriftbild Aquarell 1818. Was gemeint ist, sagt Felix Klee im Nachwort zur angeführten Ausgabe der Gedichte (S. 129): »Klee schuf in den Jahren 1916-1921 sogenannte Schriftbilder... Die chinesische Lyrik nahm Klee in düsterer Kriegszeit... so sehr gefangen, daß diese zauberhaft versponnenen Werke daraus entstehen konnten. Das Schriftbild 1918, Nr. 17, ist vermutlich ein eigenes Gedicht: >Einst dem Grau der Nacht enttaucht...erster am Platz< in seinen Schaufenstern kubistische Kunst auszustellen, die von den Gaffern als typisch schwabingisch bezeichnet wird. Picasso, Derain, Braque als Schwabinger Freunderln, ein netter Gedanke!« Klee reiste selbst für zwei Wochen nach Paris. Dabei ging es nicht mehr (wie bei der Parisreise von 1905) vorzüglich um Museumsbesuche; vielmehr sah Klee in den Galerien und Ateliers die gerade entstehenden Bilder. Er lernte z. B. Delaunay persönlich kennen (Nr. 903 ff). Als Herwarth Waldens Berliner Galerie Der Sturm auch in München die Ausstellung der Futuristen durchsetzte, fand Klee den Lärm einer Straße »überzeugend gestaltet«. Der Ausruf »Heiliger Laokoonü« mag Lessings Ansicht korrigieren, daß es der Malerei nicht um Bewegung gehe; offensichtlich betrachtete Klee aber auch die Futuristen nicht ohne Distanz (Nr. 916). Die Künstler der Brücke hatten in Dresden und Berlin einen Expressionismus vertreten, der den Durchbruch zum Kubismus in Paris noch nicht auf-

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nahm. In München, beim Blauen Reiter, hielt man enge Verbindung nach Paris; doch wiesen Kandinskys Bilder, die man auch auf den Kopf stellen konnte, einen eigenen Weg zur Abstraktion. Bezeichnend für Macke, Marc und Klee blieb, daß sie ihren Weg zum Kubismus über Delaunay fanden. Picasso und Braque lösten den einheitlichen perspektivischen Raum in Fragmente auf und analysierten die Gegenstände von ihrem geometrischen Aufbau her; sie konnten dann aus kubistischer Sicht neue Gebilde »synthetisch« zusammenfügen. Auch Delaunays Bild vom Eiffelturm fragmentiert das Gesehene und setzt es dann so zusammen, daß viele Perspektiven im Spiel sind. Er kann dann auch Farben zu Farbenkreisen ohne gegenständliche Bedeutung zusammenfügen. Hier konnte Klee anknüpfen, und so ist seine Hommage a Picasso von 1914 auch eine Distanzierung; sie geht einen anderen, eigenen Weg, indem sie einen Kopf aus Farbfeldern aufbaut. Zusammen mit den Anstößen Delaunays wurde auch anderes wirksam: Rodins Hinweis auf die Kathedralen Frankreichs oder auf die Kathedrale, die Frankreich darstellt, vor allem aber Wilhelm Worringers Beziehung der »Formprobleme der Gotik« auf die Abstraktion. Noch das Bild Lachende Gotik von 1915 erinnert an beides: an die hochstrebenden, in Bewegung übergehenden Bogen, wie Delaunay sie an der Kirche Saint-Severin ablas, und an die Reduktion auf ein Spiel der Farben. Klee übersetzte auch Delaunays Text Über das Licht. Darin wird die Malerei gefeiert, die über die Architektur und die Plastik hinausgehen kann, weil sie sich von der Imitation des Gegenständlichen oder der Herstellung von Gegenständlichem (dem Eiffelturm oder auch der Weltstadt) zu lösen vermag. Doch den Weg Delaunays zum Orphismus ging Klee nicht mit.19 Konnte Europa sich mit der Bemühung um die eigenen Ursprünge begnügen? An die Stelle der Reise nach Italien bei Goethe und bei den Malern seiner Zeit war die Reise nach Paris getreten; doch sah man längst über Europa selbst hinaus. Gauguin hatte den Blick auf die exotische Pracht und die Reste alter Mythologie in der Südsee gelenkt. Lagen aber nicht wichtigere Anregungen in unmittelbarer Nähe, etwa die Befremdung durch den islamischen Kulturkreis? Die Perspektiven der Kreuzzüge oder der Türkenkriege waren vergessen, die Märchen von Tausendundeiner Nacht lagen näher. Doch stand der Orient nicht mehr für Grausamkeit und Leidenschaft (wie bei Delacroix oder bei den Odalisken-Bildern von Matisse). Franz Marc hatte 1910 bei seiner Verteidigung der Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung in München bedauert, daß man eine 19 Jim M. Jordan: Paul Klee and Cubism. Princeton 1984, will nicht nach den Inhalten, sondern nach den formalen Aspekten von Klees Kunst fragen. Er arbeitet die kubistischen Einflüsse auf Klee in den Jahren 1912-14 im einzelnen heraus; dann zeigt er Klees weiteren Gebrauch des Kubismus und die Antworten auf ihn bis 1927 (wo sich der Konstruktivismus durchsetzt).

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der Großen Kompositionen Kandinskys nicht neben einen mohammedanischen Teppich hängen könne. Beide Male gehe es ja um Raumaufteilung, Rhythmus und ornamentale Farbbehandlung, also um Strukturierungsmöglichkeiten, die über die alte europäische Malerei hinausführten. Als Klee 1914 mit Moilliet und Macke nach Tunis reiste, konnte er wenigstens im Aquarell den Gebrauch der Farbe anwenden, den er nach der aggressiven Linie und nach den Tonalitäten zu beherrschen gelernt hatte. Er wollte die Bildarchitektur von der Stadtbauarchitektur her neu gewinnen, und so baute er seine Bilder mit Farbflecken wie mit Bausteinen auf. Die Wüste gab spärliche figurale Zeichen: neben den Stadtsilhouetten die Kamele oder wenige mittelmeerische Pflanzen. Abstrakte Schriftzeichen traten zum Bildlichen, doch schienen in den abstrakten Bildern immer noch die Kuppeln der Moscheen oder die Pflanzenformen auf. In einer Sternstunde fanden die Maler auf dieser Reise nicht nur neue Inhalte für ihr Malen, sondern eine andere Weise des Malens. 20 Der Ausbruch eines Krieges, der sich dann zum Weltkrieg ausweitete, zerstörte mit plötzlicher Gewalt so viele Träume von neuen europäischen Wegen. Klee wußte, daß in ihm das Herz, das für diese Welt schlug, längst zu Tode getroffen war. Mozart habe sich (»ohne sein Inferno zu übersehen!«) in die freudigere Hälfte der Welt retten können; ihm selbst bleibe nur der kristallinische Typ. Die Gedanken Worringers über Einfühlung und Abstraktion bekamen eine aktuellere Bedeutung: »Man verläßt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz ja sein darf.« Klee suchte über die Abstraktion eine »kühle Romantik«, die unerhört sei ohne Pathos. »Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.« Kann aber eine Druse, die blutet, sterben, da sie doch ein Kristall ist? Klee hält fest: »Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt.« Er habe fliegen müssen, um sich aus seinen Trümmern herausarbeiten zu können, so sei er »abstrakt mit Erinnerungen« (Nr. 950 ff). Bei seiner Rede von einer neuen Romantik wußte Klee, wovon er sprach. Er hatte schon am 23. Februar 1903 seiner Braut geschrieben, die »Schule der Männlichkeit« in Friedrich Schlegels Lucinde - diese Weise, das Glück zu suchen und es doch nicht zu finden - könne ein Stück aus seinem Leben sein. Nur Leute von der »Sorte Schlegels« könnten in Wagners Tristan das große Kunstwerk sehen. Klee fand den Weg zu Novalis; doch näher als die Romantik blieb schließlich Goethes Bezug der Kunst auf die bildende Natur. Im weiteren Wortsinn verwies »Romantik« auf den christlichen Bezug zum Seelischen. So konnte Klee die »Neue Romantik« als Ordnung der Bewegung gegen die Ordnung der Ruhe durch Ingres stellen (Nr. 941). Diese Ro-

20 Vgl. die Tunisreise. Klee, Macke, Moilliet (Ausstellung Münster und Bonn 1982/83) Hrsg. von Ernst-Gerhard Güse. Stuttgart 1982.

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mantik aber hatte sich zu bewähren, als die Selbstzerstörung Europas im Krieg offenkundig wurde und nur den Weg über neue Abstraktionen offenließ. Klee sah sich an einer Wegkreuzung, wo er Entscheidungen zu fällen hatte. Er lehnte 1915 die Lebensweise seines Jugendfreundes Haller ab, der auf das Verlangen nach »Schönheit« und auf die Jagd nach Erschütterungen nicht verzichten konnte, an den Verpflichtungen der Ehe und der Kontinuität im Schaffen scheiterte. Klee sah sich als einen »Mönch auf natürlich breiter Basis«, der seine »romantischen Triebe« in der Ehe untergebracht hatte. Kubin, der die Welt floh, sei zwar weiter als Haller, nämlich halblebendig und nicht nur vier tellebendig; aber er sei lebensvoll nur im Destruktiven. Er käme nicht zum Kri stallinischen, sondern begreife die Welt nur als Gift; so begreife er nur den Zusammenbruch (Nr. 958). Kubin hatte Klee einst aus Freude an dessen Gra fik aufgesucht; die Nähe zu ihm mußte sich wieder melden, als Klee 1917 auf einem Flugzeugtransport beim Leuchtturm vor Geestemünde die Nordsee sah. Der Schweizer oder Oberdeutsche glaubte sich am »Ende der Welt«, in einer Gottverlassenheit, die man nicht lieben könne, die aber auch nichts Schwäch liches habe. »Einer der nächsten Gedanken ist Kubin!« (Nr. 1043). Klee konnte Flugzeugabstürze nur sarkastisch kommentieren (Nr. 1090, 1106). Als abstür zende Vögel hielt er die Maschinen bei ihrem Todessturz fest. Klee konnte nie wie Marc und wie Macke das Paradies wiederfinden im Leben der Tiere innerhalb der Natur oder in der menschlichen Nähe und der liebevol len Aufmerksamkeit für den Anderen. So war der Tod der Freunde im Inferno des Krieges für ihn nichts schlechthin Umstürzendes. Als Klee 1916 Muni tionsmagazine bewachte, überdachte er sein Verhältnis zu Marc. Er gestand zu: Marc sei menschlicher; er liebe wärmer und ausgesprochener. Er neige sich zu den Tieren und erhöhe sie zu sich. Ihn leite der Erdgedanke (und nicht der Weltgedanke, den Klee für sich beansprucht). Doch sei etwas Faustisches, etwas Unerlöstes in ihm. Marc finde mehr Liebe als er selbst, denn von sich selbst sagt Klee: »Meine Glut ist mehr von der Art der Toten oder der Ungeborenen... Mei ner Kunst fehlt wohl eine leidenschaftliche Art der Menschlichkeit. Ich liebe Tiere und sämtliche Wesen nicht irdisch herzlich.« Über die Toten und die Un geborenen aber bezieht Klee sich auf die Welt, die immer ein Entstehen und Ver gehen ist, so unendliche Möglichkeiten für Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen bereithält. Diese Möglichkeiten bringt Klee auf Formeln, und dabei weist er alles Faustische ab. »Geht Wärme von mir aus? Kühle?? Davon ist dort, jenseits der Weißglut, nicht die Rede. Und weil dorthin nicht allzu viele hinreichen, werden wenige berührt.« (Nr. 1008). Ein Jahrzehnt später sollte Klee einer anderen an tipodischen Weise der Erdnähe bei Nolde begegnen.21 21 »Nolde ist mehr als nur erdhaft, er ist auch Dämon dieser Region... Wir kamen ge legentlich durch die Luft zu ihm.« Vgl. Paul Klee: Das bildnerische Denken. Hrsg.

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Noch während des Militärdienstes in Gersthofen schrieb Klee einen Aufsatz Graphik; daraus wurde sein Beitrag zu Kasimir Edschmids Sammelband ferische Konfession von 1920. Der erste Satz des gedruckten Textes ist allbekannt: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« Das Machen ist ein Werden, welches Zeit braucht. Die einfache Linie entfaltet sich aus dem toten Punkt, macht Halt und holt Atem, blickt zurück, bekommt eine Gegenlinie; das Sichtbarmachen führt so zu einer Polyphonie, in der die perspektivisch gewonnene Bildeinheit zerbrochen ist. Der moderne Mensch schaukelt nicht wie der antike im Boot auf den Wellen; vielmehr bezieht er sich in seinem Schiff über mannigfache Apparate auf Land und Meer, auf die Erde und die Gestirne. Zu dieser technisch gewordenen Welt gehört die moderne Kunst. Mag sie auch nur eine Villegiatur oder Sommerfrische sein, so kann sie doch aus der Distanz heraus Orientierung geben. Nach Kriegsende konnte Klee vom Militärdienst freikommen. Er schloß sein Tagebuch ab, denn er hatte zu sich gefunden als ein Mensch, dem die Kunst zur Lebensaufgabe geworden war. Er eignete sich nun auch die Ölmalerei persönlicher an. In der aufgerührten Zeit nach dem Kriege zeigten seine Bilder eine kosmische Romantik, die auch Sterne blühen läßt. Zum Malen trat der Versuch, die Kunst einzubringen in einen neuen Aufbau des gemeinsamen Lebens. Während der Revolution betätigte Klee sich in München in linksradikalen Gruppen. Als dort die Räterepublik scheiterte, gab es für ihn nur den langsamen Weg der allmählichen Durchsetzung einer neuen Kunst in einem demokratischen Staat. Zu einer Berufung an die Kunstakademie nach Stuttgart, die von dem Studentenvertreter Schlemmer betrieben wurde, kam es nicht. Doch im Oktober 1920 erhielt Klee den Ruf an das Bauhaus in Weimar. Er war längst ein bekannter Maler: 1920 erschienen über ihn zwei Monographien. Wilhelm Hausenstein, der von humanistisch-marxistischen zu konservativen Ansichten überging, würdigte ihn dann als Exponenten der Zeit. In seinem Buch Kaiman oder eine Geschichte vom Maler Klee und der Kunst dieses Zeitalters von 1921 sah er in Klees Deformationen des Wirklichen einen subjektivistischen Nihilismus, der gelegentlich in einen eingebildeten Orient flüchtete. Klee mußte sich verkannt sehen, doch war seine Kunst im lebhaftesten öffentlichen Gespräch. Für ein Jahrzehnt verband Klee seine Tätigkeit mit der neuen Gründung des Bauhauses. Als England im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung zur führenden Wirtschafts- und Handelsmacht der Welt geworden war, hatten Rusvon Jürg Spiller. Basel/Stuttgart 41981. S. 515. - Zum folgenden vgl. ebenda S. 76 f. Zum Verhältnis der endgültigen Fassung zur vorhergehenden und zu den folgenden Bauhausvorlesungen vgl. z. B. Manfred Fath in Paul Klee: Konstruktion - Intuition (Ausstellung in der Städtischen Kunsthalle Mannheim 1990/91). Hrsg. von Manfred Fath, Hans-Jürgen Buderer. Stuttgart 1990. S. 25 ff.

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kin und Morris die Sozialreform dennoch an eine Erneuerung des Handwerks geknüpft und sich gegen die »Maschine« stellen wollen. Als Deutschland dann England überrunden konnte, suchte man konsequenterweise das deutsche Handwerk durch Kunstgewerbeschulen zu stärken. Was der Deutsche Werkbund erstrebte, leistete Henry van de Velde seit 1907 in Weimar. Bezeichnend ist, daß man nur in Deutschland die »Neue Kunst« als »Jugendstil« reklamierte: Die Jugendbewegung veränderte das Verhältnis der Generationen, indem sie einer bestimmten Phase des Werdens und der Entfaltung menschlichen Lebens eine neue Bedeutung zusprach. Bei der Einrichtung des Bauhauses sah man aber noch ein Problem darin, daß sich nun genausoviel junge Frauen wie Männer zur Ausbildung anmeldeten und daß altüberlieferte Sitten infrage gestellt wurden. In jedem Fall sollten die expressionistischen Tendenzen aufgenommen werden, die den Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens suchten. So bekam die Malerei als führende Kunst einen bevorzugten Platz im Bauhaus. Schon der Name »Bauhaus« enthielt das Programm, alte Trennungen zu überwinden, somit die Kunstgewerbeschule wie die Kunstakademie in Weimar in sich zu vereinen. Verwiesen wurde auf die mittelalterliche Bauhütte und damit auf eine zunftartige Einbindung der Künstler in das übergreifende soziale Leben. Das Manifest des Bauhauses von 1919 zeigt auch einen Holzschnitt von Feininger: Über der Turmspitze einer Kathedrale kreuzen sich die Strahlen dreier Sterne und deuten die neue Verflechtung von Architektur, Plastik und Malerei an. Vom Handwerk her, aus der Werkstatt heraus sollen dem Manifest gemäß alle Künste den neuen Bau der Zukunft schaffen. Muß es nicht überraschen, daß Gropius schon nach wenigen Jahren die Einheit von Kunst und Technik als Ziel seiner Bestrebungen angab? Im Rückblick wird deutlich, daß die wirksamen emotionalen Appelle an das übermächtige Handwerk auch taktische Schachzüge waren. Gropius hatte schon 1911 mit A. Meyer durch den Bau der Fagus-Werke das Signal eines neuen Bauens gesetzt: Eine Glasfassade wird über eine technische Konstruktion gehängt. Als erste »Meister« berief Gropius die Maler Itten und Feininger, dazu den Bildhauer Gerhard Marcks; ferner kam bald der Maler Georg Muche. Diese Meister beriefen dann Klee, Schlemmer, auch Lothar Schreyer, der die Bühnenabteilung aufbauen sollte, und 1922 Kandinsky. Itten übernahm den wichtigen »Vorkurs«. Bewegungs- und Atemübungen sollten dort den Einzelnen zur Selbstfindung führen. Irgendwelche gefundenen Materialien sollten »entdeckt« und auch gezeichnet werden. Bilder alter Meister - etwa der Isenheimer Altar Grünewalds - wurden analysiert und nachgezeichnet. Intuition und Methode sollten sich durchdringen. Auf den Vorkurs folgte die Ausbildung in den verschiedenen Abteilungen, wo zum Werkmeister der Formmeister trat. Mit einem Teil der hundertfünfzig Schüler trug Itten eine Art von Mönchskutte. Die Reli-

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giosität folgte bis auf gefährliche Eßgewohnheiten hin der Mazdaznan-Sekte. Als Gropius dem Bauhaus Aufträge sicherte und es so mit der Wirtschaft verband, kündigte Itten und ging 1923. Verlangte die Einheit von Kunst und Technik nichts anderes als Selbstfindung des Einzelnen? Mit der Industrie nach vorgefertigten Mustern zu produzieren war leichter, als mit dem alten Handwerk zur Zusammenarbeit zu kommen. So konnte die Herausforderung, die von der Weimarer Tätigkeit van Doesburgs ausging, aufgenommen werden. Wenn MoholyNagy und auch Albers, der im Bauhaus selbst zum Meister aufstieg, den Vorkurs von Itten übernahmen, war der Umschlag zu neuen Tendenzen perfekt. Als Klee seine Tätigkeit 1921 aufnahm, analysierte er nicht alte Meister, sondern eigene Bilder, so das Aquarell Die Waldbeere22 vom Winter 1921/22. Dann suchte er durch seine Vorträge die Formung eines Tafelbildes oder Staffeleibildes von den Formelementen wie von einem ABC her zu klären. Er legte seinen Ansatz 1925 im Pädagogischen Skizzenbuch dar; postum kam vor allem der Jenaer Vortrag Über die moderne Kunst zur Wirkung. In diesem Vortrag gliederte Klee die Möglichkeiten elementarer Formung nach dem Maß für Linie und Linienspiel, dem Gewicht der Hell-Dunkel-Tönung, der Qualität der Farben. Die elementaren Formungen können zu Konstruktionen zusammentreten; kommen die horizontale Lagerung und das vertikale Stehen, anatomische Schnittflächen oder gar Kosmisches hinzu, dann entstehen Kompositionen. Schon die einfachen Konstruktionen können etwa an eine Pflanze oder einen Stern erinnern; die wirkliche Welt gibt aber nur Weniges aus den möglichen Formungen wieder Form-Enden dessen, was als Genesis möglich ist. Auch dieses Sichtbare wird in der Kunst nicht bloß abgebildet. Klee gebraucht den Vergleich mit dem Baum: Dieser holt mit dem Wurzelwerk die Säfte aus der Erde und vermittelt sie über den Stamm seiner Krone. Der Künstler gleicht dem vermittelnden Stamm; wenn er das alltägliche Leben in die Kunst transformiert, dann gleicht die Kunst so wenig der Wirklichkeit wie die Krone des Baums dem Wurzelwerk. Da der Künstler es mit der Genesis überhaupt zu tun hat, kann er auch für die Welt der Menschen neue Formen suchen. Klee schließt mit der beschwörenden Einsicht: »uns trägt kein Volk«. Am staatlichen Bauhaus in Weimar aber habe man begonnen, ein Volk zu suchen, mit einer neuen Gemeinschaft anzufangen. Als das Staatliche Bauhaus sich in Weimar auflösen mußte, konnte es in Dessau als städtische Einrichtung neu beginnen: Dessau war an Wohnungsbau und Stadtentwicklung interessiert. Gropius konnte im Gebäude des Bauhauses ein 22 Vgl. Magdalena Droste (s. Anm. 6). S. 62. - Zum folgenden vgl. den Jenaer Vortrag in Klee: Das bildnerische Denken (s. Anm. 21). S. 81 ff. - Auch Oskar Schlemmer verwies 1915 auf »Kinderzeichnungen« und auf das »Primitive«; er stellte 1916 Cezanne zu van Gogh und sagte von Klee: »So zeichnet ein Buddha.« Zu den Parallelen vgl. Oskar Schlemmer: Briefe und Tagebücher. München 1958. S. 43,48, 51 u.ö.

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architektonisches Exempel schaffen; die Werkstätten, die Kantine, die Festräume und das Studentenhaus bildeten eine funktional begründete vielgliedrige Einheit. Klee bezog mit Kandinsky eines der Doppelhäuser, die für die Professoren errichtet wurden, welche sich nicht länger »Meister« nannten. So setzte sich das durch, was man den Bauhausstil genannt hat. Er umfaßt funktionsgerechte Holzstühle und Stahlrohrmöbel, neue Lampenformen oder die einfarbige Bauhaustapete, auf der eine dunklere Tönung ein abstraktes Muster zeigt. Gropius wollte schließlich nicht länger neunzig Prozent seiner Arbeitszeit dafür verwenden, Widerstände und Schwierigkeiten auszuräumen; er zog sich auf seine Architektentätigkeit zurück. Der Schweizer Hannes Meyer übernahm die Leitung. In marxistischer Ausrichtung wollte er mit Standardmodellen den Bedarf des Volkes nach Bedarfsermittlungen decken. Eine steigende Politisierung des Bauhauses traf auf die Opposition von Kandinsky und Albers; auch die städtischen Instanzen folgten der Forderung von Gropius nach einem unpolitischen Bauhaus. Hannes Meyer wurde entlassen und ging mit einer roten Bauhaus-Brigade nach Moskau. Paul Klee hat persönlich immer ein freundschaftliches Verhältnis zu Hannes Meyer gewahrt. (Es gab eine familiäre Nähe; Felix Klee hat später nach dem Tode seiner ersten Frau seine Jugendfreundin, die Tochter von Hannes Meyer, geheiratet.) Doch in der Sache mußte Klee widersprechen. Im Aufsatz Exakte Versuche im Bereiche der Kunst von 1928/29 bekannte er sich in der Zeitschrift Bauhaus sowie in Prospekten zu dem Recht des »Genies« und seiner »Begnadung«. Die exakte Forschung könne und müsse immer weitergetrieben werden, doch komme sie letztlich ohne die Intuition und den Bezug zum Geheimnis nicht aus. War nicht längst der große Versuch gescheitert, alle Künste in einem Gesamtkunstwerk zu vereinigen? Klee war in Weimar auch Leiter der Buchbinderei und der Glasmalerei. In Dessau konnte er mit Gunta Stölzl die Weberei leiten und prägen. (In diese Weberei suchte man mehr und mehr die Frauen abzudrängen.) Doch für die Wand- und Glasmalerei ist Klee kaum tätig geworden. Ise Gropius konnte sich am 3.2.1927 in ihr Tagebuch notieren: »die zeit der maier am bauhaus scheint wirklich vorbei zu sein, sie sind dem eigentlichen kern der jetzigen arbeit entfremdet und wirken fast hemmend statt fördernd.« 23 Für Klees eigene Entwicklung als Maler sagt diese Feststellung nichts. Wohl zeigt sie, daß die Maler in die neuen Tendenzen nicht mehr wirklich integriert waren. Wenn das Bauhaus durch seinen Namen auch an die alten Kathedralen erinnerte, dann mußte es auf seine Weise in sich einholen, was einmal in diesen Kathedralen die lebendige Liturgie gewesen war. Konnte eine Bühne wenigstens dem Bauhaus selbst eine festtägliche Mitte geben? In jedem Fall gehörte eine neue Bühne zum Programm. Das Bühnenwerk sollte von seinen Elementen her 23 Vgl. Magdalena Droste. S. 161

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rekonstruiert und so wieder zum Spiegel des Lebens werden; der Bühnenraum sollte sich dabei zum kosmischen Raum hin öffnen. Doch war Lothar Schreyer mit diesen Plänen schon 1923 gescheitert. Dagegen wurde das Triadische lett von Schlemmer (1922 in Stuttgart und dann im Bauhaus aufgeführt) zum bekanntesten Muster neuer Bühnenstücke und Tänze. Der Mensch wurde dabei zur technisch drapierten Figurine; so konnte die Freude an technischen Effekten umschlagen in den Protest gegen die Mechanisierung des Lebens. Kandinsky hat des öfteren bezeugt, daß er die Töne der Musik als Farben auffassen konnte. Umgekehrt waren die Farben für ihn Klänge; die freigesetzten Farbklänge konnten auch Dissonanzen sein, die den alten Ordnungszusammenhang verloren hatten und so eben keine »Dissonanzen« mehr waren. Schon im Blauen Reiter war Kandinsky ebenso wie Schönberg mit einer »Bühnenkomposition« aufgetreten. Er realisierte 1928 mit Mussorgskis Bilder einer lung die gesuchte »Synthese« von Farbe, Klang und Bewegung. Doch machte nunmehr das politisierende Theater Konkurrenz; aus wirtschaftlichen Gründen wurde die Bühne dann überhaupt geschlossen.24 Auch in einem anderen Bereich, beim Einbezug der Bildhauerei, scheiterte das Bauhaus. Es mochte mit seinem Namen an die mittelalterlichen Städte erinnern und damit an die Hoffnung, die Bürger der neuen Städte und Stadtteile würden die Entscheidung über ihre Angelegenheiten wieder in die eigenen Hände nehmen. Dann brauchte man wieder Plätze und Hallen, auf denen und in denen man sich versammeln konnte. Die Werke der Bildhauer konnten für diese Plätze Orientierung geben. Gerhard Marcks, als Bildhauer berufen, verließ aber schon im März 1925 wieder das Bauhaus. Statt einer neuen Plastik entwickelte sich dort eher das Kinderspielzeug als ein großer Verkaufserfolg. Die Entfaltung der neuen Medien und ihre Wirkung auf die Massen waren schon 1924 in Bildern reflektiert worden, die man Gropius zum einundvierzigsten Geburtstag widmete. Die leitende Fotographie, der Vossischen Zeitung entnommen, zeigte einen Lautsprecher, der auf einen Platz mit einer versammelten Masse herabdröhnt. 25 Aufmarschplätze als Strukturierung von Städten waren aber nicht das Gesuchte; auf längere Sicht wirkten auch die neuen Medien und Kommunikationsmöglichkeiten nicht in dieser Weise grober Massenbeeinflus-

24 Vgl. Magdalena Droste. S. 104,186. Schönberg hatte schon 1911 in seiner lehre seine Absage an die bloße Tradition formuliert in dem Satz: »Ich glaube nicht an den Goldenen Schnitt«; er hatte bis hinab zu den Details die Zustimmung Kandinskys gefunden. Vgl. Der blaue Reiter. Dokumente einer geistigen Bewegung. Hrsg. von Andreas Hüneke. Leipzig 1989 und 31991. S. 379. Zum einzelnen vgl. Arnold Schönberg - Wassily Kandinsky: Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung. Hrsg. von Jelena Hahl-Koch. Salzburg/Wien 1980. 25 Vgl. Magdalena Droste. S. 114 ff.

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sung. Weisen, wie eine neue Plastik einem demokratischen Leben hilfreich sein könne, kamen im Bauhaus nicht in Sicht. Nicht von ungefähr erlangte schon im Aufbruch zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Bildhauerei nie die Bedeutung der Malerei eines Runge, Friedrich, Goya oder Turner. Nach den alten romantischen Vorstellungen gehörten aber Musik und Malerei zusammen. Doch hat Paul Klee sich diese Zusammengehörigkeit weniger durch die neuen Experimente vergegenwärtigt als durch den Besuch im altüberlieferten Konzert und in der Oper. Klee und Kandinsky bekamen 1927 in Dessau freie Malklassen. Die Ausrichtung der Arbeit durch Hannes Meyer mußte das freigesetzte künstlerische Element im Malen freilich zum Luxus herabsetzen. Der Journalist Ernst Källai, der die Linie Meyers vertrat, karrikierte Klee 1929 in einer Zeichnung als den abgehobenen Buddha, der über dem Bauhaus schwebte, zu dem kniende Schülerinnen andächtig beteten. Als Kandinsky und Klee mit ihren Frauen in diesem Jahr Urlaub machten, zeigten sie sich auf einem bekannten Foto am Strand der Biskaya ironisch in den Posen von Goethe und Schiller auf dem bekannten Denkmal zu Weimar. Kandinsky ist Goethe, in der Kopfhaltung aber Schiller; Klee steht an Schillers Platz, ist aber in seiner Statur und mit dem Mantelkragen eher Goethe. Konnte die Malerei jene Rolle in der Bildung der Deutschen übernehmen, die Goethe und Schiller einmal durch die Dichtung zugefallen war? Im Malen experimentierte Klee z. B. mit der Präparierung des Untergrundes seiner Bilder. Die Vereinfachung des Bildaufbaus durch mathematisch faßbare Strukturen führte bis zur Geometrisierung und verlangte den Einsatz entsprechender technischer Hilfsmittel. Die Farbfelder verloren die konkreten Erinnerungen z. B. an tunesische Kuppeln oder mittelmeerische Pflanzen. Ein Bild wie Grenzen des Verstandes zeigte 1927/28 über lagernden und aufstrebenden Liniengefügen des Irdischen die freischwebende Kugel, das Symbol des Kosmischen, das in sich ruht. In Klees Malen folgte dann ein Schub der Geometrisierung, doch erwies er sich als eine Kumulation, in der diese Tendenz sich erschöpfte. Klee hatte längst begonnen, sich aus dem Zusammenhang des Bauhauses zu lösen und neue Wege für die Wrkung seines Werkes zu suchen. Klee, Kandinsky, Feininger und Jawlensky schlössen sich seit 1924 zur Gruppe der Blauen Vier zusammen, damit die Galeristin Galka Scheyer ihre Werke in Amerika besser vertreiben konnte. Für einen zusätzlichen Abstand vom Bauhaus sorgten die vielen Reisen. So konnte Klee schon am 1. November 1924 seiner Frau von den kritischen Vorgängen im Bauhaus schreiben: »Ich bin noch so voll von Sizilien, daß es mich innerlich wenig berührt.« Besonders bedeutsam wurde die Reise nach Ägypten zum Jahreswechsel 1928/29. Zur Wüste und zur islamischen Welt Tunesiens und überhaupt zu den Mittelmeerlandschaften trat nun eine der ältesten Kulturen. Ein Bild wie Haupt- und Nebenwege von 1929 bleibt bei aller Ab-

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straktheit bezogen auf die Erfahrung von Strom und Fruchtland; das Bild Nekropolis von 1930 nimmt den Totenkult auf. Klee nahm zum 1. April 1931 einen Ruf an die Düsseldorfer Kunstakademie an; er wollte von den Streitigkeiten in Dessau und von den belastend umfangreichen Lehrverpflichtungen loskommen. Zweifellos hatte die Einbindung im Bauhaus geholfen, daß er sich mit seiner Weise des Malens z. B. gegen die neuen realistischen Tendenzen behaupten konnte; im Malen und in der Lehre wurden bestimmte Akzente vorgegeben. Walter Dexel, der konstruktivistische Maler und langjährige Leiter des Jenaer Kunstvereins, hat 1964 im Rückblick darauf hingewiesen, daß der sog. Bauhaus-Stil ein »Mythos« sei: Die leitenden Ideen seien nicht im Bauhaus gewonnen worden! So habe Mies van der Rohe die moderne Baukunst entscheidend durch die Stuttgarter Weißenhof-Siedlung gefördert, für die er Architekten wie Le Corbusier, Scharoun und Oud herangezogen habe; die neuen Formen des Porzellans seien ohne das Bauhaus gefunden worden. 26 Doch bleibt es das Verdienst des Bauhauses, in ständigen eigenen Wandlungen die Tendenzen der Zeit aufgenommen zu haben. Wenn Klee 1925 zur Teilnahme an der ersten Pariser Ausstellung Peinture surrealiste aufgefordert wurde, dann zeigte sich, daß man seine Bilder nie allein im Lichte der BauhausIdeen sah. Andererseits ist sein Malen und ist vor allem seine Lehre ohne das Bauhaus nicht zu denken. Doch waren die Tage des Bauhauses auch ohne die verhängnisvollen Einseitigkeiten und politischen Festlegungen von Hannes Meyer gezählt. Mies van der Rohe übernahm als einer der bedeutendsten Architekten der Zeit 1930 das Bauhaus; damit war der Weg zur Architekturschule vorgezeichnet. Die Nationalsozialisten erzwangen schon 1932 die Auflösung der Schule in Dessau. Die Neugründung in Berlin brachte nur ein kurzes Moratorium: Von Dessau aus wurde im April 1933 die Schließung dieser angeblichen »Keimzelle des Bolschewismus« durchgesetzt. Inzwischen hatte Klee als Düsseldorfer Akademieprofessor weitere neue Wege im Malen versucht. Sein »Divisionismus« übersäte eine farbig parzellierte Leinwand mit Farbtupfen. Die derbere Jute oder gar Rupfen gaben belastbarere Malgründe ab. Als Hitler zur Macht kam, hoffte Klee, von Papen werde ihn in ein demokratisches Kabinett einbinden. Ironisch berichtete er seiner Frau am 30. Januar 1933 von einem »Zeichenrappel«. Dieser sei (gemessen an den damaligen Fackelzügen!) so privat, daß er lange brauche, bis er Kultur- und Kunstgeschichte werde »und bis dann vielleicht niemand mehr, ohne im Lexikon nachzuschlagen, sagen kann, wer eigentlich der große Hitler war«. In aller Bescheidenheit und mit distanzierter Ironie erhebt Klee hier den Anspruch, daß die Kunst die Geschichte tiefer umzugestalten vermöge als die Politik des Tages. Als er über seine Ab26 Vgl. Bauhaus und Bauhäusler. Erinnerungen und Bekenntnisse. Hrsg. von Eckhard Neumann. Köln 1985 und 41994. S. 167 f.

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stammung Auskunft geben mußte, war Klee sich darüber im klaren, welcher Abgrund ihn vom nationalsozialistischen Biologismus trennte; er schrieb am 6. April seiner Frau: »Denn: wenn es auch wahr wäre, daß ich Jude bin und aus Galizien stammte, so würde dadurch an dem Wert meiner Person und meiner Leistung nicht ein Jota geändert.« 27 Ende Dezember emigrierte er, aus seinem Amt entlassen, nach Bern - zuerst ins Elternhaus, dann in eine bescheidene eigene Wohnung. Es war deutlich geworden, daß die neuen Machthaber weder zu Kompromissen bereit waren noch sich bald wieder vertreiben ließen. Klee brauchte Zeit, um die äußere und innere Ruhe zu neuer Arbeit zu gewinnen. Doch 1935 meldete sich eine Krankheit, die ihn für das Jahr 1936 arbeitsunfähig machte. Dann entfaltete diese Sklerodermie sich in Schüben und auch mit Aufschüben, die Hoffnung auf Gesundung weckten. Als Klees Werke 1937 auf der Ausstellung der »Entarteten Kunst« im nationalsozialistischen Deutschland an den Pranger gestellt und in den Museen beschlagnahmt wurden, schuf Klee Bild auf Bild. So baute sich in den verbleibenden dreieinhalb Lebensjahren das reiche Spätwerk auf, das ein Viertel des ganzen Werkes darstellt. Aus Frankreich kam Picasso anläßlich eines Besuches in der Schweiz 1937 zu Klee. Jahre vorher hatte Klee nach dem Besuch einer Picasso-Ausstellung in Zürich am 7.10.32 seiner Frau geschrieben: »Die Formate sind meist größer als man denkt... Alles in Allem: der Maler von heute.« Ein Jahr später besuchte Klee bei der Rückreise von den Ferien in Südfrankreich Picasso in seinem Atelier in Paris. Im November 1937 kam Picasso mit zwei Stunden Verspätung in die abseitige Wohnung mit dem kleinen Atelier, und Klee hatte keine Stunde mehr zu verlieren. So berichtet sein Sohn Felix von dem Besuch: »Mein Vater mußte zwei Stunden lang warten, und das war ein Schlußstrich zwischen den beiden.« 28 Picassos Vorbild ermutigte Klee trotzdem zur radikalen Deformation des Wirklichen, auch zur Reduktion auf die Geraden, Hakungen und Krümmungen der nur noch andeutenden Pinselstriche. Doch die vitalen Monster des Spaniers und Klees hinschwindende späte Gestalten oder gar seine Engel gehören in verschiedene Welten. 27 Die Zeitung Rote Erde hatte am 2.2.33 vom einstigen Bauhauslehrer Klee geschrieben: »Er erzählt jedem, er habe arabisches Vollblut in sich, ist aber typischer galizischer Jude.« Klee hatte gegenüber Hausenstein 1919 betont, die Abstammung seiner Mutter sei teils schweizerisch, teils unbekannt; sie könne »über Südfrankreich orientalisch sein«. Hausenstein nahm Klees orientalische oder arabische Erscheinung oder gar Rasse als Anlaß, um in der Tunisreise eine Rückkehr zum eigenen Ursprung zu sehen. Vgl. Paul Klee: Die Zeit der Reife. Werke aus der Sammlung der Familie Klee (Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim 1996). Hrsg. von Manfred Fath. München/New York 1996. S. 9; die Tunisreise (s. Anm. 20). S. 85 28 Vgl. das Interview mit Felix Klee in Sabine Rewald: Paul Klee. Die Sammlung Berggruen (Ausstellung der Kunsthalle Tübingen). Stuttgart 1989. S. 47 f.

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Klee hatte einst im Tagebuch seinen Umgang mit der Kunst offengelegt und schließlich in seinen Vorlesungen so etwas wie ein ABC des Malens zu geben versucht. N u n verstummte er; seine Frau mußte selbst die nötigsten Briefe schreiben. Die Sprache, die ihm geblieben war, waren seine Bilder. Klee wurde zum sechzigsten Geburtstag fotografiert; dabei nahm er das Bild Bergbahn in den Arm oder auf den Schoß. Klees Sohn hatte als Fünfjähriger eine Eisenbahn gemalt, die zum Meer fährt. Klees Bild gibt auf dieses aufbewahrte Kinderbild so etwas wie eine Antwort: Seine Lokomotive schiebt die Wagen einen Berg hoch. Die Lokomotive ähnelt dem AD, als ob Dürer das Bild signiert hätte. War der Anklang gewollt? Jedenfalls legt Klee seine Finger zwischen Lokomotive und Wagen und bringt sich so in das Schieben der Lokomotive ein. Ein Pfeil vor dem ersten Wagen zeigt die Richtung an; ein zweiter Pfeil biegt so stark aufwärts, als ob die Bergbahn überhaupt von der Erde abheben sollte. Nicht zur Lust und nicht zur Erholung am Meer geht diese Fahrt, sondern Ad Parnassum (wie Klee ein Bild von 1932 genannt hatte, das noch eine aufgehende Sonne zeigte). Am 29.12.39 schrieb Klee seinem Sohn und seiner Schwiegertochter: »Aber der Lust steht keine Zeit zur Verfügung.« Von den überraschend vielen neuen Bildern sagte Klee: »Die Production nimmt ein gesteigertes Ausmaß in sehr gesteigertem Tempo an, und ich komme diesen Kindern nicht mehr ganz nach. Sie entspringen.« Wenige Tage später, am 2.1.40, berichtete Klee gegenüber Will Grohmann von der überreichen Produktion: »Natürlich komme ich nicht von ungefähr ins tragische Gleis, viele meiner Blätter weisen darauf hin und sagen: es ist an der Zeit. Ob ich je eine Pallas hervorbringe?« Klee hatte drei Übersetzungen der Orestie des Aischylos verglichen. Dort in den Eumeniden sagt Apollon, daß man Vater ohne Mutter sein könne; so sei Zeus der Vater jener Pallas, die aus seinem Kopf entsprang. Die Urtragik besteht nach Klees Auffassung darin, daß der Geist durch die Endlichkeit und Widersprüche des Lebens zu Fall kommt oder van Gogh verbrennt durch den Stern, der in seinem Werk aufgehen will. Klee sieht sich nicht mehr als den Stamm, der die Kräfte des Irdisch-Wirklichen in die Krone der Kunst aufsteigen läßt. Das irregehende Deutschland, der ausbrechende Krieg und die Welt überhaupt sind ihm ferngerückt. Klee sieht sich als die Stätte, wo sich über ein tragisches Schicksal seine Pallas, das vollkommene neue Kunstwerk, durchsetzt - für eine noch verborgene und ferne Zeit. 29 Klee sorgte dafür, daß er für die ersten Monate des Jahres 1940 schon 366 Titel in sein Werkverzeichnis eintragen konnte - entsprechend der Zahl der Tage dieses Schaltjahrs! Fern der Heimat, in einer Klinik im Tessin, kam der Tod

29 Die entsprechenden Belege, aber eine andere Deutung gibt Otto K. Werckmeister in Paul Klee: Das Schaffen im Todesjahr (s. Anm. 9). S. 46 ff.

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trotz allem unerwartet plötzlich. Klee hatte in seinem Leben fast zehntausend Bilder geschaffen, dazu Aufzeichnungen von mehreren Tausend Seiten. Es dauerte seine Zeit, bis dieser Nachlaß aufgearbeitet werden konnte. Diese Aufarbeitung ist noch ganz fragmentarisch; so sollen wenigstens einige Positionen genannt werden, die seit Klees Tod in der Geschichte seiner Wirkung hervortraten und diese prägten.

2. Positionen der Wirkungsgeschichte Bei der Trauerfeier für Paul Klee am 4. Juli 1940 in der Kapelle des Burgerspitals in Bern sprach neben dem Freund Hans Bloesch und dem Münsterpfarrer Prof. Schädelin Georg Schmidt. Schmidt hatte in Basel über die Geschichtsphilosophie Bachofens promoviert; er folgte marxistischen Tendenzen. Er übernahm 1939 die Direktion des Baseler Kunstmuseums; indem er sich für die Rettung der in Deutschland verfolgten Maler einsetzte, konnte er das Museum zu einem ausgezeichneten Ort der Begegnung mit moderner Malerei machen. In seiner Rede nannte Georg Schmidt Picasso die »gewaltigste Potenz«, Mondrian die »fundamentalste bauende Kraft«, Klee den »wirklichkeitserfülltesten unter den wenigen Künstlern, die als die wesentlichsten unserer Zeit zu gelten haben«. Die »leiseste Stimme des Malers Paul Klee« werde sich »als die eindringlichste Stimme in der Kunst dieser Zeit erweisen«.30 Klee hatte in Bern die Bürgerrechte und damit die schweizerische Staatsangehörigkeit erstrebt. Sicherlich hätte er Erfolg gehabt, wenn er nur etwas länger gelebt hätte. Es hatte aber Gegenstimmen gegeben, die an die nationalsozialistischen Attacken erinnerten und als Absicht den Schutz der einheimischen Kunst angaben. Als das Kunsthaus Zürich wenige Wochen nach Klees sechzigstem Geburtstag sein Spätwerk erstmals umfassend darstellte, wurden die Bilder in der Neuen Zürcher Zeitung als das »vielen Besuchern zu hoch gelegene Schizophrenelisgärtli Paul Klees« bezeichnet. In den Haupträumen könne man sich davon bei acht Aargauischen Künstlern erholen. Doch hatte Klee seine Freunde, und 1946 konnte beim Tode von Lily Klee eine Paul-Klee-Gesellschaft den Nachlaß übernehmen und 1947 die Paul-Klee-Stiftung gründen. So wurde der Nachlaß eines Deutschen vor der Beschlagnahmung deutscher Vermögenswerte gemäß einem Abkommen der Alliierten gerettet. Als Felix Klee, der als Regisseur in Deutschland geblieben und schließlich noch Soldat geworden war, aus der

30 Vgl. Hans Bloesch, Georg Schmidt: Paul Klee 1879-1940. Reden zu seinem Todestag. Bern 1940. - Zum folgenden vgl. Paul Klee: Das Schaffen im Todesjahr (s. Anm. 29). S. 123 ff und Die Zeit der Reife (s. Anm. 27). S. 175 ff.

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russischen Gefangenschaft zurückkam und 1948 nach Bern übersiedeln durfte, verlangte er sein Erbe. Es kam nach einem längeren Prozeß zu einer Teilung. Die Stadt Bern gewährte Felix Klee 1960 auch das Bürgerrecht. Felix Klee gab die Tagebücher, die Gedichte seines Vaters und schließlich auch die Familienbriefe heraus. Nach seiner Pensionierung als Hörspielregisseur und Moderator des Schweizerischen Rundfunks konnte er sich noch stärker und auch ausschließlich der Vorstellung des väterlichen Nachlasses widmen und die ihm gehörenden Bilder in Ausstellungen zeigen. Die Auseinandersetzung um moderne Kunst wurde in den Nachkriegsjahren auch in Deutschland vor allem vom Werk Picassos her geführt. Eine Picasso-Retrospektive wurde vom Herbst 1955 bis Frühjahr 1956 in München, Köln und Hamburg gezeigt. Maurice Jardot, der für die vorausgehende Pariser Ausstellung mitverantwortlich gewesen war, rechtfertigte Picasso als Vertreter einer neuen, der »modernen« Kunst. Im Mittelalter seien die großen Kunstwerke zusammen mit bloßen Devotionalien nichts als »Gebrauchsgegenstände« der »Andacht« gewesen. In den folgenden Jahrhunderten hätte es eine Hofkunst wie eine Volkskunst gegeben; das 19. Jahrhundert habe durch die Imitation der vergangenen Stile verwirrt, aber für die Kunst über das Museum und die Ausstellungen ein eigenes Publikum geschaffen. So sei die Kunst nicht länger mehr Mittel für anderes geblieben. Alfred Hentzen dagegen legte im Vorwort zum Ausstellungskatalog den Akzent darauf, daß Picasso über alles Ästhetische hinaus »erschüttern« wolle - wenn er z. B. die Schrecken der Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Fliegerbomben zeige. Hentzen sagte richtig voraus, daß diese Retrospektive für die deutsche Kunstwelt »ein einschneidendes Ereignis« werde. An Picasso schieden sich die Geister: »sein Werk gehört so sehr in unsere Vorstellung von der Kunst des 20. Jahrhunderts, daß wir sie ohne ihn gar nicht mehr denken können - auch die Gegner nicht«. 31 Klee deformiert nicht nur wie Picasso das Wirkliche; er kommt auch wie Mondrian oder mehr noch wie sein älterer Weggefährte Kandinsky zur abstrakten Malerei. Dabei sucht er mit dem Blauen Reiter romantische Tendenzen zurückzuholen, mit Macke und Moilliet die andere Welt Tunesiens zu erobern; seine späten Werke zeigen durchaus existenziell die Gestalt des Menschen, wenn auch nur in Strichmännchen. Die Jenaer Rede weckte bei vielen nach ihrer Drucklegung 1945 ein Verständnis für moderne Kunst. So konnte man Klee bevorzugen, wenn man die Geschichte der Deutschen korrigieren und von den Verfemten her die besseren europäischen Tendenzen auch in der Zeit der Diktatur aufzeigen wollte. Die Frage, welchen politischen Kontext denn Klees Kunst selber habe, trat nur zu oft ganz in den Hintergrund. Ge-

31 Picasso 1900-1955 (Ausstellung München, Köln, Hamburg 1955-56). S. 15 ff, 10 ff.

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genüber der Vergewaltigung der Kunst durch die Nationalsozialisten (die sich in der kommunistischen Welt fortsetzte) ging es darum, die Kunst wieder als Kunst und in ihrer Freiheit durchzusetzen. Auch in der deutschen Germanistik setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine immanente Literaturbetrachtung durch. Darf man sie auffassen als Flucht vor den Katastrophen der Geschichte? Roman Ingardens Buch Das literarische Kunstwerk wurde zu einer Gründungsurkunde dieser Literaturbetrachtung; dieses Buch war aber erstmals 1931 in einer politisch bewegten Zeit erschienen. Der immanenten Literaturbetrachtung gegenüber muß man freilich fragen, ob z. B. die Gattungen der Literatur aus einer Kunst oder einer Dichtung an sich gewonnen werden können. Gehören sie nicht (etwa mit Dantes »göttlicher Komödie«) in eine bestimmte Aufgabe, die sich geschichtlich stellte?32 Architektur muß auf das Wohnen des Menschen, nicht aber mit Ingarden und Schopenhauer auf ein Sehen von Formenspielen bezogen werden. Zeigt nicht Klees Werk, daß auch das Bild der Maler unserer Zeit seine Prägung von seinem geschichtlichen Ort her gewinnt? Will Grohmann war als Kunstkritiker Klee seit den zwanziger Jahren verbunden; er hat die Zeit der Verfolgung mit Klee zusammen durchstehen müssen. Diese persönliche Nähe hebt sein Buch Paul Klee von 1954 bleibend aus der Forschungsliteratur heraus. Das Buch Der Maler Paul Klee stellt repräsentative Zeichnungen und Gemälde Klees vor. Auch es sieht in dem Maler zugleich den Dichter und Musiker, gar einen »Philosophen«. Klee habe immer, auch nach seinem Tode, »über dem Streit der Meinungen gestanden«. »Man nahm nicht Stellung zu ihm wie zu Kandinsky oder zu Picasso; man bewunderte und benützte jede Gelegenheit, seine Bilder auszustellen, in Europa, in Amerika, in der ganzen Welt.« Grohmann beklagt auch ein Versäumnis: daß man aus Klees Vorlesungen und Vorträgen nicht »ein ganzes Unterrichtsgebäude für die Kunstschulen« entwickelt habe. 33 Werner Haftmann publizierte schon 1950 sein Buch Paul Klee. Die repräsentative Darstellung Malerei im 20. Jahrhundert erschien 1954 und wurde später erweitert. Sie gab Klee einen zentralen Platz: Er habe Cezannes Forderung fortgeführt, die Kunst solle parallel zur Natur »realisieren«; auch und gerade abstrakte Mittel könnten Natur erschließen. Diese Sicht blieb auch leitend, als Haftmann 1955 die erste Documenta ausrichtete. Doch war die unpolitische Sicht durchaus politisch, nämlich eine Verteidigung der Kunst gegen politische und ideologische Bevormundung. Carola Giedion-Welcker sah in ihren Arbeiten Klee eher als den Einzelnen, der nicht für Tendenzen beschlagnahmt werden soll. Den polemi32 Vgl. Otto Pöggeler: Dichtungstheorie und Toposforschung. In: Toposforschung. Hrsg. von Max L. Baeumer. Darmstadt 1973. S. 22 ff, vor allem 97. - Zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Die Frage nach der Kunst. Freiburg/München 1984. S. 392 ff. 33 Vgl. Will Grohmann: Der Maler Paul Klee. Köln 1966 und 1990. S. 7 f, 43 f.

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sehen Schlußpunkt zu dieser Sicht setzte Arnold Gehlen; in seinem Buch ZeitBilder von 1960 schrieb er Klee eine zentrale, vielfach wirksame Rolle für die subjektivistische und folgenlose Kunst unserer Spätzeit zu. Die Frage konnte nicht ausbleiben, ob denn nicht die Philosophie unserer Zeit ein Verständnis der neuen Kunst und damit auch Klees vorbereitet habe. Der existenzielle Ernst, der sich mit Klees Weg durch die Zeit mehr und mehr verbunden hatte, konnte sein Genügen nicht an dem Hinweis finden, daß Klee sich einmal Ernst Machs Analysen angeeignet hatte. Er bezog Klee vielmehr auf den Philosophen, der mit Sein und Zeit die Einsamkeit des modernen Menschen formuliert, dann aber zum Werk der Kunst gefunden und nach seiner politischen Verirrung eine Kehre von unserer Geschichte gefordert hatte. Will Grohmann zog Heideggers Vorträge über den Ursprung des Kunstwerkes von 1935/36 heran, um Klees Kunst verständlich zu machen. Auch Werner Haftmann verwies in seinem Klee-Buch auf Heidegger.34 Haftmanns Darstellung der Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts erläutert das Auftreten der Zirkusleute im frühen Pariser Kubismus durch Rilkes fünfte Duineser Elegie. Von da aus kommt er zur »Unfaßlichkeit Gottes« bei Karl Barth und zu Heideggers »Angst vor dem Nichts«. Klee bleibe nahe, wenn nach 1945 das neue Bild vom Künstler durch das Miteinander von Intuition und kontrolliertem formalen Mechanismus bestimmt und bei gegensätzlichen Köpfen wie Benn, Schönberg und Heidegger wiedergefunden werde. Vom späten Klee heißt es, daß er die Natur und den Menschen als einen »ganzheitlichen Ring« fasse: »das Ich des Menschen und das Du des Dinges traten durch die gemeinsame Verwurzelung des Irdischen und die kosmische Gemeinsamkeit in eine Einheit im Geviert«. Heideggers Münchener Ding-Vortrag von 1950 klingt an, mag auch an die Stelle der Göttlichen das Du des Dinges getreten sein. Um so überraschender bleibt, daß nicht auch Heideggers Münchener Vortrag Die Frage nach der Technik berücksichtigt wird, der in der Kunst das Rettende in der Gefahr der auswuchernden Technik findet. Georg Schmidts Zusammenstellung von Klee mit Picasso und Mondrian von 1940 steht auch am Schluß des Katalogs der Hamburger Gedächtnisausstellung von 1990. Werner Hofmann blickt in der Einführung Begegnungen mit Klee auf vierzig Jahre des Umgangs mit Klees Kunst und Kunsttheorie zurück. Klees Rede über die moderne Kunst sei für ihn ein »Credo« gewesen, das der These Sedlmayrs vom Verlust der Mitte widersprochen habe. Gerade die Karikatur habe die Form als eine offene und Schöpfung als Genesis sehen lassen. Bei einer Wiener Ausstellung von 1956 habe er in Klee den Wegweiser gesehen; »gestützt 34 Vgl. Will Grohmann: Paul Klee. Stuttgart 1954 und 1965. S. 181 und 207; Werner Haftmann: Paul Klee. Neuauflage Frankfurt a. M. 1961. S. 99. - Zum folgenden vgl. Werner Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert. 4. Aufl. München 1965. S. 121, 429, 297.

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auf Zitate von Rilke, Hofmannsthal und Thomas von Aquino« habe er den Künstler »in den Rang eines religiösen Sinnstifters« erhoben. Der Kunst sollte eine Heilkraft zukommen; sie sollte gleichnisartig von der Schöpfung handeln und sich in diese zurückstellen. »Solche Wunschvorstellungen mußten eine Trennlinie ziehen zwischen einem Picasso, für den Formen nur >mehr oder weniger überzeugende Lügen sindDante-Barke< des Delacroix und Daumiers >Waggon III. KlasseFloß der Medusa< und Friedrichs gescheiterte Hoffnung< auf gemeinsame Bedeutungsgeschichten zurückzuführen sind«. Die Gestalttheorie hatte gezeigt, daß Formen ambivalent sein können und daß die eine Sicht in die andere umschlagen kann. Doch suchte Hofmann nicht mehr ein organisches »Ganzes«, sondern ein offenes Gefüge, die »Integration der Ambivalenz«. »Von der >modernen Kunst< erhoffte ich mir seine Verwirklichung. Den Weg sah ich von Paul Klee aufgezeigt. Als Denker hatte er die Brücke vom Ganzheitsentwurf Goethes zum freien Kräftespiel unseres Jahrhunderts geschlagen.« Der apotropäische Akt mache aus dem Bild eine Dämonenbeschwörung; der Ursprung dieser Dämonenaustreibung liege bei Goya. Zweifellos blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg Paris eine dirigierende Mitte für die moderne Kunst, vor allem durch den abstrakten Expressionismus der Maler. Bald aber konnte New York ihm diese Rolle streitig machen. Klees langjährige Wirkungsstätte, das Bauhaus, spielte eine wichtige Rolle. Erfüllten sich nicht im Pan Am Building, 1963 unter der Leitung von Gropius fertiggestellt, jene Ziele, die Gropius einmal im Band I der Bauhausbücher unter dem Titel Internationale Architektur vorgestellt hatte? Mies van der Rohe setzte in Chicago zu den Bauten Sullivans und Wrights jene Appartmenthäuser am Lake Shore Drive, deren erleuchtete Fenster abends wie ein Sternenreigen über dem Michigansee stehen. Mies van der Rohe selbst blieb gegenüber in seinem kleinen Häuschen wohnen und begnügte sich mit dem Blick auf das neue Florenz. War damit nicht angezeigt, daß einmal eine Postmoderne sich gegen die internationale Architektur erheben und zurückgreifen würde auf die Stile aller Zeiten und auf lokale Traditionen? Mies van der Rohe wiederholte in Berlin bei der neuen Nationalgalerie die Zweigeschossigkeit der alten Galerie, wählte andererseits das moderne Gewand, wie es seit den Faguswerken bekannt ist. Als das Tiergartenviertel als ein zweites Zentrum des wiedervereinigten Berlin ausgestaltet werden sollte, zeigte sich, daß das Ensemble allenfalls aus dem Protest gegen jene Tendenzen leben kann, die mit dem Adjektiv »bauhäuslerisch« wie mit einem Schimpfwort bezeichnet werden. Doch auch die Postmoderne war längst durch eine neue Einfachheit überholt worden. Moholy-Nagy hatte 1937 in Chicago ein New Bauhaus eröffnet; zwei Jahre später verwandte er den zukunftsträchtigen Begriff School of Design. Josef Albers war ebenfalls nach Amerika berufen worden; seine spätere Tätigkeit erstreckte sich auf viele Institute in der alten und der neuen Welt und erreichte 1955 auch die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Klee setzte sich unabhängig von dieser weltweit werdenden Wirkung des Bauhauses durch. Nicht nur durch

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Galka Scheyer, sondern über viele Kanäle wurde er in Amerika bekannt; die Vertreibung der modernen Kunst aus Deutschland konnte nur verstärkend wirken. Zum Beispiel kam das Bild Um den Fisch, 1937 in Dresden beschlagnahmt, 1939 nach New York in das Museum of Modern Art. Das Pädagogische Skizzenbuch wurde 1944 übersetzt. Ein Echo auf die Bilder und Gedanken Klees findet sich bei Adolph Gottlieb und Barnett Newman, bei Tobey und Rothko. Kenneth Noland sprach nicht nur für sich, als er einen Aufenthalt in Paris nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs enttäuschend fand. Die Franzosen, so meinte er, wüßten sehr viel über Picasso, über Matisse und Miro, aber nichts über Klee oder Mondrian. Klee und Mondrian seien dagegen in Amerika bekannt, und man spreche ihnen die gleiche Größe wie der sog. französischen Schule der Malerei zu. 36 Hätte die Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht aus der einseitigen Pariser Perspektive gelöst werden müssen? Robert Rosenblums Buch Der Kubismus und die Kunst des 20. Jahrhunderts erschien 1960 auf amerikanisch und deutsch; schon der Titel setzte den entscheidenden Schwerpunkt. Die ersten Sätze nannten bedeutende Augenblicke, in denen die Kunst einen neuen Stil fand: das Hervorbrechen der Hochrenaissance im Zusammentreffen von Michelangelo, Raffael und Bramante um 1510, das Zusammenfinden von Monet, Renoir und Pissaro bei der Entstehung des Impressionismus Anfang der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, den Durchbruch des Kubismus bei Picasso und Braque um 1910. Zum Leitbild des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Picassos Darstellung der Demoiselles von Avignon, dem Vergnügungs- und Bordellviertel von Barcelona. Die fünf Frauen verweisen teils zurück auf Gestalten des Hellenismus und der Renaissance, teils auf altiberische Plastik und afrikanische Negerkunst. Entscheidend neben der magischen Kraft der Augen ist das Formale: die Zerlegung der körperlichen Masse in geometrische, »kubisch« geformte Fragmente. Keine Kunsttradition sei dem Kubismus ferner als die deutsche, wie der Aufbruch der Brücke zeige. Der Blaue Reiter habe den Kubismus zu integrieren versucht, ohne Runge oder Caspar David Friedrich aufzugeben. Franz Marc stelle wie Friedrich den Menschen in seiner Kleinheit vor die »gigantischen Naturkräfte«; auf Feiningers Bildern wiederhole sich die Ohnmacht des Mönchs am Meer. Klee wird mit Chagall und Miro der Berührung der »phantastischen Kunst« mit dem Kubismus zugerechnet. Namen wie Ensor oder Nolde kommen in dieser Fragestellung natürlich nicht vor; zeigen diese Maler aber nicht, daß die deutsche Malerei eine Eigenständigkeit gegenüber dem französischen Kubismus hatte? So heißt ein weiteres Buch von Rosenblum aus dem Jahre 1975: Modern Painting and the Northern Romantic Tradition. 36 Vgl. Carolyn Lanchner: Klee in America. In: Paul Klee (Ausstellung des Museum of Modern Art 1987/88). Edited by Carolyn Lanchner. New York 1987. S. 83 ff, vor allem S. 107f.

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Die Ausstellung Paul Klee des Museums of Modern Art von 1987-88 führt Klee im programmatischen Katalogartikel von Ann Temkin von der Dada-Bewegung und vom Surrealismus her ein. Der Blaue Reiter bleibt fern. Doch liegt nach Carolyn Lanchner in der Betonung der Aktivität und Zeitlichkeit der Linie Klees »somewhat Heideggerlike View«: Das In-die-Welt-Geworfensein finde Wahrheit nur in sich selbst. Das ist eine Reduzierung von Heideggers Ansatz, die sich dem französischen Existenzialismus verdankt. 37 O. K. Werckmeister kann Klees Schaffen und Denken ideologiekritisch hinterfragen, Jürgen Glaesemer den Bezug zur romantischen Tradition herausstellen. Glaesemer betont, daß nur ein einziges Bild direkt auf die Romantik verweist; die Lithographie Hoffmanneske Szene von 1921 faßt E. Th. A. Hoffmanns Erzählungen von Offenbachs Oper und damit von der französischen Umformung her. Glaesemer kann eine Brücke zu Beuys schlagen, der den Bezug zur Romantik noch intensiver herstellt, aber den exklusiven Individualismus Klees zu überwinden sucht. - Nachdem die Malerei seit der Düsseldorfer Zero-Gruppe und der Pop Art völlig neue Wege einschlug, rückte Klee in eine ferne Vergangenheit. Wenn er zur »klassischen Moderne« gerechnet wird, dann bedeutet das einmal, daß die modernere Moderne sich von ihm abgesetzt hat. Andererseits bleibt die Frage, ob Klee nicht immer noch die klassischen oder normativen Grundlagen der Moderne angibt. Die neue Sanierung Klees wurde 1994 aufgenommen in der Münchener Ausstellung Elan vital oder Das Auge des Eros. Klee wird zusammengefaßt mit Kandinsky, Arp, Miro und Calder. Die großen Münchener Ausstellungen Grotes zum Blauen Reiter und zum Bauhaus sind eine ferne Vergangenheit. Die genannten Künstler sollen einem aktuellen Anliegen dienen, nämlich Wege weisen zur Bewahrung der Natur in der ökologischen Krise. Völlig vergessen ist die Weise, in der einst Heidegger mit Werner Heisenberg und den Brüdern Jünger in der Münchener Akademie der schönen Künste die Frage erörterte, ob das Schöne, von dem Piaton sprach, in den Künsten gesucht werden könne und ob die schönen Künste dann ein unerschöpfliches Geheimnis und damit das Rettende im Fortriß der veräußerlichten Technik zeigen könnten. 38 Die Münchener Ausstellung stellt sich unter Titel von Bergson und Klee und beansprucht so für die Kunst einen philosophischen oder ideologischen Hintergrund. Sie will damit, immer noch mit den Metaphern des Marschierens und des Kriegszuges, die verhängnisvolle Geschichte der Deutschen korrigieren; wiederum ist das Haus der Kunst der Ausstellungsort. Diesem Haus wurde einst durch das

37 Vgl. den Ausstellungskatalog (s. Anm. 36). S. 13 ff, 85, zum folgenden 80, 77 f. 38 Über Heideggers Verhältnis zu Heisenberg und Ernst Jünger vgl. Otto Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie. Freiburg/München 1994. S. 248 ff.

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unmittelbare Eingreifen Hitlers ein griechisches Gewand gegeben; 1937 beherbergte es die Gegenausstellung gegen die vertriebene und vernichtete »entartete Kunst«. Nunmehr kann nach einer technisch perfekten Renovierung die »kleine Mannschaft« um Christoph Vitali, die sich in Frankfurt »formiert« hatte, hier arbeiten. So besetzte die »klassische Moderne«, im Dritten Reich verstoßen, »im Triumphzug« dieses Haus. 39 Der maßgebliche Anstoß, dem man folgt, wird sichtbar, wenn am Schluß des Katalogs das Magazin Documents von 1929 abgedruckt wird; darin handelten Georges Bataille, Michel Leiris, Carl Einstein und andere über Klee, Miro, Arp und andere Künstler. Jetzt sollen um der ökologischen Interessen willen nicht nur konservative Revolutionäre, sondern die rechten Leute von links zum Zuge kommen. Unter Berufung auf Bergsons Rede vom Elan vital wird eine Bio-Romantik, ein Bio-Morphismus als Band für die ausgestellten Werke ausgemacht. »Angesichts dieser gemeinsamen Grundtendenzen wird der unterschiedliche stilistische Ausgangspunkt eines expressiven Kandinsky, eines konstruktiven Klee, eines dadaistischen Arp und eines surrealistischen Miro nebensächlich. Zusammen mit Calder erscheinen diese vier Künstler in einem neuen Licht.« Zum Traum vom besseren Leben tritt das Trauma jenes Faschismus, der auf seine Weise der Technisierung der Welt einen Sinn geben wollte. Kann man jedoch den ausgestellten Werken wirklich jene Impulse vorgeben, die von Bergson bis zur heutigen Rede von »Selbstorganisation« reichen? In Kandinskys Bibliothek fand sich Bergsons Einführung in die Metaphysik in der deutschen Übersetzung von 1912; ist damit schon belegt, daß auch Klee diese Schrift gelesen hat? Man fragt sich, wann das etwa gewesen sein sollte. Wolfgang Kersten läßt diese Fragen offen, findet aber in Klees früher Darstellung der Gießkanne ein »bescheidenes bildnerisches Äquivalent zu Bergsons Idee eines >elan vital< im weitesten Sinn«. Wie für Macke, so war auch für Klee die Gießkanne und ihr Bewässern von kleinen Pflanzen freilich zuerst einmal »Metapher für die kreative Pflege avantgardistischer Kunst«. Werden damit die vitalistischen Visionen nicht einer satirischen Betrachtung unterworfen und geradezu technisch verdreht - wenn auch nur kunstgenetisch? Die Ausstellung Elan vital bemüht die französische Zeitschrift Documents auch deshalb, weil sie die lebensphilosophischen Tendenzen mit einem Panerotismus verbinden will. Klees Zeichnung Das Auge des Eros tritt auf dem Umschlag des Ausstellungskatalogs zu einem Bild Miros und gibt den zweiten Titel der Ausstellung ab. Auf dieser Zeichnung fallen die drei Blicklinien eines Mannesauges auf Brüste und Schoß einer liegenden Frau. Gehört diese Zeichnung damit nicht zu den Satiren, etwa in die Nachfolge der frühen Radierung Weib 39 Elan vital oder Das Auge des Eros. Hrsg. von Hubertus Gaßner u. a. München 1994. S. 13 f; zum folgenden 10 ff, 17, 32, 33, 56f.

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und Tier} Sie zeigt dann, wie Klee sich ironisch vom gequälten Leiden an Triebstrukturen freizumachen sucht. Von einem lebensphilosophischen Optimismus oder gar einem Panerotismus kann nicht die Rede sein. Weist nicht auch Klees Bezug auf den Tod über den Rahmen der Ausstellung hinaus? In der letzten Ausstellungsabteilung Menetekel bilden Kleesche Bilder wie Gefangen von 1940 und die späten Engelbilder einen Schwerpunkt, der bei Kandinsky, Arp und Calder und selbst bei Miro keine volle Entsprechung hat. In umgekehrter Richtung muß man auch festhalten, daß Wolfgang Kersten den Elan Klees verengt, wenn er Klees Kunst nicht in die Natur und in deren Genesis zurückstellt, sondern die Genesis nur als Werkgenese analysiert. Kersten hält fest, daß seit 1989/90 ein »neuer Elan« sich in der Kleeforschung durchsetzte. Als bahnbrechend gilt Otto Karl Werckmeisters »ideologiekritischer Biographieversuch« mit dem symptomatischen Titel: The Making ofPaulKlee's Career, 1914 -1920. Mit dem Tode Jürgen Glaesemers sei die Zeit abgelaufen, in der das Klee-Archiv ratifizierte und aktualisierte, was Klee selbst in einem Akt der Selbststilisierung »unter seiner Kunst verstanden wissen wollte«. Wenn Klee seiner Frau wie üblich ein Bild zu Weihnachten schenkte, dann sagt Kersten dazu, Klee beanspruche eine Harmonie, die für ihn »anscheinend in der Wirklichkeit seiner eigenen Ehe gegeben« sei. Von Klees Vertreibung im Jahre 1933 hören wir nun, daß Klee sich mit den neuen nationalsozialistischen Machthabern zu arrangieren versucht habe und schließlich in die Schweiz (»und nicht etwa nach Paris«) übersiedelte, »vermutlich eher aus ökonomischen denn aus politischen Gründen«. 40 Der kritische Umgang mit Klees Erörterung seiner Kunst muß sich verbinden mit dem Nachweis, wie seine Bilder tatsächlich entstanden sind. In der Klee-Ausstellung Im Zeichen der Teilung (Düsseldorf und Stuttgart 1995) geben Wolfgang Kersten und Osamu Okuda Beispiele für diesen neuen Forschungsansatz. Gezeigt wird, daß es Klee schon früh um Verfremdung ging. So konnte er mit einem falsch eingestellten Storchschnabel (Pantographen) die Ansicht eines Bernischen Dorfes in der Breite verkürzen und in der Höhe strecken. Er gewann später 270 Werke, indem er 122 Kompositionen beschnitt und zerschnitt, die Teilstücke manchmal auch drehte. Er zerschnitt ferner 95 Werke, um sie neu und anders zusammenzusetzen. Kleines Tannenbild und Roter Ballon bildeten 1922 ursprünglich eine Einheit; die kleine Tanne war zuerst noch nicht so einsam, wie sie sich uns heute zeigt. Die Tunesienbilder Rote und weiße Kuppeln und In der Einöde gehörten zuerst zusammen in einer Einheit, die dann doch zu groß und spannungsvoll war. Nunmehr steht auf dem ersten Bild die hellste Kuppel hart abgeschnitten direkt am Bildrand. Klee hat auch die Menschen auf seinen Bildern zerschnitten und so als Künstler bewußt »seziert«: 40 Ebenda. S. 68, 63, 68.

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»das selbstkritische Zerstückeln einmal fertig dargestellter Figuren ist ein analytisch-kreativer Vorgang, der zu Klees modernistischer Kunstproduktion gehört, egal wie pervers der bildnerische Vorgang motivisch betrachtet erscheinen mag«.41 Christian Geelhaars Nachweis, daß Klees Tagebuch eine »autobiographische« Selbststilisierung ist, wird kombiniert mit der marxistischen Ideologiekritik Werckmeisters. So wird gezeigt, wie Klee sich nachträglich seinen zeitbedeutsamen Weg erfand. Die Kinderzeichnungen, die er an den Anfang seines Weges stellte, wurden erst in den Jahren 1911-15 ausgewählt, beschnitten und zu Ensembles zusammengestellt. Damals hatte die expressionistische Gegenkultur im Blauen Reiter gerade die Kinderhand zur neuen Quelle der Kunst gemacht (Klee nahm die ethnographischen Sammlungen und die Zeugnisse Geisteskranker dazu). Durch die bearbeiteten Kinderzeichnungen stellte Klee sich als exemplarischen Künstler im Sinne der damaligen Zeit dar; synchronisierte er nicht auch gleichzeitig die Tagebucheintragungen so, daß er von frühen Erfahrungen und Zeichnungen her das spätere Mensch-Tier-Motiv und selbst ein Bild wie Weib und Tier »inszenierte«? Durch detektivische Arbeit wird nachgewiesen, daß Klee 1919/20 eine Tagebuchnotiz neu formulierte, nach der er schon 1902 die Grundlage für die Analogie von Menschenkörper und Maschine schuf. Reklamierte er damit jene Programmatik, die dann (aber in den folgenden Jahren) im Bauhaus ausgestaltet wurde? Die Formulierung der berühmten Aussage über die Sternstunde in Tunesien: »Ich und die Farbe sind eins«, wird im Anschluß an Geelhaar »zweifelsfrei« auf frühestens Herbst 1921 datiert. Das war eine Zeit, in der die Farbe lebhaft diskutiert wurde, Bruno Taut zum »farbigen Bauen« aufrief. Statt etwa auf die Beschäftigung mit Delaunay hinzuweisen, wollte Klee seinen angeblich plötzlichen Durchbruch zur Farbe autobiographisch motiviert sehen. Auch das Nachkriegsinteresse »Stadtarchitektur - Bildarchitektur« projiziert Klee zuammen mit dem Gebrauch des Wortes »Synthese« in die frühere Reise. Geradezu verfolgt wird jene programmatische Äußerung, durch die Klee für Jahrzehnte das Bild seines Künstlertums bestimmte: Er sei diesseitig nicht faßbar, denn er wohne grad so gut bei den Toten und den Ungeborenen. Im Katalog der Ausstellung Elan vital sagt Wolfgang Kersten dazu, diese »künstlerische Selbststilisierung« sei allenfalls von den »Aporien aus Reinkarnationslehren« oder von Piatons Höhlengleichnis her zu verstehen. Die »mythisch verkleidete Positionsbestimmung« besage »kunstgeschichtlich verstanden im Klartext«, daß »der künstlerische Anspruch avantgardistischer Gegenwärtigkeit in vergangene Traditionen rück- und zugleich auf zukünftige vorprojiziert« werde. 41 Vgl. Paul Klee: Im Zeichen der Teilung (Ausstellung Düsseldorf und Stuttgart 1995). Hrsg. von Wolfgang Kersten und Osamu Okuda. Stuttgart 1995. S. 30 ff, 11 ff, 181, 104f, 175; zum folgenden 35 ff, 45 ff.

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Damit werde dann »für das eigene Werk eine ewige Gültigkeit antizipiert«. 42 Im Ausstellungskatalog Im Zeichen der Teilung wird Will Grohmann dafür getadelt, daß er sich ausschließlich auf die Somnambule Tänzerin konzentrierte, obwohl dieses Bild zusammen mit Selbstmord eines Stubenmädchens aus einem größeren Ganzen herausgeschnitten wurde. Grohmann meinte von der schaft mit gelben Vögeln, sie werde durch einen Stamm in zwei ungleiche Hälften zerschnitten. Tatsächlich habe Klee einen herbstlich gefärbten Laubbaum zerschnitten, dann das linke und das rechte Teilstück so vertauscht, daß die Hälften des zerschnittenen Baumes mit den Innenseiten auf den Bildrand kamen. Die Kartonunterlage zwischen den beiden Stücken wurde so bemalt, daß Grohmann dort einen trennenden Stamm sah, die Dezentrierung des ursprünglichen Bildes aber nicht bemerkte. Doch müssen wir nicht bei dem bleiben, was wir schließlich auf dem fertigen Bild sehen? Dürfen sich nur jene Spezialisten die Bilder ansehen, die mit den verschiedensten technischen Hilfsmitteln die Genese des Werks sich verdeutlichen und so sehen, was Klee nicht mehr sehen lassen wollte? Die Mannheimer Ausstellung Die Zeit der Reife zeigte 1996 die Bildersammlung von Felix Klee, die nun auch im Berner Kunstmuseum untergebracht werden sollte. Zu Recht distanziert sich Monika Goedl von jenen letzten Wegen der Kleeforschung, die von den zu sehenden Bildern wegführte. Klee habe die schriftlichen Quellen seiner Überlegungen verschwiegen und die Bildquellen seiner Werke versteckt; so müsse die Forschung in der Tat manche Umwege führen und zu komplizierten Beweisführungen greifen. »Aber das in detektivischer Kleinarbeit aufgetürmte >BeweismaterialDas ist das Tor, durch das wir alle einmal gehen müssen - der Tod.< Heidegger hat sich das Blatt später noch mehrmals zeigen lassen, da Beyeler es - in Erinnerung an

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die Betroffenheit des Denkers - nicht verkaufte, sondern in seinem Besitz behielt.« Als Heidegger vom Besuch Ronchamps zurückkam und erfüllt war von den Eindrücken der Wallfahrtskirche Corbusiers, sagte Georg Schmidt bei einem Zwischenaufenthalt Heideggers im Schmidtschen Haus in Binningen, »daß nur Heidegger selbst der Mann sei, der das Buch über Klee schreiben könne«. 46 Als Werner Schmalenbach um die genannte Kleesammlung herum die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen aufgebaut hatte, stellte er Klees »Romantizität« neben Picassos »Vitalismus«. In seinem Kommentar zur Kleesammlung zeigt er im Detail, wie Formung bei Klee geschieht: als Polyvalenz, die unentschieden läßt, ob sie eher an eine Pflanze oder eine Feder erinnert; als eine private Poesie, die in der Reaktion auf das Bauhaus auch noch die Geometrie spielerisch nimmt; als Todesernst, der doch den Humor nicht vergißt. Die Titel werden als eine der vielen Möglichkeiten genommen, die Bilder in das Leben zurückzustellen; vor ihnen wird auch gewarnt - sie können vom wirklich Ausgeformten auch wegführen. Werner Schmalenbach, der Baseler Professorensohn, hatte bei dem »Marxisten« Georg Schmidt gelernt, daß man vom Unterbau zum Überbau gehen müsse. Die ersten Ausstellungen machte er im Gewerbemuseum; aktuelle Interessen artikulierte ein Buch Der Film - wirtschaftlich, gesellschaftlich, künstlerisch (1948). Wenn die schwarzafrikanische Plastik ästhetisch überzeugende Formulierungen zeigte, dann wurde nicht vergessen, daß sie nur in den bäuerlichen Kulturen, nicht in den ostafrikanischen Hirtenkulturen entstand. Die Künstler der Gegenwart, diese »Solisten« und »gesellschaftlichen Outsider«, scheinen sich aus allen geschichtlichen Vorgegebenheiten emanzipiert zu haben. 47 Schmalenbach will bei ihnen immer nur nach der Qualität fragen. Die Einordnung in kunstgeschichtliche Zusammenhänge oder gar die Ikonologie haben kein Interesse; wenn Picasso mythologische Geschichten erzähle, langweile er. Was die Qualität eines Bildes ausmache, lasse sich nicht erklären. Qualität sei dann gegeben, wenn ein Museumsdirektor in einsamen Entscheidungen sein Geld für ein Bild ausgebe (wie Schmalenbach das durch Jahrzehnte hindurch tun konnte). Zeigt die Düsseldorfer Kunstsammlung aber nicht, daß die Maler unseres Jahrhunderts in unterschiedlichen Weisen den Durchbruch zu neuen Formungen wagten, so auch in einen Zusammenhang gehören? Schmalenbach rühmt sich, daß sein Qualitätsanspruch die Brücke ausgeschlossen habe. Er gesteht, er habe erst lernen müssen, daß die amerikanische Malerei neben der geliebten Pariser

46 Vgl. Heinrich Wiegand Petzet: Auf einen Stern zugehen. Begegnungen mit Martin Heidegger 1929 bis 1976. Frankfurt 1983. S. 156, 158 f. - Zum folgenden vgl. Werner Schmalenbach: Paul Klee. Die Düsseldorfer Sammlung. München 1986. Vor allem S. 82. 47 Vgl. Kunsthistoriker in eigener Sache (s. Anm. 35). S. 168 ff, vor allem 173; zum folgenden S. 186,194, 174, 188.

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Schule bestehen könne. Findet Rohlfs keine Beachtung, weil er den Qualitäts maßstäben nicht genügt, oder bleibt er draußen vor der Tür, weil er nur gesche hene Durchbrüche aufnahm und dadurch zur hohen Qualität kam? Wer die Bilder auf dem Weltmarkt kaufte, glaubte an dem vorbeigehen zu können, was gleichzeitig an der Düsseldorfer Kunstakademie (oder in der DDR) sich regte. Doch kann nicht genug gerühmt werden, daß Schmalenbach sein Konzept durchhielt gegen alle blinden Forderungen nach Engagiertheit oder Politisierung der Kunst. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Klees Tod bleibt Klees Wirkung durch gegensätzliche und unvereinbare Positionen bestimmt. Darf man Klees Bild Ein Tor als Tor des Todes deuten und so mit Tod und Feuer in Verbindung bringen, oder hat Klee trotz Krankheit den individuellen Tod überhaupt nicht berück sichtigt? Steht Klee neben Picasso (und neben Mondrian und Kandinsky), oder werden verschiedene Wege moderner Kunst angegeben, wird vielleicht gar eine Entscheidung über das gefordert, was in Zukunft Kunst sein soll? Tötet ein Mu seumsdirektor nicht immer auch das einzelne Bild, wenn er es wie eine Spinne in die Netze seiner Sammlung zieht? Kann man sich der Weltkunst allein mit der Forderung nach Qualität zuwenden oder wird nur von bestimmten geschichtli chen Aufgaben und Zusammenhängen her deutlich, was dann ästhetisch über zeugend ist? Gibt es folglich nicht die Weltkunst oder gar die Weltgeschichte, sondern nur eine Mehrheit von Geschichten, die jeweils anders ansetzen? Hei degger hat das, was in Zukunft Dichtung sein kann, allein von Hölderlin her er fassen wollen. Eine Zeitlang sollte Klee eine analoge Rolle für die moderne Malerei spielen. Klee löste dabei van Gogh ab, und er selbst mußte bald seinen Platz Cezanne überlassen. So bleibt zu fragen, aus welchen Orientierungen her aus Heidegger auf seinem Denkweg überhaupt an Kunst herantrat.

IL Philosophie und Kunst bei Heidegger

Martin Heidegger wurde zehn Jahre später als Paul Klee geboren, nicht als einziges Kind einer Künstlerfamilie, sondern als der erste Sohn des Mesners der katholischen Martinskirche in Meßkirch. Wenn das einst badische Amtsstädtchen heute zum Bezirk Tübingen gehört, zeigt sich seine Grenzlage. Wenigstens im Alter betonte Heidegger entschieden, daß er ein Schwabe wie Hegel, Schelling und Hölderlin sei. Doch führte der Weg des Jugendlichen nicht nach Tübingen, sondern über Konstanz nach Freiburg im Breisgau. Freiburg, einst zu Vorderösterreich gehörend, war in der napoleonischen Zeit an Baden gefallen. Im liberalen Großherzogtum Baden bildete die Universitätsstadt mit einer katholisch-theologischen Fakultät den Gegenpol zum protestantisch geprägten Heidelberg.

1. Handwerk - Wissenschaft - Glaube Martin Heideggers Vater hatte in Meßkirch neben seinem kirchlichen Amt einen handwerklichen Ein-Mann-Betrieb: Als Küfner verfertigte er Zuber und Kübel, Most-, Wein- und Jauchefässer. Die fromme Mutter stammte von einem nahen Bauernhof. Nach ihrem Wunsch sollte der begabte Erstgeborene Bischof werden, wenigstens Weihbischof. So kam Martin Heidegger mit vierzehn Jahren in das Bischöfliche Konvikt in Konstanz am Bodensee. Dort war sein Landsmann und Förderer, der spätere Freiburger Erzbischof Konrad Gröber Rektor des Konvikts und dann Stadtpfarrer. Dem Geistlichen Präfekt des »Konradihauses«, Matthäus Lang, hat Heidegger noch 1928 als »ehemaliger Zögling« herzlich für die Erziehung gedankt, als dieser ihm Glückwünsche zum Ruf nach Freiburg geschickt hatte. 48 Doch konnte Heidegger auch auf das Bild eines solchen Geistlichen mit der Bemerkung zeigen: »Der hat uns damals das Rückgrat gebrochen.« Um eines Stipendiums willen wechselte Heidegger am Ende der Untersekunda an das Bertholdgymnasium und in das Erzbischöfliche

48 Vgl. Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie. Frankfurt/New York 1988. S. 55 f. Das Folgende ist eine mündlich mitgeteilte Erinnerung von Walter Bröcker. Den Wunsch der Mutter, der Sohn möge wenigstens Weihbischof werden, teilte Fritz Heidegger mündlich mit.

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II. PHILOSOPHIE UND KUNST BEI HEIDEGGER

Gymnasialkonvikt St. Georg in Freiburg. Im Winter 1909/10 begann er an der dortigen Universität das Studium der Theologie. Heidegger hat die Grunderfahrungen, die ihn prägten, in der Erinnerung bewahrt. Der Text Vom Geheimnis des Glockenturms (1954) erzählt, wie die »Läuterbuben« an den hohen Festtagen die Glocken in wohlgeordneter Reihe erklingen ließen oder sie an den Kartagen durch die »Ratschen« ersetzten. Die »geheimnisvolle Fuge« der Festtage und Jahreszeiten sowie der Stunden jedes Tages bewahrte das Geheimnis des Turmes mit, »um es stets gewandelt und unwiederholbar zu verschenken bis zum letzten Geläut ins Gebirg des Seyns«.49 Der Mesnersohn selbst war kein Läuterbub; er vollzog die Liturgie als Meßdiener mit. Heidegger hat auch davon erzählt, wie er früh in der kalten Kirche am Altar die brennende Kerze in der Hand gehalten habe: »da habe er das Wachs, das an der Kerze herunterlief, mit dem Finger immer wieder oben drauf getan, immer wieder drauf, immer wieder drauf«. Als Paul Celans Gedichtband Sprachgitter 1959 erschienen war, bemerkte Heidegger zum Gedicht Tenebrae, daß sein Vater in den Finstermetten des Karfreitags, als Kerze auf Kerze erloschen war, schließlich den Krach hatte machen müssen, der an das Erdbeben beim Tode Jesu erinnern sollte. Vor allem mit der frommen Mutter ist Heidegger oft zum nahen Kloster Beuron gewandert, das seit 1863 wieder von Benediktinern getragen wurde. So kam ihm der gregorianische Gesang nahe, der durch die Jahrhunderte die Liturgie geformt hat. Als am 15. August 1910 in Kreenheinstetten nahe Meßkirch ein Denkmal für den dort geborenen Abraham a Sankta Clara enthüllt wurde, berichtete der Theologiestudent Heidegger über die Feier. Der »geniale Kopf« des barocken Predigers sei »täuschend dem älteren Goethe ähnlich«. Eine Predigt gegen den modernen Ungeist treffe auch gegenwärtige Tendenzen: »Die grundstürzende Neuerungswut, das tolle Hinwegspringen über den tieferen seelischen Gehalt des Lebens und der Kunst, der auf fortwährend sich ablösende Augenblicksreize gerichtete moderne Lebenssinn, die zuweilen erstickend wirkende Schwüle, in der sich die heutige Kunst jeder Art bewegt, das sind Momente, die auf eine Dekadenz hinzeigen, auf einen traurigen Abfall von der Gesundheit und dem Jenseitswert des Lebens.«50 Schon im März dieses Jahres hatte der junge Heidegger 49 Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens (Gesamtausgabe Band 13). Frankfurt a. M. 1983. S. 113 ff, vor allem 115 f. - Zum folgenden vgl. den Bericht von Hermann Mörchen in: Martin Heidegger - Faszination und Erschrecken. Hrsg. von Peter Kemper. Frankfurt/New York 1990. S. 73. Zu Celans Gedicht Tenebrae vgl. Otto Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg/München 1986. S. 134. 50 Aus der Erfahrung des Denkens (s. Anm. 49). S. 1 ff. - Zum folgenden vgl. Hugo Ott (s. Anm. 48). S. 64, 86, 59. Heideggers frühe Rezensionen wenden sich gegen Nietzsche, Zola, Jacobsen, Ibsen; vgl. Martin Heidegger: Reden und andere Zeugnisse des Lebensweges (Gesamtausgabe Band 16). Frankfurt a. M. 2000. S. 3 ff.

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eine Konfession des dänischen Konvertiten Jorgensen angezeigt und dabei die Moderne in Distanz gebracht: »Die Person des Künstlers rückt in den Vordergrund. So hört man denn viel von interessanten Menschen. O. Wilde, der Dandy, P. Verlaine, der >geniale Säuferundogmatischen Protestanten nur sehr lieb sein kann. Im übrigen wirke ich gern auf alle wahrhaftigen Menschen, mögen es Katholische, Evangelische oder Juden sein.« Husserl erinnerte überraschenderweise an alte Altarbilder, wenn er Vorbehalte gegenüber Rudolf Ottos epochemachendes Buch formulierte: »Der Metaphysiker (Theologe) in Herrn Otto hat scheint es mir den Phänomenologen 54 Vgl. Martin Heidegger: Zur Sache des Denkens (s. Anm. 14). S. 81 ff. - Zum folgenden vgl. Hugo Ott (s. Anm. 48). S. 116 f, 106 f und Das Maß des Verborgenen (s. Anm. 51). S. 157 ff.

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II. PHILOSOPHIE UND KUNST BEI HEIDEGGER

Otto auf seinen Schwingen davongetragen, und ich denke dabei als Gleichnis an die Engel, die mit ihren Schwingen die Augen verdecken.« Von dem jungen Heidegger erwartete Husserl eine Religionsphänomenologie, die genau zusieht, und das hieß für Husserl: mit dem Apparat der Reduktionen der transzendentalen Phänomenologie arbeitet. Doch ging Heidegger andere Wege; beachtet man, wie Religion zum Leben der Menschen gehört, dann wird Husserls transzendentale Phänomenologie problematisch. Man mag darauf hinweisen, daß Heidegger nie formal aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, vielmehr für sie immer weiter seine Kirchensteuer bezahlt hat. Ein Weggefährte Heideggers, Oskar Becker, hielt diese Argumentation zu Recht für absurd. Heidegger habe darauf bestanden: Man muß Katholik gewesen sein, um Protestant werden zu können (und dann auch den jungen Luther jenseits aller lutherischen Orthodoxie wieder ernst nehmen zu können). So ergab sich bei Heidegger eine Nähe zu jenem Patristiker und Nietzschefreund Franz Overbeck, der sich der liberalen Theologie entgegenstellte und das Urchristentum von dessen Eschatologie her sah, es so von der Interpretation durch griechische Begriffe befreite. O b diese Einstellung - wie im Kreis um Karl Barth und Friedrich Gogarten - die christliche Theologie wieder erneuern könne, war auch Heideggers damalige Frage. Heidegger zeichnete unter seinen Schülern Karl Löwith aus; dieser mußte aber zur Promotion über Nietzsches Selbstverständnis nach München ausweichen, da unter Husserls Regiment ein solches Dissertationsthema nicht möglich war (in Marburg stieß Löwith dann wieder zu Heidegger). Löwith hat nie vergessen, was Overbecks skeptische Gelehrsamkeit lehrte: »daß wir Menschen überhaupt nur vorwärts kommen, indem wir uns von Zeit zu Zeit in die Luft stellen«.55 Als Löwith in zeittypischer Weise an die Briefe von Vincent van Gogh geriet, schrieb Heidegger ihm im Januar 1921, er habe diese Briefe schon im Ersten Weltkrieg gelesen (als sie in einer Gesamtausgabe und zugleich in einer deutschen Übersetzung erschienen waren). Heidegger fragte, was diesen hinreißenden Dokumenten gegenüber oft die »Kunst-geschicbte« sei. Am 9. Oktober 1920 schrieb Heidegger, daß er um der eigenen Arbeit willen das Gurlitt-Seminar wohl aufgeben müsse; doch denke er oft und gern an die Abende bei Besseler. Er wollte die Abende bei dem jungen Musikhistoriker aus-

55 Vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. 7. Aufl. Hamburg 1978. S. 413. Leider sind bisher nur drei exemplarische Briefe Heideggers an Löwith veröffentlicht worden, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Hrsg. von Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler. Band 2: Im Gespräch der Zeit. Frankfun a. M. 1990. S. 27 ff. Die Vita, die Heidegger 1922 für eine Bewerbung in Göttingen schrieb, steht im Kontrast zur Habilitationsvita von 1915; sie betont schon für die Zeit des Theologiestudiums den Einfluß Overbecks. Vgl. Heidegger: Reden... (s. Anm. 50). S. 41 ff.

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gestaltet sehen durch Vorlesungen und durch zwanglose Berichte über neue Bücher: »keine Imitation des Schlegel-Schleiermacherschen Kreises - aber deren Initiative - Selbständigkeit und Leidenschaft für die Dinge«. So wurden nicht nur phänomenologische, sondern privatphänomenologische Gesprächskreise gegründet und diese noch einmal durch Auswahl der Eingeladenen abgegrenzt. Willibald Gurlitt (der Sohn des Architekten und Kunsthistorikers Cornelius Gurlitt) bemühte sich um Aufführungen mittelalterlicher Musik und rekonstruierte eine Praetorius-Orgel. Günther Anders erinnerte sich, daß die »geistig und moralisch lebendige akademische Jugend« seiner Generation damals in Freiburg an der Politik vorbeistudiert habe; die »Sensationen der Uni Freiburg« seien die Heideggersche »Geworfenheit« und die »Renaissance der mittelalterlichen Musik« gewesen. 56 Als Heidegger im Herbst 1922 zur Unterstützung seiner Chancen in Marburg und Göttingen über seine Destruktion der abendländischen Philosophie in einer Arbeit über Aristoteles berichtete, kam er wenigstens in einer Anmerkung auch auf die Kunst des Mittelalters zu sprechen. Die neue Würdigung der Gotik blieb nicht ausgeschlossen, an der ja auch Wilhelm Worringer mit Formprobleme der Gotik (München 1911) beteiligt war: »Die Hymnologie und Musik des Mittelalters, ebenso wie seine Architektur und Plastik sind geistesgeschichtlich nur zugänglich auf dem Boden einer ursprünglichen phänomenologischen Interpretation der philosophisch-theologischen Anthropologie dieses Zeitalters, die sich mit- und umweltlich in Predigt und Schule mitteilte. Solange diese Anthropologie nicht explizit zugeeignet ist, bleibt der >gotische Mensch< eine Phrase.« In seinen Vorlesungen entfaltete Heidegger unter den didaktischen Beschränkungen das, was er schließlich als »hermeneutische Phänomenologie« faßte. Mit der antik-mittelalterlichen Philosophie fragte er nach dem Sein des Seienden, mit der neuzeitlichen Einstellung nach der Weise, wie sich dem Erkennen etwas zeigt und als Phänomen gesichert werden kann. Statt der Psychologie nahm Heidegger die Geschichte als Leitfaden für die nähere Bestimmung des »transzendentalen Ichs«. Die Ontologie wurde als Phänomenologie an die geschichtliche Bildung und Selbstauslegung dieses Ichs zurückgebunden und damit »hermeneutisch«. Doch grenzte Heidegger schon im Kriegsnotsemester 1919 die Philosophie als Wissenschaft von jeder »Weltanschauung« ab. Zugleich stellte er die wissenschaftliche Forschung zu Religion und Kunst. In einer Vorbetrachtung über Wissenschaft und Universitätsreform sagte er: »Aber wie den religiösen Menschen eine große Scheu schweigen läßt von seinem letz-

56 Vgl. Günther Anders antwortet. Hrsg. von Elke Schubert. Berlin 1987. S. 21 ff. Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. In: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989). S. 235 ff, vor allem 251.

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ten Geheimnis, wie der echte Künstler nur lebt, indem er bildet und nicht redet und alles Kunstgeschwätz haßt, so wirkt der wissenschaftliche Mensch nur durch die Lebendigkeit echter Forschung.« Rembrandts Bilder, Mozarts Sonaten, Hölderlins Sophokles-Übersetzungen geben neben Zahlen, Dreiecken, UBooten und religiösen Mächten Anlaß zu der Frage, was überhaupt ist. Heidegger erinnert daran, daß nach dem Ersten Buch Moses im Garten des Paradieses der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen wuchsen. Die Philosophen aber seien in die »Kümmerlichkeit der Wüste« gegangen; statt ewig Sachen zu »erkennen«, müßten sie wieder lernen, »zuschauend zu verstehen und verstehend zu schauen«. Eine Vorlesung über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums vom Sommer 1919 stellt die Naturwissenschaften der Kunst- und Religionsgeschichte gegenüber. Die Naturwissenschaften suchten bei einem Maximum der Theoretisierung die größtmögliche Austilgung der Situation, Kunst und Religionsgeschichte bei einem Minimum von Theoretisierung die größtmögliche Erhaltung der Situation. Zwar ständen auch dem Kunsthistoriker »Gegenstände« gegenüber. »Aber sie tragen noch die Patina des Durchgangs durch das historische Ich an sich.«57 Die Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie vom Winter 1919/20 macht vor allem die phänomenologische Philosophie selbst zum Problem. Das Urchristentum, das sich bei Augustin, in der mittelalterlichen Mystik und bei Luther wieder meldete, wird als »große Revolution« gegen die antike Wissenschaft verstanden. Heidegger verbindet Tendenzen der Mystik, denen noch der junge Luther folgte, mit der Lebensphilosophie, wenn er die humilitas animi als ein verstehendes Sicheinfügen in das Leben faßt. So kann er den »tieferen Sinn der Hegeischen Philosophie« darin sehen, daß die »Geistesgeschichte« zum »wahren Organon des Verstehens des menschlichen Lebens« werde. 58 Faktizität soll nicht als Fall eines Allgemeinen oder einer Idee auf Ordnungsbegriffe bezogen werden, sondern mit Ausdrucksbegriffen, die dem Leben folgen und ihm eine Offenheit lassen, erschlossen werden. Wird diese »Diahermeneutik« ausgestaltet, dann tritt sie »in enge Beziehung zur Kunst«. Heidegger übernimmt von Stefan George den Titel »Teppich des Lebens« für das Gemischte und Gesprenkelte im Erfahren. Er stellt eine »schlichte Choralmesse in der Benediktinischen Liturgie in Beuron« einem theologisch-wissenschaftlichen Traktat über das Meßopfer, den Rembrandtsaal im Berliner Kaiser-Friedrich-Museum einer kunsthistorischen Rembrandtmonographie gegenüber. Für die künstlerische Darstellung verweist er in zeittypischer Weise auf Shakespeares Dramen und auf Dostojewski. 57 Vgl. Martin Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie (Gesamtausgabe Band 56/57). Frankfurt a. M. 1987. S. 5, 6, 7t, 74, 65, 207. 58 Vgl. Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie (Gesamtausgabe Band 58). Frankfurt a. M. 1993. S. 61 f, 23, 246; zum folgenden 263, 255, 69, 65, 85.

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Die Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion vom Winter 1920/21 faßt Religion vom Paradigma des urchristlichen Glaubens her. Die eidola oder Trugbilder der Griechen waren durch die Septuaginta unter hebräischem Einfluß zu »Götzenbildern« geworden; von ihnen sollen die Christen sich wegwenden. Fallen nicht auch die Werke der bildenden Kunst unter jene bloßen Werke, die nach Paulus keine Rechtfertigung bringen? Heidegger betont, daß die Verhältnisse in der Kunstgeschichte andere seien als in der Religionsgeschichte; doch diese Nebenbemerkung wird nicht ausgeführt. 59 Die Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus vom folgenden Semester stellt heraus, daß Augustinus die Kunst und das Schöne der »ästhetischen« Gegenstände einordnet in den neuplatonisch-plotinischen Aufstieg zum absoluten Schönen. Da Heidegger aber die faktische Lebenserfahrung des Augustinus mit dem jungen Luther wieder herauslösen will aus dem Quietismus des Neuplatonismus, bleibt unklar, wie Heidegger die Kunst und das Schöne positiv fassen will und ob er das überhaupt vermag. Die Musik erhält bei Augustinus einen Vorrang unter den Künsten, weil sie (wie die Architektur) durch zahlenhafte Verhältnisse geordnet ist. Nach Heidegger liegt aber in den Zahlen »das Motiv zum Übergang zum Unveränderlichen« und damit wieder der Abfall von der Unruhe des faktischen Lebens. Von Kierkegaard her kann das Adjektiv »ästhetisch« negativ verwandt werden. Der junge Heidegger wußte sich mit Karl Jaspers eins in der Rebellion gegen die akademische Philosophie und in der Ausrichtung auf Existenz. In seinen »Anmerkungen« zu der Psychologie der Weltanschauungen von Jaspers zeigte er, daß Jaspers das Ästhetische ablehnt und von den Grenzsituationen der Todes- und Schuldverfallenheit ausgeht. Doch betonte Heidegger, daß Jaspers keine hermeneutischen Begriffe für den Ausdruck des Lebens fand; so bleibe er trotz aller existenziellen Polemik gegen das Ästhetische im Ausgang vom ideenmäßigen Sehenwollen und damit in einer ästhetischen Grundhaltung befangen.60 Als Heidegger im Sommer 1923 in seinem letzten Freiburger Semester über Ontologie oder Hermeneutik der Faktizität las, hatten er selbst und seine Schüler das sichere Gefühl, daß die hermeneutische Phänomenologie nun auf eigenen Füßen stehe. Heidegger zog eine Parallele zwischen seinen Durchbruchsversuchen und dem selbstzerstörerischen Ringen des Vincent van Gogh um eine neue Malerei. Wiederum wurde nur der falsche Bezug auf Kunst und Kunstwissenschaft abgewehrt, die Kunst aber nicht als Seinsweise des Daseins positiv bestimmt. »Es ist kein Zufall, daß heute unter den historischen Geistes59 Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (Gesamtausgabe Band 60). Frankfurt a. M. 1995. S. 95 ff, 82; zum folgenden 284 ff, 281 f. 60 Vgl. Martin Heidegger: Wegmarken (Gesamtausgabe Band 9). Frankfun a. M. 1976. S. 23 f.

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Wissenschaften die Kunstgeschichte am weitesten ausgebildet ist und daß die anderen Wissenschaften die Tendenz haben, es ihr, soweit das möglich ist, nachzumachen.« So trete zum Piatonismus der Barbaren, der die Ideenlehre als etwas Gegebenes nimmt, die morphologische Geschichtsdeutung Spenglers. Spengler folge im Untergang des Abendlandes dem Vorbild der Kunstgeschichte, die auf ein Sehen von Ausdruck, Gestalt und Stil aus sei. Doch: »Die Nachäffung der Kunstgeschichte ist ein Mißbrauch dieser, d. h. eine Geringschätzung, d. i. ein Mißverstehen. Die übrigen Geisteswissenschaften, sofern sie diese nachahmen, verstehen diese damit so wenig wie sich selbst.«61 Als Ende 1923 der Briefwechsel zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck erschien, konnte Heidegger bei Yorck seine Kritik an Dilthey wiederfinden. Die Polemik der Kirchenväter, die cura und curiositas verband und den »heidnischen« Menschen durch die Augenlust bestimmt sah, ging zusammen mit lebens- und existenzphilosophischen Motiven. Noch Sein und Zeit wiederholte Yorcks Kritik an der »ästhetischen« Ausrichtung der Historischen Schule. In der Marburger Zeit folgte Heidegger ganz der Sorge um das rechte Wissen; so kam seine Destruktion von Piaton und Aristoteles, von Descartes und Kant allenfalls ganz am Rande einmal auf die Kunst zu sprechen. Innerhalb der Auseinandersetzung mit Aristoteles glaubte Heidegger 1922/23 die entscheidende Verfehlung des abendländischen Denkens erfaßt zu haben: Alle Bestimmungen von Sein werden auf die leitende Bestimmung der ousia oder der Substanz bezogen, diese wird genommen als eine stete Anwesenheit, auf die das Denken immer zurückkommen kann. Ein Gott der Philosophen, der mit dem Göttlichen der religiösen Erfahrung nichts zu tun hat, garantiert als das höchste und erfüllteste Seiende diesen Seinscharakter. In den Marburger Vorlesungen suchte Heidegger zu zeigen, daß Piaton und Aristoteles sich einseitig an der techne, dem wissenden handwerklichen Tun, orientiert hatten: Zuerst sieht der Schuster die Idee des Schuhs, dann macht er ihn. Max Scheler bezweifelte, daß Piaton (der Politiker) und Aristoteles (der Sohn eines Arztes) einer solchen »Schusterontologie« gefolgt seien. Heidegger selbst brach im Winter 1925/26 seine Aristoteles-Vorlesung ab, weil Kant den Zusammenhang von Sein und Zeit schärfer gesehen habe: Eine Schematisierung vermittelt zwischen dem Begriff und der Sinnlichkeit, die Gegebenes aus Raum und Zeit aufnimmt. Die biologische Umweltlehre hatte den Begriff des Schemas gebraucht: Ein bestimmter Reiz

61 Vgl. Martin Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). (Gesamtausgabe Band 63). Frankfurt a. M. 1988. S. 32, 38, 42, 57. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Halle 1927 u.ö. S. 400. - Mit seiner Kritik verfehlt Heidegger die Hermeneutik des Ausdrucks in der Dilthey-Schule, die sich vorzüglich an Dichtung und Kunst orientiert; vgl. Otto Pöggeler: Schritte zur hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 38). S. 34 ff.

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(der Schweiß eines Menschen) löst eine Handlung aus (daß die Zecke sich vom Baum auf den Menschen fallen läßt). Max Scheler verstand gar die Technisierung als eine bestimmte Schematisierung der Welt, nämlich als einseitiges Aussein auf eine Herrschaft über die Dinge im Herrschaftswissen.62 Ließ die formal anzeigende Hermeneutik, die vorweg einen Menschen nach seinem Sein von einem Ding unterscheidet, sich angemessener als Schematisierung, nämlich als Einweisung in unterschiedliche Zeitspielräume darstellen? Heideggers Logik-Vorlesung vom Winter 1925/26 verwies auf bestimmte Weisen der Schematisierung: auf die Zeichnung des Schemas eines Tiers in einem Biologiebuch, auf die philosophische Hermeneutik, auf das Kunstwerk. Heidegger führte van Goghs Bilder von Sonnenblumen als Exempel an; auf ihnen wird sichtbar, daß die Erde in diesen Blumen mit dem Sonnenrad des Blütenkopfes auf das Licht der Sonne antwortet. Heidegger bezog sich näher auf Franz Marcs Bild Rehe im Walde (die zweite Fassung ist in der Kunsthalle in Karlsruhe zu sehen): Marc bildet nichts ab; er schematisiert auch nicht in der Weise des Biologiebuchs. Es geht ihm vielmehr um das Wie-sein des Rehs als ein Im-Walde-sein und damit um die Weltauslegung eines Lebewesens, das in der Natur im ganzen wohnt. Die Kunst von Franz Marc ist selbst Schematisierung, eine Einweisung in eine bestimmte Weise des Lebens in der Welt. Universität und Stadt Marburg reduzierten sich für Heidegger im wesentlichen auf seine Arbeit und die Gespräche mit dem Theologen Rudolf Bultmann. Mit dem Vortrag Phänomenologie und Theologie suchte Heidegger 1927 und 1928 den Diskussionen eine Grundlage zu geben. Heidegger faßte Theologie und Philosophie als »Todfeinde«: Wer glaubt, braucht nicht mehr zu fragen, und wer fragt, glaubt nicht. Indem die Philosophie fragend die Spielräume menschlichen In-der-Welt-seins aufweist, fordert sie die Theologie zu Antworten vom Glauben her heraus. Die Tradition Hegels ist durch Overbeck erledigt, wenn der Philosophie keine »dirigierende« Rolle mehr zugesprochen wird. Doch ist Philosophie gegebenenfalls »das mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe«. 63 Rudolf Bultmann faßte von Sein und Zeit her die formal anzeigende Hermeneutik als »existenziale Analyse«, die den existenziellen Ent-

62 Zum einzelnen vgl. Dietmar Köhler: Martin Heidegger. Die Schematisierung des Seinssinnes als Thematik des dritten Abschnittes von >Sein und Zeit«. Bonn 1993. Zur »Schuster-Ontologie« vgl. Anders (s. Anm. 56). S. 22. Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Gesamtausgabe Band 21). Frankfurt a. M. 1976. S. 363 f. 63 Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie und Theologie. Frankfurt a. M. 1970. S. 32. Vgl. dazu Otto Pöggeler: Heidegger und Bultmann: Philosophie und Theologie. In: Heidegger - neu gelesen. Hrsg. von Markus Happel. Würzburg 1997. S. 41 ff.

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Scheidungen vorausliegt: Die Theologie hält sich innerhalb der wissenschaftlichen Arbeit der Universität, wenn sie die Glaubensentscheidungen von dieser existenzialen Analyse der Motive menschlichen Existierens her verständlich macht. Doch lehnte Heidegger es vehement ab, seinen Vortrag mit einem Vortrag Bultmanns zusammen zu veröffentlichen. Am 8. August 1928 schrieb er dazu an Elisabeth Blochmann, Philosophie müsse Religion voraussetzen als eine völlig andere Grundmöglichkeit der menschlichen Existenz. Religion sei aber nicht nur christliche Religion. Er selbst sei überdies überzeugt, daß Theologie keine Wissenschaft sei, könne das aber noch nicht positiv zeigen. »Wissenschaft, Kunst, Religion und Anderes« ließen sich in jedem Fall nicht »wurzellos dialektisch gegeneinander wie Spielmarken in Feldern« absetzen. Offensichtlich neigte Heidegger dazu, Religion auf den Mythos zu beziehen. Bultmann führte dagegen die existenziale Analyse zu einer »Entmythologisierung« weiter; darin wird alles, was von den allgemeinmenschlichen Motiven her unverständlich bleibt, als abzulegender, vorlogischer »Mythos« ausgeschieden. In Sein und Zeit faßte Heidegger das In-der-Welt-sein als ein gestimmtes Sich-befinden-in und als Sich-verstehen-auf; die unterschiedliche Artikulation des gestimmten Verstehens wurde als Rede genommen, die jedoch nicht nur sprachlich ist. Heidegger gestand zu, daß die christliche Theologie von Augustinus bis Pascal und Kierkegaard entscheidende Anstöße gab. Doch drängte er um der angestrebten Neutralität seiner Analysen willen diese geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zurück. So führte er nun die Augustinische Beziehung von cura und curiositas nicht an. Wenn er das Dasein als »Sorge« faßte, bezog er sich mit der Erforschung von Goethes Faust auf eine Fabel des Hyginus. Er verwies darauf, daß zum Sichaussprechen die Bekundung der Gestimmtheit durch Tonfall, Modulation, Tempo der Rede, Art des Sprechens gehöre. Dieses Erschließen von Existenz könne »eigenes Ziel der >dichtenden< Rede werden«. Der Germanist Rudolf Unger hatte das Todesproblem bei Herder, Novalis und Kleist darstellen können, weil er in der Nachfolge Diltheys Literaturgeschichte als Problemgeschichte entwickelte. Heidegger selbst verwies auf den Zusammenbruch der Flucht vor dem Tod in Tolstois Erzählung Der Tod des Iwan IIjitsch. In der Vorlesung vom Sommer 1927 zeigte er mit Rilkes Malte, wie sich noch aus den Resten eines abgerissenen Hauses das dort gelebte In-der-Weltsein aufdrängt.64 Die Motivgeschichte blieb innerhalb der Literaturwissenschaft ein einseitiger Ansatz mit begrenzter Leistungskraft. Wollte man die Kunstgeschichte in 64 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. S. 162, 249, 254; Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Gesamtausgabe Band 24). Frankfurt a. M. 1975. S. 244. - Zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama. Opladen 1995.

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einer analogen Weise aufarbeiten, dann müßte man so etwas wie eine abschließbare Ikonologie haben und von ihr her jede mögliche Geschichte systematisch erfassen. Ein Dichtwerk und ein Kunstwerk bleiben aber mit ihren vieldeutigen Formen und Symbolen unerschöpflich; so gehören sie in eine offenbleibende Wirkungsgeschichte. Z. B. kann eine psychoanalytische Betrachtung Bildbedeutungen finden, die jahrhundertelang nicht ins Bewußtsein gehoben wurden. Selbst im theologischen Bereich findet die existenziale Interpretation dann ihre Grenze, wenn die Religion mit dem fortbildbaren Mythos in Verbindung tritt. In der Wirtschaftsgeschichte mögen sich »kapitalistische« Tendenzen durchsetzen, doch gehören sie in unterschiedliche Kontexte.

2. Natur - Kunst - Mythos Als Heidegger im Herbst 1928 nach Freiburg zurückgekehrt war, sagte er seinem Marburger Schüler Hans-Georg Gadamer, es sei »alles ins Rutschen« gekommen, als er »die Kräfte des alten Bodens zu spüren« begann. Als Heidegger 1936 in Frankfurt über den Ursprung des Kunstwerks sprach, fragte Gadamer sich, ob die befremdliche Rede von der Erde nicht gar auf die »Verkündigung eines neuheidnischen Mythos« ziele.65 Gegenüber Jaspers, der einen Ruf nach Berlin erwartete, freute Heidegger sich (am 11.6.28) darauf, daß er sich »die kommenden Schiebungen völlig desinteressiert aus der erhöhten Ecke des Reiches in der Nähe Jakob Burckhardts ansehen« könne. Anstelle von Overbeck vertrat nun Burckhardt die geistige Aristokratie des alten Basel. Schon am Ende des Sommersemesters 1925 hatte Heidegger, wie er am 24. August an Löwith schrieb, den Studenten bei einer kleinen Einladung »aus und über Jakob Burckhardt vorgelesen«; die Hörenden seien stutzig geworden angesichts dieser inneren Ruhe und Sicherheit eines schaffenden Lebens. Die Interpretation des Mythos durch Johann Jakob Bachofen, von Alfred Baeumler kundig interpretiert, wurde nunmehr wichtig (am 25. Mai 1932 gab er dazu auch Elisabeth Blochmann die nötigen Informationen). An Löwith schrieb Heidegger am 24.10.1928, daß er die Marburger Zeit in einer umgekehrten »Wiederholung« von sich geschleudert habe. Im November 1929 meldete Heidegger an Löwith, seit einiger Zeit sei ihm aufgegangen, daß die heutige Zeit Nietzsche noch nicht begriffen habe. Als die Freiburger Assistentenstelle frei wurde, holte Heidegger sich Werner Brock, der über Nietzsche gearbeitet hatte. Am 24.7.1931 schrieb

65 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Frankfurt a. M. 1977. S. 217 f. Zum folgenden vgl. Martin Heidegger/Karl Jaspers: Briefwechsel 1920-1969. Frankfun a. M. 1990. S. 101.

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Heidegger dazu an Jaspers: »Eigene >Schüler< habe ich nicht und wünsche eigentlich etwas anderes.« Mit Löwith, Gerhard Krüger und Gadamer hatte Heidegger bedeutende Schüler in Marburg habilitiert, doch suchte er in Freiburg einen anderen Neuanfang. Noch in der Marburger Zeit hatte Heidegger persönlich und sachlich ein nahes Verhältnis zu Max Scheler gewonnen und dessen Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos aufgenommen. Mußte das transzendentale Ich nicht nur als ein geschichtliches gefaßt, sondern auch »metaphysisch« hineingestellt werden in die umfassende Natur? Die Freiburger Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik vom Winter 1929/ 30 sagte dann, daß Spengler, dazu Ludwig Klages von Nietzsche und Bachofen her, ferner Max Scheler und Leopold Ziegler in zeittypischer Weise vom Gegensatz zwischen Leben und Geist ausgegangen seien. Nietzsche habe diesen Gegensatz tiefer gefaßt und im Miteinander des dionysischen Erleidens des Werdens und des apollinischen Drängens zu Sein und Begrenzung verwurzelt. Heidegger skizzierte nicht nur in einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Biologie eine Philosophie des Lebendigen; er forderte auch, den Stein (etwa im Mal) als beseelt zu nehmen und so den Mythos und die Kunst als Grundmöglichkeiten menschlichen Daseins ins Spiel zu bringen. 66 Heidegger übersetzte das griechische Wort physis nicht mehr (wie noch 1928) durch »Natur« oder »Wesen«, sondern als »Walten der Dinge« oder »Schicksal der Welt überhaupt«. Der Augenblick Kierkegaards trat zusammen mit der schöpferischen und zerstörenden Kraft, wie Nietzsche sie im Trunkenen Lied besingt. Wenn die Vorlesung über das neunte Buch der Metaphysik des Aristoteles vom Sommer 1931 mit Nietzsche wieder griechischen Boden gewinnen will, dann gegen Nietzsches Mißdeutung z. B. von Parmenides. Die Seinsbestimmungen werden nicht mehr auf die ousia bezogen, um dann kritisch in die vollen Zeithorizonte zurückgestellt zu werden; vielmehr werden die Modalbestimmungen leitend. Die dynamis soll als Kraft und Eignung mit der energeia zusammengehen, so als Am-Werk-sein Ereignis werden. Heidegger fragt: Wie wären ohne diese Entfaltung des Begriffes der Kraft die materielle und die lebende Natur, dann die Kunst Michelangelos und van Goghs sowie die Kunst überhaupt, schließlich die Gewalt Napoleons und die Macht des Göttlichen zu verstehen? 67 Heidegger betont noch einmal, daß Piaton und Aristoteles ihre Grundbegriffe aus einer Analyse der poiesis oder der Herstellung gewonnen haben; doch macht er dazu wenigstens eine Anmerkung: »(Warum das so ist 66 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik (Gesamtausgabe Band 29/30). Frankfurt a. M. 1983. S. 105 ff, 299 f; zum folgenden S. 41 f, 47, 225, 532. 67 Vgl. Martin Heidegger: Aristoteles, Metaphysik Theta 1-3 (Gesamtausgabe Band 33). Frankfurt a. M. 1981. S. 73, zum folgenden 137.

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und was das alles bedeutet und warum die antike Philosophie gerade doch nicht die Philosophie der Schuster und Töpfer ist, das ist hier nicht zu erörtern.)« In Wirklichkeit folgt Heidegger nun einem neuen Ansatz: Er bestimmt nicht mehr den Sinn unterschiedlicher Seinsweisen aus der Analogie zum erfüllten Geschichtlichsein heraus; vielmehr fragt er nach der Wahrheit des Seins, d. h. nach der Unverborgenheit, die einem immer auch bleibenden Verbergen abgerungen werden muß. So können nun neue Phänomene wie Natur und Kunst leitend werden. Zu Weihnachten 1931 versandte Heidegger Freundesbriefe Nietzsches zusammen mit dem Gedicht Aus hohen Bergen, das Nietzsche seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse beigegeben hatte. Den Lebens-Mittag, von dem Nietzsche spricht, reklamierte der zweiundvierzigjährige Philosophieprofessor offenbar auch für sich, um sich mit Nietzsche als ein Andersgewordener vorzustellen. Zugunsten neuer Freunde legte er den alten Freunden Nietzsches Frage vor: »Ihr wendet euch?« Rudolf Bultmann bestand in seiner verspäteten Antwort vom Dezember 1932 auf der Gemeinsamkeit. Heidegger verbrachte auch damals noch lange Herbstferien im Kloster Beuron; dabei wünschte er sich die Kutte der Mönche für sich, um voll an der Liturgie teilnehmen zu können. Als er Elisabeth Blochmann nach Beuron geführt hatte, mußte er sich gegenüber der liberalen Protestantin verteidigen. Der Katholizismus und der Protestantismus der Zeit bleibe »ein Greuel«, doch werde »Beuron« (in Anführungszeichen!) sich »als ein Samenkorn für etwas Wesentliches« entfalten. Der Protestantin müsse die Complet mehr geben als das Hochamt: »In der Complet ist noch da die mythische und metaphysische Urgewalt der Nacht, die wir ständig durchbrechen müssen, um wahrhaft zu existieren. Denn das Gute ist nur das Gute des Bösen.« Nur aus der Erfahrung dieser Tiefe lasse sich »die Wende des Zeitalters« erzwingen. So schrieb Heidegger am 12. September 1929; doch am 18. September 1932 teilte er mit, daß er nicht nach Beuron gehe. Um seine Arbeit nicht zu unterbrechen, wollte er in seiner Todtnauberger Hütte bleiben. »Und vor allem hier bin ich viel einsamer als im Kloster.« Als Heidegger über Anaximander und Parmenides als »Anfang« des abendländischen Denkens las, verwies er nach einem Treffen in Weimar und einem Streit »über die politischen Dinge« am 11. Juni 1932 auf Hölderlins Wort: »Doch Menschen ist Gegenwärtiges lieb«. Der Vers steht in Hölderlins Hymne Die Wanderung. Dieses Gedicht erinnert an eine alte Sage. Ein »deutsches Geschlecht« sei einst zum Schwarzen Meer gezogen, habe sich dort mit einem anderen Volk verbunden, und aus dieser Hochzeit seien die Griechen entstanden. Nicht nur der Kirschbaum, der Pfirsich und die Schwalbe kämen von Griechenland; auch die dortigen Menschen seien den Deutschen verwandt, und so lädt Hölderlin um der Gegenwärtigkeit willen die Grazien und Charitinnen Griechenlands in die deutschen Lande.

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Am 19. Januar 1933 schrieb Heidegger an Elisabeth Blochmann aus einem Urlaubssemester heraus, er habe die vollen Segel seines Denkens einem großen Sturm ausgesetzt; dabei sei »vieles von der alten Takelage zu Bruch und Riß gegangen«. Heidegger bedankte sich deshalb verspätet für den Weihnachtsgruß »mit schönen Aufnahmen aus Griechenland«: »Die Trümmer der griechischen Tempel und Götterbilder sind wie die Reste und Fetzen der alten Sprüche ihrer Philosophen.« Gerade am Trümmerhaften entzünde sich der »Kampf der Aneignung«. Der Anfang, von Dunkel und Fragen umstellt, müsse »in seiner ganzen Größe« «^getragen werden nach vorn in das, was »Auftrag« werden solle. Die »Heutigen« würden als »Gezwerge« weggefegt (wie Heidegger mit Nietzsche sagte). Zur Kunst der Griechen traten aber auch wenige ausgewählte Werke moderner Kunst. Als Heidegger im März 1930 in Amsterdam Vorträge hielt, sah er erstmals in einer Ausstellung Bilder von Vincent van Gogh im Original. Als er im Oktober 1930 in Bremen über das Wesen der Wahrheit sprach, fuhr er von dort nach Worpswede, um Bilder von Paula Modersohn-Becker zu sehen und das Grab der Malerin auf dem hochgelegenen Friedhof zu besuchen. Als er von Elisabeth Blochmann Rodins Testament bekam, schrieb er am 5. Oktober 1932, Worte des Bildhauers (z. B. »Arbeiten mit unerbittlicher Wut«) hätten mitten in seine Stimmung getroffen und ihn im Innersten angesprochen. Als Heidegger im März 1933 Jaspers besuchte, kaufte er diesem eine Platte mit gregorianischer Kirchenmusik, die man sich anhörte. Angesichts des schnellen Fortschreitens der nationalsozialistischen Machtergreifung sagte Heidegger: »Man muß sich einschalten«. Vergeblich suchte auch Jaspers zuerst noch zugunsten der »aristokratischen Universität«, die er mit Heidegger geplant hatte, tätig zu werden, nämlich die Universität konsequent auf das Führerprinzip umzustellen. 68 Am 30. März 1933 schrieb Heidegger an Elisabeth Blochmann, das Geschehen (also die konsequent fortschreitende nationalsozialistische Machtergreifung) habe für ihn »eine ungewöhnliche sammelnde Kraft«. Die »Berufung des Deutschen in der Geschichte des Abendlandes« lasse sich nur finden, wenn sich die Deutschen »dem Sein selbst« in neuer Weise aussetzten. Heidegger forderte gegenüber der ersten nur politischen Revolution die Vorbereitung einer zweiten und tieferen. In verhängnisvoller Verblendung stellte er sich als Rektor der Freiburger Universität und der nationalsozialistischen Universitätspolitik zur Verfügung. Als er mit seinen Bestrebungen gescheitert und vom Rektorat zurückgetreten war, las er im Sommer 1934 nicht wie angekündigt über Staat und Wissenschaft, sondern über Logik. Doch suchte er zu zeigen, daß der Mensch vom Tier verschieden sei, weil er innerhalb der Völker und Staaten seine Ge68 Vgl. das Heidegger-Kapitel in der Autobiographie von Jaspers sowie die Dokumentation im Briefwechsel Heidegger-Jaspers (s. Anm. 65). S. 259 ff.

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schichte wissend bestehe. Die Kunde, die er immer auch von der Geschichte habe, breche auf im weltbildenden Urgeschehnis der Sprache, also des logos. Heidegger sagte in dieser Vorlesung auch, daß die Geburtsstunde Albrecht Dürers in sich Geschichte sei.69 Die Hölderlin-Vorlesung des folgenden Semesters zeigte aber, daß nur ein Dichter wie Hölderlin jenes Wort geben kann, das den Raum öffnet für eine neue Politik und eine neue Religiosität, so daß auch die bildende Kunst ihren Ort findet. Sitte und Brauch setzen die »Götter« im Tempel und im Bild voraus; Tempel und Bild setzen »jene großen Einzelnen« voraus, die »wissend-schaffend die Anwesenheit und Abwesenheit der Götter unmittelbar aushalten und im geschaffenen Werk zum Austrag bringen«. So nennt Heidegger als die »eigentlich Schaffenden« die Dichter, Denker und Staatsschöpfer. Mit Hölderlin geht er davon aus, daß aus der Dichtung (im ursprünglichen Sinn des Mythos) das sittliche Leben und die politische Tat, die bildende Kunst und Denken wie Dichten im engeren Sinn entspringen. So wird das Dasein die »Ausgesetztheit in die Übermacht des Seyns«. Zeigt diese Übermacht sich als das Heilige, dann soll »Göttliches« auf den Bahnen der Menschen Heil und Unheil unterscheiden. Heidegger hatte die Philosophen immer wieder mit Piaton aufgefordert, keine Mythen zu erzählen. Als er 1928 Ernst Cassirers Buch Das mythische Denken besprach, ging er aus von Schellings Philosophie der Mythologie. Die Mythologie der Völker, gerade auch der primitiven Völker, stand im Blick, wenn die Mana-Vorstellung als das Übermächtige aufgefaßt wurde, das zur Unterscheidung des Heiligen vom Profanen führt. Nietzsche lehrte dann, daß geschichtliche Größe nur in einer von Mythen umgrenzten Welt möglich sei. Als Hölderlin zur Entscheidung wurde, ging es um den Mythos, sofern dieser im ausgezeichneten dichterischen Wort lebt und eine neue Zukunft gewinnt. In Heideggers Vortragsreihe Der Ursprung des Kunstwerkes sind Hölderlins Hymnen an die Stelle des gregorianischen Chorals getreten; das hymnische Sprechen führt die Chorlieder der sophokleischen Antigone fort und verwandelt die Tragik der Griechen in eine Erfahrung von Geschichte. Der Tempel von Paestum (welcher eigentlich?) wird genannt; der Tempel im zerklüfteten Felsental, wie Heidegger ihn beschreibt, könnte der Tempel von Bassae sein, der durch Fotographien bekannt war. Heidegger datiert den Vortrag, der zur Reihe von drei Vorträgen wurde, auf die Jahre 1935-36; einmal nennt er auch die Jah-

69 Vgl. Lögica. Lecciones de M. Heidegger. Hrsg. von Victor Farias. Madrid 1991. S. 120 ff, 42. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«. (Gesamtausgabe Band 39). Frankfurt a. M. 1980. S. 98, 51, 120, 31. - Zur Kritik an Heideggers Mißdeutung der politischen Sphäre vgl. Heidegger und die praktische Philosophie. Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Frankfurt a. M. 1988.

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reszahl »1934 ff.« als Hinweis auf die Arbeitszeit. 70 Schon am 20. Dezember 1935 sandte er einen Vortrag an Elisabeth Blochmann nach Oxford in die Emigration und schrieb, er stamme »aus der glücklichen Arbeitszeit der Jahre 1931 und 32«, wohin er jetzt »den gereifteren Anschluß wieder voll erreicht habe«. Gemeint ist damit keine Datierung, sondern nur dieses, daß die Grundgedanken 1931/32 gefunden wurden. Auch die erste Ausarbeitung versteht sich ausdrücklich als Vortrag; man arbeitet einen Vortrag normalerweise aber nicht mehrere Jahre vor dem Datum aus, an dem er gehalten wird. Der Vortrag spricht vom Ankommen und Ausbleiben der Götter; Hölderlin erscheint als der Dichter, der in der Kehre von Entwurf und Zuwurf steht und zeigt, daß den Deutschen große Entscheidungen aufgespart sind. Die Hölderlin-Vorlesung vom Winter 1934/35 ist sicherlich vorausgesetzt. Die zweite Fassung des Vortrags beginnt thesenhaft und stellt pädagogisch einprägsam das Beispiel des Tempels heraus; die Hölderlin-Thematik wird etwas zurückgedrängt. Die dritte, die Frankfurter Vortragsfolge beginnt mit der Thematik der Kant-Vorlesung vom Winter 1935/36, der Erörterung des Dingbegriffes. Schon die Weise, wie Heidegger sich auf den griechischen Tempel bezieht, ist eine Stellungnahme gegen die Kunst, sofern diese mit der Ästhetik als der Lehre vom Schönen verknüpft und damit jener Metaphysik zugerechnet wird, die nach Heidegger mit Piatons Ideenlehre beginnt. Der Tempel, wie Heidegger ihn beschreibt, zeigt keine »klassischen« Formungen, die dann im Hellenismus ausgestaltet, über Renaissance und Klassizismus der Neuzeit übermittelt wurden (so daß noch Sullivan ein Hochhaus nach den Gestaltungsgesetzen einer Säule mit Basis und Kapitell bauen konnte). Der Tempel wird durchaus unklassisch gesehen, wenn in ihm die Erde sich im zerklüfteten Felsental (wie beim Apollontempel von Bassae in Arkadien) öffnet zur Welt und damit das Leben einer Polis bestimmt. Dieses Werk ist so sehr von seinem abgründigen Wirken her gesehen, daß nicht verständlich wird, wie die Griechen Mathematik für den Tempelbau einsetzen konnten. Dagegen wird vorausgesetzt, daß Nietzsche und Bachofen zur griechischen Frühe zurückdrängten oder der Deutsche Werkbund Materialien wie Stein und Holz neu entdeckt hatte. Der Tempel oder ein Tempel von Paestum kann mit dem Bamberger Dom zusammentreten. Wenn Heidegger am Schluß des Aufsatzes mit Hölderlins Hymne Die Wanderung das Bleiben am Ursprung fordert, dann wird deutlich, daß die Griechen nur zu Gast geladen sind in die eigene Geschichte. Ein Maler wie Vincent van Gogh zeigt, daß Kunstwerke wie griechische Tempel oder die Dome des Mittelalters uns 70 Vgl. die »erste Ausarbeitung«: Heidegger Studien 5 (1989). S. 5 ff; zur Datierung »1934 ff.« vgl. Heidegger Studien 6 (1990). S. 5. Offensichtlich wird die HölderlinVorlesung zusammengefaßt mit der Besinnung auf den Ursprung des Kunstwerkes. Vgl. Anm. 12.

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fehlen. Doch auch das Bild van Goghs »spricht«, aber nicht mehr als ein Werk, das im Mythos und im Leben eines Volkes geborgen ist. Das Bild ist aus Museen, Ausstellungen und Abbildungen bekannt; doch entfaltet Heidegger nicht den Sinn des Museums als eines Ortes der Aufbewahrung von Kunst. Im Wintersemester 1936/37 wurde Heideggers Vorlesung Nietzsche. Der Wille zur Macht zur Auseinandersetzung mit Nietzsches Sicht des Menschen vom Künstler her. Leitend war die Überzeugung, daß die Kunst mehr wert sei als die Wahrheit, nämlich der Lebenssteigerung und nicht nur der Lebenssicherung diene. Während Hegel die Kunst der Religion und Philosophie unterordne und mit ihrem »Ende« dem Nihilismus überlasse, suche Nietzsche in der Kunst die Gegenbewegung gegen den Nihilismus des abendländischen Platonismus. Nietzsches Kritik an Richard Wagner wird übernommen; doch wird auch eine Musik »im strengen Stile Bachs« zurückgesetzt gegenüber der griechischen Tragödie. Diese Musik (die doch der christlichen Liturgie folgt!) sei kein »Erkennen«, trage nicht »die Werkwerdung des eigentlichen Wissens, des wesentlichen Bezuges des Geistes zum Sein selbst« in sich. Die Vorlieben der Jahre um den Ersten Weltkrieg - Musik des Mittelalters, Shakespeare, Rembrandt und Dostojewski - sind ferngerückt. Heidegger zitiert Nietzsches Spott darüber, daß die Deutschen mit dem Griechischen zugleich Shakespeare hatten aufnehmen wollen. 71 (Die Parmenides-Vorlesung vom Winter 1942/43 formulierte diese Abwehr dann so: »Aischylos - Sophokles auf der einen und Shakespeare auf der anderen Seite sind unvergleichbare Welten. Der deutsche Humanismus hat dieses Unvergleichbare ineinandergemischt und das Griechentum vollends unzugänglich gemacht. Goethe ist ein Verhängnis.«) In einer der Passagen, die Heidegger 1961 in den beiden Bänden Nietzsche gestrichen hat, gibt Heidegger die nunmehr leitende Überzeugung an: »Nietzsche war außer Hölderlin der einzige gläubige Mensch, der im 19. Jahrhundert lebte.« Die Demokratie wird dann als der geschichtliche Tod Europas angesprochen, nämlich als Fortsetzung des hellenistischen Sklavenaufstandes gegen alles Anfängliche und Große. Nietzsches Wort »Gott ist tot« soll dem Gott der Metaphysik gelten. Das »Handeln-können nach dem Wesen des Seins«, zu dem Nietzsche führe, aber sei »die Bereitung der Bereitschaft für die Götter, das Ja zum Sein«. Auch Heidegger setzte die Geschichte der abendländischen Ästhetik oder der Lehre vom Schönen mit der Geschichte der Philosophie der Kunst gleich (obwohl der Neuplatonismus Jahrtausende dafür brauchte, daß der Deutsche 71 Vgl. Heidegger: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst (Gesamtausgabe Band 43). Frankfurt a. M. 1985. S. 107, 159; Heidegger: Nietzsche. Pfullingen 1961. Band 1. S. 150. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Parmenides (Gesamtausgabe Band 54). Frankfurt a. M. 1982. S. 108; Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. S. 192 f, 274.

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Idealismus das Schöne der Kunst als Erfüllung des Schönen überhaupt fassen konnte). Heidegger legt die Geschichte dieser Ästhetik und Kunstphilosophie auf sechs Tatsachen fest. 1. Die große griechische Kunst blieb ohne eine begleitende denkerisch-begriffliche Besinnung. 2. Die Ästhetik begann bei Piaton und Aristoteles erst dann, als die große Kunst der Griechen schon zu Ende war. 3. In der Ästhetik rückte die Zuständlichkeit des Menschen in den Vordergrund, so daß die Ästhetik neuzeitlich von der Sinnlichkeit und dem Gefühl her ihren Namen bekam. 4. Die Ästhetik erreichte ihre Vollendung in Hegels Lehre, für uns sei jene große Kunst etwas Vergangenes, welche das Göttliche als die höchsten Interessen angemessen darstellte. 5. Im neuen Gesamtkunstwerk, wie Richard Wagner es versuchte, blieb das Dionysische der »unendlichen Melodie« ohne die Bändigung und Gestaltung des Apollinischen. 6. Nietzsche, der diesen Irrweg Wagners bekämpfte, suchte in anderer Weise in der Kunst die Gegenbewegung gegen den Nihilismus des Piatonismus und des Christentums als des Piatonismus' für das Volk. - Heidegger erörtert, wie Piaton das Seiende als Abbild des Urbildes oder der Idee gefaßt hatte und wie das Bild des Malers, aber auch die Aufführung einer Tragödie zum Abbild des bloßen Abbildes erklärt wurde. Doch weist Heidegger darauf hin, daß die beginnende Neuzeit hier eine Wandlung einleitete: Erasmus sagte, der Maler Dürer zeige ein Ding nicht nur aus seiner jeweiligen Lage und von einem vereinzelten Anblick her! Damit sei unterstellt, daß Dürer das Einzelne in seiner Einzigkeit wiedergebe, z. B. den Hasen in seinem Hasensein. 72 Im Kunstwerk-Aufsatz zitierte Heidegger Dürers Wort, die Kunst stecke in der Natur, müsse aus dieser herausgerissen werden. Die antike und mittelalterliche Schönheitsmetaphysik wurde hier durch den Bezug der Kunst auf die Natur ersetzt. Alfred Baeumler hatte damals in seiner Ästhetik Dürers Kunstauffassung geschichtlich verständlich gemacht und auf den Satz konzentriert, den Heidegger anführte. Im Winter 1936/37 hielt Heidegger auch ein Seminar über Schillers Briefe über die ästhetische hung, in denen das Verhältnis der Kunst zur Natur auf die Erfahrungen bezogen wurde, zu denen die scheiternde Französische Revolution führte. Offensichtlich bewegte Heideggers Denken sich nun in einem neuen Umfeld: Er versuchte keine phänomenologische Ästhetik mehr, weder im ontologischen Sinn von Roman Ingarden noch von einer Deutung des ästhetischen Aktes her, wie Oskar Becker es in der Husserl-Festschrift tat. Alfred Baeumler hatte den Weg nachgezeichnet, der von Hölderlin zu Nietzsche und Bachofen führte (was Heidegger am 25.5.32 gegenüber Elisabeth Blochmann lobte). Mit Baeumler machte Heidegger 1932 eine Wanderung durch den Böhmerwald, und

72 Vgl. Heidegger: Nietzsche (s. Anm. 71). S. 217. - Zum folgenden vgl. Alfred Baeumler: Ästhetik. Neudruck der Ausgabe von 1934. Darmstadt 1972. S. 73 ff.

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mit ihm zusammen stellte er sich dann in den Dienst der nationalsozialistischen Revolution. Doch Ende 1933 kam es aus ungeklärten Gründen zum Bruch und zur Feindschaft. Wenn Baeumler dann zu dem nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg ging, war die Gemeinsamkeit mit Heidegger aufgehoben. Doch die Parallelität bestimmter Grundtendenzen hielt sich durch. Am 11. August 1934 dankte Heidegger Erich Rothacker für dessen Geschichtsphilosophie, die wie Baeumlers Ästhetik im Handbuch der Philosophie erschienen war. Heidegger lobte den Ansatz bei der »Haltung«, in der die Handlungen sich festigen. Diese Haltung ist bei Rothacker verbunden mit dem »Stil«.73 Von Nietzsche kann Heidegger den »großen Stil« aufnehmen, in dem das dionysische Werden sich mit dem apollinischen Drängen zum Sein, zur Begrenzung und zur Gestalt verbindet. Auch in Heideggers Kunstwerk-Aufsatz führt der Riß, der ins Offene weist, über das Maß und die Grenze zurück zur Gestalt, dem Feststellen der sich einrichtenden Wahrheit als Schönheit. Die Rede vom Stil und von der Gestalt wird aus der Polemik gegen Spengler und gegen die Orientierung der Geschichtserfahrung an der Kunstwissenschaft herausgenommen. Die konkrete Beschäftigung mit der Kunst führt zu einer neuen Bestimmung der Grundbegriffe. Wenn Heidegger zum Tempel von Paestum den Dom von Bamberg stellte, dann tat er das in einer Zeit, in der der Bamberger Reiter den deutschen Menschen darstellen sollte. Heidegger konnte sich auf einen Kunsthistoriker wie Hans Jantzen stützen. Er hat festgehalten, daß die »Ergiebigkeit der Gespräche mit Hans Jantzen« ihm in seiner Arbeit »etwas Einzigartiges« gewesen sei (auch beim Begräbnis des Freundes 1977 hat Heidegger an die letzten Gespräche in der langen Freundschaft erinnert). Heidegger lobte etwa den Vortrag von 1927 Über den gotischen Kirchenraum, aber auch das Buch über die deutschen Bildhauer des dreizehnten Jahrhunderts. Hans Jantzen hat schon die ottonische Kunst entschlüsselt, die Heidegger auf der Reichenau nahekam. Zwar schrieb Heidegger noch am 21.12.28 an Jaspers, die »Deutschheit« Jantzens sei »recht harmlos«; doch Anfang März 1933 brachte er der Familie Jantzen als Gastgeschenk ein Buch über Hermann Göring mit. Jantzens Schrift Geist und sal der deutschen Kunst von 1935 versteht die deutsche Kunst als Kunst eines Volkes und endet mit einem Wort Hitlers über die Mission der Kunst. Bei Jantzen konnte Heidegger sich orientieren und eine Ergänzung seiner Arbeiten finden; doch hatte er auch Freunde anderer Art. 74 Spätestens seit den Davoser 73 Vgl. Heideggers Brief an Rothacker vom 11.8.1934, in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992-93). S.223f. 74 Vgl. Dieter Jähnig, in: Erinnerung an Martin Heidegger. Hrsg. Von Günther Neske. Pfullingen 1977. S. 135 f. - Zum folgenden vgl. Hugo Ott (s. Anm. 48). S. 146 f. Die Gedenkrede für Jantzen jetzt in Heidegger: Reden... (s. Anm. 50). S. 687 ff. - Zum

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Hochschulwochen stand ihm der Nietzscheaner und Universitätspolitiker Kurt Riezler nahe. In Riezlers Traktat vom Schönen von 1935 finden sich Parallelen zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz. Von Heraklit her wird gesagt, die physis liebe es, sich zu verbergen, und lasse die Menschen in ihren Fugen taumeln; wie jede einzelne Fuge zum verborgenen Gefüge gehöre, zeige die Kunst. Wenn Heidegger die Gestalt vom Fügen eines Risses in ein Gefüge her versteht, dann formuliert er ähnlich wie Riezler. Dieser verließ das nationalsozialistische Deutschland und hat dann in den Vereinigten Staaten von Amerika kontinentaleuropäische Philosophie vertreten. Heidegger nimmt Nietzsche nicht nur vom Rückverweis auf das früheste griechische Denken und auf die Kunst als Lebenssteigerung her auf. Er weist es aber auch ab, mit Stefan George in Nietzsche den Wanderer zu sehen, der sich in Eis und Hochgebirge verirrte. Nietzsches »große Politik« mag Heidegger zeitweilig zu Hitler geführt haben; Heidegger nimmt aber Nietzsche nicht wie Alfred Baeumler vorzüglich als politischen Wegweiser. Er kann es Jaspers nicht zugestehen, daß Nietzsche wie der Antipode Kierkegaard nur zum Existieren aufrüttele. Heidegger folgt Nietzsche in dessen einsamste Einsamkeit zum Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die zweite Nietzsche-Vorlesung vom Sommer 1937 fragt nach Nietzsches »metaphysischer Grundstellung im abendländischen Denken«, indem sie den Weg zur Lehre von der ewigen Wiederkehr nachzeichnet. Nietzsche zieht also nur die Konsequenzen aus dem metaphysischen Ansatz des abendländischen Denkens. Wenn er »Gott« überwinden will, dann trifft er nach Heideggers Auffassung nur den »moralischen« Gott. Diesem Gott der Philosophen folgt Piaton, indem er das Seiende dem Maßstab der Idee unterwirft und die Ideen in einer Idee der Ideen, dem in sich ruhenden Göttlichen, festmacht. Dem christlichen Glauben wird dieser Gott zum Vater, »zu dem man sich rettet«, zur Persönlichkeit, »mit der man verhandelt«, zum Richter, »mit dem man rechnet«, zum Belohner, »durch den man sich für seine Tugenden bezahlen läßt«. Die Verbindung des christlichen Glaubens mit dem metaphysischen Gott bedeutet für Nietzsche keine Vollendung als Erfüllung. Denn an die Stelle von Hegels absoluter Vernunft ist längst der »soziale Instinkt«, der »unendliche Fortschritt« und »das Glück der meisten« getreten.75 Nietzsche aber hat das Ereignis des Weltkrieges (dessen Fortsetzung unmittel-

folgenden vgl. Gabriella Baptist zu Riezler und Heidegger: Die Aufgabe des Möglichen und die Erforderlichkeit des Unmöglichen. In: Metaphysik der praktischen Welt. Hrsg. von Andreas Großmann und Christoph Jamme. Amsterdam 2000. S. 188 ff. 75 Vgl. Heidegger. Nietzsche (s. Anm. 71). S. 321. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen (Gesamtausgabe Band 44). Frankfurt a. M. 1986. S. 188 f.

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bar bevorstand) vorweggenommen: daß Freunde wie Feinde in ihrem zerstörerischen Kampf gegeneinander den gleichen Gott und seine Ableger bis hin zur Moral und Vernunft, zur Demokratie und zum Sozialismus, zum Fortschritt und zur Kultur anriefen. Nietzsche führte aus dieser Verwirrung aber nur heraus, indem er den Nihilismus als Entwertung der Werte annahm, um das Sinnlose zum ewig Wiederkehrenden zu erklären. Damit folgte er der metaphysischen Tradition, in der das Denken sich durch etwas Beständiges absichern will. Nietzsche entfaltete keine Phänomenologie der Zeit; aber er dachte die ewige Wiederkehr aus dem Augenblick: Im Tor des Augenblicks treffen Vergangenheit und Zukunft zusammen; doch haben sie sich zum Kreis der Wiederkehr gerundet. Der Gedanke der Wiederkehr »kam« Nietzsche »6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit« bei einem mächtigen Felsblock am See von Silvaplana. Nach Heidegger zieht Nietzsche damit nur die Konsequenz aus dem Ansatz des abendländischen Denkens: Dieses sucht im Seienden das beständige Sein; am Ende dieser »Metaphysik« vollzieht der Wille der ewigen Wiederkehr die Beständigung. Die Metaphysik läuft aus in einer universalen technischen Verfügung über das Seiende, in das der verfügende Mensch selbst eingeschlossen ist. So muß Heidegger den Nietzscheanismus Ernst Jüngers aufnehmen, der sich der Mobilisierung aller Bestände durch den Arbeiter stellte. Heidegger kann deshalb eine Bemerkung über drei Stellungen zur Technik in seine Vorlesung einfügen: Einerseits baut man die Technik in die praktisch politischen Notwendigkeiten ein (im Nationalsozialismus, programmatisch im Leninismus, aber auch im Amerikanismus), andererseits zeigt Ernst Jünger, wie man sich mit der Raserei der Technik abfindet. Demgegenüber sucht Heidegger selbst das metaphysische Wesen der Technik herauszuheben und dabei zu zeigen, daß sich in der Technik die (metaphysische) »Entgöttlichung des Seins« austobt. 76 Nietzsches Zarathustra, der den Untergang des Sokrates in anderer Weise wiederholt, zeigt diese Tragödie des abendländischen Denkens auf. Sieht man den Untergang des Sokrates und Nietzsches Weg als Tragödie, dann kann diese Tragödie uns einen anderen Anfang lehren. Wie sehr Heidegger Nietzsche als Konsequenz der abendländischen Tradition versteht, zeigt der Schluß der Vorlesung. Er interpretiert Nietzsches »Amor fati«: »amor« meine die Liebe als den Willen, »der will, daß das Geliebte in seinem Wesen sei, was es ist«; das »fatum« sei dann nicht mehr das Verhängnis, sondern die Not-wendigkeit, die im Augenblick die Ewigkeit hervortreten lasse und so 76 Vgl. Heidegger. Nietzsches metaphysische Grundstellung... (s. Anm. 75). S. 99. Wolfgang Müller-Lauter nimmt den Bezug der Wiederkehr zur Technik auf, faßt den Willen zur Macht aber mit Vattimo und dem französischen Nietzsche-Bezug als eine Pluralität mit vielen Perspektiven: Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III. Berlin / New York 2000. S. 294 f, 301 ff.

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die Not wende. Die Augustinus-Vorlesung vom Sommer 1921 hatte aufgenommen, wie der Kirchenvater den ersten Brief des Johannes auslegte. Nach diesem Brief wissen wir vom Geborgensein in der Liebe Gottes, weil wir den Nächsten lieben, nämlich ihm von Gott her seinen Platz lassen. Die Eigenliebe zehrt das Du auf (in diesem Sinn »lieben« wir z. B. Krammetsvögel). Die eigentliche Liebe hat dagegen »die Grundtendenz auf das dilectum, ut sit, Liebe ist also Wille zum Sein des Geliebten«. Heidegger hatte vorher die Predigten des Bernhard von Clairvaux über das Hohe Lied der Liebe interpretiert, und offensichtlich las er Augustin im Lichte der Bernhardinischen Mystik. 77 Als Hannah Arendt über Augustinus promovierte, schrieb Heidegger am 11.1.28 an Elisabeth Blochmann, Augustinus interpretiere »einmal« die Liebe durch »Volo ut sis« als »innerste Freiheit des Einen zum Anderen«. Hannah Arendt gebraucht noch in ihrem Nachlaßwerk die Formel »amo: volo ut sis«, ohne sie als Zitat genau nachzuweisen. (Ein Text: »Amo: volo ut sis« wird für den Band 81 Gedachtes der Heidegger-Gesamtausgabe angekündigt.) Nun will der junge Augustin Gott und die Seele lieben; er kann Dialoge führen, weil er die Seele als Vernunftseele in den Freunden findet. Schließlich gilt bei ihm immer mehr, daß der andere Mensch nur zu gebrauchen (uti) ist; Gott allein ist zu genießen (frui). Die Liebe spielt zwischen den Personen der Trinität. Heidegger kritisiert die neuplatonische Wendung bei Augustinus; bleibt aber nicht auch bei ihm die »mitweltliche Liebe« im Hintergrund? Schon die Hölderlin-Vorlesung vom Winter 1934/35 interpretiert Hölderlin von Nietzsche her; Nietzsche wird mit seinem Satz: »sei selig und thue dann, wozu du Lust hast«, von einer berühmten Formulierung Augustins her gelesen.78 Die Liebe ist bei Nietzsche nicht mehr das Maß, dem das Seligsein unterstellt ist; die Lust oder voluptas drängt sich als das Maßgebende vor. Doch sucht Heidegger die augustinische Tradition mit Nietzsche zusammenzuführen. In den Jahren 1936 und 1937 faßte Heidegger zusammen, was ihm als »Gedanken-Gang« seit 1929 zugewachsen war. Die Beiträge zur Philosophie liefen skizzenhaft aus; ein Abschnitt Das Seyn versuchte 1938, »das Ganze noch einmal zu fassen« (514).79 Heidegger hatte von Leibniz und Schelling die Frage aufge-

77 Vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 59). S. 291 f, 334 ff. Zum folgenden vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. München/Zürich 1979. Band 2. S. 102. 78 Vgl. Heidegger. Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (s. Anm. 69). S. 286; vgl. auch Heidegger: Nietzsche (s. Anm. 71). Band LS. 49o. - Zur Kritik vgl. Otto Pöggeler: Anderheit, Unendlichkeit, Zeit. Die Wahrheitsfrage bei Levinas. In: Facetten der Wahrheit. Festschrift für Meinolf Wewel. Hrsg. Von Ernesto Garzön Valdes und Ruth Zimmerling. Freiburg/München 1995. S. 151 ff. 79 Hier und im folgenden verweisen Ziffern im Text auf die Seiten von Heidegger: Beiträge zur Philosophie (s. Anm. 10).

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nommen: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« Indem er das Wort »Nichts« groß schrieb, verwandelte er das Fragen: Warum drängt sich uns das Seiende auf, warum bedrängt uns nicht das Nichts als Entzug? Das Sein gibt den Grund an, von dem her wir Seiendes verstehen; so bringt es die Wahrheit über das Seiende. Kann man keinen Grund dafür angeben, warum diese Wahrheit aufbricht im Verstehen des Seienden durch den Menschen, dann ist das Sein als Grund auch das Wegbleiben des Grundes oder der Abgrund. Der Abgrund zeigt sich zugleich als Ungrund: Die Wahrheit, das Gegründetsein des Seienden, erscheint als etwas Selbstverständliches; damit wird verstellt, daß das Aufbrechen der Wahrheit ein unverfügbares Geheimnis und dazu unerschöpflich bleibt (31, 77,308). Die Erörterung der Kunst war zum Leitfaden der Frage nach der Wahrheit geworden, weil jedes Kunstwerk Wahrheit für die Gemeinschaft eines Volkes ins Werk setze, dabei aber geheimnisvoll und unerschöpflich bleibe. Die Beiträge zur Philosophie gehen von diesen Erörterungen aus, um sie zu vertiefen und zu korrigieren. So wird sofort gefragt, ob das Ins-Werk-setzen als »Einrichtung« der Wahrheit im Seienden jener Bergung Genüge tue, die gerade das Verbergen zu bergen suche, nämlich durch ein »Erschweigen« (71, 78 ff). Zugleich wird unsicher, ob noch vom Volk als der tragenden geschichtlichen Gemeinschaft und gar von seiner »Stimme« gesprochen werden könne (42, 319). Der Gedankengang der Beiträge vollzieht sich in sechs Schritten, nämlich in den Abschnitten Der Anklang, Das Zuspiel, Der Sprung, Die Gründung, Die Zu-kunftigen, Der letzte Gott. Heidegger setzt ein mit der Frage, ob die technisierte Welt überhaupt noch das Sein und damit die Frage »Warum überhaupt?« anklingen lasse. Heidegger bezieht sich auf Max Webers Deutung der europäischen Geschichte als einer fortschreitenden Entzauberung durch Wissenschaft und rationale Ökonomie. Diese Entzauberung sei eine Verzauberung durch jene Macht, die sich im Glauben an die Machbarkeit von allem durchsetze und mit der unverbindlichen Erlebnissteigerung verbinde. Das Zeitalter der »Zivilisation« als Verzauberung ist für Heidegger das Zeitalter einer völligen Fraglosigkeit und Verzauberung in der »Behexung durch die Technik« (107, 124). Ernst Jüngers »totale Mobilmachung« aller Bestände, die den nötigen »neuen Schlag des Menschen« für sich erst prägen muß, sei aber nur die »Gegenfolge« gegen die »Aushöhlung aller bisherigen Gehalte der noch bestehenden Bildung« und bleibe ohne Zielsetzung und Anfang (143). Der bolschewistische Materialismus und Technizismus, die Vierjahrespläne und die Verabsolutierung des Volkes im Nationalsozialismus, aber auch der Amerikanismus erscheinen als bloße Varianten einer geschichtlichen Tendenz, die für ihre Vollendung »noch Jahrhunderte in Anspruch nehmen kann« (148 f). Ein »Zuspiel« seiner Frage erwartet Heidegger vom ersten Anfang des Denkens, aber auch vom Deutschen Idealismus, vor allem von der Unterscheidung

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zwischen dem Grund in Gott und dem, was er selbst ist, in Schellings Freiheitsschrift. Doch ist es Nietzsche, der mit seiner Frage nach der Rangordnung dieses Zuspiel in die Entscheidung stellt. Die Auseinandersetzung zwischen dem Herrn und dem Knecht führt zurück zum polemos Heraklits; der Herr weiß um die Anfänge, die im Sklavenaufstand auf Gleiches hin nivelliert werden (224). Nur ein »Sprung« kann neuen Boden gewinnen. Dabei wird der Tod zum »höchsten Zeugnis« jenes »Seyns«, das als Wahrheit des Seins selbst durch die alte Schreibung vom Sein des Seienden unterschieden wird. Allein der Mensch steht vor dem Tod, doch hält Heidegger (gegen die metaphysische Theologie) fest, daß in der Erfahrung des Seyns das Sterben eines Gottes der »furchtbarste Jubel« ist (230,284). Die »Gründung« muß die Wahrheit als ZeitSpiel-Raum fassen, so aber als Lichtung für das Sichverbergen. Indem das Abgründige, das sich nicht Öffnende, das Sichverbergen eigens geborgen wird, wird der Entzug zur Schenkung (293). Die Wahrheit ist nicht bloße Offenheit des Seienden; in sie ist die Frage nach dem Heil eingeschlossen, das den sterblichen Menschen vom Übermächtigen des Göttlichen geschenkt wird. Zum Streit der sich verschließenden Erde und der offenen Welt tritt die Entgegnung der Götter und Menschen, die sich gegenseitig in ihr Wesen heben. In der Eignung des Ereignisses wird Göttliches übereignet und der Mensch ihm zugeeignet (310 f, 320). Die Menschen verwandeln sich in die »Zukünftigen« für den Vorbeigang des »letzten Gottes«. Der letzte Gott ist nicht der Letzte in einer Reihe; vielmehr hebt er das Wesen des Göttlichen ins Letzte und Höchste, nur da zu sein an seinem Ort und zu seiner Stunde. Die Ewigkeit des Göttlichen liegt im Augenblick, der sich zurücknehmen kann, und so im Vorbeigang. Wenn sich Heidegger im Vorblick zu Weltanschauungen wie Liberalismus, Bolschewismus und Christentum in einen Gegensatz stellt, faßt er die Frage nach dem Seyn als Rettung des Abendlandes. Auf lange Sicht werde diese Frage »den Anschein der Gegnerschaft zum neuen deutschen Willen« verlieren (54). Diese Hoffnung schwindet im Fortgang der Arbeit. Im nachträglich angefügten Abschnitt Das Seyn bürgt nur noch Hölderlin für den Ansatz des einsam gewordenen Denkens. Philosophie kann, so heißt es, das Seyn als Ursprung er-denken, weil Hölderlin mit der Einzigkeit seines Sagens zur Entscheidung und in das Ereignis stellt. Der deutsche Idealismus, die Weltbildgestaltung Goethes, die Romantik und jede »Verklärung« des Seienden seien durch Abgründe von Hölderlin geschieden (463 f, 496). Hölderlin mahnte im Gedicht Stimme des Volkes, nicht in einer Todessehnsucht die »kürzeste Bahn« zum Abgrund zu suchen. Heidegger verkehrt diese Mahnung in eine positive Forderung: Die Metaphysik habe dem Anfang des Denkens die »kürzeste Bahn« und damit den großen und einzigen Augenblick des Schaffens versagt; das Seiende sei des Seyns enteignet worden (196, 120). Der »letzte Gott« aber bringe die längste Geschichte durch den

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Augenblick seines Vorbeigangs in die kürzeste Bahn zurück; doch nur die »großen und verborgenen Einzelnen« könnten seinem Vorbeigang die Stille und unter sich den verschwiegenen Einklang schaffen (414). Heidegger kann das »Volk« nicht als etwas Gegebenes nehmen, vor allem nicht vom »reinen Blödsinn« der Berufung auf eine »Rasse« her (163, 493). Eine Kulturpolitik, die zur angeblichen Rettung des Abendlandes ein Volk in ihre Pflege nimmt, muß zur verfänglichsten Höchstgestalt des Nihilismus werden (140). Heidegger muß auch kritisieren, was Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon und dann nach der Befreiung in seinen Reformen versuchte. Schinkel, der leitende Architekt, führte die Kunsttätigkeit der Griechen auf deren Sinn für Nachruhm zurück. Das Wort »Sinn« meinte bei Schinkel (wie in der Rede vom Urzeigersinn) eine Ausrichtung des Lebens; Heidegger möchte es dagegen auf einen mentalen Zustand und damit auf eine Wendung ins Subjektive festlegen. Heidegger besteht darauf, daß der Agon der Griechen nicht den Rekord suchte; wer im Ruhm (in der doxa) stand, wollte nicht den Nachruhm. Für die hohe Zeit der Griechen beruft Heidegger sich auf Pindar und Frühere (oder auf Pindar und die Tragödie; 360). Piaton wird zum »Nachklang«. Der Ruhm sei schon zur Berühmtheit geworden. Die neuzeitliche Wendung zur Leistung des Genius habe die Kulturpolitik ermöglicht und die Kunst zum Mittel gemacht. In der Tat konnte Schinkel klassisch wie neugotisch bauen; so bereitete er den Historismus vor. Die Griechen waren dagegen noch »unhistorisch«; sie suchten geschichtlich ihre eigene Geschichte. Nach Heidegger waren sie so ursprünglich geschichtlich, »daß ihnen die Geschichte selbst noch verborgen blieb, d. h. nicht zum Wesensgrund der Gestaltung ihres >Daseins< wurde« (506 ff). Heidegger sagt aber nicht, wie eine geschichtliche Gemeinschaft von Menschen ihr Eigenes in der entdeckten Vielstimmigkeit der Geschichte wahren kann. Die Philosophie ist nach dem Abschnitt Das Seyn »jetzt zuerst Vorbereitung der Philosophie in der Weise der Erbauung der nächsten Vorhöfe, in deren Raumgefüge Hölderlins Wort hörbar wird« (421). Auch von dieser vorbereitenden Philosophie verlangt Heidegger »Stil«. Das »sanfte Maß« (von dem Adalbert Stifter sprach) oder der Edelmut eines Adels, der noch Anfängliches kennt, soll zusammengehen mit dem »argen Grimm«, der die nötigen Zerstörungen in der Bereitung eines Neuen übernimmt (69, 325, 400). Das Bergen der Wahrheit als der Unverborgenheit wird auf »Kunst, Denken, Dichten, Tat« bezogen; Möglichkeiten des Bergens werden unterschieden: »denkerisch, dichterisch, bauend, führend, opfernd, leidend, jubelnd« (256,302). Der Schluß der Überlegungen zum Bergen der Wahrheit nimmt die anfänglichen Ausführungen über die Machenschaft auf und stellt Maschine und Technik eigens zur Kunst: Maschine und Industrie reißen heraus aus Heimat und Geschichte, sehen die Menschen von der großen Zahl her

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und lassen sie dem »Kitsch« verfallen (392). Heidegger sieht, daß die eigene Zeit nicht den Weg der Griechen vom Mythos zu den Tempeln und Statuen nachgehen kann. Er wehrt es eigens ab, daß die Wahl des Tempels als Ausgangspunkt im Kunstwerk-Aufsatz etwas mit »Klassizismus« zu tun habe. Vielmehr gehe es darum, die eigene Kunst-losigkeit zu sehen und anzunehmen (504 f). Führt die Bedeutung, die Hölderlins Dichten erlangt, nicht dazu, daß die bildende Kunst aus dem Blick gerückt oder nur als Kunst der Griechen gesehen wird? In dieser Weise hatte Hölderlin eine Zeit lang schon auf seinen Jugendfreund Hegel gewirkt; am Schluß seiner Frankfurter Zeit sprach Hegel im sog. Systemfragment von 1800 davon, daß die Architektur den heiligen Bezirk ausgrenze, so daß die Festprozession ihre Hymnen zu den Statuen aufsingen könne, die göttlichen Mächte in die Herzen der Menschen einkehrten. Was als neue Kunst der Zeit sich durchsetzte (die Malerei, die Instrumentalmusik) wurde vom jungen Hegel nicht genannt. In Heideggers Beiträgen wird allenfalls einmal auf einen Maler angespielt: Man muß an die Bilder von Vincent van Gogh denken, wenn der Denker mit dem Sämann verglichen wird, der auf einsamem Feld »unter dem großen Himmel« mit verhaltendem Schritt die Furchen abschreitet (19). Aufzeichnungen über Kunst, die den Kunstwerk-Aufsatz und die Beitrage voraussetzen, beziehen die Kunst auf die Not eines zweiten geschichtlichen Anfangs und die schlimmere Not der Notlosigkeit. Sie sagen: »Wir haben keine Kunst«. Wir wüßten gar nicht, was Kunst noch einmal sein könne! 80 Damit sagt Heidegger in diesen Jahren implizit, daß ein emigrierter Maler wie Paul Klee mit seinen Werken und seinen Überlegungen für ihn nicht existiert. Als der neue Weltkrieg drohte, warnte Heidegger auch in seinen öffentlichen Vorlesungen davor, daß die Wissenschaften, »in die bloße Technik« abgeglitten, ihre Zielsetzung nur noch in der politischen Nutzung bekämen; diese Verödung müsse zur Katastrophe führen. Heidegger nannte im Sommer 1937 die Chemie als Beispiel, die damals durch die IG-Farben auf den Kriegseinsatz ausgerichtet wurde. 81 In letzter Minute, im Winter 1937/38, organisierte Heidegger einen Freiburger Arbeitskreis aus Dozenten der naturwissenschaftlichen und der medizinischen Fakultät. Sein Einleitungsvortrag Die Bedrohung der Wissenschaft klagte nicht das Universitätsfach Philosophie ein, wohl aber jenes Denken, das

80 Vgl. Heidegger Studien 8 (1992). S. 6 ff, vor allem S. 8. - Vgl. auch die Erörterung von Heideggers erster Hölderlin-Vorlesung durch Iris Buchheim: Wegbereitung in die Kunstlosigkeit. Würzburg 1994. 81 Vgl. Heidegger: Nietzsche (s. Anm. 71). Band 1. S. 374 f. - Zum folgenden vgl. Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Symposium der A. von Humboldt-Stiftung. Hrsg. von Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler. Band 1. Frankfurt a. M. 1991. S. 5 ff, vor allem 27. - Vgl. ferner Heidegger: Grundfragen der Philosophie (Gesamtausgabe Band 45). Frankfurt a. M. 1984. S. 4, 216.

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die Voraussetzungen der wissenschaftlichen Arbeit offenlegt und die kurzschlüssige Rückbindung an die Politik verhindert. Wenn die Deutschen jetzt die Philosophie an den Universitäten mehr und mehr abschafften, um unmittelbar ihr »völkisches Wesen« zu gewinnen, dann sei das »weltgeschichtlicher Selbstmord«. Die Vorlesung vom Winter 1937/38 nannte die üppig geförderten Wissenschaftler »die erbärmlichsten Sklaven der neuesten Zeit«. Der Anfang des griechischen Denkens trat mit der Tragödie zusammen, und so stellte Heidegger auch die eigene Zeit in den Schatten der Scheiternden: »Schiller, Hölderlin, Kierkegaard, van Gogh, Nietzsche«. Heidegger hatte 1933 Wissenschaft und Forschung an der Universität unmittelbar mit dem philosophischen Fragen verbinden wollen. Einer der Mißgriffe in der Führung des Rektorats war gewesen, daß er den Chemiker Staudinger von der Universität hatte entfernen wollen: Der einstige Pazifist war (nunmehr seiner zweiten Frau folgend) über Nacht zum Anhänger des nationalen Aufbruchs geworden. Im Sommer 1938 bekam Staudinger (der 1953 den Nobelpreis erhielt) für seinen Vortrag Vierjahresplan und Chemie den offiziellen Beifall, während Heideggers Vortrag Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik mit Hohn bedacht wurde. Mit den Grundworten Ernst Jüngers hielt Heidegger fest: »Der >Wissenschaftler< drängt von sich aus notwendig in den Umkreis der Wesensgestalt des Arbeiters und des Soldaten.« Die neuzeitliche Wissenschaft sei Philosophie in der Weise, daß sie diese Philosophie verleugne. Der schon gesetzte Vortrag konnte nicht ausgedruckt werden, weil das nötige Papier verweigert wurde. 82 Heidegger erfuhr konkret, was das herrschende Regime von ihm und vom Denken hielt. Schon im Sommer 1937 hatte ein Seminarteilnehmer sich ihm als Spion des Sicherheitsdienstes offenbart.83 Die Vorlesung über Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis vom Sommer 1939 hält Nietzsche selbst heraus aus dem, was von ihm her angestachelt und gefördert wurde: aus der gesteigerten Selbstzergliederung und der maßlosen Veröffentlichung »alles Menschenbetriebes« in »Bild und Ton«, mittels Fotomontage und Reportage in Amerika und Rußland, in Japan und Italien, in England und Deutschland. Doch die Verknüpfung des Willens zur Macht mit der ewigen Wiederkehr verstricke Kunstwerke und Technik, gesellschaftliche und staatliche Organisationen in eine Mobilisierung des Sinnlosen. Von diesem Ende möchte Heideggers Denken sich abstoßen zu einem neuen Anfang, ja in 82 Vgl. Silvio Vietta: Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik. Tübingen 1989. S. 36; die Holzwege sprechen dann vom »Forscher« und »Techniker«. 83 Vgl. Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität / Das Rektorat 1933/34. Frankfurt a. M. 1983. S. 41. - Vgl. dazu Otto Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger. Freiburg/München 1992. S. 203 ff: »Den Führer führen?«

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die Entgegnung zum »Gott des Seins«.84 In der Vorlesung über Nietzsche und den europäischen Nihilismus vom Sommer 1940 ist Nietzsches Denken dann selber die Vollendungsgestalt von jenem Nihilismus, den Nietzsche ankündigte. Mit Nietzsche selbst weist Heidegger darauf hin, daß Nietzsche das Entscheidende überhaupt nicht den Griechen, sondern den Römern verdankte, manches schon Thukydides, mehr aber Machiavelli. Die Kriegsberichterstattung auch mittels wagemutiger Filme sei ein »Faktor der Rüstung«. Der Wille zur Macht gebrauche für die Politik die Kunst ebenso wie Bomben, dazu kitschige Kinos und miserable Radiomusik. Der zusammenfassende Text Nietzsches Metaphysik von 1941 hält mit Nietzsche fest, daß der Kampf um Erdherrschaft »im Namen philosophischer Grundlehren« und damit als Weltbürgerkrieg geführt werde. 85 Die Aufzeichnungen Die Überwindung der Metaphysik von 1938/39 enthalten auch zeitgeschichtliche Bezüge. So parallelisiert Heidegger drei Stellungen in der »vollendeten Metaphysik« (Nietzsches), die dem Wesen der Metaphysik nicht gewachsen sind: die politische Weltanschauung als Biologismus, »das Abenteuer im Elementaren und der Rückgang ins Unzerstörbare« bei Ernst Jünger, die Wendung zum Weltinnenraum und die Anerkennung der Erde bei Rilke. In der Bejahung des Leibes hätten nun »Sauferei und Hurerei« ihre »metaphysische Bestätigung erhalten«; dazu komme noch die »Sumpf->Philosophie< des Herrn Klages«. Vom »Amerikanismus« heißt es: »Grauenhafter als jede asiatische Wildheit ist diese entwurzelte und zur unbedingten Verlogenheit ausgebaute >MoralitätTeufels< als eines gefallenen Engels beschränkt, sondern erst das unbedingte Unwesen Gottes in die Wahrheit des Seienden ein- und ausläßt. Die ausdrückliche Entfaltung der Diabologien steht noch bevor.« Ein eigenes Kapitel »Kunst und Metaphysik« blickt auf die Vorträge über den Ursprung des Kunstwerkes zurück. Dort seien die Bestimmung der Kunst im Bereich der Metaphysik (von Form und Inhalt sowie von der Schönheit her) und die seinsgeschichtliche Auslegung des Wesens der Dichtung »ineinandergeschlungen«. In Wahrheit klaffe da ein »Abgrund«; deshalb sei »der Versuch, durch eine ursprünglichere Auslegung des Kunstwerks die Kunst erneut zu retten, irreführend.« Doch müsse diese »Zwiespältigkeit« im übergänglichen Denken genauso bleiben wie vorher die Fortführung der Seinsfrage

84 Vgl. Heidegger: Nietzsche (s. Anm. 71). Band I. S. 474; Band II. S. 29; zum folgenden Band II. S. 221. 85 Vgl. Heidegger: Nietzsche: Der europäische Nihilismus (Gesamtausgabe Band 48). Frankfurt a. M. 19986. S. 94, 143, 154; Heidegger: Nietzsche (s. Anm. 71). Band II. S. 333. - Zum folgenden vgl. Martiin Heidegger: Metaphysik und Nihilismus. Frankfurt a. M. 1999. S. 1 ff, vor allem S. 113 f, 122, 150, 155, 107 ff.

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in einer »Metaphysik des Daseins«. Nietzsches Auslegung der Kunst als »Stimulans des Lebens« und die Einrichtung der Kunst als Machenschaft »in die Verwüstung des Seienden« zeigte über Hegel hinaus das Ende der Kunst. Freilich werde die Kunst durch Kunstpolitik »in den Schutz der bewußten Lenkung und Unterstützung genommen«. Doch blieben nur »welke Blätter«, die ohne Leben und Wurzelkraft seien und vom Wind in einer vorgetäuschten Bewegung herumgewirbelt würden. Heidegger entfaltet Ansatz und Ziel der Beiträge weiter in dem Manuskript Besinnung von 1938/39. Er beginnt mit einem Zyklus von Gedichten, der 1941 in erweiterter Form als Privatdruck unter dem Titel Winke veröffentlicht und später in den Band 13 der Gesamtausgabe aufgenommen wurde. Dann hält gleich das Textstück 9. Die Machenschaft fest, daß »alle Machthaber« sich gern der unwissenden und ehrfurchtslosen Jugend bedienen, um den Schein eines neuen Aufbruchs durch die nötige Zerstörung zu stützen. Freilich war Heidegger selbst es gewesen, der 1933 die Jugend gegen das Bestehende aufgerufen hatte. Das Textstück 10 sieht die Vollendung der Neuzeit in der Entfaltung von Nietzsches Metaphysik durch Spengler und Jünger: Die Organisation der Massen verlange planetarisch den Arbeiter, der als Raubtier von Caesaren beherrscht werden müsse. Das Textstück 11 setzt die Vollendung des metaphysischen Wesens der Kunst in das Verschwinden des Werkes. Die Natur wie die öffentliche Welt würden vorweg als »Anlage« gefaßt - von Autostraßen, Flugzeughallen, Riesensprungschanzen, Stauseen, Fabrikbauten und Befestigungsanlagen her. »Schön« sei das, »was dem Machtwesen des Raubtiers Mensch gefällt und gefallen muß«. Nur abseitige und zukunftslose »Romantiker« pflegten noch die bisherigen Gattungen der Gedichte, Dramen, Musikwerke, Gemälde, Plastiken. Wenn Ton und Bild sich der Kundgebung und dem Lichtspieltheater fügten, könnten sie nicht mehr mit historisch bekannten »Kunstwerken« verglichen werden. Die wachsende »Güte« des Kunstgewerbes bringe, was für das öffentliche Massenleben geeignet sei. Das Museum speichere nicht mehr Vergangenes, das historistisch durchkostet werde; es sei eingespannt in die Machtkundgebung und die Erlebnisschulung als Abrichtung auf das Geplante. Was als »Leben« zum Ausdruck gebracht werde, sei dann z. B. die »Männlichkeit« in »Riesenmuskeln und Geschlechtsteilen« oder brutal gespannten Gesichtern. Heidegger setzt sich von Hegel und von Nietzsche ab, wenn er darauf besteht, daß die Rede vom InsWerk-setzen der Wahrheit in der Kunst den Vorsprung in eine andere Geschichte gemeint habe. Die Kunst werde dann »eine Entscheidungsstätte der seltenen Einzigen«, das Werk »die Sammlung der reinsten Einsamkeit auf den Abgrund des Seyns« ohne Absicht auf »Ruhm«. Heidegger faßt die Philosophie als Liebe zur Weisheit, die Liebe augustinisch als den Willen, »daß das Geliebte sei, indem es zu seinem Wesen finde und in

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ihm wese« (Nr. 14). Er stellt dem Textstück 47. Wahrheit und Nutzen ein Wort Adolf Hitlers zum 30.1.39, also zur Wiederkehr des Tages der Machtergreifung, voraus. Nach Hitler findet jede Haltung ihre letzte Rechtfertigung im »Nutzen für die Gesamtheit«. Dazu fragt Heidegger, ob die Gesamtheit »eine vorhandene 80 Millionen starke Menschenmasse« in ihrem bloßen Vorhandensein sei. Er stellt vor allem den Maßstab des Nutzens in Frage. Das Textstück 71. Götter und das Seyn wendet sich nicht nur gegen die Abwandlungen des Christentums, sondern auch gegen das nur Widerchristliche, d. h. heidnische Nachahmen des »Mythischen«. Zugleich wird die eschatologische Haltung abgelehnt, da sie nicht auf »Gründung« gestimmt sei, sondern auf das Ausharren einer »Endzeit«, welche die völlige Seinsvergessenheit zur Voraussetzung habe. (Ernstzunehmende und befreundete Vertreter dieser gegensätzlichen Positionen waren Walter F. Otto und Rudolf Bultmann.) Daß seit zwei Jahrtausenden kein neuer Gott erscheine (wie Nietzsche klagte) wird dem »göttlichen Piaton« und seiner Verschüttung der Wahrheit des Seyns zur Last gelegt. Die Frage nach dieser Wahrheit soll auch den Bereich des Erscheinens von Göttlichem wieder öffnen. Nicht gesagt wird, daß dann auch eine neue Kunst sich zeigen könne. Am Schluß des Werks wehrt Heidegger die Auffassung ab, der Metaphysik gehe eine Mystik voraus, die dann im Neuplatonismus, im Mittelalter und in der Romantik der Novalis, Baader und Schelling sich durchhalte. Diese Mystik sei nur die Grenze, welche die Metaphysik selbst gegen ihre Erklärung und Verrechnung des Seienden setze. In den Aufzeichnungen Die Geschichte des Seyns von 1938-40 sucht Heidegger »Bis an die Schwelle« zu führen und dabei die Beiträge mit der Besinnung zusammenzuschließen: »die Beiträge sind noch Rahmen, aber kein Gefüge, die Besinnung ist eine Mitte, jedoch nicht Quelle«. Der zeitgenössische Bezug auf Hölderlins Dichtung und Nietzsches Denken bleibe Schwarmgeisterei. Heidegger sucht den angemessenen Bezug auch zum »letzten Gott« aus einer Erörterung des Endes der Neuzeit zu gewinnen, in dem das Sein zur Macht geworden sei. Der englische Staat der Neuzeit sei dasselbe wie der Staat der vereinigten Sowjetrepubliken, nur mit dem zusätzlichen Schein von Moralität. Dagegen sieht Heidegger die Zukunft »aufbehalten im noch nicht zu sich befreiten Wesen des Russentums« und »aufgetragen der Besinnung der Deutschen«. 86 Als Heidegger sich im Sommer 1941 erneut der Freiheitsschrift Schellings zuwandte, deutete er mit der augustinischen Formel »Volo ut sis« die Liebe Gottes, die auch das gewähren läßt, was bloßer »Grund« ist. Wurde Heidegger dabei auch dem gerecht, was sich in der Zeit austobte, jenem Bösen, zu dem der 86 Vgl. Martin Heidegger: Die Geschichte des Seyns. Frankfurt a. M. 1998. S. 5,49,108. Zum folgenden vgl. Heidegger: Die Metaphysik des deutschen Idealismus (Gesamtausgabe Band 49), Frankfurt a. M. 1991. S. 184,122.

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Grund sich verkehren kann? Die Weise, wie Heidegger seit Ende 1929 mit Max Scheler die metaphysische Tradition neu aufnahm, die von Aristoteles und von Leibniz über Schelling und Hegel bis zu Nietzsche reicht, wurde zum Problem. Heidegger fand die »echteste, berlinische Interpretation« von Nietzsches 7.arathustra, die »alles Geschreibe der Nietzsche-Literatur« aufwiege, im Ausspruch eines Berliner Taxichauffeurs: »Adolf weeß et, Gott ahnt et und dir jeht's nischt an.« Hatte aber nicht Heidegger selbst unterstellt, daß der »Gott des Seyns« noch nicht zu sich erwacht sei, daß Halbgötter als Führer die Geschichte erst auf den Weg der Entscheidung bringen müßten? Heidegger wurde 1934 im Nietzsche-Archiv mit Nationalsozialisten wie Rosenberg und Hans Frank von Elisabeth Förster-Nietzsche empfangen; 1938 trat er aus der Nietzsche-Kommission aus, weil die Reichsschrifttumskammer die Zensur der Nietzsche-Edition beanspruchte. Im späteren Rückblick konnte Heidegger sagen: »Nietzsche hat mich kaputt gemacht.« Führte er damit die gesundheitlichen Störungen, die sich während der Nietzsche-Vorlesungen einstellten, auf Überarbeitung zurück? Nahm er die Wendung zu Nietzsche als Abwendung von der phänomenologischen und hermeneutischen Arbeit an der Sache und als Abweg zu illusionären Behauptungen von weltgeschichtlichen »Ereignissen«? Oder nahm er nur jenen Denker ernst, der wie kein anderer schon die Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts angesprochen hat? 87 Heideggers Weg zu Nietzsche und mit Nietzsche wurde selbst zu einer Tragödie, in der Katastrophe und Untergang einen anderen Anfang lehrten. Sicherlich konnte Heidegger selbst darauf verweisen, daß sein Denken sich seit 1936, also seit den Beiträgen, auf das Grundwort »Ereignis« konzentrierte. Darf man deshalb die Beiträge als den Rahmen für alle späteren Arbeiten nehmen? Vielmehr muß man sehen, daß Heidegger mit den Beiträgen scheiterte, daß nur ein neuer Ansatz zu der späteren Besinnung auf kleine und unscheinbare Anfänge führte. Auch in der Weise des Sprechens ist die Schrift Das Ereignis von 1941/42 durch eine Welt getrennt von der Sprache Nietzsches in den Beiträgen. Die Verbindung des Denkens des Seins und des Dichtens vom Heiligen her im »Dank« wird aus der unveröffentlichten Schrift hineingenommen in das Nachwort von 1943 zum einmal bahnbrechenden Vortrag Was ist Metaphysik?

87 Zur unterschiedlichen Auslegung (Gadamer, von Herrmann, Pöggeler, Müller-Lauter) vgl. Aletheia. Neues kritisches Journal. Heft 9. Berlin 1996.

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3. Die Kunst im anderen Anfang Als Heidegger 1941 seine Auseinandersetzung mit Nietzsche zum Abschluß brachte, verknüpfte er in der Vorlesung Grundbegriffe die Seinsfrage mit der Erörterung Anaximanders. Dabei ging er nicht auf die indirekt bekanntgebliebenen kosmologischen Lehren ein, sondern nur auf das überlieferte Fragment, das zum ältesten »Spruch« des Denkens geworden sei. Die negative Folie für diese Anknüpfung an den Anfang abendländischen Denkens blieb der Nietzscheanismus Ernst Jüngers mit seiner Rede vom Arbeiter und Soldaten als den maßgeblichen Gestalten zukünftigen menschlichen Seins. Nietzsche habe vorausgedacht, daß der Mensch im zwanzigsten Jahrhundert sich der Technik unterwerfe, weil er Reiche für Jahrtausende schaffen wolle. Dieser Versuch sei nicht die Eigensucht von Diktatoren und autoritären Staaten; er zeige sich z. B. auch im amerikanischen Pragmatismus (der damals von Arnold Gehlen in seinem Buch mit dem »anmaßlichen« Titel Der Mensch aufgenommen wurde). Heidegger suchte dieser Bestätigung einer Grunddünung der Geschichte jede Ausflucht zu verbauen. Ein Physiker wie Pascual Jordan sah damals das strenge Kausalitätsgesetz durch einen »statistischen Durchschnitt« ersetzt, der auch dem Neuen und dem Unvorhersehbaren und damit der Freiheit und dem Glauben Raum lasse. Doch ein solcher Kompromiß zeigt nach Heideggers Auffassung nur die »innere Verkommenheit« der heutigen »Wissenschaft«.88 Heidegger selbst erstrebte einen anderen Anfang, indem er Hölderlins spätes Dichten mit dem frühesten griechischen Denken bei Parmenides und Heraklit verband. Hölderlins Gedicht Andenken sollte einen Weg zu Hölderlins spätesten Hymnenentwürfen weisen. So konnte Heidegger sich jenem Fragment zuwenden, das seine engere Heimat, das obere Donautal, anspricht. Die Donau, mit ihrem alten Namen »Ister« genannt, macht nicht wie der Rhein ein Land fruchtbar, das sich zum Meer und zur westlichen Welt öffnet. Sie scheint in den Stromschnellen fast rückwärts zu fließen, denn sie hat die Ferne des Ostens und Griechenlands in sich selbst und gewinnt so Heimat. Heidegger sieht wie Ernst Jünger, daß Amerika (ohne alte Bindungen) Arbeit und Maschine rücksichtslos übernimmt. In diesem Amerikanismus findet Heidegger mehr als im Bolschewismus »die eigentlich gefährliche Gestalt der Maßlosigkeit«, weil er in einer »Atmosphäre der entschiedenen Geschichtslosigkeit« in der Form »der demokratischen Bürgerlichkeit und gemixt mit Christentum« auftritt 89 Auf ein Maß 88 Vgl. Heidegger: Grundbegriffe (Gesamtausgabe Band 51). Frankfurt a. M. 1981. S. 36 ff, 17 ff, 83 f, 55 f, 76. 89 Vgl. Heidegger: Hölderlins Hymne »Der Ister« (Gesamtausgabe Band 53). Frankfurt a. M. 1984. S. 81, 86; zum folgenden S. 109 ff, 28 f; zu Rembrandt vgl. S. 19. Natürlich muß mit dem frühen Heidegger die Eigenständigkeit der christlichen Li-

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soll Hölderlin hinweisen, der aus dem Gespräch mit der Tragik der Sophokleischen Anügone dichtet. Hölderlin entgehe der metaphysischen Festlegung der Kunst auf das Sinn-Bild oder die Idee im Sinnlichen. Heidegger will jetzt nicht mehr mit der Wahrheitserfahrung der Kunst zurück in den Grund der Metaphysik; die abendländische Kunst im ganzen folgt nach seiner Auffassung jener Metaphysik, wie Piaton sie formulierte und Nietzsche sie in ihrem Umsturz doch festhielt. »Deshalb sind z. B. die griechische Vasenmalerei, die pompejischen Wandgemälde, die Reichenauer Fresken der ottonischen Zeit, die Gemälde Giottos, ein Gemälde Dürers und ein Bild von C. D. Friedrich nicht nur ihrem Stil nach verschieden, sondern der Stil selbst ist verschiedenen metaphysischen Wesens.« Auch der extreme Naturalismus fasse z. B. in einer Landschaftsdarstellung von einem metaphysischen Vorentwurf aus, was als wirklich gelten solle. Die Vorlesung über Parmenides vom Winter 1942/43 weist darauf hin, daß der Denker von Elea die Göttin Aletheia ihren Spruch sagen ließ, als im benachbarten Paestum der Poseidon-Tempel gebaut wurde. 90 Die Götter der Griechen, die unter dem Geschick stehen, sind nach Heidegger nicht die »Angerufenen« (wie sonst im Indogermanischen), sondern die Blickenden. Sie blicken herein wie das Sein in das Seiende. Ein »Bild« sind sie nur als das Bild, das uns anblickt, wenn wir es anblicken. Jene Kunstwerke, die nur Anblicke für unser Blicken darbieten, entfalteten sich (etwa bei Praxiteles) in der Zeit, in der Piaton das, was ist, vom Aussehen der Ideen her nahm. Heidegger selbst möchte die Götter anfänglicher die »Stimmenden« nennen, die uns in eine Gestimmtheit unserer Welt bringen. Das Wort habe einen Vorrang: Tempel und Standbilder, aber auch Vasen und Vasenmalerei könnten nicht dastehen ohne das Wort im Sinne des alles stimmenden Mythos. Weil Heidegger die Verbindung der ursprünglichen Wahrheit mit dem Heiligen und Göttlichen in einem anderen Anfang zurückholen will, zeichnet er die Geschichte der abendländischen Wahrheitsauffassung nach. Die Wahrheit als Unverborgenheit werde bei Piaton auf die Richtigkeit festgelegt; Rom setze imperial und dann kurial die veritas gegen das falsum, das als das Falsche zu Fall gebracht werden solle. Die Neuzeit habe diese Subjektivierung der Wahrheit weitergetrieben. Heidegger schließt mit Rilke, der ja wie Parmenides Leben und Tod in die eine Kugel des Seins einbringen wollte, nach Heidegger aber einem nietzscheanischen Biologismus sowie psychoanalytischen Populärvorstellunteratur und Malerei behaupet werden; vgl. dazu Erich Auerbach: Mimesis. Bern 1946 u.ö.; Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990 u. ö. 90 Vgl. Heidegger: Parmenides (s. Anm. 71). S. 37; zum folgenden S. 164 f, 171, 164, 172 f, 115.

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gen verhaftet blieb. Heidegger wiederholt Nietzsches Hinweis, daß Goethe ein »Verhängnis« war, weil er Shakespeare zu Sophokles stellte. Da Shakespeare trojanische, griechische, römische, venetianische, englische Geschichte gestaltet, verfehlt er nach Heidegger das eine Notwendige, das Wohnen auf dieser Erde an dieser einen bestimmten Stätte.91 Was (etwa von Carl Schmitt) als das »Politische« gefaßt werde, setze die Subjektivierung der Wahrheit auf eine Gemeinschaft hin ebenso voraus wie Lenins Verbindung der Partei mit der Technisierung. Auch gegenüber Jakob Burckhardt betont Heidegger, daß er das Griechische verfehle, weil er von der italienischen Renaissance ausgehe; die Dämonie der Macht setze die Subjektivierung, die Bilanzierung geschichtlicher Entwicklungen das Verrechnen voraus. Als die Schlacht bei Stalingrad die endgültige Wendung des Krieges brachte, betonte Heidegger, daß die Deutschen »siegten«, wenn sie nur das Volk der Dichter und Denker blieben. Heidegger hatte über seiner Hütte in Todtnauberg in griechischen Buchstaben den Spruch des Heraklit angebracht: »Alles steuert der Blitz.« Die Hölderlin-Vorlesung vom Winter 1934/35 zog Heraklits Vergleich des Weltlaufs mit dem spielenden Kind und die Rede vom Kampf oder Krieg als Auseinandersetzung zusammen. Heidegger folgte Nietzsches Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: Der einstige Opferkönig und Aristokrat verspottet nicht den Weltlauf als Kinderspiel, nachdem die Perserherrschaft und »Demokratie« den Vorrang von Handel und Gewerbe durchgesetzt hat; vielmehr setzen die Götter die Sterblichen auf das Spiel, nunmehr als die künftigen Götter der deutschen »Heimat«. 92 Trotz einer bleibenden Übereinstimmung mit Nietzsche im Ansatz sagen die Heraklit-Vorlesungen von 1943 und 1944, Heraklit habe sich in den Schutz der Artemis und des Apoll begeben, Nietzsche aber habe ihn wie schon Hegel auf Dionysos bezogen und diese »dionysische« Deutung biologistisch »in die Sphäre des Sumpfes« verschoben. Außer Betracht bleibt in dieser Polemik, daß die Artemis in Ephesos die Züge der großen Mutter zeigte, die sich vom Osten her den Griechen aufdrängte. Heidegger gesteht zu, daß die Interpretation des frühen griechischen Denkens so über die Hegel-Nachfolge hinausgegangen sei wie die Würdigung des »archaischen Stils« der griechischen Kunst über die klassizistische Kunsthistorie. Er selbst will das Anfängliche im griechischen Denken aber anders fassen, nämlich aus der Zwiesprache eines anderen Anfangs im Zeitalter der Technik

91 Vgl. Heidegger: Parmenides. S. 108; vgl. auch Nietzsches Formulierung in Heidegger: Nietzsche (S. Anm. 71). Band I. S. 150. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Parmenides. S. 142,127, 134, 82, 114. 92 Vgl. Heidegger: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (s. Anm. 69). S. 105, 125 f. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Heraklit (Gesamtausgabe Band 55). Frankfurt a. M. 1979. S. 18.

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mit dem ersten Anfang des Denkens. Dabei muß damit ernst gemacht werden, daß der Logos Heraklits zur Technik geworden ist, das weltbildende Feuer zum Brand der Weltkriege. Heidegger nimmt die alltägliche Nutzung von Flugzeug, Auto und Rasierklinge ebenso wie einen möglichen dritten Weltkrieg als Zeugnis dafür, daß der Wille zur Macht sich als universale Technologie zeigt. Jedwede Romantik, der Goethesche Klassizismus und das »kulturfreudige Christentum« blieben machtlos. Das Christentum habe mit seinem Schöpfungsgedanken die Heraufkunft der Technik nur gefördert und seinen »geschichtlichen Bankerott« in der »neuzeitlichen Weltgeschichte« unter Beweis gestellt. Auch die »Sucht zum nur musealen Sammeln von Altertümern« stehe in einem Wechselverhältnis zur »sich steigernden Entfaltung der Technik«. 93 Heidegger glaubt Heraklit zurückstellen zu können in eine ursprüngliche Nähe von Dichten und Denken, und so interpretiert er Heraklits Fragmente mit Leitworten des Dichters Stefan George. Doch muß er festhalten, daß die Griechen zwar die techne als ein Wissen nahmen, aber nie das Hervorbringen der poiesis erörterten (in einer poietischen Philosophie, die dann über die Poetik des Aristoteles hinausgegangen wäre und sich zur theoretischen und praktischen Philosophie gestellt hätte). Es wurde kein Thema des Denkens, wie die Wahrheit als Unverborgenheit hervorgebracht, wie der Anblick eines Gottes in den Marmorblock gebracht und ein Standbild »gemacht« wird. Im Winter 1944/45 las Heidegger über Denken und Dichten als Einleitung in die Philosophie. Zwar wurde Nietzsches Angriff auf die »Klein-Geisterei« des englischen Utilitarismus aufgenommen, doch das entscheidende Wort gehörte nun Hölderlin. Die Vorlesung wurde abgebrochen, da Heidegger zum »Volkssturm« einberufen wurde. Der Gräzist Hermann Gundert stellte sich für ihn, und so konnte Heidegger nach Meßkirch ausweichen (Freiburg wurde am 27. November durch einen Luftangriff in Schutt und Asche gelegt). Kurz vor Kriegsende wich die Philosophische Fakultät nach Burg Wildenstein aus. Die Burg über der oberen Donau bei Beuron gehörte zu Heideggers engerer Heimat. Hölderlin hatte das Donautal angesprochen in seiner Ister-Hymne. Irgendwann legte Heidegger seiner Vorlesung über diese Hymne einen Zettel bei mit der Bemerkung, sein Großvater sei zur Zeit der Entstehung der Hymne dort in einem Schafstall (»in ovili«) geboren worden. War der Großvater der Hirt, den Hölderlin sah? Jedenfalls sprach Heidegger sich die Aufgabe zu, als Enkel dieses Hirten aus Hölderlins Dichten das Geschick des Abendlandes zu 93 Vgl. Heidegger: Heraklit. S. 21, 107, 209, 291; zum folgenden vgl. S. 65, 366. Zur grundsätzlichen Kritik dieser Deutung der »Vorsokratiker« vgl. Wilhelm Perpeet: Vom Ursprung der Philosophie oder über eine spezifische Differenz zwischen Denken und Dichten. In: Der Mensch und die Künste (Festschrift für Heinrich Lützeler). Hrsg. von Günter Bandmann u.a. Düsseldorf 1962. S. 47 ff u.ö. Bayerische Staatsbibliothek Münr-rtttn

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erörtern. 94 Noch am 27. Juni 1945, als die Freiburger Fakultät von ihrer idyllischen Zuflucht Abschied nehmen mußte, gab Heidegger einen Vortrag - unten im Tal, im Forsthaus Hausen, in Anwesenheit seiner Schülerin, der Prinzessin von Sachsen-Meiningen, und ihres Gatten. Ausgelegt wurde Hölderlins Satz: »Es koncentrirt sich bei uns alles auf's Geistige, wir sind arm geworden, um reich zu werden.« Ein kurzer Text Die Armut stützt offensichtlich diesen Vortrag. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Heidegger auf die humilitas der mystischen Tradition verwiesen, in der Vorlesung vom Winter 1929/30 das »armmütige« Gestimmtsein aus dem Paulinischen »Haben als hätten wir nicht« zu lösen versucht. Nun wies er darauf hin, daß die Rede vom Arm- und Reichsein nicht nur meint, daß man viel oder weniger besitze. Die Armut werfe das bloße Haben ab; in ihr verstehe der Mensch sich vom Sein her, das ihn erst in seinem Eigensten wohnen und dann auch besitzen lasse. Das Geistige müsse vom »Geist« her verstanden werden, und dieser Geist sei für Hölderlin der Gott. Als der Krieg zu Ende ging, arbeitete Heidegger an den »Feldweg-Gesprächen«. Der Feldweg läuft aus Meßkirch vom Hofgarten her hinaus; am Waldrand unter einer hohen Eiche hatte der junge Heidegger einst die Schriften der Denker studiert. In einer kleinen Erzählung Der Feldweg von 1949 wird Heidegger festhalten, daß die alten Fragen der Metaphysik nach Seele, Welt und Gott noch wach sind, aber nach zwei Welt-Kriegen hereingenommen werden in den Verzicht auf Antworten. Doch der Verzicht wahrt das »Selbe«, aus dem diese Fragen einst kamen. Das erste und größte der Meßkircher FeldwegGespräche erhält seinen Titel von einem Heraklit-Fragment her, das nur aus einem Wort besteht: Anchibasie, In-die-Nähe-gehen. Immer noch, so führt Heidegger aus, wird mit Max Scheler das Erkennen von der modernen Naturforschung her als Arbeit und Leistung gefaßt. Doch nun ist die Frage unabweisbar geworden, ob die Natur sich nicht gegen den Angriff des Erkennens dadurch wehrt, daß sie den Menschen in ihr Vernichtetwerden einbezieht. Verlangt das Auslegen von Gedichten und Gemälden, die Erfahrung der Natur und des Kunstwerkes nicht eine »Erlebniskraft«, die sich der Objektivierung entzieht? Kann man hier die Sache »finden«, indem man auf die »Verzierungen« der Rede verzichtet, oder wird die Sache durch den Schmuck, der sich ihr anschmiegt, schöner hindurchscheinen? Das »Dialektische«, das sich hier zeigt, verweist kaum auf den »autoritativen« Charakter des Denkens; es bedarf vielmehr der Bedachtsamkeit des »Vermutens«, welche der Weisheit eignet, und 94 Zu diesem nichtpublizierten Zettel vgl. Gethmann-Siefert und Pöggeler (S. Anm. 69). S. 41. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Die Armut (Jahresgabe der MartinHeidegger-Gesellschaft 1992). Vgl. ferner Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik (s. Anm. 66). S. 288, 396.

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muß auf »Winke« warten. Diese Gelassenheit weckt auch der Krug, der nicht nur den Trank zur nötigen Speise gibt, sondern auch beim Abschied oder zum Gedächtnis, zur Feier und zum Fest in jene Weite zwischen Erde und Himmel und jene Weile einläßt, welche die Dinge bedingt und den Menschen braucht. 95 Heidegger übersetzt sich hier die Leitworte der Rhetorik, indem er die Topik als Kunst des Findens und die Tropik als Lehre von den Figuren der Rede und der nötigen Metaphorik verbindet. Zugleich wird diese Rhetorik zurückgenommen in ein Erfahren der Kunst, für welches nun der alte Gebrauch eines Kruges steht. Das zweite Gespräch kreist um die Stube des Türmers oben im Kirchturm, in der ein Bild verwahrt wird. Das Wundersame soll zugunsten des Seltsamen preisgegeben werden, das im Vermuten plötzlich aufbricht und dem Unvermuteten einen »Vorhof der Ankunft« bereitet. Kirchturm und Bild sollen einen Bezug zu diesem Seltsamen haben: Der Kirchturm bleibe in die Erde eingelassen und trage doch in das Offene des Himmels; so gewähre er dem Menschen einen Aufenthalt und halte bloße Betriebsamkeit fern. Nietzsche wird abgewiesen, weil er mit seiner antimetaphysischen Berufung auf die Kunst innerhalb des metaphysischen Ansatzes bleibe. Als ein Gast ankommt, der von dem Bild sprechen soll, bricht das Gespräch ab. Offensichtlich spielt Heidegger an auf das exaipbnes Piatons, das von Schleiermacher und Kierkegaard als das Seltsame und Plötzliche des »Augenblicks« gefaßt wurde, in dem ein Gespräch ins Ziel kommt. Dieser Augenblick wurde bei Heidegger zur Augenblicks-Stätte einer Gemeinschaft von Menschen oder einer Epoche, welche das Denken und Dichten wie die bildende Kunst brauchen. 96 Das dritte Gespräch führt in ein russisches Gefangenenlager, wo Heidegger seine beiden verschollenen Söhne vermuten mußte. Der Wald, in dem die Gefangenen zu arbeiten haben, gleicht dem Schwarzwald Heideggers; er weilt um die Gefangenen mit dem Unerschöpflichen seiner sich verhüllenden Weite als etwas Heilsames. Der Wald weist hinaus über die Klage um die Irreführung des eigenen Volkes, die zur Gefangenschaft in den Weiten Rußlands führte. Das Bösartige wird wiederum vom Grimmigen und Aufrührerischen her verstanden als ein »Grundzug des Seins selbst«. Damit wird die Verwüstung der Erde zu einem »Ereignis, das außerhalb menschlicher Schuld und Sühne waltet«. Die Achtung der Menschenrechte, die bürgerliche Ordnung werden zusammen gesehen mit der Sicherung der »ständigen Sättigung eines ungestörten Behagens« und der übersehbaren Verrechnung »ins Nützliche«. So kann Heidegger dem 95 Vgl. Martin Heidegger: Feldweg-Gespräche (Gesamtausgabe Band 77). Frankfurt a. M. 1995. S. 5, 33, 42 und 98, 46 f, 59, 64, 84 f, 136. 96 Vgl. Otto Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit. München 1999. S. 61 ff. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Feldweg-Gespräche (s. Anm. 95). S. 206 ff, 215 f, 240.

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Gespräch am Tag der deutschen Kapitulation, am 8. Mai 1945 auf Schloß Hausen im Donautal, die Schlußbemerkung mitgeben: »Am Tage, da die Welt ihren Sieg feierte und noch nicht erkannte, daß sie seit Jahrhunderten schon die Besiegte ihres eigenen Aufstandes ist.« Als Heidegger in der Stille der Stadt seiner Herkunft Besinnung suchte, begann die französische Besatzungsmacht mit Hilfe unbelasteter Professoren die Universität Freiburg von den Nationalsozialisten zu reinigen. Der Rektor von 1933 erschien als eine Hauptfigur in den Entnazifizierungsverfahren; er mußte sich dafür rechtfertigen, daß er Hitler und seiner Partei in den Sattel geholfen und dann allenfalls unentschieden und unklar der Diktatur widerstanden hatte. Heidegger stand die Verfahren nicht durch; im Frühjahr 1946 mußte er in ein Badenweiler Sanatorium gebracht werden. Längst aber fanden französische Widerstandskämpfer zu Heidegger und sahen in ihm einen der Ihren. So erläuterte Heidegger im Herbst 1946 den Weg seines Denkens in jenem Brief an Jean Beaufret, der 1947 als Brief über den Humanismus der Schrift über Piatons Lehre von der Wahrheit angehängt wurde. Vom Sommer 1946 bis zum Sommer 1947 versuchte Heidegger, sich mit Hilfe des chinesischen Universitätslektors die Sprache des Laotse zu verdeutlichen. Diese Arbeit wurde nach dem achten Spruch abgebrochen; schwerlich aber wird man den Ausbau der Rede vom Krug verstehen, wenn man nicht mit Laotse beachtet, daß der Krug durch seine Leere faßt und der Mensch diese »Leere« gewinnen muß. Im »Hüttenbüchlein« Aus der Erfahrung des Denkens von 1947 orientierte Heidegger sich wie ein Genesender in gedichtartigen Sprüchen an den einfachen Erfahrungen der Tages- und Jahreszeiten. Dabei kehrte der Vorrang des Wortes wieder im Lob der »Pracht des Schlichten«: »Erst Gebild wahrt Gesicht. / Doch Gebild ruht im Gedicht.« 97 In den Jahren 1946-48 arbeitete Heidegger Das abendländische Gespräch aus. Er knüpfte an die Weise an, in der er in der Vorlesung vom Sommer 1942 mit Hölderlins IsterHymne in das Land seiner eigenen Herkunft einzukehren versucht hatte. So ging es ihm darum, das Abendländische als Geschichte zu erfahren und auszutragen. Doch brach Heidegger das umfangreiche Manuskript ab. Offenbar forderten konkrete Aufgaben die ganze Arbeitskraft, als man von Heidegger Hinweise auf eine Erneuerung des Denkens und Lebens erwartete. Zur Jahreswende 1949/50 trat ein neuer Heidegger mit dem Sammelband Holzwege an die Öffentlichkeit. Die Vorträge über den Ursprung des Kunstwerkes mit ihrer Frage nach dem Geschehen der Wahrheit in der Kunst stehen am Anfang des Bandes. Die Erörterung der Zeit des Weltbildes, ursprünglich 97 Vgl. Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens (s. Anm. 49). S. 79. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Zu Hölderlin / Griechenlandreisen (Gesamtausgabe Band 75). Frankfurt a. M. 2000. S. 57 ff.

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1938 entfaltet, Aufsätze über Hegels Phänomenologie des Geistes und über Nietzsches Wort »Gott ist tot« bilden den Mittelteil einer Auseinandersetzung mit der metaphysisch-wissenschaftlich-technischen Grunddünung der europäischen Geschichte. Aufsätze über Rilkes Dichtung und über Anaximanders »Spruch« erörtern einen anderen Anfang. Rilke wird mit allen seinen Schwächen doch als Nachfolger Hölderlins gesehen. Im ältesten Spruch des abendländischen Denkens klingt für Heidegger das Wesen der Wahrheit so an, wie er es sieht. Dem, was uns Menschen braucht, wird »Fug« und »Ruch« sowie der stete Verfall zum »Un-Fug« zugeschrieben. Was sich nur in verlöschenden Spuren zeigte, soll in einem anderen Anfang zurückgewonnen werden, nachdem der metaphysische Zugriff auf das Seiende und sein Sein sich in den technisch geführten Weltkriegen ausgetobt hat. Konnte ein Denken, das sich in die Nähe des Dichtens stellte, zu den anfänglichen und einfachen Fragen zurückfinden, dabei auch den komplizierten Bau der technischen Welt entschlüsseln und die Technisierung in ihre Grenzen weisen? Offensichtlich hatte Heidegger kein genuines Verhältnis zur Politik, und so konnte er auch seine politische Verstrickung nicht angemessen aufarbeiten: Die Entnazifizierung wurde eher durch eine Ausflucht, die vorzeitige Emeritierung, beendet. Heidegger gesellte sich zu jenen, die (wie etwa auch Ernst Jünger) die Vorteile des neuen demokratischen Aufbaus nutzten, ohne sich mit diesem wirklichen neuen Anfang zu identifizieren. Wer damals nach Freiburg zum Studium bei Heidegger eilte, wandte sich bald enttäuscht anderen Universitäten zu. Wenn Heidegger sich von der Universität zurückzog, dann blieb er trotzdem dort über Weggefährten und Schüler gegenwärtig. Nicht nur die Philosophie, auch die Kunstgeschichte, die Sprachwissenschaft, selbst teilweise die Theologie wurde in Freiburg durch Anhänger Heideggers geprägt; die älteren Schüler bestimmten zumal die philosophischen Seminare anderer Universitäten. Wer sich in Paris orientierte, bekam ohne Vorbehalt den Rat, sich Heidegger zuzuwenden. Dieser selbst beschränkte sich im wesentlichen gegenüber der größeren Öffentlichkeit auf Vorträge, die aber mehr und mehr die größtmögliche Resonanz bekamen. Unabhängige Bürger konnten Heidegger Anfang Dezember 1949 zu Vorträgen in die Hansestadt Bremen holen, die damals noch nicht durch eine nivellierte und politisierte Universität belastet war. Die Vortragsreihe Einblick in das, was ist wurde wenige Monate später in dem Schwarzwaldsanatorium Bühlerhöhe, teilweise auch in München wiederholt. Der erste Vortrag Das Ding nimmt als Exempel den Krug, der Wasser und Wein aufnimmt, mit dem Wein die Essenz jenes Lebens, das im Sonnenlicht zwischen Erde und Himmel gewachsen ist. Wasser und Wein stillen den Durst der Sterblichen und ehren im Opfer die göttlichen Mächte. Der Krug versammelt so das Geviert von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen. Dinge

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in diesem Sinne sind auch Bank, Steg und Pflug, Baum, Teich, Bach und Berg, Reiher, Reh, Pferd und Stier, Spiegel, Spange, Buch, Bild, Krone und Kreuz. Der zweite Vortrag Das Ge-Stell hört in der Vorsilbe Ge- das Zusammenfassen alles Stellens und kann so die Technik als Konsequenz des metaphysischen Denkansatzes fassen: Das Wesen der Technik steckt schon im Vorstellen des Seienden auf sein Sein hin, im Zustellen des Seins als Grund für das Verstehen von Seiendem. Ein Ding kann es dann nicht mehr geben, sondern nur den Gegenstand und schließlich nur noch den verfügbaren Bestand. Zum Bestand eines bloßen Bestellens seien die Kohlenschätze und Uranerze im Boden geworden, aber auch der Acker der motorisierten Ernährungsindustrie, schließlich der Mensch selbst bis hin zur Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern. Heidegger nennt auch die Blockade (wie Stalin sie damals über Berlin verhängte), die Drohung der Wasserstoffbombe, das Aushungern ganzer Länder (das er später präzisiert als die Verelendung und den Hungertod von Millionen Menschen in China). Diese wenig sensible Sprache war z. B. schon durch Hannah Arendt gebraucht worden, die 1948 darlegte, wie man in Auschwitz Leichen fabrizierte. 98 Wird hier nicht die Technik zu einem Monster, das man ohne Differenzierungen aufjagt? Jedenfalls geht es Heidegger darum, jedem Menschen wieder seine Einmaligkeit, seine Welt und seinen eigenen Tod zu lassen. Deshalb zeigt der dritte Vortrag Die Gefahr, daß die Technik als Ergebnis der Geschichte abendländischen Denkens nicht nur alles, was ist, einebnet zum verfügbaren Bestand eines Stellens und Bestellens im universalen Ge-Stell, sondern dazu dieses ihr Tun verbirgt, und sei es auch dadurch, daß ihre Problematik wieder nur zu einem Problem technischer Bewältigung wird. Kann die Erfahrung des Todes, vor die jeder gestellt ist, über die nur äußerlich erlittenen, »ungestorbenen« Tode unseres Jahrhunderts hinausführen, den einzelnen wieder vor sein Schicksal und die Gemeinschaften der Menschen vor ihr Geschick führen? Der vierte Vortrag Die Kehre versteht Hölderlins Wort vom Rettenden in der Gefahr so, daß die Gefahr, als Gefahr erfaßt, über sich hinausführt zu einem Anspruch, der dem Menschen sein Wesen zurückgibt. Das Ge-Stell, als von weit her kommendes Geschick aufgenommen, kann in neuer Weise mit dem Geviert zusammengehen. Das aber heißt, daß die Technik in ihre Grenzen eingewiesen wird und wieder das freigibt, was einmal Krug, Berg, Bild und Kreuz für die Menschen waren. Als fast die Hälfte der Wohnungen in Westdeutschland zerstört oder schwer beschädigt war und aus den verlorenen Ostgebieten zehn Millionen Flüchtlinge

98 Vgl. Martin Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge (Gesamtausgabe Band 79). Frankfurt a. M. 1994. S. 27 und 56; Hannah Arendt: Sechs Essays. Heidelberg 1948. S.9.

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kamen, sah die Stadt Darmstadt ihre Aufgabe darin, wieder einmal nach den Möglichkeiten neuen Bauens zu fragen. Die bedeutendsten deutschen Architekten, mochten sie in der Zeit des Nationalsozialismus weiter gebaut oder die Diktatur geflohen haben, kamen im Sommer 1951 zum Darmstädter Gespräch Mensch und Raum zusammen. Vor ihnen trug Heidegger seine Gedanken unter dem Titel Bauen - Wohnen - Denken vor. Im Oktober sprach er auf Bühlerhöhe über Hölderlins Vers »Dichterisch wohnet der Mensch«. Die Architektur, die bildenden Künste und die Dichtung wurden zusammen in den Versuch einbezogen, sich auf die Aufgaben eines Neuaufbaus und eines neuen Lebens auf der Erde zu besinnen. Die Konstellation der Zeit wurde dabei nicht vergessen: Im November 1953 trug Heidegger die Grundgedanken der Bremer Vorträge in München auf der Akademie-Veranstaltung Die Künste im technischen Zeitalter vor. Dabei konnte er Die Frage nach der Technik nicht nur mit Philosophen, sondern vor einer großen Öffentlichkeit mit einem Physiker wie Werner Heisenberg, mit Musik- und Kunstkennern und mit den Brüdern Jünger erörtern. Nur ausnahmsweise hielt Heidegger wieder Universitätsvorlesungen, so die zweisemestrige Vorlesung Was heißt Denken? vom Sommer 1951 und Winter 1951/52. Als Heidegger sie 1954 veröffentlicht hatte, mußte er sich darüber beklagen, daß man auf diesen neuen Denkstil und Tonfall nicht einging. Trägt die Vorlesung nicht in der Tat den Stempel des Abseitigen? In jedem Fall zeigt sie die Anliegen, die für Heidegger seit Ende 1929 entscheidend wurden, sich in den Erfahrungen mit der Diktatur und dem Krieg wandelten. Heidegger widersetzt sich der üblich gewordenen Auffassung, der Mythos sei durch den Logos abgelöst worden. Schon im Sommer 1942 hatte er die Entmythisierung zurückgewiesen, wie sie von Rudolf Bultmann damals in dem berühmt gewordenen Vortrag Neues Testament und Mythologie als Entmythologisierung gefordert und in anderer Weise von dem Freiburger Altphilologen Nestle als geschichtliche Tendenz formuliert worden war. Ein Zurück zum Neuen Testament könne es so wenig geben wie ein Zurück zum klassischen Altertum (im Sinne des Jaegerschen Humanismus oder auch in der Weise Walter F. Ottos, der die Ewigkeit der griechischen Götter behauptete). 99 Mythos und Logos treten nach Heideggers Auffassung erst auseinander, wenn beide ihr anfängliches Wesen nicht mehr bewahrt haben. Denker wie Parmenides (oder auch Heraklit) stehen nach Heideggers Auffassung in der Nähe zum Mythos; diese Nähe soll wieder gewonnen werden, indem Nietzsche auf Hölderlin verweist, der von der Flucht der Götter und einer möglichen neuen Zuwendung spricht. Durchgestanden werden muß die lange Zeit des Weges durch eine Fremde und Ent99 Vgl. Heidegger: Hölderlins Hymne »Der Ister« (s. Anm. 98). S. 139. 81. S. auch Anm. 63.

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fremdung, die dem Menschen selbst die Sprache zu nehmen droht. Hölderlin tritt zusammen mit Georg Trakl, der von der Fremde spricht, aber auch durch die Wendung »Es ist...« die einfachen Dinge nennt, die uns angehen: das Licht, das ausgelöscht wurde, den einsamen Gasthof in der Heide, den Weinberg, den gekalkten Raum. Im Wintersemester 1955/56 gab Heidegger die Vorlesung Der Satz vom Grund. Im Sommer 1957 folgten die fünf Freiburger Vorträge Grundsätze des Denkens. Der Vortrag Der Satz der Identität, herausgehoben als Beitrag zum Jubiläum der Universität, wurde 1957 zusammen mit einer Kritik Hegels unter dem Titel Identität und Differenz publiziert. Von den Grundworten und Grundsätzen des Denkens her suchte Heidegger zu fassen, welchen Ort ein epochal bedeutsames Denken auf dem abendländischen Weg einnahm. Aus der Besinnung auf diese Grundworte und Grundsätze konnte Heidegger sein eigenes Anliegen formulieren. Wir können Seiendes nur als mit sich identisch und als different von anderem nehmen, wenn wir es von seinem Sein her fassen. So ist die ontologische Differenz vorausgesetzt, die Seiendes von seinem Sein unterscheidet (etwa diesen Tisch von seinem Tischsein). Heidegger faßt diese Differenz in wörtlicher Übersetzung als Austrag (der Offenheit von Seiendem oder der Wahrheit). Dieser Austrag setzt voraus, daß der Mensch als Dasein und Ort der Offenheit von Sein dem Sein zu entsprechen sucht. Diese Identität von Mensch und Sein wird gefaßt als Ereignis; das Ereignis wird nunmehr verstanden als Zueignung des Seins an das Dasein und als Übereignung des Daseins an das Sein. Für diese Zusammengehörigkeit im Ereignis kann kein letzter Grund angegeben werden. Diesen Versuch machte aber die Tradition als Ontotheologie! Die Ontologie versteht das Seiende in seinem Sein. Sie ist -logie, da sie das Sein als Grund für die Offenheit des Seienden nimmt. Diese Offenheit wird dann festgemacht in einem höchsten Seienden, dem Gott der Philosophen. Dafür, daß diese Offenheit im Menschen aufbricht, kann aber vom Denken her kein Grund angegeben werden. Diese Offenheit ist Grund nur als der Abgrund, das Wegbleiben des Grundes von ihr selbst. Die Grund-Sätze bleiben nicht Sätze, die ein Seiendes in seinem Sein fassen; sie werden als ein Sichbefragen des Grundes der Offenheit des Seienden und des Seins selbst der Sprung in den Ab-Grund. Die Wahrheit als Entbergen ist zugleich ein Bergen dessen, was sich in ihr nicht entbirgt. Der Einklang von Ereignis und Austrag geschieht plötzlich und jäh, in jenem unverfügbaren Augenblick, der epochal zu nehmen ist und die Epochen der Geschichte des Seins mit seinen Grundbestimmungen ermöglicht. In den Vorträgen Grundsätze des Denkens geht Heidegger aus von Hegels Wesenslogik; diese sucht die Grundsätze so zu verknüpfen, daß ihre Dialektik sich selbst vermittelt und trägt. Von dieser Dialektik aus habe Marx die Geschichte vorzüglich von Wirtschaft, Industrie und Technik her als Selbstpro-

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duktion des Menschen verstanden. Die Grundlagen für dieses Denken sollen von Piaton und Aristoteles gelegt worden sein. Hölderlin und Novalis seien in ihrer dichterischen Besinnung von Hegels Thematik erregter angerührt gewesen; beide hätten in Nachtgesängen jenes dunkle Licht geschaut, darin die Vernunfthelle der absoluten Logik aufgehoben, zugleich aber vorausgesetzt und bestätigt werde. 100 Hölderlin habe wie Laotse das Dunkel in der Helle gewahrt. Novalis sei schließlich dem überkommenen Ansatz gefolgt, als ihm Maß, Zahl und Figur der Schlüssel zu aller Kreatur wurden. Heidegger erinnert auch daran, daß Lionardo in seinem Buch von der Malerei Licht und Schatten verbindet. Er verweist darauf, daß nach Piatons Phaidros die Schrift die Rede so stillstelle, wie die Malerei das mit lebenden Gebilden tue. Heidegger selbst vertritt (wie im Kunstwerk-Aufsatz) entschieden den Vorrang des Wortes vor dem Bild. Er braucht statt des Terminus Mythos das Wort Sage; erst diese Sage könne mit ihrem Zeigen die Bilder, also Anblicke und Zublicke und damit auch die Zeichen der Schrift sehen lassen. Dieser Vorrang des Wortes oder der Dichtung in der Kunst leitet auch den Sammelband Unterwegs zur Sprache; Stefan Georges Vers: »Kein ding sei wo das wort gebricht«, kann als Leitfaden dienen. In der Rede vom Wesen der Sprache macht Heidegger aber einen reichlichen Gebrauch von Bildern und Metaphern. Muß man nicht (von der Architektur her) wissen, was ein Haus ist, wenn man die Sprache als Haus des Seins oder auch nur als Weg des Ereignens mit Ortschaften und Orten nimmt? Die Festschrift Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag, 1959 von Günther Neske in seinem neuen Verlag in Pfullingen herausgegeben, zeigt den Philosophen in einem verwandelten Kontext: Die Fachphilosophen treten zurück, zu Physikern und Theologen kommen Kunsthistoriker und Philologen, aber auch Dichter und bildende Künstler. Heinrich Wiegand Petzet, der schon 1930 Heideggers Beziehung nach Bremen vermittelt hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Sicherung von Kunstschätzen befaßt war, vergleicht in seinem Beitrag ein kubistisches Stilleben von Juan Gris aus dem Kunstmuseum Basel und ein expressionistisches Gedicht Georg Trakls. Das Bild wie das Gedicht zertrümmern die übliche Anordnung von Formen und Farben; in den Fragmenten melden sich neu die Dinge, in denen sich aus der Ferne das Rettende und Heilige zeigt. Heidegger sagte dem Verfasser: »Sie wissen anscheinend gar nicht, was Sie da angerührt haben!« 101 Heidegger hatte in den ersten Nachkriegsjahren Trakls Weg in den Untergang als Weg in jene Abgeschieden100 Vgl. Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge (s. Anm. 98). S. 82,140 f; zum folgenden vgl. S. 93 f, 157,132, 171. Vgl. ferner Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959. 101 Vgl. H. W. Petzet (s. Anm. 46). S. 115. - Zum folgenden vgl. den Trakl-Aufsastz in Heidegger: Unterwegs zur Sprache (s. Anm. 100). S. 35 ff.

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heit erörtert, die über alle Mystik hinaus im Sagen der einfachen Dinge Mythos und Logos wie in der Zeit der griechischen Frühe zusammenkommen läßt. Dieses Zusammenkommen sucht Heidegger gerade auch bei den Malern (deren Bilder von den Griechen noch in die Propyläen verbannt worden waren). Die Schweiz, den Kriegszerstörungen entronnen, konnte nun mannigfache Anregungen geben. Im nahen Basel fand sich kein Weg zu dem einstigen Freund Jaspers; dafür zeigte das Museum Bilder von Cezanne. Mit Emil Staiger in Zürich erörterte Heidegger 1950/51 Mörikes Vers vom Schönen, das selig in ihm selbst scheint. Beda Allemann half, die Auseinandersetzung mit Hölderlin in neue Dimensionen zu führen. Die Theologen blieben nicht fern. Mit dem Arzt und Psychiater Medard Boss suchte Heidegger eine enge Verbindung, damit sein Denken nicht in den Stuben der Philosophen steckenbleibe, »sondern viel zahlreicheren und vor allem auch hilfsbedürftigen Menschen zugute kommen« könne. Heidegger und Boss faßten den Menschen als das Da, das in seiner Ganzheit dem Sein ausgesetzt ist. So gingen sie über die phänomenologische Psychiatrie von Ludwig Binswanger hinaus, die ihnen zu stark in der phänomenologischen Wesensforschung Husserls verharrte. Heidegger besuchte nicht nur 1956 die Cezanne-Ausstellung in Zürich. Er wandte sich auch gegen eine neue Verwissenschaftlichung der Daseinsanalyse durch Blankenburg. Diesem wurde die Bemerkung zugedacht: »eine >wissenschaftliche< Erörterung der >Lichtung< gibt es noch weniger als eine Differenzialgleichung für Cezanne's Mont Ste Victoire.«102 Seine Auseinandersetzung mit Ludwig Binswanger trug Heidegger 1965 in Amriswil vor - als etwas, was er nur noch auftragsgemäß gab. Die sechziger Jahre wurden geprägt durch die Ausstellungen der Galerie im Erker in St. Gallen. Ein Prospekt zeigt Heidegger zusammen mit Manzü in einer Manzü-Ausstellung. In Amriswil und auf dem benachbarten Schloß Hagenwil kam man zusammen. So konnte Heidegger z. B. Ionesco und Santomaso kennenlernen. Zadkine zeichnete für ihn 1965 eine blaue Märchenpflanze, die Heidegger sich erbat, aber dann an Petzet weitergab: Er war kein Sammler und antiquarischer Historiker. Heidegger sprach 1966 auf einer Ausstellung der Werke von Bernhard Heiliger; 1968 gab er zum 70. Geburtstag von Friedrich Georg Jünger den Hölderlin-Vortrag Das Gedicht. Mit Chillida, dem er 1962 auf seiner großen Züricher Ausstellung begegnete, traf er sich 1968 und 69 und schrieb die Gedanken Die Kunst und der Raum auf Lithographiestein.103 Vor einer illustren 102 Vgl. Martin Heidegger: Zollikoner Seminare. Hrsg. von Medard Boss. Frankfurt a. M. 1987. S. X, 317, 344, 262, zum folgenden 341. 103 Vgl. H. W. Petzet (S. Anm. 46. S. 163. - Zum folgenden vgl. die Reden von Staiger und Heidegger, in: Neue Zürcher Zeitung. 5. 10.1969. Vgl. auch Heidegger: Reden... (s. Anm. 50). S. 715 ff.

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Gesellschaft wurde 1969 der 80. Geburtstag Heideggers gefeiert; Emil Staiger hielt in der evangelischen Kirche Amriswil die Festtagsrede. In seinem Dankwort wies Heidegger darauf hin, daß das eigentlich Bewegende in Amriswil die Nähe zum Dorf Hauptwil sei. Von dort sei Hölderlin vorzeitig in seine schwäbische Heimat zurückgekehrt. In der letzten Strophe des Gedichts Heimkunft frage er, wie er den Dank für das Leben am Tage bringen könne: »Nenn' ich den Hohen dabei?« Heute werde das Glänzen der Natur, von dem Hölderlins letzte Verse sprachen, verstellt durch die Machenschaften des Menschen und die Bestellbarkeit von allem als bloßem Bestand; Heidegger fragte mit Hölderlin, was damit dem Menschen genommen werde. »Ist das Wohnen des Menschen heute der Aufenthalt im Vorenthalt des Hohen?« Gegenüber Karl Jaspers betonte Heidegger schon im Juli 1949, daß bei ihm selbst alles rückwärts gehe. Der Abschied vom Theologiestudium habe ihn 1911 zugleich aus der Theologie und aus der Metaphysik herausgedrängt; der dort begonnene Weg solle noch deutlicher bedacht werden. »Ich habe das Gefühl, nur noch in die Wurzeln zu wachsen und nicht mehr in die Äste.« Für den monatelangen Aufenthalt auf der Hütte in Todtnauberg beanspruchte Heidegger das Benediktinische Prinzip der stabilitas loci. Konnte die Hütte, wie einst die Klöster, der Keim einer anderen Zukunft sein? In der konzentrierten Stille der Tage dort oben oder im heimatlichen Meßkirch blieb die reiche Vortragstätigkeit verwurzelt, die z. B. nach Bremen, München und Berlin führte, dann auch in die Provence und nach Griechenland. Von Bremen aus fuhr Heidegger, wie schon 1930, zum Grabe von Paula Modersohn-Becker nach Worpswede; er besuchte 1951 auch die Rodin-Schülerin Clara Rilke in Fischerhude. Der Band Rainer Maria Rilke: Briefe über Cezanne. Hrsg. von Clara Rilke (Insel Verlag 1952) aus Heideggers Nachlaß trägt auf dem Vorsatzblatt eine handschriftliche Widmung Clara Rilkes von 1952 mit dem Dank für zwei Vorträge und zwei Besuche. Mitte der fünfziger Jahre führte der Weg zum Kröller-Müller-Museum nach Otterlo. München war zuerst einmal der Ort, wo Carl Orff mit seiner Antigone die griechische Tragödie erneuerte; in der Akademie der schönen Künste konnte die Begegnung mit bildenden Künstlern nicht ausgespart bleiben. Westberlin, der Luftbrückenpfeiler der Freiheit, kam nahe, da die dortige Akademie der schönen Künste Heidegger 1957 (vor der Münchener Akademie der schönen Künste und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften) zu ihrem Mitglied wählte. Heidegger, der sich so skeptisch über technische Errungenschaften äußerte, zeigte große Freude am Fliegen (wie er ja auch das Fernsehen bei seinen überraschten Freunden akzeptierte und nutzte, wenn ein großes Fußballspiel übertragen wurde). Es war Medard Boss, der Heidegger im Frühjahr 1952 durch eine gemeinsame Fahrt nach Perugia und Assisi aufmunterte. Als man die berühmten fran-

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zösisch-deutschen Gespräche von Pontigny wieder aufnehmen wollte, war Heidegger 1955 der Hauptredner in Cerisy-la-Salle in der Normandie. Er besuchte dann aber nicht die Professoren der Sorbonne, sondern den Maler Georges Braque in Varengeville. In Paris lernte er Rene Char kennen, der ihn in die Provence einlud. Heidegger war 1956 und 57 in Aix; dort stellte er 1958 seine Destruktion der abendländischen Tradition unter dem Titel Hegel und die chen vor. In der Nähe von Chars Wohnsitz fanden 1966, 68 und 69 Seminare mit französischen Freunden statt. Der Blick auf die Montagne Sainte Victoire prägte die Erörterungen. Als der Mensch zum Mond geflogen war, sah Heidegger kein bindendes Maß mehr für das Leben der Menschen auf der Erde, sondern nur noch technische Verhältnisse. Als die Provence durch Raketenbasen »verwüstet« wurde, sagte Heidegger 1966 im Gespräch mit der Zeitschrift Der Spiegel, der Dichter und Widerstandskämpfer Char, der gewiß nicht im Verdacht der Sentimentalität stehe, habe ihm gesagt, die Entwurzelung des Menschen, die da vor sich gehe, sei das Ende, wenn nicht noch einmal Denken und Dichten zur gewaltlosen Macht gelangten. Zu diesem Denken und Dichten gehörte das Malen Cezannes; dieser Maler war nun Heideggers Partner, als ob Vincent van Gogh nie in der Provence gelebt hätte. (Als dann nach dem Ende des kalten Krieges die Raketen aus der Provence abgezogen wurden, gab es die Proteste gegen die so entstehende Arbeitslosigkeit.) Als der Sammelband Unterwegs zur Sprache ins Französische übersetzt worden war, bekam Char ein Exemplar mit einer Widmung. An Worte von Char, die uns die Nähe des Dichtens und Denkens bezeugen, schloß Heidegger die Frage an: »Ist die geliebte Provence die geheimnisvoll unsichtbare Brücke vom frühen Gedanken des Parmenides zum Gedicht Hölderlins?« 104 Hölderlin hat die Provence eigens genannt im Entwurf Vom Abgrund nämlich; mußte sie nicht auf Griechenland zurückverweisen? Als Heidegger 1962 endlich die lange geplante Reise nach Griechenland unternahm, führte er ein Tagebuch Aufenthalte über die Schiffsfahrt von Venedig nach Olympia, nach Kreta, Rhodos und Delos, nach Athen, Ägina und Delphi. Diese Aufzeichnungen sehen Griechenland im Lichte des Mythos; doch weiß Heidegger, daß ein anderes Griechenland, nämlich das der Philosophen, zu unserer modernen Welt der Wissenschaft, Technik und Industrie geführt hat. So gelangten auch die Zeugnisse vom alten Griechenland in die Museen, die von Heidegger zwar in Olympia, aber schon nicht mehr mit den Besuchermassen in Athen und Delphi besucht werden. Wie jeder Tourist findet Heidegger jene herumfotografierenden Touristen unerträglich, die ihr Gedächtnis »wegwerfen« in das technisch hergestellte Bild (32).105 104 Vgl. Martin Heidegger: Vier Seminare. Frankfurt a. M. 1977. S. 149. 105 Seitenzahlen beziehen sich hier und im folgenden auf Heidegger: Aufenthalte (s. Anm. 14). Vgl. jetzt auch Heidegger: Zu Hölderlin / Griechendland (S. Anm. 97). S. 213 ff.

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Was Korfu und Ithaka zu sagen haben, möchte Heidegger sich - vergebens von der Odyssee, ihrem Bericht über die Phäaken und über die Heimat des Odysseus, her verständlich machen (5). Pindar soll die Kämpfe um den Sieg in Olympia nahebringen (9). Die Orestie des Aischylos muß vom Berg von Argos sprechen, aber auch vom Athener Tempelberg (12, 25). Goethes Weise, in Sizilien die Nähe Griechenlands zu erfahren, wird als römisch-italisch geprägt zurückgewiesen (5). Was aber meinte Goethe, wenn er sich im April 1787 in Palermo notierte: »Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem«? Er besuchte jene großen Güter, die in einmaliger Weise die Fruchtbarkeit der Natur und das Wohlbehagen der Menschen hervorkommen lassen, so über die Unterschiede der Kulturen hinausweisen. Heidegger aber folgt allein Hölderlin, weil diesem in Griechenland das große Geschick tönt. Weil Hölderlin nicht dort gewesen sei, habe er vorausblickend die geflohenen Götter mitnehmen können in die Ankunft des kommenden Gottes (1). Heidegger nimmt nicht auf, wie Hölderlin Patmos von jenem Johannes der Apokalypse her sah, der für ihn auch der Apostel war. Weder in Patmos noch in Rhodos verläßt Heidegger mit den anderen Touristen das Schiff (vielmehr liest er in seiner Kajüte seinen Heraklit). Angesichts des Parthenon in der ersten Morgenfrühe will Heidegger nicht wahrhaben, daß dieser Tempel zur Marienkirche umgestaltet worden war, dann Moschee wurde, durch die Venezianer in die Luft gesprengt, durch eine Society of Dilettanti schließlich neu entdeckt und rekonstruiert wurde. Wenn Heidegger im Museum von Olympia die Tempelplastik sieht, die vom Kampf der Lapithen und Kentauren und vom Wettkampf zwischen Pelops und Oinomaos spricht, reißt eine Kluft auf zum heutigen Kunstwollen. Das Gestellte und zugleich Standlose, das in sich verstrickt der Machenschaft des Industriezeitalters ausgeliefert bleibe, vermöge nicht einmal das Eigene dieser Welt zu zeigen und schon gar nicht auf den Weg der Verwandlung dieser Welt zu bringen (10). Ist schon gänzlich vergessen, wie Heidegger in den Jahren vorher von Klees Bildern her nach einer Kunst im Zeitalter der Technik gefragt hatte? Heidegger erinnert sich, daß man ihm auf dem Gymnasium in Konstanz den Hermes des Praxiteles als das endlich gefundene große Ergebnis der deutschen Ausgrabungen in Olympia hatte nahebringen wollen; erst anderthalb Jahrzehnte später habe der junge Freiburger Ordinarius Buschor eine Verständnishilfe gegeben, nämlich durch eine Vorlesung mit dem seltsamen Titel Die Plastik der Griechen von Parmenides bis Plotin (11). Liest man Buschors Text Die Skulpturen des Zeustempels zu Olympia von 1924 nach, dann wird deutlich, daß der Rückgang des Archäologen zum Archaischen sich von Heideggers Rückgang zum Anfänglichen unterscheidet: Buschor versteht nicht nur die Plastik vom Zeustempel in Olympia als Weiterbildung des Archaischen, sondern auch noch den Hermes

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des Praxiteles als Nachglanz. Für ihn ist auch Plotin nicht einfach ein Spätling, der Verfall und Ende des Griechentums an die nachfolgenden Jahrhunderte überliefert; vielmehr führt er zu neuen Welten. So übertrug Buschor nicht nur die griechische Tragödie, sondern auch die Carmina burana. Die Münchener Akademierede Technisches Sehen gab eine Phänomenologie der römischen und spätantiken Kunst; andere Arbeiten führten von den griechischen Standbildern zum Jahrtausend der Engel und zu Picasso und Bernhard Heiliger.106 Wenn Heidegger das anfänglich Griechische sucht, dann folgt er griechischen Grundworten. So hört er im Namen der Insel Delos das Entbergen, im Namen der Aphaia von Ägina das Nichterscheinen; beides verweist dann auf die Aletheia, die bald verstellte Erfahrung der Unverborgenheit. Die wirkliche griechische Frühgeschichte bleibt ausgeklammert: Schon dem Minoischen, mehr noch dem Kretischen begegnet Heidegger mit Argwohn. Er fragt nun nicht mehr mit Theologen wie Deißmann oder Bultmann nach dem Licht aus dem Osten. Die Bläue von Himmel und Meer vor Rhodos, die sich stündlich verändert, bringt ihn auf den Gedanken, ob uns der Orient noch ein Aufgang des Lichtes und der Erleuchtung sein könnte, ob nicht vielmehr nur noch historisch hergestellt und künstlich durchgehaltene Lichter den Schein einer von dort kommenden Offenbarung vortäuschten (16). Das Kloster Kaisariani bei Athen ermöglicht einen Abschied, weil es das alte Heiligtum der Artemis noch durchscheinen läßt. Die kultisch zentrierte orthodoxe Kirche wird gegen das kirchenstaatlich-juristische Denken der römischen Kirche und ihrer Theologie ausgespielt (28). Gleich am Anfang der Reise hatte Heidegger beim Sonntagsgottesdienst im Dom von Venedig nur noch eine Schaustellung gefunden und Venedig überhaupt abgetan als Reizbild ratloser Schriftsteller (3 f).107 Im Frühjahr 1963 suchte Heidegger im einstigen Kloster San Domenico bei Taormina Erholung (von einer bedrohlichen Lebererkrankung). Das Meer und die Küste, die Fahrten ins Innere Siziliens lenkten den Blick nach Griechenland. Mit Medard Boss, der ihn begleitete, führte Heidegger Gespräche über die daseinsanalytische Psychologie, aber auch über den Bericht von Boss über eine Indienreise. Heidegger widersprach der indischen »Entmenschlichung«, in der das Dasein aufgeht in der »reinen Helle«, dem Aufgehen der Gelichtetheit an sich im Brahman. Er bestand darauf, daß der Mensch in seiner Endlichkeit als Hirte der Lichtung gebraucht, aber nicht die Lichtung selbst sei. So habe der Mensch die »Erde« zu hüten, die schon »vor« ihm sei. Im Christlichen bleibe 106 Vgl. den Wiederabdruck des Aufsastze von 1924 in Ernst Buschor: Von griechischer Kunst. 2. Aufl. München 1963. S. 65 ff. Vgl. ferner Ernst Buschor: Technisches Sehen. München 1952 und 1979. 107 Die Weise, in der Paul Celan Hofmannsthals Erzählung Andreas aufnahm, widerlegt diese Sicht; vgl. Pöggeler. Spur des Worts (s. Anm. 49). S. 300 ff.

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jenes nunc stans Gott vorbehalten, in dem das schon gewesene und noch kommende Seiende anwese. Doch suche die christliche Mystik eine Erfahrung dieses nunc stans.ws Im Frühjahr 1964 ging Heidegger wieder nach Agina, weil er die »Atmosphäre Griechenlands« brauchte, um eine für ihn »entscheidende Sache« niederzuschreiben. Er begründete eine Kreuzfahrt nach Griechenland im Frühjahr 1966 damit, daß er den Tempel von Bassai besuchen wollte, auf den der Kunstwerk-Aufsatz angespielt hatte. Diese Reise behielt etwas Enttäuschendes. Er habe, so berichtete Heidegger am 17.5.1966 an Erhart Kästner, zum Vergleich ständig den »ruhigen, fruchtbaren Aufenthalt auf Agina im Sinn« gehabt. »Die Seereise war schön und die Mitfahrenden auf dem Motorschiff angenehm. Griechisches nur der Apollontempel in Phigalia, bald wird seine Einsamkeit dahin sein; an der kleinasiatischen Küste ist das Griechische vom hellenistischen und römischen Riesigen überdeckt. Ungeahnt gewaltig Lesbos; Istanbul fremd und kalt - die Hagia Sophia als Bauwerk großartig, wenn man die islamischen Zutaten wegdenkt.« Istanbul zeigt wie keine Stadt sonst die Überlagerung der verschiedenen Kulturen in der Geschichte; es wird heute überflutet von den Massen, die vom Osten zum Westen drängen. Doch der Zusammenhang der Kulturen in der immer gefährdeten Weltzivilisation war Heideggers Sache nicht. Schon die hebräische Tradition, als »alttestamentlich« ausgegeben, war Heidegger fremd geworden; zum Islamischen fand er niemals ein Verhältnis. Er ließ nicht gelten, daß auch und gerade die Araber Vermittler des Griechischen geworden waren; das Orientalische blieb so fern, daß Heideggers Bezug auf Klee die epochal bedeutsame Tunesienreise ausließ. Sicherlich übte Heidegger im Sommer 1966 seine Zahnprothese mit dem lauten Lesen von Goethes Italienischer Reise ein; doch es waren die frühen Griechen, an deren Denken er sein Denken messen wollte. Auch unabhängig von dem Heraklit-Seminar, das er im Winter 1966/67 mit Eugen Fink abhielt, war Heidegger »gesammelt bei den Griechen«: »Sie sind die einzigen großen Lehrmeister des Denkens.« (So hieß es in Briefen an Medard Boss vom 15.6. und 15.8.1966 und am 15.1.1967.) So gab Heidegger im April 1967 einem Vortrag in der Akademie der Wissenschaften und Künste in Athen den Charakter eines abschließenden Vermächtnisses. Die Bestimmung des Denkens wird erfragt aus der Erörterung der Herkunft der Kunst. Die Kunst und das Denken werden aus der griechischen Geschichte heraus gesehen; vorausgesetzt ist, daß der Anfang eines übergreifenden Geschicks »das Größte« ist, das allem Nachkommenden voraus waltet. Von den Metopen des Zeustempels in Olympia und einem Weiherelief im Akropolis-Museum her zeigt Heidegger, daß die physis als das Aufgehende und 108 Vgl. Heidegger. Zollikoner Seminare (s. Anm. 102). S. 223 f, zum folgenden 335 und 340.

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Verweilende ins Licht tritt, wenn das Land den Ölbaum als Geschenk der Göttin empfängt oder als bewohnbare Insel und durch einen heiligen Berg in seine Grenzen gebracht wird. Dabei ist das wissende Hervorbringen jener techne nötig, die von der Göttin gestiftet wird und im Werk Gestalt erlangt. In der modernen Kunst wird aber nicht mehr die Welt eines Volkes durch das Werk der Kunst in ihre prägenden Grenzen gebracht. Diese Kunst gehört in jene Weltzivilisation, in der Wissenschaft und Technik mit dem Zugriff auf das Atom und die Genstruktur die Führung übernommen haben. Hier versucht die »Industriegesellschaft« durch die Kybernetik als umgreifende Informationsverarbeitung eine Selbstregulierung, die auch die Zukunft futurologisch vorplant. Demgegenüber erinnert Heidegger daran, daß die Entbergung in der Unverborgenheit das Sichverbergen »beschweigen« müsse. Die Scheu vor dem Geheimnis soll zurückrufen zur Aletheia, die »älter ist und anfänglicher und darum bleibender als jedes vom Menschen ersonnene und von Menschenhand erwirkte Werk und Gebild«. Hat Heidegger es aufgegeben, eine »moderne« Kunst zu suchen, die die Technik in ihre Grenzen weist, aber anders als die griechische Kunst in die Nähe der ausgebildeten Technik gehört? 109 Als Heidegger in der Athener Akademie auf die Freitreppe trat, blickte er auf eine riesige Studentendemonstration; auf dem Piräus entdeckte er dann amerikanische Kriegsschiffe. Die Herrschaft der Obristen kündigte sich an. Zeigten Griechenland und das Mittelmeer überhaupt noch das Geschick der letzten zweitausendfünfhundert Jahre? Schon der folgende Monat brachte eine weitere Griechenlandreise; Heidegger berichtet über diese »Kreuzfahrt« in den Aufzeichnungen Zu den Inseln der Ägäis. Die Aufgabe sei nicht gewesen, wie 1962 aus dem Anblick der Natur und der erhaltenen Werke die Aletheia als Anfang des abendländischen Denkens zu erfahren; das Selbe habe nun anders, nämlich in der Zwiesprache mit Hölderlins Dichtung, gefunden werden sollen. Schon die Eisenbahnfahrt zum Münchener Flughafen zeigte nahe bei Hölderlins Heimat im »schwäbischen Industriegebiet«, was bestimmend geworden war: »die Wirtschaft und der Lebensstandard und Fortschritte«. Die »demokratische Gesellschaft« berufe sich zu Unrecht auf die griechische Polis. Heidegger zitiert Jacob Burckhardts Brief an Max Alioth vom 16. Dezember 1883, nach dem die Demokratie Griechenland den Untergang brachte. Durch Hölderlins Archipelagus läßt Heidegger sich die griechischen Inseln als Mütter der Heroen zeigen. Das verchristlichte Naxos lockt nicht. Auf Rhodos macht Heidegger 109 Vgl. Heideggers Athener Rede in: Distanz und Nähe (Festschrift Walter Biemel). Würzburg 1983. S. 11 ff. Vgl. meine kritischen Anmerkungen zu dieser Rede in der Gedächtnisschrift für Heidegger von 1989, jetzt auch in Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit (S. Anm. 96). S. 233 ff, vor allem 244 ff. - Zur Griechenlandreise von 1967 vgl. Heidegger: Zu Hölderlin / Griechenlandreisen (S. Anm. 97). S. 249 ff.

DIE KUNST IM ANDEREN ANHANG

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nun die Busfahrt nach Lindos mit; der Siebenundsiebzigjährige scheut nicht den Aufstieg zum dorischen Tempel. Heidegger sieht auf der unteren Terasse die Reste »vor allem spätrömischer Tempelanlagen«; er beachtet aber nicht, daß die hellenistische Architektur über die einfachen Formen von Haus und Tempel hinaus zu umfassenderen Anlagen führt und so das spätere abendländische Bauen (noch im Barock) vorbereitet. Auf Patmos erwähnt Heidegger, daß das Johannes-Kloster im 15. Jahrhundert von ungefähr 500 Mönchen bewohnt gewesen sei; jetzt bestehe die Hauptaufgabe der verbliebenen 15 Mönche darin, die Fremdenströme zu lenken. Auf halber Höhe sah Heidegger die Kapelle mit dem Spalt, aus dem Johannes die Offenbarung gehört haben soll. Der mitreisende Dichter und Schriftsteller Eckart Peterich verweilte dort lange im Gebete. Er hatte vorher in einem Vortrag den Zusammenhang von Landschaft, Mythos und Gottheit behandelt. In dieser Zusammenstellung hatte Heidegger den römisch-christlichen Naturbegriff gefunden, zu dem die römische religio (als Rückbindung und Sicherung) trete. Für Heidegger zeigt die Natur als physis selber das Göttliche, dem das Heiligtum entspricht. In Tischgesprächen mit Eckart Peterich trägt Heidegger seine Bedenken vor gegen dessen Nachzeichnung des Weges von den griechischen Göttern zu Christus (den er auch von Erhart Kästner vorgeführt bekam). »Der Hinweis auf Hölderlins >Christushymnen< verfing allerdings nicht, da Peterich an der unhaltbaren These haften blieb, nach der Hölderlin in der letzten Phase seines Dichtens - zwischen 1800 und 1804 - eine entscheidende Rückwendung zum Christentum vollzogen haben soll.« Muß man aber nicht Heidegger vorhalten, daß er nicht las, wie Hölderlin auch im späten Entwurf Griechenland auf die christliche Geschichte einging? Die Gespräche über das Anfängliche in Griechenland wurden fortgesetzt in Südfrankreich. Heidegger hielt dort 1966, 1968 und 1969 Seminare mit französischen Freunden in der Provence, die ihm eine Brücke nach Griechenland war. Die Provence war also für ihn nicht das Land, das die römische Bezeichnung als Namen behielt, auch nicht das Land der Minnesänger, der gnostischen Ketzer oder Petrarcas, nicht einmal die zeitweilige Zuflucht von Vincent van Gogh. Le Thor, das mittelalterlich geprägte Städtchen im Vaucluse-Hochland östlich von Avignon gab den Blick auf das Luberon-Gebirge frei. Von dort konnte man bei Wanderungen gelegentlich bis zur Montagne Sainte Victoire sehen. Nach den Seminaren am Morgen besuchte man Rene Char in seinem Haus Les Busclats in LTsle-sur-la-Sorgue. Die Gespräche kreisten dabei um Hölderlin und Rimbaud. Das Seminar vom August/September 1968 schloß eine Fahrt nach Aix ein, wo Heidegger das Atelier Cezannes am Chemin des Lauves besuchte: der Anlaß für Heideggers Gedicht Cezannel Ein Foto zeigt Heidegger in Bibemus mit dem Blick auf die Montagne St. Victoire. So trat Cezanne zu

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II. PHILOSOPHIE UND KUNST BEI HEIDEGGER

den Griechen; doch das Seminar von 1969 hielt fest, daß das »Ereignis« nicht mehr »griechisch« gedacht werden könne. Wie aber dachten die Griechen überhaupt? Ein letztes Seminar aus dieser Reihe brachte 1973 in Freiburg-Zähringen den Widerruf dessen, was der Text Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens 1964 über Parmenides und den Anfang des griechischen Denkens gesagt hatte. 110 Heidegger erinnert daran, daß das Wort »Ende« den Ort meine (z. B. in der Redewendung »von einem Ende zum anderen«). »Ort« meine die Versammlung in die äußerste Möglichkeit (so daß die Spitze des Speers »Ort« genannt werden konnte). Hegel und Husserl hätten diesen Ort für die Philosophie in jener Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft gesucht, die der Beginn der technisch geprägten Weltzivilisation sei. Diese Philosophie, damit auch Wssenschaft und Technik setzten aber schon eine »Lichtung« voraus, in der sie sich entfalten könnten. Sicherlich hat Heidegger selbst einmal an die Lichtmetaphysik erinnert; doch nun faßt er die Lichtung von der Waldlichtung her als eine ausgegrenzte Offenheit, in die sowohl Licht wie Dunkel einfallen können. Er will die Aletheia als Unverborgenheit erfahren »und sie dann, über das Griechische hinaus, als Lichtung des Sichverbergens denken«. Das Ende der Philosophie, als Ort erörtert, zeigt die bleibende Aufgabe des Denkens. Parmenides habe von der »gut gerundeten Unverborgenheit« sprechen können, weil die lethe zur aletheia gehöre - nicht als bloße Zugabe und nicht wie der Schatten zum Licht, sondern als deren »Herz«. Heidegger mag sich daran erinnern, daß Hölderlin in der Hymne Wie wenn am Feiertage in jenem Vers, den Heidegger als den letzten und abschließenden ansah, vom »ewigen Herzen« gesprochen hatte, das in allen göttlichen und menschlichen Leiden »fest« bleibe.111 Doch im Zähringer Seminar von 1973 trägt Heidegger einen Text über Parmenides aus dem Winter 1972/73 vor, der eine »notwendige Berichtigung« des Textes von 1964 bringt: Parmenides sage nichts davon, daß die lethe als Herz zur Unverborgenheit gehöre. Die aletheia sei »erfahren«, nämlich rein bemerkt als Unterschied von Sein und Seiendem. Sie dürfe nicht »als leere Offenheit« vorgestellt werden; sie müsse vielmehr als »schicklich« umkreisende Entbergung gedacht werden. So konnte die Metaphysik sich dann doch an Parmenides anschließen; auch im Anfang des Denkens zeigt sich keine Spur zu dem, was Heideggers Thema war: die Lichtung, die das Sichverbergen als ihr Geheimnis eigens birgt. Das Denken darf nicht zu Parmenides zurückkehren wollen; es

110 Vgl. den Vortrag in Heidegger: Zur Sache des Denkens (S. Anm. 14). S. 61 ff. Das Foto von Bibemus bei Petzet (s. Anm. 46), vor S. 193. 111 Vgl. Heidegger: Zur Sache des Denkens (s. Anm. 14). S. 78 ff. Zur kontroversen Deutung (von Walter Bröcker und mir) des späten Bezugs auf Parmenides vgl. Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (S. Anm. 83). S. 247.

DIE KUNST IM ANDEREN ANFANG

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muß sich ihm zukehren, um von ihm her und doch auf anderen Wegen das bei ihm Vergessene, die Bergung des Sichverbergens, als Aufgabe zu übernehmen. Das Seminar von 1973 nahm die Weise auf, in der Karl Marx die Selbstproduktion des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens denkt. Doch berge diese Selbstherstellung »die Gefahr der Selbstzerstörung«. Das zeige sich daran, daß die Produktionszwänge durch die Weckung immer neuer Bedürfnisse progredieren müßten, die Touristik z. B. nicht mehr dadurch eingeschränkt werden könne, daß der Mensch lerne, bei sich zu Hause zu sein. Auf die Frage, ob es heute noch ein Zuhausesein gebe, antwortet Heidegger konkret: »Nein, es gibt >WohnmaschinenDemokratie< von unten gegen ein zahlloses Oben zugrunde.« 114 Heidegger sieht zu recht den Untergang dort, wo die De mokratisierung nur den Sieg des Mittelmaßes besiegelt. »Demokratische« Ent scheidungen eines Kunstvereins über das Ursprüngliche und Neue in der Kunst kann es überhaupt nicht geben. Doch von einer falschen Demokratisierung zu unterscheiden ist der demokratische Aufbau von unten herauf im politischen Bereich. Auch Hegel hat in den §§ 314 ff seiner Rechtsphilosophie die »Öffent lichkeit« ständischer Verhandlungen gefordert und sie verknüpft mit der Aus bildung der »öffentlichen Meinung«. Wer von Hegel oder Tocqueville her denkt, muß darüber erschrecken, wie Sein und Zeit im § 27 die Öffentlichkeit nur mit dem alles nivellierenden Man verbindet. Als Heidegger sich für seine zeitweilige Verbindung mit Hitler rechtfertigen mußte, klagte er im Humanis musbrief die »Diktatur der Öffentlichkeit« an. Wem die Heroen Achill und Aias von den griechischen Inseln Leitbilder sind, kann kaum Kunst und Poli tik in angemessener Weise verknüpfen. Er geht vorbei an den politischen Auf gaben, wie sie uns in unserer Zeit gestellt sind. Mußte sich nicht rächen, daß Heidegger in seiner zeitweiligen und so verspäteten Nähe zu Klee den Versuch des Bauhauses ausgelassen hatte, das Beispiel eines demokratischen Neuaufbaus zu geben und dabei sich der Konfrontation der Kunst mit der Technik zu stel len? So bleibt zu fragen, wie Heidegger den Bildern und den Überlegungen Klees überhaupt begegnet ist.

114 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 231 f. Zu Petzets problematischem Bild von Heidegger vgl. Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 208 ff. Alle Grenzen über schreitet die satirische Spiegelung bei Arnold Stadler: Der Tod und ich, wir zwei. Salzburg und Wien 1996 u.ö.

III. Klee im Blickfeld Heideggers

Martin Heidegger hat zweimal die Impulse der Zeit getroffen und unmittelbar eine breite öffentliche Wirkung erreicht: mit Sein und Zeit und überraschenderweise nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Forderung einer »Kehre«. Mußte man nicht fragen, wie alle Bemühungen Heideggers einen Weg des Denkens ergaben, der immer tiefer in den Weg des Abendlandes einzudringen und diesen neu zur Entscheidung zu stellen sucht? Heidegger hat die Unterlagen seiner Vorlesungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs aufbewahrt, weil die Vorlesungen propädeutisch und didaktisch in seine Fragestellung einführten. Die systematischen Ausarbeitungen bis hin zu den Beiträgen zur Philosophie, soweit sie nicht in fragmentarischer Weise gedruckt worden waren, hat er vernichtet, weil er den endgültigen Ansatz suchte. Nach dem Scheitern der Beitrage hat er Jahr um Jahr hunderte von Seiten mit immer neuen Entwürfen gefüllt und alle diese Versuche aufbewahrt. Zu diesen gut dokumentierten Seiten seines Werkes und seiner Wirkung treten die Anstöße, die er in Gesprächen gab. So hat seine Marburger Hörerin Hannah Arendt mit Heidegger und gegen ihn nach dem Verhältnis von Philosophie und Politik gefragt, hat Rudolf Bultmann die Frage nach der Möglichkeit einer Theologie des Neuen Testamentes festgehalten, Hans-Georg Gadamer die Infragestellung der Geisteswissenschaften zu einer Auslegung des Wahrheitsgeschehens in ihnen fortgeführt. Der Bezug auf Klee gehört zu den Ansätzen, die Heidegger wieder fallen ließ. Die Intensität der Gespräche über Klee blieb den Beteiligten dennoch unvergessen. Mir selbst war 1957 bei einem Aufenthalt in Paris die Präsenz Heideggers im französischen Denken deutlich geworden; Jean Wahl hatte an der Sorbonne jahrelang über Heidegger gelesen. Heidegger selbst nahm einen Bericht über Wahls Rezeption seines Denkens zum Anlaß, mich für drei heiße Sommertage im Juli 1959 zu Gesprächen nach Freiburg-Zähringen einzuladen. Ich kannte seine frühen Freiburger Vorlesungen durch seinen damaligen Gefährten Oskar Becker, meinen Lehrer; als vermittelnde Glieder zu seinem Spätwerk gab er mir die Beiträge zur Philosophie von 1936-38 und die Schrift Das Ereignis von 1941/42. Er zeigte mir auch, was nach seinen Worten sein »Hauptwerk« werden sollte: eine Fülle von Zetteln, geordnet in den Schubern der Hegel-Jubiläumsausgabe. Er habe, so sagte Heidegger, alle Gedanken zusammen, doch fehle ihm die Sprache. Mit verlegenem Lächeln fügte er hinzu, man könne doch

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III. KLEE IM BLICKFELD HEIDEGGERS

nicht dichten. Auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers lag ein weiteres Blatt; oben rechts, unten links und irgendwo in der Mitte stand jeweils ein Wort, und um diese Grundworte herum hatte Heidegger dann geschrieben. War ein solcher Text noch lesbar? Überraschend war die Intensität, mit der Heidegger über Paul Klee sprach. Heidegger betonte, daß er von Klee her einen zweiten Teil, ein »Pendant« zu seinem Kunstwerk-Aufsatz schreiben wolle. Er meinte aber, Klee habe noch mehr »gedacht«, als in der kantischen Manier seiner Texte ausgesagt sei. Heidegger berichtete von seinem Besuch der Ulmer Hochschule für Gestaltung. (Diese Hochschule, verbunden mit der Geschwister Scholl-Stiftung, versuchte mit Max Bill das Programm des Bauhauses aufzunehmen, also die Kunst in die technische Welt einzuführen.) Man habe in Ulm so getan, als ob Klee ganz überholt sei, was keineswegs der Fall sei. Heidegger hatte den Lyriker Paul Celan nach Ulm empfohlen; doch auch dabei mußte er die Erfahrung machen, daß man seinen Hinweisen nicht folgte. (Celan selbst sagte mir dazu, Heideggers Bemühungen seien von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.) Der Schweizer Bill war nur an kunsttechnischen Experimenten interessiert; da konnten die Motive der Geschwister Scholl oder gar Celans nur stören. Paul Klee war für Heidegger jedenfalls kein moderner Maler unter anderen, sondern jener, der in die Entscheidung über den Weg der Malerei stellt. So zeigte Heidegger sich ganz unbefriedigt über das bahnbrechende Buch von Werner Haftmann Malerei im zwanzigsten Jahrhundert; dort wurde eine große Synthese gesucht, auch zwischen dem, was getrennt werden muß, etwa zwischen Picasso und Klee. Ein dreitägiger Besuch in Zähringen im April 1961 galt vor allem letzten Fragen zur Anlage und Ausgestaltung meines Buches Der Denkweg Martin Heideggers von 1963. Geplant war damals noch ein zweiter Band, der zur Einführung die Auseinandersetzung über exemplarische Fragen stellen sollte. Ein Kapitel sollte sich auf die Kunst beziehen, aber beschränkt bleiben auf Heideggers Bestimmung des Dichterischen von der Dichtung her. Als wir bei einem Spaziergang Bekannte trafen, berichteten diese über die jüngsten Aktivitäten von Maurice Merleau-Ponty. Hier interessierte die Nähe zu Heideggers Spätphilosophie und dann die Zuwendung zur Malerei. Nicht deutlich wurde, ob Heidegger selbst sich in Merleau-Ponty eingelesen hatte (über die Lektüre der logie de la Perception unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hinaus). Ich wollte den Impulsen und Fragen folgen, die wirklich zu unserem Leben gehören; so wollte ich nicht nur Hölderlin oder Trakl in den Untergang folgen, sondern auf einen Dichter unserer Zeit hören. Damit traten Überlegungen über Paul Celans Gedichte in den Vordergrund. Celan hatte 1957 in Paris eine Zusammenarbeit mit mir über seinen Plan einer Phänomenologie des Dichterischen gesucht; dabei war er besonders für Heideggers Spätwerk eingetreten, dessen Sprachgestus mich oft störte. Die verdeckte Kontroverse zwischen Heidegger und Buber 1959/ 60 über

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die Sprache hatte Celans Aufmerksamkeit gefunden. Wenigstens in aller Kürze hatte Celan seine Grundgedanken 1960 in der Büchner-Preis-Rede Der Meridian vorgetragen. Diese Rede trat nun in den Gesprächen mit Heidegger in den Vordergrund. Einen Maler unserer Zeit, der für mich so überzeugend wie Celan gewesen wäre, hatte ich nicht gefunden; Klee mochte für die Moderne stehen, aber eben doch für eine schon klassisch gewordene Moderne, zu der die Erfahrungen von Auschwitz, Dresden und Hiroshima noch nicht gehörten. Trotzdem wurde sichtbar, daß die Konstellation der dreißiger Jahre sich bei Heidegger wiederholte: Damals waren die Beiträge zur Philosophie mit ihrem umfassenden Ansatz auf den Kunstwerk-Aufsatz gefolgt; jetzt sollte zu Überlegungen über Klee die Spätphilosophie des Hauptwerks treten. Didaktisch übersichtliche Bücher wie die Vorlesung Der Satz vom Grund oder die Vorträge Identität und Differenz ließen damals die Frage noch nicht aufkommen, ob Heideggers Arbeit mit der endlosen Reihe von Zetteln sich noch zu einem Werk füge. Freilich brachte die (heute noch unpublizierte) Schrift Das Ereignis von 1941/42 schon einen Schock: Wie konnte der Stil eines Autors sich so schnell ändern? Die Beiträge zur Philosophie sind ohne den Einfluß von Nietzsche auch in der Sprechweise nicht zu verstehen; die Schrift Das Ereignis (oder auch die publizierte Arbeit Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus im zweiten Band des Nietzsche-Werkes) setzt offensichtlich eine Erfahrung voraus, die vom großen Stil Nietzsches weg zum bescheidensten Sagen unscheinbarer an-" derer Anfänge führt. Die Wahrheit »wohnt« dort unter den Menschen, wo wenigstens zwei vom Selben sprechen. In diesem Sinne fand ich 1984 in Heinrich Wiegand Petzets Heidegger-Buch eine Bestätigung für Heideggers zeitweilige Vorliebe für Klee. Freilich kam dieses Buch aus einer anderen Welt; es ging nicht aus von der phänomenologischen Philosophie, weder von ihrer schönsten Phase in den Differenzierungen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg noch von den Radikalisierungen in Paris. Die Begegnung des Kunsthistorikers Petzet mit Heidegger begann 1929, als bei Heidegger die Kunst in einer ersten Kehre seines Denkens wichtig wurde. Unannehmbar für mich blieb, daß Petzet wie ein Hofhistoriograph Heideggers politische Verirrungen nicht entschieden aufdeckte. Doch konnte der Kunstkritiker Details über Heideggers Auffassung von Kunst beibringen, auf die die Diskussion nicht mehr verzichten kann. Petzet bestätigt ausdrücklich, daß die Begegnung mit Klees Bildern und Texten Heidegger dazu brachte, einen »zweiten Teil« zur Abhandlung über den Ursprung des Kunstwerks schreiben zu wollen. 115 Petzet kann leider nicht mehr feststellen, wann »Werk und Gestalt Klees« in den fünfziger Jahren »in die Gespräche über Kunst und Künstler rückten«. 115 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 154, 157, 159, zum folgenden 155.

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»Waren es meine häufigen Unterhaltungen mit Georg Schmidt in Basel, die sich fast immer um Klee drehten und von denen ich öfters berichtet habe? Gaben die Briefe Rilkes an Klee, die Felix Klee mir für eine Publikation zugänglich machte, den Anlaß? Oder war es der überwältigende Eindruck des Kleeschen Erbes in der Berner Wohnung, die der Sohn mir bei einem langen abendlichen Besuch gezeigt und kommentiert hatte?« Als die Baseler Galerie Beyeler die Klee-Sammlung des amerikanischen Industriellen David Thompson zeigte, welche dann nach Düsseldorf kam, »rückte das Thema Klee rasch in die Mitte der Erörterungen«. Petzet berichtet Äußerungen von Heidegger zu den Bildern dieser Sammlung; er gibt auch wieder, welche Bilder Heidegger in der Berner Klee-Stiftung auszeichnete. Klee blieb »durch alle kommenden Jahre ein häufiges Gesprächsthema«. Aus einem Brief Heideggers vom 21. Februar 1959 zitiert Petzet: »Es war ein schöner Abend; zuletzt noch, was Sie zu Klee sagten - das im wesenhaften Sinne >Dichterische< jeder Kunst, müßten Sie an diesem Werk und Menschen zum Vorschein bringen. Was ich dazu im Kunstwerk-Aufsatz gegen Schluß zu sagen versuchte, ist noch ungenügend - die Sprachel - Wenn Sie das Kleebuch schreiben könnten! Es ist da etwas eingetroffen, was wir alle noch nicht erblicken.« Am 22. März 1959 schrieb Heidegger: »Da Sie das letzte Mal unvorbereitet kamen und Ihnen doch die Klee-Sache sehr wichtig ist, möchte ich Sie bitten, mich am Karfreitag um 15 Uhr zu einem Waldspaziergang abzuholen!«116 Als Petzet eine Fernsehsendung über Klee machte, sah Heidegger sie sich bei Bekannten an. Während er Übertragungen von wichtigen Fußballspielen im Fernsehen nicht auslassen konnte, erregte die Klee-Sendung seinen Zorn. »Für einen Künstler wie Klee - sagte Heidegger - bedeute das Medium Fernsehen geradezu den Tod seiner Schöpfungen. Die willkürliche Bewegung der Kamera zwinge das Auge zu Sprüngen, die jedes intensive, ruhige Anschauen ebenso verhindern wie das verweilende Nachdenken, das jedem einzelnen Werke und den darin waltenden Beziehungen gebühre.« Die Sendung habe den Zugang zur Kunst Klees von Anfang an verstellt und den Weg zu dem verschüttet, was in dieser Kunst vor sich gehe. »(Und das alles zunächst einmal vom Graphischen, von der Linie her gesehen. Einen Eindruck von Klees Farbigkeit zu vermitteln, sei im Fernsehen ohnehin unmöglich, schon weil jede Nuance verfälscht werde.)« Heidegger »hatte nicht zuletzt das Zärtliche, Innige vermißt, das zwischen den Kleeschen Linien blüht«; das »Tiefbedrohliche« sei nicht ins Bewußtsein getreten. Petzet nahm sich die Sache zu Herzen und machte später keine Kunst-Sendungen mehr. Zweifellos erreichte Heideggers Interesse für Klee 1959 eine besondere Intensität. Könnte es aber nicht so sein, daß Klee dem Philosophen nicht erst seit den fünfziger Jahren, sondern seit langem bekannt war? Wichtige Bücher über Klee wie jene von Werner Haftmann und Will Grohmann (von 1950 und 1954) 116 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 158, 215, zum folgenden 157 f.

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haben denn auch die Anliegen Klees und den Kunstwerk-Aufsatz von Heidegger in Beziehung gebracht.117 Siegbert Peetz hat 1993 in einem Münchener Habilitationsvortrag die These vertreten, schon Heideggers Kunstwerk-Aufsatz sei direkt beeinflußt worden durch Klees Äußerungen in den Veröffentlichungen des Bauhauses. Als Beleg gilt der Aufsatz Wiege des Naturstudiums von 1922. Dort gab Klee eine graphische Schematisierung seiner Gedanken. Diese Schematisierung zeigt, wie das Auge (das Ich oder der Künstler) sich auf den Gegenstand richtet. Der Gegenstand erscheint optisch (und der Impressionismus folgt diesem Wege). Doch gibt es auch eine Kunst (wie den analytischen Kubismus), die nicht optisch bleibt, sondern den Gegenstand seziert, von Schnittflächen her neu aufbaut. Der Künstler bringt schließlich Erde und Welt metaphysisch in Beziehung. In der Erde ist der Künstler verwurzelt; er folgt ihr statisch, folgt damit gerade den Form-Enden, zu denen sie geführt hat. Doch die Erde ist nur ein kleiner Kreis in dem größeren Kreis der Welt. Diese Welt ist ein Kosmos, der das Chaos und so offene Möglichkeiten in sich trägt und damit Genesis ist. Der Künstler löst sich über das Schwimmen und Fliegen von der Erde zum freien Schwung und zur Beweglichkeit, um in die kosmische Dynamik einzutreten. Die moderne Kunst folgt stärker als die Antike dieser Tendenz; die Musik kann dabei der Malerei Vorbild sein. Doch will Klee den Gegensatz von Klassik und Romantik neu überbrücken. - Folgt Heidegger nicht Klees Wegen, wenn er in seinem Kunstwerk-Aufsatz beim Bezug von Erde und Welt ansetzt? Er nimmt nicht nur den Tempel der Polis als Beispiel, sondern auch Bilder van Goghs; da Vincent van Gogh nicht die Wege eines Volkes ins Werk brachte, kann die Welt, von der Heidegger spricht, nicht einfach die geschichtliche Welt eines Volkes sein. Wenn Hegel vom Ende jener Kunst sprach, die einem Volk Geschichte gründet, dann ist damit die moderne Kunst nicht erfaßt. Peetz wendet sich abschließend gegen jene, die mit Heidegger selbst den Kunstwerk-Aufsatz durch ein Pendant über moderne Kunst erst ins Gleichgewicht gebracht sehen wollen; er schließt sich den Autoren an, die im KunstwerkAufsatz selbst das Potential zur Interpretation moderner Kunst finden. Darüber hinaus vertritt er die These, daß nicht nur Hölderlin, sondern auch Klee mit seinen Bauhaus-Publikationen »Pate für das Konzept der >Erde< im KunstwerkAufsatz ist«. Beruht der Vergleich zwischen Klee und Heidegger aber nicht auf Äquivokationen in den Grundbegriffen? »Welt« ist für Heidegger nicht Kosmos, Erde nicht ein Teil des Kosmos! Sicherlich nahm Heidegger am Ende seiner Marburger Zeit Schelers Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos auf; die Vorlesung vom Winter 1929/30 fragte metaphysisch, wie Leben und Geist zueinander stehen. Nietzsche, der der Erde treu bleiben wollte, sollte diese Proble117 Vgl. Siegbert Peetz: Welt und Erde. Heidegger und Paul Klee. In: Heidegger Studien 11 (1995). S. 175, zum folgenden 186.

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matik besser formulieren als Zusammenhang zwischen dem dionysischen Erleiden des Werdens und dem apollinischen Suchen nach Begrenzung und Form. Doch mußte Nietzsche dann zurücktreten vor Hölderlins Bezug auf die »Mutter Erde«. Paul Klee konnte aber für einen Philosophen keine Rolle spielen, der in Marburg selbstgefertigte Folklorekleidung des Malers Otto Ubbelohde trug, in Freiburg sein Arbeitszimmer mit leicht gebeizten Brettern ausschlagen ließ, in der Provinz als seiner Heimat bleiben wollte. Nicht nur das Bauhaus, sondern die Verbindung von Kunst und Technik überhaupt wurden zurückgewiesen, wenn Heidegger im Winter 1929/30 in seiner Vorlesung formulierte, nicht alles, was gebaut werden könne und müsse, sei eine Maschine. »So ist es nur wieder ein Zeichen der heute herrschenden Bodenlosigkeit des Denkens und Verstehens, wenn man uns das Haus als eine Wohnmaschine und den Stuhl als eine Sitzmaschine anbietet. Es gibt Leute, die sehen sogar in solchem Irrsinn eine große Entdeckung und die Vorboten einer neuen Kultur.« 118 Diese Abweisung ist deutlich; sie schließt auch einen positiven Bezug zu den Bauhaus-Texten aus. Es bleibt unsicher, wie weit Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg an den Münchener Bemühungen um die Tradition des Blauen Reiter teilgenommen hat. Bisher ist kein Wort darüber überliefert, daß Heidegger diese Rückkehr des Verbannten so begrüßt habe wie etwa die Aufführungen von Orffs Vertonung der Antigone-Übertragung Hölderlins. Diese »Wiedererweckung der antiken Tragödie« hat Heidegger 1951 gleich zweimal besucht. Als er sich am 30. Juli 1973 bei Erhart Kästner für dessen letztes Buch, die »Byzantinischen Aufzeichnungen« Aufstand der Dinge, bedankte, schlug er vom Thema her den Bogen zurück zu einer frühen Begegnung in München Anfang der fünfziger Jahre. Schon damals hatte die Zuwendung zur Ostkirche und deren Theologie des Geistes zusammen mit der Malerei Gemeinsamkeit gebracht: »Das Münchener Haus, in das Sie frisch vom Athos kamen, war das Haus des Kunsthistorikers Göpel.« Der Kunsthistoriker Göpel wurde bekannt durch seine Arbeiten über Max Beckmann, also über einen Maler, an dem Heidegger sich kaum orientiert hat. Emil Preetorius, der Präsident der Bayerischen Akademie der schönen Künste, zeigte andere Interessen: für die Moderne, auch die abstrakte Malerei und dazu für die ostasiatische Kunst. In der Festschrift Martin Heidegger zum siebzigsten burtstag legte er das Wort des Novalis aus, das Äußere sei das Innere, erhoben in einen »Geheimniszustand«. Für diese Auffassung kann das Jenseitige, etwa das Reich der Ungeborenen und Toten, in das Diesseits geholt werden, und dann sind Klees Bilder und Gedanken nicht mehr fern. Vielleicht sind trotzdem nicht von ungefähr Nachrichten über Heideggers Bezug zu Klee erst aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre bekanntgeworden. Als der japanische Kunstphilosoph Hisamatsu im Mai 1958 Heidegger in Frei118 Vgl. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik (s. Anm. 66). S. 316.

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bürg besuchte, berichtete Heidegger ihm von den Kleeschen Bildern in Bern und verwies auch auf Klees Sohn Felix. Heidegger sagte auch, daß der »namhafte abstrakte Maler Spiller« am vorhergehenden Kolloquium mit Hisamatsu teilgenommen habe. Spiller sei mit Paul Klee bekannt gewesen. Bekanntlich gab Jürg Spiller 1956 Klees Bauhaus-Vorlesungen Das bildnerische Denken heraus. Als er 1970 den Band Unendliche Naturgeschichte folgen ließ, notierte er (S. 415) zu Klees Bild Abstract mit Bezug auf einen blühenden Baum von 1925 eine Formulierung aus Heideggers Vortrag Die Frage nach der Technik: »Das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in sich selbst.«119 Vielleicht ist selbst die Fehldatierung von Heideggers Technik-Vortrag erst auf das Jahr 1956 nur ein Spiegel dessen, daß Heidegger seit 1956 das Verhältnis von Kunst und Technik mit Klee verknüpfte. Heidegger betonte gegenüber Hisamatsu auch, daß ein ehemaliger Hörer, der Jurist Siegfried Bröse, der Vorsitzende des Freiburger Kunstvereins sei. Walter Biemels Heidegger-Biographie verzeichnet in einer Zeittafel, die mit Heidegger abgesprochen wurde, für 1956: »Paul Klee. Vortrag bei den Architekten in Freiburg i.Br.« Nach Günter Seubold gibt es diesen Vortrag im Nachlaß nicht, sondern nur 17 Zettel zu Klee, die nicht im entferntesten an einen Vortrag erinnern. Heidegger habe diese Zettel wohl als Vortrag bezeichnet. Die Zettel seien nicht mit einem Datum versehen, aber mit Sicherheit erst nach 1956 geschrieben. In der Tat zitieren Heideggers Klee-Notizen den Band Das nerische Denken von Paul Klee, der gemäß dem Vorwort Spillers Ende des Jahres 1956 erschien. Die Notizen zitieren aber auch mit genauen Seitenangaben den Druck der Vorlesung Der Satz vom Grund, der im Frühjahr 1957 erschien. Noch nicht einbezogen werden die Bilder aus jener Sammlung Thompson, die von Beyeler gemäß Petzet »monatelang« gezeigt und im Februar 1959 wieder abgebaut wurde. Wenn Heidegger wirklich 1956 einen Vortrag über Klee hielt, dann haben die Notizen mit ihm nichts zu tun. Sie müssen in der Zeit vom Sommer 1957 bis zum Herbnst 1958 entstanden sein. Gemäß Absprache durfte die Sammlung Thompson in Basel nicht gezeigt werden. Doch bewegte sich nach Petzet alsbald ein »Strom von Kunstliebhabern« in die »stille Albansvorstadt«, um das »interimistische Klee-Museum« zu besuchen. Da laut Absprache auch kein Katalog erscheinen durfte, fehlt diese Ausstellung in den Hinweisen der Klee-Literatur. 120 Heidegger bekam aber »Bale, decembre 1960« das Exemplar 160 des Facsimiles eines Klee-Autographen. Das Umschlagsblatt dazu sagt, daß zur Weihnachtsgabe auch der Katalog jener Klee-Sammlung gehöre, die von Nordrhein-Westfalen angekauft 119 Heidegger schreibt »in ihr selbst«: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954. S. 19. Zur Begegnung mit Hisamatsu vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 113). S. 189 ff und 211 ff. 120 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 143,158,215.

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wurde. Ein Brief von Hildy und Ernst Beyeler dankte Heidegger für die Weihnachtsgabe der Hebel-Rede und sagte: »Anbei unser Neujahrsdruck, dem wir aber den Klee Katalog nicht nochmals beilegen, da Sie ihn ja bereits besitzen.« Der Pittsburgher Industrielle Thompson war in Bezug auf Kunst nach Ernst Beyeler »ein wahrhaft ruchloser Käufer«. Auch Baron Rothschild wollte die Klee-Sammlung erwerben, aber für sein Depot. Beyeler hatte 15oooo Dollar mehr geboten, eine kleine Differenz gegenüber dem Preis von 4,5 bis 5 Millionen Dollar (gemäß dem damaligen Geldwert). Da der Maler Mark Tobey sich in der Vorstadt St. Alban ein Haus gekauft hatte, aber noch einmal nach Seattle zurückgekehrt war, nutzte man dieses Nachbarhaus für eine Ausstellung. Eine vierköpfige Kommission aus Düsseldorf, so lautet Beyelers offizieller Bericht, bekam die 88 Klee-Bilder vorgeführt und kaufte sie als Wiedergutmachung für den einst aus Düsseldorf vertriebenen Maler. Heute stützt sich die Fondation Beyeler im neuen Museumsbau von Renzo Piano in Basel-Riehen immer noch auf jene Moderne, die durch Picasso und Klee »klassisch« wurde, also die Grundlagen moderner Malerei herausstellte. Wenn das Museum heute auch Newman, Pollock, Rothko, ja Lichtenstein und Kiefer zeigt, dann handelt es sich um Bilder, die erst nach Heideggers Tod erworben wurden, Freilich fällt auf, wie wenig Heidegger sich auf Kandinsky oder Giacometti einließ. Immerhin besaß er das Buch über Giacometti von Alberto Martini und Henri Coulonges (Paris 1967). Der Sammler Thompson hat damals verdecken helfen, daß New York Paris und den abstrakten Expressionismus mit neuen Wegen überflügelt hatte. Doch bei den Amerikanern neue Wege der Kunst zu suchen, war nicht Heideggers Impuls. Tobey, der auf Ostasien verwies, war sicherlich eine Ausnahme. Beyelers zeigten 1961 Tobey, 1963 Arp, Bissier, Nicolson, Tobey, 1966 und wieder 1970/71 sowie 1972 Tobey. Erst das Jahr 1959 war das Jahr des Plans, von Klee her ein »Pendant« zu den Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerks zu schreiben. Um dieses Plans willen hat Heidegger sich offenbar noch einmal mit den Beständen der Berner Klee-Stiftung befaßt. Er hatte im März 1959 Bernhard Böschenstein den Part Paul Celans auf den Schallplatten des Neske-Verlags mit Lesungen zeitgenössischer Dichter vorgespielt; er hat den Berner Burger gebeten, ihn im April bei einem Besuch Berns zu begleiten. Da Bernhard Böschenstein aber mit Paul Celan in Paris verabredet war, mußte er absagen.121 Ließ sich nicht beides verbinden, das Interesse an Klee und das Interesse an Celan, der Trakls Dichten auf dem Weg in den Untergang nach dem Holokaust fortführte? Heideggers Vortrag Zeit und Sein vom Januar 1962 nannte dann Berner Bilder Klees aus dem Todesjahr, Trakls Siebengesang des Todes und Heisenbergs Suche nach einer 121 Vgl. Giuseppe Bevilacqua / Bernhard Böschenstein: Paul Celan. Zwei Reden. Marbach am Neckar 1990. S. 9, 7; ferner mündliche Mitteilungen.

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sog. »Weltformel« als Parallelen zu den eigenen Bemühungen, die Frage nach Zeit und Sein doch noch verbindlich auszuführen. Da Heidegger Heisenbergs Physik auf ein technisches Interesse festlegte, stellte er das Dichten und Malen zusammen mit der Technisierung unserer Zivilisation; sein Nachdenken galt immer noch (wie im Münchener Technik-Vortrag) dem Verhältnis von Technik und Kunst. Doch muß man annehmen, daß der Plan eines Pendants zum Kunstwerk-Aufsatz Anfang der sechziger Jahre aufgegeben wurde (etwa 1962 mit der ersten Griechenlandreise). Im folgenden sollen zunächst die Nachrichten über Heideggers Besuche in Basel besprochen werden, dann seine Beschäftigung mit dem Klee-Nachlaß in Bern. Die Aufnahme von Gedanken Klees mag am Schluß stehen, obwohl Heidegger die Todeserfahrung Klees in den späten Bildern nicht allein von den Gedanken der Bauhaus-Vorlesungen her verstehen wollte.

1. Besuche in Basel Als Heidegger 1928 von Marburg nach Freiburg im Breisgau und damit in die engere Heimat zurückkehrte und bald über den Ursprung des Kunstwerkes sprach, mußten seine Marburger Schüler sich fragen, ob er nicht einen »neuheidnischen Mythos« suche. Große Baseler Gestalten wie Burckhardt, Bachofen und Nietzsche gaben (wie früher Overbeck) die leitende Orientierung. 122 Die antidemokratische Haltung der Burckhardt, Bachofen und Nietzsche blieb die Voraussetzung der Zuwendung zur Kunst; doch von der Kunst erwartete Heidegger einen neuen geschichtlichen Anfang. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Basel nahe als eine Stadt, die von Zerstörungen verschont geblieben war. Konnte der Geist des Erasmus nicht zu einer neuen Liberalität führen? Karl Jaspers fand jedenfalls in Basel seine letzte Wirkungsstätte. Trotz aller Beteuerungen, man müsse wieder zum Gespräch kommen, haben Heidegger und Jaspers sich auch dann nicht erneut getroffen, wenn Heidegger in Basel war oder Jaspers durch Freiburg kam. Dagegen suchte Heidegger durchaus die Partnerschaft zur Theologie Karl Barths, und das gerade deshalb, weil dadurch der Glaube und das Denken oder die Philosophie und die Theologie (anders als bei Rudolf Bultmann) Gegner blieben, zwischen denen nicht zu vermitteln war. Der Nachfolger Barths auf dessen Lehrstuhl, Heinrich Ott, fand Heideggers Unterstützung und Förderung. Ott hatte zwischen Bultmann und Barth vermitteln wollen, dann Heideggers Denken als eine mögliche Grundlegung der Theologie einbezogen. Heidegger nahm es hin, daß 122 S. Anm. 65. - Zum folgenden vgl. Andreas Großmann: Spur zum Heiligen. Bonn 1996. S. 217 ff.

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Otts Buch Denken und Sein. Der Weg Martin Heideggers und der Weg der Theologie von 1959 schon durch den ersten Titel Heidegger eher auf eine idealistische Tradition bezog. Ott hat später (mit Gerhard Ebeling und über diesen hinausgehend) Bubers Widerspruch gegen Heidegger aufgenommen und eine personalistische Dialogik entfaltet.123 Für Heidegger war es unverzichtbar, daß in Basel das Andere des Glaubens da war (aber nicht als Verhältnis von Universitätsdisziplinen oder als der philosophische Glaube von Jaspers). Wurde aber nicht die Nähe des Göttlichen, wie der Glaube sie sucht, bei Heidegger eher den Dichtern und sogar den Malern anvertraut? Das alte Basel konnte gerade modernste Malerei nahebringen. Im Baseler Kunstmuseum wird Heidegger kaum besonders angesprochen worden sein durch die Dokumentation des Weges von Holbein zu Böcklin. Dieser Weg war bekannt oder durch anderes überholt. Sicherlich hatte Holbeins toter Christus das Ehepaar Dostojewski so angesprochen, daß Fürst Myschkin im Roman Der Idiot von ihm sprach. Stellte der Schrecken, den der Leichnam des Sohnes Gottes verbreitete, nicht den Gott in Frage, der die Toten auferstehen läßt? Holbein war für Heidegger seit der Studienzeit bekannt aus der Universitätskapelle des Freiburger Münsters; das Heilige Grab in diesem Münster hatte auch seine Schrecken. Dostojewski war der bevorzugte Autor des jungen Heidegger; doch Heidegger hatte sich Nietzsche zugewandt, weil die christliche Liebe des Fürsten Myschkin nur in einem Sanatorium noch überleben konnte. Vincent van Gogh hatte in anderer Weise den Aufbruch aus dem Überlieferten heraus gelehrt als Böcklin, der seine Bilder durch traditionelle Anspielungen und private Mythologien belastete. Auf neue Wege führte das Baseler Museum gerade durch die Abteilungen der modernen Malerei. Georg Schmidt hatte 1939 in die intimen Säle der allzu monumentalen Mauern des Museums die dort vertretene moderne Malerei durch den Sonderankauf »entarteter« Kunst bereichert; unter diesen Bildern war von Klee Villa R. Seit 1952 hatte Schmidt mit Hilfe des Bankiers La Roche eine Schatzkammer des Kubismus aufgebaut, die nur an wenigen anderen Stellen der Welt ihresgleichen hat. So konnte Heidegger Picasso und Braque sehen, aber auch Leger.124 H. W. Petzet verglich 1959 in der Heidegger-Festschrift eines der Bildes von Juan Gris mit dem Durchbruch, der in Trakls Lyrik geschehen war. Dazu konnte Heidegger in Basel sehen, was seine späten Lebensjahre begleitete: den Mont Sainte-Victoire, gemalt von Paul Cezanne. Die Öffentliche Kunstsammlung der Stadt Basel geht zurück auf das Amerbach-Kabinett, der Bücher- und Bildersammlung einer humanistischen Bürger123 So schon 1969, vgl. Hermeneutic and Personal structure of Language. In: On Heidegger and Language. Ed. by Joseph J. Kockelmans. Evanston 1972. S. 169 ff. 124 Vgl. Christian Geelhaar: Kunstmuseum Basel. Zürich / Basel 1992. S. 25, 212,237 ff. Zum folgenden vgl. ebenda S. 172; s. ferner Anm. 101.

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familie. Mehr als zwanzig Jahre vor der Stiftung des Elias Ashmole in Oxford erhielt Basel 1661 seine Städtische Kunstsammlung. In den vergangenen Jahrzehnten führte die Familie Beyeler mit ihrer Galerie diese bürgerliche Zuwendung zur Kunst fort. Man lockte Heidegger nach Basel, indem man ihm die schönen Kataloge sandte. Der Philosoph konnte in der Galerie z. B. Meisterwerke von Picasso sehen. Später sah er dort Mark Tobeys Bilder und auch den greisen amerikanischen Maler selbst, der sich an seinem Lebensende in Basel niederließ. Heidegger hat auch das Haus der Beyelers in Riehen »mehrfach besucht und dort, zwischen Bildern von Kandinsky und Klee, den Basler Freunden vorgelesen«. Eine Bildpostkarte Heideggers an Hildy Beyeler zeigt das obere Donautal bei Meßkirch und gibt das dann auch eingelöste Versprechen, Hölderlins Isterhymne in Riehen vorzulesen. Entscheidend wurde sicherlich die Ausstellung jener Bilder Klees, die dann nach Düsseldorf kamen. Die achtundachtzig Werke kamen »in einer Reihe kleiner Säle, wohlproportionierter Zimmer und einiger Kammern sowie einem stattlichen breiten Treppenhause auf eine geradezu erstaunliche Weise zur Wirkung. Es war, als sei diese Kunst eigentlich für solcherart Räume geschaffen - für ihre vornehme Ruhe, ihre Intimität und Diskretion; altes Holzwerk, Fenster, die genügend, aber nicht zu üppig Licht hereinließen, Blicke auf Rasenflächen und Baumgruppen alter Gärten.« 125 Nach einem ersten Besuch der Klee-Ausstellung besprach Heidegger sich mit dem Kunsthistoriker Jantzen und machte dann eine zweite Fahrt nach Basel. »Mittags kam er dann in das nebenan gelegene Pfarrhaus zum Essen und zu einer Stunde Ruhepause.« Der Pfarrer Paul Haßler teilte mit Heinrich Ott die Orientierung an Barth und Bultmann. Nicht nur Erasmus, der Buchdrucker Froben und Jakob Burckhardt waren nahe; im alten Pfarrhaus war es auch Calvin. »Die konservative Haltung der Basler mag das Ihre dazu beigetragen haben, daß man - wenigstens noch vor einigen Jahren - in den kleinen, niedrigen Räumen mit ihren altersdunklen Paneelen, den Balkendecken und im einfachen Stiegenhaus mit seiner schweren eichenen Treppe sich vorstellen konnte, hier habe Calvin nach seiner Flucht aus Paris gelebt und 1535, als sechsundzwanzigjähriger Theologe, seine Institutio religionis christianae geschrieben.« Der Blick vom Eckfenster ging über den Rheinstrom bis zu den Schwarzwaldbergen. Nachdem Heidegger dort auch übernachtet hatte, »taufte« man ein Zimmer im Oberstock, das vermutlich Calvins Schlafräum gewesen war, das »Heidegger-Zimmer«. Das Pfarrhaus selbst hatte Leihgaben moderner Bilder von Beyelers. Als der Pfarrer erkrankte, sprach Heidegger ihm - in Gedanken an die eigene Gelbsucht Anfang der sechziger Jahre - mit Hölderlin den Trost zu, daß wir Menschen darauf warten müssen, wie die Natur hilft und zu uns spricht. 125 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 153, 112, 134, 133, 155, zum folgenden 156 f, 155, 132, 134 f.

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Abb. 4 Paul Klee, Überkultur von Dynamoradiolaren 1, 1926, 133 (D 3)

Nach dem Bericht Petzets ließ Heidegger sich im »interimistischen Klee-Museum« bei seinen mehrfachen Rundgängen keineswegs nur durch die »Glanzstücke« fesseln. Eher machte er Halt bei den »unauffällig verhaltenen« Bildern und kehrte zu ihnen zurück, »um jedesmal eine neue Erfahrung daran zu machen«. Es fällt auf, daß Heidegger die Bilder aus den späteren Lebensjahren Klees bevorzugte. Das früheste Bild, das nach Petzets Erinnerung besonders ansprach, war die Federzeichnung Überkultur von Dynamoradiolaren I aus dem Jahre 1926. Ein radiolus ist im Unterschied zum radius ein kleiner Strahl; Radiolarien sind Meerestierchen mit sternförmigen Skeletten, »Strahlentierchen«. Ein Dynamo erzeugt elektrische Energie. Auf Klees Tuschzeichnung wachsen zwei überkultivierte Pflanzen auf. Der eine einfache Stengel trägt eine rotierende Blüte mit den Strahlen der Radiolaren. Ein Stengel mit sechs Zweigen trägt Radiolaren, die im Uhrzeigersinn oder auch einmal gegen ihn rotieren. Die Radiolaren sind sternförmig oder quadratisch ausgebildet; sie bleiben teilweise auch embryonal. Sie können senkrecht stehen oder waagerecht. Keineswegs gehorchen sie den Gesetzen der Windtechnik. Windräder für die Stromerzeugung verschandeln heute oft die Landschaft; Klee scheint also die technische Entwick-

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Abb. 5 Paul Klee, bunter Blitz, 1927,181 Q 1)

lung vorausgeahnt zu haben. Doch ironisiert er das Technische auch dadurch, daß er es ins Natürliche zurückbindet und als hybrides Gewächs darstellt. Denkt man an das Entstehungsjahr der Zeichnung, dann zeigt sich, daß Klee sich durch den Schwenk des Bauhauses zur Technik nicht seine Phantasie beschränken ließ. Zu recht schenkte Heidegger seine besondere Aufmerksamkeit Zeichnungen wie dieser als einer Auseinandersetzung mit dem »Moloch« Technik.126 Vom Ölbild bunter Blitz aus dem Jahre 1927 konnte Heidegger sich »kaum wieder trennen«. »Wir gedachten«, so berichtet Petzet, »der geborstenen Tanne, die ein Blitz dicht oberhalb der Hütte bei Todtnauberg gefällt hatte.« Heidegger selbst sah sich durch den Blitz der Seinsfrage auf den Weg seines Denkens gebracht. Er hat daran erinnert, daß nach Hölderlin der Dichter den Blitz als Zeichen des Göttlichen dem Volk ins Lied gehüllt reichen muß. Klee malte also die Aufgabe des Malers so, wie Hölderlin das Wesen der Dichtung dichtete. Klee mochte beim Malen dieses Bildes stärker, als in diesen Erinnerungen deut126 Hierzu zum folgenden vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 156 ff. - Vgl. die Abbdildungen bei Werner Schmalenbach: Paul Klee. Die Düsseldorfer Sammlung (s. Anm. 46).

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III. KLEE IM BLICKFELD HEIDEGGERS

Abb. 6 Paul Klee, Gezeichneter, 1935, 146 (R 6)

lieh wird, am Formalen interessiert sein: an den blitzartigen Sprüngen der Li nien, an der Weise, wie die Blitze, aber auch unten links das Haus unter dem Stern und oben der Mond sich durch das »bunte« Gelb vom blauen Grund oder Abgrund abheben. Petzet sagt von den Bildern, zu denen Heidegger immer wieder zurückkehrte: »Da war die melancholische Ruhe der Gedanken bei Schnee, die drückende Aus weglosigkeit des Beladenen und das fast schmerzhafte Pathos der im Herbstfrost verglühenden heroischen Rosen.« Das Ölbild auf gipsgrundierter Jute über Sperr holz der Beladene von 1929 bleibt ambivalent. Die Striche hätten auch Häuser ergeben können; es erscheint dann eine Gestalt, die mit Paketen beladen ist (es gibt auch die Bilder beladene Kinder und überladener Teufel.) Auch bei dem ladenen ist noch nicht jene Gestalt gemeint, die Klee nach den ersten Zeichen sei ner Erkrankung malte: Gezeichneter und St. Anton nach dem Anfall von 1935. Der Gezeichnete ist von Klee gezeichnet worden, vor allem aber vom Schicksal gezeichnet. Offenbar hat Heidegger schon den Beladenen auf diesen Gezeichne ten hin ausgerichtet. Weil er mit seinem eigenen Denken inzwischen Kranken helfen wollte, suchte Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg einen engen Bezug

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Abb. 7 Paul Klee, Gedanken bei Schnee, 1933, 32 (L 12)

zu dem Psychiater Medard Boss; was er auf Klees Bildern sah, bestätigte ihm die eigene Lebensentscheidung. Klee hat auf einen Jutefetzen 1933 mit Ol und Wachskreide eine Patientin gemalt, einen fast nackten Frauenleib, im Dunkel daliegend in einer ausweglosen, wohl psychischen Erkrankung. Gegenüber Petzet bezog Heidegger das Bild als mögliche Lebens- und Berufshilfe auf einen gemeinsamen Freund, den Mediziner Martin Nagel. »Vor dem Bilde der Patientin, das so merkwürdig an Grünewald erinnert, einem Bilde, das mit seinen Wurzelfasern bis in die äußersten Winkel vegetativer Pein zu reichen scheint, hielt er inne und sagte, dieses Bild müsse Freund Nagel sehen, denn keine klinische Sonde reiche jemals so tief an das, was Kranksein, was Leiden ist - >hier kann ein Arzt mehr lernen als aus medizinischen Lehrbüchern.sehen< zu lassen im Gebild.« Heidegger führt das Bild also zurück auf die Gestimmtheit, die eine Welt im ganzen aufbrechen läßt. Heideggers Besuche in der Klee-Ausstellung führten dazu, daß man eine Publikation über die Sammlung vorschlug. »Ich soll wohl ein Vorwort schreiben?«, meinte Heidegger »lächelnd« und trug Gründe für die Ablehnung des Vorschlags vor. »Für ihn, fuhr er fort, ergebe sich eine Schwierigkeit besonders aus Folgendem: daß noch nicht klar sei, inwiefern die Selbstinterpretation Klees (>Kosmisches< etc.) eigentlich ganz das vorstelle, was in seinem Schaffen geschehe?« Das Ölbild Kosmische Composition von 1919 zeigt eine strahlende Sonne, gruppiert um sie die Sichel des Mondes und die Sterne, dazu Bäume, Treppen und Häuser. In dieser Zeit greift Klee überhaupt zurück auf den Bezug zur All-Natur in der deutschen Romantik; so führt er zugleich Tendenzen des Blauen Reiter fort. Ebenso nahe wie die Romantik war Klee aber Goethes morphologische Betrachtung von Natur und Kunst. Von dieser »engen Beziehung Klees zur künstlerischen Welt Goethes« wußte Heidegger nach Petzets Bericht aber nicht. Heidegger nimmt jene Infragestellung der Romantik und auch Goethes auf, die in Hegels Satz vom Ende der Kunst impliziert ist. Die Vorträge über den Ursprung des Kunstwerkes hatten zeigen wollen, daß sich uns mit Hegel und gegen ihn die Frage stellt, ob wir wie einst die Griechen mit Hilfe der Kunst eine neue geschichtliche Welt gründen können. Heidegger bejaht nunmehr den Satz, fügt aber hinzu, eben dieses Ende der Kunst müsse man erst zeigen. »Von besonderer Wichtigkeit sei es für ihn, einmal zu erfahren, wie es mit Klees Verhältnis zum Griechischen bestellt war, und was da eigentlich vorging.« Diese Bemerkung muß überraschen, denn Klees Ölbild Reconstruction von 1926 zeigt unter dem runden Sonnenball des Mittelmeers dorische Säulen und dazu eine Ausgrabungsstätte. Von Griechenland blieben also Formfragmente; die Archäologie deckt auf, was an früher gewonnenen Formungsmöglichkeiten wieder in die Erde versank. Wenn Klee 1925 über dem Nachhall seiner Sizilienreise alle Schwierigkeiten im Bauhaus vergaß, dann war das Mediterrane nicht nur das Griechische, sondern z. B. die Burg auf dem Berg. Klee, der in Tunesien zu

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sich gefunden hatte, sollte bald nach Ägypten reisen. Von ägyptischen Erinne rungen her malte er 1930 das Bild Nekropolis; wenn das Bild Das Tor, wie Hei degger als selbstverständlich unterstellte, das Tor des Todes ist, dann stellte Klee die eigene Todeserfahrung hinein in übergreifende menschheitliche Grunder fahrungen und deren Ausgestaltungen. So hielt Klee auch den romantischen Bezug zum Orient unter neuen Bedingungen durch. Als dagegen Heidegger 1962 erstmals nach Griechenland reiste, suchte er die Wurzeln Griechenlands im Griechischen selbst. Zur Abgrenzung des Eigenen vom Griechischen trat nur noch die Abgrenzung und der Bezug zum Ostasiatischen. Heidegger meinte im Zusammenhang mit Klees Bezug zum Kosmischen: »Wahrscheinlich sei überdies der ganze Tachismus eine aus einem (unbewußten) Mißverständnis hervorgegangene Folge dieser irrtümlichen Selbstauslegung, die an einer der gefährdetsten Berührungsstellen zwischen der Metaphysik und dem Kommenden vor sich gehe.« Heidegger sah in Klee »ein ganz ungeheures Phäno men«; doch legte er Petzet ans Herz, »über das Gesagte einmal nachzudenken im Blick auf den vielberedeten Tachismus; dort werde das >Laufenlassen< gleichsam zum Prinzip, indessen bei Klee immer unerbittlich ein >Ganzes< gesehen werde.« Arnold Rüdlinger hatte 1955 in der Kunsthalle Bern Tendances Actuelles 3 vor geführt, die sich nicht mehr nur auf die Ecole de Paris beschränkten, sondern die Amerikaner einbezogen. Neben Malern wie Mathieu, Michaux oder Wols zeig ten Tobey, Francis und Pollock jenes allen gemeinsame Formvokabular, das Rüd linger Tachisme nannte. Rüdlinger konnte seine Tätigkeit dann an der Kunsthalle in Basel fortsetzen. Heidegger möchte diesen Tachismus zurückbeziehen auf Klee, aber auf dessen kosmisches Selbstmißverständnis, das den Ernst menschlichen Existierens überschreitet. Heidegger hebt aber den Tachismus in diesem weiten Sinn von Klee ab, weil Klee seine Bilder zu einem Ganzen gestalte, der Tachismus die Linien oder das Tröpfeln der Farbe nur noch laufenlasse. Georg Schmidt entschlüsselte in Radiosendungen Kleine Geschichte der Modernen Malerei von Daumier bis Chagall 1955 die Malerei der letzten hun dert Jahre. (Die Buchauflage erreichte 1994 das 83. Tausend.) Zehn exemplari sche Bilder (zumeist aus dem Kunstmuseum Basel) sollten die entscheidenden Entwicklungsstufen der Formensprache dieser »modernen« Malerei zeigen. Die europäische Malerei suchte bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts das Jen seitige. Von Giotto bis Raffael entdeckte sie die Wirklichkeit durch sechs Errun genschaften: die Darstellung der natürlichen Stofflichkeit, die Illusion der Körperlichkeit mittels Licht und Schatten, die Raumillusion mittels der Per spektive, die Ausbildung zeichnerischer Details, die anatomische Richtigkeit und die Gegenstandsfarben. Vom reifen Tizian bis zu Daumier machte man damit Ernst, daß alle Wirklichkeitserkenntnis subjektiv bleibt und die persönli che Handschrift zuläßt. Dann aber, nach Daumier, wurden die sechs genannten

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III. KLEI: IM BLICKFELD HEIDEGGERS

Errungenschaften der Wirklichkeitsdarstellung abgebaut, so daß man auch vornaturalistische Kunst wieder entdecken konnte. Die naturgetreue Abbildung konnte man jetzt sowieso der Photographie überlassen und die Verselbständigung des künstlerischen Ausdrucks betreiben. Daumier legte auf die Körperillusion, die Luftperspektive und gar auf anatomische Richtigkeit keinen Wert mehr. Impressionisten wie Sisley malten die Welt in einer Farbigkeit, die sie in ihrer grauen Wirklichkeit nicht hat. Dabei konnten die Impressionisten im Rückgriff auf die Farbenlehre von Delacroix z. B. die Komplementärkontraste betonen. Die Farben hatten keine gegenständliche »Richtigkeit« mehr; die Luft- und die Farbperspektive (nicht die Linienperspektive) wurden aufgegeben. An die Stelle des pessimistischen Hell-Dunkel trat ein Optimismus, der dem Fortschrittsglauben der Gründerzeit entsprach. Vincent van Gogh, beruflich wie als Laienprediger gescheitert, stellte die Ärmsten der Armen dar, indem er Daumiers Ausdruck mit Sisleys Farbzerlegung verband. Die Pinselstriche wurden eminent rhythmisch und ausdruckshaft. Auch die Linienperspektive wurde zugunsten des erlebten Raumes aufgegeben. So zeigte die Deformation die geschlagene Kreatur. Gauguin floh nicht nur die Stadt, sondern Europa überhaupt. Die akademischen Regeln wurden aufgegeben, das Gemalte bekam in seiner Flächigkeit wieder die Schönheit eines Teppichs. Die Fauves setzten eine neue Vitalität durch; diese gehörte zu den Schrecken und Zerstörungen, denen im zwanzigsten Jahrhundert der ständige Wiederaufbau entsprach. Cezanne zwang der Natur die Form auf und wurde zum Wegbereiter des Kubismus. Delaunay verband die geometrischen Flächen des Kubismus mit den Spektralfarben des Impressionismus, das Rhythmische mit dem Melodischen. Marc, Chagall und Klee machten diese neue Malerei wieder dem gegenständlichen Bezug dienstbar. Wenn Marc sich nur in die Tierwelt und Landschaft einfühlte, Chagall die verlorene Heimat erinnerte, gewann Klee die ganze Welt zurück. Klee brauchte sich nach Georg Schmidts Ausführungen nicht von der modernen Welt abzuwenden; er, der von allen Genannten »das tiefste Zeitbewußtsein besitzt, kennt das Erlebnis der Technik sowohl als Dämonie wie als beschwingendes Wagnis« (S. 108 f). In diesem Sinn hat Schmidt sich auch geäußert, als er 1924 das Piper-Bändchen mit Marcs Botschaften an den Prinzen Jussuffdurch ein Nachwort begleitete. Marc hatte sich hinreißen lassen, auf die »Poesie« einzugehen, wie Else Lasker-Schüler sie im Dichten und im Leben suchte. Von den gemalten Postkarten des »Blauen Reiters« an den Prinzen Jussuff von Theben sagt Georg Schmidt, daß gerade das »Jahrhundert des Triumphes aller rationalen Lebensbewältigung« diese Poesie erzwinge. In früheren Jahrhunderten habe die Kunst am Aufbau eines erkenntnishaften Weltbildes mitgearbeitet; jetzt bewahre sie in einer »offensichtlich rapid sich weiter technisierenden Welt einen Bezirk der Freiheit von aller technischen Zweckgebundenheit«. Da die moderne Na-

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turwissenschaft im Inneren der Dinge Kräfte ausgemacht habe, befinde die Kunst sich sogar »im vollsten Einverständnis mit dem Weltbild der modernen Naturwissenschaft, wenn es ihr wichtiger ist, unsichtbare Kräftespannungen sichtbar zu machen, als fortzufahren, das Sichtbare abzubilden«. Schon die Wahl dieser Worte spielt an auf den Ansatz von Paul Klee. Heidegger stellte offensichtlich wie Georg Schmidt an die moderne Malerei die Frage nach der Bedeutung der Kunst im Zeitalter der Technik. So konnte Franz Marc nicht mehr (wie in den zwanziger Jahren) der repräsentative zeitgenössische Maler sein. Die Kunst kann nach Heideggers Auffassung das universale Verfügen-wollen der Technik brechen, wenn sie den Menschen vor seinen Tod führt und damit in jene Endlichkeit, die angenommen werden muß. So zeichnete Heidegger Klees Bild Ein Tor in einer solchen Weise aus, daß die Galerie Beyeler es zurückhielt und nicht verkaufte. 127 Petzet gliedert das Bild in die Sammlung Thompson ein; diese Sammlung wäre dann also ohne ihr »Herz« nach Düsseldorf gekommen. Das Bild gehört heute zu den Klee-Bildern der Fondation Beyeler (Nr. 75 des Katalogs). Doch irrt Petzet in der Zuordnung. Das Bild hat die Widmung: »Für Herrn Doetsch-Benziger / zur Weihnacht 1939 / Klee.« Es wurde 1953 und 1956 im Kunstmuseum Basel gezeigt und kam erst 1966 in die Sammlung Beyeler. Im Katalog heißt es, daß Klee auf rechteckigem, hochgestellten Ingres-Papier eine schwarze Grundierung auftrug, dann aber die schwarze Grundfläche »mit deckender blauer und weißer Temperafarbe in die Vision eines himmlischen Jerusalem« verwandelte. Dieses himmlische Jerusalem sei in der Kunst Klees als »Traum- und Wolkenschloß« dem nahen Tod abgerungen worden. Ein breiter Weg führe aufwärts zu diesem Tor hin. Klee hätte also weihnachtlich die Ankunft seiner eigenen Kunst gefeiert. Was in diesem Katalogtext jedoch als Weg ausgegeben wird, erinnert durchaus an Das Tor zur Tiefe von 1936. Dieses Bild wurde von Werner Hofmann 1990 in der Hamburger Klee-Retrospektive für das Jahr 1936 eingesetzt. Die Tore von Kairuan, die Tore der ägyptischen Nekropolen sind zur Zeit des Durchbruchs der Krankheit zum Tor ins eigene Grab geworden: Schwarz tut sich die Höhlung in den Steinen auf! Heidegger sah auch ohne Kenntnis des Bildes von 1936 diesen existenziellen Bezug im Bild von 1939. Als Werner Schmalenbach 1962 in Düsseldorf Direktor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen geworden war, ergänzte er die Klee-Bilder der Sammlung Thompson vor allem durch Bilder, die sich der epochal bedeutsamen Tunisreise verdankten. So konnte Schmalenbach Klees Eingreifen in die westeuropäischamerikanische Malerei unseres Jahrhunderts zeigen. Seine Vorstellung der Düsseldorfer Sammlung durch den Band Bilder des 20. Jahrhunderts nimmt von

127 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 156; vgl. auch die Abbildung ebenda nach S. 192.

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III. KLEE IM BLICKFELD HEIDEGGERS

Klee Bilder mit der Tunesien-Erfahrung auf, dann die Kosmische Composition von 1919, das Bild Der L-Platz im Bau mit seiner Bauhausthematik von 1923, die heroischen Rosen von 1938. Schmalenbach will die Individualität jedes einzelnen Bildes achten. Doch folgt die Vorstellung der Sammlung den bekannten geschichtlichen Etappen. In den ersten Kapiteln erkennt man unter den formalen Titeln leicht wieder, was sonst Malerei der Fauves, Kubismus und Expressionismus genannt wird; der Dadaismus und die neue Sachlichkeit folgen. Es kommt dann zu »Spätwerken«, zu Steigerungen und verwandelnden Wiederholungen (so daß etwa Rauschenberg Schwitters überbietet). Der letzte Abschnitt Der Mensch und die Dinge ist eher ein Anhang als ein Schluß. Nach Schmalenbach retten die Maler des zwanzigsten Jahrhunderts in allen Zerstörungen dennoch das Schöne. Es wird nicht angenommen, daß sie die politischen Fragen der Zeit aufnehmen würden oder eine Wende gesucht hätten. Kandinskys Bild Komposition X von 1939 zeigt nach Schmalenbach »nicht den geringsten Reflex« auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. »Die geschichtliche Katastrophe, durch die Europa hindurchging, findet hier nicht statt. Und dies nicht deshalb, weil Kunst für Kandinsky ein Refugium gewesen wäre oder ein Elfenbeinerner Turm, sondern weil er sie als eine Realität eigener Art betrachtete, die mit der >äußeren< Realität, in der wir leben, nichts gemein hat.« 128 Von Klee wird jedoch berichtet, daß er das Nahen des Krieges als große Bedrohung empfand. Sprechen nicht wenigstens die Bilder des schweigsamen Kranken vom Tod? Das Bild Ein Tor von 1939 zeigt nicht nur das Tor als Durchgang, sondern unter ihm den Durchbruch in die Tiefe, über ihm das runde Gestirn des Himmels. So versammelt das Bild Klees Grundmotive und spricht vom Weg des Menschen durch die Welt im ganzen. Schmalenbachs Vorstellung der Düsseldorfer Kunstsammlung bezieht nicht mehr nur Klees »Romantizität« auf den »Vitalismus« Picassos. Sie stellt neben Klees heroische Rosen das etwa gleichzeitige Bild Frau im Lehnstuhl von Picasso. »Daß hier die Zerstörungswut des Krieges ihre Antwort erfährt, mag zutreffen; doch die Sprache des Bildes ist nicht eine zerstörerische, sondern die der Selbstbehauptung gegenüber dem Grauen, des Widerstandes - der >Resistance< - gegen die Vergewaltigung des Humanen; eine Sprache, die selbst in einem so aggressiven Stück Malerei einer großen Grazie und Heiterkeit nicht entbehrt. Picasso ist nicht daran gelegen, im Bildnis der Freundin die Schrecken der Zeit abzuhandeln, selbst wenn diese Schrecken sein Malen mitbestimmen. Es ist vor allem die Lust am Bilde, die visuelle Lust, die ihn Formen und Farben erfinden - und das heißt auch, auf das Modell bezogen, 128 Vgl. Werner Schmalenbach: Bilder des 20. Jahrhunderts. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. München 1986. S. 158. - Zum folgenden vgl. ebenda S. 206, ferner Schmalenbach: Paul Klee (s. Anm. 46). S. 82.

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verändern - läßt: die unerhörte Lust, den Kopf aufzuspalten, die Augen so, wie er es tut, aus der Balance zu bringen und sie mit nagelartigen Brauen zu krönen, Körper und Hände in spitzige Teile zu zergliedern und den Kopf mit einem munteren Hut zu schmücken.« In dieser Betrachtung der Bilder kann die Frage gar nicht mehr aufkommen, ob die politische Zerstörung nicht auch eine menschliche ist, ob schließlich Klees einsame Bemühungen nicht nur mit Picassos Bildern zusammengehen, sondern auch gegen diese einen anderen Weg in die Zukunft suchen. Schmalenbach schließt aber nicht nur andere Zugangsweisen zur Kunst (etwa die Kunst der damaligen DDR) aus, sondern auch die Malerei, die an der Düsseldorfer Akademie zusammen mit dem Aufbau der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen entstand (etwa die Arbeiten von Beuys). Heidegger hatte am 11. November 1933 auf der großen Wahlkundgebung der deutschen Wissenschaft zusammen mit dem Kunsthistoriker Wilhelm Pinder und z. B. mit dem Mediziner Ferdinand Sauerbruch unter einem Wall von Hakenkreuzfahnen gesessen. Er hatte Pinders kunstgeschichtliche Darstellungen nutzen können für sein eigenes Anliegen, aus der europäischen und deutschen Geschichte heraus eine Antwort zu suchen auf den Umgang der Griechen mit der Kunst.129 Für den Besuch der Klee-Sammlung suchte er Hilfe bei dem Kunsthistoriker Hans Jantzen. Dieser hatte 1935 die Kunst in die Obhut des neuen deutschen Führers gestellt. Doch dieses zeitweilige Engagement war bei ihm nicht alles: Jantzen fand mehr als zwei Jahrzehnte später die intime Ausstellungsweise in der Baseler Vorstadt den Bildern Klees besonders angemessen. Petzet berichtet, daß der »unvergessene Interpret der gotischen Kathedralen« von St. Alban und seinem Pfarrhaus sagte, wenn er selbst »noch einmal wieder auf die Welt kommen sollte, dann wünschte er sich nur eines: Pfarrer von St. Alban zu sein und hier zu wohnen...« Konnten die Reste der Baseler Patrizier-Tradition die geeignete Hülle für moderne Kunst abgeben, gerade auch für Besucher aus Deutschland? 130 Als Heidegger dann von Ronchamp zurückkehrte, kam es zu jenem Gespräch, in dem Georg Schmidt von Heidegger »das« Klee-Buch forderte (eine Forderung, die Heidegger dann an Petzet weitergab). »Da ergab sich eine Er-örterung im Wortsinne, eine Ortsbestimmung der Kunst, die bei Klee gipfelte.« In Ronchamp hatte Heidegger das »Besichtigen« der Architektur Le Corbusiers anderen überlassen; er hatte der neuen Weise folgen wollen, in der ein junger Priester gerade die Messe las.131 Doch konnte er von der Marienwallfahrtskirche

129 Vgl. Martin Heidegger: Die Metaphysik des deutschen Idealismus (GA Band 49). Frankfurt a. M. 1991. S. 10. - Zum folgenden vgl. zu Jantzen Dieter Jähnig (s. Anm. 74). Vgl. ferner A. Gethmann-Siefert (s. Anm. 69). S. 258 ff. 130 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 132. 131 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 159, 217. - Zum folgenden vgl. Dieter Jähnig (s. Anm. 74). S. 136.

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III. Kim

IM BUCKFELD HEIDEGGERS

in Ronchamp sagen, »hier sei zum ersten Mal seit der Gotik wieder ein >heiliger RaumHervorbringenkann< nicht >bei Hegel stehenbleiben^ weil ich nie bei ihm gestanden habe, dies verwehrt die abgründige Differenz in der Bestimmung des Wesens der >WahrheitlebtAusdruck< persönlichen >Erlebens< noch die eilige Dokumentation des Zeitgeistes erreichen das Gesetz der Kunst. Vielmehr bleibt das Ins-Werk-Bringen letzter Weisungen das unum necessarium. Es fordert dem Künstler jeden Tag neu die denkende Arbeit ab, heute zugleich die erregende Besinnung darauf, wo die Kunst ihren Ort hat, ob sie selber nicht erst ortbestimmend werden muß.« 147 Heidegger fragte schon 1950 gegenüber Petzets Aufsatz über eine abstrakte Gouache, ob das erörterte Bild noch ein »Kunstwerk« sei und ob die Kunst nicht überhaupt mit der Metaphysik »hinfällig« werde. »Verbirgt sich hinter der Beunruhigung durch die gegenstandslose Kunst vielleicht eine noch viel tiefere Erschütterung? Das Ende der Kunst? Die Ankunft von etwas, wofür wir keinen Titel haben?«148 Abstrakte und gegenstandslose oder gegenständliche Kunst einerseits und Surrealismus andererseits konnten freilich die Fülle der zeitgenössischen Kunst nicht erschöpfen. Theodor Werner war im Besitz eines Bildes von Picasso, nämlich jenes Stillebens, das 1937 aus der National-Galerie in Berlin entfernt worden war. Heidegger ließ sich von seiner Umgebung aber nicht Picasso als den Maler der Zeit aufdrängen und damit auch nicht die Alternative »Picasso oder Klee«. In seinen Notizen wurde Klee zurückbezogen auf Cezanne, der zum entscheidenden neueren Maler vorrückte; dazu kam der Bezug zur ostasiatischen Malerei. Hätte man Picasso ähnlich wie Klee auf die Zen-Kunst beziehen können? Der Wandel, den Heidegger suchte, mußte die überlieferten kunstphilosophischen Grundbestimmungen, aber auch Heideggers eigene frühere Versuche relativieren. Die Klee-Notizen beziehen das Bild auf species und etdos, das Werk auf ergon und energeia. Damit werden metaphysische Grundbestimmungen 147 Heideggers Brief aus dem Werner-Archiv der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wurde mir mitgeteilt durch Dr. Gerhard Graulich. 148 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 161. - Zum folgenden vgl. Alfred Hentzen in Picasso 1900-1955 (s.Anm. 31). S. 10.

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III. KLEE IM BLICKFELD HEIDEGGERS

angesprochen, die von Piaton und Aristoteles bis zur mittelalterlichen Philosophie und zu Hegel reichen. So muß Heidegger fragen, ob Klees Bilder überhaupt noch »Bilder« und »Werke« sein könnten. Heideggers Vortrag über das neuzeitliche Weltbild, der in den Sammelband Holzwege einging, hatte das Bild vom Sich-ins-Bild-setzen her verstanden; die seinsgeschichtliche Besinnung hatte gezeigt, wie die Idee zur Vorgestelltheit der Gegenstände wurde. Diese allzu grobmaschige Verortung unterläßt jedoch die Frage, welche anderen Worte im Griechischen und dann im Römischen zu eikon kamen, wie sich im Mittelalter imago und figura vordrängten und es zu Bilderstreiten kam. Heidegger greift auch nicht zurück auf die Phänomenologie des Bildes, die von Fritz Kaufmann oder Eugen Fink, dann von Sartre und Merleau-Ponty entfaltet worden war. Kann das Bild der Kunst überhaupt von der Wahrnehmung her verstanden werden, darf man Piatons Ideenlehre auf ein Sehen-wollen zurückführen? Heidegger hatte in den dreißiger Jahren seinen Bezug zu Aristoteles aus dem Interpretationsansatz von Franz Brentano herausgelöst; die Kategorien oder Grundbestimmungen wurden nicht mehr auf die ousia als Anwesenheit und Gegenwart zurückgeführt, sondern mit Modalbestimmungen wie Wirklichkeit und Möglichkeit verknüpft. Aristoteles schien mit der Rede von der energeia über die platonische Ideenlehre hinweg zurückzugreifen auf vorsokratische Ansätze; zeigte nicht gerade die Kunst, wie das Am-Werk-sein der Wahrheit zum Werk kommt? Die Klee-Notizen fragen dagegen: »Können noch >Werke< sein? Oder ist die Kunst zu anderem be-stimmt?« Heidegger sucht nun mit unscheinbaren Anfängen der Katastrophe zu entrinnen, die auch die seinige war. So hofft er nicht mehr auf epochal bedeutsame Werke, wie es die Aigineten oder der Bamberger Reiter waren. Klees späte Bilder, die aus der Not der Verfolgung und der Todesverfallenheit entstanden, verweisen auf anderes. Bei Klee, so notiert Heidegger sich, sei »nichts Anwesendes«, »kein Gegenstand« dargestellt; Klees Werke seien »nicht mehr bloß eidos«, seien »nicht Bilder, sondern Zustände«. Diese Zustände werden erschlossen von der »Stimmung«, die »sehen lasse«. Die Stimmung dürfe »nicht nur als Existenzial«, also mit Sein und Zeit von der Befindlichkeit des Daseins her verstanden werden. Sie dürfe aber auch »nicht nur ek-sistential« verstanden werden, also vom Ausstehen in das Seinsgeschick her. Die Stimmung müsse »aus Einfalt des Ver-hältnisses des Ge-Vierts« gedacht werden. Die Bestimmung wird bezogen auf die Stille, die gemäß den Ausführungen in Unterwegs zur Sprache als Ursprung stillt und alle Bewegung zum Insichruhen bringt. So wird die Stimme der Stille »das Stimmen als fügend-regendes, einfaltend-entfaltendes, enteignend-ereignendes Bergen des Ge-Vierts«. In jedem Fall möchte Heidegger den Weg zur Sprache auch als Weg zur Bildersprache nehmen. Als Heidegger im Januar 1959 in München und in Berlin im Rahmen der Vortragsreihe Die Sprache seinen Vortrag Der Weg zur

DER WANDEL IM WESEN DER KUNST

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Sprache hielt, blieb Klee nicht beiseite. Romano Guardini verwies in seinem Vortrag Die religiöse Sprache auf Klees Zeilen: »Einst werd ich liegen im Nirgend / bei einem Engel irgend.« Einst, nach dem Tod, kommt das ortlose Nirgend; doch irgendein Engelwesen bleibt nahe und birgt den Toten.149 Klee hatte in seiner Schöpferischen Konfession den Weg der Linie auf das Stehenbleiben und damit auf ein lebendiges Atemholen bezogen. Er hatte bei der Frage, was im Anfang war, Tat und Idee zusammengefaßt im Wort, das in eine Situation eingreift und diese schöpferisch verwandelt. Er hatte jedoch den antiken Menschen, der in seinem Boot den Elementen anheimgegeben ist, vom modernen Menschen unterschieden, der den Dampfer mit vielen Apparaturen lenkt. Heidegger suchte dagegen das Anfängliche mit dem zu verbinden, was einem Untergang als anderer Anfang abgewonnen wurde. Entscheidend ist, daß das Tun einer Aufgabe entspricht. Gegenüber dem Malen beruft Heidegger sich auf das griechische Wort opsis, das sowohl »sehen, erblicken, Wahrnehmung« wie »Aussehen, Erscheinung« bezeichne. Er stellt den »An-blick« über die Bilder als »vorgegebenes Gegenüber« und symbolisiert das Finden des Anblicks durch zwei einander entgegenlaufende Pfeile: Wer vom Blick getroffen ist, kommt im Anblick zum Bild. Von diesem sich in sich kehrenden Ereignis spricht Heidegger in einer Sprache, die er sich vor allem in der Parmenides-Vorlesung vom Katastrophenwinter 1942/43 erarbeitet hat. Wie in der Vorlesung Was heißt Denken? von 1951/52 werden Parmenides und Trakl verbunden. Im Weg zum Untergang, auf den Trakl sich sah, wird der Anfang des Denkens zum anderen

Anfang. Als H. W. Petzet 1959 in der Heidegger-Festschrift ein Stilleben von Juan Gris mit Versen Trakls verband, sah Heidegger einen Weg eingeschlagen, der weiter ausgeschritten werden müsse. Doch hat Heidegger selbst die leitenden Erfahrungen nicht offengelegt, von denen aus er Klees Gedanken und Bilder aufnahm. Die Verbindung zwischen Parmenides und Trakl, in die Klee eingefügt wurde, war möglich geworden, weil Heidegger das früheste griechische Denken als ein tragisches auffaßte und (über Nietzsche hinausgehend) konkret von der Tragödie her interpretierte. Dabei trat Antigone vor den König Ödipus; sie blieb als die Schwesterliche auch in Krieg und Untergang nahe. Auch Trakls Gedicht Grodek sieht den Schatten der Schwester noch auf dem Schlachtfeld; Klee verbindet die »Heilige, aus einem Fenster« mit »Tod und Feuer«. Als in Europa das alte Haus (der Oikos gegenüber der Polis) sich auflöste, blieben dennoch die Mädchen für eine Übergangszeit im Haus behütet, während die Brüder der Konkurrenzgesellschaft und dem Krieg überlassen wurden. So konnte Antigone für

149 Vgl. Die Sprache. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der schönen Künste. Darmstadt 1959. S. 29 f.

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III. KLEE IM BLICKFELD HEIDEGGERS

Frieden und Versöhnung eintreten. Heidegger verstand die Antigone-Tragödie mit Hölderlin als Aufweis des Überganges von einer Zeit z u r anderen. 1 5 0 Deshalb konnte auch Klee mit seinen Bildern mehr noch als mit seinen Gedankengängen einen Wandel als »Verwandlung des Seyns« anzeigen.

150 Vgl. dazu Otto Pöggeler: Übersetzung als Zwiesprache? Sophokles - Hölderlin Heidegger. In: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens (Festschrift Bernhard Böschenstein). Hrsg. von Ulrich Stadler. Stuttgart / Weimar 1996. S. 77 ff.

IV. Von van Gogh zu Cezanne

Paul Gauguin, Vincent van Gogh und Paul Cezanne gelten als die Gründerväter der modernen Malerei. Man mag andere zu diesen drei Malern stellen - etwa Seurat oder eine eigenständige nordeuropäische Tradition, in der Caspar David Friedrich Erben findet. Vincent van Gogh hat sowieso sein holländisches Erbe mitgenommen nach Paris und in die Provence. In jedem Fall ging es darum, noch einmal mit einer tieferen Wahrnehmung von Wirklichkeit über den Impressionismus hinauszuführen, der gerade erst die neue Welt der Bahnhöfe, Pferderennplätze und stillen Seen vor Augen geführt hatte. Gauguins Weg zu Südseemythen mußte Heidegger als Flucht zu letzten Resten einer vergangenen Welt erscheinen. Jan Verkade, schließlich selber Benediktiner, schlug die Brücke von den Gauguin-Schülern in Pont Aven zu den Malermönchen des Klosters Beuron; aber bei Heidegger zeigt sich kein Bezug zu diesen Aktivitäten des heimatlichen Klosters. Auch steht bei ihm Cezanne nicht neben van Gogh. Vielmehr wechselte Heidegger die Orientierung an van Gogh in einem Bruch der europäischen Geschichte und seiner Lebensgeschichte durch den Bezug zu Cezanne aus. Als er in seinen späteren Lebensjahren die Provence besuchte, blieb jede Erinnerung daran fern, daß auch Vincent van Gogh hier gemalt hatte und in die Tragödie seines Lebensabschlusses geführt worden war. (Van Gogh blieb fern, obwohl Rene Char, der Freund aus der Provence, eine seiner letzten Arbeiten van Gogh widmete.) Nicht die Maler der Brücke in Dresden und Berlin, sondern die stadtflüchtigen Maler in Worpswede bestimmten Heideggers Blick auf die deutsche Malerei. Picassos dominierende europäische Stellung wurde bei ihm relativiert durch die Nähe zu Braque. Klee fügte sich damit ein in eine Konstellation, die durchaus andere als die üblichen Akzente erhielt.

1. Briefe und Bilder: van Gogh Vincent van Gogh fand mit seinen Bildern seit 1905 auch in deutschen Ausstellungen größere Beachtung. Als er 1908 zweimal in München gezeigt wurde, sah Paul Klee bei ihm tiefste Tragik. Doch noch interessierte Klee sich nicht für die Farbe (wie die Fauves in Frankreich und die Brücke in Deutschland); er übernahm in den folgenden Jahren die expressive Linie für die Bildnisse eines jun-

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IV. VON VAN GOGH ZU C£ZANNK

gen Mannes, der er selber war. Die Ausstellungen des Sonderbundes westdeutscher Künstler zeigten van Gogh; 1912 bekam dieser Maler in der bedeutsamen Kölner Ausstellung eine zentrale Rolle. Ein Signal wurde gesetzt, als die Witwe von Theo van Gogh 1914/15 in drei Bänden den Briefwechsel der Brüder gesammelt herausgab; zugleich erschien eine deutsche Übersetzung. In einer einmaligen Weise zeigten diese Briefe, wie jemand zum Künstler wurde und auf einem dramatischen Lebensweg um jedes Bild zu ringen hatte. Als Heideggers bevorzugter Schüler Karl Löwith die Briefe van Goghs gelesen hatte, bestätigte Heidegger ihm am 25.1. 1921 brieflich, es schade nichts, wenn man innerlich herumgerissen werde; man bekomme sich dann ganz anders in die Hand. Er selbst habe die Briefe van Goghs schon während des Krieges zuviel »gelesen« (wie er in Anführungszeichen sagt). »Was ist diesen Dokumenten gegenüber oft die Kunst-GeschichteW« Diese Briefe und damit ein exemplarisches Künstlerschicksal fanden nach dem Kriege eine steigende Aufmerksamkeit. Noch im Jahre 1921 hat der Kunstschriftsteller Julius MeierGraefe, seit langem auf den Spuren des Malers, sein Buch Vincent veröffentlicht (das Buch erschien dann in mehreren Auflagen und bekam dabei den Untertitel Der Roman eines Gottsuchers). Meier-Graefe findet in den Briefen ein Drama, das vom Helden selbst niedergeschrieben worden sei. Der Bruder sei für den Maler ein »mystisches« Gegenüber, das auch »Welt« oder »Gott« heißen könne. In seinen Bildern habe Vincent überdies die »Moral« der Geschichte in »unzweideutigen Symbolen« geliefert.151 Zu dieser »Moral« trat bei Heidegger das, was Dostojewski einer aufgerüttelten Zeit in seinen Romanen sagte. Heidegger konnte in den Briefen lesen, wie Vincent van Gogh zuerst unter die Kunsthändler, dann unter die Prediger geriet. Sicherlich achtete Heidegger auf die Parallelen zwischen dem Weg des Malers und dem eigenen Weg. Der überraschte Löwith erhielt damals von Heidegger als Geschenk jene Nachfolge Christi, um die Vincent sich immer neu bemühte. Schon am 15. November 1875 fragte Vincent den Bruder, ob der Vater auch ihm einst gesagt habe: »Behüte dein Herz mit allem Fleiß; denn daraus geht das Leben.« Diesen Spruch aus dem Prediger Salomo setzte Heidegger über die Haustür, als er sich 1928 bei der Rückkehr nach Freiburg im Vorort Zähringen sein eigenes Haus baute. Es entsprach Heideggers damaliger Überzeugung, wenn van Gogh im Juli 1880 Shakespeare zu Rembrandt stellte und im Buch wie im Gemälde die Menschen »Gott« erfahren sah. Auf van Goghs unglückliches Verhältnis zu Frauen oder auf das Drama mit Gauguin hat Heidegger sich nicht ausdrücklich bezogen. Achtet man darauf, wie Husserl bekannte Gemälde aus dem Schatz des gebildeten Bürgertums nach dieser oder jener Reproduktion oder auch einmal nach 151 Vgl. Christian Lenz in: Vincent van Gogh und die Moderne (Ausstellung Essen / Amsterdam). Katalog Freren 1990. S. 53.

BRIEFE UND BILDER: VAN GOGH

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einem Museumsbesuch mit Anwendungen auf das eigene Leben bedachte, dann wird unmittelbar deutlich, daß Heidegger sich nicht nur von den Kunsthistorikern, sondern auch von den philosophischen Ordinarien abhob. Heidegger führte die Phänomenologie Husserls als eine hermeneutische fort; die Briefe an Löwith sind freilich voller Hohn auf die Atmosphäre im Seminar Husserls. Mit Karl Jaspers, der von der Psychiatrie als Außenseiter zur Philosophie gefunden hatte, war Heidegger sich eins im Rebellieren gegen die akademische Atmosphäre. Die Psychologie der Weltanschauungen von Jaspers hatte an den Erfahrungen des Todes, der Schuld und der Krankheit gezeigt, daß der Mensch nicht nur in Situationen lebt, sondern in Grenzsituationen auf den Augenblick der Entscheidung stößt. Kierkegaard hatte, vom Apostel Paulus her, das »Plötzliche« Piatons, in dem die Dialektik der Grundbegriffe aufbricht, als den Augenblick verstanden. In seinem Buch Strindberg und van Gogh von 1922 zeigte Jaspers, daß auch die schreckliche Schizophrenie zum menschlichen Leben gehören kann. Während jedoch Strindberg durch die Krankheit zwar aus dem Leben herausgelöst wurde, aber nicht vollends unterging, wurde die Schaffenskraft van Goghs (und Hölderlins) durch den Ausbruch der Krankheit gesteigert, um dann abrupt zu verlöschen - dem plötzlichen Auftauchen und Entschwinden eines Kometen vergleichbar. Jaspers sagt von der SonderbundAusstellung in Köln, daß die expressionistische Kunst aus ganz Europa in merkwürdiger Eintönigkeit die Bilder van Goghs umstanden habe, daß van Gogh aber als der erhabene einzige und widerwillig »Verrückte« unter so vielen erschienen sei, die verrückt sein wollten, aber nur allzu gesund waren. Heidegger dankte bewegt für die Zusendung dieses Buches. Dabei bekannte er am 27.6.1922: »Von Strindberg kenne ich nichts, von van Gogh habe ich noch nie ein Original gesehen. Die Briefe allerdings sind mir bekannt.« Heidegger sagte, er strebe in seiner Destruktion des Aristoteles das an, was Jaspers von der Psychiatrie her gezeigt habe: daß zum Leben Bewegtheit gehöre, es damit auch scheitern könne. Er betonte dann die »Kampfgemeinschaft« mit Jaspers. 152 Hans-Georg Gadamer studierte im Sommer 1923 bei Heidegger. Er berichtet: »Damals war gerade der Briefwechsel van Goghs erschienen, dessen malerisches Furioso dem Lebensgefühl dieser Jahre entsprach. Auszüge aus diesen Briefen lagen unter Heideggers Tintenfaß auf seinem Schreibtisch und wurden gelegentlich in der Vorlesung zitiert. Dostojewskis Romane wühlten uns auf. Die roten Piper-Bände leuchteten wie Flammenzeichen von jedem Schreibtisch.« An Karl Löwith schrieb Heidegger am 8.5.1923 von der Vorlesung totogie oder Hermeneutik der Faktizität, daß er sich von der Arbeit einfach 152 Vgl. Heidegger-Jaspers: Briefwechsel (s. Anm. 65). S. 26, 29, 46. - Zum folgenden vgl. Hans-Georg Gadamer: Heideggers Wege. Tübingen 1983. S. 21, 12. Zu Heideggers Briefen an Löwith s. Anm. 55.

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IV. VON VAN GOGH ZU CEZANNE

Abb. 9 Vincent van Gogh, Kornfeld mit Mäher und Sonne, 1889

»hetzen« lasse. Wenn er seine Aristoteles-Arbeit drucken lasse, werde »der Alte« (also Husserl) wirklich merken, daß er (Heidegger) ihm »den Hals umdrehe«. Dann sei es mit der Nachfolgerschaft aus. Nach dem Ausruf: »Aber ich kann mir nicht helfen.« fährt Heidegger fort, »seit Semestern« begleite ihn eine Äußerung van Goghs an seinen Bruder: mit dem Menschen sei es wie mit dem Weizen; wenn man nicht in die Erde gesetzt werde, um aufzublühen, »was tut's«, dann werde man gemahlen, um Brot zu werden. Heidegger fügt hinzu: »Wehedem, der nicht zerrieben wird -! Zwar war ich als Theologe schon zwischen den Mühlsteinen -; aber gerade heute ist das Dasein so unheimlich harmlos - ich möchte aber nicht vermessen sein.« Van Goghs Brief stammt aus dem Herbst 1889; nach dem Ausbruch der Krankheit, nach dem Streit mit Gauguin suchte van Gogh sich im Spital eines Klosters in Saint-Remy zu sammeln. Es entstanden die späten Bilder vom Kornfeld, vom Olivenhain, von der Sternennacht. Doch wiederholte van Gogh auch noch einmal den Sämann nach Millet. Vincent van Gogh sagt vor der zitierten Stelle, auch wenn er sich nicht durchsetze, werde, so möchte er glauben, das weitergeführt, woran er arbeite. Weil Heidegger mit seiner Vorlesung vom Sommer 1923 einen Durchbruch wagte und

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auf den eigenen Beinen zu stehen suchte, konnte er sich in der Vorlesung direkt auf Vincent van Gogh berufen. Er zog den Brief vom 15. Oktober 1879 heran, in dem Vincent seinem Bruder gegenüber die Zeit in Amsterdam mit ihren Studien zur Vorbereitung auf die Predigerlaufbahn abtut. Ein Wanderarbeiter habe ihm eine Lehrstunde gegeben, die nützlicher gewesen sei als eine Stunde Griechisch. Gerade da, wo Heidegger sich anschickte, die Auslegung des Neuen staments (bald zusammen mit Rudolf Bultmann) auf neue Grundlagen zu stellen, ließ er das Schicksalspendel zur anderen Seite ausschlagen. Er wehrte die »öffentliche Ausgelegtheit« des Daseins ab als die Maske der Pseudo-Lebendigkeit eines Betriebs. »Ein Exempel: Vincent van Gogh schreibt einmal in der kritischen Zeit, in der er auf der Suche nach seinem eigenen Dasein war, an seinen Bruder: >Ich sterbe lieber eines natürlichen Todes als daß ich mich durch die Universität dazu vorbereite, ...< Das sei hier nicht gesagt, um dem allerorts hörbaren Geseufze über das Ungenügen der heutigen Wissenschaften zu einer höheren Sanktion zu verhelfen. Es sei vielmehr gefragt: Und was geschah? Er arbeitete, riß sich Bilder gleichsam aus dem Leibe und wurde über der Auseinandersetzung mit dem Dasein wahnsinnig.«153 Der sog. Wahnsinn wird nicht als eine (erblich mitbedingte) Krankheit angesprochen, sondern als das Scheitern einer radikalen Bemühung. Wird das Schicksal des Malers nicht mißbraucht, wenn die politische Orientierung als Maske einer öffentlichen Ausgelegtheit nur verhöhnt wird? Vincent van Gogh zeigte mit seinem Leben und Schaffen dem expressionistischen Aufbruch das Schicksal des Künstlers als ein tragisches. Heidegger folgte ganz dieser Auffassung; er stellte darüber hinaus seine eigenen Denkversuche in die Nähe zu den Erfahrungen des Künstlers mit seinem Werk. Als er dazu ansetzte, Natur und Kunst zu Themen seines Denkens zu machen, verband er van Goghs Sonnenblumen mit Franz Marcs Bild Rehe im Walde. Kann die Blume, die von der Sonne lebt und sie mit ihrem Blütenkranz spiegelt, und das uns so nahe wilde Tier zeigen, wie wir selbst mit unserer anderen Lebensweise im Ganzen der Welt existieren?154 Im März 1930 hielt Heidegger die Vorträge Die Problemlage der heutigen Philosophie und Hegel und das Problem der Metaphysik in Amsterdam. Es kann nicht verwundern, daß er in der holländischen Stadt erstmals Bilder van Goghs im Original sah. Wenn er die Bilder von Schuhen beachtete, so lag das auf der Linie seines Fragens: Er hatte immer wieder gegen den Vorrang der Theorie das handwerkliche Tun der Schreiner und Schuster angeführt; die Handwerker in Dorf und Stadt traten zu den Bauern auf dem Land und den Mönchen im Kloster. So wurde das Ganze der Welt mit der Metaphysik und über sie hinaus Thema. 153 Vgl. Heidegger: Ontologie (s. Anm. 61). S. 32. 154 S. Anm. 62 und 66.

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IV. VON VAN GOGH ZU CSZANNE

Im Sommer 1935 entfaltete Heidegger in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik die Frage, wie wir überhaupt ein Seiendes in seinem Sein verstehen. Er hatte zu jenen gehört, die von der nationalsozialistischen Revolution einen Widerstand gegen den Amerikanismus und den Bolschewismus erwarteten. Konnte die Rückkehr zu einfachen Verhältnissen (auch die Arbeit mit dem Spaten in der Hand) die Schrecken der Arbeitslosigkeit und damit der Zerstörung des überlieferten Lebens überwinden helfen? Als Heidegger durch das, was wirklich geschah, enttäuscht und so in die Einsamkeit getrieben wurde, gab die Vorlesung vom Sommer 1935 Beispiele für das »Sein«. Das Sein einer Schule könne man nicht aus ihren Räumen zusammenaddieren; aber man könne es »riechen« und den Geruch noch nach Jahrzehnten in der Nase haben. Zur Schule gehören Lebens- oder Existenzweisen! Heidegger fragt ferner, wem das Portal einer frühromanischen Kirche sein Sein zeige: dem photographierenden Kunstgelehrten auf seiner Exkursion, den spielenden Kindern, dem Abt in der Prozession mit den Mönchen? Zum Sein gehört also eine bestimmte Zugangsweise in den Existenzweisen der Menschen. Auch die Politik wird einbezogen mit der Frage: Ist der Staat da in den Verhaftungen der Staatspolizei, im Klappern der Schreibmaschinen eines Ministeriums, in der Aussprache des Führers mit dem englischen Außenminister? Mit der Einsicht, daß zu jedem Seienden seine Welt gehöre, kommt Vincent van Gogh ins Spiel: Er stellt ein Paar Bauernschuhe dar, also wirklich nichts Besonderes. »Doch was da ist, mit dem ist man sofort allein, als ginge man selbst am späten Herbstabend beim Verschwelen der letzten Kartoffelfeuer mit der Hacke müde vom Feld nach Hause. Was ist da seiend? Die Leinwand? Die Pinselstriche? Die Farbflecke?«155 Im Winter 1935/36 entfaltete Heideggers Vorlesung unter dem Titel fragen der Metaphysik »die Frage nach dem Ding«. Sie verweist auf jenes Gemälde van Goghs, das »den groben Stuhl mit der Tabakspfeife« zeigt. Sie erörtert, wie das Gelb eines Kornfeldes mit seiner »leuchtenden Farbigkeit« sich »jeweils aus der ursprünglichen Einheit und Art des farbigen Dinges selbst« bestimmen, also sich nicht erkenntnistheoretisch in Empfindungen auflösen läßt. Im mathematisch-physikalischen Ansatz bei der Bestimmung des Dinges bis hin zu Kant sei jener Bereich der Dinge übersprungen, »wie sie uns auch der Maler zeigt: der einfache Stuhl mit der eben hingelegten oder liegengelassenen Tabakspfeife bei van Gogh«. Die Vorlesung führt Heideggers frühere Kantauslegung weiter zur »systematischen Vorstellung aller Grundsätze des reinen Verstandes«. Doch sie tut es so, daß sie den Analysen Kants den Bezug zur alltäglichen Wirklichkeit und zur Kunst van Goghs vorausstellt.156 Als Heidegger Ende 1936 seine Frage nach dem 155 Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 1953. S. 25 ff. 156 Vgl. Martin Heidegger: Die Frage nach dem Ding. Tübingen 1962. S. 163 f.

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Ursprung des Kunstwerkes in Frankfurt zu drei Vorträgen auseinanderlegte, zeigte er nicht mehr sofort die Wahrheit eines Werkes an einem griechischen Tempel und am Bamberger Dom auf; vielmehr stellte er seinen Erörterungen eine Kritik der überlieferten Dingbegriffe voraus. Die Frankfurter Vorträge Der Ursprung des Kunstwerkes nennen als Ding den Stein am Weg, die Erdschollen auf dem Acker, den Krug und den Brunnen. Auch die Wolke am Himmel und der Habicht über dem Wald heißen »na mensgerecht Dinge«. Flugzeuge und Rundfunkgerät gehören zu den nächsten Dingen, doch die letzten Dinge sind »Tod und Gericht«. Wir zögern, das Reh in der Waldlichtung und den Käfer im Gras oder gar den Menschen ein Ding zu nennen. Heidegger war inzwischen in Rom gewesen; so sagt er mit Conrad Ferdinand Meyer vom römischen Brunnen, daß das Wasser in seinen Marmor schalen ströme und ruhe. »Alle Dinge der Erde, sie selbst im Ganzen, verströ men sich in einen wechselweisen Einklang.« Vom »bloßen Ding« grenzen wir das Zeug ab, das nicht nur vorhanden ist, sondern gebraucht und vernutzt wird. Immerhin berühren wir mit unserem Schuhzeug die Erdscholle des Ackers und den Weg nach Hause. Auch Werke der Kunst werden behandelt wie ein Ding. Vincent van Goghs Gemälde, das ein Paar Bauernschuhe darstellt, wandert von einer Ausstellung in die andere. Im Tornister des Soldaten waren im Weltkrieg Hölderlins Hymnen mitverpackt mit dem Putzzeug, und Beethovens Quartette lagern im Verlagshaus wie (einst) die Kartoffeln im Keller. Doch kann das Werk der Kunst zeigen, wie das Ding und das Zeug sich unterscheiden und wie das Werk sich vom Zeug und Ding abhebt. Das Werk zeigt die Offenheit oder Wahrheit dieser Verhältnisse.157 Heidegger spricht nun nicht mehr vom Bauern, der in seinen Schuhen vom Felde nach Hause geht; er spricht von der Bäuerin, die den Hof erst zur ber genden Heimat macht. Es wird nicht verkannt, daß auf dem Bilde van Goghs die Bäuerin und ihr Hof, der Acker und der Heimweg nicht einmal angedeutet sind. Um das »Paar Bauernschuhe« sei nur ein unbestimmter Raum. Diese Fest stellung wird aber mit einem »Und dennoch« widerrufen; sie sei zwar richtig, aber unzureichend. Aus dem »ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges« starre uns die Mühsal der Arbeitsschritte an; die Sohlen sprächen von der Ein samkeit des Feldweges und dem verschwiegenen Zuruf der Erde. Nicht nur das Bangen um die Sicherheit des Brotes, auch »das Beben in der Ankunft der Ge burt und das Zittern in der Umdrohung des Todes« zögen durch dieses Zeug. Für die Bäuerin seien die Schuhe ein Zeug, das sie einfach trage. Der Maler aber zeige uns, was die Schuhe in Wahrheit seien. Vor dem Werk des Künstlers seien wir jäh anderswo als dort, wo wir gewöhnlich zu sein pflegten. Das Bild habe

157 Vgl. Heidegger: Holzwege (s. Anm. 136). S. 10 f, 26, 36, 9, zum folgenden S. 22 ff, 29 f.

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IV. VON VAN GOGH ZU CS/ANNK

zu uns »gesprochen«. Sein Sprechen ist freilich nicht mehr getragen vom umfassenden Mythos der Griechen, von der Heilsgeschichte des Mittelalters oder dem neuen Aufbruch der Renaissance. Doch ist auch die Welt der Agineten in der Münchener Sammlung oder der Antigone der Sophokles-Ausgaben, selbst die Welt eines Tempels in Pästum oder des Bamberger Doms für uns zerfallen. Kann Vincent van Gogh uns dahin führen, daß aus den einfachen Verhältnissen unseres Lebens und seiner »Dinge« wieder die Frage nach der Wahrheit dieser Verhältnisse erwacht? Die Beiträge zur Philosophie wollen die »Kunstlosigkeit« als Schicksal unserer Übergangszeit annehmen. Vincent van Gogh bleibt ein Gefährte. Offenbar stehen Bilder von ihm vor Augen, wenn Heidegger die Frage beantwortet, wie der Denker den langsamen Weg der Gründung der Wahrheit des Seins gehe: »Unscheinbar wie auf einsamem Feld unter dem großen Himmel der Sämann schweren, stockenden, jeden Augenblick verhaltenden Schrittes die Furchen abschreitet und im Wurf des Armes den verborgenen Raum alles Wachsens und Reifens durchmißt und gestaltet.«158 Die Vorlesung vom Winter 1937/38 sieht die Metaphysik in Wissenschaft und Technik enden; sie stellt Vincent van Gogh in die Reihe der großen Scheiternden. Das war in einer Zeit, als die offizielle Doktrin des Nationalsozialismus nicht mehr mit Joseph Goebbels positiv auf Vincent van Gogh verwies, sondern mit Rosenberg und Hitler diesen kranken Künstler der entarteten Kunst zuwies. Heidegger selbst sah sich damals im Rückblick auf seinen Weg als einen Scheiternden, der nur einzelnen im »übernächsten Geschlecht« Winke geben könne. Zwanzig Jahre nach den Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerkes besuchte Heidegger von Bremen aus das Kröller-Müller-Museum in Otterlo im niederländischen Nationalpark De Hoge Veluwe. Der Zweite Weltkrieg hatte das zur letzten Konsequenz geführt, was sich nach 1870 im Imperialismus und Hochmut der Gründerzeit gebildet hatte: den Absturz der europäischen Vernunft in den Wahnsinn der Selbstzerstörung. Wie Nietzsche, so erschien auch Vincent van Gogh als einer der Hellsichtigen, die früh die falschen Wege erkannten. Das Kröller-Müller-Museum hat viele frühe Bilder von van Gogh, z.B. die berühmten Kartoffelesser von 1885. Doch nun galt Heideggers Interesse den späten Bildern aus Paris und der Provence. »Da war ein in seinem Geburtsmonat (September 1889) entstandenes hellstrahlendes Kornfeld, das ihn ansprach, und lange verharrte er vor dem >Spitalgarten< von St. Remy. Die so eigentümlich nahe beieinander liegenden Zeiten des Krankheitsausbruchs bei van Gogh wie bei Nietzsche kamen zur Sprache, dessen Krähengedicht >Vereinsamt< so

158 Vgl. Heidegger. Beiträge zur Philosophie (s. Anm. 10). S. 505,19. - Zum folgenden s. Anm. 81; vgl. ferner Martin Heidegger: Besinnung. Frankfurt a. M. 1997. S. 417.

BRIEFE UND BILDER: VAN GOGH

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erschütternd zusammenklingt mit dem Krähenschwarm über dem >KornfeldMachen< des Bildes. Mit der wesentlichen Aussage habe sie nichts zu tun.« Es ging Heidegger selbst in seinen späten Texten mehr um Andeutungen und Hinweise als um Ausarbeitungen. Am hundertsten Geburtstag der Malerin erörterte Heidegger noch einmal, ob die Malerin mit ihrem frühen Tod »die ganze Zukunft ihrer Kunst ungetan« habe zurücklassen müssen. »Vollendung?«, so fragte der 86-jährige im Telefongespräch. »Ob vielleicht das Un-Vollendete am Ende mehr sei als das Vollendete? Vollendung: fertig, abgeschlossen... Vollendet und Gültig bedeute freilich nicht dasselbe. Indessen: >unvollendet< heiße doch: offen bleibend - für einen weiteren Weg - wohin?« Heideggers eigener Tod ließ das gewünschte Gespräch dazu nicht mehr zustande kommen. In jedem Fall wies die jungverstorbene Malerin für Heidegger in eine offene Zukunft. So nahm Heidegger sie aus dem Worpsweder Kreis heraus, auch aus dem Geflecht jener Wege, die dann von norddeutschen Malern wie Nolde und Rohlfs gegangen wurden. Sah Heidegger aber, was in der Kunst Paula Modersohn-Beckers wirklich durchgebrochen war? Am 26. Oktober 1948 schrieb Heidegger an Petzet, man dürfe nicht (wie manche Schweizer) an der Not der Zeit vorbeileben. »Es ist nichts mit dem bloßen Erneuern des Alten, solange wir nicht die Grunderfahrungen Nietzsches und Rilkes nachvollziehen und mit ihrem Blick in das gegenwärtige Zeitalter ernst machen.« Freilich gehe es nicht um die übliche Zeitkritik. Das Einfache sei das Langwierigste, erscheine aber der Zeit als dürftig. »Dennoch: wir müssen in die Armut der wesentlichen Verhältnisse zurückfinden. Man sollte meinen, die äußere Lage käme dem auf allen Seiten zu Hilfe.«195 In diesen Nachkriegsjahren galt Paula Modersohn-Becker allgemein als eine junge Künstlerin, die mit ihrer Aufmerksamkeit für die Armen und Leidenden über den Naturlyrismus ihrer Lehrer hinausgegangen war. Ihr Mann tadelte sie dafür, daß sie das Häßliche und 194 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 145, zum folgenden 145 f. Vgl. dazu Heinrich Wiegand Petzet: Das Bildnis des Dichters. Rainer Maria Rilke und Paula Becker-Modersohn. Eine Begegnung. Frankfurt a. M. 1957 und 1976. 195 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 55.

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Hölzerne suchte, um dem Konventionellen zu entgehen. Ließ sie nicht in der Tat die Stieftochter Elsbeth stundenlang als Modell auf dem Stuhl sitzen, bis der Blick des Mädchens jenes Abwesende bekam, in dem man dann Tiefe fand? Auch Heidegger will den harten Zugriff nicht sehen, der selbst Paula Modersohn-Beckers Blick auf die Stieftochter trägt. Hatten damals unter den Künstlern nicht gerade die Frauen, wenn sie sich gegen die Erwartungen der Zeit mit ihrer Arbeit durchsetzten, am wenigsten Zeit und Geduld für das Menschliche und Persönliche? Rilkes Briefe über Cezanne, hinter denen der Plan zu einem Buch stand, erschienen separat 1944 und 1945 auf französisch und holländisch. Clara Rilke gab diese Briefe 1952 heraus, unterstützt durch Ratschläge von H. W. Petzet; seit 1977 versah Petzet die Ausgabe mit Ergänzungen, neuen Anmerkungen und einem Nachwort. An diesen Bemühungen nahm Heidegger lebhaften Anteil. 196 Rilkes Äußerungen über das sachliche Sagen und reine »dasein« können freilich auch zur Ausflucht dessen werden, der die Schuld, die er auf sich geladen hat, nicht tragen will; Dichtung und Kunst werden dann herausgelöst aus dem Zusammenhang des Lebens. Wenn Heidegger sich im »Hüttenbüchlein« Aus der Erfahrung des Denkens von 1947 an das Einfache der Tages- und Jahreszeiten hielt, dann war diese Weise angemessen für einen Kranken, der Genesung suchte. Doch hätte auch die Bereitschaft, Verantwortung zu tragen für das Geschehene, wieder wachsen müssen. Wir sehen Heidegger aber hineingezogen in Berufungen auf die Nähe zu Dichtern und Künstlern, die der zu tragenden politischen Verantwortung ausweichen. Bernhard Hoetjer, der Schöpfer des Grabmals für Paula Modersohn-Becker, zeigt in seiner Plastik die Ambivalenz der Ausdrucksformen; seine Formen konnten sowohl gegen wie für den Nationalsozialismus verwandt werden. Der Maler Mackensen trat 1945 den amerikanischen Truppen mit einem trotzigen »Sieg Heil!« entgegen und wurde entsprechend behandelt; trotzdem erhielt er die Ehrungen der Bundesrepublik Deutschland. Die Landschaft selbst wandelte sich gründlich: Das Moor hat heute nicht mehr die aggressive Natur, die die Haut der Bauern und Fischer gerbte und frühen Tod brachte. Schon im Dritten Reich wurde das Moor durch den Reichsarbeitsdienst, aber auch durch das Konzentrationslager Papenburg-Börgermoor weitgehend kultiviert. Später brachte die große Werft in Papenburg Probleme für die Umwelt, aber Verdienst für die dort Wohnenden. Das Moor wurde wie anderswo die Heide ein Stück Natur, das gerettet werden mußte. So wurde auch Worpswede und die Erinnerung an einsame Künstler dort durch die Tourismus-Industrie genutzt und umgestaltet. Die bleibende Nähe der Vergangenheit wurde für Heidegger ge196 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 150. Zum folgenden vgl. Rilke: Briefe über Cezanne (s. Anm. 191). S. 52.

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genwärtig, als er 1962 von Bremen aus Gut Böckel oder Schloß Böckel - im Westfälischen sagt man »Haus« Böckel - und damit Hertha König besuchte. Rilkes fünfte Duineser Elegie ist Hertha König gewidmet, weil Rilke in München in ihrer Wohnung vor Picassos Bild der Fahrenden gearbeitet hatte. In Böckel erinnerte man sich auch an andere Bekannte aus München: an Schuler, an Ludendorff, an Hitler... Heidegger sollte überrascht werden, als die Hausangestellte durch eine Tapetentür in Hut und Mantel von Rilkes Mutter auftrat. Er meisterte die Situation, indem er - vor allem für die Hausangestellte Stifters Erzählung Kalkstein vorlas. 197 Das Haus der Königs in Bonn, die Villa Hammerschmidt, war inzwischen Sitz des Bundespräsidenten geworden. Heideggers Wunsch nach Abgrenzung von allem Gängigen traf jenen, dem Bremen sehr viel verdankt, der auch Worpswede ermöglichte: Heinrich Vogeler. Heidegger bekam noch zum achtzigsten Geburtstag von seinen Schülern aus Bremen eine Dankadresse mit Initialen und einer Schmuckleiste von Vogeler. Eine Vogeler-Radierung war im Original beigegeben: Ein junger Mann folgt dem Ruf einer Lerche in den Morgen der Welt.198 Die Ausstellung des Gustav Lübcke-Museums in Hamm Heinrieb Vogeler und der Jugendstil vom Winter 1998/99 zeichnete nach, wie Vogeler mit dem Gemälde Bacchantenzug von 1892 an die akademische Tradition anknüpfte, sich dann aber von ihr löste und in Worpswede 1895 den Barkenhoff erwarb . Doch der Versuch, ein Mädchen für sich nach präraffaelitischen Idealen zu erziehen, mußte scheitern. In der Buchgestaltung konnte Vogeler Morris und Beardsley weiterführen. Auch als Innenarchitekt setzte er (so mit der Güldenkammer im Bremer Ratshaus) Maßstäbe. Als autodidaktischer Architekt entwarf er den Worpsweder Bahnhof, aber auch Arbeiterhäuser. Seine Begeisterung für den Ersten Weltkrieg mußte bald umschlagen in Abwehr; war nicht der Sozialismus ein Weg? Doch die Landkommune auf dem Barkenhoff mußte vom Kaffeekönig Roselius mit Lebensmitteln versorgt werden. Der Weg ins kommunistische Rußland endete im Zweiten Weltkrieg mit der Internierung in Kasachstan, mit Zwangsarbeit und einem elenden Tod. Hatten nicht Weggefährten wie Modersohn recht, wenn sie seiner mannigfachen und auch erfolgreichen Kunsttätigkeit die innere Wahrheit absprachen? Blieb nicht alles epigonal? Für Heidegger gehört Vogeler nicht - wie Paula Modersohn-Becker - zu den »Großen«. Heinrich Wiegand Petzet legte 1972 seine Monographie vor: Von Worpswede nach Moskau. Heinrich Vogeler. Ein Künstler zwischen den Zeiten. Heidegger sah im Stil des Verfassers die Wendung zum Einfachen, Schicksalsvollen nachvollzogen, die das Leben Vogelers kennzeichne. Heidegger nannte

197 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 121 ff. 198 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 229.

WORPSWEDE

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Geschichtsphasen, die auch für sein Leben bestimmend geworden waren: »vom Ausgang der deutschen Gründerjahre über das erregende Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg bis zur russischen Revolution und dem Angriff Hitlers auf Rußland«. Die Vogeler-Büste von Clara Rilke-Westhoff lasse uns erschüttert vor dem »stellvertretenden Schicksal dieses Künstlers« stehen. Petzets Titel Von Worpswede nach Moskau sei »historisch richtig«, »geschicklich gedacht« nicht wahr genug: » er zeigt nicht das sich verbergende Geschick des Künstlers, d.h. des Dichters: dieser findet weder den gemäßen Ort für seine Kunst, noch vermag diese selbst sich und dem Kommenden den neuen Ort zu bestimmen«. Die »große Kunst« sei, wie Hegel es ausgesprochen habe, keine notwendige Form der Darstellung des Absoluten mehr »und darum ortlos«. »Ihr Unterkommen heute ist das geschwätzige Hausen in einer abbruchreifen Baracke, genannt G e sellschaft^ Vordergründig gesehen treibt diesen Künstler die >Menschenliebe< zum Kommunismus. In Wahrheit ist es das ihm selbst verborgene Erschrecken vor dem Ende der weltstiftenden Kunst im Zeitalter der Auflösung der Metaphysik in eine universale Technologie.« Vogelers Menschenliebe irre weltlos umher im Zeitalter des Willens zur Macht, der in der universalen Technologie »ins Äußerste« aufbreche. »Man könnte fragen: warum wurde dieser Künstler nicht umgeworfen durch van Gogh und Cezanne? Warum wurde er aus der Bahn der Kunst geworfen? Oder war da weder Bahn noch Weg?« Unterstellt ist auch: Da Paula Modersohn-Becker durch van Gogh und Cezanne umgeworfen wurde, kann sie trotz ihres jung abgebrochenen Lebens in ein Offenes, in die noch bevorstehende Zukunft zeigen.199 Heidegger kritisiert nicht nur Vogeler; seine Kritik trifft in voller Schärfe auch Rainer Maria Rilke. Als die einsame und leise Stimme Rilkes für viele den Gegensatz zum Kriegs- und Propaganda-Lärm des Nationalsozialismus darstellte, rückte Heidegger im Stalingrad-Winter 1942/43 auch Rilke in den Schatten jenes Nietzsche, der nun kritisch betrachtet wurde, und sogar Schopenhauers (zu dem Heidegger nie einen Bezug fand). Auch Rilke soll dem Biologismus gefolgt sein, der dann zum Nationalsozialismus geführt habe. Die 8. Duineser Elegie nehme das Tier, das in das Offene der Natur eingelassen sei, als Maßstab; die Offenheit, die der Mensch aus der Distanz des Sprachgebrauchs gewinne, werde verdeckt. So erreiche Rilkes Dichterwort »nirgends die Gipfelhöhe einer geschichtegründenden Entscheidung«. Unberücksichtigt bleibt hier, daß Rilkes Elegie zuerst

199 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 147 f. - Ganz fern lag Heidegger eine Mythologisierung und Ideologisierung von Worpswede im Sinne »matriarchalischer« Weiblichkeit. Christa Murken-Altrogge sieht den Baum als »Erdphallus«, an ihm lehnen die Mütter und Kinder, »umgeben von milchspendenden Muttertieren wie Ziegen, Schafen oder Kühen«: Paula Modersohn-Becker: Leben und Werk. 7. Aufl. Köln 2000. S. 114.

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einmal eine Klage ist! Der Rilke-Aufsatz Wozu Dichter? in den Holzwegen will die Auseinandersetzung mit dem »Dichter in dürftiger Zeit« nur vorbereiten.200 Hans-Georg Gadamer hat von Heidegger her und mit Rilkes 10. Duineser Elegie die Endlichkeit des Menschen betont, dessen Schritte einmal im Land der Toten verklingen. Ein Essay zum 100. Geburtstag Rilkes Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jahren bindet das Philosophieren zurück an das Leben, von dem Rilkes Elegien eine Botschaft haben: »Wir sollen mit der Dichtung und an ihr die schier herzlose Gewalt des Lebenswillens erkennen müssen, der jeden Schmerz überwindet und jeden Toten am Ende >unendlich tot< sein läßt - und wir sollen all das bejahen.« Eine Glosse des 99-jährigen Goethe und Heraklit verbindet Heraklits Gedanken über die Nähe von Tod und Leben, Schlafen und Erwachen mit dem Prometheus-Fragment Goethes: Das Aufgehen der Liebe im anderen ist wie der Tod; der Tod ist ein Aufgehen in einem Umfassenden. Was nach Heidegger Rilke irregeleitet hatte, die Tradition von Piaton zu Plotin und von Augustin zu Hegel, ist hier positiv aufgenommen. So muß auch das Gespräch über Rilke, über seine Voraussetzungen und Folgen, ein Gespräch bleiben, das unterschiedliche Akzente setzen kann.

200 Vgl. Heidegger: Parmenides (s. Anm. 71). S. 239. - Zum folgenden vgl. Hans-Georg Gadamer: Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jahren. In Gadamer: Gedicht und Gespräch. Frankfurt a. M. 1990. S. 70 ff; Hermeneutische Entwürfe. Tübingen 2000. S. 234 ff.

V. Klee oder Picasso?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man Inge Scholl die Gelegenheit geben, das Andenken der Weißen Rose, des Münchener Aufstandes gegen Hitler, in einer Hochschule für Gestaltung in Ulm zu pflegen. Der Schweizer Max Bill baute die Schule und leitete sie auch. Martin Heidegger hätte gern in Ulm über Klee gesprochen; er empfahl den Lyriker Paul Celan für eine dortige Stelle. Doch Klee galt als längst überholt. Für Bill waren Inge Scholls Erinnerungen an ihre ermordeten Gefährten wohl eher eine Ablenkung von den kunsttechnischen Aufgaben; wie hätte er auf Celan eingehen können? Diese Gedanken an eine Zusammenführung des Bauhauses mit dem Gedenken an die Ermordeten gingen folgenlos vorbei. 201 Es ist nicht bekannt, ob Heidegger beachtet hat, wie Klees letzter Schüler vom Dessauer Bauhaus, Fritz Winter, sich mit seinem Werk in Deutschland durchsetzte und auch in Freiburger Ausstellungen vertreten war. Heinz Berggruen, ein Kind Berlins, hat auf seiner Odyssee durch Frankreich und Amerika mit einer einmaligen Sensibilität das Zukunftsträchtige in der zeitgenössischen Kunst erkannt. So konnte er einer der herausragenden Kunsthändler unserer Zeit werden. Als er seine Klee-Sammlung als Dank für die amerikanische Gastfreundschaft dem Metropolitan Museum in New York gab, sah er die Bilder dort eher untergebracht als herausgestellt. In seinem Alter hat er deshalb eine repräsentative Sammlung als langfristige Leihgabe seiner Heimatstadt Berlin zur Verfügung gestellt. Im Stüler-Bau beim Schloß Charlottenburg kann, wie Berggruen betont, Picassos Frau mit gelbem Pullover der Nofretete im Zwillingsbau antworten. Afrikanische Kunst, Ölbilder von van Gogh und z.B. Cezannes Gärtner Vallier bereiten Picassos Bilderreigen vor. Es folgen Arbeiten von Braque, Laurens, Giacometti und zahlreiche Bilder Klees. Im Keller hört man den Vortrag der Erinnerungen Berggruens, die unter den Titel Haupt- und Nebenwege gestellt wurden. Wie Goethe einst von Winckelmann und seinem Jahrhundert sprach, so lautet nun der Name für dieses Museum Picasso und seine Zeit.202 Klee bleibt so eine satirische, kunsttechnische 201 Vgl. Pöggeler: Der Stein hinterm Aug (s. Anm. 43). S. 46 f. 202 Vgl. Picasso und seine Zeit. Die Sammlung Berggruen. Hrsg. von Peter-Klaus Schuster u.a. Berlin 1996.

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V. KLEE ODER PICASSO?

und vor allem phantastische Ausweitung Picassos. Ganz anders hat Heidegger die Dinge gesehen: Picasso oder Klee, das war für ihn eine Entscheidung über die maßgeblichen Wege zukünftiger Kunst. Die Richtung sollte Klee weisen. Doch ging es nicht darum, von Klee her nur kritisch gegen Picasso zu werden. Neben Picasso und auch gegen ihn stand seit je sein Gefährte Braque. Von Schulzeiten her befreundet war Heidegger mit Julius Bissier. Dieser ging seinen Weg von der Orientierung an altdeutscher Malerei und von der neuen Sachlichkeit zur Abstraktion und dann zu Psychogrammen. So konnte er mit andeutenden Tuschzeichen sich neben das ostasiatische Zeichnen stellen. In eine Zeit Picassos kann er schon deshalb nicht eingeordnet werden, weil die meditative Kunst Ostasiens Picasso fremd blieb. Als Bissier endlich Anerkennung fand, gab es 1958 auch eine erneute Ausstellung (zusammen mit Jürg Spiller) im Kunstverein Freiburg. Das Vorwort zum Katalog schrieb Siegfried E. Bröse (mit Heidegger befreundet). Zeigt Bissiers Werk nicht, daß die ostasiatische Malerei uns ganz nahe sein kann? O b es auch schon von Klee aus Wege nach Ostasien gab, bleibt zu fragen.

1. Die Bauhausnachfolge Das Bauhaus mußte 1925 wegen der reaktionären Tendenzen in Thüringen nach Dessau ausweichen und suchte beim Einbruch der Diktatur in Berlin vergeblich ein Überleben. Architekten wie Gropius und Mies van der Rohe bauten dann ihre Hochhäuser in New York und Chicago. Josef Albers konnte die Bauhauserfahrungen am Black Mountain College und an der Yale Universität einbringen; er stand mit seiner Huldigung an das Quadrat bald gegen die neuen Tendenzen in der amerikanischen Malerei. Als Moholy-Nagy 1937 in Chicago das New Bauhaus eröffnete, mußte er den Übergang zu einem Institute of Design zugestehen. So wurde der Name »Weimar« für Amerikaner mit dem Bauhaus verbunden und die Fortführung des Bauhausprojekts im Design gesichert. Zwar suchte man 1945 in Dessau ein Bauhaus zurückzugewinnen, doch gestattete der Sozialistische Realismus diesen Weg nicht. Ein Bauhaus-Archiv konnte 1961 in Darmstadt eröffnet werden und wurde dann nach Berlin verlegt. Nach dem Zusammenbruch der DDR bekam Weimar seine Bauhaus-Universität. In Dessau wurde schließlich das Meisterhaus von Kandinsky und Klee wiederhergestellt. Einst hatten die Professoren gegen die Absichten von Gropius die Innenräume ihrer Wohnungen in 160 Farbnuancen ausgemalt. Die ungenügende Isolierung der Flachdächer und die Winterkälte im Haus wegen der großen Fenster waren Wasser auf die Mühlen der Bauhausgegner gewesen. Inzwischen wurde diese architektonische Hinterlassenschaft in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.

Du. BAUHAUSNACHFOLGE

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Der Ausgriff des Bauhauses nach Amerika blieb Heidegger ebenso fremd wie Max Bills neues Bauhaus in Ulm. Er orientierte sich an den Motiven des Werkbundes. Das alte Bauernhaus und die Brücke mit dem Brückenheiligen wurden leitende Beispiele, als Heidegger nach dem Krieg sich mitbemühte um Abhilfe für die Wohnungsnot. Heidegger folgte Impulsen der Zeit, und so beteiligten sich 1951 in Darmstadt Schwippert, Ruf, Bonatz und Scharoun an der Erörterung seines Vortrags Bauen - Wohnen - Denken. Die größte Nähe bestand wohl zu Otto Bartning. Einige Jahrzehnte später wurde Heideggers Darmstädter Vortrag und die Diskussion seiner Gedanken bezeichnender Weise von jenen Bausparkassen ins Gedächtnis gerufen, die vor allem das Eigenheim fördern. Dabei konnten Maler sogar Heideggers »Geviert« bildlich vorstellen.203 Daß die Geschichte des Bauhauses Heidegger fremdgeblieben ist, zeigt sich auch daran, daß er Fritz Winter nicht beachtete, einen der letzten Dessauer Schüler Klees. In Freiburg war Winter z.B. 1950 (mit Julius Bissier und anderen) an einer Ausstellung des Kunstvereins beteiligt, 1962 an einer Ausstellung auch mit Klee im Augustiner-Museum. Winter war das Kind einer Bergarbeiterfamilie, die aus Westpreußen nach Westfalen kam. Er hat selber (als Elektroschlosser) unter Tage gearbeitet. Ihm kam als Arbeitslosen bei einer Reise nach Belgien und die Niederlande van Gogh nahe. Er studierte 1927-1930 am Bauhaus in Dessau und lernte von Klee die Ölpauszeichnung: Eine Zeichnung wird nachgezogen; dabei liegt unter ihr ein Blatt, auf der Unterseite mit Ölfarbe bestrichen; so wird die Zeichnung auf eine letzte Unterlage übertragen. Dem Funktionalismus von Hannes Meyer widerstand Winter. Er konnte dann in Berlin im Atelier Naum Gabos arbeiten. Ein Bild von 1932 zeigt auf hellbraunem Grund ein Liniengerüst; weißfarbige Tupfen erinnern an Sterne. Gibt nicht das Technische, das der Erde auferlegt wird, den Blick ins Weltall frei? Ein Kontakt zu Kirchner blieb vor allem mit organisatorischen Aufgaben verbunden. Da Winter stärker als Klee das Ungeordnete und Unerkennbare als Grund bewahrte, konnte er von Kirchner die Ablehnung eines allzu kontrollierten Schaffens aufnehmen. Auch Winter wurde 1937 vom nationalsozialistischen Malverbot betroffen; seine Werke in öffentlichen Sammlungen wurden beschlagnahmt. Nach der Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft 1949 wurde Winter in München Gründungsmitglied der Gruppe Zen 49; im folgenden Jahr erhielt er in Venedig einen Preis der Biennale. Die Galeristin, die seine Werke betreute, ging mit ihm auch die Ehe ein; doch in dieser Zeit verdüstern sich seine Bilder eher. Nach dem Tode seiner Frau heiratete Winter die Tochter, die ihm wohl immer schon nahegestanden hatte. Zum sechzigsten Geburtstag

203 Vgl. Bauen Wohnen Denken. Martin Heidegger inspiriert Künstler. Hrsg. von Hans Wielens. Münster 1994.

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gab es 1965 eine Retrospektive als Wanderausstellung; doch schon setzten sich in der Malerei neue und andere Tendenzen durch. Winter starb 1976.204 Des öfteren zeigt die Geschichte erst im nachhinein, daß Verwandtes einander unbekannt blieb. Können wir nicht durchaus ein Pendant zu Heideggers »Hüttenbüchlein« Aus der Erfahrung des Denkens in Fritz Winters Zyklus Triebkräfte der Erde finden? Freilich ist Winters Zyklus schärfer in das Unheil der Zeit einbezogen. Er hat den Zyklus Anfang 1944 nach einer Verwundung in Rußland bei einem Genesungsurlaub in Diessen am Ammersee geschaffen. Eine Auswahl erschien 1957 als Piper-Bändchen; Werner Haftmanns Nachwort zeigte die leitenden Motive auf: Das Morgenlicht streift über die Stämme des kaukasischen Hochwaldes. Wer in schweren Kämpfen sich in die Erde schmiegt, kann aus diffusem Grund organische Formen und Farben sprießen sehen. Wachstumskräfte regen sich; ihr Bild kristallisiert auf Winters Blättern. Diese Wurzeln und Knollen werden evoziert in elementaren Linien, Farben, Rhythmen. Die Natur zeigt sich nicht mehr im Landschaftsbild; der Soldat kann als Maler durchdringen zu den Formkräften selbst. Was Franz Marc im Skizzenbuch aus dem Felde unbewältigt lassen mußte, wird hier ausgeformt. Klee kann mit der Verfeinerung der kubistischen Mittel mithelfen, eine neue Bilder-Schrift aufzubauen. Die Chiffrenschrift, von Novalis in der Mannigfaltigkeit des Irdischen gefunden, wird gemaltes Bild. Zweifellos konnte die zur Technik neigende Architektur des Bauhauses trivialisiert, das Adjektiv »bauhäuslerisch« zum Schimpfwort werden. Wie viel überzeugender war doch ein alter Adelssitz oder ein Bauernhof! Von der »Modernität« konnte sich eine Postmoderne durch die spielerische Kombination der Elemente des Bauens absetzen und dann den Weg zu neuer Einfachheit provozieren. Paul Klee hatte mit seiner Kunst über Gunta Stölzl auf die Weberei wirken können. Die Metallarbeiten von Marianne Brandt wurden Allgemeingut. Wilhelm Worringer hatte 1908 mit Abstraktion und Einfühlung dem Expressionismus vorgearbeitet; doch nun konnte nicht mehr gelten, daß die Abstraktion am Dinglichen abgelesen sei: Sie verband sich auch mit den Triebkräften der Erde. Umgekehrt war deutlich geworden, daß auch Kristalle »wachsen«. Wenigstens für kurze Zeit konnte Fritz Winter so für entscheidende Wege der deutschen Kunst stehen. Trotzdem kann die Frage nicht verstummen, ob er nicht ein Epigone blieb, sei es auch von Klee (so daß Heideggers Antipode Schmalenbach ihn nicht in die Düsseldorfer Gemäldegalerie aufnahm).

204 Eine Ausstellung in Dessau und Dortmund gab 1995/96 einen Überblick über Leben und Werk: Fritz Winter. Gemälde und Arbeiten auf Papier. Hrsg. von Cathrin Klingsöhr-Leroy, Wolfgang Savelsberg. München 1995. Vgl. auch: Klee - Winter - Kirchner.1927-1934 (Ausstellung in Münster und München 2001). Katalog hrsg. von Cathrin Klingsöhr-Leroy. - Zum folgenden vgl. Fritz Winter: Triebkräfte der Erde. Einführung von Werner Haftmann. München 1957.

K L E E - PICASSO- BRAQUE

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Werner Haftmann stellt Winter mit Theodor Werner zusammen und sieht bei den beiden ein Fortbilden des »Erdlebenbildes« der deutschen Romantik zu einem »Weltinnenbild«. Die Pariser Schule (Härtung und Manessier) sei nicht fern; was Franz Marc und Paul Klee erstrebten, habe Fritz Winter unter neuen Bedingungen aktualisiert. Die Natur habe aber ihre »anschauliche Substanz« eingebüßt; sie zeige sich in Zeichen und Energiesymbolen. So gelte Theodor Werners Wort, »daß Kunst das Rettende in einer Zeit sei, in der der Mensch fremd in einem neuen Raum ist«.205 In Weingarten gab es 1983 die Ausstellung Künstler am Bauhaus. Der Katalog (Weingarten 1983) präzisiert diesen Titel durch einen Untertitel: arbeiten von 26 meistern und schülern aus der zeit von 1919 bis 1983. mit einer einführung von peter hahn, berlin. Die wiedergegebenen Bilder folgen zumeist, aber eben doch nur zum Teil abstrakten Tendenzen. Ein Betrachter, der die Zusammenhänge nicht vorweg kennt, wird kaum so etwas wie eine zusammenhängende Gruppe oder gar eine Schule vermuten. Als letzter der Maler wird Fritz Winter mit drei Arbeiten vorgestellt. Er ist es gewesen, der nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise Klees Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Malerei in fortgebildeter Weise vortrug. So verdeutlicht er das Schicksal einer Malerei, die von Klee herkommt, im Fortgang der Kriege und der Technisierung.

2. Klee - Picasso - Braque Ende der fünfziger Jahre sollten »Köpfe des XX. Jahrhunderts« in Monographien dargestellt werden, also etwa Strawinsky, Picasso, Heidegger. Heidegger selbst sah im Interesse für das Biographische nur eine Ablenkung von der Sache, um die es dem Künstler wie dem Denkenden gehe. In Bezug auf Strawinsky durchbrach Heidegger 1962 seine Regel, auf Umfragen nicht zu antworten; er hob mit Strawinskys Psalmensymphonie und dem Melodram Persephone zwei Werke heraus, die »auf verschiedene Weise uralte Überlieferung zu neuer Gegenwart« bringen. In Freiburg konnte man aus unmittelbarer Anschauung die Überzeugung gewinnen, daß Heidegger in der »Unermüdlichkeit schaffender Arbeit«, die den Verzicht auf vieles fordert, »sich in unserem Jahrhundert vielleicht nur mit Picasso vergleichen ließe«. Doch nur mit Schweigen und einem vielsagenden Lächeln antwortete Heidegger auf die eloquente Darlegung von Ingeborg Schroth, mit seiner Destruktion tue er selbst »nichts anderes als Picasso mit der Zerlegung des Gegenstandes«. Heidegger gestand als etwas Selbstverständliches zu, daß Picasso »Künstlerkraft« zukomme. Doch fragte er, ob

205 Vgl. Werner Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert. 4. Aufl. München 1965 (erstmals 1954). S. 516 f. - Über Heidegger und Werner s. oben Anm. 147.

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diese Künstlerkraft den Wesensort künftiger Kunst zu zeigen vermöge. Zu Picasso, so berichtet Petzet, »stand er in einer Art beobachtender Distanz, obwohl einzelne seiner Bilder ihn sehr stark berührt haben«. Bekam er eine Postkarte mit Picassos Brotträgerin, so konnte er auch später noch auf die »Einfachheit und herbe Innigkeit des Bildes« zurückkommen. Doch wird man Picasso gerecht, wenn man ihn so noch von van Gogh her sieht? 206 Als Heidegger 1958 mit dem Deuter der Zen-Kunst Shinichi Hisamatsu sprach, sagte er eindeutig: »Ich schätze Paul Klee höher als Picasso. Meines Erachtens ist Paul Klee ein bedeutenderer Maler als Picasso.« Heidegger konnte nicht wie die Kunstsammler und Kunsthistoriker Klee und Picasso verbinden, bei ihnen auch nicht nur zwei unterschiedliche Wege mittelmeerisch-europäischer Kunst finden. Für ihn gab es die Alternative: Klee oder Picasso. Danach verblieb Picasso im Weltzugriff, der sich auch als Metaphysik und Technik durchgesetzt hatte. Klee dagegen zeigte mit seinen späten Bildern auf das Wesen einer zukünftigen und anderen Kunst und damit auf eine andere Zeit. Diese Unterscheidung von Picasso und Klee darf aber nicht als Ablehnung bestimmter kunstgeschichtlicher Richtungen, etwa des kubistischen Durchbruchs, genommen werden. Das zeigt sich daran, daß Heidegger zum Weggefährten Picassos, zu Georges Braque, eine besondere Nähe gewann. Als Martin Heidegger im September 1955 in Cerisy-la-Salle seinen Vortrag Was ist das - die Philosophie? hielt, besuchte er nicht die Sorbonne-Professoren in Paris, sondern Georges Braque in Varengeville.207 Braque gab 1959 in die Heidegger-Festschrift ein Blatt mit den Worten: »Pour Martin Heidegger / L'Echo repond ä l'Echo / tout se repercute«. Im Januar 1959 wiederholte die Akademie der Künste in Berlin die Münchener Tagung Die Sprache; dabei »exzellierte« der Maler Theodor Werner in der Diskussion. So berichtet Erhart Kästner an Erhard Göpel und fährt dann fort: »Währenddessen stießen wir in einem Kunstladen, bei Wirnitzer, auf ein Exemplar der Theogonie von Braque und überredeten die Dame, damit einverstanden zu sein, daß wir das kostbare Buch für einen Tag Heideggern aufs Zimmer legten.«208 Petzet berichtet aus den letzten Lebensjahren Heideggers: »Zuweilen nahm der Besucher im sonst unveränderten Ar-

206 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 91,222, 153. Zu Strawinsky vgl. Heidegger. Aus der Erfahrung des Denkens (s. Anm. 49). S. 181.- Zum folgenden vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 113). S. 190. 207 Vgl. Walter Biemel: Martin Heidegger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1973. S. 154, 100. - Zum folgenden vgl. die Heidegger-Festschrift Chaire von 1959, S. 173. 208 Vgl. Erhart Kästner. Briefe. Hrsg. von Paul Raabe. Frankfurt a. M. 1984. S. 156. Zum folgenden vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 226; Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens (s. Anm. 49). S. 183.

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beitszimmer kleine sichtbare Hilfen wahr - Freundesgaben, wie etwa ein Blatt aus den Lettera amorosa von Braque.« Am 16. September 1963 schrieb Heidegger »Im Anblick einer Lithographie zu Lettera amorosa« für Rene Char ein Blatt »zum Andenken an den großen Freund Georges Braque«. Die »einzig sachgerechte Auslegung« der Kunst Braques schenke »uns der Künstler selbst durch die Vollendung seines Werkes in das geringe Einfache«. Das Mannigfaltige werde in die Einfalt des Selben verwandelt, darin »das Wahre« erscheine. »Die Verwandlung des Mannigfaltigen in die Einfalt ist jenes Abwesenlassen, wodurch das Einfältige anwest. / Abwesen entbirgt Anwesen / Tod erbringt Nähe.« Braque kam vom Fauvismus her. Seit 1908 führte er mit Picasso den Kubismus herauf: Die Dinge mit ihren vielen möglichen Ansichten erschienen als ein Formgebilde, aufgebaut aus geometrischen Konstruktionselementen wie den Kuben. Als Braque Buchstaben ins Bild eingebracht hatte, konnte man zur Collage fortschreiten, die Zeitungsausschnitte, aber auch Sand auf den Bildern erlaubten. Es ging nicht darum, sich der Welt zu bemächtigen und sich (wie Picasso es tat) auf das Vitale zu reduzieren. Die Kunst tat der herrschenden Technik aber auch nicht dadurch genüge, daß sie mit Leger Leitungsrohre im Bild zeigte. Die kubistische Strenge löste sich bei Braque bald auf und führte zu mannigfachen Ergänzungen und Weiterungen. Die Dinge, in denen sich eine Welt konzentrierte, wurden durchaus parallel zur Natur selbst aus vielen malerischen Formungsmöglichkeiten aufgebaut. Sie verwiesen auf ein offenes Geschehen des Bildens, das mannigfachen Impulsen folgte. So konnte Braque z.B. den Auftrag annehmen, Hesiods Theogonie zu illustrieren. Sein und Zeit hatte im Vorlaufen zum Tod das Nichtigwerden der Selbstverständlichkeit des Seienden aufgewiesen und so das Seiende neu aus seinem Sein und dessen Wahrheit aufnehmen wollen. Heideggers Spätphilosophie betont das Verbergen in der Wahrheit als Unverborgenheit, nämlich das Verbergen im ständig neuen Wechselspiel von Entbergen und Verbergen bei den Konstellationen der Geschichte des Seins und im Sichbergen im Geheimnis des Aufbrechens dieser Geschichte. So kann der Hinweis auf ein Bild Braques das Sein als Anwesen auf das Abwesen beziehen, im Tod eine neue Nähe der Dinge finden. Heideggers Worte über Braque betonen stärker als das Gedicht Cezanne Tod und Abwesen. Da Braque ein bewegtes Maß in seinen Darstellungen suchte, blieb er »Klassizist« und so den Griechen wie Cezanne nahe. Es ist nicht vorstellbar, daß Heidegger seine Gedanken über die bildende Kunst von Max Ernst oder Miro oder Chagall her entfaltet hätte. Was meint Heidegger damit, daß er Picasso eine überlegene »Künstlerkraft« zuspricht, aber nicht den Aufweis künftiger Entscheidungen über die Wege der Kunst und ihres Bezugs zum Leben? Nicht Heidegger selbst, aber doch ein Schüler wie Walter Biemel gibt eine Antwort auf diese Frage. Biemel kann Hei-

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degger nicht folgen, wenn dieser mit Hölderlin und den Griechen eine Wende in der Geschichte erstrebt. Doch lasse sich das, was Heidegger suche, z.B. in der Malerei, eben in der Alternative zwischen Picasso und Klee, aufweisen. Maler wie Klee und Hoehme, Bildhauer wie Kricke und Chillida, Musiker wie Bernd Alois Zimmermann und Lyriker wie Paul Celan zeigten, wie Kunst die Menschen zu einem anderen Leben führen könne. Selbst die Pop Art stelle im Gegenbild positive Möglichkeiten vor. In seiner Auseinandersetzung mit Picasso beschränkt Walter Biemel sich auf ein bestimmtes Phänomen, die Polyperspektivität bei den Frauenporträts vom Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre. Picasso zeige die Frauen nicht nur aus verschiedenen Perspektiven; er zeige z.B. auch durch Nägel über den Köpfen verschiedene Blickrichtungen an. Der Aufbau der Gestalten aus Dreiecksformen und anderen geometrischen Zugriffen verfüge über das Dargestellte und zeige die Macht des Künstlers. Was so mächtig im Leben sei, der Zauber der Frauen, werde durch die Kunst gebrochen und beherrscht. Zwar zeige Picasso die Grausamkeit des Luftangriffes auf Guernica, doch praktiziere er selbst solche Grausamkeit im persönlichen Leben. In der Lust der Deformation zeige sich eine Einstellung zur Welt im ganzen, die auch die Kriege trage und mit Heidegger metaphysikgeschichtlich zu deuten sei. »Es ist merkwürdig, daß einer der Maler, der durch die Grausamkeit unserer Zeit so stark angesprochen wurde und sie thematisch dargestellt hat, um sie zu geißeln, ihr selbst verfallen kann. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, wie die Grausamkeit eine Gefahr unserer Zeit überhaupt ist - eben als der durch das Willenswesen bestimmten und geprägten Zeit, in der die Perversion des Willens als Möglichkeit ständig auf dem Sprung ist.«209 Lorenz Dittmann führt Walter Biemels Picasso-Interpretation fort. Er zeigt, daß die Violine auf dem Bild Picassos einerseits Produkt des geometrisch verfügenden Willens ist, andererseits sich mit ihrer Tiefendimension in eine Widerständigkeit entzieht, die zur Willenserfahrung gehört. Max Imdahl knüpft an Biemel und Dittmann an; doch geht es ihm darum, das sehende Sehen des Malers in seiner Autonomie und Totalisierung abzulösen vom Sehen von Gegenständen.210 Carlo Ginzburg hat 1997 in einem Berliner Vortrag dann wieder gefragt, wie Picassos bekanntestes Bild, Guernica, in die Geschichte gehöre. Picasso sollte ein Bild malen für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1937; das Motiv vom Maler und seinem Modell verwandelte sich nach dem Luftangriff auf Guernica in eine Schreckens- und Leidensszene. Die Täter werden freilich nicht identifiziert; Picasso verwendet einerseits die Abstraktion, wie sie 209 Vgl. Walter Biemel: Gesammelte Schriften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Band 2. S. 64. 210 Vgl. Max Imdahl: Gesammelte Schriften. Frankfurt a. M. 1996. Band 1. S. 424 ff. Zum folgenden vgl. den Bericht in: FAZ 19. 3. 1997.

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von der »entarteten« Malerei entwickelt wurde, andererseits den Klassizismus und Historismus, den die faschistischen und kommunistischen Staaten verordneten. Ein toter Krieger stammt aus einer mittelalterlichen Apokalypse-Darstellung, die damals von Bataille veröffentlicht worden ist. Zweifellos ist Picassos Werk ein Protest. Franco hat deshalb den Besitz einer Reproduktion bei Strafe verboten. In New York haben sich amerikanische Künstler vor dem Bild zum Protest gegen den Vietnam-Krieg versammelt. Gemäß Picassos Anordnung kam das Bild erst nach dem Ende des Faschismus in Spanien nach Madrid. Die Erfahrung der politischen Schrecken führten bei Picasso aber nicht zu einer neuen künstlerischen Sprache, eine solche Sprache nicht zu einer Verwandlung des eigenen Lebens. War der Weg Klees in Emigration, Krieg und Todeskrankheit nicht ein anderer? Heinz Berggruen hat in seiner Autobiographie Hauptweg und Nebenwege nachgezeichnet, wie sich bei ihm Leben und Kunst verbunden haben. Das Kind aus reichem jüdischen Hause in Berlin landete nach französischen Jahren schließlich in Kalifornien. Als Berggruen dort Klees Kunst kennen lernte, konnte er das Blatt Perspectiv-Spuk von 1921 erwerben. Es erinnerte ihn an Kafka; Klee führte in eine phantastische Welt, die uns mit der wirklichen Welt, in der wir leben, verknüpft und uns ihr zugleich entrückt. 211 Maßgeblich für Berggruen ist jener Picasso, der sein Leben und vor allem seinen Bezug zu Frauen mit immer neuen Bildern begleitet. Berggruen erkennt an, daß Werner Schmalenbach mit den Spitzenwerken seiner Düsseldorfer Sammlung einen Überblick über die moderne Malerei gibt. Er selbst will anderes, nämlich sich auf die am meisten geschätzten Maler konzentrieren, und das heißt: auf Picasso und auf Klee, der Picasso ins Phantastische hinein ergänze. Mit Picasso und Klee schließe die Moderne sich an Cezanne, Gauguin und van Gogh, diese Gründungsväter der modernen Malerei, an. Zu ihnen stellt Berggruen Seurat. Muß man sich aber nicht fragen, wie viel an Pose in Seurats Bild Les Poseuses steckt? Berggruen sieht jene, die einst die moderne Kunst ausschalten halfen, sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu Franz Marc wenden. Wenn Berggruen diese Heimatkunst verachtet, schließt er mit Marc freilich aus, was einmal zum Umfeld Klees gehörte. Auch tut er jenen Unrecht, die nach 1945 den Blauen Reiter wieder vergegenwärtigten oder als Jüngere erstmals wirklich kennen lernten. Vom amerikanischen Ausdruck Playmate her bildete man die Rede von den Klee-Mates; zu ihnen zählt sich Berggruen.212 Er erzählt, daß er, bei Diego Rivera beschäftigt, mit dessen Frau Frida Kahlo Tristan und Isolde spielte und zu

211 Vgl. Heinz Berggruen: Hauptweg und Nebenwege. Erinnerungen eines Kunstsammlers. Berlin 1996. S. 84 ff, zum folgenden 220, 208 ff, 77 ff. 212 Vgl. Berggruen (s. Anm. 211). S. 88, zum folgenden 58 ff, 148,207. S. auch Anm. 202.

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leidenschaftlichen Tagen nach New York floh. Auch die Kunst erscheint als eine Droge, die den Lauf des alltäglichen Miteinanders durchbricht. Die Folgen für die Beteiligten sind dementsprechend. Z.B. verhinderte Jacqueline, Picassos spätere Frau, daß Picasso Bilder aus dem Besitz seiner einstigen Geliebten MarieTherese Walter signierte, als diese durch Verkauf der Not abhelfen wollte, in die sie geraten war. »Marie-Therese beging kurz darauf Selbstmord, sie erhängte sich.« Dagegen vermochte Nina Kandinsky die Bilder ihres toten Mannes in die geliebten Diamanten umzusetzen; um dieser willen wurde sie dann in ihrem Schweizer Chalet erdrosselt. Kann man von diesem Treiben her dem gerecht werden, was Klee in Emigration und Todesnähe erfuhr und was aufgenommen werden will in einer Kunst, die den entscheidenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts - auch dem Holokaust - nicht ausweicht? Berggruens Interesse bleibt auf die klassische Moderne begrenzt und nimmt die Moderne der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf. Es bleibt ihm auch fremd, einen Weg zu der Weise zu suchen, wie z.B. in der Zen-Kunst Leben und Tod miteinander verflochten sind.

3. Klee und Ostasien Auf mittelalterlichen Bildern finden wir oft Worte in Sprechblasen den Personen zugeordnet. Die barocke Emblematik verband das Bild mit Unterschriften. Gauguin beschriftete auf Tahiti seine Bilder in der Sprache der Eingeborenen, aber durchaus fehlerhaft. Bei Kandinsky finden sich Schriftzeichen, die als Formen überzeugen und nicht eigentlich lesbar sein sollen. Klee orientierte sich nicht am Italien Goethes und nicht an Nietzsches tragischer griechischer Frühe; er brach in den Nahen Osten auf und traf so auf die arabische Schrift, die selber zum Bild wird, und dann auf die ägyptischen Hieroglyphen. Auf dem späten Bild Tod und Feuer kann man die Buchstaben T O D entziffern; die Balken-Bilder streben aus ihrer Formung heraus zur Schrift. Was damals mit dem japanischen Holzschnitt nach Europa gekommen war und schon van Gogh prägte, blieb Klee eher fern. Doch wurde auch Chinesisches ihm nahe gebracht. Mitten im Ersten Weltkrieg, 1918, bekam Klee von seiner Frau eine Sammlung Chinesische Lyrik (hrsg. von Hans Heilmann, Leipzig 1906). Es entstanden sechs Aquarelle zu klassischen chinesischen Gedichten. So mußte es Klee bewußt werden, daß die chinesischen Schriftzeichen nicht nur den Text meinen, sondern auch kalligraphische Bedeutung haben. Im Kriegsdienst notierte Klee 1917 den Beginn der Lektüre chinesischer Novellen. Drei Wochen später kritisierte er die Novellenübersetzung, weil sie »nicht zuverlässig« sei und mit Europa kokettiere. Klabund verfahre »etwas leichtsinnig« in der zu spielerischen

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Übersetzung der Gedichte von Li-Tai-Po. In den Jahren 1916-1921, so berichtet Felix Klee, schuf Paul Klee »sogenannte Schriftbilder«, »die in seinem bildnerischen Werk einen ganz eigenen Platz einnehmen«. Die Bilder verwenden Verse von Wang-Seng-Yu und von Kaiser Wuti; das Schriftbild Nr 17 von 1918 benutzte vermutlich ein eigenes Gedicht: »Einst dem Grau der Nacht enttaucht...« Es folgten 1921 Bilder nach dem Hohen Lied, das von Klees Vater neugestaltet worden war.213 Wenn Paul Klee als der Buddha des Bauhauses kritisiert wurde, dann sollte seine Abgehobenheit getroffen werden (auch die Distanz zu den politisierenden Tendenzen von Hannes Meyer). Eine Nähe zum Buddhismus, etwa zur Zen-Meditation, war nicht gemeint. Doch konnte Klee in den Bauhaus-Vorlesungen gelegentlich Buddhistisches berühren. Beim Kalligramm kam ihm China in den Sinn: »Die Malerei gilt ja nach dem Vorbilde Chinas nicht als eine Technik, als ein Handwerk, sondern ist durchaus der Kalligraphie gleichgestellt. Das Wesen der Kalligraphie besteht nach chinesischen Begriffen nicht etwa in der Sauberkeit und Gleichmäßigkeit der Handschrift, die leicht zur Erstarrung führen kann, sondern wohl darin, daß man das, was man auszudrücken hat, in möglichster Vollkommenheit, aber mit dem geringsten Aufwand an Mitteln darstellt.« So zieht Klee den Schluß: »In graphischer und malerischer Beziehung die kalligraphische Charakteristik zu manifestieren, ist ein Mittel bzw. ein Bestandteil künstlerischer Gestaltung... Je mehr unsere Handschrift fähig ist zu schreiben, um so sensibler sind die Zeichen.« Nachdem Georg Forster noch aus dem Geist der Aufklärung heraus über seine Reisen durch Europa und durch die Welt berichtet hatte, suchte das unruhige 19. Jahrhundert eine helfende Orientierung in fernen und fremden Kulturen. Der Missionarssohn Hermann Hesse sprach von den Indienfahrern; in seinem großen Alterswerk Das Glasperlenspiel stehen Indisches und Chinesisches gleichberechtigt neben dem Europäischen. Mußte nicht auch die Philosophie an diesem Ausgriff auf die Welt teilnehmen? Georg Misch, der Schwiegersohn Wilhelm Diltheys, unterschied nach einer Weltreise in seiner »Fibel« Der Weg in die Philosophie 1926 die Selbstbesinnung in drei großen Kulturen von Laotse, den altindischen Ansätzen und Heraklit her. So ausgewogen konnte Heidegger nicht verfahren. Er lehnte die Orientierung am Indischen bei Medard Boss und Carl Friedrich von Weizsäcker als ihm ungemäß ab: Das Bewußtsein werde dort auf

213 Vgl. das Tagebuch Nr. 1041, 1054, ferner Paul Klee: Gedichte. Zürich-Hamburg 1996 (erstmals 1960). S. 129 f. - Zum folgenden vgl. Paul Klee: Das bildnerische Denken. 4. Aufl. Basel / Stuttgart 1981. S. 455. Zum Thema vgl. Dörte Zbikowski: Geheimnisvolle Zeichen. Fremde Schriften in der Malerei des 20. Jahrhunderts (Marburger Diss. 1995). Göttingen 1996.

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eine reine Lichtung ohne Verbergung bezogen!214 Dagegen war, von Laotse her, das agrarisch geprägte China nahe - auch im leitenden Beispiel des Kruges. Diesem Taoismus, dann dem Buddhismus, wie er in China weitergebildet worden war, folgte auch die Zen-Meditation. Die Natur und der Mensch, der in die Natur eingefügt ist, tritt vor die Technik, die über die Dinge verfügt; die Nähe zum Tod, die das Verfügenwollen bricht, verweist auf den »Schrein« des Nichts, der das Sein birgt. Von dieser Zuwendung zum Ostasiatischen her, die Klee selbst fremd und fern geblieben war, wurde Klee von Heidegger Ende der fünfziger Jahre aufgenommen und erörtert. Dabei konnten Freunde wie Julius Bissier und Übersiedler aus Amerika wie Tobey nahe sein. Heideggers Weise, sich Klee zu nähern, stand also in einem wirkungsmächtigen Kontext. Die Begegnung mit japanischen Gästen war für Heidegger sehr früh wichtig geworden, ohne daß er einer Einladung nach Japan gefolgt wäre. Jene Japaner, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Freiburg zu Husserl kamen, gerieten an den jungen Assistenten und Privatdozenten Heidegger. So berichtete Hajime Tanabe schon 1924 in Japan über Heideggers Phänomenologie des Lebens als »neue Wende in der Phänomenologie«. 215 Unter den Besuchern europäischer Hauptstädte war auch der Baron Shuzo Kuki mit seiner Frau. Er studierte Phänomenologie mit Oskar Becker in Freiburg und ging im November 1927 zu Heidegger nach Marburg. Er hat Ende 1926 ein Manuskript über die Struktur des »Iki« abgeschlossen; daraus wurde ein klassisches Werk, das 1930 erschien. Nishida hat dem Frühverstorbenen die Grabschrift geschrieben (Heidegger hatte ein Photo des Grabes). So hielt Heidegger den Baron, den er als Grafen ansprach, fälschlich für ein Mitglied der Kyoto-Schule. Er gedachte seiner ausführlich in dem Gespräch von der Sprache, das 1953/54 auch das Verhältnis zwischen den griechischen und deutschen Sprachen einerseits und den ostasiatischen Sprachen andererseits erörterte. Heidegger nimmt an, Kuki habe in Japan Vorlesungen über die Ästhetik der japanischen Kunst und Dichtung gehalten, die auch als Buch erschienen seien. Kuki habe darin versucht, das Wesen der japanischen Kunst mit Hilfe der europäischen Ästhetik zu betrachten. (In Wahrheit hatte Kuki Vorlesungen über französische und deutsche Philosophie

214 Vgl. Heidegger: Zollikoner Seminare (s. Anm. 102). S. 223 ff, 230, 338. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Vorträge und Aufsätze (s. Anm. 119). S. 177, 164 ff. Vgl. ferner den Abschnitt »West-östliches Gespräch: Heidegger und Lao Tse« in Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 387 ff. 215 Vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 113). S. 89 ff. - Zum folgenden vgl. Stephen Light: Shuzo Kuki and Jean-Paul Sartre. Carbondale and Edwardsville 1987. S. 4 ff. Vgl. ferner die genaue Darstellung von Ryosuke Ohashi in: Von Heidegger her (Meßkircher Vorträge 1989). Hrsg. von Hans-Helmuth Gander. Frankfurt a. M. 1989. S. 93 ff.

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zu halten.) In Kukis Europäisierung des Japanischen sah Heidegger eine Verblendung: Alles Wesenhafte in den geschichtlichen Strömungen werde angezehrt und müsse versiegen. Die metaphysische Lehre von der Kunst werde herrschend; sie lasse im Sinnlichen das Nichtsinnliche durchscheinen. Heidegger sagte in dem Gespräch mit T. Tezuka, das im Gespräch von der Sprache verarbeitet wurde: »Auch die platonischen Ideen sind etwas Metaphysisches, das durch das sinnliche Empfinden hindurch wahrgenommen wird. Bei Piaton ist beides allerdings in zwei Bereiche getrennt. In Japan scheint es eher, als ob beide eins wären...« 216 Indem Piaton das Seiende auf sein Sein hin vorstellte, gab er Descartes und Kant die Möglichkeit, vom Vorstellen auszugehen. Heidegger hofft, nach einer Überwindung oder »Verwendung« des metaphysischen Vorstellens könnten das Abendländische und das Ostasiatische auf eine Weise ins Gespräch kommen, die einer einzigen Quelle entspringe. Im Werk Kukis wird »Iki« der letzten kulturellen Blüte der Edo-Zeit in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zugewiesen und als idealisierte Koketterie gefaßt. Diese ist ein Spiel, das gerade nicht ernst werden und zu einem Ziel und Ende kommen will. So kann mit ihm der heroische Weg des Ritters (bushido) verbunden werden. Als Drittes kommt die Entsagung hinzu, die den Buddhismus kennzeichnet. Sieht man auf die Systematik, so ist Kuki offenbar durch jene hermeneutische Phänomenologie beeinflusst, wie Oskar Becker sie 1922 in seinem Habilitationsvortrag Die Stellung des Ästhetischen im leben anzeigte, dann in seinen Lehrveranstaltungen vortrug und 1929 in der Husserl-Festschrift publizierte. Becker rehabilitierte die platonische Ideenlehre: Zum Historischen der Existenz tritt die Natur, die in ihrem Wesen ruht; zu ihr zeigt die Idealität der mathematischen Gebilde und damit der »absolute« Geist, der sich aus der Geschichte löst, eine ontologische Analogie. Zu Piaton tritt die deutsche Romantik (Schopenhauer eingeschlossen); innerhalb ihrer sah Schelling am Schluß des Systems des transzendentalen Idealismus Natur und Freiheit in der Kunst als einer Flamme brennen. 217 Wenn der Baron oder »Graf« Kuki in Heideggers Haus kam, trug seine Frau festliche japanische Kleidung. »Die ostasiatische Welt«, so sagt Heidegger, »leuchtete dadurch heller...«218 Heidegger verdeutlicht sich »Iki« als das Anmutende, ja als »das Wehen der Stille des leuchtenden Entzückens«. Dabei sei

216 Vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 113). S. 175; Heidegger. Unterwegs zur Sprache (s.Anm. 100). S. 94. 217 Vgl. jetzt Oskar Becker: Dasein und Dawesen. Pfullingen 1963. - Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert /Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Die Philosophie und die Wissenschaften. Zum Werk Oskar Beckers. München 2002. 218 Vgl. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (s. Anm. 100). S. 89, zum folgenden 140 f, 106 ff. - Über Heidegger und Berlin vgl. Ohashi (s. Anm. 215). S. 99.

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das Entzücken als ein »Hinzücken« in die Stille, so als ein »Entziehen« zu fassen, in dem das, was weggehe, sich doch noch zuwinke. So kann Heidegger das »Iki« aus der großstädtischen und modernen Umbildung einer alten Tradition herausnehmen und zum altjapanischen No-Spiel stellen. Kuki selbst war sich des Gegensatzes zu Heidegger bewußt, der sich im Schwarzwald einzuhausen suchte. Kuki, der in Tokio und Paris zu Hause war und in Paris den jungen Sartre als Französischlehrer hatte, konnte nur lächeln, wenn Heidegger ihm erzählte, er habe als Soldat im Ersten Weltkrieg einige Tage in Berlin verbracht und sei vom »modernen Leben« dort sehr erstaunt gewesen. Zweifellos war die Beschäftigung mit Laotse für Heidegger 1946/47 hilfreich; wie Heraklit vor der mittelmeerisch-europäischen Tradition stand, so trat Laotse vor die Zen-Meditation! Im Juli 1953 besuchte Daisetsu T Suzuki während einer Europareise sowohl Heidegger wie Jaspers. Beide versicherten ihm, sie hätten seine Bücher gelesen, die seit 1939 und 1941 auch deutsche Leser mit der »großen Befreiung« durch Zen-Meditation bekannt machten. Heidegger bemerkte freilich, die Griechen hätten »auf der Seite liegend gedacht«; auch ihm kämen, vor dem Aufstehen im Bett liegend, »oft interessante Gedanken«. Heidegger hatte im März 1954 die Unterstützung eines japanischen Gastes, des Germanisten T Tezuka, als er in »Koto-ba« das japanische Wort für »Sprache« fand.219 Offenbar war er so fasziniert vom Bild der schwebenden Kirschblüten, daß er »ba« als Blätter oder Blütenblätter faßte, »Koto« vom »Iki« her als »das reine Entzücken der rufenden Stille«, in dem das Entzückende selbst »einzig je im unwiederholbaren Augenblick mit der Fülle seines Anmutens zum Scheinen kommt«. So ist »Koto« dann »das Ereignis der lichtenden Botschaft der Anmut«. Japaner müssen aber darauf bestehen, daß mit dem Wort »Koto-ba« die Sprache als der wertlose Rand des Ereignisses gefaßt wird. Die Japaner haben in ihrer Geschichte die chinesische, dann die europäische und amerikanische Begrifflichkeit aufgenommen; schwerlich läßt sich ihre Sprache mit den Brüchen ihrer Geschichte auf einen alles bestimmenden Ursprung zurückführen. Erinnert man sich, daß Heidegger die Leitworte aus dem Gespräch von der Sprache auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Bildhauer Chillida verwendet, dann ist der Ausgang von der Sphäre der Kunst offensichtlich. Als 1958 in Heideggers damaligem Verlag die alte Zen-Geschichte Der Ochs und sein Hirte, erläutert von einem Zen-Meister, auf Deutsch erschien, war sie in der Sprache Heideggers wiedergegeben. Heidegger prägte ostasiatische Über219 Vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 113). S. 169 ff, 173 f. - Zum folgenden vgl. Heidegger. Unterwegs zur Sprache (s. Anm. 100). S. 142. Zur Kritik vgl. Tadashi Ogawa: Heideggers Übersetzbarkeit in ostasiatische Sprachen. Das Gespräch mit einem Japaner. In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Hrsg. von Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler. Band 3. Frankfurt a. M. 1992. S. 180 ff.

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Abb. 13 Illustration aus dem 15. Jhd. zu der altchinesischen Zen-Geschichte Der Ochs und sein Hirte (»Das Hereinkommen auf den Markt mit offenen Händen«)

lieferung, w e n n sie im D e u t s c h e n wiedergegeben w u r d e ! 2 2 0 H a t t e u m g e k e h r t vorher das Ostasiatische Heidegger geprägt? Keiji Nishitani, der Schüler N i s hidas, hatte E n d e der dreißiger Jahre bei Heidegger studiert, als für diesen die Auseinandersetzung mit Nietzsche leitend war. Nishitani macht in seinen Vorlesungen Was ist Religion? darauf aufmerksam, daß die große weltgeschichtliche Zäsur Ostasien v o m mittelmeerisch-europäischen Westen abtrenne. Dieser Westen richte sich v o m Iranisch-Jüdisch-Christlichen wie v o m Griechischen her auf den Menschen aus. Die U n t e r s c h e i d u n g zwischen G u t u n d Böse werde dabei als etwas Letztes genommen. Dagegen bleibe im zen-buddhistischen Philosophieren das Böse etwas Vorletztes, das d u r c h das Sichfügen in die N a t u r ü b e r w u n d e n w e r d e . Heidegger hat im S o m m e r 1936 mit Schellings Freiheits220 Vgl. Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte erläutert von Meister Daisohkutsu R. Ohtsu mit japanischen Bildern aus dem 15. Jahrhundert übersetzt von Köichi Tsujimura und Hartmut Buchner. Pfullingen 1958. - Zum folgenden vgl. Keiji Nishitani: Was ist Religion? Frankfurt a. M. 1982. S. 310 ff.

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schrift erörtert, wie das, was nur Grund ist in Gott, sich auch nicht in Liebe einigen kann mit dem, was Gott selbst ist, so daß es zum »Bösen« kommt. Die Frage nach dem Bösen - der Gipfel der metaphysischen Tradition! - wurde von Heidegger später eingeebnet in der Nivellierung Schellings zu einer Position in der Geschichte der Metaphysik. Das Böse wurde - etwa im Brief über den »Humanismus« - zu dem, was in geschichtlichen Übergängen sich vordrängt. Die Kunst soll über die Unterscheidung des Guten und des Bösen hinausführen und zeigen, was in der Geschichte retten kann. So kann ostasiatische Kunst leitend werden für den Bezug zur Kunst überhaupt: Die Landschaft nimmt den Menschen zurück in die Natur; zum Bild stellt sich das Gedicht, in der Bilder-Schrift sind Bilden und Dichten sich nahe. Fragt man zweieinhalb Jahrzehnte nach Heideggers Tod nach der Beziehung der westlichen Kunst zum Zen, dann ist die Kyoto-Schule, an der Heidegger sich orientierte, vergessen. Nietzsche und Derrida werden genannt, die den »Tod des ego« mit Zen verbinden. Heidegger kommt ins Spiel, wenn die Psychotherapie Hilfe bei der Zen-Meditation sucht.221 Sicherlich wird Ernst Benz mit seinem schon rückblickenden Zeugnis von 1962 zitiert: »Es gibt kaum einen Bahnhofskiosk, in dem man nicht eine billige Taschenbuchausgabe mit einer sachkundigen Einführung in Zen erwerben kann...« Bei der Münchener Künstlergruppe Zen 49 wird nachgewiesen, daß das Interesse an abstrakter Malerei in der Lektüre Suzukis und Vorlesungen Karlfried Graf von Dürckheim-Montmartins eine Stütze glaubte finden zu können. Immer noch wird der Bezug zum Zen bei Bissier und Tobey an den Anfang gestellt. Dann aber folgt eine lange Reihe von Künstlern, die von Kricke bis zu Richard Long, von Hölzel, Theodor Werner, Fritz Winter, Härtung bis Masson reicht. Klee fehlt; er wird in historisch richtiger Einordnung nur zitiert, weil Baumeister sich mehr an ihm als an der ZenKunst orientiert habe. Daß Hisamatsu durch seine Deutung der Zen-Kunst einmal dazu beitrug, Klee und die Zen-Kunst zu verbinden, ist vergessen. Als Heidegger im Mai 1958 in Wien seinen George-Vortrag Dichten und Denken hielt, traf Hoseki Shinichi Hisamatsu auf ihn; nach Heideggers Tod gedachte Hisamatsu seiner mit einem Gedicht Begegnung in Wien und einer Zeichnung.222 Hisamatsu hatte bei Nishida studiert. In einer Zen-Übungswoche hatte er aus

221 Vgl. Zen und die westliche Kunst (Ausstellung Museum Bochum). Hrsg. von Hans Günter Golinski, Sepp Hiekisch-Picard. Bochum 2000. S. 34, 165, zum folgenden 100, 99,101. Für eine psychotherapeutische Aufarbeitung vgl. Hans-Peter Hempel: Heidegger und Zen. Frankfurt a. M. 1992; Yoshiko Oshima: Nähe und Ferne - mit Heidegger unterwegs zum Zen. Würzburg 1998. 222 Vgl. Erinnerung an Heidegger (s. Anm. 74). Nach S. 216. - Zum folgenden vgl. den Freiburger Vonrag Hisamatsus: Die Philosophie der Kyöto-Schule. Hrsg. von Ryosuke Ohashi. Freiburg / München 1990. S. 236 ff.

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Not und Verzweiflung zum »Erwachen« gefunden. Zu diesem Erwachen suchte er dann andere zu führen, auch in einer weltweiten Vortragstätigkeit. Sein Buch Zen and thefine Arts (New York u.a. 1971) gibt dem westlichen Leser eine Einführung in die ostasiatische Zen-Kunst und unterstützt die Darlegungen durch eine Fülle von Abbildungen - von Landschaftsbildern, Tuschzeichnungen, Vasen, Krügen, Steingärten und No-Masken. Hisamatsu kam 1958 von Wien nach Freiburg und hielt dort seinen Vortrag Kunst und Kunstwerke im Zen-Buddbismus. Was im 6. Jahrhundert in China begann und später nach Korea und Japan verpflanzt wurde, verfiel nach der Blüte vom 15. - 17. Jahrhundert. Hisamatsu hebt am Geist des Zen sieben Wesenszüge hervor: »1. Unebenmäßigkeit (oder Asymmetrie), 2. Schlichtheit, 3. herbe Würde, 4. Natürlichkeit, 5. unergründliche Tiefe und Feinsinnigkeit, 6. entweltlichte Freiheit, 7. Stille.« Die Zen-Kunst lasse die mythologische Ausgestaltung des Buddha-Landes der Seligkeit hinter sich zurück. Buddha sei der Erwachte, doch im Zen solle auch er, sofern er Vorgänger und Vorbild sei, aufgegeben werden. Die Abgeschiedenheit erfahre das Nichts als die Fülle; so verwandele sich die Welt. Deshalb könne die Kunst zum Alltäglichen zurückführen - zu Früchten und Vögeln, Bergen und Flüssen, dann zu Menschen, die in der Welt wirken. Am Tag vor diesem Vortrag Hisamatsus gab es ein Kolloquium Die Kunst und das Denken, an dem neben anderen Heidegger und Hisamatsu teilnahmen. 223 Der Maler Alcopley gab 1963 in Kyoto ein autorisiertes Protokoll dieses Gespräches auf Deutsch, Japanisch und Englisch heraus. Alcopley oder Alfred L. Copley wurde in Dresden geboren und emigrierte in die USA; es gibt von ihm Bilder, die von der ostasiatischen Tuschmalerei inspiriert sind. Kunst im modernen abendländischen Sinn, so hielt Hisamatsu in dem Gespräch fest, gebe es als Übernahme seit siebzig Jahren auch in Japan. Japanisch »Gei« bedeute Kunstfertigkeit. »Gei-jiz« bezeichne Kunst im abendländischen Sinn. »Gei-do« nenne den Weg der Kunst unbeeinflußt von abendländischen Vorstellungen (Do gleich Tao). Auf diesem Wege breche der Mensch in den Ursprung ein, um das wahre Leben zu übernehmen. Die Abgeschiedenheit, das »Ledigsein von aller formhaften Gebundenheit«, das Nichts mache das »Herausspringen des Ursprungs« möglich; doch gehe es um die Rückkehr zum Leben. Hier setzte Heidegger ein (indem er an das vorausgehende Gespräch in Wien anknüpfte): In der europäischen Kunst bringe das Kunstwerk das »Gebilde« ins Bild und mache sichtbar. In der ostasiatischen Welt sei die Darstellung ein Hindernis, das Bild eine Hinderung. Hisamatsu wies darauf hin, daß nach dem Einbrechen in den Ursprung die Sichtbarmachung ein Erscheinen der ursprünglichen Wahrheit werde. So

223 Zum folgenden vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 113). Die Diskussion ist auch abgedruckt in Heidegger: Reden... (s. Anm. 164.) S. 552 ff.

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konnte Heidegger das Geschriebene und Gezeichnete als »Ent-hinderung« fassen, als »Anlaß für die Bewegung des Selbst zum Ursprung«. Dann sei das Bild nicht mehr Sinnbild oder Symbol. Der Jurist Siegfried Bröse (der Arbeit des Freiburger Kunstvereins lange Zeit verbunden) bezog die überlieferte Kunst auf das »Sinnbild«. Die moderne Kunst stehe demgegenüber der Zen-Kunst darin nahe, daß sie nicht mehr das Sinnbild (die Bedeutung hinter dem Sinnlichen oder in ihm) suche. Sie suche »die Bewegung selbst, die das, was hinter den Dingen selbst ist, offenbar macht«. Dabei träten drei Richtungen auf: die Geometrischen, die ganz Formlosen, dann jene, die ein Zeichen setzen. Die moderne bildende Kunst wolle »jede Bedeutung, jeden Sinn beiseite lassen«. Das Ziel seien nicht irgendwelche Dinge im Raum; das Ziel sei der einräumende Raum selbst. Bei Klee gebe es noch eine »objektive Instanz«; in diesem Sinne sei Klee »noch ein Sinnbildner«. Dieser Deutung der Kunst Klees widersprach Heidegger. Er fragte, was denn für eine Welt bleibe, wo das Sinnbildliche verschwunden sei. »Man darf nicht den Unterschied übersehen, daß das, was wir hier vielleicht bisher suchen, in Japan schon da ist, daß die Japaner es haben.« Hisamatsu fügte hinzu, daß eine abstrakte Kunst mit ihrer Vernichtung des Formhaften noch am Formhaften haften bleibe. Die Zen-Malerei gehe in umgekehrter Richtung; sie lasse das formlose Selbst in uns hervorbrechen. - Siegfried Bröse widmete seine Gedichte Einsichten, die 1959 mit Zeichnungen von Alcopley erschienen, Heidegger zum siebzigsten Geburtstag. So schrieb Heidegger an Alcopley, daß auch er das Wesen des Zeichens und der Sprache zu durchdenken versuche. »Dazu kommt der immer wieder erregende Zusammenhang (Identität?) von Bild und Schrift auf den alten Bildern Chinas.« 224 Was in China und Japan entfaltet worden war, schien eine zeitgenössische Aufgabe zu sein, so auch Thema des Denkens. Am 19. Mai, vor dem Vortrag Hisamatsus, kam es im Hause Heideggers zu einem Gespräch zwischen Heidegger und dem japanischen Gast. Heidegger sagte, seines Erachtens sei Klee »ein bedeutenderer Maler als Picasso«. Er zeigte Bilder japanischer Tempel, dann Klees Aquarelle und Zeichnungen aus dem Band Im Zwischenreich (1957). Hisamatsu zeichnete Klees Aquarell Die Schnecke von 1924 aus, Heidegger die Zeichnung Silbermondgeläute von 1921. Vom späten Aquarell Heilige aus einem Fenster sagte Hisamatsu unter Zustimmung Heideggers: »Irgendwie hat es etwas von einer japanischen Kalligraphie an sich.« Heidegger verwies auf seinen Wiener Vortrag Dichten und Denken; in diesem Vortrag hatte Heidegger die Sprache des Dichtens aus der Herrschaft der grammatisch-logischen Interpretation befreien wollen. Hisamatsu bestätigte ihn: Im Zen gelte die Sprache als »ganz freier Ausdruck«; erst nachträglich bilde sich für

224 Vgl. Heidegger: Reden... (s. Anm. 164). S. 562.

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das Ausgesprochene eine Grammatik. In diesem Zusammenhang zitierte Heidegger Klees Gedicht von den »Vöglein«, die auf den »letztverzweigten Enden« der Zweige schaukeln und singen und dabei es meiden, »an Stamm und Wurzeln zu denken«. (Hier mag man an das Fest der Kirschblüten denken, aber auch an die Bilder von Kirschblüten: Die Blüten scheinen nicht durch Zweige und Stämme mit der Erde verbunden zu sein; sie schweben im Raum und entschweben ins Weite.) Denkt Heidegger nicht geradezu gegen sein einstiges Fragen nach dem »Ursprung« des »Werkes« der Kunst? Läßt er nicht unberücksichtigt, daß Laotse ihm mehr bedeutete als der spätzeitliche Zen-Buddhismus? Hisamatsu und Heidegger waren sich einig in der Überzeugung, daß die Begegnung zwischen Ost und West über die Kunst auch einmal die Politik verändern werde. Das war für Heidegger »selbstverständlich«: »Umgekehrt geht es nicht. Von der Politik und Wirtschaft ausgehend, kommen wir nicht weiter. Wir müssen von einem tieferen Ort her beginnen.«225 Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs suchten die Herrschaft über die Welt zu sichern, kamen dabei für Jahrzehnte allerdings nur zu einer Balance des Schreckens der Vernichtungswaffen. In dieser Situation ging Heidegger mit seinen japanischen Schülern davon aus, daß eine Erneuerung in Traditionen wie der Zen-Meditation oder der Malerei des späten Paul Klee ansetzen müsse. Koichi Tsujimura studierte bei Heidegger, als dieser in den fünfziger Jahren mit der Frage nach Technik und Kunst die Wege der zukünftigen Welt erörterte. So konnte Tsujimura in seiner Rede zum 80. Geburtstag Heideggers in Meßkirch den Unterschied zwischen dem traditionellen Zen-Buddhismus und Heidegger in Heideggers Erörterung der Konstellation unserer Epoche finden. Die KyotoSchule müsse von Heidegger lernen, auf das Geschick zu achten, das unsere Epoche bestimme. »Sonst müßte der Zen-Buddhismus selbst ein dürrer Baum werden. Sonst könnte kein Weg vom Zen zu einer möglichen japanischen Philosophie gebahnt werden.« 226 Ist Ostasien aber nicht überhaupt auf anderen Wegen als Europa? Tsujimura entfaltete diese Frage 1984 an dem Bild In die ferne Bucht kommen Segelboote zurück des Malers Yü-chien aus der Sung-Zeit (Mitte des 13. Jahrhunderts). Der altchinesische Maler gebrauche, anders als die holländische Landschaftsmalerei, nicht die Perspektive, die eine Landschaft vom Blickpunkt eines bestimmten Menschen (des Malers) her zeige. An der Stelle des Durchblicks stehe der Umblick in viele Richtungen (die »Circumspektive«).

225 Das deutsch geführte Gespräch wurde auf Japanisch erfaßt und zurückübersetzt ins Deutsche; vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 113). S. 189 ff; Heidegger: Reden (s.Anm. 164). S. 776 ff. 226 Vgl. Köichi Tsujimura: Martin Heideggers Denken und die japanische Philosophie. In: Japan und Heidegger (s. Anm. 113). S. 159 ff, vor allem 165. - Zum folgenden vgl. Die Philosophie der Kyoto-Schule (s. Anm. 222). S. 455.

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V. KLEE ODER PICASSO?

Hell und Dunkel gehörten nicht zur Perspektive, sondern zum »Zwischen« von Nichtmalen und Malen. Der Maler stelle zum Bild ein Gedicht; es sage, daß die Landschaft nicht vom Menschen her gesehen, sondern eher der Mensch in die Landschaft zurückgenommen werde. Der Mensch stelle sich nicht auf sich selbst (wie im metaphysischen Weltzugriff und in der Technik des Westens); er kehre vielmehr heim in die Natur. Da das Dichten, dem Malen verbunden, dem Ursprung näher liege, umfange es das Denken. »Das Dichterische kann, wie man in Japan an der Tee-Zeremonie, der Gartenkunst und der Haiku-Dichtung sieht, zu einer gewaltlosen Macht werden, die unser Leben tief durchstimmt.« Die Frage bleibt, ob man gegen diese Orientierung an der Seinsgeschichte Heideggers nicht eine Hermeneutik stellen muß, in der das Denken stärker mit den anderen Kräften der Geschichte vermittelt wird. Dann kann man von altjapanischen Gedichten aus eine »ursprüngliche Alltäglichkeit« aufzeigen - »das, woran wir uns jetzt und in Zukunft halten können«. Im Zeitalter der Technik wird eine neue Mitte gefunden, die vor den Auswucherungen des Technischen rettet. 227 Heinrich Rombach hat die phänomenologische Tradition in einer Strukturontologie fortgesetzt und dabei die Geschichte des Bauens und Bildens aufgearbeitet. Ryosuke Ohashi sucht die Geschichte des Schönen und der Kunst in Japan im ganzen zu fassen. Er stellt dar, wie das Schöne im Japanischen bestimmt ist durch den Schnitt (kire), der beim Schauspieler des No-Spiels im Abrollen des Fußes einen Schritt abschneidet und zur Form bringt. Ein Festplatz, auf den die Gottheit herabstieg, wurde von der profanen Welt durch Berge, Steine und Bäume abgetrennt; so entstand der Schrein. Kies, auf das Wasser weisend, konnte den Platz wie eine Insel herausheben. Zwar haben die Japaner in der Nara-Zeit (im 8. Jahrhundert) die chinesische Tempelarchitektur übernommen; doch wurden die Gebäude, anders als im Chinesischen, asymmetrisch angeordnet. 228 Der esoterische Buddhismus (um 1000) weckte die Sehnsucht nach dem reinen Land im Jenseits. Aber der Bodhisattva verzichtete auf den Eingang ins Nirvana, um allen lebenden Wesen zu diesem Schritt zu verhelfen. Mußte gegenüber dem Aufweis des Schnittes nicht der Weg zurück in den Alltag gefunden werden? Der Trockengarten läßt das Natürliche sterben und läßt nicht nach außen blicken; aber er hält mit seinen Steinen und seinem Sand die negierte Natur als Kunst gegenwärtig. Das Gesamtkunstwerk einer gotischen Kathedrale läßt das Licht durch die aufgelöste Wand und die Glasfenster eindringen;

227 Vgl. z.B. Takeichis Erörterungen in: Ethos des Interkulturellen. Was ist das, woran wir uns jetzt und in Zukunft halten können. Hrsg. von Arno Baruzzi, Akihiro Takeichi. Würzburg 1998. S. 3 ff. - Zum folgenden vgl. z.B. Heinrich Rombach: Leben des Geistes. Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit. Freiburg, Basel, Wien 1977. 228 Vgl. Ryosuke Ohashi: Kire. Das >Schöne< in Japan. Köln 1994.

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dieses Licht verweist auf das Jenseits. Im Teeraum kommt das Licht überhaupt nicht aus der Höhe; es ist in seiner Unmittelbarkeit negiert, kann aber so durch das offene untere Drittel der Papierwände eindringen. Zwar übernahm Japans Moderne zuerst Europäisches in Mischformen (so in der Architektur des Kaiserlichen Museums in Kyoto). Doch suchte man das Eigene in der Auseinandersetzung mit Anderem wie dem Europäischen. So ging es nicht um die Selbstnegation der Kunst in der Abstraktion oder dem Gegenentwurf der Pop Art; vielmehr sollte das neuzeitliche Streben zur technischen Beherrschung und Steuerung der Daseinsbereiche dadurch gebrochen werden, daß die Natur durch den Schnitt zu einer Kunst fand, in der Natur sich wiederherstellt. Eine Endgestalt wie Ukiyo-e kann mit der Welt des schönen Scheins das eigentlich Japanische nicht mehr zeigen. Vincent van Gogh konnte in japanischen Vorlagen Anregungen finden; was er in seinen späten Bildern zu fassen suchte, zeigte neue und andere Wege. Diese Wege sind zu ostasiatischen Wegen in Beziehung zu bringen. Die frühen Übernahmen und Vermischungen des Europäischen und Ostasiatischen mußten zurücktreten. (So muß auch Kukis Ansatz kritisiert werden.) Indem die Kulturen sich trennten, bereiteten sich erst vom jeweils Eigenständigen her neue Begegnungen vor.

VI. Die Bildhauer

Für Hegel standen die antiken Statuen der Götter und Heroen in der Mitte seiner Lehre vom Schönen und der Kunst. So hatte Winckelmann es gelehrt. Als Redakteur der Bamberger Zeitung wohnte Hegel gleich unterhalb des Domes; er berichtete auch vom festlichen Gottesdienst dort, wenn hoher Besuch gekommen war. Doch für eine Plastik wie den Bamberger Reiter hatte Hegel noch keine Augen. Als die Brüder Boisseree Hegel die alteuropäische Malerei nahe brachten, konnte der Philosoph in seinen Ästhetik-Vorlesungen betonen, daß uns die antiken Statuen kalt ließen, die alteuropäische Malerei dagegen unsere Interessen zeige (nämlich die Heilsgeschichte, das Miteinander von fürstlicher Herrschaft und Bürgertum). Auch in der Kunst, die um 1800 entstand, trat die Plastik (sehr stark auf das Porträt spezialisiert) hinter der Malerei zurück. Als der junge Heidegger seine Augen auf die Kunst richtete, war die mittelalterliche Plastik längst gleichberechtigt neben die antiken Statuen getreten. Die erste Ausarbeitung des Kunstwerk-Vortrags stellt Bamberg zu Pästum, nennt das Straßburger »Bärbele« im Liebighaus in Frankfurt zusammen mit den Ägineten in München. Von seinem Aufenthalt in Rom berichtete Heidegger am 16. 5. 36 an Jaspers, er sei immer noch dabei, die »Eindrücke« zu verarbeiten - »plötzlich ertappe ich mich dabei, daß ich ja vor Michelangelos Moses im Halbdunkel von San Pietro in Vincoli stehe oder auf der Piazza Navona oder in Tusculum«. Rodin galt, auch durch Rilkes Hinweise, als der exemplarische Künstler. Als Heidegger 1932 Rodins Testament von Elisabeth Blochmann erhalten hatte, sprach es ihn »im Innersten« an. Auch er, so antwortete Heidegger am 3.10.1932, habe bei der Arbeit die Stimmung dessen, der mit Hammer und Meißel arbeite. Heidegger übernahm ausdrücklich die Maxime: »Arbeiten mit unerbittlicher Wut.« Nach einem Weihnachtsgeschenk mit schönen Aufnahmen aus Griechenland schrieb Heidegger der Pädagogin am 19. Januar 1933: »Die Trümmer der griechischen Tempel und Götterbilder sind wie die Reste und Fetzen der alten Sprüche ihrer Philosophen.« Heidegger sah also ganz anders als Wnckelmann und seine Nachfolger die griechische Plastik nicht von der Weise her, wie diese in Rom und dann in der Renaissance und im Barock wieder vervollständigt und mit neuen Werken fortgesetzt worden war. Er betonte, daß das Griechische, wäre es uns »unversehrt und ganz« überkommen, längst »im Gewohnten und Entleerten« aufgegangen

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VI. Dih BILDHAUER

wäre. An den Trümmern entzünde sich dagegen der »Kampf der Aneignung« und der Auftrag an uns - in der Kunst wie im Denken! Im Bauhaus hatte Gerhard Marcks die Plastik vertreten, aber nur für eine kurze Zeit. Die Malerei hatte wiederum durchaus die vorherrschende Rolle. Die Kunst, wie der Nationalsozialismus sie forderte, sollte der Plastik neues Gewicht geben. Adolf Hitler konnte vor dem Diskuswerfer Myrons die moderne Kunst verdammen. Im Jahre 1937, auf der Weltausstellung in Paris, standen vor dem Deutschen Haus die Bronzen der gewalttätigen Muskelmenschen Josef Thoraks. In den folgenden Jahren schrieb Heidegger in der Besinnung, daß das Schaffen sich auf Autostraßen, Riesensprungschanzen und Ähnliches verlegt habe. Die Kunst im engeren Sinne solle das Leben zum Ausdruck bringen und das Wissen um das, was Leben sei, schon durch die Art der Hervorbringung mitsetzen »(z.B. die Männlichkeit des Mannes in Riesenmuskeln und Geschlechtsteilen, in leeren, nur auf Brutalität gespannten Gesichtern)«. 229 Den Weg Thoraks wollte Heidegger nicht mitgehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber suchte er einen Bezug zur zeitgenössischen Bildhauerei. Es kam zur Zusammenarbeit mit Bernhard Heiliger und Eduardo Chillida.

1. Bernhard Heiliger Im Januar 1959 veranstaltete die Bayerische Akademie der Schönen Künste in der Aula der Universität München die Vortragsreihe Die Sprache. Die Vorträge wurden eine Woche später in West-Berlin, dem damaligen Luftbrückenpfeiler der Freiheit, in der Akademie der Künste wiederholt. So kam auch Heidegger zum Glück des Fliegens (wie er dann erzählte). Er besuchte in Berlin auch das Atelier des Bildhauers Bernhard Heiliger. Er dankte brieflich für die Stunde in der »Werk-Statt«. Sie habe seinen Blick geöffnet für das, was das Werk des Bildhauers »den Heutigen und Kommenden« zu sagen, also zu »zeigen« vermöge. »Und Sie zeigen das Aufgehen der Erde in den uns noch verhüllten irdischen Himmeln. Ihre Werke stellen nichts mehr dar - sie stellen uns in den Aufenthalt im Zwischen von Erde und Himmel - die ins befreiende Freie wachsende wegung selber und gerade sie wird offenbar - eine >Verklärung< (nicht Idealisierung) des Seins - aus einem verborgenen Grund.« Heidegger schloß: »Geheimnis wohnt in Ihrer Werk-Statt.« 230

229 Vgl. Heidegger: Besinnung (s. Anm. 158). S. 34. 230 Vgl. das Faksimile des Briefes im Katalog der Ausstellung »Bernhard Heiliger«, Oktober / November 1964, Galerie im Erker, St. Gallen. Hrsg. von Franz Larese und JürgJanett. S. 18.

BERNHARD HEILIGER

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Heidegger betont, daß die Werke Heiligers nichts mehr »darstellen«. Diese Charakterisierung muß überraschen: Heiliger stellt auch die Köpfe bedeutender Menschen, etwa des Bundespräsidenten Theodor Heuß, dar. Wir finden bei ihm durchaus Werktitel wie Gesicht, Vogeltod, Äolsharfe. Heidegger gebraucht die leitenden Gedanken seiner Spätphilosophie: Die Erde, die uns zusammen mit der toten und lebenden Natur trägt, geht für uns im Offenen von Himmeln auf, die noch verhüllt sind. Diese Bewegung ist Verklärung aus einem verborgenen Grund. Diese Verklärung, das Hervortreten ins Offene und Freie, darf nicht vom Piatonismus her als Idealisierung gefaßt werden. Sie mag verstanden werden als Unverborgenheit, die eine Entbergung auch für ein bleibendes Verbergen - das Geheimnis des »Es ist« - bringt. Sie ist anderes als Darstellung von diesem und jenem. In der Westberliner Hochschule für bildende Künste konnte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gruppe bedeutender Bildhauer eine größere Zahl von Schülern um sich sammeln. Man knüpfte an die europäische Kunst (an Meister wie Maillol und Brancusi) an und mußte sich mit Gleichstrebenden wie Moore auseinandersetzen. Gemeinsam war den Berlinern, daß sie im Stein, aber auch in anderen Materialien Gestalten schufen, um noch einmal mythische Symbole zu suchen. Alexander Gonda und Karl Härtung waren bedeutende Lehrer. Hans Uhlmann fiel fast aus der Reihe, wenn er die Brücke zur Kunst Krickes schlug. Da wurde der Raum nicht körperhaft besetzt, sondern mit mannigfaltig ausgreifenden Streben und Drähten gegliedert und umfangen. Am prägnantesten konnte wohl Bernhard Heiliger zeigen, wie Kunst die Natur aufnimmt und noch einmal zum in sich stehenden Werk wird. Heiliger hatte die großen Vorbilder Maillol und Brancusi 1938 bei einem Parisaufenthalt, kurz vor der endgültigen Verfinsterung Europas, kennen gelernt. Auch er war 1962 in Griechenland gewesen. Natürlich schuf er nicht mehr die Gestalten von Göttern oder Wagenkämpfern. Doch ging es ihm um die Formen, die das Leben auf dieser Erde gewinnt. Was bei ihm den Raum beherrscht, das sind Körper, mögen sie nun ins Leben ausgreifen oder dem Tod verfallen. Im Herbst 1964 stellte er in St. Gallen aus. Das aber hieß: gleichsam in letzter Stunde, vor dem Umbruch, der die Zuwendung zum Maschinellen ebenso brachte wie das Experiment mit dem Environment oder gar das Happening. Sich Bernhard Heiliger zuwenden, das hieß offenbar auch: sich dem nicht stellen, was sich als Neues und Anderes meldete. Schwer läßt sich gegenüber Heiliger das Adjektiv »traditionell« vermeiden, mag auch das bekannte Traditionelle seinen Wagnissen fern sein. Zur Ausstellung Bernhard Heiliger der Galerie im Erker in St. Gallen vom 3.10. bis 7. 11. 1964 erschien ein kleiner Katalog (Redaktion: Franz Larese und Jürg Janett). Er bringt den angeführten Brief Martin Heideggers im Faksimile (ohne Datierung). Georg Schmidt stellt den Künstler vor. Er erzählt von einer

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VI. DIE BILDHAUER

Abb. 14 Bernhard Heiliger, Äolsharfe, 1964

Griechenlandreise mit Bernhard Heiliger im Oktober 1962, daß die »plastische Klarheit« der kahlen Gebirge den Künstler weniger zu faszinieren schien »als die Verwitterung der Felsen ganz aus der Nähe gesehen«. Selbst die frühgriechische Plastik war gemäß dem akademischen Bild »etwas schon Gehabtes«. »Auf der Akropolis und auf Ägina schienen die Wucht und der Adel des griechischen Tempels, die plastische Elementarität seiner Säulen und die räumliche Transparenz seines Aufbaus ihn weniger zu bewegen als die stolz verwitterte Oberfläche einer Säulentrommel oder eines Mauerquaders. Einzig Delphi schien ihm genügend zerstört zu neuen Anfängen.« Damit ist ein Unterschied festgehalten, der den Künstler vom sonstigen Bezug auf Griechisches trennt. Doch geht es Schmidt darum, den Bildhauer einzuordnen in die übergreifende Geschichte moderner Plastik. Schmidt unterscheidet die »beiden polaren Möglichkeiten einer kompakten, raumverdrängenden, raumfüllenden und einer transparenten, raumgreifenden, raumdurchmessenden Plastik«. Für die erste Möglichkeit mag Maillols »Klassik« stehen, dem etwa Brancusi und Wotruba folgen. Für die zweite Möglichkeit tritt Rodins »Gotik« ein, dazu Künstler vom Futurismus bis zu Rudolf Belling. Calder z.B. konnte mit seinen Mobiles die Plastik überhaupt vom Kör-

BERNHARD HEILIGER

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pervolumen entlasten. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat die Behandlung der Oberflächenstruktur als neue Möglichkeit zu den genannten Ausdrucksweisen. Bernhard Heiliger folgte der raumfüllenden Plastik. Doch gingen seine Torsi seit 1954/55 in allgemein vegetativ-organische Formen über. Heidegger wurde von Franz Larese am 1.10. 64 nach Amriswil abgeholt. Am folgenden Tag trug er seinen schon gedruckten Vortrag Sprache und Heimat über Johann Peter Hebel vor. Es folgte dann am 3. Oktober sein Vortrag zur Eröffnung der Heiliger-Ausstellung. 231 Heidegger geht in diesen Bemerkungen zu Kunst - Plastik - Raum aus vom Gegensatz zwischen Griechenland und der Industriegesellschaft. In Griechenland gaben die Werke der dichtenden, bildenden und bauenden Künstler ein Echo auf die Stimme, die das Ganze des Daseins des griechischen Volkes bestimmte. »Die Kunst der Bildhauer z.B. benötigte keine Galerien und Ausstellungen, die Kunst selbst der Römer brauchte keine Documenta.« Wird nicht auch in der Industriegesellschaft die Plastik wieder mitbestimmend für die Raumplanung? Was der Raum selbst sei, das könnten die Plastiker freilich so wenig sagen, wie der Physiker sagen könne, was Physik sei. So entfaltet Heidegger die Frage: »Was ist der Raum?« Was uns »Raum« heißt, nannte Aristoteles mit zwei verschiedenen Worten: topos und chora. Ein Körper besetzt einen Ort (topos); der Raum als chora kann solche Orte aufnehmen. Heidegger sucht gemäß seiner Analyse des In-der-Welt-seins den Raum selbst zu denken, nicht nur von den Körpern her. Dieser Raum räumt ein; er gibt Nähen und Fernen frei, Richtungen und Grenzen, die Möglichkeit von Abständen und Größen. Der Mensch muß dieses Einräumen eigens zulassen; er ist nicht bloß im Raum wie anderes Seiendes sonst. Hier kommt Heidegger zum Tun des Künstlers zurück. »Ein Kopf ist kein mit Augen und Ohren behafteter Körper, sondern vom blickenden und hörenden In-der-Weltsein geprägtes Leibphänomen. Wenn der Künstler einen Kopf modelliert, so scheint er nur die sichtbaren Oberflächen nachzubilden; in Wahrheit bildet er das eigentlich Unsichtbare, nämlich die Weise, wie dieser Kopf in die Welt blickt, wie er im Offenen des Raumes sich aufhält, darin von Menschen und Dingen angegangen wird.« So bringt der Künstler das »wesenhaft Unsichtbare« ins Gebild, er lässt etwas erblicken, »was bis dahin noch nie gesehen wurde«. In Amriswil und in St. Gallen gab es eine Fülle von Begegnungen. Ein Prospekt der Galerie im Erker zeigt Heidegger mit Manzü bei der Eröffnung der Manzü-Ausstellung. Bei einer Zadkine-Vernissage saß Heidegger mit dem Künstler zusammen; dieser zeichnete, von den Tischreden gelangweilt, eine Märchen231 Heidegger nennt die Daten gegenüber Boss, vgl. Zollikoner Seminare (s. Anm. 102). S. 336. Vgl. auch die Photographie von Heiliger und Heidegger bei Walter Biemel (s. Anm. 207). S. 122. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Bemerkungen zu Kunst - Plastik - Raum. St. Gallen 1966.

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VI. DIE BILDHAUER

Abb. 15 Bernhard Heiliger, Heidegger-Plastik, 1964

pflanze. Heidegger erbat sich das Blatt, gab es dann aber an Petzet weiter. Offenbar brachte der Kunstbetrieb auch vieles, womit Heidegger sich auf die Dauer nicht befassen wollte.232 Bernhard Heiliger hat auf Schloß Amriswil mit wenigen Strichen den markanten Kopf Heideggers gezeichnet und später in Lithographien herausgebracht. Heinrich Wiegand Petzet verwandte eine der Lithographien auf dem Titel seines Heidegger-Buches, so daß diese weithin bekannt wurde. Die schauenden Augen prägen das Gesicht. Wenn vom Mundwinkel eine starke Linie nach unten führt, fragt man sich: Zeigt sie Verachtung oder Trauer oder beides? Petzet weist darauf hin, daß keiner der großen Porträtisten unserer Zeit sich um den Kopf Heideggers mühte; das aber hätten die Bildhauer getan. Gustav Seitz rufe mit »scheinbar einfachen, wohldurchdachten Abstraktionen einen starken Gesamteindruck« hervor. Der bayerische Bildhauer Hans Wimmer mühte sich im Auftrag der Münchener Akademie der schönen Künste. Nach ständigen Reduktionen sei eine »tönerne Maske« geblieben; doch der Geist des Dargestell232 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 163 f. Vgl. dort auch die Abbildung der Märchenpflanze nach S. 192.

BERNHARD HEILIGER

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ten spreche nicht durch sie hindurch (wie das im antiken Theater geschah). »Es ist, als ob sich die Leere des Gebildes nicht mit geistigem Leben fülle; die offenen, blicklosen Augenhöhlen, durch die das Licht scharf hindurchscheint, bleiben bloße Löcher, denen die Kraft des Schauens fehlt.« Wimmer habe offenbar das »Wurzelhafte, Erdgeborene des Alemannen« bis zur Grenze des Dämonischen gesteigert und sei so nur zur Groteske gekommen. 233 Hans Kock hat in seinen Erinnerungen die Atmosphäre von Heideggers Haus in Freiburg-Zähringen, die Spaziergänge und den Besuch eines Weinkellers festgehalten. Heidegger schrieb ihm eine Karte aus Cezannes Atelier in Aix; die Gespräche kreisten immer wieder um Hölderlin. Nach dem Tode Bernhard Heiligers (1995) wurde gleich im folgenden Jahr die Bernhard-Heiliger-Stiftung mit dem Sitz in Berlin gegründet. Sie betreute die Ausstellung Bernhard Heiliger. Die Köpfe, die vom November 2000 bis zum März 2002 in verschiedenen deutschen Städten gezeigt wird (Katalog hrsg. von Marc Wellmann Köln 2000). Die Ausstellung zeigt eine Werkreihe, die um 1960 ihrem Ende entgegenging. Zweifellos nimmt die Rede von »Köpfen« ein Schlagwort der Nachkriegsjahre auf. In einer Reihe Köpfe des XX. Jahrhunderts wollte Paul Hühnerfeld eine Heidegger-Monographie publizieren.234 Unter dem Titel Köpfe der Forschung an Rhein und Ruhr stellte die Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen ihre Mitglieder vor. Was man mit Bezug auf die Ausstellung in St. Gallen nur unter vorgehaltener Hand gesagt bekam, wird im genannten Ausstellungskatalog mitgeteilt: Bernhard Heiliger war während seines Studiums in Berlin 1938-41 Schüler von Arno Breker, arbeitete 1943 in dessen Werkstätten. Doch wird darauf hingewiesen, daß Heiliger im Frühjahr 1939 in Paris sich mit Maillol und Brancusi auseinandersetzte. Zwar wird im Bild gezeigt, wie Arno Breker Albert Speer modelliert (S. 21). Doch eine Gegenüberstellung von Werken Brekers und Heiligers findet sich nicht. Immerhin werden ein Dutzend Köpfe abgebildet, die von Heiliger bis 1945 geschaffen wurden. Sie zeigen schwerlich den behaupteten völligen Bruch mit Breker; sie folgen noch realistischen Tendenzen. Dann freilich lassen sich andere Prägungen aufzeigen - bis hin zu einer Nähe zu den Kykladen-Idolen. In überzeugender Weise wird Richard Scheibes Porträt von Ernst Reuter und das Heuß-Porträt von Gerhard Marcks von den entsprechenden Bronzen Heiligers abgesetzt: Heiliger schafft keine mas-

233 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 161 ff. Vgl. ferner die Masken und Zeichnungen von Hans Wimmer in: Erinnerung an Heidegger (s. Anm. 74). Nach S. 8, 24, 56, 72, 88, 104, 120, 136. - Zum folgenden vgl. Hans Kock: Erinnerung an Martin Heidegger (Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1996). 234 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 91. - Von der im folgenden genannten Publikation wurde der erste Band von Fritz Eschen, der zweite von Karl Ulrich Stelze Dortmund o. J. herausgegeben.

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VI. DIF BILDHAUER

siv aufsetzende Büste mehr wie Gerhard Marcks; er dynamisiert den Kopf Reuters ins Expressive und montiert ihn auf einen zur Seite hin verschobenen Eisenstab. Heiliger gibt dem ähnlich behandelten Kopf von Theodor Heuß aber durchaus ein »staatsmännisches Pathos«! Die »Köpfe« Heiligers sind weder für private noch für offizielle Erinnerungen gedacht; sie zeigen, daß die neue Bundesrepublik und das freie Berlin sich politischen Entscheidungen verdankte.235 Der Katalog weist darauf hin, daß Heiliger sich 1962 noch einmal die Aufgabe aufdrängen ließ, ein Porträt von Ludwig Erhard zu schaffen. Bei Heidegger wird nicht verschwiegen, daß er und Heiliger sich als Mitglieder der West-Berliner Akademie der Künste begegneten. Heiliger porträtierte verschiedene Mitglieder der Akademie und arbeitete mit den Architekten zusammen. Es wird unterstellt, daß Heideggers Rede in St. Gallen mit dem Hinweis auf den Kopf, der in die Welt blicke und die Welt höre, von Heiliger als Aufforderung verstanden worden sei, Heidegger zu porträtieren. Es sind offenbar politisierende Animositäten, die das Heidegger-Proträt mit dem Porträt Ludwig Erhards zusammenbringen (statt mit den zeitlich nahen Porträts der Stadtplaner Ernst May und Hans Bernhard Reichow). Heiliger, so wird behauptet, sei mit dem Heidegger-Kopf gescheitert, nachdem er »seit fast zwei Jahren keinen Kopf mehr geschaffen hatte«. »Es war weniger die krude Verschlossenheit von Heideggers Persönlichkeit, auf die Heiliger mit einem plastisch bedeutungslosen Porträt antwortete, sondern paradoxerweise die stetige Weiterentwicklung seiner künstlerischen Mittel. Während es ihm in den fünfziger Jahren gelungen war, den mimetischen Ansatz des Porträts mit den abstrahiert-verschliffenen Formen dieser Epoche zu verschmelzen und seine Köpfe damit >über das Persönliche hinaus zum Gesicht der Zeit< werden zu lassen, widersprachen seine Plastiken der sechziger Jahre zunehmend diesem Prinzip... Auf der Grundlage einiger Zeichnungen entstanden später im Auftrag der Galerie im Erker drei Lithografien, die ebenfalls den Kopf des Philosophen zeigen. Es sind die einzigen Porträtdarstellungen in Heiligers grafischem Werk.« Diesen Invektiven bleibt unbekannt, wie schon Heinrich Wiegand Petzet die Begegnung zwischen Heidegger und Heiliger einordnete in die Bemühungen der Bildhauer um Heideggers Kopf. Die plastische Darstellung Heiligers wurde in der Ausstellung als Zementguß gezeigt; einen Bronzeguß gibt es in Marbach. Dieses Porträt macht Heiligers Arbeitsweise deutlich: Das Gesicht wird wiedergegeben, die seitlichen und vor allem die hinteren Teile des Kopfes werden selektiv und frei behandelt. Die Lithografien sind nicht nur ein isoliertes eigenständiges Ensemble in Heiligers grafischem Werk; sie sind auch das bessere

235 Vgl. Bernhard Heiliger: die Köpfe. Hrsg. von Marc Wellmann. Köln 2000. S. 22 ff, zum folgenden 118.

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Zeugnis für Heiligers Begegnung mit dem Philosophen. Man kann sie durchaus zusammenstellen z.B. mit dem überlieferten Kopf des Aristoteles. Daß Heiliger bei der Begegnung mit Heidegger in der Schweiz längst seinen Weg zu ganz anderen plastischen Aufgaben ging, hat Heidegger nicht nur gesehen, sondern auch herausgestellt.

2. Eduardo Chillida Da Heideggers Vorträge über den Ursprung des Kunstwerks, über Bauen, Wohnen, Denken und über das Ding auch auf Englisch publiziert worden waren, konnte der Kreis um die englischen Bildhauer William Tucker und Phillip King sich für die Ziele ihrer Arbeit auf Heidegger berufen.236 Zu einer Zusammenarbeit fand Heidegger selbst mit dem baskischen Bildhauer Eduardo Chillida. Heinrich Wiegand Petzet hatte im Frühling 1962 eine große Chillida-Ausstellung in Zürich besucht und Heidegger von seinem tiefen Eindruck und von einem Gespräch mit dem Künstler berichtet. Bei Chillida sei »der Stolz des guten Handwerkers« zu spüren, der bei den Eisenschmieden seiner baskischen Heimat gelernt habe. Chillida habe den Raum in seine Arbeit einbezogen, indem er gesagt habe: »Nicht die Form ist es, auf die es mir ankommt, sondern die Beziehung der Formen zueinander - das Verhältnis, das zwischen ihnen entsteht.« Heidegger hatte einst die Brücke als Stiftung eines Ortes verstanden; ließ sich von daher Chillidas Ortssetzung und Raumeröffnung verstehen? »Wir sprachen«, so berichtet Petzet, »von der eisernen Aolsharfe, vom Kamm des Windes und dem Lob des Äthers, diesen auf die Elemente bezogenen Bildwerken, bis sich die räumliche Beziehung in anderen Arbeiten gleichsam umkehrt, das Draußen zum Innenraum wird, und man versucht ist zu sagen: das, was der Beschauer nicht mit leiblichen Augen wahrnimmt, wird wichtig.« Für die »Herzkammern des Bildwerkes« gelte das Wort »Segredo«, »Geheimnis«, und zwar bei einer Auseinandersetzung mit der technischen Welt wie dem »gewaltigen« Autour de Wide. Von der Zeit der Musik her hatte Chillida den Raum als »Zeitgeborenes« bezeichnet. Daß die »schönste, vogel-hafte Fassung der Plastik Taumamboß Georges Braque gehöre«, weckte Interesse. Wenigstens von Fotografien her konnte Heidegger in diesem Gespräch Werke Chillidas näher kennen lernen. Eine Einladung der Galerie im Erker ließ Heidegger und Chillida 1968 auf Schloß Hagenwil zusammentreffen. »Ohne viele Worte« (da die Sprachschwierigkeiten blieben) verstanden sich die beiden. Auf Wunsch von Larese schrieb

236 Vgl. Dieter Jähnig in: Erinnerung an Heidegger (s. Anm. 74). S. 138 f. - Zum folgenden vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 165 f.

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VI. DIE BILDHAUER

Heidegger seine Gedanken über Kunst und Raum auf Lithografierstein. Ende November 1968 sandte Heidegger seine Gedanken an Chiliida und schrieb dazu, es gehe ihm um das Rätsel, das die Kunst selbst sei. Der Anspruch liege fern, das Rätsel zu lösen; zur Aufgabe stehe, das Rätsel zu sehen. »Bisweilen haben wir noch das Gefühl, daß seit langem schon dem Dinghaften der Dinge Gewalt angetan worden und daß bei dieser Gewaltsamkeit das Denken im Spiel sei, weshalb man dem Denken abschwört, statt sich darum zu bemühen, daß das Denken denkender werde.« 237 Am 12. Oktober 1969 konnte Erhart Kästner seine Rede bei der Hinausgabe des Buches von Martin Heidegger und Eduardo Chiliida: Die Kunst und der Raum halten. Kästner baute als Direktor der Bibliothek in Wolfenbüttel eine Sammlung von Maler-Büchern auf. In St. Gallen sagte er, daß es illustrierte Bücher immer gegeben habe. Doch seien sie eine »Sache der petits maitres« gewesen, etwa von Chodowiecki oder Dore. In den dreißiger Jahren sei das anders geworden, vor allem durch Picasso. Durch den Verleger Vollard sei Picasso gedrängt worden, Balzacs Geschichte von Frenhofer zu bebildern - also jenes Malers, der jahrzehntelang an einem einzigen Bild malt, auf dem andere dann nur ein Wirrwarr von Linien und Flächen sehen. Wenn Heidegger auf die Seite der Kunst trete, dann hoffe er auf Hilfe gegen die »Diktatur der Weltausrechnung«. Gegen die allzu geistreichelnde Zuordnung hat Heidegger sich bei Kästner noch verwahrt. In der Tat wollen seine Gedanken nicht gelesen werden »wie Dichtung«; vielmehr zeigen sie bei aller Skizzenhaftigkeit strenge Gänge, die sich seinem Denkweg und damit dem Weg des überlieferten Denkens über sich selbst hinaus einfügen. Heidegger beanspruchte ausdrücklich nicht, die Verflechtungen in der Entwicklung der modernen Kunst erörtern zu können. Dazu fehlten ihm, so schrieb er im Juli 1973 an Kästner, »die nötigen Erfahrungen«. 238 Heidegger geht in den Sätzen, die er aus dem Gespräch mit Chiliida heraus schrieb, von der Frage nach der plastischen Kunst weiter zum Problem des Raumes, um von daher dann eine Bestimmung der plastischen Kunst zu versuchen: Plastische Gebilde, aus verschiedenen Stoffen bestehend, sind Körper, die den Raum besetzen. Wie steht diese Besitzergreifung des Raumes zur technischwissenschaftlichen Eroberung des Raumes? Die letztere gehört zur europäischen Neuzeit; kann sie von der Kunst her eingeschränkt werden, so daß das »Urphänomen« des Raumes sich zeigt? Räumen bedeutet roden, das Freie und Offene für ein Wohnen des Menschen erbringen. Die Schicksale der Menschen können 237 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 166 f. - Zum folgenden vgl. Erhart Kästner: Offener Brief an die Königin von Griechenland. Frankfurt a. M. 1973. S. 45 ff. 238 Vgl. Martin Heidegger / Erhart Kästner. Briefwechsel 1953-1974. Frankfurt a. M. 1986. S. 121. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum. St. Gallen 1969; auch in: Aus der Erfahrung des Denkens (s. Anm. 49). S. 203 ff.

EDUAROO CHILLIDA

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sich ins Heile der Heimat oder in das Unheile der Heimatlosigkeit oder gar in die Gleichgültigkeit gegenüber beiden kehren. Das Räumen gibt Orte frei, in denen das Göttliche erscheint, zögert oder entflohen ist. »Profane Räume sind stets die Privation oft weit zurückliegender sakraler Räume.« Der Ort öffnet jeweils eine Gegend, »indem er die Dinge auf das Zusammengehören in ihr versammelt.« Die Dinge gehören nicht nur an einen Ort; sie sind die Orte und geben diese frei. Die Plastik ist dann nicht Besitzergreifung des Raumes oder Auseinandersetzung mit ihm; sie ist die Versammlung von Orten, die eine Gegend öffnen, Dinge verweilen und Menschen wohnen lassen. Das Volumen der plastischen Gebilde grenzt nicht Räume gegeneinander ab, »in denen Flächen ein Innen gegen ein Außen umwinden«. Die Leere des Raumes ist nicht das Fehlen von Orten und Dingen; sie bringt vielmehr das Offene von Orten und damit den Raum hervor. Man leert Früchte in einen Korb; so sieht Heidegger im Leeren ein Lesen und Sammeln (also eine Weise des logos). Die Plastik ist ein solches Versammeln. Sie »verkörpert« die Wahrheit des Seins, indem sie als Werk der Kunst Orte stiftet und Gegenden ermöglicht. Doch braucht die Wahrheit des Seins sich nicht zu verkörpern; sie kann nach einem Wort Goethes auch wie ein Glockenton durch die Lüfte wogen. Indem Heidegger die Leere vom Hervorbringen her faßt, führt er die Weise fort, in der er seit seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 im Nichts das Nicht zum selbstverständlich Seienden und damit das Sein suchte. Gegenüber einzelnen Formulierungen mag man Einwendungen haben. Sicherlich leert man Früchte aus der Schürze in den Korb; wird damit aber das Leeren zum Hervorbringen der Füllung des Korbes? Jedenfalls sucht Heidegger sein Anliegen mit den Grundworten der griechischen und der deutschen Sprache zu entfalten; so wird das Hervorbringen oder die Poiesis der Kunst vom wissenschaftlichen und technischen Tun unterschieden. O b Heidegger in dem mehr als dreißig Jahre jüngeren Chillida einen exemplarischen Künstler unserer Zeit sehen kann, muß ein genauerer Blick auf den Basken zeigen. Jutta Held zeichnet in einer Erörterung der Bestimmung zeitgenössischer Plastik durch Chillida und Heidegger zuerst Chillidas Weg nach. Chillida ging vom späten Konstruktivismus (etwa Rodchenkos und Vantongerloos) aus, der die traditionelle Volumenplastik negierte. Doch liebte Chillida die Abweichung von der exakten Geometrie und die quasiorganische Verbindung der Teile (wie sie Brancusi in seiner biomorphen Plastik vertreten hatte). Zu den Arbeiten aus Stahl traten ähnlich gefertigte Stein-Skulpturen (auch kostbare Alabasterplastiken). Die Lithografien sind keine Vorstudien und keine Projektionen seiner Plastik auf die Fläche; sie zeigen vielmehr statt des Wechselspiels von drei Dimensionen nur eine aktive Dimension. In den Lithocollagen Chillidas können untere Schichten transparent bleiben. »Seine Collagen in Heideggers Schrift

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VI. DIE BILDHAUER

haben in der Sparsamkeit der formalen Gestaltung, die nur wie in Ansätzen gegeben wird, einen ähnlichen Zug zum Esoterischen wie seine Alabasterplastik.« Wenn Chiliida die Eigenart verschiedener Stoffe, die immer Naturstoffe sind, wahrt, dann erfüllt er eine Forderung, wie sie vom Bauhaus, von dem Kunsthistoriker Pinder, vor allem von Heidegger erhoben worden war. Die Kunst steht in der Nähe des Handwerks. Doch bleibt im Schaffen eine Planlosigkeit; diese fügt sich jedoch einem Anspruch und wird zur Seele des Werkes. So zeigt sich erneut eine Parallele zu Heideggers Auffassung von der Kunst. 239 Chillidas Verbindung mit Heidegger führt zur Kritik an ihm. Heidegger, so behauptet Jutta Held, übernimmt die Unterscheidung sakraler und profaner Orte aus der Religionsphänomenologie Mircea Eliades (der bekanntlich politisch diskreditiert werden kann). In Wahrheit kannte Heidegger (wie ich in Gesprächen feststellen konnte) um 1960 Eliade noch nicht; ein Schüler wie Wilhelm Kamiah konnte aber die Unterscheidung des Sakralen und Profanen handhaben. Der Bezug zum Sakralen führt bei Jutta Held zur Kritik: »Sowohl Heideggers Bestimmung des Kunstwerks als auch Chillidas Selbstinterpretation zeigen starke Affinität zu vorgeschichtlicher Kunst und Kultur, die Chillida seiner Intention nach in seinen Werken vergegenwärtigt. Sie sind als Andenken, Bewahrung gedacht.« Freilich muß zugestanden werden, daß Chillida zur künstlerischen Avantgarde gerechnet und von »einer relativ heterogenen Rezipientenschicht geschätzt« wird. Was bedeutet seine Kunst also für unsere technisierte Zivilisation? Eine Stahlplastik vor dem Thyssenhaus in Düsseldorf soll ihre mächtigen Formen mit dem Park und damit der Natur verbinden und auf diese Weise einen »Ort« bilden. Der Thyssen-Konzern möchte Reklame für seinen Stahl machen und sich durch ein kryptosakrales Kunstwerk mit der Landeshauptstadt verbinden. »In der ursprünglichen Weise, auf die Heidegger mit seinem Rückgriff auf archaische Siedlungsweise um sakrale Orte reflektiert, ist eine solche Rückbindung in unserer technischen Zivilisation real nicht möglich. Doch diese Bindung des Menschen an quasi mythische Mächte, die in Chillidas Kunst an archaischem Modell gedacht ist, realisiert sich in unserer westlichen Gesellschaft in der Abhängigkeit von der Herrschaft der Industriekonzerne.« Unter Berufung auf Horkheimer und Adorno werden Chillida und Heidegger in der sog. spätbürgerlichen Gesellschaft angesiedelt, der durch die Vorsilbe »spät« das Todesurteil gesprochen ist. Aber das ist nicht Erfahrung und Erörterung von Kunst, sondern das Überstülpen von dogmatischen Vorstellungen über sie.

239 Vgl. Jutta Held: Zur Bestimmung zeitgenössischer Plastik durch Chillida und Heidegger. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen. Band 20. Hamburg 1975. S. 103 ff, vor allem 111, zum folgenden 120, 122.

EÜUARDÜ CHILLIDA

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Abb. 16 Eduardo Chillida, Gruß an Heidegger, 1994

Jutta Held macht sich selber blind für die Gestaltungsaufgaben, von denen Chillida ausging: zu zeigen, wie seine baskische Heimat dem Meer und dem Wind ausgesetzt, wie Düsseldorf zum Schreibtisch des Ruhrgebietes geworden ist. Inzwischen ist die Zeit von Kohle und Stahl sowieso längst abgelaufen; vergeblich gingen die Arbeiter im Hattinger Stahlwerk mit der allzu konservativen Forderung auf die Straße: »Unsere Väter waren Stahlarbeiter, wir sind Stahlarbeiter, und unsere Kinder sollen auch Stahlarbeiter werden.« Die Situation, in der Heidegger nach der Kunst im Zeitalter der Technik fragte, hat sich völlig verändert. Trotzdem konnte Chillida noch 1982 sagen, »er wolle die Erinnerung an Heidegger, diesen größten Menschen, der ihm begegnet sei, in einer Folge von Radierungen festhalten. >In remembrance of Heidegger< - kein Bildnis also, sondern die künstlerische Niederschrift in einer anderen Sprache!«240 Chillida hat 1994 die Stahlplastik Gruß an Heidegger geschaffen: Auf einem starken Fuß

240 Vgl. Petzet (s. Anm. 46). S. 164. - Zum folgenden vgl. Bauen Wohnen Denken. Martin Heidegger inspiriert Künstler. Hrsg. von Hans Wielens. Münster 1994.

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VI. DIK BILDHAUER

Abb. 17 Eduardo Chillida, Berlin, 1999

erhebt sich ein schweres Gebilde, das viele Eingänge und Durchgänge hat. Chillidas Fragen (Preguntas) verbinden Überlegungen und Skizzen. Was gegen Heidegger gerichtet zu sein scheint, ist durchaus in seinem Sinne gesagt: »Ich verkörpere nichts - ich frage.« Umgekehrt hat Heidegger gesehen, daß Chillida die Plastik mit dem Schicksal der Menschen, ihren Landschaften und Wohnstätten verband. Chillida hat 1998 als Lob der Münchener Pinakotheken monumentale Formen geschaffen, die ins Licht wachsen. Münchener Mäzene bezahlten dann die Skulptur Berlin, die nun vor dem neuen Bundeskanzleramt Axel Schuhes steht. Nach der Vergrößerung einer Skulptur von Käthe Kollwitz an der Neuen Wache als Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs und dem Stelenfeld am Brandenburger Tor als Mahnmal für die ermordeten Juden Europas führte Chillida in Berlin fort, was Henry Moore mit seinen Large twoforms vor dem Bonner Bundeskanzleramt gestaltet hatte. Chillida folgt nicht dem Fließenden und Beweglichen der Formen Moores; er huldigt dem Engländer, indem er auf zwei Stahlbalken stählerne Fangarme legt, die ineinanderzugreifen suchen und dabei auch getrennt bleiben. Muß die Stadt (und die neue Bundesrepublik mit

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ihr) nicht in der Tat ihre Einheit aus der Zwiefalt und Mannigfaltigkeit finden? Die allzu voreilige Rede vom Politkitsch will die Aufgaben des Bildhauers nicht sehen: Orte für Gegenden zu schaffen und so in einer Stadt und einem Land das Wohnen der Menschen zu ermöglichen. Dieser Aufgabe, die Heidegger auf seine Weise formulierte, ist Chillida treu geblieben.

VII. Techniken und Künste in der Globalisierung

Der Mensch unterscheidet sich durch die aufrechte Haltung vom Tier. Seine Augen überblicken vieles; die Hände sind freigesetzt für neue Aktivitäten. Die Technik setzt einen Maschinenpark ein; der Handwerker arbeitet mit der eigenen Hand. Doch nach dem ursprünglichen Wortsinn ist das Handwerk Antwerk, eine werkende Antwort auf eine Aufgabe! Das Wort »Technik« geht mit seinem Stamm bis ins Indogermanische zurück. Es kann im Griechischen den Baumeister und Zimmerer als Tekton ansprechen lassen und etwa in unserem Wort »Architekt« weiterleben. Im Lateinischen zielt es auf das Weben und lebt in unserem Wort »Textilien« weiter. Vom Adjektiv her führt es über das Lateinische und Französische im 18. Jahrhundert zu unserem Wort »Technik«. Ein Philosoph wie Hegel spricht noch nicht von der Technik; er wurde aber aufmerksam auf die Unterscheidung des Bereichs der Wirtschaft und ihrer rechtlichen Absicherung von der staatlichen Sphäre. Trotzdem sah er die Arbeit vom Handwerk her, wenn er auch die alten Zünfte durch Korporationen neuer Art ersetzen und mit diesen den Bereich von Wirtschaft und Staat wieder institutionell verbinden wollte. Grundlinien einer Philosophie der Technik publizierte 1877 in Düsseldorf Ernst Kapp. Er kam aus einer Hegelianerfamilie, hatte aber auch in Texas gearbeitet. Die Technik war für ihn eine Organprojektion, also eine Erweiterung der natürlichen Organe. Der Hammer mit seinem Schlagkopf sei eine Nachbildung von Arm und Faust; selbst das Telefonnetz soll das Nervensystem nachbilden. Zeigte Hegel in seiner Rechtsphilosophie, wie Wirtschaft und Politik zu neuen Verflechtungen führen, so faßte er in seiner Ästhetik die maßgeblichen Künste zur einen Kunst zusammen, die mit der Lehre von den Weisen des Schönen identisch wurde. Hegel konnte so die Motive der neuplatonischen Tradition mit den Lehren von den einzelnen Künsten seit der Poetik des Aristoteles, Vitruvs zehn Büchern über Architektur und der Erörterung der Malerei seit der Renaissance koordinieren. Nicht nur das Erhabene, auch das Häßliche mit seiner aufstörenden Wirkung wurde zu einer Weise des uns bewegenden Schönen (so daß Karl Rosenkranz eine Ästhetik des Häßlichen ausarbeiten konnte). Kants Versuch, die Ästhetik als Lehre von der Sinnlichkeit in einer Kritik der reinen Vernunft anzusiedeln, setzte sich nicht durch. Kierkegaard faßte das Ästhetische, das der Unmittelbarkeit des Lebens folgen möchte, kritisch; doch bekam

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VII. TECHNIKEN UND KÜNSTE IN DER GLOBALISIERUNG

das Ästhetische als Ausrichtung auf das schöne Leben etwa seit Stefan George einen positiven Sinn. Wilhelm Perpeet entwarf seine Philosophie der Kunst aus dem Geist der Historischen Schule; so mußte er sie trennen von der Ästhetik, die das Schöne sucht und es schon in der Natur, etwa im Kristall und im gewachsenen Lebendigen, findet. Da Hegel Motiven der Renaissance folgt, muß die Kritik Perpeets auch zeigen, daß in dieser Zeit die Theorien der Künste neben der neuplatonischen Zuwendung zum Schönen standen. Doch hält sich ein Anliegen Hegels durch, wenn Perpeet die Kunst in China, in Indien und im mittelmeerisch-europäischen Raum auf unterschiedliche Anliegen zurückführt, die dann auch zu einer unterschiedlichen Auswahl und Ordnung der maßgeblichen Künste führen.241 Viel beachtet worden ist Klees Tagebucheintragung Nr. 905 aus dem Jahre 1912, in der er einen »Münchener Kunstbrief« aufnahm, den er in die Schweiz schickte. Klee schreibt über die Ausstellung in der Thannhauserschen Privatgalerie, »die (dritte) Ausstellung der neuen Vereinigung und deren noch radikaleren Sezession, genannt der Blaue Reiter«. Hier könnten die Leute nicht an einen Museumsliebling, »und wäre es selbst ein Greco«, anknüpfen. Der kühnste der Maler sei Kandinsky, der auch mit seinem Buch Das Geistige in der Kunst durch das Wort zu wirken suche. »Es gibt nämlich noch Uranfänge von Kunst, wie man sie eher in ethnographischen Sammlungen findet oder daheim in seiner Kinderstube. Lache nicht, Leser! Die Kinder können es auch und es steht Weisheit darin, daß sie es auch können! Je hilfloser sie sind, desto lehrreichere Beispiele bieten sie uns, und man muß auch sie schon früh vor einer Korruption bewahren. Parallele Erscheinungen sind die Arbeiten der Geisteskranken, und es ist also weder kindisches Gebaren noch Verrücktheit hier ein Schimpfwort, das zu treffen vermöchte, wie es gemeint ist. Alles das ist tief ernst zu nehmen, ernster als sämtliche Pinakotheken, wenn es gilt, heute zu reformieren...« Die Zusammenstellung der ethnographischen Sammlungen, der Bilder aus der Kinderstube, der Arbeit der Geisteskranken ist ein Stoß gegen die Tradition. Ist die Parallelisierung aber nicht voreilig? Führen ethnologische Sammlungen zu den Uranfängen der Kunst? Was sie zeigen, entstammt oft der Ritualisierung einer Jahrhunderte alten Tradition. Bei der Herstellung dieser »Objekte« war die Wahl zwischen verschiedenen künstlerischen Möglichkeiten nicht gegeben. Der moderne Künstler handhabt demgegenüber in hoher Kompetenz oft unter anderen Formungsmöglichkeiten auch »Primitivität«. Dabei spielen die Erfordernisse des Kunstmarktes eine entscheidende Rolle. Es ist traurig zu sehen, wie Gauguin von Kunsthändlern zu 241 Vgl. Wilhelm Perpeet: Das Sein der Kunst und die kunstphilosophische Methode. Freiburg / München 1970; Das Kunstschöne. Sein Ursprung in der italienischen Renaissance. Freiburg / München 1987.

VII. TECHNIKEN UND KÜNSTE IN DER GLOBALISIERUNG

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den »Wilden« geschickt wurde, die längst in vielfacher Weise europäisiert waren. Auf Gauguins Holzzylinder mit Christus am Kreuz von Tahiti stammt wenigstens ein Kopf noch aus Holbeins Totem Christus.142 Es handelt sich also um synkretistische Kunst, die unterschiedlichen Traditionen folgt. Damit stellt sich die Frage, welcher Begriff von Kunst uns leitet, wenn wir Objekte aus der Südsee ethnologischen Sammlungen zuweisen, die eigentlichen »Kunst«-Museen für unsere eigenen Traditionen vorbehalten. Gibt der Unterschied der Museumsarten, der geschichtlich bedingt ist, nicht Wegweisungen, die letztlich nicht haltbar sind? Ist die alte Stammeskunst aus Afrika nicht überhaupt im »Exil«, wenn sie hereingeholt wird in den weltweiten Museums- und Ausstellungsbetrieb? Die Begegnung mit dem Fremden, wie Klee sie in Tunesien und Ägypten, Nolde und Pechstein sie in der Südsee suchten, ist längst zu einem globalen Austausch geworden. Zu der »primitiven« Kunst werden die Arbeiten der Kinder gestellt, die freilich früh schon in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Daß es um die Grenzen des Gewohnten geht, sollen die Bilder der Geisteskranken zeigen, die z.B. durch die Sammlung Prinzhorn heftig diskutiert wurden. Selbst ein Schulmann und Dichter wie Adalbert Stifter konnte 1864 seinem Verleger schreiben, er habe zu manchen Zeiten »zu Gott das heißeste Gebet getan«, er möge ihn nicht wahnsinnig werden oder sich, wie es öfter geschehe, »in Verwirrung« das Leben nehmen lassen. 243 Nachdem um 1800 die Absicherung der Künstler in den alten Institutionen der Kirche und des Hofes weggefallen war, konnte ein Außenseiter wie Schopenhauer das Thema »Genie und Wahnsinn« formulieren und an Psychiater weitergeben. Der Nationalsozialismus hatte leichtes Spiel, die moderne Kunst als krankhaft und »entartet« zu diskreditieren. Zweifellos kann die Krankheit in unterschiedlichen Weisen produktiv wirken, z.B. bei Vincent van Gogh wie auch bei Munch zu den Grenzen der Kunst führen. Wenn das Malen und das Werken heute auch in der Therapie eingesetzt werden, dann zeigt sich, daß sie in der Tat eine stabilisierende Wirkung in instabilen Zuständen haben können. O b die Kunst Adolf Wölflis wirklich ein geeignetes Demonstrationsobjekt ist, mag dahingestellt bleiben - die Starrheit auf Wölflis Bildern ist gerade kein Zeichen des Schöpferischen. Wenn nicht nur Maler, sondern Musiker wie Hugo Distler und Bernd Alois Zimmermann, Bildhauer wie Norbert

242 Vgl. den Ausstellungskatalog: Kunst-Welten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart. Hrsg. von Marc Scheps u.a. Köln 1999. S. 37 f. Vgl. auch den Ausstellungskatalog : Paul Gauguin. Das verlorene Paradies. Hrsg. von Georg-W. Költzsch. Essen 1998. 243 Vgl. Pöggeler: Die Frage nach der Kunst (s. Anm. 32). S. 112 ff, das Stifter-Zitat S. 143. - Zum folgenden vgl. den Ausstellungskatalog: Kunst & Wahn. Hrsg. von Ingried Brugger u.a. Wien und Köln 1997.

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V I I . TECHNIKEN UND KÜNSTE IN DER Gl.OBAL.ISIF.RUNG

Kricke und Dichter wie Paul Celan den Weg in Krankheit und Selbstmord gingen, dann zeigt sich, daß eine einfache Auflösung dieser Problematik nicht gegeben ist.244 Die Frage bleibt, wie eine mannigfach aufgestörte Kunst im Zeitalter der Technik Orientierung geben kann. Es ist Max Scheler gewesen, der in seiner Abhandlung über Erkenntnis und Arbeit zu zeigen versuchte, daß im 17. Jahrhundert die mathematische Physik und die neue Ökonomie zugleich entstanden als Versuch, Herrschaft über die Dinge zu gewinnen. Der »kalte Krieg« zwischen Ost und West, der auf den Zweiten Weltkrieg folgte, wurde entschieden durch die Macht der Wirtschaft, sofern sie neue Techniken (nicht nur im »Krieg der Sterne«) ermöglichte. Jose Ortega y Gasset mit seinen Betrachtungen über die Technik (deutsch 1949), dann vor allem Arnold Gehlen ordneten die Technik weltgeschichtlich ein. Gehlen nannte zwei geschichtliche Wendezeiten: die neolithische Revolution, in der vor 10000 Jahren der Mensch als Hirte oder Bauer seßhaft wurde, und die Maschinenkultur des Industriezeitalters. Vielleicht darf man korrigierend darauf hinweisen, wie entscheidend die Ablösung des Neandertalers vor etwa 35000 Jahren war: Heilige Tänze stärkten nun die Gemeinschaft, die Schwirrhölzer mahnten mit Stimmen, ein numinoser Ort wie die Höhle prägte mit seinen Bildern das Leben. Herbert Marcuse nahm auch den späten Widerstand Heideggers gegen den einseitigen technologischen Bezug zum Wirklichen auf; Jürgen Habermas und Karl Otto Apel erneuerten dann den umfassenden Ansatz Max Schelers: es gibt neben dem technischen Interesse, das auf Verfügenwollen und Herrschaft zielt, auch das Bildungsinteresse, das noch die geisteswissenschaftliche Arbeit leitet, und das Heilsinteresse, das aus seiner theologischen Form überführt wurde in den Drang zur Emanzipation, zur freiheitlichen Selbstbestimmung des Menschen jenseits aller vorgegebenen Zwänge. Max Webers Diagnose der wachsenden Rationalisierung in der Geschichte konnte in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken. 245 Die Auseinandersetzung über Technik und Kunst mußte gerade in den Bemühungen um Kunst früh aufbrechen. Als Walter Gropius 1919 die Leitung des Bauhauses in Weimar übernahm, schien er ganz auf das Handwerk zu setzen. So unterschied man denn auch im Bauhaus Lehrlinge, Gesellen und Meister. Doch bald zeigte sich, daß Gropius Aufträge hereinholte und sich dabei durchaus auf Industrie und Technik ausrichtete. Johannes Itten dagegen suchte mit der 244 Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter faßt den Weg der Künstler zum Tod als zeittypisch für die Jahrzehnte von 1920-1970; vgl. dazu Walter Biemel: Das Zeit-Motiv im Werk Bernd Alois Zimmermanns. In. Philosophie und Poesie. Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert. Stuttgart 1988. Band 2. S. 333 ff. 245 Vgl. Otto Pöggeler: Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama. Opladen 1995; Hermeneutik der technischen Welt. Lüneburg 2000.

VII. TECHNIKEN UND KÜNSTE IN DER GLOBALISIERUNG

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Mazdaznan-Sekte die Ausbildung der einzelnen zu harmonischen Menschen; so kam es zum Konflikt mit Gropius. Itten verließ im April 1923 das Bauhaus und ging nach Herrliberg, dem Zentrum der genannten Sekte. Bezeichnender Weise waren seine Nachfolger Josef Albers und Läszlo Moholy-Nagy, die sich an dem orientierten, was später »Design« genannt wurde. Unter der schützenden Hand von Gropius konnte Klee ab 1921 seine Bauhausvorlesungen über die elementaren Weisen des Formens mit dem Anspruch auf universale Geltung vortragen. Schelling hatte einst, gestützt auf August Wilhelm Schlegel, in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst auch eine Analyse der Malerei entwickelt und zur Linie das Helldunkel und die Farbe gestellt. In der Sache folgte Klee diesem romantischidealistischen Ansatz. Leider ist sein Nachlaß noch nicht so aufgearbeitet, daß man heute schon entscheiden könnte, ob Klee unmittelbar auf Schelling zurückgriff oder - was wahrscheinlicher ist - diesen Rückgriff Itten verdankte.246 Führte die Geschichte nicht schnell hinaus über die Konstellation, in die Heideggers Münchener Vortrag Die Frage nach der Technik von 1953 gehörte? Bald wurden die Gegenrechnungen zum »fortschrittlichen« Bündnis von Wissenschaft und Technik aufgemacht. Der Bericht des Club of Rome verwies 1972 auf »die Grenzen des Wachstums«. Doch erst die Ölkrise des folgenden Jahres, von den arabischen Staaten inszeniert, machte - z.B. mit den leeren Autobahnen in Deutschland - die Grenzen der Resourcen drastisch klar. Selbst Wolfgang Harich forderte 1975 in seinem Buch Kommunismus ohne Wachstum den Verteilungsstaat, der den Raubbau an der Erde stoppe. Hans Jonas, von Rudolf Bultmann und Martin Heidegger einst auf die Erforschung der Gnosis angesetzt, sah die Gefährdung des Lebens auf dieser Erde. Er ging aus von der Erfahrung, daß im medizinischen Bereich durch die Transplantation die Organe des Menschen zum Bestandteil der technischen und ökonomischen Nutzung wurden. Sein Buch Das Prinzip Verantwortung von 1979 suchte eine Ethik in der technologischen Zivilisation auf die metaphysische These zu stützen, daß das Leben und das bewußte Leben des Menschen auf dieser Erde sein sollten. So müsse auch die Natur, in die der Mensch eingebettet sei, geschützt werden. Es überrascht, daß Hans Jonas vergessen zu haben scheint, daß auch in den zwanziger Jahren von Bergson her, dazu durch Ludwig Klages und Max Scheler das Leben auf der Erde und seine Bedrohung durch die Technik zum Leitthema der Besinnung geworden waren. Sicherlich sah Heidegger mit Husserl

246 Vgl. Otto Pöggeler: Kategorien der Malerei bei Schelling und Hegel. In: Schelling. Zwischen Fichte und Hegel. Hrsg. von Christoph Asmuth u.a. Amsterdam / Philadelphia 2000. S. 335 ff. - Zum Zusammenhang vgl. Magdalena Droste: Bauhaus 19191933. Köln 1993. S. 24 ff, 46. Über Itten und Klee vgl. Christoph Wagner in Paul Klee: Reisen in den Süden (Ausstellung Hamm und Leipzig 1977). Hrsg. von Uta GerlachLaxner und Ellen Schwinzer. Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1997. S. 78 ff.

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und den Neukantianern in der mathematischen Physik einerseits und in den historisch-philologischen Disziplinen andererseits die Modellwissenschaften. Von brennenden Gegenwartsfragen her rückte aber immer wieder die Biologie in den Vordergrund. Als der Heidelberger Chemiker Richard Kuhn 1942 für seine Forschungen den Goethepreis der Stadt Frankfurt bekam, kommentierte Heidegger ironisch, daß nun die künstliche Schwängerungsführung mit der Schrifttumsführung (durch Goebbels und Rosenberg) verbunden werden könne. In seiner Meßkircher Rede Gelassenheit vom 30. Oktober 1955 wies er darauf hin, daß der amerikanische Chemiker Stanley im Sommer dieses Jahres beim internationalen Treffen der Nobelpreisträger in Lindau gesagt habe: »Die Stunde ist nahe, wo das Leben in die Hand des Chemikers gelegt ist, der die lebendige Substanz nach Belieben ab- und aufbaut und verändert.« 247 Was Bergson und Scheler noch nicht kannten, wurde dann in wenigen Jahrzehnten entwickelt: eine Hirnforschung, die die unterschiedlichen Gehirntätigkeiten z.B. auch für die Emotionen (lange als »Herz« dem »Kopf« entgegengestellt) verantwortlich machte; eine Genanalyse, die den Aufbau des Lebendigen entschlüsselte und seine Formen manipulierbar machte. Computer wurden entwickelt, von denen man hoffte, daß sie bald die Leistungen des Menschen generell übertreffen und die biologische Fehlkonstruktion des Menschen durch selbstbewusste Computer ablösen würden. In Wirklichkeit kommt man nicht über das Faktum hinaus, daß das Leben in seiner Evolution für seine Formen Nischen auf der Erde brauchte und so in eine unwiederholbare »Geschichte« gehört. Kant war davon ausgegangen, daß das Leben wie die Kunst sich als teleologische Prozesse (anders als die Materie) der mathematischen Bestimmung entziehen. Max Scheler suchte in seiner Spätphilosophie nicht nur eine Ontologie des Lebens und des Geistes; vielmehr fragte er metaphysisch, wie das Leben mit seinem Drang und der Geist mit seiner freien Ausrichtung auf Werte von einem doppelpoligen Urgrund der Wirklichkeit zueinander gestellt werden. Ihm gegenüber ging Oskar Becker davon aus, daß die Natur, die mit ihren gleichbleibenden Grundgestalten mathematisch faßbar sei, eine Analogie im absoluten Geist fände, der sich z.B. im Mathematisieren von der Geschichte loslöse und damit zusammen mit der Natur quer zur Existenz und ihrer Geschichte stehe. Zwar glaubte Becker in seinem Werk Mathematische Existenz, das 1927 zusammen mit Sein und Zeit erschien, noch mit Heidegger eine hermeneutische Phänomenologie zu teilen. Als Sein und Zeit wirklich vorlag, setzte Becker sich von der hermeneutischen Phänomenologie ab, da diese blind bleibe gegenüber Phänomenen wie der Natur und dem Mathematischen. Vor allem schien Heidegger nicht zu sehen, daß

247 Vgl. Heidegger: Vorträge und Aufsätze (s. Anm. 119). S. 95; Reden (s. Anm. 164). S. 525.

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in der Kunst Natur und Freiheit sich vereinen können, wie Schelling es am Schluß seines Systems des transzendentalen Idealismus ausgesprochen habe.248 Wenn »Sein« auf die Geschichtlichkeit und die Geschichte des Daseins als Existenz bezogen wird, muß man ihm nach Becker das »Wesen« entgegensetzen, das in sich und seiner Strukturiertheit ruht. Das Wesen verweist einerseits auf das Natürliche - auf das Kind als das »kleine Wesen«, auf bloße Wesen wie Wassermann und Fee. Andererseits kann das bleibende Wesen durch Gleichungen mit Zahlengebilden erfaßt werden. Das geschieht dann in einer »absoluten« Geistigkeit, die sich aus der Geschichte löst. Wird das Wesen in diesem Sinn gewürdigt, dann muß Piatons »Idee« wieder in ihr Recht gesetzt werden: Sie ist nicht, wie Heidegger etymologisierend geltend machte, das Gesehene, das als das Verfügbare vom Wirklichen abgehoben wird, sondern die alles fundierende Struktur. Auch innerhalb der modernen Kunst kann ein Dichter wie Joyce in der Stadt Dublin die Idee einer modernen Großstadt darstellen. Gibt die Idee in solchem Sinn der »Metaphysik« Piatons (und der Seinslehre des Aristoteles) eine sachlich unverzichtbare Bedeutung, dann kann diese Metaphysik nicht kurzschlüssig verantwortlich gemacht werden für den Weltzugriff der neuzeitlichen Technik. Becker weist gegen Heideggers Darstellung der Entstehung der Technik darauf hin, daß die Antike zwar das Experiment kannte, aber nicht das analytische Experiment. Dieses gehört zum 17. Jahrhundert, dessen Physik die Gegenstände in Komponenten zerlegte und dann als analysierte wieder zusammensetzte. Dieser mathematische Zugriff hat aber seine Grenzen, die von der Methode auch angegeben werden. Die Methode zielt nicht auf die Wirklichkeit im ganzen (wie Hegel am Schluß seiner Wissenschaft der Logik unterstellt). Sie weist kritisch einen Ansatz in seine Grenzen ein. Es gibt deshalb auch nicht »die« Wissenschaft und »die« Technik und nicht als Gegensatz zu diesen »die« Kunst. Zu einer Fülle von begrenzten Techniken kommt der Reichtum vieler Künste. Auch von der Mathematik führt ein Weg zu einzelnen Künsten, z.B. zu bestimmten Strukturen im Ornament, in der Musik, in der Architektur. Schon Heideggers Hinweise auf die antiken Tempel und die mittelalterlichen Kathedralen lassen außer Acht, wie viel an Mathematik zur Erstellung dieser Bauten nötig war. Nach mehr als zwanzig Jahren der Diskussion schickte Werner Heisenberg Heidegger zum achtzigsten Geburtstag einen entschiedenen Widerspruch gegen dessen Platon-Kritik: Das Auslegen nach »Ideen« finde heute »in größter Intensität, nur in einer tieferen Schicht« statt.249 Oskar Becker hat gegenüber Hei248 Zur Interpretation s. Anm. 217. 249 Zum Zusammenhang vgl. Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 38). S. 287. Zum folgenden vgl. Oskar Becker: Größe und Grenze der mathematischen Denkweise. Freiburg / München 1959; Dasein und Dawesen (s. Anm. 217). S. 127 ff, 157 ff.

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degger Zustimmung und Widerspruch in seinem Buch Größe und Grenze der mathematischen Denkweise formuliert Becker reklamierte das alte pythagoreische Prinzip, die Dinge seien Zahlen, also mathematisch deutbare Gefüge; er suchte auch in der Kunst eine Schicht, der man sich durch die mathematische Analyse nähern kann. Kommt man auf diesem Wege nicht jener Kunst näher, die eher zur modernen Zivilisation gehört als Burgen und Tempel? (Doch auch die griechischen und schon die ägyptischen Tempelanlagen sind ohne Mathematik nicht verständlich.) Als sich in England die Industrialisierung meldete, suchte William Morris im Gefolge Ruskins eine neue Kunst von Teppichen, Tapeten, Fliesen und geschmückten Büchern her. Ein Jahrhundert später legte E. F. Schumacher in London sein Buch Smallis beautiful - Economics as ifPeople mattered vor. Nun wurden Unterscheidungen, die sichere Geltung hatten, unterlaufen - der Unterschied zwischen dem Museum und der Ausstellung der Gegenwartskunst, zwischen der bergenden Architektur und der Kunst in ihr, ja zwischen Leben und Kunst. Seit 1997 wird die Hamburger Kunsthalle abgeschlossen durch die Galerie der Gegenwart. Oswald Mathias Ungers hat diesen Erweiterungsbau als einen eindrucksvollen Kubus geschaffen, rhythmisch gegliedert durch die Fenster, aber ohne prunkvolle Dekoration. Hier (wie im Hamburgischen Bahnhof in Berlin) ist ein Ort geschaffen, an dem die lebenden Künstler um ihren Platz kämpfen. Das Museum repräsentiert keine anerkannte Tradition, sondern ist in die Tendenzen gegenwärtiger Kunst verflochten. In der Eingangshalle zeigt die Tropfsteinmaschine von Bogomir Ecker, daß die bildende Kunst unserer Zeit ebensoviel Reflexion wie Anschauung verlangt. Wir müssen uns belehren lassen, daß hier Leitungswasser aus den Dachrinnen über ein Biotop von Lorbeerbüschen nach unten geleitet wird und in 500 Jahren einen Stalagmiten und einen Stalaktiten von je 5 cm Länge wachsen lassen soll. Bekommen in der heutigen Kunst nicht Videos, in denen Bildelemente sich in mannigfacher Weise mischen, ein Übergewicht? Im Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe teilt sich freilich das Publikum: Kinderscharen laufen von Apparat zu Apparat, um Videospiele zu treiben; weiter weg, im Museum für neue Kunst, verweilen ein paar alte Leute versonnen vor einem Bild von Baselitz oder Steinreliefs von Rückriem. Es fällt auf, daß nicht nur Werkhallen wie in Karlsruhe, sondern vor allem Bahnhöfe zu Museen umgestaltet werden können (so im Hamburgischen Bahnhof in Berlin, im Musee d'Orsay in Paris). Wird nicht schließlich auch die Museumsarchitektur frei vom Zweck, Kunstwerke zu beherbergen, und so autonom? Schon in den aufsteigenden Spiralen des New Yorker Guggenheim-Museums hatte das Hängen der Bilder seine Schwierigkeiten. Wird die Museumsarchitektur in Bilbao nicht noch stärker gelöst von den Aufgaben des Gebäudes? Das Jü-

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dische Museum in Berlin von Libeskind wurde schon bei der Freigabe zur Besichtigung, als es noch keine Objekte in ihm hatte, zum Publikumsmagneten. Sicherlich gewinnt solche Architektur ihre Rolle nicht mehr im Dienen, sondern im Wechselspiel mit der Kunst, die sie beherbergt. Wie aber steht die Kunst überhaupt zum Leben der Menschen? Arthur C. Danto spricht von der »Kunst nach dem Ende der Kunst«. 250 Wenn Hegel das »Ende« der Kunst erörtert, dann meint er, daß wir nicht mehr vor dem Madonnenbild knien, weil sich unser Gewissen durch den klaren Begriff von Wissenschaft und Philosophie leiten lasse. Müssen wir heute das Ende der Kunst aber nicht anders verstehen? Duchamp zeigte ein Urinal als Kunstwerk vor, Andy Warhol ließ uns Brillo Boxes, Behältnisse für Topfkratzer, sehen. Es geht nicht mehr darum, eine Auswahl im Bereich des Wahrnehmbaren zu treffen und in der Kunst ein Maß dafür zu finden. Die Kunst geht ins alltägliche Leben ein, und so ist sie vom Design nicht mehr zu trennen. Sie gleicht sich der Ökonomie und Technik, vor allem der Werbung, an. Nach Danto kam die Kunst 1964 mit den Brillo Boxes an ihr Ende, keineswegs 1968, als man in Frankreich die Phantasie an die Macht bringen wollte. Hielt sich nicht selbst der Kubismus noch an die üblichen Gattungen: »den Akt, das Stilleben, die Landschaft, das Interieur«? Schuf Picasso nicht mit Guernica ein Historienbild? Das war mit Warhol vorbei. An Hockney rühmt Danto, daß er die Cöte d'Azur durch »ein Kalifornien des Herzens« ersetzt habe. Haben er und Danto die Welt mit ihren konkreten Gefahren und Aufgaben darüber nicht vergessen? Blieben nicht neue große Bauaufgaben für die Architekten? Blieb nicht das Gedenken an die Verfolgten und Ermordeten, blieben nicht Vietnam und weitere Schrecken als Herausforderung auch der Kunst? Führte die Globalisierung nicht nur für die Wirtschaft und Politik, sondern auch für die Kunst neue Aufgaben herauf? Durch diese Fragen wird Dantos Sicht relativiert. Paul Klee ging in seinen Vorlesungen am Bauhaus noch davon aus, daß er in universaler Gültigkeit die Elemente der Formung herausstelle. Demgegenüber nannte Heidegger die Bewegung von der Metaphysik, die im Griechentum sich durchsetzte, zur Technik, die sich in den Weltkriegen austobte und weltweit zur Herrschaft kam, »planetarisch«. Die Erde ist »seynsgeschichtlich der Irrstern«, das Dasein der Menschen auf ihr hat seinen Ursprung verloren. Das Wort »Technik« nennt die Atomphysik ebenso wie die Erlebnissteigerung durch Kunst und die Seelenbetreuung der Theologen. »Der Name ermöglicht zugleich, daß das Planetarische der Metaphysikvollendung und ihrer Herrschaft

250 So wird im Deutschen der Buchtitel: Beyond the Brillo Box: The visual Arts in Posthistorical Perspective, übersetzt (München 1996). - Zum folgenden vgl. Arthur C. Danto: Reiz und Reflexion. München 1994. S. 334 ff, 15,135.

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ohne Bezugnahme auf historisch nachweisbare Abwandlungen bei Völkern und Kontinenten gedacht werden kann.« 251 Als dann 1989 die Sowjet-Union auseinanderzufallen begann, konnte Francis Fukuyama von Kojeves Interpretation der Hegeischen Phänomenologie des Geistes und Heideggers Endlichkeitsdenken her den Markt und eine gewisse Demokratisierung als grundlegende Tendenzen ausmachen (mochte das auch nicht für alle Weltregionen zutreffen). Der neu geprägte Begriff der Globalität setzte sich mit der Rede von der Globalisierung durch. Diese Rede geht davon aus, daß Global players Kontinente übergreifen und so die Weltwirtschaft ausrichten auf Standortvorteile, seien das nun geographisch günstige Verhältnisse oder die Konditionierung der Bevölkerung und vielleicht nur ein niedriges Lohnniveau. Ist nicht selbst China (mit der Bevölkerung in den Handelsstädten der Küstenregionen) besser für die Globalisierung gerüstet als die Sowjet-Union? Dieses Imperium, das auf andere Länder ausgriff, überwölbte eine agrarisch geprägte Struktur durch die Schwerindustrie, konnte aber im Rüstungswettlauf nicht durchhalten. An Japan hatte man gerühmt, daß quasi-familiäre Strukturen selbst die Wirtschaft stützen und die Menschen für diese gewinnen konnten. Als die Überlegenheit der japanischen Wirtschaft schwand, beschuldigte man die einst gelobten Strukturen des Nepotismus. Damit tritt nur die Ambivalenz der Entwicklungen hervor. Selbst die Inder konnten dadurch sprichwörtlich werden, daß sie z.B. in Bangalore ein Zentrum für Informationstechnologie aufgebaut hatten und mit ihrer Ausbildungspraxis traditionelle Industrienationen wie die deutsche übertrafen. War nicht ein Umdenken für den Zusammenhang von Industrie, Politik, Recht und Erziehung gefordert? Auch unser Bezug zur Kunst wird in diese neue Globalisierung gestoßen. Heute kann niemand mehr mit Georg Forster oder mit Gauguin zu den »Wilden« gehen wollen; man kann deren Artefakte nicht mehr mit Picasso unmittelbar als Anregung für einen Durchbruch zu Neuem nehmen. Die Zeit ist auch vorbei, in der deutsche Maler, als »entartet« aus ihrer Heimat verstoßen, sich indianischen oder afrikanischen Traditionen zuwandten. Freilich führt die Globalisierung zu der Illusion, man habe einen Bezug zur Zen-Kunst, wenn man als Maler aus Amerika oder als Museumsdirektor aus Europa drei Wochen in Japan gewesen sei. In dieser voreiligen Vermittlung bleibt unbedacht, daß Zen ein lebenslanges Üben verlangt, vielleicht nach Jahren in einer »Erleuchtung« das Leben völlig verwandelt. Doch muß heute auch ein Afrikaner sich der Globalisierung stellen, wenn er als Künstler nach Amerika geht. Er trifft mit dem handwerklichen Können, das er von zuhause mitnehmen kann, auf eine Welt-

251 Vgl. Heidegger. Vorträge und Aufsätze (s. Anm. 119). S. 97, 77, 90, 81. - Zum folgenden S. Anm. 245.

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kunst, die seiner Kunst neue Techniken zur Verfügung stellt. Der Nigerianer Okwui Enwezor, der in New York arbeitet und zum Leiter der 11. Documenta im Jahre 2002 bestellt wurde, suchte 1997 die zweite Biennale in Johannesburg durch zusätzliche künstlerische Aktivitäten über eine bloße Ausstellung hinaus zu einer »Aufführung« werden zu lassen. Johannesburg, so schrieb er, »appears to be a model for the hybridisation of the world where roots are replaced by routes taking peoples on unsure travels into the future". Hans Belting nennt jene Kunst »hybrid", die bei einem Afrikaner nicht archaisch bleibt, sondern ihr Erbe einbringt und steigert in der Begegnung mit der Weltkunst. 152 Unser Begriff von Kunst, seit zweihundert Jahren mit der Musealisierung verbunden, kann aber nicht als globales Denkschema auf andere Kulturen angewandt werden. Wir müssen die lokalen Genealogien der Bilder beachten; nicht nur das Wort, auch das Bild zeigt sich in seinem Wesen in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich. Ein Soziologe und Philosoph wie Arnold Gehlen hat die moderne Kunst streng von der früheren Kunst getrennt. Die große Tradition der Kunst bezieht sich auf religiöse Themen und dann auch auf Gegenstände des Alltags; sie erklärt sich so selbst. Bei der modernen Kunst, vor allem bei der abstrakten Malerei, muß ein Kommentar zum Bild hinzukommen, damit der Museums- oder Ausstellungsbesucher etwas mit dem Bild anfangen kann. Läuft dieser Kunstbetrieb, das Miteinander der künstlerischen Modernismen, der musealen Tätigkeiten, des Redens und Schreibens von Experten nicht ins Folgenlose aus? Diese Exklave im wirklichen Leben, die sich auch politisierend geltend machen kann, muß nach Gehlen z.B. 1968 in Prag den Panzern weichen, die wieder die wirklichen Institutionen unserer Zeit zur Geltung bringen. 253 Gehlen übersieht, daß auch die moderne Malerei an unsere elementaren Erfahrungen anknüpft. Hoehmes weiße Bilder zeigen uns jenes Schweigen, in dem das Leben nicht erstirbt, sondern in winterlicher Klarheit zu sich findet. Barnett Newman führt uns durch die »Risse« auf seinen Bildern zum »Erhabenen«. Sicherlich nutzt Newman Gedanken der Mystik und verweist auch darauf; aber diese Gedanken sind kein nachträglicher Kommentar, sondern ins Bild gesetzt. Wenn Christo den Reichstag verhüllt, dann ist das für Berlin und für die Medien ein Ereignis. Indem Christo auch seine Skizzen und Collagen veröffentlicht, reklamiert er ein individuelles Werk als einen Gestaltungsprozeß. Wie sich Kunst und Technisierung durchdringen, zeigt die herrschend gewordene Rede von »Installationen«. Klempner und Elektriker installieren Zuflußmöglichkeiten für Lebensnotwendiges wie Wasser, Wärme und Strom. Die 252 Vgl. Kunst-Welten im Dialog (s. Anm. 242). S. 329, zum folgenden 324 ff. 253 Zu Gehlen vgl. Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 38). S. 210 ff.

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Installationen der Künstler können im Gefolge der Mobiles von Calder Balancen aufzeigen, aber auch die Störung eines technischen Prozeßes bis dahin, daß eine kleine Maschine in absurde Abläufe getrieben wird. Vorausgesetzt ist nicht mehr, daß große Kunst gegen die universale Technisierung steht. Vielmehr durchdringen sich Techniken und Künste, aber so, daß die Kunst ein Plus anzeigt. Dieses Plus erinnert den Menschen an seine Situation auf dieser Erde: an sein Gelingen und sein Scheiternkönnen und überhaupt an seine Sterblichkeit. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf ist um eine KleeSammlung herum aufgebaut worden; sie bezieht sich auf die klassische Moderne, greift aber vorsichtig in die Zeit nach 1945 aus. Dabei ist das Kunstgeschehen von Paris und New York leitend; nicht beachtet wird die offizielle Kunst der ehemaligen D D R und die untergründigen Gegenbewegungen gegen sie. Auch das Umfeld von Düsseldorf bleibt mit seinen Malern, Sammlungen und Bauten vor der Tür. Das gilt selbst für die Düsseldorfer Kunstakademie, wo z.B. Joseph Beuys den Eklat suchte und gleichsam den technischen Größenwahn Tatlins mit dem Außenseitertum Warhols verband. Zeigt sich das, was als schön, erhaben oder häßlich das Leben der Menschen in ein neues Licht stellt, nicht immer noch in einem alten Stadthaus oder einem aufgegebenen Bauernhof oder gar in einer alten Burg, die zum Schloß umgewandelt wurde? Die einstige Rheinromantik hatte den Niederrhein nicht erreicht; dieses Land war trotz einiger herausragender Städte agrarisch geblieben. Sicherlich hatte Friedrich der Große sich mit Voltaire auf Schloß Moyland getroffen; heute kann das Schloß in seiner neugotischen Umgestaltung zum Behältnis eines Museums werden, in dem das Erbe von Beuys vorherrscht. Doch zeigt dieses Museum auch, was durch die Weltkunst in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen nicht anerkannt ist, so die Pariser Grafik in den Arbeiten von Gisele Celan-Lestrange, die zum großen Teil Titel von Paul Celan tragen.254 Paul Klee gehört zur »klassischen Moderne«. Von dieser setzte sich die Postmoderne ab. Sie übernahm in Opposition gegen den »Bauhausstil« das freiere Spiel der Formen, auch historische Anspielungen, etwa selbst an Ägyptisches. Ein Beispiel ist Stirlings Erweiterung der Stuttgarter Staatsgalerie. Was in Berlin am Kemperplatz aus alten Planungen heraus an Bauten für Gemälde, Bücher und Musikaufführungen realisiert wurde, fand in einseitigen Polemiken eine Kritik, die keine Dauer haben konnte. Schließlich kehrten Architektur und bildende Kunst zur neuen Einfachheit zurück. Wenn Heidegger sich auf Klees Bilder aus den Jahren der Verfolgung und der Todesnähe bezog, dann sind alle genannten Entwicklungen überholt durch den Bezug zu dem, was existenziell

254 Vgl. den Ausstellungskatalog Gisele Celan-Lestrange und Paul Celan. Hrsg. von der Stiftung Museum Schloß Moyland. 2000.

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und bleibend zum Menschen und zu seiner Kunst gehört. Die Philosophie, die in ihrem Fragen keine Frage abweisen kann, muß auch verbunden bleiben mit den Weisen, in denen die Religion zeitüberdauernde Glaubensangebote ver mittelt und die Kunst aus dem freien Schaffen der einzelnen heraus Sinn und Form für das Leben der Menschen sucht. So bleibt Heideggers Bemühung, mit Klee nach der Kunst in unserem technischen Zeitalter zu fragen, über alle nöti gen Korrekturen hinaus von Bedeutung.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Paul Klee, Übermut, 1939, 1251 (PQull) 100 x130 cm Ol und Kleisterfarben auf Packpapier auf Jute über Keilrahmen; originale Rahmenleisten Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Abb. 2 Paul Klee, Paukenspieler, 1940, 270 (L10) 34,6x21,2 cm Kleisterfarben auf Büttenpapier mit Leimtupfen auf Karton; Randleiste auf dem Karton unten mit Tinte Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Abb. 5 Paul Klee, bunter Blitz, 1927,181 (f 1) 50,3 x 34,2 cm Öl auf Leinwand auf Karton auf Keilrahmen; originale Rahmenleisten Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Photograph: Walter Klein, Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2002 Abb. 6 Paul Klee, Gezeichneter, 1935,146 (R 6) 32 x 29 cm Ol- und Wasserfarbe auf Ölgrundierung auf Gaze auf Karton auf Keilrahmen genagelt Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Photograph: Walter Klein, Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Abb. 7 Abb. 3 Paul Klee, Ein Tor (TOR), 1939, 911 (XX 11) 31,8x14 cm Tempera auf schwarzer Grundierung auf Papier mit Leimtupfen auf Karton Fondation Beyeler, Riehen/Basel © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Paul Klee, Gedanken bei Schnee, 1933, 32(L12) 45,9 x 46 / 47 cm Wasserfarbe auf Gipsgrundierung auf Erbsentüll auf Karton Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Photograph: Walter Klein, Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Abb. 4 Paul Klee, Überkultur von diolaren 1, 1926,133 (D 3) 23 x 30,5 cm Feder auf Papier auf Karton Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Photograph: Walter Klein, Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Abb. 8 Paul Klee, Heilige, aus einem Fenster, 1940, 56 (XI6) 29,2 x 20,8 cm Aquarell über Fettkreide, Marke Zulu, und Rötel auf Konzeptpapier (Biber) mit Leimtupfen auf Karton; Randleiste auf dem Karton unten mit Tinte

ABBILDUNGSNACHWEIS

Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern © VG Bild-Kunst, Bonn 2002 Abb. 9 Vincent van Gogh, Kornfeld mit Mäher und Sonne, 1889 73 x 92 cm Ol auf Leinwand Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam Abb. 10 Paul Cezanne, Vallier mit Strohhut, 1906 65 x 54 cm Ol auf Leinwand Privatsammlung, Schweiz Abb. 11 Paula Modersohn-Becker, Bildnis Rainer Maria Rilke, 1906 Ludwig-Roselius-Sammlung, Bremen Abb. 12 Paula Modersohn-Becker, Elsheth, 1902 89 x 71 cm Öl auf Pappe Ludwig-Roselius-Sammlung, Bremen

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Abb. 13 Illustration aus dem 15. Jhd. zu der altchinesischen Zen-Geschichte Der Ochs und sein Hirte („Das Hereinkommen auf den Markt mit offenen Händen") Abb. 14 Bernhard Heiliger, Äolsharfe, 1964 72 x 35 x 23 cm Bronzeguß Privatsammlung © VG Bild-Kunst, Bonn 2002 Abb. 15 Bernhard Heiliger, Heidegger-Plastik, 1964 © VG Bild-Kunst, Bonn 2002 Abb. 16 Eduardo Chiliida, Bauen, Wohnen, Denken (Gruß an Heidegger), 1994 © VG Bild-Kunst, Bonn 2002 Abb. 17 Eduardo Chillida, Berlin, 1999 Höhe: 550 cm, Stahlskulptur Bundeskanzleramt Berlin Photograph: Steffen Dengler © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Bayerische ] Staatsbibliothek München J