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German Pages 258 Year 1994
ANTONIO-ENRIQUE PEREZ LUNO
Die klassische spanische Naturrechtslehre in 5 Jahrhunderten
Schriften zur Rechtstheorie Heft 165
Die klassische spanische Naturrechtslehre in 5 Jahrhunderten Von Antonio-Enrique Pérez Luno
Duncker & Humblot * Berlin
Die spanische Originalausgabe „La polémica sobre el Nuevo Mundo. Los clâsicos espanoles de la Filisofia del Derecho" ist 1992 bei Editorial Trotta, Madrid, erschienen.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pérez Luno Antonio-Enrique: Die klassische spanische Naturrechtslehre in 5 Jahrhunderten / von Antonio-Enrique Pérez Luno. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 165) ISBN 3-428-08133-1 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08133-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken
Vorwort Ich weiß nicht, ob es "dem blinden Zufall oder den verborgenen Gesetzen" (J. L. Borges) zu verdanken ist, die das Geschick der Menschen lenken, daß neben dem Eingang zu meiner Unterkunft im Spanischen Kolleg in Bologna ein altes Bild hing, das das Porträt eines schmalgesichtigen, spitzbärtigen Edelmannes darstellte. Eine alte Überlieferung des Kollegs wollte darin das Gesicht von Juan Ginés de Sepulveda erkennen. Jedenfalls war es mir wohl schon aufgrund dieser räumlichen Anordnung und wegen meines Interesses für die juristische Ideengeschichte vorherbestimmt, daß der damalige Rektor des Kollegs, Evelio Verdera y Tuells, mich höflich, aber unabweisbar darum bat, mit einer Arbeit über Ginés de Sepulvedas Zeit in Bologna zu einem Werk über El Cardenal Albornoz y el Colegio de Espana, einer umfassenden Geistesgeschichte des Kollegs, beizutragen. Seither hat mich die Begeisterung für das Studium, die Erforschung und sogar die schriftliche Verarbeitung all dessen, was mit den durch die Begegnung mit Amerika ausgelösten juristischen Auseinandersetzungen zu tun hat, nicht mehr losgelassen. Meines Erachtens handelt es sich bei diesem Thema um ein zentrales Kapitel der Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Jahre später, anläßlich eines weiteren Aufenthaltes am Kolleg in Bologna, erfuhr ich, daß der nunmehr amtierende Rektor, José-Guillermo Garcia-Valdecasas, in seinem ästhetischen Drang das Bild hatte restaurieren lassen. Dabei war unter einer dicken historischen Schmutzschicht zum Vorschein gekommen, daß es sich nicht um Ginés de Sepulveda, sondern einen anderen Kollegiaten derselben Epoche handelte, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Von dem Schock, den dieses quid pro quo bei mir auslöste, habe ich mich noch immer nicht ganz erholt. Es gibt mir zu denken, daß ich mich ohne diesen Irrtum wohl niemals mit dem Thema beschäftigt und auch dieses Buch ganz sicher nicht geschrieben hätte. Die Anekdote dieser Bildervenvechslung - eine Folge der Tatsache, daß die Zeit das Bild und manchmal sogar die Identität der großen Denker verwischt und verschwimmen läßt - ändert aber nichts an der Gültigkeit des Argumentes. Schließlich warf das Zusammentreffen der Kulturen von Spaniern und amerika-
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Vorwort
nischen Ureinwohnern eine Reihe von Fragen auf, deren Bedeutung über das Episodische hinausweist und die in die kollektive Erfahrung der Völker zu beiden Seiten des Atlantik eingegangen sind. Protagonisten der hispano-amerikanischen Lebensgemeinschaft waren nicht nur Entdecker, Politiker und Rechtstheoretiker, sondern auch die Gesellschaften Spaniens und Amerikas insgesamt; ihre geographische Ausdehnung umfaßte zwei Kontinente und ihre zeitliche mehr als drei Jahrhunderte. Wer immer auf plumpe Weise versucht hat, dieses gemeinsame Leben zu negieren oder kleinzureden, wurde früher oder später auf seine unleugbare Wirklichkeit gestoßen. Andererseits haben auch die zahlreichen rhetorischen Überhöhungen die hispano-amerikanische Wirklichkeit verdeckt, weil sie nicht in der Lage waren, die durch die Entdeckung der Neuen Welt hervorgerufenen Spannungen und Konflikte sowie die Einschätzung ihrer Folgen wiederzugeben. Jeden Erforscher - oder auch nur Beobachter - der Geschichte Hispanoamerikas versetzt das unmittelbar nach der Conquista zu verzeichnende Erblühen einer ganzen Reihe kultureller Ausdrucksformen in Erstaunen. Schon seit dem 16. Jahrhundert werden Universitäten und Bibliotheken errichtet, die den damals in Europa existierenden durchaus vergleichbar sind und die eine ansehnliche Menge indianischer Chronisten, Historiker und Künstler sowie eine beachtliche Kolonialdichtung hervorgebracht haben. Schon in dieser Zeit liegen auch die Anfänge einer neo-hispanischen Architektur, deren barockes Steinfiligran in Kathedralen, Rathäusern und Palästen überdauert hat und in das monumentale Erbe der Menschheit eingegangen ist. Diese ausgedehnte kulturelle Erfahrung ging in einem ihrer Bedeutung entsprechenden politisch-rechtlichen Rahmen vonstatten. Die spanische Monarchie leistete Pionierarbeit in der bürokratischen Organisation des Staates, von deren Umfang und Ausgefeiltheit das Archivo de Indias in Sevilla oder das in Simancas unbestreitbares Zeugnis ablegen. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert weist das spanische Amerika alle Merkmale auf, die die Moderne ankündigen. In der gleichen Epoche fand man dagegen bei dem Nachbarn im Norden kaum mehr Anzeichen von Zivilisation als ein paar primitive Holzbauten, und seine Verwaltungsorganisation beschränkte sich auf die Gewinn- und Verlustrechnungen der Handelsgesellschaften. Die entscheidenden Ursachen dafür, daß heute die hispanoamerikanischen Länder um die Wette gegen die Unterentwicklung kämpfen, während Nordamerika den weltweiten Fortschritt anführt, sind daher ein noch immer ungelöstes Rätsel der Geschichte. Eine detaillierte Analyse der verschiedenen, ganz unterschiedlichen Prozesse, die die heutige Wirklichkeit Hispanoamerikas bestimmen, ist eines der
Vorwort
dringlichsten Unternehmen, zu dem eine verantwortliche Begehung des fünfhundertsten Jahrestages der Begegnung von Neuer und Alter Welt aufruft. Diese Aufgabe übersteigt jedoch bei weitem die Möglichkeiten der vorliegenden Untersuchung, deren Absicht sich auf die Erforschung des Phänomens allein im Hinblick auf die Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie beschränkt. Nicht von ungefähr war Amerika zunächst ein physischer Raum, der für das Denken der Zeit und die nachfolgenden Lehren erst allmählich zu einem geistigen Raum wurde. Geht man von dem bekannten Hegeischen Motto aus, wonach Philosophie "ihre Zeit in Gedanken erfaßt", dann scheint es keineswegs müßig, darüber nachzudenken, was die Begegnung zwischen Spanien und Amerika aus der Sicht der praktischen Philosophie der damaligen wie der heutigen Zeit und für diese bedeutete und noch immer bedeutet. In den Diskussionen und Befürchtungen, die von der Ankunft in der Neuen Welt hervorgerufen wurden, spielten die hervorragendsten Vertreter des Geisteslebens der damaligen Zeit, die Vordenker der damaligen öffentlichen Meinung, eine direkte Rolle. Es handelt sich um eine Gruppe von Theologen, Philosophen und Juristen - in ihrer Mehrzahl Universitätslehrer -, die im allgemeinen als die "Spanische Natur- und Völkerrechtsschule" oder treffender als "die klassischen spanischen Naturrechtler" bezeichnet werden. Mitte dieses Jahrhunderts waren diese Denker Gegenstand von Rekonstruktionsbemühungen, die sie zu entdecken oder gar überhaupt erst zu erfinden versuchten. Seitdem waren sie - bis vor kurzem - in Vergessenheit geraten. Eines bleibt jedoch noch zu tun: der Versuch, sie kennenzulernen und zu verstehen. Ich will mit dieser Bemerkung keineswegs früheren Beiträgen Qualität und Wert absprechen; viele von ihnen sind unverzichtbar, um zu einem angemessenen Verständnis dieses Zweiges unserer Kulturgeschichte zu gelangen. Ich meine aber, daß der fünfhundertste Jahrestag der Begegnung mit der Neuen Welt einen passenden Anlaß bietet, um die spanische Naturrechtslehre-Forschung in drei Richtungen voranzutreiben: Es sollten bislang noch nicht oder unzureichend untersuchte Denker und Themen berücksichtigt, die bis heute vorliegenden Untersuchungen zur Feststellung der Güte ihres jeweiligen kritischen Gehalts durch einen "metatheoretischen Filter" geschickt sowie explorative Analysen der heutigen Ausstrahlungen dieses theoretischen Erbes angeregt werden. Dem Versuch, diese Aufgabe zu erfüllen, sind die Kapitel der folgenden Untersuchung gewidmet. Wichtig scheint mir der Hinweis, daß über dieses Kapitel der Geschichte der spanischen Rechtsphilosophie - entgegen dem Anschein, den ein flüchtiger Blick auf das Thema erwecken könnte - noch längst nicht alles gesagt ist. Die spanischen Klassiker des Naturrechts sind kein Phänomen, das eines Tages
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Vorwort
aufgetreten war und inzwischen abschließend erklärt wäre. Es handelt sich vielmehr um ein geistiges Thema, das der ständigen Reflexion der Geschichtsschreibung aufgegeben ist. Mit einer von Ortega übernommenen Metapher könnte man sagen, daß die klassischen spanischen Naturrechtler kein Denkmal waren und sind, das man nur reproduzieren könnte, sondern ein Steinbruch, aus dem sich jeder seine eigene Skulptur heraushaut. Es wird oft gesagt, daß es für die Rechtsphilosophie einen Wert gibt, ohne den alle anderen unvollständig bleiben. Dieser Wert ist die Gerechtigkeit. Er ist in der Reflexion der klassischen spanischen Naturrechtler und ganz besonders in ihren Betrachtungen über die Neue Welt ständig präsent. Das Anprangern der in Amerika verübten Untaten war seit der ersten Entdeckung jener neuen Weltgegenden ein löblicher Akt der Selbstkritik der spanischen Kultur und Gesellschaft des 16. Jahrhunderts. Zugunsten der hispanischen Haltung ist hervorzuheben, daß man nur selten in der Geschichte der Völker ein kollektives Ringen um eine Neubewertung der eigenen Interessen im Namen der Unparteilichkeit findet. Trotz der häufigen blutigen Übergriffe der Conquistadoren muß man daher sagen, daß die Annalen der Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie nur wenig enthalten, was der Bedeutung des theoretischen Denkens der hispanischen Klassiker für die Orientierung des praktischen Lebens im Hinblick auf den Kampf um Gerechtigkeit in Amerika vergleichbar wäre. Zwar verfiele man einem gefährlichen historischen Anachronismus, wollte man sich die Lehre der klassischen hispanischen Naturrechtler als ein hinreichendes, vollständiges Rezeptbuch für die Lösung der aktuellen rechtsphilosophischen Probleme vorstellen; genauso falsch wäre es aber, sie zu ignorieren. Die Geschichte im allgemeinen und damit auch die Ideengeschichte enthält kein für die Gegenwart und die Zukunft gültiges Bündel von Lösungen, aber sie gibt immerhin Auskunft über vergangene Erfolge und Irrtümer, und dieses Wissen ist das grundlegende Element der kulturellen, rechtlichen und politischen Erfahrung der Menschen und Völker. Aus dieser Überzeugung habe ich die vorliegende Untersuchung unternommen, im Bewußtsein der Unwiderruflichkeit der Vergangenheit, aber auch ihrer Auswirkungen auf unsere heutige Realität. Während meiner Lehr- und Wanderjahre, die frei nach Goethe jede geistige Biographie formen, hatte ich das Glück, von drei bedeutenden Historikern der Rechtsphilosophie lernen zu können: Guido Fassò, Enrique Luno Pena und Erik Wolf. Ihre historiographischen Vorstellungen waren zwar verschieden und vielleicht sogar gegensätzlich, aber sie alle besaßen die Fähigkeit, mir die Leidenschaft für die Geschichte des rechtlichen und politischen Denkens zu ver-
Vorwort
mittein. Der Hang zur Vergangenheit hat mich seitdem nie mehr verlassen, auch wenn ich mich später vorwiegend mit systematischen Aspekten der Menschenrechtstheorie oder mit gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen neuer Technologien beschäftigt habe. Ich nehme daher mit diesem Buch das Studium rechtsgeschichtlicher Themen mit neuem Elan wieder auf - vielleicht, weil mich das Neue überwältigt, das Alte aber begeistert. Ich will damit das Andenken meiner vorbildlichen und verehrten verstorbenen Lehrer ehren. Zugleich möchte ich meinen Dank auch in die Gegenwart ausdehnen: auf Antonio Truyol y Serra, von dem ich schon immer, besonders aber seit unserem Aufenthalt am Max-Planck-Institut in Heidelberg, wertvolle, großzügig gewährte wissenschaftliche Anregungen erhalten habe; und auf Ernesto Garzón Valdés, von dessen scharfsinnigen Überlegungen ich nicht nur viel gelernt habe, sondern der auch die hier vorliegende Arbeit zuerst vorgeschlagen und dann entscheidend angeregt hat.
Antonio-Enrique Pérez Luno
Inhaltsverzeichnis Kapitel I Die Wiederbegegnung von Spanien und A m e r i k a (1492-1992) aus rechtsphilosophischer Sicht I. II.
Spanien und Amerika: Begegnung, Trennung, Wiederbegegnung Erste Auswirkungen der Begegnung mit Amerika auf das rechtliche, ethische und politische Leben in Spanien
III.
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Die Begegnung zwischen Spanien und Amerika in der spanischen Rechtsund Staatsphilosophie des 16. Jahrhunderts
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Kapiteln Annäherung a n die klassische spanische Naturrechtslehre I. II.
Methodenfragen
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Namensfragen
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1. Bezeichnungen Catione loci'
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2. Bezeichnungen 'ratione temporis '
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3. Bezeichnungen 'ratione materiae'
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a) Theologen, Juristen und Philosophen
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b) Scholastische Erneuerung und religiöse Orden
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Kapitel III Die klassische spanische Naturrechtslehre i m Wechselbild der Geschichtsschreibung I. II.
Gab es eine "Spanische Naturrechtsschule"? Niedergang und Vergessenheit der klassischen spanischen Naturrechtler im 18. Jahrhundert
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Inhaltsverzeichnis
III.
Ehe liberale Interpretation des klassischen spanischen Naturrechtsdenkens im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
IV.
Vom Siegesrausch in die Krise: Die Geschichtsschreibung zum klassischen spanischen Naturrechtsdenken in der Franco-Zeit
V.
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Die Kritik am klassischen spanischen Naturrechtsdenken: Motive und Hauptvertreter
VI.
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78
Kritik der Kritik: Historische Rechtfertigung der spanischen Klassiker des Naturrechts
83
Kapitel IV Die klassische spanische Naturrechtslehre und ihre Ausstrahlung in die Gegenwart I.
Einführung
89
II.
Das ius communicationis
90
III.
Kommunikation und Paternalismus
91
IV.
lus communicationis und ideale Kommunikationsgemeinschaft
V.
Die klassischen spanischen Natuirechtler und die Rehabilitierung der praktischen Vernunft
VI.
.107
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Der klassische spanische Rechtsnaturalismus aus der Sicht der heutigen Rechtsphilosophie und -theorie
123
Kapitel V Die Reaktion der klassischen spanischen Naturrechtler auf die Begegnung mit Amerika I.
Amerika in und aus der Sicht der klassischen spanischen Naturrechtslehre . . . .
137
II.
Amerika im klassischen spanischen Rechtsnaturalismus
III.
Die klassische spanische Naturrechtslehre in Amerika .
140
IV.
Amerika aus der Sicht des Denkens der spanischen Natuirechtler: Die Probleme Spanisch-Amerikas und die Lehren der Klassiker
143
1. Die Suche nach einer kollektiven Identität
137
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Inhaltsverzeichnis
V.
2. Die Zivilgesellschaft ohne Staat
148
3. Strukturelle Gewalt
153
Die Klassiker am Scheideweg der Auseinandersetzung über Licht und Schatten der Begegnung mit Amerika
156
Kapitel VI Demokratie und Menschenrechte bei Bartolome de Las Casas I. II.
Gehalt und Interpretationen von Las Casas' Lehren Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus und ihr Einfluß auf das Denken von Bartolomé de Las Casas 1. Die voluntaristische Phase
III.
V. VI. VII. VIII. IX.
X.
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2. Naturalistische Ansätze
171
3. Die rationalistische Wendung
176
Die zwei Quellen der Freiheit bei Las Casas
179
1. Das Überdauern der mittelalterlichen Tradition
180
2. Die moderne Auffassung
182
3. Der Einfluß von Las Casas* Freiheitslehre auf die 'Kontroversen' IV.
163
.184
Die Freiheit in der Privatsphäre
187
Die politischen Freiheiten: Der Gesellschaftsvertrag
191
Gesetz und Freiheit
194
Demokratische Legitimierung der Macht und Volkssouveränität
196
Das Widerstandsrecht
198
De regia potestate : Höhepunkt der naturreditlichen Entwicklung bei Las Casas
199
Las Casas und die Menschenrechte
203
Kapitel VII Die Rechts- und Staatsphilosophie des Juan Gines de Sepulveda I.
Juan Ginés de Sepulvedas umstrittene Persönlichkeit
211
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Inhaltsverzeichnis
II.
Die Bedeutung des Aufenthalts in Bologna für seinen geistigen Werdegang
213
III.
Seine Theorie über die natürliche Knechtschaft der Indios
216
IV.
Ausgangspunkte für eine Gesamteinschätzung der Thesen Sepulvedas
226
Kapitel VIII Juan Roa Dâvilas demokratische Vorstellungen und die Rechtsordnung bei Francisco Suarez I.
Aktualität des Themas
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II.
Demokratische Kontrolle der Macht bei Roa Dâvila
233
III.
Die Rechtsordnung im ersten Buch von Suàrez* De legibus
Namenregister
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Kapitel I Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika (1492-1992) aus rechtsphilosophischer Sicht I. Spanien und Amerika: Begegnung, Trennung, Wiederbegegnung
Der unaufhaltsame Lauf der Zeit konfrontiert uns mit dem magischen Datum des fünfhundertsten Jahrestages der Begegnung der spanischen Kultur mit der der Völker Amerikas. Das gibt Anlaß zu einem ausgewogenen, vorwärtsschauenden Gedenken. Ganz und gar verfehlt würde dies, wollte man nun überhastet und undifferenziert zwischen rhetorischer Überhöhung und glatter Verdammung eines Geschehnisses pendeln, das fragwürdig geworden und außerordentlich komplex ist. Gewiß ist es völlig unangemessen, weiterhin blumige Elogen auf ein Ereignis auszubringen, das per Dekret als "glorreich" bezeichnet wurde; genauso unangemessen ist aber auch die verächtliche Verdammung einer Sache, von der man gar nichts weiß. Über Pro und Kontra der Ankunft in der Neuen Welt und ihrer Auswirkungen ist lange mit leidenschaftlichem Eifer debattiert worden. Es ist an der Zeit, aus einem gewissen Abstand zu einer gelasseneren Bewertung zu kommen und sich von vorurteilsbeladenen Positionen zu lösen, die durch Apologie oder Ressentiment das Verständnis behindern. Das Gedenken sollte auch nicht so dargestellt werden, als handele es sich um die Ausgrabung vergangener Ereignisse von rein retrospektivem Interesse. Das Aufeinandertreffen von Spanien und Amerika lebt in der kollektiven Erfahrung der Völker an beiden Küsten des Atlantik fort. Es ist keine Episode, sondern ein entscheidender Faktor in unseren Kulturen. Man kann folglich keine der Grundfragen, die sich aus diesem ersten Kontakt ergeben, behandeln, ohne alle historischen Umstände zu berücksichtigen. Das Verschmelzen der spanischen Kultur mit den amerikanischen Kulturen war kein Einzelereignis mit eng begrenzten, abgeschlossenen Auswirkungen, sondern der Beginn eines schwierigen Lebens in Gemeinschaft, dessen Möglichkeiten noch immer offen sind. Jeder Versuch, dieses historische Ereignis unter Mißachtung seiner Auswirkungen auf die Gegenwart und die Zukunft zu behandeln, wäre nicht nur blutleer, sondern auch wissenschaftlich falsch. Das Gegenteil, d. h. das Ersetzen der
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Kapitel I: Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika
rückschauenden Betrachtung durch eine vorwärtsblickende Annäherung, ist die beste Methode, mit dem Wissen über die Vergangenheit auch das Wissen über die Gegenwart zu fördern und die Zukunft zu skizzieren. Die Schwierigkeiten, die einer gelassenen und vorausschauenden Betrachtung des fünfhundertsten Jahrestages im Wege stehen, rühren nicht allein aus dem Vorurteil; sie entstehen auch aus der Bezeichnung des Ereignisses selbst. Die Wörter haben ihren wirksamen Sinn verloren. Wie bei allen Schlüsselereignissen jedes Kulturkreises werden mit der Zeit die Vokabeln, die sie bezeichnen, problematisch, unscharf und mißverständlich. Vielleicht wird daher heute der Ausdruck "Entdeckung Amerikas", der so lange das Ereignis bezeichnete, deswegen für unangemessen erachtet, weil er das Auffinden von etwas suggeriert, das man erahnt und sucht, wo doch die Neue Welt vor den Augen der Spanier als ein unerwarteter Kontinent im Westen auftaucht, während sie versuchen, einen kürzeren Weg nach Osten zu finden. Deswegen vielleicht wird als Alternative die Bezeichnung "Erfindung Amerikas"! vorgeschlagen, die ihrerseits Ratlosigkeit hervorruft und Präzisierung verlangt.2 Der Ausdruck "Eroberung Amerikas", der früher regelmäßig benutzt wurde,3 wird inzwischen für unzureichend für eine präzise Benennung des Beginns der 1
Der Bakkalaureus Andrés Bernâldez spricht in seiner Historia de los Reyes Católicos Don Fernando y Dona Isabel, die Anfang des 16. Jahrhunderts entstand und von der es eine moderne Edition in der Crònica de los Reyes de Castilla III, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 70, Madrid: Atlas 1953, gibt, von Christopher Kolumbus als dem "Erfinder Amerikas" (S. 679). Zur gleichen Zeit schrieb auch der Cordobeser Humanist Fernân Pérez de Oliva eine Historia de la Invención de las Yndias, von der eine von 7. J. Arrom besorgte kritische Edition vom Instituto Caro y Cuervo, Bogotâ 1965, vorliegt. Pérez de Oliva stellt darin fest, daß Kolumbus mit seinen Reisen "jenen fremden Gebieten die Form des unsrigen geben" wollte (S. 54). In der heutigen Zeit wurde die Bezeichnung, die unterstreicht, daß Amerika weniger eine Entdeckung als eine Erfindung der Europäer des 16. Jahrhunderts war, von Ε. Ο'Gorman, La invención de América, Mexiko-Stadt: FCE 1958 (engl.: The Invention of America, Bloomington: University of Indiana Press 1958), benutzt. 2 José Antonio Maravaü hat darauf hingewiesen, daß der Ausdruck "Erfindung" zu der Zeit, als die ersten Chronisten Amerikas ihn benutzten, etwas anderes bedeutete als heute. Trotzdem meint er aber, daß das Wort heute wie damals etwas anderes meint als ein blindes, zufalliges Aufetwasstoßen: "Erfinden bedeutet, etwas zu finden, was man sucht und auf das man stößt, heißt, es zu durchdringen, es zu 'sehen', und jedes Sehen ist in gewissem Maße ein Ausarbeiten dessen, was man vor sich hat"; vgl. El Descubrimiento de América en la Historia del Pensamiento Politico, in: ders., Estudios de Historia del Pensamiento Espanol, Serie Segunda: La Epoca del Renacimiento, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1984, S. 426. Der Gedanke der "Erfindung" gebe auch die große Hoffnung der Renaissance wieder, auf rationale Weise ein Bild der Wirklichkeit zu erstellen. Für Maravall bot daher Amerika den Spaniern "die größten Möglichkeiten, eine Welt mit Geschick und Vernunft zu errichten" (ebd. S. 419). 3 Zur Verbreitung dieser Bezeichnung haben die umfassende Untersuchung von Venancio Carro , La Teologia y los teólogos espanoles ante la Conquista de América, 2 Bde., Madrid: Publicaciones de la Escuela de Estudios Hispano-Americanos de la Universidad de Sevilla/Consejo Superior de
I. Spanien und Amerika: Begegnung, Trennung, Wiederbegegnung
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Beziehungen zwischen Spaniern und amerikanischen Ureinwohnern gehalten. In diesem Zusammenhang wurde etwa darauf hingewiesen, daß man kaum genau sagen kann, wann eigentlich die Eroberung begann, da diese - so seltsam uns dies auch scheinen mag - weder vorgesehen war noch geplant oder auch nur erahnt wurde. Die spanische Präsenz in Amerika begann angesichts der friedlichen, zuvorkommenden Haltung der Indios unter den günstigsten Vorzeichen. Anläßlich der ersten Kontakte dachte man noch nicht an irgendeine Form territorialer Herrschaft im später durchgesetzten Sinne. Die ersten Niederlassungen waren dazu gedacht, zu den Ureinwohnern freundschaftliche Handelsbeziehungen zu knüpfen. Daß diese Haltung später zugunsten des Eroberungskrieges aufgegeben wurde, geschah auf persönliche Initiative. Die spanische Krone wird daher mit den ersten Nachrichten über Eroberungszüge vor vollendete Tatsachen gestellt, die sie weder befohlen hatte noch vorhersehen konnte. Von diesem Moment an bemüht sie sich, das Phänomen mit rechtlichen Mitteln einzudämmen, um Untaten zu verhindern, wobei sie sich bewußt ist, daß bei dieser Frage die moralische und historische Verantwortung auf dem Spiel steht.4 In den 1573 von Philipp II. erlassenen Ordenanzas generates sobre las Indias hieß es eindeutig und bestimmt: "Die Entdeckungen sollen nicht unter dem Namen der Eroberung gemacht werden; da sie mit der von uns gewünschten Friedlichkeit und Rücksicht erfolgen sollen, wollen wir nicht, daß der Name Anlaß dazu geben könnte, den Indios Gewalt oder Unrecht anzutun." Daß die Taten nicht immer diesen Vorgaben entsprachen, beeinträchtigt nicht die Korrektheit der Absicht. Investigaciones Cientificas 1944, sowie die wichtigen Beiträge von L. Hanke, The Struggle for Justice in the Spanish Conquest of America, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1949, und Silvio Zavala , La Filosofia Politica en la Conquista de América, Mexiko-Stadt: FCE 1947, entscheidend beigetragen. 4 Vgl. D. Ramos, Estudio Preliminar zu dem Sammelband La Etica en la Conquista de América, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1984, S. 17 ff. Immerhin ist aber anzumerken, daß der Ausdruck "Eroberung" um die Mitte des 16. Jahrhunderts von den ersten Chronisten der amerikanischen Ereignisse benutzt wurde. Dies gilt beispielsweise für Francisco de Jerez , der 1534 in Sevilla seine Verdadera relación de la Conquista del Peru y Provincia del Cuzco veröffentlichte (wiederabgedruckt in Historiadores de Indias II, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 26, Madrid: Atlas 1947, S. 319 ff.). Francisco Lopez de Gómara benutzte den Ausdruck im Titel seiner Conquista de México, Zweiter Teil seiner Historia General de las Indias (1552), (wiederabgedruckt in Historiadores de Indias I, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 22, Madrid: Atlas 1946, S. 269 ff.). Auch Bernai Diaz del Castillo gebrauchte die Vokabel in seiner Entgegnung auf das Werk von Lopez de Gómara, die er Verdadera Historia de los sucesos de la conquista de la Nueva Espaüa nannte, die 1568 entstand und 1632 zum ersten Mal gedruckt wurde (wiederabgedruckt in Historiadores de Indias II, S. 1 ff.). Und schließlich brachte Agustin de Zàrate 1555 in Antwerpen eine Historia del Descubrimiento y Conquista del Perù heraus (wiederabgedruckt in Historiadores de Indias II, S. 459 ff.). 2 PérezLuno
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Kapitel I: Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika
Auch andere Bezeichnungen sind allzu undifferenziert, wenn sie etwa die koloniale Dimension der spanischen Präsenz in der Neuen Welt ("Kolonisierung Amerikas"5) und deren Beitrag zur Gestaltung des Bildes vom imperialen Spanien (das "spanische Imperium in Amerika"6) betonen, diese im Namen ihres Beitrags zur Zivilisierung und ihres missionarischen Eifers zu rechtfertigen versuchen ("Evangelisierung Amerikas"7) oder umgekehrt ihre negativen Aspekte herausstellen, um ihre unterdrückerischen Züge ("Unterwerfung Amerikas"8) oder gar die Vernichtung anzuprangern ("Zerstörung Amerikas"^). Um Mißverständnisse zu vermeiden, scheint es daher besser, eine deskriptive Bezeichnung zu wählen: "Begegnung zwischen Spanien und Amerika". Sie gibt ohne voreingenommene Weitung die Tatsache des Zusammentreffens der beiden Kulturen und den Beginn ihrer Vermischung und ihres gemeinsamen Lebens wieder. Jene Begegnung, die von einem ihrer ersten Chronisten als "das größte Ereignis seit Erschaffung der Welt" begrüßt wurde,10 entfaltete sich, wie jede in Raum und Zeit ausgedehnte menschliche Erfahrung, zu einem komplexen Geflecht von Eintracht und Zwietracht. Darüber zu urteilen ist hier nicht derrichtigeOrt. Es sei nur in Erinnerung gerufen, daß mit der Spannung zwi5 Zu denen, die zur Hervorhebung des Kolonialaspekts des amerikanischen Unternehmens beigetragen haben, gehört neben vielen anderen Fernando de los Rios, Espana en la època de la colonización ameriana, in: ders., Religion y Estado en la Espana del siglo XVI, Mexiko-Stadt: FCE 1957, S. 131 ff., und Joseph Höffher, Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im goldenen Zeitalter, Trier: Paulinusverlag 1947. 6 Salvador de Madariaga gebrauchte diese Bezeichnung in seinen Werken El auge del Imperio espanol en América, Buenos Aires: Sudamericana 1955, und El ocaso del Imperio espanol en América, Buenos Aires: Sudamericana 1955; ebenso C. H. Haring , The Spanish Empire in America, 2. Aufl., New York: Hartcourt 1963. 7 Vgl. in diesem Sinne die Arbeiten von P. Borges, Métodos misionales en la cristianización de América. Siglo XVI, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1960, und ders., Misión y civilización en América, Madrid: Alhambra 1986. Vgl. auch die Beiträge in den neueren Sammelbänden Los Dominicos y el Nuevo Mundo, Actas del Congreso Internacional de Sevilla, 21-25 April 1987, Madrid: Deimos 1988, und Los Franciscanos en el Nuevo Mundo, Actas del Congreso Internacional de La Ràbida, 21-26 September 1987, Madrid: Deimos 1988. In deutscher Sprache vgl. Rudolf Grossmann, Das Erbe der Mönche und Conquistadoren, in F. Wehner (Hg.), Idee und Wirklichkeit in Iberoamerika. Beiträge zur Politikgeschichte, Hamburg: Institut für Iberoamerika-Kunde 1969, S. 13 ff. 8 Vgl. statt vieler Manuel Orozco y Berrà , Historia de la dominación espanda en México, Mexiko-Stadt: Porrua 1938, und M. Mànica , La gran controversia del siglo XVI acerca del dominio espanol en América, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1952. 9 Bartolomé de Las Casas war der erste, der diesen Ausdruck benutzte; vgl. seine Brevisima relación de la destrucción de Indias (1552), in: Obras escogidas de fray Bartolomé de Las Casas, Bd. V, hg. von J. Pérez de Tudela, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 110, Madrid: Atlas 1958, S. 134 ff. 10 Francisco López de Gómara , Historia General de las Indias (zit. Anm. 4) S. 156.
I. Spanien und Amerika: Begegnung, Trennung, Wiederbegegnung
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sehen Spanien und Amerika, die zu den Revolutionen führte, die schließlich in der Unabhängigkeit der verschiedenen hispano-amerikanischen Republiken gipfelten, auch ein Prozeß der Entfernung von dem begann, was die Kolonialzeit dargestellt hatte. Esfindet ein Prozeß der Trennung - der "Ent-Gegnung" statt. Die Völker Amerikas machen sich von Spanien und besonders von seiner Kultur los, drehen ihr den Rücken zu und betrachten alles, was an die Vergangenheit erinnert, mit Mißtrauen und Feindschaft. Mit Ortega kann man jedoch sagen, daß die neuen Nationen Amerikas einmal Spanien gewesen sind, und was man einmal gewesen ist, das bleibt man unausweichlich für immer, sei es auch nur in jener besonderen Form des "Gewesenseins". Das Spanien, das Amerika einmal war, lebt also - ohne daß man sich dessen bewußt sein müßte - in dessen innerstem Sein weiter. Dort wirkt es fort, auch wenn weite Teile der hispanoamerikanischen Gesellschaften sich bewußt und entschieden jedem spanischen Einfluß zu entziehen versuchen. 11 Spanien hat mehr als ein Jahrhundert lang seinen Einfluß auf die Brudernationen behalten, wenn auch auf weniger deutliche, eher unterschwellige, diffus-osmotische Weise. Denn "die zwischen den Nationen Zentral- und Südamerikas und Spanien bestehende Gemeinschaft ist eine Realität, die jenseits jeden Willens oder jeder Laune weiterlebt, die sie bestreiten oder zerstören will". 12 Die Völker mit spanischer Sprache, spanischem Blut und spanischer Vergangenheit können auf dieses Erbe nicht verzichten, ohne einen Teil ihrer selbst aufzugeben. Die Brise, die die Segel derer blähte, die sich von La Ràbida aus Ende des 16. Jahrhunderts ins amerikanische Abenteuer stürzten, führte tatsächlich zur "erstaunlichsten Begegnung unserer Geschichte".13 Beim Zusammentreffen der westlichen Kultur mit den Bewohnern anderer exotischer Regionen in Afrika, Indien oder China gibt es dieses ungeheure Staunen nicht, weil die Europäer von deren Existenz schon immer wußten. Selbst die Ankunft des Menschen auf dem Mond hat, obwohl die Entfernung doch viel größer ist als nach Amerika, keine kulturelle Erschütterung hervorgerufen, weil damit nicht das Auffinden neuer Kulturformen verbunden war. Man hat diesbezüglich festgestellt, daß 11
Ich denke, man kann die Beobachtungen, die José Ortega y Gasset 1939 in seinem Beitrag En la Institución Cultural Espanola de Buenos Aires in Obras Complétas, Madrid: Alianza/Revista de Occidente 1983, Bd. 6, S. 237 f., im Hinblick auf Argentinien machte, durchaus auch auf die anderen hispanoamerikanischen Länder verallgemeinern. 12 Ebd. S. 241. 13 So nennt es Tzvetan Todorov , La conquête de l'Amérique, la question de l'autre, Paris: Seuil 1982, zitiert nach der deutschen Ausgabe Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, hier S. 12.
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Kapitel I: Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika
"die Ankunft auf dem Mond die Folge großer wissenschaftlicher Erkenntnis und einer enormen technischen Entwicklung ist, während die Entdeckung Amerikas ein Produkt des Zufalls, der Vorstellungskraft und des Abenteuers war". Die Ankunft in Amerika bedeutete den Bruch mit allen geistigen Vorstellungen der Zeit. Es war ein Ereignis, das ganz entscheidend dazu beigetragen hat, die anthropozentrische, säkularisierende humanistische Bewegung der Kultur der Renaissance zu stärken. Die vom Mittelalter übernommene Vorstellung von der Welt brachte wissenschaftliche und geographische Daten in eine unauflösliche Einheit mit den theologisch-religiösen Glaubenssätzen. Das Aufbrechen eines Teils dieser Einheit stellte daher alle anderen Teile in Frage. Dieses Phänomen einer kulturellen Revolution ist also mit der Ankunft auf dem Mond gar nicht vergleichbar, bei der doch "das einzige, was man erwartete, die Bestätigung wissenschaftlicher Vorhersagen" war. 14 Aus diesem Grund auch ist die Behauptung zulässig, daß im Hinbück auf die kulturelle Konfrontation "die Begegnung nie wieder eine solche Intensität erlangen sollte".15 Die "Begegnung" Spaniens und Amerikas ist aber nicht nur das, was sie für die Zeitgenossen war; sie ist auch gelebter Teil und Verantwortung der Gegenwart. Ein angemessener Beitrag zur Begehung ihres fünfhundertsten Jahrestages darf sich um eine Reflexion beider Projektionen nicht herumdrücken.
Π . Erste Auswirkungen der Begegnung mit Amerika auf das rechtliche, ethische und politische Leben in Spanien
Darzustellen, was die Begegnung zwischen Spanien und Amerika für das Geistesleben der damaligen und unserer Zeit bedeutet(e), ist eine philosophische Aufgabe, sofern man von der bekannten Hegeischen These ausgeht, daß die Philosophie "ihre Zeit in Gedanken erfaßt". 16 Wir verdanken es Hegel, daß er die Geschichtsphilosophie als philosophische Geschichte, d. h. als rationale Erklärung der Existenz, die den universalen und konkreten Sinn der menschlichen Ereignisse erkundet, vorangetrieben hat.17 Dieses Bemühen darum, den Sinn des Werdens von Erfahrung zu enthüllen, das die bloße Aggregation von Daten übersteigt, ist in der historiologischen Betrachtung der Neuen Welt von Anfang an vorhanden. Der Jesuit José de Acosta, Professor an der Universität 14
J. L. Abellàn , La idea de América, Madrid: Istmo 1972, S. 27. 15 Ebd. 16 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Rechtsphilosophie, Vorrede. 17 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung.
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von Lima und später Rektor des Jesuitenkollegs in Salamanca, weist 1590 zur Rechtfertigung seiner Historia natural y moral de las Indias in der Vorrede darauf hin, daß "[ü]ber die Neue Welt und Westindien ... viele Autoren eine Reihe Bücher und Berichte geschrieben [haben], in denen sie von den neuen, seltsamen Dingen Kunde geben, die man in jenen Gegenden entdeckt hat, und von den Ereignissen und Vorfällen bei den Spaniern, die sie erobert und bevölkert haben. Bis jetzt aber habe ich noch keinen Autor gesehen, der versucht hätte, die Ursachen und Gründe für alle diese Neuheiten und Seltsamkeiten der Natur zu erklären, oder der auch nur darüber sprechen und forschen würde ..."18 Acosta erkennt - in einer Eingebung, die um Jahrhunderte das Umfeld der Hegeischen These vorwegnimmt - die Neuheit seines Werkes darin, was es an philosophischer Erklärung der Geschichte enthält: "... weil es zugleich Geschichte und zum Teil Philosophie ist, und weil es nicht nur von den Werken der Natur handelt, sondern auch von denen des freien Willens, welche nämlich die Taten und Sitten der Menschen sind". 19 Um den historischen Sinn der "Taten und Sitten der Menschen" zu verstehen, die das vor inzwischen fünfhundert Jahren vorgefallene Ereignis erlebt und/oder mitgestaltet haben, ist eine Denkanstrengung erforderlich. Die Tatsache, daß die Begegnung mit der amerikanischen Wirklichkeit unerwartet war, erklärt selbst schon die Schwierigkeiten der damaligen Spanier, damit umzugehen und sie zu analysieren. Auf geographischer Ebene zwingt die Ankunft auf dem bis dahin ungeahnten amerikanischen Kontinent zur Revision des gesamten traditionellen europäischen Weltbildes. Nicht weniger drastisch war der Einfluß jener neuen Realität auf das kulturelle Leben. Das Repertoir der juristischen und politischen Ideen der Generation von 1492 enthielt keine Kategorien, in denen man die Probleme, die sich aus der Begegnung mit der Neuen Welt und ihren ursprünglichen Bewohnern ergaben, hätte angemessen erfassen können. Erste Interpretationsversuche verfallen daher in den naiven Anachronismus, die neue Wirklichkeit mit Hilfe von Begriffen traditioneller Herkunft zu behandeln. So wollte man etwa auf die neu entdeckten Gebiete die Bestimmungen der Partidas - Ausdruck der mittelalterlichen Rechtskultur - für die Ersitzung von Territorien und Inseln ohne Besitzer a n w e n d e n . 2 0 Die Erforschung 18 J. de Acosta , Historia natural y moral de las Indias, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 73, Madrid: Adas 1954, S. 3. 19 Ebd. S. 4. 20 In den Siete Partidas [von Alfons X. dem Weisen erlassenes Gesetzeswerk; d. Ü.] war vorgesehen, daß im Falle des Auffindens oder Entstehens einer neuen Insel im Ozean "sie dem gehören soll, der sie zuerst bewohnt" (Gesetz XIX, Titel XXVIII, 3). Im Falle von bewohnten Gebieten durfte die Herrschaft nicht durch Eroberung gewonnen werden, sondern durch Zustimmung ihrer
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Kapitel I: Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika
Amerikas zeigte jedoch von Anfang an, daß "Spanien ... keinen leeren Kontinent [vorfand]. Sein Handeln mußte daher politisch sein, bezogen auf andere in Gesellschaften zusammengeschlossene Menschen, seien diese umherziehende Stämme ... oder entwickeltere Reiche wie die der Azteken oder der Inkas".21
Die Berücksichtigung des rechtspolitischen Status der neu entdeckten Völker findet sich schon seit Beginn des 16. Jahrhunderts in den Überlegungen zweier Universitätslehrer: Juan López de Palacios Rubios, Professor für Kanonisches Recht an der Universität von Salamanca und Verfasser des Tractatus insularum maris Oceani et de Indis in servitutem non redigendis, und Matias de Paz, D minikaner und Professor de prima an der Universität von Valladolid, dem wir das Buch De dominio Regum Hispaniae super Indos v e r d a n k e n . 2 2 Beide gehen von der Universalität des auf der Natur des Menschen beruhenden Naturrechts aus und gelangen so zur Anerkennung der Freiheit der Indios und zur Verurteilung ihres V e r s k l a v u n g . 2 3 Sie knüpfen diese Freiheit allerdings an die Annahme des christlichen Glaubens nach entsprechender Aufforderung. Diese Lehren beeinflußten das unter der Bezeichnung Requerimiento ("Aufforderung") berühmt gewordene Rechtsdokument. Es handelt sich dabei um ein Instrument, das die Besetzung amerikanischer Gebiete durch die Spanier legitimieren sollte. Eingeführt wurde es von der Junta von Valladolid von 1513, und an seiner Ausarbeitung und Redaktion hatte Palacios Rubios aktiv teilgenommen. Das Requerimiento nahm seine Inspiration aus der biblischen Erzählung von der Eroberung des "gelobten Landes" durch die Israeliten. Nach dem Alten Bewohner, durch Heirat oder Erbe oder durch Verleihung durch den Papst oder den Kaiser (Gesetz DC, Titel I, 2). Vgl. zum Fortbestehen mittelalterlicher Kategorien in der Behandlung der amerikanischen Wirklichkeit meine Arbeit Democracia y derechos humanos en Bartolomé de Las Casas, Vorstudie zum Traktat De Regia Potestate, in: Bartolomé de las Casas, Obras Complétas, Bd. 12, Madrid: Alianza, S. XV ff., jetzt Kap. VI des vorliegenden Buches. 21 S. Zavala , La defensa de los derechos del hombre en América Latina (si gl os XVI-XVII), Mexiko-Stadt: UN AM/UNESCO 1982, S. 11 f. 22 Die Werke wurden in spanischer Sprache herausgegeben von Silvio Zavala und Agustin Miliares Carlo: J. Lopez de Palacios Rubios, De las Isias del Mar Ocèano, und Fray M. de Paz , Del dominio de los Reyes de Espana sobre los indios, Mexiko-Stadt: FCE 1954. 23 Dies hat dazu geführt, daß Palacios Rubios als der erste Abolitionist Amerikas bezeichnet wurde; vgl. Vicente de la Fuente, Palacios Rubios. Su importancia juridica, politica y literaria, in: Revista de Legislación y Jurisprudencia 1869 (Sonderdruck) S. 36. Vicente Beltràn de Heredia, Un precursor del Maestro Vitoria: el padre Matias de Paz, Ο. P., y su Tratado De dominio Regum Hispanae super Indos, in: La Ciencia Tomista XL (1929) S. 173 ff., sah in den Lehren von Pater Matias de Paz die Vorwegnahme der später von Francisco de Vitoria vertretenen Ansichten über die Freiheit der Indios. Zum Denken von Palacios Rubios und von Pater Matias de Paz vgl. auch den Aufsatz von A. Truyol Serra, The Discovery of the New World and International Law, in: The University of Toledo Law Review 1 und 2 (1971), monographische Nummern In Memoriam Profesor Josef L. Kunz, S. 315 ff., den mir der Verfasser liebenswürdigerweise überlassen hat.
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TestamentrichteteJosua an die Götzenanbeter, die Jericho bewohnten, die "Aufforderung", das Land, das Gott dem hebräischen Volk versprochen hatte, zu übergeben. Genauso könnten die Spanier mit Recht die Indios dazu auffordern, ihr Land abzutreten, da ja Papst Alexander VI. als Stellvertreter Gottes auf Erden durch die Bulle Inter caetera aus dem Jahre 1493 der spanischen Krone diese Gebiete übertragen hatte. Die Praxis des Requerimiento bestand darin, daß in Anwesenheit von Zeugen und eines Notars ein Dokument verlesen wurde, in dem man die Indios aufforderte, die Souveränität der spanischen Krone anzuerkennen und den christlichen Glauben anzunehmen. Leisteten sie dem Requerimiento Folge, so wurden sie als freie Untertanen der spanischen Könige angesehen und durften ihren Besitz behalten; lehnten sie es ab, so war man frei, ihre Unterwerfung auf dem Wege des Krieges herbeizuführen.24 Die Einrichtung des Requerimiento ruft heute noch ebensolche Verblüffung hervor wie schon zu Zeiten ihrer Entstehung. Eine ganze Reihe von Einwänden lassen sich dagegen vorbringen: daß es die faktische Absegnung der Ungleichheit zwischen denen, die es aufzwangen, und denen, die ihm Folge leisten mußten, war, und daß es für letztere eine Art Vertrag über einen Zwangsbeitritt darstellte, der nichts anderes als die Unterwerfung gestattete; daß es zu dem Widerspruch führte, die befreiende Botschaft des Evangeliums mit Hilfe der zwangsweisen Durchsetzung des christlichen Glaubens verkünden zu wollen; daß es von der illusorischen Vorstellung ausging, seine Adressaten könnten seinen Sinn voll und ganz verstehen; und daß es letztlich nichts anderes war als ein Alibi, um die Untaten der Conquistadoren zu decken, die ganz bewußt auf Übersetzer und jegliche Mittel zur Förderung der Verständigung verzichteten, um so ihre Unterwerfungsunternehmungen zu erleichtern.25 Bartolomé de las Casas, einer der ersten und entschiedensten Kritiker des Verfahrens, bezeichnete es als "unrecht, gottlos, skandalös, irrational und absurd", da man nicht wisse, ob es "zum Lachen oder zum Weinen" sei. 26 Um seine Meinung zu stützen, bezieht er sich auf das Zeugnis des Bakkalaureus 24
Vgl. L Hanke, The 'Requerimiento' and its Interpreters, in: Revista de Historia de América Nr. 1 (1938) S. 25 ff.; J. Manzano, La incorporation de las Indias a la Corona de Castilla, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1948, S. 37 ff.; F. Morales Padrón , Teoria y leyes de la conquista, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1979, S. 33 ff. 25 Vgl. T. Todorov (zit. Anm. 13) S. 177 ff. 26 B. de Las Casas, Historia de las Indias, Buch II, Kap. LVIII, in: Obras escogidas de fray Bartolomé de Las Casas, hg. in fünf Bänden von J. Pérez de Tudela , Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 96, Madrid: Adas 1957, S. 312.
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Kapitel I: Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika
Anciso,27 der berichtet, ein Kazike der Provinz Cenu (im heutigen Kolumbien) habe auf das Requerimiento geantwortet, der Papst müsse nicht bei Sinnen gewesen sein, als er dem König von Kastilien diese Länder übertrug, denn er habe ja etwas weggegeben, was ihm gar nicht gehörte, und auch der König von Kastilien müsse verrückt gewesen sein, eine solche Gabe anzunehmen, "und [es sei] eine große Schuld, zu kommen oder Leute zu schicken, umfremde Reiche zu besetzen, die von den seinen so weit entfernt sind".28 Im Requerimiento lebte die legalistische Auffassung des Mittelalters weiter, die ein direktes Erbe desrituellenFormalismus desrömischenRechts war. Es zeigt aber auch gewissen rechtsethische Überlegungen und Absichten, die die Moderne ankündigen; letztlich enthält es das Bewußtsein von den Rechten der Indios sowie die Absicht der Spanischen Krone, Gewalt und Krieg zu verhindern.^
Π Ι . Die Begegnung zwischen Spanien und Amerika in der spanischen Rechts- und Staatsphilosophie des 16. Jahrhunderts
Geht man von den ungeheuren Folgen des Phänomens aus, mit denen es die Spanier zu tun hatten, so muß man die anfänglichen Schwierigkeiten und Unsicherheiten der spanischen Kultur des 16. Jahrhunderts bei einer angemessenen begrifflichen Einordnung der amerikanischen Realität als ganz normal erachten. Aus dieser Bemerkung läßt sich jedoch nicht schließen, daß das historische Bewußtsein vom Ausmaß der Revolution in den Lebensformen und Glaubenssätzen, die das amerikanische Ereignis unweigerlich ankündigte, oder die Fähigkeit zu ihrem Verständnis gefehlt hätten. Wir haben zahlreiche Zeugnisse aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die zeigen, daß für die klarsichtigsten Denker der Zeit Amerika schon nicht mehr nur ein physischer, sondern zunehmend auch ein geistiger Raum ist. Ich kann daher der Einschätzung von José Antonio Maravall nicht zustimmen, der behauptet, er habe "keinen politischen Denker entdeckt, der in der Lage gewesen wäre, die neuen Gegebenheiten systematisch und klar darzustellen, der also hinsichtlich der neuen Lage, die sich im Reich von Kastilien durch die Einverleibung der überseeischen Gebiete ergab, so etwas gewesen wäre, wie wenige Jahre zuvor Machiavelli hinsichtlich der neuen 27 Der Bakkalaureaus Anciso, auf den Las Casas Bezug nimmt, war Martin Fernandez de Enciso, der 1519 in Sevilla eine Suma de Geografia veröffentlichte, in der er die von Las Casas angeführte Begebenheit berichtet. 28 Ebd. S. 310. 29 Vgl. D. Ramos (zit. Anm. 4) S. 41 ff.
III. Rechts- und Staatsphilosophie des 16. Jahrhunderts
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Staatsform in Europa oder einige Jahre später Locke hinsichtlich der englischen Revolution".30 Wie jede kategorische Behauptung verlangt auch diese sogleich nach Differenzierungen, die ihren Geltungsbereich abstecken. Die erste davon bezieht sich auf die ganz andere Tragweite der Begegnung mit der Neuen Welt, die ja nicht nur einen Wandel in der Vorstellung von den Formen des politischen Zusammenlebens bedeutete, sondern vielmehr allen Aspekten des Daseins eine ganz neue kosmische Dimension verlieh. Daher blieb im Spanien des 16. Jahrhunderts die Reflexion über das amerikanische Phänomen nicht auf die Spekulation eines aufgeklärten Geistes oder auf eine Gruppe beunruhigter Intellektueller und noch nicht einmal auf eine Debatte zwischen den einflußreichen Universitäten der damaligen Zeit beschränkt. Es war ein Phänomen, das über den Bereich der Studierstuben und Hörsäle hinaus alle denkenden Geister der Epoche interessierte, von der Krone bis zur Masse der Spanier und von denen, die in Amerika ein neues Gelobtes Land voller Möglichkeiten sahen, bis zu denen, die sich ernsthaft nach der Legitimität der spanischen Präsenz in jenen Ländern fragten. Es handelte sich also um eine vielgestaltige Debatte, die sich auf verschiedenen Ebenen und ausgehend von ganz unterschiedlichen Fragestellungen entwickelte. Zugleich gab es aber auch gemeinsame Bezugspunkte, die diese Vielfalt von Aspekten und Herangehensweisen an das amerikanische Phänomen zusammenhielten und wie ein Leitfaden durchzogen. Ich will versuchen, diese Faktoren zu benennen und auf den Kontext, den Gegenstand und die Protagonisten der jeweiligen Fragestellungen zunickzuführen. (1) Hinsichtlich der Atmosphäre, in der die Diskussion über die amerikanischen Angelegenheiten ablief, ist zu sagen, daß sie von Anfang an in einem geistig freien und offenen Klima stattfand. Einer der besten Historiker, die wir derzeit zu dieser Epoche haben, Lewis Hanke, bemerkte dazu: "Der Forscher, der das Glück hat, im Indien-Archiv zu arbeiten, stellt sehr schnell fest, daß die Spanier des 16. Jahrhunderts in Amerika nicht nur sehr viel schrieben und ausführliche Berichte abfaßten, sondern daß sie ihre Meinung auch erstaunlich frei zum Ausdruck brachten."3i Diejenigen, die sich auf beiden Seiten des Atlantik - in Hunderten von Denkschriften, Berichten, Meldungen und Briefen voller Ratschläge, Ermahnungen, 30 J. A. Maravall, El Descubrimiento de América en la Historia del Pensamiento Politico (zit. Anm. 2) S. 401. 31 L· Hanke , La lucha por la justicia en la conquista de América (zit. Anm. 3) S. 77.
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Kapitel I: Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika
Beschwerden und auch Drohungen - zu Amerika äußern, tun dies ganz freimütig und ohne Umschweife. Die freie Meinungsäußerung und Beschwerdeführung über die Vorgänge in Amerika ging sogar so weit, daß die Gegner Spaniens später die Untaten und Grausamkeiten der Conquista anführen konnten, indem sie Schriften von Spaniern selbst zitierten und so die Grundlagen für die "schwarze Legende" legten. 32 Trotz der ungeheuren Macht der Könige und der Bedrohung durch die Inquisition zögerten die treuen Untertanen der Krone Spaniens nicht, ihre Beurteilung der Vorgänge in Amerika vorzutragen. Mehr noch: Die Könige duldeten die öffentlichen Auseinandersetzungen nicht nur, sondern förderten sie sogar, wie es die Juntas bzw. Controversias von Valladolid von 1550 zeigen. 33 So war es die Sensibilität des Herrschers für die wichtigsten rechtsethischen Aspekte dieser Debatte, die Karl V. zu dem veranlaßte, was man den "indianischen Zweifel" genannt hat, also zu der Überlegung, ob man die "westindischen" Gebiete nicht aufgeben sollte.34 Es läßt sich in der Geschichte kaum ein anderes Beispiel für die Freiheit der Meinung und die Duldung von den eige32 Ebd. S. 94. Zur freien Meinungsäußerung und Kritik an den Herrschenden im Spanien des 16. und 17. Jahihunderts vgl. das Buch von Antonio Ruiz de la Cuesta, El legado doctrinal de Quevedo. Su dimensión politica y filosófico-juridica, mit einem Vorwort von A. E. Pérez Lutto , Madrid: Tecnos 1984, S. 142 ff. Siehe auch u. a. die Werke von José Luis Berme jo, Mäximas, principios y simbolos politicos, Madrid: Centro de Estudios Constitucionales 1986, S. 84 ff.; Antonio Domtnguez Ortiz, El Antiguo Régimen: Los Reyes Católicos y los Austrias, in der Reihe Historia de Espana Alfaguara, Bd. III, 3. Aufl., Madrid: Alianza 1976, S. 213 ff.; José Antonio Maravall, La oposición politica bajo los Austrias, Barcelona: Ariel 1974, S. 50 ff. Zu den institutionellen Aspekten, in denen sich die Beschränkung und demokratische Kritik an den Machthabenden damals widerspiegelte, vgl. statt vieler das Buch von José M. Garcia Marin , La burocracia castellana bajo los Austrias, 2. Aufl., Madrid: Institute Nacional de Administración Publica 1986, S. 17 ff, 93 ff. und 249 ff. 33 Vgl. zu diesen Disputen meine Arbeit Democracia y derechos humanos en Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 20) S. XVII ff. Vgl. L Pena, La Escuela de Salamanca y la duda indiana, in dem Sammelband La Etica en la Conquista de América (zit. Anm. 4) S. 291 ff.; P. Borges, Posturas de los misioneros ante la duda indiana, in: ebd. S. 597 ff. Es wäre ein großer historischer Irrtum zu glauben, daß die Haltung der Krone eine spontane und nicht von dem Geistesklima an den Universitäten und den Berichten derer beeinflußt war, die wie Las Casas direkte Zeugen der in Amerika verübten Verbrechen waren. Ein eindeutiger Beleg dafür, daß die Einstellung der Krone vor dem Wirken dieser Einflüsse eine ganz andere gewesen war, ist der Protest von Kaiser Karl V. an den Pater Nicolâs de Santo Tomäs, Prior des Stephans-Klosters in Salamanca, in einem Brief aus Madrid vom 10. November 1539. In diesem Schreiben beschwert sich der Kaiser darüber, daß mehrere in diesem Kloster lebende Dominikaner-Dozenten Lehren verbreitet bzw. Denkschriften veröffentlicht hätten, in denen die Rechte des Königs über Amerika in Frage gestellt würden. Hieraus könnten sich, so der Kaiser weiter, schwere Schäden für den Dienst an Gott, für die Autorität des Papstes, der diese Rechte gewährt habe, und für das Ansehen der Krone ergeben. Vgl. C. Barcia Trelles, Interpretation del hecho americano por la Espana universitaria del siglo XVI, Montevideo: Institución Cultural Espanola del Uruguay 1949, S. 70 f.
III. Rechts- und Staatsphilosophie des 16. Jahrhunderts
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nen Interessen entgegengesetzten Thesen seitens der politischen Macht finden, das mit der Haltung der spanischen Könige bezüglich der Probleme Amerikas vergleichbar wäre. Zu unterstreichen ist, daß diese Haltung der Krone weder spontan noch auf Einzelfälle beschränkt und ungewöhnlich war. Im damaligen Spanien zeigten sich verschiedene Impulse, die zu einer solchen Einstellung führten. Die Existenz eines demokratischen Ferments begünstigte die freimütige Diskussion solcher Probleme. Auf institutioneller Ebene sind die mittelalterlich-spanische Tradition der Freiheitsprivilegien, die Kontrollfunktionen der Cortes und die Folgen des zeitgleich mit den Ereignissen in Amerika stattfindenden Volksaufstandes der Comuneros nicht zu v e r g e s s e n . 3 5 Zugleich förderte auf der Ebene der Ideen die Verbreitung der - durch die humanistischen Impulse der Renaissance erneuerten - rationalistisch-thomistischen Naturrechtslehre einen vernunftgegründeten Freiheitsgedanken sowie eine Vorstellung von politischer Ordnung, die nicht auf Angst und Zwang, sondern auf dem Gemeinwohl basierte. Dies ist schon deswegen zu unterstreichen, um bestimmten Gemeinplätzen entgegenzuwirken, wonach der historische Prozeß Spaniens mit der Erringung der Demokratie nichts zu tun gehabt habe bzw. dafür unempfänglich gewesen sei. Ich habe an anderer Stelle auf die Inkonsistenzen von Autoren hingewiesen, die aus einem starren Traditionalismus heraus ihr eigenes Glaubenssystem hypostasiert und unsere Geschichte als die eines Volkes dargestellt haben, dem Freiheiten gleichgültig waren und das auf ewig dem Dogmatismus und Autoritarismus verfallen war; das gilt auch für die, die aus selbsternannter Progressivität diese Ausgangsstereotypen akzeptieren und mit unserer Vergangenheit tabula rasa machen wollen, um dann in importierten Modellen die Legitimation für die Freiheiten und die Demokratie zu suchen, die ihre Kurzsichtigkeit in unserer eigenen Tradition nicht zu sehen vermag. "Diese beiden Haltungen verkörpern zwei Seiten ein und derselben Medaille: des auf unsere politische und kulturelle Geschichte angewandten unerträglichen Gemeinplatzes Spain is different . So gelangt man paradoxerweise von entgegengesetzten ideologischen Prämissen zu ein und derselben falschen Schlußfolgerung: nämlich zu der, un35
Zum Einfluß der demokratischen Ideen der Comuneros auf die Diskussion über Amerika vgl. V. Abril, Bartolomé de Las Casas, el ultimo comunero, in: Las Casas et la politique des droits de l'homme, Aix-en-Provence: Institut d'Etudes Politiques und Instituto de Cultura Hispanica 1976, S. 92 ff.; ders., ^Las Casas, comunero? El Sacro Imperio Hispânico y las comunidades indoamericana de base, in: Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense de Madrid Nr. 17 (1976) S. 485 ff.
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Kapitel I: Die Wiederbegegnung von Spanien und Amerika
serem Kampf um Freiheiten Grund und historische Rechtfertigung abzusprechen.'^ (2) Hauptgegenstand der Debatte über Amerika war die Diskussion über den politisch-rechtlichen Status der Indios. Ursprünglicher Kernpunkt der Auseinandersetzung war nämlich die persönliche Lage der amerikanischen Ureinwohner. Das Problem der "gerechten Titer', also die Frage nach der moralischen und rechtlichen Legitimität der spanischen Herrschaft über die Region, die Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit des Krieges gegenüber Völkern, die sich der spanischen Souveränität nicht unterwarfen, sowie die Vorschläge für die politische Form, die die spanische Regierung in Amerika einführen sollte, und über die Organisation der Indiogemeinden - all dies hing im Grunde von der Antwort auf ein vorgelagertes und grundlegendes Thema ab: Was ist die Natur des amerikanischen Indios? Wenn es sich nämlich, wie einige behaupteten, um Wilde handelte, um Barbaren, die Affen näherstanden als Menschen, dann wäre die spanische Herrschaft ganz leicht zu rechtfertigen gewesen. Das Gegenteil mußte jedoch der Fall sein, wenn man den Indios uneingeschränkte Menschheit zugestand und daraus ableitete, daß sie freie Personen seien, deren materieller Besitz nicht willkürlich beschlagnahmt und deren politische Gemeinschaften nicht übergangen oder abgeschafft werden durften. Wie schon gesagt, gab es seit den ersten Anfängen der Begegnung zwischen Spanien und Amerika mehr Unterstützung für die These, daß der Indio ein rationaler und freier Mensch ist, und diese These setzt sich schließlich auch 36 Ich habe diese These in meinem Vorwort zu Antonio Ruiz de la Questa, El legado doctrinal de Que vedo (zit. Anm. 32) S. 12 f., ausgeführt. Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag dazu, über das Denken Quevedos - eines der besten Zeugen der gesellschaftlichen Beunruhigungen im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts - die politische und kulturelle Sensibilität des damaligen Spanien hinsichtlich der Probleme der Freiheit zu belegen. Interessant scheint mir auch der Hinweis, daß der deutsche Historiker und Menschenrechtsforscher Gerhard Oestreich ausdrücklich anerkannt hat, daß es schon vor der englischen Magna Charta von 1215 auf der iberischen Halbinsel eine Reihe von Grundrechten gab, was bislang im allgemeinen kaum berücksichtigt worden sei. Oestreich nennt [in der späteren Ausgabe, Anm. d. Ü.] den zwischen Alfons IX. und den Vertretern des Reichs in den Cortes von Leon 1188 geschlossenen Pakt, in dem bestimmte Volksfreiheiten anerkannt wurden: die Beibehaltung des Gewohnheitsrechts, Verfahrensgarantien, die notwendige Konsultierung der Stände, die die wichtigsten Entscheidungen - wie z. B. über den Krieg - mit dem König zusammen treffen sollten, und die Unverletzlichkeit von Leben, Ehre, Wohnung und Eigentum. Vgl. Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Hannover: Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung 1961, S. 10 f. [bzw. 3. Aufl., Berlin: Colloquium-Verlag 1974]. Oestreich weist in diesem Werk auch auf den bedeutenden Beitrag der klassischen spanischen Naturrechtler der Schule von Salamanca zur Herausbildung der modernen Idee der Menschenrechte hin, indem sie zur Verteidigung der Urbevölkerung Amerikas die Thesen von den Grenzen der Macht des Monarchen, von der Souveränität des Volkes und von der Gleichheit aller Menschen verfochten; vgl. ebd. S. 19.
III. R e t s - und Staatsphilosophie des 16. Jahrhunderts
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durch. Die Debatte über die Neue Welt beginnt daher mit einer anthropologischen Reflexion über die Natur des Menschen. Die Beschäftigung mit dieser Frage mußte notwendigerweise zur offenen Auseinandersetzung zwischen denen führen, die die aristotelische Lehre von der Sklaverei umarbeiteten, die Unterscheidung von zivilisierten und barbarischen Völker verteidigten und für letztere bestimmte Formen der Knechtschaft zuließen, und denen, die aufgrund der allen Menschen gemeinsamen Rationalität und ihrer gleichen Fähigkeit, die christliche Botschaft zu empfangen, mit der Forderung nach Würde, Freiheit und Gleichheit aller Menschen ihrer Zeit weit voraus w a r e n . 37
(3) Zwar war von der Debatte um Amerika die spanische Gesellschaft des 16. Jahrhunderts insgesamt betroffen; sie hatte jedoch in den klassischen spanischen Naturrechtlern hervorragende Protagonisten. Das freie Diskussions ma, in dem das Thema Amerika behandelt wird, fällt - und dies ist kein Zufall in die Periode der größten politischen und kulturellen Blüte Spaniens. Daraus erklärt sich auch die Bezeichnung "Goldenes Zeitalter" (Siglo de Oro) für die Zeit zwischen dem ersten Drittel des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. 38 Die Begegnung mit Amerika warf eine Reihe von bis dahin unbekannten Fragen auf, die denfreien Gebrauch der Vernunft anregten. Diese Geistestätigkeit führte dazu, daß Lösungen erdacht wurden, die in den aus der Vergangenheit übernommenen Lehrmeinungen nicht vorgesehen waren, oder doch zumindest zu deren Anpassung an die neuen Situationen. Verstärkt wurde dies durch die kulturelle Mobilisierungskraft der Renaissance mit ihrer humanen, kritischen und experimentellen Haltung. In diesem Kontext sind die Beiträge der klassischen spanischen Naturrechtler zur Theoriebildung und auch zur Vorgabe praktischer Lösungsansätze für die amerikanische Frage einzuordnen und zu analysieren.
37 Vgl. meine Arbeit Democracia y derechos humanos en Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 20), S. XVI ff. 38 Es ist daran zu erinnern, daß sogar Hugo Grotius die intellektuelle Freiheit der spanischen Klassiker anerkennt. So sagt er mit Bezug auf Fernando Vazquez de Menchaca ausdrücklich, er sei eine Ehre für Spanien, und hebt seinen Scharfsinn in der Erforschung des Rechts und die Freiheit seiner Lehre hervor: "Decus illud Hispaniae, cujus nec in explendendo iure subtilitatem, nec in cendo libertatem unquam desideres. " Vgl. De Iure Praedae Commentarius, hg. von G. Hamaker, Den Haag: Martinus Nijhoff 1869, S. 26, Anm 3.
Kapitel II Annäherung an die klassische spanische Naturrechtslehre I. Methodenfragen
Hinsichtlich der durch die Begegnung mit der Neuen Welt ausgelösten Fragen und Diskussionen spielten für die spanische Öffentlichkeit der damaligen Zeit die bedeutendsten Vertreter des Geisteslebens eine leitende und katalysierende Rolle. Es handelt sich um eine Gruppe von Theologen und Juristen, die meisten von ihnen Universitätslehrer. Das erklärt die Art und Weise, wie sie ihre Gedanken entwickeln und darstellen. Sie betreiben zugleich Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft, wobei sie diese Disziplinen weder vermischen noch voneinander trennen. Die benutzten Quellen entsprechen den fachlichen Ansätzen: scholastische Tradition, klassische (insbesondere Piaton, Aristoteles und Cicero) und humanistische Philosophie (bei vielen ist der Einfluß von Erasmus1 offenkundig) sowie die römisch-justinianischen und kanonischen Grundzüge des ius commune mitsamt den entsprechenden Kommentaren und selbstverständlich das mittelalterliche Erbe des spanischen Rechts, wie es sich in den Partidas niedergeschlagen hatte. Ihre Schriften gehören im allgemeinen zur Gattung der "Textbücher" für die universitäre Lehre, was eine gewisse formale Rigidität in der Darstellungsweise erklärt. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß es sich um Werke handelt, deren Ausstrahlung sich nicht auf die Hörsäle beschränkt. Schließlich hatten die Universitäten - und in Spanien vor allem die Universität von Salamanca - damals eine entscheidende Vorreiterrolle für die Bildung der öffentlichen Einstellung^ 1 Zu diesem Punkt ist die Angabe des Werkes von Marcel Bataillon, Erasmo y Espana. Estudios sobre la historia espiritual del siglo XVI, Mexiko-Stadt: FCE 1950, fast schon obligatorisch. Zu den Elementen des Erasmismus in der doktrinären Auseinandersetzung über die Neue Welt vgl. 7. L Abellàn , Las Utopias americanas, in seiner Historia critica del pensamiento espanol, 2. La Edad de Oro (siglo XVI), Madrid: Espasa-Calpe 1979, S. 390 ff. 2 Vgl. A. Truyol y Serra , Historia de la Filosofia del Derecho y del Estado. 2. Del Renacimiento a Kant, 3. Aufl., Madrid: Alianza 1988, S. 76 ff. Zu den spanischen Universitäten der damaligen Zeit vgl. die Arbeiten von Richard L Kegan, Universidad y sociedad en la Espana moderna, Madrid:
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Kapitel II: Annäherung an die klassische Naturrechtslehre
Diese Denker waren Mitte dieses Jahrhunderts Gegenstand von Wiederbelebungsversuchen gewesen, die sie entdecken oder sogar erfinden wollten. Danach waren sie bis vor kurzem wieder in Vergessenheit geraten. Eins aber steht noch aus: sie kennen und verstehen zu lernen. 3 Ich will mit dieser Bemerkung keineswegs früheren Beiträgen Qualität und Wert absprechen; viele von ihnen sind unverzichtbar, um zu einemrichtigenVerständnis dieses Zweiges unserer Kulturgeschichte zu gelangen. Ich meine aber, daß der fünfhundertste Jahrestag der Begegnung mit der Neuen Welt ein angemessener Anlaß ist, um die spanische Naturrechtslehre-Forschung in drei Richtungen voranzutreiben: Es sollten die bisher noch nicht oder unzureichend untersuchten Denker und Themen berücksichtigt, die bis heute vorliegenden Untersuchungen zur Feststellung ihres jeweiligen Gütegrades durch einen "metatheoretischen Filter" geschickt und explorative Analysen über die heutigen Auswirkungen dieses theoretischen Erbes angeregt werden. Jede dieser Aufgaben wirft schwerwiegende, seit jeher offene Fragen der Geschichtsschreibung auf: Inwieweit und auf welche Weise ist es möglich, Interessen und Methoden der Gegenwart einer vergangenen Wirklichkeit überzustülpen, ohne sie zu entstellen? Dieses Problem ist in dem kürzlich von Anthony Pagden unternommenen Versuch latent spürbar, einen Beitrag zur Neubewertung der doktrinären und ideologischen Betrachtungsweisen der Conquista zu leisten. Er schätzt darin die Ausrichtung einiger der wichtisten, in der Franco-Zeit entstandenen historischen Rekonstruktionen der Kolonisierung Amerikas als "unterschwellig propagandistisch und hoffnungslos anachronistisch" ein:4 ersteres, weil es sich um Untersuchungen handele, die darauf ausgerichtet seien, die imperiale Vergangenheit Spaniens dadurch zu legitimieren, daß man behauptete, das Unternehmen der Kolonialisierung habe schließlich dem kulturellen Interesse der Indianer und der universalen Christenheit gedient. Und ihr Anachronismus zeige sich an der Art, wie sie die Autoren des 16. Jahrhunderts behandeln, nämlich so, als hätten diese sich heutigen Problemen gestellt; so Tecnos 1981, und Las Universidades en Castilla, 1500-1700, in dem von J. H. Elliot herausgegebenen Sammelband Poder y sociedad en la Espana de los Austrias, Madrid: Critica 1982, S. 57 ff. 3 Auf diese zyklischen Richtungsänderungen im Interesse für die klassische spanische Naturrechtslehre bin ich in meinem Aufsatz Rechtsphilosophie und Rechtstheorie in Spanien, Rechtstheorie 18:3 (1987) S. 313 ff., näher eingegangen. 4 A. Pagden, The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge: Cambridge University Press 1982, hier zitiert nach der spanischen Übersetzung von B. Urrutia, La caida del hombre natural. El indio americano y los origenes de la etnologia comparativa, Madrid: Alianza 1988, S. 16; Pagden nennt ausdrücklich Angel Losada, Venancio Carro und Teodoro Andrés Marcos als die bedeutendsten Exponenten dieser ideologisch an den Franquismus gebundenen Geschichtsauffassung.
I. Methodenfragen
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würden aus einer Gruppe thomistischer Theologen moderne Völkerrechtsphilosophen gemacht.5 Seine Alternative für die Geschichtsschreibung ist in der These zusammengefaßt, daß man einen Text aus der Vergangenheit nur dann verstehen könne, wenn man die Sprache und den sozialen Kontext kennt, in dem er entstanden ist. Bezüglich des theoretischen Arsenals, mit dessen Hilfe die spanischen Klassiker die Probleme Amerikas angehen, meint Pagden, es müsse von kontextuellen methodischen Prämissen aus erforscht werden. Dieses Ansinnen, das er durchaus als schwierig und unvollkommen erkennt und das die Texte der spanischen Theologen des 16. Jahrhunderts in ihren Kontext stellen soll, müsse von den Voraussetzungen der geistigen Diskurse ausgehen, die durch Überlieferungen und zeitlich definierte sprachliche Konventionen stark strukturiert seien. Solche geschichtswissenschaftlichen Überlegungen sind nicht neu und bedürfen, wie ich meine, der Präzisierung. Bei der ersten geht es um den Vorwurf einer ideologischen Manipulation der spanischen Klassiker. Dazu ist an die inzwischen wohlbekannten Thesen von Jürgen Habermas über die Unmöglichkeit einer "reinen", von praktischen Interessen abgekoppelten Geschichtsauffassung zu erinnern. Die hermeneutisch-historischen Wissenschaften lassen sich, soweit sie auf das Verständnis und die Orientierung des menschlichen Handelns abzielen, nicht jenseits allen praktischen Interesses vorstellen^ Jede Art - technischer oder praktischer - Erkenntnis ist interessengeleitet. Damit ist die praktische Erkenntnis keineswegs in den Bereich des Dezisionismus oder des Irrationalismus verwiesen, sondern sie wird als auf intersubjektiver Kommunikation beruhende Wissensform auf der Ebene der Gesellschaftstheorie angesiedelt. Für Habermas können solche Interessen von einer selbstreflexiven Vernunft geleitet sein, die auf die menschliche Emanzipation abzielt. In diesem Falle ist das Interesse zugleich erklärende und rechtfertigende Kategorie.^ Sie können aber auch weniger plausiblen sozialen oder politischen Motiven entspringen. Letztlich ist es 5 Ebd. S. 16 f. Es ist auch daran zu erinnern, daß dieser methodologische Einwand schon von Carl Schmitt vorgebracht wurde, der zum Denken Vitorias bemerkte, dessen Relecciones seien "keine juristische Abhandlung im Stile der Untersuchungen zum Völkerrecht in späteren Jahrhunderten", und der betonte, Vitoria sei "ein Theologe der Kirche, kein Staatsrechtler" gewesen. Vgl. La justificación de la toma de la tierra en un Nuevo Mundo (Francisco de Vitoria) in El nomos de la tierra en el Derecho de Gentes del Jus Publicum Europaeum, übers, von D. Schilling, Madrid: Centro de Estudios Constitucionales 1979, S. 109 und 111. 6 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 235 ff.; ders., Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als "Ideologie", 11. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 146 ff. 3 Pérez Luik)
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die Aufgabe der Erkenntnissoziologie, diese Interessen, die das historische Wissen festigen oder ideologisch verzerren können, aufzudecken. Die zweite Überlegung bezieht sich auf die methodische Haltung, die der Erforschung der Beziehungen zwischen Geschichte und Gegenwart zugrundeliegen sollten. Als Ausgangspunkt scheint es mir angebracht, an die scharfsinnige Bemerkung von Xavier Zubiri zu erinnern, daß "die Vergangenheit zunächst etwas ist, das nur aus einer Gegenwart heraus verstanden werden kann. Die Vergangenheit hat gerade als solche eben keine andere Wirklichkeit, als die ihres Einwirkens auf eine Gegenwart. So hängt also unsere Einstellung zur Vergangenheit schlicht und einfach von der Antwort auf die Frage ab: Wie wirkt sie sich auf die Gegenwart aus?"7 Im Bereich des römischen Rechts ist die Auseinandersetzung darüber altbekannt, ob es legitim ist, begriffliche und methodische Instrumente der Gegenwart auf die Rechtserfahrung des klassischen Rom zu übertragen, oder ob im Gegenteil die historische Rekonstruktion nicht nur auf der Basis der römischen normativen und institutionellen Kategorien zu erfolgen habe, sondern insbesondere auch ausgehend von der Art und Weise, wie die Juristen und das Volk von Rom diese Kategorien erarbeiteten, anwandten und empfanden. 8 Die Kontroverse dreht sich nach meinem Verständnis weniger um die Möglichkeit und Zulässigkeit der Anwendung heutiger methodischer Instrumente auf eine vergangene Wirklichkeit als vielmehr um die Art und Weise, in der diese Instrumente anzuwenden sind. Der Gebrauch moderner Begriffskategorien für das Verständnis früherer Kategorien ist unerläßlich, da zwar der Untersuchungsgegenstand ein zeitlich weit zurückliegendes Phänomen sein mag, er aber doch aus der Gegenwart und ausgehend von begrifflichen Schemata angegangen wird, die zu unserem heutigen Erkenntnis- und Methodensystem gehören. Was jedoch anachronistisch bzw. uchronistisch scheinen mag, ist die Verwendung historischer Begriffe, also solcher, die in einem ganz bestimmten zeitlichen Umfeld entstehen und ihren Sinn erhalten, außerhalb ihres entsprechenden Kontextes. Der historischrichtigeGebrauch juristischer, politischer und philosophischer Begriffe soll den Verzerrungen vorbeugen, die entstehen, wenn man Kategorien, die ein Produkt unseres heutigen Systems von Erkenntnissen und Fragen sind, in die Vergangenheit überträgt oder wenn man die zeitlichen 7
X: Zubiri, Naturaleza, Historia, Dios, Madrid: National 1959, S. 286. Ich habe dieses Thema mit ausdrücklichen Hinweisen auf die Auseinandersetzung zwischen Betti und De Francisci sowie auf die Thesen von Capograssi, As carelli, Orestano und Giuliani in meinem Buch Iusnaturalismo y positivismo juridico en la Italia moderna, Bologna: Veröffentlichungen des Real Colegio de Espana 1971, S. 18 ff., behandelt. 8
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Grenzen, innerhalb deren die Ideen der Vergangenheit geprägt wurden, außer acht läßt, um diese unseren gegenwärtigen Zwecken anzupassen. Pagden selbst bemerkt nach seinen methodischen Warnungen vor Anachronismus und Ideologisierung bei der historischen Rekonstruktion der Thesen, die die spanischen Klassiker über Amerika aufgestellt hatten, daß "in der heutigen post-wittgensteinschen, post-heideggerschen und post-foucaultschen Welt keine historische Analyse einen gewissen Anachronismus vermeiden kann. Daraus folgt, daß man sich für immer von der Idee eines streng historischen 'Archivs', das der Entdeckung durch den geduldigen Historiker harrt, oder dem Bild vom Historiker, der die Dinge 'so wie sie sind' wiedergibt, verabschieden sollte". Dies bringt ihn dazu, ausdrücklich zuzugeben, daß "[d]ie Geschichte, die uns interessiert, mit der Gegenwart verbunden sein und direkte, wenn auch vielleicht nur lockere, Beziehungen zur Welt des Historikers selbst haben muß".9 Die hier angestrebte Rekonstruktion geht, was das Ideologische betrifft, von Prämissen aus, denen jede Absicht, das Denken der klassischen spanischen Naturrechtler für die Legitimierung irgendwelcher Autoritarismen einzuspannen, fremd ist. Sie ist deswegen aber nicht weniger "interessengeleitet" - im Habermasschen Sinne -, denn es geht darum festzustellen, inwieweit die Auseinandersetzungen und das Denken jener Autoren über die Rechtfertigung der spanischen Präsenz in Amerika zur Geschichte der Emanzipation des Menschen haben beitragen können. Ein weiterer Zweck der Untersuchung ist es, die Auswirkungen dieses kulturellen Erbes auf die heutige Rechts- und Staatsphilosophie aufzuzeigen. Ich teile allerdings mit Pagden den Wunsch, der Gefahr des Anachronismus zu entgehen, die in der Entkontextualisierung dieser Lehren liegt. Würde man die berühmte Relectio De Iridis von Vitoria wie eine moderne juristische Abhandlung lesen, die nicht an Theologiestudenten des 16. Jahrhunderts, sondern an heutige Juristen gerichtet ist, würde man damit zweifellos einen neuen Text schaffen. "Ein solcher Text", so Pagden, "könnte sehr interessant sein; nur wäre er niemals der Text, den Vitoria uns hinterlassen bzw. den seine Hörer gehört haben".10 Es ist eben so, daß ein Text, wenn er erst einmal anderen mitgeteilt wurde, insofern ein Eigenleben entwickelt, als er sich von 9
A. Pagden (zit. Anm. 4) S. 17. 10 Ebd. S. 18. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß Anthony Pagden bei dem Versuch, diesem Anachronismus zu entgehen, in einen anderen, womöglich noch gravierenderen verfällt: er projiziert nämlich heutige juristische und theologische Begriffe auf das 16. Jahrhundert, indem er präzise Abgrenzungen vornimmt, die in der damaligen Zeit unbekannt waren. Ich werde auf das Thema weiter unten zurückkommen.
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der subjektiven Intention seines Autors löst. Dieser Entfremdungsprozeß geht umso tiefer, wenn das Werk im Laufe der Zeit einen Eigenwert erhält, der über die Absichten seines Schöpfers weit hinausgeht. Ein Text ist zwar als Ausdruck der Gedanken eines bestimmten Subjekts ein Datum; er ist aber auch das Ergebnis nachfolgender Interpretationen durch seine Leser, die ihn in je unterschiedlichen Umständen ihren eigenen Erfordernissen und Interessen anpassen. Die Aufgabe, die Texte der Klassiker so, wie sie gedacht waren, oder auch die Atmosphäre, in der sie gehört wurden, zu rekonstruieren, ist unerfüllbar. Wir müßten dazu psychologische Introspektionen und/oder Reisen durch einen Zeittunnel unternehmen, wie sie nur der Phantasie möglich sind. Darüber hinaus aber wäre eine solche rein retrospektive Anstrengung sehr viel weniger fruchtbar als eine prospektive, die darauf abzielt, das Weiterwirken eben jener Texte in den Fragestellungen der Gegenwart zu ermessen - wobei Entkontextualisierungen und Verzerrungen historischer Kategorien so weit wie möglich vermieden werden sollten. Selbstverständlich ist dies ein kollektives Unternehmen, das eine vereinte, interdisziplinäre Anstrengung einer großen Gruppe von Forschem verlangt. Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, daß über dieses Kapitel der spanischen Geschichte der Rechtsphilosophie - anders als man bei einer oberflächlichen Betrachtung des Themas meinen könnte - noch nicht alles gesagt ist. Es gibt deswegen noch nicht einmalfriedliches Einvernehmen über das Stichwort, mit dem diese geistige Bewegung zu benennen ist. Die unterschiedlichen Bezeichnungen legen die Frage nahe, ob es sich hier um verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache handelt oder ob die Verschiedenheit der Namen dem Bedürfnis entspricht, verschiedene Wirklichkeiten zu unterscheiden.
Π . Namensfragen
Die Ausdrücke "Spanische Schule", "Spanische Naturrechtsschule" oder "Spanische Natur- und Völkerrechtsschule" sind zur Bezeichnung eines umfassenden Prozesses kultureller Erneuerung weit verbreitet. Die Bezeichnung suggeriert jedoch eine Übereinstimmung von Lehrmeinungen, die bei der großen Gruppe von Autoren, die in der Regel als Hauptvertreter genannt werden, gar nicht vorliegt. Român Riaza - einer der ersten, die den Namen benutzt haben - weist selbst auf die damit verbundenen Schwierigkeiten hin: "Die Bezeichnung mag allzu ehrgeizig scheinen: vielleicht hält auch jemand die Rede von der Spanischen
I.
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Naturrechtsschule, während man doch noch immer darüber diskutiert, ob es möglich ist, eine hinreichend gesicherte Basis für die Skizzierung der Hauptmerkmale einer spanischen Schule der Theologie oder Philosophie zu finden ..., weniger für ehrgeizig als für gewagt."11 Riaza beschränkt seine Analyse der Spanischen Naturrechtsschule auf das Werk von Francisco de Vitoria, Domingo de Soto, Luis de Molina und Francisco Suärez. Zunächst gibt er eine knappe Darstellung der doktrinären Besonderheiten bei jedem dieser Autoren, um dann auf einige Gemeinsamkeiten in ihrer Auffassung vom Naturrecht hinzuweisen, die er vor allem in folgendem sieht: in ihrem methodischen Realismus, der sie dazu führt, das Naturrecht nicht auf rein spekulativen, abstrakten Prinzipien, sondern auf Tatsachen zu gründen, d. h. auf dem, was in den verschiedenen Fällen, die sie anführen, jeweils der natürlichen Vernunft am nächsten kommt; in ihrer Vorliebe für den thomistischen Intellektualismus im Gegensatz zum franziskanischen Voluntarismus; und in ihrer Offenheit für die Derogierbarkeit des Naturrechts, wodurch es möglich wird, daß sich seine Konkretisierung im positiven Recht den jeweiligen historischen Umständen und Erfordernissen anpaßt.12 Ganz allgemein und in erster Näherung ist die Darstellung von Riaza zutreffend; sie bedarf aber der Nuancierung. So ist es beispielsweise fragüch, ob man den Intellektualismus von Suärez mit der Einstellung Vitorias oder Sotos oder mit dem radikalen, auf der natura rei gegründeten Objektivismus gleichsetzen kann, wie ihn Molina vertrat. Seine begrenzte Brauchbarkeit liegt aber wohl vor allem darin, daß er eine ganze Reihe bedeutender Denker nicht behandelt hat, die von anderen Prämissen aus zur spanischen Naturrechtslehre der damaligen Zeit beigetragen haben. Um diese Lücken zu füllen, sah sich Enrique Lufio Pena, der prinzipiell die Bezeichnung "Spanische Naturrechtsschule" übernimmt, genötigt, in ihr vier große theoretische Richtungen zu unterscheiden, nämlich die "Spanische Völkerrechtsschule", die "Spanische Kriegsrechtsschule", die "Spanische Strafrechtsschule" und die "Spanische Widerstandsrechtsschule".13 Die in diese Abhandlung aufgenommene Vielfalt von Autoren und Themen führt jedoch selbst dazu, daß sich die vermeintliche Einheit der Schule verflüchtigt und einer ganzen Reihe von Schulen Platz macht, die ihrerseits wieder von Theoretikern ganz unterschiedlicher Ausrichtung gebildet werden. 11
R. Riaza, La Escuela espanola de Derecho Natural, in: Universidad 2 (1925) S. 317. 12 Ebd. S. 325 ff. 13 E. Luno Pefia, Historia de la Filosofia del Derecho, 3. Aufl., Barcelona: La Hormiga de Oro 1962, S. 383 ff.
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L Bezeichnungen 'ratione loci' Um solche Probleme zu vermeiden, hat man versucht, die Rechtfertigung für den Titel "Spanische Naturrechtsschule" weniger aus dem Substantiv, also aus dem echten Charakter einer "Schule" zu ziehen, als vielmehr aus dem Adjektiv, das auf die geographische Lage hinweist. Antonio Fernändez-Galiano vertritt diesen Standpunkt, wenn er sagt, "die Bezeichnung 'spanisch' ist angebracht, da es in der Geschichte der Rechtsphilosophie noch eine andere Naturrechtsschule gibt, nämlich die rationalistische, so daß der Hinweis auf die Nationalität als Unterscheidungsmerkmal erforderlich ist."14 Das Grundproblem mit der Rückführung auf den gemeinsamen Nenner einer "Schule", nämlich die Frage nach der Homogenität ihrer theoretischen Positionen, ist mit dem bloßen Hinweis auf die spanische Nationalität dieser Denker jedoch nicht gelöst. Um diesen Aspekt genauer abzugrenzen, gibt es die Neigung, die geographische Ausbreitung der "Schule" auf die Universität von Salamanca zu begrenzen. So meint etwa Luciano Pereiia, die Theologen des 16. Jahrhunderts in Salamanca gehörten in bezug auf ihre Fragestellungen, Quellen und Methoden zu einer Gemeinschaft, die zu einer großen akademischen Synthese geführt habe. Kern- und Verbindungselement dieser Schule sei die Relectio von Francisco de Vitoria; ihre Hauptvertreter seien: Domingo de Soto, Melchor Cano, Martin de Azpilcueta, Pater Luis de León, Bartolomé Medina, Juan de la Peiìa und Domingo Bâfiez. Die Professoren der Fakultät für Kirchenrecht der Universität von Salamanca wie Diego de Covarrubias hielten sich an das Schema dieser Schule, und ihre Lehre machte sich - wenn auch gegen größeren Widerstand - auch in der Juristischen Fakultät bemerkbar, wo sie so bedeutende Juristen wie Gregorio López und Fernando Vâzquez de Menchaca beeinflußte. Nach Meinung Perefias zeichnete sich die Schule durch ihr dynamisches Denken insbesondere bei der Behandlung der ethischen Probleme der Eroberung Amerikas, durch ihr auf die Erneuerung des thomistischen Naturrechts gegründetes Einheitsbewußtsein sowie ihre Übersprungkraft auf die verschiedenen Ebenen der Staats- und Rechtskultur aus.15 In seiner Studie über den Beitrag des klassischen spanischen Denkens zur historischen Entwicklung der Theorie der Grundrechte rechtfertigt Heribert Franz 14
A. Fernändez-Galiano, Derecho Natural, 5. Aufl., Madrid: Ceura 1986, S. 185. L. Pereiia, La Universidad de Salamanca, forja del pensamiento politico espanol durante el siglo XVI, Veröffentlichungen der Universität von Salamanca, 1954; vgl. auch ders., La Escuela de Salamanca y la duda indiana, in dem Sammelband La Etica en la Conquista de América, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1984, S. 291 ff., bes. 306 ff. 15
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Köck die Tatsache, daß er sich in seiner Untersuchung auf die "Schule von Salamanca" konzentriert hat, mit Argumenten, die die Gründe für diese Bezeichnung noch einmal zusammenfassen. Nach seinem Verständnis bedeutet dieser Name eine Spezifizierung gegenüber so allgemeinen Bezeichnungen wie "Spanische Schule" oder gar das noch ungenauere und vereinfachende "die Spanier". Die Universität Salamanca stehe für das akademische Umfeld, durch das die Rezeption der Ideen der Renaissance erfolgte, die eine Erneuerung der scholastischen Tradition ermöglichten. Andere spanische oder portugiesische Universitäten - wie die von Alcalâ, Valladolid und Saragossa oder die von Coimbra - speisten sich aus der Ausstrahlung der salmantinischen Lehren. Und deswegen könne man das Bündel von Ideen, das jenes kulturelle Phänomen ausmacht, mit der Benennung "Schule von Salamanca" fassen. 16 Aber auch die Beschränkung der Reichweite der Schule auf die Welt der Universität von Salamanca löst die Probleme nicht zur vollen Zufriedenheit. Diese theoretische Option führt nämlich zu zwei Alternativen, die nicht ganz ungefährlich sind. Entweder entscheidet man sich nämlich für das restriktive Kriterium, zu dem Perefia zu neigen scheint, womit man Denker, die nicht direkt mit der Universität von Salamanca verbunden sind, deren Vorstellungen aber in die gleiche Richtung gehen, außerhalb der Schule ansiedeln muß; oder man geht von einer flexibleren Einstellung aus, wie sie sich aus den Überlegungen von Köck ergibt, um so alle diese Denker unabhängig von dem Sitz der Universität, an der sie den Lehrberuf ausübten, einzuschließen, womit dann aber Salamanca als Bezugsfaktor für die Definition der Schule seine Bedeutung verliert.
2. Bezeichnungen 'ratione temporis ' Man hat versucht, die Schwierigkeiten, die sich aus dem Hinweis auf ein räumliches Kriterium ergeben, dadurch zu umgehen, daß man auf zeitliche bzw. kulturepochale Kriterien auswich. Auf diese Weise wollte man die Denker der Zeit in die großen Kulturbewegungen einreihen, die sich durch die Epoche des sogenannten "Goldenen Zeitalters" Spaniens ziehen. Ernst Reibstein rechnete die klassischen spanischen Naturrechtler als Vertreter dessen, was er das humanistisch-rationale Naturrecht nennt, der Epoche des Humanismus 16
H. F. Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, Berlin: Duncker & Humblot 1987, S. 16 f. Vgl. auch das Werk von E. Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe: C. F. Müller 1955, S. 25 ff., wo der Autor auf die Hauptmerkmale der Schule von Salamanca eingeht.
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zu. 17 Gelegentlich wird das Werk von Francisco de Vitoria und Francisco Suârez dem Bereich des christlichen Humanismus zugeordnet.18 Häufig werden die spanischen Klassiker des 16. Jahrhunderts aber auch zur Kulturbewegung der Renaissance gezählt. ^ Luis Legaz y Lacambra dagegen zog es vor, Francisco de Vitoria dem geistigen Klima der Renaissance zuzurechnen, während er das Werk von Francisco Suârez und Rodrigo de Arriaga in der Zeit des Barock a n s i e d e l t . 2 0 Auch José Antonio Fernändez-Santamaria entschied sich in jüngerer Zeit dafür, das klassische spanische politische Denken in zwei große Phasen einzuteilen: die der Renaissance, die die Jahre 1515-1559 umfaßt, und die des Barock, die von 15951640 reicht.21 Andere Autoren nehmen die religiösen Geschehnisse, die das geistige Bild der damaligen Zeit veränderten - Reformation und Gegenreformation - als unmittelbaren Bezugspunkt, um das Aufkommen der klassischen spanischen Naturrechtslehre zu eiklären. Ereignisse wie die Gründung der Societas Jesu oder das Konzil von Trient, beide Mitte des 16. Jahrhunderts durch das gegenreformatorische Klima hervorgebracht, hatten durchaus ihre Auswirkungen auf die Überzeugungen, Fragestellungen und Lehren jener spanischen Naturrechtler. Für das Verständnis ihres Denkens ist die zeitliche Einordnung der spanischen Klassiker unerläßlich; und diese Einordnung wäre ganz und gar abstrakt und unvollständig, wenn sie den Einfluß jener großen kulturellen, gesellschaftlichen, religiösen und politischen Ereignisse auf deren theoretische Überlegungen nicht angemessen berücksichtigen würde. Es ist daher keineswegs verwunderlich, daß man die Bezeichnung und sogar die geistigen Erkennungszeichen dieser Denker auf der Grundlage der bedeutendsten historischen Ereignisse der Zeit hat definieren wollen. Das Hauptproblem mit diesem Kriterium liegt jedoch darin, daß man damit als Charakteristikum jener geistigen Bewegung etwas nimmt, was zu deren Umweltfaktoren gehört. Und diese Faktoren lassen 17 E. Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Freiburg/München: Karl Alber 1972, Bd. I,S. 104 ff. 18 F. Puy, Tratado de Filosofia del Derecho, Madrid: Escelicer 1972, S. 281 ff. 19 So u. a. bei Marciai Solana , der diesen Denkern den Band III seiner Historia de la Filosofia Espanola. Epoca del Renacimiento (siglo XVI), Madrid: Asociación Espanola para el Progreso de las Ciendas 1941, widmet. 20 L Legaz y Lacambra, Horizontes del pensamiento juridico, Barcelona: Bosch 1947, S. 195 ff. 21 J. A. Fernàndez-Santamarìa , The State, War and Peace. Spanish Political Thought in the Renaissance, 1515-1559, Cambridge: Cambridge University Press 1977, und ders., Razón de Estado y politica en el pensamiento espanol del Barroco (1595-1640), Madrid: Centro de Estudios Constitucionales 1986.
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sich nicht beschränken auf die genannten großen kulturellen und religiösen Geschehnisse (Humanismus, Renaissance, Barock, Reformation und Gegenreformation); hinzuzufügen sind solche, die sich auf den Rahmen im Bereich des Politischen (Entstehung des modernen Staates sowie der absolutistischen Lehren, der Idee der "Staatsräson" und der monarchomachischen Lehren), des Wissenschaftlich-Technischen (Erfindung des Buchdrucks, Entwicklung der Experimentalforschung durch die Thesen von Kopernikus, Kepler, Galileo ...), des ökonomischen (Entstehung des Merkantilismus) und des Geographischen (die großen Entdeckungen, denen eine entscheidende Rolle in der Herausbildung des naturrechtlichen Erbes der spanischen Klassiker zukommen sollte) beziehen. Dieses Bündel kontextueller Faktoren hat über den Einfluß auf die Sphäre der Rechts- und Staatsphilosophie hinaus noch sehr viel weitere sozio-kulturelle Auswirkungen. Dazu kommt, daß selbst die Bewegungen, die für die Einordnung der spanischen Naturrechtler am häufigsten genannt werden (Humanismus, Renaissance, Barock, Reformation und Gegenreformation) sehr undeutliche Konturen aufweisen. Davon, daß jeder Historiker diese Phänomene auf seine Weise versteht, hängt es also ab, daß ein und derselbe Autor - der Fall von Francisco Suärez kann hier als typisches Beispiel dienen - zugleich als Quintessenz des christlichen H u m a n i s m u s , 2 2 als echter Vertreter der Renaiss a n c e , 2 3 als eigenwilliger Exponent der geistigen Beweggründe des B a r o c k 2 4 und als der charakteristischste Denker der Naturoechtslehre der Gegenreformation bzw. der katholischen Reformation gesehen werden k a n n . 25
3. Bezeichnungen 'ratione materiae' Nicht selten werden auch Bezeichnungen vorgeschlagen, die sich an der theoretischen Herangehensweise oder an der Disziplin orientieren, aus der die spanischen Klassiker ihre Thesen entwickelten. In diesem Zusammenhang ist an die häufigen Hinweise auf Theologen, Juristen und Philosophen zu erinnern. Die unbestreitbare Tatsache, daß es innerhalb der großen, heterogenen Gruppe der Denker jener Zeit Unterschiede sowohl in der theoretischen Vorbildung als 22
E. Elorduy, Humanismo suareciano, in: Razón y Fe. Revista Hispanoamericana de Cultura 138 (1948) S. 606 ff.; F. Puy (zit. Anm. 18) S. 292. 23 M. Solana (zit. Anm. 19) S. 453 ff. 24 L Legazy Lacambra (zit. Anm. 20) S. 212 ff. 25 G. Ambrosetti , Π diritto naturale della Riforma cattolica. Una giustificazione storica del sistema di Suârez, Mailand: Giuffrè 1951.
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auch in der beruflichen Tätigkeit gab, scheint diese Vorgehensweise zu rechtfertigen. a) Theologen, Juristen und Philosophen Ausgehend von diesen Ansätzen soll versucht werden, eine Abgrenzung zwischen der eindeutig theologischen Ausrichtung und Fragestellung, wie sie in den Weiken von Francisco de Vitoria, Domingo de Soto, Bartolomé de Las Casas oder Francisco Suârez spürbar ist, der juristischen Grundhaltung und Vorgehensweise bei Autoren wie Juan López de Palacios Rubios, Fernando Väzquez de Menchaca oder Diego de Covarrubias sowie der grundlegend philosophischen Fragestellung, wie sie den bedeutendsten Schriften von Fernän Pérez de Oliva oder Juan Ginés de Sepulveda entspricht, vorzunehmen. Auch wenn die genannten Autoren sich auf ein und dasselbe Thema - beispielsweise die Probleme infolge der Begegnung mit Amerika - beziehen und sich dabei alle auf das Naturrecht berufen, tun sie dies schließlich unter ganz verschiedenen methodologischen Voraussetzungen und mit ganz unterschiedlichen Zwecken. Demnach betrachteten die Juristen, die im ius commune und den Partidas ausgebildet waren, die Probleme der Neuen Welt von einem legalistischen Standpunkt und versuchten, Rechtstitel anzuführen, die die spanische Präsenz und Herrschaft in den genannten Gebieten rechtfertigen könnten. Die im Humanismus erzogenen Philosophen neigten dazu, die amerikanischen Probleme auf rhetorische Weise zu behandeln, um die natürliche Überlegenheit des "zivilisierten" Menschen über den Kultur-"Barbaren" überzeugend zu vertreten.26 Dieses Kriterium erweist sich bei näherem Hinsehen als sehr viel weniger klar und präzise, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Man stellt nämlich fest, daß die kritische Literatur die Bezeichnungen häufig wechselt und meist auch keine strengen Abgrenzungen für die Zuordnung der Autoren zu den ver26 Dies ist die Kernthese des Werkes von Anthony Pagden (zit. Anm. 4), bes. S. 158 ff. Auf den Unterschied zwischen Juristen und Theologen sind - allerdings, ohne ihn so stark herauszustellen auch eingegangen: H. F. Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca (zit. Anm. 16), S. 17 ff.; E. Reibstein, Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts. Studien zu den 'Controversiae illustres' des Fernandus Vasquius, Bern: Paul Haupt 1949, S. 9 ff.; und H. Thieme, El significado de los grandes juristas y teólogos espanoles del siglo XVI para el descubrimiento del Derecho Naturai, in: Revista de Derecho Privado Nr. XXXVIII (1954) S. 597 ff.; sowie ders., Natürliches Privatrecht und Spätscholastik, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) Nr. LXX (1953) S. 230ff.; und ders., La signification de la Escolàstica tardia espanola para la historia del Derecho Natural y del Derecho Privado, in: Anuario de la Asoriarión Francisco de Vitoria Nr. XVII (1969-70) S. 61 ff.
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schiedenen theoretischen Richtungen und Disziplinen vornimmt. Als Beispiel sei nur daran erinnert, daß das Werk Los juristas cldsicos espafloles (Die klassischen spanischen Juristen) von José Corts Grau - anders, als der Titel vermuten läßt - mit einem Kapitel über "Das Erbe der Scholastik" beginnt und eine Analyse des Denkens der spanischen Theologen und Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts enthält.27 Das wichtigste Argument gegen die Festsetzung dieser unflexiblen, aphoristischen actiones finium regundorum läßt sich aber in den persönlichen Zeugnissen der damaligen Denker selbst finden. Bezeichnend ist die Meinung derer, die wie Francisco de Vitoria die Aufgaben und Funktionen des Theologen so weitgespannt sahen, daß es gar keinen Standpunkt, Disput oder Text gibt, der nichts mit der theologischen Institution oder Profession zu tun hätte.28 Nicht weniger deutlich ist die Haltung von Francisco Suärez, der schon im Portikus zu seinem De legibus ausdrücklich sagt, niemand solle sich wundem, daß ein Theologe über das Gesetz schreibt, denn täte er das nicht, würde er den Bereich der Theologie nicht voll ausschöpfen.29 José Maria Rodriguez Paniagua hat zu Recht bemerkt, daß die Theologie damals "ein sehr weites Feld war: sie umfaßte sogar in gewisser Weise das, was wir heute Sozial Wissenschaften nennen".30 Umgekehrt verfügten die Philosophen der damaligen Zeit in der Regel über ein gründliches theologisches und juristisches Wissen, und für Juristen war es
27 J. Corts Grau, Los juristas clâsicos espanoles, Madrid: Ed. National 1948, bes. S. 75 ff. zu den Theologen Vitoria, Soto, Cano, Bânez, S. 113 ff. zu Molina und S. 131 ff. zu Suärez; außerdem werden Philosophen wie J. L. Vives (S. 59 ff.) und J. Ginés de Sepulveda (S. 97 ff.) behandelt. Einige Jahre zuvor schon hatte E. Bullón y Fernàndez in seinem Diskurs El concepto de la soberania en la escuela juridica espanola del siglo XVI, Madrid: Imprenta Sucesores de Rivadeneyra 1935, unter dem Stichwort "Spanische Rechtsschule" Juristen, Theologen und Philosophen des 16. Jahrhunderts zusammengefaßt; später tat dies auch L. Jiménez de Asua, Das Spanische Rechtsdenken und sein Einfluß in Europa, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 70 (1958). 28 F. de Vitoria, Relectio de potestate civile, I, wo es wörtlich heißt: "officium et munus theologi tarn late patet, ut nullum argumentum, nulla disputatio, nullus locus alienus videatur a the professione et instituto". In der Relectio de Indis prior, 3, reklamiert er weniger für die Juristen als für die Theologen die Kompetenz, sich über die rechtsethischen Probleme auszulassen, die die Existenz der in Amerika vorgefundenen "Barbaren" aufwirft. 29 F. Suärez , De legibus, Vorrede, wo es heißt: "Nulli mirum vide ή debet si homini theologiam profitenti leges incidant disputandae ..., palarti erìt ita legum tractationem theologiae am cludi, ut theologus subiectum eius exhaurire non valeat, nisi legibus considerandis immore 30 J. M. Rodriguez Paniagua, Historia del Pensamiento Juridico, I, De Herâclito a la Revolution francesa, 6. Aufl., Madrid: Servicio de Publications de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense 1988, S. 95.; vgl. auch ders., Einführung zu seiner Übersetzung von: Alois Dempf La filosofia cristiana del Estado en Espana, Madrid: Rialp 1961 (dt. Christliche Staatsphilosophie in Spanien, Salzburg: Pustet 1937), sowie: La caracterización del Derecho natural y del de gentes por los autores de la escuela espanola, in: Anuario de Filosofia del Derecho Nr. 7 (1960) S. 189 ff.
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üblich, in den theologischen und philosophischen Grundfragen hinreichend versiert zu sein. Bezeichnend hierfür sind die Beispiele von Juan Ginés de Sepulveda, der nicht nur humanistischer Philosoph war, sondern in Bologna auch Theologie studiert und der eine gründliche juristische und historische Ausbildung genossen hatte,31 oder der Juristen Fernando Vâzquez de Menchaca - in seinen späteren Jahren Domherr an der Kathedrale von Sevilla - und Diego de Covarrubias - Bischof von Ciudad Rodrigo und Segovia -, die eine solide philosophische und theologische Ausbildung besaßen, wie durch ihre Teilnahme am Konzil von Trient deutlich wurde.32 Diese Doppelqualifikationen entsprachen den Grundzügen der spanischen Kultur in "einer von religiösen und legalistischen Ideen beherrschten religiösen und legalistischen Zeit".33 Es gab im 16. Jahrhundert in Spanien eine Symbiose von Religiosität und Rechtsformalismus, die sich hervorragend benutzen Heß, um die Ereignisse in Amerika zu verstehen. Es wurde sogar behauptet, "der spanische Formalismus und Legalismus und die spanische Religiosität, wie sie in der Neuen Welt praktiziert wurden, müssen seit den Tagen des Cid bis zu Cervantes als konstitutive Merkmale des spanischen Charakters angesehen werden".34 Analysiert man das klassische spanische Denken des 16. und 17. Jahrhunderts, kann man die Bedingungen seines Umfeldes und seine kulturelle Tradition nicht außer acht lassen. So ist zum Beispiel nicht zu vergessen, daß die spanisch-mittelalterliche Rechtstradition ihren wichtigsten Ausdruck in den Partidas hat. Dieser Text war weit mehr als nur ein Kodex von Gesetzen nach Art der Normen, wie sie das klassische bzw. das justinianische Römische Recht ausmachten. Es handelte sich dabei vielmehr um einen Komplex von Normen unterschiedlicher Bedeutung, die alle Aspekte des menschlichen Handelns - im rechtlichen, ethischen, religiösen und politischen Bereich ebenso wie im Be31 Vgl. A. E. Pérez Luno, La impronta bolonesa en el pensamiento de Juan Ginés de Sepulveda, in dem Sammelband El Cardenal Albornoz y el Colegio de Espana, Bologna: Publicaciones del Real Colegio de Espana 1979, Bd. VI, S. 237-259; ders., Notas sobre la filosofia juridico-politica de Juan Ginés de Sepùlveda, in: Estudios de Filosofia del Derecho y Ciencia Juridica en Memoria y Homenaje al catedrâtico Don Luis Legaz y Lacambra (1906-1980), Madrid: Centro de Estudios Constitucionales und Facultad de Derecho de la Universidad Complutense 1985, Bd. II, S. 233-249 (für eine überarbeitete Version dieser beiden Aufsätze siehe Kap. VII des vorliegenden Buches). 32 Vgl. A. Truyol y Serra , Historia de la Filosofia del Derecho y del Estado (zit. Anm. 2) S. 102 ff. 33 L Hanke , The Struggle for Justice in the Spanish Conquest of America, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1949 (zit. nach der spanischen Übersetzung von R. Iglesia, La luchapor la justicia de la conquista de América, Buenos Aires: Sudamericana 1949, S. 61). 34 Ebd. S. 65.
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reich der sozialen Sitten und Gebräuche - zu regeln und zu lenken beanspruchten. Viele der darin enthaltenen Gesetze sind daher keine Imperative im strengen Sinne, sondern Argumente, die die Adressaten durch den Verweis auf Gründe der Moral, der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls ("pro comunal") überzeugen sollen. Folglich waren auch die Partidas das Substrat einer Rechtskultur, an der nicht nur die Juristen, sondern alle Geistessektoren der damaligen Zeit teilhatten.3^ Die kulturelle Atmosphäre im Spanien des Siglo de Oro beleuchtet eine interessante Beobachtung von Chaim Perelman, der feststellte, daß in der berühmten Bibliothek der Universität von Salamanca der Platz, der den klassischen Werken zum spanischen Recht eingeräumt wurde, gegenüber der Fülle von bibliographischem Material zur Theologie, zur Moralphilosophie und zum Naturrecht verschwindend gering ist.36 Sicher wäre es methodologisch verfehlt, die Texte der klassischen spanischen Theologen heute so zu lesen, als handele es sich um moderne juristische Werke, die sich an heutige Juristen r i c h t e n . 37 Ebenso verfehlt wäre es aber, der klassischen spanischen Welt die heutige Vorstellung von der Arbeitsteilung auf geistigem Gebiet oder die Vorstellungen von Hans Kelsen über den Unterschied zwischen Recht und Moral und über die "Reinheit" der juristischen Methode überstülpen zu wollen. Den Untersuchungen, die sich - ausgehend von einer berühmten Arbeit des Rechtshistorikers Eduardo Hinojosa y Naveros vom Ende des vergangenen Jahrhunderts38 - bemühten, die Wechselbeziehungen und den wissenschaftlichen Austausch zwischen den klassischen spanischen Juristen, Philosophen und Theologen zu betonen, ist daher zu bescheinigen, daß sie die historische Methode und den Gebrauch historischer Kategorien gebührend berücksichtigen. Schon die Bezeichnung als Juristen-Theologen, wie jene Denker oft ge35 Cfr. J. Castân Toberias, El Derecho y sus rasgos a través del pensamiento espanol, clâsico y moderno, popular y erudito, Rede anläßlich der feierlichen Gerichtseröffnung am 15. Sept. 1949, Madrid: Reus 1949, S. 23 ff. 36 Ch. Perelman , La réforme de l'enseignement du droit et la 'nouvelle rhétorique', in: L'educazione giuridica. I: Modelli di Università e Progetti diriforma, hg. von A. Giuliani und Ν. Picardi , Perugia: Università degli Studi di Perugia-CNR 1975, S. 5; vgl. auch A. E. Pérez Luno, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie in Spanien (zit. Anm. 3) S. 313 ff. 37 Ich beziehe mich damit auf die weiter oben erwähnte These von Anthony Pagden. 38 E. Hinojosa y Naveros, Influencia que tuvieron en el Derecho publico de su patria y singularmente en el Derecho penal los filósofos y teólogos espanoles anteriores a nuestro siglo, Madrid: Tipografia de los Huérfanos 1890, wiederabgedruckt in seinen Obras, Madrid: Instituto Nacional de Estudios Juridicos 1948, Bd. I, S. 90 ff.
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Kapitel II: Annäherung an die klassische Naturrechtslehre
nannt werden,39 spiegelt die Geisteshaltung derer wider, die unvennengt und ungetrennt zugleich Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft betrieben.
b) Scholastische Erneuerung und religiöse Orden Die Bedeutung des theologischen Elementes in der Herausbildung des klassischen spanischen Denkens zeigt sich auch an den entscheidenden Beiträgen der genannten Denker zum Prozeß der scholastischen Erneuerung, der im 16. und 17. Jahrhundert stattfindet. Diese den Anstößen des Humanismus der Renaissance zu verdankende Blüte der scholastischen Tradition begann an der Universität von Paris40 und in Italien, hatte aber eines ihrer bedeutendsten Entwicklungs- und Ausstrahlungszentren auf der iberischen Halbinsel. Die politische Präsenz der spanischen Monarchie in Europa sowie ihre führende Rolle in der Gegenreformation erlaubten die Verbreitung dieser Denkrichtungen. Die Niederlande, Italien, Deutschland (besonders Dillingen und Ingolstadt), Böhmen (Prag) und Polen (Krakau) waren die bedeutendsten Zentren, in denen die erneuerte Version der Scholastik dank der aktiven Präsenz der Jesuiten Fuß faßen konnte.41 Der berühmte Ausspruch von Marcelino Menéndez y Pelayo, Spanien sei "die Mutter der bedeutendsten Scholastiker seit dem Heiligen Thomas" gewesen,^ diente als Leitmotiv für die Bezeichnung "Spanische Scholastik", die in 39
Vgl. z. B. das Werk von V enuncio Carro , La Teologia y los teólogos-juristas espanoles ante la Conquista de América, 2 Bde., Madrid: Publicaciones de la Escuela de Estudios Hispano-Americanos de la Universidad de Sevilla-Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1944, die Studie von A. H. Chroust , A Summary of the Main Achievements of the Spanish Jurist-Theologians in the History of Jurisprudence, in: American Journal of Jurisprudence Nr. 26 (1981) S. 112 ff., sowie den Band von A. Folgado , Evolución histórica del concepto de derecho subjetivo. Estudio especial en los teólogos-juristas espanoles del siglo XVI, El Escoriai: Imprenta del Real Monasteri ο de El Escoriai 1970. 40 Unübersehbar ist der Einfluß der Universität von Paris auf die Ausbildung von Francisco de Vitoria. Ebenso ist daran zu erinnern, daß es an dieser Universität war, wo der schottische nominalistische Theologe John Mair (lateinisch Johannes Maior, spanisch Juan Mayor) in seinen Kommentaren zu Pedro Lombardos In secundum librum sententiarum von 1510 die Legitimität der spanischen Eroberungen in Amerika wegen der kulturellen Überlegenheit über die barbarischen und heidnischen Ureinwohner vertrat. Vgl. P. Letu ria, Maior y Vitoria ante la conquista de América, in: Estudios Eclesiâsticos 2 (1932) S. 44 ff. Zum Einfluß von Maior auf Juan Ginés de Sepulveda vgl. meine in Anm. 31 zitierten Arbeiten. 41 Vgl. K. Eschweiler, Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft Bd. I, 1 (1928) S. 251 ff. 42 M. Menéndez y Pelayo, La Ciencia Espanola (1886), zit. nach der Ausg. von M. Artigas, Madrid: Libreria de Victoriano Suârez 1933, Bd. I, S. 111.
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dieser einen Facette die gesamte vom klassischen spanischen Naturrechtsdenken vertretene kulturelle Bewegung zusammenfaßt. So spielten für Marciai Solana die spanischen Theologen eine wichtige und sogar entscheidende Rolle für die Überwindung des Niedergangs, den die Scholastik des 15. Jahrhunderts hatte erleben müssen. Damals "erstickte" die scholastische Methode "an ihrem eigenen Saft, an der Ausführlichkeit, mit der man Fragen analysiert, die nur geringes oder gar kein Gewicht haben, am Verzicht auf den Gebrauch der Vernunft sowie an der Überbewertung des Arguments der Autorität ..." 43 Die genannten Theologen hätten also den engstirnigen Dogmatismus der im Niedergang begriffenen Scholastik überwunden und diese wieder auf einen Weg zurückgeführt, der einen kritischeren Umgang mit den Quellen und größere Originalität und Sensibilität für die wichtigen religiösen und philosophischen Fragen bedeutete, das Scheitern an Pseudoproblemen vermied und letztlich das Nachbeten fremder Formulierungen durch vernunftgegründete Forschung ersetzte.44
Die Argumentation more scholastico verbindet die Denker der wichtigsten religiösen Orden im Spanien der damaligen Zeit. Eustaquio Galân y Gutiérrez stellt fest: "Die Dominikaner philosophieren ad mentem divi Thomae, die Franziskaner ad mentem subtilis Scoti , die Jesuiten ad mentem eximii Suärez - wo mit sie im Nachhinein den Stil ihres hervorragendsten Vertreters, der zugleich einer der letzten ist, zum Kanon erheben."45 Allerdings weist er auch darauf hin, daß die Unterschiede zwischen den Vertretern der verschiedenen Orden die geistige Einheit des inneren Kreises der spanischen Theologen nicht sprengen, weswegen auch nur wenige "Kleingeister dem eine Bedeutung zumessen, die es nicht hat".46 Teilstudien, die sich jeweils auf nur einen der Orden konzentrieren, waren für die Analyse bestimmter konkreter Probleme nützlich.47 Die großen Unterschiede in den Vorstellungen von Autoren ein und desselben Ordens lassen es jedoch geraten erscheinen, dieses Kriterium nicht als allgemeine 43
M. Solana , Los grandes escolâsticos espanoles de los siglos XVI y XVII: sus doctrinas filosóficas y su signification en la Historia de la Filosofia, Madrid: Imprenta de la Viuda e Hijos de Jaime Ratés 1928, S. 7. 44 Ebd. S. 7 f. 45 E. Galân y Gutiérrez , La teoria del poder politico a la luz del Derecho natural, segùn la Escuela espanola del siglo XVI, in seinem Band lus Naturae, Valladolid: Meseta 1954, S. 447. 46 Ebd. 47 Hier kann man unter anderem das Buch von Bonifacio D if e man, El concepto de Derecho y Justicia en los clâsicos espanoles del siglo XVI (Estudio especial en los clâsicos agustinos), El Escoriai: Imprenta del Real Monasterio de El Escoriai ο. J. (1958?), nennen sowie die jüngeren Sammelbände Los Dominicos y el Nuevo Mundo, Actas del Congreso International de Sevilla vom 21.25. April 1987, Madrid: Deimos 1988, und Los Franciscanos en el Nuevo Mundo, Actas del Congreso International de La Rabida vom 21.-26. September 1987, Madrid: Deimos 1988.
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Richtlinie zu gebrauchen. Es ist daran zu erinnern, daß etwa die Dominikaner Francisco de Vitoria, Domingo de Soto, Bartolomé de Las Casas und Domingo Bänez ein aktives Widerstandsrecht gegen die Tyrannei vertreten, während ihr Ordensbruder Bartolomé Medina dieses ausdrücklich ablehnt.48 Keineswegs geringer sind auch die Unterschiede zwischen den politischen Thesen der Jesuiten Luis de Molina, Juan de Mariana und Francisco S u â r e z . 49 Die Bezeichnung "Spanische Scholastik" scheint also nicht sehr geeignet, um den gesamten verwickelten Komplex von Einflüssen und geistigen Phänomenen des klassischen spanischen Naturrechtsdenkens zu umfassen. Trotzdem sollte man nicht vergessen, daß die Bezeichnungen more scholastico großen Rückhalt in der ausländischen Lehre gefunden haben. Deutsche Theoretiker benutzten ziemlich häufig den Ausdruck "Spätscholastik".50 Dagegen hat der Ausdruck "Zweite Scholastik" (Seconda Scolastica ), der durch das umfassende Werk von Carlo Giacon bekannt geworden ist, 51 im italienischen Denken einen festen Platz gefunden. Paolo Grossi rechtfertigt die Bevorzugung dieser Bezeichnung damit, daß sie ihm angemessener scheint, um ein doktrinäres Phänomen zu umreißen, das der historischen Hemisphäre der Moderne angehört und daher von dem komplexen theoretischen Konglomerat der mittelalterlichen Scholastik einschließlich ihrer späteren Ausläufer unterschieden werden sollte.^ Mir scheinen jedenfalls alle diese Bezeichnungen zur Benennung der klas48
Vgl. E. Galän y Gutiérrez , Algunas cuestiones fundamentales de la filosofia politica en el pensamiento de Bartolomé Medina, Sonderdruck der Revista General de Legislación y Jurisprudencia (Aprii 1945); L. Martinez Roldàn , La fundamentación normativa en Domingo Bànez, Oviedo: Servicio de Publicaciones de la Universidad 1977. 49 Vgl. statt vieler das Buch von Bernice Hamilton , Political Thought in Sixteenth-Century Spain. A Study of the Political Ideas of Vitoria, Soto, Suârez and Molina, Oxford: Clarendon 1963. 50 Vgl. unter anderen die Arbeit von H Thieme , Natürliches Privatrecht und Spätscholastik (zit. Anm. 26); allerdings benutzt derselbe Autor in seinem Beitrag Qu'est-ce que nous, les juristes, devons à la Seconde Scolastique espagnole? zu dem Sammelband von Paolo Grossi (Hg.), La Seconda Scolastica nella formazione del Diritto privato moderno, Berichte des Arbeitstreffens in Florenz vom 16.-19. Oktober 1972, Mailand: Giuffrè 1973, S. 7 ff., in dem Hans Thieme eine zusammenfassende Darstellung des von den klassischen spanischen Naturrechtlern im deutschen Denken hervorgerufenen Echos gibt, auch die Bezeichnung "Zweite Spanische Scholastik". In demselben Sammelband benutzen den Ausdruck "Spätscholastik" auch: Dieter Schwab, Ehe und Familie nach den Lehren der Spätscholastik, S. 73 ff., Franz Wieacker, Contractus und Obligatio im Naturrecht zwischen Spätscholastik und Aufklärung, S. 223 ff., und Christoph Bergfeld, Die Stellungnahme der spanischen Spätscholastiker zum Versicherungsvertrag, S. 457 ff. Zuvor hatte K. Eschweiler mit seiner Monographie Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts (zit. Anm. 41) zur Verbreitung dieser Bezeichnung beigetragen. 51 C. Giacon, La Seconda Scolastica, 3 Bde., Mailand: Fratelli Bocca 1943-1950; Bd. III behandelt I problemi giuridico-politici. Suârez, Bellarmino, Mariana. 52 P. Grossi , Introduzione, in: La Seconda Scolastica nella formazione del Diritto privato moderno (zit. Anm. 50) S. 1.
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sischen spanischen Naturrechtslehre nicht recht geeignet: einerseits meinen sie zu viel, da sie eine kulturelle Bewegung umfassen, die nicht auf das spanische Umfeld beschränkt ist, andererseits meinen sie zu wenig, weil sie nicht den richtigen Bezug liefern für die Einordnung der spanischen Juristen und Philosophen, die trotz ihres Interesses für theologische Fragen doch nicht im strengen Sinne Scholastiker waren.
4 Pérez Lufio
Kapitel III Die klassische spanische Naturrechtslehre im Wechselbild der Geschichtsschreibung L Gab es eine "Spanische Naturrechtsschule"?
In den theoretischen Schlachten der Historiker sind Auseinandersetzungen über Bezeichnungen nicht immer rein rhetorische Fragen. Wörter sind keine unabhängigen, willkürlichen Symbole. Die Überlegungen zu den Namen haben durchaus ihre Bedeutung; sie erlauben es, die Lehrmeinungen über das klassische spanische Naturrechtsdenken schematisch nachzuzeichnen. Die Bezeichnungen ratione loci, ratione temporis oder ratione materiae sind dann nützlic wenn damit ganz bestimmte wichtige Aspekte der betrachteten Gruppe von Denkern hervorgehoben werden sollen. Allerdings sind sie letztlich nicht befriedigend, weil die meisten von ihnen mit dem rhetorischen Tropus der Synekdoche arbeiten, also das Ganze anhand eines seiner Teilaspekte zu erfassen versuchen. Richtig ist, daß es einen gemeinsamen Leitfaden der Gedanken dieses großen, heterogenen Zirkels von Intellektuellen gibt: der von ihnen allen geteilte Bezug zum Naturrecht. Dies bedeutet aber nicht schon, daß man von der Existenz einer "Spanischen Naturrechtsschule" sprechen könnte, da sich deren vermeintliche Mitglieder, was ihre theoretischen und praktischen Vorstellungen und Entwürfe betrifft, erheblich voneinander unterscheiden. Allerdings kann man neben der starken Version des Ausdrucks "Schule", die sich durch eine strenge Einheit der Lehre aller ihrer Mitglieder auszeichnet, auch an eine schwache Version denken, deren besonderes Merkmal darin besteht, daß man in der - wie Eduardo Nicol es genannt hat1 - "Art, die Dinge zu sehen" übereinstimmt. Nach diesem weiten Verständnis als "Art, die Dinge zu sehen", Übereinstimmung in den Fragestellungen (wenn auch nicht unbedingt in den Antworten) oder Ähnlichkeit im Stil oder in der Herangehensweise nähert sich der Begriff der "Schule" dem der "Generation" an. Nach Juliän Marias sind Generationen "wie historische Kreise, die von einem Anziehungsfeld umgeben 1
E. Nicol , El problema de la Filosofia Hispânica, Madrid: Tecnos 1961, S. 166.
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
sind".2 Wenn sie ins Leben treten, fühlen sich die Menschen von bestimmten sozio-kulturellen Gravitationszentren angezogen, mit denen sie sich mehr oder weniger stark identifizieren und denen sie sich zugehörig fühlen. Nur wenn man den Ausdruck "Schule" in dieser schwachen, generationsähnlichen Bedeutung benutzt, kann man von der Existenz einer "Spanischen Naturrechtsschule" sprechen. Um jedoch Mißverständnisse zu vermeiden und das präziser zu benennen, was diese Gruppe von Denkern tatsächlich verkörperte, scheint es angemessener, von den "spanischen Klassikern des Naturrechts" zu sprechen.3 Diese Bezeichnung paßt auch zu der von den magni hispani, wie sie Joseph Kohler gebrauchte, um auf den wertvollsten und langlebigsten Teil des geistigen Erbes der spanischen Naturrechtler zu verweisen. 4 Die Argumente, die in der Vergangenheit auf Interesse stießen und die auch in der Gegenwart noch die Historiker der Rechts- und Staatsphilosophie beschäftigen, versuchen eben gerade festzustellen, worin jenes Erbe besteht, welches (wenn überhaupt) die gemeinsamen Merkmale jener klassischen Naturrechtler in der "Art, die Dinge zu sehen" waren, und ob es zwischen ihnen eine Übereinstimmung der Fragestellungen (oder gar der Antworten) bzw. Gemeinsamkeiten im Stil oder in der Herangehensweise gab. Schon jetzt ist zu sagen, daß die Antworten auf diese Fragen weder einmütig noch endgültig sind. Die spanischen Klassiker des Naturrechts waren kein Phänomen, das irgendwann einmal aufgetreten und das dann auch abschließend erklärt worden wäre. Vielmehr handelt es sich um ein Thema, das der geschichtswissenschaftlichen Reflexion immer wieder aufgegeben ist. Mit einer von Ortega y Gasset genommenen Metapher könnte man sagen, daß die klassischen spanischen Naturrechtler kein Denkmal waren und sind, das man nur reproduzieren könnte, sondern ein 2
J. Marias, El mètodo histórico de las generaciones, Madrid: Revista de Occidente 1949, S. 170. 3 Vgl. Λ. Truyol y Serra , Historia de la Filosofia del Derecho y del Estado, 2. Del Renacimiento a Kant, 3. Aufl., Madrid: Alianza 1988, S. 77; ders., La conception de la paix chez Vitoria et les classiques espagnols du Droit des gens, Paris: Vrin 1988. 4 J. Köhler, Die spanischen Naturrechtslehrer des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (1916-1917) S. 235 ff. Köhler hebt in dieser Arbeit die Flexibilität der naturrechtlichen Vorstellungen der spanischen Klassiker hervor. Das Naturrecht ist für sie kein unverrückbarer, starrer Kodex; zwar lassen sie den universalen, unbedingten Charakter der höchsten Grundsätze unangetastet, doch räumen sie die Anpassung dessen, was sich aus ihnen ableiten läßt, an die historischen Umstände ein. Den magni hispani gelang die Anwendung der allgemeinen Grundsätze des aristotelisch-thomistischen Naturrechts auf die konkreten Erfordernisse ihrer Zeit, so daß sie für zahlreiche ethische, rechtliche und politische Konflikte Lösungen anbieten konnten. Ihre Methode bestand in einer bemerkenswerten Anwendung praktischer Rationalität, die für Juristen nützlich sein kann, deren Arbeit meist die Anwendung allgemeiner Normen auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zum Gegenstand hat.
II. Niedergang und Vergessenheit im 18. Jahrhundert
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Steinbruch, aus dem sich jeder seine eigene Skulptur heraushaut.5 Es wäre eine nicht zu leistende, weil viel zu umfangreiche Aufgabe, die verschiedenen über diese Naturrechtler erstellten Auslegungen im Detail darstellen zu wollen. Sinnvoller als die Aufstellung einer Liste von Lehrmeinungen mit einem Anspruch auf Vollständigkeit scheint es mir, eine Orientierungsskizze der Hauptaspekte und der wichtigsten Positionen in dieser noch immer nicht abgeschlossenen Auseinandersetzung anzubieten.
Π . Niedergang und Vergessenheit der klassischen spanischen Naturrechtler im 18. Jahrhundert
Die Blütezeit der spanischen Lehren zum Naturrecht geht einher mit dem sogenannten Siglo de Oro , womit üblicherweise die Ära des größten Glanzes der spanischen Kultur und des spanischen Universitätslebens bezeichnet wird. Als in der Mitte des 17. Jahrhunderts die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise einsetzt, wird das spanische Geistesleben von dieser Atmosphäre des Niedergangs angesteckt, die insbesondere die Universitäten traf. Im Laufe des 18. Jahrhunderts riß dann ein tiefer Graben zwischen den Universitäten und der Gesellschaft auf. In den dogmatisch an den traditionellen scholastischen Modellen festhaltenden universitären Zentren verkommt das Studium zur bloßen Routine. Die von der Zensur und der Inquisition bedrängten spanischen Universitäten flüchten sich in die Wiederholung überholter Lehren, versteifen sich zur Unbeweglichkeit und ziehen sich immer mehr in sich selbst zurück, so daß sie in eine Isolation geraten, die ihnen jede Aktivität nach außen unmöglich macht. Die Mißstände an den Universitäten beschränken sich nicht auf den Bereich von Lehre und Forschung; ihre ganze Organisationsstruktur zeigt Anzeichen von Korruption, wie sie im Verhökern von Lehrstühlen und akademischen Titeln deutlich werden. Zwischen der Universität von Salamanca als dem Hauptausgangspunkt der klassischen spanischen Naturrechtslehre in der Zeit der Renaissance und des Barock und der Universität von Salamanca, wie sie sich in der wechselvollen Lebensgeschichte von Diego de Torres Villarroel im 18. Jahrhundert widerspiegelt, liegen Abgründe.6 5 J. Ortegay Gasset, Teoria de Andalucia y otros ensayos, in: Obras complétas, Bd. 6, Madrid: Alianza-Revista de Occidente 1983, S. 121. 6 Das berühmte Buch Vida, ascendencia, nacimiento, crianza y aventuras von Diego de Torres Villarroel, Mathematikprofessor an der Universität von Salamanca, das erstmals 1743 erschien (neuerdings: hg. von D. Chicharro, Madrid: Câtedra 1980), bietet eine beißend spöttische, ungenierte Darstellung einer akademischen Anstalt, deren Professoren ihre Gehirne von den Aufgaben des Lesens, Denkens und Schreibens entbunden hatten. In Ermangelung eines geistigen Projekts auf
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
Angesichts dieses Zustandes findet gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine geistige Erneuerungsbewegung ihren Anfang, die die rationalistische europäische Natunechtslehre kennt und in Spanien bekanntmachen will. Ein Ergebnis dieser Erneuemngsbemühungen war die Einrichtung eines Lehrstuhls für Natur- und Völkerrecht an den Königlichen Studien von San Isidro in Madrid im Jahre 1770 und später auch an den Universitäten von Valencia, Granada und Saragossa. In Salamanca wurde damals zwar für dieses Fach kein besonderer Lehrstuhl eingerichtet, es wurde aber in den Seminaren für Öffentliches Recht und Moralphilosophie gelehrt.7 Der erste Inhaber des neu eingerichteten Lehrstuhls in Madrid, Joaquin Marin y Mendoza, veröffentlichte eine schematische, elementare Geschichte des Natur- und Völkerrechts. Sie enthält eine oberflächliche Darstellung der Lehrmeinungen der herausragendsten Vertreter der rationalistischen NatuiTechtslehre und der Vertragstheorie, wobei der Autor unter anderen ausdrücklich auf die Vorstellungen von Grotius, Seiden, Hobbes, Pufendorf, Wolff, Montesquieu und Rousseau eingeht. Marin y Mendoza läßt sich von seiner eigenen Begeisterung für eine aufgeklärte Naturrechtslehre mitreißen und nennt diese Disziplin "das großartigste aller Denkmäler, die den Geist der Menschen erleuchten".8 Sozusagen als Gegengewicht zu dieser Übertreibung äußert sich sein Zeitgenosse José Cadalso in seinem Werk Die Schöngeister spöttisch über die Mode der Zeit, wonach es "keinen Kadetten, Studenten im ersten Semester oder Kaufmannsgehilfen [gibt], der nicht über ... Grotius, Wolff, Pufendorf, Vatel, Burlamachy usw. reden würde".9 Das Werk von Marin y Mendoza ist theoretisch nicht so originell oder gehaltvoll, daß es verdiente, als Klassiker angesehen zu werden. Gerade wegen dieser Mängel ist aber andererseits auch die traditionalistische Kritik ungerechtfertigt, die darin das Programm einer revolutionären Ideologie sieht und der Höhe der gesellschaftlichen und historischen Erfordernisse dümpelte das salmantinische Universitätsleben im 17. Jahrhundert zwischen fruchtlosen Glaubenskämpfen der religiösen Orden und persönlichen Querelen des akademischen Establishment um den Gewinn und Erhalt lächerlicher Stückchen universitärer Macht dahin. 7 Vgl. A. E. Pérez Lufio, Jeremy Bentham y la educación jurìdica en la Universidad de Salamanca durante el primer tercio del siglo XIX, in dem Sammelband L'educazione giuridica, II. Profili storici, Perugia: Università degli Studi di Perugia und Consiglio Nazionale delle Ricerche 1979, S. 158 ff.; ders., Jeremy Bentham and Legai Education in the University of Salamanca during the Nineteenth Century, in: The Bentham Newsletter 5, S. 44 ff., sowie die dort zitierte Literatur. 8 J. Marin y Mendoza, Historia del Derecho Natural y de Gentes (1776), zit. nach der von M. Garcia Pelayo besorgten Ausgabe, Madrid: Institute de Estudios Politicos 1950, S. 31. 9 J. Cadalso, Los eruditos a la violeta (1772), Jueves, Cuarta Lección, zit. nach der Ausgabe von J. Garcia Melerò, Madrid: Club Internacional del Libro 1986, S. 93.
II. Niedergang und Vergessenheit im 18. Jahrhundert
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ihm die Verantwortung für den Bruch mit den Lehren der spanischen Naturrechtsschule zuschreibt.l° Ersteres widerlegt schon Marin y Mendozas ständig wiedelholte Behauptung von der Letztbegründung der rationalistischen Naturrechtslehrei1 in Gott, seine besessene Bemühung darum, das Natur- und Völkerrecht von "verabscheuenswürdigen modernen Schriften" 12, von "den Unarten und Irrtümern vieler Moderner" 13 freizuhalten, sowie seine Mahnung, "die verdächtigen Autoren zu kennen".14 Man kann vermuten, daß diese Bemerkungen nicht ernstgemeint und spontan, sondern daß sie Vorsichtsmaßnahmen aus Furcht vor den Schrecken der Inquisition waren; diese hermeneutische Übung könnte sich auf die damals herrschenden Bedingungen stützen, ließe sich aber nicht mit dem geschriebenen Text des genannten Werkes belegen. Ich neige außerdem dazu, hinsichtlich des angeblichen Bruchs von Marin y Mendoza mit den Klassikern des spanischen Naturrechts anderer Meinung zu sein. Zwar ist es offensichtlich, daß diese Autoren in seinem Werk, verglichen mit der Ausführlichkeit, mit der er die europäischen rationalistischen Naturrechtler behandelt, nur eine unbedeutende Rolle spielen. Dies ist auch ganz logisch in einem Buch, dessen Hauptzweck gerade darin bestand, die neuen Lehren des Natur- und Völkerrechts in Spanien bekanntzumachen. Was die traditionalistischen Kritiker jedoch übersehen, ist, daß Marin y Mendoza der erste war, der den Einfluß der spanischen Klassiker auf die Ausgestaltung des rationalistischen Naturrechts, wie sie Hugo Grotius vorgenommen hatte, erwähnte. Lange bevor diese These sich in Arbeiten vom Beginn dieses Jahrhunderts wie die von Viktor Cathrein,15 James Brown Scott,!6 Pater J. Larequi17 oder 10
Vgl. M. Menéndez y Pelayo, Historiade los heterodoxos espanoles (1880-1882), zit. nach der Ausgabe der Biblioteca de Autores Cristianos, Madrid 1956, Bd. II, S. 607 f. Mit ausdrücklichem Verweis auf die Autorität von Menéndez y Pelayo übernahmen A. de Asis, Manual de Derecho Natural, Granada: Urania 1963, S. 14, und F. Puy, Tratado de Filosofia del Derecho, Madrid: Escelicer 1972, S. 384 f., diese Vorstellungen. ιι J. Marin y Mendoza definiert das Natuirecht als "Menge der von Gott gegebenen und den Menschen durch die natürliche Vernunft vermittelten Gesetze", und er stellt fest, daß "ihr Nutzen und ihre Notwendigkeit, ihre Einsichtigkeit und die Universalität, mit der Gottes mächtige Hand sie den Menschen mitteilte,... das hervorstechendste Merkmal dieser Wissenschaft" sind; vgl. Historia del Derecho Natural y de Gentes (zit. Anm. 8), S. 16 und 26. 12 Ebd. S. 54. 13 Ebd. S. 55. H Ebd. S. 57. 15 V. Cathrein, Ist Hugo Grotius der Begründer des Naturrechts?, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie IV (1910-1911) S. 387 ff. Einige Jahre vor dem Erscheinen dieser Arbeit, am Ende des 19. Jahrhunderts, war in Spanien die Rede von Eduardo de Hinojosa anläßlich seiner Aufnahme in die Königliche Akademie für Geschichte zum Thema El dominico fray Francisco de Vitoria y los origenes del Derecho de Gentes sowie die Entgegnung von Marcelino Menéndez y Pelayo, Algunas consideraciones sobre Francisco de Vitoria y los origienes del Derecho de Gentes
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
später von Giovanni Ambrosetti18 - durchgesetzt hatte, stellte Marin y Mendoza fest, daß die Randbemerkungen und Anmerkungen bei Grotius voller Verweise auf Autoritäten wie "Vitoria, Soto, Medina, Ayala, Covarrubias, Menchaca und andere spanische Denker" sind.19 Man kann Joaquin Marin y Mendoza mangelnden Ehrgeiz, fehlende Kenntnisse oder Fähigkeiten zur tieferen Durchdringung der Verbindungen und Unterschiede zwischen der klassischen spanischen Naturrechtslehre und den rationalistischen Strömungen der Zeit vorwerfen; ihn aber der Verachtung und Feindseligkeit gegenüber diesen Denkern zu bezichtigen, scheint der historischen Wahrheit nicht zu entsprechen.
Π Ι . Die liberale Interpretation des klassischen spanischen Naturrechtsdenkens im 19. und im ersten Drittel des 20· Jahrhunderts
Der Niedergang der klassischen spanischen Naturrechtslehre im 18. Jahrhundert war weniger eine Folge der vermeintlichen Gegnerschaft der Aufklärer als vielmehr der Tatsache, daß diejenigen, die sich, ausgehend von scholastischen Prämissen, als ihre Nachfolger betrachteten, die Lehren nicht angemessen weiterentwickelten und den neuen Umständen anpaßten. Die neo-scholastischen Versionen der Naturrechtslehre im 19. Jahrhundert zogen als Vorbilder neo-thomistische Italiener wie Taparelli oder Prisco der klassischen spanischen Naturrechtslehre vor. In den Weiken von José Mendive, Juan Manuel Orti y Lara, Rafael Rodriguez de Cepeda und des Marquis von Vadillo sind fehlende Originalität, mangelnder theoretischer Zusammenhalt veröffentlicht worden (beide in Madrid: Real Academia de la Historia 1889). Die Arbeit von Menéndez y Pelayo wurde später in seine Ensayos de critica filosofica, hg. von A. Bonillay San Martin, Madrid: Victoriano Suârez 1918, S. 223 ff., aufgenommen; die Arbeit von Hinojosa erschien unter dem Titel Francisco de Vitoria y sus escritos juridicos in Obras, Bd. III, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1974, S. 377 ff. 16/ Brown Scott, El origen espanol del Derecho Internacional moderno, Universität Valladolid 1928; ders., The Spanish Origin of International Law. I: Francisco de Vitoria and his Law of Nations, Oxford: Clarendon 1934; ders., Francisco Suârez. His Philosophy of Law and of Sanctions, in: Georgetown Law Journal XXII (1934) S. 407 ff. 17 / Larequi, ^Grocio, fundador del Derecho Natural?, in: Razón y Fe LXXXVII (1929) S. 530 ff. 18 G. Ambrosetti, I presupposti teologici e speculativi delle concezioni giuridiche di Grozio, Bologna: Zanichelli 1955. 19 Vgl. dazu / Marin y Mendoza , Historia del Derecho Nacional y de Gentes (zit. Anm. 8), S. 29.
III. Die liberale Interpretation im 19. Jahrhundert
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und ein ausgeprägter ideologischer Konservatismus unübersehbar.20 Nur der Dominikanerkardinal Zeferino Gonzâlez zeigte ein bemerkenswertes Interesse an den wichtigsten Lehrern der Schule von Salamanca.21 Zwar erkennt man in manchen Lehren der italienischen Neo-Thomisten durchaus Einflüsse der spanischen Klassiker, die auf Jesuiten - ehemalige Professoren der Universität von Cervera - zurückgehen, die sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Italien niederließen.22 Dabei handelt es sich jedoch stets um eine indirekte Kenntnis, was große Teile der spanischen Neo-Thomisten des 19. Jahrhunderts nicht von der Verantwortung freispricht, eine der wichtigsten und eigenständigsten kulturellen Traditionen Spaniens mißachtet zu haben. Das Erbe der spanischen Klassiker wurde paradoxerweise nicht von denen wieder aufgenommen, die sich selbst als Traditionalisten bezeichnen, sondern von Vertretern reformatorischer, liberaler Ansätze. Francisco Martinez Marina kommt das Verdienst zu, einen Prozeß der Wiederaufwertung der klassischen spanischen Naturrechtler in Gang gesetzt und eine neue, liberal-demokratisch ausgerichtete Lesart seiner Lehren vertreten zu haben. Die Umstände seines schwierigen Lebens, das sich in dem selbstlosen Bemühen verzehrte, die spanischen Wurzeln der Moderne zu belegen, trafen bei seinen auf politischer und kultureller Ebene eher reaktionären Einstellungen verhafteten Zeitgenossen auf Unverständnis und offene Ablehnung. 20
Vgl. J. Castân Tobenas, En torno al Derecho Natural. Esquema histórico y critico, Saragossa: La Académica 1940, S. 50; L Legazy Lacambra, Die Hauptrichtungen der Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie in Spanien, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (1932) S. 50; A. E. Pérez Lufio, El Derecho Natural en la Espana del siglo XX, in: F. Puy (Hg.), El Derecho Naturai Hispanico, Madrid: Escelicer 1973, S. 134 ff.; ders., Rechtsphilosophie und Rechtstheorie in Spanien, in: Rechtstheorie 18:3 (1987) S. 322; L Recaséns Siches , Breve resena sobre el pensamiento juridico y politico espanol e hispanoamericano en el siglo XIX y en el presente, in: ders., Estudios de Filosofia del Derecho, Barcelona: Bosch 1936, S. 450 f. In dieses Panorama geistiger Mittelmäßigkeit, wie es die neo-thomistische spanische Naturrechtslehre des 19. Jahrhunderts darstellt, ist allerdings der gebildete Vielschreiber Marcelino Menéndez y Pelayo nicht einzuschließen. Bei ihm handelt es sich um die bedeutendste Figur des Traditionalismus, und er hat in seiner monumentalen historischen Darstellung des spanischen Denkens eine direkte, tiefe, wenn auch aufgrund seiner konservativen Einstellung oft verzerrte Kenntnis der klassischen spanischen Naturrechtler bewiesen. Menéndez y Pelayo war im übrigen auch kein Spezialist für Rechtsphilosophie oder Naturrecht. Beurteilungen solcher Probleme kommen aus diesem Grund im Gesamtrahmen seines Werkes, das ja eigentlich den Wert der spanischen Wissenschaft und Kultur aufzeigen will, nur am Rande vor. 21 Ζ Gonzâlez , Sobre una Biblioteca de teólogos espanoles, in: ders., Estudios religiosos, filosóficos, cientificos y sociales, Madrid: P. López 1873, S. 207 ff. 22 Vgl. M. Batllori , La irrupción de los jesuitas espanoles en la Italia dieciochesca, in: Razón y Fe (1942) S. 318 ff. und 540 ff.
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Dem Geistlichen Martinez Marina ist der großmütige Versuch zu verdanken, aufgeklärtes Denken mit der spanischen Tradition zusammenzubringen. Im Sinne dieser These, die das eigentliche Leitmotiv seines Werkes darstellt, begründet er Anfang des 19. Jahrhunderts eine "Erneuerungs"-Bewegung, die am Ende des Jahrhunderts in Joaquin Costa und anderen Vertretern der sogenannten "Generation von 98" ihren Höhepunkt finden sollte. Der Erneuerungsdrang zeigt sich bei Martinez Marina in seiner aufgeklärten Sorge um die Bildung, also um das, was er "Bewegung zur Verbreitung der Aufklärung" nennt.23 Ohne ein ehrgeiziges Bildungsprogramm, mit dessen Hilfe Unwissenheit, Aberglaube und Fanatismus überwunden werden könnten, verlören die Völker ihre Würde und "[gewöhnten] sich an Unterdrückung, bis sie am Ende ihre Fesseln sogar lieben".24 Um Spanien aus seinem gesellschaftlichen und politischen Niedergang zu führen, sei daher als erstes ein Volksbildungsprogramm erforderlich, das "die Öffentlichkeit über die höchsten Wahrheiten [aufklärt], auf denen die Rechte des Menschen in Gesellschaft und die Gerechtigkeit unserer Freiheit beruhen".2^ Die von Francisco Martinez Marina geleistete Wiedergewinnung des klassischen spanischen Denkens beruht auf drei nacheinander unternommenen Bemühungen:
(1) Seine geistige Tätigkeit beginnt mit einer Neubewertung der demokratischen Rolle der traditionellen Institutionen der spanischen Politik - insbesondere der Cortes von Kastilien und León - vor dem Absolutismus. Hierauf ist sein Historisch-kritischer Essay über die alte Gesetzgebung und die wich Rechtsorgane der Königreiche von Kastilien und León ebenso gerichtet w seine Theorie der Cortes 2 6 Diese Werke sollen zeigen, daß die Verfassung von 23
F. Martinez Marina, Principios naturales de la Moral, de la Politica y de la Legislación, verfaßt um 1822, zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht, in einer postumen Ausgabe - mit einer Einführung von Adolfo Posada - erschienen in Madrid: Academia de Ciencias Moraley y Politicas 1933, hier S. 15. Für eine sorgfältige Darstellung des Denkens dieses Autors vgl. das Werk von Jaime Alberti, Martinez Marina: Derecho y Politica, Oviedo: Biblioteca Académica Asturiana und Caja de Ahorros de Asturi as 1980. 24 F. Martinez Marina , Vorwort zu seinem Werk Teoria de las Cortes (1813), hier zitiert nach der Ausgabe von J. Martinez Cardós , Obras Escogidas de Don Francisco Martinez Marina II, Bd. 219 der Biblioteca de Autores Espanoles, Madrid: Atlas 1968, S. 21. 25 F. Martinez Marina, Discurso sobre las Sociedades Patrióticas, Madrid: Imprenta de la Compania 1820, S. 27. 26 F. Martinez Marina, Ensayo histórico-critico sobre la antigua legislación y principales Cuerpos legales de los Reinos de León y Castilla (1808), jetzt in den Obras Escogidas de Don Francisco Martinez Marina I, Bd. 194 der in Anm. 24 genannten Reihe, S. 5 ff.; ders., Teoria de las Cortes (zit. Anm. 24).
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Câdiz von 1812, mit der in Spanien das Verfassungszeitalter beginnt und der erste Versuch eines Rechtsstaates unternommen wird, 27 keine bloße Kopie der französischen Revolutionsverfassung ist, sondern daß sie an die durch den Absolutismus der Monarchen aus dem Hause Austria und der Bourbonen unterbrochene demokratische Tradition in Spanien anknüpft. (2) Als infolge der absolutistischen Reaktion die Verfassung von Câdiz außer Kraft gesetzt und Martinez Marina von der Inquisition angeklagt wird, verfaßt er zu seiner Verteidigung eine beeindruckende Deferisci, in der er seine umfassenden Kenntnisse der Werke der klassischen spanischen Naturrechtler - besonders von Francisco de Vitoria, Domingo de Soto, Gabriel Vâzquez, Fernando Vâzquez de Menchaca, Melchor Cano, Juan de Mariana und Francisco Suârez - eindrucksvoll belegt.28 Obwohl dieses Weik unter dem Druck der Ereignisse geschrieben wurde, ist es der erste systematisch-theoretische Versuch, die spanischen Klassiker vom Standpunkt der kulturellen und politischen Fragestellungen und Ansätze der Moderne zu lesen. Seine Arbeit und sein Vorbild in der Bewältigung dieser geistigen Aufgabe sind so anerkennenswert, daß sogar der hervorstechendste Vertreter des Traditionalismus, Marcelino Menéndez y Pelayo, von seinem konservativen Standpunkt aus nicht zögerte, die Inquisiteure, die Martinez Marina als Häretiker behandelten, "schlecht beratene Theologen" zu n e n n e n . 29
(3) In seinem letzten Lebensabschnitt, der mit seiner Verbannung nach Saragossa nach der Wiederherstellung des Absolutismus ab 1823 zusammenfällt, verfaßt er seine Natürlichen Grundsätze der Moral der Politik und der Ges gebung als definitive Zusammenfassung seines Denkens. In diesem Werk nimmt er die klassische spanische Naturrechtslehre demokratischer Ausrichtung als Bezugspunkt, um die historischen Wurzeln der Prinzipien des Konstitutionalismus - Orientierung alles politischen Handelns am Gemeinwohl und Bürgerfreiheiten; demokratische Teilhabe an der Macht durch Anerkennung 27
Vgl. A. E. PérezLuno, Los derechos fundamentales en la Constitución de Câdiz de 1812, in: Anuario de Derechos Humanos (1983) Bd. 2, S. 347 ff. 28 F. Martinez Marina, Defensa del Doctor Don Francisco Martinez Marina contra las censuras dadas por el Tribunal de la Inquisición a sus obras, Teorìa de las Cortes y Ensayo histórico-crìtico sobre la antigua legislación de Espana (1818), jetzt in Obras Escogidas de Don Francisco Martinez Marina III, Bd. 220 der zitierten Reihe, S. 253 ff. 29 M. Menéndez y Pelayo , Algunas consideraciones sobre Francisco de Vitoria y los origenes del Derecho de Gentes (1889), in: Ensayos de critica filosófìca (zit. Anm. 15) S. 232. Menéndez y Pelayo bemerkt dort auch, daß "man immer wird anerkennen müssen (und dies ist die wahre Größe von Martinez Marina), daß sogar seine Irrtümer noch fruchtbar waren und daß es ohne ihn die spanische Rechtsgeschichte nicht gäbe".
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der Volkssouveränität; Recht und Pflicht des Volkes, durch Ungehorsam gegen Unrechte Gesetze der Tyrannei Widerstand zu leisten - a u f z u z e i g e n . 3 0 Auf der Geschichtsschreibung zum zeitgenössischen spanischen Denken lastete bislang wohl allzu erdrückend die Meinung Menéndez y Pelayos, der den katalanischen Priester Jaime Balmes als "katholischen Apologeten" 31 und "Symbol der spanischen Kulturtradition"32 bezeichnet hat. Zwar ist es sicher richtig, daß dessen philosophische Doktrin einen nicht zu leugnenden neo-scholastischen Einfluß aufweist, der aus der Zeit seiner Ausbildung an der Universität von Cervera stammt; ebenso richtig ist aber auch, daß dieser von seiner Sympathie für den Rationalismus im Anschluß an Descartes, Leibniz und Kant sowie für die common-sense-Phiiosophie Reids und der Schottischen Schule erheblich überdeckt wird. Auch hinsichtlich seiner politischen Ansichten kann man seine Ideologie nicht als traditionalistisch und schon gar nicht als reaktionär bezeichnen. Seine Verteidigung der Freiheit des Menschen, der Beteiligung des ganzen Volkes am Wohlstand durch soziale Reformen, seine Offenheit fur wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, sein Pazifismus - all dies unterscheidet ihn deutlich vom offiziellen konservativen Neo-Thomismus, wie er in Spanien im 19. Jahrhundert vorherrschte. Die unvoreingenommene Gesamtbetrachtung seines Denkens hat neuerdings bewirkt, daß man nun von der "grundlegend liberalen Bedeutung seiner Lehren und Auffassungen" sprechen k a n n . 33 Diese liberale und demokratische Grundhaltung prägt auch die Annäherung Balmes' an die klassischen spanischen Naturrechtler, auf die er in seinem bekannten Werk El Protestantismo comparado con el Catolicismo eingeht, in dem er den Beitrag der katholischen Kultur zur Entwicklung der Volkssouveränität (er verteidigt Suärez' These vom mittelbaren Ursprung der Macht), zur Beschränkung der Macht, zu den Freiheiten und zum Widerstand gegen Unrecht und Despotie (er skizziert in diesem Zusammenhang die Thesen von Mariana und Saavedra Fajardo) aufzeigen will.34 30
F. Martinez Marina, Principios naturales de la Moral, de la Politica y de la Legislación (zit. Anm. 23) bes. S. 242 ff. 31 M. Menéndez y Pelayo , La historia externa e interna de Espana en la primera mitad del siglo XIX, in ders., Estudios y discursos de crìtica histórica y literaria, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1942, Bd. VII, S. 283 ff. 32 M. Menéndez y Pelayo , Balmes corno simbolo de la cultura tradicional espanola, in: ders., Textos sobre Espafia, Madrid: Rialp 1955, S. 343 ff. 33 J. L Abelldn , Historia crìtica del pensamiento espanol 4: Liberalismo y Romanticismo (18081874), Madrid: Espasa-Calpe 1984, S. 356. 34 J. Balmes , El Protestantismo comparado con el Catolicismo en sus relaciones con la civilización europea (1842-44), 9. Aufl., Barcelona: Imprenta Barcelonesa 1910, Bd. III, S. 197 ff. Balmes verweist auf die Freiheiten und Vorrechte sowie auf die demokratischen Institutionen vor der Zeit
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Der Neubewertung des klassischen spanischen Denkens durch Antonio Cänovas del Castillo, einen der berühmtesten liberalen Politiker des 19. Jahrhunderts, wurde bislang nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Wir verdanken Cänovas bedeutende historiographische Beiträge zum Spanien der Epoche der habsburgischen Könige; in diesem Zusammenhang ist hier insbesondere auf seine Untersuchung De las ideas politicas de los espanoles durante la Casa de Austria hinzuweisen. In dieser Arbeit zeigt er die auf ihre größeren theoretischen Fähigkeiten und ihre Offenheit für die Verteidigung der Freiheiten gegründete Überlegenheit der spanischen Klassiker über die katholischen Autoren des 19. Jahrhunderts. Er erläutert ziemlich eingehend - und mit eindeutig positiver Bewertung - die demokratischen Thesen Juan de Marianas, Juan Mârquez' sowie der anti-machiavellistischen, die Vorstellung von der "Staatsraison" kritisierenden spanischen Autoren.3^ Cänovas führt den Niedergang Spaniens auf die absolutistische Monarchie zurück, die die Freiheiten aufhob und mit der eine Epoche der Knechtschaft und des Aberglaubens begann, "die der spanischen Nation so großen und nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt hat". 36 des Absolutismus und stellt fest: "Spanien war unter den monarchischen Nationen der Vorreiter im Hinblick auf Formen der Volksbeteiligung. Die Entwicklung ging zu früh zu weit, was zu ihrem Scheitern beitrug"; ebd. Bd. IV, S. 110. An der gleichen Stelle spricht er auch auf eine Weise von dem "Unterschied zwischen der alten und der modernen Freiheit", die an Benjamin Constant erinnert. Die alten Freiheiten wurden nach Balmes vom Adel und vom Volk als an die Geschichte und die Traditionen ganz bestimmter Territorien gebunden betrachtet, wie etwa im Fall der mittelalterlichen Freiheiten in Kastilien oder Katalonien. Ihr Hauptmangel war gerade ihre Beschränkung auf lokale Gegebenheiten. Dieser Partikularismus erschwerte das Entstehen einer allgemeinen solidarischen Reaktion, als diese Freiheiten in der Zeit des Absolutismus mißachtet oder abgeschafft wurden. Die moderne Freiheit ist weniger präzise und konkret, aber gerade wegen ihrer Allgemeinheit auch schwerer zu zerstören, "weil sie dadurch, daß sie eine von allen Völkern verstandene Sprache spricht und sich als ein allen Nationen gemeines Anliegen darstellt, universale Zustimmung findet und umfassendere Zusammenschlüsse zu ihrem Schutz bilden kann ..." Balmes zeigt ein klares Bewußtsein von der Bedeutung der Modernität für die universale Anerkennung der Freiheiten, aber audi von den damit verbundenen Schwierigkeiten. In der Moderne "weisen Wörter wie Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte, Teilnahme des Volkes an den öffentlichen Angelegenheiten, ministerielle Verantwortlichkeit, öffentliche Meinung, Pressefreiheit, Toleranz und ähnliche zweifellos ganz verschiedene Bedeutungen auf, die schwer zu fassen und einzuordnen sind, wenn es um die konkrete Anwendung geht; trotzdem liefern sie aber dem Geist gewisse Ideen, die kompliziert und konfus sind, obwohl sie den falschen Anschein der Einfachheit und Klarheit erwecken". Deswegen scheint der, der die modernen Freiheiten fordert und verteidigt, "in den hohen Rang eines Verteidigers der Rechte der gesamten Menschheit" erhoben; ebd., 112 f. 35 A. Cänovas del Castillo, De las ideas politicas de los espanoles durante la Casa de Austria, in: Revista de Espana Bd. IV Nr. 16 (1868) S. 497 ff., und Bd. V Nr. 21 (1868) S. 40 ff. Hinsichtlich der zeitgenössischen katholischen Autoren zeigt er seine Sympathie für Jaime Balmes, weil dieser die Despotie ablehnt; ebd., Bd. IV Nr. 16, S. 498. 36 Ebd., Bd. V Nr. 21, S. 42 ff.
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Die tiefgehende Krise am Ende des 19. Jahrhunderts, deren Ausbruch mit dem Verlust der letzten Kolonien des spanischen Reiches in Kuba, Puerto Rico und den Philippinen zusammenfällt, führt zur Entstehung einer breiten "regenerationistischen" Bewegung. Die sogenannte "Generation von 98" sollte auf radikale, nachdrückliche und tiefgründige Weise die Notwendigkeit einer Erneuerung des wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens in Spanien fordern, wie sie schon zu Beginn des Jahrhunderts von Martinez Marina verspürt worden war. Die Regenerationistenrichtenihren Blick zurück auf die Autoren des Siglo de Oro , um bei ihnen als den Exponenten der Ideale Spaniens vor der langen Periode des Niedergangs Anregungen und Anstöße für das geistige und politische Leben des Landes zufinden. Dieser Zweck führt dazu, daß die Interpretation der Klassiker einem bestimmten "Erkenntnisinteresse" dient und daß philologische Gelehrsamkeit meist der pragmatischen Absicht untergeordnet wird, die mit diesem revival verfolgt werden soll. Dies mindert jedoch keineswegs ihren Wert - weder auf der theoretischen Ebene (es handelt sich keineswegs um pamphletarische Literatur, sondern durchaus um Arbeiten von unbestreitbarem wissenschaftlichem Wert) noch gar auf der ideologischen (schließlich geht es stets um die Stärkung der Sache der Freiheit und der Demokratie in Spanien). In diesem Zusammenhang stehen die Arbeiten von Joaquin Costa, einem der repräsentativsten Exponenten des spanischen Krausismus und des regenerationistischen Geistes von 1898. Aus seinem äußerst umfangreichen Werk ist in diesem Zusammenhang vor allem auf seine Anmerkungen zur Geschichte der politischen Ideen in Spanien3? sowie auf sein Buch über Die Ignoranz des Rechts38 hinzuweisen. Beide Arbeiten bieten eine anregende Annäherung an die am meisten demokratischen und daher den Fragestellungen der Moderne und auch seinen eigenen Überzeugungen am nächsten stehenden Aspekte der spanischen Klassiker. Costa erweist sich als ausgesprochen kenntnisreich hinsichtlich des spanischen politischen und rechtlichen Denkens des Siglo de Oro. Theoretisch fühlt er sich den Thesen von Diego Covarrubias, Martin de Azpilcueta und Antonio Escobar besonders verbunden, die die Verbindlichkeit der Gesetze von ihrer 37 J. Costa, Apuntes para la historia de las doctrinas politicas en Espana, in seinen Estudios juridicos y polfticos, Madrid: Imprenta de la Revista de Legislación 1884. 38 y. Costa, El problema de la ignorancia del Derecho y sus relaciones con el status individual, el referendum y la costumbre, hier zitiert nach der Ausgabe von S. Sentis Melendo, Buenos Aires: Ediciones Juridicas Europa-América 1957. Die erste Ausgabe erschien bei der Imprenta de San Francisco de Sales, Madrid 1901. Über die allgemeine Bedeutung dieses Werkes vgl. mein Buch La seguridad juridica, Barcelona: Ariel 1991, S. 73 ff.
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Anerkennung bzw. Annahme durch das Volk abhängig machen. Er hält diesbezüglich das Denken Francisco Suârez' für "aufrichtig, aber unentschlossen", weil dieser die Anerkennungslehre zwar für demokratische politische Systeme vertrat, sie aber für solche Systeme verwarf, in denen das Volk seine Souveränität vollständig abgegeben habe (suprema potestas). Selbst für diese Hypothese habe Suârez - so Costa - Ausnahmen von solcher Tragweite formuliert, daß sie die ganze These entwerten, denn er mache den Gehorsam gegenüber dem Gesetz von drei Bedingungen abhängig: (1) daß es gerecht sei, da es andernfalls die Befugnis des Gesetzgebers überschreite; (2) daß es nicht zu streng (dura et gravis) sei, denn man müsse wegen der Rationalität des Gesetzgebers davon ausgehen, daß er es nur erlassen hat, um versuchsweise zu seiner Einhaltung zu verpflichten; und (3) daß seine Einhaltung nicht eine derartige Unordnung hervorrufe, daß es zu einer Revolution kommen kann. 39 Ebenfalls gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts erscheinen auch die Arbeiten von Eduardo de Hinojosa y Naveros, dem Begründer einer Schule spanischer Rechtshistoriker von tiefem und dauerhaftem Einfluß, zum klassischen spanischen Denken. Seine wichtigsten Beiträge zur Erforschung der spanischen Klassiker beziehen sich auf zwei bedeutende Aspekte: (1) die Arbeit an der Darstellung des Beitrags der klassischen spanischen Naturrechtler - insbesondere Francisco de Vitorias - zur Entstehung des modernen Natur- und Völkerrechts. Hinojosa vertritt die Meinung, die Lehren von Gentiii und Grotius seien nicht unabhängig von den spanischen Klassikern zu verstehen und unterschieden sich weder in der Methode noch in den Grundlagen von den Thesen Vitorias: "Der Unterschied zwischen ihnen hegt vor allem darin, daß die beiden protestantischen Autoren in Werken, die auf langen Jahren der Forschung beruhen und mit aller Sorgfalt ausgearbeitet sind, in aller Ausführlichkeit und Breite eben die Themen behandeln, die Francisco de Vitoria in der Kürze und Knappheit, wie sie Gelegenheitsvorträgen eigen sind, hat abhandeln müssen" 40; (2) eine in ihrer historischen und systematischen Strenge allen bisher vorgelegten Arbeiten überlegene Analyse und Darstellung der Auswirkungen der klassischen Lehren auf die normative und institutionelle Entwicklung des spanischen Rechts. Diesbezüglich stellt er mit ausdrücklichem Verweis auf die Leyes de Indias - die für die hispanoamerikanischen Kolonien erlassenen sogenannten "Indien-Gesetze" - fest: 39
Ebd. S. 89 ff. E. de Hinojosa y Naveros, El dominico fray Francisco de Vitoria y sus escritos juridicos (zit. Anm. 15) S. 412; vgl. auch seine spätere Arbeit: Los precursores espanoles de Grocio, Sonderdruck des Anuario de Historia del Derecho Espanol (1929) Nr. 6, wiederabgedruckt in Obras (zit. Anm. 15) Bd. III, S. 429 ff., mit einem knappen Verweis auf das Denken de Vitorias und Suârez'. 40
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"[Z]war war in diesen Gesetzen generell die humanitäre und wahrlich christliche Ausrichtung vorherrschend, deren mutiger Vorreiter der unermüdliche Las Casas und deren Hauptvertreter auf wissenschaftlichem Gebiet Vitoria gewesen ist, aber in der Praxis entsprach das Verhalten der spanischen Beamten und insbesondere der militärischen Abenteurer, die in der Neuen Welt herumwimmelten, häufig weniger dem geschriebenen Gesetz als vielmehr den von Sepulveda vertretenen Theorien, die doch trotz aller gegenteiligen Beteuerungen des gelehrten Humanisten ihren Teil zu diesem Ergebnis beigetragen haben müssen." 41
Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erscheint eine Reihe von Arbeiten, die auf einen direkten Impuls von Hinojosas Werk zurückgehen und dessen Überlegungen bekräftigen und/oder weiterentwickeln. Dazu gehört etwa die von Salvador Torres Aguilar-Amat zur Eröffnung des akademischen Jahres 1891-92 gehaltene Rede über Den Begriff des Rechts bei den spanischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts. Darin wird die Rolle der klassischen spanischen Naturrechtler für die Übertragung der thomistischen Moraltheorien auf den politischen und rechtlichen Bereich und damit verbunden auf deren Verbreitung unter den Juristen sowie ihr größeres Gewicht im praktischen Leben für entscheidend erachtet.42
Aus derselben Zeit und mit derselben Herangehensweise, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau, gibt es auch Arbeiten wie die von Jerónimo Bécker, Mitglied der Königlichen Akademie für Geschichte, zur Spanischen Rechtstradition - ein schematisches Werk, das die Haupttheorien der klassischen Naturrechtler und politischen Denker in knapper Zusammenfassung darstellt - 4 3 oder die Doktorarbeit von Joaquin Girâldez y Riarola Über die Staatsrechtstheorien der spanischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts - ein Werk, das sich v der Zurückhaltung und argumentativen Strenge Hinojosas entfernt und in apologetischen Beteuerungen ergeht. Doch auch diesem Autor geht es darum, das demokratische Erbe der klassischen spanischen Naturrechtler zurückzugewinnen, von denen er sagt,44 daß sie "als Verfechter des öffentlichen Friedens als dem höchsten Staatsziel den Königen stets zu strengster Gerechtigkeit in der 41 E. Hinojosay Naveros, Influencia que tuvieron en el Derecho publico de su patria y singularmente en el Derecho penal los filósofos y teólogos espanoles anteriores a nuestro siglo, Madrid: Tipografia de los Huérfanos 1890, S. 189. 42 S. Torres Aguilar-Amat , El concepto del Derecho segun los escritores espanoles de los siglos XVI y XVn, Discurso Académico de Apertura del Curso 1891-92, Madrid: Imprenta Colonial 1891. 43 J. Bécker , La tradición juridica espanola, Madrid: Imprenta de Raoul Péant 1896. Jerónimo Bécker ist auch Autor eines Buches über La Independencia de América (Su reconocimiento pce: Espana), Madrid: Jaime Ratés 1922. 44 7. Girâldez y Riarola , De las teorias de Derecho politico en los escritores espanoles de los siglos XVI y XVII, vorgelegt anlaßlich der Promotion zum Dr. jur. an der Universidad Central, Sevilla: Imprenta de E. Rasco 1898, S. 126.
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Ausübung ihrer Autoritätrieten... und so lange zuvor schon das vom modernen Staatsrecht proklamierte Prinzip formulierten, daß die öffentliche Meinung allem Regierungshandeln zugrundeliegen soll." Das theoretische Bemühen um den Nachweis des Beitrags des klassischen spanischen Denkens zur Herausbildung der modernen Vorstellungen von Freiheit, Demokratie, Volkssouveränität und Rechtsstaat dauert auch zu Beginn dieses Jahrhunderts an. Neben den Arbeiten von Ramón Riaza und Eloy Bullón, die weiter oben schon erwähnt w u r d e n , 4 5 ist für diesen Zeitraum die Abhandlung von Recaredo Fernândez de Velasco über Die Lehre von der Staatsraison bei den spanischen Autoren vor dem 19. Jahrhundert nen. Die Untersuchung zielt in erster Linie auf eine Darstellung der machiavellistischen und anti-machiavellisüschen spanischen Literatur aus der Zeit der Gegenreformation und des Barock ab. Fernândez de Velasco entfaltet - wenn auch nicht immer mit der gebotenen Systematik - seine umfassende Kenntnis der klassischen Quellen und kommt zu der Einschätzung, daß bei den spanischen Klassikern eine Auffassung vorherrscht, wonach politisches Handeln ethischen Anforderungen und Gerechtigkeitsgeboten unterworfen sei. Fernândez de Velasco stellt dementsprechend der machiavellistisch inspirierten "Staatsräson" eine solche gegenüber, die ihrerseits die liberalen Revolutionen inspiriert habe und "deren Aufgabe es ist, mit Hilfe der Solidarität der Menschen die Gerechtigkeit zu verwirklichen, ... die Freiheit und Demokratie sichert und erhält" .46 Das Interesse für die klassische spanische Naturrechtslehre im 19. und in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ist im übrigen kein ausschließlich spanisches Phänomen. Es wäre eine unverzeihliche Unterlassung, wollte man die zahlreichen wichtigen Beiträge ausländischer Autoren zu diesem Thema verschweigen. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts - genauer gesagt: 1816 - finden wir eine Untersuchung des schottischen Historikers und Philosophen James Mackintosh, in der auf den entscheidenden Beitrag der spanischen Philosophen des 16. 45 R. Riaza , La Escuela espanola de Derecho Natural, in: Universidad (1925) Nr. 2, S. 317 ff., und E. Bullón y Fernândez , El concepto de la soberania en la escuela juridica espanola del siglo XVI, Madrid: Imprenta Sucesores de Rivadeneyra 1935. 46 R. Fernândez de Velasco , La doctrina de la razón de Estado en los escritores espanoles anteriores del siglo XIX, Vortrag zur Eröffnung des akademischen Jahres 1925-26 an der Universität von Murcia, Madrid: Reus 1925, S. 88; vgl. auch ders., Apuntes para un estudio sobre el tiranicidio y el Padre Juan de Mariana, Sonderdruck der Revista de Ciencias Juridicas y Sociales (1919) Nr. 2, sowie Referencias y transcripciones para la historia de la literatura politica en Espana, Madrid: Reus 1925. 5 Pérez Luno
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Jahrhunderts zur Entwicklung der Naturrechtslehre sowie des modernen Staatsund Völkerrechts hingewiesen wird. 47 Später, im Jahre 1836, bezeichnet derselbe Autor in seiner Dissertation on the Progress of Ethical Philosophy Vito ria, Las Casas und Soto aufgrund ihrer entschiedenen Verurteilung der Versklavung der Indios und der Behandlung der Schwarzen als im Kampf um die Rechte aller Menschen ihrer Zeit voraus.48 Diese Thesefindet sich auch in dem Werk des Völkerrechtshistorikers Henry Wheaton - nordamerikanischer Diplomat und später Professor in Harvard -, der in seiner History of the Law of Nations (zuerst erschienen 1841 in französischer Sprache, dann 1845 auch auf Englisch) keinen Zweifel an der Bedeutung der spanischen Universitäten des 16. Jahrhunderts und besonders des Denkens von Francisco de Vitoria und Baltasar de Ayala für die Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts läßt.49 Um die Mitte des Jahrhunderts erscheint dann in Deutschland das wichtige Werk von Karl Baron Kaltenborn von Stachau über die Vorläufer von Grotius in der Ausgestaltung des Natur- und Völkerrechts. Er untersucht darin zwei Lehrrichtungen, die unmittelbaren Einfluß auf Grotius' theoretische Vorbildung besessen hatten: die protestantische und die katholische. Bezüglich der letzteren stellt er das Denken von Vâzquez de Menchaca, Covarrubias, Suârez, Molina und Soto dar, erwähnt jedoch - was wirklich erstaunlich ist - Vitoria nicht.50 Zwanzig Jahre später war die Entdeckung und Publikation von Grotius' bis da47
J. Mackintosh in der Edinburgh Review XXII (Sept. 1816); Marcelino Menéndez y Pelayo kommt das Verdienst zu, in seiner Entgegnung Algunas consideraciones sobre Francisco de Vitoria y los origenes del Derecho de Gentes auf die Antrittsrede El dominico fray Francisco de Vitoria y los origenes del Derecho de Gentes von Eduardo de Hinojosa vor der Königlichen Akademie für Geschichte, beides erschienen in Madrid: Real Academia de Historia 1889, auf diese Arbeit hingewiesen zu haben. Die Arbeit von Menéndez y Pelayo wurde später wiederabgedruckt in seinen Ensayos de critica filosofica, hg. von A. Bonilla y San Martin, Madrid: Victoriano Suârez 1918, dort S. 240. 48 J. Mackintosh , Dissertation on the Progress of Ethical Philosophy, Edinburgh: A. Sl C. Black 1836, Neudruck Bristol: Thoemmes 1991, S. 107 ff. 49 H. Wheaton , Histoire des progrès du Droit des gens en Europe et en Amérique depuis la paix de Westphalie, Leipzig 1841, engl.: History of the Law of Nations in Europe and America since the Peace of Westfalia, New York 1845. 50 K. Kaltenborn von Stachau, Zur Geschichte des Natur- und Völkerrechts sowie der Politik. 1. Bd.: Die Vorläufer des Hugo Grotius auf dem Gebiete des lus naturae et gentium sowie der Politik im Reformationszeitalter, Leipzig 1848, Kap. VI. Zum Werk von Karl Baron Kaltenborn von Stachau siehe auch G. Ambrosetti , I presupposti teologici e speculativi delle concezioni giuridiche di Grozio, Bologna: Zanichelli 1955, S. 23 ff.; E. Wolf \ Hugo Grotius, in seinem Grosse Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen: J. C. B. Mohr 1963, S. 307, sowie aus jüngerer Zeit die sorgfältige Studie von A. Truyol y Serra , Grotius dans ses rapports avec les classiques espagnoles du Droit des gens, in: Recueil des Cours de Γ Académie de Droit International de La Haye Bd. 182 (1984), S. 431 ff., deren Kenntnis ich dem liebenswürdigen Entgegenkommen des Autors verdanke.
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hin unveröffentlichtem Manuskript der Abhandlung De iure praedae für Robert Fruin, Professor an der holländischen Universität von Leiden, Anlaß zu einer Bewertung des Beitrags der spanischen Klassiker zum Werk von Grotius. Nach der ausgewogenen Meinung Fruins ist Grotius nicht als Begründer des Naturund Völkerrechts anzusehen, sofern man darunter jemanden versteht, der etwas zuvor Unbekanntes entdeckt hat. Die Grundbegriffe dieser Disziplinen seien insbesondere von den klassischen spanischen Naturrechtlern schon vorgestellt und entwickelt worden; allerdings komme Hugo Grotius das unbestreitbare Verdienst zu, das theoretische Erbe seiner Vorgänger so umgearbeitet zu haben, daß sich daraus ein System errichten ließ. 51 Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts trugen dann auch zwei belgische Verfasser, beide Professor an der Freien Universität Brüssel, merklich dazu bei, die Rolle des klassischen spanischen Denkens bei der Entstehung des modernen Natur- und Völkerrechts zu bekräftigen. Dies läßt sich dem von Alphonse Riviera vorgelegten wohldokumentierten Inventar der geistigen Vorläufer Grotius' und ganz besonders den kenntnisreichen Studien von Ernest Nys entnehmen. Nys verdanken wir drei anregende Interpretationen des klassischen spanischen Naturrechtsdenkens: die erste zeigt dessen Rolle als Bindeglied zwischen dem Denken des Mittelalters und dem der Moderne auf, die zweite hebt die liberal-demokratische Bedeutung ihrer Lehren hervor und die dritte erkennt seine wesentliche Teilhabe an der Entstehung des Völkerrechts an. 53 Zu Beginn unseres Jahrhunderts lieferten dann auch der schweizerische Jesuit Viktor C a t h r e i n 5 4 und der deutsche Professor Joseph K o h l e r 5 5 Beiträge zur Bekräftigung der Rolle der spanischen Klassiker bei der Ausgestaltung des Naturrechts sowie des Völkerrechts der Moderne. Zweifellos war es aber der nordamerikanische Völkerrechtler James Brown Scott, der den Wert der spanischen Vorläufer für das Werk von Grotius am entschiedensten und zwingendsten herausgearbeitet hat. Scott geht sogar so weit, den Schwerpunkt der Ent51 R. Fruin, An Unpublished Work of Grotius (1868), wiederabgedruckt in Bibliotheca Visseriana Bd. V (1928) S. 59 ff.; vgl. auch A. TruyolySerra (zit. Anm. 50) S. 434 ff. 52 Λ. Rivier, Note sur la littérature du droit des gens avant la publication du lus belli ac pacis de Grotius, Sonderdruck des Bulletin de Γ Académie Royale de Belgique Nr. 9-10 (1883). 53 E. Nys , Les origines du Droit international, Paris: Thorin 1894; ders., Les publicistes espagnoles du XVI siècle et le droit des indiens, in: Revue de Droit International et de Legislation Comparée Bd. XXI (1889) S. 532 ff.; ders., Les jurisconsultes espagnoles et la science du droit des gens, in: Revue de Droit International et de Legislation Comparée Bd. XLIV (1912) S. 360 ff., 494 ss. und 614 ff. 54 V. Cathrein , Ist Hugo Grotius der Begründer des Naturrechts? (zit. Anm. 15). 55 J. Kohler, Die spanischen Naturrechtslehrer des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (1916-17) S. 235 ff.
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stehung des Völkerrechts zu verschieben: Vitoria und Suârez treten hier nicht mehr als bloße Vorläufer von Grotius als dem Begründer des Völkerrechts auf, sondern als die eigentlichen Begründer dieser Disziplin.56 Anläßlich einer Vortragsreihe an der Universität von Salamanca drückte Scott seine These in einem lapidaren - und einigermaßen bombastischen - Satz aus, der in die Mauern dieser salmantinischen Institution und des zu Ehren von Vitoria in der gleichnamigen Stadt errichteten Denkmals eingraviert wurde: "Ich, James Brown Scott, Angelsachse und Protestant, erkläre hiermit, daß der wahre Begründer der modernen Völkerrechtsschule Francisco de Vitoria, Spanier, Katholik und Dominikanermönch, ist."57 Die Debatte über das geistige Erbe der klassischen spanischen Naturrechtslehre hat mit dieser Meingung Scotts jedoch keineswegs ein Ende gefunden. Jahre später vertrat etwa Arthur Nussbaum in einer offenen Auseinandersetzung mit den Thesen Scotts eine entgegengesetzte Schlußfolgerung, als er verkündete: "[E]s gibt nicht den geringsten Beleg für die Behauptung, daß die Spanier des Siglo de Oro die Begründer des Völkerrechts waren. "58 Nussbaums Position in diesem Punkt ist zu Recht als "unausgewogen" bezeichnet worden;^ sie ist jedoch ein guter Beleg für die andauernde leidenschaftliche Debatte, die die Einschätzung der Lehren der klassischen spanischen Theologen und Rechtsdenker auch außerhalb der spanischen Grenzen ausgelöst hat. Als Höhepunkt der Phase liberaler Rückbesinnung auf die spanischen Klassiker im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die interessante Monographie von Luis Recaséns Siches zur Rechtsphilosophie bei Francisco Suârez zu betrachten. Recaséns, dessen Denken auf den neokantianischen Strömungen, der Philosophie der Werte und der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens beruhte Lehren, zu deren Verbreitung in der spanischen Philosophie und Rechtstheorie er entscheidend beigetragen hat -, war zugleich der unmittelbarste Schüler von 56 J. Brown Scott , El origen espanol del Derecho Internacional moderno, ders., The Spanish Origin of International Law. I: Francisco de Vitoria and his Law of Nations, ders., Francisco Suârez. His Philosophy of Law and of Sanctions (alle zit. Anm. 16). Vgl. auch J. Larequi , ^Grocio, fundador del Derecho Natural? (zit. Anm. 17) sowie Α. Martin Lopez, La doctrinadel Derecho natural en Hugo Grocio, in: Anales de la Câtedra Francisco Suârez Nr. 2 (1962) S. 203 ff. 57 Vgl. E. Luno Pena, Historia de la Filosofia del Derecho, 3. Aufl., Barcelona: La Hormiga de Oro 1962, S. 395, und A. TruyolySerra (zit. Anm. 50) S. 437 f. 58 A. Nussbaum, A Concise History of the Law of Nations, 2. Aufl., New York: MacMillan 1954, S. 306. Von der 1. Aufl. dieses Werkes (1947) gibt es eine spanische Übersetzung von F. J. Osset: Historia del Derecho Internacional, Madrid: Revista de Derecho Privado 1949, mit einer Ergänzung von L. Garcia Arias zur Historia de la doctrina hispànica del Derecho Internacional, die auf das klassische spanische Denken des 16. und 17. Jahrhunderts ausführlich eingeht (S. 359 ff.). 59 G. Ambrosetti (zit. Anm. 50) S. 169.
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José Ortega y Gasset im Bereich der Rechtsphilosophie. Seine Untersuchung besitzt daher den Vorzug, eine Lesart der klassischen spanischen Naturrechtler aus der Sicht undßr die zeitgenössische rechtsphilosophische Kultur zu bieten. Das Werk greift das im deutschen Denken der damaligen Zeit anzutreffende Interesse für die spanischen Klassiker des 16. und 17. Jahrhunderts auf, wobei Joseph Kohler und Rudolf Stammler ausdrücklich genannt werden. Nach Recaséns wußten die Berliner Professoren die theoretische Stringenz, Flexibilität und Offenheit der klassischen spanischen Naturrechtler für das Historische und das Konkrete zu erkennen und zu schätzen. Hieraus folgert er, daß die gegen den ahistorischen und abstrakten Charakter der Theorien der rationalistischen Naturrechtslehre vorgebrachten Einwände die spanischen Naturrechtslehrer nicht treffen können. Hinsichtlich des politischen Denkens von Suärez vertritt er die Meinung, dessen Theorie erreiche nicht den demokratischen Radikalismus von Covairubias, Väzquez de Menchaca oder Mariana. Suärez erkenne zwar den ursprünglichen Charakter der Volkssouveränität an, vertrete aber die Ansicht, der König handele, sobald ihm das Volk die Macht übertragen habe, nicht als Mandatar, der den Anweisungen und der Kontrolle des Mandanten unterliege, sondern völlig eigenständig. Recaséns erinnert zwar ausdrücklich daran, daß die Macht des Monarchen für Suärez nicht absolut ist. Er unterliege immer den vom Naturrecht aufgegebenen Forderungen, seine Macht mit Gerechtigkeit auszuüben. Außerdem behalte das Volk gewisse öffentliche Rechte, darunter das Widerstandsrecht, wenn der König das Naturrecht verletzt oder vom Ziel des Gemeinwohls abgeht. Recaséns unterstreicht die Modernität Suärez', die er an drei Grundzügen festmacht: an seiner für die Erfahrung und die historischen Notwendigkeiten offenen Auffassung vom Naturrecht; an seiner These, daß die Staatsmacht nicht nur dem Naturrecht, sondern auch ihren eigenen positiven Gesetzen unterworfen ist (eindeutige Vorwegnahme des rechtsstaatlichen Legalitätsprinzips); und an seiner These, daß die positive Gesetzgebung nicht alle unter das Moralgesetz fallenden Handlungen umfassen soll, sondern nur solche, die unmittelbar das Gemeinwohl betreffen. So ahnt er verschiedene moderne Vorstellungen von der Trennung zwischen Recht und Moral und insbesondere die These der Aufklärung voraus, daß das positive Recht eine Freiheitsgarantie gegenüber dem Staat sein und sich nicht in den rein persönlichen, vom Gewissen regierten Bereich einmischen soll.60 60 L. Recaséns Siches, La Filosofia del Derecho de Francisco Suärez. Con un estudio sobre sus antecedentes en la Patristica y en la Escolàstica, Madrid: Victoriano Suarez 1927, passim; vgl. auch seine Monographie über: Las teorias politicas de Francisco de Vitoria. Con un estudio sobre el
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Mit dem Werk von Recaséns Siches schließt eine lange Epoche liberaler Rückbesinnung auf die Klassiker ab. Die traumatische Erfahrung des Bürgerkriegs, die sich auf alle Bereiche des spanischen kulturellen und politischen Lebens auswirken sollte, beeinflußte auch diesen Abschnitt rechtsphilosophischer Geschichtsschreibung.
IV· Vom Siegesrausch in die Krise: Die Geschichtsschreibung zum klassischen spanischen Naturrechtsdenken in der Franco-Zeit
Die Behauptung, das von General Franco ab 1939 in Spanien durchgesetzte politische System habe eine "Renaissance" des klassischen spanischen Naturrechtsdenkens fördern wollen, käme einer ungeheuren Übertreibung der Bedeutung dieses kulturellen Sektors gleich. Das politische System der Nationalen Bewegung sah sich selbstverständlich vor viel dringenderen Problemen, und Fragen der Kultur gehörten nicht zu seinen Hauptanliegen. Trotzdem trat eine Reihe von Umständen ein, die ein günstiges Umfeld dafür abgaben, daß die spanischen Klassiker mehr denn je zuvor herangezogen und manipuliert wurden. Verschiedene Gründe lassen sich anführen, um diese Situation zu erklären. Zunächst einmal war da die internationale Isolation, in die das Franco-Regime nach dem Sturz des nazistischen und des faschistischen Totalitarismus getrieben wurde. In Ermangelung externer politischer Legitimation bei den Demokratien der Gegenwart sah sich das Regime dazu genötigt, sich eine interne und auf die Vergangenheit gegründete Legitimation zu beschaffen. Dies führte zu einer üblen Form von ideologischem Nationalismus, der sich aus dem Mißtrauen und der Feindschaft gegenüber allem speiste, was die vom System erzwungene monolithische Einheit der politischen Kultur hätte untergraben können. Folglich griff man auf die klassischen Naturrechtler des Siglo de Oro als autochthone Denkmodelle zurück, in denen sich die ruhmreiche Vergangenheit des verlorenen Reiches, das man nun wiederherstellen wollte, rekonstruieren lasse. Anthony Pagden hat die Arbeit derer, die wie Angel Losada, Venancio Carro und Teodoro Andrés Marcos die Klassiker der Schule von Salamanca als moralische Legitimationsgeber einer großen imperialen Vergangenheit darstellten und daraus auch Folgerungen für die Gegenwart ableiteten, als "unter-
desairollo de la idea del Contrato social, Sonderdruck des Anuario de la Asociación Francisco de Vitoria (1931). Für eine allgemeine Darstellung des Denkens von Recaséns Siches vgl. B. de Castro Cid, La filosofia juridica de Luis Recaséns Siches, Universität Salamanca 1974.
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schwellig propagandistisch" bezeichnet. Die Debatten um die Eroberung Amerikas wurden als Beweis für die intellektuelle und ethische Überlegenheit eines Reiches angeführt, das nicht nur zugunsten seiner Untertanen - Spanier wie Indios -, sondern auch zugunsten eines weltweiten Christentums gehandelt habe. Die Thesen der spanischen Theologen-Juristen des 16. Jahrhunderts über die Beziehungen zwischen den Völkern wurden ohne Rücksicht auf die Entstehungszeit als moderne Völkerrechtstheorien dargestellt. Damit wollte man historische Legitimation für die Vorstellung vom Caudillo eines auf die Tugenden der aristotelisch-thomistischen Moral gegründeten neuen Spanien erreichen; man nahm an, daß nur infolge der Verbreitung dieser Grundsätze in der internationalen politischen Ordnung "die Welt so in Frieden leben könne, wie sie es unter der pax hispanica erfahren hatte".61 Eine derartige ideologische Instrumentalisierung der klassischen spanischen Naturrechtler erforderte eine Umdeutung ihres politischen Erbes. Nach dem Bürgerkrieg wurde versucht, die liberal-demokratische Interpretation, die im 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vorgeherrscht hatte, in Frage zu stellen. Es war allzu offenkundig, daß man ein autoritäres Regime nicht auf der Grundlage von Lehren würde legitimieren können, die für Volkssouveränität, Machtbeschränkung und ein Widerstandsrecht gegen jede Macht eintreten, die die Freiheiten nicht respektiert. Wir haben es also mit dem Paradox einer nicht-demokratischen Auslegung eindeutig demokratischer Theorien zu tun. Die dazu abgegebenen Erklärungen stellen wahre Argumentationspirouetten dar. Das vielleicht anschaulichste Beispiel für diese rhetorische Anstrengung liefert Luis Legaz y Lacambra in seiner Theorie des nationalsyndikalistischen Staates. Danach müsse eine "vollständige und unvoreingenommene" Analyse der politischen Philosophie der scholastischen Naturrechtslehre zeigen, daß hier nicht nur die üblichen demokratischen Thesen (unmittelbarer Ursprung der Macht, Widerstandsrecht usw.) vorkommen, "sondern die Existenz ideologischer Elemente, die den Staat begünstigen und sich in einer theoretischen Konstruktion dessen, was wir heute 'totalitären Staat' nennen, verwenden lassen".
Weiter behauptet Legaz, die spanischen Jesuiten und Dominikaner hätten zeitgleich mit der Ausdehnung des spanischen Reiches "demokratische" Lehren vertreten; "doch sind diese Lehren nicht gegen das Reich gerichtet... die dem kratischen und monarchomachischen Thesen von Suärez bezogen sich keineswegs auf die Katholischen Könige, wie auch Vitoria gar nicht daran dachte, das 61 A. Pagden, La caida del hombre natural. El indio americano y los origenes de la etnologia comparativa (zit. Kap II, Anm. 4) S. 16 f.
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spanische Reich mit seinen Lehren über die Eroberung Amerikas und das Völkerrecht zu Fall zu bringen. "62 Ein weiteres Zeichen für die unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkrieges in Angriff genommene Rückbesinnung auf die klassische spanische Naturrechtslehre ist die Tatsache, daß diese in der Rechtsphilosophie und -theorie einer Epoche, die vom sogenannten "katholischen Autoritarismus" beherrscht war, zu einem "quasi-monopolistischen" Ansatz wurde.63 Zur Geisteslage der Zeit bemerkte Legaz y Lacambra: "[D]er spanischen rechtsphilosophischen Produktion der heutigen Zeit ist gemein, daß sie ein und derselben Lebenslage entspringt und innerhalb ein und desselben geistigen Horizonts entsteht, sowie eine Übereinstimmung in den Welt- und Lebensauffassungen, die sich aus der Übereinstimmung in dem ihr zugrundeliegenden spanischen und katholischen Gefühl ergibt. Diese ganze Rechtsphilosophie will christliche Philosophie sein, oder doch zumindest in deren Rahmen angesiedelt sein, was aber zugleich auch den Wunsch nach spanischer Originalität, oder besser: Authentizität, angesichts all der fremden Philosophien bedingt, deren ideologische Irrtümer die Welt in die heutige schreckliche Situation gestürzt zu haben scheinen." 64
Genau diese Vorstellungen meinte Enrique Lufio Pefia, als er zu den besonderen Merkmalen der damaligen spanischen Rechtsphilosophie vor allem die "Katholische Welt- und Lebensauffassung ... [sowie den] tiefen Respekt vo spanischen Rechtstradition als Grundlage und Quelle des historischen Bewußtseins, das den wahrhaft spanischen Geist des nationalen Rechtsfortschritts leitet und nährt" zählte.65 Die These von einer spanischen religiösen, historischen 62
L Legaz y Lacambra, Teoria del Estado Nacional-sindicalista, Barcelona: Bosch 1940, S. 26 f. Legaz kritisiert eine "allzu liberale und pazifistische, anti-imperiale Interpretation Vitorias" (ebd., S. 27, Anm. 2) und begrüßt das Buch von Teodoro Andrés Marcos, Vitoria y Carlos V en la soberania hispano-americana, Salamanca 1937, als ein Werk, das den Weg zu der von ihm verfochtenen imperialistischen "neuen Interpretation" öffne. Allerdings ist 1947, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, bei Legaz ein tiefgehender Wandel in seiner politischen Haltung festzustellen, wenn er etwa feststellt, daß "die Lehre vom totalitären Staat im spanischen Denken keinerlei Erfolg verzeichnet hat, nicht einmal in den Augenblicken, in denen eine totalitäre Interpretation der spanischen politischen Wirklichkeit angemessen schien ... unsere ganze heutige Rechts- und Staatsphilosophie steht unter dem eindeutigen Vorzeichen eines christlichen Humanismus, zu dessen Begründung das Studium der thomistischen Quellen und der klassischen spanischen Schule erheblich beigetragen hat"; Situadón presente de la filosofia juridica en Espana, in ders., Horizontes del pensamiento juridico, Barcelona: Bosch 1947, S. 367. Die geistige Entwicklung von Luis Legaz y Lacambra weist eine zunehmende Ausrichtung auf einen personalistischen Humanismus auf, der den Ratiovitalismus Ortegas mit der christlichen Tradition zu verbinden sucht und der sich z. B. in seinen Büchern Derecho y libertad, Buenos Aires: Valerio Abeledo 1952, und Humanismo, Estado y Derecho, Barcelona: Bosch 1960, niedergeschlagen hat. « E. Diaz , Sociologia y Filosofia del Derecho, 2. Aufl., Madrid 1980, S. 269, Anm. 52. 64 L Legaz y Lacambra , Situación presente de la filosofia juridica en Espafia, in: Horizontes del pensamiento juridico (zit. Anm. 62) S. 353 f. 65 E. Lufio Pefia , Historia de la Filosofia del Derecho (zit. Anm. 57) S. 756.
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und juristischen Tradition als Grundlage eines politischen Traditionalismus mit eindeutig rückwärtsgewandtem Vorzeichen wurde im übrigen von Francisco Elias de Tejeda in zahlreichen Schriften mit Vehemenz und Leidenschaft vertreten.66 Diese Einheitlichkeit in den Ansätzen bezüglich der Übernahme von Vorgaben der klassischen spanischen Naturrechtslehre war damals nicht auf die Rechtsphilosophen beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf die Hauptbereiche des Zivilrechts und des Öffentlichen Rechts.67 Die Beispiele der Zivilrechtler José Castân Tobenas68, lange Zeit Präsident des Obersten Gerichtshofs, Federico de Castro69 und Antonio Hernândez Gil 70 legen ebenso beredtes Zeugnis von dieser Haltung ab wie die der Spezialisten für Öffentliches Recht Manuel Fraga Iribarne 71 sowie Carlos Ruiz del Castillo72 und Luis Sânchez 66 F. Elias de Tejeda, Acerca de una posible historia del pensamiento politico espanol, Madrid: Reus 1941 ; ders., La filosofia juridica en la Espana actual, Madrid: Reus 1949; ders., El pensamiento politico de los fundadores del Nuevo Reino de Granada, Sevilla: Escuela de Estudios HispanoAmericanos 1955; ders., Tratado de Filosofia del Derecho, Publicaciones de la Universidad de Sevilla Bd. I (1974) und Bd. II (1977). 67 Vgl. A. E. Pérez Luno, El Derecho Naturai en la Espana del siglo XX (zit. Anm. 20) S. 146 ff.; ders., Rechtsphilosophie und Rechtstheorie in Spanien (zit. Anm. 20) S. 329 ff. Zum Zivilrecht vgl. vor allem L. Legaz y Lacambra, El Derecho natural en los civilistas espanoles contemporaneos, in: Revista Juridica de Cataluna (1950) S. 409 ff.; ders., Droit naturel et méthode de dogmatique dans renseignement du Droit en Espagne, in dem Sammelband L'educazione giuridica, II. Profili storici (zit. Anm. 7) S. 143 ff., sowie die neuere Arbeit von R. deAsis Roig, Algunos aspectos del derecho natural en la obra de los civilistas espanoles, in: Anuario de Derechos Humanos Nr. 5 (1988-89) S. 267 ff. 68 J. Castân Tobenas, En torno al Derecho Natural. Esquema histórico y critico (zit. Anm. 20) S. 51 ff.; ders., El Derecho y sus rasgos a través del pensamiento espanol, clàsico y moderno, popular y erudito, Vortrag anläßlich der Feierüchen Eröffnungssitzung des Gerichts am 15. September 1949, Madrid: Reus 1949, S. 83 ff. In den Schlußbemerkungen des letztgenannten Werkes beschwor Castân: "... die geistigen Forderungen des neuen Regimes [gemeint ist das von General Franco errichtete] im Dienste der Wiederherstellung ethisch-religiöser Werte und von Erneuerungsidealen, die im Naturrecht ihren angemessenen Platz haben müssen. Spanien ist in eine konstruktive Phase eingetreten und muß seine juristische und politisch-soziale Organisation auf den Grundfesten seines traditionellen Denkens errichten" (S. 112). 69 F. de Castro wies darauf hin, daß die besten naturrechtlichen Formulierungen im spanischen Rechtsdenken "aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen, aber sie sind von dem traditionellen spanischen Geist, der unser Recht seit dem Fuero Juzgo bis in unsere Tage durchzieht... und Ursprung und Grundlage der Einheit des Denkens der Hispanität ist", Derecho Civil de Espana. Parte General, Valladolid: Casa Martin 1942, Bd. I, S. 7. 70 A. Hernândez Gil tritt für die Wiederherstellung der spanischen Naturrechtstradition als "erhabenste und echteste spanische Rechtsphilosophie" ein; Metodologia del Derecho, Madrid: Edersa 1945, S. 1 f. 71 M. Fraga Iribarne hielt eine Rückkehr zu den Lehren der spanischen Juristen und Theologen des Siglo de Oro für erforderlich, um der modernen politischen Theorie ihre ethische Dimension zurückzugeben. Vgl. seine Einführung in seine Ausgabe von Los seis libros de la Justicia y el Dere-
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Agesta73, des Historikers Juan Beneyto74 und des Völkerrechtlers Camilo Barcia Trelles75. Uniforme Prämissen und ein monolithisches Festhalten an bestimmten Prinzipien und Postulaten haben noch nie ein besonders günstiges Umfeld für die Entwicklung eines freien und kritischen Denkens abgegeben. So findet man auch in einem großen Teil der Literatur aus der Zeit nach dem Bürgerkrieg, die die klassische spanische Naturrechtslehre zurückholen will, einen deutlich apologetischen Stil. Viele dieser Arbeiten konkurrieren weniger um die Entdeckung der Authentizität des Denkens und Vorausdenkens der spanischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts, als vielmehr darum, sie hinter einem Schleier von Hyperbeln und Dithyramben zu verbergen. Auf theoretischer Ebene führte dies zu Abhandlungen, die an Dogmatismus und der gebetsmühlenartigen Wiederholung bestimmter, für unhinterfragbar gehaltener Stereotypen , letztlich also an mangelnder Originalität und fehlendem kritischem Geist litten; und auf ideologischer Ebene überwogen Auslegungen, die dazu neigten, die konservativsten und reaktionärsten Aspekte des klassischen Dencho von Luis de Molina, 4 Bde., Madrid: Imprenta Cosano 1941-46, Bd. I, S. 76 ff.; ders., Luis de Molina y el Derecho de la guerra, Madrid: Consejo Superior de Investigaci ones Cientificas 1947. 72 C. Ruiz del Castillo verwies in seiner Monographie Las relaciones entre los derechos del hombre y el Derecho internacional, segun las inspiraciones de Francisco de Vitoria, Madrid: Instituto Francisco de Vitoria 1949, S. 23, auf die Vorbildlichkeit der Lehren Vitorias und der klassischen spanischen Naturrechtler, deren personalistische und universalistische Thesen "uns den Weg durch die Stürme der heutigen Welt weisen". 73 L. Sànchez Agesta, El concepto de soberania en Suârez, in: Archivo de Derecho Publico 1 (1948); ders., Los origenes de la teoria del Estado en el pensamiento espanol del siglo XVI, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1958; ders., El concepto de Estado en el pensamiento espanol del siglo XVI, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1959; ders., Los principios cristianos del orden politico, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1962; in diesen Werken will er die Gültigkeit der klassischen Lehren der spanischen Rechts- und Staatsphilosophie für die Herausbildung der modernen Kategorien des politischen Denkens aufzeigen. 74 J. Beneyto vertrat die Gültigkeit des Denkens der klassischen spanischen Autoren im Bereich von Recht und Politik für die Gestaltung des spanischen Reiches und seine Ausstrahlung auf die europäische Kultur und Politik seit dem 16. Jahrhundert. Von seinen Werken sind zu nennen: Espana y el problema de Europa. Contribución a la historia de la idea de Imperio, Madrid: Ed. Nacional 1942; ders., Ginés de Sepulveda, humanista y soldado, Madrid: Ed. Nacional 1944; ders., Historia de las doctrinas politicas, Madrid: Aguilar 1948, bes. S. 283 ff.; ders., Los origenes de la Ciencia politica en Espana, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1949. 75 C. Barda Trelles kritisiert den Machiavellismus als verantwortlich für die Krise der internationalen Beziehungen. "Wir müssen zum spanischen Denken, das sich an den Ereignissen in Amerika entzündete, zurückkehren. Dies ist der einzige Weg, der der Welt noch bleibt... die Entscheidung für die auf den Gedanken der Solidarität gegründete Lehre von der Gemeinschaft, wie sie aus dem glorreichen spanischen Denken des 16. Jahrhunderts hervorgeht"; Interpretación del hecho americano por la Espana universitaria del siglo XVI, Montevideo: Institución Cultural Espanola del Uruguay 1949, S. 121.
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kens zu betonen, und die gelegentlich sogar so weit gingen, die klassischen Quellen zu manipulieren, um den autoritären Franco-Staat zu legitimieren. Dieses Klima, das rechthaberischer Schwärmerei weit förderlicher war als kritisch-kühler Strenge, war auch für manche technisch und historisch verzerrte Darstellung verantwortlich. Der Wunsch nach grenzenloser Überhöhung der Klassiker, gepaart mit einem methodisch und historisch fehlerhaften Gebrauch philosophischer, juristischer und politischer Kategorien, führte gelegentlich dazu, daß diese Gestalten mit Adjektiven überhäuft wurden, die geographisch und zeitlich völlig verfehlt waren. Die benutzte Terminologie zollt dem Überschwang Tribut und läßt schwere Irrtümer vermuten.
Francisco de Vitoria einen "Spanier in der UNO" oder einen Vertreter des "ökonomischen Neoliberalismus zu nennen, aus seinem Denken die Unterscheidung von "individuellen und sozialen Menschenrechten" 11 oder aus sei nem "ius communicationis" Anleitungen für die Regulierung des Satellitenwesens herauslesen zu w o l l e n , 7 8 Bartolomé de Las Casas die Verfassung einer "Menschenrechtscharta "79 oder einer Abhandlung über "Zivile und politische Rechte " 8 0 zuzuschreiben oder in Domingo de Soto ein "Recht auf das eigene Bild"81 hineinzulesen - all das sind ziemlich gewagte Metaphern. Sie zeigen eine Unkenntnis der wirklichen Entstehung und historischen Entwicklung der Menschenrechte, in deren Rahmen schon im 18. Jahrhundert infolge einer Ideologie liberal-individualistischer Ausrichtung die Idee von den individuellen Rechten entsteht, aus der dann die Unterscheidung von zivilen und politischen
76 R. Hernândez , Un espanol en la ONU. Francisco de Vitoria, Madrid: Biblioteca de Autores Cristianos 1977. Teófilo Urdanoz schrieb, Vitoria habe mit seiner Theorie des ius commercii die "ausdrücklichen Prinzipien des ökonomischen Neoliberalismus und der freien Marktwirtschaft im Weltmaßstab" vertreten; vgl. Sintesis teológico-juridica de la doctrina de Vitoria, in: F. de Vitoria, Relectio de Indis, hg. von V. Beitran de Heredia, L. Perefia/J. M. Pérez Prendes/A. Truyoly Se T. Urdanoz, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1967, S. 140 f. 77 R. Hernândez widmet den Anhang zu seinem Buch Derechos humanos en Francisco de Vitoria, Salamanca: Ed. San Esteban 1984, S. 213 ff., dem Thema "Individuelle und soziale Menschenrechte nach Francisco de Vitoria". 78 J. M. Desantes, El "ius communicationis" segun Vitoria y la regulación de los satélites de difusión directa, in: Atlântida Bd. VIII Nr. 47 (1970) S. 471 ff. 79 L. Pereha, La Carta de los derechos humanos, segun fray Bartolomé de Las Casas, in dem Sammelband Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas, Sevilla: Publicaciones de la Universidad de Sevilla 1974, S. 293 ff. 80 L Ρ erena, Los derechos civiles y politicos segun Bartolomé de Las Casas, Madrid: Ed. Nacional 1974. 81 E. Marcano , Los derechos fundamentales en Domingo de Soto. Su contenido y su dimension ético-juridica, Universidad de Valladolid 1986 (unveröffentlichte Doktorarbeit, deren Kenntnis ich Benito de Castro Cid verdanke und in der auf S. 265 ff. auf de Sotos Auffassung vom Recht "am eigenen Bild" verwiesen wird).
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Rechten und der damit zusammenhängende Gedanke eines Rechts auf Privatsphäre hervorgehen; erst später, in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts sollte jedoch die Kategorie der sozialen Rechte auftauchen. Stellt man diese Begriffe und Kategorien außerhalb der Geschichte, so verzerrt man sie.82 Schreibt man sie denen zu, die sie weder terminologisch benutzt haben noch auch begrifflich hätten denken können, dann verfälscht man die Geschichte. Man sollte nicht vergessen, daß die Menschenrechte keine idealen, abstrakten Kategorien sind, sondern normative Antworten auf bestimmte Grundbedürfnisse des Menschen; folglich lassen sie sich nicht unabhängig von den historischen Gegebenheiten formulieren, deren Korrektur sie dienen. Diese kritischen Bemerkungen sollen selbstverständlich keine pauschale Abwertung der umfangreichen in der Franco-Zeit verfaßten Literatur zu den klassischen spanischen Naturrechtlern sein. Es wäre ebenso falsch, all diese geistigen Bemühungen insgesamt ohne Unterschied zu verwerfen, wie sie in ihrer Gesamtheit anzunehmen. In dieser langen Epoche erschienen auch theoretisch unangreifbare Arbeiten zur historischen Rekonstruktion des klassischen spanischen Denkens, die ideologisch dessen Erbe liberaler Hermeneutik weiterführten. Als Beispiele dafür seien hier nur die wichtigen Beiträge von Enrique Gómez Arboleya83 und Salvador de Lisarrague84 oder die zahlreichen, wertvollen historiographischen Arbeiten erwähnt, die wir insbesondere Antonio Truyol y Serra 85 verdanken. 82
Vgl. weiter oben, Kap. II, Abschnitt I, die Erläuterungen zu den "Methodenfragen". Daß es notwendig ist, die Entstehung der Menschenrechte in der Moderne anzusiedeln, hat G. Peces-Barba, Transito a la Modernidad y derechos fundamentales, Madrid: Mezquita 1982, zu Recht unterstrichen; vgl. auch sein Buch in Zusammenarbeit mit R. de Asis und A. Llamas , Curso de derechos fundamentales. Teoria general, Madrid: Eudema 1991, S. 65 ff. 83 E. Gómez Arboleya, Perfil y cifra del pensamiento juridico y politico espanol, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1941; ders., La Filosofia del Derecho de Francisco Suârez, en relación con sus supuestos metafisicos (1941), wiederabgedruckt in seinen Estudios de teoria de la sociedad y del Estado, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1962, S. 219 ff.; ders., Francisco Suârez. Situación espiritual, vida y obra, Universidad de Granada 1946; ders., Historia de la estructura y del pensamiento social. 1. Hasta finales del siglo XVIII, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1957. 84 S. Lisarrague , La teoria del poder en Francisco de Vitoria, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1947. 85 Aus dem umfangreichen Werk von A. Truyol y Serra über das klassische spanische Denken sind zu nennen: Los principios del Derecho publico en Francisco de Vitoria, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1946 (dt. Die Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, erweiterte Fassung, übers, von C. J. Keller-Senn, Zürich: Thomas-Verlag 1947); ders., Fundamentos de Derecho Natural, Barcelona: Seix 1949; ders., La conception de la paix chez Vitoria et les classiques espagnols du droit de gens, in: Recueils de la Société Jean Bodin Bd. XV (1961) S. 241 ff.; ders., Suârez, in: Staatslexikon der Goerres-Gesellschaft, Bd. VII, Freiburg i. Β.: Herder 1962, Spalten 823 ff.; ders., Vitoria, in: Staatslexikon der Goerres-Gesellschaft, Bd. Vili, Freiburg
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Manchmal diente die Rückbesinnung auf das liberale, demokratische Erbe der klassischen Vergangenheit sogar dazu, eine "Gegenwart" zu verurteilen, die diesen politischen Werten widersprach. Das Beispiel der begeisterten Wiederaufnahme des geistigen Erbes von Las Casas durch Manuel Giménez Fernândez, Professor in Sevilla, zeigt dies d e u t l i c h ; 86 die gleiche kritische, verurteilende Absicht steht auch hinter Enrique Tierno Galväns Rekonstruktion des spanischen "Tacitismus" des Siglo de Oro Ρ Auch gab es Beispiele einer geistigen Entwicklung hin zu einem aktiven Engagement für einen politischen Wandel vom autoritären zum Rechtsstaat, die nicht gegen, sondern durch die Ansätze der klassischen spanischen Naturrechtslehre ausgelöst wurden; der beispielhafte Werdegang von Joaquin Ruiz-Giménez ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen.88
Es wäre auch nichtrichtig,einige kollektive und institutionelle Initiativen zum Studium der spanischen Naturrechtslehre des Siglo de Oro zu verschweigen. Herausragende Verdienste hat sich in diesem Zusammenhang die vom Consejo Superior de Investigaciones Cientificas seit 1963 unter dem Tit "Corpus Hispanorum de Pace " herausgegebene Reihe kritischer Editionen von Quellen des klassischen spanischen Denkens erworben, die glücklicherweise bis heute besteht.89 i. B.: Herder 1963, Spalten 277 ff.; ders., Historiade la Filosofia del Derecho y del Estado, 2. Del renacimiento a Kant, Madrid: Revista de Occidente 1975, 3. Aufl. Madrid: Alianza 1988; ders., Sepulveda en la discusión doctrinal sobre la conquista de América por los espanoles, in dem Sammelband Juan Ginés de Sepulveda y su Crònica indiana en el IV Centenario de su muerte, 1573-1973, Valladolid: Universidad de Valladolid und Ayuntamiento de Pozoblanco 1976, S. 17 ff.; ders., De la notion traditionnelle du droit des gens à la notion moderne de droit international public. Concepts-clefs de la pensée de Vitoria, in der monographischen Nummer von Le Supplément (Revue d'Ethique & Théologie Morale) über Las Casas et Vitoria Nr. 160 (März 1987) S. 73 ff. 86 M Giménez Fernândez , Bartolomé de Las Casas, T. I, Delegado de Cisneros parala Reformación de las Indias (1516-1517); T. II, Capellân de S. M. Carlos I, Poblador de Cumanâ (1517-1523), Sevilla: Escuela de Estudios Hispano-Americanos del CSIC 1953-1960; ders., Breve biografia de fray Bartolomé de Las Casas, Publicaciones de la Universidad de Sevilla 1966. 87 E. Tierno Galvan, El tachismo en las doctrinas politicas del Siglo de Oro Espanol, in: Anales de la Universidad de Murcia, Bd. IV (1947-48) S. 895 ff. 88 J. Ruiz-Giménez , La concepción institucional del Derecho, und ders., Derecho y vida humana, beide Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1944; ders., El Concilio Vaticano II y los derechos del hombre, Madrid: Edicusa 1968. Für das Verständnis seiner politischen und geistigen Entwicklung besonders relevant ist sein Werk El camino hacia la democracia, 2 Bde., Madrid: Centro de Estudios Constitucionales 1985. 89 Der "Corpus Hispanorum de Pace" wird von Luciano Ρ erena federführend betreut; an den Editionen haben neben vielen anderen renommierten Spezialisten mitgearbeitet: Vidal Abril Castellò, Joaquin de Azcàrraga, Vicente Beltràn de Heredia, José Manuel Pérez Prendes, Urdanoz und Antonio Truyol y Serra. Beim inzwischen aufgelösten Verlag Editora Nacional sowie beim Instituto de Estudios Politicos, dessen Arbeit auf diesem Gebiet heute vom Centro de Estudios
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
Nicht gerechtfertigt scheint es, das neuerwachte Interesse für die klassischen spanischen Naturrechtler auf die Zeit unmittelbar nach Ende des Bürgelkrieges zu datieren. Wie schon festgestellt wurde, dauerte das Interesse am Kern dieser Lehre während des ganzen 19. Jahrhunderts an und nahm in seinen letzten Jahren und zu Beginn dieses Jahrhunderts noch zu. Vielleicht sollte man daran erinnern, daß Luis Recaséns Siches in einer Arbeit aus dem Jahr 1936 im Rahmen eines Überblicks über die Forschungsrichtungen der damaligen spanischen Rechtsphilosophie auf ein umfangreiches Kapitel von Werken zur "historischen Erforschung der spanischen Klassiker" verwies.90 Die Herausgabe des Attuario de la Asociación Francisco de Vitoria ab 1929 markiert noch vor dem Bürgerkrieg einen entscheidenden Schritt in diesem Prozeß zunehmender Beachtung der Quellen des klassischen spanischen Denkens des 16. und 17. Jahrhunderts. Auch die Kritik an der "Spanischen Natur- und Völkerrechtsschule" war folglich keineswegs ein Phänomen, das an die Krise und das Abdanken des FrancoSystems gebunden war.
V· Die Kritik am klassischen spanischen Naturrechtsdenken: Motive und Hauptvertreter
Seit Beginn dieses Jahrhunderts ist eine ganze Reihe von theoretischen und ideologischen Einwänden gegen die klassische spanische Naturrechtslehre vorgebracht worden, die an dieser Stelle nicht im Detail dargestellt werden können. Die kritische Betrachtung der wichtigsten Thesen muß hier als Hinweis genügen. So formulierte beispielsweise Léon Mahieu in den zwanziger Jahren eine offene Kritik am Denken von Francisco Suârez, dessen Auffassungen er für eklektisch und zum Nominalismus neigend hält. Er wirft ihm vor, den unverrückbaren Charakter der obersten Grundsätze des Naturrechts zugunsten historischer, konjunktureller Interessen geopfert und einen schädlichen Einfluß auf die spätere christliche Kultur genommen zu haben, weil er mit seinen Ideen die Akzeptanz der Vorstellungen Descartes' gefördert habe.91 Während die Kritik Mahieus von theologischen und philosophischen Prämissen ausging, siedelte zur gleichen Zeit der Dominikaner Joseph Delos die seine Constitucionales weitergeführt wird, erschienen ebenfalls einige Editionen von Quellen des klassischen spanischen Denkens. 90 Vgl. L· Recaséns Siches, Estudios de Filosofia del Derecho, Barcelona: Bosch 1936, bes. S. 488 ff. 91 L. Mahieu , François Suârez. Sa philosophie et les rapports qu'elle a avec la théologie, Paris 1921 ; ders., L'éclecticisme suarezien, in: Revue Thomiste Nr. 8 (1925) S. 250 ff.
V . Kritik: Motive und Hauptvertreter
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im rechtlichen und politischen Bereich an. Nach Meinung dieses Vertreters der institutionellen Rechtstheorie muß man im Hinblick auf die klassischen spanischen Naturrechtler zwischen den Thesen Francisco de Vitorias und Francisco Suärez' unterscheiden. Delos meint, die einzigen Gemeinsamkeiten dieser Autoren seien, daß sie beide im 16. Jahrhundert lebten, Spanier waren und auf den Namen Francisco hörten. Vitoria habe an der zu seiner Zeit so fortschrittlichen Universität von Salamanca eine Lehre vom Natur- und Völkerrecht erarbeitet, die auf solide, objektive, aus der Rationalität des Menschen abgeleitete Prinzipien gegründet war; diese Schule habe jedoch einen raschen Niedergang erlitten, was erklärt, daß sie trotz der geistigen Stringenz ihrer Lehren so wenig Früchte trug. Schuld an dieser Krise sei Suärez gewesen, der mit seinem Individualismus und Voluntarismus die Untergrabung der objektiven Grundfesten der vom Natur- und Völkerrecht abgeleiteten Ordnung eingeleitet habe und damit der Ursprung aller Übel und Ungewißheiten sei, unter denen diese Disziplinen in der modernen Welt leiden.92 Wenige Jahre später erscheint der Essai sur la philosophie politique de Γ ancienne Espagne von Roger Labrousse, der zwar insgesamt eine positive Bewertung der spanischen Klassiker vornimmt, aber doch auch einige kritische Punkte benennt. So verurteilt er - mit besonderem Hinweis auf die Thesen von Suärez - den allzu vagen und allgemeinen Charakter der Prinzipien, an denen sich die Rechts- und Staatsordnung orientieren soll, was zu einem Pragmatismus führe, der sich der Kraft des Faktischen flexibel anpasse. Die Thesen von Suärez zum Widerstand und zum Tyrannenmord etwa lieferten eine rein theoretische Garantie, die in der Praxis den strikten Gehorsam der Untertanen gegenüber der Macht nicht beeinträchtige.93 Labrousse schließt sich auch den schon erwähnten Thesen zur Verantwortung von Suärez für die Ablösung des vitorianischen Objektivismus an, was insbesondere hinsichtlich des Problems der Rechtfertigung des Krieges zu einem Rückschritt in der Wirksamkeit der Prinzipien des Natur- und Völkerrechts geführt habe. 94 Einige dieser Argumente - vor allem die von Delos - wurden von Louis Lachance aufgegriffen, der seine Überlegungen auf den vermeintlichen Bruch von Suärez mit dem geistigen Erbe Vitorias konzentriert. Die suarecianische 92
7. Delos, La société internationale et les principes du droit public, Paris: Pédone 1929, S. 272 ff. 93 R. Labrousse, Essai sur la philosophie politique et l'ancienne Espagne, Paris: Sirey 1938 (hier zitiert nach der spanischen Übersetzung La doble herencia politica de Espafia, Barcelona: Bosch 1942, S. 60 ff.). 94 Ebd. S. 93 ff.
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
Rechtstheorie sei vom Voluntarismus geprägt und minimiere die Rolle der Vernunft und der Erfordernisse des Gemeinwohls. Nach der Interpretation, die Lachance vom Denken Suärez' liefert, geht dieser vom Recht als objektivem medium ab und betont dessen subjektive Dimension als moralische Fähigkeit. Diese Lehren seien darauf ausgerichtet gewesen, ein - dann auch tatsächlich eingetretenes - Abgleiten in einen Absolutismus der Macht bzw. der Souveränität zu bewirken.95 Diese kritische Tradition der rechtsphilosophischen Kultur in französischer Sprache hat in jüngerer Zeit ihren umfassendsten und gründlichsten Ausdruck im Werk von Michel Villey gefunden. Seine Kritik an der klassischen spanischen Naturrechtslehre läßt sich in Form von drei großen Vorwürfen zusammenfassen: Er wirft ihm Subjektivismus, Pragmatismus und die Auflösung des Naturrechts vor. (1) Villeys Kritik setzt am Pragmatismus der spanischen Scholastiker an. Thomas von Aquins Summa entspreche einer grundlegend spekulativen, nur auf Erkenntnis gerichteten Auffassung. Vitoria, Soto, Molina, Suärez und Väzquez dagegen seien besonders an der praktischen Dimension ihrer Thesen interessiert gewesen. Anstatt rein theoretische Erkenntnis zu pflegen, hätten die spanischen Klassiker den "Sieg der christlichen Moral" gewollt und entsprechend auf das Gewissen der Könige, ihrer Beamten und der Gemeinschaft der Gläubigen Einfluß genommen sowie die öffentliche Meinung auf Themen wie die Kolonisierung Amerikas, die internationale Politik oder die Regierung der Kirche gelenkt. Die spanischen Klassiker hätten mit ihren Werken eine ganz andere Absicht verfolgt als der Heilige Thomas und darum die thomistische Doktrin im Dienste ihrer praktischen, konjunkturellen Interessen verfälscht. Dies sei der Grund, warum die Lektüre der Summa durch das Prisma der Scholastiker des 16. und 17. Jahrhunderts Quelle unzähliger Widersprüche sei. (2) Villey macht das klassische spanische Naturrechtsdenken dafür verantwortlich, die Objektivität des Naturgesetzes aristotelisch-thomistischer Tradition bis hin zum Subjektivismus und Nominalismus verwässert zu haben. Anders als die früheren Kritiker richtetVilley seine Kritik jedoch nicht ausschließlich gegen Suärez, sondern gegen alle spanischen Scholastiker. Seiner Meinung nach beginnt der "Verrat" an Thomas von Aquin mit Vitoria. Vitoria habe in 95 L. Lachance, Le droit de l'homme, Paris: Presses Universitaires de France 1959 (hier zitiert nach der spanischen Übersetzung von L. Horno, mit einer Einführung von A. E. Pérez Luno, El derecho y los derechos del hombre, Madrid: Rialp 1979, S. 225 ff.); vgl. auch meine Arbeit: Louis Lachance y la fundamentación de los derechos humanos, in: Revista Juridica de Cataluna Nr. 4 (Okt.Dez. 1981) S. 1055 ff.
V . Kritik: Motive und Hauptvertreter
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seinem Kommentar der Summa (II.II q. 57) die Definition von Recht (jus): id quod justum est, die bei dem Aquinaten eine Realität, ein objektives Verhältnis bedeutet, mit dem gerechten, weil moralisch gebotenen (debita) Handeln übersetzt. Dieses Moralgesetz, aufgefaßt als Regel für rationales Verhalten, werde zu einer Reihe subjektiver Fähigkeiten aufgeschlüsselt und sei zum Ursprung von Kontraktualismus, Volkssouveränität, Demokratie und Menschenrechten geworden. Mit seinen wendigen Schlußfolgerungen geht Villey sogar so weit zu behaupten, der Triumph des Rechtspositivismus habe seinen Ursprung in jener Gleichsetzung des Rechts mit dem Moralgesetz und dessen Projektionen in Form subjektiver Fähigkeiten gehabt. (3) Der klassische spanische Rechtsnaturalismus habe entscheidend dazu beigetragen, daß der klassische griechisch-römische Begriff vom Recht als dikaion bzw. jus, d. h. als die Kunst des Richtigen, das für die zwischenmenschlichen Beziehungen ein bestimmtes Verhältnis vorschreibt, durch die torah der jüdisch-christlichen Tradition, aufgefaßt als Moralgesetz mit Gebotscharakter für das Verhalten, ersetzt wurde. Während Thomas von Aquin die autonome Bedeutung des Rechts als dikaion oder jus wiederherstellen wollte, hätten die spanischen Scholastiker das "Eindringen der Theologie ins Recht" begrüßt und die Vorstellungen der augustinischen Rechtslehre wieder ausgegraben. Die Naturrechtsschule sei eine systematisierte Version der spanischen Scholastik gewesen; ein Säkularisierungsprozeß der Rechtskategorien habe aber nur scheinbar stattgefunden. Die moralisierende theologische Rechtsauffassung habe bei Grotius, Hobbes und Locke überlebt. Von da an habe es eine Spaltung zwischen dem real existierenden, vom Corpus iuris civilis beeinflußten und als Antwort auf praktische Anforderungen gedachten Recht und der von über die rechtlichen Realitäten nur schlecht informierten Philosophen erarbeiteten Rechtstheorie gegeben. Locke, Rousseau, Thomasius, Wolff, Kant, die Gedankengeber der Pandektisten ..., sie alle seien Erben der spanischen Scholastik. Villey führt das Paradox seiner historischen Spekulationen bis zum äußersten und schließt sogar, daß Windscheid und selbst Kelsen in den rechts-theologischen Spuren von Suârez w a n d e l t e n . 9 6 Mit gutem Grund kann man wohl behaupten, daß von den Kritiken, die in den letzten Jahren am Denken der spanischen Scholastiker formuliert worden 96 M. Villey, La formation de la pensée juridique moderne, Paris: Montchrestien 1968, S. 353 ff.; ders., La promotion de la loi et du droit subjectif dans la Seconde Scolastique, in dem Band La Seconda Scolastica nella formazione del Diritto privato moderno (zit. Kap. II, Anm. 50) S. 53 ff.; ders., Saint-Thomas d'Aquin et Vitoria, in dem Band Las Casas et Vitoria, monographische Nummer von Le Supplément (Revue d'Ethique & Théologie Morale) Nr. 160 (März 1987), S. 93 ff. 6 Pérez Luno
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
sind, keine umfassender, systematischer und schärfer war als die des Rechtshistorikers Jesus Lalinde Abadia. Seine Ablehnung gilt sowohl der theoretischen als auch der ideologischen Dimension der klassischen spanischen Naturrechtslehre, für die er allerdings die Bezeichnung "kastilische Naturrechtslehre" vorzieht.97 Wir erfahren von Lalinde, daß die theoretische Konstruktion der klassischen kastilischen Naturrechtler des Siglo de Oro an "fehlender logischer Stringenz" leide. Dies zeige sich (a) an der Einführung zahlreicher Ausnahmen für ihre Prinzipien, (b) an der Einführung von Unterscheidungen in den logischen Vordersätzen, die es erlauben, die Schlußfolgerungen aus den Prämissen mit dem Verweis auf die Veränderlichkeit des Naturgesetzes zu umgehen, (c) am Ausweichen vor Problemen, deren direkte Behandlung vermieden werde, indem man sich auf benachbarte Fragen einläßt, so daß das Fehlen einer direkten Auseinandersetzung verschleiert werde, und (d) am Ausnützen mehrdeutiger juristischer Kategorien durch die Vornahme immer subtilerer Unterscheidungen. Diese theoretischen Mängel erklärten das Fehlen einer historischen Auswirkung dieser Schule auf die spätere Rechtserfahrung, insbesondere im Bereich des Privatrechts.98 Die angedeuteten theoretischen Folgen seien kein Zufall, sondern das Ergebnis einer ideologischen Option zugunsten der Interessen der Katholischen Kirche und der Universalen Monarchie unter kastilischer Führung. Die klassischen kastilischen Naturrechtler hätten mit all ihren Lehrmeinungen immer die Legitimation des autoritären und konfessionellen Expansionismus Kastiliens in den internationalen Beziehungen, in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Gebieten, aus denen Spanien historisch bestand, und besonders in der Eroberung Amerikas verfolgt. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Offenheit für die Idee des Naturrechts als Verteidigung der Werte der Freiheit, der Abschaffung sozialer Diskriminierung und der Demokratie seien die Juristen und Theologen von Salamanca in Wahrheit eine konservative, die Interessen der Macht fördernde ideologische Bewegung gewesen. Die Forderungen der klassischen Naturrechtler hinsichtlich der Anforderungen an das positive Recht (Allgemeinheit, Rationalität, Orientierung am Gemeinwohl hätten nur dazu ge97
J. Lalinde Abadia , Anotaciones hist ori cistas al jusprivatismo de la Segunda Escolàstica, in dem Sammelband von Paolo Grossi (Hg.), La Seconda Scolastica nella formazione del Diritto privato moderno (zit. Kap. II, Anm. 50) S. 303 ss.; ders., Una ideologia para un sistema (La simbiosis entre el iusnaturalismo castellano y la Monarquia Universal), in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno Bd. Vili (1979) S. 61 ff. 98 J. Lalinde Abadia, Anotaciones historicistas ... (zit. Anm. 97) S. 358 ff.
VI. Kritik der Kritik: Historische Rechtfertigung
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dient, die Auffassung vom Gesetz als Gnade - also den Dezisionismus, der das Wesen des Gesetzes im Willen des Monarchen sah - zu verschleiern. Die Reflexionen der Klassiker über die Grenzen der königlichen Autorität oder über den vertraglichen Ursprung der Macht hätten im Grunde die politische Unterwerfung der Untertanen zum Ziel gehabt. Hinter dem zweideutigen Begriff des "Völkerrechts" verberge sich ein rhetorisches Mittel, um Sklaverei und Privateigentum zu rechtfertigen. Noch nicht einmal die Bemühungen der Schule von Salamanca um die Freiheit der Indios sind, nach der unerbittlichen Kritik Lalindes, frei von ideologischer Kontaminierung: der Indio wird als unfähiger, roher Barbar angesehen, der aber zahmer und leichter zum Christentum zu bekehren sei als Juden, Mauren oder Neger. Die liberalere Behandlung des Indios beruhe nicht auf der Anerkennung der universalen Gleichheit der Menschen, sondern auf einer Diskriminierung, die weniger ungünstig ausfalle als die gegenüber den Mitgliedern anderer Religionen oder Rassen geübte."
V I . Kritik der Kritik: Historische Rechtfertigung der spanischen Klassiker des Naturrechts
Ein fast allen dargestellten Kritiken gemeines Merkmal ist ihr sektoraler und fragmentarischer Charakter. Die meisten dieser Kritiken heben Sätze oder Argumente bestimmter Vertreter der klassischen spanischen Naturrechtslehre aus ihrem Kontext heraus und gründen auf diese Einzelerscheinungen dann Schlußfolgerungen allgemeiner Art. So ist es zwarrichtig,daß es im Werk von Suärez voluntaristische Züge gibt, aber insgesamt läßt sich sein Denken nicht als voluntaristisch und noch viel weniger als dezisionistisch bezeichnen. Seine Lehre war vielmehr der Versuch, die uralte Auseinandersetzung zwischen Voluntarismus und Intellektualismus dadurch zu überwinden, daß im Recht ein materialer Aspekt (die Gerechtigkeit, verstanden als Rationalität und Gemeinwohlorientierung) und ein formaler Aspekt (der Vorschriftscharakter als Ausdruck des Willens des Gesetzgebers, die Adressaten zu binden) unterschieden w e r d e n . 1 ^ Einen eingehenderen Kommentar verdienen die Einwände Villeys und Lalindes. Der erste von ihnen verwickelt sich in eine Reihe von Inkonsistenzen, 99
Ebd. S. 318 ff., sowie Una ideologia para un sistema... (zit. Anm. 97) S. 83 ff. 100 F. Suärez, De legibus, I, IV-IX. Vgl. Kap. Vili dieses Buches.
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
deren augenfälligste der gegen die spanischen Klassiker erhobene Vorwurf des Pragmatismus ist, auf den unmittelbar die Zuschreibung einer doktrinären Rechtsauffassung folgt, der der Sinn für Verhältnismäßigkeit, Augenmaß und eine Antwort auf die "praktischen" Bedürfhisse der Menschen fehle. Villey entdeckt eine seltsame entfernte Kausalbeziehung zwischen der Lehre von Suärez und dem modernen Rechtspositivismus. Nun liegt auf der Hand, daß die aufgeklärte rationalistische Naturrechtslehre, in deren Ursprung man den Einfluß der spanischen Klassiker des 16. und 17. Jahrhunderts erkennen kann, entscheidenden Anteil an der Herausbildung der Kodifizierungsideologie hatte, so daß man sie auch als indirekten Ursprung des zeitgenössischen Rechtspositivismus auffassen kann. In der Geschichte der juristischen und politischen Ideen sind Beziehungen und Verbindungen zwischen den verschiedenen, zum Teil gegensätzlichen Haltungen und Lehrmeinungen durchaus häufig und unvermeidlich; aber dies berechtigt noch lange nicht dazu, auf einen gemeinsamen Nenner zu schließen. Einer der Aspekte, die den heutigen Unterschied zwischen Rechtsnaturalismus und Rechtspositivismus ausmachen, bezieht sich ja gerade auf die Behandlung der Beziehungen zwischen Moral und Recht. Die Vermengung rechtstheoretischer Kategorien führt Villey dazu, den spanischen Klassikern die Wiederverknüpfung von Recht und Moral vorzuwerfen, was seiner Ansicht nach einen Bruch mit der von Thomas von Aquin geforderten Autonomie des Rechtlichen bedeutet. Diese Abwertungen durch Michel Villey beruhen auf einer einseitigen, partiellen Analyse der Summa, die sich auf II-II qs. 57 ff., d. h. auf die Theorie der Gerechtigkeit konzentriert und bewußt das außer acht läßt, was in I-II qs. 90 ff. über die Theorie des Gesetzes sowie des positiven und des Naturrechts dargelegt wird. Diese hermeneutische Fragmentierung erschwert und verzerrt ein umfassendes Verständnis des thomistischen Denkens. Villey verfällt so in das von ihm selbst angeprangerte Laster. Wäre nämlich seine Interpretation der Summa vollständig und einheitlich ausgefallen, dann wäre er nicht einem offenkundigen Irrtum erlegen: der Verwechslung der Autonomie - auf der eschatologischen Ebene der Theologie, der Gerechtigkeit und des Rechts als Ordnungen der menschlichen Vernunft - mit der Trennung zwischen Moral und Recht. Villey verliert so das berühmte thomistische Motto aus den Augen, wonach das Gesetz bzw. das positive Recht, welches das Naturgesetz verletzt, in seiner Eigenschaft als rechtlicher Ausfluß rationaler (und insofern autonomer) Moralität "iam no erit lex sed legis corruptio" (I-II, q. 95, a.2).i0i Hätte Villey Recht mit seiner Auffassung von der vermeintlichen tho-
VI. Kritik der Kritik: Historische Rechtfertigung
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mistischen Trennung zwischen Moral und Recht, dann könnte man letztlich argumentieren, daß uns dies zu dem Paradox führen würde, daß nicht mehr Suârez, sondern Thomas von Aquin selbst der Vorläufer von Kelsen war. Nicht weniger verwunderlich muten die Spekulationen von Lalinde Abadia an. Schon der Titel, den er für die zweite seiner Untersuchungen gewählt hat, "Eine Ideologie für ein System" - verrät die Voreingenommenheit des Urteils. Der Ausdruck "Ideologie" zeigt den unterschwelligen aprioristischen parti pris hinsichtlich des gesamten klassischen spanischen Naturrechtsdenkens. Qualifiziert man dieses doktrinäre Erbe von vornherein als "Ideologie", so spricht man ihm damit theoretischen Wert ab und deutet schon die negative Einschätzung an, die dann auch tatsächlich herauskommt. Ein anderes Defizit solch vorgefaßter Meinungen ist, daß sie kaum zu unaufgeregten Argumentationen anregen. Lalinde begnügt sich nicht damit, das ganze Lehrgebäude der Juristen und Theologen des Siglo de Oro als ideologisch abzutun, sondern beschuldigt sie überdies noch, Ideologen einer unehrenhaften Sache zu sein. So wirft er ihnen nacheinander vor, Konservative, Levitisten, Bellizisten, Legitimationsgeber politischer Unterwerfung und strafrechtlicher Repression, Konfessionalisten, Sklavereibefürworter, Rassisten und bedingungslose Rechtfertiger des Privateigentums gewesen zu sein. 102 Die Methode dieses unerbittlichen Verrisses steht seinem Inhalt in nichts nach. Wo Lalinde den Voluntarismus und Dezisionismus der Schule anprangert, beruft er sich auf bestimmte Stellen bei Suârez, vergißt aber selbstverständlich Gabriel Vâzquez, Vitoria, Soto, Molina und sogar andere Stellen im Werk von Suârez. Sein Vorwurf des Konservatismus basiert auf dem eher anekdotischen Faktum, daß viele klassische Autoren ihre Werke dem König oder irgendeinem Adligen widmeten (demnach wäre auch Cervantes ein Konservativer und sein Quijote nichtig, weil er dem Herzog von Béjar gewidmet ist). Mit größerem historischem Scharfblick hat Lewis Hanke in diesen Widmungen (die im übrigen in der gesamten Kultur der Renaissance üblich waren)
101 Vgl. meine Arbeit: Tomas de Aquino en su tiempo y en el nuestro (Reflexiones sobre la historicidad de su concepción iusnaturalista), in: Revista Juridica de Cataluna Nr. 3 (Juni-Sept. 1974) S. 235 ff. Zur Rolle der spanischen Klassiker im Säkularisierungsprozeß des mittelalterlichen theologischen Rechtsnaturalismus, der zur rationalistischen Naturrechtsschule führte, ist noch immer interessant: Pierre Mesnard, L'essor de la philosophie politique au XVIe siècle, 3. Aufl., Paris: Vrin 1969, S. 466 ff., sowie die neueren Beiträge von Franco Todescan, Lex, natura, beatitudo. Π problema della legge nella Scolastica spagnola del sec. XVI, Padua: Cedam 1973, S. 53 ff.; ders., Le radici teologiche del giusnaturalismo laico, Mailand: Giuffrè 1983, S. 9 ff. 102 J. Lalinde Abadia, Una ideologia para un sistema... (zit. Anm. 97) S. 87 ff.
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
Appelle, in Ausübung der freien Meinungsäußerung, an das moralische Gewissen der Machthaber gesehen. Lalinde verschweigt den Einfluß des revolutionären Geistes der Comuneros der Anhänger des Aufstandes kastilischer Städte gegen Karl V. - auf die Schule von Salamanca, besonders auf Fernando de Roa und Las Casas selbst; ebenso verschweigt er die monarchomachischen Thesen über das Widerstandsrecht von Mariana, Bäfiez, Juan Roa Dävila und auch Suärez. Er klagt die Klassiker des Levitismus an, vergißt aber - um hier nur zwei Beispiele zu nennen - zu erwähnen, daß Vitoria die universale weltliche Souveränität des Papstes bestreitet oder daß Juan Roa Dävila die These vertritt, die Intervention der weltlichen Macht zur Verteidigung ihrer Untertanen gegen Machtmißbräuche der Kirchenhierarchie sei erlaubt. Lalinde will aus den klassischen Naturrechtlern Verteidiger der Sklaverei machen; dies verträgt sich aber schlecht mit der historischen Bedeutung der von Vitoria und Las Casas in ihren Überlegungen zur Lage der Indios aufgestellten These von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen und der daraus folgenden Anerkennung von Rechten aller Menschen. Er rügt die Klassiker als mit den Mächtigen paktierende und den Interessen des Volkes gleichgültig gegenüberstehende Gruppe von Intellektuellen, verschweigt aber ihre Rolle als Sprachrohr für die Gefühle und Anliegen der Öffentlichkeit. 103 Bezüglich der Frage des Privateigentums werden die Klassiker als Vorläufer des Besitzindividualismus dargestellt, und dabei wird jeder Hinweis auf den umfassenden Katalog von Texten vermieden, in denen sie zugunsten des sozialen Friedens erhebliche Einschränkungen des Eigentums- und Nutzungsrechtes an Gütern vertreten. 104 Was jedoch diese Invektive so unglaublich macht, ist ihre offene Willkür. Jedes noch so fragwürdige Fragment aus dem Werk eines der Klassiker scheint dem Autor zu genügen, um Schlußfolgenmgen zu ziehen, die die ganze Gruppe betreffen; umgekehrt gilt dies aber nicht: wenn er ausnahmsweise bei einem von ihnen irgendeine interessante Idee oder Haltung anerkennt, dann schreibt er sie dem persönlichen, episodischen Trefferglück des Autors zu. Diese Verfahrensweise, die Irrtümer kollektiv, richtige Einsichten aber individuell zu103 Cfr. A. Ruiz de la Cuesta , El legado doctrinal de Quevedo. Su dimensión politica y filosóficojuridica, mit einem Vorwort von A. E. Pérez Luno, Madrid: Tecnos 1984, S. 135 ff. im Zu diesem Punkt vgl. statt vieler die Monographie von Luciano Pereha, Hacia una sociologia del bien comun, Madrid: Ed. Católica 1956. Zur historischen Herausbildung und heutigen Bedeutung des Eigentumsrechts - die in der Arbeit von Lalinde im Dunkeln bleiben - vgl. meine Arbeit: La propiedad en la Constitución, in meinem Band Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitution, 4. Aufl., Madrid: Tecnos 1991, S. 397 ff.
VI. Kritik der Kritik: Historische Rechtfertigung
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schreibt, ist schon erstaunlich. Vielleicht hängt dies alles damit zusammen, daß Lalinde geglaubt haben mag, um dem Titel seiner Monographie "Eine Ideologie für ein System" bis zur letzten Konsequenz treu zu bleiben, müsse er selbst in ein ideologisches Plädoyer verfallen. Sehr bedauerlich ist es, daß sich diese Titeltreue nicht auch in seinen "Historizisüschen Bemerkungen" niederschlägt, einem weiteren seiner Beiträge zur Analyse der spanischen Naturrechtler des 16. und 17. Jahrhunderts. Denn einer der störendsten Aspekte der historischen Rekonstruktion Lalindes ist ihr ausgeprägter Ahistorizismus. Die meisten seiner Vorwürfe werden von der überlegenen Warte dessen vorgebracht, der die Vergangenheit im Rückblick beurteilt und sich selbstgefällig aufzuzeigen erlaubt, welchen Sinn frühere Lehren wohl gehabt haben müssen. Es ist ein unzulässiger Anachronismus, von den Klassikern zu verlangen, sie hätten zu ihrer Zeit die Werte der Freiheit und Gleichheit diskutieren sollen, als hätten sie die Französische Revolution mitgemacht,105 oder sie hätten eine Auffassung vom Eigentumsrecht vertreten sollen, die auf der sozialistischen und marxistischen (heute überdies umstrittenen) Kritik beruht. Die Gründe für das Unbehagen gegenüber den "Bemerkungen" sind im übrigen vielfältig und schwerwiegend. Um nur ein Beispiel zu geben, will ich abschließend auf eine der Hauptfolgerungen aus seiner Analyse eingehen. Lalinde vertritt wiederholt die Meinung, die Zweite Scholastik habe dem "Dezisionismus" nahegestanden, wie er dem kastilischen Recht - im Unterschied zu dem in anderen spanischen Königreichen wie Navarra oder Aragón vorherrschenden "Normativismus" - eigen gewesen sei. Dies zeige sich "in den folgenden Zügen: a) Rationalismus, b) Rechtsnaturalismus, c) Antipositivismus, d) Moralismus und e) Legalismus und Anticonsuetudinarismus".106 Lalinde, der den Klassikern mangelnde logische Stringenz vorwirft, verwickelt sich in diesen Zeilen in eine Reihe von Mißbräuchen rechtsphilosophischer Begriffe und Kategorien sowie in logische Widersprüche, die ein gefundenes Fressen für einen Sprachanalytiker wären. Schließlich ist es ein offenkundiger Widerspruch, 105
Es ist, um nur ein einziges Beispiel für die historische Kontextualisierung zu nennen, daran zu erinnern, daß John Locke in seinem berühmten Letter concerning Toleration von 1689 die Katholiken (aufgrund ihrer Loyalität gegenüber einem fremden Herrscher - dem Papst), die Muslime (aus dem gleichen Grund: wegen ihres blinden Gehorsams gegenüber dem Mufti von Konstantinopel und folglich gegenüber dem osmanischen Sultan), die Atheisten (wegen ihrer Unmoral) und die Sekten, die den öffentlichen Frieden gefährden, vom Genuß der Toleranz ausschließt. 106 J. Lalinde Abadia, Anotaciones hist ori cistas ... (zit. Anm. 97) S. 374. Ich halte den Hinweis für angebracht, daß meine Einwände gegen Lalindes Kritik an den klassischen spanischen Naturrechtlern mitnichten meine Bewunderung für sein rechtshistorisches Gesamtwerk schmälern oder mich vergessen lassen, wieviel ich seinen Vorlesungen über Rechtsgeschichte - wie auch denen des ebenfalls unvergeßlichen Lehrers Font i Rius - verdanke.
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Kapitel III: Naturrecht im Wechselbild der Geschichtsschreibung
eine Doktrin gleichzeitig als "dezisionistisch" und "rationalistisch", "antinormativisüsch" und "legalistisch" oder "moralistisch" und "legalistisch" zu apostrophieren; und ihre Einschätzung als "rechtsnaturalistisch" und "antipositivistisch" ist ein Beispiel für das rhetorische Laster des Pleonasmus. Betrachtet man die hier nur knapp skizzierten kritischen Thesen in ihrer Gesamtheit, dann erkennt man darin die Wiederholung bestimmter Leitmotive: Rationalismus, Subjektivismus mit der Neigung, die Dimension des Rechts zur Gesamtheit individueller Fähigkeiten aufzublähen, Verteidigung des Gesetzes als Hauptursprung des Rechts, Anpassung des thomistischen theoretischen Erbes an die Anforderungen der Zeit, Empfänglichkeit für Eindrücke aus dem praktischen Leben, Rückgriff auf moralische Kriterien zur Legitimierung der Rechtsordnung, Vertragsgedanke und Volkssouveränität, demokratische Beschränkung der Machtausübung ... Keine dieser Zuschreibungen ist falsch; aber so, wie sie in einem großen Teil der kritischen Thesen dargestellt werden, entsprechen sie bestenfalls Halbwahrheiten und widersprechen unübersehbaren Fakten bzw. ignorieren diese einfach. Berücksichtigt man überdies die spätere Entwicklung der Doktrinen und Rechtsinstitutionen, dann sieht man, daß die meisten dieser Ideen die Moderne ankündigen. Insofern sind die genannten Vorwürfe im Grunde die beste historische Rechtfertigung der klassischen spanischen Naturrechtler.
Kapitel IV Die klassische spanische Naturrechtslehre und ihre Ausstrahlung in die Gegenwart I. Einführung
Welche Bedeutung haben die klassischen spanischen Naturrechtler für die aktuelle Rechtsphilosophie und -theorie? Es wird heute oft behauptet, jedes Bemühen um ein Verständnis der Vergangenheit, das sich nicht auf die Erkenntnis der Gegenwart auswirkt, sei nicht nur ohne praktische Relevanz, sondern sogar theoretisch verfehlt. Will man dieser methodologischen Prämisse gerecht werden, so muß man umgekehrt vorgehen, d. h. in der heutigen Rechtskultur Kontinuitäts- und Entwicklungsmotive des doktrinären Erbes der klassischen Denker suchen. Das erste dieser Motive wäre, daß die Zeit der Klassiker eine Epoche tiefgreifender Veränderungen, Neuerungen und Entdeckungen im Denken und im Sein war, die große Ähnlichkeiten mit der unseren aufweist. Unschwer läßt sich eine Parallele ziehen zwischen dem, was die geographischen Entdeckungen ihrerseits Folge technischer Erfindungen wie Kompaß und Großsegler - oder die Erfindung des Buchdrucks für die Gestaltung der Renaissance bedeutet haben, und den Auswirkungen der Entdeckung der Atomenergie, der Erforschung des Weltraums oder der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf die Geburt der heutigen ,Ίnformationsgesellschaft ,,. Dabei handelt es sich nicht nur um äußere Übereinstimmungen, sondern die Ähnlichkeit besteht vor allem in der Erzeugung bestimmter Einstellungen zum Leben. Oft schon wurde von dem Staunen, der Beunruhigung und der geistigen Anstrengung derer gesprochen, die die Begegnung mit Amerika verarbeiten mußten, ohne über Kategorien zu verfügen, in die sie dieses Erlebnis hätten einordnen können.1 Ähnlich fühlt auch der Bürger der technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften der Gegenwart, daß eine allmähliche Entfremdung von seiner natürlichen und kulturellen Umgebung stattgefunden hat. Die neuen Technologien überra1 E. Tierno Galvdn , La angustia del tiempo y del espacio, fondamento de la Conquista de América, in: Revista de Estudios Politicos 47 (1949) S. 152 ff.
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sehen uns mit einer ganzen Folge von soeben noch unvorstellbaren Erfindungen, was dazu führt, daß Handlungen, die für frühere Generationen noch unmöglich waren, jetzt ihren übermenschlichen Anstrich verlieren. Der heutige Mensch kann, ohne sich von der Stelle zu bewegen, Zeuge von Dingen werden, die Tausende von Kilometern entfernt geschehen; er hat erdumspannende Kommunikationsnetze errichtet und besitzt Zugang zu unendlichen Informationsspeichern, die in Datenbanken perfekt organisiert sind. Diese tiefgreifenden Veränderungen führen dazu, daß sich Individuen und Gruppen in den Informationsgesellschaften angesichts dieser künstlichen Umgebung, über deren Funktionsregeln sie meist nichts wissen, überwältigt fühlen. 2
Π . Das ius communicationis
Die klassischen spanischen Naturrechtler bemühten sich um eine Diagnose ihrer Zeit und um eine Antwort auf deren Herausforderungen. Die von Francisco de Vitoria 1539 an der Universität Salamanca vorgetragene Relectio de Iridis ist eines der ersten und bedeutendsten Zeugnisse davon. Zentraler Gedanke des Textes ist der - auf einen entschiedenen kosmopolitischen Humanismus gegründete - Glaube an eine Gemeinschaft aller Menschen und Völker der Erde (totus orbis), deren normative Ordnung das selbst wieder auf dem Naturrecht gründende Völkerrecht sei. Aufgrund dieser Gemeinschaft sei allen Völkern, auch den nicht-christlichen, volle völkerrechtliche Personalität einzuräumen. Mit gewissem Recht wurde darauf hingewiesen, daß Vitorias Vorstellung vom ius gentium nur zum Teil - nämlich als zwischenstaatliches Recht - dem modernen Völkerrecht entspricht. Sie ist jedoch anspruchsvoller und nimmt die heutigen Forderungen nach einem common law of mankind (C. W. Jenks), nach einem transnational law (P. C. Jessup) oder einem droit mondial (Κ. Tanaka) vorweg; denn Vitoria tritt für ein Menschheitsrecht ein, dessen Prinzipien universale Geltung erlangen, indem sie Staaten und Individuen als Subjekte anerkennen.3 Die Wurzel dieses Universalismus liegt in der These von der Einheit der menschlichen Gattung und ihrem Korollar, nämlich der Freiheit und Gleichheit aller Menschen und Völker - in Idealen stoisch-ciceronianischer Herkunft also, die in der mittelalterlichen rationalistischen Naturrechtslehre fortgeführt wur2
Vgl. mein Buch Nuevas tecnologias, sociedad y derecho. El impacto socio-juridico de las Ν. T. de la information, Madrid 1987. 3 Vgl. zu alledem A. Truyol y Serra , Espana y la protection juridico-international de los derechos humanos, in: Estado & Direito 2-4 (1989) S. 8 f.
III. Kommunikation und Pateralismus
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den und die Vitoria aus der humanistischen Sicht der Renaissance neu formuliert. Indem er - um ein Jahrhundert und im umgekehrten Sinne - die berühmte Maxime des homo homini lupus als Ausdruck des Hobbesschen anthropologischen Pessimismus vorwegnimmt, behauptet Vitoria rundheraus: "Non enim homini homo lupus est... sed homo"A Die Natur habe eine Grundähnlichkeit zwischen allen Menschen geschaffen, weswegen das Naturrecht verbiete, daß sich die Menschen ohne einen Grund, der dies rechtfertige, von ihren Artgenossen abwenden. Für Vitoria sind die natürliche Freundschaft unter den Menschen und ihre notwendigen Solidaritätsbande in der Idee der Kommunikation verankert. Daher ist das erste Argument, das Vitoria anfuhrt, um die Anwesenheit der Spanier in Amerika zu rechtfertigen, gerade der Gedanke von der menschlichen Geselligkeit und Kommunikationsfähigkeit.5 Die Fähigkeit, Gedanken und Erfahrungen mit Hilfe der Sprache auszutauschen, ist ein Definitionsmerkmal der menschlichen Gattung. Ohne Kommunikation kann es weder Erkenntnis noch auf Kooperation beruhende gegenseitige Beziehungen bei den Menschen geben, d. h. ohne sie wäre Gesellschaft oder Gemeinschaft nicht möglich. Die Gemeinschaften der Menschen und die Weltgemeinschaft setzen Kommunikation voraus. "Die Gemeinschaft ist", wie Camilo Barcia Trelles sagte, "eine naturgemäße, ganz natürliche Kommunikation."6
ΙΠ· Kommunikation und Paternalismus
Eine in den letzten Jahren heftig diskutierte Frage betrifft die Autonomie des Menschen und die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Staaten. Philosophen, Politologen und Juristen - insbesondere Spezialisten für Völkerrecht - haben unter Rückgriff auf alte und neue Thesen diese Fragen debattiert, die seit eh und je die historische Entwicklung der Rechts- und Staatsphilosophie und die theoretischen Überlegungen über die internationalen Beziehungen begleitet haben. 4
F. de Vitoria, De Indis, I, 3, 2. Es war Plautus, der in seinem Asinaria, II. Akt, IV. Szene, Vers 88, den Satz lupus est homo homini, non homo prägte. Vitoria formuliert ihn im umgekehrten Sinne um. Er nimmt damit entschieden Partei für den anthropologischen Optimismus der Aristoteliker und Stoiker, der den Menschen als natürlicherweise soziales Wesen mit altruistischen Tugenden auffaßt - die zentrale These aller historischen Versionen der rationalistischen Naturrechtslehre. Diese steht dem epikureischen Pessimismus gegenüber, der den Menschen mit der Neigung zu Gewalt, Feigheit und Egoismus ausgestattet sieht und den Rechtspositivismus beeinflussen sollte. 5 Primus titulus potest vocari naturalis societatis et communicationis ; F. de Vitoria, 3, 1. 6 C. Barcia Trelles, Francisco de Vitoria, fundador del derecho internacional moderno, Universität Valladolid 1928, S. 88.
De
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In mehreren neueren Publikationen hat Ernesto Garzón Valdés verschiedene von den Klassikern in ihren Auseinandersetzungen über Amerika benutzte Argumente auf die heutige Diskussion über die ethische Rechtfertigung des Paternalismus übertragen. Unter Patemalismus versteht Garzón Valdés die "mit Zwang verbundene Einmischung in das Verhalten einer Person, um zu verhindern, daß sie sich selbst schadet".7 Die zweifellos folgenreichste Version des Paternalismus ist die des Rechtspatemalismus, die davon ausgeht, daß es vermeintlich immer ein guter Grund für ein rechtliches Verbot oder Gebot sei, wenn damit - sei es auch gegen dessen eigenen Willen - ein Schaden für den Adressaten verhindert wird.8 Garzón Valdés teilt zwar die Vorbehalte gegen den Rechtspatemalismus, unterzieht aber die üblicherweise dagegen ins Feld geführten Argumente einer sorgfältigen kritischen Analyse und kommt zu dem Schluß, daß sich bestimmte Formen von Rechtspatemalismus ethisch rechtfertigen lassen. Dies gelte für Ausnahmesituationen im Zusammenhang mit Personen ohne "Basiskompetenz", d. h. ohne die Fähigkeit, mit ihren eigenen Angelegenheiten rational umzugehen. Für eine solche Situation werden fünf mögliche Fälle genannt: a) wenn eine Person relevante Aspekte der Situation, in der sie handeln muß, nicht kennt (wenn ihr etwa die schädlichen Nebenwirkungen eines Medikaments oder einer Droge nicht bekannt sind); b) wenn ihre Willenskraft derart beeinträchtigt ist, daß sie ihre eigenen Entscheidungen nicht ausführen kann (etwa bei Drogenabhängigkeit oder Alkoholismus); c) wenn ihre geistigen Fähigkeiten zeitweise oder auf Dauer beeinträchtigt sind; d) wenn sie unter Zwang handelt; e) wenn sie zwar ein bestimmtes Gut als solches anerkennt, die Mittel zu seiner Erhaltung aber nicht einsetzt (etwa im Fall des Sicherheitsgurtes oder des Sturzhelms).9 In einer späteren Arbeit behandelt Garzón Valdés das Problem der Rechtfertigung von Paternalismus in zwischenstaatlichen Beziehungen. Auch hier lehnt er die Einmischung eines Landes in die inneren Angelegenheiten eines anderen im Prinzip ab. Trotzdem und trotz der Schwierigkeiten, die dies mit sich bringt, kommt er zu dem Ergebnis, daß eine solche Einmischung manchmal doch gerechtfertigt werden kann. Dafür müssen zwei notwendige Bedingungen erfüllt sein: (1) das Land, in das interveniert wird, muß sich auf dem Gebiet, auf dem die Intervention stattfindet, in einer Situation der "Basisinkompetenz" befinden und folglich unfähig zur eigenständigen Überwindung eines wirklichen Miß7 E. Garzón Valdés , Kann Rechtspatemalismus ethisch gerechtfertigt werden?, in: Rechtstheorie 18 (1987) S. 273-290; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: M. Baurmann/H. Kliemt (Hg.), Die moderne Gesellschaft im Rechtsstaat, Freiburg/München 1990, S. 161-188, hier S. 161. 8 Ebd. S. 163. 9 Ebd. S. 177.
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standes sein; und (2) die Interventionsmaßnahme darf nicht die Manipulation des intervenierten Landes zugunsten des intervenierenden zum Ziel haben.10 An anderem Ort überträgt Garzón Valdés die Argumente zum Paternalismus auf die Auseinandersetzung um die ethische Rechtfertigung der Eroberung Amerikas. Dabei hält er die Thesen von Juan Ginés de Sepulveda über die natürliche Knechtschaft der Indios gegenüber den Spaniern aufgrund ihrer Kulturlosigkeit und ihres Barbarentums für ein Paradebeispiel eines ethisch nicht zu rechtfertigenden radikalen Paternalismus.1! Obwohl Sepulvedas Thesen in den Juntas von Valladolid, die die spanische Krone selbst einberief, um die Rechtmäßigkeit der Eroberung Amerikas prüfen zu lassen, zurückgewiesen und eine Reihe von "Indien-Gesetzen" erlassen wurden, um eine humane Behandlung der Indios zu gewährleisten, seien es de facto doch die Argumente Sepulvedas gewesen, die sich am Ende durchgesetzt hätten. Dieser Mangel an Legitimität ist für Garzón Valdés Anlaß, das spanische Kolonialregime in Amerika insgesamt als Prototyp eines stabilen (immerhin hielt es sich drei Jahrhunderte lang), aber illegitimen politischen Systems zu qualifizieren.^ Eine antipaternalistische Haltung werde dagegen, so Garzón Valdés, von Vitoria und Las Casas vertreten, wobei es sich allerdings um einen gemäßigten Antipaternalismus handele, der gewisse Formen der Intervention im Namen des Prinzips der Solidarität mit unrechtmäßig Unterdrückten (Las Casas) oder zur Aufrechterhaltung von Freizügigkeit und Handel zwischen den Völkern sowie aufgrund des Gebotes der Nächstenliebe erlaubt, wonach man "Schwachsinnigen", d. h. denen, die unfähig sind, sich selbst auf rationale Weise zu regieren, helfen muß (Vitoria).^ Ich halte es theoretisch für völligrichtig,wie Garzón Valdés es getan hat, auf die aktuelle Auseinandersetzung über den Paternalismus die Einstellungen und Argumente anzuwenden, die von den spanischen Klassikern im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Eroberung Amerikas vertreten wurden. Niemals in der Geschichte gestaltete sich die Begegnung zweier Kulturen so intensiv, daß es sogar als die Begegnung zweier Welten - der Alten und der Neuen Welt - gesehen wurde. Niemals zuvor und nie wieder hat die Interven10
E. Garzón Valdés , Interventionismus und Paternalismus, in: Rechtstheorie 22 (1991) S. 145-
164.
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Ebd. S. 147 ; E. Garzón Valdés , Die Debatte über die ethische Rechtfertigung der Conquista, in: J. Bähr u. a. (Hg.), Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonialisierung Amerikas, Frankfurt a. M. 1991, S. 55-70. 12 E. Garzón Valdés , Die Stabilität politischer Systeme. Analyse des Begriffs mit Fallbeispielen aus Lateinamerika, Freiburg/München 1988, S. 117 ff. 13 E. Garzón Valdés (zit. Anm. 10) S. 148 und 160.
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tion eines Landes in die politischen, rechtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebensformen eines ganzen Kontinents derart tiefgreifende und vielfältige Auswirkungen gehabt.*4 Die Tatsache, daß ich grundsätzlich mit Garzón Valdés übereinstimme, hindert mich jedoch nicht, einen Mittelweg in der Dialektik Paternalismus/Anüpaternalismus vorschlagen zu wollen, nämlich den, der sich aus dem Begriff des ius communicationis bei Francisco de Vitoria ergibt. 7. Die paternalistische Haltung zeigt sich in paradigmatischer Form in Juan Ginés de Sepulvedas These von der natürlichen Unfähigkeit der Indios, sich selbst zu regieren, was ihre Unterstellung unter Menschen eines höheren Zivilisationsniveaus rechtfertige. So heißt es bei Sepulveda: "Zwischen allen Nationen gibt es große Unterschiede, denn einige von ihnen werden für zivilisierter und klüger gehalten, andere dagegen, die sich in ihrem Leben und ihren politischen Sitten von Vernunft und Naturgesetz entfernen, für unzivilisierte Barbaren. Die Situation der letzteren ist nun die, daß sie nach dem Naturgesetz aufgrund ihres Barbarentums der Herrschaft der Zivilisierteren und Gebildeteren gehorchen müssen."15
Vergleicht man, ausgehend von diesen Prämissen, die Spanier mit den Indios, dann stellt man fest, daß diese "Barbaren ... an Klugheit, Schlauheit und allen Arten von Tugenden und menschlichen Regungen den Spaniern ebenso unterlegen sind wie Kinder den Erwachsenen, Frauen den Männern, Grausame und Unmenschliche den ganz Zahmen, übertrieben Ausschweifende den Zurückhaltenden und Bescheidenen, und schließlich möchte ich sagen: wie die Affen den Menschen." Für Sepulveda war das Beste, was diesen amerikanischen Barbaren widerfahren konnte, die Unterwerfung unter die Herrschaft derer, die sie mit Hilfe ihrer Klugheit, Tugend und Religion von Barbaren, die 14 T. Todorov , La conquête de l'Amérique. La question de l'autre, Paris 1982; hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von W. Βöhringer, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985, S. 13. J. Ginés de Sepulveda, Del reino de los deberes del rey, in: A. Losada (Hg.), Tratados politicos de Juan Ginés de Sepulveda, Madrid 1963, S. 34. 16/ Ginés de Sepulveda, Démocrates segundo, ο de las justas causas de la guerra contra los indios, hg. von A. Losada, Madrid 1951, S. 33. Der letzte Satz dieses Abschnitts wurde in einigen Manuskripten des Werkes entfernt - Angel Losada meint, wegen Sepulvedas Wunsch, seine Sprache zu mäßigen, was Anthony Pagden mit dem Argument zurückweist, in diesem Falle wäre es kaum plausibel, daß er andere Stellen unverändert gelassen hat. Vgl. A. Pagden, The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982, hier zitiert nach der spanischen Übersetzung von B. Urrutia, La caida del hombre natural. El indio americano y los origenes de la etnologia comparativa, Madrid 1988, S. 165 f. Sepùlveda nennt die Indios in demselben Werk schließlich auch "homunculi, in denen sich kaum Spuren von Menschlichkeit finden lassen" (Demócrates segundo, S. 35), "Schweine, die ihren Bück immer zur Erde gerichtet haben" (ebd. S. 38) und "Bestien" (ebd. S. 39).
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kaum den Namen Menschen verdienten, zu zivilisierten Menschen und Christen machen würden, die den wahren Gott verehren.17 Aufgrund dieser Annahmen wendet er sich an Philipp II. und stellt fest: "So werdet Ihr verstehen, daß es nicht nur nach den christlichen Gesetzen, sondern auch nach dem Naturgesetz Euren Vorfahren, den hervorragenden, frommen Fürsten Ferdinand und Isabella, den Königen von Spanien - der durch ihre Zivilisation und alle Arten von Tugenden ausgezeichneten Nation - und auch Euch als deren Nachfahre erlaubt war, die Neue Welt zu unterwerfen." 1 8
Die paternalistische Argumentation erfüllt weder in der klassischen Version von Sepulveda noch in den aktuellen Versionen, die zur Legitimierung bestimmter Formen des Imperialismus vorgetragen werden, die beiden Bedingungen, die Garzón Valdés gemeinsam für notwendig hält, um irgendeine Form von Intervention rechtfertigen zu können: Weder ist die empirisch-anthropologische Voraussetzung der "Basisinkompetenz" gegeben, die der moderne Humanismus mit seinem Prinzip der Gleichheit aller Menschen und Völker ohne Ansehen der Rasse, des Glaubens oder des wirtschaftlichen Entwicklungsstandes verworfen hat, noch die normative Anforderung, daß die Handlung der Vermeidung eines Schadens für den dienen muß, in dessen Leben interveniert wird, denn zur Abstellung von Übeln (Menschenopfer, Tyrannei barbarischer Herrscher, Grausamkeit der Sitten u. a.) wird ein Mittel - Krieg - eingesetzt, das noch schlimmer ist.19 17
Ebd. S. 35 ff. 18 J. Ginés de Sepulveda (zit. Anm. 15) S. 35. 19 Ich selbst bin der Meinung, die von Garzón Valdés genannten notwendigen Bedingungen sind zugleich empirischer und normativer Art: a) Die sogenannte "Basisinkompetenz" muß sich auf anthropologische Daten stützen, zugleich aber auch auf Werturteile. Diese Bedingung ist Ausdruck des politisch-rechtlichen Prinzips der Gleichheit: es geht um Differenzierung, d. h. um das Gebot, Menschen in besonderen Situationen (etwa bei eingeschränkter oder fehlender Handlungsfähigkeit) eine besondere (in diesem Fall: eine günstigere) Behandlung angedeihen zu lassen. Wie bei allen Anwendungen des Gleichheitsprinzips handelt es sich aber auch hier um ein Werturteil (die Pflicht, Unterlegenen zu helfen) aufgrund bestimmter faktischer Umstände (tatsächlich gegebene Einschränkungen der Fähigkeit bestimmter Personen oder Personengruppen, für sich selbst zu handeln). Vgl. dazu meine Arbeiten El concepto de igualdad corno fondamento de los derechos económicos, sociales y culturales, in: Anuario de Derechos Humanos 1981, Bd. 1, S. 257 ff., und Sobre la igualdad en la Constitución espanola, in: Anuario de Filosofia del Derecho 1987, S. 133 ff. b) Die Bedingung, zugunsten des Intervenierten zu handeln, ist zwar ein "Soll"-Gebot, läßt sich aber nicht von den tatsächlichen Umständen loslösen, in denen es Anwendung findet. Andernfalls wäre es ein bequemes Mittel zur Rechtfertigung jeglicher Art von Intervention, da diejenigen, die eine solche unternehmen, immer auf die angeblichen Vorteile verweisen werden, die ihr paternalistisches Handeln den Adressaten bringt. Selbst Ginés de Sepulveda legitimiert letztlich sein ganzes paternalistisches Plädoyer zugunsten der spanischen Intervention in Amerika mit den großen Vorteilen, die sich daraus für die Indios ergäben. Vgl. meine Arbeit Notas sobre la filosofia juridico-politica de Juan Ginés de Sepulveda, in: Estudios de Filosofia del Derecho y Ciencia Juridica en Memoria y Homenaje al Catedrâtico Don Luis Legaz y Lacambra (1906-1980), Bd. II, Madrid 1985, S. 233 ff.
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2. Die antipaternalistische These fand ihnen klaren historischen Ausdruck im Denken von Bartolomé de Las Casas. Ihm gebührt das Verdienst, Kants harsche Kritik am politischen Paternalismus20 um Jahrhunderte vorweggenommen und festgestellt zu haben, daß "alle Nationen der Welt Menschen sind, und sie alle haben nur eine einzige Definition, nämlich daß sie rational sind".21 Diese Rationalität sei der Ursprung der Freiheit aller Menschen und Völker und verbiete jede Art von Paternalismus als fremde Einmischung in deren Angelegenheiten ohne ihre Zustimmung, "denn die Wahl der Könige und derer, die freie Menschen und Völker regieren sollen, steht nach Naturgesetz und Völkerrecht eben denen zu, die regiert werden sollen, so daß sie selbst sich dem Gewählten durch ihre eigene Zustimmung unterwerfen, in einem Willensakt, der in keiner Weise ... erzwungen werden darf, da die Menschen alle zunächst frei geboren werden und sind".22 Las Casas leitet aus diesen Prämissen wichtige praktische Konsequenzen für den Bereich der Gewissensfreiheit, für das Privatrecht und das Öffentliche Recht ab. a) Las Casas war ein überzeugter und überzeugender Vertreter der friedlichen Verkündigung des Evangeliums. Seine Abhandlung De unico vocationis modo ist ein Meilenstein in der Geschichte der Forderung nach Toleranz und Religionsfreiheit. Kernpunkt dieses Werkes ist der Gedanke, daß "die göttliche Vorsehung für die ganze Welt und für alle Zeit eine einzige, immer gleiche Weise bestimmt hat, wie man die Menschen die wahre Religion lehren soll, nämlich: durch Überzeugung ihres Verstandes mit Hilfe von Gründen und durch Ermunterung und den sanften Anstoß des W i l l e n s " . 2 3 Damit wird jede Form von religiösem Paternalismus abgelehnt, da es auch auf diesem Gebiet keine "Basisinkompetenten" gebe, in deren Glauben man sich zwangsweise einmischen dürfe. Anthony Pagden hat in Las Casas* Sensibilität und Respekt für das System religiöser und kultureller Formen der Indios die Vorwegnahme eines "Programms vergleichender Ethnologie" gesehen.24 Um das Ausmaß von Las Casas' Antipaternalismus in bezug auf die Glaubensfreiheit zu ermessen, 20 Zum Kantischen Antipaternalismus in bezug auf die Entstehung des Rechtsstaats vgl. mein Buch Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitution, 4. Aufl., Madrid 1991, S. 214 ff. 21 B. de Las Casas, Apologètica Historia, in: Obras escogidas de fray Bartolomé de Las Casas, hg. in fünf Bänden von J. Pérez de Tudela, Bd. III, Madrid 1958, S. 165 f. Für eine allgemeine Darstellung des Denkens von Las Casas vgl. meinen Aufsatz Democracia y derechos humanos en Bartolomé de Las Casas. Estudio Preliminar al Tratado De Regia Potestate, in: Fray Bartolomé de Las Casas, Obras Complétas, Bd. 12, Madrid 1990, S. I ff., mit weiteren Literaturangaben. 22 B. de Las Casas, Tratado comprobatorio, in: Obras escogidas (zit. Anm. 21), Bd. V, S. 380 f. 23 B. de Las Casas, Del ùnico modo de atraer a todos los pueblos a la verdadera religion, hg. von Λ. Miliares, L. Hanke undA. Santamaria , Mexiko-Stadt 1942, S. 6. 24 A. Pagden (zit. Anm. 16) S. 169 ff.
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ist auch die These von Tzvetan Todorov sehr anregend. Las Casas* Theorie der Gewissensfreiheit wird von Todorov als zunehmende Anerkennung der Identität des "Anderen", d. h. des Indio, sowie der ethisch-rechtlichen "Gleichheit" seines "anderen" Werte- und Glaubenssystems aufgefaßt. Nach der Interpretation von Todorov hat sich Las Casas von einer anfänglich wohlwollenden Haltung gegenüber dem Indio, die aber doch dessen Riten der von ihm für einzig wahr und zulässig gehaltenen Religion anpassen wollte, zu einer Anerkennung des Indio als solchem entwickelt: "Gleichheit wird hier nicht mehr um den Preis der Identität erkauft; es geht nicht um einen absoluten Wert: Jeder hat das Recht, sich Gott auf dem Weg zu nähern, der ihm angemessen erscheint. Es gibt nicht mehr einen wahren Gott (den unseren), sondern eine Koexistenz möglicher Welten: wenn jemand ihn als den wahren betrachtet..." 25
b) Auf der Ebene des Privatrechts führt die Anwendung der Theorie von Las Casas zur grundlegenden Illegitimität all dessen, was sich die Eroberer vom Eigentum oder der Person der Indios als rationalen und freien Wesen (insbesondere auf dem Wege der encomienda) angeeignet haben. In der Representación al Emperador Carlos V, die auf das Jahr 1542 datiert ist, spricht Las Casas in einem Ton, der keinen Zweifel läßt. "Alle Güter, die alle Eroberer in ganz Indien besitzen, sind alle geraubt, durch die ungeheuerlichsten Gewalttaten erlangt und ihren wahren Eigentümern, nämlich den Indios, w e g g e n o m m e n . "26 Für so schwere Vergehen wird eine entsprechende Wiedergutmachung gefordert. "Die Spanier, die sich bei ihren 'Eroberung* genannten Invasionen und mit der Einführung der allgemeinen Sklaverei, d. h. mit repartimientos oder encomiendas 21, den Indiovölkern gegenüber schlecht betragen haben", so mahnt Las Casas, "sind, wenn sie sich retten wollen, verpflichtet, außer der Rückgabe oder möglichen Wiederherstellung des Geraubten und der Wiedergutmachung für die Schäden ständigen Wohnsitz in jener Welt zu nehmen und auf eigene Kosten für immer dort zu wohnen."28 c) Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts bedeutete der Antipaternalismus in der Version von Las Casas die volle Anerkennung der politischen Institutionen der amerikanischen Eingeborenenvölker. In einer an den König gerichteten Denkschrift spricht er sich für die Respektierung der indianischen Autoritäten aus: "... bitten wir Eure Majestät, daß die besagten Herren und Kaziken von den spanischen Statthaltern in der Regierung ihrer Völker und Untertanen nicht be25
T. Todorov (zit. Anm. 14) S. 226 f. B. de Las Casas, Representación al Emperador Carlos V, in: Obras escogidas (zit. Anm. 21), Bd. V, S. 124. 27 Formen der Zuteilung von Indios als Zwangsarbeiter an die Spanier [Anm. d. Ü.]. 28 B. de Las Casas, Los tesoros del Peru, hg. von A. Losada, Madrid 1958, S. 346. 26
7 Pérez Luno
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hindert werden. Denn jedem Volk und jeder Nation ist seine alte Regierungsweise und das Regiertwerden von Personen, die es kennt und die von der gleichen Natur sind, lieb und teuer, das Gegenteil aber traurig und schrecklich. Dies aber scheint göttliches Recht zu sein und sich auf das Naturgesetz zu g r ü n d e n . " 2 9 Es geht um die Anerkennung, daß die amerikanischen Territorien "ganz allein und mit ausschließlicher Jurisdiktion ihren eigenen Königen gehörten und ... daß alles, was darin war, nur ihren Bewohnern gehörte und sich kein Fremder etwas davon aneignen konnte, ohne dabei diese zu schädigen".30 Las Casas folgt seinen Prämissen bis zur letzten Konsequenz. Wenn im privaten Bereich alle den Indios unrechtmäßigerweise abgenommenen Dinge zurückgegeben werden mußten, so war auch im öffentlichen Bereich die Wiederherstellung ihrer Herrschaft geboten: "... der wahre Ausweg aus all diesen Übeln ... ist", so schreibt er in seinem Brief an Fray Bartolomé Carranza de Miranda von 1555, "die Indios aus der Herrschaft des Teufels zu lösen, sie wieder in ihre ursprüngliche Freiheit zu versetzen und ihren Königen und natürlichen Herrschern ihre Staaten zurückzugeben".31 Die antipaternalistische Einstellung kann zu ihren Gunsten ihren entscheidenden Beitrag zur Stärkung von Autonomie, Freiheit und Gleichheit der Individuen und Selbstbestimmung und Souveränität der Völker anführen. Sie kann aber nicht ohne Ausnahmen akzeptiert werden. In gewissem Sinne stecken die zwei von Garzón Valdés für die Rechtfertigung des Paternalismus geforderten Bedingungen eine Grenze für die Legitimität eines radikalen Antipaternalismus ab. Die Werke von Las Casas enthalten die ständige Aufforderung an die Krone, in "Indien" zu intervenieren und gegen die dort verübten Übergriffe vorzu29 B. de Las Casas, Memorial de fray Bartolomé de Las Casas y fray Rodrigo de Andrade al Rey, in: Obras escogidas (zit. Anm. 21), Bd. V, S. 185. 30 B. de Las Casas (zit. Anm. 28) S. 359. 31 B. de Las Casas, Carta al Maestrofray Bartolomé Carranza de Miranda, in: Obras escogidas (zit. Anm. 21), Bd. V, S. 435. Es ist wiederholt behauptet worden, die Schriften Vitorias und Las Casas' hätten dazu beigetragen, den sogenannten "indianischen Zweifel" zu nähren, d. h. die Unsicherheit Karls V. darüber, ob nicht die Berichte über die in Amerika begangenen Untaten als einzigen ethisch und rechtlich akzeptablen Ausweg die Aufgabe Amerikas nahelegten. Aus dem Gesamtwerk von Vitoria und Las Casas geht hervor, daß ihre Anklagen darauf gerichtet waren, ein direktes Eingreifen der Krone zur Beseitigung des Unrechts zu veranlassen, daß sie aber niemals die Aufgabe Amerikas verlangten. Sie waren im Gegenteil Verfechter einer "friedlichen (Kolonisierung) auf den Grundlagen der Religion und in Verfolgung des Zieles, daß der König auf lange Sicht über ganz Amerika herrschen sollte, um zu vermeiden, daß anderefremde Fürsten dies täten"; M. Lucena, Crisis de la conciencia nacional: las dudas de Carlos V, in dem Sammelband: La Etica en la Conquista de América, Madrid 1984, S. 195 f. Im gleichen Sinne auch A. Saint-Lu, Las Casas et Tintention prêtée à Charles-Quint de renoncer aux Indes, in dem Sonderband von Le Supplément (Revue d'Ethique & Théologie Morale) zum Thema Las Casas et Vitoria, Nr. 160 (März 1987) S. 49 ff.
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gehen. Las Casas, der Vorkämpfer des Antipaternalismus, ist sich der Tatsache bewußt, daß sich ohne Intervention von außen das Unrecht nicht wird beseitigen lassen. Die Geschichte ist voll von solch paradoxen Situationen, in denen der Kampf gegen den Paternalismus mit Hilfe paternalistischer Mittel geführt wird. So versteht Bartolomé de Las Casas durchaus, daß es die Pflicht gibt, aus Nächstenliebe oder natürlicher Solidarität zugunsten der Unterdrückten und derer, die schwere Not leiden, zu intervenieren, um ihnen zu helfen, sich ohne nennenswerten eigenen Schaden aus ihrer mißlichen Lage zu b e f r e i e n . 32 Dies bringt ihn im Hinblick auf die Lage in Amerika dazu, die Intervention der Krone zu fordern, um die "Zerstörung und den Verlust all jener Gemeinden und die Entvölkerung jener ganzen Neuen Welt (zu beenden), deren Gesundheit, Erhaltung und Wohlergehen peinlichst zu hüten, die zu schützen, zu verteidigen und zu erhalten Eure Majestät verpflichtet sind".33 3. Der Wert der Kommunikation ist, wie ich meine, eine Alternative zu den zwei bisher vorgestellten Positionen. Der Rückgriff auf das Leitideal vollständiger menschlicher Kommunikation erlaubt es, a) gewisse dem Denken Vitorias "interne" hermeneutische Probleme zu lösen und zugleich b) die "externe" Polarisierung der Antithese Paternalismus/Antipaternalismus zu überwinden. a) Man hat Vitoria eine gewisse, in deutlichem Gegensatz zu dem Mut und der Radikalität von Las Casas stehende politische Zaghaftigkeit vorgeworfen, wenn es darum ging, sein im übrigen untadeliges Lehrgebäude bis in die letzte Konsequenz zu Ende zu denken.3* Man findet sogar die Einschätzung, daß sich die praktischen Folgerungen, zu denen Vitoria im Anschluß an seine brillante theoretische Darstellung gelangt, nicht "ohne Bedauern und Empörung" lesen lassen.3^ Entgegen dieser Vorbehalte meine ich jedoch, daß es an dem Engage32
B. de Las Casas, De regia potestate, VI, 1; ich zitiere nach Obras Complétas (zit. Anm. 21), Bd. 12, S. 71. 33 B. de Las Casas, Entre los remedios, in: Obras escogidas (zit. Anm. 21), Bd. V, S. 96. Las Casas' Rechtfertigung der paternalistischen Intervention erfüllt jedenfalls die beiden Bedingungen von Garzón Valdés: Es geht ihm um die Lösung von Problemen (Machtmißbrauch der Konquistadoren, encomiendas usw.), die die Indios allein nicht lösen können, und es handelt sich um eine Intervention, die zugunsten der Indios, nicht der Spanier stattfinden soll. In den Schriften von Las Casas findet sich als echtes Leitmotiv der Gedanke: "... ist nicht der Zweck, den die Könige von Kastilien von Rechts wegen in Amerika haben verfolgen müssen, die Bekehrung und Rettung jener Menschen, und all ihr geistiges und zeitliches Wohlergehen?", da "die Spanier, die nach Amerika gehen, zum Wohle eben der Indios gehen müssen"; vgl. Β. de Las Cosas (zit. Anm. 31) S. 432. 34 Vgl. R. Marcus, Las Casas admirateur critique de Vitoria, in dem Band Las Casas et Vitoria (zit. Anm. 31) S. 67 ff. 3 5 M. M. Martinez , Las Casas-Vitoria y la Buia 'Subiimis Deus', in dem Sammelband: Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas, Sevilla 1974, S. 41.
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ment und der Ehrlichkeit des pathos , das die Überlegungen Vitorias zu Amerika bewegt, keinen Zweifel geben kann. Man braucht nur an seinen brieflichen Nachlaß erinnern, worin er dem Pater Manuel de Arcos gesteht, daß ihm hinsichtlich der in "Indien" verübten Gewalttaten "bei der bloßen Vorstellung davon das Blut in den Adern gefriert". Und er fügt hinzu, daß er zwar gerne Erzbischof von Toledo würde, wie man es ihm versprochen hat, wenn er die Unschuld der Konquistadoren bestätigen würde, die diese Übergriffe in Amerika begehen, daß er dies aber nie zu tun wagen würde: "Eher sollen mir Zunge und Hand verdorren, als daß ich so unmenschliche und jeder Christlichkeit entbehrende Dinge sage oder schreibe."36 Vitoria waren die bei der Eroberung begangenen Verbrechen keineswegs gleichgültig; mit größerer Schärfe und Strenge als jeder andere zerpflückte er die Argumente, die diese Situation legitimieren sollten, und bezeichnete sie ganz unzweideutig als "illegitime Titel".37 Angesichts seiner geistigen Sensibilität scheint es nicht plausibel, daß er die auf die natürliche Minderwertigkeit des Indio, das Barbarentum seiner Sitten oder die Möglichkeit einer zwangsweisen Christianisierung gegründeten Rechtfertigungen zunächst als illegitim ablehnt, sie dann aber bestehen läßt und vermittels eines rhetorischen Kunstgriffs zu "legitimen Titeln" macht.38 Ich möchte dazu beitragen, dieses umstrittene Teilstück von Vitorias Denken zu beackern, um eine einheitliche, die - wie ich meine, nur scheinbaren - Widersprüche überwindende Interpretation davon zu geben. Wir müssen uns dazu von der üblichen Lesart der acht legitimen Titel als acht voneinander unabhängige Ursachen lösen und sie als sieben Präzisierungen einer einzigen, grundlegenden Ursache auffassen. 36
Carta de Francisco de Vitoria al padre Arcos sobre negocios de Indias, in: F. de Vitoria, Relectio de Indis, hg. von V. Beiträn de Heredia u. a., Madrid 1967, S. 139. Vitoria nennt die skrupellosen Konquistadoren "Peruleros" - ein (in der Regel mit negativer Konnotation versehener) Ausdruck, mit dem man diejenigen bezeichnete, die sich in Peru bereichert hatten. 37 Vitoria nennt eine Reihe von Argumenten - um sie als illegitim zu verwerfen -, die von Juristen und Theologen seiner Zeit im allgemeinen zur Rechtfertigung der spanischen Herrschaft in Amerika akzeptiert wurden: 1) das universale Herrschaftsrecht des Kaisers; 2) das universale Herrschaftsrecht des Papstes; 3) die Entdeckung und Inbesitznahme einer res nullius: dies sei ein Argument, das für ein unbewohntes Gebiet gegolten hätte, nicht aber für die Länder Amerikas, die von ihren legitimen Eigentümern bewohnt gewesen seien; 4) die Weigerung der Indios, das Evangelium anzunehmen: dies ließe sich nicht gewaltsam durchsetzen; 5) die von den Indios gegen das Naturrecht begangenen Verbrechen: es stünde den Spaniern nicht zu, diese Vergehen zu bestrafen; 6) die Akzeptanz der spanischen Souveränität durch die Indios, wenn sie darum "ersucht" wurden: ihr Wille sei dabei von Furcht und Unwissenheit geprägt gewesen; 7) daß Gott die Indios der Macht der Spanier als Strafe für ihre Sünden ausgeliefert habe, so wie die Kanaanäer den Juden: dieses Argument verdiene es nicht einmal, ernst genommen zu werden; vgl. De Indis, I, 2,1-24. 38 Vgl. M. M. Martinez (zit. Anm. 35) S. 32 ff. und 44 ff.
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(1) Für Francisco de Vitoria gibt es, wie schon erwähnt, einen ersten Titel, der die spanische Anwesenheit in Amerika rechtfertigt: das ius communicationis. Dem ist nun hinzuzufügen, daß es sich nicht nur um einen ersten, sondern um den einzigen Titel handelt, aus dem sich eine Reihe von Aspekten bzw. Tatbeständen ableiten lassen. (2) Der zweite bezieht sich auf das Recht, das Evangelium in einem Klima der Sicherheit zu lehren - nicht: aufzuzwingen -, was den Gebrauch von Gewalt gegen die erlaubt, die das zu verhindern suchen, wobei aber immer mit Maß und Gerechtigkeit vorzugehen sei, um nicht über das unbedingt notwendige Maß hinauszugehen. (3) Das Recht auf Intervention zur Verteidigung konvertierter Indios, wenn ihre Kaziken oder andere Indios sie gewaltsam daran hindern, ihren Glauben auszuüben. Es handelt sich um die Erfüllung einer Freundschaftspflicht gegenüber denen, die sich in einer nicht gerechtfertigten Gefahrensituation befinden. (4) Die Erfüllung des päpstlichen Gebots durch die Spanier, wonach solche Kaziken oder Tyrannen abgesetzt werden sollen, die sich des vorigen Tatbestandes schuldig gemacht haben, um sie durch christliche Regenten zu ersetzen. (5) Die Intervention aus Gründen der Humanität und der Solidarität zugunsten der Opfer von Tyrannen und unmenschlichen Gesetzen wie solche, die die Opferung unschuldiger Menschen verlangen. In solchen Fällen dürften die Spanier die Indios, selbst wenn diese mit den Riten einverstanden seien, dagegen verteidigen, da sie nicht Herren ihrer selbst seien und nicht das Recht hätten, sich oder ihre Kinder dem Tod auszuliefern. (6) Die Intervention der Spanier in die Regierung der Indios auf deren Wunsch und mit dem Ziel einer besseren Verwaltung. (7) Die Möglichkeit, in Stammeskriegen als Verbündete befreundeter Indios anzutreten. (8) Ein letzter Tatbestand, den Vitoria unter Vorbehalten akzeptiert, bezieht sich auf die Intervention aus Gründen der Unfähigkeit. Vitoria, der ohne Zögern anerkennt, daß die Indios rationale Menschen sind, und bestreitet, daß sie "Schwachsinnige" sind, meint jedoch, daß sich manche von ihnen in bestimmter Hinsicht kaum von "Schwachsinnigen" unterscheiden. In solchen Fällen solle man intervenieren, um ihnen zu einer besseren Verwaltung ihrer Republiken zu verhelfen: "unter dem Vorbehalt, daß dies zu ihrem Wohl und Nutzen geschieht und nicht nur zum Vorteil der Spanier". Im Anschluß an diese Tatbestände kommt Vitoria zu der Behauptung, die bei seinen Kritikern den größten Widerspruch hervorgerufen hat. Denn nach der Auflistung dieser legitimen Titel oder Motive stellt er fest, daß selbst dann, wenn diese spanischen Interventionstitel nicht zutreffen oder nicht für ausreichend gehalten werden sollten, der Handel zwischen Spanien und Amerika auf gar keinen Fall unterbrochen werden dürfe. Außerdem bemerkt er, daß es nach der Konvertierung vieler Indios weder ange-
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messen noch erlaubt wäre, daß der König die Verwaltung jener Gebiete völlig aufgibt. 39 Die vermeintliche Inkongruenz Vitorias zeige sich, so heißt es, vor allem auf zwei Argumentationsebenen: 1. Nachdem er die materielle Intervention durch die Erzwingung der Souveränität des Kaisers oder des Papstes in Gebieten, in denen die Indios als freie Völker leben, und ihre Unterwerfung durch Eroberungskriege als "illegitime Titel" (7,2 und 3) abgelehnt habe, rechtfertige er als "legitime Titel" (2,5, 4 und 7) das Recht auf Intervention - sogar mit Gewalt in eben diese Gebiete. 2. Außerdem lehne er die kulturelle Intervention, d. h. die erzwungene Durchsetzung des Christentums und die Abschaffung der Sitten und der politischen Verwaltung der Indios ab, da diese rationale und freie Wesen seien ("illegitime Titel" 4, J, 6 und 7), lasse aber andererseits die Möglichkeit der Intervention in eben diese Bereiche zu ("legitime Titel" 5,6 und 8). Diese internen Widersprüche lassen sich überwinden, wenn man den schon erwähnten Interpretationsmaßstab anlegt, also die verschiedenen rechtfertigenden Tatbestände als Ausdrücke ein und desselben legitimen Titels ansieht, nämlich des ius communicationis. Akzeptiert man diese methodische Prämisse, dann erweisen sich die Fälle dessen, was ich "materielle Intervention" genannt habe, nicht als unabhängige, autonome Titel, sondern als Angriffe auf das Recht auf Kommunikationsfreiheit. Vitoria will seine Postulate über die Unabhängigkeit und Souveränität der Völker nicht ihres Inhalts entleeren, sondern nur ihre Grenzen abstecken. Diese Grenzen würden gebildet durch die Rechte der menschlichen Gattung, die über ihre künstlich errichteten Länder- und Stammesgrenzen hinaus eine Gemeinschaft bilde. Niemand dürfe also in die Möglichkeit eingreifen, Kommunikationsbeziehungen herzustellen, die es ja überhaupt erst möglich machten, sich als Gemeinschaft zu sehen. Es geht um Tatbestände der gewaltsamen Störung der Kommunikation, auf die sich das berühmte Hegeische Prinzip der "Verletzung der Verletzung" anwenden läßt,40 d. 39 F. de Vitoria, De Indis, I, 3,2-17. Der Völkerrechtler Juan-Antonio Carrillo Salcedo, Sul contributo della Scuola Spagnola di diritto delle genti ai fondamenti filosofici dei diritti dell'uomo, in: Rivista Internazionale dei Diritti dell'Uomo 2 (1988), S. 4, ist der Ansicht, daß Vitoria mit der Feststellung, die Indios besäßen ein natürliches Recht darauf, unabhängige politische Gesellschaften zu bilden, das ius communicationis als "einzigen" legitimierenden Titel zulasse. Er lege so die Grundlagen für eine universale Vorstellung von der internationalen Gemeinschaft, die von unabhängigen politischen Einheiten gebildet werde und auf die Einheit der menschlichen Gattung und die jedem menschlichen Wesen innewohnende Würde gegründet sei. 40 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paragraph 101. Vitorias Argument zur Rechtfertigung der Intervention aus humanitären Gründen wurde wenige Jahre später von Juan de la Pena, Professor an den Universitäten von Valladolid und Salamanca, aufgenommen. Bei ihm heißt es, eine Intervention sei legitim, um "Unschuldige zu verteidigen, die das Naturrecht befolgen
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h. es geht darum, wenn nötig auch mit Gewalt gegen den vorzugehen, der Kommunikation gewaltsam verhindert. Vitoria, der seine Überzeugungen nicht aufgibt, hält den Einsatz von Gewalt jedoch in jedem Fall für etwas Außergewöhnliches. Gelegentlich wurde hingewiesen auf den "feinen Sinn Vitorias für historische Verantwortung, in der Erkenntnis, daß sich die besten Gründe ungebührlich verfälschen lassen, wenn jemand mit bösem Willen von ihnen Gebrauch macht".41 Dies erklärt sein Anliegen, der Anwendung - selbst der legitimen - von Gewalt Grenzen zu setzen. Auch die "kulturelle Intervention" stellt keine Aufgabe seines Glaubens an die Freiheit und Rationalität des Menschen und den Respekt vor seinen Traditionen dar. Doch wenn sich im Kommunikationsprozeß herausstellt, daß bestimmte Sitten oder soziale und politische Lebensformen die Grundrechte von Unschuldigen oder auch von denen, die sie ausüben, selbst verletzen, dann besteht die natürliche Pflicht, aus Solidarität und Menschlichkeit zu einer Verbesserung der Lage beizutragen. Kommunikation ist für Vitoria kein bloßes Instrument zum Austausch von Nachrichten, sie erlegt auch Hilfspflichten auf. Vitorias These nimmt die Errungenschaft des heutigen Humanismus vorweg, die sich in dem - seit Bekanntwerden der Schrecken totalitärer Systeme um so dringlicheren - Prinzip ausdrückt, daß die Menschenrechte keine "innere Angelegenheit" der Staaten, sondern eine Verantwortung der ganzen Völkergemeinschaft sind. Man hat sich über die Interpretation lustig gemacht, die Vitoria dem christlichen Gebot "Liebe deinen Nächsten" gab, indem er ihm die Kraft eines Naturgesetzes verlieh, das den Christen die Pflicht auferlege, die Barbaren zu lieben: "Indem sie den Christen den Zutritt zu ihren Gebieten ohne gerechtfertigten Grund verweigerten, weigerten sich die Indios, geliebt zu werden, und verletzten damit das Naturgesetz, denn kein Mensch kann einen anderen lieben, ohne ihn zu kennen."42 Die Abwertung von Vitorias noblem Vorschlag ist darauf zurückzuführen, daß hier die normative Gültigkeit von Prinzipien mit den empirischen Umständen ihrer Umsetzung verwechselt wird. Die Tatsache, daß viele wollen"; außerdem gegen diejenigen, die "zum Schaden des Nächsten Verbrechen gegen die Natur begehen... und aufgrund desselben Titels können sol die Menschen erobert werden, die andauernd andere Menschen töten, um sich von ihrem Fleisch zu ernähren." Eine solche Intervention aus Gründen der Humanität und Solidarität sei selbst dann gerechtfertigt, wenn die Opfer ihrer Opferung zustimmen. Vgl. De bello contra insulanos, I, 2,14 f., zitiert nach der Ausgabe von L Perefia u. a., De bello contra insulanos. Intervención de Espana en América, Madrid 1982, S. 217 ff. 41 A. Truyoly Serra , Los principios del Derecho publico en Francisco de Vitoria, Madrid 1946, S. 65. 42 A. Pagden (zit. Anm. 16) S. 114.
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Konquistadoren die Bande menschlicher Freundschaft verhöhnten und Kommunikation zu Völkermord machten, kann den ethischen Wert von Vitorias Entwurf nicht beeinträchtigen. Zu untersuchen bleibt die oft für empörend gehaltene Folgerung Vitorias, daß selbst für den Fall, daß kein Rechtfertigungsgrund zutrifft, die spanische Krone Amerika weder hätte aufgeben können noch dürfen. Ich meine, daß Vitorias Urteil keineswegs einer zynischen Rechtfertigung des Imperialismus entspricht, sondern einer realistischen Einstellung und der Konsequenz seiner Kommunikationstheorie. Auf der Ebene des religiösen Glaubens und der kulturellen Gebräuche müssen selbst diejenigen, die für den größten Respekt vor der Unterschiedlichkeit und für die Nichteinmischung in die Lebensweisen und Rechte des "Anderen" plädieren, zugeben, daß jeder interkulturelle Kommunikationsprozeß, wenn er erst einmal begonnen hat, irreversibel ist. Das Aufeinandertreffen von Kulturen unterschiedlicher Entwicklungsstufen hat Auswirkungen auf alle Beteiligten, die aber bei der weniger entwickelten Kultur unausweichlich größer sind. Dies ist der Grund, warum die Indiogemeinschaften, sobald die Kommunikation mit der modernen Kultur - wenn auch gegen ihren Willen - hergestellt war, zum Scheitern verurteilt waren: sie wollten "ohne Geld auskommen, Bücher und Schrift vergessen, zeigen, daß ihnen Kleider nicht wichtig sind, und auf den Gebrauch von Maschinen verzichten, um alles aus eigener Kraft zu m a c h e n " . 4 3 Implizit wird aneikannt, daß Vitoria Recht hatte, wenn es heißt: "Die exemplarische Geschichte der Eroberung Amerikas lehrt uns, daß sich die westliche Zivilisation unter anderem dank ihrer Überlegenheit im Bereich der menschlichen Kommunikation durchgesetzt hat .,." 44 Vor ihrem Zusammentreffen mit der europäischen Kultur hatten die amerikanischen Kulturen untereinander gar keine oder sehr labile Kommunikationsbeziehungen, die oft auf das Ereignis von Stammeskriegen beschränkt waren. Die Kommunikation mit der westlichen Kultur ermöglichte den amerikanischen Kulturen den Kontakt mit einer außerkontinentalen Kultur, aber auch erstmals ein Selbstverständnis und eine Austauschbeziehung zwischen den amerikanischen Kulturen selbst. Die Struktur des ius communicationis beruht im Denken Vitorias einerseits auf gewissen Voraussetzungen - nämlich: a) den Postulaten des Natur- und des Völkerrechts, die gewährleisten, daß alles erlaubt ist, was nicht verboten ist, b) dem Prinzip der Gegenseitigkeit, das verlangt, daß man andere nicht an etwas 43
T. Todorov (zit. Anm. 14) S. 297.
44 Ebd. S. 296.
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hindert, an dem man selbst nicht gehindert werden will, c) der Notwendigkeit von Kommunikation für die Existenz der Gemeinschaft, womit jeder Versuch illegitim wird, sie zu unterbinden oder zu verbieten und d) dem Recht und sogar der Pflicht, seine Kultur und ganz besonders die Wahrheit zu verbreiten, d. h. (für ihn) das Evangelium zu predigen -, und andererseits auf gewissen Beschränkungen - nämlich ay) daß Kommunikation nicht zum Schaden oder zu Ungunsten Dritter stattfinden darf, V) daß sie keine Beeinträchtigung oder unangemessene Einmischung in die Angelegenheiten anderer und c') schon gar keinen Angriff auf das friedliche Zusammenleben bedeuten darf, außer im Grenzfall des Vorliegens einer gewalttätigen Haltung, die die zunächst friedliche Ausübung der freien Kommunikation zu verhindern droht. Das ius communicationis stellt für Vitoria das Grundmenschenrecht dar, aus dem alle anderen im Privatbereich, im politischen Leben und in den Beziehungen zwischen den Völkern herrühren. Der vitorianische Entwurf geht von einer gegenseitigen Beziehung und Bedingung von Kommunikation, Gemeinschaft und Konsens aus: ohne Kommunikation kann der Mensch sein Menschsein nicht voll ausleben, kann weder Mitglied einer freien Gesellschaft sein noch einem Staat angehören, der zu anderen friedliche Beziehungen unterhält. b) Es scheint nun der Moment gekommen, das weiter oben schon angedeutete Argument wieder aufzunehmen, wonach die Idee der Kommunikation nicht nur unverzichtbar für die Auflösung der internen Widersprüche bei Vitoria ist, sondern auch einen meines Erachtens fruchtbareren Ansatz im Hinblick auf die Einstellungen gegenüber dem Paternalismus erlaubt. Die Kommunikation ist ein dritter Weg gegenüber der Dialektik von Paternalismus/Antipaternalismus, deren Extreme sich als inakzeptabel erweisen. Daher muß, wie der Entwurf von Emesto Garzón Valdés beispielhaft zeigt, der Antipaternalismus gewisse Nuancen erhalten, die Ausnahmen erlauben, d. h. die Rechtfertigung des Paternalismus muß an die Erfüllung gewisser Bedingungen geknüpft werden. Die Hauptschwierigkeit mit diesen Bedingungen liegt darin, daß sie die Beteiligten immer auf unterschiedliche Stufen stellen. Ein Schadensfall, eine "Basisinkompetenz" oder die nicht auf Manipulation gerichtete Absicht sind Handlungsbedingungen, deren Vorliegen und Ausmaß immer der Paternalist beurteilt. Vom Standpunkt des Adressaten der Intervention scheint diese als solche kaum je gerechtfertigt. Der Paternalismus wird schließlich auf der Grundlage des Wertesystems des Paternalisten gerechtfertigt. All dies führt auf präskriptiver Ebene zu Zweifeln an der axiologischen Gültigkeit der Interventionsmaßstäbe und auf der faktischen Ebene zu Zweifeln an der Akzeptierbarkeit der Intervention durch die Betroffenen.
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Diese Vorbehalte sollten jedoch nicht zur unumschränkten Annahme eines radikalen Antipaternalismus führen, der - wie ich zu zeigen versucht habe - einen schweren Verstoß gegen den Gedanken von der Gemeinschaft der menschlichen Gattung und gegen den Wert der Solidarität zwischen Menschen und Völkern bedeuten würde. Im Bereich der internationalen Beziehungen stellt radikaler Antipaternalismus - anders, als man vermuten könnte - keine Option zugunsten der Freiheit dar. Er entspricht vielmehr einer positivistischen, voluntaristischen und absolutistischen Auffassung von der Souveränität der Staaten, die jede Art von Einmischung immer rechtlich unmöglich macht. Wer dagegen das Problem der Souveränität vom Standpunkt naturrechtlicher Prämissen betrachtet, faßt sie als durch die in den Menschenrechten verkörperten ethischrechtlichen Prinzipien beschränkt auf. Wenn diese universalen menschlichen Wertmaßstäbe - und sei es durch einen Staat gegenüber seinen eigenen Bürgern - verletzt werden, dann ist es legitim, daß die internationale Gemeinschaft eingreift, um diese Verletzung zu b e e n d e n d Angesichts der Aporien, die sich aus der paternalistischen und antipaternalistischen Haltung ergeben, stellt die Kommunikation einen höheren Legitimationsrahmen dar. Kommunikation setzt nicht unbedingt symmetrische Ausgangsniveaus voraus. Es liegt auf der Hand, daß bei der Kommunikation, die mit dem ersten Aufeinandertreffen von Europa und Amerika durch Kolumbus etabliert wurde, die Überlegenheit an Erkenntnissen und Erfahrungen ganz entschieden auf Seiten der europäischen Völker lag. Jeder Kommunikationsprozeß hat aber auf lange Sicht die Tendenz, infolge des beidseitigen Informationsflusses ein gewisses Gleichgewicht herzustellen. Kommunikation bedeutet Übermittlung, Teilnahme und Austausch; kommunizieren weist schon vom Wortstamm her auf ein gemeinsames Tun hin. Kommunikation ist Voraussetzung und Ausdruck von Gemeinschaft. Deswegen sind die heutigen Kulturgemeinschaften Amerikas nicht bloß "geklönte" Reproduktionen der europäischen Kulturen. Sie sind das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses, der manchmal traumatisch vertief und autochthone Lebensformen der Indios verschlang, bei dem aber auch diese einen Beitrag zur Ausbildung der neuen Gemeinschaften leisteten. 45 Vgl. A. Truyol y Serra (zit. Anm. 41) S. 67 f. Herbert Schambeck, La Escuela de Salamanca y su significación hoy, übers, von M. Truyol Wintrich, in: Anales de la Real Academia de Ciencias Morales y Politicas XLII (1990) 67, S. 95, hält die Thesen der Klassiker der Schule von Salamanca - insbesondere die von Vitoria - für wertvolle Vorläufer der Doktrin, wie sie in der KSZE-Schlußakte von Helsinki ausdrücklich anerkannt wurde, "daß nämlich eine Intervention aus humanitären Gründen, die ein Unterzeichnerstaat in einem anderen Staat für angebracht hält, nicht mehr von vornherein als Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Staates aufgefaßt werden kann".
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Die These der Kommunikation verhilft zu einer besseren Erklärung der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern als das Gegensatzpaar Paternalismus/Antipaternalismus. Bezüglich des Antipaternalismus weist sie auf die Sackgasse der Inkommunikation hin, in die dieser führt, und - schlimmstenfalls - auf seine egoistischen, unsolidarischen Auswirkungen, die folglich den Werten der menschlichen Gemeinschaft entgegenstehen; bezüglich des Paternalismus bedeutet Kommunikation, daß der Gedanke der Intervention, der unausweichlich Über- und Unterordnung impliziert, durch den Kommunikationsprozeß ersetzt wird, der dazu neigt, die Werte und Erfahrungen derer, zwischen denen er stattfindet, zum Gemeingut zu machen.
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Mit seiner Ausarbeitung des ius communicationis wollte sich Francisco de Vitoria Klarheit über die besonderen Merkmale seiner Zeit verschaffen und in gewisser Weise Antwort auf die Probleme einer Gesellschaft - der der Renaissance - geben, die durch technische Neuerungen, geographische Entdeckungen und eine Entwicklung der Kulturformen gekennzeichnet war, die die aus dem Mittelalter ererbten Begriffskategorien obsolet machten. Die Koordinaten, in denen sich Vitorias Dasein abspielte, weisen - wie schon zu Beginn dieser Überlegungen erwähnt - deutliche Parallelen zu unserem heutigen Leben auf. So ist es wohl nicht ganz unsinnig, eine gewisse "ideale Kommunikation" zwischen den Thesen Vitorias und den Theorien der Gegenwart zu sehen, die das kommunikative Handeln ins Zentrum ihrer Diagnose der Vernunft, der Ethik und der Theorie der Gesellschaft stellen. Die dialogische Konstruktion von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas zieht heute die Aufmerksamkeit derer auf sich, die sich für das interessieren, was Philosophie und Sozialwissenschaften heutzutage bedeuten. Eine ausführliche Analyse ihrer Thesen würde den Rahmen dieser Betrachtung sprengen. Für die Zwecke meiner Überlegungen reicht es aus, gewisse Entsprechungen zwischen Vitoria und den genannten Strömungen zeitgenössischen Denkens aufzuzeigen. Wenn Ideengeschichte das Wiederauflebenlassen von Erfahrungen und Lehren der Vergangenheit zum Zwecke der Überprüfung ihrer heutigen Verwertbarkeit ist, dann ist das Risiko, das ich mit diesen Spekulationen auf mich nehme, nicht ganz ungerechtfertigt. L Der Ausgangspunkt für die Feststellung jeglicher Parallele liegt in der anthropologischen Prämisse einer Auffassung vom Menschen als kommunika-
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tivem Wesen. Ich habe weiter oben schon daran erinnert, daß für Vitoria die Fähigkeit, mit Hilfe der Sprache Gedanken und Erfahrungen auszutauschen, ein Definitionsmerkmal des Menschen ist. Ohne Kommunikation kann es weder Wissen übereinander noch kooperative Beziehungen zwischen den Menschen geben - kurz gesagt: ohne Kommunikation ist Gesellschaft oder Gemeinschaft nicht möglich. Angesichts der natürlichen Geselligkeit des Menschen und aufgrund der Tatsache, daß Kommunikation ein notwendiges Instrument für das Leben in Gesellschaft ist, schließt Vitoria, daß Kommunikation konstitutives Prinzip des Menschheitsbegriffes selbst ist.46 In heutiger Terminologie wäre Kommunikation zu interpretieren als Grunddatum für den Erhalt und die Reproduktion menschlichen Lebens als eine gesellschaftlich koordinierte Tätigkeit. So heißt es bei Habermas: "Wenn wir davon ausgehen, daß sich die Menschengattung über die gesellschaftlich koordinierte Tätigkeit ihrer Mitglieder erhält, und daß diese Koordinierung durch Kommunikation, und in zentralen Bereichen durch eine auf Einverständnis zielende Kommunikation hergestellt werden muß, erfordert die Reproduktion der Gattung eben auch die Erfüllung der Bedingungen einer dem kommunikativen Handeln innewohnenden Rationalität. " 4 7
2. Kommunikatives Handeln hat die freie und nicht-diskriminierte Existenz der Menschen zur sozialen Voraussetzung und die menschliche Emanzipation zum Zweck. Kommunikation ist ambivalent: sie hat faktische und normative Züge. Für Francisco de Vitoria hatte Kommunikation deskriptive und präskriptive Bedeutung; sie war die natürliche Form der Erläuterung menschlichen Handelns, aber auch ein Leitgedanke für das Verhalten von Menschen und Völkern. Für Vitoria ist deshalb das Postulat von der Einheit der menschlichen Gattung und sein Korollar - die Freiheit und Gleichheit aller Menschen und Völker - gleichzeitig ein Faktum, das die Existenz von Kommunikation erklärt, und ein politischer und rechtlicher Wert, ein Paradigma des "Sollens", das die Kommunikation zum Vehikel universaler Freundschaft macht. Denn für Vitoria zielt Kommunikation letztlich darauf ab, die vom naturrechtlichen Prinzip der amicitia ad omnes homines geleitete vollkommene Gemeinschaft zu ermöglichen.48 46
F. de Vitoria, De Indis, I, 3,1-2 und 3; ders., De potestate civili, 4 und 5. 47 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 532. 48 F. de Vitoria, De Indis, 1, 3,1 und 12. In diesem Zusammenhang ist es interessant, an Vitorias Rechtfertigung der Gleichheit zwischen den Menschen (De potestate civili, 7) zu erinnern. Da vor der Übereinkunft über die Errichtung eines politischen Gemeinwesens kein Mensch einem anderen übergeordnet gewesen sei, gebe es keinen Grund, warum sich nach seiner Konstituierung jemand Macht über andere anmaßen können sollte: "Si enim prius quam in civitatem homines convenirmi, nemo erat aliis superior, non est aliqua ratio cur ipso coetu, seu conventu civili, quisque s alios potestatem vindicaret. "
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Diese doppelte Erscheinungsweise der Kommunikation spiegelt sich auch in Apels Denken wider, wenn er anerkennt, daß die reale Kommunikationsgemeinschaft den tatsächlichen Entwicklungsformen der menschlichen Art entspreche, die aus "kommunizierenden Wesen" bestehe, daß sie aber nicht bloß das Ergebnis historischer Induktionen sei. Die Kommunikation habe Elemente a priori, Transzendentalbedingungen, die keineswegs hypostasierend wirken, sondern die intersubjektiv begründete universale Geltung des Wissens garantieren sollen. Akzeptiere man das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, so erlaube dies eine reale Kommunikation, die die normativen Elemente idealer Kommunikation nicht ausschließe.49 Für Habermas wäre die ideale Kommunikationssituation eine solche, die nicht durch äußere Herrschaftsformen verzerrt ist, d. h. die eine symmetrische Verteilung der Möglichkeiten unter allen Teilnehmern eines Kommunikationsprozesses erlaubt, in diesen Prozeß einzugreifen und Argumente vorzubringen.^ Die ideale Kommunikationssituation ist nicht empirische Realität, aber auch nicht bloße Abstraktion. Es handelt sich weder um eine regulative Idee im Sinne Kants noch um einen existierenden Begriff im Sinne Hegels, denn keine Gesellschaft weist die Lebensform auf, die die ideale Kommunikationssituation verlangt. Sie impliziert vielmehr die Erwartung eines jeden, der "tatsächlich" in einen Kommunikationsprozeß eintritt, daß ein rationaler Konsens erzielt werden kann. Auf diese Weise wird der rationale Konsens mit dem tatsächlich erreichten Konsens in Verbindung gebracht, und jeder empirische Konsens kann einer auf die Bedingungen der idealen Situation gegründeten Kritik unterzogen werden. So "läßt sich zeigen, daß die Wahrheit von Aussagen (bzw. Theorien) und die Richügkeit von Handlungen (Normen) Geltungsansprüche darstellen, die allein diskursiv, d. h. mit Mitteln argumentativer Rede eingelöst werden können.51 Die ideale Kommunikationssituation hat nichts zu tun mit einem Paradies der Neutralität, die jeglichem Engagement für die Probleme der Gesellschaft indifferent gegenübersteht. Sie ist vielmehr eine Situation der "Betroffenheit", d. h. des Engagements für die volle Emanzipation des Menschen, in der sich dann das kontrafaktische Ideal der idealen Kommunikationsgemeinschaft reali49
K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973, Bd. 1, S. 59 ff., und Bd. 2, S. 358 ss. 50 J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders. und N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971, S. 136 ff.; vgl. auch mein Buch Derechos humanos ... (zit. Anm. 20) S. 163 ff. 51 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 339.
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sieren ließe. Habermas faßt diese ideale Kommunikationsgemeinschaft als utopischen Entwurf auf, der es jedem Individuum erlauben würde, seine Subjektivität im Rahmen einer vermittels der Kommunikation geteilten, intersubjektiven Universalität vollständig und autonom zu e n t f a l t e n . 52
5. Die Grundbedingungen, die den Kommunikationsprozeß definieren, sind Rationalität, Universalität und Konsens; der Wert, der ihm zugrundeliegt, is die Solidarität. Francisco de Vitoria war ein entschiedener Verfechter der Erneuerung des thomistischen Denkens an der Universität von Salamanca. Aufgrund dieser rationalistischen Einstellung definiert er das Naturrecht als "alles das, was allen rechtens und derrichtigenVernunft entsprechend erscheint".53 Wegen seiner unmittelbaren Begründung auf dem Naturrecht sei auch das Völkerrecht das, "was die natürliche Vernunft bei allen Völkern festlegt". 54 Die Vernunft ist folglich die Eigenschaft des Menschen, die es ermöglicht, den Beziehungen zwischen Menschen und Völkern Sinn zu verleihen. Diese Möglichkeit beruht darauf, daß die Vernunft universal ist, da sie es ist, die die Natur des Menschen definiert und ausmacht; denn der Mensch ist Mensch als rationales Wesen: homo est homo simpliciter in quantum rationalist 5 Die Kommunikation hat für Vitoria unverkennbar universalistische Neigung, da er aufgrund seiner teleologischen Weltvorstellung annimmt, daß die Dinge die Zwecke anstreben, für die sie geschaffen wurden.56 Wenn also die Menschen gemeinsame Rationalität und eine gemeinsame Fähigkeit zur Kommunikation besitzen, dann, um sie weltweit zu entwickeln. Die universale menschliche Geselligkeit, die gelegentlich durch die Wechselfälle der Geschichte entstellt wird, lasse sich als Prinzip nicht bestreiten. Sie drücke sich aus durch Kommunikation, und ihr Zweck sei der Konsens der menschlichen Gemeinschaft. Deswegen genügt Vitorias Völkerrecht einem demokratischen Legitimationsprinzip, da bei allem, was nicht unmittelbar aus dem Naturrecht - d. h. aus der rationalen Natur des Menschen - ableitbar sei, die Zustimmung der Mehrheit der Weltbevölkerung genüge, wenn sie auf das 52
J. Habermas (zit. Anm. 50) S. 140; ders. (zit. Anm. 47), Bd. 2, S. 147 ff.; vgl. auch Tk McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 1989, S. 527 f. 53 F. de Vitoria, In Ilam-IIae de just., q. 57, a. 2, 4: "... quod lumine naturali per se notum est esse justum ab omnibus et conforme rationi rectae ... est jus naturale" ; zitiert nach der Ausgabe vo V. Beiträn de Heredia, Comentarios a la Secunda secundae de Santo Tomâs, Salamanca 1934, S. 8. 54 F. de Vitoria, De Indis, I, 3,1 : "Quodnaturalis ratio inter omnes gentes constituit, vocat gentium. " 55 F. de Vitoria, De homicidio, 3. 56 F. de Vitoria, De potestate civili, 2.
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Gemeinwohl aller ausgerichtet, also so etwas wie ein Mehrheitsbeschluß über verallgemeinerungsfähige Prinzipien sei.57 Rationalität, Universalismus und Konsensus sind die Grundbedingungen, die bei der Ausübung des ius communicationis zusammenkommen müssen, das seinen Leitwert in der Solidarität hat, die seine konkreten Ausdrucksfonnen bestimmen und lenken. Wie man den Lehren Vitorias entnehmen kann, gibt es zwischen allen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft Solidaritätsbande, die auf der Einheit ihrer Natur, ihres Schicksals und ihrer Rechte beruhen. Diese Solidarität ist zugleich eine Forderung, die sich aus den physischen und kulturellen Beschränkungen und Bedürfnissen der Menschen ergibt, welche zur gegenseitigen Hilfe - vor allem für die, die in höherem Grade darunter leiden zwingen. Das Solidaritätsprinzip verpflichtet im Inneren der Staaten zur Überwindung des Egoismus und der Eigennutzes, der schwere gesellschaftliche Ungleichheiten schafft und Ursprung von Rivalitäten und Revolutionen ist, zugunsten des Gemeinwohls. In den internationalen Beziehungen dagegen äußert es sich als Tendenz zu einem Gemeinwohl im Weltmaßstab, das zu einer fairen Verteilung der natürlichen Reichtümer und Ressourcen verpflichtet, wobei z. B. die Emigration als Mittel zur Korrektur geographischer Ungleichgewichte erlaubt sein soll.58 Durch den Wert der Solidarität erhält die Kommunikation für Vitoria weltweite Bedeutung, die sich nicht auf die geistige Ebene beschränkt, sondern sich auch auf den Bereich der "Kommunikation" von Gütern erstreckt. Kommunikation sei der Kern einer gerechten Gemeinschaft und müsse daher darauf abzielen, ein natürliches und materielles Gleichgewicht in den Beziehungen zwischen den Menschen sowie zwischen allen Völkern der Erde zu gewährleisten: sub specie orbisi Für Habermas liegt der Kern der Kommunikation in der Ausrichtung auf die Erzielung eines rationalen Konsenses auf der Basis verallgemeinerungsfähiger 57
F. de Vitoria, De Indis, 1,3, 3. 58 Ebd. I, 1, 15 und I, 3, 3 ff. Vgl. auch A Truyol y Serra (zit. Anm. 41) S. 59 ff., sowie ders., Vitoria y su lugar en la historia del pensamiento, in: Re vista Espanola de Derecho Internacional XXXVI (1984) S. 21 ff., und A. Verdross, Die klassische spanische Völkerrechtslehre und ihre Weiterbildung durch die letzten Päpste und das zweite vatikanische Konzil, in: Estudios de Derecho Internacional en Homenaje a D. Antonio de Luna, Sondernummer der Revista Espanola de Derecho Internacional 1968, S. 465 ff. In diesen Arbeiten wird die gedankliche Kontinuität zwischen den Thesen Vitorias über die universale Solidarität der Menschen und Völker und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, die Erwartungen jedes Volkes mit denen der internationalen Gemeinschaft zu harmonisieren, und den Lehren der letzten Päpste sowie des II. Vatikanischen Konzils in bezug auf internationale Beziehungen und Entkolonialisierung aufgezeigt. 59 Vgl. A. Truyol y Serra , Vitoria en la perspectiva de nuestro tiempo, in: F. de Vitoria , Relectio de Indis (zit. Anm. 36) S. CLIV ff.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
Argumente oder Ansprüche. Das kommunikative Handeln sei auf Verständigung unter den Menschen ausgerichtet. Eine solche Verständigung setze eine auf Gründen beruhende Argumentation voraus, denn wenn die Sprachformen nur Ausdruck egoistischer Interessen wären, dann wäre Kommunikation unmöglich und menschliche Gemeinschaft unerreichbar. Kommunikation ist demnach in erster Linie durch kommunikative Rationalität bedingt, d. h. durch die Erfahrung derer, die argumentieren, daß sich ihre eventuellen Meinungsverschiedenheiten ohne Rückgriff auf Autorität, Tradition oder Gewalt überwinden lassen, indem zugunsten eines Anspruchs Motive vorgebracht und gegenüber möglicher Kritik mit Belegen und Argumenten gestützt werden. Diese dialogische Version der Rationalität wird erweitert durch die Forderung nach Universalisierung, weswegen nur solche kommunikativen Argumente für stichhaltig erachtet werden, die in ihrem Anwendungsbereich allgemeine Anerkennung erhalten können. Das Prinzip gestatte den Ausschluß solcher Normen, deren Inhalt und Geltungsbereich partikular sind, da sie keinen Konsensus zuließen.60 Die Prämissen und Normen, die die Kommunikation regeln, zielen nämlich darauf ab, einen Konsens zu erreichen. Kommunikation als Form des praktischen Diskurses setzt freie und gleiche Partizipation derer voraus, die argumentieren, um gegenseitige Verständigung zu erzielen. Um dies zu erreichen, müssen Gründe benutzt werden, die in der Lage sind, allgemeine Zustimmung hervorzurufen. Deswegen können all jene Ansprüche als nicht konsensfähig ausgeschlossen werden, die partikulare und daher nicht verallgemeinerungsfähige Interessen verkörpern.6! Die Verschiedenheit der Weltanschauungen und Lebensformen führt zu einer Vielfalt von Rationalitätsmaßstäben. Damit würde aber die kommunikative Rationalität ihren universalistischen Anspruch und die Möglichkeit, Konsens zu schaffen, vertieren. Um nicht in den Relativismus verschiedener Rationalitätsvorstellungen oder die dezisionistische Durchsetzung einer bestimmten Version der Rationalität zu verfallen, bemüht sich Habermas, das kommunikative Handeln mit empirisch-theoretischen Daten zu stützen, die der tatsächlichen Entwicklung wissenschaftlicher Theorien entnommen sind.62 Allerdings handelt es sich hier nicht um ein "Umfallen" gegenüber einer szientistischen oder technokratischen Wirklichkeitssicht. Für Habermas ist nämlich jede Art von Wissen, sei es technisches oder praktisches, von "erkenntnisleitenden Interessen" beeinflußt. Dieses Interesse kann von einer selbstreflexiven, auf menschliche Emanzipation gerichteten Vernunft geleitet 60
Vgl. J. Habermas, Auszug aus Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für Walter Schulz, Pfullingen 1973, S. 251. 61 J. Habermas (zit. Anm. 47), Bd. 1, S. 114 ff., und Bd. 2, S. 147 ff. 62 Ebd., Bd. 1,S. 16 ff.
IV. lus communicationis und ideale Kommunikationsgemeinschaft
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sein; in diesem Fall wäre es zugleich eine erklärende und rechtfertigende Kategorie.63 Der Imperativ, der alles kommunikative Handeln leitet und darauf gerichtet ist, das Wissen zu erweitern oder die Lebenswelt zu verändern, hat unverkennbar ethische Wurzeln und entspricht dem Wert der Solidarität, der Theorie und Praxis auf die volle menschliche Emanzipation ausrichtet. Die menschliche Gesellschaft bildet in der heutigen Zeit in ihrer Gesamtheit eine durch die technologischen Folgen der Wissenschaft weltweit vereinheitlichte Zivilisation. Die Risiken und Schäden, die sich aus bestimmten technologischen Entwicklungen für das ökologische und psychosomatische Gleichgewicht ergeben, machen eine rational begründete universale Ethik heute nötiger denn je. Deswegen ist die Hauptaufgabe, die die menschliche Kommunikation im technischen Zeitalter erfüllen muß, die der Förderung einer solidarischen Verantwortlichkeit, die dazu beitragen kann, universal geteilte Antworten auf diese universalen Herausforderungen zu finden.6* Es wäre unangemessene, plumpe Spekulation, aus diesen punktuellen Übereinstimmungen in den Entwürfen auf einen direkten Einfluß Vitorias auf die heutigen Vertreter der Diskurstheorie zu schließen. Es handelt sich um zeitlich weit auseinanderliegende Konzeptionen, zwischen deren Voraussetzungen unüberbrückbare Distanzen liegen: Vitorias Thesen entsprechen einer christlichtheologischen Weltanschauung, die in offenem Gegensatz zu den säkularisierten Entwürfen der heutigen Diskurstheoretiker steht. Letztere verfügen außerdem über die historische Warte einer jahrhundertelangen Entwicklung des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens, was ihren Ansätzen eine ungeheuer feste Grundlage verleiht; allerdings sind sie dafür auch von einer Komplexität, die im Kontrast zu der glasklaren Einfachheit der Darstellung Vitorias steht. Während nämlich Vitoria über konkrete, unmittelbare Tatsachen wie die Begegnung mit Amerika nachdachte, wollen die modernen Diskurstheoretiker die Idee der Rationalität selbst rekonstruieren, um so zu einem umfassenden Verständnis der modernen Welt beizutragen. Die Übereinstimmung der Tennini sollte daher nicht zu dem falschen Schluß führen, daß diese auch in der gleichen Bedeutung gebraucht werden. Begriffe wie "Kommunikation", "Vernunft", "Gemeinschaft", "Universalität", "Solidarität" und andere stehen vor dem Hintergrund einer langen Erfahrung, die dazu beigetragen hat, ihnen in 63
J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 235 ff. 64 K.-O. Apel (zit. Anm. 49), Bd. 2, S. 358 ff.; J. Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität, in: W. Edelstein/G. Nunner-Winkler (Hg.), Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S. 291 ff. Vgl. auch A. Cortina , Razón comunicativa y responsabilidad solidaria, Salamanca 1985. Zur Notwendigkeit einer weltweiten Ethik als Garantie des Überlebens und des Friedens vgl. das Buch von Hans Küng, Projekt Weltethos, München und Zürich: Piper 1990. 8 Pérez Lufio
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
den verschiedenen Zeiträumen, in denen sie gebraucht wurden, unterschiedliche Bedeutung zu unterlegen. Dies schließt jedoch nicht aus, daß es eine Bedeutungstradition gibt, die es aufgrund einer Analogie der Situationen erlaubt, eine gewisse "Homologie" der Bedeutungen festzustellen. Auch wäre es sicher falsch, den Gedanken zu verwerfen, daß der demokratische und universalistische Rationalismus Vitorias und anderer klassischer spanischer Naturrechtler zu den fruchtbarsten Anregungen der Moderne gehört - jenes "unvollendeten Projekts", als dessen Erben sich die heutigen Diskurstheoretiker fühlen. Und schließlich besteht ja vor allem Übereinstimmung in dem Ziel einer Erklärung der Probleme der jeweiligen Epoche sub specie communicationis.
V. Die klassischen spanischen Naturrechtier und die Rehabilitierung der praktischen Vernunft
In den siebziger Jahren erschienen in Deutschland fast gleichzeitig zwei wichtige Sammelbände zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie bzw. zum Thema Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheor Auf diese von Manfred Riedel bzw. Friedrich Kambartel herausgegebenen Bände folgte eine monographische Studie von Rüdiger Bubner, die bezeichnenderweise schon im Titel auf die "Renaissance der praktischen Philosophie" abstellte.66 Das Interesse an der praktischen Philosophie, das diese Arbeiten verraten, kann nicht als zufällig, sondern muß als Folge der Aporien und Bedürfnisse unserer Zeit angesehen werden. Seit Beginn dieses Jahrhunderts fällt auf, daß die Philosophen zunehmend zum Nachdenken über praktische Probleme neigen. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und dann ganz besonders auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der weltweit ein Bewußtsein von den fürchterlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurückließ, wurde die Konzentration auf Kernfragen des sozialen Lebens immer dringlicher. Und je deutlicher sich die globalen Auswirkungen der Risiken neuer Technologien zeigen, desto stärker wird auch das Interesse der dafür am meisten verantwortlichen Individuen und Gruppen an einer Abschätzung der Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts mit Hilfe angemessener ethischer Kriterien. 65 M. Riedel, Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2. Bde., Freiburg i. Br. 1972-74; F. Kambartel, Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheork, Franfurt a. M.: Suhrkamp 1974. 66 R. Bubner, Eine Renaissance der praktischen Philosophie, in: Philosophische Rundschau Nr. 1-2(1975)S. Iff.
V. Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft
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Die philosophischen Strömungen, die diesen Anliegen Ausdruck gaben, waren vielfältig und ganz verschiedenartig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist hier etwa auf diefilosofìa della pratica zu verweisen, die sich über Benedetto Croce aus dem Neoidealismus herauskristallisierte; die von Antonio Gramsci vertretene marxistische Variante war diefilosofia della prassi . Die praktische Philosophie fand auch im angelsächsischen Sprachraum in den verschiedenen Versionen des "Pragmatismus" breite Zustimmung; und sogar die analytische Wende von der Wissenschaftssprache zur normalen Sprache verstärkte die Hinwendung zur Praxis. Auch der Existenzialismus und der Ratiovitalismus Ortegas stellten das praktische Handeln ins Zentrum ihrer Überlegungen. In den letzten Jahren schließlich haben die Frankfurter Schule, die Diskursethik und verschiedene Argumentationstheorien diesen Prozeß der Rehabilitierung des praktischen Denkens noch gefördert. Der Einfluß dieser Richtungen auf das Rechtsdenken war tiefgreifend und umfassend. Wollte man versuchen, die theoretischen Positionen, die der Bedeutung der praktischen Vernunft im Recht Ausdruck verleihen, im einzelnen darzustellen, so käme dies einer Inventur der meisten rechtsphilosophischen und -theoretischen Auffassungen der Gegenwart gleich. Für die vorliegenden Zwecke mag ein knapper Hinweis auf einige der auffälligsten aktuellen Lehrmeinungen genügen. Ein Pionier der Wiederentdeckung des Interesses der Rechtswissenschaft an der praktischen Rationalität war Theodor Viehweg, der die "Topik" als diejenige dialogische Methode betrachtete, die die rechtliche Argumentation zur Entscheidung von Fällen oder konkreten Problemen führt, in denen sich das Recht ausdrückt.67 In diesem Zusammenhang sind auch die Untersuchungen von Chaim Perelman zur neuen Rhetorik zu nennen, die die Argumentationsstruktur rechtlicher Begründungen aufzuzeigen versuchen,68 oder die Aufwertung der von Luis Recaséns Siches als "Logos des Vernünftigen" bezeichneten praktischen Vernunft für die Auslegung und Anwendung des Rechts.69 Die allgemeine Relevanz der praktischen Rationalität für normative Systeme ist Gegenstand einer Untersuchung von Joseph Raz, in der er "Gründe" ( reasons) als Beziehungen zwischen Dingen und Personen auffaßt, wobei es sich um Dinge mit normativer Wirkung insofern handeln muß, als sie das gesollte 67
Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München: Beck 1953. 68 Ch. Perelman , Traité de l'argumentation. La nouvelle rhétorique, in Zusammenarbeit mit L Olbrechts-Tyteca , Brüssel: Editions de l'Université de Bruxelles 1970. 69 L Recaséns Siches, Experiencia juridica, naturaleza de la cosa y lògica 'razonable', Mexiko: FCE-UNAM 1971.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
Verhalten bestimmen.70 Auch Robert Alexys Bemühen um Regeln und Verfahren, die die Rationalität der juristischen Argumentation gewährleisten sollen, ist hier zu erwähnen. Es soll damit verhindert werden, daß die unvermeidlichen Wertsetzungen des interpretierenden Juristen zu bloßen subjektiven und willkürlichen Werturteilen verkommen. Der Verweis auf die im jeweiligen Fall einschlägigen materialen und prozeduralen Normen, die gebotene Berücksichtigung von Präzedenzfällen sowie die Richtlinien einer institutionell gepflegten Rechtsdogmatik bilden die Grundlage, auf der die praktische Rationalität des Rechts beruht.71 Josef Esser spricht die Notwendigkeit an, daß der interpretierende Jurist die Erwartungen des Kollektivs berücksichtigen muß, damit das Ergebnis der hermeneutischen Funktion, die unumgänglich eine praktische Dimension besitzt, breite gesellschaftliche Zustimmung genießen k a n n . 7 2 John Hart Ely wiederum betont, daßrichterliche Entscheidungen durch die Anforderung beschränkt seien, die Interessen der Betroffenen ausgehend von einer gleichen Berücksichtigung ihrer Person a b z u w ä g e n . ^ In den letzten Jahren hat die Theorie Ronald Dwoikins eine Aufwertung der praktischen Rationalität als Orientierungsparameter der juristischen Interpretation mit sich gebracht, was sich besonders an der Forderung zeigt, daß sich der Richter an die allgemeinen, grundlegenden moralischen "Standards" und Vorstellungen der Gesellschaft zu halten habe. Der Richter dürfe, wenn die gesetzlichen Normen nicht ausreichten, nicht Normen schaffen, sondern müsse auf Grundsätze zurückgreifen, die jene institutionalisierten ethisch-politischen Standards ausdrücken, die den demokratischen Verfassungen ihre legitimierende Grundlage verleihen. Eine der Hauptaufgaben der Rechtstheorie sei es, Sinn und Reichweite dieser institutionellen Moralität zu klären. Die Dogmatik trage so dazu bei, daß der Richter, wenn er aufgrund von Prinzipien entscheidet, die moralische Werte ausdrücken, über rational begründete Lehrsätze verfüge, die ihm bei der Entscheidung helfen und im Nachhinein der Rechtsunsicherheit v o r b e u g e n . 7 4 Die institutionelle Dimension der dierichterliche Funktion leiten70
J. Raz, Practical Reason and Norms, London: Hutchinson 1975. R. Alexy , Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978; vgl. auch M. Atienza , Las razones del Derecho. Teorias de la argumentación juridica, Madrid: Centro de Estudios Constitucional es 1991, S. 177 ff. 72 J. Esser , Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt a. M.: Athenäum 1970. 7 3 J. Hart Ely , Democracy and Distrust. A Theory of Judicial Review, Cambridge, Mass. und London: Harvard University Press 1980. 74 R. Dworkin , Taking Rights Seriously, 2. Aufl., London: Duckworth 1978; ders., A Matter of Principle, Cambridge, Mass. und London: Harvard University Press 1985; ders., Law's Empire, London: Fontana 1986. 71
V. Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft
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den praktischen Rationalitätskriterien haben besonders Neil MacCormick und Ota Weinberger betont. Zeitgenössische Rechtssysteme erforderten ein hohes Maß an Rationalität sowohl in ihrer normativen Struktur als auch in den Rechtsanwendungsverfahren. Die praktische Rationalität habe eine wichtige Funktion für die Gewährleistung, daßrichterliche Entscheidungen zu gesellschaftlich wünschenswerten und rational begründeten Folgen führen. Durch den Gebrauch der praktischen Rationalität stützten Richter ihre Entscheidungen eher auf verallgemeinerungsfähige Kriterien, d. h. sähen sie von partikularen Zielen ab und verfolgten jene verallgemeinerten, in der gesellschaftlichen Praxis institutionalisierten Werte, die die Einhaltung des Rechts r e c h t f e r t i g e n . 75 Für die aktuelle philosophische und rechtsphilosophische Konjunktur, die die praktische Kompetenz der Vernunft zur Bestimmung der ethischen Richtlinien, die ein gerechtes Zusammenleben in Gesellschaft erst begründen, offen anerkennt, kann die Lehre und das Beispiel der klassischen spanischen Naturrechtler nützliche Anregungen liefern. Nicht von ungefähr ist eines der Leitmotive der Vorbehalte Michel Villeys gegen die spanischen Scholastiker der Vorwurf, ihre Lehren orientierten sich an praktischen, veränderlichen Absichten.76 Diese Eigenart, die Michel Villey tadelnswert erschien, ist in einer neueren Untersuchung von Rainer Specht gerade als der wichtigste historische Beitrag der spanischen Naturrechtslehre bewertet worden. Die Lehre der spanischen Klassiker bildet, so Specht, "einen Gipfelpunkt der praktischen Philosophie unter normal science-Bedingungen und gehört zu den eindrucksvollsten Gestaltungen, die unsere Zivilisation hervorgebracht hat - eine praktische Philosophie, die ihre gesamte Wirklichkeit erfaßt. Daß sie von unserem Bildungsbewußtsein fast vergessen wurde, das manchmal bei der Aufbewahrung von Phänomenen weniger zimperlich ist, ist einer der Gründe, die heute die Öffentlichkeit daran hindern, Europa auch als kulturelle Einheit zu begreifen." 77 Ein flüchtiger Blick auf Abhandlungen mit den von den spanischen Klassikern so gerne benutzten Titeln De legibus und De iustitia et iure läßt schon auf den ersten Seiten die zugrunde liegende eindeutig praktische Ausrichtung erkennen. Ausdrücklich sagt dies etwa Luis de Molina, wenn er als Zweck seiner Überlegungen angibt, einen Beitrag zur Begründung der für die Leitung der 75
N. MacCormick/O. Weinberger, An Institutional Theory of Law, Dordrecht: Reidei 1986. 76 Vgl. die Bemerkungen zu Villeys Einwänden gegen den Pragmatismus der spanischen Klassiker in Kap. III sowie die dort in Anm. 96 genannten Arbeiten. 77 R. Specht, Spanisches Natuirecht - Klassik und Gegenwart, in: Zeitschrift für philosophische Forschung (1987) S. 173. Viel früher schon hatte der Autor den Aufsatz: Zur Kontroverse von Suârez und Vâzquez über den Grund der Verbindlichkeit des Naturrechts, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Nr. XIV (1959) S. 235 ff., veröffentlicht.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
Kirche und den Nutzen der christlichen Republik nötigen Urteile leisten zu Francisco Suärez rechtfertigt die Tatsache, daß er als Theologe sich mit dem Gesetz beschäftigt, damit, daß die Rechtschaffenheit der Sitten von diesem abhänge, daß man die Motive für den Gehorsam gegenüber den Gesetzen untersuchen müsse und daß die Moralphilosophie anzuwenden sei, um die politischen Sitten in den öffentlichen Angelegenheiten zu lenken und zu leiten 79 Zu einem ähnlichen Ansatz gelangt auch Domingo Bâfiez, der sich besonders um die Rechtfertigung der Notwendigkeit bemüht, daß sich Theologen bei der Behandlung der wichtigsten Fragen zur Gerechtigkeit und zum Recht der Vernunft bedienen, da es sich hier um Gegenstände handele, die auf die Gewährleistung von Gesundheit und Wohlergehen der Menschen abzielten. Umgekehrt ließen sich auch die Probleme, die sich aus Fragen der Gerechtigkeit und des Rechts ergeben, nicht angemessen verstehen, wenn die Gründe der menschlichen Gesetze nicht aus der Philosophie abgeleitet w ü r d e n . 8 0 wollen.78
Worin kann aber der heutige Beitrag der Doktrinen des klassischen span schen Naturrechts hinsichtlich der rechtlichen und politischen Relevanz der praktischen Rationalität liegen? Rainer Specht hat die historische Leistung der klassischen spanischen Naturrechtslehre in drei Grundpostulaten zusammengefaßt: (1) daß es vorpositive Prinzipien der Gerechtigkeit gibt, welche die Christen in Gott begründen, der gebietet und verbietet und die Menschen für deren Einhaltung im gesellschaftlichen und politischen Leben zur Rechenschaft zieht; (2) daß die Anwendung des Rechts nicht an die Bewertung von Individuen oder Gruppen gebunden sein darf (wie in De indis gezeigt wird); (3) daß Naturrecht und positives Recht auf Vernunft gegründet sind. Wolle man diese Thesen auf die Gegenwart übertragen, so seien differenzierte Betrachtungen zu jeder von ihnen erforderlich. Hinsichtlich der ersten erkennt er an, daß sich das Recht auf etwas ihm "Vorgängiges" gründen muß; in den heutigen pluralistischen Gesellschaften jedoch, in denen die Rechtsordnung auf etwas anderes als eine bestimmte Moral oder einen bestimmten Glauben gegründet sein müsse, damit alle Bürger unabhängig von ihren Überzeugungen sie anerkennen können, könne eine solche Grundlage nicht auf einem bestimmten religiösen Credo beruhen. Die zweite These habe in den Prinzipien Widerhall gefunden, die heute die Unparteilichkeit des Prozesses garantieren: audiatur et altera pars, nemo iudex in propria causa oder Gleiches ist gleich zu behandeln. Die rationale Begründung der Rechtsordnung - die dritte Prämisse der spanischen Schule - sei von der 78
L de Molina , De iustitia et iure, 1.1. 79 F. Suärez, De legibus, Proemium. 80 D. Bâfiez , De iure et iustitia decisiones, Proemium.
V. Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft
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klassischen deutschen Naturrechtslehre weiter ausgearbeitet worden, die die Rationalität als Freiheit versteht. Die deutsche Staatstheorie habe die Ideen von Recht und Vernunft in Übereinstimmung gebracht. Die Lehre der klassischen spanischen Naturrechtler sei daher der heutigen Rechts- und Staatstheorie, bei der es sich um eine Rationalwahltheorie handele, noch immer geläufig. Allerdings hätten Begriffe wie "Natur", "Vernunft" oder "res publica" in den letzten vierhundert Jahren erhebliche Veränderungen erfahren. Die Vernunft müsse sich daher jetzt historischer und gesellschaftlicher Orientierungen bedienen; und das, was sachlichrichtigsei, könne nicht von einer abstrakten, sondern nur von einer praktischen Vernunft bestimmt werden, die sich in festen historischen Kontexten bewegt und auf konkrete Ziele gerichtet ist. Specht zieht den Schluß, man müsse, um "vernünftig handeln" - die Kernforderung der klassischen spanischen Naturrechtslehre - mit der Handlungstheorie des modernen Rechts in Einklang zu bringen, es etwa folgendermaßen übersetzen: "sowohl der Sache gemäß als auch nach vernünftig überprüften geschichtlichen Orientierungen handeln".81 Reiner Specht, dessen Darstellung ich im übrigen für sehr anregend halte, sagt nicht ganz klar, was er unter vernünftiger Überprüfung versteht. Dieser Punkt steht im Mittelpunkt der neueren dialogischen Vorstellungen. Sie nehmen ihren Ausgang in einer Ablehnung nonkognitivistischer Ansätze (Skeptizismus, Relativismus, Irrationalismus) insofern, als sie die Kompetenz der praktischen Vernunft für die Begründung moralischer Normen und Urteile verteidigen. Ausgehend von diesen Prämissen - insbesondere von denen Jürgen Habermas' - ist das Prinzip vernünftiger Handlungsüberprüfung die Universalisierung, ihre Methode das Verfahren und ihr Ziel der Konsens. Rationalität des Handelns verlangt, daß die moralische Norm, die eine Handlung erfüllt, dem Universalisierungsprinzip genügt, d. h. daß sie in ihrem Anwendungsbereich allgemeine Anerkennung finden kann. Im Unterschied zum Modell der metaphysischen Rationalität, das der klassischen Naturrechtstheorie zugrunde liegt und das die Vernunft als materiale Wertinhalte (Gott, Natur) versteht, wurde seit der Zeit des modernen Naturrechts im Zuge von Rousseau und Kant eine formale Methode verfochten. Nachdem Letztbegründungen ihre Plausibilität verloren haben, sind es formale Rechtfertigungsgründe, die ßr sich alleine gitimerweise Gewicht erhalten. Die Verfahren und Prämissen rationaler Übereinkunft werden damit zur Kategorie von Prinzipien erhoben. Der Kontraktualismus von Hobbes und Locke bis Rawls hatte zum Ziel, "die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen eine Vereinbarung das gemeinsame Interesse aller 81
R. Specht, Spanisches Naturrecht - Klassik und Gegenwart (zit. Anm. 77) S. 180 ff.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
Beteiligten ausdrücken wird - und insofern als vernünftig gelten darf 1 . 82 Dagegen treten diese Bedingungen in den Theorien transzendentalistischer Ausrichtung von Kant bis Apel als allgemeine, notwendige Voraussetzungen für vernünftige Willensbildung bei einem Subjekt oder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft auf. In beiden Traditionen haben diese formalen Bedingungen, die die letzten Gründe als Legitimationsfaktoren ablösen, den Konsens zum Ziel Denn die "Grundfrage der praktischen Philosophie ... ist in der Neuzeit reflexiv als Frage nach den Prozeduren und Voraussetzungen wieder aufgenommen worden, unter denen Rechtfertigungen konsenserzielende Kraft haben können ... Diese ist der Konvergenzpunkt, auf den die Versuche einer Erneuerung der praktischen Philosophie heute zuzustreben s c h e i n e n . " 8 3
Die klassischen spanischen Naturrechtler waren historisch das Bindeglied zwischen dem klassischen und dem modernen Naturrecht. Dies spiegelt sich ihrer Auffassung von der praktischen Rationalität wider, die wie jede Übergangslehre ambivalente Züge aufweist. Einerseits bleiben sie einer metaphysischen Begründung der Rechtsordnung und "letzten Gründen" ontologischer Art verhaftet, die das materiale axiologische Substrat ihrer Konstruktionen bilden. Andererseits aber führen sie das thomistische Postulat der Autonomie einer von der natürlichen Rationalität gelenkten menschlichen Ordnung gegenüber der transzendenten Ordnung von Glauben und Gnade bis zu ihren letzten Konsequenzen. Den spanischen Klassikern kommt daher eine entscheidende Rolle im Säkularisierungsprozeß der mittelalterlichen theologischen Naturrechtslehre zu, der zum rationalistischen Naturrecht f ü h r t e . 8 4 in diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis interessant, daß eines der Argumente der Kritiker der spanischen Schule gerade ihre vermeintliche Aufgabe des ontologischen Objektivismus zugunsten eines Subjektivismus ist, der die Moderne ankündigt. 85 82
J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1976, S. 277 f. Vgl. auch ders., Über Moralität und Sittlichkeit. Was macht eine Lebensform "rational"?, in: H. Schnädelbach (Hg.), Rationalität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 220 ff.; ders., Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 16 ff. Vgl. dazu mein Buch Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitución, 3. Aufl., Madrid: Tecnos 1990, S. 163 ff., sowie das weiter oben in Abschnitt IV. Dargelegte. 83 Habermas, Zur Rekonstruktion ... (zit. Anm 82) S. 298 f. 84 Vgl. dazu Pierre Mesnard, L'essor de la philosophie politique au XVIe siècle, 3. Aufl., Paris: Vrin 1969, S. 466 ff., sowie die jüngeren Beiträge von Franco Todescan, Lex, natura, beatitudo. II problema della legge nella Scolastica spagnola del sec. XVI, Padua: Cedam 1973, S. 53 ff., und ders., Le radici teologiche del giusnaturalismo laico, Mailand: Giuffrè 1983, S. 9 ff. Vgl. auch weiter oben Kap. III. 85 Vgl. Kap. III.
V. Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft
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Die Beiträge der klassischen spanischen Naturrechtslehre zur Verfahrensmethode werden gewöhnlich verschwiegen, obwohl sie in verschiedenen Bereichen von Interesse sein können.86 Die spanische Schule nahm in ihren Vertragstheorien den modernen Kontraktualismus vorweg (man denke nur an Suârez' berühmte Unterscheidung von Verbandsvertrag pactum unionis und politischem Vertrag pactum subjectionis 8?). Ihre Werke zeigen außerdem eine ständige Anwendung der Argumentationstheorie und der Theorie der diskursiven Rationalität. Gelegentlich bewirkt das didaktische Bemühen um die Darlegung der Argumente pro und kontra der verschiedenen in den Abhandlungen De legibus und De iustitia et iure erwähnten Fragen eine gewisse formale Inflexibilität in der Darstellungsweise. An anderen Stellen werden aber die Diskursverfahren auf lebendigere und direktere Weise formuliert. Das Beispiel der Erörterung der legitimen und illegitimen Titel zur Rechtfertigung der spanischen Anwesenheit in Amerika in Francisco de Vitorias De Indis oder die Auseinandersetzungen zwischen Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepulveda über dasselbe Thema zeigen eine fesselnde dialogische Präsentation von Argumenten unterschiedlichen moralischen und logischen Gewichts, die einen (allerdings ziemlich schwierigen) Konsens bezüglich des behandelten Problems herzustellen trachten. Es ist nun noch die heute in fast allen genannten Ansätzen zur Anwendung der praktischen Vernunft auf das Recht zu findende Forderung nach einem historisch bewußten Vorgehen zu behandeln. Die praktische Rationalität kann nicht außerhalb der von Specht angesprochenen "historischen Orientierungen oder Bezüge" agieren; sie muß wissen, daß ihre Prinzipien und Regeln für eine gerechte Gesellschaftsordnung ohne ihren Kontext nicht denkbar sind. Selbst wer wie José Delgado Pinto für eine ideale Situation rationaler Diskussion plädiert, in der "nicht nur Leerformeln, sondern wirkliche universal gültige Prinzipien materialer Gerechtigkeit" formuliert werden können, unterwirft diese Prinzipien der "rationalen Überprüfung" und beschränkt sie "auf die konkreten Probleme, die das Zusammenleben in jeder historischen Gesellschaft aufwirft". 88 86 Es ist bezeichnend, daß Günter Ellscheid in seiner Untersuchung aktueller naturrechtlicher Vorstellungen von Argumentation und Verfahrensprinzipien auf die Vorläufer der spanischen Schule nicht eingeht; vgl. seine Arbeit: Das Naturrechtsproblem. Eine systematische Orientierung, in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg: Müller 1985, S. 142 ff. und 157 ff. Auch Tk Viehweg, Topik und Jurisprudenz (zit. Anm. 67), M. Atienza, Las razones del Derecho (zit. Anm. 71) und J. A. Garcia Amado, Teorias de la tòpica juridica, Madrid: Civitas 1988, erwähnen die spanischen Klassiker nicht. 87 F. Suârez , De legibus, III, 4,1.2. 88 J. Delgado Pinto , De nuevo sobre el problema del Derecho natural, Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 1982, S. 33.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
Bekanntlich war der Vorwurf der Geschichtslosigkeit einer der schwersten gegen den klassischen und modernen Rechtsnaturalismus vorgebrachten Kritikpunkte. Die rechtsphilosophische Kultur unserer Zeit weigert sich, die Existenz einer durch universale, absolute und unverrückbare Postulate, aus denen die Vernunft ein für allemal die Ordnungsprinzipien einer gerechten Gesellschaft ableiten könnte, integrierten objektiven Ordnung a n z u e r k e n n e n . 8 9 Dies mag ein wichtiger Vorbehalt gegen den heutigen Einfluß der Überlegungen der klassischen spanischen Naturrechtler zur praktischen Rationalität sein. Man sollte aber auch nicht vergessen, daß einer der am meisten lobend erwähnten Aspekte der spanischen Schule im Zusammenhang mit den "uchronischen" Exzessen der rationalistischen Naturrechtsschule gerade ihr Gespür für das Konkrete und ihre Offenheit für das Historische war. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat Joseph Kohler in einer Arbeit, die seitdem unverzichtbar geworden ist, die Flexibilität der naturrechtlichen Vorstellung der spanischen Klassiker positiv hervorgehoben. Das Naturrecht sei für sie kein starrer, unverrückbarer Kodex gewesen, sondern sie hätten, ausgehend von der Anerkennung des universalen und unbedingten Charakters der höchsten Prinzipien, die Anpassung der aus ihnen folgenden Ableitungen an die historischen Umstände zugestanden. Die magni hispani hätten die allgemeinen Prinzipien des thomistisch-aristotelischen Naturrechts auf die konkreten Anforderungen ihrer Zeit anzuwenden gewußt und Lösungen für zahlreiche ethische, rechtliche und politische Konflikte geboten. Ihre Methode sei daher, so Köhler, ein wertvoller Gebrauch praktischer Rationalität, von denen die Juristen insofern lernen könnten, als ihre Arbeit ja meist die Anwendung allgemeiner Normen auf die Besonderheit der jeweiligen Fälle zum Ziel habe.90 Zu Beginn dieses Abschnitts habe ich, um seine Thematik zu rechtfertigen, auf die Parallelen zwischen unserer Epoche und deijenigen hingewiesen, in der die spanischen Klassiker lebten. Ähnliches läßt sich auch für die theoretischen Konstrukte jener Zeit sagen. Deren Kenntnis ist im Hinblick auf die Gestaltung unserer heutigen Schemata praktischer Rationalität hilfreich, wenn nicht gar 89 Ich halte eine kritische Naturrechtslehre, die eine intersubjektive praktische Rationalität vertritt und die Natur als die Menge anthropologischer Bedürfnisse versteht, die den Rahmen für die historische Entwicklung jeder Gesellschaft abgeben, für eher vereinbar mit den philosophischen und rechtlichen Anforderungen der Gegenwart als einen dogmatischen Rechtsnaturalismus, der auf einem ontologisdien Objektivismus beruht. Vgl. meine Bücher Lecciones de Filosofia del Derecho. Presupuestos para una filosofia de experiencia juridica, 3. Aufl., Sevilla: Minerva 1988, S. 53 ff., Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitución (zit. Anm. 82) S. 162 ff., und Los derechos fundamentales, 3. Aufl., Madrid: Tecnos 1988, S. 128 ff. 90 J. Kohler, Die spanischen Naturrechtslehrer des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (1916-17) S. 235 ff.
VI. Die Sicht der heutigen Rechtsphilosophie und -theorie
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unverzichtbar, wenn wir in diachronischem Bewußtsein handeln und die Erfahrung ihrer Erfolge und Mißerfolge nützen wollen. Allerdings kann man diese Schemata nicht, wie dies gelegentlich versucht wurde, einfach auf die Gegenwart übertragen. Die Ausübung praktischer Rationalität kann und muß heute auch die Beiträge anderer kultureller Traditionen sowie die neuesten Daten zur Entwicklung des philosophischen und rechtlichen Denkens heranziehen. Praktische Rationalität läßt sich nicht ohne den rationalen bzw. selbstkritischen Filter vorstellen, der die eigenen Methoden und Operationssysteme bereinigt.
V I . Der klassische spanische Rechtsnaturalismus aus der Sicht der heutigen Rechtsphilosophie und -theorie
Was ist nun heute noch vom theoretischen Erbe der spanischen Naturrechtsschule lebendig geblieben? Es ist bemerkenswert, daß einer der hartnäckigsten Kritiker der klassischen spanischen Naturrechtslehre unserer Zeit halb bewundernd und halb warnend seiner Überraschung über "die gewaltige Menge von Dissertationen und Aufsätzen, die zur sogenannten Spätscholastik, Zweiten Scholastik, Spanischen Scholastik oder Kastilischen Naturrechtslehre fentlicht werden", offen Ausdruck gegeben hat. Die Forschung zur Geschichte dieser geistigen Bewegung könne zu einer "Spezialrichtung innerhalb der juristischen Ideengeschichte [werden], und wenn auch überwiegend spanische Autoren dazugehören, so gibt es dabei doch auch Nordamerikaner, Franzosen, Engländer und Deutsche".91 Da man wohl davon ausgehen kann, daß sich all diese Rechtswissenschaftler nicht sinnlos mit unbedeutenden oder endgültig überholten Fragen befassen, muß man schließen, daß diese Literaturlawine dem Interesse entspricht, das das Studium der magni hispani auch in und aus der Sicht der Gegenwart noch immer weckt. Es wäre nicht angebracht, hier ausführlich und im Detail diese umfangreiche Sparte zeitgenössischer Literatur zur philosophischen und juristischen Ideengeschichte darstellen zu wollen. Einige der wichtigsten Beiträge sind auf den vorangegangenen Seiten schon analysiert worden. Ich sehe mich also gezwungen, diese Fülle von Schriften auf handhabbare, klare Umrisse zu reduzieren - solche Beschränkungen sind ja fast immer die undankbare Aufgabe des Histori91 J. Lalinde Abadia, Una ideologia para un sistema. (La simbiosis entre el iusnaturalismo castellano y la Monarquia Universal), in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno Bd. VIII (1979), S. 61 f.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
kers oder kritischen Betrachters. Ich werde dabei entlang zweier Koordinaten vorgehen: einer thematischen, wonach die Darstellung auf rechtsphilosophische und -theoretische Werke beschränkt sein wird; und einer chronologischen, wonach es nur um Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten gehen s o l l . 9 2 ich halte es für besser, den uneinlösbaren Anspruch auf Vollständigkeit ausdrücklich aufzugeben und statt dessen einen knappen Orientierungsplan zu den Forschungsrichtungen und -programmen zu skizzieren, die mir am bedeutendsten erscheinen. Das dogmatische Erbe der spanischen Schule hat sich in den Lehrbüchern und Abhandlungen zur Rechtsphilosophie und zum Naturrecht derjenigen spanischen Autoren erhalten, die der Tradition der philosophia perennis nahestehen. Die typischsten Beispiele für das Bemühen, das Denken der klassischen Naturrechtler lebendig und folglich in Spannung mit den Zwängen der Gegenwart zu halten, sind vielleicht die Werke von Antonio Fernändez-Galiano93 und Francisco Puy94. In jüngerer Zeit sind daneben auch die Arbeiten von José Α. Ezcurdia Lavigne95 und Javier Hervada96 zu nennen. Auch in den neueren Editionen der genannten Texte von Antonio Truyol y Serra 97 und José Maria Rodriguez Paniagua98 wurde der historisch angelegten Darstellung dieses kulturellen Erbes jeweils ein ausführlicher Abschnitt gewidmet. In den heutigen monographischen Untersuchungen fällt besonders ein interessanter methodischer Ansatz ins Auge, nämlich die Absicht, mit Hilfe der Analyse des Denkens eines bestimmten klassischen Autors daran mitzuwirken, das gesamte Panorama der Ideen und Anliegen jener Zeit nachzuzeichnen. So erlaubt es die Betrachtung des Werkes von Alonso de Madrigal (El Tostado) Nuria Belloso, ein plastisches Bild der Universität von Salamanca im 15. Jahrhundert - also der Epoche, die der höchsten Blüte dieser Institution und des 92
Nützliche Hinweise auf bis zu den siebziger Jahren erschienene historiographische Werke gibt José Manuel Pérez Prendes, Bibliografia del pensamiento juridico espanol moderno, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giurìdico moderno Bd. VIII (1979) S. 449 ff. 93 Λ. Fernändez-Galiano , Derecho Natural, 5. Aufl., Madrid: Ceura 1986. 94 F. Puy, Tratado de Filosofia del Derecho, Madrid: Escelicer 1972; ders., Lecciones de Derecho natural, 3. Aufl., Barcelona: Dirosa 1974. 95 J. A. Ezcurdia Lavigne, Curso de Derecho Natural. Perspectivas iusnaturalistas de los derechos humanos, Madrid: Reus 1987. 96 J. Hervada, Escritos de Derecho Natural, Pamplona: Eunsa 1986. 97 Λ. Truyol y Serra , Historia de la Filosofia del Derecho y del Estado. 2. Del renacimiento a Kant, 3. Aufl., Madrid: Alianza 1988. 98 J. M. Rodriguez Paniagua , Historia del Pensamiento Juridico, I, De Herâclito a la Revolución francesa, 6. Aufl., Madrid: Servicio de Publicaciones de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense 1988.
VI. Die Sicht der heutigeil Rechtsphilosophie und -theorie
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klassischen spanischen Naturrechtsdenkens unmittelbar vorausging - zu zeichnen.^ in José Barrien tos' Buch über Pedro de Aragóns Abhandlung De Justitia et Jure finden wir nützliche Angaben für die Einordnung der Universität von Salamanca in die Atmosphäre ihrer Blütezeit.100 Francisco Carpintero untersucht ausgehend von den Lehrmeinungen Fernando Vâzquez de Menchacas die theoretischen Gründe für den Übergang vom mittelalterlichen zum modernen Naturrecht. 101 Alberto Montoro-Ballesteros konnte im Zuge der Untersuchung der Ideen von Fray Juan de Salazar eine interessante Skizze der politischen, ethischen und rechtlichen Lage im barocken Spanien geben.102 Am konsequentesten hat sich wohl Antonio Ruiz de la Cuesta bemüht, zur Aufdeckung des historischen Umfeldes des klassischen spanischen Naturrechts beizutragen. Die Lektüre seines Buches über Das dogmatische Erbe Quevedos entführt einen in das Siglo de Oro, dessen Protagonisten die ganze Generation der damaligen Zeit - von den Intellektuellen und Politikern bis zum einfachen Volk - war, dessen Raum der größten Ausdehnung des spanischen Reiches entsprach und dessen Zeit sich in einer Folge politischer und kultureller Veränderungen, Eroberungen und Entdeckungen bemißt.103 Auch in der ausländischen Rechtsphilosophie hat es zahlreiche wichtige Forschungsbeiträge zum klassischen spanischen Denken gegeben. Auf der systematischen Ebene ist noch immer die scharfsinnige Orientierungsskizze von Erik Wolf über die Lehren des Naturrechts und ihre Problematik von großem Wert, in der sich eine Fülle von Bezügen zu den spanischen Klassikern findet; 104 letzteres gilt auch für das Werk von John Finnis, das gute Kenntnisse über Suârez und die Schule von Salamanca zeigt. 105 Die umfassendsten und ausführlichsten Erläuterungen sind jedoch in den im Laufe der letzten Jahrzehnte erschienenen historischen Rekonstruktionen des 99 N. Belloso , Politica y humanismo en el siglo XV. El maestro Alfonso de Madrigal, el Tostado, Valladolid: Secretariado de Publicaciones de la Universidad de Valladolid 1989. 100 J. Barrientos , El Tratado 'De Justitia et Jure' (1590) de Pedro de Aragon, Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 1978. 101 F. Carpintero , Del derecho natural medieval al Derecho natural moderno: Fernando Vazquez de Menchaca, Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 1977. 102 A. Montoro-Ballesteros , Fray Juan de Salazar moralista politico (1619), Madrid 1972. 103 A. Ruiz de la Cuesta , El legado doctrinal de Que vedo. Su dimension politica y filosofica, mit einem Vorwort von A. E. Pérez Lufio , Madrid: Tecnos 1984. 104 E. Wolf \ Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung, 3. Aufl., Karlsruhe: Müller 1964. 105 / Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford: Clarendon 1980; Finnis ist im übrigen auch der Herausgeber der zweibändigen Sammlung von Beiträgen zum Thema Natural Law, Aldershot: Dartmouth 1991.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
Naturrechts zufinden. So hat in Deutschland Hans Welzel in seinem treffenden Überblick über die Entwicklung der Naturrechtslehre den spanischen Klassikern besondere Aufmerksamkeit gewidmet,!06 während in Ernst Blochs anregendem Werk Naturrecht und menschliche Würde die Hinweise auf die spanischen Klassiker auf Cervantes, Graciän und Mariana beschränkt bleiben.107 Der Dominikaner Joseph Arntz hat das Denken von Vitoria, Suärez und Gabriel Vâzquez ausgehend von Prämissen der katholischen Theologie analysiert und ihr Abweichen vom strikten Thomismus kritisiert. 108 Die jüngere angelsächsische Neuinterpretation von Entstehung und Entwicklung naturrechtlicher Theorien von Richard Tuck bietet in einem der Renaissance gewidmeten Kapitel neue Sichtweisen zum spanischen Rechtsnaturalismus.109 In der französischsprachigen Rechtsphilosophie wurde die spanische Schule, allerdings mit kritischen Vorbehalten, in den Werken von Louis Lachance110 und Michel Villey 111 behandelt. Aus der rechtsphilosophischen Geschichtsschreibung in Italien ragen im Hinblick auf die der spanischen Schule gewidmete Aufmerksamkeit die sorgfältigen Arbeiten von Giovanni Ambrosetti112 sowie aus jüngerer Zeit die wertvollen Beiträge von Franco Todescan113 heraus. Auch einer der wichtigsten zeitgenössischen Historiker der Rechtsphilosophie, Guido Fassò, mein unvergeßlicher Lehrer an der Universität von Bologna, nimmt Bezug auf die wichtigsten spanischen Naturrechtler des 16. und 17. Jahrhunderts.114 106
H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1962. 107 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfürt a. M.: Suhrkamp 1961. 108 J. Arntz, Die Entwicklung des naturrechtlichen Denkens innerhalb des Thomismus, in F. Böckle (Hg.), Das Naturrecht im Disput, Düsseldorf: Patmos 1966, S. 87 ff. 109 R. Tuck , Natural Rights Theories. Their Origins and Development, Cambridge: Cambridge University Press 1979. 110 L. Lachance, Le droit et les droits de l'homme, Paris: Presses Universitaires de France 1959. 111 M. Villey, La formation de la pensée juridique moderne, Paris: Montchrestien 1968. Zur Kritik dieses Autors am klassischen spanischen Rechtsnaturalismus vgl. Kap. III, Abschnitt V. 1 12 G. Ambrosetti , Π diritto naturale della Riforma cattolica. Una giustificazione storica del sistema di Suärez, Mailand: Giuffrè 1951; ders., I presupposti teologici e speculativi delle concezioni giuridiche di Grozio, Bologna: Zanichelli 1955; ders., Diritto naturale cristiano, Rom: Studium 1964. ι 1 3 F. Todescan , Lex, natura, beatitudo. Π problema della legge nella Scolastica spagnola del sec. XVI, Padua: Cedam 1973; ders., Le radici teologiche del giusnaturalismo laico, Mailand: Giuffrè, Bd. 1:1983, Bd. II: 1987. 114 G. Fassò , La legge della ragione, Bologna: Π Mulino 1964; ders., Il diritto naturale, 2. Aufl., Rom: Eri 1972; ders., Storia della filosofia del diritto, Bd. II: L'età moderna, Bologna: Il Muh no 1968. Vgl. auch meine Arbeiten: L'itinerario intellettuale di Guido Fassò, in: Revista Internazionale di Filosofia del Diritto (1976) S. 372 ff., sowie: Razón e historia en la experiencia filosófica y juridica de Guido Fassò, in: C. Faralli/E. Pattaro (Hg.), Reason in Law, Mailand: Giuffrè 1987, S. 47 ff.
VI. Die Sicht der heutige Rechtsphilosophie und -theorie
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Im Bereich der Rechtstheorie stößt man in verschiedenen neueren Arbeiten auf eine besondere Berücksichtigung der Rechtslehre von Francisco Suârez. Allgemeine Aspekte der Rechtstheorie von Suârez im Bezug auf Moral und Gerechtigkeit behandeln zwei Monographien von Ramón Maciâ. 115 Reich an Implikationen für die Gegenwart und an Zukunftsperspektiven sind die Untersuchungen von Ernesto Garzón Valdés über die Leistungen von Suârez im Bereich der Auslegung des Gesetzes, der Rechtsgeltung sowie der Funktionen der Rechtsdogmatik. Garzón Valdés zeigt, daß Suârez den konventionellen, weder natürlichen noch "wesentlichen" Charakter der Kategorien der Rechtssprache bemerkt habe, womit er bis zu einem gewissen Grad mit Carnaps Thesen zur magischen Auffassung der Sprache übereinstimmt. Nach Garzón Valdés findet man bei Suârez eine analytische Gleichsetzung der Ausdrücke "gültiges Gesetz", "existierendes Gesetz" und "verbindliches Gesetz"; man erkenne dies an Suârez* Idee, daß ein Gesetz, das eine Erlaubnis erteilt, nur dann Gesetz sei, wenn es eine versteckte Vorschrift enthalte, denn ohne eine solche ließe sich eine Erlaubnis nicht als gesetzlich festgelegt verstehen. Hier lassen sich interessante Parallelen zu der in jüngerer Zeit von Kelsen vertretenenen Geltungstheorie ziehen. Und schließlich lenkt Garzón Valdés die Aufmerksamkeit auch auf Suârez* Überzeugung, daß zwar die Dogmatik keine Gesetzeskraft habe, da ihr die Rechtssetzungskompetenz fehle, daß aber doch ein breiter Konsens der Rechtsgelehrten erhebliche Autorität besitze, da er den vernünftigen und gerechten Sinn des Gesetzes kläre und so absurde, nutzlose Norminterpretationen verhindern helfe. Diese Vorstellungen stimmen durchaus mit der Rolle überein, die heutzutage der Dogmatik als Orientierungshilfe und institutionalisierte Kontrollinstanz für die Auslegung und Anwendung des Rechts zugeschrieben wird. 116 Die Berührungspunkte zwischen den Theorien der Rechtsgeltung von Suârez und Kelsen wurden auch von Ernesto Garzón Valdés' Schüler Jorge Malern Sefla untersucht, der als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Ansätzen die Gerechtigkeitsforderung hervorhebt. Im Unterschied zu Kelsen könne nämlich für Suârez eine Norm nicht als solche angese115 Λ Maciâ , Juridicidad y moralidad en Suârez, Universität Oviedo 1967; ders., Derecho y justicia en Suârez, Universität Granada 1968. Garzón Valdés , Las palabras de la ley y su interpretación: algunas tesis de Francisco Suârez, in: Dianoia (Mexiko) (1977) [dt.: Die Worte des Gesetzes und ihre Auslegung - Einige Thesen von Francisco Suârez, in: O. Ballweg/T. Seibert, Rhetorische Rechtstheorie. Festschrift zum 75. Geburtstag von Theodor Viehweg, Freiburg/München: Alber 1982]; ders., Algunos modelos de validez normativa, in: Revista Latinoamericana de Filosofia (Buenos Aires) 3:1 (1977) [dt.: Modelle normativer Geltung, in: Rechtstheorie 8:1 (1977)]; ders., Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, Berlin: Duncker & Humblot 1990, S. 11 ff.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
hen werden, wenn sie keinen Gerechtigkeitsgehalt habe.117 Norberto Bobbio wies schon eingangs seiner Teoria dell*ordinamento giuridico auf Francisco Suârez* De legibus als eines der auffälligsten historischen Beispiele für eine Rechtsauffassung hin, die um die Norm als primäres, isoliertes und selbstgenügsames Element der Rechtswirklichkeit kreise. Dieser traditionellen Auffassung habe sich in unserem Jahrhundert die Sicht des Rechts als Menge oder System von Normen entgegengestellt, die eine Ordnung bilden.!18 Ich habe versucht, mit dem Hinweis auf sein Bewuetsein von der organischen Struktur der Gesetze in ihrer Gesamtheit, von ihren dynamischen Wechselbeziehungen sowie von der Notwendigkeit ihrer Ausrichtung auf gewisse Grundlinien, die den systematischen Zusammenhang erst gewährleisten, eine andere Lesart von Suârez vorzuschlagen.! 19 Außerdem sind wegen ihrer Bedeutung für die Rechtstheorie und -methodologie auch die einführenden Untersuchungen in die von Luciano Perefia besorgte und in der Reihe Corpus Hispanorum de Pace erschienene Edition von Suârez' De legibus zu erwähnen.120 Grundfragen der Rechtstheorie wurden auch von Luis Martinez Roldân in Zusammenhang mit der Natur und der Begründung der Normen bei Domingo Bâfiez 121 sowie von Ramos Lisson bezüglich des Denkens von Domingo de Soto 122 aufgeworfen. Die Theorie des Öffentlichen Rechts hat den Lehren des klassischen spanischen Naturrechtsdenkens immer besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die am meisten untersuchten Aspekte beziehen sich auf seinen Beitrag zur Entwicklung demokratischer Ideen und zur Stützung des Prinzips der Volkssouveränität. Die Forschungen von Ernst Reibstein sind diesbezüglich als vorbildlich zu betrachten. 12 3 Die Arbeiten von José A. Fernândez-Santamaria,124 Bernice 117 J. Malern , Concepto y justificación de la desobediencia civil, Barcelona: Ariel 1988, S. 209 ff. 118 N. Bobbio , Teoria dell'ordenamento giuridico, Turin: Giappichelli 1960, S. 4. h 9 A. E. Pérez Luno, A propòsito de la concepción democràtica de Juan Roa Dâvila y del orden juridico en Francisco Suärez, in: Revista Juridica de Cataluna 3 (Juli-Sept. 1972) S. 653 ff.; vgl. jetzt Kap. Vili dieses Buches. 1 20 In den Jahren 1971 bis 1981 erschienen in der Reihe Corpus Hispanorum de Pace acht Bände des Traktats De legibus beim Verlag des Consejo Superior de Investigaciones Cientificas in Madrid. 121 L. Martinez Roldân , La fundamentación normativa en Domingo Bànez, Oviedo: Servicio de Publicaciones de la Universidad 1977. 122 D. Ramos Lisson , La ley segun Domingo de Soto, Pamplona: Eunsa 1976. 123 E. Reibstein, Die Anfange des neueren Natur- und Völkerrechts. Studien zu den 'Controversiae illustres' des Fernandus Vasquius, Bern: Paul Haupt 1949; ders., Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe: C. F. Müller 1955; ders., Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Freiburg/München: Alber 1972, Bd. I.
VI. Die Sicht der heutige Rechtsphilosophie und -theorie
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und Luciano Perefla 126 bieten eine Gesamtschau der politischen Theorien der klassischen spanischen Naturrechtslehre; auch zum politischen Denken der bedeutendsten Autoren der Epoche gibt es inzwischen eine sehr umfangreiche Literatur. 127 Hamilton^
Ein in den aktuellen Beiträgen zur Erforschung der klassischen spanischen Naturrechtler immer wiederkehrender Aspekt bezieht sich auf deren Rolle bei der Entstehung und Entwicklung der Menschenrechte. Zu diesem Thema - und speziell zu den humanitären Thesen von Bartolomé de Las Casas und Francisco de Vitoria - wurden in den letzten Jahren mehrere Kongresse und Tagungen abgehalten.!28 Heribert Franz Köck verdanken wir einen detaillierten Überblick über den Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Theorie der Grundrechte. Seiner Analyse ist zu entnehmen, daß die salmantinischen Klassiker, im Unterschied zu individualistischen, kollektivistischen und positivisti124
J. A. Femàndez-Santamaria , The State, War and Peace, Spanish Political Thought in the Renaissance, 1515-1559, Cambridge University Press 1977; ders., Razón de Estado y politica en el pensamiento espanol del Barroco (1559-1640), Madrid: Centro de Estudios Constitucionales 1986. 125 B. Hamilton , Political Thought in Sixteenth-Century Spain. A Study of the Political Ideas of Vitoria, Soto, Suärez and Molina, Oxford: Clarendon 1963. 126 L. Perefia , La Universidad de Salamanca, forja del pensamiento politico espanol durante el siglo XVI, Salamanca: Publicaciones de la Universidad 1954. 127 Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich hier beispielsweise nennen: A. de Asis, Ideas sociopoliticas de Alonso Polo (el Tostado), Sevilla: Escuela de Estudios Hispano-Americanos 1955; J. Brufau , El pensamiento politico de Domingo de Soto y su concepción del poder, Salamanca: Publicaciones de la Universidad 1960; I. Cardilo Ρ rie to, Cuestiones juridico-politicas en Francisco Suarez, Mexiko: UN AM 1977; G. Lewy , Constitutionalism and Statecraft during the Golden Age of Spain. A Study of the Political Philosophy of Juan de Mariana S. J., Genf: Droz 1960; N. Martinez Morân, Titularidad y ejercicio del poder en F. Suärez, in: Estudios de Filosofia del Derecho y Ciencia Juridica en Memoria y Homenaje al catedrâtico Don Luis Legaz y Lacambra (19061980), Bd. II, Madrid: Centro de Estudios Constitucionales - Facultad de Derecho de la Universidad Complutense, S. 67 ff.; M. Rodriguez Molinero , Legitimación del Derecho, emanado del poder, segun los Maestros de la Escuela de Salamanca, in: Anales de la Càtedra Francisco Suärez Nr. 16 (1976)S. I l l ff. 128 Zu erwähnen sind hier beispielsweise die Bände Estudios sobrefray Bartolomé de Las Casas, Sevilla: Publicaciones de la Universidad de Sevilla 1974, mit den Vorträgen des im März 1974 in Sevilla abgehaltenen Internationalen Amerikanisten-Kongresses; Las Casas et la politique des droits de l'homme, Beiträge zu der Tagung in Aix-en-Provence 12-13-14 Oktober 1974, Aix-en-Provence: Institut d'Etudes Politiques d'Aix und Instituto de Cultura Hispânica 1976; La Etica en la Conquista de América, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1984, mit den Beiträgen zu einem vom 2. bis 5. November 1983 in Salamanca abgehaltenen Symposium über "Francisco de Vitoria y la Escuela de Salamanca"; I diritti dell'uomo e la pace nel pensiero di Francisco de Vitoria e Bartolomé de Las Casas, Mailand 1988, mit den Beiträgen des Internationalen Kongresses vom 4. bis 6. März 1985 an der Università Pontificia S. Tommaso (Angelicum), sowie die Sondernummer von Le Supplément (Revue d'Ethique & Théologie Morale) zu Las Casas et Vitoria, Nr. 160 (März 1987), mit den Arbeiten eines am Institut Catholique de Paris im November 1985 abgehaltenen Symposiums. 9 Pérez Luno
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
sehen Auffassungen, hinsichtlich der Begründung der Menschenrechte eine sozial-individualistische Zwischenhaltung einnahmen. Dabei werden die individuellen Werte der Person, die sich aus ihrer Rationalität herleiten, mit der von der aristotelisch-thomistischen Tradition übernommenen natürlichen Geselligkeit des Menschen verbunden, wonach der Mensch als zóon politikón und folglich die volle Verwirklichung des Menschen als dessen Eingliederung in Gesellschaft und Staat aufgefaßt werden. Köck stellt die grundlegenden Freiheiten dar, die sich aus den Lehren der Klassiker von Salamanca sowohl für die Individualrechte im Bereich des Religiösen, des Lebens und der Freiheit des Einzelnen sowie des Eigentums als auch auf der politischen Ebene ableiten, wo die Grenzen der Macht und das Widerstandsrecht als Verfahren zum rechtlichen Freiheitsschutz analysiert werden. Für Köck ist der Begriff des Gemeinwohls der Schlüsselbegriff, mit dessen Hilfe die Schule von Salamanca die Grenzen staatlicher Macht bestimmt und die Menschenrechte begründet. Die Thesen der Schule von Salamanca über Recht, Politik und Freiheiten sind nach Köck auch heute noch im Rahmen der Begründung der Werte rechtsstaatlich verfaßter pluralistischer Gesellschaften von Interesse.129 In den kritischen Arbeiten zu den klassischen spanischen Naturrechtlern wird häufig eine Verknüpfung ihrer Freiheitslehre mit ihrer Auffassung von der internationalen Gemeinschaft vorgenommen; man sieht folglich in ihnen oft nicht nur die ersten Verfechter der Menschenrechte, sondern zugleich auch die Vorläufer des modernen Völkerrechts. Dies kommt durchaus nicht von ungefähr, denn es ist - wie Truyol y Serra bemerkt - "charakteristisch für das spanische rechtsphilosophische Denken, daß sein Beitrag zur Lehre von den Menschenrechten seinen historischen Ausgangspunkt und zugleich seinen Höhepunkt im Bereich des Völkerrechts hatte".130 Diese Forschungslinie, die auf das Ende des vorigen Jahrhunderts zurückgeht, wird heute von wichtigen Autoren weitergeführt. 131 129
H. F. Köck y Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, Berlin: Duncker & Humblot 1987. 130 A. Truyol y Serra , Espana y la protección juridico-internacional de los derechos humanos, in: Estado & Direito Nr. 4-2 (1989) S. 7. 131 Die wichtigsten Arbeiten über den Beitrag der Spanischen Schule zur Herausbildung des modernen Völkerrechts habe ich schon in Kap. III angeführt. Aus der umfangreichen neueren Literatur sei hier beispielhaft genannt: J. A. Carrìllo Salcedo , Sul contributo della Scuola spagnola di diritto delle genti ai fondamenti filosofici dei diritti dell'uomo, in: Rivista Internazionale dei Diritti dell' Uomo Nr. 2 (1988) S. 1 ff.; R. Hernàndez , Un espanol en la ONU. Francisco de Vitoria, Madrid: Biblioteca de Autores Cristianos 1977; ders., Derechos humanos en Francisco de Vitoria, Salamanca: San Esteban 1984; N. Martinez Moràn , Aportaciones del pensamiento espanol de los siglos XVI y XVII al Derecho internacional y a los derechos humanos: su influencia en los problemas del mun-
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In der Privatrechtstheorie findet man einige der nachhaltigsten Förderer des dogmatischen Interesses an den wichtigsten Denkern des klassischen spanischen Naturrechts. Besondere Verdienste haben sich hier zwei der renommiertesten Privatrechtshistoriker unseres Jahrhunderts, Franz W i e a c k e r 132 u n d Hans Thiemel33, erworben. Ihnen kam auch eine herausgehobene Rolle anläßlich des 1972 von Paolo Grossi in Florenz organisierten internationalen Kolloquiums zum Thema La Seconda Scolastica nella formazione del Diritto privato mo no zu, das mit den dort gehaltenen Vorträgen zu einer unverzichtbaren Quelle für die spätere Forschung zu diesem Thema werden sollte.134 In diesem Kontext ist auch der Hinweis auf Martin Lipp obligatorisch, der den Einfluß der Schule von Salamanca auf die Herausbildung der modernen Allgemeinen Privatrechtslehre in Deutschland hervorgehoben hat. i 3 5 Ein Aspekt, der in den jüngsten Arbeiten besondere Aufmerksamkeit gefunden hat, bezieht sich auf das Eigentums- und Wirtschaftssystem in der spanischen Scholastik. Das Eigentumsrecht in Francisco de Vitorias Auffassung vom Privatrecht war Gegenstand einer interessanten Monographie von Gerhard Otte 1 36 ; und auch Paolo Grossil37 hat sich in seinem breit angelegten Beitrag
do contemporàneo, in: Diàlogo Filosófico Nr. 21 (1991) S. 388 ff.; J. Soder, Francisco Suärez und das Völkerrecht, Frankfurt a. M.: Metzner 1973; H. Schambeck, La Escuela de Salamanca y su significación hoy, zit. Anm. 45, S. 85 ff.; A. Verdross , Die klassische spanische Völkerrechtslehre und ihre Weiterbildung durch die letzten Päpste und das zweite vatikanische Konzil, in: Estudios de Derecho Internacional en Homenaje a D. Antonio de Luna, Sondernummer der Revista Espanola de Derecho Internacional (1968) S. 465 ff. 132 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1952. 133 H. Thieme, El significado de los grandes juristas y teólogos espanoles del siglo XVI para el descubrimiento del Derecho Naturai, in: Revista de Derecho Privado Nr. XXXVIII (1954) S. 597 ff.; ders., Natürliches Privatrecht und Spätscholastik, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) Nr. LXX (1953) S. 230 ff.; ders., La significación de la Escolàstica tardia espanola para la historia del Derecho Natural y del Derecho Privado, in: Anuario de la Asociación Francisco de Vitoria Nr. XVII (1969-70) S. 61 ff. 134 La Seconda Scolastica nella formazione del Diritto privato moderno (Atti del Incontro di studio, Firenze, 16-19 ottobre 1972), Mailand: Giuffrè 1973, hg. von Paolo Grossi. In dem Sammelband sind u. a. die Arbeiten von Hans Thieme , Qu'est ce-que nous, les juristes, devons à la Seconde Scolastique espagnole? (S. 7 ff.); Dieter Schwab , Ehe und Familie nach den Lehren der Spätscholastik (S. 73 ff.); Franz Wieacker, Contractus und Obligatio im Naturrecht zwischen Spätscholastik und Aufklärung (S. 223 ff.); J. M. Pérez Ρ rende s, Los principios fundamentales del derecho de sucesión 'mortis causa' en la tardia escolàstica espanola (S. 241 ff.); und Christoph Bergfeld, Die Stellungnahme der spanischen Spätscholastik zum Versicherungsvertrag (S. 457 ff.) abgedruckt. 135 M. Lipp, Die Bedeutung des Naturrechts für die Ausbildung der Allgemeinen Lehre des deutschen Privatrechts, Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 107 ff. 136 G. Otte , Das Privatrecht bei Francisco Vitoria, Köln und Graz: Böhlau 1964. 137 p. Grossi , La propietà nel sistema privatistico della Seconda Scolastica, in dem Sammelband, zit. Anm. 134, S. 117 ff.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
zu dem schon genannten Kongreß in Florenz damit auseinandergesetzt. Wilhelm Weberl38 hat die ethischen Voraussetzungen der wirtschaftlichen Lehren Luis de Molinas sowie später auch Aspekte der Geld- und Zinstheorie der spanischen Klassiker eingehend analysiert. Diese Fragen wurden auch von Giovanni Ambrosetti139 in einer gehaltvollen Untersuchung der ethischen Grundlagen aufgenommen, die der gesamten Wirtschaftsauffassung der Spanischen Schule zugrundeliegen. Diese Arbeiten haben in späteren Jahren weitere Beiträge nach sich g e z o g e n . 140 Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch die jüngere Untersuchung von Bartolomé Clavero 141, in der er die wirtschaftliche Dimension der anthropologischen Kategorien des Katholizismus behandelt und den klassischen spanischen Naturrechtlern ein ausführliches Kapitel widmet. Zentrales Anliegen dieses Werkes ist es, den geringen, praktisch inexistenten Einfluß der wirtschaftlichen Vorstellungen der Klassiker auf die Gegenwart aufzuzeigen. Die Kategorien seien von theologischen Annahmen geprägt gewesen und hätten den ständigen Verweis auf von der katholischen Moral vertretene Werte materialer Gerechtigkeit impliziert. Es handele sich um Gedanken, die für einen Kontext erarbeitet worden seien, dem eine Sozialethik ohne jede Spur von Individualrechten zugrundelag, während wir in einer Zeit des Individualrechts ohne Sozialethik lebten. Die Abhandlungen de Iustitia und de Contractibus des 16. und 17. Jahrhunderts, zu deren wichtigsten Verfassern die Spanier Aragón, Bâfiez, Molina, Navarro, Soto und Vitoria gehörten, seien Ausdruck einer religiösen Ethik gewesen, für die Gewinn etwas Verrufenes und dierechtlicheFormalisierung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verkehrs etwas Verabscheuenswürdiges gewesen sei. Solche überholten Vorstellungen könnten nicht als Vorbild für das Verständnis der ökonomischen Kategorien der heutigen säkularisierten und verrechtlichten Gesellschaft dienen. Die modernen Gesellschaften hielten sich an die Grundsätze von Individualität, Freiheit und Verantwortlichkeit, die in zwischen Individuen ge138
W. Weber, Wirtschaftsethik am Vorabend des Liberalismus. Höhepunkt und Abschluß der scholastischen Wirtschaftsethik durch Ludwig Molina (1535-1600), Münster/Westf.: Aschendorfsche Verlagsbuchhandlung 1959, und: Geld und Zins in der Spanischen Spätscholastik, ebd. 1962. 139 G. Ambrosetti , Diritto privato ed economia nella Seconda Scolastica, in dem Sammelband, zit. Anm. 134, S. 23 ff. 140 Vgl. ζ. Β. die Bücher von J. Barrientos, Un siglo de moral econòmica en Salamanca (15261629), I. Francisco de Vitoria y Domingo de Soto, Salamanca: Publicaciones de la Universidad 1985; F. Gómez Camacho, Einführung zu dem Werk von Luis de Molina, Teoria del justo predo, Madrid: Ed. Nacional 1981; R. Sierra Bravo, El pensamiento social y econòmico de la escolàstica, Bd. I, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1975. 141 B. Clavero , Antidora. Antropologia católica de la economia moderna, Mailand: Giuffrè 1991. Vgl. auch sein früheres Buch Usura del uso economico de la religion en la historia, Madrid: Tecnos - Fundación Cultural "Enrique Luno Pena" 1984.
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schlossenen Verträgen rechtlich konkretisiert würden. Die Auffassungen der Vergangenheit seien daher unwiderruflich überholt und entkräftet. Die historiographische Schlußfolgerung der Analyse scheint kategorisch: "Die Geschichte führt uns in eine fremde Welt, die wir uns anzueignen versuchen." Dabei liefen wir Gefahr, vergangenen Ideen aktuelle Bedeutung beizumessen. Denn, so stellt Clavero fest, die "gleichen grundlegenden Wörter haben heute genau die entgegengesetzte Grundbedeutung. Die Grundsätze waren andere. Die Regeln waren andere. Anders war das System. Und anders war die Anthropologie."142 Am Ende dieses langen Exkurses deutet sich in Claveros Werk eine entmutigende Konsequenz an. Danach ist die Kommunikation mit der Vergangenheit unmöglich und nutzlos, weil die Geschichte keine wirksamen Rezepte für die Probleme der Gegenwart, die ganz allein und "unrettbar" zeitgenössisch sind, anbieten kann. Die Lehren der Klassiker mögen für ihre Zeit wertvoll gewesen sein, für die unsere taugen sie nicht. Und wenn "nur die Geschichte betrieben werden sollte, die uns betrifft", 143 dann ist jedes historiographische Abschweifen zu den klassischen spanischen Naturrechtlern sinnlos. Aber eben diese Quelle der Ratlosigkeit ist in ihrer Mehrdeutigkeit zugleich auch ein Grund der Hoffnung. Während man nämlich aus Claveros Prämissen einen historiographischen Nihilismus ableiten zu müssen scheint, überrascht er uns in der endgültigen Abwägung seiner Ergebnisse mit dem umgekehrten Schluß: "... was ich am Schluß in der Hand habe, ist eine Untersuchung über eine frühere Epoche, ... die mir zum Verständnis nicht so sehr ihrer selbst als vielmehr unserer Gegenwart dient..." Damit wird also nach der Verkündung des Todesurteils für die Geschichte das Leitmotiv jedes Historizismus wieder hervorgeholt: "Für die Herausbildung einer neuen Kultur ist die vergangene niemals irrelevant." 144 Abgesehen von der Radikalität mancher Urteile, die anschließend relativiert werden, verkörpert Claveros Buch eine keineswegs überflüssige Warnung davor, historische Kategorien aus ihrem Kontext zu reißen. Diese Forderung ist auf den vorangegangenen Seiten des öfteren wiederholt worden, ohne daß damit der Einfluß der Vergangenheit auf die Gegenwart bestritten werden sollte. Schließlich erschöpft sich die Gegenwart nicht in den flüchtigen Tatsachen des Aktuellen; vielmehr baut sie auf der dichten Unterlage der Vergangenheit auf und enthält schon eine Vorahnung der Zukunft. Man könnte von der Vergangenheit vielleicht sagen, daß sie so etwas wie die Kothurnen der Vernunft darstellt, die es der Rationalität erlauben, sich mit größerer Urteilsintensität und 142
B. Clavero, Antidora, zit. Anm. 141, S. 215. 143 Ebd. S.3. 144 Ebd. S. 2.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
umfassenderer Perspektive zu entfalten. Die klarste Darstellung dieses Gedankensfindet sich in der bis heute unübertroffenen Formulierung von Cervantes: "... Wahrheit..., deren Mutter die Geschichte ist, die Nebenbuhlerin der Zeit, Aufbewahrerin der Taten, Zeugin der Vergangenheit, Vorbild und Belehrung der Gegenwart, Warnung der Zukunft".145 Aus dieser Sicht ist daher die Frage "Was ist die klassische spanische Naturrechtslehre?" in den verschiedenen bis hierhin dargestellten aktuellen theoretischen Rekonstruktionen unausweichlich immer in die Frage "Welche Bedeutung hat diese kulturelle Bewegung für uns?" übersetzt worden. Der Augenblick scheint gekommen, die Antwort darauf zu rekapitulieren. 7. Was die rechtliche Dimension ihrer Lehren angeht, so sind die spanischen Klassiker des 16. und 17. Jahrhunderts ganz entschieden dem Naturrecht verbunden. Ihnen allen ist gemein, daß sie die Existenz einer Ordnung von Werten und Grundsätzen vertreten, die dem positiven Recht vorausgehen und alle Rechtsnormen begründen, anleiten und kritisch beschränken sollen. Diese Übereinstimmung endet jedoch, wenn es um die Vorstellung vom Naturrecht selbst geht. Hier stehen die drei großen historischen Richtungen nebeneinander: die voluntaristische, die ihren entschiedensten Vertreter in Vâzquez de Menchaca hatte; die rationalistische, wie sie von Vitoria, Soto und ganz radikal von Gabriel Vâzquez vertreten wurde; und die naturalistische der These von der natura rei bei Molina. Daneben sind natürlich auch die vermittelnden Positionen nicht zu übersehen, wie sie etwa im Weik von Suârez verkörpert werden, oder auch solche Ansätze, die nacheinander die verschiedenen Richtungen einschlagen, wie man es im geistigen Werdegang von Las Casas findet. Dieser Sachverhalt macht es schwer, von einer "Schule" im strengen Sinne des Wortes zu sprechen; vorzuziehen ist daher eine unbestimmtere Bezeichnung, die eine ganze kulturelle Bewegung mit ihren flexiblen Umrissen umfassen kann. Der Ausdruck "klassische Naturrechtler" scheint dazu geeignet. Die heutige Bedeutung dieser Einstellung läßt sich an der Wirkungskraft der historischen Funktion des Rechtsnaturalismus selbst ermessen. Die Spannung zwischen neueren Ansätzen des Rechtspositivismus und neuen naturrechtlichen Versionen - die sich zuweilen selbst nicht förmlich als solche ausweisen - besteht schließlich noch heute. Zeitgenössische Positivisten begründen und erklären das Recht auf der Grundlage einer "reinen", d. h. strikt auf positive Normativität beschränkten Lehre bzw. ausgehend von "systemischen" oder "autopoie145 M. de Cervantes, Don Quijote von der Mancha, zitiert nach der vollständigen Ausgabe in der Übertragung von Ludwig Braunfels, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, 1. Buch, Kap. IX, S. 79.
VI. Die Sicht der heutige Rechtsphilosophie und -theorie
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tischen" Kriterien, die sich auf der Rechtsordnung immanente Selbstreferenzen beziehen. Demgegenüber hält ein Rechtsnaturalismus neuer Prägung die Behauptung aufrecht, das positive Recht beruhe auf Gerechtigkeitskriterien, die ihm übergeordnet seien, wie etwa Menschenrechte - aufgefaßt als dem ethischen Wert des Menschen inhärente Entitäten -, neokontraktualistische Postulate, ökologische Richtlinien zur Sicherung der Lebensqualität, oder Rechtsauffassungen, die die Rolle der "Prinzipien" gegenüber den positiven Regeln betonen ... Selbstverständlich sind das begriffliche Rüstzeug und die theoretischen Voraussetzungen dieser neuen naturrechtlichen Ansätze andere als die der Klassiker, aber die Auffassung vom Recht und dessen notwendiger Bezug auf überpositive Maßstäbe von Moral und Gerechtigkeit weist viele verwandtschaftliche Züge auf. Speziell die klassischen rationalistischen Vorstellungen mit ihrer Betonung der Subjektivität und des Vertragsgedankens sind ein unverzichtbarer Vorläufer für die moderne Entwicklung des Kontraktualismus und der Menschenrechte. Ähnlich können auch diejenigen, die heute für eine Gleichgewichtsordnung zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung eintreten, theoretischen Rückhalt in der Idee von einem Recht finden, das mit der Natur der Dinge in Einklang steht. 2. Philosophisch gesehen waren die Lehren der spanischen Klassiker entschieden kognitivistisch ausgerichtet; so vertraten sie insbesondere das Vermögen der praktischen Vernunft, eine objektiv gültige ethische Ordnung zu erkennen, die das menschliche Zusammenleben leiten sollte. Ihre diesbezüglichen Lehren sind interessant und ermutigend für alle heutigen Bemühungen um die Rehabilitierung der praktischen Vernunft sowie für die verschiedenen, weit auseinanderliegenden Richtungen, die in unserer aktuellen Kulturlandschaft den Relativismus, den Skeptizismus und vor allem den Nonkognitivismus der Werte ablehnen. Allerdings entsprach die von den Klassikern postulierte Wertordnung einem ontologischen Objektivismus, aus dem sie universal gültige Werte und materiale Prinzipien abzuleiten beanspruchten. Dieser Anspruch steht in Gegensatz zu dem Pluralismus, dem Historizismus oder dem intersubjektiven Konsens, die für die zeitgenössische Weitlehre als obligate Bezugsrahmen angesehen werden. Der heutige Einfluß der klassischen Naturrechtslehre ist daher weniger stark hinsichtlich der Aussagen, die darauf abzielten, den absoluten und unverrückbaren Charakter des Naturgesetzes hervorzuheben, als hinsichtlich der Aspekte, in denen seine Vertreter die Offenheit - selbst die dialogische Offenheit (man denke nur an die Idee des ius communicationis) - der Werte für das Historische und Konkrete zu erkennen und vorzuschreiben wußten.
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Kapitel IV: Die Ausstrahlung in die Gegenwart
J. Auf der politischen Ebene galt den klassischen spanischen Naturrechtlern die Kategorie des Gemeinwohls als Richtwert und grundlegendes Legitimationsprinzip. Der Begriff hat bei den Klassikern unverkennbar metaphysischen Hintergrund; es handelt sich um eine Idee, die an eine eschatologische Auffassung vom Menschen und der politischen Ordnung gebunden ist. Der Prozeß der Säkularisierung aber, der mit der Moderne voranschreitet und inzwischen zu den Errungenschaften demokratischer Gesellschaften gehört, läßt sich nur schwer mit dem Versuch vereinbaren, theologische Kategorien auf die politische Ebene zu übertragen. Allerdings ist nicht zu vergessen, daß das Gemeinwohl der Klassiker abgesehen von seinen Transzendenzbezügen durchaus auch diesseitige Wirkungskraft insofern besitzt, als es der Ausübung der öffentlichen Gewalt eine Grenze setzt, den Widerstand gegen Unterdrückung begründet und das gesellschaftliche Zusammenleben zu einer Sache der Solidarität erklärt. Eine Epoche wie die unsere, in der es noch immer unerläßlich ist, individuelle und kollektive Interessen auf angemessene Weise zu vereinbaren, in der es im Dienste der politischen Freiheit ratsam ist, innerhalb demokratischer Gesellschaften ein Gleichgewicht von Macht und Gegenmacht zu etablieren, und in der die Solidarität der wichtigste Wert für die Begründung der neuen Hoffnungen auf Frieden, Lebensqualität oder informative Selbstbestimmung ist, kann den Schlußfolgerungen, die sich aus den Lehren der Klassiker ziehen lassen, nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die aktuelle Bedeutung der klassischen spanischen Naturrechtslehre beruht also letztlich darauf, daß man ihre Thesen aus heutiger Sicht lesen und ihre metaphysischen Vorstellungen zu einer Kritik und Orientierung an der Gegenwart ummünzen kann, die auf die Herausforderungen des historischen Augenblicks, in dem wir leben, antwortet.
Kapitel V Die Reaktion der klassischen spanischen Naturrechtler auf die Begegnung mit Amerika I. Amerika in und aus der Sicht der klassischen spanischen Naturrechtslehre
Die These von einer spanischen Naturrechtsschule als einer einheitlichen Denkrichtung halte ich für falsch; ich habe deshalb versucht, die Merkmale herauszuarbeiten, in denen sich die Vorstellungen ihrer vermeintlichen Vertreter unterscheiden. Man muß die Lehren jedes dieser Denker nicht einzeln und im Detail zu analysieren, um feststellen zu können, daß sie keineswegs homogen, ohne Eigenarten und Widersprüche waren und auch gar nicht sein konnten. Das spanische Naturrechtsdenken des 16. und 17. Jahrhunderts war, wie die gesamte Epoche, in die es gehörte, durch die gegenläufigen Anreize, wie sie sich aus großen historischen Umbrüchen immer ergeben, vielfältig gebrochen. Einerseitsfinden wir bei vielen Autoren der Zeit das konzentrierte Substrat des kulturellen Erbes des Mittelalters. Andererseits geht zur gleichen Zeit in anderen die Saat des Humanismus der Renaissance und später der reinsten Fassung barocker Ideale auf. Für diese vielfältige Wirklichkeit ist die Bezeichnung "klassische spanische Naturrechtler" wohl eher angebracht. Schließlich ist, wie ich zu zeigen versucht habe, der Kern ihrer Vorstellungen und das, was es erlaubt, eine gewisse geistige Verwandtschaft zwischen ihnen allen zu konstatieren, ihr Beitrag zur Entwicklung des Rechtsnaturalismus. Jenseits all ihrer Differenzen und unterschiedlichen Ausprägungen wirkt doch in ihnen allen der rechtliche Glaube an präpositive Werte, die das positive Recht widerspiegeln soll, die philosophische Einstellung, daß diese Werte erkannt werden können, sowie der politische Wille, sie im gesellschaftlichen Leben umzusetzen.
Π . Amerika im klassischen spanischen Rechtsnaturalismus
Neben diesen Berührungspunkten kommt es zu einem entscheidenden Stimulus aus der Umwelt, der dazu beiträgt, daß die Blicke der klassischen spani-
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
sehen Natuirechtler in ein und dieselbe Richtung gelenkt werden: die Begegnung mit Amerika. Die Übereinstimmung in den Auffassungen der klassischen Denker kam schließlich nicht infolge einer rein kulturellen Entwicklung zustande. Zwar gibt es keinen Grund, an der theoretischen Ausstrahlungskraft bestimmter universitärer Zentren der damaligen Zeit zu zweifeln - man denke nur an das St. Stefans-Institut der Universität von Salamanca und die Verbreitung gemeinsamer Auffassungen und Arbeitsmethoden. Neben diesen akademischen Projekten trat jedoch ein Ereignis ein, daß jenseits aller bewußten Planung lag. Denn die Ankunft in Amerika stellte für die ganze Kultur der Epoche, besonders aber für die der iberischen Halbinsel, eine Herausforderung dar, über die Ausdehnung der Erde, die wissenschaftliche Verarbeitung der neuen geographischen Entdeckungen und den ethischen, rechtlichen und politischen Status ihrer Bewohner nachzudenken. Amerika war ein zunächst extrakultureller Faktor, der zu einer für das Denken der Zeit nicht mehr wegzudenkenden theoretischen Kategorie wurde und schließlich die mehr durch Fragen als durch Antworten gekennzeichnete Gemeinschaft der klassischen spanischen Naturrechtler motivierte. Zu Recht bemerkt Silvio Zavala, daß man zwar zur Interpretation der Neuen Welt zunächst auf Ideen der Alten zurückgriff, daß aber Amerika keineswegs nur eine passive Rolle spielte; es war vielmehr der Ursprung von "mehr oder weniger großen Veränderungen, die die Neuigkeit der Entdeckung in jener traditionellen Kultur bewirkte". Und weiter: "Die Ereignisse um die Conquista ließen die dogmatischen Probleme deutlicher hervortreten, gaben ihnen praktischen Gehalt. Andererseits beeinflußte die ideologische Arbeit auch die Entwicklung unserer Geschichte. So läßt sich die enge Beziehung zwischen dem politischen Denken der damaligen Zeit und den Institutionen in Lateinamerika erklären, die das Zusammenleben der Europäer mit den Eingeborenen regeln sollten." 1
Amerika war ohne jeden Zweifel ein Grundelement in den theoretischen Überlegungen der klassischen spanischen Naturrechtler. Dies gilt nicht nur insofern, als es selbst ein ständiges Thema der Reflexion darstellte, sondern auch, weil es eine bestimmte, auf den Gebrauch der praktischen Vernunft ausgerichtete methodische Haltung förderte. Francisco de Vitorias Relecciones an der Universität von Salamanca bildeten den Auftakt zu einer weitreichenden theoretischen Debatte, an der sich die bedeutendsten Denker der Zeit beteiligten. Die kulturellen und politischen Auswirkungen der Kontroverse fanden ihren öffentlichen Ausdruck im Rahmen der Kommission, die Kaiser Karl V. selbst im Jahre 1550 in Valladolid einberief und deren berühmte Hauptvertreter Juan Gi1 S. Zavala , La defensa de los derechos del hombre en América Latina (siglos XVI-XVIII), Mexiko: UNAM-UNESCO 1982, S. 12 f.; ders., La Filosofia Politica en la Conquista de América, Mexiko: FCE 1947, passim.
II. Amerika im klassischen spanischen Rechtnaturalismus
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nés de Sepulveda und Bartolomé de Las Casas waren. Ginés de Sepulveda machte sich zum Sprecher derer, die die traditionelle These des christlichen Imperialismus vertraten, und rechtfertigte die Eroberung und Unterwerfung der Indios mit Hilfe der aristotelischen Lehre von der natürlichen Knechtschaft. Las Casas dagegen verteidigte mit Leidenschaft die auf das Naturrecht gegründete Lehre von der Gleichheit aller Menschen und Völker. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts nimmt also das Interesse an der Indianerfrage im ganzen intellektuellen Spanien der Zeit einen überragenden Platz ein. Später, gegen Mitte des Jahrhunderts, wurde aus dieser allgemeinen, aber individuell vorgebrachten Sorge ein umfassendes kollektives Forschungsprogramm. Sein wichtigster Impulsgeber und Koordinator war Juan de la Pefia, Theologieprofessor an der Universität von Salamanca, mit dem unmittelbare Schüler Vitorias (Soto, Cano, Covarrubias ...) sowie der salmantinischen Lehrer der sogenannten "Zweiten Generation" (Luis de León, Medina, Bânez, Aragón ...), der Pefia selbst auch angehörte, zusammenarbeiteten. Das Programm fand weite Verbreitung nicht nur an Universitäten der iberischen Halbinsel (Alcalâ, Evora, Coimbra,...), sondern auch in Europa (Gregoriana in Rom, Dillingen ...) und Amerika (Mexiko, Lima, Bogotä ...). Luciano Perefia, der dieses kollektive Forschungsprogramm besonders eingehend untersucht hat, benennt folgende drei Hauptanliegen:
(1) Die gründliche Analyse und Überprüfung der zur Rechtfertigung spanischen Präsenz in Indoamerika herangezogenen Rechtstitel wobei die gitimität, Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der Eroberungskriege bestritten wird;
(2) die Verurteilung jeglicher Eroberungspolitik, einschließlich all ihrer Fo gen hinsichtlich der Versklavung der Indios, der Beschlagnahme ihrer Besitztümer und der Okkupation ihrer Ländereien;
(3) die Ausübung moralischen Drucks auf die Machthaber mit dem Ziel e ner Revision der Kolonialpolitik durch die Humanisierung der Institutionen und die Errichtung eines auf der christlichen Ethik basierenden Zusammenlebens von Spaniern und Indios. Eroberung und gewaltsame Missionierung sollten so von Kolonisierung und friedlicher Missionierung abgelöst w e r d e n . 2 2
Vgl. dazu vor allem L Perefia, Programa colectivo de investigación. Enchiridion académico salmanticense (1560-1585), in: Juan de la Pefia, De bello contra insulanos. Intervención de Espana en América, hg. von L. Perefia u. a., Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1982, Bd. II, S. 149 ff.; vgl. auch C. Baderò , Conclusiones definitivas de la segunda generación, in: D. Ramos (Hg.), La Etica en la Conquista de América, Madrid: Consejo de Investigaciones Cientificas 1984, S. 413 ff.
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
Diese akademischen Anliegen und Diskussionen hatten unmittelbare Auswirkungen auf das Recht. Die Auseinandersetzung über die Vorgänge in Amerika an den spanischen Universitäten des 16. und 17. Jahrhunderts wurden immer wieder von Berichten und Beschwerden der Missionare angefacht, die direkte Zeugen der dort verübten Übergriffe und Gewalttaten gewesen waren. In diesem Klima entwickelt sich eine tiefe nationale Gewissenskrise, die auf Juristen, Beamte und Staatsräte und schließlich auch auf die Krone selbst Druck ausübt, humanitäre Normen für Indoamerika zu erlassen. Joseph Höffher hat daran erinnert, daß die wichtigste praktische Auswirkung der kolonialethischen Auseinandersetzungen darin bestand, daß mitten im 16. Jahrhundert ein Gesetzeswerk erlassen wurde, das "Schutzmaßnahmen für die Ureinwohner Amerikas vorschrieb, wie sie im Westen erst lange nach Beginn des 19. Jahrhunderts durchgesetzt werden sollten".3 Die Leyes de Burgos von 1512, die Leyes Nuevas von 1542 und ganz besonders die 1573 von Philipp II. verkündeten Ordenanzas Generates sobre las Indias, die auch als "erste Charta der Rechte der Indios" bezeichnet worden ist,4 waren zu einem guten Teil das Ergebnis dieses "besessenen Beharrens auf dem amerikanischen Thema" der klassischen spanischen Naturrechtler. Die geringe Wirksamkeit, die die Durchsetzung dieser Vorschriften in den entfernten Regionen des Kolonialreiches so oft vereitelte, kann die Bedeutung, die der Indiofrage in den Lehren der Klassiker beigemessen wurde, und deren Bemühen um Lösungswege nicht entwerten.
ΙΠ. Die klassische spanische Naturrechtslehre in Amerika
Die Wirkung der klassischen Naturrechtslehre in Amerika war umfassend, tiefgreifend und nicht auf die Kolonialzeit beschränkt. Die Ausbreitung des Studiums der Naturrechte und der Volkssouveränität an den lateinamerikanischen Universitäten, die - oft unterbrochene und nicht immer wirksame - Erfahrung einer von diesen Werten inspirierten Gesetzgebung und der Widerschein dieser Grundsätze im gesellschaftlichen Leben trugen zur Herausbildung einer eigenständigen Auffassung von Freiheit und eines Bewußtseins von der Brüderlichkeit und Gleichheit der Menschen bei, die der These der natürlichen Knechtschaft entgegengesetzt waren. So konnte Amerika seit dem Beginn seiner Beziehung zu Spanien auf eine humanistisch-demokratische Tradition 3
J. H Öffner, Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im goldenen Zeitalter, Trier: Paulinusverlag 1947. 4 L Perena, La intervención de Espana en América, in dem Werk von Juan de la Pena (zit. Anm. 2), Bd. I, S. 22.
III. Die klassische spanische Naturrechtslehre in Amerika
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bauen, die "es ihm gestattete, den Anfechtungen von Stolz, Vorurteil und Gier entgegenzutreten, die ebenfalls mit den ersten Siedlern kamen".5 Es kann nicht Ziel dieser Arbeit sein, ein Urteil über die Stichhaltigkeit der von Carlos Stoetzer vorgeschlagenen Interpretation abzugeben, der die früheren Erklärungen der Emanzipation in Hispanoamerika geradezu auf den Kopf gestellt hat. So setzt Stoetzer der These, wonach dieses Phänomen von der Ausbreitung des modernen revolutionären Denkens der Aufklärung im spanischen Amerika abhing, die Auffassung entgegen, die Unabhängigkeit sei als amerikanische Reaktion auf das Abweichen von den "traditionellen spanischen Vorstellungen von der Regierung" betrieben worden. Die Zentralisierung der Verwaltung, die damit verbundene Abschaffung lokaler Freiheiten sowie die Vertreibung der Jesuiten seien entscheidende Faktoren für den Abtrennungsprozeß gewesen. Nach Meinung Stoetzers zeigt sich diese amerikanische Vorliebe für die traditionellen politischen und religiösen Überzeugungen bei den meisten Emanzipationsbewegungen. Nach diesem Ansatz sei etwa das Motiv für die Unabhängigkeit Mexikos eine konservative Reaktion auf das Uberale Spanien gewesen; und Lima habe San Martin seine Tore als Antwort auf den radikalen spanischen Liberalismus der beginnenden zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts geöffnet. Stoetzers Schlußfolgerung klingt überraschend und fast paradox: "Spanisch-Amerika wählte in der letzten Phase der Revolution deswegen die politische Unabhängigkeit, weil es in seinem Charakter und Temperament spanisch bleiben wollte und weil Spanien durch die Bourbonen und den Einfluß der europäischen Aufklärung diesen Charakter verloren zu haben schien. "6
Direkte Relevanz für das hier behandelte Thema hat jedoch die ebenfalls von Stoetzer stammende These, es sei ein Irrtum zu glauben, der ideologische Ausgangspunkt der amerikanischen Unabhängigkeit sei eine naive, eher zufällige Nachahmung fremder Vorbilder gewesen, von denen sich die Betreiber der Emanzipation hätten blenden lassen.7 Fast drei Jahrhunderte lang waren die po5 S. Zavala , La defensade los derechos del hombre en América Latina (zit. Anm. 1) S. 61. Vgl. dazu auch M. Hurîado Bautista , Supuestos en la evolución doctrinal de la conciencia colonial espanola (siglos XVI y XVII), in dem Sammelband: Problemas de la Ciencia Juridica. Estudios en Homenaje al Profesor Francisco Puy Munoz, Universität Santiago de Compostela 1991, Bd. I, S. 337 ff. 6 O. C. Stoetzer , Las raices escolâsticas de la emancipación de la América Espanola, Madrid: Centro de Estudios Constitucionales 1982, S. 436. 7 O. C. Stoetzer , El pensamiento politico en la América espanola durante el periodo de la emancipación (1789-1825), Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1966, 2 Bde., passim ; ders., Las raices escolâsticas ... (zit. Anm. 6) S. 257 ff. Gegen Stoetzers Ansatz ließe sich einwenden, daß er bei der Beurteilung der Ursprünge der amerikanischen Emanzipation das Vorbild verschiedener politischer Bewegungen der damaligen Zeit - vor allem der nordamerikanischen Unabhängigkeit und der Fran-
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
litischen Ideen der klassischen spanischen Natuirechtler nicht nur Grundelemente der intellektuellen Bildung der kreolischen Eliten gewesen, sondern hatten sich - in durch den Klerus vereinfachter Form - auch auf Lebensformen und Kultur des Volkes ausgewirkt. Die Lehren Vitorias, Las Casas', Molinas, Marianas und besonders Suärez' waren zu Beginn der Unabhängigkeitsbewegung längst ein nicht mehr wegzudenkender Teil des kulturellen Fundus SpanischAmerikas geworden. Über Suärez wurde sogar einmal geschrieben, er sei "der Philosoph der hispanoamerikanischen Emanzipation [gewesen], der den Männern, die sie planten und ausführten, die rechtsphilosophische Formel lieferte, mit der sie in die altersschwache Festung der spanischen Herrschaft eine Bresche schlagen sollten und tatsächlich auch ganz leicht schlugen".8 Die Lehre vom Recht auf Widerstand und Tyrannenmord, die vertragstheoretische Begründung der Macht und besonders die These vom pactum translations , wie sie von Suärez ausgearbeitet worden waren, wurden zum ideologischen Arsenal der Amerikaner, mit dessen Hilfe sie zunächst die napoleonische Usurpation zurückwiesen und dann die Bande zur Metropole kappten: "Die Spanier beider Hemisphären waren darin einig, daß das Regime von Joseph Bonaparte nicht die legitime Regierung repräsentierte, daß er also die politische Macht usurpiert hatte. Die Folge war, daß man das Widerstandsrecht in Anspruch nahm, was den Beginn des revolutionären Prozesses in Hispanoamerika b e d e u t e t e . " 9
Nachdem die Revolution einmal begonnen hatte, führten die Gemeinderäte, die sich in Amerika ab 1808 bildeten, in Ermangelung eines legitimen Souveräns allmählich und folgerichtig zur Konstituierung unabhängiger Republiken. Wenn man die Verwurzelung des amerikanischen Emanzipationsprozesses in den Lehren des klassischen spanischen Rechtsnaturalismus feststellt, so bedeutet dies keineswegs notwendigerweise, daß man damit andere ideologische Einflüsse bestreitet. Luis Sänchez Agesta meint, die Anerkennung eines "juristischen Hintergrundes, der durch die von den Spaniern in Amerika geschaffenen Universitäten übermittelt wurde, in denen das scholastische Dogma mit den besonderen Nuancen gelehrt wurde, die ihm Vitoria und Suärez gegeben hatten, bedeutet nicht, daß wir den gewaltigen Einfluß nordamerikanischer und französischer Dokumente auf die Verteidigung der Menschenrechte und insbezösischen Revolution - sowie wirtschaftliche Faktoren im Hinbück auf die Freiheit des Handels nicht hinreichend berücksichtigt. Zu seinen Gunsten muß man jedoch anerkennen, daß sich seine Analyse ausdrücklich auf ideologische Impulse beschränkt und er die Untersuchung gar nicht auf strukturelle oder institutionelle Ursachen ausweiten will. 8 A. Romero , El derecho de resistencia a la opresión, Buenos Aires: Omeba 1967, S. 81. 9 J. L. M irete, La filosofia espanola de los siglos XVI y XVII y el proceso emancipador Ispanoamericano: la figura de Francisco Suärez, in: Anuario de Filosofia del Derecho (1986), S. 476.
IV. Amerika aus der Sicht der spanischen Naturrechtler
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sondere auf deren Formulierung in eigenständigen Texten oder im Kopfteil der Verfassungen in Amerika übersehen würden". 10 Die philosophischen Ideen von Locke, Paine, Voltaire, Montesquieu und Rousseau waren in den Führerkreisen der Unabhängigkeitsbewegung ebenso gut bekannt wie die utilitaristische Staats- und Wirtschaftstheorie Benthams.11 Die amerikanische Emanzipation war allerdings eine Bewegung, an der nicht nur aufgeklärte Minderheiten, sondern breite Bevölkerungsschichten beteiligt waren, denen die spanische politische Tradition demokratischer Ausrichtung sehr viel näher stand und vertrauter war als die Gedankengebäude von Aufklärern und Utilitaristen.
IV. Amerika aus der Sicht des Denkens der spanischen Naturrechtler: Die Probleme Spanisch-Amerikas und die Lehren der Klassiker
Einer der Umstände, der die heutige Auseinandersetzung um die Behandlung des Indioproblems bei den spanischen Klassikern so interessant macht, ist, daß es sich nicht um "eine Diskussion über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart" handelt.^ Ernesto Garzón Valdés weist darauf hin, daß die ständige Wiederholung der immer gleichen Argumente seit vierhundert Jahren kein Zeichen von Sturheit oder fehlender Phantasie ist, sondern die andauernde Aktualität der immer gleichen Probleme belegt. Die unglaubliche Immobilität vieler hispanoamerikanischer Gesellschaften wird schon durch die Tatsache angezeigt, daß auf deren Situation "Beschreibungen des 16. Jahrhunderts genauso passen wie die des 20., so daß man sie manchmal nur am Stil oder der Syntax zu unterscheiden vermag".13 Garzón Valdés führt zwei Zitate an, um seine These zu stützen: das erste ist der 1535 von Vasco de Quiroga geschriebenen Información en Derecho entnommen, in der die Indios dargestellt werden als "... ganz nackt, einsam und verloren, ... ganz einfältige und einfache Leuten, und mit ganz wenig Ausgaben für den Unterhalt, und die sich mit ganz wenig zufriedengeben ..."; das zweite Beispiel ist eine Passage aus dem Roman El mundo es ancho y ajeno (1945) von Ciro Alegria, wo es heißt, die Indios "ge10
L. Sânchez Agesta, El Derecho y el constitucionalismo iberoamericano, in dem Sammelband Historia y pensamiento. Homenaje a Luis Diez del Corral, Madrid: Eudema 1987, S. 434. 11 Über den Einfluß der Gedanken der Aufklärung auf die geistige Entwicklung der amerikanischen Emanzipation vgl. statt vieler J. Lynch, Las revoluciones hispanoamericanas 1808-1826, übers, von J. Alfaya und B. McShane, 5. Aufl., Barcelona: Ariel 1989, S. 32 ff. 12 E. Garzón Valdés , Die Debatte über die ethische Rechtfertigung der Conquista, in: J. Bähr u. a. (Hg.), Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und Uterarische Darstellung der Kolonisierung Amerikas, Frankfurt a. M. 1991, S. 68 f. 13 Ebd.
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
wohnten sich daran, die Kälte nicht zu spüren... und andererseits erlaubte es ihnen die Armut nicht, viel Kleidung zu benutzen ... Auch sprachen sie wenig, da ihre Plackerei und ihr Unglück schon bekannt waren ... Und so jahrein und jahraus. Von Generation zu Generation, das Elend..." 14 Das Geflecht aus Drohungen, Ängsten und Hoffnungen, das auf den heutigen Gesellschaften in Amerika lastet, unterscheidet sich nur wenig von der Wirklichkeit, mit der sich diejenigen auseinandersetzen mußten, die im 16. Jahrhundert die intellektuelle und politische Mühe auf sich nahmen, über die Angelegenheiten Amerikas nachzudenken, sie zu verstehen, Mißbräuche anzuprangern und Lösungen vorzuschlagen. Über die Distanz des Ungleichzeitigen hinaus macht daher die Gleichartigkeit der Situationen und Sorgen die Reflexionen der damaligen Denker zu einem Fundus von Ideen, die ein besseres Verständnis der Gegenwart ermöglichen. Die Aspekte, in denen sich diese Parallelen auftun, sind vielfältig und tiefgehend; um allzu große Weitschweifigkeit zu vermeiden, will ich nur drei benennen.
L Die Suche nach einer kollektiven
Identität
Einer der Aspekte, der die Aufmerksamkeit der ersten Männer, die über die amerikanische Wirklichkeit nachdachten, erregten, war die Gebrochenheit seines kulturellen Rahmens, der in ein Mosaik von Einzelsprachen und -traditionen aufgespalten war. Juan de Solórzano y Pereyra bemerkte in seiner Politica Indiana von 1648 bezüglich der Diversität der indianischen Kulturformen, daß "die Sitten jeder Region zumeist nicht weniger verschieden sind als die Lüfte, die sie durchziehen, und die Grenzpfähle, die sie trennen". 15 Über die vielen Sprachen und Dialekte der Eingeborenen sagte er: "... alle hundert Meilen gibt es eine andere Sprache, und selbst innerhalb dieser Entfernung wird eine Sprache, die wie eine einzige erscheinen mag, in kurzen Abständen durch irgendwelche Verschiebungen in den Buchstaben oder Veränderungen in der Aussprache, der Betonung oder dem Gebrauch zu einer derart anderen, daß sich noch nicht einmal Nachbarn untereinander verstehen".
Solórzano bezieht sich auf den Fall Peru, wo "mehr als siebenhundert verschiedene Sprachen" gesprochen werden und wo es "kein Tal und keinen Hügel von einigem Umfang gibt, wo nicht eine eigene entstanden wäre".16 14
Ebd. J. de Solórzano y Pereyra, Politica Indiana (1648); hier zitiert nach der Edition von M. A. Ochoa Brun, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 252, Madrid: Atlas 1972, S. 385. 16 Ebd., S. 396. 15
IV. Amerika aus der Sicht der spanischen Naturrechtler
145
Dieses Bild der kulturellen Vereinzelung und Unverbundenheit konnte von Beobachtern, die wie die Spanier aus einer Welt einheitlicher, unverrückbar geteilter Glaubenssätze - aus dem christlichen Europa, wo die Spaltung der Reformation noch nicht endgültig vollendet war - kamen, nur als negatives Zeichen gesellschaftlicher und politischer Schwäche interpretiert werden. Das Sozial· ethos, das aus der gemeinsamen Annahme der christlichen Moral und ihrer philosophischen und politischen Auswirkungen erwuchs, trat in Spanien in einer besonders starken Version auf, da es das verbindende Element einer Reconquista darstellte, die sich über acht Jahrhunderte hinzog.
Die fehlende Homogenität der indianischen Kulturformen wird daher gelegentlich als göttliche Strafe angesehen. So wird in dem pittoresken Werk Compendio y descripción de las Indias occidentales des Karmeliterpaters Antoni Vâzquez de Espinosa, dessen Druck im Jahre 1629 begonnen wurde, diese Zersplitterung der aberwitzigen These zugeschrieben, die amerikanischen Indios seien aus ins Exil getriebenen hebräischen Stämmen hervorgegangen. Um diese Spekulation zu begründen, konstruiert er Ähnlichkeiten zwischen Riten, Sitten und verschiedenen Wörtern bei den Indios und bei den Juden. Den zunehmenden Verlust der kulturellen Identität der Indios erklärt er folgendermaßen: "... die ersten Bewohner Indoamerikas, die zu den Stämmen gehörten; verloren ihre Sprache oder vermischten sie zumindest mit anderen Wörtern der verschiedenen Nationen, durch deren Land sie auf ihrem Weg zogen, wozu außerdem noch die Erfindungsgabe der Menschen kam, zusammen mit den Machenschaften und Listen des Teufels, um die Verwirrung noch zu steigern, damit sie einander nicht verstünden, und sie so zu blenden und zu täuschen; im Laufe der Zeit aber wurde die Verwirrung und die Vielfalt der Sprachen in jenen riesigen Gebieten so groß, daß es jetzt mehr als fünfzigtausend sind". 1?
Die präkolumbische Phase, die von der Barbarei der Götzenanbetung "ohne Gott, noch Gesetz oder Vernunft" 18 gekennzeichnet gewesen sei, habe zu teuflischer Verwirrung geführt, aus der die Indios dank des christlichen Glaubens befreit worden seien. "Die Verwirrung, die in diesen heidnischen, verblendeten Nationen herrschte", so Vâzquez de Espinosa, "mit der Fülle von verschiedenen Sprachen, die sie hatten, wodurch der Teufel sie in Unterwerfung und Knechtschaft unter seiner tyrannischen Herrschaft hielt, bis Gott in seiner göttlichen Güte geruhte, sie daraus zu befreien und mit dem Licht seines heiligen Evangeliums zu erleuchten." 19 17 A. Vâzquez de Espinosa , Compendio y descripción de las Indias occidentales (1629), zitiert nach der Edition von B. Velasco Bayón , Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 231, Madrid: Atlas 1969, S. 25 f. 18 Ebd. S. 26. 19 Ebd. S. 29. 10 Pérez Luiîo
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
Die Kolonialzeit bedeutete für Hispanoamerika die Herausbildung einer auf Merkmale relativer Homogenität gegründeten kollektiven Identität. Die erzwungene Aufgabe des schillernden Universums der indianischen Kulturen auf der einen und das Überstülpen der spanischen Kultur über deren latent verbleibende Formen auf der anderen Seite machte die Entstehung eines gemeinsamen sozialen Ethos möglich, das auf freiwillig anerkannten oder aufgezwungenen einheitlichen Bindungen beruhte: christliche Ethik, Sprache und Treue gegenüber der Krone als Garantin des Gemeinwohls. Octavio Paz hat die bedeutendsten Aspekte und Ausdrucksformen dieser Ordnung treffend zusammengestellt: "Die große Dichtung der Kolonialzeit, die Kunst des Barock, die Leyes de Indias, die Chronisten, Geschichtsschreiber und Gelehrten und schließlich die neohispanische Architektur, in der alles - selbst Auswüchse der Phantasie und weltliche Wahnvorstellungen - in einer ebenso strengen wie weitgefaßten Ordnung in Einklang miteinander gebracht wird, spiegeln nur das Gleichgewicht einer Gesellschaft wider, in der auch alle Menschen und Rassen ihren Platz, ihre Berechtigung und ihren Sinn fanden. Die Gesellschaft wurde von der gleichen christlichen Ordnung regiert, wie man sie an Kirchen und Gedichten so b e w u n d e r t . " 20
Die Befreiung bedeutete den Zusammenbruch dieses Systems unausgesprochener Überzeugungen, die drei Jahrhunderte lang die amerikanische Gesellschaftsordnung geformt hatten. Die Unabhängigkeit wurde von den Führungseliten als Negation all dessen aufgefaßt, was die Kolonialzeit ausgemacht hatte, als Wille zum Bruch mit der spanischen Tradition. Ideales Vorbild des Emanzipationsprozesses waren die Vereinigten Staaten: eine moderne Nation. "Aber der Eintritt in die Moderne", so Octavio Paz, "forderte ein Opfer: das unserer selbst. Das Ergebnis dieses Opfers ist bekannt: wir sind immer noch nicht modern, aber wir sind seit damals auf der Suche nach uns selbst."21 Die Entfrem20
O. Paz , El laberinto de la soledad, 13. Aufl., Mexiko und Buenos Aires: FCE 1990, S. 125 f. (dt.: Das Labyrinth der Einsamkeit, übers, und mit einer Einführung von C. Heupel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 105). 21 Ο. Ροζ, El ogro filantròpico. Historia y politica 1971-1978, Barcelona: Seix Barrai 1979, S. 57 (dt.: Der menschenfreundliche Menschenfresser. Geschichte und Politik 1971-1980, übers, von R. Wittkopf und C. Heupel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 48). Es ist auch nicht zu übersehen, daß diese kollektive Identitätskrise mit erheblichen Brüchen in der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur Hispanoamerikas zusammenhängt, die sich seit dem Augenblick der Unabhängigkeit zeigen. "Der neue Nationalismus", so John Lynch, "hatte fast gar keinen sozialen Gehalt. Zwar ist es richtig, daß die Unabhängigkeit von liberalen und sogar egalitären Gedanken vorangetrieben wurde, die das strenge Schichtenwesen der Kolonialzeit ablehnten;richtigist auch, daß Gesetze gegen die Aufspaltung der Gesellschaft in Kasten erlassen wurden und daß man sich bemühte, die verschiedenen ethnischen Gruppen in der Nation zu integrieren. In der Praxis aber zeigten die Volksmassen wenig Solidarität mit ihrer jeweiligen Nation; während des Krieges ließen sie sich nur zwangsweise rekrutieren, danach mußte man sie streng kontrollieren. Der mangelnde gesellschaftliche Zusammenhalt ließ Idealisten wie Bolivar zweifeln, ob es möglich sei, lebensfähige Nationen zu schaffen. Die schwarzen Sklaven und die abhängigen Landarbeiter, die auf sie folgten, profitierten kaum von
IV. Amerika aus der Sicht der spanischen Naturrechtler
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dung von den eigenen historischen Wurzeln hat zum Verlust der eigenen Identität und zu einem individuellen und kollektiven Gefühl von Einsamkeit geführt; diese Einsamkeit, die die conditio humana der hispanoamerikanischen Welt bestimmt, hat in der Chronologie der Hundert Jahre von Gabriel Garcia Mârquez oder in der Morphologie des Labyrinths von Octavio Paz ihren gültigen Ausdruck gefunden. Um die verlorene Identität zurückgewinnen zu können, müssen die vergessenen oder durch den Einfluß des Nachbarn im Norden - jenes "philanthropischen Menschenfressers" - und der anderen für die geistige Verwaisung und die wirtschaftliche Verwüstung verantwortlichen "neokolonialistischen Menschenfresser" verdrängten traditionellen Wurzeln wieder bewußt gemacht werden. Die geistigen Bewegungen der letzten Jahrzehnte mit dem größten Engagement für die Erneuerung des hispanoamerikanischen Denkens waren sich dessen durchaus bewußt und haben sich folglich die Zurückgewinnung ihrer verlorenen Identität zur ersten und grundlegenden Aufgabe gemacht. Die Auseinandersetzung zwischen "Ariel und Caliban" und ihren jeweiligen Anhängern ist für diese Problematik bezeichnend. Verschiedene Interpretationen der beiden Figuren aus Shakespeares Sturm trafen dabei aufeinander. Zunächst übernahm Ariel die Verkörperung der Verbindung autochthoner Wurzeln mit dem spanischen Erbe, während Caliban den sächsischen Utilitarismus und Egoismus sowie die "Nordomanie" ausdrückte. Später wird Caliban zum metaphorischen Urbild einer lateinamerikanischen Haltung umgedeutet, die sich gegenüber iberischen und sächsischen Vorbildern ihrer Identität vergewissern will.22 Auch im sogenannten "Manifest von Salta" für eine "Lateinamerikanische Philosophie" wird eine "im wesentlichen lateinamerikanische" Philosophie der Befreiung gefordert: "Uns geht es um Lateinamerika, die Entstehung seines Seins und seiner Geschichte, seinen konkreten Befreiungsprozeß und - jenseits aller vermeintlichen Universalität der lateinamerikanischen Philosophie - um die konkrete Suche nach der Universalität Lateinamerikas in der Vergewisserung seiner Verschiedenheit und seines verweigerten und unterdrückten Andersseins. "23
den Vorteilen der Unabhängigkeit und hatten wenig Grund, ein Gefühl nationaler Identität zu hegen"; vgl. Las revoluciones hispanoamericanas 1808-1826 (zit. Anm. 11) S. 341. 22 Dieser Aspekt wird ausführlich behandelt in einem Forschungsprojekt von Joaquin Herrera Flores und David Sànchez Rubio zum Thema Dependencia y liberación en el pensamiento latinoamericano; den beiden Autoren habe ich für die Möglichkeit der Einblicknahme in noch unveröffentlichtes Material zu danken. 23 Manifiesto para una 'filosofia' latinoamericana, Punkt 1.6, abgedruckt im Anhang zu H. Cerniti , Filosofia de la liberación latinoamericana, Mexiko: FCE 1983, S. 297 ff.
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
Diese Philosophie der Befreiung als Bewußtwerdung und Reaktion auf die lateinamerikanische Situation der Abhängigkeit verdankt nach Meinung Leopoldo Zeas, eines ihrer bedeutendsten Vertreter, ihre Ursprünge so unterschiedlichen Faktoren wie "dem Historizismus in seinen verschiedenen Varianten, von Hegel und Marx über die Wissenssoziologie, Heidegger, Marcuse und die Frankfurter Schule..., der Ideengeschichte als Philosophie der Geschichte unseres Amerika, der Soziologie der Befreiung und der Theologie der B e f r e i u n g " . 2 4 Um die verdrängte oder verlorene Identität zurückzugewinnen, um einen Leitfaden zu finden, der die Vielfalt geistiger Einflüsse zurückverfolgen kann, die sich im Laufe der Zeit überlagert haben, wird man auf die klassischen spanischen Naturrechtler, die selbst ein Kapitel der Kulturgeschichte der hispanoamerikanischen Welt bilden, nicht verzichten können. Das postum erschienene Werk Diâlogos indianos des peruanischen Befreiungsphilosophen Augusto Salazar Bondy stellt an den Anfang einer geistigen Rekonstruktion der hispanoamerikanischen Identität eine emanzipatorische, Rechte einfordernde Tradition ohne Raum und Zeit, in der Bartolomé de Las Casas und Francisco de Vitoria mit zeitgenössischen lateinamerikanischen Denkern geistig im Dialog stehen. Die Conquista, die Rassenprobleme, die Vision des Besiegten und der Befreiungskampf sind an eine Vergangenheit und eine Gegenwart geknüpft, die eine Einheit aus Sorgen und Hoffnungen b i l d e n . 2 5
2. Die Zivilgesellschaft
ohne Staat
Das spanische Vorgehen in Amerika enthält ein unübersehbares Paradox. Auf der einen Seite war die spanische Unternehmung ein Paradebeispiel für ein nationales, staatliches Unterfangen, das in scharfem Gegensatz zu anderen Kolonisationsmodellen wie dem angelsächsischen und dem holländischen stand, die überwiegend auf privater Basis stattfanden und von religiösen Sekten oder Handelsgesellschaften durchgeführt wurden. Im Unterschied zum inoffiziellen, privaten Charakter der britischen und holländischen Expeditionen, die fast ausschließlich in den Gewinn- und Verlustrechnungen der beteiligten Gesellschaften dokumentiert sind, mußte jede spanische Expedition strengen Rechtsvorschriften genügen sowie fortlaufend und im Detail schriftlich protokolliert wer24 L Zea , Einführung in das Werk von H. Cerutti (zit. Anm. 23) S. 14; zu den genannten philosophischen Positionen vgl. auch Leopoldo Zea , Dependencia y liberaci on en la Filosofia Latinoamericana, in: Diànoia (Mexiko) 20 (1974), S. 172 ff., sowie den Sammelband La filosofia actual en América Latina, Mexiko: Grijalbo 1976. 25 Ich folge hier H. Cerutti (zit. Anm. 23) S. 167.
IV. Amerika aus der Sicht der spanischen Naturrechtler
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den, so daß hierüber eine Dokumentation vorliegt, von deren Umfang die Indien-Archive von Sevilla oder von Simancas beredtes Zeugnis geben. "Wer sich einmal eine Weile mit dem großen Staatsarchiv von Simancas befaßt hat", so meint John H. Elliot, "ist unweigerlich beeindruckt von der erdrückenden Menge von Dokumenten, die von der spanischen Verwaltungsmaschinerie des 16. und 17. Jahrhunderts erstellt wurden. Das habsburgische Spanien war ein Pionier des modernen bürokratischen Staates, und die Präsenz des Staates ist in jedem Augenblick der Geschichte Spaniens und seiner überseeischen Besitztümer s p ü r b a r . " 2 6 Auf der anderen Seite waren aber die Beziehungen zwischen der spanischen Monarchie und Amerika deutlich patrimonialistisch geprägt. Die Unterwerfung Hispanoamerikas unter die Krone wurde nach Maßgabe von Rechtskategorien, die der mittelalterlichen Tradition entstammten, als Ausdehnung des königlichen Besitzes a u f g e f a ß t . 2 7 Das blieb nicht ohne Folgen: "Wenn der Staat Eigentum des Königs ist, warum soll er nicht auch das seiner Verwandten, seiner Freunde, seiner Bediensteten und seiner Günstlinge sein? In Spanien wurde der Premierminister bezeichnenderweise Privado (Günstling) g e n a n n t . " 28
Diese Auffassung machte die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten fließend; und das Feudalsystem der Landgüter wurde in Form der sogenannten encomiendas auf Amerika übertragen. Dabei handelte es sich um die Verteilung der Indios und ihres Landes auf die Conquistadoren, womit die Bewirtschaftung des Landes und Schutz und Ausbildung der Indios gewährleistet werden sollte. Das System erwies sich als ebenso geeignet zum Erreichen des ersten wie ungeeignent zum Erreichen des zweiten Zieles; es kam zu zahlreichen Mißbräuchen, bei denen sich die encomenderos auf Kosten der Indios bereicherten. Die encomienda bedingte, daß die Beziehungen zwischen der Krone und ihren indianischen Untertanen nicht mehr unvermittelt waren, und führte zur Privatisierung des Steuerwesens und der Ausübungrichterlicher Kompetenzen. Zunächst wurden die encomiendas befristet gewährt. Mitte des 16. Jahrhunderts traten jedoch die encomenderos von Peru in Verhandlungen mit Kaiser Karl V., um gegen eine beträchtliche Summe (fünf Millionen Golddukaten) als Lehenszins die Abschaffung der Befristung zu erreichen. Die Verurteilung und Anprangerung der encomienda ist ein Thema, das Bartolomé de Las Casas so engagiert betrieb, daß er zum geistigen Mentor all derer 26 J. H. Elliot , Espana y su mundo, 1500-1700, übers, von A. Rivero und X. Gil, Madrid: Alianza 1990, S. 14. 27 Vgl. J. Marnano , La incorporación de las Indias a la Corona de Castilla, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1948, passim. 2 ® O. Paz , El ogrofilantropico (zit. Anm. 21) S. 99 (dt.: S. 85).
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
wurde, die gegen dieses System kämpften. Der Kern von Las Casas' Argumentation beruht auf humanitären Motiven, die sich auf die Erhaltung von Freiheit und Sicherheit der Indiosrichteten,aber im Zuge der Errichtung und Begründung seines Argumentationsgebäudes formuliert er Grundsätze von enormer rechtlicher und politischer Relevanz. 2 ^ Der für die vorliegenden Zwecke wichtigste davon ist, daß Souveränität und Rechtsprechung öffentlich, demokratisch und unveräußerlich sind. Nach Las Casas bedeutete das System der encomienda nicht nur die Ausrottung der Indios, sondern auch die Schwächung der durch die Krone repräsentierten Staatsgewalt, da hier Untertanen und Steuerzahlungen an private Gewalten (eben die encomenderos) abgetreten wurden.30 Um dies zu verhindern, tritt er dafür ein, daß der König "für alle Indios Indoamerikas Sorge trage und sie seiner königlichen Krone unterstelle und keineswegs seine Zustimmung dazu gebe, daß irgendein Spanier eine mehr oder weniger große Anzahl von encomendados erhält, und schon gar nicht als Lehen ..."31 Las Casas hält es für notwendig, daß die Indios "immer unmittelbar unter der Krone von Kastilien stehen, so wie die freien, nur dem König unterstellten Städte und Ortschaften dieses Spanischen R e i c h e s " , 3 2 und daß sie ihre Steuern und Abgaben direkt, ohne Vermittlung durch die encomenderos, an den König zahlen. Nur so würde der König seiner Pflicht "zur guten Regierung und Bewahrung jener Völker" nachkommen.33 Bartolomé widmete den Hauptteil seiner Abhandlung De regia potestate der juristischen Begründung des öffentlichen Charakters der Rechtsprechung und des Steueraufkommens. Nach seiner Argumentation "besitzt der Fürst nicht die Rechtsgewalt, als wäre sie ein Privateigentum; sie und die anderen königlichen Besitztümer sind nicht sein Eigentum, sondern gehören dem Staat."34 Las Casas insistiert auf dem unveräußerlichen, nicht disponiblen Charakter von Souveränität, Jurisdiktion, öffentlichen Gütern und Ämtern sowie letztlich des Reiches insgesamt oder in jedem seiner Teile. Was seine Argumentation jedoch noch interessanter und weitsich29
Vgl. das Kapitel über "Demokratie und Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas". 30 Vgl. B. de Las Casas, Aqui se contienen treinta proposiciones muy juridicas, in: Obras escogidas de fray Bartolomé de Las Casas, 5 Bde., hg. von J. Pérez de Tudela, Biblioteca de Autores Espanoles, Madrid: Atlas 1957-58, Bd. V, Ptopositionen XXVIII und XXIX, S. 255 ff.; ders., Tratado de las doce dudas, ebd., Erster Grundsatz, S. 486 ff., sowie Grundsätze V bis VIII, S. 492 ff. 31 B. de Las Casas, Entre los remedios, in: Obras escogidas (zit. Anm. 30), Bd. V, Zweiter Grund, S. 72. 32 B. de Las Casas, Memorial del Obispofray Bartolomé de Las Casas yfray Domingo de Santo Tomas, in: Obras escogidas (zit. Anm. 30), Bd. V, S. 466. 33 Ebd. 34 B. de Las Casas, De Regia Potestate, in: Obras escogidas, Madrid: Alianza 1990, Bd. 12, S. 105, Dritte Folgerung, XII.
IV. Amerika aus der Sicht der spanischen Naturrechtler
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tiger macht, ist, daß hier der öffentliche Charakter der Institutionen einschließlich des Reiches oder Staates insofern, als sie einer auf die Zustimmung der Bürger gegründeten demokratischen Struktur entsprechen müssen, eine Grundvoraussetzung für den Genuß der Freiheiten ist. 35 Nach der Unabhängigkeit bleiben gewisse Formen der "Neo-Encomienda" bestehen, die die Bildung echter Staaten be- oder gar verhindern. Es ist nicht zu vergessen, daß der Befreiungsprozeß ein Kampf um Macht und Freiheit, aber in nicht geringerem Maße auch um Land war. Die Elite der kreolischen Landbesitzer trat an die Stelle der kolonialen Eigner. Die Gründung der großen Landgüter ging mit der Schaffung der neuen Staaten einher. Die Ambitionen der neuen Elite wurden mit der Zuteilung von öffentlichen Ämtern und Gewalten befriedigt. Das Phänomen der Abtretung und Privatisierung von Hoheitsrechten, das Las Casas beklagt hatte, setzte sich in den Großgrundbesitzen fort, die die schlechtesten Merkmale der encomienda übernahmen. Oft wurde daran erinnert, daß "während und nach den Unabhängigkeitskriegen bestimmte Kräfte sich durchsetzten, die der Errichtung von Nationalstaaten nicht gewogen waren. Die Landgüter waren eine der vielenrivalisierenden Macht- und Loyalitätsbasen, die für die staatlichen Institutionen eine Herausforderung darstellten; die Landarbeiter waren ihrem Dienstherrn verpflichtet, dessen Macht unmittelbar und dessen Entscheidungen endgültig waren. Auch korporative Privilegien wirkten zum Nachteil des Staates. Die Existenz militärischer und kirchlicher Sonderrechte und das Weiterbestehen indianischer Gemeinden als korporative Einheiten führten dazu, daß große Teile der Gesellschaft außerhalb der direkten Hoheit des Staates standen. Auch der Separatismus und die regionale Autonomie, hinter der oft bedeutende Wirtschaftsinteressen standen, stellten eine alternative Souveränität dar, die die Entwicklung der Nation behinderte."36 Man kann behaupten - als Student hörte ich diese Behauptung in den Vorlesungen von Manuel Jiménez de Parga -, daß in Lateinamerika nicht eigentlich 35
Ebd. S. 99 ss., Dritte Folgerung, XII bis XXIII. Lynch, Las revoluciones hispanoamericanos, 1808-1826 (zit. Anm. 11) S. 346. Vgl. auch Peter Waldmann, Ensayos sobre politica y sociedad en América Latina, übers, von E. Garzón Valdés und M. Delacre, Barcelona und Caracas: Alfa 1983, S. 37: "Eine Hazienda ist streng hierarchisch strukturiert; erstens legt sie eine klare Rollenverteilung zwischen denen, die befehlen, und denen, die gehorchen, fest; zweitens wird die höchste Entscheidungsgewalt nur von einer Person, dem Besitzer, ausgeübt; und drittens ist diese Macht exklusiv und allumfassend, d. h. sie erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und kann durch keine andere Gegenmacht neutralisiert werden." Es ist schon erstaunlich, daß die sozialen, politischen und rechtlichen Probleme, die Las Casas schon vor vierhundert Jahren in bezug auf die encomienda anprangerte, in der heutigen Struktur der lateinamerikanischen Landgüter fortbestehen. 36
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
Staaten existieren. Es gibt keine souveränen Organisationen, die das Monopol über eine politische Macht hätten, welche super partes, d. h. nach Maßgabe abstrakter Kriterien des Allgemeinwohls und vermittels eines institutionellen und normativen (juristischen) Apparates, ausgeübt wird. Die politischen Formen Lateinamerikas entsprechen vielmehr der Struktur der Zivilgesellschaft. repräsentiert die Menge aller Bedürfnisse und Interessen, die sich in Beziehungen zwischen Individuen in ihrer Eigenschaft als Privatpersonen ausdrücken. Hegel, der Hauptvertreter dieser Konzeption, machte einmal eine Bemerkung über den Grundcharakter Nordamerikas, die noch sehr viel besser auf Hispanoamerika paßt: er bestehe "in der Richtung des Privatmanns auf Erwerb und Gewinn [...], in dem Ueberwiegen des particularen Interesses, das sich dem Allgemeinen nur zum Behufe des eigenen Genusses zuwendet".37 Die Verblendung von José Ortega y Gasset bezüglich der Reife der "Staatsidee" in Argentinien38 oder von Octavio Paz mit seiner Definition Mexikos als "eine schwache Gesellschaft, beherrscht von einem starken Staat"39 beruht auf einem Mißverständnis. In den genannten Ländern gab es, wie auch im Rest Hispanoamerikas, das Phänomen einer stark konzentrierten Macht der Exekutive, die durch den geistigen Vater der argentinischen Verfassung, Juan Bautista Alberdi, theoretisch begründet wurde;40 aber was fehlte, war die institutionalisierte "öffentliche" Ausübung dieser Macht auf eine Weise, wie sie eigentlich erst den Staat definiert. Zu Recht hat man festgestellt, daß in Lateinamerika "der Vorstellung von Demokratie und Rechtsstaat, wonach das Recht und die Institutionen den gleichförmigen Ablauf der politischen Prozesse garantieren, die Behauptung entgegensteht, daß allein Individuen gesellschaftliche Stabilität gewährleisten können".4! Deswegen wird Ortegas Eindruck von der Reife des Staatsgedankens in Argentinien sogleich dadurch wieder abgewertet, daß er einräumt, in der Verwaltung dieses Landes gebe es "häufig Unregelmäßigkeiten".42 Ähnlich relativiert sich auch das Urteil von Octavio Paz über die Stärke des mexikani37
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 3. Aufl., Stuttgart: Fr. Frommanns 1949, S. 127. 38 / Ortegay Gasset, El Espectador VII, in: Obras complétas, Madrid: Alianza - Revista de Occidente 1983, Bd. 2, S. 643. 39 O. Paz, El ogro filantropico (zit. Anm. 21) S. 87 (dt.: S. 68). 40 Vgl. die interessante Arbeit von Avelino Manuel Quintas , Alberdi y el poder ejecutivo (Realidad latinoamericana e ideas latinoeuropeas), in: Revista de Estudios Politicos (Madrid) 49 (1986), S. 215 ff. 41 P. Waldmann , Ensayos sobre politica y sociedad en América Latina (zit. Anm. 36) S. 19. 42 J. Ortega y Gasset (zit. Anm. 38) S. 643.
I V . Amerika aus der Sicht der spanischen Naturrechtler
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sehen Staates, wenn er zugibt, daß "[in] Mexiko ... der Staat der doppelten Bürokratie [gehört]: der Verwaltungstechnokratie und der Politicaste".43 Mit letzterer ist "das heterogene Konglomerat von Freunden, Günstlingen, Verwandten, Vertrauten und Protégés" gemeint; sie impliziert also de facto die Privatisierung der Ausübung der Staatsgewalt, die weniger nach Maßgabe ideologischer Programme als vielmehr nach "Gruppen- und Privatinteressen" handelt.44 In anderen Ländern Lateinamerikas zeigt sich das Paradox "Privatisierung des Öffentlichen", wie etwa in Peni, in den Phänomenen der "extralegalen Normativität", die auf die Unfähigkeit der Staaten hinweist, die Grundbedürfhisse der Gesellschaft auf dem formal vorgeschriebenen Rechtsweg zu sichern.45 Unter diesen Umständen sieht sich die Zivilgesellschaft gezwungen, die fehlende Präsenz oder Kompetenz des Staates zu ersetzen, indem sie versucht, das Fehlen eines einklagbaren formalen Rechts durch außerstaatliche Normen zu kompensieren, die ausschließlich auf gesellschaftlichem Wege garantiert werden - mit den entsprechenden unerwünschten Begleiterscheinungen und Rechtsunsicherheiten.
3. Strukturelle
Gewalt
Die Verurteilung der durch die Conquista erzeugten Gewalt war eines der immer wiederkehrenden Anliegen bei den mit der Problematik Amerikas am meisten befaßten spanischen Klassikern. Man denke nur an das pathetische Zeugnis Vitorias, wenn er dem Pater Manuel de Arcos beichtet, daß hinsichtlich der in Hispanoamerika verübten Untaten "mir schon bei ihrer bloßen Vorstellung das Blut in den Adern gefriert". 46 Das Anprangern dieser vernichtenden Gewalt und das Formulieren von Korrekturvorschlägen ist bekanntlich der Kern von Leben und Werk Bartolomé de Las Casas'. Seine Brevisima relation de la destruction de las Indias ist ein hemmungsloses, herzzerreißendes Plädoyer gegen die Gewalt. Er spricht hier von der "Ermordung und Vernichtung unschuldiger Menschen, der Entvölkerung von Städten, Provinzen und Rei43
O. Paz, El ogro filantropico (zit. Anm. 21) S. 89 (dt.: S. 70). 44 Ebd. S. 93 f. (dt.: S. 78). 45 Vgl. dazu das interessante Werk von Hernando de Soto u. a., El otro sendero. La revolución informal, mit einem Vorwort von Mario Vargas Llosa, Lima und Bogota: Instituto Libertad y Democracia 1986. Zu den Aspekten, die dabei den Genuß der Menschenrechte beeinträchtigen, vgl. A. Thimm, Necesidades basicas y derechos humanos, in: Doxa (Alicante/Madrid) 7 (1990) S. 86 ff. 46 Carta de Francisco de Vitoria al padre Arcos sobre negocios de Indias, in: F. de Vitoria, Relectio de Indis, Edition von V. Beiträn de Heredia, L Perefia, J. M. Pérez Prendes, A. Truyol y Se und T. Urdanoz, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1967, S. 139.
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
chen, die dort [er meint Amerika] begangen wurden, und all die anderen, nicht weniger schrecklichen Dinge" sowie von den "ausgesuchten Formen von Grausamkeit", die in jenem Erdteil verübt w u r d e n . 47 Nach Meinung von Las Casas gab es zwei Arten verallgemeinerter Gewaltanwendung gegen die amerikanischen Eingeborenen: "die eine durch Unrechte, grausame, blutige und tyrannische Kriege. Die andere, nachdem alle tot waren, die auf Freiheit hätten hoffen oder an sie oder an ein Ende der Torturen, die sie erlitten, denken können,... dadurch, daß sie sie in der härtesten, schrecklichsten und brutalsten Knechtschaft unterdrückten, in die jemals ein Mensch oder Tier geraten konnte".48 Las Casas sah in den 1542 erlassenen "Indien-Gesetzen" ein Korrekturmittel für derartige Gewalttätigkeiten. Dank dieser Gesetze sei "die Ordnung hergestellt worden, die damals angemessen schien, damit all diese Untaten und Sünden gegen Gott und unsere Nächsten aufhörten, die zum völligen Verderben und Untergang jenes Erdteils stattfanden". Die Krone formulierte diese Gesetze "nach zahlreichen Versammlungen von Persönlichkeiten von großer Autorität, Gelehrsamkeit und Gewissenhaftigkeit, nach Disputen und Vorträgen in der Stadt Valladolid, und schließlich mit Zustimmung und Wohlgefallen aller, die ihr Urteil schriftlich abgaben und die den Regeln des Gesetzes Jesu am nächsten standen ..." Diese Gesetze und die "guten Richter", die sie anwenden sollten, wurden konfrontiert von den habgierigen "äußerst grausamen und hemmungslosen Tyrannen" in Amerika, die "Scham und Gehorsam gegenüber ihrem König" verloren hatten und die verhinderten, daß die genannten juristischen Maßnahmen ihre positiven Auswirkungen entfalten konnten.49 So war "die Neue Welt..., die von Gott und seiner Kirche den Königen von Kastilien übertragen worden war, damit diese sie regieren und lenken, sie verwandeln und zu weltlicher und geistiger Blüte bringen sollten"50, angesichts der Unfähigkeit der Staatsmacht, ihre Schutzpolitik durchzusetzen, der Gewalt hilflos ausgeliefert, die von De-/acto-Machthabern in Verfolgung ihrer Partikularinteressen angewendet wurde. Verwundert muß man feststellen, daß auch mehrere Jahrhunderte später das vernichtende Urteil und der pessimistische Ausblick von Las Casas voll und ganz ihre Gültigkeit behalten. Erst kürzlich hat jemand bemerkt, daß "Latein47 B. de Las Casas, Brevisima relación de la destrucción de las Indias, in: Obras escogidas (zit. Anm. 30), Bd. V, S. 134. 48 Ebd. S. 137. 49 Ebd. S. 176. so Ebd. S. 135.
IV. Amerika aus der Sicht der spanischen Naturrechtler
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amerika dem Rest der Welt wie einriesiges,nie abzuschließenes 'Cahier de doléances' erscheint".51 Das Fehlen einer vermittelnden Staatsmacht, die auf demokratischer Partizipation beruht, erklärt, warum private Mächte und Gruppen zur Gewalt griffen, um ihre Vorherrschaft zu sichern. Mit den Worten von Octavio Paz: "So kam es zur Plage des Militarismus: das Schwert war die Antwort auf die Schwäche des Staates und auf die Macht der Parteien."52 Die Aufgaben der Streitkräfte entsprachen in Lateinamerika nach dem Ende der Unabhängigkeitskriege nicht mehr ihrer Größe und ihren Kosten. Das Bedürfnis, ihren eigenen Fortbestand zu sichern, führte sie sehr bald zu Meutereien und Plünderungen. Folglich "war die Armee - weit entfernt davon, Recht und Ordnung zu schaffen - oft die Hauptursache für Gewalt und Anarchie". Da sie keine regelmäßigen, unabhängigen Einkommensquellen besaßen, erlagen die militärischen Führer der Versuchung, selbst die Macht zu übernehmen. So "wurde Lateinamerika zur Wiege des Putschs und des Caudillo" 5 3 Das Caudillo- Wesen war keine Folge der Kolonialgesellschaft, sondern trat in dem Moment auf, als infolge der Unabhängigkeitskriege die Ordnung und die Institutionen des Kolonialstaates zerstört waren und zahlreiche Gruppierungen miteinanderrivalisierten, um das Machtvakuum zu füllen. Das Phänomen des caudillismo zeigte die Schwäche der staaüichen Institutionen, die unfähig waren, den Platz der Kolonialregierung einzunehmen. Der caudillismo erweist sich als autoritäres System ohne institutionelle Wurzeln, das ganz auf der Ausübung persönlicher Führerschaft beruht.54 Seine beiden Grundmerkmale - der Personalismus und das Fehlen einer institutionellen Basis - machen viele der politischen Defizite Hispanoamerikas verständlich. Der Personalismus bedingt eine Privatisierung der Machtausübung, die zu klientelistischen Formen der Zuteilung öffentlicher Ämter und Funktionen führt; die "Klienten" halten es für "sehr viel sicherer, das persönliche Versprechen eines Caudillo zu akzeptieren als die anonyme Garantie einer Institution der Legislative oder Exekutive".55 Die fehlende Institutionalisierung bedingt die grundlegende Instabilität der Regierung, weil sie zu einem ständigen Wechsel von Aufstieg und Fall der Machthaber führt, mit sehr geringer Partizipation der Volksmassen (bis auf die bekannten Ausnahmen bei Zapata, dem Sandinismus, dem Peronismus und dem Castrismus), 51 R. Carrion, Reconocimiento juridico y fundamentación filosofica de los derechos humanos en América Latina, in der monographischen Nummer Derechos Humanos en América Latina der Anales de la Câtedra Francisco Suârez 26-27 (1986-87) S. 13. 52 O. Paz , El ogro filantropico (zit. Anm. 21) S. 87 (dt.: S. 68 f.). 53 J. Lynch , Las revoluciones hispanoamericanas 1808-1826 (zit. Anm. 11) S. 346.
54 P. Waldmann , Ensayos sobre politica y sociedad en América Latina (zit. Anm. 36) S. 35 ff. 55
J. Lynch , Las revoluciones hispanoamericanas 1808-1826 (zit. Anm. 11) S. 348.
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Kapitel V Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
weswegen diese politischen Wechsel - bis auf die erwähnten Ausnahmen - eigentlich keinen revolutionären Gehalt haben. Das führt dazu, daß strukturelle Gewalt zu einem unüberwindlichen Merkmal des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Hispanoamerika geworden ist. Das Fehlen wirklich öffentlicher und fest institutionalisierter Kanäle hat dazu geführt, daß das Gesetz der politischen Gewalt herrscht. In den letzten Jahrzehnten sind daraus zahlreiche, ganz unterschiedlich ausgerichtete terroristische Aktivitäten g e w o r d e n . 5 6 Die großen Probleme Amerikas, wie sie schon die Diagnose der Klassiker aufzeigten, bestehen bis heute fort und haben sich oft sogar verschlimmert; auch manche der damaligen Lösungsvorschläge haben ihre Aktualität nicht verloren. Zwischen den verschiedenen Problemen bestehen außerdem erhebliche Wechselwirkungen. Das Fehlen einer auf ein geteiltes soziales Ethos gegründeten kollektiven Identität hat die Entstehung echter Staaten erschwert, in denen der Vorrang des Gemeinwohls die Konfrontation privater Interessen überwindet; und dieser Mangel hat zu einer Folge von Gewaltphänomenen geführt. Wollte man in den Lehren der klassischen spanischen Naturrechtler ein hinreichendes, vollständiges Rezeptbuch zur Heilung dieser Probleme sehen, so liefe man Gefahr, in historischen Anachronismus zu verfallen. Genauso falsch wäre es aber, sie zu ignorieren. Die Geschichte im allgemeinen und folglich auch die Ideengeschichte kennt kein Reservoir von Lösungen, die auch für die Gegenwart und die Zukunft gültig wären; aber sie gibt Auskunft über vergangene Erfolge und Fehler, und deren Kenntnis bildet ein Grundelement der kulturellen, rechtlichen und politischen Erfahrung der Menschen und der Völker.
V. Die Klassiker am Scheideweg der Auseinandersetzung über Licht und Schatten der Begegnung mit Amerika
Wegen ihrer entscheidenden Bedeutung für die Geschichte der Menschheit hat die Begegnung zwischen den Kulturen der Alten und der Neuen Welt bis heute eine Fülle von Emotionen und Meinungen hervorgebracht. Im Spanien des 16. Jahrhunderts führten die ersten Nachrichten aus Amerika zu einer keineswegs auf die Minderheit der Intellektuellen beschränkten gesellschaftlichen Erschütterung. "Die einfachen Leute, die in hohem Maße Analphabeten waren, ließen sich von den mündlich an Gruppen von Neugierigen überlieferten, oft 56
Vgl. P. Waldmann, Ensayos sobre politica y sociedad en América Latina (zit. Anm. 36) S. 31 ff. und 157 ff.; ders., Guerrillabewegungen in Lateinamerika: Das Beispiel des Sendero Luminoso (Peru), in: Revolution und Krieg, hg. von D. Langewiesche, Paderborn u. a.: Schöningh 1989, S. 171 ff., das mir der Autor dankenswerterweise überlassen hat.
V. Licht und Schatten der Begegnung mit Amerika
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weniger sachgetreuen als übertriebenen Berichten über die Neue Welt gefangen nehmen ..."57 So entsteht in der Vorstellung des einfachen Volkes der fabelhafte Mythos vom Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen, zusammen mit der nicht weniger phantastischen Illusion vom Eldorado, das die Abenteuerlust der Eroberer so entscheidend beeinflußte. Unausweichlich wurde Amerika mit der Erlangung ungeheurer Reichtümer gleichgesetzt. "Indoamerika und die Edelmetalle bilden ein lebendiges, unzertrennliches Ganzes: so besagt es der Weg von Sevilla zum Hofe, der seit dem 16. Jahrhundert im Volksmund als 'der S Überweg' bekannt ist."58 Diese habgierige Einstellung fand unmittelbaren Widerhall im ethischen Bewußtsein der iberischen Gesellschaft. Das Theater von Lope de Vega - oft ein Sprachrohr für die Anliegen des Volkes - geht in einem Werk mit dem bezeichnenden Titel Die Neue Welt unmißverständlich auf dieses Phänomen ein; dort proklamiert eine der Figuren: "Der Köder des Goldes, von dem der große Dichter sagt, daß kein Alter und keine Würde sich seiner Fesselung entzieht, fesselt heute der Neuen Welt Schatz."59 An anderer Stelle in derselben Komödie legt er einem Indio einen Fluch gegen die mit der Conquista entfesselte Gewalt in den Mund, der eines Las Casas würdig wäre: "Oh ihr schändlichen, unmenschlichen Leute, Bestien, jedes Erbarmens entkleidet, mit einem Fell von christlichem G e s e t z ! " 6 0 In einem anderen Drama, das in Indoamerika spielt, Arauco domado, läßt Félix Lope de Vega y Carpio den Indio Tucapel die Habgier der spanischen Eroberer anprangern: "Diebe, die ihr gekommen seid, das Gold aus unserer Erde zu rauben, und, um den Krieg zu verschleiern, behauptet, daß ihr Karl V. dient: Welche Unterwerfung verlangt ihr von uns?"61 Die Verurteilung der in Amerika begangenen Untaten war seit der ersten Begegnung mit den neu entdeckten Gebieten ein lobenswerter Akt der Selbstkritik der spanischen Kultur und Gesellschaft des 16. Jahrhunderts. Zur Ehrenrettung der spanischen Position ist hervorzuheben, daß sich in der Geschichte der Völ57 D. Ripodas Ardanaz , Influencia del teatro menor espanol de los siglos XVI y XVII sobre la imagen peninsular de lo indiano, Einführung in den Band über Lo indiano en el teatro menor espanol de los siglos XVI y XVII, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 301, Madrid: Atlas 1991, S. IX. 58 Ebd. S. LXX. 59 La famosa comedia de El Nuevo Mundo descubierto por Cristobal Colon, Dritter Akt, Terrazas, in: Obras de Lope de Vega, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 215, Madrid: Atlas 1968, S. 158. 60 Ebd., Dritter Akt, Dulcanquellin, S. 169. 61 Arauco domado, Erster Akt, Tucapel, in: Obras de Lope de Vega, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 225, Madrid: Atlas 1969, S. 247.
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
ker kaum je ein solches kollektives Bemühen um ein Überdenken der eigenen Interessen zugunsten der Unparteilichkeit findet. Trotz der häufigen gewalttätigen Übergriffe der Conquistadoren konnte daher behauptet werden, "wie das wichtigste Erbe Griechenlands die Philosophie und das Erbe Roms das Recht war, so war das wichtigste historische Erbe Spaniens die Gerechtigkeit"62; allerdings wäre es vielleichtrichtiger, in Anlehnung an Lewis Hanke von einem "Kampf um Gerechtigkeit bei der Eroberung Amerikas" zu sprechen.63
Die später von den Gegnern Spaniens vorgebrachte Kritik konnte so durch Verweis auf die Schriften von Spaniern selbst die sogenannte "schwarze Legende" ins Leben r u f e n . 6 4 Solche Kritiken sind aber in den meisten Fällen von Vorurteilen oder antispanischen politischen Interessen verzerrt, die starke Zweifel an ihrer Objektivität wecken. Man denke nur daran, daß der Italiener Girolamo Benzoni mit Hilfe von Anleihen - die gelegentlich bis zum dreisten Plagiat gehen - bei Las Casas' Brevisima relación sobre la destrucción de las Indias seine Geschichte der Neuen Welt zusammenfabuliert hat, die auf eine globale Abwertung der spanischen Unternehmung in Amerika hinausläuft: "Überall, wo die Spanier hinkamen, waren sie aufgrund des schlechten Rufes, den sie sich von Anfang an erworben hatten, bei allen verhaßt und ungern gesehen; und so, indem die Indios ihre Freiheit zu verteidigen und die Spanier sie ihnen zu nehmen trachteten, kam es zur völligen Z e r s t ö r u n g . " 6 5 Das, was als ethische, rechtliche und politische Diskussion über die Legitimität der spanischen Präsenz in Hispanoamerika begonnen hatte, entwickelte sich schließlich zu einer allumfassenden kulturellen Auseinandersetzung mit den Argumenten für und gegen die Begegnung der Alten und der Neuen Welt. So stand dem übertrieben positiven Urteil von Francisco López de Gómara, der die Entdeckung für "das größte Ereignis seit Erschaffung der Welt" hielt,66 die pessimistische Einschätzung Michel de Montaignes gegenüber, der die Begegnung des europäischen und des amerikanischen Kontinents bedauert und ver62 C. Vinas y Mey, Las estructuras agrosociales de la colonización espanola en América, in: Anales de la Real Academia de Ciencias Morales y Politicas 46 (1969) S. 177. 63 L Hanke, The Struggle for Justice in the Spanish Conquest of America, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1949 (hier zitiert nach der Übers, von R. Iglesia, La luchapor la justicia en la conquista de América, Buenos Aires: Sudamericana 1949). « Ebd. S. 94. 65 G. Benzoni, Historia del Nuevo Mundo (1565), zitiert nach der Edition von M. Carrera, Madrid: Alianza 1989, S. 140. Die von Manuel Carrera in seiner Einführung vorgebrachte Kritik an der fehlenden historischen Strenge und Unparteilichkeit Benzonis ist äußerst aufschlußreich; vgl. S. 20 ff., 33 ff. und 42 ff. 66 F. Lopez de Gómara , Historia General de las Indias (1552), in: Historiadores de Indias I, Biblioteca de Autores Espanoles Bd. 22, Madrid: Atlas 1946, S. 156.
V. Licht und Schatten der Begegnung mit Amerika
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antwortlich macht für "[t]ant de villes rasées, tant de nations exterminées, tant de millions de peuples passez au fil de l'espée, et la plusricheet belle partie du monde bouleversée pour la negotiation des perles et du poivre ..." 67
Gegen Ende des dritten Jahrhunderts nach der Entdeckung Amerikas wurde die Auseinandersetzung auf Veranlassung des Abtes Raynal, der 1770 eine Geschichte über den Handel der Europäer mit Indien und Indoamerika verfaßt hatte,68 institutionalisiert; zwischen 1783 und 1789 organisierte er an der Akademie der Wissenschaft und Künste von Lyon einen Wettbewerb. Das den Teilnehmern aufgegebene Thema lautete: War die Entdeckung Amerikas ßr die menschliche Gattung nützlich oder schädlich? An der Ausschreibung beteilig ten sich unter anderen Mandrillon, Genty, Chastellux und Carle, die sich zwar nicht um die Verurteilung der von den Eroberern begangenen Untaten drückten, aber auch dem Wirken der Spanier für die Zivilisierung der Indios und dem der Jesuiten und Dominikaner - namentlich von Las Casas - zugunsten der Respektierung der Menschenrechte ihre Anerkennung nicht versagten. Was das Thema des Wettbewerbs betrifft, so neigten die meisten Teilnehmer zu einer Schlußfolgerung, die paradox anmutet: die Entdeckung Amerikas habe die Menschheit nicht glücklicher gemacht, aber den größeren Schaden hätten die europäischen Völker davongetragen. Dabei übersah man keineswegs die Leiden der Indios, die gezwungen wurden, auf ihrem eigenen Land für andere zu arbeiten; man vermied jedoch die Mystifizierung des "guten Wilden". Der Indio, der vor der Begegnung mit den europäischen Kulturen glücklich war, sei dies auf eine stupide und grausame Weise gewesen. Wahres Glück entstünde erst durch Kultur; daher sei das Glück des Wilden ein Pseudo-Glück, das Ergebnis dumpfer Bewußtseinslosigkeit. Die Europäer und besonders die Spanier seien die eigentlichen Opfer der Entdeckung gewesen. Der Preis für das Gold aus Amerika sei unermeßlich gewesen und mit Blut, Menschenleben und vielerlei Opfern bezahlt worden. Die Neue Welt habe mitnichten das Glück der Alten Welt gefördert, sondern vielmehr Habgier erzeugt, die gesellschaftliche Ungleichheit erhöht und zu endlosen Konflikten zwischen den Menschen und Völkern in Europa geführt. 69 67
M. de Montaigne, Des Coches, in: Essais, Livre III. G. Raynal , Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des européens dans les deux Indes, Amsterdam 1770. 69 Vgl. zu alledem die sorgfältige Darstellung von Henry Méchoulan , ^Fue util ο nocivo para el gènero humano el descubrimiento de América? La vision de Espana a través de los manuscritos del concurso de la Academia de Lyon 1783-1789, in: Anales de la Real Academia de Ciencias Morales y Politi cas 67 (1989-90) S. 217 ff. Vgl. auch die Arbeit von Charles M in guet, Aspectos de Las Ca68
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Kapitel V: Die Reaktion auf die Begegnung mit Amerika
Wenige Jahre später (1792) schrieb die Académie Française einen neuen Wettbewerb über den Einfluß Amerikas auf die Politik, den Handel und die S ten in Europa aus. Der anonyme Gewinner des Wettbewerbs hielt die Auswirkungen auf die Wirtschaft für vorteilhafter als im Bereich der Moral, wo sie ihm eher schädüch schienen. Aber selbst auf ökonomischem Gebiet wurde die Entdeckung als von zweifelhaftem Nutzen für die europäischen Völker angesehen: Hätte man die ungeheuren Anstrengungen, die die Europäer in Amerika machten, auf die Entwicklung in Europa selbst konzentriert, wären die Ergebnisse sicher sehr viel besser gewesen.70 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß "die Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert zeigte, daß es den Beteiligten weniger um eine sorgfältige historische Betrachtung des Beitrags der Neuen Welt zur wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Europas ging als vielmehr um die Bestätigung und Verteidigung ihrer eigenen Vorurteile über die Natur von Mensch und Gesellschaft".71 Dieser eurozentristische Ansatz der Geschichtsschreibung setzte sich im 19. und bis zum Beginn dieses Jahrhunderts fort. In der Abschätzung der Vor- und Nachteile der Entdeckung neigte man unbewußt zu einem Urteil, das an den Interessen Europas ausgerichtet war; es ging darum, die durch Amerika bedingten Kosten und Nutzen in der europäischen Geschichte aufzurechnen; der Verweis auf das Glück der Menschheit meinte eigentlich das Glück Europas. Die Krise des europäischen Imperialismus in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bedingte dann einen Perspektivenwechsel. Wer heute die Folgen der Eroberung abschätzt, stellt in der Regel Europa als schuldig dar; besonders Spanien wird für alle in den vergangenen fünf Jahrhunderten in Amerika eingetretenen Tragödien und Leiden verantwortlich gemacht.72 Diese Pendelbewegungen in der Bewertung der Auswirkungen der Begegnung auf die Völker und Kulturen zu beiden Seiten des Atlantik scheinen weder fruchtbar für die Geschichtsschreibung zu sein noch irgendeine theoretische oder praktische Bedeutung zu haben. Viel sinnvoller und zukunftsträchtiger sas en el siglo XVIII, in dem Sammelband Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas, Sevilla: Publicaciones de la Universidad de Sevilla 1974, S. 319 ff. 70 Vgl. 7. H. Elliot , El Viejo Mundo y el Nuevo 1492-1650, übers, von R. Sânchez Maniero, 2. Aufl., Madrid: Alianza 1990. S. 14 ff. 71 Ebd. S. 15. 72 Für eine detaillierte Darstellung der wichtigsten Positionen, wie sie im Zusammenhang mit der Begehung des fünfhundertsten Jahrestages der Entdeckung vertreten wurden, vgl. den Vortrag von Francisco Puy, 'Relectio de Indis olim Inventisi sobre el reencuentro entre Espana y América en 1992, veröffentlicht in den Akten des Kongresses der Professoren für Rechtsphilosophie zum Thema Europa y América en el Reencuentro de 1992 in La Ràbida (Huelva) und Sevilla im April 1991.
V. Licht und Schatten der Begegnung mit Amerika
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scheint es mir dagegen, die Beziehung zwischen Spanien und Hispanoamerika, die seit inzwischen fünfhundert Jahren besteht, als den Beginn einer Gemeinschaft von Lebensformen aufzufassen, die - wie Ortega sagte - "unabhängig von Willen und Launen besteht, die sie bestreiten oder zerstören wollen" und die zur "fortschreitenden Übereinstimmung in einem bestimmten Stil von Menschlichkeit" führt. 73 Diese Übereinstimmung in einer humanistischen Auffassung hat Octavio Paz in dem Weik von José Vasconcelos, dem Begründer der modernen Bildung in Mexiko, entdeckt, für den "die Rückkehr zur spanischen Tradition nichts anderes bedeutet als die Rückkehr zur Einheit Hispanoamerikas. Die Philosophie der 'kosmischen Rasse' (d. h. des neuen amerikanischen Menschen, der alle Rassengegensätze und den großen Konflikt zwischen Orient und Okzident überwindet) war nichts anderes als die natürliche Folge und die letzte Auswirkung des der Renaissance entsprungenen spanischen Universalismus".74 Eine detaillierte Darstellung der Auseinandersetzung um Licht und Schatten der Beziehungen Europas mit den amerikanischen Kulturen würde über die Zwecke dieser Arbeit hinausgehen, auch wenn die historische Bewertung des Erbes des klassischen spanischen Denkens selbst direkt von diesen Einstellungen zum Wirken der Spanier in Amerika beeinflußt ist. Dies hat zu zahlreichen Mißverständnissen geführt. Um ihnen zu entgehen, mag es nützlich sein, an die scharfsinnige Ermahnung Truyol y Serras zu erinnern, den Beitrag der spanischen Klassiker weder über- noch unterzubewerten: "Diese Autoren waren offenkundig nicht in der Lage, die unmenschliche Behandlung vieler Eingeborener durch skrupellose spanische Eroberer oder gar die Kolonisation selbst zu verhindern, wie ja auch die Schriften von Erasmus und Vives in der Alten Welt gegen die Grausamkeiten der Religionskriege oder gegen diese Kriege selbst nichts ausrichten konnten ... Es ist aber eine unbestreitbare Tatsache, daß Männer wie Vitoria und vor allem Las Casas die Untaten der Siedler ausdrücklich in der damaligen Öffentlichkeit anprangerten und daß ihr moralischer Protest untrennbar zur Conquista dazugehört. "75
73 J. Ortegay Gasset, En laInstitución Cultural Espanola de Buenos Aires, in: Obras complétas (zit. Anm. 38), Bd. 6, S. 241 und 244. 74 O. Paz , El laberinto de la soledad (zit. Anm. 20) S. 186 (dt.: S. 151). 75 A. Truyol y Serra , Espana y la protección juridico-internacional de los derechos humanos, in: Estado & Direito 4 (1989) 2, S. 9. 11 Pérez Lufio
Kapitel VI Demokratie und Menschenrechte bei Bartolome de Las Casas I. Gehalt und Interpretationen von Las Casas' Lehren
Es gibt menschliche Schicksale, die eng mit einem bestimmten Ort oder einer bestimmten Fragestellung verbunden sind. Solcher Art scheint auch das Schicksal von Pater Bartolomé de Las Casas gewesen zu sein, dessen Name untrennbar mit der ethischen und rechtlichen Problematik verbunden ist, die sich aus der Eroberung Amerikas ergab.1 Es mag gewagt scheinen, die Gestalt von Bartolomé de Las Casas durch das Prisma der Rechts- und Staatsphilosophie zu betrachten, wie dies hier getan werden soll. Die Persönlichkeit Las Casas' geht selbstverständlich weit über die dogmatischen Grenzen theoretischer Erörterung hinaus, wenn man an das breite Spektrum seiner Anliegen und Ziele denkt. Man könnte sogar durchaus behaupten, daß seine Überlegungen über das Recht und die politischen Probleme für ihn eine instrumenteile Funktion besaßen und den praktischen Zwecken untergeordnet waren, die sein Leben prägten, d. h. vor allem dem Kampf um das Wohl der Indios. Diese Umstände sollten jedoch nicht überdecken, daß Las Casas unbestreitbar auch ein Gerechtigkeitstheoretiker und ein politischer Denker war. Diese Seite seines Lebens und Werkes machen ihn zu einem wichtigen Exponenten naturrechtlicher Lehren demokratischer Ausrichtung, zu deren Entwicklung er erheblich beitrug. In dieser Hinsicht ist sein Beitrag zur historischen Entwicklung der Rechts- und Staatsphilosophie zu beurteilen. Die Lehre vom Naturrecht stellt einige der wichtigsten Aspekte im Denken des Schutzherrn der Indios gegeneinander; es kann daher nicht verwundern, daß ihre Analyse all die in der Literatur über Las Casas aufgeworfenen Schwierig1 Dies wird etwa in verschiedenen neueren Arbeiten betont, ζ. B. in dem Sammelband La Etica en la Conquista de América, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1984, oder in dem interessanten Aufsatz von E. Garzón Valdés , Die Debatte über die ethische Rechtfertigung der Conquista, in: J. Bähr u. a. (Hg.), Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonialisierung Amerikas, Frankfurt a. M. 1991, S. 55-70.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
keiten mit sich bringt. Im naturrechtlichen Ansatz spiegeln sich einige der auffälligsten Züge der leidenschafüichen und konfliktträchtigen Persönlichkeit von Las Casas, während zugleich Fragen aufgeworfen werden, die - wie etwa die nach den Beziehungen zwischen Menschen von unterschiedlichem historischem Niveau - unbestreitbar rechtliche und politische Relevanz haben. Der Schwierigkeit einer Analyse der naturrechtlichen Vorstellungen von Las Casas steht der Vorteil gegenüber, daß sie eine umfassende Betrachtung seiner Lehren erlaubt. Es geht also um einen heimeneutischen Weg, der das Verständnis für verschiedene Grundaspekte des Entstehungs- und Entwicklungsprozesses des umfassenden, komplexen Werkes des Bischofs von Chiapas erleichtert. Die naturrechtliche Lehre von Las Casas verlangt folglich ein Inteipretationsprinzip, das die vermeintlich unauflöslichen Widersprüche aufhebt, die bei einer bestimmten Auslegung als Quintessenz einer Analyse auftreten, die nicht unbedingt zur Klärung des Phänomens Las Casas beigetragen hat. Methodisch gesehen bedeutet die Übernahme der naturrechtlichen Auffassung Las Casas' als Bezugspunkt zudem einen deutlichen Fortschritt für eine allgemeine Darlegung seines Denkens. Bei diesem Weg der Annäherung erscheint Pater Bartolomé nicht mehr als isolierte Gestalt, deren Werk die Frucht individuellen Heldentums ist, sondern er wird in den ideologischen, religiösen, rechtlichen und politischen Kontext gestellt, der seinem Zeugnis authentischen Sinn verleiht. Das Denken von Las Casas erweist sich so als eng verwandt mit einer theoretischen Tradition, deren Wurzeln bis ins Mittelalter reichen und deren Struktur und Reife im Rahmen der Auseinandersetzung über Indoamerika deutlich zum Vorschein kam. Zu Recht ist bemerkt worden, daß die Persönlichkeit von Las Casas ohne Bezug auf das gesamte Vorgehen Spaniens in Amerika überhaupt nicht zu verstehen wäre.2 Darüber hinaus ist immer wieder zu betonen, daß der Dominikaner Las Casas mit seinen theoretischen Vorstellungen eng an die historische Entwicklung des thomistisch-intellektualistischen Rechtsnaturalismus3 und ganz besonders an dessen Neubelebung durch die Theologen-Juri2
L Hanke schrieb dazu etwa, daß "man zur genauen Bestimmung des Beitrags von Las Casas und seiner Position in der Welt niemals vergessen darf, daß Spanien seine Kampagne zugunsten der Indios ermöglicht hat und daß einer der bemerkenswertesten Aspekte der Conquista die Haltung der Spanier gegenüber den Indios war"; vgl. La fama de Bartolomé de Las Casas, in: Anuario de Estudios Americanos XXIII (1966) S. 8. 3 Die thomistische Neigung von Las Casas ist von verschiedenen dogmatischen Ansätzen aus angezweifelt worden. Dies gilt etwa für A. M. Fabié , der in seinem Vida y escritos de Fray Bartolomé de Las Casas, Obispo de Chiapa, Madrid: Ginesta 1879, Bd. I, S. 277, die Originalität der Lehren von Las Casas gegenüber den rechts- und staatsphilosophischen Vorstellungen des Aquiners betont hat. Heute ist allerdings die entgegengesetzte These vorherrschend, die also die aristotelisch-thomi-
I. Gehalt und Interpretationen von Las Casas' Lehren
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sten von Salamanca gebunden war, deren geistiger Einfluß auf den Bischof von Chiapas unübersehbar ist.4 Der Mut, den Las Casas gezeigt hat, indem er aus diesen Vorgaben die äußersten emanzipatorischen Konsequenzen zog, und sein leidenschaftliches Engagement zugunsten eines militanten Humanismus haben um seine Gestalt ganze Bibliotheken der Auseinandersetzung entstehen lassen. Wie jedes differenzierte und folgenreiche Denken ist auch seine Lehre Gegenstand der unterschiedlichsten Interpretationen geworden, die von schwärmerischer V e r e h r u n g ^
stischen Grundlagen des lascasianischen Denkens bestätigt. Wie sich noch zeigen wird, entspricht diese These auch eher der Entstehung und Entwicklung der naturrechtlichen Vorstellungen von Las Casas. Man muß O. C. Stoetzer darin zustimmen, daß "der Schlüssel zum Denken von Las Casas in seiner Betonung der Freiheit hegt, die sich auf die Definition des Hl. Thomas vom Naturrecht gründet"; vgl. Las raices escolâsticas de la emancipación de la América Espanola, Madrid: Centro de Estudios Constitucionales 1982, S. 56. Vgl. allgemein zu diesem Thema E. Ruiz Maldonado, Tomas de Aquino, Bartolomé de Las Casas y la Controversia de Indis, in: Studium 3 (1974) S. 592 ff. 4 Der Einfluß der Schule von Salamanca auf Las Casas wird, ebenso wie der thomistische Einfluß, im weiteren noch erörtert werden. Es sei aber schon hier darauf hingewiesen, daß es widersprüchliche Positionen gibt. So heißt es bei R. Queraltó: "Las Casas stimmte mit vielen Ideen der Lehrer von Salamanca überein, akzeptierte aber doch gelegentlich ihre Haltungen nicht, wobei er sich nicht unbedingt bewußt war, daß er eine andere Meinung hatte als sie ... Sein Denken kann daher nicht eindeutig der Schule von Salamanca zugeordnet werden"; vgl. El pensamiento filosóficopolitico de Bartolomé de Las Casas, mit einem Vorwort von R. Marcus, Sevilla: Escuela de Estudios Hispano-Americanos del CSIC - Publicaciones de la Universidad de Sevilla 1976, S. 165. L. Perefia dagegen hat die enge Verbindung von Las Casas zur Schule von Salamanca unterstrichen. Nach seinem Verständnis wäre es absurd, die politischen Lehren Las Casas' als eigenständig zu betrachten, da sie "Allgemeingut der Schule von Francisco de Vitoria [waren], aus der der Dominikaner und Bischof von Chiapas in San Gregorio in Valladolid über so bedeutende Lehrer wie die Professoren von Salamanca Domingo de Soto, Pedro de Sotomayor und Juan de la Pena direkte Inspiration bezog"; vgl. La Carta de los derechos humanos segun Bartolomé de Las Casas, in dem Sammelband Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas, Sevilla: Publicaciones de la Universidad de Sevilla 1974, S. 293. Nodi drastischer ist das Urteil von V. D. Carro , der feststellt: "Las Casas hat keine eigenen Ideen, sofern man darunter von den Ideen anderer völlig verschiedene versteht. Die Ideen von Las Casas sind die Ideen der großen spanischen Theologen-Juristen "; vgl. La Teologia y los teólogos-juristas espanoles ante la conquista de América, Madrid: Publicaciones de la Escuela de Estudios Hispano-Americanos de la Universidad de Sevilla - Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1944, Bd. II, S. 426. Es ist außerdem daran zu erinnern, daß A. Losada nicht gezögert hat, in seiner Ponencia sobre fray Bartolomé de Las Casas, in dem Sammelband Las Casas et la politique des droits de l'homme, Akten der Tagung vom 12.-14. Oktober 1974 in Aix-en-Provence, Aix-en-Provence: Institut d'Etudes Politiques d'Aix - Institute de Cultura Hispânica 1976, S. 22, Las Casas als "Vorkämpfer der Schule von Theologen und Juristen von Salamanca" zu bezeichnen. 5 Eine entschieden und bedingungslos positive Bewertung von Las Casas ist den schon klassischen Arbeiten von A. M. Fabié , Vida y escritos de fray Bartolomé de Las Casas, Obispo de Chiapa (zit. Anm. 3), und J. A. Llorente, Oeuvres de Don Bartolomé de Las Casas, évêque de Chiapa, défenseur de la liberté des naturels de l'Amérique, Paris: Eymerys 1822, zu entnehmen. Etwas strenger und objektiver sind einige neuere Arbeiten, die ebenfalls zu einer deutlich positiven Einschätzung der Lehren und Zeugnisse von Las Casas kommen; hier lassen sich u. a. nennen: M. Bataillon,
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
bis zur systematischen Demontage reichen.6 Es scheint also durchaus kein müßiges Unterfangen, einen Beitrag dazu leisten zu wollen, das geistige Profil von Las Casas ausgehend von seinem rechts- und staatsphilosophischen Weik zu klären.
Π . Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus und ihr Einfluß auf das Denken von Bartolome de Las Casas
Las Casas' Thesen über die Rechte des Individuums und die Legitimation der Macht wären außerhalb des naturrechtlichen Rahmens, in dem sie entstanden, kaum zu verstehen. Allerdings muß diese geistige Positionierung präzisiert werden, da der Ausdruck "Naturrecht" äußerst mißverständlich ist. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß unter dem Rechtsnaturalismus diejenige Theorie zu verstehen ist, die behauptet, daß es ein Naturrecht gibt und daß dieses erkannt werden kann. Dieses selbst wird allgemein als eine Menge von Normen und/oder Prinzipien verstanden, die aus der Natur hervorgehen und die dem positiven Recht - d. h. dem von einer politischen Macht gesetzten und durchgesetzten Recht - zeitlich und hierarchisch vorgehen. Weniger klar ist aber die Art und Weise, wie das Naturrecht verstanden wird, oder genauer die Art und Weise, wie der Naturgedanke zu verstehen ist, der dem Naturrechtsbegriff zugrundeliegt. Hier liegt das Hauptmotiv der Auseinandersetzungen und Mißverständnisse, die es in der historischen Entwicklung des Rechtsnaturalismus gegeben hat. Denn in der Geschichte der Naturrechtslehren wurde der Begriff der Natur und folglich auch die Definition des Naturrechts selbst auf verschiedene Auffassungen gegründet, die sich in drei Hauptrichtungen zusammenfassen lassen:
El padre Las Casas y la defensa de los Indios, Barcelona: Ariel 1974; M. Giménez Fernândez , Bartolomé de Las Casas, Bd. I: Delegado de Cisneros para la Reformación de las Indias (1516-1517); Bd. II: Capellân de S. M. Carlos I, Poblador de Cumanâ (1517-1523), Sevilla: Escuela de Estudios Hispano-Americanos del CSIC 1953-1960; ders., Breve biografia de fray Bartolomé de Las Casas, Sevilla: Publicaciones de la Universidad de Sevilla 1966; L. Hanke , All mankind is one. A Study of the Disputation between Bartolomé de Las Casas and Juan Ginés de Sepulveda in 1550 on the religious and intellectual capacity of the american Indians, Northern Illinois University Press 1974; ders., Bartolomé de Las Casas, pensador, politico, historiador, antropòlogo, Buenos Aires: Eudeba 1968; A. Losada , Fray Bartolomé de Las Casas a la luz de la moderna critica histórica, Madrid: Tecnos 1970; R. Quercdtó , El pensamiento filosofico-politico de Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 4). 6 Das repräsentativste Werk aus der kritischen Literatur zu Las Casas ist wohl das bekannte Buch von R. Menéndez Pidcd, El padre Las Casas: su doble personalidad, Madrid: Espasa-Calpe 1963.
II. Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus
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(1) die Auffassung der Natur als göttliche Schöpfung und des Naturrechts als geoffenbarter Ausdruck des Willens des Schöpfers im Bereich der sozialen Beziehungen; (2) die Auffassung der Natur als Kosmos, d. h. als die Gesetze, welche die physische Welt regieren, zu der auch die Menschen gehören, die vermittels ihrer natürlichen Instinkte und Bedürfnisse ihrer Gesetzmäßigkeit unterworfen sind; (3) die Auffassung von der Natur als Vernunft, als eine besondere Eigenschaft des Menschen, die es ihm erlaubt, seine Grundnormen des Zusammenlebens "autonom" zu bestimmen.7 Diese "Formen" des Naturrechts haben einander - teilweise in gemischten Versionen - abgelöst; alle beruhten aber auf einer einzigen Grundidee: dem Gehorsam gegenüber dem positiven Recht und der Macht, die es erläßt, wird von dessen Übereinstimmung mit dem Naturrecht abhängig gemacht. Man muß sich diese unterschiedlichen Auffassungen vom Naturrecht ins Gedächtnis rufen, denn sie alle beeinflussen - gleichzeitig oder nacheinander - die Vorstellungen von Las Casas. Der Versuch, sie voneinander zu trennen, kann also dazu beitragen, einige der Hauptstränge seiner Lehre zu klären und seine scheinbaren Widersprüche besser zu verstehen.
L Die voluntaristische
Phase
Das Mittelalter und ganz besonders das Spätmittelalter erlebte auf dem Gebiet der Ideen eine offene Auseinandersetzung zwischen den voluntaristischen und den intellektualistischen Strömungen der Naturrechtslehre. Diese Debatte, die sich bis zum Beginn der Renaissance hinzog, fand ihren prompten Widerhall bei den spanischen Klassikern des Naturrechts. Im Rahmen dieser Lehrrichtung fanden sich nebeneinander Einstellungen, die vom entschiedenen Voluntarismus eines Fernando Väzquez de Menchaca bis zum radikalen Rationalismus eines Gabriel Väzquez reichten, wobei auch vermittelnde Positionen vorkamen, wie sie etwa in Francisco Suärez' Werk verkörpert sind. Es fällt auf, daß im Laufe dieser Auseinandersetzung die Franziskaner eher zu voluntaristi7
Vgl. A. E. Pérez Luno, El derecho natural corno problema. Ensayo de anali si s del lenguaje, in: Filosofia y Derecho. Estudios en Honor del Profesor José Corts Grau, Universidad de Valencia 1977, Bd. II, S. 187 ff.; ders., Lecciones de Filosofia del Derecho. Presupuestos para una filosofia de la experiencia juridica, 3. Aufl., Sevilla: Minerva 1988, S. 53 ff.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
sehen Einstellungen neigten, während der Dominikanerorden - getreu dem Erbe Thomas von Aquins - für einen deutlichen Intellektualismus optierte. Innerhalb dieser Koordinaten wäre also zu erwarten, daß Bartolomé de Las Casas als Dominikaner eher eine intellektualistische Haltung einnahm. Dies war auch tatsächlich die Einstellung seiner reiferen Jahre; aber damit ist nicht gesagt, daß er in seinen Plädoyers zugunsten der Indios nicht anfänglich auf Begründungen voluntaristischer Art zurückgriff. Die Phase des voluntaristischen Rechtsnaturalismus bei Las Casas, die weitgehend mit dem Beginn seiner geistigen Arbeit zusammenfällt, wird deutlich, wenn er als grundlegende Rechtfertigung der spanischen Anwesenheit in Amerika auf die Bullen verweist, in denen Papst Alexander VI. im Jahre 1493 den Katholischen Königen die Rechte auf Amerika verüeh. So stellt Las Casas in der ersten seiner Dreißig ganz juristischen Propositionen fest, daß "der Römische Pontifex ... von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, selbst soviel Autorität und Macht über alle Menschen in der Welt, Gläubige und Ungläubige, zu alledem hat, wie er für nötig hält, um die Menschen zum Ziel des ewigen Lebens zu leiten und zu lenken".8 Der Papst könne zu diesem Zweck die Hilfe christlicher Fürsten erbitten, daß sie mit ihrer Gewalt "die kirchlichen und geistigen Gesandten schützen, bewahren und verteidigen und das genannte Ziel ungehindert und in Ruhe erreicht werden kann".9 Zugunsten der Verkündigung des Glaubens könne der Papst die Reiche der Heiden unter den christlichen Fürsten aufteilen. Daraus schließt Las Casas: "Die Könige von Kastilien und Leon sind wahrhaft souveräne Fürsten, universale Gebieter und Herrscher über viele Könige, ihnen gehört rechtmäßig jenes gesamte hohe Imperium und die universale Rechtshoheit über alle indischen Länder, durch die Autorität, Verleihung und Schenkung des Heiligen Apostoli s die η Stuhles und also durch göttliche Autorität. Diese und keine andere ist die rechtliche und sachliche Grundlage, auf der ihr Anspruch insgesamt beruht."
* B. de Las Casas, Aqui se contienen treinta proposiciones muy juridicas, in: Obras escogidas de fray Bartolomé de Las Casas, 5 Bde., hg. von 7. Pérez de Tudela, Biblioteca de Autores Espanoles, Madrid: Atlas 1957-58, Bd. V, S. 250, Proposition I. In jüngster Zeit wurde unter der Schirmherrschaft der Kommission zum Gedenken an den fünfhundertsten Jahrestag der Entdeckung Amerikas mit einer Edition der Obras complétas von Bartolomé de Las Casas in Madrid bei Alianza begonnen. Die erste Fassung dieses Kapitels erschien 1990 als Einführung zu Bd. 12 unter dem Titel: Democracia y derechos humanos en Bartolomé de Las Casas. 9 Ebd. S. 250, Proposition IV. 10 Ebd. S. 253, Proposition XVII. In seinen späteren Arbeiten wurde diese These von Las Casas selbst zurückgewiesen. Man denke nur an seine entschiedene Haltung in der kleinen Schrift Sobre el titulo del dominio del rey de Espana sobre las personas y tierras de los indi os (1554), wo er dar-
II. Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus
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Die damalige Haltung von Las Casas läßt keine Zweifel hinsichtlich der höchsten Rechtfertigung der spanischen Anwesenheit in der Neuen Welt.
In einer anderen Arbeit, der er den Titel Tratado comprobatorio del imperio soberano y principado universal que los reyes de Castilla y Leon tienen las Indias gibt, führt er die gleichen Argumente an und schreibt dem Papst die von Christus delegierte Ermächtigung zu, "die Reiche der Heiden umzuwandeln, sie zu vereinen oder zu trennen, und deren Könige, Fürsten und Gebieter für abgesetzt zu erklären und neue, Gläubige oder Ungläubige, an ihre Stelle zu setzen, wie es ihm am geeignetsten erscheint".11 Dieser Rückgriff auf die diesseitige Macht des Papstes ist als Restauration der "alten Lehre von der mittelalterlichen Ethnarchie"12 und als "im stärksten und engsten Sinne die Priester- und Kirchenherrschaft vertretend"13 bezeichnet worden. Es handelte sich zweifellos um eine Haltung, die von einer Auffassung der Rechtsnorm als ein Willensakt ausgeht, der auf die Macht und den Willen Gottes selbst zurückgeführt wird. Dieser radikale Voluntarismus wird durch die Forderung gemildert, daß die christlichen Fürsten, die vom Papst heidnische Reiche erhalten haben, diese zum Wohl und Nutzen ihrer Bewohner regieren sollten. 14 Interessant ist dabei, daß Las Casas zur Unterstützung seiner These die Autorität von Vitoria und Soto anführt, die bekanntlich beide das Argument der weltlichen Macht des Papstes als Rechtfertigung für die spanische Kolonisation ablehnen. 15 So sieht Francisco de Vitoria in seiner Relectio de Indis in der auf hinweist, daß der Papst nicht ermächtigt sei, den Königen von Spanien die Herrschaft über Indoamerika zu verleihen, "quia nemo dat quod non habet ... Christus lebte arm und entsagte den diesseitigen Reichen ... Und seinem Stellvertreter, dem Heiligen Petrus, hinterließ er keine Rechtsgewalt über die irdischen Reiche im Diesseits"; vgl. Anhang VI zu dem Band von B. de Las Casas, De regia potestate, hg. von L Perefia, J. M. Pérez Prendes, V. Abril und J. Azcàrraga, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1969, S. 170. 11 Tratado comprobatorio, in: Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. V, S. 170. R. Queraltó , El pensamientofilosofico-politico de Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 4) S. 199. 13 V. Abril, Bipolarización Sepulveda - Las Casas y sus consecuencias, in: La Etica en la Conquista de América (zit. Anm. 1) S. 263. Über die Lehre von der weltlichen Herrschaft des Papstes und ihren Einfluß auf die klassischen spanischen Theologen-Juristen vgl. das Werk von P. Casta heda, La teocracia pontificial y la Conquista de América, Vitoria: Publicaciones del Seminario de Vitoria 1968. 14 Vgl. B. de Las Casas, Aqui se contienen treinta proposiciones muy juridicas (zit. Anm. 8) S. 250 ff. 15 Dies ist in den Arbeiten von Las Casas und auch anderer seiner Zeitgenossen durchaus nicht ungewöhnlich, denn wie Luciano Perena im Hinblick auf Las Casas' wissenschaftlichen Apparat
170
Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
These, daß der Papst der Herrscher der ganzen diesseitigen Welt sei und daß er folglich die spanischen Könige zu Herrschern über die Völker der Neuen Welt machten konnte, den zweiten falschen Titel zur Legitimierung der spanischen Anwesenheit. Vitorias Position ist eindeutig: "Papa nullam potestatem temporalem habet in barbaros istos, neque in alios infideles"A 6 Eine ähnliche H tung nimmt Domingo de Soto ein, der auf sein verlorengegangenes Werk De ratione promulgandi Evangelium verweist, um die Behauptung zu stützen: "in Papa nulla estpotestas mere temporalis" .17 Die voluntaristische Phase bei Las Casas zeigt sich auch an dem Argument, mit dem er die aristotelische These von der natürlichen Knechtschaft bestimmter Menschen zurückweist. Es ist schon erstaunlich, daß Pater Bartolomé in einer Passage seiner Historia de las Indias sich nicht scheut festzustellen: Aristoteles "war Heide und schmort in der Hölle, und deshalb ist von seiner Lehre nur das zu gebrauchen, was mit unserem heiligen Glauben und den Sitten der christlichen Religion vereinbar ist".18
bemerkt hat, führte der Wunsch, "Verweise auf Gesetze, Kodizes und Autoren anzuhäufen, ... ihn dazu, ganze Absätze aus den Werken zu kopieren, die er als Quellen benutzte. So übernahm er Zitate, die zwar manchmal seine Thesen stützten, oft aber ihren Zweck völlig verfehlten"; vgl. die Einführung von L Perefia in den Band von B. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. CXLDC. itF.de Vitoria, Relectio de Indis, hg. von L. G. Alonso Getino, Madrid: Asociación Francisco de Vitoria 1934, Bd. II, S. 330. Über die Verbindungen zwischen dem Denken von Las Casas und dem von Vitoria vgl. vor allem die Arbeiten von M. Bataillon, Charles-quint, Las Casas et Vitoria, in: Charles-quint et son temps, Paris: Centre National de la Recherche Scientifique 1958, S. 77 ff.; V. D. Carro , Los postulados teológico-juridicos de Bartolomé de Las Casas. Sus aciertos, sus olvidos y sus fallos ante los maestros Francisco de Vitoria y Domingo de Soto, in: Anuario de Estudios Americanos (1966) S. 109 ff.; T. Urdanoz , Las Casas y Francisco de Vitoria, in: Las Casas et la politique des droits de l'homme (zit. Anm. 4), sowie auch das Themenheft von Le Supplément (Revue d'Ethique & Théologie Morale) zum Thema Las Casas et Vitoria 160 (März 1987), das u. a. Beiträge von F. Cantu, M. Mahn-Lot, A. Saint-Lu, Pfu-I. André Vincent, R. Marcus und A. Truyo Serra enthält; dem Letztgenannten habe ich für den Hinweis auf diese interessante Publikation zu danken. 17 D. de Soto, In IV Sententiarum, dist. 25, q. 2, a. 1. Zur geistigen Verbindung zwischen Soto und Las Casas vgl. - neben der in Anm. 16 zit. Arbeit von V. D. Carro - statt vieler die Arbeiten von V. Beiträn de Heredia, El maestro Domingo de Soto en la Controversia de Las Casas con Sepulveda, in: LaCiencia Tomista 45 (1932), S. 35 ff., und 7. Marnano , La incorporación de las Indias a la Corona de Castilla, Madrid: Ediciones Cultura Hispänica 1948, S. 153 ff. 18 B. de Las Casas, Historia de las Indias, in: Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. II, S. 536. Die spätere Haltung Las Casas', die darauf abzielt, die aristotelischen Thesen von der Knechtschaft so zu interpretieren, daß sie mit der Freiheit der Indios vereinbar sind, zeigt den wachsenden Einfluß von Aristoteles im Spanien der Renaissance. Vgl. L. Hanke, Aristotle and the American Indians. A Study in Race Prejudice in the Modern World, London: Hollis & Carter 1959; A. Pagden, The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge University Press 1982.
II. Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus
171
In dieser Etappe seiner geistigen Entwicklung sieht Las Casas in der Gnade, der Offenbarung und letztlich im göttlichen Willen die höchsten Kriterien zur Begründung und Orientierung der Gerechtigkeit. Für den Las Casas dieser Epoche ist folglich das nach dem Naturrecht Gerechte das, was dem Willen Gottes entspricht, wie er sich in seiner Offenbarung ausdrückt und/oder in der Ordnung der Schöpfung erweist.
2. Naturalistische
Ansätze
Aber auch ein anderer Strang der Naturrechtslehre findet sich in Bartolomé de Las Casas, nämlich deren naturalistische oder kosmologische Version. Einer der anregendsten Aspekte der Theorie von Las Casas, mit zahlreichen Bezügen zur heutigen Zeit, findet sich gerade darin, daß er der Natur sowie dem Gleichgewicht und der Harmonie zwischen Mensch und Natur wieder einen hohen Wert beimißt. Diese Betrachtungsweise, die die heutige Sorge um die Ökologie in gewissem Sinne vorwegnimmt, zeigt sich besonders darin, daß er das stoische Ideal der aurea saecula - eines "Goldenen Zeitalters", in dem die Menschen in vollkommener Symbiose mit der Natur noch frei von den durch die Zivilisation hervorgerufenen Lastern und Unsitten waren - aufnimmt und umformuliert. 19 Diese Rückkehr zur Natur verband sich mit einer deutlichen Aufwertung der primitiven Völker, eben jener "guten Wilden", deren natürliche Güte noch nicht von Habgier, Lug und Trug vergiftet war. Diese Gedanken, die in der Kultur der Renaissance auf fruchtbaren Boden fielen, paßten hervorragend zu den verzweifelten Bemühungen von Las Casas um die Verbesserung der Lage der Indios. Der Beitrag von Las Casas zur Verbreitung des Mythos vom "guten Wilden" wird deutlich an dem Eifer, mit dem er die These von der geistigen Minderwertigkeit der amerikanischen Eingeborenen und ihrer angeblichen Unfähigkeit, sich selbst zu regieren, bekämpfte. Bartolomé de Las Casas entfaltete gegenüber denen, die die "natürliche Knechtschaft" der Indios gegenüber den Europäern vertraten, all seine argumentativen Mittel und gelegentlich sogar seine blühende Phantasie, um ein idyllisches Bild von den natürlichen Gegebenheiten der Neuen Welt zu zeichnen, woraus auf die Vollkommenheit ihrer Bedingungen für ein moralisches und politisches Leben zu schließen sei. 19
60 ff.
Vgl. E. Wolf
y
El problema del Derecho natural, übers, von M. Entenza, Barcelona 1960, S.
172
Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
In der Historia de Indias und in der Apologètica Historia stoßen wir auf ein ganzes Arsenal von Belegangaben, die darauf abzielen, die Überlegenheit des primitiven und exotischen amerikanischen Menschen über die moralischen, sozialen und politischen Laster der Bewohner des Alten Kontinents herauszustreichen. Als ein bezeichnendes Fragment läßt sich hier seine Beschreibung der Insel Espanola, Urbild einer amerikanischen Gegend, als "äußerst mild, zuträglich und lieblich, und Himmel und Erde sowie ihre örtlichen natürlichen Lüfte und die Winde, die sie umwehen, erfrischen und ergötzen, sehr günstig für die Förderung ihres höchsten Glücks" anführen.20 Nicht weniger vielsagend ist der Absatz, in dem er - ebenfalls auf Espanola anspielend - bemerkt, daß sie "die sanften, heilsamen Brisen durchlüften, fast Nordostwinde, etwas steifer als die Seewinde, aber doch sanft, und alle natürlicherweise sehr zuträglich; sie erfrischen und erfreuen und trösten alle Lebewesen, die auf diesen Auen leben; so hat sie alles, um höchst glücklich und ein wahres irdisches Elysium zu sein" .21 Für Las Casas symbolisierte die Nacktheit der Indios ihre vollkommene Unschuld sowie ihre natürliche Würde und Noblesse: "... besonders, wo alle völlig nackt umherlaufen und nur das bedecken, was Anstand und Scham zu bedecken verlangen, und ihre Glieder sind so wohlgestaltet und proportioniert, daß es scheint, als seien sie alle Kinder von Fürsten, die unter guter Pflege geboren und aufgezogen w e r d e n . "22 Alle diese günstigen Umstände führten zu einem Bündel menschlicher Tugenden, Auswuchs der "natürlichen Güte" des Indio, nämlich Besonnenheit, Enthaltsamkeit, Sittsamkeit, Sanftmut, Verstand und Klugheit. Aus alledem sei zu schließen, daß "alle diese Völker in unserem Indoamerika, wie es natürlicherweise bei Menschen möglich ist, ohne das Licht des Glaubens sind, daß ihre Republiken, Gegenden, Städte und Dörfer hervorragend und im Überfluß versorgt waren und daß ihnen nichts fehlte, um politisch und gesellschaftlich zu leben und das bürgerliche Glück zu erlangen und zu genießen, das in diesem Leben jede gute, vernünftige, wohlversorgte und glückliche Republik zu haben und genießen wünscht; manche hatten mehr, andere kaum weniger, und größtenteils war alles ganz vollkommen, denn sie alle haben auf natürliche
20
B. de Las Casas, Apologètica Historia, in: Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. III, S. 61.
21 Ebd. S. 35.
22 Ebd. S. 113.
II. Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus
173
Weise eine sehr feinsinnige, lebhafte, klare und äußerst fähige Auffassungsgabe"^ Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, daß diese Behauptungen den Mythos vom "guten Wilden" vorwegnehmen; Las Casas wurde daher gelegentlich sogar als "ein Rousseau avant la lettre" bezeichnet.24 Nun geht aber Las Casas' Rechtsnaturalismus über die prä-rousseausche und proto-ökologistische Aufwertung der Harmonie von Mensch und Natur im Mythos vom "guten Wilden" hinaus. Seine Einstellung geht eindeutig in Richtung auf einen strikten, fast deterministischen Naturalismus, der das Naturrecht als Übertragung der unausweichlichen Gesetze der physischen Natur auf die Gesellschaftsordnung auffaßt. Einigen Texten aus dem Werk des Bischofs von Chiapas ist zu entnehmen, daß es einen notwendigen Zusammenhang zwischen den Normen des Kosmos und denen der Kultur gebe, die ebenfalls dem Gesetz der Kausalität unterworfen seien. Deutlich wird dies, wo er von sechs natürlichen Faktoren ausgeht, die den Grad der geistigen Entwicklung des Menschen bestimmten. Es sind dies: (1) der Einfluß des Himmels; (2) die Gegebenheiten der Regionen; (3) die gute Beschaffenheit der Glieder und der inneren und äußeren Sinnesorgane; (4) die Milde des Klimas; (5) das Alter der Eltern und (6) die Qualität und Zuträglichkeit der N a h r u n g . 2 5
Dieser Ansatz deutet auf einen Kausaldeterminismus hin, der in gewisser Weise die Thesen Montesquieus vorwegnimmt und über die bloße "Rückkehr zur Natur" Rousseaus hinausgeht. Die naturalistische Auffassung des Naturrechts bei Montesquieu gründet sich schließlich auf seine berühmte Definition der Gesetze als "rapports nécessaires qui dérivent de la nature des chose Diese Natur der Dinge setze sich zusammen aus Elementen der physischen Natur (besonders Klima und geographische Lage und Ausdehnung), die auf histo23 Ebd. Bd. IV, S. 430. 24 J. A. Maravall , Utopia y primitivismo en el pensamiento de Las Casas, in: ders., Utopia y reformismo en la Espana de los Austrias, Madrid: Siglo XXI 1982, S. 164. Vgl. zu diesem Thema auch 7. L Abellàn, Los origenes espanoles del mito del "buen salvaje". Fray Bartolomé de Las Casas y su Antropologia Utopica, in: ders., Historia crìtica del pensamiento espanol, 2. La Edad de Oro (Siglo XVI), Madrid: Espasa-Calpe 1979, S. 407 ff. Als Kontrapunkt zu der übertriebenen Überhöhung des Mythos vom "guten Wilden" wies Voltaire Rousseau ironisch darauf hin, die vermeintliche Tugend der Wilden sei "magis extra vitia quam cum virtutibus . Leur vertu est négative, elle consiste à n'avoir ni bons cuisiniers, ni bons musiciens, ni beaux meubles, ni luxe, etc. La vertu ... suppose des lumières, des réflexions, de la philosophie, quoique, selon vous, tout homme qui réfléchit soit un animal dépravé"; vgl. Lettre au Docteur Pansophe, in: Voltaire , Mélanges, Paris: Gallimard 1961, S. 851. 2SB.de Las Casas, Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. III, S. 3 und 52 ff. 26 Montesquieu, Esprit des lois, I, 1.
174
Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
lische, kulturelle und gesellschaftliche Elemente (Religion, Recht, Politik, Traditionen und Sitten) einwirken, die zusammen den esprit général ausmachen. Dieser wiederum bestimme die Eigenarten der Völker, je nach der Mischung und Gewichtung der physischen und historischen Faktoren. 27 Schon vor Montesquieu erahnte Las Casas, ausgehend von stoischen Vordenkern, die er über Cicero rezipierte, die rechtlich-politische Bedeutung natürlicher Ursachen, der er durch seinen simplifizierenden Determinismus allzugroßen Tribut zollt. Davon zeugen besonders die Kapitel XXIV und XXIX seiner Apologètica Historia, die die bezeichnenden Titel "Wie das Klima und andere Eigenschaften des Landes die Beschaffenheit seiner Bewohner beeinflussen" und "Beweis der Beziehung zwischen dem Klima und der Beschaffenheit der Menschen" tragen.28
Der in diesen Kapiteln vertretene Grundgedanke ist, daß Fähigkeiten und Intelligenz der Menschen "von den Eigenschaften der Orte und Gegenden und von der Beschaffenheit des Landes ... sowie von den Lüften, die darin wehen" a b h ä n g e n . 2 9 Es seien daher "je nach Art der Länder und Regionen und deren Eigenschaften... so auch die Intelligenz und die Neigungen der M e n s c h e n " . 3 0 Der Vorteil der naturalistischen Versionen des Naturrechts ist, daß sie eine empirische Basis besitzen, die auf die anthropologischen Bedürfnisse des Menschen selbst zurückgehen, und daß sie es an den physisch-natürlichen Kontext zurückbinden, in dem sich die Existenz entfaltet. Unter diesen Prämissen erscheint das Naturrecht jedoch nicht wie eine Norm, die aus der Autonomie des Menschen entspringt, sondern wie ein dem Menschen externer, kosmischer Verhaltensmaßstab, der ihm von einer objektiv angenommenen Natur von außen vorgegeben wird. Der radikale Naturalismus endet im Gesetz des Instinktes und in einem physischen Determinismus, der die Freiheit und Gleichheit der Menschen mißachtet oder doch schwer beschneidet. Las Casas, der seinem Grundanliegen, die Diskriminierung der Indios zu aufzuheben, immer treu bleibt, zieht aus diesem Ansatz die Konsequenzen dahingehend, daß er - über einen vorübergehenden physisch-kausalen Determinismus - zu einer Art "umgekehrter Diskriminierung" gelangt, mit der die Völker Europas, und zwar besonders die am meisten nördlich gelegenen, konfrontiert werden. 27
Ebd. XIX, 4. 28 B. de Las Casas, Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. III, S. 74 ff. und 92 ff. 29 Ebd. S. 74. 30 Ebd. S. 92.
II. Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus
175
Las Casas geht davon aus, daß Indoamerika "wegen der Gestalt der Himmel, der Milde der Lüfte und der Beschaffenheit der Erde" "äußerst gemäßigte und glückliche" Gegenden beherbergt. In ihnen leben Menschen von einer Farbe "zwischen weiß und schwärzlich", deren Haar "glatt und weich [ist] und in der Regel zum Schwarz neigt... Und so scheint es, daß wir aus der Farbe dieser Völker die Milde dieses Erdteils, und aus der Milde selbst ihre Farbe und auch ihre Sitten und Vorstellungen ... ableiten können".31 Um diesen Ausgangspunkt konsequent weiterzuverfolgen, sieht sich Las Casas genötigt, entgegengesetzte Charakterzüge für die Menschen zu behaupten, die in Gegenden mit entgegengesetzten natürlichen Bedingungen leben. So schreibt es: "Das folgt auch aus den entgegengesetzten Ursachen oder dem extremen Gegenteil in den eiskalten Ländern oder Regionen, wie es alle nördlichen sind ... (deren Bewohner) eine weiße Farbe und blondes, weißes und langgewachsenes Haar haben und ... deren Körper sehr dick und groß werden, und so sehen wir alle diese Nationen mehr als andere mit großen, fleischigen und groben Körpern ... weswegen sie wohl mehr essen und trinken müssen ... Daher müssen es überwiegend bäurische Menschen sein, mit stumpfem und engstirnigem Geist und wilden, grausamen Sitten."32 Dieser Kausaldeterminismus zeigt sich mit besonderer Härte im Hinblick auf die Deutschen. Las Casas vertritt die bizarre These - die er mit Hilfe der Autorität von Albertus Magnus und Thomas von Aquin zu stützen versucht -, wonach "die äußere Kälte die Poren, Löcher und Wege des Geistes bedeckt bzw. verstopft". Daraus schließt er, die Bewohner dieser kalten Gegenden seien "grobschlächtig und schwerfällig von Verstand, einfältig, närrisch, unbedacht und dumm. Alle diese Eigenschaften sehen wir in einer Nation von Christen vereint, deren Namen wir zu ihrer Ehrenrettung v e r s c h w e i g e n " . 3 3 Pater Bartolomé zeigt hier jedenfalls keine besonders große prophetische Gabe bezüglich des künftigen Beitrags der verschiedenen Völker zur Entwicklung von Kultur und Philosophie in den unmittelbar nachfolgenden Jahrhunder31
Ebd. S. 72. 32 Ebd. S. 94. Las Casas erläutert, daß er unter nördlichen Ländern alle die versteht, die "jenseits des siebten Klimas zwischen dem fünfzigsten und dem dreiundsiebzigsten Breitengrad hegen, was also England, Schottland, Norwegen und die Orkney-Inseln umfaßt, und alle diejenigen, die unter den sieben Sternen liegen, die wir den Wagen nennen und die den Norden in vierundzwanzig Stunden umlaufen, und die sie über ihren Köpfen haben, und diese beginnen bei England und gehen bis Polen", ebd. 33 Ebd. S. 75. Der Ausdruck "in den Deutschen" ist im Manuskript geschwärzt. Vgl. A. M. Salas , El Padre Las Casas, su concepción del ser humano y del cambio cultural, in dem Sammelband Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 4) S. 263.
176
Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
ten. Offenbar hätte der Bischof von Chiapas mit diesem anti-nordischen, naturalistischen und kausalistischen "Rassismus", der aus der Sicht unserer heutigen Zeit paradox und absurd anmutet, nicht den Platz erringen können, den er verdientermaßen in der Geschichte des humanistischen Denkens einnimmt.34
3. Die rationalistische
Wendung
Der große historische Beitrag des Naturrechts zur Herausbildung des Humanismus, zur Entwicklung der Freiheiten und der demokratischen Legitimierung der Macht ist vor allem seinen rationalistischen Strömungen zu verdanken. Die voluntaristischen Ansätze, die die Grundlage des Naturrechts in einem dem menschlichen Willen übergeordneten, vom Göttlichen kommenden Willen sehen, sowie die naturalistischen, die vom Einwirken der kosmischen Ordnung der Natur der physischen Welt auf die menschliche Sphäre ausgehen, stimmen darin überein, daß sie die Grundlage und den Zweck des Rechts jenseits der menschlichen Autonomie ansiedeln. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Formen des Rechtsnaturalismus, in denen diese drei Versionen der Natur, die dem Naturrecht als Basis dienen, nebeneinander oder vermischt auftreten. Ein anschauliches Beispiel solch synkretistischer Versionen liefern die pantheistischen Ideen der Stoiker, die in der ciceronischen Naturrechtslehre mit einem so bewundernswerten Ausdrucksreichtum dargelegt sind. Aber es ist doch klar, daß das, was aus Cicero einen Klassiker der Entwicklung des humanistischen Rechtsnaturalismus gemacht hat, sein Beitrag zur Definition des Rechts als "recta ratio naturae congruens 1/35 und als "summa ratio insita in natura"* 6 war. Das humanistische und demokratische Erbe des Rechtsnaturalismus kommt von den Naturauffassungen her, die sie nicht als etwas dem Menschen Äußer34 Es ist daran zu erinnern, daß die Schwarzen in diesen deterministischen Vorstellungen von Las Casas keineswegs besser wegkommmen; über sie sagt er in dieser Phase des naturalistischen "Rassismus": "... so wie sie schwarze, ausgetrocknete Körper und harte, häßliche Köpfe und Haare und auch keine guten Glieder haben, so auch mit den Seelen, die den schlechten Eigenschaften des Körpers entsprechen und von geringem Verstand und wilden, bestialischen und grausamen Gebräuchen sind"; vgl. Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. III, S. 93 f. Ebenfalls ist daran zu erinnern, daß Bartolomé de Las Casas in seinem Memorial de remedios von 1518, zur gleichen Zeit, als er die Versklavung der Indios bekämpfte und zu verhindern suchte, durchaus zugestand, daß die Spanier, die wirtschaftlich zu den von ihm vorgeschlagenen Reformen beitrügen, "bis zu fünfzehn schwarze Sklaven haben können"; vgl. Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. V, S. 39. 35 M. T. Cicero, De re publica, III, 22. 36 m. T. Cicero, De legibus, I, 6.
II. Die drei Grundformen des Rechtsnaturalismus
177
liches, als eine objektive, unausweichliche Wirklichkeit sehen, sondern bei denen die Natur zur Natur des Menschen, zum Wesen des Menschen selbst, d. h. zur Vernunft wird. Erst dann wird die Idee der Natur zu einem subjektiven bzw. intersubjektiven Wert. Der Rationalismus ist folglich die wertvollste axiologische Dimension für die Legitimierung von Recht und Politik. Der rationalistische Rechtsnaturalismus hat im Laufe der Zeit die wichtige Funktion erfüllt, die Menschheit dazu zu erziehen, ihr Zusammenleben rational, also menschlich zu gestalten. Das wichtigste historische Verdienst des Naturrechts ist es, das Ideal der Rationalität im gesellschaftlichen Leben propagiert und versucht zu haben, es von der Anfechtung irrationaler Mythen und Ideologien zu befreien. Es hat so dazu beigetragen, die Grundlagen des Zusammenlebens auf Gesetze zu gründen, die nicht der Willkür, Gewalt oder Laune, sondern jener Fähigkeit entspringen, die aus dem Menschen erst ein menschliches Wesen macht, nämlich der Vernunft. 37 Ob sich nun Las Casas dieser rationalistischen Bereinigung bei Cicero, einem der von ihm am häufigsten zitierten Autoren, bewußt war oder nicht: sicher ist jedenfalls, daß auch bei ihm eine allmähliche Hinwendung zu einem rationalistischen Rechtsnaturalismus spürbar ist, der in seinen späteren Werken zur vorherrschenden Orientierung wird. Dies widerspricht nicht der Tatsache, daß in manchen seiner frühen Arbeiten deutlich intellektualistische Anklänge zufinden sind, wie es bei einem Denker, der voll und ganz in der Tradition der Dominikaner stand, nicht anders zu erwarten ist. Jedoch wird Las Casas' Rationalismus immer deutlicher, je mehr er sich der Inkonsistenzen bewußt wird, an denen seine Argumentation zugunsten der Indios krankte, solange er die voluntarisüsche oder naturalistische Richtung einschlug. Denn schließlich war es wirklich inkonsistent, ζ. B. zugleich das Lebensrecht der Indios und eine theologisch-voluntaristische Rechtfertigung von Menschenopfern, die Freiheit der amerikanischen Eingeborenen und die Zulässigkeit der Versklavung der Schwarzen oder die volle Geisteskraft der Bewohner der Neuen Welt, aber die Verneinung der Intelligenz der nordischen Völker zu vertreten. Die historische Wirkungskraft des berühmten Dominikaners aus Sevilla rührt gerade daher, daß man zu der Überzeugung gelangt ist, daß seine großher37
Vgl. G. Fassò , La legge della ragione, 2. Aufl., Bologna: Π Mulino 1966, S. 251 ff.; vgl. auch A. E. Pérez Lufio, Razón e historia en la experiencia filosofica y juridica de Guido Fassò, in: Reason in Law, Akten eines Kongresses in Bologna vom 12.-15. Dez. 1984, hg. von C. Faralli und E. Pattaro, Mailand: Giuffrè 1987, S. 47 ff. 12 Pérez Luno
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
zigen Absichten der Befreiung der Indios auf rationale universale Prinzipien und nicht auf eine empirische Kasuistik gegründet sein m ü s s e n . 3 8 Las Casas' Rationalismus wird in seinen Thesen über die Wechselbeziehungen zwischen Vernunft und Freiheit mit bewundernswerter Präzision erläutert. "Der Verstand", so heißt es bei Las Casas, "ist der Ausgangspunkt des menschlichen Handelns, der den Ursprung der Freiheit enthält", denn "die ganze Vernunft der Freiheit hängt davon ab, wie das Wissen ist, weil der Wille das will, was der Verstand versteht". Daraus schließt er auf das grundlegende Prinzip, daß "der Ursprung der Freiheit voll und ganz in der menschlichen Vernunft wurzelt".39 Las Casas' theoretisches Verdienst liegt in den Konsequenzen, die er aus der Übertragung dieser Beziehung zwischen Vernunft und Freiheit auf die praktische Philosophie zog. Dies führte ihn zu einer universalen Anerkennung der Freiheit als Grundelement menschlicher, d. h. rationaler Beschaffenheit. Las Casas ging bis zu den äußersten, für seine Zeit radikalsten Folgen seines kosmopolitischen, rationalistischen Rechtsnaturalismus. Sein Verdienst hegt darin, daß er zu der Überzeugung gelangte, daß sein Kampf für die Freiheit und Emanzipation der Indios mit dem Kampf für die Freiheit und Emanzipation aller Menschen untrennbar verbunden war. Keine seiner Arbeiten zeigt dies wohl so anschaulich wie die, in der er - nicht von ungefähr auf Cicero verweisend proklamiert: "... alle Nationen der Welt sind Menschen, und für sie alle gibt es nur eine einzige Definition, nämlich, daß sie rational sind".40 38 Silvio Zavala hat festgestellt, daß Las Casas' Verteidigung der Freiheit aller Menschen "sich ... von jeder Tatsachenbetrachtung emanzipiert. Die Anthropologie Amerikas wird diskret in den Hintergrund verwiesen; dagegen tritt die aprioristische Idee von der rationalen Natur des Menschen in den Vordergrund". So meint Zavala, daß "die spanische Scholastik... den ethischen Weg einschlug und die Versuchungen des naturalistischen Determinismus hinter sich ließ"; vgl. La defensa de los derechos del hombre en América Latina (siglos XVI-XVIII), 1. Neudruck, Mexiko: UNAMUNESCO 1982, S. 38 und 41. In jüngerer Zeit hat Anthony Pagden vorgeschlagen, Las Casas aus der Perspektive der empirischen Anthropologie zu lesen. Nach seiner Interpretation sei es eines der größten Verdienste von Las Casas gewesen, die Prinzipien einer vergleichenden Ethnologie vorweggenommen zu haben. Seine Schriften - besonders die Apologètica Historia - stellten "den ersten groß angelegten Versuch einer Anwendung der Kategorien der aristotelischen Anthropologie... auf eine beträchtliche Menge empirischer Daten" dar; vgl. La caida del hombre natura] (zit. Anm. 18) S. 199. Ich bin jedoch der Ansicht, daß die Vorstellungen von Las Casas über den Bereich der empirischen Anthropologie, in den man vielleicht die Überlegungen seiner naturalistischen Phase noch einordnen kann, hinausgingen und zu einer rationalistischen, axiologischen Auffassung von der menschlichen Natur mit tiefem ethischem Gehalt führten. 39 B. de Las Casas, Del unico modo de atraer a todos los pueblos a la verdadera religión, hg. von Α. Miliares, L. Hanke und A. Santamaria , Mexiko: FCE 1942, S. 30. 40 B. de Las Casas, Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. III, S. 165 f. Die gleiche Idee ist in ganz ähnlichen Worten auch in der Historia de Indis zu finden, wo es heißt: "Alle Nationen der
III. Die zwei Quellen der Freiheit bei Las Casas
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ΠΙ. Die zwei Quellen der Freiheit bei Las Casas
Die Unterscheidung der drei verschiedenen Auffassungen vom Naturrecht, die in Las Casas' Rechts- und Staatsphilosophie nebeneinander - wenn auch in den verschiedenen Phasen in unterschiedlicher Gewichtung - existieren, ist keine unnütze Haarspalterei. Erst mit ihrer Hilfe lassen sich bestimmte innere Spannungen in seinem Werk sowie die damit verbundenen Schwerpunktverlagerungen besser verstehen und erklären. Zu Recht wurde oft behauptet, die naturrechtliche Begründung bei Las Casas sei "hybride und diffus". Man könne sie bezeichnen als "Rekapitulation der traditionellen thomistischen Ideologie, der allerdings an wichtigen Stellen Elemente eines politischen Augustinismus und Kurialismus aufgepfropft seien".41 Aus der gleichen Perspektive wurde auch darauf hingewiesen, daß der Werdegang von Las Casas' Denken einen Evolutionsprozeß von "mehr oder weniger kasuistischen moralischen Koordinaten und einer sakro-imperialistischen Vision ... in Richtung auf zunehmend naturrechtliche Ansätze und Lösungen" beschreibt.42 Ich meine allerdings, daß man diese Ungenauigkeiten, den Synkretismus und die Entwicklung von Las Casas' Denken als einen inneren Entwicklungsprozeß der Klärung und Ausreifung seiner naturrechtlichen Haltung betrachten sollte. Es geht letztlich um den Kampf zwischen der voluntaristischen und der naturalistischen Auffassung und seine allmähliche, endgültige Hinwendung zu einem rationalistischen Naturrecht. Es scheint mir daher keineswegs übertrieben, mit Philippe I. André Vincent zu behaupten: "toute l'oeuvre de Las Casas constitue une dialectique du droit naturel" 43
Welt sind Menschen, und für sie alle gibt es nur eine einzige Definition: alle haben Verstand und Willen, alle haben fünf äußere und vier innere Sinne und bewegen sich nach deren Zwecken; alle heben das Gute und freuen sich am Köstlichen und Ergötzlichen, und alle hassen das Schlechte und wenden sich vom Unerfreulichen ab, das ihnen Übelkeit verursacht"; vgl. Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. II, S. 144. 41 V. Abril, Bartolomé de Las Casas, el ultimo comunero, in: Las Casas et la politique des droits de Γ homme (zit. Anm. 4) S. 110. 42 V. Abril , Bipolarización Sepulveda - Las Casas y sus consecuencias, in: La Etica en la Conquista de América (zit. Anm. 1) S. 270. 4 3 Ph.-I. André Vincent , La notion de droit dans la dialectique lascasienne, in: Las Casas et Vitoria (zit. Anm. 16) S. 59. Vgl. dazu auch E. Luno Pefia/A. E. Pérez Luno, El derecho natural a la libertad en el pensamiento de Bartolomé de Las Casas, in: Estudios-Homenaje al Profesor Recaséns Siches (in Druck), vorabgedruckt in: Las Casas et la politique des droits de l'Homme (zit. Anm. 4) S. 153 ff.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
Dieser theoretische Ansatz, der der naturrechtlichen Problematik innewohnt, erweist sich als fruchtbar für die Analyse der Freiheitslehre von Las Casas - einer der Achsen, um die sich sein Denken wie besessen dreht. Auch hier findet man ganz entgegengesetzte Einflüsse aus der naturrechtlichen Kultur: einerseits aus der vom Mittelalter übernommenen voluntaristischen Freiheitsauffassung, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch immer auf die Theologie und die Jurisprudenz einwirkt, andererseits aus dem theoretischen Erbe des naturrechtlichen Rationalismus von Thomas von Aquin, in dem Las Casas den Mutterboden für viele seiner Postulate fand. Es ist daher angebracht, wenigstens eine knappe Darstellung dieser beiden Grundlagen von Las Casas' Freiheitslehre zu geben.
L Das Überdauern der mittelalterlichen
Tradition
Die mittelalterliche Tradition der Freiheit hatte mächtigen Einfluß auf Las Casas' Denken. Der mittelalterliche Bereich der Freiheit umfaßt in einem komplexen, vielgestaltigen Geflecht eine Reihe von Ermächtigungen und Unterwerfungen, persönlichen Privilegien und Abhängigkeiten, die sich zwischen den Mitgliedern der verschiedenen gesellschaftlichen Stände entwickelten. Letztlich hatte diese Auffassung von der Freiheit ihre Grundlagen in einem philosophischen bzw. theologischen Gedanken, der den gesamten kulturellen Horizont des Mittelalters beherrscht. Auf den rechtlich-politischen Freiheitsbegriff wirkt der unhintergehbare Dualismus von Gut und Böse, der der christlichen Sicht des historischen Geschehens zugrundeliegt - eine Sicht, die im Werk von Augustinus ihren höchsten Ausdruck fand. In diesem Kontext, der auf der politischen Ebene keine andere legitime Macht anerkennt als diejenige, die mit der Gründung der Kirche von Christus ausgeht, ist die Existenz irgendeines von der Kirche unabhängigen gültigen Rechts undenkbar. Außerhalb der Autorität der Kirche kann es demnach nur Tyrannei geben. So verHeren im Rahmen des sogenannten "politischen Augustinismus" das Politische und das Rechtliche seine charakteristische Gestalt, weil ihre Voraussetzungen verloren gehen, indem man sie ihres Bezugs zur natürlichen und empirischen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens beraubt.44 44 Vgl. P. Castaneda, La teocracia pontifical y la Conquista de América (zit. Anm. 13) passim ; J. Pérez de Tudela , Significado histórico de la vida y escritos del Padre Las Casas, kritische Einführung zu Β. de Las Casas, Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. I., S. XIX ff.
III. Die zwei Quellen der Freiheit bei Las Casas
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Es gibt im Werk von Las Casas zahreiche Stellen, die ein deutliches Echo dieser mittelalterlichen Freiheitstradition darstellen. Dies kann kaum verwundern, wenn man mit Antonio Truyol y Serra übereinstimmt, daß "sich Spanien im Siglo de Oro als kleiner orbis christianus fühlte und man in diesem Sinne von einer Fortführung der mittelalterlichen Ideale auf spanischem Boden sprechen kann".45 Einen guten Beleg für diese Haltung liefern die deutlich theologisch-voluntaristischen Züge, die die ersten Arbeiten von Las Casas prägen und die sich besonders klar in seiner Historia de las Indias zeigen. Das historische Geschehen erscheint dort - im Zusammenhang mit zahlreichen ausdrücklichen Verweisen auf das augustinische Denken und einem strikten Festhalten an der christlich-mittelalterlichen Eschatologie - durch die unergründlichen Zwecke der Vorsehung determiniert. Die Entdeckung sowie die kulturelle Lage der Kolonisatoren Amerikas werden aus der Perspektive des Charismatischen und mit Hilfe einer Reihe von durch die Vorsehung bestimmten Beziehungen erklärt, bei denen der Zufall oder die menschliche Freiheit keinen Platz h a b e n . ^ Diese transzendentalistische Sicht, die dem freien Willen der Menschen für die Entwicklung des historischen Geschehens so wenig Bedeutung beimaß, wird noch verstärkt durch die Verbindung mit der Lehre von der Vorsehung. Bezüglich der Bewohner der Neuen Welt kommt Las Casas zu der Behauptung: "so sehr auch die göttliche Gerechtigkeit sie in diesem Leben durch ihre Strafen leiden läßt und ängstigt, ... so wird doch, und daran soll keiner, der sich Christ nennt, zweifeln, keiner von denen, die die göttliche Güte unter ihnen auserwählt hat, ihr entgehen ..."47 Damit zusammenhängend vertritt er die These, daß eine menschliche Rechtfertigung unabhängig von der offenbarten Wahrheit unmöglich sei. "Es war schon ein erstaunlich Ding", so schrieb Las Casas, "daß so viel Blindheit 45
A. Truyol y Serra , Einführung zu J. Höffner, La ètica colonial espanola del Siglo de Oro, übers, von F. Caballero, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1957, S. XIV. Die deutsche Originalausgabe erschien unter dem Titel Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im goldenen Zeitalter, Trier: Paulinusverlag 1947. 46 So schreibt Las Casas ζ. Β. in der Zusammenfassung von Kap. II von Buch I seiner Historia de las Indias: "Wie die Entdeckung Indoamerikas ein wunderbares Werk Gottes war. Wie die göttliche Vorsehung, die denen, die sie zu irgendeinem Werk erwählt, die notwendigen Tugenden und Vorzüge, die sie dazu brauchen, verleiht, offenbar zu diesem Zweck den Admiral auserkoren hat, der es entdeckte"; vgl. Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. I, S. 20. 47 Ebd., Bd. II, S. 528.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
herrschte ... daß jene götüiche Vorschrift vergessen wurde, wonach wir alle die belehren und unterrichten müssen, die von den göttlichen Dingen nichts wissen, weil ohne deren Kenntnis die Menschen nicht zu retten sind."48 Es ist klar, daß im Schatten solcher Vorstellungen die Vertretung des Freiheitsrechts der amerikanischen Völker, auf die die spätere Berühmtheit des Bischofs von Chiapas zurückgeht, nicht möglich gewesen wäre. Wir müssen uns also jetzt der Analyse derjenigen theoretischen Prämissen zuwenden, die Las Casas zur Begründung seiner Freiheitsidee dienen. Diese zweite Schiene, auf der sich Las Casas' Denken bewegt, hängt, wie schon gesagt, mit den Einflüssen der rationalistischen Naturrechtslehre Thomas von Aquins zusammen. Dies ist die Perspektive, aus der Las Casas sein großmütiges Plädoyer für ein Naturrecht auf Freiheit als ein jedem menschlichen Wesen angeborenes Merkmal formulierte.
2. Die moderne Auffassung Neben dem theokratischen, voluntaristischen Universumfindet man im Mittelalter auch die Anfänge einer rationalistischen Strömung, die auf die spätere Entwicklung der christlichen Philosophie entscheidenden Einfluß nimmt. Thomas von Aquin siedelt bekanntlich die Rechts- und Staatsproblematik in der Ordnung des Menschüchen an, die - da sie vom Schöpfer bestimmt ist - von der in der Offenbarung ausgedrückten götüichen Ordnung bzw. vom göttlichen Recht nicht absorbiert oder negiert werden kann. Mit kristallener Klarheit faßte der Aquiner seine Auffassung zusammen: "lus divinum, quod est ex graîia non tollit ius humanum, quod est ex naturali rat ione " 49 Die christliche Kultur eignete sich so zunehmend jene Quelle von Rechtsnormen an, die ihr einer ihrer größten Denker lieferte. So verfügten die spanischen Theologen-Juristen, als sie sich genötigt sahen, die durch die Entdeckung der Neuen Welt aufgekommenen ethischen, rechtlichen und politischen Fragen zu beantworten, mit dem thomistischen Erbe über eine robuste Ausgangsbasis. Nach Meinung von Juan Pérez de Tudela war es dieser theoretische Fundus, auf dem "einer der Füße von Bartolomé de Las Casas stand, während der andere wagemutig das Mysterium von Vergangenheit und Zukunft a b t a s t e t e " . 5 0
48
Ebd. S. 124. 49 Thomas von Aquin, Summa Theologica, II. II., q. 10, a. 10. 50 J. Pérez de Tudela (zit. Anm. 44) S. XXVI f.
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Die gesamte Freiheitslehre von Las Casas ist von diesen unterschiedlichen, auseinanderlaufenden Stimuli geprägt, die dem mittelalterlichen Erbe des Voluntarismus, dem thomistischen Intellektualismus und der Notwendigkeit einer Antwort auf die neuen Herausforderungen der Zeit entsprangen. Allerdings ist Las Casas* Freiheitsauffassung, die zweifellos einen Fortschritt darstellt, kein Zufall, sondern sichtbarer Ausdruck der historischen Funktion der rationalistischen Naturrechtslehre in einer bestimmten Lage. Tatsächlich liefert offenbar das Naturrecht thomistischer Tradition, dessen Ideen weit verbreitet waren und damals an den Universitäten von Salamanca und Alcalä einer umfassenden Aufarbeitung unterzogen wurden, die theoretische Basis für die fortschrittlichsten Thesen Las Casas' über die Freiheit.51 In der Abhandlung De regia potestate, dem für das Verständnis von Las Casas* Einstellung zur Freiheit wichtigsten Werk, wird auf Thomas von Aquin verwiesen, um die ursprüngliche Freiheit der ganzen menschlichen Gattung zu belegen. Indem Gott alle Menschen schuf und ihnen die gleiche rationale Natur verlieh, gab er ihnen von Anfang an auch die gleiche Freiheit. Für Las Casas kann folglich die rationale Natur nicht einem anderen Wesen verordnet werden, und deswegen kann auch nicht ein Mensch einem anderen unterworfen sein. Dies ergibt sich daraus, daß die Freiheit ein jedem menschlichen Wesen infolge seiner angeborenen rationalen Natur notwendigerweise innewohnendes Naturrecht ist, woraus man schließen muß, daß alle die gleiche Freiheit haben.52
Las Casas arbeitet die Merkmale, die Reichweite und Bedeutung des Naturrechts auf Freiheit definieren, klar und präzise heraus. Es handele sich um ein ursprüngliches, universales, notwendiges und ßr alle Menschen glei Recht, was es Las Casas erlaubt, jede Form der Unterwerfung des Menschen durch den Menschen ausdrücklich und unmißverständlich zurückzuweisen Jahrhunderte bevor dieses Prinzip als unverzichtbare Errungenschaft für einen wirksamen Genuß der Freiheit erkannt wird. Noch ein weiteres Merkmal kennzeichnet das Recht auf Freiheit: seine Unverjährbarkeit. Verjährung wirkt nach Las Casas immer zugunsten und niemals 51
Vgl. Ph.-I. André Vincent , Droits des Indiens et développement en Amérique Latine, Paris: Editions Internationales 1971, S. 51 ff.; T. Urdanoz (zit. Anm. 16) und die in Anm. 4 zit. Arbeiten. 52 B. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 16 ff. Die gleiche Idee taucht auch in anderen Schriften von Las Casas auf, so z. B. in Historia de las Indias (zit. Anm. 18), Bd. II, S. 188 f.; Principia quaedam et quibus procedendum ad manifestandam et defendendam justitiam indorum, in: Bartolomé de Las Casas. Tratados, mit Vorworten von L. Hanke und M. Giménez Fernàndez , Transkription von J. Pérez de Tudela, übers, von A. Miliares und R. Moreno, Mexiko: FCE 1965, Primum principium und Tertium principium, S. 1235 ff. und 1249 ff.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
zu Lasten der Freiheit, weshalb "Liberias vero nullo tempore praescribi pot est" Man hat Las Casas vorgeworfen, verschiedene Bedingungen des wissenschaftlichen Instrumentariums, das seiner Freiheitslehre zugrunde hegt, nicht strikt genug eingehalten zu haben. Wie bei Juristen seiner Zeit nicht ungewöhnlich, stößt man in seinem Werk oft auf Bedeutungsübertragungen vom Privatrecht auf das Öffentliche Recht. So verwendet er etwa im Zusammenhang mit der Freiheit und Knechtschaft von Menschen Zitate und juristische Argumente, die sich auf die Dienstbarkeit von Sachen b e z i e h e n . 54 Wirklich wichtig ist aber, daß selbst aus diesen theoretischen Definitionen noch sein Streben spricht, den Bereich der menschlichen Freiheit so weit wie möglich auszudehnen. Sein Werk ist voll von Bemerkungen, die die engen mittelalterlichen Mauern der Freiheit als Status des Menschen in der Gemeinschaft überwinden und die "Freiheit der Modernen", d. h. die Menge von Handlungsbefähigungen und -ermächtigungen des Subjekts a n d e u t e n . 5 5 ich neige daher nicht zu der These, die kategorisch verneint, daß man bei Las Casas die Vorläufer des Rechts in seiner modernen subjektiven Bedeutung finden k a n n . 5 6 Seine Einstellung zum Recht auf Freiheit im allgemeinen und in seinen spezifischen Versionen, auf die ich im folgenden noch näher eingehen werde, stützt vielmehr die entgegengesetzte These. 3. Der Einfluß von Las Casas 9 Freiheitslehre
auf die 'Kontroversen
Diese allgemeine Auffassung von der Freiheit in ihrer theoretischen Ausformung findet ihr Spiegelbild in den Problemen der Wirklichkeit, denn Bartolomé de Las Casas ist vielleicht eines der besten Beispiele für einen Denker, der die Theorie nicht von der Praxis loslösen will. Getreu diesem Anspruch macht er sich daran, mit zahlreichen historischen und theoretischen Argumenten die natürliche Rationalität und daher die volle Menschlichkeit der amerikanischen Indios zu zeigen. Dieser Aufgabe widmet er die zentralen Überlegungen seiner umfassendsten Werke: der Historia de las Indias und der Apologètica Historia. Er weist darin die Argumente derer zurück, die die Fähigkeit der Indios zum 53 B. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 22. 54 Vgl. Einführung rnB.de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. CXLVIII. 55 Vgl. A. E. Pérez Luno, Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitución, 4. Aufl., Madrid: Tecnos 1991, S. 108 ff. 56 Diese These wurde z. B. von Ph.-l. André Vincent (zit. Anm. 43, S. 59 ff.) explizit vertreten.
III. Die zwei Quellen der Freiheit bei Las Casas
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Leben als Menschen in politischen Gemeinschaften und zum Empfang des christlichen Glaubens bestreiten. Unter denen, die die These von der "natürlichen Knechtschaft" der amerikanischen Indios am vehementesten vertraten, ist der humanistische Gelehrte Juan Ginés de Sepulveda, ehemaliger Bewohner des Königlichen Studentenwohnheims von San demente de los Espafloles in Bologna, zu nennen. In Bologna spezialisierte er sich unter der Anleitung seines Lehrers Pietro Pomponazzi auf das Studium der aristotelischen Philosophie.57
Ginés de Sepulveda verteidigte in einem Dialog mit dem Titel Democrates alter y sive de iustis belli causis apud Indos das Recht der Spanier darauf, die I dios unter ihre Herrschaft zu bringen, und zwar auch mit Waffengewalt. Sepùlveda ging in seinem Bemühen um die Rechtfertigung der spanischen Herrschaft so weit zu behaupten, die Indios seien von den Spaniern so verschieden wie Affen von Menschen.58 Im Rückgriff auf Aristoteles, der schon im Jahre 1510 von dem schottischen Dominikaner John Major herangezogen worden war, um das Vorgehen der spanischen Krone in Amerika zu rechtfertigen, 59 argumentierte er, manche Menschen seien von Natur aus frei, und andere seien Knechte. So müßten die Indios als Wesen von niederer Natur - er bezeichnet sie sogar als homunculi - mit beschränkten Fähigkeiten und barbarischen Sitten den Spaniern, die hinsichtlich ihrer Intelligenz, Religion und Regierung besser ausgestattet seien, zu Diensten sein.60 Die theoretische Auseinandersetzung zwischen Ginés de Sepulveda und Las Casas erreichte bekanntlich ihren Höhepunkt in der von Mitte August bis Mitte September 1550 in Valladolid versammelten Kommission. Dank des von Domingo de Soto im Auftrag der Kommission erstellten Protokolls verfügen wir über einen präzisen Bericht über die Grundzüge der Debatte.61 57
Vgl. A. E. Pérez Luno, Notas sobre la filosofia juridico-politica de Juan Ginés de Sepulveda, in: Estudios de Filosofia del Derecho y Ciencia Juridica en Memoria y Homenaje al Catedrâtico Don Luis Legaz y Lacambra (1906-1980), Madrid: Centro de Estudios Constitucionales - Facultad de Derecho de la Universidad Complutense 1985, Bd. II, S. 233, mit weiteren Literaturangaben; jetzt auch: Kap. VII dieses Buches. 58 J. G. de Sepulveda, Democrates alter, hg. von M. Menéndez Pelayo, in: Boletin de la Real Academia de la Historia (1892) S. 305. 59 Vgl. P. Leturia, Maior y Vitoria ante la conquista de América, in: Estudios Eclesiâsticos 2 (1932) S. 44 ff. 60 7. G. de Sepulveda, Democrates alter (zit. Anm. 58) S. 307 ff. 61 Das Protokoll von Domingo de Soto wurde unter dem Titel Aqui se contiene una disputa ο controversia aufgenommen in Β. de Las Casas, Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. V, S. 293 ff. Die Originaltexte der Debatte zwischen Juan Ginés de Sepulveda und Bartolomé de Las Casas wurden
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
Bartolomé de Las Casas hielt an allem, was er in seinen früheren Werken über die rationale Natur der Indios und ihre Befähigung zum politischen Leben und zum Empfang des christlichen Glaubens gesagt hatte, fest und warf Ginés de Sepulveda vor, die aristotelische Lehre über die Sklaverei falsch verstanden zu haben. Nach Meinung von Las Casas seien vier Typen von Barbaren zu unterscheiden: (1) solche, die seltsame Gebräuche hätten, aber doch über eine politische Organisation verfügten; (2) solche Völker, die wegen ihrer übermäßigen Unterwürfigkeit eine tyrannische Regierung duldeten; (3) solche, die wegen ihrer perversen und grausamen Gebräuche nicht von der Vernunft geleitet würden und deshalb keinerlei Sozialordnung hätten und keinem Gesetz und Recht unterworfen seien, und schließlich (4) solche Völker, die nicht den christlichen Glauben hätten. Nach Meinung von Las Casas müsse man der aristotelischen Lehre entnehmen, daß nur diejenigen Völker, die in die dritte Gruppe seiner Typologie gehören, als natürliche Knechte anzusehen seien.62 Demnach kam er unter Berücksichtigung der jedem Menschen als solchem innewohnenden Freiheit ohne weiteres zu der für seine Zeit außergewöhnlichen Schlußfolgerung, daß alle Völker und Nationen, auch wenn sie Ungläubige seien, sofern sie nur ein eigenes Land besäßen, auf dem sie von Anfang an gewohnt hätten, freie Völker seien.63
Die Grundlage für diese universelle Freiheitserklärung ist keine andere als die alte naturrechtliche Idee stoischer Färbung von der wesentlichen Gleichheit der menschlichen Gattung. Schon vor den "Kontroversen" hatte Las Casas in einem bedeutsamen Fragment der Apologètica Historia das eigentliche Leitmotiv seiner Rechts- und Staatsphilosophie ausgedrückt, als er feststellte, "das ganze Menschengeschlecht ist eins, und alle Menschen gleichen einander hinsichtlich ihrer Schöpfung und natürlichen Gegebenheiten".64
veröffentlicht in dem Band Apologia, hg. von A. Losada, mit einer Einführung von M. Fraga Iribarne, Madrid: Ed. Nacional 1975. 62 B. de Las Casas, Aqui se contiene una disputa ο controversia (zit. Anm. 61) S. 328, Achte Replik. Las Casas entwickelt seine kritischen Kommentare zur aristotelischen Lehre von der Knechtschaft in seiner Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. IV, S. 434 ff. Vgl. H. Méchoulan , A propos de la notion de barbare chez Las Casas, in: Las Casas et la politique des droits de l'homme (zit. Anm. 4) S. 176 ff. Vgl. auch weiter oben Anm. 18. 63 "Quaecumque nationes et populi, quantumque infideles habentes terras et regna se quia a principio ilia incoluerunt seu habitaverunt , sunt populi liberi ..." \ vgl. Principia quaedam (zit. Anm. 52) S. 1254, Tertium principium. 64 Β. de Las Casas, Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. III, S. 166.
IV. Ehe Freiheit in der Privatsphäre
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I V . Die Freiheit in der Privatsphäre
Die Lehre Bartolomé de Las Casas* vom Recht auf Freiheit zeigt sich in ihrer ganzen fortschrittlichen Gewagtheit dort, wo er im Verlauf seiner Argumentation auf die Folgen eingeht, die die Postulierung des Prinzips der allen Menschen angeborenen natürlichen Freiheit mit sich bringt. Modern ist an Las Casas* Denken hier vor allem seine scharfsinnige Wahrnehmung der Hauptebenen, auf denen sich die Ausübung der Freiheit abspielt: nämlich der individuellen Ebene, wo es um einen Wert von subjektiver Bedeutung geht, der in der Fähigkeit des Menschen besteht, über seine Person und seine Angelegenheiten nach eigenem Willen frei zu verfügen,65 und der gesellschaftlich-politischen Ebene, wo es um eine für das politische Leben unverzichtbare Bedingung geht, da Menschen "nicht Teil des Volkes sein können, wenn sie nicht frei sind".66 Auf der individuellen Ebene umfaßt die Freiheit ein Recht auf Aneignung und Genuß von Dingen. Las Casas nimmt die in zahlreichen historischen Formulierungen des Rechtsnaturalismus hochgehaltene These auf, wonach ursprünglich die unbelebten Dinge und insbesondere das Land aus natürlichem Recht frei und allen gemein waren. Später erlangten die Menschen durch göttliches Zugeständnis die Berechtigung, sich durch Inbesitznahme Dinge anzueignen. Die Rechtfertigung des Eigentums scheint im Denken Las Casas* an das menschliche Bedürfnis gebunden, ihre Lebensbedürfnisse zu b e f r i e d i g e n . 67 Las Casas betrachtet das Recht auf Eigentum als allen Menschen, also auch den Heiden zustehend. So hält er die These für absurd, irrational und mit dem Naturrecht nicht vereinbar, daß die Heiden nach der Ankunft Christi ihrer Besitztümer enteignet und ihre Rechte auf die Gläubigen übertragen w u r d e n . 68 Eine weitere Folge, die sich aus der Anerkennung der Freiheit im Privatbereich ergibt, ist die Forderung nach Gewissensfreiheit. Auch hinsichtlich dieses
65 "Dicitur liber homo qui est sui arbitrii ... Unde habent facultatem libere de personis pro rebus disponendis , proutvolunt "; vgl. De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 19. 66 B. de Las Casas, Entre los remedios, in: Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. V, S. 74, Zweiter Grund. 67 Β. de Las Casas, Tratado de las doce dudas, in: Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. V, S. 486, Erstes Prinzip; De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 20 und 22. 68 "... alias maxime erravit contra rationem et etiam ius naturale et divinum, quando dix omne dominium et iurisdictio in adventu Christi substracta fuerunt omni infideli, et adfide lata ", vgl. De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 29. Die gleiche Idee findet sich in Tratado comprobatorio (zit. Anm. 11) S. 389 f.; Treinta proposici ones muy jurîdicas (zit. Anm. 8) S. 251 f., Propositionen IX, X und XI; Tratado de las doce dudas (zit. Anm. 67) S. 487, Erstes Prinzip und Korollar.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
Rechts war der Dominikaner aus Sevilla seiner Zeit in der umfassenden Verteidigung der menschlichen Würde weit voraus. Bartolomé de Las Casas erkannte zwar die weltweite Rechtshoheit des Papstes an, wegen der er, wie wir gesehen haben, von der Legitimität des spanischen Vorgehens in Amerika ausging, aber er wies auch darauf hin, daß diese Rechtshoheit für die Heiden in religiöser Hinsicht nicht bindend sei. Der Papst habe daher zwar das Recht und die Pflicht, das Evangelium auf dem ganzen Erdkreis zu predigen, nicht aber, Zwang gegen die Heiden auszuüben, die sich weigerten, den Glauben zu empfangen. So heißt es bei Las Casas an anderer Stelle: "Christus hat nur geboten, daß sein Evangelium allen Menschen ohne Unterschied verkündet und gepredigt werde und daß es dem freien Willen eines jeden überlassen bleibe, ob er glauben wolle oder nicht; und die Strafe für die, die nicht glauben wollen, war keine körperliche oder diesseitige, sondern ... die behielt er sich für sein Letztes Gericht vor. "69 Las Casas stellt fest, daß die göttliche Vorsehung alle Dinge gewaltlos ihren Zwecken zuführe, und diese Regel wollte er noch nicht einmal für die Verbreitung des Glaubens durchbrochen sehen. So wollte er nicht, daß die Wahrheit aus Furcht oder gegen die natürlichen Neigungen der Menschen angenommen würde, sondern daß die Annahme auf dem freien Willen beruhe. Es sei daher "gegen den Sinn der Gerechtigkeit, für die der rechte Wille zählt", den Glauben durch Gewalt aufzwingen zu w o l l e n . 70 So meint der Bischof von Chiapas, das Beispiel Christi, der seine Jünger in die Welt sandte, die Völker gewaltlos, allein durch ihre Tugend und die Reinheit der Lehre zu bekehren, sollte auch die Haltung der Spanier in Amerika inspirieren. Die Sünden und Laster der Götzenanbeterei bei den Indios sollten nicht bestraft werden, weil sie nur Gott beleidigten und seinem göttlichen Gericht vorbehalten seien.71 Auf diesem Weg gelangt er zu der für seine Zeit bemerkenswerten Maxime, daß die Heiden "von keinem irdischen Richter bestraft werden dürfen, außer denen, die die Verkündung des Glaubens direkt behin-
69
B. de Las Casas, Tratado comprobatorio (zit. Anm. 11) S. 357, Zweite Folgerung. Ebd. S. 358. Las Casas weist das von Sepulveda, dem er vorwirft, das Denken des Hl. Augustinus entstellt zu haben, vorgebrachte Argument des compelle intrare entschieden zurück und kommt zu dem Schluß, daß "die Kirche niemals dazu zwingt oder nötigt, etwas Gutes zu tun, es sei denn, man habe es versprochen"; vgl. Aqui se contiene una disputa ο controversia (zit. Anm. 61) S. 322, Zweite Replik. 71 Β. de Las Casas, Entre los remedios (zit. Anm. 66) S. 81, Sechster Grund. 70
IV.
e Freiheit in der Privatsphäre
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dem und aus Bosheit auch nach hinreichender Ermahnung nicht davon ablassen"^ Die vollständigste und systematischste Darstellung der Thesen Las Casas' über die religiöse Freiheit und die Toleranz findet sich jedoch zweifellos in seinem Traktat De unico vocationis modo, das ungefähr aus dem Jahre 1536 stammt. Kernpunkt dieses Werkes ist der Gedanke, daß "die göttliche Vorsehung für die ganze Welt und für alle Zeiten eine einzige, immer gleiche Art bestimmt hat, wie man die Menschen die wahre Religion lehren soll, nämlich: durch Überzeugung ihres Verstandes mit Hilfe von Gründen und durch Ermunterung und den sanften Anstoß des Willens".73 Diese Art der Übermittlung religiöser Glaubenslehren sei als einzige der Rationalität des Menschen angemessen, aus der sich gerade seine Freiheit und Würde herleiten. Denn "die Art und Weise, in der man ein rationales Wesen zum Guten, zur Tugend, zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit, zum reinen Glauben und zur wahren Religion bewegt, hinleitet, hinzieht oder ausrichtet, muß eine Weise sein, die mit der Natur und Beschaffenheit eben dieses rationalen Wesens in Einklang ist".74 Jede Form von erzwungener Religionsdurchsetzung wird folglich abgelehnt. Die göttliche Weisheit bewege die rationalen Geschöpfe, also die Menschen, dazu, ihre eigenen Taten auf harmonische Weise durchzuführen. Folglich müsse die Art, wie man Menschen die Religion lehrt, "blandus, dulcis et suavis" sein.75 Diese Einstellung verbindet sich mit Las Casas* - äußerst aktuellen - Überzeugungen hinsichtlich der Legitimität des Krieges. Wie Paulino Castafieda zutreffend unterstreicht, ist er gegen "jede Art von Gewalt bei der Verkündung des Evangeliums. Und zwar auch dann, wenn die Missionare abgelehnt würden. Sie hätten zwar das Recht zu sprechen, nicht aber das Recht, andere zu 72 B. de Las Casas, Aqui se contienen treinta proposiciones muy juridicas (zit. Anm. 8) S. 252, Proposition XIII. 73 B. de Las Casas, Del unico modo... (zit. Anm. 39) S. 6. ™ Ebd. S. 14. 75 Ebd. S. 8. Tzyetan Todorov hat kürzlich Las Casas' Lehre von der Gewissensfreiheit als eine zunehmende Anerkennung der Identität des "Anderen", nämlich des Indios, sowie der ethischrechtlichen "Gleichheit" seines "anderen" Werte- und Glaubenssystems erklärt. Nach der Interpretation Todorovs habe sich Las Casas von einer Haltung gegenüber den Indios, die zwar großmütig war, die aber deren Riten doch dem anpassen wollte, was er für die einzig wahre und zulässige Religion hielt, hin zu einer Anerkennung des Indios als solcher entwickelt. Vgl. T. Todorov , La conquête de l'Amérique. La question de l'autre, Paris: Seuil 1982 (dt.: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, hier S. 226 f.).
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Kapitel V I : Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
zwingen, ihnen z u z u h ö r e n " . 7 6 Daher ist für Las Casas auch die Verbindung des Phänomens des Krieges mit der Verkündung des christlichen Glaubens unzulässig. Las Casas verurteilt den Krieg unumwunden: "Was ist es anderes als gemeinschaftlicher Mord und Raub von vielen?"?? Kriege seien, von ihren schrecklichen Folgen - "sie bewirken unendliche und nichtwiedergutzumachende Schäden wie Tote, Gemetzel, Verwüstungen, Plünderungen, Versklavung und ähnliches Unheil ..." 78 - einmal ganz abgesehen, grundsätzlich unzulässig, weil sie dem Naturrecht zuwiderlaufen, "was offenkundig ist, denn die Natur hat zwischen den Menschen ein gewisses Recht der Verwandtschaft festgelegt, weswegen es einem Menschen nicht erlaubt ist, einem anderen Fallen zu stellen".79 Diese Einstellung läßt es durchaus gerechtfertigt erscheinen, daß Las Casas als "Vorkämpfer der friedlichen Verkündung" betrachtet wird. 80 Ich selbst halte sein Werk für eines der deutlichsten historischen Zeugnisse dessen, was ich unbedingten oder ethischen Pazifismus genannt habe. Es handelt sich dabei um die Überzeugung, daß Frieden und Krieg Ausdruck eines Wertes bzw. eines Unwertes sind und daß es deswegen eine unumgängliche Pflicht gibt, ersteren zu fördern und letzteren für immer auszumerzen. Die Forderung hat für den, der diese Form des Pazifismus vertritt, den Charakter eines kategorischen Imperativs, d. h. sie stellt eine Pflicht an sich dar, die nicht an äußere Umstände der Opportunität oder Konvenienz gebunden ist. Diese pazifistische Option bildet folglich den Ausgangspunkt für ein ethisches Engagement zugunsten der sofortigen Abschaffung aller internationalen zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf Beherrschung, Mißtrauen und Furcht gegründet sind, und ihrer Umwandlung in eine innere und äußere Ordnung, die auf treuhänderischer Solidarität und auf gegenseitiger Kooperation beruht.81
76
P. Castaneda, Los métodos misionales en América. ^Evangelización pura ο coacción?, in: Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 4) S. 158; ders., Las doctrinas sobre la coacción y el 'Idearium' de Las Casas, Einführung zu der neuen Edition von De Unico Vocationis Modo, in: B. de Las Casas, Obras complétas (zit. Anm. 8), Bd. 2, S. XVII ff. nß.de Las Casas, Del unico modo... (zit. Anm. 39) S. 339. 78 Ebd. S. 504. 79 Ebd. S. 516. 80 p. Castaneda (zit. Anm. 76) S. 158. Vgl. auch T. Todorov (zit. Anm. 75) S. 221 ff. 81 Vgl. A. E. Pérez Luno, El Ano Internacional de la Paz desde la Constitución Espanola, in: Communio X K (1986) 1, S. 28 ff.
V. Die politischen Freiheiten: Der Gesellschaftsvertrag
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V. Die politischen Freiheiten: Der Gesellschaftsvertrag
Ihren höchsten Stand erreicht die Freiheitslehre des Pater Las Casas aber wohl in der Skizzierung der sozio-politischen Umrisse der Freiheit. Hier nimmt er schon sehrfrüh die demokratische Richtung vorweg, die die Rechts- und Staatsphilosophie später einschlagen sollte. Es ist daher nicht sehr gewagt zu behaupten, daß im politischen Denken Las Casas' die Freiheit nicht mehr "eine abstrakter Bezug auf privatrechtliche Situationen [ist], sondern zu einem für die politische Gesellschaft konstitutiven formalen Prinzip wird". 82 Die politische Freiheit wird von Las Casas als höchster, unschätzbarer Wert angesehen, den ein freies Volk haben kann. 83 Die Argumentation des Beschützers der Indios geht in diesem Teil seiner Lehre von verschiedenen Annahmen aus, die im späteren naturrechtlichen Denken demokratischer Ausrichtung entscheidende Bedeutung erlangen sollten. Emeut hält sich Las Casas an Cicero und verweist darauf, daß es ein primitives Zeitalter gegeben habe, in dem der Mensch in einem wilden, ungeselligen Zustand gelebt und alle Arten von "tierischen Fehlern und Irrationalitäten" begangen habe.84 Aus dieser Situation, die auch die kultiviertesten Nationen in bestimmten Epochen ihrer Geschichte durchgemacht hätten, könne sich der Mensch dank der Impulse seiner natürlichen Vernunft befreien, die ihn dazu dränge, in Gesellschaft zu lebend Da sie allen Menschen gemein sei, erlaube es diese Vernunft den Völkern, wenn sie durch Einsicht und Liebe überzeugt würden, das Stadium des humanen Lebens, d. h. das politische Leben zu erreichen.^ Anzumerken ist, daß Las Casas - ganz auf der Linie der späteren Hobbesschen Auffassung - den Naturzustand als eine prekäre Situation versteht, in der es keinerlei Verhaltensregeln gibt, und zugleich als eine echte historische Tatsache. "Es gab kein Volk, keine Nation und kein davon bevölkertes Land", so schreibt Las Casas, "wo man nicht anfangs und für lange Zeit zerstreut in
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Pérez de Tudela (zit. Anm. 44) S. CXIII. "Liberias est res preciosior et inaestimabilior cunctis opibus quae populus liber hab De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 49. 84 B. de Las Casas, Historia de las Indias (zit. Anm. 18) Prolog, S. 11. Las Casas bezieht sich hier ausdrücklich auf die Vorrede zu Ciceros Rhetorik, der er ein bedeutsames Zitat entnimmt: "Fuit quoddam tempus cum in agrìs homines passim bestiarum vagabantur et sibi victu ferin propagabant". Zweihundert Jahre später sprach Giambattista Vico von der Zeit, in der die Menschen noch keine Verhaltensnormen besaßen, als einer età ferina ; vgl. Scienza nuova seconda, cap. 922. 85 Ebd. S. 11 f. 86 Ebd. S. 12. 83
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Kapitel V I : Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
den Bergen und Tälern lebte, ohne Gesetz und Ordnung und ohne Gewerbe, wild und unkultiviert."87 Diese Vorstellung Las Casas' von einer Zeit, in der die Menschen "wie Bestien"88 lebten, ist dem von Rousseau als ein Zustand vollkommener Harmonie und Gleichheit verklärten idyllischen Naturzustand ganz und gar entgegengesetzt. Rousseau kommt es außerdem auch nicht in den Sinn, diesen Zustand als historische Tatsache zu sehen, sondern er bemerkt, daß es ihn wohl nie gegeben habe und daß man die Verweise darauf nicht als historische Wahrheiten auffassen sollte, sondern als hypothetische und konditionale Argumentationen, die weniger den Ursprung der Dinge aufdecken, als vielmehr deren Natur klären sollten.^ Für Rousseau - ebenso wie später für Kant und andere Vertragstheoretiker haben Naturzustand und Gesellschaftsvertrag keinen empirischen oder historischen Charakter, sondern eine kontrafaktische Dimension und fungieren als ideales Kriterium für die politische L e g i t i m a t i o n . 9 0 Hier ist auf den doppelten inneren Widerspruch hinzuweisen, in den Bartolomé de Las Casas in diesem Punkt, wie auch an anderen Stellen seiner theoretischen Konstruktion, verfällt. Der erste besteht darin, daß diese negative Sicht des Naturzustands als eine gewaltsame und grausame Epoche schwerlich zu der schon dargestellten Haltung in anderen Teilen seines Werkes paßt, wo er den Primitivismus verherrlicht und den Mythos vom "guten Wilden" vorwegnimmt. Der zweite hängt damit zusammen, daß Las Casas - vermutlich ganz bewußt gleichzeitig mit der vertragstheoretischen Erklärung des Ursprungs der Gesellschaft auch die entgegengesetzte Grundlage vertritt, also jene, die vom appetitus societatis, von der natürlichen Geselligkeit des Menschen und dem Bedürfnis zur Befriedigung der sozialen Zwecke, die der Natur des Menschen innewohnen, ausgeht. Die aristotelisch-thomistische These vom "natürlichen" Ursprung der Gesellschaft war bei den Theoretikern der spanischen Natur- und Völkerrechtsschule vorherrschend und mußte Las Casas daher vertraut sein. So stellt er mit ausdrücklichem Bezug zum Denken Aristoteles' fest, daß dem Menschen das ge87 B. de Las Casas, Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. III, S. 160. 88 Ebd. 89 7.-7. Rousseau, Discours sur l'inégalité, Vorwort, Paris: Pléiade, Bd. III, S. 123. 90 Vgl. statt vieler E. Fernandez • El contractualismo clàsico (Siglos XVII y XVIII) y los derechos naturales, in: Anuario de Derechos Humanos 1983, Bd. 2, S. 59 ff., wiederabgedruckt in: ders., Teoria de la justicia y derechos humanos, Madrid: Debate 1984.
V. Die politischen Freiheiten: Der Gesellschaftsvertrag
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sellschaftliche Zusammenleben innerhalb der verschiedenen politischen Gemeinschaften ganz natürlich sei.91 In einer unverkennbaren Paraphrase der aristotelischen Politik heißt es bei Las Casas, daß dem Menschen "zur Befriedigung der Bedürfhisse der menschlichen Natur", um nicht nur zu leben, sondern gut zu leben, die von der Familie dargestellte erste Gefährtenschaft nicht ausreiche, "weswegen der Mensch die zweite Gefährtenschaft oder Gesellschaft braucht, die die vollkommene ist".92 Aus der natürlichen menschlichen Geselligkeit wiederum entstehe das Bedürfnis nach Autorität, verstanden als ein Leitprinzip zur Ausrichtung der gesellschaftlichen Bemühungen auf das Gemeinwohl. In den Worten von Las Casas: "Wenn nämlich viele zusammen wären, ohne daß sie jemand leitet, dann gäbe es große Verwirrung ... und folglich würde sich die Gesellschaft auflösen und könnte sich nicht halten, was dem Anspruch der Natur widerspräche, die den Menschen die natürliche Neigung gibt, in Gemeinschaft zu leben.
Die Gesellschaft bleibe jedenfalls, wenn sie erst einmal konstituiert sei gleichgültig, ob auf der Grundlage einer im Vertrag konkretisierten Übereinkunft oder aufgrund der natürlichen Neigung zur Gesellschaft (oder auf den beiden antithetischen Wegen zugleich, wie aus Las Casas' Ansatz hervorzugehen scheint) -, die unmittelbare Verwalterin der Macht. Daher müsse sich jede Regierung, um legitim zu sein, auf einen Vertrag bzw. die Zustimmung des Volkes gründen. Las Casas führt damit das demokratische Denken der Schule von Salamanca bis zu seiner äußersten Konsequenz und vertritt die vertragliche Begründung der Macht, wenn er sagt, nur der dürfe regieren, "den die Gesellschaft und Gemeinschaft zu Beginn gewählt hat oder neuerlich wählt, wo er nicht gewählt war". 94 Las Casas verweist so auf eine ursprüngliche politische Freiheit aller Völker, die aufgrund dieser Freiheit, die ihnen naturrechtlich zukomme, ihr politisches Regime mit ihren zuvor gewählten Autoritäten auszugestalten beschlossen hätten. Die Könige, Fürsten, Herrscher und hohen Beamten dürften daher, wenn sie politische Pflichten auferlegten, niemals vergessen, daß sie selbst ihren Ursprung in der freien Zustimmung des Volkes hätten und daher ihre gesamte Au91
B. de Las Casas, Tratado de las doce dudas (zit. Anm. 67) S. 486, Erstes Prinzip. 92B.de Las Casas, Apologètica Historia (zit. Anm. 20), Bd. III, S. 152. 93 B. de Las Casas, Tratado de las doce dudas (zit. Anm. 67) S. 486, Erstes Prinzip. 94 Ebd. 13 Pérez Luno
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
torität und Rechtshoheit ihnen vom Volkswillen übertragen worden sei. 95 Das Volk sei so die Wiikursache jeder legitimen Autorität: "populus fuit causa effectua regum seu principum, aut quorumcumque magistratum, si iustum buerunt ingressum"96
V I . Gesetz und Freiheit
Bartolomé de Las Casas zieht aus seinem vertragstheoretischen Ansatz die äußersten Konsequenzen, wenn er feststellt, daß die Rechtsnormen genau in dem Moment zu existieren begannen, in dem Städte gegründet und Magistrate eingerichtet wurden.97 Dieser Anfang führt zur Forderung einer demokratischen Erarbeitung aller normativen Materialien. Das Gesetz könne so seine Funktion erfüllen, die Freiheit der Bürger zu gewährleisten, und diese könnten sicher sein, daß sie nicht den Launen irgendeines Menschen, sondern rationalen, auf das Gemeinwohl gerichteten Imperativen unterworfen sein w e r d e n . 98 Bartolomé de Las Casas beharrt auf dem Gedanken, daß "die Untertanen nicht der Macht des Königs unterworfen sind, sondern daß sie unter der Macht des Gesetzes stehen, da sie nicht unter einem Menschen, sondern unter einem gerechten Gesetz stehen".99 Es führt seinen Schluß mit der Beobachtung fort, daß die Könige diese Bezeichnung trügen, "weil sie gewissenhaft die Gesetze befolgen und befehlen, was recht ist, und verbieten, was unrecht ist; und so sind die Bürger weiter frei, da sie keinem Menschen, sondern dem Gesetze gehorchen".!^ Wie so viele andere Stellen in Las Casas* Werk erlauben auch diese eine doppelte Lesart. Einerseits kann man den Bück zurück auf dasrichten,woher er seine gedanklichen Anregungen bezogen hat, wobei hier in erster Linie an Las Casas9 ausdrücklichen Bezug auf Aristoteles zu denken ist, man aber auch in den Zitaten einen Widerhall der berühmten Maxime Ciceros erahnen kann:
95
B. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 34. 96 Ebd. 97 "Civilia autem iura tunc esse coeperunt, et cum civitates condì et magistratus creari runt"\ vgl. De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 34. 98 Ebd. S. 37. 99 Ebd. 100 Ebd. S. 50. Nach Meinung von Ernesto Garzón Valdés stellt diese These von Las Casas eine echte Definition der Rechtsstaatlichkeit dar; vgl. seine Einführung: Recht, Ethik und Politik in Spanien, zu dem Sammelband Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, hg. von E. Garzón Valdés , Berlin: Duncker & Humblot 1990, S. 9.
V I . Gesetz und Freiheit
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"Legum servi sumus ut liberi esse possimus". m Interessanter ist aber doch eine nach vorne gerichtete Beurteilung dieser Texte, die sich am Schlüsselprinzip für die Entwicklung der Freiheiten und der historischen Herausbildung des Rechtsstaates orientiert, also jener Staatsform, in der das Gesetz - aufgefaßt als Ausdruck des Willens der Bürger und nicht der Willkür dessen, der die Macht innehat - als notwendige Bedingung für die Freiheit erscheint. Im übrigen ist auch ein weiterer äußerst interessanter Aspekt von Las Casas' Gesetzeslehre nicht zu unterschätzen, nämlich der, daß sie - wenn auch nur in Ansätzen - schon die zwei großen Konzeptionen andeutet, die in späteren Jahrhunderten im Wettstreit liegen sollten, nämlich die liberale und die demokratische. Erstere ist in den Thesen von Locke und Montesquieu verkörpert und versteht das Gesetz als Garantie der negativen Freiheit, also der Nichteinmischung der Staatsmacht in die Sphäre privater Interessen. Dagegen gründet sich nach der demokratischen These, die ihren wichtigsten Vertreter in Rousseau haben sollte, das Gesetz auf die positive Freiheit, also darauf, die Teilhabe aller Bürger an den Normen, die ihr Verhalten regeln sollen, zu garantieren.102 Las Casas erahnt und inkorporiert diese doppelte Auffassung vom Gesetz diesmal wohl weniger trotz als dank der Widersprüche und Ungenauigkeiten, die sich an verschiedenen Stellen seines Werkes zeigen. Er geht vom Gesetz als negativer Freiheit aus, wenn er in einer Passage, die einen utilitaristischen Liberalismus einzuläuten scheint, definiert, daß "der Freie Ursache seiner selbst ist... woraus sich ergibt, daß alles, was um ihn herum geschehen mag, seinem Eigennutz untergeordnet sein muß; und da das Regime jeder Gemeinschaft freier Menschen im Hinblick auf diese freien Menschen existiert, so muß es folglich auf deren Wohl und Nutzen ausgerichtet sein".103 Um dies zu erreichen, erläutert Las Casas, "müssen Gesetze zur Förderung des Wohls aller Bürger und niemals zum Schaden des Volkes erlassen werden, sondern jene müssen vielmehr dem öffentlichen Interesse der Gemeinschaft entsprechen und nicht umgekehrt dieses den Gesetzen".104 101 M. T. Cicero, Pro Cluentio, 53, 146. Über die rechtlichen und politischen Einflüsse dieser Maxime vgl. V. Frosini, La estructura del Derecho, hg. von A. E. Pérez Luno, Bologna: Publicaciones del Real Colegio de Espana 1974, S. 76 ff. 102 Vgl. A. E. Pérez Luno (zit. Anm. 55) S. 214 ff. Auch Ernesto Garzón Valdés hat in den Textes Las Casas* über die Freiheit Vorwegnahmen der liberalen Auffassung Lockes sowie der demokratischen Auffassung Rousseaus und Habermas' entdeckt; vgl. seine Arbeit (zit. Anm. 100) S. 9. 103 B. de Las Casas, Principia quaedam (zit. Anm. 52) S. 1257 ff. MB. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 50.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
Daneben finden wir aus der gleichen Zeit aber auch Texte von Bartolomé de Las Casas, die auf eine demokratische Sicht hindeuten, wenn er etwa auf der Autonomie oder der Partizipation der Adressaten an der Formulierung der Gesetze besteht. Diese Idee, die sich im Denken des späteren Las Casas wiederholt findet, ist in seinem Argument zusammengefaßt, wonach "in Angelegenheiten, die allen Nutzen oder Schaden bringen, [...] im Einklang mit der allgemeinen Zustimmung zu handeln [ist]. Daher ist bei allen Arten öffentlicher Angelegenheiten die Zustimmung aller freien Menschen einzuholen." 105
V I I . Demokratische Legitimierung der Macht und Volkssouveränität
Die Merkmale, die Las Casas' Begriff der Souveränität und im besonderen der Volkssouveränität definieren, erlauben es, sein Denken zu den Vorläufern konstitutionalistischer Thesen zu zählen. Bartolomé de Las Casas betont dabei ganz besonders die Eigenschaften der Unveräußerlichkeit und der Unverjährbarkeit. Die Volkssouveränität ist unveräußerlich, und deswegen kann die Autorität, an die das Volk sie delegiert hat, nicht ohne dessen Zustimmung seine Rechtshoheit und folglich auch nicht die Personen oder materiellen Güter, über die sie ausgeübt wird, v e r ä u ß e r n . 106 Bartolomé de Las Casas legt besonderen Wert darauf, die Unzulässigkeit der Veräußerung von Ländereien und öffentlichen Ämtern zu beweisen, was zweifellos auf seinen Wunsch zurückgeht, das Unrecht bestimmter Auswüchse der spanischen Conquista im Zuge der Unterwerfung der Kaziken und mit der Besetzung von Ämtern aufzuzeigen; letztlich handelt es sich hier um ein Plädoyer gegen das Regime der encomienda. 107 Zugleich ist die Volkssouveränität auch unverjährbar. Folglich verliert das Volk dieses Recht, das ein Korollar zu seiner Freiheit ist, niemals. In Las Casas' Gedankengebäude hat das Volk, das seine Autoritäten durch freie Wahl ("per liberam electionem") bestimmt hat, dadurch nicht etwa seine Freiheit ver105
Ebd. S. 35. 106 B. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 90 ff. Über die historische Entstehung und die heutige Reichtweite der Volkssouveränität vgl. A. E. Pérez Luno (zit. Anm. 55) S. 187 ff. 107 Zu Las Casas' Einstellung zum System der encomienda vgl. u. a. die Arbeiten von L. Hanke, La lucha por la justicia en la conquista de América, übers, von R. Iglesia, Buenos Aires: Sudamericana 1949, S. 130 ff. (Neuaufl. Madrid: Aguilar 1969); G. Lohmann-Villena, La restitución por conquistadores y encomenderos: un aspecto de la incidencia lascasiana en el Peru, in: Anuario de Estudios Americanos (1966) S. 21 ff.; S. Zavala , La encomienda indiana, 2. Aufl., Mexiko: Porrua 1973, passim.
VII. Demokratische Legitimierung der Macht
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loren oder diesen Autoritäten die Macht verliehen, es zu zwingen oder ihm zu seinem Schaden Lasten aufzubürden. Pater Bartolomé weist darauf hin, daß es nicht nötig sei, dieses Recht im Augenblick des Vertragsschlusses ausdrücklich zu benennen, denn es handele sich um einen naturrechtlichen Anspruch, ιοβ Die Unveijährbaikeit der Volkssouveränität zeigt sich in den wiederholten Wahlen der Autoritäten; in der Monarchie wird sie dann ausgeübt, wenn der König keinen legitimen Erben hat. "Der Grund dafür ist", so Las Casas, "weil die Wahl der Könige und derjenigen, die die freien Menschen und Völker regieren sollen, nach dem Naturrecht und dem Völkerrecht denen zukommt, die regiert werden sollen, und sich diese selbst dem Gewählten aus eigener Zustimmung unterwerfen, also durch einen Willensakt, der unter keinen Umständen ... erzwungen werden darf, da alle Menschen zunächstfrei geboren sind und waren". 109 Die Nationen verlieren diesen Anspruch nie, außer wenn sie es aufgrund ihrer kollektiven Schuld verdienen, dieses Grundrecht einzubüßen.110 Im Grunde geht es also darum, als Grundprinzip des politischen Lebens die These zu begründen, daß ohne Zustimmung des Volkes keinerlei Beschränkung der Freiheit legitim ist: "nulla subiectio imposita fuit sine consensu populi". Nachdem er diese demokratischen Prinzipien etabliert hat, verkündet Las Casas die Strafen, die auf ihre Verletzung folgen. So stellt er fest, daß jede Maßnahme der Autoritäten, die dem Gemeinwohl entgegenläuft und nicht die Zustimmung des Volkes genießt, ohne Rechtsgültigkeit bleibt.112 Die Autoritäten müssen ihr Handeln immer dem Gesetz als der Garantie für die Freiheit der Bürger unterordnen, die so wissen, daß ihnen nur das Rechte vorgeschrieben und nur das, was gegen die Gerechtigkeit verstößt, verboten werden wird. 113 108
B. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 34 f. de Las Casas, Tratado comprobatorio (zit. Anm. 11) S. 380 f. In der Carta al Maestro fray Bartolomé Carranza de Miranda von 1555 wendet Las Casas diese Prinzipien auf die Lage in der Neuen Welt an: "... der König von Kastilien muß in den entdeckten indischen Ländern als höchster Fürst und als Kaiser über viele Könige anerkannt werden ... (aber) nicht durch Gewalt, sondern infolge von Verträgen und Abkommen zwischen dem König von Kastilien und ihnen, wobei der König von Kastilien durch Schwur versprechen muß, daß seine Hoheit für sie gut und nützlich sein wird und daß ihre Freiheit, ihre alten Herrscher und Würdenträger und Rechte und vernünftigen Gesetze bewahrt und erhalten bleiben, und sie (ich meine, die Könige und Völker) müssen den Königen von Kastilien versprechen und schwören, ihre Hoheit als höchster Fürst anzuerkennen und ihren gerechten Gesetzen und Anordnungen zu gehorchen"; vgl. Obras escogidas (zit. Anm. 8), Bd. V, S. 444f. 110 B. de Las Casas, Tratado comprobatorio (zit. Anm. 11) S. 380. i n B. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 36. 112 Ebd. S. 47. 113 Ebd. S. 47 ff.
11
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
Las Casas kommt damit zu dem Schluß, daß alles, was eine Regierung zum Schaden ihres Landes und ohne die Zustimmung des Volkes tut, auch gegen das Naturrecht verstößt. Dies erweist sich daran, daß eine Autorität, die gegen ihre Bürger handelt, diese ihrer Freiheit beraubt und ihre Absichten mit Gewalt durchsetzt; was aber unfreiwillig ist, steht der natürlichen Neigung des Willens entgegen, der von Natur aus frei ist und nicht gezwungen werden darf.
V m . Das Widerstandsrecht
Mit den Folgerungen aus diesen Fragestellungen kommen wir zu einem zentralen Thema der Rechts- und Staatsphilosophie: zum Widerstandsrecht. Bei Las Casas fmdet man keine umfassende, systematische Behandlung dieses Themas, wie sie einige Jahre später Juan de Mariana liefern sollte. Es gibt jedoch in seinem Werk verschiedene Stellen, denen sich seine volle Zustimmung zum Recht auf Widerstand und auf Tyrannenmord entnehmen läßt. Diese Hinweise sind unter anderem deswegen von gewisser Bedeutung, weil, wie wir schon gesehen haben, Las Casas sich mit diesen Argumenten nicht "als eine Form banaler Rhetorik" beschäftigt. 114 In De regia potestate bezieht sich Las Casas für die Anerkennung des Rechtes der Bürger auf Widerstand gegen die einseitig von Königen oder Herrschern beschlossene Veräußerung ihrer Stadt oder ihres Territoriums auf die Consuetudine s FeudorumM 5 Im Tratado de las doce dudas stellt er fest, die Indios dürften gemäß dem Naturrecht "behindern und Widerstand leisten" gegen jeden, der ihnen Schaden oder Leid zufügt. 116 Ausgehend von den feudalen Banden des Lehnswesens und den Folgen, die deren Verletzung mit sich brachte, schließt Las Casas: "Die Herren haben das Recht, gegen den Tyrannen Krieg zu führen, und dasselbe Recht haben auch die Untertanen". 1 1 7 An anderer Stelle bezieht er sich auf das kastilische Öffentliche Recht, um - wie etwa in seinem Traktat Entre los remedio j118 - daran zu erinnern, daß "ein Privileg, das der König verleiht, falls es gegen unseren heiligen katholischen Glauben ist, auf gar keinen Fall angenommen und erfüllt wer114
J. A. Maravall (zit. Anm. 24) S. 181. 115 β. de Las Casas, De regia potestate (zit. Anm. 10) S. 94. n6ß. de Las Casas, Tratado de las doce dudas (zit. Anm. 67) S. 505,7. Folgerung aus dem Ersten Zweifel. Π7 Ebd. us B. de Las Casas, Entre los remedios (zit. Anm. 66), Zehnter Grund.
IX. De regia potestate : Höhepunkt der Entwicklung bei Las Casas
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den [darf], und ebenso wenn es gegen Nutzen und Frommen des Reiches und gegen das Gemeinwohl ist, und auch wenn allgemeine oder besondere Klauseln enthalten sind, die die Rechte derogieren, dürfen sie nicht erfüllt werden ..." Auch hier wieder liegt, wie an so vielen anderen Stellen, das Verdienst Las Casas' in seiner Fähigkeit, unter dem Anschein, sich auf die Vergangenheit zu stützen, die Zukunft vorwegzunehmen sowie über das Partikulare und Vorübergehende hinauszugehen und allgemeine Prinzipien universaler Reichweite zu formulieren. Dies ist es, was aus Bartolomé de Las Casas eine Gestalt von gestern, von heute und von morgen macht. Denn er war in der Lage, Texten, die auf das Funktionieren des Feudalstaates zugeschnitten waren, gültige Kriterien für die demokratischen Systeme der Moderne zu entnehmen (sei es auch um den Preis der Veränderung ihres ursprünglichen Sinnes). So kommt er nach der Erörterung der genannten historischen Umstände zu einer kategorischen Schlußfolgerung, die den gesamten späteren demokratischen Rechtsnaturalismus beeinflussen sollte, wenn er feststellt, daß "wer die Herrschaft mißbraucht, nicht zu herrschen verdient, und man gegenüber einem Tyrannen keinen Glauben, keinen Gehorsam und kein Gesetz zu beachten braucht".119 Aus all dem Gesagten lassen sich die Prinzipien, die Las Casas' Idee von den Freiheiten zugrunde liegen, in vier Grundzüge zusammenfassen. Der erste bezieht sich auf den Auslöser oder Ursprung der Macht, der, wir wir gesehen haben, immer das Volk ist. Der zweite betrifft deren Zweck, der kein anderer als das Gemeinwohl ist. Der dritterichtetsich auf die Wege der Machtausübung und verweist auf die notwendige Partizipation des Volkes an wichtigen Regierungsakten und ganz besonders am Gesetzgebungsprozeß. Und viertens schließlich bilden die angemessenen Sanktionen für Verhaltensweisen, die diesen Prinzipien nicht entsprechen, welche bis zur Ausübung des Widerstandsrechts reichen, die beste Garantie für die politische Freiheit einer Gemeinschaft. Mit diesen demokratischen Postulaten erreicht Bartolomé de Las Casas' Ableitung aus dem Rechtsnaturalismus ihre endgültigen Konsequenzen, die ihre Aktualität in vielerlei Hinsicht bis heute nicht verloren haben.
I X . De regia potestate : Höhepunkt der naturrechtlichen Entwicklung bei Las Casas
Die Hauptzüge, die die Rechts- und Staatsphilosophie von Las Casas umreißen, sind also bis hierhin in knapper Form zusammengefaßt. Es ist unüberseh119
Ebd.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
bar, daß diese Lehre das Ergebnis einer mühsamen geistigen Suche ist, in der sich viele der Wechselfälle des persönlichen Werdegangs des Beschützers der Indios widerspiegeln. Nicht zu Unrecht ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß bei ihm Theorie und Praxis untrennbar verschränkt sind. Seine Lehre ist daher weniger als bloße Wiederholung von etwas Gegebenem denn als Ergebnis eines Kampfes zu sehen. Dieser Kampf spielt sich bei einem Grenzautor wie Las Casas zwischen den letzten Nachklängen der mittelalterlichen Welt und den neuen Herausforderungen durch das Aufkommen von Problemen und Anliegen ab, die den Übergang zur Moderne ankündigen. Diese Züge seines geistigen Werdegangs waren wohl auch die Ursache für die Ungenauigkeiten und Widersprüche, die, wie sich gezeigt hat, an verschiedenen Stellen seines Weikes auftreten. Damit wird jedoch keineswegs sein gesamtes Denken ungenau und widersprüchlich. Seine Haltung ist vielmehr als ganz klarer Ausdruck einer beständigen Idee anzusehen: es geht letztlich um die Einforderung der Freiheit der Indios, was sich allmählich zum Kampf für die Freiheit und Emanzipation aller Menschen ausweitet. Dies war, im Nachhinein betrachtet, die Achse seiner geistigen Entfaltung und der Schlüssel, der ihr innere Kohärenz verleiht. 120 Aus dieser Perspektive erscheint De regia potestate, das Las Casas' endgültige politische Vorstellung enthält, als Endpunkt der konsequenten logischen Schlußfolgerungen, die sich aus seinem kosmopolitischen, rationalistischen Rechtsnaturalismus ziehen ließen. Seine in De regia potestate dargelegten Thesen über die Freiheiten sind nichts anderes als die vollendete theoretische Fortführung seiner naturrechtlichen Prämissen. Dies läßt sich anhand von Textstichproben in chronologischer Reihenfolge nachweisen, denn die zuletzt systematisch aufgestellten Prinzipien sind in den Hauptwerken, die die Eckpfeiler in der Entwicklung von Las Casas' Lehre bilden, schon impliziert. 121 Andererseits lassen sich die Thesen, von denen der Traktat handelt, aus den Rechtsund Staatstheorien des damaligen Spanien und insbesondere aus der Lehre, wie 120
André Saint-Lu ist dem Bild von einem widersprüchlichen oder inkohärenten Las Casas entgegengetreten, das nach seinem Urteil "aus einer allzu häufigen Verwechslung zwischen dem, was war, und dem, was wurde, bzw. zwischen einer abstrakten, schematisierten und einer konkreten, diversifizierten Sicht des Phänomens Las Casas entstanden ist". Er schließt hieraus, daß Las Casas eine komplexe Persönlichkeit war, "der aber weniger deswegen verwirrt, weil er intrinsisch mysteriös wäre, als vielmehr, weil er so wenig bekannt ist"; vgl. Acerca de algunas 'contradicciones' lascasianas, in: Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 4) S. 11 und 15. 121 Vgl. L Perefia (zit. Anm. 15) S. CXXX ff.; Λ. E. Pérez Luno, Rezension von: B. de Las Casas, De regia potestate, in: Revista Juridica de Catalufia (1971) S. 462 ff.; J. Pérez de Tudela (zit. Anm. 44) S. CXII ff.; R. Queraltó (zit. Anm. 4) S. 283 ff.
IX. De regia potestate : Höhepunkt der Entwicklung bei Las Casas
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sie im Umfeld der Auseinandersetzung um Amerika entstand, nicht extrapolieren. Die in De regia potestate enthaltene Staatstheorie war für Kastilien, wo den Cortes bis ins 15. Jahrhundert eine erhebliche Beteiligung an der gesetzgeberischen Tätigkeit des Staates zugestanden worden war 122 und wo in jenen Jahren die Aufstände der Comuneros ausbrechen, 123 weder t h e o r e t i s c h 124 noch auch in der Praxis völlig neu. Es ist daher nicht zu verstehen, wieso die Tatsache, daß der Traktat erst nach dem Tode Las Casas* und in Deutschland erfolgte, durch die Kühnheit seines Inhalts bedingt gewesen sein soll, wie Lewis Hanke behauptet. 125 Da De regia potestate erst nach dem Tode Las Casas' erstmals 1571 in Frankfurt erschien, wurden gewisse Zweifel an seiner Autorenschaft laut. Lu122 Vgl. J. Marnano (zit. Anm. 17) S. 37 ff., sowie 7. Martinez Cardós , Las Indias y las Cortes de Castilla durante los siglos XVI y XVII, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1956, passim. 123 Vgl. V. Abril (zit. Anm. 41) S. 92 ff. 124 Hinsichtlich der Haltung zu den im Rahmen der Conquista gegen die Indios verübten Übergriffe verweist Las Casas ausdrücklich darauf, daß "seit dem Jahre Zehn (1510)... von den Kanzeln gemahnt, an Universitäten und Hochschulen diskutiert und durch Verordnungen der Könige Abhilfe geschaffen ..." werde; Tratado de las doce dudas (zit. Anm. 67) S. 498, Prinzip VIII. Analog kann man sagen, daß ein großer Teil der in De regia potestate vertretenen Forderungen der spanischen Rechts- und Staatsphilosophie dieser Zeit nicht fremd war. Vgl. statt vieler die Arbeiten von P. Castaneda, Las doctrinas sobre la autoridad en los teólogos-juristas del Siglo de Oro espanol y su aplicación en América, in: Estudios Homenaje a Menéndez Pidal, Sondernummer der Revista de la Universidad de Madrid Vol. II, Nr. 69 (1969) S. 67 ff.; L. Perefia, La Universidad de Salamanca forja del pensamiento politico espanol durante el siglo XVI, Universidad de Salamanca 1954; A. E. Pérez Lufio , A propòsito de la concepción democratica de Juan Roa Dâvila y del orden juridico en Francisco Suârez, in: Revista Juridica de Cataluna (1972) S. 653 ff.; E. Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe: Müller 1955; A. Truyol y Serra , Los principes del Derecho publico en Francisco de Vitoria, Madrid: Ediciones Cultura Hispanica 1946. Vgl. auch die in Anm. 4 angegebene Literatur. 125 L. Hanke (zit. Anm. 107) S. 391 f. Die Abhandlung De imperatoria vel regia potestate wurde zum ersten Mal 1571 in Frankfurt gedruckt, und zwar auf Initiative von Wolfgang Gries tetter, Anwalt am Reichskammergericht von Speyer und hochgelehrter Jurist, der seine Ausbildung an den renommiertesten deutschen Universitäten (celebriores Scholas Germanicas) sowie in Frankreich und Italien erhalten hatte. Griestetter hatte das Werk während seines Aufenthalts in Spanien als Berater des Gesandten des österreichischen Kaisers in Madrid, Adam Freiherr von Dietrichstein, erworben, dem er den Traktat widmete. Vgl. J. Gonzalez, Dimension histórica del 'De regia potestate', Einführung in Bd. 12 der Obras complétas von Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 8) S. LV ff. Die paradoxen Launen der Geschichte führten dazu, daß die Publikation des theoretisch bedeutendsten Werkes von Las Casas gerade auf eine deutsche Initiative zurückging und in einer deutschen Stadt erfolgte; nichts hätte besser belegen können, wie übertrieben und ungerecht die von Las Casas in seiner naturalistisch-deterministischen Phase geäußerten Vorbehalte und Zweifel hinsichtlich der intellektuellen Fähigkeit und Empfindsamkeit der Deutschen waren. Vgl. dazu auch weiter oben Abschnitt 2.2.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
ciano Perefia hat sich allen diesbezüglichen Spekulationen entschieden widersetzt und die Behauptung, es handele sich um ein apokryphes Werk, unumschränkt abgelehnt. Die von Perefia angeführten Gründe scheinen hinreichend und überzeugend. Seine wichtigsten Argumente beziehen sich auf: (1) die Tatsache, daß sich thematisch und ideologisch eine Fortschreibung früherer Werke feststellen lasse, so daß man De imperatoria seu regia potestate sogar als Höhepunkt der demokratischen Thesen von Las Casas ansehen könne; (2) die Übereinstimmung dieses Werkes mit anderen aus der gleichen Zeit, insbesondere mit Principia quaedam und De thesauris in Peru, in denen die argumentativen Parallelen eindeutig seien; (3) die Tatsache, daß die Quellen, mit denen die Thesen gestützt würden, weitgehend dieselben seien, die auch in seinen anderen Werken benutzt wurden, so daß Las Casas ohne jeden Zweifel als Autor der Abhandlung angesehen werden müsse.126 Hinsichtlich des unmittelbaren Einflusses auf die Gedanken des Traktats wird gelegentlich vorgebracht, Bartolomé de Las Casas habe die politische Abhandlung In très posteriores libros Codicis Iustiniani des italienischen Kommentators Lucas de Penna plagiiert. Perefia meint dazu, Las Casas habe "ganze Seiten des großen italienischen Kommentators kopiert, ... zitiert ihn allerdings nicht immer 11.127 Ich denke jedoch, daß es sich nicht so sehr um ein Plagiat oder um "geistigen Betrug"128 in unserem heutigen Sinne handelt, sondern daß sich hier nur der große Einfluß widerspiegelt, den die italienischen Kommentatoren insgesamt auf die rechtsphilosophische Kultur im Spanien der Renaissance hatten. Es sei diesbezüglich nur daran erinnert, daß schon vor einigen Jahren Camilo Barcia Trelles die Übereinstimmungen von Las Casas mit gewissen staatsrechtlichen Vorstellungen von Bärtolo de Sassoferrato hervorgehoben hat. 129 Über die Originalität von De regia potestate läßt sich streiten; unbestreitbar ist jedoch sein innerer Wert als das Werk, in dem die Entfaltung von Las Casas' demokratisch-naturrechtlichen Ideen ihren Höhepunkt findet, sowie sein äußerer Wert insofern, als es einen großen Schritt in der Geschichte des Kampfes um die Werte der Würde, Freiheit und Gleichheit aller Menschen darstellt.
126
L. Perena (zit. Anm. 15) S. CXIV ff. 127 Ebd. S. CXXVIII. 128 Ebd. S. CXLIX. 129 C. Barcia Trelles , Interpretación del hecho americano por la Espafia universitaria del siglo XVI, Montevideo: Institución Cultural Espanola del Uruguay 1949, S. 55 ff.
X. Las Casas und die Menschenrechte
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X. Las Casas und die Menschenrechte
Die Beziehung Las Casas' zur Menschenrechtsproblematik ist sicher einer der Gründe, die am meisten zum aktuellen Interesse an seiner Gestalt beigetragen haben. Zur Rechtfertigung dieses Interesses läßt sich vorbringen, daß das Eintreten für die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Würde aller Menschen selten dringlicher als heute gewesen ist. Es geht daher bei der Betrachtung seines Denkens nicht um die bloße Übung eines rückblickenden Wiederausgrabens der Vergangenheit, sondern vielmehr um die Auseinandersetzung mit einer ganzen Reihe von noch immer offenen Fragen: "das Problem des Rechts auf Krieg, Eroberung oder auch auf Bekehrung; das Problem der Gleichheit von Spaniern und Indios und letztlich der Gleichheit aller Menschen; das Problem also des Gegensatzes und der möglichen Beziehung zwischen Faktum und Recht, zwischen der Positivität der Gegebenheiten und dem natürlichen Recht".130 Ausgehend von diesen Überlegungen kommt man - mit Antonio Larios leicht zu dem Schluß, daß "Las Casas wie ein Mythos und ein Bannerträger der Rechte und der Würde des Menschen erscheint" 131 u n d daß "sein ganzes Werk ein Schrei nach Freiheit und Befreiung durch das Naturrecht und die Kraft des Evangeliums" ist. 132 Nicht weniger eindeutig ist die Aussage Luciano Perenas, der sogar feststellt, Las Casas sei "zu einem der revolutionärsten Theoretiker der modernen 130 R. Xirau, Vorwort zu dem Band von Las Casas, Sahagun, Zumdrraga et al., Idea y querella de la Nue va Espana, Madrid: Alianza 1973, S. 10. 131 A. Larios , Bartolomé de Las Casas: la luchapor lajusticia y la dignidad del hombre, Einführung zu dem Band von Bartolomé de Las Casas, En defensa de los indios, Sevilla: Biblioteca de Cultura Andaluza 1985, S. 33. 132 Ebd. S. 31. Las Casas* Gestalt enthält schließlich eine befreiende, emanzipatorische Botschaft nicht gegen den christlichen Glauben, sondern mit diesem. Darum konnte man in ihm einen Vorläufer der heuügen Theologie der Befreiung sehen. Vgl. V. Abril, Bipolarización Sepulveda - Las Casas ... (zit. Anm. 13), S. 264; J. M. Aubert, Aux origines théologiques des droits de l'homme, in: Las Casas et Vitoria (zit. Anm 16), S. 120; L. Perefia, Fray Bartolomé de Las Casas, profeta de la liberación, in: Arbor (Madrid) Nr. LXXXIX (1974) S. 181 ff. Man könnte Las Casas auch als Vorläufer der sogenannten "Lateinamerikanischen Befreiungsphilosophie" als einer kulturellen Bewegung betrachten, die die Anwendung der fortschrittlichsten Strömungen des Historizismus, der Soziologie und der Theologie auf die sozialen und ökonomischen Probleme Lateinamerikas vertritt. So hält Leopoldo Zea die aktuellen Strömungen der Theologie der Befreiung, die "die Notwendigkeit, das Reich Gottes nicht erst im Jenseits, sondern schon in dieser Welt als Reich der Gerechtigkeit und der Freiheit zu verwirklichen, in dem der Mensch den Menschen nicht mehr ausbeutet, sondern sich ökumenisch mit ihm verbrüdert", vertreten, für ein Grundelement der lateinamerikanischen Bewegung der Philosophie der Befreiung. Vgl. sein Vorwort zu Horacio Cerutti Guldberg, Filosofia de la Liberación Latinoamericana, Mexico: FCE 1983, S. 12.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
Demokratie geworden. Sein Buch De regia potestate ist wohl die sensationellste Abhandlung ihrer Zeit zu Demokratie und Menschenrechten." 133 Jenseits des Grundkonsenses über den entscheidenden Beitrag Las Casas' zur Stärkung der Menschenrechtsideefindet man gelegentlich eine unterschiedliche Betonung der verschiedenen Prämissen, auf die sich Las Casas stützt. Für Angel Losada etwa besteht der zentrale Gedanke in der "Verteidigung der Menschenrechte ohne Ansehen von Hautfarbe, Rasse oder Religion und der zu diesem Zweck beanspruchten völligen Freiheit der Meinungsäußerung". 134 Dagegen unterstreicht José Antonio Maravall die kosmopolitischen, humanistischen und utopischen Züge bei Las Casas: "Las Casas' anthropologischer Universalismus begründet bei ihm das höchste politische Recht, das alle anderen umfaßt: das Recht, Mensch zu sein u. 135 Diesen Sichtweisen widersprechen diejenigen, die wie Joseph Höffher vor der voreiligen Gleichsetzung der von Las Casas verteidigten Freiheiten mit der modernen, liberal-demokratischen Auffassung der Menschenrechte warnen. "Las Casas und seine Freunde", so Höffheri36 'Vertraten aufrichtig und offen ein christliches Bewußtsein. Sie forderten selbstverständlich nicht die säkularisierten Menschenrechte des Rationalismus späterer Epochen." Diese These ist in gewisser Weise von Philippe-Ignace André Vincent bestätigt und präzisiert worden, der daran erinnert, daß die Vorstellung der Menschenrechte als subjektive Rechte dem Denken Las Casas' fremd ist, da für diesen Recht immer eine objektive Gerechtigkeitsbeziehung zwischen den Menschen ist. Er schließt also, daß nicht nur die Vokabel, sondern auch der Begriff 'Menschenrechte' in Las Casas' Theorie nicht vorkommt. 137 133 L. Perena, La Carta de los derechos humanos, segùn fray Bartolomé de Las Casas, in: Estudios sobre fray Bartolomé de Las Casas (zit. Anm. 4) S. 293. Las Casas wird so eng mit den Menschenrechten in Verbindung gebracht, daß man sogar internationale Kongresse unter diesem Motto veranstaltet hat. So ist beispielsweise auf die Akten der Tagung zum Thema Las Casas et la politique des droits de l'homme (zit. Anm. 4) zu verweisen. Für eine zusammenfassende Darstellung der menschenrechtsbezogenen Thesen von Las Casas vgl. audi das Werk von B. M. Biermann, Las Casas und seine Sendung. Das Evangelium und die Rechte des Menschen, Mainz: Grünewald 1968, sowie die anregenden Überlegungen dazu von E. Garzón Valdés (zit. Anm. 100) S. 8 ff. 134 A Losada, Einführung zu dem Band von Juan Ginés de Sepulveda und Bartolomé de Las Casas, Apologia (zit. Anm. 61) S. 14. 135 J. A. Maravall, Libertad y derecho de ser hombre en el pensamiento lascasiano, in seinem Band Utopia y reformismo en la Espana de los Austrias (zit. Anm. 24) S. 384. ι 3 6 7. Höffher, La ètica colonial espanola del Siglo de Oro (zit. Anm. 45) S. 303. 1 37 Ph.-I. André Vincent , La notion de droit dans la dialectique lascasienne (zit. Anm. 43) S. 66; ders., La concrétisation de la notion classique de droit naturel à travers l'oeuvre de Las Casas, in: Las Casas et la politique des droits de l'homme (zit. Anm. 4) S. 203 ff.
X. Las Casas und die Menschenrechte
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Diesen Standpunkt teilt Michel Villey, wenn er darauf hinweist, daß es ein historischer Fehler ist, Las Casas als "promoteur des droits de l'homme" zu bezeichnen, da er selbst dieses Wort niemals benutzt habe. Villey geht sogar so weit zu behaupten, daß es Las Casas nicht um die Rechte des Menschen im allgemeinen gegangen sei - ganz im Gegensatz zu dem, was ich in der vorliegenden Analyse anhand der theoretischen Entwicklung Las Casas' zu zeigen versucht habe -: es sei ihm um das konkrete Problem der Verteidigung der Indios, nicht der Chinesen oder der Schwarzen gegangen. Las Casas habe aufgrund des christlichen Gedankens der Nächstenhebe gehandelt, aus dem sich die gleiche Würde aller Menschen ableite, und folglich brauchte er für seine Aktivitäten zugunsten der amerikanischen Indios die Menschenrechte nicht.138 Auch die Einschätzung Venancio Carros steht dieser Sichtweise nahe. Seiner Meinung nach unterscheiden sich die politischen und rechtstheoretischen Ideen Las Casas' nicht wesentlich von denen der wichtigsten spanischen TheologenJuristen des Siglo de Oro . Carro neigt jedoch im übrigen zu einer metaphysischen Sicht der Menschenrechte bei den spanischen Klassikern. Diese hätten nach seiner Darstellung manche Prinzipien vorweggenommen, die später in den modernen Menschenrechtsdeklarationen Anerkennung fanden, wenn auch ihre christlich-traditionelle Wertvorstellung einen ganz anderen Ansatz bedingt.139 Ich denke, man sollte herausstreichen, daß der Wert und die Bedeutung des Erbes der klassischen spanischen Staats- und Rechtsdenker und ganz besonders Las Casas' vor allem in ihrem großen Beitrag zur Entwicklung eines demokratisch ausgerichteten humanistisch-rationalistischen Rechtsnaturalismus hegt, der die Entstehung der modernen Menschenrechte und des Rechtsstaats erst möglich gemacht hat. Dagegen erscheint es aus der Sicht unserer Zeit als hermeneutischer Anachronismus mit weitreichenden praktischen Konsequenzen, in den spanischen Klassikern die Begründer einer ganz bestimmten, aus der Ideologie des autoritären Staates oder bestenfalls aus einem patemalistischen Korporativismus gespeisten Menschenrechtslehre zu sehen. Was uns die Vertreter des klassischen spanischen Naturrechtsdenkens am sympathischsten macht und uns am engsten mit ihnen verbindet, ist schließlich nicht, daß sich angeblich die "Charta der Spanier" (Fuero de los Espanoles) 140 an ihrem Erbe 138
M. Villey, Problématique des droits de l'homme, in dem Band Las Casas et la politique des droits de l'homme (zit. Anm. 4) S. 369 ff. 139 V. D. Carro , Derechos y deberes del hombre, Antrittsvortrag in der Real Academia de Ciencias Morales y Politicas, Madrid 1954, Bes. S. 8 ff. und 109 ss.; ders., La teologia y los teólogos juristas espanoles ante la conquista de América (zit. Anm. 4), Bd. II, S. 425 ff. 140 1945 unter Franco erlassen [Anm. d. Ü.].
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
inspirierte, sondern vielmehr ihr entscheidender Anstoß zu einem geistigen Klima, aus dem die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, aber auch die liberale Verfassung von Cädiz oder in jüngerer Zeit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO oder der Katalog der Grundrechte und -freiheiten der spanischen Verfassung von 1978 hervorgingen. 1 4 1 Ich denke, daß eine genaue Lektüre des Denkens im Werk der spanischen Klassiker - wobei dem Beispiel Las Casas besondere Relevanz zukommt - den Irrtum derer erweist, die aus einem versteinerten Traditionalismus heraus ihr eigenes Glaubenssystem so unverrückbar festgeschrieben haben, daß sie die politische und kulturelle Geschichte Spaniens als die Geschichte eines Volkes darstellen, das für die Freiheiten unempfindlich und seit jeher dem Dogmatismus und Autoritarismus verhaftet ist. Auf der anderen Seite lassen sich so auch die - angeblich progressiven - Thesen widerlegen, die eben diese Stereotype als Ausgangspunkt akzeptieren, also mit Verachtung auf die kulturelle Vergangenheit Spaniens blicken und für die Freiheiten und die demokratischen Institutionen, die sie aus Unkenntnis in unserer Tradition nicht zu entdecken vermögen, Legitimation in importierten Modellen suchen. Paradoxerweise gelangt man also offenbar von ideologisch entgegengesetzten Prämissen zu ein und derselben falschen Schlußfolgerung: der jahrhundertelange Kampf des spanischen Volkes zur Erringung der Freiheiten wird seiner historischen Grundlage und Rechtfertigung beraubt. Auch wenn man zugeben muß, daß die Erringung der Freiheiten in Spanien schwieriger und ihr Genuß kurzlebiger als anderswo war, sollte man doch die bedeutenden historischen Anstrengungen zu ihrer Erkämpfung sowie den wesentlichen spanischen Beitrag in den ersten Phasen ihrer Verankerung im europäischen Bewußtsein nicht geringschätzen. Die Kritik an bzw. die Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit, Las Casas zu den Menschenrechtstheoretikern zu zählen, stellt uns vor eine grundlegende 141 Ich teile daher auch nicht das Urteil von V. D. Carro , der bezüglich des Fuero de los Espanoles meint, dieser enthalte "glücklicherweise einige Aussagen von allgemeinem, abstraktem Charakter, die auf das ganz in Einklang mit unseren Traditionen und unserem Temperament stehende spanische theologisch-juristische Erbe hindeuten", Derechos y deberes del hombre (zit. Anm. 139) S. 131. Carro gelangt zu dem Schluß, man habe "es im Fuero de los Espanoles verstanden, ohne viel pompöses demokratisches Geschwätz bestimmte Grundrechte und -pflichten hervorzuheben, die in manchen Verfassungen und vor allem in der Praxis anderer Nationen etwas in Vergessenheit geraten sind", ebd., S. 132. Es ist daran zu erinnern, daß A. Sànchez de la Torre in seinem Comentario al Fuero de los Espanoles. Teoria juridica de los derechos humanos IV, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1975, den Fuero de los Espanoles als originelle Reaktion des Franco-Staates auf die Menschenrechtsforderung bezeichnet hat.
X. Las Casas und die Menschenrechte
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und in gewissem Sinne vorgängige Frage, nämlich die nach dem eigentlichen Begriff und dem historischen Entstehen der Menschenrechte. Die Beantwortung dieser Frage ist umso dringlicher, als unlängst anläßlich der Zweihundertjahrfeier der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte dieses Ereignis mit der Geburt der Menschenrechte in ihrer modernen, präzisen Auffassung gleichgesetzt wurde. Es ist heute klar, daß der Ausdruck "Menschenrechte11 einen historischen Begriff bezeichnet, dessen Anwendung nur in ganz bestimmten Zusammenhängen angemessen ist, nämlich vom "Übergang zur Moderne" an, der in die bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts mündete.142 Hieraus ergibt sich die Gefahr des Uchronismus, will man Bartolomé de Las Casas Ideen und Kategorien unterschieben, die seinem Denken notwendigerweise fremd sein mußten. Mit Recht hat Silvio Zavala auf die methodologischen Schwächen derer hingewiesen, die Anfang des 19. Jahrhunderts Las Casas, dem "Verfechter der Liebe zur Menschheit und der gleichen Rechte aller", Reden in den Mund legten, die "denen eines aufgeklärten Bürgers aus der Zeit der Französischen Revolution entsprechen".143 Allerdings laden die Modernität und der vorausschauende Charakter vieler Gedanken und Vorschläge Las Casas* sowie die Ähnlichkeit vieler seiner politischen Sorgen, Hoffnungen und Enttäuschungen mit denen der heutigen Zeit tatsächlich dazu ein, ihn von den Grenzen seiner Epoche, in die sein eigener Widerspruchsgeist eingezwängt zu sein sich weigerte, zu emanzipieren. Ein historisch bewußter Gebrauch politischer und juristischer Begriffe und Kategorien gestattet es jedoch nicht, die Ideen der Gegenwart zu verzerren, um sie den Lehren Las Casas' anzupassen, oder umgekehrt das Denken Las Casas' zu verzerren, um es für heutige Interessen umzufunktionieren. Dies zugestanden, ist aber im Gegenzug auch zu bedenken, daß die Geschichte weder sprunghaft in einem Vakuum abläuft noch eine bloße Gegenüberstellung gegeneinander hermetisch abgeschlossener Perioden ist. Die Geschichte der juristischen und politischen Begriffe - auch die des Menschenrechtsgedankens - erschöpft sich nicht in dem Datum des flüchtigen Moments, in dem er Form annimmt, sondern ruht auf der ganzen Mächtigkeit vergangener Erfahrung. 142
Vgl. G. Peces-Barba, Trànsito a la modernidad y derechos fundamentales, Madrid: Mezquita 1982; A E. Pérez Lufio, Concepto y concepción de los derechos humanos, in: Doxa (Alicante) Bd. 4 (1987) S. 55 ff. 143 S. Zavala , La defensa de los derechos humanos en América Latina (zit. Anm. 38) S. 57.
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Kapitel VI: Demokratie und Menschenrechte bei Las Casas
Ohne Berücksichtigung einer ganzen Reihe von Vorläufern im theoretischen (die Entwicklung des humanistisch-rationalistischen Rechtsnaturalismus, in die die Lehre Las Casas' eingebettet ist) und im institutionellen Bereich (die mittelalterlichen Kodifizierungen von Freiheiten und Vorrechten, insbesondere die Magna Charta als Vorbild der nachfolgenden Bills of Rights, die sich bis zu den Erklärungen der amerikanischen Rechte als unmittelbares Modell für die französische Erklärung von 1789 verfolgen lassen) wäre der Menschenrechtsbegriff undenkbar. Ebenso falsch wäre die Vorstellung, der Menschenrechtsbegriff, wie er in den Erklärungen des 18. Jahrhunderts auftritt, bilde eine definitiv bestimmte Kategorie, die bis heute unverändert blieb. Man denke nur an das heutige theoretische Gespür für den sogenannten Wandel der Grundrechte und die verschiedenen "Generationen" von Menschenrechten.144 Man kann folglich sagen, daß für den historischen Prozeß der Herausbildung der Menschenrechte die Lehre der klassischen spanischen Naturrechtler ein unverzichtbares Glied ist. Durch die Berührung mit Völkern einer primitiven und jedenfalls von den zuvor bekannten ganz verschiedenen Kultur wurde der Begriff des Menschen selbst in Frage gestellt. Diese Problematik führte unmittelbar zur Frage nach dem moralischen und rechtlichen Status der Menschen und Völker der Neuen Welt. In diesem Zusammenhang ist das geistige Ringen einer ganzen Reihe spanischer Theologen-Juristen zu sehen, unter denen in erster Linie Las Casas zu nennen ist und die dazu neigten, den Ureinwohnern Amerikas und letztlich allen Menschen gewisse auf dem Naturrecht basierende Grundrechte einzuräumen. Die Lehren von Bartolomé de Las Casas spielten eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung des geistigen und institutionellen Klimas, das den Übergang von den mittelalterlichen ständischen Rechten zu den modernen Menschenrechten markiert. Diese Verschiebung beruht grundlegend auf drei Aspekten: (1) Auf der Ebene der Begründung wird die gewohnheitsrechtliche, historische Rechtfertigung der Freiheiten allmählich aufgegeben, während zugleich die rationalistisch-naturrechtliche Legitimation verstärkt wird;
144 Vgl. A. E. Pérez Luno, Le generazioni dei diritti umani, in dem von F. Riccobono besorgten Band Nuovi diritti dell'età tecnologica (Atti del Convegno tenuto a Roma presso la Libera Università Internazionale degli Studi Sociali, 5 e 6 maggio 1989), Mailand: Giuffrè, S. 139 ff.
X. Las Casas und die Menschenrechte
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(2) hinsichtlich der Rechtsträger verlieren die Freiheiten ihre Bindung an bestimmte Stände oder Kategorien von Personen und stellen sich jetzt als Rechte aller Menschen als solchen dar; (3) und schließlich werden bezüglich ihrer Rechtsnatur die modernen Menschenrechte nicht als privatrechüiche Verträge oder Vereinbarungen formuliert, sondern als Instrumente, die öffentliches Recht begründen. 145 Die vorstehenden Überlegungen gestatten die Schlußfolgerung, daß die Theorie von Las Casas trotz gewisser Widersprüche und Ungereimtheiten doch auf die Merkmale ausgerichtet ist, die die Menschenrechte der Moderne definieren. In ihrem reiferen Entwicklungsstadium, wie es sich in De regia potestate zeigt, ist seine Lehre als paradigmatisch für eine rationalistisch-kosmopolitische naturrechtliche Begründung anzusehen. Zugleich will er mit seiner Auffassung von den Freiheiten den privatrechüichen Rahmen überwinden und sie als konstitutive Prinzipien der politischen Gesellschaft darlegen. Im übrigen bildet die Anerkennung gewisser Grundrechte aller Menschen den Kern seines Denkens und die Haupttriebfeder seines Lebens; Leben und Werk gehen schließlich bei Las Casas stets untrennbar ineinander über. Denkt man an Las Casas, so denkt man zugleich an die Rechte und Freiheiten aller Menschen. Daher haben sich viele von denen, die sich im Laufe der Jahrhunderte der Aufgabe gewidmet haben, die Menschenrechte einzufordern, seinem Vorbild und seinen Thesen wesentlich verpflichtet gefühlt. Es ist durchaus bemerkenswert, daß ein spanischer Bischof des 16. Jahrhunderts so großen moralischen Symbolwert erlangt hat, daß ihn sogar ein Dichter mit einer ihm völlig fremden Sichtweise zum Gegenstand lyrischer Anrufung gewählt hat: "... Padre Bartolomé, Dank für dieses Geschenk der miüeidlosen Mitternacht, Dank, weil deines Lebens Faden unbesiegbar war... in der Einheit der Zeit, im Verlauf des Lebens war deine vorauseilende Hand Tierkreisgestirn, Zeichen des V o l k e s . " 146
145 Vgl. A. E. Perez Inno, Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitución (zit. Anm. 55) S. 114f. 146 p. Neruda, Canto general (dt.: Der große Gesang, in: Dichtungen, hg. und übers, von Erich Arndt, Darmstadt: Luchterhand 1977, S. 185 ff.). 14 Pérez Lufio
Kapitel VII Die Rechts- und Staatsphilosophie des Juan Ginés de Sepulveda L Juan Ginés de Sepulvedas umstrittene Persönlichkeit
In der Ideengeschichte gibt es eine Reihe von Denkern, denen die undankbare Rolle des Gegenspielers zukam. Wenn, wie einmal gesagt wurde, alle Philosophie darauf abzielt, mit der Welt fertig zu werden,1 dann ist eine historische Vorreiterrolle der Lohn derer, die die Zeichen der Zeit zu erkennen vermochten, sie durchdachten undrichtiginterpretierten oder gar ihre Entwicklung und Auflösung vorwegnahmen. Da aber in jedem historischen Augenblick vergangenheits- und zukunftsgerichtete Stimuli nebeneinander existieren und sich gegenseitig bedingen,findet man im Gegensatz zu der Fähigkeit der angesprochenen Autoren, die Problematik einer Epoche und die Knotenpunkte einer Kultur zu begreifen, was ihren Lehren Vitalität und Dauerhaftigkeit verleiht, auf der anderen Seite bei manchen Denkern die Neigung, sich an die enggesteckten Grenzen des zeitgenössischen Kontextes oder an den Nachhall der Vergangenheit zu klammern, was ihre Ansätze fruchtlos macht. Letzteres scheint auch das traurige Schicksal der Theorien Juan Ginés de Sepulvedas gewesen zu sein, auf die man nur als Gegenstück zu der dauerhaften Bedeutung und der bis heute erhaltenen Frische verweist, die die Thesen seines Gegners bei den Controversias, Bartolomé de Las Casas, in so vielerlei Hinsicht auszeichnet. Es ist also nicht verwunderlich, daß die Gestalt Juan Ginés de Sepulvedas uns selbst heute noch unter dem Vorzeichen der Widersprüchlichkeit erscheint. Für die einen ist seine Lehre nichts anderes als die Verherrlichung imperialistischer Ideen, die "der These von der universalen Autorität des Kaisers huldigt";2 aus dieser Sicht wird er dargestellt als ein Bürokrat bzw. Vertreter von Interessengruppen, der von unaussprechlichen Begierden getrieben wird.3 Im Gegen1
E. Cassirer , Kants Leben und Lehre, Berlin: Bruno Cassirer 1921, S. 1. C. Barcia Trelles, Francisco de Vitoria, fundador del Derecho internacional, Universidad de Valladolid 1928, S. 37. 3 M. Giménez Fernândez , Bartolomé de Las Casas en 1552, in der Ausgabe der Tratados von Bartolomé de Las Casas, mit Vorworten von L. Hanke und M. Giménez Fernândez , Transkription 2
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Kapitel VII: Die Rechts- und Staatsphilosophie Sepulvedas
zug bestreiten andere entschieden jeden Verdacht des Imperialismus im Werk Sepulvedas,4 unterstreichen die entschiedene Unabhängigkeit seiner Lehrmeinung, seine Freiheit von jeglichem politischem Opportunismus, und betonen, daß er zum Speichellecker keinerlei Talent hatte.5 Einmal heißt es, in seinem Werk würden "im Grunde die Tyrannei verteidigt und die Menschenrechte bestritten",6 ein andermal wird es als Verteidigung der Menschenrechte und Plädoyer zugunsten der Idee dargestellt, daß "die Menschen, Indios und Spanier, in ihrem Wesen bzw. ihrer konstitutiven Natur alle gleich sind und daß sie alle gleichermaßen zur menschlichen Vollkommenheit und zur gleichen göttlichen Gnade gelangen können ..."7 Nach Meinung mancher Autoren sind bei ihm die Anfänge des modernen antihumanistischen Denkens zu finden; die Grundlage seiner philosophischen Sicht gleiche der Nietzsches.8 Auf der anderen Seite wird - diesem Bild ganz entgegengesetzt - die tiefe christliche Wurzel von Sepulvedas Humanismus betont,9 und bezüglich der Gesamtheit seiner Lehren wird sogar behauptet, es handele sich um das Werk eines "engagierten Katholiken", io Der umstrittene Charakter von Werk und Person Ginés de Sepulvedas hat sich bis heute gehalten. Vorgefaßte Meinungen haben es oft verhindert, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Viele speien Gift und Galle, wenn sie seinen Namen schreiben; andere dagegen ergehen sich in überschwenglichen Adjektiven und tragen so ebenfalls dazu bei, die wahre Bedeutung seines Denkens eher zu verschleiern als zu erhellen. Allerdings hat es auch Bemühungen gegeben, diesen Zustand zu korrigieren. Diese Absicht lag zweifellos auch der schon klassischen Arbeit von Aubray F. G. Bell zugrunde, der - wie er ausdrücklich sagt - dazu von J. Pérez de Tudela, Übersetzungen von A. Miliares und R. Moreno, Mexiko: FCE 1965, Bd. I, S. LVII. 4 T. Andrés Marcos , Los imperialismos de Juan Ginés de Sepulveda en su Demócrates Alter, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1947. 5 A. Losada , Un cronista olvidado de la Espana imperiai: Juan Ginés de Sepulveda, in: Hispania (Revista Espanda de Historia) Nr. XXXI (1948) S. 261. 6 V. D. Carro , La teologia y los teólogos-juristas espanoles ante la conquista de América, Sevilla und Madrid: Publicaciones de la Escuela de Estudios Hispano-Americanos de la Universidad de Sevilla- CSIC 1944, Bd. II, S. 319. 7 T. Andrés Marcos (zit. Anm. 4) S. 244. 8 H. Méchoulan , L*antihumanisme de J. G. de Sepulveda. Etude critique de Démocrates Primus, Paris: Mouton 1974. 9 M. Solana , Historia de la Filosofia espanola. Epoca del Renacimiento, Madrid: Asociación Espanola para el Progreso de las Ciencias 1941, Bd. II, S. 33 ff. 10 A. Losada , Una fùente olvidada del moderno Derecho internacional: el «Demócrates primera», de Juan Ginés de Sepulveda, in dem Band der Studia Albornotiana zum Thema El Cardenal Albornoz y el Colegio de Espafia, VI, hg. von E. Verderay Tuells, Bologna: Publicaciones del Real Colegio de Espana 1979, S. 231.
II. Die Bedeutung seines Aufenthalts in Bologna
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beitragen wollte, die Gestalt jenes großen, allzu oft unverstandenen und verzerrt dargestellten Mannes zu erhellen: "a great man too often misunderstood and misrepresented ..Ζ'11 Im Anschluß daran haben auch andere Untersuchungen aus den verschiedensten Blickwinkeln und Positionen an der Rekonstruktion des Menschen Juan Ginés de Sepulveda und seiner Lehren mitgewirkt.12 Auch die vorliegende Arbeit möchte zu dieser Aufgabe beitragen, wobei ich mich allerdings darauf beschränken will, den Einfluß seiner Studienzeit in Bologna auf sein Werk und insbesondere auf seine Theorie über die natürliche Knechtschaft der amerikanischen Indios zu betrachten.
Π . Die Bedeutung des Aufenthalts in Bologna für seinen geistigen Werdegang
Da sich Genie nicht vererbt und sich die Talente und Charakterzüge der Eltern nur selten auf die Kinder übertragen, muß man hier nicht auf die Frage eingehen, ob Juan Ginés de Sepulveda der Sohn von Ginés Sänchez und Maria P é r e z 13 oder Maria R u i z w a r und ob er in Córdoba geboren wurde oder, nach Meinung der Mehrheit, in dem Dorf Pozoblanco in der Provinz Córdoba geboren wurde. Immerhin scheint Konsens dahingehend zu bestehen, daß sein Geburtsjahr 1490 war. 15 Er studierte offenbar Geisteswissenschaften in Córdoba, schöne Künste an der Universität von Alcalâ und Theologie am Colegio de San Antonio de Porta11 A. F. G. Bell, Juan Ginés de Sepùlveda, Oxford University Press 1925, S. 2. 12 Vgl. u. a. C. Alonso del Real, Juan Ginés de Sepulveda. Selección, traducción y pròlogo, Madrid: Breviarios del Pensamiento Espanol 1940; T. Andrés Marcos , Los imperialismos de Juan Ginés de Sepulveda en su Democrates Alter (zit. Anm. 4); J. Beneyto Pérez , Ginés de Sepulveda, humanista y soldado, Madrid: Ed. Nacional 1944; A. Losada , Juan Ginés de Sepulveda a través de su Epistolario y nuevos documentes, Madrid: CSIC 1949; H. Méchoulan , L'antihumanisme de J. G. de Sepùlveda (zit. Anm. 8); A. Truyol y Serra , Sepùlveda en la discusión doctrinal sobre la conquista de América por los espanoles, Beitrag zur Gedächtnisveranstaltung anläßlich des vierhundertsten Todestages von J. Ginés de Sepulveda, organisiert vom Stadtrat von Pozoblanco (17-XI-1973), veröffentlicht in dem Sammelband Juan Ginés de Sepulveda y su Crònica indiana en el IV Centenario de su muerte, 1573-1973, Valladolid: Universidad de Valladolid - Ayuntamiento de Pozoblanco 1976, S. 17 ff. 13 So bei M. Solana , Historia de la Filosofia espanola (zit. Anm. 9) S. 9. 14 Diese Meinung vertritt Τ Andrés Marcos, Los imperialismos de Juan Ginés de Sepulveda en su Democrates Alter (zit. Anm. 4) S. 9. 15 Besonders interessant wegen der darin zusammengetragenen biographischen Daten sind J. Beneyto Pérez , Ginés de Sepulveda, humanista y soldado, und A. Losada, Juan Ginés de Sepulveda a través de su Epostolario y nuevos documentes (beide zit. Anm. 12).
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Kapitel VII: Die Rechts- und Staatsphilosophie Sepulvedas
celi von Sigüenza. Mit der Unterstützung von Kardinal Jiménez de Cisneros erhielt er 1515 ein Stipendium für das Colegio Albornociano de San Clemente de los Espanoles in Bologna, wo er acht Jahre mit dem Studium der Philosophie und Theologie und vor allem mit der Vervollkommnung seiner Latein- und Griechischkenntnisse verbrachte. Die meisten seiner Biographen waren sich der Bedeutung seines Aufenhalts am Colegio de Espafia in Bologna für seine geistige Entwicklung durchaus bewußt. Sicher ist die Behauptung nicht allzu gewagt, daß die Zeit in Bologna nicht bloß eine Episode oder ein Element unter vielen anderen darstellte, die für seinen Werdegang wichtig waren, sondern daß man sie als wesentlichen Hintergrund für ein umfassendes Verständnis der theoretischen Impulse, des Erkenntnisinteresses und der geistigen Entwicklung seines Weikes ansehen muß. Immerhin hatte er während seines Aufenthaltes in Bologna als Stipendiat des Colegio de los Espanoles die Möglichkeit, bei Pedro Pomponazzi zu studieren, der in ihm die Verehrung für Aristoteles weckte, die ihn während seiner ganzen wissenschaftlichen Tätigkeit begleiten sollte. Ihren Anfang nahm diese denn auch mit der Übersetzung verschiedener aristotelischer Werke, wofür er bei den italienischen Humanisten Alberto Pio, Fürst von Carpi, und Kardinal Julio de Medici, dem späteren Papst Clemens VII., Anregung und Unterstützung fand. In seinen Aristoteles-Übersetzungen erweist sich Ginés de Sepulveda als treuer Verfechter der kulturellen Prämissen des Humanismus. Das diesen eigene philologische Interesse zeigt sich deutlich in seinen Übersetzungen philosophischer und politischer Texte Aristoteles', in denen er das Denken des Stagiriten in seiner ursprünglichen Form rekonstruieren will. Als spanischer Vertreter einer humanistisch gebildeten Rechtswissenschaft hält er wenig von den spätmittelalterlichen Aristoteles-Übersetzungen i 6 und nimmt sich vor, mit der größten Genauigkeit "die Begriffe, die der Stagirit auf griechisch ausdrückte, in die Sprache, in die hier übersetzt wird, zu übertragen, und zwar in einem angemessenen, eleganten Stil, getreu den Regeln dieser Sprache, ohne aber der Form des Ausdrucks die Klarheit und Treue gegenüber dem Text zu opfern, der übersetzt werden soll".17 Seine lateinische Übersetzung der Politik des Aristoteles wurde daher in unserer Zeit von Juliän Marias als "eine intelligente, inhaltstreue, mit oft treffenden gelehrten Glossen versehene Version" bewertet.18 16
Vgl. M. Solana, Historia de la Filosofia espanola (zit. Anm. 9) S. 33 ff. π Ebd. S. 34. 18 J. Marias, Introducción a la politica de Aristoteles, zweisprachige Ausgabe, übers, von J. Marias und M. Araujo, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1951, S. LXV.
II. Die Bedeutung seines Aufenthalts in Bologna
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Nun geht aber der Einfluß der Bologneser Phase auf Ginés de Sepulveda über seine aristotelische Ausrichtung weit hinaus und zieht sich wie eine Konstante auch durch viele andere Zeugnisse seiner wissenschafüichen Arbeit. Dies läßt sich besonders deuUich an seinen beiden Arbeiten über strikt auf Albornoz bezogene Themen belegen. Die erste ist eine Biographie des Kardinal Albornoz mit dem Titel Rerum gestarum Aegidii Albornotti, Conchensis, R. R E. Cardinalis et Archipiscopi Toletani, ducis clarissimi, libri très . Sie erstmals 1521 von Geronimo de Benedictis in Bologna gedruckt. Sepùlveda selbst bemerkt im Vorwort, daß er das Werk auf Ersuchen der Mitglieder des Colegio de San Clemente zur Komplettierung der früheren Biographie von Juan Garzón schrieb. Die zweite Arbeit, die der ersten als Anhang beigefügt war, ist eine Brevis Boloniensis Collegii Hispanorum descriptio, et quorundam, ad ipsum pertinent commemoratio. Sepulveda behandelt darin den Ursprung und die Gründung des Kollegs, seine Vorrechte, seine Organisation und Nebeneinrichtungen sowie seine berühmtesten Schüler. 19
Die Rolle des Kollegs für die Motivation von Ginés de Sepulvedas Werk ist damit nicht erschöpft. Im Vorwort zu einer seiner wichtigsten Arbeiten, dem Ersten Democrates oder: Dialog über die Vereinbarkeit von Militär und stentum, heißt es: "Bei meiner Ankunft in Bologna im Gefolge von Papst Gemens, als sich dieser, aus Rom kommend, in jener Stadt mit Kaiser Karl, der vom Ungarnkrieg zurückkehrte, traf, um hochpolitische Fragen zu erörtern, war ich sehr froh, nach meiner langen, achtzehnjährigen Wanderschaft in Italien viele junge Leute von spanischem Adel zu sehen, auf die wir große Hoffnungen setzen, und einen äußerst angenehmen Umgang und gepflegte Konversation mit einigen von ihnen zu genießen". 20
Dieser Umgang mit den spanischen Studenten war es auch, der ihm die Thematik des Democrates eingab. Wie er selbst sagt: "Nichts bereitete diesen jungen Männern größere Sorge als die Angst, daß ein guter Soldat nicht zugleich seinen Beruf ausüben und die Vorschriften der christlichen Religion erfüllen könne. In meinen zwanglosen Unterhaltungen mit ihnen tat ich durch meine Worte, was ich konnte, um sie von diesem Glauben, oder besser gesagt: von diesem Irrglauben zu befreien." 21
Noch später sollte es erneut etwas aus der Zeit seiner Lehqahre in Bologna und aus dem Kontext seiner Aristoteles-Studien sein, was ihm als theoretische 19 Vgl. M. Solana (zit. Anm. 9) S. 26 f. Vgl. auch J. Donado, Algunas noücias acerca de la 'Vita Aegidii' y sus autores, in: El Cardenal Albornoz y el Colegio de Espana, IV (zit. Anm. 10) S. 341 ff. 20 J. Ginés de Sepùlveda , Democrates primero ο Diàlogo sobre la compatibilidad entre la milicia y la religion cristiana, in: A. Losada (Hg.), Tratados politicos de Juan Ginés de Sepulveda, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1963, S. 133. 21 Ebd. S. 134.
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Kapitel VII: Die Rechts- und Staatsphilosophie Sepulvedas
Grundlage für seine Arbeit zum Problem der natürlichen Knechtschaft der amerikanischen Indios diente. Dies ist wohl der Aspekt seiner rechtspolitischen Lehre, der die größte Diskussion ausgelöst hat. Daher seien ihm die folgenden Überlegungen gewidmet.
Π Ι . Seine Theorie über die natürliche Knechtschaft der Indios
Der geschichtliche Rahmen, in dem Sepulvedas Theorien sich entwickeln, ist der des tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandels, der im Spanien des 16. Jahrhunderts infolge der Entdeckung der Neuen Welt stattfand. Die moralischen, politischen und juristischen Fragen, die die Eroberung und Kolonisierung der neu entdeckten Länder aufwarfen, polarisierten nicht nur das politische, sondern das gesamte kulturelle Leben der Spanier. Die Entdeckung Amerikas wirkte von Anfang an als Stimulus auf das geistige Leben und führte zu einer bemerkenswerten Erweiterung der Gedanken und kritischen Fragestellungen. Die spanische Gesellschaft sah sich durch das Ereignis der Conquista einem neuen kulturellen Geschichtshorizont gegenüber, der sich von den Lebensentwürfen der Alten Welt deutlich unterschied. Sogar der Begriff des Menschen selbst wurde durch die Begegnung mit Völkern, deren Kultur oft wenig entwickelt und primitiv und jedenfalls von allem bisher Bekannten völlig verschieden war, in Frage gestellt. Es ist nicht verwunderlich, daß die neue Lage unverzüglich zu der Frage führte, welcher moralische und rechtliche Status den Bewohnern jener Welt sowohl individuell wie kollektiv einzuräumen sei. 22 In diesen Kontext gehört das berühmte Streitgespräch zwischen Sepulveda und Las Casas über die Menschlichkeit der amerikanischen Indios und entsprechend über die Anerkennung oder Verweigerung ihres Rechts auf Freiheit. Las Casas* Freiheitstheorie erscheint uns als entschiedenster und großmütigster Ausdruck einer Naturrechtslehre stoisch-christlicher Prägung, die die wesentliche Gleichheit aller Menschen postuliert. "Was seine Lehre betrifft", so Truyol, "so steht Las Casas auf der Linie von Vitoria, Domingo de Soto und der, wie man wohl sagen kann, communis opinio des Dominikanerordens (dem er 1523 beigetreten war), wenn er auch die Thesen zuspitzt und weniger nuanciert ist."23 22
Vgl. A. Truyol y Serra , The Discovery of the New World and International Law, in: The University of Toledo Law Review (1971) Nr. 1-2: In memoriam Professor Josef L. Kunz, S. 305 ff. 23 A. Truyol y Serra , Historia de la Filosofia del Derecho y del Estado, Madrid: Revista de Occidente 1976, Bd. II, S. 66.
III. Seine Theorie über die natürliche Knechtschaft der Indios
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Tatsächlich ist bekannt, daß Francisco de Vitoria bestreitet, daß es so etwas wie eine eigentliche natürliche Knechtschaft gibt. In seiner Interpretation der aristotelischen Lehre über die Knechtschaft, die der übliche Ausgangspunkt für fast alle Autoren ist, die sich in jener Zeit mit der Frage des Rechtsstatus der Indios beschäftigt haben, bestreitet er kategorisch, daß sich mit ihrer Hilfe die Versklavung der amerikanischen Indios begründen ließe. Vitoria meint, Aristoteles habe niemals behaupten wollen, daß eingeschränkte Verständigkeit natürliche Knechtschaft und den Verlust der Fähigkeit impliziere, Besitz zu haben. Dies sei bürgerliche Knechtschaft, die niemanden zu einem Sklaven von Natur aus mache. Was Aristoteles nach Meinung Vitorias sagen wollte, ist, daß solche Menschen ein natürliches Bedürfnis hätten, von anderen regiert zu werden, so wie die Kinder den Eltern unterstehen müssen und die Ehefrau dem Manne. Die Tatsache, daß es nach Aristoteles Menschen gibt, die von Natur aus mit größerer Intelligenz begabt sind, bedeute nicht, daß sie sich aufgrund ihrer größeren Klugheit die Herrschaft über alle anderen anmaßen dürften, sondern nur, daß sie über größere natürliche Fähigkeiten verfügten, andere zu leiten und zu regieren.2* Vitoria überträgt diese Argumentation auf die Situation der Indios und stellt unumwunden fest: "antequam hispani ad illos venissent, illi erant veri domini , et publice et privatim". 2* Domingo de Soto entwickelte Vitorias Denken weiter, indem er die aristotelische Unterscheidung zwischen servitus naturalis und legalis verfeinerte. Die sogenannte natürliche Knechtschaft darf seiner Meinung nach nicht als eine Form der Sklaverei verstanden werden, wie es ihrer terminologischen Bedeutung zu entnehmen scheint.26 Der Herr dürfe daher die sogenannten natürlichen Sklaven nicht benutzen, als seien sie Dinge, sondern müsse sie wie freie Wesen behandeln, die hinsichtlich ihrer Person und ihres Besitzes sui iuris sind.27 Die primitive, unterentwickelte Natur der Indios nehme ihnen nicht ihr natürliches Recht auf Freiheit; und als Freie könnten sie auch Herren ihrer Eigentümer und Ländereien sein, da diese Art der natürlichen Knechtschaft auch bei Christen vorkomme, ohne daß diese deswegen ihre natürlichen Rechte verlören.28 Wie 24
F. de Vitoria, De Indis prior, 1,15-16. 25 Ebd. 1,16. 26 "... genus illud domimi servitutisque naturalis non plenam attingit rem quam nomen son de Soto, De Iustitia et Iure, lib. IV, q. 2, a. 2. 27 "... qui natura est dominus nequit natura servis veluti rebus possessis in suum ipsius c dum uti: sed tanquam liberis suique iuris hominibus in rem ac bonum instituendo" ; ebd. 28 "Et cumfundamentum domimi sit libertas, nullum amittunt suarum rerum ius ... Sunt eadem christianorum urbe natura servi, qui tarnen non subinde possunt suis expoliari: ets natura dominis renuant"; ebd.
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für Vitoria, so hat auch für Soto diese Form der Knechtschaft damit zu tun, daß der Wissende die Bildung und Vervollkommnung des Unwissenden fördert; und nur dies ist ihre Rechtfertigung. Bartolomé de Las Casas, der dieser Argumentationslinie folgte und sogar die Thesen Sotos vorwegnahm und beeinflußte, ging mit dem Prozeß der Anerkennung des natürlichen Freiheitsrechts bis zur letzten K o n s e q u e n z . 2 9 Bezüglich der Indios stellte er in diesem Zusammenhang kategorisch fest* "alle jene Leute und die Völker jenes ganzen Kontinents sind frei". 30 Sie müßten daher wie die freien Menschen behandelt werden, die sie seien, da die Indios und ihre Kaziken durch die Unterwerfung unter die spanische Souveränität ihre natürliche Freiheit nicht verloren hätten; vielmehr sei die Gegenwart der Spanier in Amerika nur soweit zu rechtfertigen, wie sie dazu beitragen könne, diese Freiheit vollständiger und vollkommener zu machen. Las Casas unterstreicht wiederholt den Gedanken, daß die Spanier, da die Indios frei seien und dies ein unveräußerliches Grundrecht sei, dieses anerkennen müßten: "Wenn es nicht dem spontanen, freien und ungezwungenen Willen der freien Menschen entspringt, einer Beeinträchtigung dieser ihrer Freiheit zuzustimmen, so ist es alles Unrechte, perverse Gewalt und hat nach dem Naturrecht keinerlei Geltung, weil es der Wandel von einem Zustand der Freiheit zu einem der Knechtschaft ist, und außer dem Tod gibt es kein schlimmeres Übel. Denn wenn man schon freien Menschen gegen ihren Willen und ohne ihr Verschulden ihr Eigentum nicht nehmen darf, so darf man noch viel weniger ihren Status herabsetzen und ihre Freiheit aufheben, die unschätzbar ist und keinen Preis hat." 3 1
Im Unterschied zu den Interpretationen Vitorias und Sotos von der natürlichen Knechtschaft bei Aristoteles akzeptiert Las Casas deren Gleichsetzung mit der Sklaverei. Allerdings weist er darauf hin, daß diese Art der Knechtschaft bei dem Stagiriten auf Völker mit derart primitiven und perversen Sitten beschränkt war, daß sie nicht einmal Gesetze kennen, was, wie er sofort hinzufügt, bei den amerikanischen Indios, die menschenfreundliche, vernünftige Wesen seien, die alle Anforderungen des politischen Lebens erfüllten, nicht der Fall sei.32 Ganz anders lautete Sepulvedas These zu dieser Frage. Man kann davon ausgehen, daß seine Lehrmeinung, was die Zulässigkeit des Krieges wegen Ungläubigkeit betrifft, ihre entfernten Ursprünge in den Positionen des politischen 29
Vgl. weiter oben Kap. VI.
30 B. de Los Casas, Tratado sexto: Entre los remedios, in der Ausgabe der Tratados von B. de Las Casas (zit. Anm. 3) Bd. II, S. 743.
31 Ebd. S. 747. 32 B. de Las Casas, Tratado tercero: Aqui se contiene una disputa ο controversia, in der Ausgabe der Tratados (zit. Anm. 3) Bd. I, S. 281 f.
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Augustinismus und der spätmittelalterlichen Kurialisten hatte,33 wobei aber die Grundlage die aristotelische Theorie von der natürlichen Ungleichheit zwischen den Menschen war; ihre unmittelbaren Quellen hatte sie in den Thesen von Juan López de Palacios Rubios34 und vor allem des schottischen Dominikaners und Nominalisten Joannes Major. Major hatte an der Universität von Paris, wo er 1510 seine Kommentare zu den Sentenzenbüchern von Pedro Lombardo veröffentlichte, Aristoteles' These von der natürlichen Knechtschaft zur Rechtfertigung der Eroberung Amerikas vertreten. Er akzeptierte die aristotelische Unterscheidung zwischen Personen, die von Natur aus frei sind, und Sklaven und Schloß daraus, daß Menschen mit grausamen, barbarischen Sitten denen unterworfen sein und dienen sollten, die von Natur aus besser dazu geeignet seien, Autorität auszuüben. 3 5 Sepulveda kannte das Werk Majors; in seiner Apologia pro libro de iustis belli causis, einem 1550 in Rom gedruckten Werk zur Verteidigung seines 1544/45 verfaßten Demócrates alter, sive de iustis belli causis apud Indo s, keine Druckerlaubnis erhielt, weil die Universitäten von Alcalâ und Salamanca Widerspruch dagegen einlegten, zitiert er ihn ausdrücklich als Autorität.36 Manchmal muß das Werk eines Autors feindliche Zeiten durchmachen, damit sich aus der Tiefe der Verzweiflung und der Bitterkeit der Kritik erst das Ausmaß seiner wahren Dimension abstecken läßt. Das gilt auch für Sepulveda, dem erst das Urteil seiner Gegner bewußt macht, worin seine Mission besteht und daß ihm das Problem der Rechtfertigung der Eroberung Amerikas durch die Spanier von der Vorsehung als Lebenszweck bestimmt ist. Seine These, wonach kulturell höherstehende Völker das natürliche Recht besitzen, über rückständige Barbaren zu herrschen, und folglich auch Spanien 33 Vgl. A. Truyol y Serra , Sepulveda en la discusión doctrinal sobre la conquista de América por los espanoles (zit. Anm. 12). 34 Zum wahrscheinlichen Einfluß von Palacios Rubios auf Sepulvedas Werk vgl. A. Garcia Gallo, Las Indias en el reinado de Felipe II. La solución del problema de los justos titulos, in: ders., Estudios de historia del Derecho indiano, Madrid: Instituto Nacional de Estudios Juridicos 1972, S. 427 ff.; J. Manzano, La incorporación de las Indias a la Corona de Castilla, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1948, S. 158 ff.; Α. Truyol y Serra, Sepùlveda en la discusión doctrinal sobre la conquista de América por los espanoles (zit. Anm. 12). 35 Vgl. L Hemke , La lucha por la justicia en la conquista de América, übers, von R. Iglesia, Buenos Aires: Sudamericana 1949, S. 337 ff.; P. Leturìa , Maior y Vitoria ante la conquista de América, in: Estudios eclesiâsticos 2 (1932) S. 44 ff.; A Truyol y Serra , Sepulveda en la discusión doctrinal sobre la conquista de América por los espanoles (zit. Anm. 12). 36 Vgl. J. Manzano, La incorporación de las Indias a la Corona de Castilla (zit. Anm. 34) S. 161 ff.
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berechtigt ist, die amerikanischen Völker sogar mit Waffengewalt zu unterwerfen, ist am ausführlichsten in dem schon genannten Democrates alter dargestellt; siefindet sich aber auch immer wieder in späteren Arbeiten, so daß es am angemessensten scheint, sie in ihren strukturellen Grundzügen vorzustellen. Zunächst ist hervorzuheben, daß Sepulveda sich streng an die aristotelischen Ausführungen zu dieser Frage hält. Es geht um das Problem von Freiheit und Knechtschaft im theoretischen Kontext des Naturrechts. Sepulvedas Einstellung zeigt sich deutlich auf den ersten Seiten seiner Abhandlung De regno et regis officio, wo es heißt: "In dieser Frage [er meint das Problem der natürlichen Knechtschaft] ... werde ich Aristoteles, dem klarsichtigen Manne, folgen, dessen politische und moralische Lehren sich kaum oder gar nicht von der christlichen Philosophie unterscheiden, denn beide messen die Ehrlichkeit der Sitten und die Gerechtigkeit an der natürlichen Ordnung in Einklang mit dem ewigen Gesetz."37 Schon früher hatte er Aristoteles als "hervorragenden Interpreten und Erläuterer" des Naturgesetzes gerühmt.38 Sepulveda will mit seinen Argumenten dem aristotelischen Denken so weit wie möglich treu bleiben. Er folgt dem Stagiriten sogar wörtlich, wenn er feststellt: "Das Vollkommene muß über das Unvollkommene, das Starke über das Schwache, die Vortrefflichkeit der Tugend über ihr Gegenteil herrschen"; und folglich müßten ebenso "die Besseren und Vollkommeneren über die weniger Guten und Unvollkommenen herrschen. Dies gilt für die anderen Menschen untereinander; es gibt nämlich eine Art von ihnen, bei der die einen von Natur aus Sklaven, die anderen von Natur aus Herren sind."39 Die Überlegenheit der Spanier - deren Vorzüge zu rühmen er sich nicht scheut - gegenüber den amerikanischen Indios, die er abqualifiziert als "Männ37
J. Ginés de Sepùlveda , Del reino y los deberes del rey, in dem Band Tratados politicos de Juan Ginés de Sepulveda (zit. Anm. 20) S. 32. 38 Democrates primero (zit. Anm. 20) S. 199. Vgl. A. Pagden, The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge University Press 1982, hier zitiert nach der spanischen Übersetzung von B. Urrutia: La calda del hombre natural. El indio americano y los origenes de la etnologia comparativa, Madrid: Alianza 1988, S. 155 ff.; T. Todorov , La conquête de l'Amérique, la question de l'autre, Paris: Seuil 1982, zitiert nach der deutschen Ausgabe Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 184 ff. 39 "Omnia nituntur jure naturae ut perfecta imperfect is, fortia debilibus, virtute pra dissimilibus imperent et dominentur... Quam rationem perinde valere debet in coeteris ho inter ipsos, et horum quoddam esse genus in quo alteri sint natura domini , alteri natura serv G. de Sepùlveda , Democrates alter, sive de iustis belli causis apud Indos, kritische zweisprachige Ausgabe von M. Menéndez y Pelayo, in: Βoletin de la Real Academia de la Historia Vol. XXI (1892) S. 290 und 292.
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lein, bei denen wir kaum Anzeichen von Menschlichkeit finden und die nicht nur keinerlei Wissenschaft kennen, sondern noch nicht einmal die Schrift ... und die auch keine geschriebenen Gesetze haben, vielmehr manch barbarische Institution und Sitte ... Sie aßen außerdem Menschenfleisch, und führten die Kriege, mit denen sie fast ununterbrochen beschäftigt waren ..., mit einer solchen Tollwut, daß sie den Sieg für nichtig hielten, solange sie nicht ihren ungeheuerlichen Hunger am Fleisch der Feinde gestillt hatten"40, ist für Sepulveda offenkundig. Dies sind Überlegungen, die Demócrates in den Mund gelegt werden, der in dem Dialog die Einstellungen Sepulvedas selbst verkörpert, wobei dieser jedoch zeigt, daß er nicht ganz unempfindlich ist für die Gefahren, die die Thesen bergen, denn Leopold, die andere am Dialog beteiligte Person, ruft empört: "Wer soll denn das sein, der da von Natur aus zur Knechtschaft verdammt ist? Was soll das heißen, einem anderen von Natur aus unterworfen zu sein, wenn nicht, von Natur aus Sklave zu sein? Ist es denn nur im Scherz gesprochen, wenn die Rechtskundigen sagen, daß die Natur die Menschen als Freie schafft und erst das Recht sie versklavt?"41 Sepulveda will diese Argumentationslinie, die unter den spanischen Juristen und Theologen der damaligen Zeit die am weitesten verbreitete war, widerlegen. So läßt er Demócrates sagen: "Ich sage, daß die Rechtskundigen völlig das Richtige lehren; nur meinen sie mit dem Wort Knechtschaft etwas ganz anderes, als was die Philosophen mit eben diesem Wort ausdrücken; denn erstere bezeichnen als Knechtschaft einen bestimmten erworbenen Status, der sich aus der Machtgewalt und dem Völkerrecht und manchmal auch aus dem Zivilrecht ergibt, während die Philosophen damit eine gewisse angeborene Unfähigkeit sowie unmenschliche, barbarische Sitten bezeichnen." 4 2
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"... homunculos in quibus vix reperies humanitatis vestigia ... qui e rant in omne genus in perantiae et nef arias libidines profusi, et vescebantur carnibus humanis et bella quibus int pene continenter agitabantur ... tanta rabie gerebantut victoriam nullam putarent ... nisi carnibu prodigiosamfamen explerent "; ebd. S. 314. An anderer Stelle behauptet Sepulveda: "Hier sind die Beweise für ihr wildes Leben, das dem der Tiere ähnlich ist: die abscheulichen, ungeheuren Menschenopfer, die sie den Dämonen darbringen; daß sie sich von Menschenfleisch ernähren; daß sie die Frauen der Häupdinge mit ihren toten Männern lebendig begraben und andere ähnlich schwere Verbrechen, die vom Naturrecht verurteilt werden; von ihnen zu berichten beleidigt das Ohr und schockiert das Gemüt zivilisierter Menschen; sie hingegen begingen sie unter öffentlicher Zustimmung, als handele es sich um fromme Werke"; Del reino y los deberes del rey (zit. Anm. 37) S. 35 f. 41 Demócrates alter, S. 289. 42 Ebd. S. 290.
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Ausgehend von diesen Argumenten schließt Ginés de Sepulveda mit der Behauptung, Spanien habe das Recht, die Indios selbst durch Krieg zu unterwerfen, denn "obwohl diese ungebildeten, unmenschlichen Barbaren von Natur aus Sklaven sind, weigern sie sich, die Herrschaft derer, die klüger, mächtiger und vollkommener sind als sie, anzuerkennen ... im übrigen ist es aufgrund des Naturrechts richtig,daß die Materie der Form gehorcht, der Körper der Seele, die Leidenschaft der Vernunft, die Tiere dem Menschen, die Frau dem Manne, die Kinder den Eltern, das Unvollkommene dem Vollkommenen, das Schlechtere dem Besseren, zum allgemeinen Wohle aller Dinge."43 Sepulveda weist ausdrücklich darauf hin, daß sich diese Lehre nicht nur mit der Autorität des Aristoteles verteidigen lasse, "sondern auch mit den Worten des Heiligen Thomas, der als Fürst der scholastischen Theologen, Kommentator und Nacheiferer Aristoteles' in der Erklärung der Gesetze der Natur anzusehen ist".44 Diese Haltung zeigt sich auch in den Streitgesprächen von Valladolid, wo Sepulveda auf die gleichen Argumente zurückgreift, wobei er sich allerdings wohl aus taktischen Gründen - häufiger auf den Heiligen Thomas als auf Aristoteles beruft. So antwortet er auf die Thesen von Las Casas, der der vermeintlichen Barbarei der Indios ihre Fähigkeit zum politischen Zusammenleben entgegensetzt: "... ich sage, daß man als Barbaren (wie der Heilige Thomas I, Politicorum, Erste Lektion, sagt) die auffaßt, die nicht gemäß der natürlichen Vernunft leben und die schlechte, bei ihnen öffentlich gutgeheißene Sitten haben."^ Daraus schließt er: "ich sage, daß es zulässig ist, diese Barbaren von Anfang an zu unterwerfen, um sie vom Götzendienst und den schlechten Riten zu befreien und damit sie die Missionierung nicht verhindern und leichter und freiwilliger bekehrt werden können ..." 46 Im Jahre 1571 bekräftigt er in seinem schon genannten De regno et regis officio diese Haltung noch einmal und faßt die Hauptpunkte seiner These folgendermaßen zusammen: "Je vollkommener, das heißt, mit Tugend und Klugheit begabter ein Mensch ist, desto mehr taugt er auch zum Herrschen, und umgekehrt: je primitiver und je weniger intelligent einer ist, desto mehr taugt er zum Ebenen. So kommt es, daß manche Menschen von Geburt aus zum Herrschen und andere zum Dienen taugen; diese Eignung zum Herrschen und zum Gehorchen nennt man natürlich, weil ihre Ausübung für beide Seiten nicht nur gerecht, sondern auch nützlich ist..."
43 Ebd. S. 347. 44 Ebd. 45 Tratado tercero: Aqui se contiene una disputa ο controversia (zit. Anm. 32) S. 311. 46 Ebd. S. 329. 47 Del reino y los deberes del rey (zit. Anm. 37) S. 33 f.
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Was für die Menschen gilt, spiegelt sich ebenso im Leben der Völker wider: "[S]o gibt es zwischen allen Nationen einen großen Unterschied, denn unter ihnen werden einige für zivilisierter und klüger und andere, die sich in ihrem öffentlichen Leben und ihren Sitten von der natürlichen Vernunft und dem Naturgesetz entfernen, für barbarisch und unzivilisiert gehalten. Der Status der letzteren ist nun derart, daß sie gemäß dem Naturrecht wegen ihrer Barbarei der Herrschaft der Zivilisierteren und Gebildeteren gehorchen müssen". 48
Abschließend wendet er sich an Philipp IL: "So wirst Du verstehen, daß es nicht nur nach den christlichen Gesetzen, sondern auch nach dem Naturrecht Deinen Vorfahren, den so großen und frommen Fürsten Ferdinand und Isabella, Königen von Spanien, einer sich durch ihre Zivilisation und vielfältige Tugenden auszeichnende Nation, und Euch, ihren Nachfahren, erlaubt war, die Neue Welt zu unterwerfen." 49
Ich habe mir erlaubt, diese Passagen bei Sepulveda ausführlich zu zitieren, weil sie wohl am deutlichsten seine Haltung wiedergeben, bei der es sich, wie man sieht, genau wie bei Vitoria, Soto und Las Casas, weitgehend um eine der möglichen Auslegungen der Bedeutung der Knechtschaft in der aristotelischen Lehre handelt. Daran erweist sich, wie unterschiedlich die Texte des Aristoteles je nach den Interessen, von denen aus argumentiert wurde, interpretiert wurden. Schon an dieser Stelle ist anzumerken, daß sich die zentralen Stellen zu diesem Thema bei Aristoteles keineswegs durch Klarheit auszeichnen und durchaus die unterschiedlichsten Lesarten zulassen. Es scheint daher angebracht, die Grundzüge der Position des Aristoteles hier noch einmal ganz knapp ins Gedächtnis zu rufen.50 Aristoteles beginnt mit der Bestimmung des naturgegebenen Unterschiedes zwischen Herren und Sklaven, der auf ihrer jeweiligen natürlichen Intelligenz und Begabung beruhe, M[d]enn was mit dem Verstand vorauszuschauen vermag, ist von Natur aus das Regierende und Herrschende, was aber mit seinem Körper das Vorgesehene auszuführen vermag, ist das von Natur Regierte und
48
Ebd. S. 34. Nach Tzyetan Todorov (zit. Anm. 38) S. 185, haben alle Operationen in Sepulvedas geistigem Universum letztlich den Zweck, mit Hilfe gewisser Verhältnisketten die kulturelle und moralische Überlegenheit der Spanier über die Indios zu beweisen: Indianer / Spanier = Kinder (Sohn) / Erwachsene (Vater) = Frauen (Ehefrau) / Männer (Ehemann) = Tiere (Affen) / Menschen = Wildheit / Sanftmut = Maßlosigkeit / Mäßigung = Materie / Form = Körper / Seele = Begierde / Vernunft = böse / gut. 49 Ebd. S. 35. Zu der paternalistischen Haltung, die sich in dieser auf die Legitimierung der Conquista gerichteten Argumentation Sepulvedas zeigt, vgl. weiter oben Kap. IV. Abschnitt III. 50 Das Thema ist, wenn auch nicht immer mit der nötigen Tiefe, behandelt worden von: L. Hemke , La lucha por la justicia en la conquista de América (zit. Anm. 35) S. 334 ff.; P. Leturia , Mai or y Vitoria ante la conquista de América (zit. Anm. 35) S. 45 ff.; S. Zavala , Servidumbre naturai y libertad cristiana, segun los tratadistas espanoles de los siglos XVI y XVII, Buenos Aires: Publicaciones del Instituto de Investigaciones Históricas 1944.
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Dienende."51 Diese Unterschiede rechtfertigten, daß es Menschen gebe, die von Natur aus dazu bestimmt seien, zu herrschen bzw. zu gehorchen: "Das Herrschen und das Dienen gehört nicht nur zu den notwendigen, sondern auch zu den zuträglichen Dingen. Vieles trennt sich gleich von Geburt an, das eine zum Dienen, das andere zum H e r r s c h e n . "52 Daraus ergibt sich auch die Legitimation und Letztbegründung der Existenz der Sklaverei überhaupt: "Die Natur hat außerdem die Tendenz, auch die Körper der Freien und der Sklaven verschieden zu gestalten, die einen kräftig für die Beschaffung des Notwendigen, die anderen aufgerichtet und ungeeignet für derartige Verrichtungen, doch brauchbar für das politische Leben ... Es ist also klar, daß es von Natur Freie und Sklaven gibt und daß das Dienen für diese zuträglich und gerecht ist." 53
Bezüglich der Frage nach den Völkern, die von Natur aus als Sklaven zu betrachten sind, sagt Aristoteles: "Darum sagen die Dichter. 'Daß Griechen über Barbaren herrschen, ist gerecht', da nämlich von Natur der Barbar und der Sklave dasselbe sei."54 Es ist daran zu erinnern, daß Aristoteles die Einstellung insbesondere der Sophisten, aber auch anderer, die in Griechenland selbst die Existenz der Sklaverei von Natur aus bestritten und die Freiheit und Gleichheit aller Menschen aufgrund ihrer Physis postulierten, durchaus kannte. Er gibt daher zu: "Daß aber auch jene, die das Gegenteil behaupten, in einer gewissen Weise recht haben, ist nicht schwer einzusehen. Denn Sklaverei und Sklave wird in einem doppelten Sinne verstanden. Es gibt nämlich auch Sklaven und Sklaverei gemäß dem Gesetz. Das Gesetz ist eine Vereinbarung darüber, daß das im Kriege Besiegte Eigentum des Siegers werden soll. Gegen dieses Gesetz erheben viele von denen, die sich theoretisch mit den Gesetzen beschäftigen, Klage auf Gesetzwidrigkeit, als gingen sie gegen einen Politiker vor: es wäre schrecklich, wenn das Überwältigte der Sklave und Diener dessen sein sollte, der es überwältigen könne und es an Macht überträfe. So haben auch unter den Weisen die einen diese, die andern jene Meinung." 5 5
Wenn schon die Existenz von Herren und Dienern von Natur aus nicht zu bestreiten sei, läßt sich nach Aristoteles jedenfalls doch die Existenz der gesetzmäßigen Sklaverei in Frage stellen, denn es habe "die ... Behauptung, daß... das an Tüchtigkeit Bessere herrschen und regieren solle, weder Gewicht noch Glaubwürdigkeit".56 Aristoteles beharrt auf dieser Unterscheidung von natürlicher und gesetzlicher Sklaverei, wobei er die Rechtfertigung der ersten unterstreicht, zugleich aber offenbar die der letzteren bestreitet: 51 Aristoteles, Politik, I, 1252 a, zitiert nach der Übersetzung von Olof Gigon, Zürich: Artemis 1955. 52 Ebd. 1,1254 a. 53 Ebd. 1,1254b-1255 a. 54 Ebd. 1,1252 b. 55 Ebd. 1,1255 a. 56 Ebd.
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"Daß also der Streit einen Grund hat und nicht alle Menschen einfach von Natur Freie oder Sklaven sind, ist klar; aber auch, daß dieser Unterschied in einigen Fällen tatsächlich besteht, wo es denn für den einen zuträglich und gerecht ist zu dienen, und für den anderen zu herrschen; jedes muß regiert werden oder regieren in der Art, wie es seiner Natur entspricht, was denn auch zum Herrenverhältnis führen kann ... Darum ist auch eine gegenseitige Freundschaft zwischen einem Herrn und einem Sklaven, die dieses ihr Verhältnis von Natur aus verdienen, etwas Zuträgliches. Besteht es aber nicht von Natur, sondern nach Gesetz und Gewalt, so gilt das Gegenteil." 57
Dem läßt sich entnehmen, daß für Aristoteles die natürliche Knechtschaft, gerade weil sie den Zwecken der Natur entspricht, weniger schwerwiegend als die gesetzliche ist. Trotzdem stellt auch die natürliche Knechtschaft letztlich eine Form der Sklaverei dar, die eine völlige Entfremdung des Sklaven impliziert: "Welches die Natur und die Fähigkeit des Sklaven ist, wird hieraus klar. Der Mensch, der seiner Natur nach nicht sich selbst, sondern einem anderen gehört, ist von Natur ein Sklave; einem andern Menschen gehört, wer als Mensch ein Besitzstück ist, das heißt ein besonderes, dem Handeln dienendes Werkzeug."58 Sofort stellt der Stagirit fest, daß "der Sklave ein Teil des Besitzes ist" 59 und daß er "... das planende Vermögen überhaupt nicht [besitzt]". 60
Schon dieser knappe Abriß von Aristoteles* Gedanken zur Frage der Sklaverei zeigt unmittelbar, daß Sepulvedas Werk diesen Vorgaben nähersteht als das von Vitoria, Soto und Las Casas. Letztere zögerten nicht, die aristotelischen Thesen den von ihnen so wohlmeinend unternommenen Bemühungen zugunsten der Lage der Indios anzupassen, auch wenn sie dabei mit ihrer ausgeklügelten Interpretation gelegenüich das ursprüngliche Denken des Stagiriten verzerrten. Ihre Auslegung ist jedoch durchaus als legitim anzusehen, da ja die Konstruktionen jener berühmten Dominikaner die aristotelische Lehre nur den soziokulturellen Gegebenheiten anpaßten, die so ganz anders waren als der historische Kontext der Entstehung dieser Lehre. An anderem Ort habe ich darauf hingewiesen, daß einer der Fehler, die in besonderem Maße zur Diskreditierung der historischen Rolle der Naturrechtslehre beigetragen haben, eine unzeitgemäße Auslegung gewesen ist, die etwas, was in einer bestimmten Epoche le-
57
Ebd. 1,1255 b. Ebd. I, 1254 a. An anderer Stelle heißt es: "Von Natur aus ist also jener ein Sklave, der einem andern zu gehören vermag und ihm auch gehört, und der so weit an der Vernunft teilhat, daß er sie annimmt, aber nicht besitzt. Die andern Lebewesen dienen so, daß sie nicht die Vernunft annehmen, sondern nur Empfindungen. Doch ihr Dienst ist nur wenig verschieden: denn beide helfen dazu, das für den Körper Notwendige zu beschaffen, die Sklaven wie die zahmen Tiere"; ebd. 1,1254 b. 59 Ebd. 1,1256 a. 60 Ebd. I, 1260 a. Für eine umfassende Untersuchung der aristotelischen Auffassung der Sklaverei aus rechtsphilosophischer Perspektive und interessante Literaturhinweise vgl.: L Bagolini , Π problema della schiavitù nel pensiero etico-politico di Aristotele, in: Scienza e filosofia, problemi morali, Mailand: Bocca 1942, S. 1-38. 58
15 Pérez Luno
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diglich zuträglich gewesen war, für notwendig erachtete.61 Vitoria, Soto und Las Casas kämpften mit ihrer tiefschürfenden hermeneutischen Arbeit - zu der sich die beiden ersten besonders der aristotelischen Unterscheidung von natürlicher und gesetzlicher Sklaverei bedienten, während der dritte sich auf die verschiedenen Arten von Primitivität bezog - darum, die angebliche Knechtschaft der Indios zu widerlegen und ihnen den mit dem Recht auf Freiheit zu vereinbarenden Status von Mündeln zuzusprechen. Sie bewiesen damit größere historische Sensibilität für die Entwicklung der Ideen, die - seit dem Stoizismus und dann erneut und erneuert im christlichen Denken sowie infolge der Berührung mit neuen Vorstellungen von der Welt und von der Wirtschaft - die heidnische Institution der Sklaverei in die Krise getrieben hatten. Die Grobheit der aristotelischen Thesen über die natürliche Knechtschaft stand in offenem Widerspruch zum kulturellen Horizont Spaniens im 16. Jahrhundert, so daß schließlich die Universitäten von Alcali und Salamanca trotz des Prestiges, das die aristotelischen Lehren in ihrem Umfeld genossen, nicht umhin konnten, sich gegen Sepulvedas Versuch zu stellen, diese Lehren in ihrer ursprünglichen Reinheit wieder zum Leben zu erwecken. Zwei Punkte verdienen aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung für die Art und Weise, in der die Auseinandersetzung stattfand, Erwähnung. Der erste bezieht sich auf die Haltung der Krone, die nach dem ablehnenden Votum der Universitäten die Publikation eines Werkes untersagte, in dem eine ihren eigenen Interessen durchaus entgegenkommende Lehrmeinung vertreten wurde, und die es unternahm, ein Gremium von Theologen und Juristen in Valladolid zu versammeln, die das Problem mit der größtmöglichen Unparteilichkeit analysieren sollten. Zweitens ist der ehrfurchtsvolle Respekt bemerkenswert, der von den Autoren der damaligen Zeit Aristoteles noch immer entgegengebracht wurde, dessen Lehren sie zwar mit mehr oder weniger großer Flexibilität interpretierten, die sie aber nicht - oder zumindest nicht offen - in Frage stellten.
I V . Ausgangspunkte für eine Gesamteinschätzung der Thesen Sepulvedas
Schon zu Beginn dieses Kapitels habe ich die äußerst umstrittene Persönlichkeit Sepulvedas angesprochen. Die bis hierhin vorgetragenen Überlegungen zu seinem Denken bezüglich der Frage der natürlichen Knechtschaft mögen nun helfen, die widersprüchlichen Einschätzungen zu verstehen, mit denen sein theoretisches Erbe von der kritischen Literatur aufgenommen worden ist. 61
Vgl. meine Lecciones de Filosofia del Derecho, 3. Aufl., Sevilla: Minerva 1988, S. 53 ff.
IV. Ausgangspunkte für eine Gesamteinschätzung seiner Thesen
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Es ist durchaus verständlich, daß diejenigen, die sich bei der Betrachtung seiner Schriften vor allem auf die Bemerkungen zum Charakter der Indios und zu deren zwangsläufig daraus folgender natürlicher Unterlegenheit und notwendiger Unterwerfung unter die Spanier stützen, seine Einstellung für inakzeptabel halten; andererseits ist aber auch richtig, daß man bei alleiniger Berücksichtigung der patriotischen Motive seines Werkes gar nicht anders kann, als ihn als einen der größten Vertreter der spanischen Kultur darzustellen. Wir sollten uns jedoch vor solcher Schwarz-Weiß-Malerei hüten und vielmehr Sepulvedas Werk als ganzes bewerten, wobei auch die Einflüsse zu bedenken sind, die es inspirierten und die direkt aus dem geistigen Klima des Bologneser Humanismus kamen. Die humanistischen Wurzeln von Sepulvedas Denken lassen sich schwerlich mit einer Bewertung seines Werkes vereinbaren, die ihn als Feind der Freiheit darstellt. Immerhin zielt eine seiner bedeutendsten Arbeiten, De fato et libero arbitrio , doch gerade darauf ab, die menschliche Freiheit theologisch und moralisch gegen die von Luther vertretene Zurückweisung des freien Willens zu verteidigen. Im übrigen belegen auch seine geistige Verbundenheit mit Erasmus, der von ihm sagte, er schätze ihn als "gelehrten Mann und guten Lateiner",62 und seine guten Beziehungen zu einigen spanischen Erasmisten63 seine Fähigkeit zu Offenheit und Verständnis, die von jedem Fanatismus weit entfernt war. 62
So nach M. Menéndez y Pelayo, Historia de los heterodoxos espanoles, 2. Aufl., Madrid: V. Suärez 1928, Bd. IV, S. 109. 63 Ebd. S. 130 ff. und 187 ff. Anthony Pagden hat mehrfach daraufhingewiesen, daß der sprachliche Rahmen von Sepulvedas Demócrates segundo nicht der theologische, ethische und juristische Kontext ist, in dem die Argumentationen Vitorias und seiner Nachfolger angesiedelt sind, sondern ein literarisch-rhetorischer. Es handele sich um "das Werk eines Mannes, der trotz seines Anspruchs, in allen Wissenszweigen gelehrt zu sein ..., mehr für seine literarischen Werke bekannt war. Sepulveda war Humanist, und zwar nach Meinung der Theologen von Salamanca ein Humanist, der, wie viele seiner Klasse, vermessen genug gewesen sei, über Themen zu spekulieren, für die er nicht gebildet genug war... Liest man [folglich] Sepulvedas Werk als ein theologisches, dann ist sein Ton hysterisch und sein Urteil - wie die Gutachter von Alcala und Salamanca feststellten 'heterodox' und falsch formuliert"; vgl. La caida del hombre natural. El indio americano y los origenes de la etnologia comparativa (zit. Anm. 38) S. 159 f. Pagdens These ist angreifbar, da sie Sepulvedas juristische und theologische Ausbildung und folglich auch die ethische, juristische und politische Ausrichtung seiner Argumentation zur Legitimierung der Eroberung der Neuen Welt unterschätzt. Pagden begeht eine Übertreibung, wenn er den Demócrates segundo als bloße rhetorische Spekulation abtut. In diesem Falle hätten die Vertreter der Universitäten von Alcalâ und Salamanca sicher keine Zeit damit vertan, die Vorstellungen eines rein literarischen Essays zu widerlegen, und audi die Streitgespräche von Valladolid zwischen Las Casas und Sepùlveda wären dann ja aufgrund der unterschiedlichen Diskussionsebenen der Beteiligten eigentlich ganz und gar sinnlos gewesen.
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Kapitel VII: Die Rechts- und Staatsphilosophie Sepulvedas
Ginés de Sepulveda war keineswegs ein Feind der Freiheit, und wenn er den Genuß dieses grundlegenden Menschenrechts nicht so großmütig verteidigte, dann vielleicht deswegen, weil ihn sein Realismus aristotelischer Prägung - im Unterschied zu Las Casas' Utopismus64 - sehen ließ, daß im Hinblick auf das spanische Wirken in Amerika die Anerkennung dieses Rechts in der Praxis auf ernste Schwierigkeiten stoßen mußte. Jedenfalls ist daran zu erinnern, daß Sepulveda trotz seiner Übertreibungen hinsichtlich des Charakters der Indios für die Rechtfertigung ihres Status als Sklaven an keinen anderen Grund denkt als an die Förderung ihres eigenen Wohls. Sepulveda ist der Meinung, die Herrschaft der Spanier über die Indios müsse letzteren nützen, da die Überlegenheit der zivilisierten Völker über die Barbaren allein den Sinn habe, diesen zu helfen, so schnell wie möglich die Zivilisation zu erlangen. Der Weg dahin sei nicht der Krieg, der nur das letzte Mittel sei, sondern gerechte Gesetze und geistige und materielle Hilfe. 65 Dies ist das Motiv, aus dem er für die Indios "eine gerechte, milde und humane Herrschaft gemäß ihrer Natur und ihrer Situation" fordert: "Also eine Herrschaft, wie sie christlichen Fürsten entspricht, die nicht nur dem Nutzen des Herrschenden, sondern dem Wohl der Untertanen und der Freiheit dient, wie sie ihrer jeweiligen Natur und Lage zukommt."66 Genau in diesem Punkt weicht Ginés de Sepulvedas Vorstellung von der des Aristoteles ab. Für diesen läßt sich nämlich der Zustand der Sklaverei wegen seiner Naturgegebenheit nicht durch geistige Förderung überwinden, und außerdem ist er ja durch die bloße Tatsache seiner "Naturgegebenheit" als solcher gerechtfertigt und impliziert selbstverständlich keinerlei Pflicht des Herrn gegenüber dem Diener. Dagegen hat für Sepulveda die Herrschaft der entwickelteren Völker über die unterlegenen vor allem den Zweck, diese aus der Barba-
64 "... der Pater Las Casas", so schrieb J. A. Marciali, "ist von völlig utopischen Hoffnungen diirchdrungen, das schreckliche Geschick der Schwachen auf dieser Welt lindern und nebenbei auch noch das Unrechte Handeln der Herrschenden korrigieren zu können"; vgl. Utopismo y primitivismo en Las Casas, in: Revista de Occidente Nr. 141 (Dez. 1974) S. 372; vgl. dazu auch J. /. Tellechea, Las Casas y Carranza: fe y utopia, in: ebd. S. 403 ff.; J. Höf/her, La ètica colonial espanola del Siglo de Oro. Cristianismo y dignidad humana, übers, von F. Caballero, mit einer Einführung von A. Truyol y Serra, Madrid: Ediciones Cultura Hispânica 1957, S. 90 ff und 292 ff. 65 "Nam gentes humanae suo naturali jure Imperium in barbaros deposeunt non ad injuria herilem dominationum, sed ad officium et humanitatem ut barbari ex moribus et natura dam melioris mitiorisque vitae cultum per justas et naturae consentaneas leges traducantur et clientes et princeps natio , vicissim ope mutua mutuisque officiis subleventur" ; Brief Sepulve Francisco Argote, zit. nach T. Andrés Marcos, Los imperialismos de Juan Ginés de Sepulveda en su Demócrates alter (zit. Anm. 4) S. 183 f.