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German Pages 286 Year 2017
Die Naturrechtslehre des Francisco Suárez
Die Naturrechtslehre des Francisco Suárez
Herausgegeben von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening
ISBN 978-3-11-052375-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052424-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052386-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Francisco Suárez: Tractatvs de Legibvs, ac Deo Legislatore. Antwerpen 1613, S. 75b Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Lex naturalis est lex Dei (Francisco Suárez, DL II. 9. 2)
Inhalt Siglenverzeichnis IX
1 Einleitung Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening »Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo« Das Naturrechtsdenken des Francisco Suárez 3
2 Naturrecht zwischen Metaphysik und Theologie Gideon Stiening Lex naturalis est prima participatio legis aeternae Zum Verhältnis von lex aeterna, recta ratio und lex naturalis bei Francisco Suárez 25 Simon Eultgen Warum ist das natürliche Gesetz verbindlich? Suárezʼ gescheiterter Versuch einer via media 63 Gideon Stiening Urheber oder Gesetzgeber? Zur Funktion der Gottesinstanz im Naturrecht des Francisco Suárez 91 Norbert Brieskorn S.J. Charitas, Iustitia und Libertas im dreifachen Auftrag an den Menschen Ein Kommentar zu DL II. 8. 4 113
3 Naturrecht und Ethik Stefan Schweighöfer Proxima regula bonitatis Das Gewissen und das natürliche Gesetz 135
VIII Inhalt
Frank Grunert Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez 155 Holger Glinka Francisco Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung 169
4 Veränderbarkeit oder Unveränderbarkeit des Naturrechts Dominik Recknagel ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum Die Unveränderlichkeit des Naturrechts bei Francisco Suárez 197 Kurt Seelmann Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts 213 Oliver Bach Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht 233 Ausgewählte Forschungsliteratur 263 Personenregister 275
Siglenverzeichnis Bach, Brieskorn, Stiening II
Francisco Suárez: De legibus. De lege aeterna et naturali, ac iure gentium. Über die Gesetze. Das ewige Gesetz, das natürliche Gesetz und das Völkerrecht. Lat./dt. Hg., eing. u. ins Deutsche übers. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016.
Bach, Brieskorn, Stiening III
Francisco Suárez: De legibus. De lege humana positiva. Über die Gesetze. Über das menschliche positive Gesetz. Lat./dt. Hg., eing. u. ins Deutsche übers. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2014.
Balleoniana [S.Spalte]
Francisco Suárez: Tractatus de legibus ac Deo legislatore in decem libros distributus. Operum tomus quintus. Venetii 1740.
Brieskorn [S.]
Francisco Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Übers., hg. u. mit einem Anhang vers. von Norbert Brieskorn. Freiburg u.a. 2002.
DL [I. 2. 5]
Francisco Suárez: Tractatus de Legibus ac Deo Legislatore
DM [XIX. 2. 12]
Francisco Suárez: Disputationes Metaphysicae.
DThA [Bd., S.]
Thomas von Aquin: Die deutsche Thomas-Ausgabe. Lat./dt. 36 Bde. übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Hg. vom Katholischen Akademikerverband. Heidelberg et. al. 1933–2004.
X Siglenverzeichnis Muniozguren [Bd., S.Spalte]
Francisco Suárez: Tratado de las leyes y de dios legislador en diez libros. Versión Española por von José Ramón Eguillor Muniozguren. Madrid 1967f. [Zweisprachige Ausgabe mit Faksimiledruck des Conimbricenser Erstdrucks von 1612].
Pereña [Bd., S.]
Franciso Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Edicion critica bilingüe. Ed. par Luciano Pereña, Pedro Súñer, Vidal Abril, César Villanueva y Eleuterio Elorduy, 8 vol., Madrid 1971–1981.
STh I [q., art., ad]
Thomas von Aquin: Summa Theologiae Prima.
STh I–II [q., art., ad]
Thomas von Aquin: Summa Theologiae Prima Secundae.
STh II–II [q., art., ad]
Thomas von Aquin: Summa Theologiae Secunda Secundae.
STh III [q., art., ad]
Thomas von Aquin: Summa Theologiae Tertia.
deVries [S.]
Francisco Suárez: Ausgewählte Texte zum Völkerrecht. Übers. und hg. von Joseph de Vries, mit einer Einleitung v. Josef Soder S.J. Tübingen 1965.
Vivès [Bd., S.Spalte]
Franciscus Suarez: Opera Omnia. Editio nova, a Carolo Berton. Parisiis 1856–1878 [Tractatus De Legibus in den Bänden V und VI].
WA
D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883–2009.
1 Einleitung
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo« Das Naturrechtsdenken des Francisco Suárez In memoriam Merio Scattola (1962–2015)
Neuzeitliches Naturrecht – modern oder vormodern? In jüngster Zeit wurde im Zusammenhang von Verfassungs-, Menschen- und Völkerrechtsproblemen eine Frage erneut dringlich gestellt, ob nämlich ein überpositives Recht möglich oder gar notwendig sei,1 und wie es als ein solches überzeugend begründet werden könne.2 Diese Frage ist nur dann angemessen zu beantworten, wenn die seit der Antike entwickelten Modelle solchen Rechts in ihren Leistungen und Grenzen hinreichend erforscht werden. Erst eine vollständige Kenntnis der Argumentationsarsenale dieser seit über 2000 Jahren anhaltenden Kontroverse über die Möglichkeit überpositiver Normativität lässt eine erneute Debatte fruchtbar werden. Dabei scheint die lange Zeit wirkungsvoll praktizierte,3 in neuerer Zeit von Charles Taylor aktualisierte,4 abstrakte Unterscheidung zwischen einem klassischen bzw. einem vormodernen und einem modernen Naturrecht allein deshalb
1 Siehe hierzu u. a. Matthias Lutz-Bachmann u. James Bohmann (Hg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a. M. 2002; James Griffin: On human rights. Oxford: University Press 2008; Jürgen Habermas: Konstitutionalisierung des Völkerrechts und die Legitimationsprobleme einer verfassten Weltgesellschaft. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann u. Stefan Kriste. Frankfurt a. M: 2008, S. 360–379 und Carsten Bäcker: Gerechtigkeit im Rechtsstaat. Das Bundesverfassungsgericht an der Grenze des Grundgesetzes. Tübingen 2015, S. 11ff. 2 So Norbert Brieskorn: Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? In: »Vom Rechte, das mit uns geboren ist«. Aktuelle Probleme des Naturrechts. Hg. von Wilfried Härle u. Bernhard Vogel. Freiburg, Basel, Wien 2007, S. 97–126. 3 Siehe hierzu insbesondere die wegweisende Studie von Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt a. M. 1977 [EA 1953]. 4 Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2009, S. 275–364.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening wenig hilfreich zu sein, weil sie einer zumeist normativ überlagerten Perspektive (häufig zugunsten des älteren Modells) zu verdanken ist, der es vor allem darum geht, der Modernität bzw. – präziser mit Blumenberg5 – der säkularen Neuzeit die Legitimität, die Eigenständigkeit6 bzw. die Leistungsfähigkeit7 oder auch nur den Fortschritt abzusprechen.8 Demgegenüber erweisen sich seit jeher Studien zu historischen Konzepten des Naturrechts als der weithin prägenden Form überpositiven Rechts seit Platon und Aristoteles, vor allem aber seit der Stoa auch in systematischer Hinsicht als ergiebiger, weil sie mithilfe differenzierter Rekonstruktionen der systematischen und argumentationslogischen Konturen der jeweiligen Modelle eine spezifische, weitgehend wertfreie Entwicklung der Theorien überpositiver Normativität zu entwerfen vermögen.9 Erst auf der Grundlage der Prüfung ihres
5 Hans Blumenberg: Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1988. 6 Siehe hierzu Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 92009 sowie ders.: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie. Berlin 52008. 7 So u.a. Strauss: Naturrecht und Geschichte (s. Anm. 3). 8 Dass man über die Beantwortung dieser Frage fruchtbare Kontroversen austragen kann, lässt sich nachlesen bei Georg Geismann und Joachim Detjen in Georg Geismann: Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ‚klassischen‘ politischen Philosophie. In: Jahrbuch für Politik 2 (1992), S. 319–336; Joachim Detjen: Kantischer Vernunftstaat der Freiheit oder klassische Ordnung zum Gemeinwohl? Zur Kontroverse mit Georg Geismann um die Grundlagen der politischen Philosophie. In: Jahrbuch für Politik 4 (1994), S. 157–188 sowie Georg Geismann: Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die klassische Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben. In: Jahrbuch für Politik 5 (1995), S. 141–177. 9 Vgl. hierzu, um nur einige Beispiele zu nennen, Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 41962; Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1970; Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976; Richard Tuck: Natural Rights Theories. Their origin and development. Cambridge 1979; Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999; Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999; Klaus-Gert Lutterbeck: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; Knud Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophy. Cambridge University Press 2004; Sebastian Kaufmann: Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann. 2 Bde. Berlin, New York 2008, Bd. 1, S. 229–292 oder Holger Glinka: Zur Genese
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo«
Voraussetzungsreichtums, ihrer systematischen Kohärenz oder ihrer Widersprüche lässt sich der Versuch eines neuerlichen Rekurses auf naturrechtliche Argumente erwägen und begründen.10 In dieser historiographischen Rekonstruktionsarbeit erweist sich als ein besonderes systematisches Problemfeld, dass die seit der Stoa weitgehend unhinterfragten, vor allem im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit weiterentwickelten theologischen oder metaphysischen Grundlegungen eines überpositiven Naturrechts spätestens seit dem 17. Jahrhundert erodierten. Sowohl die Gottesinstanz als auch eine teleologisch verfasste Natur wurden als Garantieinstanzen einer überpositiven Normativität zusehends problematisch. Hatten sich mit Machiavelli und Bodin auf dem Gebiet der Staatsrechts- und Staatsräsonlehren säkulare, wenigstens aber theologisch indifferente Modelle mit systematischer und politischer Notwendigkeit entwickelt,11 so wird spätestens mit Hugo Grotius das Naturrecht durch den gleichursprünglichen Bezug auf eine empirische Anthropologie und den Willens Gottes wenigstens säkularisiert12 und mit Thomas Hobbes die Auseinandersetzung um ein überpositives Naturecht tatsächlich säkular. Dabei zeigt sich jedoch schon bei Hobbes, dass eine Geltungsund Verbindlichkeitstheorie natürlicher Gesetze ohne Rekurs auf eine teleologisch gedachte Natur oder auf Gott mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.13 Dem vermeintlichen Atheismus des hobbesschen Naturrechts, das in Wahrheit den Nachweis der Notwendigkeit einer rein säkularen Naturrechtstheorie ausführte, die als Wissenschaft will auftreten können und die keineswegs den Anspruch eines Atheismus mit sich führte, wurden zügig und mit erheblichem Argumentationsaufwand sowohl streng theologische als auch philosophische autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und in der Aufklärung. Hamburg 2012. 10 Dass das Bedürfnis nach einem überzeugenden Begründungskonzept für ein Modell überpositiver Rechtsnormen insbesondere in gesellschaftlichen oder gar staatlichen Krisenzeiten wächst, in denen neben den Werten der Moral und der Konvention bisweilen auch die des positiven Rechts zu erodieren scheinen, lässt sich nachlesen an dem 1947 verfassten, aber erst vor kurzen publizierten Text von Otto Bachof: Naturrecht und Gegenwart. Ein Versuch zur Klärung der Begriffe. In: Archiv des öffentlichen Rechts 139 (2014), S. 1–31. 11 Siehe hierzu u.a. Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. In: Ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a. M. 1990, S. 37–72. 12 Siehe hierzu Stefanie Erz: Vertrag und Gesetz. Das Naturrecht und die Bibel bei Grotius, Hobbes und Spinoza. Würzburg 2014. 13 Siehe hierzu u. a. Daniel Eggers: Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes. Berlin 2008, S. 76ff.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening Theorien mit theonomen Fundamenten entgegengehalten.14 So zeigt sich der Hobbes-Kritiker Samuel Pufendorf, dessen Naturrecht durchaus säkularisierte, keineswegs aber säkulare Konturen aufweist, im Hinblick auf die normative Kraft natürlicher Gesetze überzeugt: Wenn auch der Nutzen dieser Gebote offensichtlich ist, so ist doch für ihre Geltung als Gesetz notwendige Voraussetzung, dass es einen Gott gibt, der in seiner Vorsehung alles lenkt, und der den Menschen die Verpflichtung auferlegt hat, die Gebote der Vernunft wie Gesetze, die von ihm kraft des angeborenen Lichts der Vernunft verkündet worden sind, zu befolgen.15
Vor dem Hintergrund des bis ins späte 18. Jahrhundert zu beobachtenden Bezugs auf den Willen Gottes als Grund der Verbindlichkeit naturrechtlicher Normen erweist sich die oben schon zitierte Unterscheidung in vormodernes und modernes Naturrecht als zu schlicht bzw. unterkomplex, denn diese, beispielsweise auch bei dem Göttinger Natur- und Völkerrechtstheoretiker Gottfried Achenwall zu findenden Bezüge auf eine Gottesinstanz sind in ihrer spezifischen Kontur nur als genuin moderne Reaktion auf die Säkularisierungstendenzen im neuzeitlichen Naturrecht zu verstehen.16 Zugleich zeigt sich an Kants Naturrechts-Vorlesung, die er ab 1784 nach Achenwall gestaltete,17 dass der systematische Bruch zwischen einer nur säkularisierten, mit theonomen Versatzstücken arbeitenden Naturrechtslehre und einem tatsächlich säkularen Vernunftrecht unüberbrückbar ist.18
14 Vgl. hierzu Merio Scattola: ›Ein Stein des Anstoßes‹. Thomas Hobbes und die deutsche Naturrechtslehre des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. In: Der Lange Schatten des Leviathan. Hobbes politische Philosophie nach 350 Jahren. Hg. von Dieter Hüning. Berlin 2005, S. 331–354. 15 Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übers. von Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994, S. 48 (I. 3. 10). 16 Siehe hierzu Gottfried Aschenwall u. Johann Stephan Pütter: Anfangsgründe des Naturrechts. (Elementa iuris naturae). Hg. u. übers. von Jan Schröder. Frankfurt a. M. 1995. 17 Siehe hierzu Heinrich P. Deffosse, Nobert Hinske u. Gianluca Sadun Bordini (Hg.): Kant Index. Bd. 30: Stelleindex und Konkordanz zum »Naturrecht Feyerabend«. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, II, S. 15–87 (= AA XXVII, 2.2., S. 1329–1394). 18 Die von rechtshistorischer Seite an unseren Überlegungen zur Einbettung der suárezischen Rechtstheologie in den neuzeitlichen Säkularisierungsprozess geübten Kritik (vgl. u.a. Nils Jansen: Rezension. In: Zeitschrift für historische Forschung 42 (2015) S. 165–168), scheint die Unterscheidung zwischen Objekt- und Beschreibungssprache zu vernachlässigen. Dass auf der iberischen Halbinsel die Säkularisierungsprozesse in politischer Theorie und Praxis, die u. a. in Deutschland, England und Frankreich stattfanden (vgl. hierzu u.a. Ulrich Suerbaum: Das elisabethanische Zeitalter. Stuttgart 2014, S. 86ff. sowie die exzellente Studie von Joachim
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo«
Ordnung und Struktur des suárezischen Naturrechts In eben diese konfliktuöse Konstellation zwischen theologischen, säkularisierten und tatsächlich säkularen Naturrechtsentwürfen der Neuzeit ist auch Francisco Suárez’ Modell eines innerweltlichen und doch überpositiven Rechts zu lozieren. Keineswegs kann das Naturrechtskonzept des Conimbricenser Theologen, Philosophen und Juristen dabei als vormodern qualifiziert werden. Die strenge Einbindung der lex naturalis in die seit Thomas kanonisierte rechtstheologische leges-Hierarchie mag diesen Eindruck zwar erwecken, der begründungstheoretischen Sache nach gehört der Naturrechtstraktat in De legibus ac Deo legislatore aber erkennbar der Neuzeit an. Dieses Urteil lässt sich an einem kurzen Überblick über den gesamten Naturrechtstraktat und dessen Ordnung erläutern: Umfang und Komplexität der Abschnitte zum Naturrecht (DL II, 5–16) gründen in der Tatsache, dass erst und ausschließlich im Naturrecht konkrete Gehalte von Gesetzen mit überpositivem Status verhandelt werden können. Bleibt die lex aeterna grundlegend formal in ihrer Funktion einer überzeitlichen Garantie der Möglichkeit von Gerechtigkeit endlichen Rechts, d.h. von Rechtlichkeit überhaupt, und weisen die Bestimmungen des Völkerrechts letztlich, weil veränderbar,19 keinen überpositiven Charakter auf, so lässt sich einzig für das Naturrecht ein materialer und überpositiver Status beweisen.20 In vier Schritten sucht Suárez sein naturrechtliches System zu entfalten:
Whaley: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien. 2 Bde. Darmstadt 2014, Bd. I, S. 773ff.), nicht wahrgenommen worden wären, mag für das Gros der ihrer Lebenswelt ausgesetzten Zeitgenossen gegolten haben; Francisco Suárez’ politische Theorie aber ist in ihrer kontroverstheologischen Ausrichtung auf eben solche machiavellistischen oder bodinschen Säkularisate von diesem die Neuzeit konstituierenden Prozess in einer angemessen kontextualisierenden Interpretation nicht abzuschneiden. 19 Vgl. hierzu DL II. 20. 6. 20 So auch Jean-P. Coujou: La reformulation de la question de la loi naturelle chez Suárez. In: Francisco Suárez: Das ist der Mann. Hg. von Jacob Schmutz. Valencia 2004, S. 105–132.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening
. Grundlegung des Naturrechts zwischen recta ratio und voluntas Dei Die herausgehobene und für die rechtstheologische Intention essentielle Stellung der lex naturalis zeigt sich schon in den ersten beiden Kapiteln dieses Abschnittes. Nach ausführlichen, gegen Gabriel Vásquez und Thomas von Aquin gerichteten Ausführungen zum genuin praktischen Charakter des Naturrechts, der einzig den Normativitätscharakter der Natur garantieren kann,21 sucht Suárez nach Verbindungen zwischen lex naturalis und lex aeterna, die er gemäß der normativen Funktion des ewigen Gesetzes herstellen muss: Dieses nämlich ist, wie es schon im Prooemium zu DL II heißt, »Ursprung und Quelle sämtlicher Gesetze«.22 Dieser Konnex gelingt über die Instanz des Gewissens: Es steht fest, dass das Gewissen ein Wirken der Vernunft ist, dass es seinerseits Zeugnis ablegt und zeigt die verpflichtende Tätigkeit des Gesetzes auf, die in die Herzen der Menschen eingeschrieben ist. Das Gewissen bezeugt nämlich, inwiefern der Mensch schlecht oder gut handelt, je nachdem, ob er dem natürlichen Urteil der rechten Vernunft widersteht oder gehorcht. Dementsprechend weist es auf, dass jenes Urteil im Menschen mit der Kraft des Gesetzes ausgestattet ist, auch wenn ein verbrieftes, äußerlich erkennbares Gesetz fehlt. Also ist dieses Urteil das natürliche Gesetz. Deshalb sagt man auch, dass der Mensch, der sich durch dieses Gesetz führen lässt, sich selbst Gesetz sei, trägt er doch in sich das geschriebene Gesetz, das ihm das Urteil der natürlichen Vernunft vermittelt. Dies bestätigt der hl. Thomas, wenn er mit dem Psalmenworten fragt: »Wer zeigt uns das Gute? es ist über uns das Licht deines Antlitzes als ein Zeichen aufgegangen, Herr.« Dort führt er nämlich aus, dass der Mensch durch das Licht der Vernunft am ewigen Gesetz teilhat, das ihm verbindlich mitteilt, was zu tun und was zu lassen ist. Jenes Licht ist das natürliche Gesetz, das wiederum nichts anderes als eine gewisse natürliche Teilhabe am ewigen Gesetz ist.23
21 Vgl. hierzu auch Rainer Specht: Zur Kontroverse von Suárez und Vásquez über den Grund der Verbindlichkeit des Naturrechts. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 45 (1959), S. 235–255. 22 DL II, Proeom. 23 DL II. 5. 10, Brieskorn 414f., Pereña III, 67f.: »Est autem conscientia opus rationis, ut constat, et illa praebet testimonium et ostendit opus legis scriptum in cordibus hominum, quia testificatur male aut bene agere hominem, quando resistit vel sequitur dictamen naturale rectae rationis; et consequenter ostendit dictamen illud habere vim legis in homine, etiamsi scriptam exterius legem non habeat. Hoc ergo dictamen est lex naturalis et ratione illius dicitur homo qui illo ducitur esse sibi lex, quia in se habet scriptam legem, medio dictamine naturalis rationis. Et hoc confirmat divus Thomas (quaest. 91, art. 2) ex illo (Ps. 4, [6–7]): ›Quis ostendit nobis bona, signatum est super nos lumen vultus tui, Domine‹. Ibi enim significatur, per lumen rationis participare hominem legem aeternam dictantem quid sit faciendum quidve vitandum.
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo«
Nicht nur gegenüber Thomas von Aquin, sondern auch gegenüber Duns Scotus ist sowohl diese Verknüpfung von lex aeterna und lex naturalis als auch die Verbindung dieser Verknüpfung mit dem Gewissensbegriff grundlegend neu.24 Dabei ist es nicht nur die strikt praktische Interpretation von lex aeterna und lex naturalis,25 sondern auch die herausragende Stellung des Gewissens, das nicht allein innerweltlicher Erscheinungsort, sondern gleichsam Realisationsinstanz des natürlichen und daher des ewigen Gesetzes ist: Damit ist das forum conscientiae als Instanz einer ratio practica universalis zugleich das forum Dei.26 Die tastende Formel von der ›Selbstgesetzgebung‹ des Menschen im Gewissen dokumentiert Tendenzen einer genuin neuzeitlichen Interpretation des forum internum, die auf die weitere Entwicklung zu einer innerweltlich-säkularen Autonomie der praktischen Vernunft hinzudeuten scheint, die allerdings mit der Anbindung an die theologische Deutung des Thomas von Aquin in ihrer für Suárez spezifischen Resakralisierung allererst erkenntlich wird.27 Dabei bemüht sich Suárez in den ersten Kapiteln zum Naturrecht zunächst, für diese Gesetzesform jene via media zwischen Intellektualismus und Voluntarismus zu gestalten,28 die er für erforderlich hält und die kohärent zu konzipieren er für sich in Anspruch nimmt. Denn einerseits sollen die Bestimmungen des Naturrechts der recta ratio, der richtigen bzw. natürlichen Vernunft entsprechen, deren Begründungsfunktion schon Cicero für die Geltung des überpositiven Naturrechts an Anspruch genommen hatte.29 Andererseits kann aber den Bestimmungen der Vernunft nach Suárez grundsätzlich keine vis obligandi zukommen, obwohl sie jedem echten Gesetz zueigen ist und zugleich nur durch den Willensakt einer übergeordneten Instanz konstituiert wird. Diese für die Gesetzlichkeit des Naturrechts erforderliche Willensinstanz sieht Suárez allein Illud ergo est lex naturalis, quia haec non est nisi quaedam participatio naturalis aeternae legis.« 24 Vgl. hierzu die Studie von Berthold Wald: Die Bestimmung der ratio legis bei Thomas von Aquin und Duns Scotus. In: Mensch und Natur im Mittelalter. Hg. von Albert Zimmermann u. Andreas Speer. 2 Bde. Berlin, New York 1992, Bd. 2, S. 662–681 sowie Louis Vereecke: Conciencia y ley de Santo Tomás a Francisco Suárez. In: Salmanticensis 37.1/2 (1990), S. 201–212. 25 Insofern ist die enge Anbindung an den genuin thomasischen Gedanken der lex aeterna als allgemeinen Schöpfungsordnung irreführend; vgl. aber Bernd Franke u. Martin Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suarez. In: Rechtstheorie 41 (2010), S. 87–108, spez. S. 90f. 26 Siehe hierzu die Formulierung in DL III. 21. 2 / Bach, Brieskorn, Stiening III, 20f.: »Ratio autem dubitandi esse potest, quia forum conscientiae est forum Dei; sed homo non potest obligare in foro Dei; ergo nec in foro conscientiae.« 27 Vgl. hierzu auch Friedo Ricken: Art. Naturrecht I. In: TRE 24, S. 132–153, spez. S. 147. 28 Vgl. DL II. 6. 5. 29 Cicero: De legibus, 28/29 (I, Nr. 23).
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening durch die Gottesinstanz erfüllt, deren Wille die Bestimmungen des natürlichen Gesetzes will und so deren Gesetzescharakter garantiert: Folglich ist es notwendig, dass jene Verpflichtung [d.i. das natürliche Gesetz zu erfüllen] aus dem göttlichen Willen hervorgeht, der will, dass die Menschen gehalten sind, das zu beachten, was die rechte Vernunft vorschreibt.30
Mit dieser Bindung an den göttlichen Willen wird jedoch das natürliche Gesetz zugleich den Offenbarungswahrheiten angenähert, deren eigentümlichen Rechtscharakter Suárez erst in den Büchern IX und X zu begründen sucht. Gleichwohl wird das Naturrecht aufgrund dieser Argumentation auch als »echtes göttliches Gesetz« bezeichnet.31 Diese Konsequenz eröffnet erneut die nur prekäre Eigenständigkeit des natürlichen Gesetzes, die Suárez gleichwohl behauptet. Nicht nur aufgrund dieser Problemlage ist der Anspruch des Conimbricenser Rechtstheologen auf eine tragfähige Vermittlung von Voluntarismus und Intellektualismus in der Forschung nach wie vor umstritten.32
. Inhalt, Umfang und Wirksamkeit des Naturrechts Nach diesem umfangreichen prinzipientheoretischen Ausführungen zum Status der natürlichen Gesetze geht Suárez in DL II. 7 dazu über, die spezifischen Inhalte des Naturrechts vorzustellen, indem er deutlich zwischen verschiedenen Gattungen von natürlichen Gesetzen unterscheidet: So gibt es unmittelbar evidente allgemeinen Prinzipien, wie die Goldene Regel und die Prädominanz des Guten vor dem Bösen als Ziel des menschlichen Handelns, die zweifellos seit der Antike zum Naturrecht gehörten.33 Nicht zu übersehen ist, dass es in der Tat diese und nur diese beiden allgemeinen Prinzipien gibt und dass deren Geltung und Verbindlichkeit uneingeschränkt von der Existenz und Wirksamkeit der Gottesinstanz abhängen.
30 DL II. 6. 10, Brieskorn 437, Pereña III, 92: »Ergo necesse est ut illamet obligatio sit ex divina voluntate volente homines teneri ad id servandum quod recta ratio dictat.« 31 DL II. 6. 12 u. 13. 32 Siehe hierzu die Kritik bei Dominik Recknagel: Der Begriff des Naturgesetzes zwischen Intellektualismus und Voluntarismus und die via media bei Francisco Suárez. In: Das Gesetz – The Law – La Loi. Hg. von Andreas Speer u. Guy Guldentops. Berlin, Boston 2014, S. 509–524, sowie die Beiträge von Gideon Stiening und Simon Eultgen in diesem Band. 33 Vgl. in systematischer Perspektive Hans Reiner: Die goldene Regel und das Naturrecht. Zugleich Antwort auf die Frage: Gibt es ein Naturrecht? In: Studia Leibnitiana 9 (1977), S. 231– 254.
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo«
Darüber hinaus gibt es nach Suárez abgeleitete Bestimmungen des Naturrechts, wie das Gerechtigkeitspostulat, die Gottesverehrung oder das Mäßigkeitsgebot, deren spezifische Stellung durch eine selbstevidente Ableitung aus den allgemeinen Prinzipen entstehe; letztlich gibt es noch weiter abgeleitet Bestimmungen, die allerdings erst durch komplexe Deduktionen in ihrer Geltung und Verbindlichkeit erkennbar werden. Hierzu gehören die Gebote des Dekalogs, der nach der Ankunft Christi seinen Status als lex divina verloren hat und auf die Ebene des Naturrechts abgesunken ist.34 Trotz dieser Aufteilung in unterschiedliche Gattungen, die den Erkenntnisund damit den Geltungsgrad der natürlichen Gesetze festlegen, betont Suárez im anschließenden Kapitel DL II. 8 die Einheitlichkeit des Naturrechts. Diese Einheit bezieht sich sowohl auf die Wirksamkeit im einzelnen Menschen als auch auf die einheitliche Wirkung auf die gesamte Menschheit sowie auf die zeitliche Indifferenz dieser Wirksamkeiten. Der entscheidende Grund für diese ausführlichen Überlegungen zur raum-zeitlichen Einheit bzw. Indifferenz des Naturrechts besteht für Suárez erkennbar in den Debatten, die im Anschluss an die Eroberungen der Neuen Welt dazu führten, eine allgemeine Geltung des Naturrechts deshalb in Frage zu stellen, weil »verschiedene Völker nach Gesetze leben, die den naturrechtlichen Vorschriften entgegengesetzt sind«.35 Mit Paulus, Thomas und der gesamten philosophischen Tradition wird aber solchen Anwandlungen eines ethnologischen Relativismus entgegengehalten: »Also gibt es nur ein und dasselbe natürliche Gesetz«.36 Dieses einheitliche natürliche Gesetz hat zudem eine bestimmte Wirkungsart, d. h. eine besondere Art, seine Verbindlichkeit zu garantieren; diese besteht in der Bindung des Naturrechts an das menschliche Gewissen: »Wo eine naturgesetzliche Verpflichtung besteht, fehlt nie die Gewissensverpflichtung«.37 Dieses Theorem hat aber erhebliche Konsequenzen, die hier nur angedeutet seien: Das menschliche Gewissen ist durch die in II. 5 und II. 9 entwickelten Argumente nicht nur einziges Realisationsmedium, mithin Geltungswirklichkeit, sondern zugleich auch Verbindlichkeitsgarant der lex naturalis. Erst an dieser Stelle wird mithin erkennbar, warum Suárez mit guten Gründen von einer ›Selbstgesetzgebung‹ des menschlichen Gewissens – zumindest in metaphorischer Rede – 34 Vgl. hierzu Gideon Stiening: Obligatio imperfecta. Francisco Suárez über das positive göttliche Gesetz des Alten Bundes. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 369–384. 35 DL II. 8. 5. 36 Ebd. 37 DL II. 9. 6.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening sprechen konnte und musste: Die lex naturalis, wichtigste, gar einzige innerweltliche Erscheinungsform der lex aeterna in überpositiver Form hat ihre Wirklichkeit im Hinblick auf ihre Geltung, Verbindlichkeit und Promulgation einzig im Gewissen des einzelnen Menschen. Diese durchaus prekäre, weil an den – fehlbaren, sündigen – Menschen gebundene ›Existenz‹ ist aber zugleich auch die entscheidende Möglichkeit der theonomen Fundierung der gesamten Naturrechtslehre, denn klar ist schon seit DL I nicht nur, dass »forum conscientiae est forum Dei«, sondern auch »dass, wer das natürliche Gesetz bricht, notwendigerweise auch sündigt«.38 Damit ist auch auf strafrechtlicher Ebene die Bindung des natürlichen Gesetzes an theologische Voraussetzungen erfolgt. Zudem ist ersichtlich, dass die Existenz der lex naturalis eine rein innermenschliche ist, obwohl dessen Geltung und Verbindlichkeit nur durch die Gottesinstanz zu gewährleisten ist: »Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo.«39
. Bedingungen und Konsequenzen des Naturrechts In DL II. 9–12 behandelt Suárez konstitutive Bedingungen und strafrechtliche Konsequenzen naturrechtlichen Handelns. Als wichtigste Bedingung bestimmt Suárez, dass ein Handeln, das nach naturrechtlichen Bestimmungen bewertet wird, aus freiem Willen erfolgen müsse: »Freiwillig zu handeln, ist daher vorgeschrieben und ist zugleich unabdingbar zur Beobachtung eines solchen Gesetzes«.40 Ausdrücklich hält Suárez in diesem Zusammenhang fest, dass es keineswegs, wie Aristoteles meinte, eine Bedingung rechtmäßigen Handelns sei, dieses mit »Freude zu vollziehen«.41 Auch unterscheidet Suárez ein ›Handeln gemäß der Pflicht‹ von einem ›Handeln aus Pflicht‹;42 anders als Kant macht er letzteres jedoch nicht zur Bedingung naturrechtlich bzw. moralisch adäquater Handlungen:
38 Ebd. vgl. hierzu auch Gideon Stiening: Suprema potestas […] obligandi. Der Verbindlichkeitsbegriff in Francisco Suárez’ Tractatus de Legibus. In: Kontroversen um das Recht. Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez. Hg. von Kirstin Bunge, Stefan Schweighöfer, Anselm Spindler u. Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 341–367. 39 DL II. 5. 12. 40 DL II. 10. 4. 41 DL II. 10. 3. 42 Vgl. hierzu natürlich Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. IV, S. 397–463.
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo«
Denn eine Sache ist es, tun zu wollen, was das Gebot beinhaltet, eine andere, es tun zu wollen, weil es geboten ist, so dass das Gebot selbst zum Motiv des Handelns wird. […] Doch stellt dies [das Gebot als Motiv des Handelns] zweifellos keine notwendige Bedingung dar, um die Vorschrift zu befolgen, weil dies weder im Gesetz selbst geboten ist noch irgendein Grund besteht, der dazu verpflichtet.43
Auch wenn das Naturrecht nach Suárez notwendig eine Gewissensverpflichtung erfordert, bleibt er bei anderen subjektiven Bedingungen der Einhaltung und Befolgung des überpositiven Naturrechts zurückhaltend.44 Dies gilt bemerkenswerter Weise auch für die in DL II. 11 verhandelte Frage, ob die Gottes- bzw. die Nächstenliebe notwendige Bedingungen zur angemessenen Einhaltung der naturrechtlichen Normen seien. Im Hintergrund dieser von Suárez selbst als theologisches Thema behandelten Frage stehen die Thesen Gregor von Riminis und Augustinus’, nach denen alles menschliche Handeln nur durch dessen je unmittelbaren – d.h. liebenden Bezug – auf die Gottesinstanz gerechtfertigt sei, sogar die Selbst- und Nächstenliebe. Nur die Verknüpfung der Nächsten- und Selbstliebe mit der zugleich von beiden substanziell unterschiedenen Gottesliebe verhindert nach Augustinus ein Absinken in die Sünde. Anders Suárez: Für ihn ist naturrechtgemäßes Handeln nicht zusätzlich mit der Liebe Gottes zu verknüpfen, weil solches Handeln als Erscheinungsform und damit nur graduell verschiedenes Moment der Gottesliebe interpretiert wird. Gleiches gilt für die Nächstenliebe, die dem Gehorsam gegenüber dem Naturrecht keinerlei zusätzlich Verbindlichkeit verleihen kann. Der Gesetzesgehorsam gilt nach Suárez – sündenfrei – ohne Liebeszugabe. Die herausragende Bedeutung des freien Willens für das Naturrecht zeigt sich noch an einer spezifischen Geltungskonsequenz: Wie nämlich für jeden Vertrag im Rahmen positiver Gesetze so gilt auch für das Naturrecht: Ohne freien Willen sind Einhaltung oder Bruch seiner Bestimmungen nichtig.45 So kann Suárez in einem eigenen Kapitel zwischen dem Bruch mit dem Naturrecht und der normativen Geltungslosigkeit einer Handlung präzise unterscheiden.
43 DL II. 10. 6, Brieskorn 501f., Pereña III, 154: »[Q]uia aliud est velle facere quod praeceptum est, aliud velle facere quia praeceptum est, ita ut illud sit motivum operandi. […] quod sine dubio necessarium non est ad praeceptum implendum, quia neque in lege ipsa hoc praecipitur nec est ulla ratio quae ad hoc obliget.« 44 Vgl. hierzu auch Erik Åkerlund: Suárez’s Ideas on Natural Law in the Light of His Philosophical Anthropology and Moral Psychology. In: The Nature of Rights: Moral and Political Aspects of Rights in Late Medieval and Early Modern Philosophy. Ed. by Virpi Mäkinen. Helsinki 2010, pp. 165–196. 45 DL II. 12. 4.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening
. Veränderbarkeit und Modifizierbarkeit des Naturrecht In vier umfangreichen Kapiteln bearbeitet Suárez am Ende des Naturrechtsabschnittes die Frage der Änderbarkeit bzw. Modifizierbarkeit naturrechtlicher Normen. Dabei geht es dem Rechtstheologen zunächst um die Frage, ob das Naturrecht durch Menschen oder durch Gott Änderungen unterzogen werden kann, was in beiden Fällen zurückgewiesen wird: Diese Behauptung wird aber erstens damit belegt, dass wir das Naturrecht untersuchen, entweder als in Gott oder als im Menschen wirksam: So wie es im Menschen ist, kann es keine Änderung erfahren, weil es eine ihm wesentlich zugehörige Eigenschaft ist, die mit Notwendigkeit aus dieser Natur fließt, oder anders gesagt, welche die vernünftige Natur selbst ist. So wäre es ein Widerspruch, dass die Natur weiter besteht, die zum Gebrauch der Vernunft geeignet ist, und das natürliche Gesetz aufgehoben würde. Wenn wir jedoch dieses Gesetz betrachten, insoweit es in Gott ist, so kann es – wie ich bereits oben zeigte – weder durch einen Urteilsspruch des göttlichen Verstandes noch vom göttlichen Willen aufgehoben werden, mit dem er naturrechtlich Gutes vorschreiben oder naturrechtlich Böses verhindern will.46
Aber auch durch menschliche oder göttliche Dispens oder gar durch die Anwendung des Kriteriums der Billigkeit sind die naturrechtlichen Normen nicht aufzuweichen, zu modifizieren oder zu umgehen. Als der göttlichen Autorität unmittelbar durch den Schöpfungsakt entstammend sind diese Gebote und Verbote weder zu ändern noch zu modifizieren.47 Anders als gut 100 Jahre später bei Christian Wolff, für den die Bestimmungen des Naturrechts durchaus gegenüber staatsrechtlichen Verfügungen zurückzustehen hatten bzw. umgangen werden konnten,48 besteht Suárez auf der Unterordnung allen menschli-
46 DL II. 13. 2, Brieskorn 524f., Pereña IV, 5: »Probatur autem primo, quia hoc ius naturale vel consideratur in Deo vel in homine. Prout est in homine mutari non potest, quia est intrinseca proprietas necessario fluens ex tali natura, quia talis est, vel (ut alii volunt) est ipsa rationalis natura. Ergo repugnat, manente tali natura apta ad utendum ratione, auferri legem naturalem. Si vero consideretur haec lex ut est in Deo, supra ostensum est non posse auferri non solum a iudicio divini intellectus, verum etiam neque a voluntate qua vult vel talia bona praecipere vel talia mala vitare.« 47 Auch das ist in der Forschung durchaus umstritten, siehe u.a. David Williams: The Immutability of natural Law According to Suárez. In: The Thomist 62 (1988), pp. 97–115; Friedo Ricken: Unveränderlichkeit und Wandelbarkeit des natürlichen Sittengesetzes nach Francisco Suárez. In: Ignatianisch. Hg. von Michael Sievernich u. Günter Switek. Freiburg 1991, S. 340– 353. 48 Siehe hierzu Frank Grunert: Vollkommenheit als (politische) Norm. Zur politischen Philosophie von Christian Wolff (1679–1754). In: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts.
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo«
chen Rechts unter ein unwandelbares Naturrecht. Diese Härte der lex naturalis ist Ausdruck der normativen Wirksamkeit Gottes auf Erden. Sie verdankt sich jedoch der behaupteten Konsistenz des Naturrechts, die zugleich scheinbare Härtefälle je schon subsumiert: So ist das naturrechtliche Gebot, das depositum, die Leihgabe zurückzuerstatten, keineswegs auch dann gültig, wenn der Leihgeber mit dem geliehenen Gegenstand – beispielsweise einer Waffe – jemanden zu Unrecht zu töten beabsichtigt; und dennoch wird in diesem Fall das naturrechtliche Gebot nicht abgewandelt, vielmehr ist die Pflicht, geliehene Waffen an offenkundig mordlustige Leihgeber zurückzuerstatten, ohnehin nicht analytisch in diesem Gebot enthalten.
Mittelalter oder Neuzeit: Suárez’ Naturrecht in der Forschung An der Naturrechtstheorie Francisco Suárez’ lässt sich also paradigmatisch dokumentieren, dass jede Begründung einer lex naturalis notwendig Gegenstand einer Theologie des Rechts ist, wie dies Hans Kelsen schon vermutete.49 Die Rechtstheologie des Francisco Suárez gehörte allerdings lange Zeit nicht zu den kanonisierten Forschungsgegenständen in der Geschichtsschreibung der politischen Philosophie der frühen Neuzeit; zu eng schienen Autor und Rechtslehre an die politische Theologie des Mittelalters bzw. des Jesuitenordens gebunden. Anders als im Rahmen der Metaphysikgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, innerhalb derer die Disputationes metaphysicae (1597) des Francisco Suárez einen prägenden Einfluss ausübten,50 weil sie auf nahezu allen (und damit eben auch allen protestantischen) Universitäten zum Standardlehrbuch in einem der wichtigsten Fächer der philosophischen Fakultät dienten;51 anders auch als im Hinblick auf gewichtige Teile seiner Theologie, die Staat und Politik in Deutschland. Hg. von Bernd Heidenreich u. Gerhard Göhler. Darmstadt, Mainz 2011, S. 164–184. 49 Siehe hierzu Hans Kelsen: Gott und Staat. In: Nomos 11 (1922/23), S. 261–284. 50 Vgl. hierzu u. a. die Studien von Ludger Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit. Hamburg 1990 sowie Rolf Darge: Suárez’ transzendentale Seinsauslegung und die Metaphysiktradition. Leiden, Boston 2004. 51 Vgl. hierzu schon Kurt Eschweiler: Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den Universitäten des 17. Jahrhunderts. In: Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft 1 (1928), S. 251–335.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening durchaus unter historischen und systematischen Gesichtspunkten untersucht wurden und werden,52 ist Suárez’ große rechtsphilosophische bzw. ‑theologische Summe, die 1612 in insgesamt 10 Büchern erschien, erst in den letzten beiden Jahrzehnten zum Gegenstand einer konfessionell bzw. ordenspolitisch ungebundenen philosophiehistorischen Forschung erhoben worden. Maßgeblichen Einfluss hatten hierbei Neueditionen und Übersetzungen des umfangreichen Werkes.53 Auf dieser Grundlage konnten zunächst einige schon etablierte Experten der suárezischen Philosophie54 sowie der Rechts- und Staatstheorien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit55 einflussreiche Studien vorlegen. Seit einigen Jahren befördern auch jüngere Forscher die Aufnahme der rechtstheoretischen Summe des Francisco Suárez in den Kanon der wissenschaftlichen Rekonstruktion der Rechtsphilosophie der Frühen Neuzeit.56 Einige neue Überblicksbeiträge in rezenten Handbüchern57 sowie eine Reihe von Einzelstudien58 zeigen die Tatsache an, dass Suárez’ Rechtsphilosophie 52 Vgl. hierzu u. a. die Studien von Thomas Marschler: Die spekulative Trinitätslehre des Francisco Suárez S.J. in ihrem philosophisch-theologischen Kontext. Münster 2007, sowie Nils Jansen: Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution. Außervertragliche Ausgleichsansprüche im frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurs. Tübingen 2013. 53 Siehe hierzu vor allem Francisco Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Edición crítica bilingüe. 8 vol., ed. por Luciano Pereña, Pedro Súñer, Vidal Abril, César Villanueva y Eleuterio Elorduy. Madrid 1971–2010 sowie ders.: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Übers., hg. u. mit einem Anhang vers. von Norbert Brieskorn. Freiburg 2002. 54 Vgl. u.a. Rainer Specht: Francisco Suárez über den Krieg. In: Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit I. Hg. von Norbert Brieskorn u. Markus Riedenauer. Stuttgart, Berlin, Köln S. 191–220; Norbert Brieskorn: Lex Aeterna. Zu Francisco Suárez’ Tractatus de legibus ac Deo legislatore. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001; 49–73; ders.: Francisco Suárez und sein Gesetzesbegriff im Kontext. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 105–123. 55 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 22006, S. 339–398. 56 Vgl. hierzu u.a. Markus Kremer: Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez (1548–1617). Stuttgart 2008; Dominik Recknagel: Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spaltung. Parallelen zwischen den Rechtslehren von Francisco Suárez und Hugo Grotius. Frankfurt a. M. 2010. 57 Vgl. u.a. Matthias Kaufmann: Francisco Suárez, Abhandlung über die Gesetze (1612). In: Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Hg. von Manfred Brocker. Frankfurt a. M. 2008, S. 182–198. 58 Gerald Hartung: Die politische Theologie des Francisco Suárez. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Spätscholastik. In: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theo-
»Nam lex naturalis in homine est, quia non est in deo«
und ‑theologie in den Kanon frühneuzeitlicher Standardwerke aufgenommen wurde. Gleichwohl zeigt sich – auch durch neueste Publikationen59 –, dass eine Phase der differenzierteren Erfassungen der einzelnen Systemteile des mit 2000 Seiten umfangreichen Kompendiums begonnen hat. Auch neuere Editions- und Übersetzungsarbeiten zur politischen Philosophie Francisco Suárez’60 weisen in die Richtung einer differenzierteren Analyse einzelner Systemteile und deren angemessene historische Kontextualisierung. Der nachfolgende Band, der sich ausschließlich dem Naturrecht in De legibus (II, 6–15) widmet, bemüht sich, zu dieser Entwicklung beizutragen. Dieses neue Interesse an der politischen Theorie des Francisco Suárez beweist auch eine weitere Forschungsperspektive, aus der eine allererst anhebende Betrachtung der Bedeutung der suárezischen Rechtslehre für die Entwicklung der politischen Philosophie der Frühen Neuzeit erkennbar wird: Die Erforschung des frühneuzeitlichen Naturrechts gehört zu den innovativsten Feldern der ideen-, wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Forschung der letzten Jahrzehnte.61 Dabei ist – selbst vor dem Hintergrund der erheblichen
logisch-politischen Komplexes. Hg. von Manfred Walther. Baden-Baden 2004, S. 113–126; Paul Pace: Immutabile yet inadequately formulated: The Natural Law in Francisco Suárez (1548– 1617). In: Studia Moralia 45.2 (2007), pp. 217–255 sowie Åkerlund: Suárez’s Ideas on Natural Law (s. Anm. 44), pp. 165–196; Paul Pace: Suárez on natural law. In: A Companion to Fransicso Suárez. Ed. by Victor M. Salas a. Robert L. Fastiggi. Leiden, Boston: 2014, pp. 274–296. 59 Vgl. hierzu Bach, Brieskorn, Stiening (Hg.): »Auctoritas omnium legum« (s. Anm. 34); dieser Band präsentiert nicht nur Beiträge zu allgemeinen begründungstheoretischen Fragen der suárezischen Rechtslehre, sondern bietet je einen Beitrag zu den insgesamt 10 Büchern von De Legibus. 60 Vgl. hierzu u.a. Francisco Suárez: De pace – De bello. Über den Frieden – Über den Krieg. Hg. von Markus Kremer. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013; ders.: De legibus ac Deo legislatore. Liber III. / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch III. Hg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2014; ders.: De legibus ac Deo legislatore. Liber II. / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch II. Hg. Eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016; ders.: Selections from Tree Woks: A Treatise on Law and God the Lawgiver / A Defence of the Catholic and Apostolic Faith / A Work on the Tree Theological Virtues: Faith, Hope and Charity. Ed. by Thomas Pink, London 2016. 61 Vgl. unter der Vielzahl einschlägiger Publikationen Knud Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophy: (s. Anm. 9); Hartung: Die Naturrechtsdebatte (s. Anm. 9); Glinka, Zur Genese autonomer Moral (s. Anm. 9) sowie Matthias Armgardt u. Tilman Repgen (Hg.): Naturrecht in Antike und früher Neuzeit. Symposion aus Anlass des 75. Geburtstages von Klaus Luig. Tübingen 2014.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening Unterschiede in der Begründung der Geltung von säkularem bzw. säkularisiertem und doch überpositivem Rechten – erkennbar geworden, dass das Naturrecht in der zunehmend weltlichen Neuzeit normative Grundlagenfunktionen einzunehmen versucht, die weit über die Fragen politischer Theorie hinausgehen.62 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen der innovativen Erforschung des frühneuzeitlichen Naturrechts die elaborierten Positionen Francisco Suárez’ häufig ausgespart blieben.63 Doch Suárez’ De legibus ac Deo legislatore ist neben Grotius’ De iure belli ac pacis und Hobbes’ Leviathan zu den bedeutendsten und einflussreichsten Naturrechtstheorien des frühen 17. Jahrhunderts zu zählen. Es ist dieses Dreigestirn aus katholischer, protestantischer und säkularer Naturrechtstheorie, das die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet prägen wird. Allein die noch kaum erforschten, aber auch kaum zu übersehenden Bezüge Pufendorfs auf Suárez legen diese philosophiehistorische These nahe.64 Ein Grund für das lange Zeit wirksame Absehen der neueren Naturrechtsforschung von dem spezifisch-neuzeitlichen Modell des Conimbrinceser Theologen, Philosophen und Juristen dürfte darin bestehen, dass das Naturrecht bei Suárez noch keineswegs als eigenständige Begründungstheorie auftritt. Es scheint, als stünde Suárez noch vollständig im Rahmen der Vorgaben Thomasʼ von Aquin zur lex naturalis, die streng eingebunden bleibt in das scholastische Ordnungsschema der Rechte (lex aeterna, lex naturalis, lex humana und lex divina positiva).65 Dabei ist unbestreitbar, dass Suárez diesem Ordnungsschema folgend seine Vorstellungen von Recht und Gesetz entwirft und neben komplexen, Augustinus und Thomas überbietenden Reflexionen zur lex aeterna die besonderen Rechts- und Gesetzesformen aus diesem abzuleiten unternimmt. Gleichwohl 62 Vgl. hierzu u. a. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001. 63 Vgl. hierzu die wenigen Ausnahmen: Knud Haakonssen: Divine/Natural Law Theories in Ethics. In: The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy. Ed. by Daniel Garber a. Michael Ayers. Cambridge 1998, vol II, pp. 1327–1357; Hartung, Die Naturrechtsdebatte (s. Anm. 9), S. 62–66, S. 74ff; aber das völlige Fehlen bei Röd: Geometrischer Geist (s. Anm. 9) oder Glinka: Zur Genese autonomer Moral (s. Anm. 9) 64 Siehe hierzu Thomas Pink: Reason and Obligation in Suárez. In: The Philosophy of Francisco Suárez. Ed. by Benjamin Hill a. Henrik Lagerlund. Oxford 2012, pp. 175–208 sowie demnächst Stefan Schweighöfer: Der Ursprung der menschlichen Gesetzgebung. In: Die Staatsrechtslehre des Francicso Suárez. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Berlin, Boston 2017 [i.V.]. 65 Vgl. hierzu Thomas von Aquin, STh I II, q. 90f.
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unterscheidet sich schon sein allgemeiner Gesetzesbegriff von dem des Thomas, weil Suárez einen genuin praktischen Begriff des Rechts entwirft und diesen von Thomas und seinen Schülern explizit absetzt.66 Darüber hinaus lassen sich sowohl für seine Vorstellung vom Völkerrecht, das er als einer der ersten neuzeitlichen Theoretiker weder dem Naturrecht noch der lex humana zuschlägt, sondern als Recht eigener Art inthronisiert,67 als auch für sein Konzept des Naturrechts innovative Argumente und systematische Erwägungen feststellen. Diese Zusammenhänge scheinen aber noch wenig erforscht. Zwar lässt sich eine vereinzelte ältere Forschung zum Naturrecht des Francisco Suárez feststellen;68 die Anbindung an die neueren Forschungsleistungen zum Naturrecht der Frühen Neuzeit unterblieb jedoch bisher weitgehend.69 Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse lässt sich aber absehen, dass das suárezische Naturrecht – dem einflussreichen melanchthonischen hierin verwandt70 – zwar eingebunden bleibt in eine allgemeine Rechtstheologie. Gleichwohl basiert seine Theorie objektiver Geltung sowie subjektiver Verbindlichkeit auf einem genuin neuzeitlichen Freiheitsverständnis, das Suárez in seiner Metaphysik entwarf und seiner Rechtstheorie zugrunde legte.71 Diese Zusammenhänge werden im nachfolgenden Band genauer herausgearbeitet. Ein gewichtiger Fokus wird hierbei auf das Verhältnis von theologischen und philosophischen Geltungstheorien zu werfen sein. Darüber hinaus ist 66 Vgl. hierzu u.a. Specht: Zur Kontroverse (s. Anm. 21) 67 Vgl. hierzu u.a. Matthias Lutz-Bachmann: Kosmopolitische Dynamik im Völkerrecht? Ein Beitrag zur Entwicklung des Völkerrechts und der Stellung der Rechtslehre von Francisco Suárez. In: Kosmopolitanismus. Zur Geschichte und Zukunft eines umstrittenen Ideals. Hg. von Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger u. Philipp Schink. Wistweiler 2010, S. 146–162 sowie Gideon Stiening: ›Quasi medium inter naturale ius, et humanum‹. Francisco Suárez’ Lehre vom ius gentium (DL II, 17–20). In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 175–194. 68 Vgl. hierzu u. a. Pierre-Françoise Moreau: Loi naturelle et ordre des choses che Suárez. In: Archives de Philosophie 42 (1979), pp. 229–234; William E. May: The Natural Law Doctrine of Francisco Suárez. In: The new Scholasticism 58 (1994), pp. 423; David Williams: The Immutability of Natural Law (s. Anm. 47). 69 Vgl. erste Versuche in dem, allerdings der gesamten Schule von Salamanca gewidmeten Band von Grunert u. Seelmann (Hg.): Die Ordnung der Praxis (s. Anm. 54). 70 Vgl. hierzu u.a. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht (s. Anm. 9), S. 29–54. 71 Vgl. hierzu erste Ansätze einer Korrelation von Metaphysik und Rechtslehre des Suárez bei Gideon Stiening: ›Der hohe Rang der Theologie‹? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 97–133.
Oliver Bach, Norbert Brieskorn S.J., Gideon Stiening zu beachten, welche spezifische Kontur das Verhältnis von Recht und Moral in dieser Rechtslehre erhält, bleibt doch die Gewissensverpflichtung auch für das Naturrecht essentiell. Insgesamt soll eine genaue Kontur von der Bedeutung des suarézischen Naturrechts ermöglicht werden, die dessen Stellung zwischen theonomer Rechtstheologie und säkularer Rechtsphilosophie deutlicher lozieren lässt. Zu überprüfen ist, inwiefern Suárez’ De Legibus eine der letzten großen Versuche ist, die neuzeitliche Naturrechtslehre theologisch so zu fundieren, dass die bedeutendsten Errungenschaften der machtvoll anbrechenden Neuzeit berücksichtigt werden. Die eigentümliche Kontur seines Naturrechts kann diese Stellung in besonderer Weise darstellen. Damit sollen sowohl im Hinblick auf die engere Forschung zur politischen Philosophie der spanischen Spätscholastik – insbesondere der des Suárez – als auch zur umfassenderen Erforschung des neuzeitlichen Naturrechts neue Perspektiven eröffnet werden.
Aufbau und Beiträge des Bandes Die Herausgeber haben sich bemüht, das weit gespannte Feld der Naturrechtstheorie Francisco Suárez’ möglichst vollständig auszumessen. Dieses Ziel kann natürlich auch in einem erstmals nur dieser Rechtsform gewidmeten Band nicht wirklich erreicht werden. Ohne diesem Ziel abschließend gerecht werden zu können, werden im Folgenden dennoch die zentralen systematischen Schwerpunkte der suárezischen Theorie einer lex naturalis bearbeitet. Dazu zählen zunächst die in einem ersten Abschnitt (Naturrecht zwischen Metaphysik und Theologie) thematisierten Grundlegungstheoreme, die sich zwischen einer Theologie und einer Philosophie der natürlichen Gesetze bewegen. Gideon Stiening beschäftigt sich in diesem Rahmen mit dem Verhältnis von lex aeterna und lex naturalis und weist hierbei nach, dass Suárez einerseits der seit Cicero und Augustinus grundlegenden Theorie einer lex aeterna eine rein praktische Interpretation gibt, dabei aber in unauflösbare Antinomien gerät. Simon Eultgen befasst sich mit dem Begriff der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze und stößt im Rahmen dieser Analyse auf substanzielle Begründungsprobleme jener via media, die Suárez zwischen Intellektualismus und Voluntarismus zu gestalten beanspruchte. Gideon Stiening betrachtet in einem weiteren Beitrag die Stellung und Funktion der Gottesinstanz für Geltung und Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze in Suárez’ Traktat. Dabei weist Stiening eine konstitutive Rolle Gottes als Urheber und Gesetzgeber der lex naturalis nach. Norbert Brieskorn erweitert diese Perspektive um die Analyse von Gehalt und Funktion des genuin theologischen Begriffs der Charitas für Geltung und
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Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze. Brieskorn zeigt dabei mit Blick auf den suárezischen Traktat De Charitate, dass im Zentrum der Naturrechtstheologie des Suárez eine enge Vermittlung von Liebe, Gerechtigkeit und Recht steht. Die zweite Abteilung, die sich dem Verhältnis von Naturrecht und Ethik widmet, wird eröffnet durch einen Beitrag Stefan Schweighöfers, der sich der zentralen Stellung des Gewissens im Naturrechttraktat widmet. Schweighöfer sieht dabei im Gewissen den innerweltlichen Realisationsort der lex aeterna und liefert damit den Nachweis einer konstitutiven Rolle beider für die Naturrechtstheorie des Conimbricenser Theologen. Frank Grunert zeigt dagegen die Gründe für die Funktion des Gewissens innerhalb einer Theorie der lex naturalis auf, die er in theologischen Voraussetzungen verortet, Darüber hinaus dokumentiert Grunert die Notwendigkeit dieser Funktion der conscientia in der lex naturalis für die Bedeutung des Gewissens bei der Verbindlichkeit der leges humanae, an der Suárez festhalten will. Holger Glinka weist darüber hinaus nach, dass in der Trennung von Recht und Moral, die sich in Suárez’ Naturrechtstheorie deutlich abzeichne, Säkularisierungstendenzen realisieren, die auf eine Autonomisierung der Moral hindeuten. Die dritte und letzte Abteilung von Beiträgen beschäftigt sich mit der Veränderbarkeit oder Unveränderbarkeit des Naturrechts. Dabei weist Dominik Recknagel nach, dass es von den suárezischen Voraussetzungen ausgehend keine Veränderbarkeit der lex naturalis geben kann, während Kurt Seelmann, dieser Voraussetzung zustimmend, gleichwohl Modifikabilitäten in einigen zentralen Naturrechtsgeboten feststellt. Seelmann kann dabei die spezifische Stellung der suárezischen Naturrechtstheorie zwischen Mittelalter und Neuzeit präzise erläutern. Oliver Bach beschließt den Band mit Ausführungen zur Änderbarkeit der lex naturalis durch Dispens, wobei auch in diesem Zusammenhang klar ist, dass Suárez solcherart Dispens nicht ermöglichen darf, und es dennoch zu begründen versuchen muss. Ingesamt dokumentiert die Beiträge, dass das Naturrecht Francisco Suárez’ gerade in seiner substanziell theologischen Grundlegung den Anspruch auf Modernität zu Recht erhebt, damit aber auf jene Antinomien zusteuert, die schon Kant jedem materialen Naturrecht attestierte. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die mit großzügiger Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung und der Hochschule für Philosophie vom 4. bis 6. September 2014 in München stattfand. Beiden Institutionen gilt der besondere Dank der Herausgeber.
2 Naturrecht zwischen Metaphysik und Theologie
Gideon Stiening
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae Zum Verhältnis von lex aeterna, recta ratio und lex naturalis bei Francisco Suárez An der essentiellen Funktion einer lex aeterna für die objektive Geltung sowie die subjektive Verbindlichkeit einer überpositiven lex naturalis lässt Francisco Suárez schon in Buch I seiner rechtstheologischen Summe De legisbus ac Deo legislatore keinerlei Zweifel aufkommen: Es ist klar, dass die Befolgung des ewigen Gesetzes, insofern es nach außen wirkt und allem in Raum und Zeit hinein Vorschriften erteilt, der durch Handlung zu vollziehenden Verehrung Gottes in höchster Weise gleichkommt, weil Gott durch jenes Gesetz alles, was ist, auf seine Ehre und seinen Ruhm ausrichtet. Deshalb verbietet er jede Sünde, weil sie seinem Gesetz und seiner Positivität entgegengesetzt ist. Ebenso befiehlt das natürliche Gesetz, das die erste Teilhabe am ewigen Gesetz ist, die Verehrung Gottes.1
So wie allen anderen besonderen Gesetzesformen, dem ius gentium und den leges humanae (civiliae et canonicae), dient die lex aeterna auch dem natürlichen Gesetz als einzig wirksamer Geltungsgrund und Inhaltsmaßstab, weil und insofern das ewige Gesetz die allgemeine Gesetzlichkeit – d.h. die Normativität überhaupt – dieser Gesetze durch Teilhabe garantiert.2 Gegen die zeitgleichen Tendenzen einer Lösung des Naturrechts aus der im Mittelalter entwickelten leges-Hierarchie, d.h. gegen die Tendenzen seiner relativen Autonomisierung gegenüber einer rechtstheologischen Systematisierung und Funktionalisie-
1 DL I. 9. 8, Brieskorn 194; Hvhb. von mir / Pereña II, 10: »Sic enim constat legem aeternam, ut praeceptiva est ad extra pro suis temporibus, esse maxime congruentem divino cultui, quia Deus per illam legem omnia ad suum honorem et gloriam ordinat. Et ideo maxime prohibet omne peccatum, quia suae legi et bonitati contrarium est. Item lex naturalis, quae est prima illius participatio, praecipue praecipit cultum Dei.« 2 Siehe hierzu auch Norbert Brieskorn: Francisco Suárez und sein Gesetzesbegriff im Kontext. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 105–123.
Gideon Stiening rung,3 bindet Suárez die lex naturalis noch einmal in die seit und durch Thomas kanonisierte Gesetzesordnung ein und damit an eine übergeordnete lex aeterna an.4 Im Blick auf die mit Hugo Grotius 1625 anhebende, über Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf und John Locke ins 18. Jahrhundert sich fortsetzende Naturrechtstradition5 drängt sich die erklärungsbedürftige Eigenheit des suárezischen Rekurses auf das Theorem einer lex aeterna und dessen begründende Funktion für die Geltung von Recht überhaupt und insbesondere eines Naturrechts nachgerade auf.6 Denn diese Grundlegungsfunktion übernimmt bei Grotius, Pufendorf oder Locke das Naturrecht selber, bzw. ein – nicht vollends systematisierter, auch umstrittener – Komplex aus anthropologischen und theologischen Voraussetzungen,7 wie die Annahme eines appetitus societatis,8 einer
3 Siehe hierzu u. a. Horst Dreitzel: Naturrecht. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, 2. Hbd., S. 749–866. 4 Dass diese These zur Stellung einer lex aeterna in der frühneuzeitlichen Naturrechtstradition, die trotz der melanchthonischen Variante dieses Gesetzes einer lex dei (vgl. CR XXI, 685, siehe hierzu Gideon Stiening: »›Notitiae principiorum practicorum‹. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria.« In: Der Philosoph Melanchthon. Hg. von Günter Frank u. Felix Mundt. Berlin, New York 2012, S. 115–146) aus diesem Debattenhorizont verschwindet, nicht bedeutet, dass man auch in der Theologie des 20. Jahrhunderts noch auf Modelle zur Begründung eines ewigen Gesetzes stoßen kann, lässt sich nachlesen bei Eilert Herms: Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens. Tübingen 1992, S. 429f., der eine Trennung des Geltungsumfang von lex aeterna und lex naturalis erneut zu begründen versucht. 5 Siehe hierzu u a. den Überblick von Knud Haakonssen: Divine/Natural Law Theories in Ethics. In: The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy. Ed. by Daniel Garber a. Michael Ayers. Cambridge 1998, pp. 1317–1357; zu überprüfen scheinen mir allerdings Haakonssen Ausführungen zur problematischen Durchsetzung scholastischer Rechtsbegründung in der Frühen Neuzeit. Haakonssen meint nämlich, dieses Theoriemodell habe zuviel Angriffsfläche für skeptizistische Angriffe geboten (ebd., pp. 1324f.), was für Grotius oder Pufendorf aber nicht weniger gilt; es dürften vielmehr konfessionelle – und gegenüber dem Jesuiten Suárez verstärkt ordenspolitische – Vorurteile gewesen sein, die eine angemessene, d.h. auch öffentlich bekundete Rezeption seines Naturrechts verhinderten. 6 Siehe hierzu auch Gerald Hartung: Gesetz und Obligation. Die spätscholastische Gesetzestheologie und ihr Einfluß auf die Naturrechtsdebatte der Frühen Neuzeit. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 381–402. 7 Siehe hierzu umfassend Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt a. M. 1977, S. 181ff. sowie Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999, S. 27ff.
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
imbecillitas humanorum,9 des Vermögens äußerer Freiheit10 oder auch des göttlichen Willens.11 Auch wenn die anthropologischen Prämissen selber keineswegs durchgehend säkularer Provenienz sind,12 sondern erkennbar durch theonome Begriffe, Kategorien und Grundsätze gestaltet werden oder gar präformiert sind,13 scheint sich Suárez’ Rechtssystematik dieser wenigstens säkularisierenden, vor allem aber das Naturrecht autonomisierenden Tendenzen der Neuzeit zu verweigern. Sein Naturrecht ist und bleibt Moment der durch Thomas kanonisierten leges-Hierarchie mit Geltung für die gesamte Schöpfungsordnung. Dieser Schein führt selbst namhafte Interpreten des politischen Säkularisierungsprozesses dazu, den Conimbricenser Rechtstheologen dem Mittelalter und nicht der Neuzeit zuzuschlagen.14 Dass diese naturrechtshistorische Zuweisung, die zugleich eine systematische Wertung enthält, unzutreffend ist, Suárez’ Integration eines ›ewigen Gesetzes‹ in seine Rechtssystematik vielmehr genuin neuzeitlicher Natur ist,15 soll im Folgenden anhand einer Betrachtung der Geschichte und der Systematik der lex aeterna sowie ihrer Funktion für eine lex naturalis aufgezeigt werden. Von der historischen Sukzession abweichend wird zunächst die spezifische rechtstheologische Begründungsfigur des Augustinus 8 Vgl. hierzu Gideon Stiening: Appetitus societatis seu libertas. Zu einem Dogma politischer Anthropologie zwischen Suárez, Grotius und Hobbes In: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur. Hg. von Herbert Jaumann u. Gideon Stiening. Ein Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 389–436. 9 Vgl. hierzu Detlef Döring: Samuel von Pufendorf (1632–1694). In: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland. Hg. von Bernd Heidenreich u. Gerhard Göhler. Darmstadt, Mainz 2011, S. 92–116, spez. S. 104ff. 10 Vgl. hierzu im Hinblick auf die Grundlegung des Rechts auf das Theorem der äußern Freiheit durch Thomas Hobbes die Ausführungen von Georg Geismann: Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 229– 266. 11 Siehe hierzu u.a. Michael Andrick: Göttlicher Wille und menschliche Macht. Strategien zur Befriedung der Gesellschaft bei Locke und Spinoza. Freiburg 2009. 12 So aber, vor allem in Bezug auf Grotius und Pufendorf die Ausführungen von Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 154ff. 13 Siehe hierzu insbesondere Hartung: Die Naturrechtsdebatte (s. Anm. 7), S. 47ff. oder auch Johannes Müller: ›Das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlichen weisen Schöpfers‹. Zur religiösen Fundierung der Staatsphilosophie John Lockes. In: Jahrbuch Politisches Denken (2011), S. 207–234. 14 Vgl. Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2012, S. 221. 15 So auch Norbert Brieskorn: Francisco Suárez. In: Philosophie, Politik und Religion. Klassische Modelle von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Dirk Brantl, Rolf Geiger u. Stefan Herzberg. Berlin, Boston 2013, S. 105–115.
Gideon Stiening und erst anschließend die rechtsphilosophische Theorie Ciceros rekonstruiert, weil deren Vermittlung durch Thomas und Suárez vor allem nach theonomen Prinzipien erfolgt.
Augustinus – Lex vero aeterna est ratio divina vel voluntas Dei Die Grundlegung allen besonderen Rechts in einem ewigen Gesetz gehört zum begründungstheoretischen Kernbestand aller Rechtsphilosophie seit Cicero16 und jeder Rechtstheologie seit Augustinus.17 Dabei geht es entweder um das Auffinden und Bestimmen einer überzeitlichen Norm für alle zeitlichen Gesetze oder um die Ermöglichung einer Deduktion des positiven Rechts aus einem allgemeinen Begriff des Gesetzes überhaupt.18 Der Bischof von Hippo hatte den Begriff und die Idee einer lex aeterna schon in De libero arbitrio entwickelt und wie folgt zu bestimmen versucht: Aug. Aber wie verhält es sich mit dem höchsten Vernunftgesetz, wie man es nennt, dem man immer gehorchen muss, das den Bösen ein elendes, den Guten ein glückliches Leben zuspricht und welches veranlaßt, dass das andere, zeitlich genannte, sei es rechtmäßig erlassen, sei es rechtmäßig geändert wird? Kann wohl ein Einsichtiger es für anders als unveränderlich und ewig halten? Oder kann es jemals ungerecht heißen, dass die Bösen elend, die Guten glücklich sind, oder dass ein maßvolles und rechtliches Volk sich selbst die Obrigkeiten wählen mag, während ein zuchtloses und nichtsnutziges solchen Anspruch keineswegs erheben kann? Eu. Es ist klar, dass dies ein ewiges und unwandelbares Gesetz ist. Aug. Ich meine, es wird dir auch klar, sein, dass die Menschen alles, was an jenem zeitlichen Gesetze gerecht und anerkennenswert ist, von diesem ewigen hergeleitet haben.19
16 Siehe hierzu u. a. Sebastian Kaufmann: Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. 2 Bde. Hg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann. Berlin, New York 2008, Bd. 1, S. 229–292. 17 Zum Folgenden vgl. die zwar materialreiche, systematisch jedoch kaum überzeugende Arbeit von Alois Schubert: Augustins Lex-Aeterna-Lehre nach Inhalt und Quellen. Aschendorf 1924. 18 Siehe hierzu auch Georg Wieland: Art. »Gesetz, ewiges«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1974, S. 514–516. 19 Augustinus: De libero arbitrio; zitiert nach ders.: Theologische Frühschriften. Übers. u. erläutert von Wilhelm Thimme. Zürich u. Stuttgart 1962, S. 57: »Aug. - Quid? illa lex quae sum-
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
Erkennbar geht es Augustinus an dieser Stelle um die – mehr postulierte als nachgewiesene – Erkenntnisgewissheit, dass es überhaupt ein Gesetz gebe, das zeitlichen Veränderungen enthoben sei, um einen Maßstab für die Einrichtung ebenjener veränderbaren positiven Gesetze zu erhalten, die anders als nur klug oder gar willkürlich, nämlich gerecht sind.20 Für die Veranschaulichung dieses Nachweises wird die lex aeterna mit einer Reihe materialer Bestimmungen ausgestattet, die den Charakter eines allgemeinen Gesetzes empfindlich schmälern – warum etwa soll es einem ewigen Gesetz entsprechen, dass ein Volk sich seine Obrigkeit selber wählt?21 Über die Funktion, den Gehalt, vor allem aber über die Notwendigkeit einer theonomen Grundlegung allen Rechts in einer lex aeterna scheint sich Augustinus allererst in Contra Faustum Manichaeum Klarheit verschafft zu haben; hier heißt es nämlich in erheblicher Abweichung vom Frühwerk: »Das ewige Gesetz aber ist die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der gebietet, die natürliche Ordnung zu erhalten, und verbietet, sie zu zerstören«.22 Mit Recht hat ErnstWolfgang Böckenförde darauf hingewiesen, dass diese Definition die lex aeterna zu einer Eigenschaft Gottes macht, deren normativer Gehalt von dieser Instanz unterschieden wird: »Die lex aeterna ist damit nicht, wie in der Stoa, die Natur- und Kosmosordnung selbst, sie wird auf den persönlichen Gedanken und Willen Gottes, nach dem er die ganze Welt lenkt, zurückgeführt«.23 Augustinus unterscheidet mithin nicht nur zwischen Gottes Vernunft und seinem Willen, sondern auch zwischen einem ordo ordinans, der durch die genannten
ma ratio nominatur, cui semper obtemperandum est, et per quam mali miseram, boni beatam vitam merentur, per quam denique illa quam temporalem vocandam diximus, recte fertur, recteque mutatur, potestne cuipiam intellegenti non incommutabilis aeternaque videri? An potest aliquando iniustum esse ut mali miseri, boni autem beati sint; aut ut modestus et gravis populus ipse sibi magistratus creet, dissolutus vero et nequam ista licentia careat? Ev. - Video hanc aeternam esse atque incommutabilem legem. Aug. - Simul etiam te videre arbitror in illa temporali nihil esse iustum atque legitimum, quod non ex hac aeterna sibi homines derivaverint.« 20 Siehe hierzu auch Manfred Svenson: Theorie und Praxis bei Augustinus, Freiburg, München 2009, S. 73–76; John L. Treloar: Moral virtue and the demise of prudence in the thought of Francis Suárez. In: American catholic philosophical quarterly 65.3 (1991), pp. 387–405. 21 Wenig überzeugend hierzu die Rekonstruktion dieser Argumentation bei Klaus M. Giradet: Naturrecht und Naturgesetz: Eine gerade Linie von Cicero zu Augustinus? In: Rheinisches Museum für Philologie 138 (1995), S. 266–298, spez. S. 282f. 22 Augustinus: Contra faustum, 22,27: »Lex vero aeterna est ratio divina vel voluntas Dei, ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans.« 23 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 22006, S. 204.
Gideon Stiening Vermögen Gottes konstituiert wird, und einem ordo ordinatus, der die geordnete Schöpfung als lex naturalis ist.24 Die lex aeterna des Augustinus ist also nicht Gott, der logos oder die Schöpfung selber, sondern der Plan ihrer Ordnung samt einer Verwirklichungskraft, mithin die rational verfasste, gesetzmäßige Schaffenskraft der göttlichen Allmacht, die zugleich auf einen bestimmten Umgang mit deren Produkt, d.h. mit seiner Schöpfungsordnung abzielt.25 Dieser ordo (ordinans et ordinatus) ist aber nicht nur ein theoretischer, sondern auch ein praktischer, so dass die lex aeterna des ordo ordinans eine gleichsam übergeordnete, selbstreflexive Norm im Hinblick auf die geschöpfliche Welt im Ganzen ist. Mit der und als lex aeterna will Gott, dass die Welt nach Naturgesetzen geordnet ist sowie nach rechtlichen und moralischen Gesetzen handelt, und zwar mit dem Ziel der Erhaltung seiner Schöpfung und der Verhinderung ihrer Zerstörung.26 Erst die Bindung also der theoretischen Ordnung und praktischen Normativität der Schöpfung an eine lex aeterna ermöglicht das Postulat ihrer Erhaltung; dieses Gesetz liefert den Grund für den Auftrag an den Menschen zur Erhaltung der Schöpfung Gottes und zum Schutz ihrer vor Schaden. Ungelöst bleibt bei Augustinus allerdings das Verhältnis von Vernunft und Wille Gottes, was bekanntermaßen zu einer lang anhaltenden Kontroverse zwischen Voluntaristen und Intellektualisten im Mittelalter und Früher Neuzeit führt.27 Dass theoretische und praktische Ordnungssysteme unter die lex aeterna fallen, zeigt sich auch in deren Verhältnis zum Begriff der Vorsehung, den Augustinus in De civitate dei mit der durch die Schöpfung hergestellten Ordnung, d.h. mit den Produkten der lex aeterna, identifiziert: Der höchste und wahre Gott also mit seinem Worte und dem heiligen Geiste, welche drei eins sind; der eine allmächtige Gott, Schöpfer und Bildner jeglicher Seele und jeglichen Körpers, durch den man mittels Anteilnahme an ihm glücklich ist, die in Wahrheit und nicht dem Wahne nach glücklich sind; der den Menschen erschaffen hat als ein vernunftbegabtes Lebewesen mit Körper und Seele; der ihn nach der Sünde nicht ungestraft ließ, aber auch nicht ohne Erbarmen im Stiche ließ; der den Guten und den Bösen das Sein gemeinsam mit den Steinen, das vegetative Leben gemeinsam mit den Pflanzen, das Sinnesleben gemeinsam mit den Tieren, das Geistesleben aber außerdem nur noch den Engeln gab; von dem jede Norm, jede Form, jede Ordnung kommt; von dem Maß, Zahl, Gewicht
24 Vgl. hierzu auch Anton-Hermann Chroust: The Fundamental Ideas in St. Augustin’s Philosophy of Law. In: American Journal of Jurisprudence 18.1 (1973) pp. 57–79, spez. pp. 60ff. 25 So auch Wolfgang Kluxen: ›Lex naturalis‹ bei Thomas von Aquin. Wiesbaden 2001, S. 17– 19. 26 So auch Giradet: Naturrecht und Naturgesetz (s. Anm. 21), S. 266–298. 27 Siehe hierzu Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 41962.
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
kommt; von dem alles kommt, was sein naturgemäßes Sein hat, welcher Art es auch sei und wie immer es eingeschätzt werde; von dem die Samen der Formen, die Formen der Samen, die Veränderungen der Samen und der Formen ausgehen; der auch dem Fleische Dasein, Schönheit, Gesundheit, Fruchtbarkeit in der Fortpflanzung, zweckmäßige Verteilung der Glieder, Wohlergehen durch Ineinandergreifen verliehen hat; der ferner der vernunftlosen Seele Gedächtnis, Sinneswahrnehmung und Strebevermögen, der vernunftbegabten aber darüber hinaus Geist, Erkenntnis und Willen verliehen hat; der nicht nur Himmel und Erde, nicht nur den Engeln und den Menschen, sondern selbst die innere Einrichtung des kleinsten und verächtlichsten Tieres, selbst die winzigste Feder des Vogels, das Blümchen der Pflanze und das Blatt des Baumes nicht ohne Übereinstimmung seiner Teile und sozusagen ohne eine Art von Befriedung ließ: dieser Gott hat, so muß man annehmen, ganz gewiß die menschlichen Reiche, die Herrschafts- und Dienstbarkeitsverhältnisse nicht außerhalb der Gesetze seiner Vorsehung stellen wollen.28
Es ist die Schöpfungs- und Lenkungsleistung des einen Gottes, die nicht nur die universelle Ordnung der Schöpfung als einheitliche, sondern auch die gesetzlich geordnete Einheit von Natur und Freiheit, von Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt – auch in den sozialen Dimensionen der letzteren – garantiert und erfordert. Dabei entäußert sich die lex aeterna im Schöpfungsprozess in eine lex naturalis, die als Niederschlag des ewigen Gesetzes in der gesamten Schöpfung – als ordo ordinatus – ebenfalls theoretische und praktische Gesetzesformen übergreift. Die lex naturalis wirkt, wie schon die lex aeterna, im Felde der Naturordnung und der Ordnung der menschlichen Handlung.29 Natürliche Gesetze 28 Augustinus: Der Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. München 41977, S. 243f. / »Deus itaque summus et uerus cum verbo suo et spiritu sancto, quae tria unum sunt, deus unus omnipotens, creator et factor omnis animae atque omnis corporis, cuius sunt participatione felices, quicumque sunt veritate, non vanitate felices, qui fecit hominem rationale animal ex anima et corpore, qui eum peccantem nec inpunitum esse permisit nec sine misericordia dereliquit; qui bonis et malis essentiam etiam cum lapidibus, uitam seminalem etiam cum arboribus, vitam sensualem etiam cum pecoribus, vitam intellectualem cum solis angelis dedit; a quo est omnis modus omnis species omnis ordo; a quo est mensura numerus pondus; a quo est quidquid naturaliter est, cuiuscumque generis est, cuiuslibet aestimationis est; a quo sunt semina formarum formae seminum motus seminum atque formarum; qui dedit et carni originem pulchritudinem valetudinem, propagationis secunditatem membrorum dispositionem salutem concordiae; qui et animae irrationali dedit memoriam sensum adpetitum, rationali autem insuper mentem intellegentiam voluntatem; qui non solum caelum et terram, nec solum angelum et hominem, sed nec exigui et contemptibilis animantis viscera nec auis pinnulam, nec herbae flosculum nec arboris folium sine suarum partium convenientia et quadam veluti pace dereliquit: nullo modo est credendus regna hominum eorumque dominationes et servitutes a suae providentiae legibus alienas esse voluisse.« 29 Vgl. hierzu Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 23), S. 295 sowie Giradet: Naturrecht und Naturgesetz (s. Anm. 21), S. 283ff.
Gideon Stiening umfassen also sowohl die gesetzmäßige Ordnung der geschöpflichen Natur als auch die Handlungen des freien Menschen. Bleibt diese übergreifende Ordnung den Pflanzen und Tieren allerdings unbekannt, so ist der Mensch – trotz des Sündenfalls – in der Lage, sie zumindest teilweise zu erkennen, anzuerkennen und sich handelnd an ihr auszurichten. Dabei wird ihm zunächst dadurch geholfen, dass die Grundbestimmungen der praktischen Seite der lex naturalis, die Augustinus auch als lex rationis bezeichnet, von Gott in die Seele des Menschen eingeschrieben wurden.30 Zu diesen materialen Bestimmungen des Naturrechts gehören u. a. die Unterscheidung von Gut und Böse und die goldene Regel,31 aber auch die Herrschaft des Mannes über die Frau sowie die Überordnung des Ewigen über alles Zeitliche. Deren Geltung entsteht allererst aus der unmittelbaren Dependenz der lex naturalis von der lex aeterna. In ähnlicher Weise wirkt das ewige Gesetz hinsichtlich der Geltung und Verbindlichkeit der menschlichen Gesetze. Für deren Ausrichtung als leges temporalium an einem Maßstab überzeitlicher Gerechtigkeit hatte Augustinus die Idee einer lex aeterna von Cicero übernommen und theologisch modifiziert. Zwar hat sich jeder Richter an das geschriebene Gesetz zu halten; aber der Gesetzgeber muss sich bei der Formierung des staatlichen Gesetzbuches an der lex aeterna als Ideal ausrichten: So ist es auch mit den zeitlichen Gesetzen. Denn obwohl die Menschen, wie sie sie aufstellen, über sie urteilen, darf der Richter doch, wenn sie einmal aufgestellt und gültig geworden sind, nicht mehr über sie, sondern nur nach ihnen urteilen. Jedoch befragt der Verfasser zeitlicher Gesetze, wenn er ein guter und weiser Mann ist, jenes ewige Gesetz, über das keine Menschenseele urteilen darf, um sodann nach dessen unwandelbaren Regeln zu bestimmen, was für die zeitlichen Verhältnisse zu gebieten und zu verbieten ist. Das ewige Gesetz zu erkennen, steht demnach den reinen Gemütern zu, nicht, es zu beurteilen.32
30 Augustinus: De diversis quaestionibus, 53,2. »[Q]uasi transcripta est naturalis lex in animam rationalem.« 31 Siehe hierzu auch Gerhard Krieger u. Rolf Wingendorf: Christsein und Gesetz: Augustinus als Theoretiker des Naturrechts (Buch XIX). In: Augustinus. De Civitate Dei. Hg. von Christoph Horn. Berlin 1997, S. 235–258. 32 Augustinus: De vera religione / Über die wahre Religion. In: Ders.: Theologische Frühschriften (s. Anm. 19), S. 462/463: » Sicut in istis temporalibus legibus, quamquam de his homines iudicent cum eas instituunt, tamen cum fuerint institutae atque firmatae, non licebit iudici de ipsis iudicare, sed secundum ipsas. Conditor tamen legum temporalium, si vir bonus est et sapiens, illam ipsam consulit aeternam, de qua nulli animae iudicare datum est; ut secundum eius incommutabiles regulas, quid sit pro tempore iubendum vetandumque discernat. Aeternam igitur legem mundis animis fas est cognoscere, iudicare non fas est.«
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
Bei allen Grenzen der Erkenntnis, die der Sündenfall dem Menschen auferlegt hat,33 ist er dennoch in der Lage, die lex aeterna als Maßstab für die Konstitution menschlicher Gesetze zu reflektieren und anzuwenden, um der Gerechtigkeit auch auf dem Feld der positiven Rechtsordnung zur Geltung zu verhelfen. Nur weil sich der vernünftige und weise Mensch an der lex aeterna ausrichtet, ist es ihm möglich, eine positive Gesetzesordnung zu schaffen, die tatsächlich gerecht ist. Die als Naturgesetz geltende – deskriptive wie normative – Überordnung des Ewigen über das Zeitliche führt allerdings bei Augustinus dazu, dass die lex aeterna für den Menschen nicht allein als Maßstab für die Konstitution gerechter weltlicher Gesetze dient, sondern auch als gottgefälliges, folglich notwendig aufgegebenes telos allen menschlichen Handelns. Die lex aeterna ist folglich nicht allein der formale Rahmen weltlicher Gesetzgebung, sondern als materiales Ziel menschlichen Handelns zugleich deren Negation. In De libero arbitrio heißt es hierzu: Aug. Wenn es also offenkundig zweierlei Menschen gibt, nämlich Liebhaber teils des Ewigen, teils des Zeitlichen, und ebenfalls zugestandenermaßen zwei Gesetze, ein ewiges und ein zeitliches, welches dieser Gesetze soll man dann billigerweise die einen und welchem die anderen unterstellen? Eu. Die Antwort ist leicht. Die Glückseligen stehen wegen ihrer Liebe zum Ewigen unter dem ewigen Gesetz, den Elenden aber wird das zeitliche auferlegt. Aug. Du urteilst recht. Nur musst du unentwegt daran festhalten, dass, wie bereits klar erwiesen, auch die im Dienst des zeitlichen Gesetzes Stehenden vom ewigen nicht befreit sein können. Denn alles, was gerecht ist und gerechterweise sich ändern muss, ist von ihm abhängig, dagegen bedürfen die, welche guten Willens am ewigen hängen, des zeitlichen Gesetzes nicht. […] Das ewige Gesetz befiehlt uns also, die Liebe vom Zeitlichen abzuwenden und gereinigt dem Ewigen zuzuwenden.34
33 Darauf weist insbesondere Giradet: Naturrecht und Naturgesetz (s. Anm. 21), S. 281f. hin. 34 Augustinus: De libero arbitrio / Über den freien Willen (s. Anm.19), S. 92/93f.: »Aug. - Cum igitur manifestum sit alios esse homines amatores rerum aeternarum, alios temporalium, cumque duas leges esse convenerit, unam aeternam, aliam temporalem; si quid aequitatis sapis, quos istorum iudicas aeternae legi, quos temporali esse subdendos? Ev. Puto in promptu esse quod quaeris: nam beatos illos ob amorem ipsorum aeternorum sub aeterna lege agere existimo; miseris vero temporalis imponitur. Aug. Recte iudicas, dummodo illud inconcussum teneas, quod apertissime iam ratio demonstravit, eos qui temporali legi serviunt, non esse posse ab aeterna liberos; unde omnia quae iusta sunt, iusteque variantur, exprimi diximus: eos vero qui legi aeternae per bonam voluntatem haerent, temporalis legis non indigere, satis, ut apparet, intellegis. […] Iubet igitur aeterna lex avertere amorem a temporalibus, et eum mundatum convertere ad aeterna.«
Gideon Stiening Damit ist der ebenso abkünftige wie grundsätzlich defizitäre Status der zeitlichen Gesetze deutlich benannt; für Augustinus ist die lex aeterna nicht allein Ausgang und Ursprung menschlicher Gesetze als gerechter, sie ist auch der Zielpunkt menschlichen Handelns in der Überwindung alles Zeitlichen und der für diesen Bereich der Schöpfung erforderlichen Ordnungsinstrumente, der leges temporalium. Der am ewigen Gesetz in seinem Denken, Wollen und Handeln ausgerichtete Mensch bedarf der menschlichen Gesetze nicht mehr, weil er das als Ausfluss der Erbsünde interpretierte Bedürfnis nach irdischen Gütern, für die allein die zeitlichen Gesetze erlassen werden, überwunden hat. Damit aber ist die lex aeterna nicht nur Mittel zur Garantie der Gerechtigkeit positiver Gesetze, sondern auch ein zentrales Instrument zur Ausrichtung des menschlichen Lebens am Übersinnlichen, d.h. an der Gottesinstanz als Grund und Zweck menschlicher Existenz. Sie ist nicht nur Maßstab zur Ordnung der Schöpfung gemäß der Vernunft und dem Willen Gottes, sie ist auch und vor allem unmittelbarer Zweck des menschlichen Handelns in der Überwindung eben dieser Endlichkeit. In dieser Funktion ist die lex aeterna in der Lage und mit der Tendenz ausgestattet, den Staat und seine Gesetze überflüssig zu machen. Mit dieser theologischen Depotenzierung des weltlichen Staates wird Augustinus – vermittelt über Luther – bis in 20. und 21. Jahrhundert einen prekären Einfluss ausüben.35
Cicero – Est quidem vera lex recta ratio Der augustinische Gott will, dass die Welt nach denjenigen Gesetzen geordnet sei und bleibe, die er als zugleich vernünftige und natürliche Normen bezeichnet. In der Ungeschiedenheit von theoretischen und praktischen Dimensionen des Gesetzesbegriffs bleibt er – bei allen erkennbaren Unterschieden, die in einer spezifischen ›Theologie des Gesetzes‹ bei Augustinus ihren Grund haben36 – der ciceronianischen Tradition und deren Vorstellung einer lex summa verbunden. Dabei kann Ciceros Variante der lex-aeterna-Lehre als tendenziell sä 35 Vgl. hierzu u.a. Gideon Stiening: Politische Theologie als Lösung und Problem. Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore als Krisenphänomen und Befriedungsangebot. In: Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Friedrich Vollhardt. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. 85–113. 36 Siehe hierzu ausführlich und weitgehend überzeugend Giradet: Naturrecht und Naturgesetz (s. Anm. 21), passim.
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
kulare Form betrachtet werden, innerhalb derer – insbesondere aufgrund der fehlenden Sündenfallkonzeption – eine vollständige Erkenntnis der lex summa durch das Vermögen der recta ratio möglich ist.37 Erst Ciceros GesetzesRationalismus ermöglichte die intellektualistische Wendung des augustinischtheonomen Gesetzeskonzepts, die Thomas auch auf der Ebene höchster Allgemeinheit in der lex aeterna vollzog. Cicero hatte nämlich festgehalten: Es ist aber das wahre Gesetz die richtige Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht, sich in alle ergießt, in sich konsequent, ewig ist, […]. Dieses Gesetz ist nicht anders in Rom, nicht anders in Athen, nicht anders jetzt, nicht anders später, sondern alle Völker wird zu aller Zeit das eine Gesetz, ewig und unveränderlich binden, […].38
Ciceros lex vera ist zwar weder geschaffen noch endlich wie bei Augustinus, Thomas oder noch Suárez, sondern existiert gleichursprünglich mit dem ewigen Sein der Dinge,39 sie liegt in ihrer kultur-historischen Indifferenz jedoch sowohl den Gesetzen der Natur als auch den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft zugrunde.40 Anders als bei Augustinus ist der Grund und die Garantie der systematischen Einheit von theoretischen Natur- und praktischen Gemeinschaftsgesetzen in einer sie übergreifenden lex summa nicht deren Ursprung in einer extramundanen Gottesinstanz, sondern in einer teleologisch verfassten Natur, die den nach den Regeln der Vernunft und den Gesetzen der Natur lebenden Menschen als deren Zweck in sich einschließt und aus sich hervorbringt.41 Im wesentlichen Unterschied zu Augustinus ist diese lex summa nach Cicero für den Menschen vollständig erkennbar, und zwar durch das Vermögen der recta ratio, die keine Erfindungen, Phantasien oder nur subjektive Vorstellun 37 Siehe hierzu auch Kaufmann: Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre (s. Anm. 16), S. 267f. 38 Marcus Tulius Cicero: De re publica III. 22. 33 / »Est quidem vera lex recta ratio, naturae congruens, diffusa in omnis, constans, sempiterna, […] Lex illa nec erit alia lex Romae alia Athenis, alia nunc alia posthac, sed et omnes gentes et omni tempore una lex et sempiterna et inmutabilis continebit.« (zitiert nach Marcus Tullius Cicero: De re publica / Vom Gemeinwesen. Lateinisch/Deutsch, übers. u. hg. von Karl Büchner. Stuttgart 2004, S. 280/281). 39 Vgl. hierzu Jürgen Spute: Rechts- und Staatsphilosophie bei Cicero. In: Phronesis 28 (1983), S. 150–176. 40 Vgl. hierzu auch Jürgen Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung – Von Ciceros Staatstheorie zum modernen Naturrechtsdenken. In: Lateinische Literatur, heute wirkend. Hg. von Hans-Joachim Glücklich. Göttingen 1987, S. 30–59, spez. S. 31–36. 41 Vgl. hierzu Julius Ebbinghaus: Die Idee des Rechts. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Georg Geismann u. Hariolf Oberer. Bonn 1988ff., Bd. II, S. 141–198, spez. S. 142–146; Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 23), S. 160ff. sowie Kaufmann: Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre (s. Anm. 16), S. 262ff.
Gideon Stiening gen, sondern überindividuelle Wahrheiten zu ihrem Gegenstand hat. Aus dieser recta ratio, die als »Geist und Vernunft des Klugen« definiert wird42 und damit als Teilhabe an der ratio deorum,43 lässt sich die lex summa als Grund der Geltung und Verbindlichkeit der Naturgesetze und des positiven Rechts gewinnen: Den größten Gelehrten gefiel es [für die Bestimmung der Grundlagen des Recht], vom Gesetz auszugehen, vielleicht zu Recht, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das Gesetz, weil sie es definieren, die höchste Vernunft ist, die in der menschlichen Natur liegt und alles befiehlt, was getan werden muss, und das Gegenteil verbietet. Dieselbe Vernunft ist das Gesetz, wenn sie im Geist des Menschen ihren festen Platz hat. […] Für die Grundlegung des Rechts wollen wir jedoch jenes höchste Gesetz zum Ausgangspunkt erklären, das vor ewiger Zeit entstand, noch bevor irgendein Gesetz aufgeschrieben oder überhaupt ein Staat gegründet wurde.44
Die recta ratio ist mithin zugleich die objektiv-kosmologische lex summa selbst und das subjektiv-menschliche Vermögen, das dieses Gesetz erkennt; sie ist ratio essendi und ratio cognoscendi der allgemeinen Gesetzlichkeit des natürlichen und des gesellschaftlichen Seins. Diesen Status – sowohl objektive Ordnung der Natur und des Rechts als auch subjektives Vermögen im Geist des Menschen zu sein – erhält die recta ratio aufgrund ihrer unmittelbaren Identität mit der göttlichen Vernunft: Da es nichts Besseres als die Vernunft gibt und diese im Menschen wie auch in Gott ist, ist die erste Gemeinsamkeit des Menschen mit Gott die gemeinsame Vernunft. Denen aber, die eine gemeinsame Vernunft haben, ist auch die richtige Vernunft gemeinsam: Da diese das Gesetz ist, muß man davon ausgehen, dass wir Menschen auch durch das Gesetz mit den Göttern verbunden sind.45
42 Vgl. hierzu u. a. Karl Bärthlein: Zur Lehre von der ›recta ratio‹ in der Geschichte der Ethik von der Stoa bis Christian Wolff. In: Kant-Studien 56 (1966), S. 125–155. 43 So zu Recht Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 23), S. 162f. 44 Marcus Tullius Cicero: De legibus. Paradoxa Stoicorum / Über die Gesetze. Stoische Paradoxien. Lateinisch und deutsch. Hg. übers. u. erläutert von Rainer Nickel. München u. Zürich 2004, S. 22/23f. (I, 6, 18): »Igitur doctissimis viris proficisci placuit a lege, haud scio an recte, si modo, ut idem definiunt, lex est ratio summa, insita in natura, quae iubet ea quae facienda sunt, prohibetque contraria. […] Constituendi vero iuris ab illa summa lege capiamus exordium, quae, saeculis omnibus, ante nata est quam scripta lex ulla aut quam omnino civitas constituta.« 45 Ebd., S. 28/29 (I, 7, 23; Hvhb. von mir): »Est igitur, quoniam nihil est ratione melius, eaque et in homine et in deo, prima homini cum deo rationis societas. Inter quos autem ratio, inter
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Subjektive und objektive Seite der Vernünftigkeit der recta ratio garantieren mithin nicht allein die Wirklichkeit einer lex summa und deren Erkennbarkeit durch den Menschen; sie ermöglicht zudem eine kulturhistorische Indifferenz und d.h. Ewigkeit (weil Göttlichkeit) dieser allgemeinen Normativität. Dabei kommt die recta ratio dem Menschen nicht aufgrund seiner allgemeinen Rationalitätsfähigkeit zu, sondern ausschließlich aufgrund einer besonderen, nämlich ausgebildeten Form als Weisheit: Dies war also, wie ich sehe, die Auffassung der weisesten Männer, dass das Gesetz weder vom menschlichen Geist erdacht wurde noch auf einem Beschluss der Völker beruhte, sondern etwas Ewiges ist, um die gesamte Welt mit der Weisheit des Befehlens und Verbietens zu regieren.46
Nur für den Weisen gibt es eine recta ratio als prudentia, die die lex summa zu erkennen vermag und in ihren Konkretionen als lex naturalis auf das positive Recht der Gesellschaft anwenden kann; nur er kann aus der allgemeinen Natur des Menschen die Bestimmungen jener Rationalität ableiten, die der Vernunft der Götter entspricht. Weil Cicero eine Form überpositiven Rechts entwickeln will, das unmittelbaren Einfluss auf die positiven Rechtsordnungen der Welt ausüben und so deren Gerechtigkeit garantieren soll, muss er eine Gesetzes-Rationalität entwerfen, die nicht allein Natur und Gesellschaft, sondern auch Menschen und Götter übergreift. Die Probleme, die sich diese anthropologische und geistmetaphysische Grundlegung des Naturrechts und der positiven Gesetze einhandelt, nicht allein indem sie die Gesetze der Natur und jene des menschlichen Staates nicht kategorial trennt oder indem sie das Quis iudicabit der materialen Gerechtigkeit des Rechts einer theologischen Expertokratie überlässt, liegen auf der Hand und werden die weitere Naturrechtstradition begleiten. Augustinus wird diese Problemlagen mit der Transzendierung der Natur in eine Gottesinstanz und der Depotenzierung der menschlichen Natur als Geltungsgrund des natürlichen und positiven Rechts beantworten. Aber erst Thomas wird der lex aeterna eine Kon-
eosdem etiam recta ratio [et] communis est: quae cum sit lex, lege quoque consociati homines cum disputandi sumus.« 46 Ebd., S. 78/79 (II, 4, 8): »Hanc igitur video sapientissimorum fuisse sententiam, legem neque hominum ingeniis excogitatam, nec scitum aliquod esse populorum, sed aeternum quiddam, quod universum mundum regeret imperandi prohibendique sapientia.«
Gideon Stiening tur verleihen und einen Status zuschreiben, der ihre Grundlegungsfunktion für Naturgesetze und natürliche Gesetze überzeugend begründet.47
Thomas von Aquin – Lex aeterna est ratio divinae sapientiae Den Status einer für die gesamte Schöpfung zuständigen normativen Ordnung nimmt die lex aeterna auch bei Thomas von Aquin ein, der nicht nur – wie Augustinus – dieses Gesetz eng an die Gottesinstanz bindet, ohne es mit ihr zu identifizieren, sondern auch – wie Cicero – dessen theoretische und praktische Valenz explizit ausführt: »Das ewige Gesetz ist nichts anderes als der Ordnungsplan der göttlichen Weisheit, insofern sie alle Handlungen und Bewegungen lenkt«.48 Im Unterschied zum menschlichen Gesetz, das ausschließlich vernünftigen Lebewesen auferlegt werden könne, gebiete Gott durch seine lex aeterna der gesamten Schöpfung.49 Thomas gelingt dabei in der Vermittlung von augustinischer und ciceronianischer Theorie zur lex aeterna/summa zugleich eine Vermittlung von Theologie und Philosophie des abstrakten Rechts als Theorie eines allgemeinen Gesetzes unter dem erkennbaren Primat des Intellektualismus,50 weil der für jede Normativität erforderliche Wille Gottes seiner Vernunft und damit dem ewigen Gesetz unterliegt.51 Dieser lex aeterna, die wie bei Augustinus mit der Schöpfungsordnung identisch ist, kommt eine konstitutive Funktion für Gehalt und Geltung der lex naturalis zu: Somit nehmen offensichtlich alle Dinge in irgendeiner Weise am ewigen Gesetz teil, insofern sie nämlich aus seiner Einprägung die Neigung zu den ihnen eigenen Handlungen
47 Zur Unterscheidung zwischen Naturgesetz und natürlichen Gesetzen, die sich im 17. Jahrhundert durchzusetzen beginnt, vgl. Michael Stolleis: Naturgesetz und Naturrecht – zwei Abkömmlinge der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. In: Naturrecht in Antike und früher Neuzeit. Symposion aus Anlass des 75. Geburtstags von Klaus Luig. Hg. von Matthias Armgard u. Tilman Repgen. Tübingen 2014, S. 137–150. 48 STh I–II, qu. 93, art. 1, Hvhb. von mir / DThA 13, 48: »[L]ex aeterna nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae, secundum quod est directive omnium actuum et motionum.« 49 STh I–II, qu. 93, art. 5 / DThA 13, 60f. 50 Vgl. hierzu auch Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 23), S. 232f. 51 STh I–II, qu. 93, Art 4: DThA 13, 56: »Omne enim quod rationabile est, rationi subditur. Sed voluntas divina est rationabilis: cum sit justa. Ergo rationi subditur. Sed lex aeterna est ratio divina. Ergo voluntas Dei subditur legi aeternae.«
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und Zielen besitzen. […] Deswegen findet sich auch in ihm [d.i. dem vernunftbegabten Wesen] eine Teilnahme an der ewigen Vernunft, durch die es eine natürliche Hinneigung zu dem ihm wesensmäßigen Handeln und Ziele besitzt. Und diese Teilnahme am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf wird natürliches Gesetz genannt.52
Die lex aeterna als teleologisch verfasste nomothetische Rationalität53 garantiert mithin die Ausrichtung der natürlichen Lebewesen auf das ihnen durch die Schöpfung eingegebene Handlungsziel (Selbsterhaltung), wie sie die Ausrichtung des vernünftigen Lebewesen auf das ihm wesenhaft zukommende Ziel, die Liebe Gottes und das Heil seiner Seele, ermöglicht. Die Verbindung von teleologisch gedachter Natur und der freien Zwecksetzungsmöglichkeit des vernünftigen Menschen ist ebenso stoisch, wie die Bindung an die Gottesinstanz als Grund und Zweck dieser Ordnung augustinisch bleibt. Im Zusammenhang dieser übergreifenden Zuständigkeit der lex aeterna für Naturgesetze und natürliche Gesetze unter dem Primat eines GesetzesIntellektualismus wirkt ein werkgeschichtlicher Kontext eigentümlich aufschlussreich: In der Summa contra gentiles hatte Thomas nämlich – worauf Thomas Nister aufmerksam machte54 – den Begriff des Gesetzes überhaupt ausschließlich für eine praktische Vernunft, d.h. hier die freie Zwecksetzung der Handlungen vernünftiger Wesen reserviert: Dasjenige aber, wodurch die Tätigkeiten irgendwelcher Wesen gelenkt werden, heißt Gesetz. Es war also angemessen, dass den Menschen von Gott ein Gesetz gegeben wurde. Da darüber hinaus ein Gesetz nichts anders ist als eine gewisse Begründung und Richtschnur des Tätigseins, kommt es allein denjenigen zu, ein Gesetz zu erhalten, die den Grund ihrer Tätigkeit erkennen. Dies aber kommt allein dem vernünftigen Geschöpf zu. Folglich war es allein dem vernünftigen Geschöpf angemessen, ein Gesetz zu erhalten. Ein Gesetz muss zudem denjenigen gegeben werden, bei denen es (die Entscheidung) Tätigsein oder NichtTätigsein gibt. Also ist allein das vernünftige Geschöpf empfänglich für ein Gesetz.55
52 STh I–II, qu. 91, Art 2, resp.: DThA 13, 20: »[M]anifestum est quod omnia participant aliqualiter legem aeternam, inquantum scilicet ex impressione ejus habent inclinationes in proprios actos et fines. […] Unde et in ipsa participatur ratio aeterna, per quam habet naturalem inclinationem ad debitum actum et finem. Et talis participatio legis aeternae in rationali creatura lex naturalis dicitur.« 53 Siehe hierzu Eva Maria Maier: Teleologie und politische Vernunft. Entwicklungslinien republikanischer Politik bei Aristoteles und Thomas von Aquin. Baden-Baden 2002, S. 224–274. 54 Siehe hierzu den exzellenten Beitrag von Thomas Nisters: Mensch und Natur als Subjekte der ›lex aeterna‹. In: Mensch und Natur im Mittelalter. 2 Bde. Hg. von Albert Zimmermann u. Andreas Speer. Berlin, New York 1992, Bd. 2, S. 622–644. 55 Thomas von Aquin: Summa contra gentiles. Hg. u. übers. von Karl Allgaier. 5 Bde. Darmstadt 2001, Bd. III.2, S. 166/167: »Id autem quo aliquorum actus gubernantur, dicitur lex. Con-
Gideon Stiening Vernunft und Willensfreiheit sind also für jeglichen Adressaten eines Gesetzes unumgänglich, so dass der Terminus ›Gesetz‹ ausschließlich auf den Begriff der Vorschrift für menschliche Handlungen anzuwenden ist. Dass diese Definition uneingeschränkt gilt, zeigen auch Thomas’ anschließende Ausführungen zu einem göttlichen Gesetz. Diese lex divina, deren zentraler Gehalt in der Anordnung einer Ausrichtung des menschlichen Handelns auf Gott besteht, hat ausschließlich den Menschen als vernünftiges, willensfreies und auf Gemeinschaft angewiesenes Wesen zu seinem Adressaten: »Darin stimmen alle Gesetzesformen überein: Das Ziel jedes und besonders des göttlichen Gesetzes ist es, die Menschen gut zu machen.«56 Jedes – auch das göttliche – Gesetz ist eine Vorschrift für die Ausrichtung des freien Menschen auf das Gute. Von Gesetzen der und für die unvernünftige Natur ist in diesem Zusammenhang keine Rede.57 Diese strenge Ausrichtung des Gesetzes auf die Normierung und Ausrichtung menschlichen, d. h. vernünftigen und freien Handelns auf sein entscheidendes telos hin, die Liebe der Gottesinstanz, ist mit dem Geltungsumfang der lex aeterna in der Summa theologica nicht zu vereinbaren, dort heißt es nämlich: Daher sagt man, dass Gott auf diese Weise (d.i. durch das Gesetz] der gesamten Natur gebietet, gemäß dem Wort des Psalmes: ›Es gab ein Gebot, das nicht vergeht‹ (Ps 148,6). Und in diesem Sinne fallen auch alle Bewegungsgesetze und Tätigkeiten der gesamten Natur unter das ewige Gesetz.58
Unabhängig von der Frage der spezifischen Gründe, die Thomas dazu bewogen haben mögen, den Geltungsumfang des Gesetzesbegriffs auf den Bereich der Natur auszuweiten59 – und damit die aristotelischen Trennung zwischen theore-
veniens igitur fuit hominibus a Deo legem dari. Item. Cum lex nihil aliud sit quam quaedam ratio et regula operandi, illis solum convenit dari legem qui sui operis rationem cognoscunt. Hoc autem convenit solum rationali creaturae. Soli igitur rationali creaturae fuit conveniens dari legem. Praeterea. Illis danda est lex in quibus est agere et non agere. Hoc autem convenit soli rationali creaturae. Sola igitur rationalis creatura est susceptiva legis.« 56 Ebd., S. 170/171: »Item. Finis cuiuslibet legis, et praecipue divinae, est homines facere bonos.« Hvhb. von mir. 57 Zum Verhältnis von Summa contra gentiles und Summa theologica im Hinblick auf das Verständnis des Gesetzes vgl. auch Giuseppe Abbà: Lex et virtus. Studi sull’ evoluzione della dottrina morale di san Tommaso d’Aquino. Rom 2010. 58 STh I–II, qu. 93, Art 5: DThA 13, 60/61: »Et ideo per hunc modum dicitur Deus praecipere tota naturae: secundum illud Psalmi: ›Praeceptum posuit, et non praeteribit.‹ Et per hanc etiam rationem omnes motius et actions totius naturae legi aeternae subditur.« 59 Siehe hierzu ausführlich Nisters: Mensch und Natur (s. Anm. 54), S. 642ff.
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tischer und praktischer Vernunft tendenziell zu nivellieren60 – wird durch diese thomasische Werkgeschichte einer lex summa erkennbar, dass der Natur und Freiheit übergreifende Begriff einer lex aeterna keineswegs naiv gesetzt, sondern vielmehr reflektiert eingesetzt wurde.61 Die nomothetische Leistung Gottes kann und soll nicht an den Grenzen der menschlichen Handlung enden, vielmehr soll Gott auch als Gesetzgeber seine omnipotentia ausüben, die mithin auf seine gesamte Schöpfung zielt. Es ging Thomas folglich vor allem um die Einheit62 der vernünftig, d.h. zweckmäßig geordneten Schöpfung als einer solchen, die menschliches Handeln als vernünftiges und willensfreies denkbar machen sollte, ohne dieses von der Ordnung der Natur abstrakt zu unterscheiden. Vor allem aber sollten beide Ordnungen auf den Grund und Zweck ihrer Existenz ausgerichtet werden: auf Gott. Thomas’ Gesetzesbegriff erhält folglich in der Summa theologica gegenüber der Summa contra gentiles eine verschärfte theologische Fundierung. Wie bei Augustinus wird die lex aeterna von der Gottesinstanz ebenso unterschieden wie eng an sie gebunden; beide sind nicht identisch und doch ist der Schöpfungsplan als »dem Sohne zugeordnet« wesentliches Moment der Gottesinstanz.63 Gleiches gilt für die Schöpfung, der die lex aeterna eine Ordnung gibt, ohne mit ihr vollständig identisch zu sein. Auch sie gilt aber für Gesetze der Natur (Bewegungen) und der Freiheit (Handlungen). Das ewige Gesetz als Plan der Schöpfungsordnung Gottes ist mithin nicht nur die Garantie- bzw. Realisationsinstanz einer vernünftigen Ordnung allen
60 Ähnlich Maier: Teleologie und politische Vernunft (s. Anm. 53), S. 281. 61 Das heißt aber nicht, wie Ludger Honnefelder (Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Duns Scotus. In: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Hg. von Jürgen Miethke u. Klaus Schreiner. Siegmaringen 1994, S. 197–213, spez. S. 203f.) mit Bezug auf Kluxen behauptet, dass es – wenigstens im Zusammenhang der lex aeterna – bei Thomas tatsächlich eine genuin praktische Vernunft mit eigenständigen obersten Prinzipien gibt oder auch nur geben könnte. Die notwendige Einheit der Schöpfungsleistung Gottes muss auch die Vernunft als einheitliche begreifen, für die spekulative und praktische Formen nur Modifikationen der einen Substanz sein können. Erst eine Lösung von theonomen Vorgaben in der Ordnung der Dinge und der Handlungen ermöglicht eine – relative – Eigenständigkeit theoretischer und praktischer Vernunft. 62 So auch Georg Wieland: Gesetz und Geschichte. In: Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen. Hg. von Andreas Speer. Berlin, New York 2005, S. 223–245, hier S. 228. 63 Vgl. hierzu u. a. Wolfgang Kluxen: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin. Hamburg 3 1998, S. 233ff.
Gideon Stiening Seins, es ermöglicht zudem die Einheit von Natur- und Freiheitsgesetzen; dieses Gesetz ist – wie bei Augustinus – eine gleichsam metaethische Objektivation.64 Gleichwohl soll die lex aeterna keine abstrakt theologische oder metaphysische Instanz sein, sondern konkreter Grund für die Einheit aller theoretischen und praktischen Gesetzlichkeit und deren Fundierung in der Gottesinstanz. Dass diese allgemeine Funktion der lex aeterna gleichwohl zu erheblichen Schwierigkeiten mit ihrem Status als konkretem Gesetz führt,65 das die Summa theologica zuvor auf politische Gemeinschaften66 und deren telos, das Gemeinwohl, ausgerichtet hatte,67 liegt auf der Hand: Und somit ist jedes Gesetz auf das Gemeinwohl ausgerichtet […]. Das Gesetz ist nicht anderes als eine Anordnung der Vernunft im Hinblick auf das Gemeinwohl, erlassen und öffentlich bekanntgegeben von dem, der die Sorge für die Gemeinschaft innehat.68
Diese Gesetzesdefinition kann aber Naturgesetze nicht einschließen, weil diese nicht – auch nicht mittelbar69 – auf das Gemeinwohl der menschlichen oder himmlischen Gemeinschaft zielen. Dass Thomas diese Annahme dennoch vertreten kann, beruht auf einer zwischen Begriff und Metapher changierenden
64 In diesem Sinne auch Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 23), S. 234f. 65 Siehe hierzu auch Wolfgang Achtner: Vom Erkennen zum Handeln. Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehen den Mittelalter. Göttingen 2008, spez. S. 149–152. 66 So auch Maier: Teleologie und politische Vernunft (s. Anm. 53), S. 282f.; Wilhelm Metz: Lex und Ius bei Thomas von Aqiun. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 17–36, spez. S. 19f. 67 Siehe hierzu Wieland: Gesetz und Geschichte (s. Anm. 52), S. 223–245. 68 STh I–II, q. 90, art. 2, resp., DThA 13, 9: »Et ideo omnis lex ad bonum commune ordinatur« und STh I–II, q. 90, art. 4, resp., DThA 13, 15: »[Lex] nihil est aliud quam quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgate.« 69 Zwar hatte Thomas den allgemeinen Begriff des Gesetze dadurch definiert, dass es »eine Art Regel und Richtmaß der Handlungen [ist], dem zufolge jemand zum Handeln angeleitet und vom handeln abgehalten wird.« (STh I–II, q. 90, art. 1, DThA 13, 5: » [L]ex quadam regulae est et mensura actuum.«); erst mittelbar also, weil das telos dieses Handeln das Einzelgut ist, konnte Thomas zu dem Ergebnis gelangen, dass jedes Gesetz auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist, insofern jedes partikulare Interesse nur durch Vermittlung mit dem Gemeinwohl zu verwirklichen ist (vgl. hierzu Franz Reimer: Lex und ihre Äquivalente im Gesetzestraktat der Summa theologica Thomas von Aquins. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 37–50, spez. S. 43f. sowie Kluxen: Lex naturalis [s. Anm. 25], S. 19ff.). Gleichwohl schließt auch dieser Begründungsweg jedes Naturgesetz aus.
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und somit argumentationslogisch unpräzisen Verwendung70 des Terminus ›Regierung‹ für die Herrschaft Gottes über Natur und Freiheit durch die lex aeterna: Gesetz ist, wie gesagt nichts anderes als eine Weisung der praktischen Vernunft des Herrschers, der eine vollkommene Gemeinschaft leitet. Setzt man voraus, dass die Welt durch die göttliche Vorsehung gelenkt wird, muss offensichtlich die Gesamtheit des Weltalls durch die göttliche Vernunft geleitet werden. Und deshalb hat der Plan der Regierung aller Dinge, der in Gott als dem Herrscher des Weltalls besteht, das Wesen eines Gesetzes.71
Allerdings arbeitet Thomas anders als Augustinus und Cicero den Grund für die Notwendigkeit der Annahme, d. h. für das Postulat der Existenz einer lex aeterna, differenziert heraus: Augustinus hatte auf die Notwendigkeit einer überzeitlichen Normativität hingewiesen, um eine Gerechtigkeit der zeitlichen Gesetze zu garantieren, was lediglich durch die allgemeine Gerechtigkeit der Gottesinstanz – und damit der praktischen Vernunft des Rechts äußerlich – zu garantieren war. Darüber hinaus führte diese Argumentation – gerade aufgrund jener Äußerlichkeit – zu den Beliebigkeiten materialer Bestimmungen, die oben zitiert wurden. Während auch Cicero den mehr als methodischen, nämlich den systematischen Grund für das Postulat einer lex summa unbestimmt gelassen hatte und so auf die abstrakte Identität von lex summa und recta ratio angewiesen blieb, entwirft Thomas ein System formaler und so weniger angreifbarer Argumente, wenn er ausführt: »Und eben dies, dass das menschliche Gesetz sich nicht auf Dinge einlassen soll, die es nicht zu lenken vermag, entstammt der Ordnung des ewigen Gesetzes«.72 Ohne die Annahme einer alle besonderen Gesetze übergreifenden allgemeinen Gesetzlichkeit ist eine durchgehend rationale Ordnung des Seins als Schöpfung nicht zu gewährleisten. Alle besonderen 70 Mit dieser Abgrenzung des metaphorischen Argumentierens von den Leistungen des Begriffs soll nicht bestritten werden, dass es durchaus bedenkenswert ist, über die Frage der Bedeutung von Sprachbildern für systematische Argumentationsbewegungen nachzudenken (auch wenn deren Stellung vor allem in den Philologien überbewertet wird; vgl. hierzu Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase u. Dirk Werle (Hg.): Begriff, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009). Erkennbar aber sucht Thomas an dieser Stelle jenen Unterschied zu überdecken und damit die Metapher als Begriff zu verwenden, was stets ein Anzeichen von mangelnder Präzision in ungelösten Problemlagen ist. 71 STh I–II, q. 91, art. 1, ad. 3 resp., DThA 13, 17: »[S]icut supra dictum est, nihil est aliud lex quam quoddam dictamen practicae rationis in principe qui gubernat aliquam communitatem perfectam. Manifestum est autem, supposito quod mundus divina providentia regatur, ut in primo habitum est, quod tota communitas universi gubernatur ratione divina. Et ideo ipsa ratio gubernationis rerum in Deo sicut in principe universitatis existens, legis habet rationem.« 72 STh I–II, q. 93, art. 3, ad. 3, DThA 13, 56: »Unde hoc ipsum quod lex humana non se intromittat de his quae dirigere non potest, ex ordine legis aeternae provenit.«
Gideon Stiening Gesetze, insbesondere die lex naturalis und die leges humanae, sind je für sich nicht in der Lage, das Ganze der Welt in seiner geschöpflichen – d. h. vollständigen und einheitlichen – Ordnung zu erfassen. Nur die Annahme einer lex aeterna vermag diese entscheidende Prämisse jeder auf Kohärenz Anspruch erhebenden Rechtstheologie zu garantieren. Dabei können die untergeordneten, weil nur Teilaspekte der Schöpfung normierenden Gesetze nur durch Partizipation an der lex aeterna ihre objektive Geltung und subjektive Verbindlichkeit erhalten.73 Erneut bedient sich Thomas für diesen Begründungszusammenhang des Bildes von der ›Regierung Gottes‹: Da also das ewige Gesetz der Plan der Regierung im obersten Regenten ist, müssen alle Regierungspläne, die die untergeordneten Regenten haben, sich vom ewigen Gesetz herleiten. Diese Pläne bei den untergeordneten Regenten sind aber alle anderen Gesetze neben dem ewigen Gesetz. Daher leiten sich alle Gesetze soweit vom ewigen Gesetze her, als sie an der richtigen Vernunft teilhaben.74
Wie bei Cicero, so hat auch bei Thomas die recta ratio die entscheidende Vermittlungsfunktion für den Gedanken eines Zusammenstimmens überzeitlicher Rationalität mit dem endlichen Geist des Menschen. Sie allein garantiert die durch den freien Willen herzustellende Partizipation der leges humanae an der lex aeterna sowie die durch den menschlichen Verstand zu leistende Einsicht in die Teilhabe der lex naturalis an der lex aeterna. Thomas differenziert folgerichtig den Begriff der Partizipation in die folgenden Momente: [E]twas kann in zweifacher Weise dem ewigen Gesetz unterliegen: zum einen insofern es in der Weise des Erkennens am ewigen Gesetz teilhat; zum anderen in der Weise von Tun und Erleiden, insofern eine Teilhabe in Gestalt eines bewegenden Grundes vorliegt. In dieser zweiten Weise unterstehen die vernunftlosen Geschöpfe dem ewigen Gesetz. Weil jedoch die vernunftbegabte Natur neben dem, was sie mit allen Geschöpfen gemein hat,
73 Zum Partizipations-Gedanken bei Thomas vgl. auch – wenngleich unkritisch – Wieland: Gesetz und Geschichte (s. Anm. 52), S. 230ff. 74 STh I–II, q. 93, art. 3, resp., DThA 13, 54: »Cum ergo lex aeterna sit ratio gubernationis in supremo gubernante, necesse est quod omnes rationes gubernationis quae sunt in inferioribus gubernantibus, a lege aeterna deriventur. Huiusmodi autem rationes inferiorum gubernantium sunt quaecumque aliae leges praeter legem aeternam. Unde omnes leges, inquantum participant de ratione recta, intantum derivantur a lege aeterna.«
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etwas ihr Eigentümliches besitzt, und zwar dass sie vernunftbegabt ist, ist sie auf beiderlei Weise dem ewigen Gesetz unterstellt.75
Teilhabe bedeutet nach Thomas im Zusammenhang seiner Theorie der legesHierarchie folglich einerseits die durch die recta ratio mögliche Reflexion der menschlichen Vernunft auf die nomothetische Rationalität der Schöpfungsordnung Gottes, die als selbst rationale der Vernünftigkeit des Menschen eine partielle Partizipation im Sinne von Identität gewährleistet; andererseits impliziert Teilhabe das Verhältnis der bestimmten Differenz von Ursache und Wirkung, in dem die Natur als System von Gesetzen eine Wirkung der lex aeterna des Schöpfers als Ursache darstellt. Teilhabe meint für Thomas mithin eine partielle Identität von menschlicher und göttlicher Rationalität und eine spezifische Differenz zwischen dem kausalen System der Naturgesetze und ihrer prima causa, der als Schöpfer eine creatio ex nihilo möglich ist.76 Für den von Thomas verwendeten Begriff der Teilhabe, dessen sich auch Suárez – wenngleich in veränderter Semantik – bedient, ist folglich entscheidend, dass sowohl die partielle Identität von menschlicher und göttlicher Rationalität eine konstitutive Differenz enthält als auch die spezifische Differenz von prima causa und dem natürlichen Kausalzusammenhang der vernunftlosen Geschöpfe eine ihren Zusammenhang ermöglichende Identität – das komplexe Verhältnis von Gott, Mensch und Natur mithin zu einer dialektischen Vermittlung tendiert, die allerdings bei Thomas nicht reflektiert oder gar ausgeführt wird. Vielmehr löst Thomas dieses Interdependenzverhältnis – und er muss dies ad gloriam dei tun – zugunsten einer epistemologischen Hierarchie zwischen Gott und Mensch auf, denn die nur partielle Identität von recta ratio und lex aeterna führt zu der Augustinus verpflichteten Annahme einer begrenzten Erkenntnis des ewigen Gesetzes: Niemand, ausgenommen allein die Seligen, die Gott in seinem Wesen schauen, kann das ewige Gesetz erkennen, wie es in sich selber ist. Aber alle vernünftigen Geschöpfe erkennen es aufgrund einer gewissen Einstrahlung, die stärker oder schwächer sein kann. Jede 75 STh I–II, q. 93, art. 6, resp., DThA 13, 63f.: »[D]uplex est modus quo aliquid subditur legi aeternae, ut ex supradictis patet, uno modo, inquantum participatur lex aeterna per modum cognitionis; alio modo, per modum actionis et passionis, inquantum participatur per modum principii motivi. Et hoc secundo modo subduntur legi aeternae irrationales creaturae, ut dictum est. Sed quia rationalis natura, cum eo quod est commune omnibus creaturis, habet aliquid sibi proprium inquantum est rationalis, ideo secundum utrumque modum legi aeternae subditur.« 76 Siehe hierzu auch Maier: Teleologie und politische Vernunft (s. Anm. 53), S. 202f.
Gideon Stiening Erkenntnis der Wahrheit besteht nämlich in einer gewissen Einstrahlung und Teilhabe des ewigen Gesetzes. Alle aber erkennen irgendwie die Wahrheit, zumindest hinsichtlich der allgemeinen Grundsätze des natürlichen Gesetzes. 77
Damit ist nicht nur eine notwendige Verbindung zwischen lex aeterna und lex naturalis hergestellt,78 sondern auch der Grund für die Identität zwischen göttlicher und menschlicher Rationalität als einer qualitativen entwickelt, die lediglich quantitativ eingeschränkt ist. Die überpositive, nicht-kodifizierte Norm, die als lex naturalis lediglich im menschlichen Geist existiert, muss eine unmittelbare Verbindung zur lex aeterna haben, die im und durch den menschlichen Geist herstellbar und überprüfbar ist.79 Das kann aber nur geschehen, wenn das menschliche Erkenntnisvermögen – zumindest prinzipiell – die lex aeterna ebenso wie die Grundsätze der lex naturalis erkennt und miteinander korreliert. Dies leistet die von Cicero übernommenen recta ratio, die allerdings (mit Augustinus und gegen Cicero) zugleich im Unfang ihrer Erkenntnis der lex aeterna eingeschränkt ist. Vor allem an Semantik und Systematik des Begriffs der (menschlichen und göttlichen) Freiheit und deren enger Bindung an eine teleologisch verfasste Natur wird sich die Kritik Francisco Suárez’ an Thomas und der durch ihn synthetisierten Tradition entzünden; vor diesem Hintergrund wird Suárez zu einer – auch gegenüber Cicero und Augustinus – neuen Konzeption einer lex aeterna gelangen.
Francisco Suárez – Lex aeterna est voluntas dei aeterna Thomas’ Theorie einer lex aeterna unterscheidet sich von der augustinischen Variante durch die Klärung des Verhältnisses vom göttlichen Verstand und Willen sowie insbesondere darin, dass das ewige Gesetz zwar sowohl den natür-
77 STh I–II, q. 93, art. 2, resp., DThA 13, 51: »Sic igitur dicendum est quod legem aeternam nullus potest cognoscere secundum quod in seipsa est, nisi solum beati, qui Deum per essentiam vident. Sed omnis creatura rationalis ipsam cognoscit secundum aliquam eius irradiationem, vel maiorem vel minorem. Omnis enim cognitio veritatis est quaedam irradiatio et participatio legis aeternae.« 78 So auch Metz: Lex und Ius bei Thomas von Aquin (s. Anm. 56), S. 25f. 79 Zu dieser Stellung der Rationalität im lex-Traktat auch Maier: Teleologie und politische Vernunft (s. Anm. 53), S. 285ff.
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
lichen Lebewesen als auch den Menschen zum unhintergehbaren Maßstab diente, nicht aber als objektives telos des menschlichen Handelns unter anzustrebender Überwindung der Ausrichtung an den leges humanae bestimmt wurde. Zwar ist auch für Thomas das entscheidende telos menschlicher Handlungen das Erreichen des ewigen Heils; dies ist jedoch nicht durch eine Vergleichgültigung gegenüber den leges temporalium zu erreichen, sondern durch deren strikte Einhaltung. Von Cicero übernimmt er zwar den Rationalismus und auf dessen Grundlage die wichtigsten Momente der Konzeption einer recta ratio; in der theonomen Fundierung von Normativität überhaupt und damit der Unterscheidung von teleologisch gedachter Natur und dem Geltungsgrund ihrer Gesetzlichkeit setzt er sich aber auch von diesem ›Philosophen‹ ab .80 Francisco Suárez, der sich in einigen Momenten seiner Theorie eines ewigen Gesetzes an Thomas orientierte, hat die essentielle Funktion einer lex aeterna für sein Unternehmen einer leistungsfähigen Rechtstheologie unter den Bedingungen der sich säkularisierenden Neuzeit81 deutlich erkannt; vor allem für die zentrale Bedeutung des Naturrechts als eines innerweltlichüberpositiven Rechts spielt die lex aeterna nach Suárez eine konstitutive Rolle. Einerseits bietet dieses Gesetz nämlich die Möglichkeit, einer kulturhistorischen Relativität positiver Gesetze – die Suárez durchaus für berücksichtigenswert hält, u. a. weil er die rechtlichen Ordnungsformen der neuen Welt zu bedenken hat82 – zugleich Grenzen zu setzen. Mit Bezug auf Augustinus weist Suárez auf diese Funktion des ewigen Gesetzes ausdrücklich hin: Jedes menschliche Gesetz ist veränderlich und kann Fehler und Irrtümer enthalten. Es setzt daher notwendigerweise ein unveränderliches Gesetz voraus, durch das das menschliche Gesetz Festigkeit und Maß erhält, so dass es durch Übereinstimmung [mit dem ewigen Gesetz] seinen rechtlichen Status erhält.83
Den Status der Rechtlichkeit – und das meint für Suárez stets die Gerechtigkeit und Verbindlichkeit des Rechtsinhalts84 – erhalten weltliche Gesetze allererst 80 Siehe hierzu erneut Maier: Teleologie und politische Vernunft (s. Anm. 53), S. 324ff. 81 Vgl. hierzu grundlegend Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe Frankfurt a. M. 21988, S. 205ff. 82 Vgl. hierzu DL I. 9. 19. 83 DL II. 1. 3, Brieskorn 346 / Pereña III, 7 »[O]mnis lex humana mutabilis est et defectum ac errorem pati potest; ergo supponit necessario aliquam legem immutabilem per quam stabiliatur et quasi mensuretur, ut per conformitatem ad illam recte fiat.« 84 DL I. 1. 6, Brieskorn 32f. / Pereña I, 15f. vgl. hierzu auch Rainer Specht: Zur Kontroverse von Suárez und Vasquez über den Grund der Verbindlichkeit des Naturrechts. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 45 (1959), S. 235–255.
Gideon Stiening durch ihre Übereinstimmung mit der lex aeterna: »Nichtsdestoweniger ist festzuhalten, dass jedes Gesetz in gewisser Weise vom ewigen Gesetz abstammt und von ihm seine Verpflichtungskraft bezieht.«85 Diese allgemeine Fundierungsfunktion gilt auch, wenn Suárez mit Marsilius und gegen eine lange Tradition der Rechtstheologie seit dem Mittelalter festhält, dass die leges humanae vom »Willen des Menschen, der als Gesetzgeber handelt, unmittelbar ihre Kraft und Wirksamkeit« erhalten.86 Andererseits birgt das Theorem der lex aeterna die Möglichkeit, der – auch von der neuzeitlichen Naturrechtstradition nicht bestrittenen – Notwendigkeit des Bezugs auf eine überpositive Norm ein theologisches Fundament zu geben. Wer besser als die Gottesinstanz vermag die Geltung überpositiver Normen zu garantieren, wobei die Fundierung der lex naturalis in einer lex aeterna den Autonomisierungstendenzen des neuzeitlichen Naturrechts Einhalt gebieten soll. Eine Theorie der lex aeterna bietet mithin vielfältige Argumente für Erfordernisse einer politischen Theologie. Dass die Theorie einer lex aeterna gleichwohl erhebliche philosophischtheologische Problemlagen birgt, wird von Suárez keineswegs bestritten, sondern gleich zu Beginn seiner Ausführungen zu diesem Gesetz deutlich expliziert: Der Grund unserer Frage [d.i. Gibt es ein ewiges Gesetz?] besteht darin, dass ein Gesetz erfordert, dass es jemandem auferlegt werden kann. Doch war von Ewigkeit her niemand, der des Gesetzes fähig gewesen wäre. Also konnte es auch kein ewiges Gesetz geben.87
Suárez macht in der Folge unmissverständlich klar, dass er diese Frage, ob das ewige Gesetz tatsächlich Gesetzescharakter habe, für in der Sache berechtigt, gleichwohl für positiv zu beantworten hält. Mit erheblichem Aufwand stellt er sich mit seinen Ausführungen zu diesem Gesetz allerdings explizit in eine lange Tradition, wenn er gleich zu Beginn seiner Ausführungen festhält, dass nicht nur »der hl. Thomas und Cajetan […], sondern auch Soto und andere […], Vinzentius Bellovacensis, Halensis, Antonius Turrecremata und Augustinus« die-
85 DL II. 4. 4, Brieskorn 394 / Pereña III, 49: »Nihilominus, dicendum est primo omnem legem aliquo modo esse a lege aeterna et ab illa habere vim obligandi.« 86 DL II. 4. 8, Brieskorn 400 / Pereña III, 54: »[I]d est, constituente ipsam legem, nam a voluntate hominis legislatoris habet proxime haec lex suam virtutem et efficaciam.« 87 DL II. 1. 1, Brieskorn 344 / Pereña III, 4: »Ratio dubitandi est quia lex necessario requirit aliquem cui possit imponi; sed ab aeterno non fuit aliquis capax legis: ergo nec lex aliqua aeterna esse potuit.«
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ses Gesetz begründet und gelehrt hätten.88 Auch Boethius und Isidor werden von Suárez aufgeführt und zitiert. Als philosophische Referenzautoren nennt er Platon und Cicero, die beide spezifische Formen ewiger bzw. göttlicher Gesetze entworfen und begründet hätten. Das Charakteristische an diesem Theoriestück, das zu den schwierigsten des gesamten Traktats zu zählen ist, besteht darin, dass der Bezug auf die genannten Autoren bisweilen als systematisches Argument Verwendung findet: Im Zusammenhang der These, das ewige Gesetze sei jene Schöpfungsordnung, nach der Gott als Künstler bzw. Handwerker operiert habe, womit sie jedoch gegen die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft indifferent wäre, heißt es: »Dieser Darlegung stimmen wir jedoch nicht zu, denn zum einen widerspricht sie der Ansicht des Augustinus und aller Theologen, zum anderen auch derjenigen Ciceros und aller Philosophen.«89 Selten deutlicher als in diesen Kapiteln argumentiert Suárez also auch in methodischer Hinsicht scholastisch, weil der Bezug auf die Autoritäten allein als Argument dient. Gleichwohl fällt dieser Bezug auf die philosophische und theologische Tradition keineswegs ausschließlich affirmativ aus; vor allem Thomas verfällt einer deutlichen Kritik: Im Rahmen der zentralen Problematik dieses Gesetzes, dass es nämlich einerseits ewig sein muss, andererseits jedoch – um Gesetz zu sein, d.h. damit es jemandem auferlegt werden kann, um die ihm zukommende Grundlegungsfunktion für alle weiteren Gesetze auszuüben – endlich zu sein hat, heißt es über Thomasʼ Vorschläge: »So scheint er uns auf die gestellten Schwierigkeiten nicht zufriedenstellend zu antworten.«90 Selbst Augustinus, der als gewichtigster Verfechter einer lex aeterna bezeichnet wird, erfährt im Zusammenhang der Frage nach dem Geltungsumfang des ewigen Gesetzes eine deutliche Kritik.91 Suárez beantwortet die für jede Theorie einer lex aeterna tatsächlich drängenden Fragen, wie dieses Gesetz zugleich unendlich und endlich sein kann,
88 DL II. 1. 2, Brieskorn 345 / Pereña III, 5: »Ita docet divus Thomas (I II, quaest. 91, art. 1 et 93 per totam); et ibi Caietanus, Soto et alii; Vincentius Bellovacensis (in Speculo morali, parte II, dist. 1); Halensis (III part., quaest. 26, membrum 1); Autoninus (I parte, tit. 11, cap. 1, § 4; et tit. 12, a principio); Turrecremata (in cap. Omnes leges, dist. 1), et sumitur ex Augustino (lib. De vera religione, cap. 3 et lib. I De libero arbitrio, cap. 5 et 6, et lib. 22 Contra Faustum, cap. 27).« 89 DL II. 1. 7, Brieskorn 351 / Pereña III, 10f.: »Haec vero expositio non placet, tum quia est contra mentem Augustini et theologorum, immo et Ciceronis et philosophorum.« 90 DL II, 1. 4, Brieskorn 348 / Pereña III, 8: »[N]on tamen declarat quomodo etiam ab aeterno habeat rationem legis, nec in quo differat sub ratione ideae, nec difficultatibus positis videtur plane satisfacere.« 91 DL II. 2. 10f., Brieskorn 368 / Pereña III, 12–14.
Gideon Stiening und ob es als Plan der gesamten Schöpfungsordnung zu fassen ist, die Natur und Freiheit übergreift, mithin ein Gesetz für »Bewegungen und Handlungen« ist, in zwei Schritten:
. Lex aeterna est in deo et in mundo? Suárez unterscheidet nämlich zunächst zwei Existenzweisen bzw. Status des ewigen Gesetzes: Der erste Zustand besteht in der inneren Einstellung des Gesetzgebers, d.h. inwieweit in seinem Geist bereits dieses Gesetz geschrieben und mit unumstößlichem Beschluss und starkem Willen abgesichert ist. Im zweiten Zustand befindet sich das Gesetz vom Zeitpunkt seiner äußeren Festlegung und seiner Verkündung an die Adressaten an. Dem ersten Zustand nach ist offensichtlich, dass es in Gott ein ewiges Gesetz gibt; […]. Hinsichtlich des zweiten Zustandes ist gleichfalls sicher, dass sich kein Gesetz Gottes von Ewigkeit her in diesem Zustand befunden hat.92
In der Gottesinstanz – und dabei insbesondere in ihrem Geist – existiert mithin eine gesetzliche Ordnung, die durch ihre partielle Identität mit Gott notwendig unendlich sein muss. Mit der Schöpfung aber entäußert Gott diese Ordnung in die Welt, die aber in ihrer Existenz als Schöpfung endlich ist,93 womit eine ontologische Änderung dieser lex eintritt, deren Resultat der Status der Ewigkeit abgesprochen werden muss. Die lex aeterna ist folglich im Geiste Gottes ewig und in der Welt zeitlich – und dies zumindest während der Zeitdauer der Schöpfung – zugleich. Wie dieser Übergang aber nach den Gesetzen der göttlichen Vernunft, die vieles kann und darf, nur nicht sich selbst widersprechen,94 mög-
92 DL II. 1. 5, Brieskorn 348 / Pereña »Distinguamus ergo in lege duplicem statum: unus est quem habet in interna dispositione legislatoris, quatenus in mente eius jam illa lex descripta est et eius absoluto decreto ac firma voluntate stabilita. Alius status est quem habet lex exterius constituta et subditis proposita. Priori modo manifestum est dari in Deo legem aeternam, […]. Posteriori autem modo aeque certum est non habuisse legem Dei hunc secundum statum ab aeterno.« 93 Dabei kann man stets voraussetzen, dass Suárez die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Paduaner Naturphilosophie sowie im Socianismus aktualisierte aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt bzw. der Materie nicht teilte, weil es für ihn eine creatio ex nihilo und damit einen Anfang und ein Ende der Welt geben musste (vgl. Suárez: Disputationes metaphysicae XXIX). Vgl. zu dieser Debatte über Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt: Sascha Salatowski: Die Philosophie der Sozianianer. Transformationen zwischen RenaissanceAristotelismus und Frühaufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015, S. 246ff. 94 Siehe hierzu DL II. 2. 7, Brieskorn 363 / Pereña III, 21.
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lich sein können soll, bleibt unerörtert; mit seiner Distinktion zwischen status in deo und status in mundo erklärt Suárez das Problem für gelöst: »Wir haben die Existenz des ewigen Gesetzes bestätigt.«95 Dieser mehr deklarierte als bewiesene Status sieht aber darüber hinweg, dass die lex aeterna zugleich ewig (in deo) und zeitlich (in mundo) sein muss, um ihrem Grundlegungscharakter zu entsprechen. Damit widerspricht ihre Bestimmung dem Satz des Widerspruchs; die aspektuelle Differenz der Existenz der lex aeterna ›in Gott‹ und ›in der Welt‹ hilft über die kontradikorische Prädikation als ewig und zeitlich nicht hinweg – als zeitlich und ewig zugleich kann das ewige Gesetz nicht sein. Darüber hinaus gerät Suárez zum Problem, dass die lex aeterna als Gesetz in Gott ist, in diesem Zustand jedoch Eigenschaften erhält, die ihrer Bestimmung als Gesetz, d.h. als »eine die Gemeinschaft betreffende Anordnung, die gerecht, verlässlich, beständig und auch in genügender Weise verkündet worden ist«,96 zuwider laufen.97 Gleichwohl sollen alle spezifischen Gesetzesformen von der lex aeterna als die ihre Form, ihren Gehalt, und ihre Verbindlichkeit konstituierende Substanz bzw. Ursache dependieren.98 Ausdrücklich identifiziert Suárez dabei den thomasischen Partizipationsgedanken mit dem neuzeitlichen Konzept der Wirkkausalität: Als Vernunftgrund lässt sich aber anführen, dass das ewige Gesetz seinem Wesen nach ganz und gar Gesetz ist und ein jedes andere Gesetz erst durch Teilhabe an ihm als Gesetz existiert. Also ist notwendigerweise jedes andere Gesetz Wirkung dieses Gesetzes.99
95 DL II. 2. 1, Brieskorn 357 / Pereña III, 16: »Diximus legem aeternam esse.« 96 DL I. 12. 5, Brieskorn 255 / Pereña II, 70: »Lex est commune praeceptum, iustum ac stabile, sufficienter promulgatum.« Zu diesem allgemeinen Gesetzesbegriff bei Suárez vgl. Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Lex und Ius / Lex and Ius. Hg. von Alexander Fidora, Matthias Lutz-Bachmann u. Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 429–463. 97 Siehe hierzu Gideon Stiening: ›Der hohe Rang der Theologie‹? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 97–133. 98 So auch Gerald Hartung: Die politische Theologie des Francisco Suárez. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Spätscholastik. In: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Hg. von Manfred Walther. Baden-Baden 2004, S. 113– 126, hier S. 117. 99 DL II. 4. 5, Brieskorn 396f. (Hvhb. von mir) / Pereña III, 51: »Ratio autem generalis reddi potest, quia lex aeterna est lex per essentiam et omnis alia est per perticipationem. Ergo necesse est ut omnis alia lex sit effectus legis aeterna.«
Gideon Stiening »Teilhabe« ist für Suárez also, anders als für Thomas, der hier durch den Begriff der partiellen ontologischen Identität deutliche Unterschiede setzte,100 mit Kausalität identisch. Bei allen Versuchen des Festhaltens an einem umfassenden aristotelischen Ursachebegriff;101 im Rahmen der Anwendung des thomasischen Partizipationsgedankens erweist sich Suárez als Vorreiter der neuzeitlichen Eingrenzung des Ursachebegriffs auf – praktische – Wirkkausalität.102 An diesem Begründungsschritt setzt auch die Stellung und Funktion der recta ratio bei Suárez ein, der er eine spezifisch praktische Kontur verleiht. Zu diesem Vermögen heißt es nämlich mit Bezug auf Thomas in II. 5. 10 zunächst: Dort führt er [d.i. der hl. Thomas] nämlich aus, dass der Mensch durch das Licht der Vernunft am ewigen Gesetz teilhat, das ihm verbindlich mitteilt, was zu tun und was zu lassen ist. Jenes Licht ist das natürliche Gesetz, das wiederum nichts anderes als eine gewisse natürliche Teilhabe am ewigen Gesetz ist.103
Dabei realisiert sich das Licht der Vernunft als recta ratio im Gewissen des Menschen, weshalb für Suárez nicht nur gilt, dass forum conscientia est forum dei,104 sondern auch, »der Mensch sich selbst Gesetz« sei.105 Erkennbar wird mit diesen Argumenten die recta ratio als Erkenntnisvermögen und Realisationsort der lex naturalis streng praktisch interpretiert: Damit ergibt sich [erstens], dass das natürliche Gesetz sich im Menschen und nicht in Gott befindet, da es zeitlich und geschaffen ist. Sein Ort liegt auch nicht außerhalb der Menschen, weil es nicht auf Tafeln, sondern in sein Herz geschrieben ist. […] Zweitens entstammen die Wirkungen des Gesetzes, die wir beim natürlichen Gesetz beobachten können, unmittelbar dem Urteilsspruch der Vernunft. Denn dieser Spruch ordnet an, verpflichtet und dient dem Gewissen als Regel, wenn es Tatsachen anklagt oder billigt. Folglich ist jener Spruch das Gesetz. Drittens ist es dem Gesetz eigen zu befehlen und zu 100 Zu den unterschiedlichen Partizipationsbegriffen bei Thomas und Suárez siehe auch Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatphilosophie (s. Anm. 23), S. 383. 101 Vgl. hierzu Michael Renemann: Gedanken als Wirkursache. Francisco Suárez zur geistigen Hervorbringung. Amsterdam, Philadelphia 2010. 102 Vgl. hierzu Detlev Pätzold: Wandlungen des Kausalitätsbegriffs. In: Verursachung. Repäsentationen von Kausalität. Hg. von Brigitte Falkenburg u. Detlev Pätzold. Hamburg 1998, S. 9–26. 103 DL II. 5. 10, Brieskorn 415 / Pereña III, 68: »Ibi enim significatur, per lumen rationis participare hominem legem aeternam dictantem quid sit faciendum quidve vitandum. Illud ergo est lex naturalis, quia haec non est nisi quaedam participatio naturalis aeternae legis.« 104 DL III. 21. 2, Bach, Brieskorn, Stiening III, 20/21: »Ratio autem dubitandi esse potest, quia forum conscientiae est forum Dei; sed homo non potest obligare in foro Dei; ergo nec in foro conscientiae.« 105 DL II. 5. 12, Brieskorn 415 / Pereña III, 68.
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regieren. Genau diese Eigenschaften sind der rechten Vernunft im Menschen zuzuerkennen. Sie dienen dazu, ihn gemäß der Natur richtig zu lenken. Folglich hat das natürliche Gesetz seinen Ort in der Vernunft, und zwar als eine dem menschlichen Handeln implizite Regel.106
Die recta ratio ist mithin als Widerschein der göttlichen Vernunft im Menschen Gehalt und Realisationsgarant der Regeln und Vorschriften des ins Herz des Menschen eingeschriebenen Naturrechts. Suárez betont durch einen in diesem Zusammenhang starken Bezug auf Cicero die kaum begrenzten Erkenntnisfähigkeiten der recta ratio; gegen Thomas, vor allem aber gegen Augustinus spielt die Einschränkung dieses Vermögens durch den Sündenfall eine nur mehr marginale Rolle. Dennoch lassen sich im Hinblick auf den Gesetzescharakter der lex aeterna und damit ihrer Funktion als causa prima omnium legum einige Schwierigkeiten ausmachen.107 Wie schon angedeutet, steht ihre Eigenschaft der Ewigkeit in kontradiktorischem Widerspruch zu einem wesentlichen Bestimmungsmoment des allgemeinen Gesetzesbegriffes, nämlich Funktionselement eines Teils der endlichen Schöpfung, d.h. des in der politischen Gemeinschaft notwendig lebenden, freien Menschen zu sein. »Beim Wort ›Gesetz‹ denken wir an Zeitlichkeit«, so Suárez zu Recht in der Zusammenfassung dieses Argumentes.108 Gesetze gibt es nur und genau dann, wenn es eine zeitliche Schöpfung gibt, sie sollen zwar dauerhaft sein, d.h. eine bestimmte Beständigkeit haben, können jedoch apriori nicht Ewigkeit beanspruchen, weil sie der Schöpfung zugehören: Wenn ich nun vom Gesetz im eigentlichen Sinn als unserem Thema spreche, habe ich noch hinzuzufügen, dass es nur um der vernünftigen Kreatur willen in die Existenz tritt.
106 DL II. 5. 10, Brieskorn 417f. / Pereña III, 70f.: »Primo a sufficienti divisione. Nam lex naturalis in homine est, quia non est in Deo, cum temporalis sit et creata; nec est extra homines, quia non est scripta in tabulis, sed in corde; […]. Secundo, quia effectus legis, qui in lege naturali considerari possunt, immediate proveniunt a dictamine rationis. Nam illud dirigit, obligat et est regula conscientiae, quae accusat vel approbat facta. Ergo in illo consistit huiusmodi lex. Tertio, proprium est legis dominari et regere. Sed hoc tribuendum est rectae rationi in homine ut secundum naturam recte gubernetur. Ergo in ratione est lex naturalis constituenda tanquam in proxima regula intrinseca humanarum actionum.« 107 Vgl. hierzu auch Manfred Walther: Facultas Moralis – Die Destruktion der LegesHierarchie und die Ausarbeitung des Begriffs des subjektiven Rechts durch Suárez – Ein Versuch. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 135–160. 108 DL II. 1. 4, Brieskorn 347 / Pereña III, 7f.: »Quia providentia dicit respectum aeternum; lex autem temporalem.«
Gideon Stiening Denn das Gesetz wird ausschließlich einem Lebewesen auferlegt, das frei handeln kann. Es bezieht sich nur auf frei gesetzte Handlungen […].109
Diese ursprüngliche Problemlage des Verhältnisses der lex aeterna zur zeitlichen Schöpfung hat Auswirkungen auf die Semantik und Systematik weiterer Definitionselemente des allgemeinen Gesetzesbegriffs für die lex aeterna; so hatte Suárez schon in DL I. 1. 7 festgehalten: »Wenn wir jedoch über das Gesetz im eigentlichen Sinne sprechen, wie wir dies momentan tun, so ist nur dasjenige Gesetz ein Gesetz, welches eine Verpflichtung auferlegt.«110 Ohne Verpflichtung kein Gesetz, und nur als Gesetz kann sich Verpflichtung realisieren.111 Der Verbindlichkeitsbegriff zählt zu den Kernbeständen des suárezischen Gesetzesverständnisses.112 Im Hinblick auf die lex aeterna ergibt sich aber für dieses Obligationsverständnis die folgende Schwierigkeit: Schlussendlich steht aus dem Gesagten nun fest, in welcher Weise das ewige Gesetz verpflichtet. Denn wenn man es ausschließlich als ewiges ansieht, kann man gar nicht davon sprechen, dass es verpflichtet [...].113
In II. 1. 8 sucht Suárez der Problemlage dadurch zu entgehen, dass es genüge, einem Gesetz eine vis obligandi in potentia zuzuschreiben, die sich nicht unmittelbar, also direkt realisieren müsse. In I. 14, jenem Kapitel über die vis obligandi als Eigenschaften des Gesetzes überhaupt, hatte er allerdings konstatiert, dass Verpflichtungskraft nur als direkte Wirkung des Gesetzes angemessen zu erfassen ist. Der Begriff der Verpflichtung war nämlich durch die unmittelbare Bindung des Gesetzes an den Willensakt des Gesetzesgebers bestimmt; mittel-
109 DL I. 3. 2, Brieskorn 54 / Pereña I, 37 : »Addo praeterea, loquendo de propria lege de qua nunc agimus, tantum esse posse propter creaturam rationalem; nam lex non imponitur nisi naturae liberae, nec habet pro materia nisi actus liberos […].« 110 DL I. 1. 7, Brieskorn 33 / Pereña I, 16: »Proprie tamen loquendo de lege, ut hic loquimur, illa non est, nisi quae aliquam abligationem inducit.« 111 Vgl. hierzu auch Tilmann Altwicker: Gesetz und Verpflichtung in Suárez’ De Legibus. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 125–133. 112 Vgl. hierzu auch Gideon Stiening: Suprema potestas […] obligandi. Der Verbindlichkeitsbegriff in Francisco Suárez’ Tractatus de Legibus. In: Recht zwischen Philosophie, Theologie und Jurisprudenz. Beiträge zur Begriffsgeschichte von Vitoria bis Suárez. Hg. von Kirstin Bunge, Stefan Schweighöfer, Anselm Spindler u. Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 341–367. 113 DL II. 4. 10, Brieskorn 402 / Pereña III, 56: »Ultimo, constat ex dicitis quomodo lex aeterna abliget. Nam praecise spectata ut aeterna est, non potest dici obligare […].«
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bare Verpflichtungen hatte Suárez nicht vorgesehen. Gleichwohl ist eben die Verpflichtung der lex aeterna als direkte Wirkung nicht zu denken; im Hinblick auf ihre vis obligandi ist sie vielmehr angewiesen auf die von ihr zugleich verursachten endlichen Gesetzesformen; verpflichten kann sie also nur mittelbar: Daher geschieht es, dass das ewige Gesetz niemals allein durch sich selbst verpflichtet; es muss sich notwendigerweise mit irgendeinem anderen Gesetz verbinden, um in der Zeit wirksame Verpflichtung hervorzurufen. Es nimmt nur dann wirksam unter Pflicht, wenn es nach außen hin verkündet wird. Daher kann man unter dieser Rücksicht sagen, dass das ewige Gesetz niemals unmittelbar verpflichtet, sondern nur vermittelt durch irgendein anderes Gesetz.114
Diese unvermeidbare Bestimmung ihrer nur mittelbaren Verbindlichkeit generiert jedoch ein theologisches und ein philosophisches Problem: Die Gottesinstanz, die identisch ist mit dem ewigen Gesetz,115 gerät nämlich, weil Gesetz nur dann Gesetz ist, wenn es tatsächlich und direkt verpflichtet, in Abhängigkeit von ihrer Schöpfung, weil sie verpflichten muss, aber nur über das Mittel der leges temporalia verpflichten kann, was nicht nur ihrer Dignität als ens perfectissimum entgegensteht, sondern sie auch als causa prima verunmöglicht. Auch im Hinblick auf die Frage der Verpflichtungskraft lässt sich mithin keine gelungene Vermittlung zwischen der lex aeterna sub specie aeternitatis und ihrer selbst sub specie creationis feststellen.116 Gleiches gilt für die promulgatio, die Suárez als eine wesentliche Eigenschaft des allgemeinen Gesetzesbegriffes bestimmt hatte; in Bezug auf die lex aeterna aber heißt es: »Also ist für dieses ewige Gesetz, im eigentümlichen Sinn gesprochen, kein einziger öffentlicher Akt der Bekanntmachung erforderlich, damit es tatsächlich verpflichte.«117 Darüber hinaus kann auch das zentrale Definitionselement des Gesetzes, lediglich für eine Gemeinschaft mit Blick auf die Erhaltung oder Mehrung ihres 114 DL II. 4. 10, Brieskorn 403 / Pereña III, 56: »Unde etiam fit lex aeterna numquam per seipsam obliget separata ab omni alia lege, sed necessario debet alicui alteri coniungi it actu obliget. Quia non actu obligate nisi quando actu exterius promulgatur. Non promulgatur autem nisi quando lex aliqua divina vel humana promulgator. Atque hoc modo potest dici legem aeternam nunquam obligare immediate, sed mediate aliqua alia lege.« 115 DL II. 4. 1, Brieskorn 392: »[…] denn da das Gesetz der ursachelose Gott selbst ist […].« / Pereña III, 46f. 116 Anders hierzu Hartung: Die Naturrechtsdebatte (s. Anm. 7), S. 63, der mit Bezug auf II. 9. 9. die lex naturalis als entscheidende Vermittlungsinstanz ausmacht. 117 DL II. 1. 11, Brieskorn 355 / Pereña III, 14: »Unde in hac lege aeterna, per se loquendo, nulla alia publica promulgatio requiritur ut actu obliget, sed solum quod veniat in notitiam subditi.«
Gideon Stiening Gemeinwohls erlassen zu werden, nur unter erheblichem Interpretationsaufwand aufrechterhalten werden. In DL II. 3. 6 wird nämlich die definitorisch festgesetzte Gemeinschaft und deren Gemeinwohl mit dem »gesamten Universum« identifiziert und damit auf himmlische und irdische Gemeinschaften ausgeweitet: Das ewige Gesetz ist ein und dasselbe für das gesamte Universum, mag es auch in besonderem Maß für den himmlischen Hof gelten, weil dort Gottes Wille in sich selbst erkannt wird und auch für das Handeln aller Seligen die unmittelbare und hauptsächliche Regel bildet.118
Die Ordnung des gesamten Universums schließt allerdings erneut die Gesetze der unvernünftigen Lebewesen ein, denen ein ›Gemeinwohl‹, allerdings nur in jener uneigentlichen Weise möglich ist zuzuschreiben, die Suárez vorsichtig aus seiner politischen Philosophie zurückzudrängen suchte. Letztlich beförderte auch die schon zitierte Identität der Gottesinstanz mit der lex aeterna ein Problem: Denn der Gesetzgeber des allgemeinen Gesetzesbegriffes bedient sich der Gesetze in einem realen Hierarchieverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenem, d.h. zur Durchsetzung der Rechtsgeltung ist er notwendigerweise mit einer Zwangsgewalt ausgestattet.119 Nur weil er sich in seinem Willensakt von den Gesetzen selbst unterscheidet, kann der Gesetzgeber eine Verpflichtungskraft der Gesetzesinhalte garantieren.120 In der lex aeterna fallen diese Unterscheidungen aber notwendig zusammen; Gott ist keineswegs von der lex aeterna so unterschieden, dass er eine ihrem Inhalt äußerliche Zwangsgewalt nutzen müsste oder auch nur könnte, um sie durchzusetzen. Zudem kann er ihr als Gesetz nicht unterworfen sein, weil dies seinen freien Willen begrenzte, was als unmöglich, d.h. als widersprüchlich bezeichnet wird, sodass gelten muss, dass Gott »nicht verpflichtet [ist], sich an ein Gesetz zu halten; er ist der höchste Herr und außerhalb jeder Ordnung«.121 Der Gesetzescharakter der lex aeterna erweist sich also auch bei Suárez als prekär. Zwar bezeichnet der Autor dieses Gesetz mehrfach und nachdrücklich als echtes Gesetz: »Ganz ohne Einschränkung lässt sich trotzdem versichern,
118 DL II. 3. 6, Brieskorn 380 / Pereña III, 36: »Eadem ergo est lex aeterna totius universi, licet specialiter attribuatur coelesti curiae, quia ibi Dei voluntas in seipsa cognoscitur et quia illa est proxima et principalis regula operandi omnibus beatis.« 119 DL I. 8. 2, Brieskorn 172 / Pereña I, 147. 120 Vgl. hierzu auch Dominik Recknagel: Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spaltung. Frankfurt a. M. u.a. 2010, S. 29f. 121 DL II. 2. 6.
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dass sämliche moralische Handlungen in irgendeiner Weise unter das ewige Gesetz fallen […]«.122 Wenn wir jedoch jenes ewige Gesetz in seiner Eigenschaft als echtes Gesetz betrachten, was heißt, dass es sich sittlich verpflichtend an einsichtige Geschöpfe richtet, so ist es der ewige Willen Gottes, gemäß welchem die verstandbegabten Willen handeln sollen, um sittlich gut zu sein.123 Suárez ist zu dieser Bestimmung der lex aeterna als lex auch genötigt, weil sie nur als echtes praktisches Gesetz den anderen bestimmten Gesetzen zur Norm dienen kann, denn nur sie garantiert die Gerechtigkeit aller Gesetze. Dennoch enthält der Begriff der lex aeterna – zentrales Funktionselement der gesamten Gesetzeslehre des Suárez – in ihrer systematischen Substanz einen unauflöslichen Widerspruch: sie ist Gesetz und sie ist es nicht, weil sie Gesetz sein muss und doch aller im allgemeinen Gesetzesbegriff entwickelten Definitionselemente entbehrt.124
. Lex aeterna est conceptus philosophiae practicae universalis Trotz dieses – jeder Theologie und Metaphysik seit dem Spätmittelalter aufgegeben und erst durch Hegel in der Vermittlung von Unendlichem und Endlichem einer möglichen Lösung zugeführten125 – Problems entwirft Suárez Momente einer gegenüber Cicero, Augustinus und Thomas genuin innovativen Konzeption der lex aeterna,126 die erhebliche Auswirkungen auf deren Verhältnis zur lex naturalis zeitigt.
122 DL II. 2. 15, Brieskorn 371 / Pereña III, 28: »Verumtamen absolute affirmari potest omnes actiones morales cadere aliquo modo sub lege aeterna.« 123 DL II. 3. 8, Brieskorn 381 / Pereña III, 38: »Si vero consideretur illa lex aeterna ut proprietatem legis habet in ordine ad moralem obligationem creaturarum intellectualium, sic eritm voluntas Dei aeterna, secundum quam operari debent voluntates rationales, ut bonae sint.« 124 Vgl. hierzu auch Pauline Westerman: The Disintigration of Natural Law Theory. Aquinas to Finnis. Leiden, New York, Köln 1998, pp. 84f.; kritisch hierzu der Beitrag von Stefan Schweighöfer im vorliegenden Band. 125 Siehe hierzu Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. In: Ders.: Werke in 20 Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, Bd. 5, S. 125–166. 126 Vgl. dagegen Norman J. Wells: Old bottles and new wine. In: The New scholasticism 53.4 (1979), S. 515–523.
Gideon Stiening Dazu gehört zunächst und zumeist der Versuch zu einer rein praktischen Interpretation der lex aeterna.127 Anders als für Cicero, Augustinus und Thomas ist das ewige Gesetz für Suárez nämlich nicht Ordnungsplan der gesamten Schöpfung, d. h. auch aller natürlichen Bewegungen, sondern einzig Maßstab und Grund moralischer Handlungen, d.h. solcher, die durch vernünftige und freie Wesen ausgeführt werden können. In der gebotenen Vorsicht einer Kritik an Augustinus heißt es gleichwohl deutlich: Denn man kann die Unterordnung und Unterwerfung der unverständigen Geschöpfe unter Gott nur in einem sehr weiten und metaphorischen Sinne ›Gehorsam‹ nennen. Es handelt sich eher um eine natürliche Unabänderlichkeit. Insoweit jedoch das ewige Gesetz auf moralische und politische Weise die verstandesfähigen Geschöpfe lenkte, kommt ihm das Wesen des Gesetzes im eigentliche Sinne zu; ihm antwortet auch der Gehorsam im eigentlichen Sinne.128
Suárez ist äußerst vorsichtig; er wird auch in der Folge immer wieder betonen, dass die lex aeterna im mittelbaren oder uneigentlichen Sinne auch Vorschriften für die »verstandeslosen Dinge« enthält. Im Rahmen der gegen Augustinus und Thomas gerichteten Nachweise, dass »das ewige Gesetz Produkt des freien göttlichen Willens« ist, der zugleich das entscheidende Vermögen für die Schöpfung der Welt ausmacht, heißt es: Somit wird das ewige Gesetz insoweit es in Bezug auf diese untergeordneten Dinge tätig wird, zu Recht als im Willen Gottes befindliches Gesetz angesehen, der anordnet, jedem Geschöpf eine bestimmte Natur, diese und jene Neigung und ebendiese und keinen anderen Platz im Kosmos zuzuweisen.129
Gleichwohl bleibt diese Ausweitung des Geltungsumfangs der lex aeterna auf die »verstandeslosen Dinge« eine »metaphorische« und damit im Geltungsstatus deutlich eingeschränkt. Dies wird auch explizit ausgesprochen:
127 Diese nachdrücklich praktische Interpretation der lex aeterna übersehen Bernd Franke u. Martin Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez. In: Rechtstheorie 4 (2010), S. 87–108, spez. S. 90. 128 DL II. 2. 13, Brieskorn 370 / Pereña III, 27f.: »[N]am subordinatio et subiectio irrationalium rerum ad Deum late et metaphorice dicitur obedientia, quia potius est necessitas quaedam naturalis. Lex autem aeterna, quatenus per illam moraliter et politice rationalia gubernantur, habet propriam rationem legis et illi respondet propria obedientia.« 129 DL II. 3. 7, Brieskorn 380 / Pereña III, 37: »Ergo lex aeterna, quatenus circa haec inferiora versatur, recte intelligitur esse in voluntate Dei ordinantis unicuique dare talem naturam, inclinationem, situm, etc.«
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
Wenn wir jedoch jenes ewige Gesetz in seiner Eigenschaft als echtes Gesetz betrachten […] so ist es der ewige Wille Gottes, gemäß dem die verstandesbegabten Willen handeln sollen, um sichtlich gut zu sein.130
Ohne einen strengen Voluntarismus zu vertreten,131 wird doch aus den letzten Zitaten ersichtlich, dass es nach Suárez vor allem der freie Wille Gottes ist, der die lex aeterna zu einer lex, d.h. zu einem Maßstab bzw. einer Maxime für die leges creationis macht. Allerdings klärt der Autor an keiner Stelle seines Traktats, in welchem Verhältnis eine Bestimmung »im metaphorischen Sinne« und eine solche »im eigentlichen Sinne« stehen;132 erkennbar wird aber, dass Suárez die lex aeterna bevorzugt der Sphäre der praktischen Vernunft zuordnet und in nur bedingter Weise der Sphäre theoretischer Naturgesetze. So heißt es mit einigem Nachdruck in DL II. 4. 1: Um die Frage, die das moralische Handeln betrifft, nicht mit einer terminologischen Ambiguität zu belasten, schlage ich vor, vom ewigen Gesetz als einem Gesetz im echten Sinne, d.h. als einem gebietenden zu sprechen, und zwar aus der Perspektive der Menschen, wobei Entsprechendes für die Engel gilt. Wenn wir nämlich die im Verhältnis zum Menschen niederen Geschöpfe einbeziehen, dann ist klar, dass das ewige Gesetz ihnen keine Gesetzesverpflichtung echter Art auferlegt, sondern sie durch den Instinkt, eine natürliche Neigung oder einen natürlichen Antrieb auf eine bestimmte Wirkung hin festlegt. Diese Wirkung ist jedoch weder Wirkung eines Gesetzes im eigentlichen Sinne noch bedarf sie zu ihrer Erklärung mehr als einer philosophischen Erörterung.133
Damit sind aber die Grundlagen für eine genuin praktische Metaphysik gelegt,134 für die das ewige Gesetz nur die allgemeinste Bestimmung ausmacht. Gesetze
130 DL II. 3. 8, Brieskorn 381 / Pereña III, 38: »Si vero consideretur illa lex aeterna ut proprietatem legis habet in ordine ad moralem obligationem creaturarum intellectualium, sic erit voluntas Dei aeterna, secundum quam operari debent voluntates rationales, ut bonae sint.« 131 So allerdings Bärthlein: Zur Lehre von der ›recta ratio‹ (s. Anm. 42), S. 139; zutreffend dagegen Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 23), S. 386f. 132 Wie etwa das Verhältnis von konstitutivem und regulativem Urteil über die Natur als Inbegriff von (kausalen) Gesetzen einerseits und als System von Zwecken andererseits bei Kant. 133 DL II. 4. 1, Brieskorn 392f. / Pereña III, 47: »Et ut hoc punctum, quod morale est, sine verborum ambiguitate tractetur, suppono sermonem esse de lege aeterna ut est proprie praeceptiva respectu hominum (et idem cum proportione de angelis). Nam prout extenditur ad inferiores creaturas, clarum est non inducere obligationem propriam, sed instinctum vel inclinationem aut impetum naturaliter determinantem ad unum, qui effectus neque ad propriam legem pertinet, neque aliam doctrinam requirit praeter philosophicam.« 134 Vgl. Francisco T. Baciero Ruiz: Francisco Suárez como gozne entre la filosofia politica medieval y John Locke. In: El pensamiento politico en la Edad Media. Ed. por Pedro Roche
Gideon Stiening beziehen sich einzig auf Handlungen freier Wesen, und damit auf Gott (allerdings nur als Gesetzgeber, nicht als Adressat),135 die Engel und den Menschen. Die Regeln oder Ordnungsmuster der unfreien Natur sind logisch und ontologisch von solchen Gesetzen freien Handelns unterschieden.136 Diese Ausdifferenzierung legt die oben schon angedeutete terminologische Unterscheidung zwischen dem Naturgesetz der theoretischen Vernunft und dem natürlichen Gesetz der praktischen Vernunft nahe,137 die zu den Leistungen des 17. Jahrhunderts zählt und in der terminologischen Umsetzung der systematischen Differenzierung zwischen Natur und Freiheit zu den Bedingungen der neuzeitlichen Wissenschaftsrevolution zu zählen ist. Suárez gelingt diese Distinktion nicht etwa aufgrund voluntaristischer Interessen, d.h. theologischer Prämissen, sondern aufgrund eines genuin neuen Begriffs der Freiheit, den er in den Disputationes metaphysicae entwickelt hatte: Ich sage also erstens, dass es sowohl aus natürlichen Gründen als auch aus der Erfahrung der Dinge evident ist, dass der Mensch viele seiner Handlungen nicht aus Notwendigkeit, sondern aus einem eigenen Willen und aus Freiheit begeht.138
Ausdrücklich verbindet Suárez diese Willens- und Handlungsfreiheit139 einschließende Bestimmung mit dem Begriff der Spontaneität; im Kontext der zent Arnas. Madrid 2010, pp. 263–274; vgl. dagegen die Darstellungen, die Suárez vermehrt der Vormoderne zuschlagen, mehr noch: die rechtsphilosophische Neuzeit allein mit dem protestantischen Naturrecht beginnen sehen: Rainer Specht: Art. Naturrecht III: Mittelalter und frühe Neuzeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel 1984, Sp. 571–582; Anton Hügli: Art. Naturrecht IV: Neuzeit, 1–4. In: ebd., Sp. 582–594. 135 Vgl. hierzu Thomas Marschler: Verbindungen zwischen Gesetzestraktat und Gotteslehre bei Francisco Suárez im Begriff der lex arterna. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 27–52. 136 So auch Norbert Brieskorn: Lex Aeterna. Zu Francisco Suárez’ Tractatus de legibus ac Deo legislatore. In: : Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 49–73. 137 Vgl. Lorraine Daston, Michael Stolleis (Ed.): Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy. Aldershot 2008. 138 Francisco Suárez: Disputationes metaphysicae. 2 vol. Paris: Vives 1866 [ND Hildeheim 2009, im Folgenden DM], hier DM XIX, 2. 12: »Dico ergo primo, evidens esse naturali ratione et ipso rerum experimento hominem in multis actibus suis non ferri ex necessitate, sed ex voluntate sua et libertate.« 139 Dass Suárez Willens- und Handlungsfreiheit klar zu unterscheiden wusste (und sie daher hier bewußt vermittelt), zeigt Christian Schäfer: ›Freedom‹ oder ›Liberty‹? Der freie Mensch in der (spät)scholastischen Deutung von De anima. In: Politische Metaphysik. Die Entstehung
Lex naturalis est prima participatio legis aeternae
ralen theologischen Frage nach dem Verhältnis von Gnade, Providenz und Prädestination einerseits und dem freien Willen des Menschen andererseits hält er fest: »Es ist evident, daß wir durch unseren Willen veranlaßte Handlungen spontan und nicht genötigt ausführen.«140 Diese Befähigung zur Spontaneität wird einerseits mit dem Begriff der Indifferenz verbunden, mithin der Freiheit als Willkür, die sich auch darauf erstreckt, zu handeln oder zu unterlassen. Andererseits ist die Spontaneität des freien Willens aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Geist des Menschen in der Lage, sich freie Zwecke zu setzen, die vom Verstand vorgegeben werden; ausdrücklich spricht Suárez von einer »causa libera«.141 Nur weil der Mensch frei ist bzw. eine facultas libera besitzt,142 kann er böse, aber eben auch gut handeln, welches letztere zu erkennen ihm seine Intelligenz ermöglicht. Der Grund für diese Befähigung des Menschen wird sodann in der Teilhabe seines Geistes am göttlichen Geist und dessen Willen und damit – über das Medium der lex naturalis – der lex aeterna festgelegt.143 Aufgrund der – selbst für die lex aeterna geltenden – Trennung von Freiheit und Notwendigkeit, Spontaneität versus Zwang, ist jedoch evident, dass Suárez tatsächlich zwei Gesetzesbegriffe entwerfen muß: Die strikte Disjunktion erfordert einen Begriff, der die kausaldeterminierten Prozesse der Natur enthält, und einen weiteren, der wirkmächtige Anordnungen für die zur freien Willkür fähigen Willen und Handlungen der Menschen enthalten muß. Es bedarf mithin eines theoretischen und eines praktischen, eines deskriptiven und eines normativen Begriff des Gesetzes, und zwar aufgrund der spezifisch philosophischen Definition der Freiheit in ihrer strikten Unterscheidung von dem der natürlichen Notwendigkeit.144 Tatsächlich sind es also begriffliche und sytematische Distinktionsleistungen der Metaphysik, die Suárez in der Rechtslehre zu den
moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Scholastik. Hg. von Matthias Kaufmann u. Robert Schnepf. Frankfurt u.a. 2007, S. 85–105, spez. S. 90ff. 140 DM XIX. 2. 12: »[C]um sit evidentissimum nos quae voluntate agimus, non coacte, sed spontanee agere.« 141 DM XIX. 9. 1. 142 DM XIX. 2. 18; zu diesen vermögenspsychologischen Dimension der Freiheitstheorie des Suárez vgl. auch Thomas U. Mullaney: Suarez on Human Freedom. Baltimore 1950. 143 So auch Sebastián Contreras: La ratio legis en la teología de Suárez y Santo Tomás. In: Teología y vida 53.4 (2012), pp. 503–519. 144 Zu der genuin neuzeitlichen Entwicklung vgl. auch Michael Hampe: Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Frankfurt a. M. 2008, S. 51ff.
Gideon Stiening oben zitierten Unterscheidungen eines theoretischen und eines praktischen Gesetzebegriffes nötigen.145 Zugleich bindet er diesen Begriff freier Zwecksetzung als Spontaneität durch das Theorem der lex aeterna in einen theonomen Rahmen ein,146 der eine relative Autonomie einer reinen praktischen Metaphysik zu berücksichtigen hat. Während allerdings die nachfolgenden Naturrechtstheorien bis ins späte 18. Jahrhundert derartige Überlegungen zu den allgemeinen Prinzipien einer reinen praktischen Vernunft aufgrund der Fundierung ihres Rechts- und Gesetzesverständnisses in einer Anthropologie unerörtert ließen (und lassen konnten),147 wird Immanuel Kant eine tatsächlich säkulare Modifikation dieser philosophia practica universalis liefern;148 erst der kategorischen Imperativ schließt an den Gehalt und die Funktion einer lex aeterna als allgemeiner Normativität überhaupt an, ohne sich allerdings noch mit den skizzierten Problemlagen eines Gottesbegriffes beschweren zu müssen.
145 Vgl. erneut DL I. 1. 2ff., Brieskorn 22f. / Pereña I, 12ff. 146 Siehe hierzu auch Rainer Sprecht: Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehre. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 39–60. 147 Siehe herzu u.a. Gideon Stiening: Von der ›Natur des Menschen‹ zur ›Metaphysik der Sitten‹. Zum Verhältnis von Anthropologie und Sittenlehre bei Kant und in den Rechtslehren des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Das Verhältnis von Recht und Moral in Kants praktischer Philosophie. Hg. von Günter Kruck, Bernd Dörflinger u. Dieter Hüning. Hildesheim 2017, [i.D.]. 148 Siehe hierzu Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. VI, S. 221–228.
Simon Eultgen
Warum ist das natürliche Gesetz verbindlich? Suárezʼ gescheiterter Versuch einer via media
1 Einführende Bemerkungen In seinem frühen Dialog Eutyphron formuliert Platon gewissermaßen die Gretchenfrage der Rechtsphilosophie: Ist das Gerechte bloß deshalb gerecht, weil es Gott so gefällt, oder gefällt es Gott, weil es unabhängig von ihm natürlich gerecht ist?1 Aus dieser Fragestellung lassen sich in verallgemeinerter Form die fundamentalen und komplementären Rechtspositionen, das Naturrecht und der Rechtspositivismus als Quellen des Rechts herauslesen. Während der Rechtspositivismus die Verbindlichkeit der Gesetze und den Wert ihrer Vorschriften auf die Autorität und den gebietenden Willen eines Gesetzgebers – aber strenggenommen eines menschlichen und nicht eines göttlichen – stützt, erscheint das Naturrecht als natürliches Gesetz konträr dazu als eine existierende Ordnung ewig gültiger moralischer Gerechtigkeitsnormen, die jeder staatlichen Gesetzgebung vorausgehen und ihr als Grundlage dienen können. Die Natur als Quelle derartiger Normen ist dabei ein besonders ambiger Begriff, der z.B. auf die Ordnung und Wesensnatur der Dinge, die göttliche Schöpfungsordnung oder die Beschaffenheit des Menschen (wie z.B. seine Vernunftbegabung) verweisen kann. Auch für diese Normen stellt sich im Besonderen die Frage, aus welchem Grund sie verbindlich sein sollen: Sind die gebotenen Handlungen des natürlichen Gesetzes etwa in sich moralisch gut und daher zu tun oder entspringt ihre Gutheit doch allein einer höheren, befehlenden Rechtsinstanz? In seinem Tractatus de Legibus ac Deo legislatore beantwortet Francisco Suárez diese Frage nicht als ein ›Entweder-Oder‹, sondern als ein ›Sowohl-Als-Auch‹, indem er für die Begründung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes eine Synthese
|| 1 Vgl. Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 1990, S. 23. Zu den einführenden Gedanken über Naturrecht und Rechtspositivismus vgl. die Überblicksdarstellungen bei Dominik Recknagel: Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spaltung. Parallelen zwischen den Rechtslehren von Francisco Suárez und Hugo Grotius. Frankfurt a. M. u.a. 2010, S. 21f. u. Matthias Kaufmann: Rechtsphilosophie. Freiburg, München 1996, S. 25–31, S. 138–141.
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der beiden konkurrierenden Rechtspositionen geltend macht.2 Ein Gesetz ist für Suárez allgemein ein moralisches, formal und inhaltlich gerechtes, dauerhaft gültiges und hinreichend promulgiertes Gebot oder Verbot, mit dem ein höherstehender, die Rechtsgewalt innehabender Gesetzgeber die Gemeinschaft aus vernunftbegabten und zu freien Handlungen fähigen Untergebenen zum Ausführen oder Unterlassen einer sittlichen Handlung um des Gemeinwohls willen verpflichtet.3 Das hierbei zentrale Merkmal von Gesetzen ist ihre Verbindlichkeit bzw. Verpflichtung4 für die Normadressaten im Gegensatz zur Unverbindlichkeit bloßer Ratschläge. Jedes Gesetz ist nicht nur ein Akt der urteilenden Vernunft, die Einsicht in die moralische Qualität einer Handlung, sondern notwendig auch ein Akt des Willens, der Befehl zur Befolgung des Gesetzes als einer sittlichen Verpflichtung.5 Die Verpflichtung kann zum einen darin bestehen, überhaupt eine Handlung auszuführen, wie z.B. Almosen zu verteilen, oder zum anderen eine Handlung, sofern sie ausgeführt wird, auf eine bestimmte Art und Weise zu tun, z.B. mit Andacht zu beten.6 Das Gesetz zwingt also, auch durch Androhung von Strafe, zur Unterwerfung.7 Die Macht, überhaupt eine sittliche Verpflichtung mittels Gesetz auferlegen und durchsetzen zu können, setzt dabei
|| 2 Vgl. auch Dominik Recknagel: Der Begriff des Naturgesetzes zwischen Intellektualismus und Voluntarismus und die via media bei Francisco Suárez. In: Das Gesetz – The Law – La Loi. Hg. von Andreas Speer u. Guy Guldentops. Berlin, Boston 2014, S. 509–524, hier S. 509. 3 Vgl. auch die um Vollständigkeit bemühten Definitionen von Manfred Walther: Facultas moralis. Die Destruktion der Leges-Hierarchie und die Ausarbeitung des Begriffs des subjektiven Rechts durch Suárez. Ein Versuch. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther et al. Stuttgart 2008, S. 135–159, hier S. 141f. u. Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 33. Suárez formuliert selbst nur eine stark verkürzte Fassung, vgl. DL I. 12. 5, Brieskorn 271, Pereña II, 70. Diese Definition soll nach Suárez nicht nur das allgemeine Wesen des Gesetzes erfassen, sondern auch das notwendige Fundament bilden, »was sämtliche Gesetze gemeinsam haben« (DL I. Prooemium, Brieskorn 25, Pereña I, 9: »quae omnibus legibus fuerint communia«). 4 Die Begriffe Verbindlichkeit und Verpflichtung stehen im Folgenden synonym für den lateinischen obligatio-Begriff (vgl. Gideon Stiening: Suprema potestas […] obligandi – Der Verbindlichkeitsbegriff in Francisco Suárezʼ Tractatus de Legibus. In: Kontroversen um das Recht. Hg. von Kirstin Bunge et al. Stuttgart, Bad Cannstatt 2013, S. 341–367, hier S. 341, Anm. 2. Eine genauere Differenzierung in Geltungs- und Befolgungsgrund ist erst mit der Betrachtung des suárezischen Synthesewegs vonnöten (vgl. Kap. 3.3, S. 15ff.). 5 Vgl. DL I. 4. 7, Brieskorn 86, Pereña I, 70; Arwed Klug: Die Rechts- und Staatslehre des Franciscus Suárez. Eine rechtsphilosophische Untersuchung. Regensburg, München 1958, S. 16. Zum voluntaristischen Moment des Gesetzes vgl. Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 29f. 6 Vgl. DL I. 1. 8, Brieskorn 33, Pereña I, 16. 7 Vgl. DL I. 14. 4, Brieskorn 270, Pereña II, 83.
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eine hierarchische Beziehung von höherstehendem Gesetzgeber zu untergebenem Adressaten voraus, in welcher dem Gesetzgeber sowohl die Gewalt über als auch die Sorge für die Gemeinschaft zukommen muss.8 Die vorliegende Studie widmet sich im Folgenden dem Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes in Suárezʼ De Legibus. Um ein hinreichendes Verständnis des natürlichen Gesetzes innerhalb der Gesetzeslehre von Suárez zu gewährleisten, ist das natürliche Gesetz zunächst in die theologisch fundierte Gesetzeshierarchie einzuordnen und innerhalb dieser mit seinen Vorschriften sowie seinem Regelungsgegenstand weiter zu bestimmen. Danach werden die zwei gegensätzlichen Begründungspositionen zur Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes allgemein und einzeln vorgestellt. Zur Darstellung der immanenten Verbindlichkeit wird ein kurzer, wichtiger Rückgriff auf die aristotelischstoische Tradition bemüht, der die Wurzeln und wichtige Implikationen zum zugrundeliegenden Weltbild aufzeigen soll. Die Theorie der transzendenten Verbindlichkeit wird mit Bezug auf den Begründer Duns Scotus und ihrem entschiedensten Vertreter Wilhelm von Ockham erläutert. Die abschließende Analyse soll darlegen, warum Suárez beide Verbindlichkeitspositionen starkmacht und inwiefern seine versuchte Synthese dieser gegensätzlichen Theorien nur eine Scheinlösung in der Debatte um die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes darstellt.
2 Das natürliche Sittengesetz 2.1 Einordnung und Bestimmung in der Legeshierarchie Suárez verweist bereits im Titel seiner Schrift auf das theologische Fundament seiner Gesetzeslehre: Wenn Gott neben anderen Rollen und Aufgaben auch die Rolle des obersten Gesetzgebers zukommt,9 ist »die Autorität aller Gesetze letztlich auf Gott zu gründen«10 und all jene sind daher Gegenstand der Theologie.
|| 8 Vgl. DL I. 12. 4, Brieskorn 254, Pereña II, 69; Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 29 u. Reijo Wilenius: The Social and Political Theory of Francisco Suárez. Helsinki 1963, S. 40. 9 Vgl. Norbert Brieskorn: Kurzkommentierung der Abhandlung. In: Francisco Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Übers., hg. u. mit einem Anh. versehen von Norbert Brieskorn. Freiburg u.a. 2002, S. 659–792, hier S. 662. 10 DL I. Prooemium, Brieskorn 17, Pereña I, 3: »omniumque legum auctoritatem in eum [scil. deus] esse ultimo refundendam.«
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Gesetze leiten den Untergebenen, der auf Gott als Zielursache und Garant seiner Glückseligkeit ausgerichtet ist, dazu an, das ewige Seelenheil durch gute Taten und das Unterlassen von Sünden zu erlangen.11 Die Menschen als Geschöpfe sind hierbei grundsätzlich ihrem Schöpfer unterworfen, »der sie [als Wirkursache] durch Befehl bzw. Gesetz lenken soll«12. Gott ist somit auf Grundlage des in ihm existierenden Gesetzes zugleich »das Woher und Wohin der Gesetze«13: Alle anderen irdischen Gesetze sind der übernatürlich-göttlichen (Gesetzes-)Ordnung und Vorsehung unterstellt, haben ihren Ursprung im Gesetz Gottes und beziehen über ihre Teilhabe an diesem auch ihre Verpflichtungskraft.14 Infolgedessen bedürfen sie auch der Prüfung durch den Theologen »auf ihre Würdigkeit und Richtigkeit gemäß der übergeordneten Regeln«15. Die hiermit eröffnete binäre Legeshierarchie, die Unterordnung aller unter das göttliche Gesetz, bedarf für den Bereich der irdischen Gesetze noch einer genaueren Differenzierung, um Stellung und Beschaffenheit des natürlichen Gesetzes zu erfassen.16 Suárez trennt das Gesetz Gottes vom irdischen Gesetz über die erste Unterteilung in ewig-ungeschaffenes und zeitlich-geschaffenes Gesetz.17 Das ewige Gesetz kann in Anlehnung an Platon allgemein als die im Geist Gottes existierende und das Universum lenkende Vernunft oder Vorsehung verstanden werden und speziell »als der in Gott wirkende Bestimmungsgrund ebendieser Vorsehung
|| 11 Vgl. DL I. Prooemium, Brieskorn 18, Pereña I, 4; Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 33f. 12 DL I. 3.3., Brieskorn 56, Pereña I, 38: »a quo per imperium seu legem regatur.« 13 Brieskorn: Kurzkommentierung (s. Anm. 9), S. 659. 14 Vgl. DL I. 3. 17, Brieskorn 73, Pereña I, 54; DL II. 4. 4; Brieskorn 394, Pereña I, 54 u. III, 49; Bernd Franke, Martin Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez. In: Rechtstheorie 41 (2010), S. 87–108, hier S. 93 u. Friedo Ricken: Unveränderlichkeit und Wandelbarkeit des natürlichen Sittengesetzes nach Francisco Suárez. In: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu. Hg. von Michael Sievernich u. Günter Switek. Freiburg u.a. 1991, S. 340–353, hier S. 341f. 15 DL I. Prooemium, Brieskorn 21, Pereña I, 6: »de earum honestate ac rectitudine per altiores regulas.« 16 Suárez folgt bei seiner Einteilung dem Grundsatz, nur so viele Gesetze (und Verpflichtungen) aufzustellen, wie für den Menschen unbedingt nötig sind, ohne ihn zu über- oder unterfordern (vgl. Brieskorn: Kurzkommentierung [s. Anm. 9], S. 674f.). Eine praktische Übersicht zur Einteilung der Gesetze findet sich bei Wilenius: Theory (s. Anm. 8), S. 56. 17 Vgl. DL I. 3. 6, Brieskorn 60, Pereña I, 41. Nur Gott und das ewige Gesetz sind in ihrer Existenz absolut notwendig. Die auf die Schöpfung bezogenen irdischen Gesetze sind hingegen relativ notwendig, insofern sie Mittel zum Ziel der Verbesserung der Existenz der Geschöpfe sind (vgl. DL I. 3. 1f., Brieskorn 54, Pereña I, 37; Gerald Hartung: Die politische Theologie des Franciscus Suárez. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Spätscholastik. In: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Hg. von Manfred Walther. Baden-Baden 2004, S. 113–125, hier S. 116f.).
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oder ein einzelner Aspekt von ihr«18. Es ist absolut und unbedingt, d.h. selbst nicht wieder auf ein Ziel ausgerichtet, da Gott das Endziel ist. Insofern kommt ihm stattdessen die Funktion der Ordnung und Ausrichtung »alle[r] anderen Dinge [des Universums] auf die ihnen angemessenen Ziele durch geeignete Mittel«19 zu. Die zweite Unterscheidung trennt die zeitlichen Gesetze in natürliche und positive. Positive Gesetze werden von einem mit Zwangsgewalt ausgestatteten Gesetzgeber in einem nach außen gerichteten Akt erlassen und damit den Adressaten »durch einen von außen her kommenden Ursprung auferlegt«.20 Diese Gesetze, die immer für Menschen erlassen werden, sind mit Blick auf den Gesetzgeber weiter zu differenzieren: Positiv göttlich sind die ›geoffenbarten‹ Gesetze des Alten und Neuen Testaments, z.B. der Dekalog; positiv menschlich sind die Gesetze des weltlichen Staats und die kirchlich-kanonischen Gesetze.21 Es ist ein zentrales Merkmal positiver Gesetze, dass Handlungen erst durch sie sittlich notwendig und verpflichtend werden, ohne dass es bereits »die innere Natur des Gegenstandes«22 erfordern würde. Somit ist das positive Gesetz das durch den äußerlichen Akt der Gesetzgebung gesetzte Recht, das dem natürlichen Gesetz hinzugefügt wird.23 Das rein natürliche Gesetz24 ist hingegen nicht in einem nach außen gerichteten Akt erlassen worden, sondern allen Menschen von Natur aus eingepflanzt. Diese einhellige Auffassung der Theologen gründet sich auf die Aussage des || 18 DL I. 3. 6, Brieskorn 59, Pereña I, 41: »quam ratio huius providentiae in Deo existens vel aliquid eius«. Die Bezeichnung ›ewig‹ ist ›göttlich‹ vorzuziehen, da letzteres sowohl das ungeschaffene Gesetz in Gott als auch das positive, von Gott an die Menschen erlassene Gesetz bezeichnen kann (vgl. DL I. 3. 6, Brieskorn 58f., Pereña I, 40). 19 DL I. 3. 6, Brieskorn 59, Pereña I, 41: »omnia alia ad suos fines per convenientia media«. Das ewige Gesetz als Gesetz ist hochproblematisch: Der Gesetzgebungsakt, die Promulgation und die Adressatenbezogenheit setzen Akte Gottes in der Zeit und die Schöpfung voraus (vgl. Walther: Facultas Moralis [s. Anm. 3], S. 140–143). Suárezʼ aufwendiger Erklärungsversuch zu Beginn des zweiten Buches stützt sich u.a. auf die Teilhabe aller irdischen Gesetze am ewigen Gesetz, da durch jene die Inhalte des ewigen Gesetzes vermittelt werden und so mittelbar normativ wirken. Vgl. hierzu auch Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 35–38 u. Franke, Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez (s. Anm. 14), S. 91f. 20 DL I. 3. 13, Brieskorn 68, Pereña I, 49: »ab aliquo principio extrinseco habente.« 21 Vgl. DL I. 3. 15f., Brieskorn 71f., Pereña I, 52f.; DL I. 3. 20, Brieskorn 76ff., Pereña I, 58–61. 22 DL II. 7. 6, Brieskorn 462, Pereña III, 117: »intrinseca natura materiae.« 23 Vgl. DL I. 3. 13, Brieskorn 68, Pereña I, 49. 24 Suárez unterscheidet das hier diskutierte rein natürliche von einem übernatürlichen Gesetz, da dem Menschen eine zweifache Natur, die reine Natur der Vernunft und die des Glaubens sowie der Gnade innewohnt (vgl. DL I. 3. 11, Brieskorn 66f., Pereña I, 47). Das übernatürliche Gesetz ist jedoch primär von theologischer Bedeutung und hier besser zu vernachlässigen, um den Blick für das rein natürliche Gesetz zu schärfen.
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Paulus im Brief an die Römer: »Die Heidenvölker, die das Gesetz nicht kennen, tun von Natur aus das, wozu das Gesetz verpflichtet«.25 Wenn das natürliche Gesetz also »gleichsam eine Eigenschaft der [menschlichen] Natur«26 ist und uneingeschränkt jeden Handelnden »im Gewissen verpflichtet«,27 so geht es folglich auch jedem positiven Gesetz voraus. Es wurde zwar unmittelbar von Gott erlassen und von ihm in die Natur des Menschen, d.h. konkret bei Suárez in die natürliche Vernunft hineingelegt, aber es ist letztlich nicht positiv göttlich, da es durch diese Natur vermittelt und aus ihr gleichsam wie ihr Eigentum geschöpft wird.28 Diese Vermittlungsfunktion der Natur ist insofern grundlegend, als das natürliche Gesetz »nichts anderes als eine gewisse natürliche Teilhabe am ewigen Gesetz ist«.29 Diese Teilhabe bedeutet konkret: Das natürliche Gesetz ist wesentlich die Fähigkeit des Menschen, mittels der von Gott verliehenen Vernunft sittlich Gutes von sittlich Bösem unterscheiden und damit zugleich das von Gott Gewollte und Abgelehnte erkennen zu können.30 Mit Blick auf die Natur des Menschen ist es so auch als indikatives Urteil der sittlichen Vernunft darüber zu verstehen, welche Handlungen der Natur gemäß, d.h. der natürlichen Vernunft und deren Normen angemessen oder unangemessen sind.31 Als Gesetz gebietet es danach jedes Gute und verbietet jedes Böse, denn es bewertet
|| 25 DL I. 3. 7, Brieskorn 60f., Pereña I, 42: »Gentes quae legem non habent, naturaliter ea quae legis sunt, faciunt.« 26 DL I. 3. 9, Brieskorn 64, Pereña I, 45: »proprietas quaedam naturae.« 27 DL II. 9. 2, Brieskorn 482, Pereña III, 137: »obligare in conscientia.« 28 Vgl. DL I. 3. 9, Brieskorn 64, Pereña I, 45; DL I. 3. 11, Brieskorn 67, Pereña I, 47f. 29 DL II. 5. 10, Brieskorn 415, Pereña III, 68: »non est nisi quaedam participatio naturalis aeternae legis.« 30 DL I. 3. 9, Brieskorn 64, Pereña I, 45; DL II. 6. 8, Brieskorn 433 Pereña III, 89; Klug: Rechtsund Staatslehre (s. Anm. 5), S. 42, S. 46f. Das ewige Gesetz und so der dahinterstehende gebietende Wille Gottes äußern sich also im Menschen als natürliches Gesetz, als moralisches Urteil der Vernunft. 31 Vgl. Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 45 u. Martin Schmeisser: Lex aeterna und lex naturalis. Francisco Suárez und Thomas von Aquin im Vergleich. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárezʼ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart, Bad Cannstatt 2013, S. 73–95, hier S. 93. An dieser Stelle ist die Unterscheidung von vernünftiger Natur (natura rationalis), die nach Thomas die natürlichen Neigungen des Menschen (Wahrheitserkenntnis, Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Leben in Gemeinschaft) umfasst (vgl. Ricken: Unveränderlichkeit [s. Anm. 14], S. 343), und natürlicher Vernunft (ratio naturalis) relevant. Denn erstere vermag für Suárez weder zu gebieten noch zu verpflichten. Nur die natürliche Vernunft kann mittels Normen moralische Handlungen beurteilen und vorschreiben. Gemäß der Natur zu handeln bedeutet daher für Suárez, wie oben dargestellt, die Moralgebote der Vernunft (≙ natürliches Gesetz) zu befolgen (vgl. Schmeisser: Lex aeterna und lex naturalis [s. Anm. 31], S. 80f., S. 92f.).
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die jeweiligen Handlungen als an sich gut oder schlecht. Während die Handlungen positiver Gesetze erst deshalb gut oder schlecht sind, weil sie geboten oder verboten werden, d.h. erst konkret vom Menschen durch Gesetzgebungsakte als gut oder schlecht gesetzt und damit verbindlich gemacht werden, so gebietet und verbietet das natürliche Gesetz Handlungen deshalb, weil sie an bzw. in sich gut oder schlecht sind, wie z.B. Mord.32 Insofern bildet das natürliche Gesetz als grundsätzliche Befähigung zur Einsicht in die sittliche Qualität von Handlungen eine essentielle Grundlage für den Menschen als moralische und rechtliche Person überhaupt. Denn es vermag nicht nur auf sein Verhalten als Rechtsperson in der Gemeinschaft, sondern vor allem auf seine innere moralische Einstellung präskribierend einzuwirken.33 Nimmt der Mensch den Inhalt eines positiven Gesetzes hingegen als schlichtweg durch Rechtssetzung befohlen wahr, so erscheint dieses Gebot eher zufällig und willkürlich als rein zwangsrechtliche, statt moralisch fundierte Verpflichtung.34
|| 32 Vgl. DL II. 7. 6, Brieskorn 462, Pereña III, 116; Brieskorn: Kurzkommentierung (s. Anm. 9), S. 678; Luis Legaz y Lacambra: Die Rechtsphilosophie des Franciscus Suárez. In: Zeitschrift für öffentliches Recht (1969), S. 273–317, hier S. 301; Heinrich Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez. Mönchengladbach 1926, S. 70. 33 Vgl. DL I. 3. 15, Brieskorn 70f., Pereña I, 51. Suárez trennt zwar nicht Recht und Moral, stattdessen aber natürliches und positives Gesetz. Jenes zielt stärker darauf ab, den Menschen im Innern moralisch gut zu machen, dieses eher auf das Wohl der Menschen in der Gemeinschaft (vgl. Legaz y Lacambra: Die Rechtsphilosophie des Franciscus Suárez [s. Anm. 32], S. 276ff. u. Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez [s. Anm. 32], S. 54). Eine klare Unterscheidung von Legalität und Moralität und damit vom guten Bürger und guten Menschen begründet Kant in der Metaphysik der Sitten, vgl. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werkausgabe in zwölf Bänden. Bd. 8. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977, S. 315–326, bes. S. 318, S. 324. 34 Natürliches und positives Gesetz können auch unisono eine Verpflichtung auferlegen, so dass ersteres die Wirksamkeit von letzterem befördert (vgl. DL II. 7. 13, Brieskorn 471, Pereña III, 124). Für den Menschen als Sinnen- und Vernunftwesen genügt das natürliche Gesetz allein aber nicht. Als von Natur aus gemeinschaftsfähiges Wesen verlangt er nach »dem politischverfassten Leben und dem Kontakt mit anderen« (DL I. 3. 19, Brieskorn 75, Pereña I, 57: »vitam civilem et communicationem cum aliis hominibus«). Positive Gesetze sind daher notwendig, um den im Staat lebenden Menschen dazu anzuleiten, nicht nur sein eigenes Wohl zu verfolgen, sondern auch das Wohl der Gemeinschaft zu befördern (vgl. DL I. 3. 19, Brieskorn 75f., Pereña I, 57). Des Weiteren sind diese aus rein pragmatischen Gründen notwendig, da sie die allgemeinen Normen des natürlichen Gesetzes durch detaillierte Vorschriften für den Umgang in der politischen Gemeinschaft ergänzen (vgl. DL I. 3. 18, Brieskorn 74f., Pereña I, 56).
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2.2 Regelungsgegenstand und Vorschriften Der Regelungsgegenstand des natürlichen Gesetzes ist allgemein »das Gute als das in sich Wertvolle bzw. als das zur Sittlichkeit Notwendige und das jenem entgegengesetzte Böse«35 als das in sich Verwerfliche und zu Unterlassende. Für Suárez gehören erstens nicht nur solche allgemeinen, unmittelbar einsichtigen Prinzipien sittlichen Verhaltens, wie ›das Gute ist zu tun, das Böse ist zu meiden‹ oder die goldene Regel zum natürlichen Gesetz, sondern durchweg alle aus ihnen deduzierbaren Vorschriften, sofern »wir [sie] aber deutlich durch das Licht der Natur erkennen – ob mit oder ohne Hin- und Herüberlegen«.36 Somit fallen zweitens auch spezifischere, auf gute, vernünftige Ziele ausgerichtete Prinzipien, wie Gott zu verehren oder ein maßvolles Leben zu führen und drittens sogar alle weiterführenden Schlussfolgerungen unter das natürliche Gesetz. Letztere sind nicht mehr unmittelbar einsichtig, sondern bedürfen kleinerer und größerer diskursiver Denkleistungen, wodurch sie je nach Vorschrift einer größeren oder kleineren Anzahl von Menschen bekannt sind, so z.B. die Schlechtigkeit von Ehebruch, Diebstahl oder Lügen.37 Suárez beharrt auf dem vage anmutenden Kriterium eines »bestimmten Grad[es] an Einsichtigkeit«,38 der zur Erkenntnis der natürlichen Gutheit der Vorschrift führt. Wenn die abgeleiteten Vorschriften logisch zwingend aus den Prinzipien hervorgehen, kommt auch ihnen sittliche Gutheit und volle Verpflichtungskraft zu.39 Es ist dabei unerlässlich, allgemeine Prinzipien wie Tue Gutes! zu spezifizieren, damit sie das Handeln des Menschen als konkrete gesetzliche Anweisungen anleiten können.40 Die natürlichen Vorschriften dienen der Erhaltung und Vervoll-
|| 35 DL II. 7. 1, Brieskorn 457, Pereña III, 110: »honestum bonum vel malum contrarium.« 36 DL II. 7. 4, Brieskorn 460, Pereña III, 115: »Illa autem quae evidenter cognoscuntur lumine naturae sive cum discursu sive absque illo cognoscantur.« 37 Vgl. DL II. 7. 5, Brieskorn 461, Pereña III, 115f. Das natürliche Gesetz ist auch im Dekalog und Evangelium enthalten (vgl. DL II. 7. 9, Brieskorn 465, Pereña III, 119). Tugendhandlungen sind allerdings nicht per se durch das natürliche Gesetz geboten, sondern können in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation für den Menschen sittlich notwendig werden (vgl. DL II. 7. 12, Brieskorn 469, Pereña III, 122f.). Siehe auch Anm. 40. 38 DL II. 7. 5, Brieskorn 461, Pereña III, 116: »evidentiae gradum certum.« 39 Suárez begreift die allgemeinen und abgeleiteten Vorschriften des natürlichen Gesetzes als ein syllogistisch organisiertes System von ewigen, unabhängigen Wahrheiten (vgl. Ricken: Unveränderlichkeit [s. Anm. 14], S. 348). Siehe auch Anm. 40. 40 Vgl. DL II. 7. 7, Brieskorn 463, Pereña III, 117; Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 52. Das natürliche Gesetz ist grundsätzlich eine unwandelbare Norm, da diese aus der beständigen Natur des Menschen hervorgeht (vgl. Josef Soder: Francisco Suárez und das Völkerrecht. Grundgedanken zu Staat, Recht und internationalen Beziehungen. Frankfurt a. M. 1973,
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kommnung der menschlichen Natur und entsprechen so in ihrem Wesen dem Willen Gottes als Urheber der Natur.41 Somit umfasst also das natürliche Gesetz »die mittels der natürlichen Vernunft erkannten ersten Prinzipien und deren Schlussfolgerungen als von den Umständen unabhängige und notwendige Handlungsnormen«.42 Die Anwendung der Vorschriften auf konkrete Situationen leistet nach Suárez das Gewissen.43 Zuletzt ist noch das begriffliche Verhältnis von natürlichem Gesetz (lex naturalis) und Naturrecht (ius naturae) zu beleuchten. Suárez gebraucht diese Begriffe grundsätzlich synonym und alternierend, da er Recht wesentlich als Gesetz definiert.44 Dennoch ist erkennbar, dass das Naturrecht sich auch als ein besonderer Teil des natürlichen Gesetzes auf die sozialen Verhältnisse der Rechtspersonen in der Gesellschaft bezieht. Diese Spezifizierung folgt dem Recht im subjektiven Sinne als facultas moralis.45 Der Begriff des Naturrechts soll daher hier ausgeklammert werden, um ungewollte Implikationen in diese Richtung auszuschließen. Das hier relevante natürliche Gesetz umfasst die mo|| S. 148). Dennoch muss sie »den vielfältigen und sich verändernden Verhältnissen des menschlichen Lebens gerecht« (Ricken: Unveränderlichkeit [s. Anm. 14], S. 350) werden können, sodass also zumindest der konkrete Regelungsgegenstand, d.h. die jeweilige Handlung veränderbar sein muss. Das Einhalten eines Versprechens kann z.B. nicht immer sittlich verpflichtend sein, da es unter Umständen zu größerem Schaden führen kann, als es zu brechen (vgl. ebd.). 41 Vgl. DL II. 7.7, Brieskorn 463f., Pereña III, 117f. 42 Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 55. 43 Vgl. Franke, Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez (s. Anm. 14), S. 102 u. Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 47. »Das Gewissen ist […] das Tun der Vernunft […] und zeigt die verpflichtende Tätigkeit des Gesetzes auf« (DL II. 5. 10, Brieskorn 414, Pereña III, 67f.: »Est autem conscientia opus rationis, ut constat, et illa praebet testimonium et ostendit opus legis scriptum in cordibus hominum«). Die weitere Einteilung der Vorschriften in strikte Gebote und Verbote (ius naturale praeceptivum) einerseits und Erlaubnisse (ius naturale permissivum) andererseits würde an dieser Stelle zu weit führen, vgl. hierzu Soder: Francisco Suárez und das Völkerrecht (s. Anm. 40), S. 150–153. 44 Vgl. Franke, Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez (s. Anm. 14), S. 93. 45 Vgl. Legaz y Lacambra: Die Rechtsphilosophie des Franciscus Suárez (s. Anm. 32), S. 306ff. u. Erik Åkerlund: Suárezʼs Ideas on Natural Law in the Light of His Philosophical Anthropology and Moral Psychology. In: The Nature of Rights: Moral and Political Aspects of Rights in Late Medieval and Early Modern Philosophy. Ed. by Virpi Mäkinen. Helsinki 2010, S. 165–196, S. 190ff. Eine konkrete Begründung des sozialen Naturrechts leistet dann Pufendorf mit dem Prinzip der Sozialität: Die Normen des Naturrechts werden zur Bedingung der Möglichkeit eines sittlichen und friedlichen Zusammenlebens (vgl. Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez [s. Anm. 32], S. 75). Vgl. zu Pufendorfs Naturrechtskonzeption auch Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1958, S. 42f.
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ralischen Gebote der Vernunft und lässt sich daher auch als natürliches Sittengesetz bezeichnen.46
3 Der Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes 3.1 Immanente Verbindlichkeit: Intellektualismus Warum das natürliche Gesetz bzw. dessen Normen für den Menschen verbindlich sind, darauf geben in der Philosophiegeschichte zwei gegensätzliche Theorien eine Antwort, was ab dem 13. Jahrhundert zu intensiven und kontroversen Diskussionen unter den scholastischen Denkern führt.47 Die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes entspringt dabei zunächst der fundamentalen, theologischen Frage, ob der Vernunft (Intellektualismus) oder dem Willen (Voluntarismus) in Gott der Primat als nobilior potestas zukommt.48 Überträgt man die etwas unscharfen Begriffe Intellektualismus und Voluntarismus auch auf die Debatte um das natürliche Gesetz, so bilden sie die beiden widerstreitenden Verbindlichkeitspositionen ab, die im Folgenden erst einzeln und dann im Versuch der Vereinigung bei Suárez vorgestellt werden.49 Die erste Begründungsposition geht davon aus, dass »der [sittliche] Wert oder
|| 46 Vgl. beispielhaft die verschiedenen Bezeichnungen bei Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 42. 47 Vgl. Tilmann Altwicker: Gesetz und Verpflichtung in Suárezʼ De Legibus. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther et al. Stuttgart 2008, S. 125–133, hier S. 125. Inhaltlich konkurrieren der von Thomas vertretene Intellektualismus bzw. Idealismus als ein metaphysischer Rechtsobjektivismus und Ockhams nominalistischer Voluntarismus als ein metaphysischer Rechtspositivismus (vgl. Klug: Rechts- und Staatslehre [s. Anm. 5], S. 8). 48 Zu den Streitpunkten um die nobilior potestas vgl. Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (s. Anm. 45), S. 35. Intellektualismus und Voluntarismus stehen auch besonders im Zeichen der grundlegenden Rechtsfrage, ob das Gesetz ein Akt der Vernunft oder des Willen ist. Der von Suárez vertretene Mittelweg, dass beide Vermögen beteiligt sind, aber die Verpflichtung letztlich nur dem Willen eines Gesetzgebers entspringen kann, zeichnet schon den Argumentationsweg für den besonderen Fall des natürlichen Gesetzes vor. 49 Die folgende Darstellung der Prinzipien der Verbindlichkeit bezieht sich in ihren Grundfesten maßgeblich auf Julius Ebbinghaus: Die Idee des Rechts. In: Gesammelte Aufsätze. Vorträge und Reden. Hg. von Julius Ebbinghaus. Hildesheim 1968, S. 274–331, bes. S. 288–291.
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Unwert einer Handlung von der inneren Natur dieser Handlung abhängt«.50 Nach dieser Auffassung kommt den gebotenen und verbotenen Handlungen des natürlichen Gesetzes eine immanente Verbindlichkeit zu: Sie sind – vor jeder positiven Rechtssetzung durch den Willen eines Gesetzgebers – an sich bzw. ihrem natürlichen unveränderlichen Wesen nach gut oder schlecht, deshalb aus sich selbst heraus verbindlich und notwendigerweise vom natürlichen Gesetz geboten oder verboten.51 Diese Position folgt somit der allgemeinen Lehre von der ›Perseitas‹ als »die Lehre des von Gott unabhängig, an sich bestehenden Guten«.52 In diesem Kontext ist insofern auch von Intellektualismus zu sprechen, als dieser Begriff die Vernunft als dasjenige Vermögen beschreibt, das grundsätzlich ewige Vernunftwahrheiten, d.h. allgemein das reine an sich seiende Wesen der Dinge und spezifisch auch die Gutheit oder Schlechtigkeit von Handlungen erkennen kann.53 Die Theorie der immanenten Bindung des Menschen an das natürliche Gesetz erwächst aus einer aristotelisch-stoischen Tradition54 und damit einem bestimmten Selbst- und Weltverständnis des Menschen, das jener Theorie implizit zugrunde liegt. Der Mensch ist nach der EntelechieLehre des Aristoteles wie alle anderen Wesen auf ein Ziel ausgerichtet, mit dessen Erreichung erst seine wahre Natur (im teleologischen Sinne) verwirklicht ist.55 Die Entwicklung zu einem der Natur gemäßen Menschen erfolgt grundsätzlich durch ein Leben unter Leitung der Vernunft, die als sittliches Vermögen »die Einsicht in das [ermöglicht], was im Einzelfall des praktischen Handelns wertvoll [also gut oder schlecht] ist«.56 Im Besonderen leitet die Vernunft den Menschen, der seinem Wesen nach ein zoon politikon, d.h. ein staatenbildendes Lebewesen ist, dazu an, in einer politischen Gemeinschaft zu leben, wo er sich mittels der Vernunft über gut und böse, gerecht und ungerecht mit anderen
|| 50 Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 44. 51 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 137. 52 Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (s. Anm. 45), S. 35f. 53 Vgl. Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez (s. Anm. 32), S. 71 u. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 49. 54 Vgl. Ebbinghaus: Die Idee des Rechts (s. Anm. 49), S. 288. In dieser Tradition steht auch die Frage der Antike nach dem Ort der Ideen und somit auch der Idee des Guten: Platon vertritt hierbei die Transzendenz (Überweltlichkeit) der Ideen, Aristoteles propagiert hingegen deren Immanenz (Innerweltlichkeit) (vgl. Alfred Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau. Wien 1963, S. 40). 55 Vgl. hierzu das Kapitel »Entelechie« bei Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie (s. Anm. 54), S. 40ff. 56 Johann Sauter: Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Geschichte der Rechts- und Staatslehre. Frankfurt a. M. 1966, S. 33.
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verständigen kann und so sein Menschsein im Staat völlig realisiert.57 Die Welt und die Wesen in ihr sind nach Aristoteles also zweckhaft organisiert und der Mensch ist als Teil dieser Ordnung ebenso naturgeleitet. Mit der Öffnung des Blicks von der verwirklichten Menschennatur im Staat hin zum Menschen im Kosmos (als großem Staat) formt sich dann in der stoischen Tradition das Weltbild, dass der Kosmos »einem obersten Gesetz gehorcht, nämlich dem logos, der die Natur durchwaltet und für eine […] zweckmäßige Einrichtung der Dinge sorgt, indem er vorgibt, welche Akte zu tun oder zu unterlassen sind«.58 Die Menschen, die mit und über ihre Vernunft am logos als ewigem natürlichem Weltgesetz partizipieren, sind somit in ihrer Motivation zu handeln den Bedingungen, d.h. Eigenschaften und Verhältnissen (in) der Natur und ihrer Ordnung unterstellt.59 Als Teil dieses vernünftigen Kosmosʼ und der Naturordnung bedürfen sie keiner gesonderten, von außen auferlegten Verpflichtung: Gut und böse werden als die natürlichen Werte von Handlungen (Wertrealismus) mit dieser Ordnung (vor)gegeben und durch die Vernunft einsehbar gemacht, sodass der menschliche Wille hiernach einem immanenten Prinzip der Verbindlichkeit unterliegt.60 Moralische Handlungen scheinen daher nach antiker Lehre eher einer Art determinierendem Naturtrieb zu entspringen, der auf die Erfüllung des Naturzwecks, die Übereinstimmung des Menschen mit seiner vernünftigen Natur, ausgerichtet ist.61 Denn der Mensch wird im Sinne eines ›So-HandelnMüssens‹ an und durch die vorgegebene Naturordnung gebunden, wodurch die
|| 57 Vgl. Kaufmann: Rechtsphilosophie (s. Anm. 1), S. 64f. u. Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie (s. Anm. 54), S. 43, Anm. 2. Die Bezugnahme auf Aristoteles und die Idee des zoon politikon wird von Suárez deutlich angemerkt, vgl. DL I. 3. 19, Brieskorn 75, Pereña I, 57. 58 Schmeisser: Lex aeterna und lex naturalis (s. Anm. 31), S. 84. Die Idee des logosʼ als ewigem natürlichem Weltgesetz knüpft an den teleologischen Naturbegriff an, insofern die Dinge des Kosmos so zweckmäßig organisiert sind, dass sie die natürlichen Bedürfnisse des Menschen befriedigen können (vgl. Ebbinghaus: Die Idee des Rechts [s. Anm. 49], S. 276). 59 Vgl. Ebbinghaus: Die Idee des Rechts (s. Anm. 49), S. 288. Insofern unter der Natur von Dingen und Handlungen deren reines, ewiges Wesen zu verstehen ist, lässt sich nach Franke, Jäckel (Die Rechtsethik des Francisco Suárez [s. Anm. 14], S. 94) allgemein auch von Idealismus und nach Welzel (Naturrecht und materiale Gerechtigkeit [s. Anm. 1], S. 23) von einer »ideelle[n] Naturrechtslehre« sprechen. 60 Vgl. Ebbinghaus: Die Idee des Rechts (s. Anm. 49), S. 288. Suárezʼ Zeitgenosse Vásquez vertritt dahingehend einen radikalen Wertobjektivismus: Handlungen sind als unveränderliche Wesenheiten unabhängig sowohl von einem gebietenden Willen als auch dem Vernunfturteil für sich gut oder schlecht (vgl. Legaz y Lacambra: Die Rechtsphilosophie des Franciscus Suárez [s. Anm. 32], S. 296f.). 61 Vgl. Heinrich Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts. München 1947, S. 29. Vgl. weiterführend die oikeiosis-Lehre der Stoa bei Kaufmann: Rechtsphilosophie (s. Anm. 1), S. 43.
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Möglichkeit einer frei bestimmten Selbst-Bindung des Willens fragwürdig erscheint. Den Weg in die Scholastik findet diese Lehre dann über Augustinusʼ Transformation des aristotelisch-stoischen Weltbildes in die christliche Weltordnung, indem die unpersönliche Weltvernunft als ein monistischer Pantheismus durch einen personalen, transzendenten Schöpfergott ersetzt wird, der die Welt als höchstes Vernunftwesen mit dem ewigen Gesetz als überweltlichem Recht leitet und ordnet, ohne ihm selbst zu unterstehen.62 Ein an die christliche Glaubenslehre angepasster Intellektualismus wird dann entschieden von Thomas von Aquin vertreten.63 In Abgrenzung zum Voluntarismus lässt sich die Lehre eines immanent verbindlichen natürlichen Gesetzes insgesamt beschreiben als die Folge der theologischen oder anthropologischen Lehre von dem Vorzug des Intellekts vor dem Willen (Gesetz ist Vernunft), von der Erkennbarkeit der Wesenheit der Dinge und ihrer wesensmäßigen Ordnung, ihres metaphysischen Seins- und des werthierarchischen Kosmos.64
3.2 Transzendente Verbindlichkeit: Voluntarismus Zur Darstellung der transzendenten Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes im Sinne des Voluntarismus ist zu Beginn auf Platons Ideenlehre zu rekurrieren.65 Denn insofern die Ideen über- oder außerweltliche Entitäten sind, geht auch »das Gute als der mögliche Endzweck des menschlichen Willens über die Natur«66 hinaus. Für die christlichen Denker ist der Ort des Guten dann notwendi-
|| 62 Vgl. Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie (s. Anm. 54), S. 63; Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez (s. Anm. 32), S. 57; ders.: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (s. Anm. 61), S. 41f. An dieser Stelle muss Cicero zumindest erwähnt werden, der die stoische Lehre u.a. in seinem Werk De Legibus weiterführt: Die rechte, göttliche Vernunft, die dem Menschen als Teil der Natur innewohnt, ist der Ursprung des Rechts, denn sie gebietet und verbietet Handlungen. Vgl. Klaus Martin Girardet: Die Ordnung der Welt. Ein Beitrag zur philosophischen und politischen Interpretation von Ciceros Schrift De legibus. Wiesbaden 1983, S. 55f. u. exemplarisch Marcus Tullius Cicero: De Legibus. Paradoxa Stoicorum/Über die Gesetze. Stoische Paradoxien. Lateinisch und deutsch. Hg., übers. u. erl. von Rainer Nickel. München, Zürich 2004, I, 15, § 42 u. I, 6, § 18. 63 Vgl. hierzu weiterführend Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 1), S. 45 u. Sauter: Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts (s. Anm. 56), S. 70–83. 64 Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (s. Anm. 61), S. 45. 65 Zu Platons Ideenlehre im Kontext des Naturrechts vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 21–28. 66 Ebbinghaus: Die Idee des Rechts (s. Anm. 49), S. 288.
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gerweise nicht mehr in einer unpersönlichen Ideenwelt, sondern in Gott zu finden.67 Der Voluntarismus, den Duns Scotus als Gegenposition zur thomistischen Lehre des Intellektualismus begründet, bestimmt nun statt der Vernunft den göttlichen Willen zur obersten Entscheidungsinstanz über Gut und Böse:68 Demnach sind Handlungen deshalb gut oder schlecht, weil sie von Gott gewollt und geboten oder abgelehnt und verboten werden – und nicht etwa, weil sie der (Vernunft-)Natur Gottes oder des Menschen entsprechen.69 Während Scotus noch einen gemäßigten Voluntarismus vertritt, in welchem unbeschränkte Willkürhandlungen Gottes durch die Bindung seines Willens an seine Güte (als einzig Gutes an sich) ausgeschlossen werden, postuliert Wilhelm von Ockham einen radikalen Moral- und Rechtspositivismus: Der Wille Gottes ist vollständig losgelöst vom Urteil und den Vorgaben der Vernunft, sodass gut und böse »keine unveränderlich feststehenden sittlichen Werte [in der Welt als einer Seinsund Werteordnung sind], sondern […] durch den willkürlichen Willen Gottes bestimmt«70 werden. Insofern sich die moralische Qualität einer Handlung also einzig und allein an der Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen bemisst, kann sich das sittlich Gute beliebig mit jedem Beschluss Gottes ändern bzw. immer wieder neu festgelegt werden.71 Der göttliche Wille wird somit zum alleinigen »Schöpfer der moralisch-rechtlichen Normen erhoben«72, der ohne Rücksicht auf die Vernunft und sogar entgegen deren Vorgaben wirken kann. Ockham stützt sich hierbei zum einen auf den Nominalismus, der die Existenz objektiver Allgemeinbegriffe (Universalien) verneint und damit im Bereich des Rechts sittliche Normen allein auf Konventionen gründet,73 und zum anderen auf die Vorstellung der potentia absoluta, kraft derer Gott als unbedingtes Wesen alles erschaffen und wollen kann, sofern es nicht in sich widersprüchlich ist.74 Dieser theologische Voluntarismus postuliert in der Frage nach der Ver|| 67 Vgl. ebd. Mit der christlichen Vorstellung vom Jenseits als ewigem Ziel geht zudem ein Transzendieren der antiken, innerweltlichen Zweckordnungen (Polis/Kosmos) einher (vgl. Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts [s. Anm. 61], S. 39). 68 Vgl. die Überblickskapitel zu Scotus und Ockham bei Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), 4–8. 69 Vgl. Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (s. Anm. 61), S. 59. 70 Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 6. 71 Vgl. Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (s. Anm. 61), S. 60. 72 Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie (s. Anm. 54), S. 85. 73 Vgl. Norbert Brieskorn: Francisco Suárez und sein Gesetzesbegriff im Kontext. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther et al. Stuttgart 2008, S. 105–123, hier S. 108. 74 Die potentia ordinata beschreibt dagegen die Macht Gottes unter Gesetzen, mit der er aus allen möglichen Seins- und Werteordnungen exakt diese erschaffen hat. Vgl. ebd., S. 110 u.
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bindlichkeit des natürlichen Gesetzes also ein dem menschlichen Willen transzendentes Prinzip, nämlich die bedingungslose Unterwerfung des Menschen unter den gebietenden Willen Gottes, der Vorschriften novellieren oder völlig ändern kann.75 Je nach Folgsamkeit hat der Mensch Strafen von Gott als oberstem Richter zu befürchten. Die Verbindlichkeit besteht insofern konkret in der Androhung göttlicher Strafe.
3.3 Suárezʼ Mittelweg: der Versuch einer Synthese Ockhams radikale Auslegung des Voluntarismus, der die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes und den Wert von dessen Vorschriften allein auf den Willen Gottes gründet, führt in der Folge zu einer antinominalistischen Gegenbewegung, die in Anknüpfung an den Intellektualismus eine »vom göttlichen Willen unabhängige vernünftige Natur der Dinge« und so eine »objektive Ordnung der Werte«76 betont. Zu dieser Bewegung sind u.a. Ockhams Zeitgenosse Gregor von Rimini und die Spätscholastiker Vitoria, Molina und Vásquez zu zählen,77 mit denen sich Suárez in seiner Lehre des natürlichen Gesetzes namentlich auseinandersetzt. Sein widersprüchlich anmutender Versuch, die beiden gegensätzlichen Verbindlichkeitspositionen für das natürliche Gesetz geltend zu machen und versöhnend zu vereinen, erhält vor diesem konfliktreichen Hintergrund in der scholastischen Tradition besondere Bedeutung als ein noch unbeschrittener Mittelweg (via media).78 Suárez muss nun bei seiner Begründung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes auch zwei allgemeinen Ansprüchen gerecht werden: Das natürliche Gesetz ist ein echtes Gesetz, d.h. ihm kommt verpflichtende Wirkung durch den gebietenden Willen eines höher-
|| Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (s. Anm. 61), S. 60. Für Rommen (ebd.) kann Gott im Sinne Ockhams alles, selbst den Gotteshass gebieten; nach Kaufmann (Rechtsphilosophie [s. Anm. 1], S. 54) ist er dem Widerspruchsgesetz verpflichtet und mit der absoluten Liebe gleichzusetzen, sodass er nie etwas Böses will. Als vollkommenes Wesen kann er ohnehin nicht in Gegensatz zu seiner recta ratio geraten. 75 Vgl. Ebbinghaus: Die Idee des Rechts (s. Anm. 49), S. 288f. u. Kaufmann: Rechtsphilosophie (s. Anm. 1), S. 53. 76 Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 8. 77 Vgl. ebd. 78 Vgl. DL II. 6. 5, Brieskorn 427, Pereña III, 84. Vgl. zum Innovationsgehalt dieses Mittelwegs auch die These Recknagels (Der Begriff des Naturgesetzes [s. Anm. 2], bes. S. 519–524) bzw. meine Ausführungen in Anm. 108.
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stehenden Gesetzgebers zu.79 Zweitens ist es echtes göttliches Gesetz, d.h. es steht in enger Beziehung zum ewigen Gesetz und dem göttlichen Regelungswillen. Gemeinsam ist beiden Ansprüchen also, dass sie Gott als unmittelbar beteiligte Instanz notwendig einbeziehen.80 Ausgangspunkt für Suárezʼ »Syntheseversuch der beiden Extrempositionen«81 ist zunächst die Begründung der immanenten Verbindlichkeit: Einerseits widerspricht er seinem Zeitgenossen Vásquez darin, dass es nicht der vernünftigen Natur an sich, sondern nur der natürlichen Vernunft als »eine[r] ihr innewohnende[n] Urteilskraft zukommt«,82 sittlich Gutes und Böses zu unterscheiden und dem Menschen Vorschriften zu geben.83 Andererseits haben moralische Handlungen grundsätzlich auch für ihn »ihre eigene innere Natur und ein unveränderbares Wesen [d.i. innere Gutheit oder Schlechtigkeit], welche sich keinem äußeren Grund oder Willensbeschluss verdanken«.84 Das natürliche Gesetz wäre allein nach dieser Auffassung also »ein Gesetz, welches [durch das Urteil der Vernunft] anzeige, was zu tun oder zu meiden sei und was von seiner Natur her in sich gut und notwendig oder in sich schlecht sei«.85 Der Urteilsakt des Verstandes, der dazu dient, den Menschen »gemäß der Natur richtig zu lenken«,86 geht jedem Willensakt, ob menschlich oder göttlich, voraus und bewirkt
|| 79 Vgl. Altwicker: Gesetz und Verpflichtung (s. Anm. 47), S. 131 u. Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 485. 80 Vgl. DL II. 6. 13, Brieskorn 440, Pereña III, 95. 81 Altwicker: Gesetz und Verpflichtung (s. Anm. 47), S. 126. 82 Schmeisser: Lex aeterna und lex naturalis (s. Anm. 31), S. 80. 83 Vgl. DL II. 5. 9, Brieskorn 413, Pereña III, 66; Franke, Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez (s. Anm. 14), S. 94, siehe auch Anm. 31. Bestünde das natürliche Gesetz darin, moralische Handlungen mit der eigenen vernünftigen Natur als alleinigem Maßstab in Übereinstimmung zu bringen, so unterläge jedes Lebewesen einschließlich Gott dieser Bindung an das eigene Wesen als das ihm eigene Gesetz. Gott wäre Schöpfer dieser Natur, aber nicht unmittelbar gebietender Gesetzgeber (vgl. DL II. 5. 7, Brieskorn 411f., Pereña III, 64f.). 84 Dl II. 5. 2, Brieskorn 407, Pereña III, 60f.: »actus morales habent suas intrinsecas naturas et essentias immutabiles, quae non pendent a causa vel voluntate extrinseca magis quam aliae rerum essentiae«. Suárez verweist hierbei auf seine Metaphysik in den Disputationes metaphysicae, nach welcher »die Natur der jeweiligen Dinge in Bezug auf das Sein ihres Wesens unveränderlich ist« (DL II. 6. 11, Brieskorn 438, Pereña III, 94: »quod naturae rerum quoad esse essentiae sunt immutabiles«). 85 DL II. 6. 3, Brieskorn 425, Pereña III, 79: »sed esse legem indicantem quid agendum vel cavendum sit, quid natura sua intrinsece bonum ac necessarium vel intrinsece malum sit.« 86 DL II. 5. 12, Brieskorn 418, Pereña III, 71: »Sed hoc tribuendum est rectae rationi in homine ut secundum naturam recte gubernetur.«
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davon unabhängig eine immanente Bindung des menschlichen Willens.87 Eine rein immanente Verbindlichkeit kann für Suárez allerdings – abgesehen von den allgemeinen Erfordernissen des Gesetzesbegriffs – nicht annehmbar sein, da durch die alleinige »Verankerung der lex naturalis in der zur Autonomie tendierenden sittlichen Vernunft«88 die Auflösung des hierarchischen Bindungs- und Ordnungsverhältnisses von ewigem Gesetz und natürlichem Gesetz droht. Eine solche für Suárez unvertretbare Säkularisierung hin zu einem rationalistischen natürlichen Gesetz, das im Grunde in Vásquezʼ radikalem Wertobjektivismus seinen Anfang hat, enthöbe Gott folglich seiner Funktion als obersten Gesetzgeber.89 Gott wäre zwar Baumeister der Welt auf Vorgabe seiner Vernunft, aber sodann – wie im deistischen Bild des Uhrmachers90 – gewissermaßen abwesend und überflüssig.91 Das natürliche Gesetz wäre also unabhängig von Gott durch die von ihm geschaffene unveränderliche sittliche Weltordnung wirksam und würde demnach nur auf ihn als Urheber dieser Ordnung, nicht auf ihn als gebietenden Gesetzgeber verweisen.92 Die für einen christlichen Denker bestehende Notwendigkeit, die Beziehung Gottes, im Besonderen als oberster Gesetzgeber, zu seiner Schöpfung zu begründen, ergibt sich allgemein auch aus der Umdeutung der aristotelisch-stoischen Tradition, des pantheistischen logos zu einem personalen, transzendenten Wesen. Die mit dieser Tradi-
|| 87 Das natürliche Gesetz besteht für Suárez strenggenommen »im aktuellen, tatsächlichen Urteil des Bewusstseins« (DL II. 5. 13, Brieskorn 419, Pereña III, 72: »et non dubito quin in actuali iudicio mentis propriissime existat lex naturalis«). Im weiten Sinne ist allerdings auch der Verstand an sich als die grundsätzliche Befähigung, über die moralische Qualität von Handlungen urteilen zu können, das natürliche Gesetz (vgl. ebd.). 88 Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 49. 89 Vgl. ebd. In diesem Sinne vertreten Gregor von Rimini und später auch Hugo Grotius die keineswegs atheistisch motivierte, sondern gegen die Radikalität der Nominalisten gerichtete Ansicht, dass Handlungen, auch wenn es keinen gebietenden Gott gäbe (etiamsi daremus non esse Deum), dennoch durch ihre innere unveränderliche Natur sittlich gut oder verwerflich wären (vgl. DL II. 6. 3, Brieskorn 425, Pereña III, 80f. u. Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts [s. Anm. 61], S. 65). 90 Die Vorstellung von Gott als Uhrmacher findet sich bei Newton und Leibniz. Leibniz versteht die Welt als eine von Gott geschaffene, aber autonome Weltuhr, die keiner Eingriffe mehr bedarf, wohingegen Newtons Gott – so Leibnizʼ Kritik – sein Werk gelegentlich instand setzen muss (vgl. Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 135ff.). 91 Vgl. Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (s. Anm. 45), S. 35. Nach Rommen (Die ewige Wiederkehr des Naturrechts [s. Anm. 61], S. 65) entspricht daher »[d]em rationalistischen Naturrecht […] der Deismus in der Gotteslehre«. 92 Vgl. DL II. 6. 2, Brieskorn 424, Pereña III, 79; Ricken: Unveränderlichkeit (s. Anm. 14), S. 345 u. Brieskorn: Kurzkommentierung (s. Anm. 9), S. 756.
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tion transportierte Immanenz-Theorie kann aber mit Suárezʼ Lehre nicht vereinbar sein, insofern moralische Handlungen rein unter Vorgabe der Naturordnung, also eher im Zuge einer naturorganisierten und triebgeleiteten SelbstVerpflichtung erfolgen. Diese Auffassung unterläuft zum einen das Bild des gesetzesfähigen und -bedürftigen Menschen, der sich in seinem Handeln vernunftgeleitet und frei von naturnotwendigen Abläufen für gut oder böse entscheiden kann, und zum anderen vor allem ein Wirken des göttlichen Willens im natürlichen Gesetz. Auf der anderen Seite ist auch eine rein transzendentvoluntaristische Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes für Suárez ungenügend: Dem Menschen könnte durch einen bedingungslos waltenden göttlichen Willen als heteronomer Imperativ nicht einsichtig werden, warum Gott dieses oder jenes geböte.93 Die Absage an die intrinsische Werthaftigkeit von Handlungen und damit letztlich auch an unveränderliche und verlässliche Normen führt zu einem regelrechten sittlichen Nihilismus,94 der für das menschliche Handeln eine bloß blinde, unreflektierbare Unterwerfung unter den göttlichen Willen aus Angst vor Strafe bedeutet. So würde auch die Betätigung des freien menschlichen Willens nach Maßgabe der natürlich-sittlichen und eben von Gott verliehenen Vernunft entwertet. Das für Suárezʼ Theorie entscheidende Verbindungsstück, mit dem er die Synthese der beiden Prinzipien der Verbindlichkeit zu erklären versucht, liegt nun in der Unterscheidung von Geltungsgrund und Befolgungsgrund bzw. principium cognoscitivum und principium obligationis.95 Der Geltungsgrund von gesetzlichen Normen bezieht sich auf die Frage, warum diese überhaupt gelten, d.h. verbindlich sind. Dass sie gelten, bedeutet grundsätzlich nicht bloß, dass sie existieren, sondern dass mit ihrer Existenz auch ein Sollen besteht: Man soll
|| 93 Vgl. Dieter Hüning: Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff. In: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer. Hg. von Eva Graul u. Gerhard Wolff. Berlin 2002, S. 525–544, hier S. 533. 94 Vgl. Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez (s. Anm. 32), S. 72. 95 Vgl. zu dieser Unterscheidung Hans Kelsen: Vom Geltungsgrund des Rechts. In: Völkerrecht und rechtliches Weltbild. Festschrift für Alfred Verdross. Hg. von Friedrich August v. d. Heydte et al. Wien 1960, S. 157–165, hier bes. S. 157f., das Kapitel »Imperative, Regel und Normen« bei Ursula Wolf: Das Problem des moralischen Sollens. Berlin, New York 1984, bes. S. 14, S. 18 sowie Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez (s. Anm. 32), S. 68. Kant unterscheidet entsprechend das principium dijudicationis als Richtschnur vom principium executionis als Triebfeder moralischer Handlungen (vgl. Konstantin Pollock: Kant und Habermas über das principium executionis moralischer Handlungen. In: Moralische Motivation. Kant und die Alternativen. Hg. von Dieter Schönecker et al. Hamburg 2006, S. 193–230, hier S. 202, Anm. 19). Dass Suárez sich dieser Unterscheidung in der Tat bewusst ist, bekräftigt auch Stiening (Suprema potestas [s. Anm. 4], S. 342ff.).
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sich so verhalten, wie die Normen es vorschreiben.96 Demnach entspringt die Verbindlichkeit der Normen des natürlichen Gesetzes der intrinsischen moralischen Qualität der Handlungen. Der das Gute und Böse erkennende Verstand als das principium cognoscitivum kann nach Suárez aber nur als ein lex indicans97 fungieren, d.h. die moralische Qualität der Handlung und die Verpflichtung, die aufzuerlegen ist, lediglich anzeigen, ohne durch sich selbst oder über die Teilhabe an der göttlichen Vernunft zu verpflichten.98 Denn Verstandesurteile können auch »von einem Gleich- oder sogar Untergeordneten stammen, der gar keine Vollmacht hat, jemanden zu verpflichten«99. Ihre Missachtung stellt daher keinen Gesetzesbruch dar. Die theoretische Vernunft kann somit in Suárezʼ Lehre also nicht auch praktisch werden und hinreichend zur Handlung bewegen; das natürliche Gesetz ermangelt so des principium obligationis, das es zum echten verpflichtenden Gesetz macht, da die Verpflichtung einer Person allein Sache des Willens ist, und des damit zusammenhängenden Befolgungsgrunds, d.h. der konkreten Motivation, die tatsächlich zur Ausführung der vom Verstand als gut erkannten Handlungen bewegt und entweder intern im Subjekt gelagert ist oder diesem extern zukommt.100 Demzufolge wird für Suárez die zusätzliche Einbindung des voluntaristischen Prinzips erforderlich, damit das natürliche Gesetz »nicht nur eine Anzeigetafel des Schlechten und Guten [ist], sondern […] auch ein echtes Verbot des Schlechten und ein echtes Gebot des Guten«101 enthält. Dem unmittelbar von Gott erlassenen natürlichen Gesetz liegt
|| 96 Vgl. Kelsen: Vom Geltungsgrund des Rechts (s. Anm. 95), S. 157f. 97 Suárez unterscheidet nach Gregor v. Rimini zwischen einem lex indicans und lex praecipiens. Demnach vermag nur letzteres eine Vorschrift verpflichtend aufzuerlegen (vgl. Ricken: Unveränderlichkeit [s. Anm. 14], S. 345). 98 Vgl. DL II. 6. 6, Brieskorn 429, Pereña III, 86; DL II. 6. 22, Brieskorn 451f., Pereña III, 104f.; Franke, Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez (s. Anm. 14), S. 94. Würde der Mensch sich die Vorschriften seiner Vernunft selbst auferlegen, widerspräche dies dem Gesetzesbegriff (vgl. DL II. 6. 1, Brieskorn 422, Pereña III, 77). Zur Theorie der Autonomie siehe Jäckel: Die Rechtsethik des Francisco Suárez (s. Anm. 14), S. 22f. 99 DL II. 6. 6, Brieskorn 430, Pereña III, 87: »[…] sed potest esse in aequali vel inferiore, qui nullam vim habeat obligandi«. Sonst würde jede Belehrung über gut und böse auch ein Gesetz auferlegen (vgl. Elisabeth Gemmeke: Die Metaphysik des sittlich Guten bei Franz Suárez. Freiburg u.a. 1965, S. 256). 100 Vgl. Wolf: Das Problem des moralischen Sollens (s. Anm. 95), S. 14. Die Frage nach dem principium obligationis des natürlichen Gesetzes geht grundsätzlich einher mit der Frage nach dessen Gesetzescharakter (vgl. Klug: Rechts- und Staatslehre [s. Anm. 5], S. 47f.). 101 DL II. 6. 5, Brieskorn 427, Pereña III, 84: »Lex naturalis non tantum est indicativa mali et boni, sed etiam continet propriam prohibitionem mali et praeceptionem boni«. Vgl. konträr hierzu die These Richard Hares (Die Sprache der Moral. Frankfurt a. M. 1983, S. 205–223), dass
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auch ein göttlicher Willensakt zugrunde: Die Handlungen werden von Gott aufgrund ihrer inneren Qualität geboten oder verboten, wodurch sie für den Menschen verpflichtend werden.102 Die entscheidende Funktion der Vernunft besteht somit darin, den erkannten Inhalt einer Norm auch als einen von Gott gebotenen oder verbotenen Inhalt zu erkennen.103 Wenn sowohl das natürliche Gesetz als auch das göttliche Gesetz der Vorsehung als Regulative grundsätzlich auf die Übereinstimmung mit der Natur der Dinge abzielen, um das Wohl der Lebewesen zu befördern, dann ist auch eine feste, eineindeutige Korrelation zwischen dem Urteilsspruch der Vernunft über die sittliche Natur von Handlungen und dem gleichzeitigen Geboten- oder Verbotensein dieser Handlungen durch Gott als Urheber und Lenker dieser Natur anzunehmen.104 So herrscht auch in Gott, zumal er mit der Idee des Guten zu identifizieren ist und sich selbst nicht widersprechen kann, notwendig immer eine Übereinstimmung zwischen Vernunft und Wille: Erstere erkennt gute und böse Handlungen, letzterer gebietet und verbietet daraufhin diese und belegt sie so mit einer besonderen Verpflichtung.105 Das natürliche Gesetz als echtes, göttliches Gesetz besteht also in der natürlichen Vernunft, welche den Willen Gottes als Urheber der Natur anzeigt, durch den der Mensch verpflichtet ist, zu tun, was ihm seine Vernunft vorschreibt.106 Der Befolgungsgrund muss daher in Gott zu finden bzw. durch ihn gegeben sein: Es ist die zu befürchtende, externe Sanktion Gottes bei Nicht-Befolgung seiner Gebote.107
|| zwischen moralischen Werturteilen und Imperativen eine logische Verbindung besteht. Vgl. auch Recknagel: Der Begriff des Naturgesetzes (s. Anm. 2), S. 519. 102 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 97 u. Legaz y Lacambra: Die Rechtsphilosophie des Franciscus Suárez (s. Anm. 32), S. 298f. 103 Vgl. DL II. 6. 7, Brieskorn 431, Pereña III, 87. Der natürlichen Vernunft kommt also insgesamt eine zentrale Rolle zu als dem »exklusive[n] Zugang für den Menschen zur Erkenntnis von moralischer Qualität und Verbindlichkeit« (Recknagel: Einheit des Denkens [s. Anm. 1], S. 49). 104 Vgl. DL II. 6. 20, Brieskorn 449, Pereña III, 102; DL II. 6. 24, Brieskorn 454f. Pereña III, 107. 105 Vgl. Klug: Rechts- und Staatslehre (s. Anm. 5), S. 48 u. Ricken: Unveränderlichkeit [s. Anm. 14], S. 346f. Suárez bannt durch diese feste Korrelation die Gefahr eines sittlichen Nihilismus und eines möglichen Gewissenskonflikts durch sich widersprechende göttliche und natürliche Gebote. Es entsteht eine zweifache Bedeutung von Gutheit und Schlechtheit bzw. Sünde: Der Verstoß gegen das anzeigende Vernunfturteil ist in moralischer, der Verstoß gegen das Gebot Gottes in theologischer Hinsicht schlecht und Sünde (vgl. DL II. 6. 17ff., Brieskorn 446ff., Pereña III, 100ff.). 106 Vgl. Markus Kremer: Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez (1548–1617). Stuttgart 2008, 86. 107 Vgl. Knud Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophy. From Grotius to the Scottish Enlightenment. Cambridge 1996, S. 23.
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Schließlich führen die obigen Ausführungen nun zu der Frage, wie die von Suárez dargelegte Synthese als Vermittlungsweg zweier gegensätzlicher Rechtspositionen zu bewerten ist:108 Die einschlägige Forschungsliteratur schwankt hier zwischen einer eher positiven und einer eher negativen Bewertung und spricht einerseits von einer durchaus gelungenen Vermittlung beider Rechtspositionen (Stiening) bzw. deren sachlichen Integration, die einen mittleren, aber letztlich doch unzureichenden Kompromiss übersteigt (Böckenförde),109 und andererseits von einem (doch nur) unbefriedigenden Kompromiss (Welzel) bzw. einer Scheinlösung (Ebbinghaus).110 Im Folgenden sollen diese vier Positionen miteinander in Diskussion gebracht werden, wobei die negative Kritik der beiden letztgenannten Positionen in diesem Rahmen als zu schwerwiegend erscheint und daher als ausschlaggebend für die folgende Beurteilung gelten soll. Insofern besteht andererseits aber auch die Notwendigkeit, die Positionen von Böckenförde und Stiening zumindest in starke Zweifel zu setzen. Böckenfördes Beurteilung der Synthese als einer sachlichen Integration fußt auf der (in Anlehnung an Augustinus) proklamierten Einheit von Vernunft und Wille in Gott, welche zwei untrennbar verknüpfte Seiten der göttlichen Natur darstellen.111 Wenn aber erstens Gesetze selbst auch als Handlungen zu verstehen sind, die sich aus drei Komponenten zusammensetzen, nämlich dem willentlich verpflichtenden Gesetzgeber, dem verpflichteten Adressaten und dem verkündenden Ausdrucksmittel, und zweitens die vis obligandi bei Suárez
|| 108 An dieser Stelle sei nachdrücklich auf den Aufsatz von Recknagel (Der Begriff des Naturgesetzes [s. Anm. 2], bes. S. 519–524) verwiesen, der die These vertritt, dass Suárezʼ Idee der via media gar keine innovative Neuerung darstelle, sondern die Annahme einer Einheit von Vernunft und Wille im Gesetz bereits im scholastischen Denken, namentlich bei Vitoria, Vasquez und auch Ockham, verankert gewesen sei. Erst Suárezʼ entschiedene Gegenüberstellung von Intellektualismus und Voluntarismus habe zu der in der Forschung verbreiteten, aber fälschlichen Wahrnehmung eines derart polarisierenden Verhältnisses in der Scholastik geführt. So gesehen erschiene Suárezʼ Vorhaben weniger als eine argumentative Pionierleistung, sondern vielmehr als Versuch einer ausführlichen und letztlich schlüssigen Begründung dieses gängigen Synthesegedankens. Nichtsdestotrotz bleibt hierbei aber die Frage nach der Plausibilität und Schlüssigkeit dieses Erklärungsmodells zur Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes bestehen. 109 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. 2., erw. Aufl. Tübingen 2006, bes. S. 386, S. 395f. u. Stiening: Suprema potestas (s. Anm. 4), bes. S. 363f. 110 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 97f. u. Ebbinghaus: Die Idee des Rechts (s. Anm. 49), S. 289f. 111 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 109), S. 382.
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als subjektive Bindungskraft im Adressaten zu verstehen ist,112 so kann diese Einheit in Gott als dem Gesetzgeber nicht ohne Weiteres auf den Menschen als Gesetzesunterworfenen übertragen werden, um so die Frage nach dem Ursprung der Verbindlichkeit zu beantworten.113 Denn zumindest für die Verbindlichkeitsfrage scheint eine derartige, analoge Einheit im Adressaten nicht gegeben zu sein, da Suárez zwei sich widersprechende Prinzipien zum gemeinsamen Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes im Normadressaten deklariert, was sich formal betrachtet in einer unentschiedenen ›Sowohl-als-auch‹Argumentation niederschlägt, die jeweils zwischen Argumenten für die eine und die andere Seite changiert. Das natürliche Gesetz ist verbindlich, weil die Handlungen ihrer inneren Natur nach gut oder schlecht sind und als solche von der menschlichen Vernunft erkannt werden, aber sie sind zugleich dadurch gut oder schlecht und verbindlich, weil Gott sie gebietet oder verbietet. Die Verbindlichkeitsfrage erfährt so im Kern keine abschließende Klärung. Der von Welzel formulierte Vorwurf des unbefriedigenden Kompromisses zielt daher maßgeblich darauf ab, die Notwendigkeit einer zusätzlichen, transzendenten Verbindlichkeit auf Grundlage der bereits durch die Natur der Dinge angenommenen immanenten Verbindlichkeit in Frage zu stellen. Die mangelnde Motiviertheit dieser letztlich bloß doppelten Verbindlichkeit wird bereits am Primärtext selbst deutlich: Vielmehr geht dieser [göttliche] Wille davon aus, dass schon im Voraus die Handlungen selbst unter der Verpflichtung zur sittlichen Gutheit oder gegen die Schändlichkeit stehen, und knüpft folglich an diese Handlungen die besondere Verpflichtung des göttlichen Gesetzes.114 Das Gewissen bezeugt […], ob der Mensch schlecht oder gut handelt, je nachdem, ob er dem natürlichen Spruch der rechten Vernunft widersteht oder gehorcht; und dementsprechend weist es auf, dass jener Spruch […] mit der Kraft des Gesetzes ausgestattet ist, auch wenn es an einem geschriebenen, von außen her erkennbaren Gesetz mangelt. Also ist dieser Spruch das Naturgesetz.115
|| 112 Beide Aussagen finden sich bei Stiening: Suprema potestas (s. Anm. 4), S. 341, Anm. 2 u. S. 353f. 113 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 109), S. 383. 114 DL II. 6. 11, Brieskorn 437, Pereña III, 92: »Haec Dei voluntas, prohibitio aut praeceptio non est tota ratio bonitatis et malitiae quae est in observatione vel transgressione legis naturalis, sed supponit in ipsis actibus necessariam quamdam honestatem vel turpitudinem et illis adiungit specialem legis divinae obligationem.« 115 DL II. 5. 10, Brieskorn 414f., Pereña III, 67f.: »Est autem conscientia opus rationis, ut constat, et illa praebet testimonium et ostendit opus legis scriptum in cordibus hominum, quia testificatur male aut bene agere hominem, quando resistit vel sequitur dictamen naturale
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Denn das Naturgesetz […] setzt […] in den Handlungen selbst eine diesen zuinnerst mitgegebene Verpflichtung voraus [...]. Diese Verpflichtung ist aber unabtrennbar, […] weil sie in den Gegenständen selbst angelegt ist, vor und unabhängig von jeglichem hinzutretenden Gesetz. Solange diese Gegenstände unverändert bleiben, kann man die Verpflichtung nicht aufheben, weil sie ja gar nicht aus einem von außen hinzutretenden Willensakt stammt und auch keine vom Gegenstand unterschiedene Sache ist.116
Die kursivierten Passagen veranschaulichen, dass auch Gott nach Erschaffung der Welt in seiner Gesetzgebung an die sittliche Werteordnung der Natur gebunden ist. Gut und Böse sind bereits in der Natur gegeben und gehen jeder Setzung durch einen Willen voraus. Diese Ordnung ist also selbstständig wirksam und vermag den Menschen schon allein über die natürliche Vernunft zum Guten zu verpflichten und vom Schlechten abzuhalten.117 Dem göttlichen Willen bleibt daher nur übrig, dem bereits an sich bestehenden Guten eine besondere Verpflichtung beizufügen, die den Normen durch die göttliche Autorität zwar größere Tiefe und Schärfe verleihen mag, aber dennoch als eine bloße Zugabe erscheint.118 Hierin liegt somit die entscheidende Bruchstelle der angestrebten Synthese, die in Suárezʼ Konzeption die Wurzeln zu einem rein anthropologisch fundierten, säkular-rationalistischen natürlichen Gesetz aufscheinen lässt, das auf einer zureichend autonom arbeitenden Vernunft im Menschen aufbaut.119 Dieser nicht unerheblichen Problematik scheint sich auch Böckenförde bewusst zu sein, wenn er von einer »Festigung einer rationalen, von der Natur und sittlichen Vernunft des Menschen her gewonnenen Rechtsbegründung« spricht, die folglich den Weg zu »einer rein vernunftimmanenten und säkularen Bestim-
|| rectae rationis; et consequenter ostendit dictamen illud habere vim legis in homine, etiamsi scriptam exterius legem non habeat. Hoc ergo dictamen est lex naturalis.« 116 DL II. 15. 18, Brieskorn 588f., Pereña IV, 62: »Nam […] lex naturalis […] supponit in ipsis obiectis seu actibus intrinsecum debitum […]. Hoc autem debitum inseparabile est, non quia non sit dispensabile […], sed quia intrinsece supponitur in ipsis rebus ante omnem legem extrinsecam; et ideo, stantibus eisdem rebus, auferri non potest, quia non pendet ex extrinseca voluntate, neque est res aliqua distincta.« 117 Vgl. Wilenius: Theory (s. Anm. 8), S. 59f. 118 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 98 u. Walther: Facultas Moralis (s. Anm. 3), S. 157. Zur Problematik eines unfreien göttlichen Willens durch die Bindung an die Naturordnung vgl. den Interpretationsansatz bei Tattay Szilard: Reason, Will, Freedom: Natural Law and Natural Rights in Later Scholastic Thought. Budapest 2012, S. 106– 110. Online: https://jak.ppke.hu/uploads/articles/12332/file/Tattay%20Szil%C3%A1rd%20%20PhD.pdf [zuletzt aufgerufen am 1.11.2016]. 119 Vgl. Walther: Facultas Moralis (s. Anm. 3), S. 145f.
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mung der Inhalte natürlicher Ordnung«120 freigibt. Denn innerhalb dieses Konzepts wird Gott nun »nur als die causa prima […] in Erscheinung«121 treten. Fernerhin ist die bloße Möglichkeit einer funktionalen Trennung von Anzeigen (durch den Verstand) und Anordnen (durch den Willen), die in Gott als Gesetzgeber und dem Menschen als Adressaten aber wieder in eine harmonischsynthetische Einheit gebracht werden soll, auch aus Sicht der modernen Sprachphilosophie in Frage zu stellen.122 Nach Richard Hare, dessen sprachphilosophisch ausgerichtete Überlegungen in diesem abweichenden Rahmen zumindest mit Vorsicht zu behandeln sind, können moralische Urteile, die sich sprachlich im Sinne eines ›Du sollst X tun‹ ausdrücken, Imperative logisch zur Folge haben.123 Dies gilt, insofern moralische Urteile über Pflichten tatsächlich wertend sind, d.h. wenn der Handelnde erkennt, dass die Zustimmung zu einem Urteil auch die Zustimmung zu einem Imperativ, der sich aus dem Urteil ableiten lässt, notwendig macht. Werturteile sind für Hare also durch die implizierte Zustimmung des Betroffenen, gemäß der Verpflichtung zu handeln, auch handlungsleitend. Dennoch führt diese hier reichlich dargelegte Problematik weder für Böckenförde noch für Stiening,124 der einen allgemeinen, bei Suárez entwickelten Verpflichtungsbegriff weitestgehend reibungslos auf die Naturverbindlichkeitsdebatte überträgt, zum Bruch der Synthese. Suárez befördert diese Entwicklung allerdings indirekt, wodurch seine theologische Begründung des natürlichen Gesetzes über die Teilhabe am ewigen Gesetz entkräftet wird, indem er neben der sittlichen Verpflichtung des göttlichen Willens also auch eine natürliche Verpflichtung der Dinge125 annimmt und sich mit dem bloßen Postulat begnügt, dass schlichtweg mehrere Verpflichtungen möglich sind, also zusätzlich auch eine göttliche.126 Die Einbindung des göttlichen Willens in das natürli-
|| 120 Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 109), S. 396. 121 Ebd. 122 Vgl. Recknagel: Der Begriff des Naturgesetzes (s. Anm. 2), S. 519. 123 Vgl. Hare: Die Sprache der Moral (s. Anm. 101), S. 205–223. 124 Siehe Anm. 109. 125 Vgl. DL II. 9. 4, Brieskorn 485, Pereña III, 139. 126 Vgl. DL II. 6. 12, Brieskorn 440, Pereña III, 95: »Ja, sogar in dem Fall, dass bereits eine Verpflichtung existiert, ist es möglich, eine andere noch dazuzusetzen. […] Also kann auch das natürliche Gesetz als echtes göttliches Gesetz sich noch mit einer zusätzlichen echten sittlichen Verpflichtung versehen.« / »Immo existente una obligatione potest addi alia […]. Ergo etiam potest lex naturalis, ut est vera lex divina, addere obligationem propriam moralem«. Vgl. auch Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophy (s. Anm. 107), S. 23. In der Forschung besteht jedoch kein Konsens darüber, ob der göttliche Wille bei Suárez eine weitere Verpflichtung zu einer immanent bestehenden hinzufügt oder überhaupt erst eine Verpflichtung schafft, vgl. hierzu die Diskussionen bei Terence Irwin: Obligation, rightness, and natural law: Suárez and
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che Gesetz wirkt deshalb in Suárezʼ theologisch fundierter Gesetzeslehre wie ein gezwungenes Aufpfropfen, um zum einen in begrifflicher Hinsicht die Klassifikation als Gesetz zu retten und zum anderen vor allem um den rechtmäßigen Platz Gottes gemäß der Glaubenslehre zu wahren.127 Dass Gott nach Böckenförde als Schöpfer der Natur auch »als auctor und legislator«128 immer beteiligt ist, ist grundsätzlich nicht in Zweifel zu ziehen, aber erscheint letztlich nicht als gänzlich zufriedenstellende Problemlösung der Frage, inwieweit das natürliche Gesetz wirklich genuin ›göttliches‹ Gesetz als auch allgemein ›Gesetz‹ ist, insofern nämlich die von Suárez proklamierte Direktheit bzw. Unmittelbarkeit der Verpflichtung durch Gott ins Wanken gerät.129 Ähnlich gelagert scheint Stienings Beurteilung der via media als durchaus gelungene Vermittlung, bei der die »schöpfungstheologische Fundierung des [allgemeinen] Gesetzesbegriffs«130 herausgestellt wird, die bei der Übertragung auf den Einzelfall des natürlichen Gesetzes zur Folge hat, dass die Verpflichtungskraft neben der vom Verstand rezipierten objektiven Geltung moralischer Urteile einzig und allein deshalb aus der Natur resultiert, weil diese eine von Gott geschaffene ist.131 Auch hier sei die offene Frage, die sicherlich einer weiterführenden Diskussion bedürfte, dahingestellt, ob die mit dem Verstand betrachtete Natur, die letztlich auf Gott als ihren Schöpfer rekurriert, damit eine direkte Verpflichtungswirkung Gottes aufzustellen vermag oder ob nicht stattdessen die göttliche voluntas zur Verpflichtung in eine Dimension der Indirektheit bzw. Mittelbarkeit zurückgesetzt wird, indem vielmehr die Natur zur (natürlich nur) relativ autonomen Autorität erwächst und den zu ihrer Rezeption befähigten Menschen der Folgsamkeit unterwirft. In diesem Fall ist Suárezʼ Konzeption immer noch zweifellos gewinnbringend als antizipierendes Moment einer vernunftimmanenten Begründung des natürlichen Gesetzes in der frühen Neuzeit.
|| some critics. In: Interpreting Suárez. Ed. by Daniel Schwartz. Cambridge 2012, S. 149–153 u. Szilard: Reason, Will, Freedom (s. Anm. 118), S. 102–110. 127 Vgl. Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophy (s. Anm. 107), S. 23. 128 Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 109), S. 383. 129 Ein ähnlich gelagertes Problem besteht auch für die vis obligandi des positiven Gesetzes, insofern dieses von Menschenhand geschaffene dennoch seine unmittelbare Ursache in Gott haben soll. Vgl. Gideon Stiening: Libertas et potestas – Zur Staatstheorie in De legibus. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárezʼ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 195–239, hier S. 222ff. 130 Stiening: Suprema potestas (s. Anm. 4), S. 350. 131 Vgl. ebd., S. 363.
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Folgt man Suárezʼ Argumentationsgang nun andererseits bis zum Ende, so soll die bloße Erkenntnis der theoretischen Vernunft über das zu leistende Gute noch die Verpflichtung durch den göttlichen Willen erforderlich machen. Hierdurch wird nun, so Stiening, »eine substanzielle Rückbindung dieser Rechtslehre an die transzendente Legitimations- und Realisationsmacht Gottes«132 und damit eine erfolgreiche Vermittlung beider Rechtspositionen insgesamt ermöglicht. Gott, der diese Vermittlungskonzeption demzufolge als systematisches Zentrum tragen soll,133 kommt jedoch bei genauerer Betrachtung eine gleichsam pädagogische Funktion zu, insofern er durch Strafdrohung als heteronomer, transzendenter Motivator des menschlichen Willens auftritt. Dann vermag Suárezʼ Konzeption aber, so die berechtigte Kritik Ebbinghausʼ, nur eine Scheinlösung darzustellen: Wenn der Mensch nämlich durch die Vorgaben seiner Vernunft nicht zur Handlung bewegt werden kann, dann stellt die innere sittliche Qualität, das an sich Gute der Handlungen, realiter gar keinen Zweck für den menschlichen Willen dar und ist demnach völlig unerheblich.134 Was bleibt, ist letztlich doch die rein voluntaristische Nötigung des obersten Machthabers, dessen Wirken Suárez durch die Bindung an die natürliche Werthaftigkeit der Dinge verstehbar machen und gewissermaßen entschärfen und zähmen will. Nichtsdestotrotz folgt der Mensch somit keinem moralisch fundierten Grund, sondern allein dieser heteronomen Triebfeder, um Strafe zu meiden und Lust zu befördern. Überspitzt formuliert unterliegt er so der Dressur und Konditionierung durch Gott, weshalb Suárez somit letztlich den »völlig demoralisierende[n] Effekt der Lehre vom göttlichen Willen als dem Grunde der lex naturalis«135 nicht zu überwinden vermag. Dass der Mensch dabei seinem Wesen nach grundsätzlich der heteronomen Kontrolle und Führung bedarf, geht allgemein einher mit der Positivierung von Gesetzen, die zum natürlichen Gesetz hinzutreten, um das Wohl der menschlichen Gemeinschaften zu sichern.136 Das heißt nun aber zusammengefasst: Die auch in der Forschung durchaus häufig zu findende Ansicht von Suárezʼ starker Neigung zum Voluntarismus bzw. einem dominanten voluntaristischen Moment in seiner Rechtslehre137 lässt sich an-
|| 132 Stiening: Suprema potestas (s. Anm. 4), S. 364. 133 Vgl. ebd., S. 346. 134 Vgl. hier und im Folgenden Ebbinghaus: Die Idee des Rechts (s. Anm. 49), S. 289f. 135 Ebd., S. 290. 136 Siehe auch Anm. 34. 137 Vgl. u.a. Stiening: Suprema potestas (s. Anm. 4), S. 359; Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Lex und ius. Hg. von Alexander Fidora et al. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 429–463, hier S. 440f.; Matthias Kaufmann: Francisco Suárez, Abhandlung über die
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hand der gewichtigen Thesen von Ebbinghaus berechtigterweise problematisieren und infolgedessen zu einem ausgewachsenen und letztlich doch ungelösten Konflikt um einen übermächtigen Voluntarismus zuspitzen.
4 Fazit & Ausblick Das natürliche Gesetz ist kein positives Gesetz, sondern wurde von Gott in die Natur des Menschen hineingelegt, um ihn in erster Linie moralisch gut zu machen. Es besteht wesentlich in der natürlichen Vernunft, durch welche allgemein sittlich Gutes und Böses und dementsprechende Handlungen unterschieden werden können. Die moralischen Normen der Vernunft entspringen einem syllogistisch organisierten System aus ewig-gültigen allgemeinen und spezifischen Prinzipien sowie deduzierbaren Vorschriften. Über die Vernunft wird dem Menschen auch der Wille Gottes vermittelt, der in strenger Korrelation zur Natur der Dinge gute Handlungen gebietet und gegenteilige verbietet. Das anzeigende Urteil der Vernunft über die moralische Qualität der Handlung wird so ergänzt durch die göttliche Befehlsgewalt, die zur Ausführung verpflichtet. Die angestrebte Synthese immanenter und transzendenter Verbindlichkeit bleibt letztlich aber sowohl ein unbefriedigender Kompromiss, der Ansätze zu einem rationalistischen natürlichen Gesetz bietet, als auch eine Scheinlösung, da das an sich Gute ohne göttliche Strafdrohung gar keinen Zweck für den menschlichen Willen darstellt. Die grundlegende Auseinandersetzung zwischen den Extrempositionen des Intellektualismus und Voluntarismus setzt sich im 17. und 18. Jahrhundert im Bereich der Ethik, u.a. in den Lehren von Pufendorf und Wolff fort.138 So entspringt die Verbindlichkeit für Pufendorf allein aus der Unterwerfung des Menschen unter den gebietenden Willen Gottes als Schöpfer der Welt. Bei Wolff hingegen wird der menschliche Wille durch die Erkenntnis des natürlich Guten und Bösen und damit durch eine natürliche Verbindlichkeit, die ihren Ursprung im Wesen des Menschen und der Dinge hat, bewegt. Ferner lässt sich mit Verweis auf Kant noch eine dritte Position der Verbindlichkeit, die Autonomie der
|| Gesetze. In: Geschichte des politischen Denkens. Hg. von Manfred Brocker. Frankfurt a. M. 2007, S. 182–198, hier S. 187. 138 Vgl. Sauter: Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts (s. Anm. 56), S. 84. Zur Verbindlichkeit bei Pufendorf und Wolff vgl. Hüning: Gesetz und Verbindlichkeit (s. Anm. 93), S. 528f., S. 535f.
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abstrakten menschlichen Vernunft begründen.139 Autonomie bedeutet bei Kant die Selbst-Gesetzgebung der Vernunft und die dadurch immanente SelbstBindung des Willens, wobei im Gegensatz zur antiken Immanenz-Lehre keine Ausrichtung auf eine teleologische Natur des Menschen erfolgt.140 Mit dieser Auffassung lehnt Kant deutlich eine von außen kommende heteronome Bestimmung des Willens und damit auch den nominalistischen Voluntarismus ab.141 Zudem widerspricht er dem klassischen Vorwurf, eine Selbst-Bindung ließe sich willkürlich auflösen, indem er die moralische Eigen-Verpflichtung als oberstes Prinzip der Sittlichkeit zum Ursprung und zur Bedingung der Möglichkeit äußerer Verbindlichkeiten überhaupt macht.142
|| 139 Inwieweit bereits bei Hobbes und Rousseau Ansätze und Grundlagen einer Autonomie der abstrakten menschlichen Vernunft zu finden sind, wäre Thema einer gesonderten Betrachtung. An dieser Stelle soll genügen, dass die Autonomie erst bei Kant eine präzise begriffliche Darlegung erfährt. 140 Zur Autonomie und Heteronomie des Willens vgl. die gleichnamigen Kapitel der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und §8 Lehrsatz IV in der Kritik der praktischen Vernunft: Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werkausgabe in zwölf Bänden. Bd. 7. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 74ff., S. 144f. 141 Vgl. Sauter: Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts (s. Anm. 56), S. 84, Anm. 5, u. Kremer: Den Frieden verantworten (s. Anm. 106), S. 81. 142 Vgl. Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 1998, S. 198.
Gideon Stiening
Urheber oder Gesetzgeber? Zur Funktion der Gottesinstanz im Naturrecht des Francisco Suárez In omni praecepto iuris naturalis legislator est Deus. (DL II, 14. 8)
Gott und Mensch als Akteure des Naturrechts Das philosophisch-theologische Problem, das mit dem Titel der nachfolgenden Überlegungen umrissen ist, entwickelt Francisco Suárez im Kapitel II. 6. von De legibus ac Deo legislatore, also noch zu Beginn seines Naturrechtstraktats, der in DL II. 5–16 ausgeführt wird. Unmittelbar zuvor (in II. 5.) hatte der Autor das Verhältnis von recta ratio und lex naturalis geklärt, das er durch eine weitgehend praktische Interpretation des Vermögens der ›richtigen Vernunft‹ ganz im Sinne seines systematischen Interesses an einer Trennung von Naturgesetz und natürlichem Gesetz, einer Differenzierung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bestimmte. Im direkten Anschluss an das hier zu betrachtende Kapitel beginnt Suárez ab II. 7 mit den (seit Thomas) klassischen Formen der Bestimmung und Definition einer lex, in diesem Fall der lex naturalis. Im Kapitel II. 6. nun beschäftigt sich Suárez mit der Frage, ob das natürliche Gesetz den Status eines göttlichen Gesetzes habe und nur deshalb einen tatsächlich gebietenden Charakter aufweise. Beginnt folglich der eigentliche Traktat zum Naturrecht ab II. 7. mit den Festlegungen des Regelungsgegenstandes der lex naturalis (gefolgt von den weiteren Ursachen dieses Gesetzes, wie Zweck-, Wirk- und Formursache),1 so leisten die Kapitel II. 5. und II. 6. die erforderliche Voraussetzungsarbeit im Hinblick auf das Verhältnis des Naturrechts zu den konstitutiven Akteuren dieses nomothetischen Handlungsfeldes: Mensch und Gott.
1 Dass Suárez die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre programmatisch in seiner Rechtslehre anwendet, zeigt Robert Schnepf: Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 75–108, hier S. 91ff.
Gideon Stiening Der Antwort auf die Frage der Bedeutung der Gottesinstanz für objektive Geltung, subjektive Verbindlichkeit und materialen Gehalt der natürlichen Gesetzes nähert sich Suárez durch die Darstellung einer Kontroverse, die auf dem Felde des Naturrechts seit dem 13. Jahrhundert ausgetragen wurde, derjenigen nämlich zwischen Intellektualisten und Voluntaristen.2 Sind die ersteren davon überzeugt, dass die Bestimmungen des Naturrechts, zu denen u. a. die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die Goldene Regel, aber auch die Verehrung Gottes, die Ehrung der Eltern und das Lügenverbot gerechnet werden, an ihnen und durch sich selbst Geltung innehaben, ohne dass sie von einer mit freiem Willen ausgestatteten Instanz durchgesetzt werden müssten, so vertritt die zweite Position, die Suárez ausdrücklich mit William von Ockham verbindet, die Annahme, dass »das natürliche Gesetz ausschließlich aus dem göttlichen Gebot oder Verbot« besteht.3 Fehle aber der ersten Position der Nachweis einer normativen Kraft der natürlichen Gesetze, weil diese ohne Bezug auf einen mit Zwangsgewalt ausgestatteten Gesetzgeber keine Verbindlichkeit aufweisen, so gerät die ausschließliche Bindung des Naturrechts an den Willen Gottes in die Gefahr der Beliebigkeit der normativen Gehalte. Suárez nimmt für sich folglich eine via media4 in Anspruch: 2 Siehe hierzu Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 41962, S. 57– 89; Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 22006, S. 274f. sowie der Beitrag von Simon Eultgen im vorliegenden Band. 3 DL II. 6. 4, Brieskorn 425 / Pereňa III, 81: »Secunda sententia, huic extreme contraria, est legem naturalem omnino positam esse in divino imperio vel prohibitione procedente a voluntate Dei […].« 4 Dass es Suárez tatsächlich um eine Vermittlung jener beiden großen Traditionen des Spätmittelalters zu tun war, die in dieser vermittelten Form Lösung für theoretische und ganz politisch-praktische Problemlagen des frühen 17. Jahrhunderts leisten sollten, ist mittlerweile communis opinio der Forschung; vgl. u. a. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 2), S. 379–395; Markus Kremer: Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez (1548–1617). Stuttgart 2008, S. 38ff.; Tilmann Altwicker: Gesetz und Verpflichtung in Suárez’ De Legibus. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 125–133, spez. S. 125f.; Dominik Recknagel: Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spaltung. Parallelen zwischen den Rechtslehren von Francisco Suárez und Hugo Grotius. Frankfurt a. M. u.a. 2010, S. 45ff.; sowie ders.: Der Begriff des Naturgesetzes zwischen Intellektualismus und Voluntarismus und die via media bei Francisco Suárez. In: Das Gesetz – The Law – La Loi. Andreas Speer u. Guy Guldentops. Berlin, Boston 2014, S. 509–524; Recknagels jüngere Darstellung krankt allerdings daran, dass allein die gemeinsame Erwähnung der Willens- und der Verstandesinstanz für die Konstitution von Gesetzen zu einer Vermittlungskonzeption zwischen Intellektualismus und Voluntarismus
Urheber oder Gesetzgeber?
Keine der beiden Ansichten überzeugt mich. Deshalb schlage ich vor, einen mittleren Weg einzuschlagen, von dem ich glaube, dass er die Ansicht des hl. Thomas und das, was Gemeingut der Theologen ist, wiedergibt.5
Diese via media zwischen voluntaristischer und intellektualistischer Naturrechtstradition gestaltet Suárez im Kapitel II. 6. in der folgenden Weise: Schon gleich zu Beginn wird zwischen Gott als Urheber der natürlichen Gesetze (deus ut auctorem) und Gott als Gesetzgeber (deus ut legislatorem) der natürlichen Gesetze unterschieden. Als Urheber fungiert Gott in seiner Rolle als Schöpfer der Welt, der – wie es in DL I entwickelt wird – mit dem Menschen auch die unterschiedlichen Gesetze schuf, und zwar als Regeln für die dem Menschen notwendige Vergemeinschaftung: »Das Gesetz also, über das wir hier sprechen [d.i. das Gesetz überhaupt], ist Menschen aufzuerlegen. Deshalb kann unter dieser Rücksicht jedes Gesetz ein menschliches Gesetz genannt werden […].«6 Erst mit der Schöpfung des Menschen schuf Gott gleichursprünglich das Sein der Gesetze,7 um den frei und vernünftig handelnden Menschen die Erschaffung einer politischen Gemeinschaft zu ermöglichen: Wenn ich vom Gesetz im eigentlichen Sinne als unserem Thema spreche, habe ich noch hinzuzufügen, dass es nur um der vernünftigen Kreatur willen in die Existenz tritt. Denn das Gesetz wird ausschließlich einem Lebewesen auferlegt, das frei handeln kann. Es bezieht sich nur auf frei gesetzte Handlungen.8
Weil die Schöpfung selbst und zumal die der vernünftigen Kreatur ein Akt des freien Willens Gottes ist, kommt ihren Produkten zwar keine absolute Notwendigkeit zu, die einzig Gott zugeschrieben werden kann, der deshalb auch nicht
erklärt wird, so u. a. für Vásquez und für Ockham; auch Thomas hätte hier zitiert werden können, dessen Gesetzesbegriff nicht ohne Willensinstanz auskommt; in der Nacht dieser nur gesetzten Bestimmungen bleiben jedoch alle Katzen grau. Siehe allerdings den Beitrag von Simon Eultgen in diesem Band. 5 DL II. 6. 5, Brieskorn 427 / Pereňa III, 84: »Mihi vero neutra sententia satisfacit, et ideo mediam viam tenendam censeo, quam existimo esse sententiam divi Thomae et communem theologorum.« 6 DL I. 6. 1, Brieskorn 121 / Pereña I, 103: »Lex ergo tractamus hominibus impondenda est, et ideo omnis lex potest dici humana ex hoc capite […].« 7 Vgl. auch die staatstheoretische Argumentation in DL III. 3. 5 u. 6. 8 DL I. 3. 2, Brieskorn 54f. / Pereňa I, 37: »Addo praeterea, loquendo de propria lege de qua nunc agimus, tantum esse posse propter creaturam rationalem; nam lex non imponitur nisi naturae liberae, nec habet pro materia nisi actus liberos […].«
Gideon Stiening durch irgendein Gesetz gebunden ist.9 Das Gesetz aber ist ein »Geschaffenes oder benötiget zweifellos irgendein Geschöpf, dessentwegen es erlassen sein müsste.«10 Gesetze gehören folglich ausschließlich in die Sphäre der zeitlichendlichen Schöpfung, in diese aber mit Notwendigkeit, sobald vernünftige und frei handelnde Kreaturen existieren. Diese schöpfungstheologische Begründung von Gesetzen überhaupt impliziert zugleich notwendig, dass der Mensch auch schon vor dem Sündenfall mit solchen Normen ausgestattet wurde; das Naturrecht (und damit die lex aeterna) gilt nach Suárez also auch im Paradies. Mit dieser Auffassung unterscheidet sich Suárez ebenso von Augustinus wie vom Gros der Naturrechtstheoretiker der Frühen Neuzeit,11 für die nicht nur das verlorene Paradies, sondern auch anzustrebende Utopien als rechtsfreie Räume entworfen wurden.12 ›Recht‹ ist für diese Tradition das Ordnungsinstrument für den in Gemeinschaft lebenden sündigen Menschen.13 Als Urheber ist Gott – um einen zentralen Begriff der theoretischen Philosophie schon Thomasʼ von Aquin14 sowie der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Metaphysik zu wählen15 – causa prima, »erste Ursache«16 der natürlichen Gesetze. Aus dieser Metaphysik und Theologie engführenden Bestimmung ist
9 Vgl. hierzu auch Norbert Brieskorn: Erde ohne Grenzen – Ordnung ohne Hierarchie. Vitorias und Suárez’ Vorstellungen vom Internationalen Recht. In: Kosmopolitismus. Zur Geschichte und Zukunft eines umstrittenen Ideals. Hg. von Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger u. Philipp Schink. Wistweiler 2010, S. 39–58, spez. S. 49: »Suárez verteidigt somit den unmittelbaren Ursprung der politischen Gesellschaft in der Natur und damit Gott.« 10 DL I. 3. 2, Brieskorn 54f. / Pereňa I, 37: »Lex autem omnis vel est aliquid creatum vel certe supponit aliquam creaturam propter quam feratur.« 11 Vgl. hierzu u.a. Gideon Stiening: Politische Theologie als Lösung und Problem. Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore als Krisenphänomen und Befriedungsangebot. In: Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Friedrich Vollhardt. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. 85–113. 12 Siehe hierzu u.a. Oliver Bach: Die utopische Dichtung Thomas Morus’ und Johann Valentin Andreaes und ihre naturrechtlichen Wahrheitsansprüche. In: Scientia Poetica 18 (2014), S. 1– 27. 13 Vgl. hierzu beispielsweise Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet u. kommentiert von Carl Andresen. 2 Bde. München 41977, Bd. 2, S. 557ff. (Buch XIX.13ff.). 14 Siehe hierzu u. a. Wilhelm Metz: Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtsicht des thomasischen Gedankens. Hamburg 1998, S. 80ff. 15 Siehe hierzu insbesondere [Anonymus], Liber der causis. Das Buch von den Ursachen. Hg. v. Rolf Schönberger u. Andreas Schönfeld. Hamburg 2003, S. 4/5ff. 16 So auch DL II. 6. 2, Brieskorn 423 / Pereňa III, 77.
Urheber oder Gesetzgeber?
allerdings nicht – und dies ist das entscheidende Argument – der Begriff Gottes als Gesetzgeber analytisch abzuleiten; ausdrücklich heißt es hierzu: Eine Sache ist es aber, dieses natürliche Gesetz von Gott als erster Ursache, die in ständiger Weise wirkt, ausgehen zu lassen; eine andere Sache ist es, es von Gott als dem gebietenden und verpflichtenden Gesetzgeber herzuleiten.17
Weil für Suárez aber beide Hinsichten gleichwertig sind, und zwar in einer sich gegenseitig einschränken und ergänzenden Weise, indem sie dergestalt vermittelt werden, dass neben ihre Gleichursprünglichkeit ihre gleiche Geltung tritt, kommt den natürlichen Gesetzen, die von den Naturgesetzen der vernunftlosen Lebewesen substanziell unterschieden bleiben,18 eine theoretische und eine praktische Existenz zu. Dabei macht die erste, theoretische Hinsicht die wirkursächliche Existenz der Gesetze überhaupt als Teil der erkennbaren Schöpfung aus, während erst die zweite, noch näher zu kommentierende Hinsicht die praktische Wirksamkeit des Naturrechts als eines Regelsystem mit normativer Kraft konstituiert. Auch die Praxis also, ihre Regeln und ihre Realität bedarf der kausalen Schöpfungsleistung Gottes.
Unwirksame oder irrationale Gesetze? Suárez’ Argumente gegen intellektualistische und voluntaristische Naturrechtskonzeptionen In der Folge seiner Argumentation (ab II. 6. 3) macht Suárez aber deutlich, dass er die Absolutsetzung einer der beiden Hinsichten – der Autor spricht von Thesen (sententiae) – für außerordentlich problematisch erachtet. Nimmt man nämlich das natürliche Gesetz als Wirkung der kausalen Kraft Gottes, so zeige es schlicht an, was zu tun oder zu lassen sei, ohne dass ihm eine tatsächliche Verpflichtungskraft zukommt, die einzig – und hierin ist und bleibt Suárez, wie
17 DL II. 6. 2, Brieskorn 423 / Pereňa III, 77: »Aliud vero est hanc legem naturalem esse a Deo effective tanquam a prima causa; aliud esse a Deo ut a legislatore praecipiente et obligante.« 18 Zur Unterscheidung zwischen Naturgesetz und natürlichen Gesetze, die sich im 17. Jahrhundert durchzusetzen beginnt, vgl. Michael Stolleis: Naturgesetz und Naturrecht – zwei Abkömmlinge der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. In: Naturrecht in Antike und früher Neuzeit. Symposion aus Anlass des 75. Geburtstags von Klaus Luig. Hg. von Matthias Armgard u. Tilman Repgen. Tübingen 2014, S. 137–150.
Gideon Stiening schon Vitoria der voluntaristischen Tradition verpflichtet19 – durch eine vis obligationis aus dem Willensakt eines Höherstehenden gegenüber einem Untergebenen entstehen kann. Explizit führt Suárez im Zusammenhang der lex aeterna aus: »Außerdem bedeutet Gesetz im eigentlichen Sinne ›Anordnung eines Oberen im Bereich seiner Befehlsgewalt an die Adresse der Untergebenen‹.«20 Auch in den Abschnitten über das Naturrecht nimmt Suárez dieses Definitionsmoment des Gesetzes wieder auf: »Das Gesetz ist jedoch ein Befehl, der eine Verpflichtung allererst einführen und auferlegen kann.«21 Wenn aber den Gehalten des natürliches Gesetzes unmittelbare Geltung zukommt, d.h. geltungstheoretische Perseitas,22 dann mangelt es ihnen per definitionem am Gesetzescharakter, was für Suárez das entscheidende Problem dieses Kapitels II. 6. konstituiert; gleich zu dessen Beginn heißt es nämlich: Den Reflexionsgrund zur vorliegenden Frage liefern Grundlage und Ausgangspunkt der ersten These, die ich im vorangegangenen Kapitel wiedergab. Diese Grundlage warf ein Problem auf, das ich noch keiner Lösung zuführte. Es lautet: Ein Gesetz im eigentlichen Sinne, das Vorschriften erlässt, verdankt sich stets dem Willen eines Vorschreibenden, wie ich es im ersten Buch zeigte. Das natürliche Gesetz gründe allerdings nicht im Willen eines Gebietenden. Also sei es kein eigentliches Gesetz. Den Untersatz begründet man ausgehend von den Ausführungen, die sich im vorangegangenen Kapitel finden: Die Urteilssprüche der natürlichen Vernunft, aus denen sich dieses Gesetz zusammensetzt, seien an sich notwendig und von jeglichem Willensakt unabhängig, und zwar selbst vom göttlichen. Sie wären logisch vorgeordnet, d.h. bevor dieser Wille frei etwas wollen kann, […]. Folglich könne man das natürliche Gesetz nicht wahres Gesetz nennen.23
19 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: ›Quantitas obligationis.‹ Zum Verpflichtungsbegriff bei Vitoria – mit einem Ausblick auf Kant. In: Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria. Hg. von Kirstin Bunge, Anselm Spindler u. Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 229–248; anders hierzu jetzt Anselm Spindler: Die Theorie der natürlichen Gesetze bei Francisco de Vitoria. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015, S. 223ff. 20 DL II. 2. 9, Brieskorn 366f. / Pereña III, 24: »Denique lex, si proprie sumatur, est ordinatio superioris circa inferiorem per proprium imperium […].« 21 DL II. 6. 6, Brieskorn 430. 22 Siehe hiezu erneut Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 2), S. 93ff. 23 DL II. 6. 1, Brieskorn 422 / Pereña III, 76: »Ratio dubitandi in praesenti quaestione oritur ex fundamento prioris sententiae relatae capite praecedenti, quod ibi propositum est, et nondum est solutum. Lex enim propria et praeceptiva non est sine voluntate alicuius praecipientis, ut in libro 1 ostensum est. Sed lex naturalis non nititur in voluntate alicuius praecipientis. Ergo non est proprie lex. Minor probatur ex adductis in capite praecedenti, videlicet, quia dictamina rationis naturalis, in quibus haec lex consistit, sunt intrinsece necessaria et independentia ab omni voluntate, etiam divina, et priora secundum rationem qua illa libere aliquid velit, […]. Ergo lex naturalis non potest dici vera lex.«
Urheber oder Gesetzgeber?
Zwar hatte er schon in II. 5. ausführlich nachzuweisen gesucht, dass die natürlichen Gesetze einerseits aus einem rationalen Urteil der recta ratio hervorgehen bzw. bestehen, die als Gott und den Menschen zugängiges, damit überindividuelles Vermögen die Bestimmungen des Naturrechts reflektieren und ausführen können.24 Nach Suárez führt jedoch die Abstraktion des Naturrechts als System der recta ratio von einer Willensleistung Gottes zwingend zu einem ›Etiamsi daremus‹-Argument,25 das er mit Gregor von Rimini wie folgt ausführt: So sagt Gregor, dem sich die übrigen Autoren anschlossen, dass jener Urteilsspruch denselben Charakter als Gesetz hätte, wie er ihn auch jetzt hat, selbst wenn es Gott nicht gäbe oder er entweder die Vernunft nicht benützte oder nicht recht über die Dinge urteilte; Voraussetzung ist nur, dass im Menschen selbst derselbe Urteilsspruch der richtigen Vernunft anzutreffen ist, der beispielsweise festlegte, es sei schlecht zu lügen. Denn es würde sich um ein Gesetz handeln, das die Schlechtigkeit darlegt, die im Gegenstand enthalten sei.26
Eine Gesetzesgeltung ohne die Notwendigkeit eines Rekurses auf die sie garantierende Gottesinstanz leistet jedoch einer Autonomie der Welt Vorschub, die Suárez dringend verhindern wollte. Der Conimbricenser Theologe erkennt also im strengen Intellektualismus – anders als Blumenberg, der diese Entwicklungen vor allem in den Antinomien eines radikalen Voluntarismus erkannte27 – Tendenzen zu einer Verweltlichung der praktischen Vernunft, denen es entge 24 Siehe hierzu Karl Bärthlein: Zur Lehre von der ›recta ratio‹ in der Geschichte der Ethik von der Stoa bis Christian Wolff. In: Kant-Studien 56 (1966), S. 125–155 sowie meine Ausführungen zur lex aeterna in diesem Band. 25 Zur langen Tradition dieses keineswegs durch Grotius inaugurierten Arguments vgl. u. a. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 322; Javier Hervada: The Old and The New in the Hypothesis ›Etiamsi daremus‹ of Grotius. In: Grotiana 4 (1983), S. 4–20; Paola Negro: Un Topos in Hugo Grotius. Etsiamsi Daremus Non Esse Deum. In: Studi Filosofici 18 (1995), S. 57–80; Bernd Ludwig: Auf dem Wege zu einer säkularen Moralwissenschaft: Von Hugo Grotius’ De jure belli ac pacis zu Thomas Hobbes’ Leviathan. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 3–32, spez. S. 15; Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 83; Elke Tießler-Marenda: Einwanderung und Asyl bei Hugo Grotius. Berlin 2002, S. 109ff.; Recknagel: Einheit des Denkens (s. Anm. 4), S. 75f. 26 DL II. 6. 3, Brieskorn 425 / Pereña III, 81: »Immo ait Gregorius, quem caeteri secuti sunt, licet Deus non esset vel non uteretur ratione vel non recte de rebus iudicaret, si in homine esset idem dictamen rectae rationis dictantis v.g. malum esse mentiri, illud habiturum eamdem rationem legis quam nunc habet, quia esset lex ostensiva malitiae, quae in obiecto ab intrinseco existit.« 27 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Auflage Frankfurt a. M. 21988, S. 214–218, u.ö.
Gideon Stiening genzutreten galt. Gut 100 Jahre später wird dieses Problem durch Christian Wolff einer Lösung zugeführt, die erkennen lässt, dass die keineswegs säkulare Naturrechtstheorie des Hallensers gleichwohl einen Säkularisierungsdruck kaum mehr abwehren muss; für Wolff ist es gerade die Besonderheit des aus der Natur des Menschen abzuleitenden Naturrechts, auf einen Durchsetzungswillen verzichten zu können. Für ihn ist das Festhalten an einer Definition des Gesetzes als »Befehl eines Oberen« Ausdrucks des Versuches, überpositives Recht zu verunmöglichen.28 Erst Wolff ist derjenige Schüler des Aquinaten, zu dem sich Suárez selbst häufig stilisierte;29 an Wolff aber ist auch ablesbar, dass die Befürchtungen des Conimbicenser Rechtstheologen in Bezug auf die Säkularisierungstendenzen des Intellektualismus zutreffend waren. Zwar ist Wolff – auch schon vor 1723 – darum bemüht, die Kompatibilität seiner politischen Theorie mit den Lehren der protestantischen Theologie nachzuweisen,30 doch selbst bei seinen Versuchen einer innovativen Verbindlichkeitstheorie kann er – weitgehend – auf theonome Argumente verzichten.31 Suárez’ Kritik an einem solch reinen Intellektualismus besagt gleichwohl nicht, dass die natürlichen Gesetze nicht auch Wirkungen der ersten Ursache wären; sie besagt nur, dass sie es nicht ausschließlich sind. Eine analoge Kritik übt Suárez an jener zweiten These, die mit dem Werk Ockhams verbunden wird, und die er ebenso deutlich verwirft; so heißt es: Die zweite These ist dieser ersten strikt entgegengesetzt. Sie besagt, dass das natürliche Gesetz vollständig aus einem göttlichen Befehl oder Verbot bestehe, das aus dem Willen Gottes als Urheber und Lenker der Natur hervorgehe. […] Diese Ansicht findet sich im Werk Ockhams, wenn er ausführt, dass es kein schlechtes Handeln gebe, es sei denn, Gott untersagt es, und dass es zum guten Handeln werden könne, wenn Gott es so anordnete, und umgekehrt. Ockham unterstellt also, dass das gesamte natürliche Gesetz in göttlichen
28 Christian Wolff: Philosophia practica universalis. Methodo Scientifica Pertractata. Frankfurt 1738, § 131–137. 29 Siehe hierzu die präzisen Ausführungen von Emmanuel J. Bauer: Francisco Suárez. Scholastik nach dem Humanismus. In: Philosophen der Renaissance. Eine Einführung. Hg. von Paul Richard Blum. Darmstadt 1999, S. 206–221, spez. S. 208ff. 30 Vgl. hierzu Robert Thies: »Ut & scias, & credas. Quae simul sciri & credi possunt«. Aspekte der Wolffschen Theologie. In: Aufklärung 23 (2011), S. 17–39. 31 Vgl. hierzu Dieter Hüning: Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie. In: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte. Hg. von Oliver-Pierre Rudolph u. Jean-François Goubet. Tübingen 2004, S. 143–167.
Urheber oder Gesetzgeber?
Vorschriften bestehe, die von Gott aufgestellt worden seien, und die Gott selbstverständlich aufheben und ändern könnte.32
Suárez entscheidendes Argument ist zunächst ein formales: mit dieser Definition des natürlichen Gesetzes als reinem Produkt des göttlichen Willens verschwände der Unterschied zwischen natürlichem und positivem Gesetz, weil es nach diesem Modell ausschließlich positive göttliche Gesetze gäbe, die von der Gottesinstanz bei Bedarf auch wieder aufgehoben werden könnten. Dann aber gäbe es nicht das, was man in dem Begriff und der Idee des Naturrechts sucht: überpositives Recht, das – so auch für Suárez – den positiven (menschlichen) Gesetzen als Rechtsnormen zugrunde liegen soll.33 Im Voluntarismus, so das zweite Argument, verschwindet das essentielle Kriterium der Rationalität des Rechts, das u. a. durch die Bindung an die recta ratio eine Ausrichtung allen Rechts auf die Gerechtigkeit garantieren sollte. Mit Augustinus entbehren für Suárez nämlich alle ungerechten Gesetze a priori des Gesetzescharakters: So wie das ewige Gesetz nur gerechtes vorschreibt, weil es vom Wesen her die Gerechtigkeit selbst ist, so muss ein wahres menschliches Gesetz an jenem teilhaben und kann daher – wenn es denn gültig sein will – nur Gerechtes und Sittliches vorschreiben.34
Diese – wenngleich nur mäßig überzeugende35 – Vermittlung von Recht und Gerechtigkeit mithilfe einer Bindung aller Gesetze an die Rationalität Gottes würde aber durch den Voluntarismus gänzlich verunmöglicht. Der reine, ›transrationale‹ Wille Gottes muss nicht gerecht sein; die von Suárez mit hohem Aufwand betriebene Bindung des Recht an die Gerechtigkeit wäre damit verunmöglicht. 32 DL II. 6. 4, Brieskorn 425f. / Pereña III, 81f.: »Secunda sententia, huic extreme contraria, est legem naturalem omnino positam esse in divino imperio vel prohibitione procedente a voluntate Dei ut auctore et gubernatore naturae […]. Ita sumitur ex Ochamo (In secundum, quaest. 19 ad 3 et 4), quatenus dicit nullum esse actum malum, nisi quatenus a Deo prohibitus est, et qui non possit fieri bonus si a Deo praecipiatur, et e converso. Unde supponit totam legem naturalem consistere in praeceptis divinis a Deo positis, quae ipse posset auferre et mutare.« 33 Siehe hierzu u. a. DL III. 12. 13–15, Bach, Brieskorn, Stiening III, 232/233f. 34 DL I. 9. 5, Brieskorn 190 / Pereña II, 7: »Unde sicut lex aeterna solum iusta praecipit, quia est ipsa iustitia per essentiam, ita vera lex humana esse debt participation eius, et ideo non potest valide praecipere nisi iusta et honesta […].« 35 Siehe hierzu Gideon Stiening: ›Der hohe Rang der Theologie‹? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 97–133, spez. S. 113–115.
Gideon Stiening Darüber hinaus verflüchtigte sich – wie angedeutet – auch nur die Möglichkeit überpositiver Rechtsordnungen, weil alles Recht ausschließlich an die – möglicherweise vollkommen willkürliche – Instanz des Gotteswillens gebunden ist, und zwar unmittelbar in den positiven göttlichen Gesetzen, mittelbar in den positiven menschlichen Gesetzen, tertium non datur: Ein Naturrecht als überpositiver Maßstab für menschliche Gesetze – wie auch eine lex aeterna – ist nach Suárez in diese Konzeption nicht integrierbar.36 Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass Suárez durchaus keine Schwierigkeiten mit dem Gedanken der omnipotentia dei hatte, die ebenfalls grenzenlose Willkür impliziert.37 Den Naturrechtler Suárez stört vielmehr der Gedanke einer Möglichkeit irrationalen Rechts, weil diese Normen der menschlichen Vergemeinschaftung nur dann legitimer Weise die Freiheit des Einzelnen einschränken dürfen, wenn sie dies auch der Sache nach rational rekonstruierbar tun.38 Die Legitimation von Herrschaft unter der Voraussetzung der natürlichen Freiheit des Menschen gehörte aber zu den zentralen Anliegen seiner gesamten Rechtsphilosophie.39
Via media – Gott als Garant der Normativität des Naturrechts Zur Abwehr der Verweltlichungstendenzen des Intellektualismus einerseits sowie zur Verhinderung einer Möglichkeit irrationalen Rechts im Voluntarismus 36 Dass diese Kritik – wenngleich überzeugend für das Theorem einer lex aeterna – nicht zutreffend ist, weil Duns Scotus ebenso wie Ockham ein Naturrecht entwickelten, lässt sich nachlesen bei Hannes Möhle: Ethik als scientia practica nach Duns Scotus. Münster 1995 sowie Anne Eusterschulte: Lex libertatis und ius naturale. Freiheitsgesetz und Naturrechtslehre bei William von Ockham. In: Das Gesetz – The Law – La Loi. Hg. von Andreas Speer u. Guy Guldentops. Berlin, Boston 2014, S. 399–423. 37 Vgl. hierzu Francisco Suárez: Tractatus de divina substantia. In: Ders.: Opera Omnia. Editio Nova, a Carolo Berton. Parisiis 1856–1878, Bd. I, S. 1–234 sowie Aza Goudriaan: Philosophische Gotteserkenntnis bei Suárez und Descartes im Zusammenhang mit der niederländischen reformierten Theologie und Philosophie des 17. Jahrhunderts. Leiden, London, Köln 1999, S. 121– 124. 38 Nach DL III. 1. 1. 39 Vgl. hierzu Gideon Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ›De legibus‹ (DL III). In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. StuttgartBad Cannstatt 2013, S. 195–230.
Urheber oder Gesetzgeber?
andererseits sieht sich Suárez folglich gezwungen, nach eigenem Verständnis aber auch in der Lage, eine via media einzuschlagen und damit einen Begriff und eine Idee des Naturrechts zu entwerfen, die die folgenden Elemente enthalten: Erstens: Das Naturrecht ist nicht nur eine Anzeigetafel des Bösen und Guten, sondern enthält auch ein echtes Verbot des Bösen und ein echtes Gebot des Guten.40 Zweitens: Der Wille Gottes [im natürlichen Gesetz] ist nicht der gesamte, d.h. der einzige Grund für das Gute oder Böse, das sich mit der Beachtung oder Übertretung des natürlichen Gesetzes einstellt. Vielmehr setzt dieser Wille für jede Handlung eine Verpflichtung zur sittlichen Notwendigkeit und gegen eine ebensolche der Abwehr von Schändlichkeit voraus.41
Kommentiert man die beiden Passagen in umgekehrter Reihenfolge so ergibt sich folgendes Bild: Es gibt nach Suárez rational erkennbares Gutes und Böses, das im natürlichen Gesetz formuliert wird und das unabhängig vom Willen Gottes besteht, als solches erkennbar ist und in Urteilen der praktischen Vernunft sowie der Urteilskraft zu bestimmen ist. Die Urteile der praktischen Vernunft fixieren die allgemeinen Gesetze der lex naturalis, die Urteilskraft realisiert deren Anwendung auf die konkreten Sachlagen.42 Suárez unterscheidet folglich klar und deutlich: Die in diesen Urteilen fixierten Sachverhalte sind erkennbar und begründbar gut bzw. böse, ohne dass sie zunächst mit einem Gebot oder Verbot verbunden wären oder werden müssten.43 Dieser – präskriptive – Status kommt den natürlichen Gesetzen ausschließlich durch eine vis obligandi zu, die allererst aus der Verbindung der normativen Gehalte mit der Willensinstanz Gottes erwächst, weil nach Suárez Verpflich-
40 DL II. 6. 5, Brieskorn 427 / Pereña III, 84: »Dico ergo primo: Lex naturalis non tantum est indicativa mali et boni, sed etiam continet propriam prohibitionem mali et praeceptionem boni.« 41 DL II. 6. 11, Brieskorn 437 / Pereña III, 92: »Dico secundo: Haec Dei voluntas , prohibitio aut praeceptio non est tota ratio bonitatis et malititae quae est observatione vel trausgressione legis naturalis, sed supponit in ipsis actibus necessariam quamdam honestatem vel turpitudinem et illis adiungit specialem legis divinae obligationem.« 42 So zu Recht auch Matthias Kaufmann: Francisco Suárez’ lex naturalis zwischen inclinatio naturalis und kategorischem Imperativ. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 155–173, hier S. 166. 43 Vgl. hierzu auch Erik Åkerlund: Suárez’s Ideas on Natural Law in the Light of His Philosophical Anthropology and Moral Psychology. In: The Nature of Rights: Moral and Political Aspects of Rights in Late Medieval and Early Modern Philosophy. Ed. by Virpi Mäkinen. Helsinki 2010, S. 165–196, spez. S. 184ff.
Gideon Stiening tung überhaupt nur entsteht durch die Bindung der in den Urteilen der recta ratio gefassten Sachverhalte an einen freien Willen.44 Ohne Willensakt, also Kraft eines bloßen Urteils ist nach Suárez Verpflichtung überhaupt, und so auch diejenige des natürlichen Gesetzes undenkbar: Auch wenn jene Verpflichtung, die es als ein tatsächlich gebietendes Gesetz hinzufügt, dem göttlichen Willen entstammt, setzt doch jener Wille ein Urteil über die Schlechtigkeit voraus, beispielsweise des Lügens bzw. von Ähnlichem. Da aber die Kraft des bloßen Urteils keine eigentliche Untersagung oder Verpflichtung der Vorschrift herbeiführt, weil dies ohne Willensakt undenkbar ist, wird das Urteil mit dem Willensakt verbunden, der verbietet, weil es schlecht ist. Daraus folgt schließlich, dass das natürliche Gesetz, so wie es in uns ist, nicht nur anzeigt, dass etwas schlecht ist, sondern dazu verpflichtet, es zu meiden.45
Nur die Bindung an den Willen Gottes, der die Bestimmungen des natürlichen Gesetzes will, erhebt das Naturrecht in einen tatsächlich präskriptiven Status, zugleich dient diese Verknüpfung – wie sich gleich noch zeigen wird – als naturrechtlicher Gottesbeweis, weil Suárez stets (auch) von der empirischen Tatsache des normativern Charakters der natürlichen Gesetze ausgeht. Auf dieser Grundlage kann er zusammenfassend schließen: »Aus dem Gesagten ziehe ich den Schluss und stelle drittens fest, dass es sich beim natürlichen Gesetz um ein wahres und im eigentlichen Sinne göttliches Gesetz handelt, dessen Gesetzgeber Gott ist.«46 Diese Schlussfolgerung einer notwendigen Verknüpfung von Naturrecht und Gottesinstanz lässt sich in einem ersten Resümee in zwei Richtungen interpretieren: Die erste Richtung bezieht sich auf die Festlegungen des Naturrechts:
44 Vgl. hierzu Gideon Stiening: Suprema potestas […] obligandi. Der Verbindlichkeitsbegriff in Francisco Suárez’ Tractatus de Legibus. In: Recht zwischen Philosophie, Theologie und Jurisprudenz. Beiträge zur Begriffsgeschichte von Vitoria bis Suárez. Hg. von Kirstin Bunge, Stefan Schweighöfer, Anselm Spindler u. Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 341–367. 45 DL II. 6. 13, Brieskorn 442 / Pereña III, 96: »Quamvis ergo obligatio illa quam addit lex naturalis, ut proprie praeceptiva est, sit ex voluntate divina, tamen illa voluntas supponit iudicium de malitia v.g. mendacii et similia. Tamen, quia ex vi solius iudicii non inducitur propria prohibitio vel obligatio praecepti, quia hoc sine voluntate intelligi non potest, ideo adiungitur voluntas prohibendi illud quia malum est. Unde tandem fit legem naturalem, prout in nobis est, non tantum esse indicantem malum, sed etiam obligantem ad cavendum illud […].« 46 DL II. 6. 13, Brieskorn 440 / Pereña III, 95: »Ex dictis ergo concludo et dico tertio legem naturalem esse veram ac propriam legem divinam, cuius legislator est Deus.«
Urheber oder Gesetzgeber?
1.
2.
Die natürlichen Gesetze – Suárez bedient sich anders als Thomas des Plurals, wie Kaufmann zu Recht feststellt47 – entbehren keineswegs einer rational rekonstruierbaren Notwendigkeit, d.h. sie sind in ihren Inhalten erkennbar und begründbar. Ihnen kommt mithin als wahren gerechtfertigten Überzeugungen ein Wissensstatus zu; sie sind folglich nicht bloße Meinung und sie sind nicht willkürlich. Zu diesem Aspekt der natürlichen Gesetze steht Gott im Verhältnis des Urhebers im Sinne der ersten Ursache (philosophisch) bzw. des Schöpfers (theologisch). Die natürlichen Gesetze sind aber auch echte Gesetze, d.h. ihnen kommt ein Verpflichtungscharakter zu, weil sie vom göttlichen Willen frei gewollt werden, und zwar als Verbote, Gebote oder Erlaubnisse. Zu dieser Dimension steht Gott im Verhältnis des Gesetzgebers. Selten deutlicher als an dieser Systemstelle wird ersichtlich, dass der zweite Teil des Titels des Gesamtwerkes – »ac Deo legislatore« – eine distinkte Ergänzung zum ersten Teil des Titels, De legibus, ausmacht. Trägt der zweite Teil die voluntaristischen Momente der Gesamtkonzeption, so transportiert der erste Titelteil die intellektualistischen Momente des Gesetzesbegriffs und damit der Rechtsidee. De legibus ac Deo legislatore spiegelt also schon in der Titelfindung die auch programmatisch und systematisch intendierte Vermittlung zwischen Intellektualismus und Voluntarismus.48
Bevor die hiermit aufgegebenen Problemlagen zur Darstellung kommen können, ist noch zu erläutern, was mit der zweiten Richtung der Interpretation der oben zitierten Schlussfolgerung zu verbinden ist: Zu mehr als zu Urteilen der reinen praktischen Vernunft oder der Urteilskraft, nämlich zu Gesetzen mit normativer Kraft werden die natürliche Gesetze – d.h. wird das Naturrecht – ausschließlich durch die Tatsache, dass seine Bestimmungen von der Gottesinstanz frei gewollt werden. Ist ihre praktische Notwendigkeit und damit ihre objektive Geltung auch unabhängig von ihrem geschöpflichen Status zu erkennen (wenngleich dies eine unvollständige Erkenntnis bliebe), so entsteht ihre praktische Wirksamkeit, mithin ihre objektive Geltung und ihre subjektive Verbindlichkeit ausschließlich aus ihrem Status, Objekte des freien Willensentschlusses der Gottesinstanz zu sein. In einer Welt ohne Gott gäbe es nach Suárez zwar Vorstellungen eines überpositiven Rechts, d.h. natürlicher Gesetze; es gäbe jedoch keinen zureichenden Grund, sich an dieses Recht auch zu hal 47 Kaufmann: Francisco Suárez’ lex naturalis (s. Anm. 42), S. 164. 48 Siehe hierzu nochmals Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 2), S. 380ff.
Gideon Stiening ten, schon gar nicht als Norm für andere Gesetzesformen.49 Denn die Verbindlichkeit natürlicher Gesetze generiert ausschließlich, dann aber vollständig aus dem freien Willensakt der Gottesinstanz. Nur so kommt es zu dem schon im Motto dieser Studie zitierten Urteil: »Gott ist der Gesetzgeber jeder Vorschrift des Naturrechts.«50 Ohne Gott: kein Naturrecht. Ohne die stets vorausgesetzte Geltung und Verbindlichkeit des Naturrechts: kein Gott. Dringlicher und zugleich – wegen der empirischen Prämissen – prekärer kann ein praktischer Gottesbeweis nicht ausfallen. Diese Naturrechtslehre hat also nicht nur ihren Grund, sondern auch ihren Zweck in der Theologie. Nicht zufällig wird sich zumindest ein Teil der nachfolgenden Naturrechtstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts von dieser Bindung der lex naturalis an eine ihre Normativität garantierenden Gottesinstanz lösen und stattdessen die menschliche Natur bzw. die Vernunft als Geltungsgrund für überpositives Recht in Anspruch nehmen.51 Nicht nur dokumentierte die konfessionelle Spaltung der Kirche die Erosion eines einheitlichen Gottesbegriffs und seiner Funktion für die natürliche und kulturelle Welt,52 auch erschwerte der erkennbare Voraussetzungsreichtum oder der Ausgang von empirischen Tatsachen das Festhalten an einer theonomen Naturrechtstheorie.53 Zwar noch nicht Grotius, Pufendorf oder Thomasius, wohl aber Hobbes, Rousseau und Kant drängen auf eine strenge Säkularität politischer Theorie.
49 Siehe hierzu auch Norbert Brieskorn: Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? In: »Vom Rechte, das mit uns geboren ist«. Aktuelle Probleme des Naturrechts. Hg. von Wilfried Härle u. Bernhard Vogel. Freiburg, Basel, Wien 2007, S. 97–126. 50 DL II. 14. 8, Brieskorn 547 / Pereña IV, 24: »[I]n omni praecepto iuris naturalis legislator est Deus.« 51 Vgl. hierzu u.a. Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999 sowie Oliver Bach: Natur als juridisches Argument an der Schwelle zur Aufklärung. In: Aufklärung 25 (2013), S. 23–50. 52 Vgl. beispielsweise die gelungenen Darstellung der zeitgleich zu Suárez agierenden Sozinianer und deren mit allen anderen Konfessionen unvermittelbaren Gottesbegriff bei Sascha Salatowski: Die Philosophie der Sozinianer. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015. 53 Dass dieser Übergang zu einem säkularen Vernunftrecht – zumindest systematisch – irreversibel ist, zeigt Georg Geismann: Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ›klassischen‹ Politischen Philosophie. In: Jahrbuch für Politik / Yearbook for Politics, 2.2 (1992), S. 319–336 sowie ders.: Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die ›klassische‹ Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlichmittelalterlichen Version – wiederzubeleben. In: Jahrbuch für Politik / Yearbook for Politics 5.1 (1995), S. 141–177.
Urheber oder Gesetzgeber?
Schuld und Sünde – Verstöße gegen das Naturrecht zwischen Theologie und Moralphilosophie Suárez macht sich im weiteren Verlauf des Kapitels II. 6. zu Recht erhebliche Gedanken über die Frage, in welchem genauen Verhältnis die beiden Dimensionen der natürlichen Gesetze, und damit auch in welchem spezifischen Verhältnis beide Momente der Gottesinstanz, Urheber und Gesetzgeber, zueinander stehen. Die genaue Bestimmung dieses Verhältnisses erweist sich allerdings als derart problematisch, dass Suárez explizit die Notwendigkeit einer spezifisch interdisziplinären Kooperation zwischen Theologie und Moralphilosophie entwickelt, was einmal mehr anzeigt, dass Blumenberg Recht zu geben ist, für den Interdisziplinarität weniger die Lösung als vielmehr das Anzeichen für die Kontinuität eines Problems darstellte.54 Schon in I. 3. 9 hatte Suárez jedoch ausdrücklich festgehalten: Natürliches Gesetz im eigentlichen Sinne, als Gegenstand der Moralphilosophie und der Theologie ist jenes Gesetz, das dem menschlichen Geist dazu innewohnt, das Gute vom Bösen zu unterscheiden […], weil jenes Gesetz gleichsam eine Eigenschaft der Natur ist und weil Gott selbst es in sie hineingelegt hat. Unter dieser Rücksicht ist es auch ein göttlichen Gesetz, da von Gott unmittelbar erlassen, wie der hl. Thomas unter Rückgriff auf den hl. Augustinus schreibt, der sich mit den Worten an Gott wandte: ›Dein Gesetz ist in die Herzen der Menschen‹ geschrieben.‹55
Diese ebenso bemerkenswerte wie charakteristische Verbindung von Moralphilosophie und Theologie im Zusammenhang des Naturrechts wird im Kontext des Kapitels II. 6. und damit der Frage, ob die natürlichen Gesetze echte göttliche Gesetze seien, erneut und präziser reflektiert. Denn Suárez stellt sich die Frage, ob Verstöße gegen das Naturrecht schuldhaft oder sündhaft seien. Diese Frage ist keineswegs kontingent, weil nachgewiesen worden war, dass natürliche Gesetze als Gesetze dem göttlichen Willen entspringen, sodass jene Frage sich 54 Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt a. M. 1987, S. 160–162. 55 DL I. 3. 9, Brieskorn 63f. / Pereña I, 44: »Lex ergo naturalis propria quae ad moralem doctrinam et theologiam pertinet, est illa quae humanae menti insidet ad discernendum honestum a turpi […], quia lex illa est veluti proprietas quaedam naturae et quia Deus ipse illam naturae inseruit. Et ex hac parte etiam est divina haec lex, tanquam a Deo immediate lata, ut sensit divus Thomas (dicta quaestione 91 et quaest. 94, art. 6), ubi adducit divum Augustinum (2 Confessionum, cap. 4) dicentem ad Deum: ›Lex tua scripta in cordibus hominum.‹«
Gideon Stiening aufdrängt, und zwar vor dem Hintergrund der Definition der Sünde als »Verstoß gegen Gottes Gebot und Ungehorsam gegen Gottesgebote«.56 Einige Zeilen weiter leistet Suárez vor dem Hintergrund dieser ersten Definition eine weitere Präzisierung: Diese Behauptung wird auch dadurch bestätigt, dass die Sünden gegen das natürliche Gesetz in der Hl. Schrift als Sünden gegen den göttlichen Willen bezeichnet werden. […] Drittens lässt sich folglich diese These [dass das natürliche Gesetz ein wahres Gesetz ist] dadurch verifizieren, dass die Sünde gegen das natürliche Gesetz eine Beleidigung Gottes ist und ihr von daher der Charakter einer gewissen Unbegrenztheit anhaftet. Folglich ist die Sünde eine Einstellung gegen Gott als den Gesetzgeber.57
Diese bemerkenswerte Differenzierung führt zu einer charakteristischen Einengung und zugleich zu einer ebensolchen Ausweitung im Begriffs der Sünde: Richtet sich die Verfehlung in der Sünde nämlich nur gegen Gott als Gesetzgeber, dann kann der Mensch gegenüber Gott als Urheber nicht sündigen. Die unerhörten Konsequenzen dieser Distinktion liegen auf der Hand: Anders als bei Augustinus kann der Mensch bei Suárez in seinem Verhalten gegen die unvernünftige Natur nicht sündigen, denn eine Sünde kann sich ausschließlich gegen seine praktischen Gebote richten, die nur auf vernünftige und freie Geschöpfe zielen. Zugleich – und hierin besteht eine nahezu unbegrenzte Ausweitung des Begriffs der Sünde – ist jeder Verstoß gegen natürliches Recht Sünde, weil diese Gesetze ihren legalistischen Charakter, wie gesehen, allererst der Gottesinstanz zu verdanken haben. Solche Verstöße enthalten zwar auch und zugleich Schuld im rein rationalen, hier also säkularen Sinne, weil sie gegen die Bestimmungen der recta ratio, der praktischen Vernunft, verstoßen. Doch vor allem richtet sich ein Übertreten der natürlichen Gesetze gegen deren Gesetzgebungsinstanz: Gott. Verstöße gegen die Gebote oder Verbote des Naturrechts sind mithin als Schuld und Sünde zugleich zu qualifizieren, was Suárez konsequent zu der eminenten Schlussfolgerung führt, dass »bei freien Akten Sünde und Schuld in eins fallen«.58 56 DL II. 6. 7, Brieskorn 432 / Pereña III, 88: »Peccatum est legis divinae praevaricatio et coelestium inobedientia mandatorum.« 57 DL II. 6. 10; Hvhb. von mir, Brieskorn 435ff. / Pereña III, 91f.: »Unde confirmatur assertio, quia peccata contra legem naturalem dicuntur in Scriptura esse contra divinam voluntatem. […]Confirmatur tertio, quia peccatum contra legem naturalem est offensivum Dei et inde habet quamdam infinitatem. Ergo signum est esse contra Deum ut contra legislatorem.« 58 DL II. 6. 16, Brieskorn 445 / Pereña III, 99: »[I]n actibus liberis peccatum et culpam converti«; vgl. hierzu auch den Beitrag von Frank Grunert in diesem Band.
Urheber oder Gesetzgeber?
Die entscheidende objektive Voraussetzung für diese Engführung von Schuld und Sünde auf der Subjektseite liegt in der – keineswegs formalen, wohl aber – materialen Identifizierung von recta ratio und voluntas dei: Zweitens missfällt Gott dasjenige, was auch immer gegen die rechte Vernunft geschieht; das Entgegengesetzte gefällt ihm. Da der Wille Gottes im höchsten Maße gerecht ist, ist es unmöglich, dass ihm nicht missfällt, was schändlich ist; und es ist ebenso unmöglich, dass ihm das sittlich Gute missfällt. Denn der Wille Gottes kann der Vernunft nicht widersprechen, wie Anselm zutreffend sagt. Wenn also die natürliche Vernunft anzeigt, was für den Menschen an sich schlecht oder gut ist, so liefert sie stets den Hinweis mit, dass es dem göttlichen Willen entspreche, wenn das Gute geschehe und das Böse vermieden werde.59
Unabhängig von den kaum absehbaren theologischen Implikationen und Konsequenzen der These,60 dass der Wille Gottes der Vernunft nicht widersprechen könne, wird mit diesem Argument evident, dass die recta ratio mit ihrer Erkenntnis der Gerechtigkeit des Rechts zugleich den Willen Gottes erkennen können soll und somit ihre Einsichten die normative Kraft göttlicher Gesetze implizieren. Nur durch diese – handstreichartige – Identifizierung der Zwecke der voluntas dei mit den Inhalten der recta ratio erhalten deren an sich nur theoretischen Erkenntnisse eine vis obligandi. Im Hinblick auf Vergehen gegen das Naturrecht sind Schuld und Sünde folglich nicht mehr zu unterschieden, damit aber auch Moralphilosophie und Theologie identisch. Dass dieser scheinbare Übergriff der Sünden-Theologie auf eine ›säkulare‹ Moralphilosophie in Naturrechtsfragen in Wahrheit drastische Säkularisierungskonsequenzen nach sich zieht, eröffnet sich bei einem Blick auf den weiteren Argumentationsverlauf in II. 6. Die Ineinssetzung von Schuld und Sünde führt nämlich nicht zu ihrer Ununterschiedenheit; zwar wird die Tatsache, dass ein Verstoß gegen natürliche Gesetze eine Sünde gegen Gott ist, als größeres Vergehen gewertet denn ihre Schuld gegenüber den Bestimmungen der recta ratio. Gleichwohl bleiben beide Aspekte ein und derselben Verfehlung
59 DL II. 6. 8, Brieskorn 433f. / Pereña III, 89: »Secundo, quidquid contra rationem rectam fit, displicet Deo, et contrarium illi placet; quia cum voluntas Dei sit summe iusta, non potest illi non displicere quod turpe est, nec non placere honestum, quia voluntas Dei non potest esse irrationabilis, ut dixit Anselmus (lib. I Cur Deus homo, cap. 8). Ergo ratio naturalis quae indicat quid sit per se malum vel bonum homini, consequenter indicat esse secundum divinam voluntatem ut unum fiat et aliud vitetur.« 60 Siehe hierzu u. a. Stephan Schmid: Finalursachen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung zur Transformation teleologischer Untersuchungen. Berlin, New York 2010, S. 145ff.
Gideon Stiening unterscheidbar und sollen auch unterschieden werden. Konsequent hält Suárez folglich im Blick auf Thomas (aber kaum in dessen Sinne61) fest: Auf diese Weise scheint auch der hl. Thomas die Sünde zu unterscheiden, einmal als gegen die Vernunft gerichtete, das andere Mal als gegen Gott gerichtete Handlung. Mit der ersten Form beschäftigt er sich als Moralphilosoph mit der zweiten aber als Theologe.62
Damit wird nicht der Begriff der Schuld durch den der Sünde überlagert, sondern vielmehr in den übergeordneten Begriff der Sünde ein Moment säkularer Schuld importiert, so dass die Sünde selbst keineswegs mehr nur ein Verstoß gegen Gott, sondern auch gegen die recta ratio impliziert, weshalb für die Sünde Theologie und Moralphilosophie zuständig sind. So wird der genuin theologische Begriff der Sünde systematisch und disziplinär aufgespalten; der Versuch einer theonomen Fundierung des Naturrechts führt an dieser Stelle in seiner Konsequenz zu einer Einschränkung der Zuständigkeiten der Theologie. Das war sicher nicht intendiert, aber es war auch nicht zu vermeiden.63
Gottes Allmacht und der Satz des Widerspruchs Gewichtiger noch wird die eigentümliche Interdisziplinarität von Moralphilosophie und Theologie bei der Frage, ob der Wille Gottes an die Erkenntnisse seines eigenen Verstandes gebunden sei. Spinoza wird einige Jahrzehnte später diese Frage dadurch beantworten, beide Vermögen in Gott zu identifizieren, damit aber konsequent dessen Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit fassen.64 Dass somit jede Freiheit, letztlich gar jede Form eigenständig praktischer Vernunft
61 Vgl. hierzu Thomas von Aquin: Die Sünde. Kommentiert von Otto H. Pesch. (= DSTh 12) Salzburg, Wien 2004. 62 DL II. 6. 18, Brieskorn 447 / Pereña III, 101: »Atque hoc modo videtur divus Thomas (I II, quaest. 71, art. 6, ad quintum) distinguere peccatum, ut est contra rationem et ut est offensivum Dei. Et priori modo considerari a philosopho morali, posteriori autem modo a theologo.« 63 Solcherart Säkularisierungsdruck entsteht folglich nicht aus den Verwerfungen eines böswillig »ausgrenzenden Humanismus« (so aber die zentrale These bei Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2007, spez. S. 151ff. zu den angeblichen Verwerfungen einer säkularen politischen Theorie und Praxis), sondern vielmehr aus den objektiven Antinomien theonomer Metaphysik und politischer Theologie. 64 Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch – Deutsch, neu übersetzt, hg. u. mit einer Einleitung vers. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999, S. 6/7 (Eth. I, def. 7).
Urheber oder Gesetzgeber?
aufgehoben wird, steht außer Frage.65 Diese Konsequenz musste Suárez jedoch als ein Theoretiker, der die Freiheit des Willens und der Handlungen (Gottes und der Menschen) zum Fundament seiner Rechtstheorie erhoben hatte,66 verhindern. Gleichwohl bereitet ihm dieser Sachverhalt nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Denn der Begriff einer omnipotentia dei bzw. der hier von Suárez verwendete Begriff der »voluntas absoluta«,67 den der Rechtstheologe benötig und auch explizit formuliert, weil er festhält, dass Gott an keine Gesetze oder Regeln gebunden ist,68 generiert notwendig die Frage, ob Gott auch in der Lage ist oder gar sein muss, Inhalte der Urteile der recta ratio – seien es nun auf Gebote oder Verbote hinauslaufende Urteile – nicht zu wollen, d.h. ein rationales und so gerechtes Gebot frei, mithin willkürlich zu unterbinden. Erkennbar gezwungen muss Suárez zunächst die folgende Antwort geben: »Gott vermag es in seiner absoluten Macht, ein solches Verbot nicht zu erlassen; denn es wird keinerlei Art von Widerspruch sichtbar, wenn er es unterließe.«69 Solange sein Wille keinen Widerspruch impliziert, vermag also auch Gott Gebote oder Verbote nicht zu erlassen. Die entscheidende Voraussetzung für ein Abweichen von der recta ratio ist folglich eine formale: Gott ist auch bei Suárez – anders als bei Luther,70 aber ebenso wie bei Ockham71 – ohne Einschränkun 65 Siehe hierzu die ausgewogene Darstellung bei Wolfgang Röd: Benedictus de Spinoza. Eine Einführung. Stuttgart 2002, S. 266ff. 66 Siehe hierzu u.a. Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Lex und Ius / Lex and Ius. Hg. von Alexander Fidora, Matthias Lutz-Bachmann u. Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 429–463, hier S. 441. 67 DL II. 6. 9, Brieskorn 435 / Pereña III, 90. 68 So heißt es schon im Zusammenhang der lex aeterna: »Das ewige Gesetz darf, insoweit es eine Regel freien und tugendhaften Handelns ist, nicht als Gott selbst auferlegt verstanden werden. Ebenso wenig hat der göttliche Wille erst wegen seiner Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz als tugendhaft und richtig zu gelten, weil er diesem dazu unterworfen sein müsste. Dies entsprechend der Lehre des hl. Thomas und des Halensis; auch Anselm stimmt ihr zu. Er sagt nämlich, dass Gott keinem einzigen Gesetz unterstehe und dass deshalb, was immer er wolle, gerecht und zuträglich sei. / [L]ex aeterna, ut est regula actionis honestatis liberae, non debet intelligi ut imposita ipsi Deo, nec voluntas divina debet concipi ut honesta et recta propter conformitatem ad legem aeternam cui subiciatur. Ita divus Thomas (I II, quaest. 93, art. 4, ad primum) et Halensis (III parte, quaest. 26, membro 8, art. 1). Consentit Anselmus (lib. I Cur Deus homo, cap. 12) dicens Deum esse omnino liberum a lege et ideo quod vult, iustum et conveniens esse […].« DL II. 2. 5, Brieskorn 361, Pereña III, 19. 69 DL II. 6. 20, Brieskorn 449 / Pereña III, 102: » Primus est Deum quidem posse de potentia absoluta non facere talem prohibitionem, quia non apparet implicatio contradictionis.« 70 Vgl. hierzu insbesondere Martin Luther: De servo arbitrio. In: WA 18, S. 600–787. 71 So zu Recht Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (s. Anm. 2), S. 301.
Gideon Stiening gen an den Satz des Widerspruchs gebunden; das Wollen von Widersprüchen schließt die omnipotentia Dei folglich nicht ein, denn es gilt: »[W]ürde sich ein Widerspruch ergeben […], kann Gott es nicht wollen«.72 Schon in DL I hieß es mit großem Nachdruck: Denn in den göttlichen Gesetzen ist der Grund dafür die Richtigkeit, die das Wesen des göttlichen Willens ausmacht. Gott ist nämlich in unübertroffener Weise gut und kann deshalb gar nichts Schlechtes vorschreiben. Ebenso wenig kann Gott mit sich selbst in Widerspruch geraten. […] Deshalb ist es auch unmöglich, dass das positive göttliche Gesetz irgendetwas gegen diese natürliche Gerechtigkeit erhielte.73
Weil aber die Inhalte der natürlichen Gesetze als Urteile der recta ratio gefasst werden, ihnen mithin – wie gezeigt – Vernünftigkeit zukommt, wird ihr Nichteinhalten bzw. ein Verstoß gegen sie durch die Gottesinstanz als widersprüchlich bezeichnet. Daher ist es für Suárez unmöglich, dass Gottes Allmacht ein Gebot der natürlichen Gesetze nicht wollen sollte oder könnte. Gegen Ockhams oder Gersons Überzeugung, nach der Gottes Allmacht auch Gebote und Verbote aussprechen könne, die der Vernunft des Menschen ›übersteigen‹, hält Suárez mit Nachdruck fest: Jene Hypothese ist gänzlich unmöglich. Denn Gott ist nicht imstande, dasjenige nicht zu verbieten, das an ihm selbst und in sich schlecht sowie ungeordnet in Bezug auf die vernünftige Natur ist; und er ist auch außerstande, das Gegenteil nicht zu gebieten.74
Mit Thomas, Vitoria und vielen anderen Autoritäten hält Suárez folglich fest, »dass Gott grundsätzlich nicht vermag, die Ordnung seiner Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang aufzuheben, so wie es ihm unmöglich ist, seinen Versprechen untreu zu werden.«75 Suárez ist sich über die Konsequenzen dieser weitgehend thomasischen Zurückweisung des Voluntarismus durchaus im
72 DL II. 6. 15, Brieskorn 443 / Pereña III, 98: »[T]amen quia sequeretur contradictio, non potest Deus id velle.« 73 DL I. 9. 3; Hvhb. von mir, Brieskorn 187f. / Pereña II, 5f: »In divinis enim ratio est rectitude per essentiam divinae voluntatis. Est enim Deus summe bonus, et ideo non potest aliquid pravum praecipere. Item quia non potest Deus sibi esse contraries. […] Ergo impossibile est ut lex divina positive aliquid contra hanc naturalem iustitiam cintineat.« 74 DL II. 6. 21, Brieskorn 449 / Pereña III, 103: »Alter modus dicendi esse potest illam hypothesim esse omnino impossibilem, quia non potest Deus non prohibere id quod est intrinsece malum et inordinatum in natura rationali vel non praecipere contrarium.« 75 DL II. 6. 21, Brieskorn 450 / Pereña III, 103: »Unde ita censet non posse Deum in hoc auferre suae iustitiae ordinem, sicut non potest negare seipsum vel sicut non potest non esse fidelis in promissis.«
Urheber oder Gesetzgeber?
Klaren, d.h. über die Konsequenzen seiner eigenen Konzeption, wenn er zusammenfassend sagt: Wie immer es auch um die Freiheit beim Handeln des göttlichen Willens stehen mag, diese Verpflichtung und dieses Verbot [d.i. des Verstoßens gegen die Gerechtigkeit und damit gegen die durch die recta ratio vorgegebenen Inhalte der natürlichen Gesetze] ergeben sich völlig notwendig aus der göttlichen Vernunft.76
Im Hinblick auf die natürlichen Gesetze steht es wohl eher schlecht um die Freiheit im Willen der Gottesinstanz und es ist nur diese Einschränkung seiner Freiheit und damit die Einschränkung seiner Omnipotenz, die eine Rationalität des Naturrechts und damit die Existenz eines Naturrechts als eines überpositiven Rechts garantiert. Noch bei der Frage der Dispens vom Naturrecht77 wird sich diese charakteristische Beschränkung der omnipotentia dei zeigen: Zwar kann jeder weltliche Gesetzgeber von den von ihm erlassenen Gesetzen dispensieren; nicht aber Gott als Gesetzgeber von den allgemeinen Bestimmungen des Naturrechts.78 Eine potestas absoluta ist aber mit solchen Grenzen der reinen praktischen Vernunft nicht zu vermitteln.
76 DL II. 6. 22, Brieskorn 451 / Pereña III, 104: » Atque ita quidquid sit de libero actu divinae voluntatis, obligatio haec et prohibitio omnino necessario sequitur ex ratione divina.« 77 Siehe hierzu auch den Beitrag von Oliver Bach in diesem Band. 78 Siehe hierzu DL II. 15. 1 und 2, Brieskorn 570f. / Pereña IV, 46f.
Norbert Brieskorn S.J.
Charitas, Iustitia und Libertas im dreifachen Auftrag an den Menschen Ein Kommentar zu DL II. 8. 4
Einleitung Im Folgenden soll zunächst der Abschnitt 8. 4 aus dem zweiten Buch von Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore, d.h. die dem Menschen durch das natürliche Gesetz aufgegebene dreifache ›Sorge‹ bzw. Pflicht analysiert werden. Diese dreifache Sorge besteht aus der Sorge um sich selbst, um den Nächsten sowie um die Gemeinschaft. Dieses Konzept von Sorge wird in ihrem Inhalt an Deutlichkeit gewinnen, indem sie mit den drei Liebesbeziehungen verglichen wird, die Suárez in De Charitate (Disp. I. Sect. 1. Nr. 2) herausarbeitete.1 Anschließend soll aus der Vollständigkeit der Gott-Schöpfer-Beziehungen nur jene betrachtet werden, die als natürliches Gesetz bezeichnet wird. Es differenziert die zweite Sorge, die den Nächsten gilt, erstens in die Sorge um die vorpolitische Gemeinschaft, zweitens um die Staatsgründung, drittens um die Wahl der Staatsform und viertens um die Pflicht des Volkes, sich dem von ihm geschaffenen Staat zu unterwerfen. Letztlich sollen Überlegungen zum natürlichen Gesetz angestellt werden, und zwar zum einen zum denkerischen und politischen, d.h. zum ideellen und realen Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit bei Suárez, und zum anderen zur Bedeutung, die Suárez der menschlichen Person in der politischen Gemeinschaft zumisst.
Charitas, Gerechtigkeit und Recht im Naturrecht des Francisco Suárez Die im Zentrum der nachfolgenden Interpretation stehende Passage aus DL II. 8. 4 lautet wie folgt: 1 Franciscus Suárez: De Charitate. Prolog; Vivès 12, 634.
Norbert Brieskorn S.J. Der Mensch ist nämlich (1.) ein bestimmtes ungeteiltes Seiendes und wird als solches vom Bedürfnis getrieben, sein Sein zu seinem eigenen Wohlbefinden zu erhalten; (2.) ist er ein dem Zerfall ausgesetztes, d.h. ein sterbliches Seiendes und als solches darauf angelegt, seine Art zu erhalten und die dazu nötigen Handlungen vorzunehmen. Schließlich ist der Mensch (3.) auch ein vernünftiges Seiendes und als solches der Unsterblichkeit, der geistlichen Vervollkommnungen und des Gesprächs mit Gott wie auch des geselligen Umgangs mit den vernünftigen Geschöpfen fähig.2
Diesen Text versuche ich in der folgenden Ausführung auszulegen. Der Sichtweise des natürlichen Gesetzes, dem es um die Iustitia geht, stelle ich die Charitas gegenüber: Sie verdeutlicht, wie in ihr die in jenem Text angesprochene Dreiheit vom Ich, vom Du und Wir sowie von der Gesellschaft zu verstehen ist.
. Die Charitas des dreieinen Gottes und ihr Wirken 2. 1. 1. ›Charitas‹ ist zunächst und vor allem Gottes Liebe zu sich selbst, sie ist ewige, im engsten Austausch untereinander stattfindende Liebe der drei göttlichen Personen,3 Gott selbst ist also die und nur Liebe.4 2. 1. 2 ›Charitas‹ ist sodann auch die von den drei göttlichen Personen ausgehende Liebe zum Menschen. Ihm ist außer Gott auch der Nächste, der dem Liebenden in eben der Liebe jeweils nahe Mensch, Gegenstand der von Gott geschenkten Liebe.5 Liebe ist in beiden Fällen ein- und dasselbe Verbindungselement. 2 DL II. 8. 4, Brieskorn 475, Pereña III, 129: »Est enim homo individuum quoddam ens et ut sic inclinatur ad conservandum suum esse ad suam commoditatem. Est etiam ens corruptibile seu mortale et ut sic inclinatur ad conservationem speciei et ad actiones propter illam necessarias. Tandem rationalis est et ut sit capax immortalitatis et spiritualium perfectionum et communicationis cum Deo ac societatis cum rationalibus creaturis.« 3 Zu diesem hier nur mittelbar interessierenden Komplex der innergöttlichen Liebe vgl. die differenzierten Ausführungen von Thomas Marschler: Die spekulative Trinitätslehre des Francisco Suárez S.J. in ihrem philosophisch-theologischen Kontext. Münster 2007. 4 »Deus charitas est«: Franciscus Suárez: De Charitate. Prolog; Vivès 12, 634; Suárez argumentiert mit 1 Joh 4,8; Röm 5,5; 1 Kor 13,13 (ebd. 634). Allgemein zu diesem Traktat Vivès 12, 634– 763: Sein erster Teil handelt über den Glauben, fides, der zweite von der Hoffnung, spes; der dritte Teil von der Liebe, Charitas, und zwar der Liebe 1.) Gottes zu uns, 2.) von uns zu uns selbst und 3.) von unserer Liebe zu Gott. 5 Ebd., Disp. I. Sectio I. Nr.2; Vivès 12, 635a : »[P]raeter Deum, etiam proximus ad materiale objectum charitatis spectat. [...] Ratio est, quia proximus est quid Dei, particeps beatitudinis ejus; ad perfectam autem amicitiam spectat non solum diligere eum cum quo primario et per se amicitia contrahitur, sed etiam, ratione illius, ea quae ad ipsum spectant, ut amicos, filios, etc.«
Charitas, Iustitia und Libertas im dreifachen Auftrag an den Menschen
2. 1. 3 ›Charitas‹ ist die darauf antwortende Liebe des Menschen zu Gott: »Gott selbst ist Charitas, und wer in Gott lebt, lebt ebenfalls in und aus dieser Liebe«.6 Diese Charitas ist eine Kraft, die den menschlichen Willen erhebt, treibt, führt und so geneigt macht, Gott durch die übernatürliche Liebe der Wohlgesonnenheit, die amor benevolentiae supernaturalis, zu lieben. Gott ist der erste und hauptsächliche Gegenstand der Charitas, die der Mensch zu üben und auszuleben hat. So betonen es auch Röm 5,5b: »Die Liebe Gottes ist in unseren Herzen [...] verströmt«, und 1 Jo 2,5: »Wer Sein Wort bewahrt«, d.h. das Wort Christi, »in dem ist die Liebe Gottes vollkommen«.7 2. 1. 4 Suárez stellt anschließend die dreifache Richtung der Charitas vor, wie sie vom Menschen ausgehen kann: Die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu sich selbst.8 Dabei betont der Autor, dass diese drei Richtungen – die Liebe zu sich selbst, die Liebe zum Anderen, d.h. die Nächstenliebe, sowie die Liebe zu Gott aufs Engste miteinander zusammen hängen.9 a) Wer sich liebt, liebt mit dieser Liebe nicht bloß seine ihn im Guten auszeichnenden Besonderheiten, sondern auch deren Schöpfer, d.h. den Schöpfer seiner selbst und somit den aller anderen Menschen. Dieser Zusammenhang bedeutet auch, den einen und einzigen, von ihm unabtrennbaren Schöpfer zu lieben, d.h. auch den Schöpfer des Nächsten. Die Selbstliebe ist folglich die Quelle der beiden anderen Formen der Liebe.
6 1 Joh 4,16; Übers. von mir; Vivès 12, 634a: »Deus Charitas est. Qui manet in Charitate, in Deo manet«; auch: Jer 31,3; Übers. von mir: »In ununterbrochener Liebe habe ich dich geliebt«; Vivès 12, 634a: »In Charitate perpetua dilexi te.« 7 Röm 5,5b, Übers. von mir; Vivès 12, 634a: »Charitas Dei diffusa est in cordibus nostris«; 1 Joh 2,5; Übers. von mir; Vivès 12, 634a: »Qui servat verbum eius, id est Christus, in hoc Charitas Dei perfecta est«; siehe auch 1 Kor 13,13, Übers. von mir: »Jetzt aber bleiben diese drei [...]; die größte unter ihnen ist aber die Charitas« / Vivès 12, 634a: »Nunc autem manent tria haec […] Major autem horum est charitas.« 8 Mt 22,37–39; Mk 12,28–31; Lk 10,25–28; Augustinus: De doctrina, lib. III, cap. 10, Nr.16, Übers. von mir: »Charitas nenne ich die Bewegung des Geistes, um Gott um seiner selbst willen zu genießen, und auch sich selbst, sowie den Nächsten um Gottes willen.« / PL 34, 72: »Charitatem voco motum animi ad fruendum Deo propter seipsum, et se atque proximo propter Deum«; siehe weiter ebd., Übers. von mir: »Was die Liebe tut, um sich selbst zu nützen, ist der Nutzen; was sie aber tut, um dem Nächsten zu nützen, nennen wir Wohltun. So betrachtet, geht der Nutzen voraus, da ja niemand mit dem, was er gar nicht hat, dem Nächsten zu nützen vermag.« / PL 34, 72: »quod agit charitas, quo sibi prosit, utilitas est: quod autem agit, ut prosit proximo, beneficientia nominatur. Et hic praecedit utilitas, quia nemo potest ex eo, quod non habet, prodesse alteri.« 9 Zum Zusammenhang der drei Liebesbeziehungen: Suárez: De Charitate, Disp. I, Sectio I, Nr. 2; Vivès 12, 635b und Nr. 7; Vivès 12, 636a–b.
Norbert Brieskorn S.J. b) Wer den Nächsten liebt, liebt unmittelbar auch dessen Schöpfer, der ihn erschuf; da dieser auch mein Schöpfer ist, gelange ich wieder zur Selbstliebe.10 c) Wer Gott liebt, liebt dessen Aktivität und somit die Schöpfung jedes Menschen, meiner selbst und meiner Nächsten. Auch diese Richtung führt also vom ersten auf den zweiten und dritten Gegenstand der Liebe. Dieser unlösbare Zusammenhang verweist somit auf die »Gleichheit der Menschen unter sich« und die »Gleichheit vor und Gleichheit mit Gott«. Zu leben gemäß dem natürlichen Gesetz legt den Grund für diese drei Liebesrichtungen, die in die drei Ausstrahlungen des natürlichen Gesetzes eingebunden sind, d.h. in die Liebe zu sich, die offen für den Nächsten steht, in die Liebe zum Nächsten, welche die Liebe zu sich und zu Gott nicht vernachlässigt, sondern vielmehr speist, und in die Liebe zu Gott, die zu den Nächsten und zur liebenden Anerkennung seiner selbst führen soll und führen wird. 2. 1. 5 Diese von Gott zu den Menschen und von Mensch zu Mensch ausströmende Charitas ermöglicht ihnen auch einen bekräftigenden Anfang im sozialen Bereich, verpflichtet zu ihm und treibt zum Aufbau dessen an, was zum Leben notwendig ist: zu Ehe, Familie, Staat und Weltgesellschaft. Die Charitas vertieft und verfeinert das soziale Leben; sie orientiert und lenkt zu Allem, dem letztlich Liebenswerten.11 Die Charitas der Trinität selbst führt also gründend, stärkend und erhaltend erstens zu den Menschen, zweitens zu ihrem lebendigeigenständigen und vernünftigen Leben sowie insbesondere drittens zur Vergemeinschaftung und deren für das Leben notwendig geschaffene Schöpfungen, wie beispielsweise zum Staat.12 Bei solcher Tätigkeit erkennt der Mensch folglich, dass er die Liebe zur und in der Gerechtigkeit verwirklicht, ausdrückt und ausdrücken soll, indem er der Charitas folgt. Insofern nimmt der Mensch intensiv und bewusst wahr, wenn er gerecht handelt, dass die Charitas sich in der Iustitia verwirklicht sehen will und sie deshalb das gerechte Handeln und Leben in Gerechtigkeit verlangt.13 Der Mensch als freies Wesen bedarf der Gerechtigkeit und vermag sie auch zu vermitteln. 2. 1. 6 Darüber hinaus wird in dieser Argumentation ersichtlich, dass jeder Mensch, unabhängig davon, ob er Kind oder Greis, Frau oder Mann, Heide, 10 Siehe ebd., Sect.I, Nr. 2; Vivès 12, 635a: »Si diligimus invicem, charitas eius in nobis est [1 Joh 4, 12].« 11 Siehe hierzu auch Cintia Faraco: Obbligo politico e Libertà ne Pensiero di Francesco Suárez. Mailand 2013, S. 96ff. 12 Siehe diese drei Richtungen sind als die drei Aufgaben in DL II. 8. 4 angesprochen. 13 De Charitate behandelt den Krieg (Suárez: De Charitate, Disp. XIII [De Bello]; Vivès 12, 737– 759), sowie die Seditio (ebd., Disp. XIII, Sect. VIII, Nr. 1–3; Vivès 12, 759a–b).
Charitas, Iustitia und Libertas im dreifachen Auftrag an den Menschen
Christ, Jude oder Häretiker ist, unter dem Schutz des Rechts steht, d.h. unaufhebbare Rechte hat.14 Ihm stehen grundlegende Rechte als Mensch zu. Ich betone nur ein Recht, das ius defendendi. Selbst der politische Feind oder Kriegsgegner behält sein Recht auf Selbstverteidigung. Es ist ein Grundrecht, das auch dann seine Geltung nicht verliert, wenn man sich vom christlichen Glauben wieder abgewendet hat.15 2. 1. 7 Die Iustitia ist selbst dort, wo sie Mittel der Charitas ist, von einer gewissen Selbständigkeit: So gilt das Postulat der Gerechtigkeit selbständig im Zusammenhang der Verwirklichung des Liebesgebotes in der Sphäre der Charitas und ist zu verwirklichen. Daher hat die Iustitia selbst gegenüber der Charitas die unaufkündbaren Rechte zu verwirklichen. Dazu zwei weitere Beispiele: a) Gerichtsverfahren stehen jedem Verklagten zu; auch häretischer Glaube beseitigt diesen Anspruch nicht;16 b) die für den Staat Verantwortlichen können, gestützt auf begründete Verantwortung, kirchlichen Beschlüssen die Durchsetzung verweigern.17 Insgesamt erweist sich das Verhältnis von Charitas, Iustitia und Ius, das Suárez ausführt, als eine in sich differenzierte Einheit.
. Iustitia als Intentio Dei 2. 2. 1 Gott, der sich wiederholt in der Heiligen Schrift als Gott der Gerechtigkeit bezeichnet,18 erschuf unabtrennbar vom Menschen in und mit ihm ein Gesetz, mit dem er ihn lenken und zum richtigen Handeln verhelfen will.19 Aus
14 Siehe hierzu auch Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Lex und Ius / Lex and Ius. Hg. von Alexander Fidora, Matthias Lutz-Bachmann u. Andreas Wagner. StuttgartBad Cannstatt 2010, S. 429–463. 15 Ebd., Disp. XIII, Sect. VIII, Nr. 1; Vivès 12, 759a: »Omnibus competit ius defensionis«; Suárez: Defensio fidei, lib. IV, cap. XXXIV. Nr. 32; Vivès 24, 524a; ders., De Censuris. Disp. XLVI, Sect. II, Nr. 8; Vivès 23, 478b–479a. 16 Ders.: De Fide, Disp. XXIII, Sect. I u. II; Vivès 12, 577b–586a; ders.: De Censuris, Disp. XXXI, Sect. V; Vivès 23, 144a–152b. 17 Ebd., Disp. XXIII, Sect. II, Nr.1; Vivès 23, 620a–621b: »Excommunicatio contra principes saeculares negligentes in sui officii functione.«; ebd., Nr.4, Vivès 23, 621a: Unterlassen »ex charitate«; ders.: De Charitate, Disp. XIII, Sect. IV, Nr. 8, Vivès 12, 745b–746. 18 Röm 1,17: »Deus Iustitia est«, Gott ist die Gerechtigkeit; noch eindeutiger Röm 3,5 [theoû dikaiosýne]; siehe auch Röm 3,21f. und 10,3; 2 Kor 5,21. 19 DL II. 5. 12 u. 14, Brieskorn 417 u. 419, Pereña III, 70f. u. 72f.: »Gott schrieb es in ihre Herzen«; siehe hierzu auch Norbert Brieskorn: Lex Aeterna. Zu Francisco Suárez’ Tractatus de
Norbert Brieskorn S.J. der Gerechtigkeit verlieh Gott also mit der Erschaffung der Welt derselben ihre Ordnung, die Lex aeterna, von der die Lex naturae ein Teil ist. In seiner Vernunft erkennt der Mensch das natürliche Gesetz und muss dessen Inhalt und Geltung nicht von Gott erfragen.20 2. 2. 2 Der Weg des Menschen verläuft dabei beständig von der Erfahrung der Freiheit in Gleichheit zur Suche nach gerechten Verpflichtungen in seiner Gleichheit mit allen anderen. Menschlicher Freiheit geht es nach Suárez um dreierlei, den Träger selbst, das soziale Leben und die Gottesverehrung.21 Sein Leben spielt sich in der von Gott geschaffenen Welt ab, in welcher der Mensch während seiner Menschheitsgeschichte in die ihm zugedachte Rolle hineinzuwachsen, erreichte soziale Ordnungen zu bewerten, neue anzuregen und schöpferisch in der politischen Gemeinschaft, und damit in der Welt tätig zu sein hat. 2. 2. 3 Ausgehend von der Gerechtigkeit ist also die Welt zu würdigen, zu beurteilen und mit Hilfe ihrer Formen – iustitia commutativa, iustitia distributiva, iustitia punitiva und iustitia publica ordinans – das gute Leben zu gewinnen. Gerechtigkeit bietet sich in der von Gott geschaffenen Welt als ausgleichende, als verteilende, das Zusammenleben ordnende und richtungsweisende Kraft an. Von der Gerechtigkeit aus sollen Weg, Arbeit, Gründung des eigenen Lebens, Ehe, Familie, Stadt und Staat wie Weltgesellschaft bestimmt werden.22 2. 2. 4 Sein Recht auf Über- und Weiterleben, also auf Ehe, Familie, kleinere Gemeinschaft, Dorf und Polis verlangt solche Gründungen um des je besseren, tieferen Zusammenlebens willen. Die Gleichheit der hier angesprochenen Menschen und Gemeinschaften ist ebenfalls Vorbedingung des menschlichen Wünschens und Wollens, seines Einsatzes und der Verwirklichung der erwünschten sozialen Lebensformen. Auch zu diesem Zweck sind das gleiche Wollen und Können der je angesprochenen Menschengruppe und damit jedes Menschen zu fördern. Zu diesen Ansprüchen zählen aber auch das Recht auf geistige Entwicklung, die ebenso auf den anderen angewiesen ist, und die ohne die anderen legibus ac Deo legislatore. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 49–73. 20 DL II. 1– 4: Lex aeterna; DL II. 5–16: Lex naturae. 21 Ich kam zum Eindruck, dass in DL II. 8. 4 Suárez die Verehrung Gottes einfach unter die menschlichen Pflichten reiht. 22 Zu den letzten drei Aufgabenfeldern s. DL II. 17–20 und DL III; zum komplexen Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit bei Suárez vgl. auch Gideon Stiening: »Der hohe Rang der Theologie«? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 97–133.
Charitas, Iustitia und Libertas im dreifachen Auftrag an den Menschen
nicht stattfinden kann, bis hin zur Universität, die als Einrichtung erforderlich ist, damit menschliche Gemeinschaft und in ihr jeder Mensch sich in seinen Anlagen entfaltet. 2. 2. 5 Darüber hinaus betont Suárez in der zitierten Passage aus DL II. 8. 4 eine weitere Aufgabe und einen weiteren Zweck, nämlich das ›Gespräch‹ mit Gott, die communicatio cum Deo. Sie geht von der Gleichheit des Menschen mit Gott und Gottes mit dem Menschen aus. Dieser Aspekt wird im Folgenden noch zu berücksichtigen sein.23 2. 2. 6 Zusammenfassend lässt sich bis hierhin festhalten: a) Alle Menschen sind, so hält Suárez in diesem gesamten Buch II fest, auf Gott ausgerichtet, allerdings ist nicht von der trinitarischen Auffassung, vom Verständnis Gottes als des Dreifaltigen die Rede, sondern nur von »Gott«. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass Suárez in II. 8. 4 das ständige, alle gewichtige Themen behandelnde Gespräch der Menschen untereinander an die oberste Stelle rückt. b) Gott selbst verlangt gerechtes Handeln in allen sozialen Beziehungen, auch gegenüber den nötigen Institutionen. Diese menschlichen Schöpfungen sollen die Lex naturae gegenüber den ihnen anvertrauten Menschen beachten. Gerechtes Handeln soll zudem auf die Charitas ausgerichtet sein. c) Der Mensch soll sowohl als privates als auch sozio-politisches Wesen nach Wissen über gerechte Gestaltungen verlangen und sein Wollen am gerechten Sollen ausrichten. Jedem Mensch steht ein Recht auf Leben und Entfaltung zu. In dieser Ausstattung ist jeder Mensch mit jedem anderen Menschen gleich.
. Identität und Differenz zwischen Charitas und Gerechtigkeit 2. 3. 1 Die Unterschiede zwischen Gerechtigkeit und Charitas bestehen in den folgenden Momenten: Der dreieine Gott sieht die Welt aus seiner Liebe an und ist Charitas, welche die Gerechtigkeit einsetzt, um sich und sie ununterschieden zu verwirklichen. Gott lebt die Charitas vor, der Mensch lebt sie nach. Demgegenüber setzt der Mensch mit der ihm zugesprochenen Freiheit zum gerechten Handeln an. Er kann, darf, soll und muss jedoch die Charitas miteinbeziehen. Auf der göttlichen Seite ist die Charitas folglich der notwendige Ursprung der Gerechtigkeit, auf der menschlichen Seite ist die Gerechtigkeit möglicher Ursprung der Charitas. 23 Siehe DL II. 3: Die Fachwörter lauten Kongruität und Kongruismus.
Norbert Brieskorn S.J. 2. 3. 2 Gemeinsam sind Charitas und Gerechtigkeit die folgenden Dimensionen: Das Leben gemäß dem natürlichen Gesetz findet auf jenen drei Ebenen statt, die auch mit der Charitas vorgestellt wurden: der Liebe zu sich, die offen für den Nächsten ist, der Liebe zum Nächsten, welche die Liebe zu sich und Gott in sich enthält, und in der Liebe zu Gott; wobei das natürliche Gesetz nur ›Gott‹, nicht aber dessen Trinität impliziert. Suárez wahrt also bei diesem Aufbau den Unterschied zwischen Offenbarungsreligion und Theologie einerseits sowie der vom Menschen ausgeführten Philosophie andererseits, die eine von Religionen und Weltanschauungen unabhängige Denkbemühung ist.24 2. 3. 3 Darüber hinaus können und müssen sowohl die aus der Charitas als auch die aus menschlicher Freiheit handelnden Menschen zwischen gut und böse wählen und sich vom Guten zum Besseren entwickeln.25
Das Handeln des Menschen aus der Gleichheit mit Gott Im Folgenden sollen diese begrifflichen Distinktionen mit der spezifisch naturrechtlichen Argumentation in DL II. 5–16 verbunden werden. Zu achten ist darauf, wie unverzichtbar Suárez es ansieht, dass das natürliche Gesetz die Men-
24 Auch wenn er im Vorwort zu De Legibus betont, dass die »Theologie« Recht, Gesetz und Staat als unverzichtbare Mittel zum Erreichen der natürlichen wie übernatürlichen Glückseligkeit ansieht und sie sich daher tief und energisch mit diesen drei Mitteln zu beschäftigen hat (Brieskorn, 15–23). Doch geht, so Suárez, Theologie nicht im Bemühen um die drei Mittel auf; zum Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Suárez vgl. auch Emmanuel J. Bauer: Francisco Suárez. Scholastik nach dem Humanismus. In: Philosophen der Renaissance. Eine Einführung. Hg. von Paul Richard Blum. Darmstadt 1999, S. 206–221. 25 Francisco Suárez: De Bonitate, Disp. I. Sect. I. Nr. 6; Vivès 4, 278b: Den Akt sittlichen Entscheidens zwischen Gut und Böse vollzieht die Vernunft in ihrer Freiheit: »ut actus voluntatis moralis sit necesse est, ut procedat ex perfecta deliberatione rationis [...] sub ratione honesti aut turpis«. Hingegen ist der Akt, der vom Guten zum Besseren führt, nicht der Wahlfreiheit überlassen; der Mensch unterwirft sich dabei der ihn vollendenden Kraft, also der Notwendigkeit: Dieser Akt entsteht »ex natura [...] nam amor beatificus licet sit a voluntate, et a ratione plene considerante, nihilominus non est actus moralis, solum quia est necessarius« (ebd., Vivès 4, 279a). Ders.: De Voluntario, Disp. I, Sect. III, Nr.1; Vivès 4, 170a–b: Der Akt dieser sich wie eine Notwendigkeit meldenden, notwendig angenommenen, gelebten und beständig vertieften Liebe zu Gott ist ein Akt »non liber in propria significatione, qua nunc utimur [...] et similiter amor quo Deus se amat, et quo Pater et Filius producunt Spiritum Sanctum, est omnino necessarius.«
Charitas, Iustitia und Libertas im dreifachen Auftrag an den Menschen
schen in eine beständige Pflicht unablässiger Abwägung stellt, die letztlich unter dem obersten naturgesetzlichen Gebot steht, das Gute ist zu suchen, das Böse ist zu meiden.26
. Natürliches Gesetz und positives Recht 3. 1. 1 Die Menschen erkennen zu Recht, dass das natürliche Gesetz sich im Menschen und in Gott befindet.27 Gerechtigkeit wird in diesem Fall nicht unmittelbar in der Charitas ausfindig gemacht und aus deren Inhalt entwickelt, sondern aus dem von Menschen seit je und unmittelbar vorhandenen und erfahrenen natürlichen Gesetz, das von der recta ratio erkannt wird.28 Handelt der Mensch ihm gemäß, seinem Grundziel, seinen Grundnormen und Folgerungen gemäß, dann entspricht er dem Guten und somit dem Willen Gottes, des Schöpfers von Welt und Mensch.29 3. 1. 2 Das natürliche Gesetz fordert, dass die Vernunft zuerst und grundsätzlich »beurteilt, welche Handlung einer solchen Menschennatur gut oder schlecht bekommt«.30 Es teilt eine vom vernünftigen Denken erarbeitete Feststellung mit, es trägt also – nicht nur oder nicht einmal hauptsächlich – den Charakter eines gebietenden oder verbietenden Gesetzes. Es verhilft zum Urteil darüber, ob eine Handlung als gut oder schlecht anzusehen ist.31 Das natürliche Gesetz vollzieht die Prüfung möglichen Handelns gemäß den allgemeinen Prinzipien, welche die sittliche Gutheit oder Schlechtigkeit betreffen.32 Sodann verlangt es, den Weg zum Guten ständig und beständig zu gehen, sowie mögliche Spezifizierungen dieses Ziels und deren Mittel zu prüfen, die zu ihm gelangen
26 Mehrere, bereits genannte Stellen erwähnen dieses Gebot, so z.B. noch DL II. 8. 2, Brieskorn 473f., Pereña III, 126f. Vgl. hierzu auch James Gordley: Suárez and Natural Law. In: The Philosophy of Francisco Suárez. Ed. by Benjamin Hill u. Henrik Lagerlund. Oxford 2012, S. 209–229. 27 DL II. 7. 7, Brieskorn 463f., Pereña III, 117f.: »Alle diese Prinzipien gehen aus der Natur und von Gott hervor, insoweit er der Urheber der Natur ist.« / »Denique haec omnia praecepta necessitate quadam prodeunt a natura et a Deo quatenus auctor est naturae […].« 28 DL II. 5. 12, Brieskorn 417, Pereña III, 70f.; siehe hierzu den ersten Beitrag von Gideon Stiening in diesem Band. 29 DL II. 6. 13–25, Brieskorn 440–456, Pereña III, 95–108, besonders DL II. 6. 17, Brieskorn 446f., Pereña III, 100. 30 DL II. 5. 9, Brieskorn 413, Pereña III, 66f. 31 DL II. 6. 6, Brieskorn 430, Pereña III, 87. 32 DL II. 7. 2, Brieskorn 457, Pereña III, 110; DL II. 7. 5, Brieskorn 460f., Pereña III, 115; DL II. 7. 7, Brieskorn 463, Pereña III, 117f.
Norbert Brieskorn S.J. lassen.33 Das natürliche Gesetz auferlegt dem Menschen folglich, genau und in innerer Freiheit zu erwägen, wie er grundsätzlich leben soll, und welche Mittel auf dieses Ziel zuführen. Mit der Gerechtigkeit als Ziel vor Augen untersucht somit die Natur alle Handlungsmöglichkeiten treu, unablässig und in ständiger Suche nach je höherer Angleichung mit ihr.34 3. 1. 3 Damit billigt Gott auch, dass seine ausdrückliche, also von der Person verrichtete Verehrung, welche die Menschen je nach Kultur und Religion kulturell festlegen, nicht notwendig mit dem sozio-politischen Leben verbunden sein muss. Zum Beleg dieser These verweise ich auf die folgende Argumentation: 3. 1. 3. 1 Gott erschafft unmittelbar aus der bloßen Menge, der multitudo, das Volk, den populus, den principatus, das den Staat erschafft, und sich sodann als Principatus unmittelbar zur Monarchie oder Demokratie erklärt.35 Der Mensch bzw. das Volk tritt bei diesem Prozess mit Gottes Willen als Schöpfer des Gemeinwesens auf,36 anders ausgedrückt: Das Volk tritt an Gottes Stelle, der zu Beginn bei der Staatswerdung maßgeblich beteiligt war.37 3. 1. 3. 2 Die geistliche und die weltliche Macht müssen in strikter Trennung voneinander je für sich geordnet werden.38 Allerdings steht der Kirche die po-
33 DL II. 6. 9, Brieskorn 435, Pereña III, 90f., führt als Beispiel an: Der Lenker eines Gemeinwesens hat Unterziel wie Mittel genau zu erwägen und muss oft Schlechtes zulassen; auch hat er zu billigen, dass freie Zweitursachen ihre Freiheit nach ihrem Gutdünken und ohne Hindernis benützen. 34 Siehe hierzu auch die Ausführungen bei Matthias Kaufmann: Francisco Suárez’ lex naturalis zwischen inclinatio naturalis und kategorischem Imperativ. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 155–173. 35 Francisco Suárez: Defensio fidei III: 1 Principatus politicus ó la soberanía popular. Ed. por Eleuterio Elorduy y Luciano Pereña. Madrid 1965, S. 41f. (lib. III, cap. III. Nr. 12): »[I]mmediate solum datur a Deo illi subiecto, in quo ex vi solius rationis naturalis invenitur; hoc autem subiectum est populus ipse«; ebenso heißt es ebd., S. 42: »[U]t [...] reges dicantur ministri Dei, satis est, quod ab illo habeant potestatem, licet mediante populo, quia ille est modus maxime connaturalis et optimus.« 36 Siehe hierzu schon Heinrich Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez SJ. Mönchengladbach 1926. 37 Deutlich DL III. 4. 8; Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 62: »[C]onstat posse hanc potestatem esse immediate ab hominibus et mediate a Deo, immo ordinarie ita esse, loquendo de potestate naturali.«. Ebenso in Suárez: Defensio fidei (s. Anm. 35), S. 31 (lib. III, cap. II, Nr. 18): das Einsetzen der Regierung ist »immediata institutio humana«. 38 Ebd., S. 108 (lib. III, cap. VII, Nr. 3): »Veritas ergo catholica est reges temporales, ut tales sunt seu ratione sua iurisdictionis supremae in principatu politico, nullam habere in Ecclesia spiritualem potestatem«; ebd., S. 122 (Cap. VIII, Nr. 1): »ius ipsum naturale non attingit talem [spiritualem] potestatem.«
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testas indirecta zu, während dem Staat das Recht der Kritik an kirchlichen Zuständen zukommt.39 Christen und Nichtchristen befürworten also nach Suárez das in der Welt eigenständig geltende höchste Gesetz: das natürliche Gesetz.40 3. 1. 3. 3 Die verschiedenen Formen der Gerechtigkeit verlangen nicht, ausdrücklich auf Gott bezogen zu werden. Der sachliche Bezug Gottes auf den Menschen und des Menschen auf Gott – in welcher Beziehung sich der Gerechtigkeitswille beider Partner begegnet – bleibt selbstverständlich unangreifbar, unabänderlich und bestimmend, und zwar auch unabhängig davon, ob der Mensch um diesen Bezug als notwendigen weiß, mit ihm rechnet oder Gott gar liebt. 3. 1. 3. 4 Falls einige Menschen die ausdrückliche Gottesverehrung außer Acht lassen sollten, jedoch nicht die von Gott gewollten Grundeinstellungen zum Leben, d. h. in Achtung der Gleichheit, Freiheit und Vervollkommnung handeln, ist Gott selbst damit zufrieden und kritisiert gemäß menschlicher Erfahrung keineswegs solches Verschweigen seiner Schöpferrolle. Denn wer eine solche Grundstruktur beachtet, wird mittelbar dem Willen Gottes gerecht und erweist ihm als Bedingung dieser Möglichkeiten Achtung. Gott lässt es zu, dass der Mensch in seinem von ihm gewählten Licht Gottes Anliegen wahrt. 3. 1. 3. 5 Gott hat dem Menschen die Freiheit geschenkt und achtet die freien Entscheidungen, so kritisch er der konkreten Wahlentscheidung gegenüber stehen mag. Gott stellt fest, dass der Mensch annimmt, dass es ihm unter der betreffenden politischen Verfassung gut geht.
. Naturrecht und Staatsgründung Drei Bemerkungen mögen die folgenden Überlegungen einleiten: 3. 2. 1. 1 Nach Suárez gilt für das menschliche Wirken der Grundsatz: Die hohe Würde, der Rechtsschutz und die Selbstverpflichtung, die dem vom natürlichen Gesetz gewollten Leben zustehen, werden notwendig durch die Mittel (media), die Bedingungen (conditiones) und die Verhältnisse (relationes) ergänzt, die zur Entstehung, Erhaltung und Erfüllung der von der lex naturalis intendierten Aufgaben erforderlich sind. 39 Auf beide »Korrekturrechte« werde ich anderweitig eingehen; ich verweise nur auf Suárez: Defensio fidei, Lib. III, Cap. XXI–XXIII sowie auf Lib. VI, Cap.VII. Suárez folgt hierbei Cajetan: De potestate Papae, Cap. 27, Francisco de Vitoria; Relectio I. De potestate Ecclesiae, quaest. VI, Nrn. 3 und 4 sowie auf Robert Bellarmin: De Romano Pontifice, lib. II, cap. 29. 40 Suárez: De Charitate, Disp. XIII, Sect. III, Nr. 4; Vivès 12, 740b: »omnia, cum in lege naturali fundata sint, communia sunt Christianis et infidelibus.«
Norbert Brieskorn S.J. 3. 2. 1. 2 Die Ergebnisse dieses Prozesses bzw. dieser Hervorbringung entbehren gleichfalls nicht einer solchen Würde, wie sie auch den mit ihnen erlassenen Rechten und Pflichten zukommt.41 3. 2. 1. 3 Der Mensch muss darauf achten, dass ihn das natürliche Gesetz unter die Pflicht unablässiger Abwägung stellt, die unter dem obersten naturgesetzlichen Gebot steht, das Gute ist zu suchen, das Böse zu meiden.42 3. 2. 2 Die drei in der zitierten Passage aus DL II. 8. 4 reflektierten Lebenssphären bzw. Pflichtbereiche fordern nun das Folgende: 3. 2. 2. 1 Hinsichtlich des einzelnen Menschen bestimmt Suárez zuerst dessen Rechte auf Leben, Überleben und sicheres Leben. Er betont und nimmt damit vorweg, was ab 1776 die US-Verfassung und die Französischen Verfassungen als erste sichern: die Menschen- und Grundrechte. Suárez weist auf den gottgewollten Schutz dieser Grundrechte hin.43 3. 2. 2. 2 Der Weg zur Gründung des Staates besteht nach Suárez in folgenden Schritten: 3. 2. 2. 2. 1 Einzelne Dorfgemeinschaften finden sich zu größeren Vereinigungen zusammen, und zwar aus verschiedenen Gründen, u. a. um das Leben materiell zu stärken und um geordnete Verständigungen zwischen den Menschen zu schaffen. Etwas ausführlicher als in De legibus und als in Defensio fidei drückt sich Suárez in seiner erst posthum veröffentlichten Schrift De sex dierum aus. 44 Hier nennt er diese Gemeinschaft communio, populus bzw. respublica.45 Der Sache nach geht es dem Mensch nach Suárez um einen das persönliche Glück ermöglichenden, gleichen, freien und gerechten Umgang, also um iucun-
41 Zum Beleg von 1.1 und 1.2 diene uns, was Suárez über das neugeborene Kind ausführt: DL III. 3. 6, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 42–44: »Libertas data est unicuique homini ab auctore naturae, non tamen sine interventu causae proximae seu parentis a quo producitur [...] voluntas parentis solum est necessaria ad generandum, non tamen requiritur specialis voluntas dandi filio libertatem aut alias facultates naturales, quae per se non pendent ab speciali voluntate generantis sed naturaliter consequuntur.« 42 Ich verweise noch einmal auf DL II. 8. 2, Brieskorn 473f., Pereña III, 126f. 43 Siehe Suárez: De Charitate, Disp. XIII, Sect. VIII. Nr. 1; Vivès 12, 759a: »Omnibus competit ius defensionis.« 44 Ders.: Tractatus de opere sex dierum seu de universi creatione [ ...] et de productione hominis in statu innocentiae, lib. V, cap. VII; Vivès 3, 413–419. Im Folgenden abgekürzt mit DO. 45 DL III. 2. 4, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 32: »Multitudo Hominum non est unum corpus politicum, ac proinde non indigent uno capite aut principe […] quatenus speciali voluntate seu communi consensu in unum corpus politicum congregantur uno societatis vinculo et ut mutuo se iuvent in ordine ad unum finem politicum, quomodo efficiunt unum corpus mysticum.«
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ditas, aequatio, libertas und conservatio.46 Die Sünde beeinträchtigt, schmälert und verfälscht die Gutheit, beseitigt sie jedoch keineswegs. Da das natürliche Gesetz nach Suárez postuliert, die Bedingungen und Mittel für dieses Lebens zu erschaffen, werde nur in Treue zu Gott der Weg von der bloßen Vereinigung hin zu einer rechtlichen Verfasstheit derselben beschritten, deren letzte Form schließlich dazu verhilft, einen Staat im echten Sinne zu errichten. Dieser Prozess bzw. diese Aufgabe wird nach Suárez durch den Sündenfall nicht verunmöglicht. 3. 2. 2. 2. 2 Diese Gründung, auf die noch die Wahl ihrer Form zu folgen hat, wird respublica,47 principatus,48 populus49, civitas oder perfecta communitas politica50 benannt. Der populus oder der principatus wählt sodann die Staatsform. Der Staat kann zur Monarchie, Aristokratie oder Demokratie werden; er kann aber auch aus einer Mischform, sei es aus allen dreien oder von zweien der Grundformen bestehen.51
46 DO V. 7. 6; Vivès 3, 414b (s. Anm. 44): »[H]aec communitas vitae non tantum propter indigentiam mutui auxilii, sed etiam propter se aptibilis est, ad majorem vitae jucunditatem et honestam communicationem, quam homo naturaliter amat.«; DO V. 7. 10; Vivès 3, 416a: »Libertas est homini naturalis et magna eius perfectio«; DO V. 7. 12; Vivès 3, 416b: »necessaria ad conservationem«; und DO V. 7. 13; Vivès 5, 416b: »Nam est eadem ratio, quae non in culpa, sed in ipsa aequitate naturali fundatur«. Nach dem Sündenfall, so DO V. 7. 8, bleibt der Mensch auf diese Zwecke ausgerichtet und mit ihnen verbunden; nur die correctio malefactorum et emendatio tritt hinzu (Vivès 3, 415b). 47 DL III. 4. 3, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 54: Jedes Königtum hat seine Macht von seinem Gründer, der wiederum erhielt sie von der respublica: »Regnum habet potestatem suam a fundatore«, als »primus« hatte er »potestatem supremam immediate a republica«. 48 »Principatus« wird für das gründende Volk zwar selten verwendet, jedoch in Suárez: Defensio fidei (s. Anm. 35), S. 18 (lib. III, cap. II, Nr. 4): »potest igitur principatus politicus, vel per se et praecise considerari, ut potestas quaedam suprema regendi civiliter rempublicam, abstrahendo ab hoc vel illo modo regiminis, tam simplici quam mixto, vel prout determinatus ad aliquam regiminis speciem.« 49 Ebd., S. 35 (lib. III, Cap. III, Nr. 2): »postquam populus potestatem suam regi contulit, iam se illa privavit.« 50 Ebd., S. 18 (lib. III, Cap. II, Nr. 5): »data est a Deo hominibus in civitatem seu perfectam communitatem politicam congregatis.« 51 Thomas Hobbes verbietet im Leviathan, Kap. 42, § 81 Mischungen und besteht auf lediglich den drei Formen (Thomas Hobbes: Leviathan. Hg. und übers. von Iring Fetscher. Frankfurt a. M. 1976, S. 419f.): Monarchie, Aristokratie und Demokratie, sie sollen »ungemischt« und unbeschränkt sowie mit absoluter Souveränität ausgestattet sein.
Norbert Brieskorn S.J. 3. 2. 2. 2. 3 Die Staatstätigkeit soll aus den oben genannten Gründen erfolgen. Zu diesen genannten Gründen kommt noch die strafende Gerechtigkeit hinzu.52 3. 2. 2. 2. 4 Zum Verhältnis von Volk und Regierung hält Suárez Folgendes fest: Einerseits darf das Volk beim Akt der Gründung selbst, etwa bei der Wahl der Staatsform, die detaillierte Gestaltungen beeinflussen.53 Andererseits darf das Volk mit der gebildeten Regierung beidseitige Verträge in voller Freiheit schließen.54 Es darf darüber hinaus Verbesserungen wollen und muss dazu anstreben, sie gemeinsam mit der Regierung zu erarbeiten.55 Allerdings darf das Volk keineswegs jederzeitig Regierung und Verfassung abschaffen und eine neue Staatsform oder eine neue Regierung bilden.56 Der populus darf sich nach Suárez also nicht ständig selbst befragen, ob er einverstanden sei, die von ihm gewählten Formen aufrecht zu erhalten.57 En passent sei darauf hingewiesen, dass sich Suárez’ Zurückweisung eines fundamentalen Widerstandrechts aus der folgenden Prämisse ableiten lässt: Diese Prämisse besteht in der Annahme, dass das ›Recht‹ jedes Seienden, in seinem Sein zu bleiben, anerkannt wird, und zwar sobald es ist. Sobald eine ›existentia‹ vorliegt, existiert auch der Anspruch eines Herrschers und es besteht die Pflicht der Bürger, dieses Seiende existieren zu lassen. Keine höhere Macht darf ohne Begründung Seiendes vernichten oder grundlegend verändern.58 Vor allem gilt dieses Postulat, sobald der Mensch nicht nur irgendetwas geschaffen hat, sondern eine staatliche Institution, in der verantwortlich für Menschen gehandelt wird. Diese Bestimmung qualifiziert nicht nur jeden ver-
52 Suárez: De sex dierum, lib. V, cap. VII, Nr. 12; Vivès 3, 416b, bzgl. des Urzustandes: »Nec potestas illa esset coactiva, per quam subditi poenis subjicerentur, sed esset directiva ad majus bonum et pacem communitatis ordinata.« 53 Ders.: Defensio fidei (s. Anm. 35), S. 36 (lib. III, cap. III, Nr. 4), die von »tacitus vel expressus consensus« zwischen »populus« und »potestas sua« spricht; vgl. DL III. 1–4, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 6–68. 54 Ders. : Defensio fidei (s. Anm. 35), lib. III, cap. III, Nr. 4, 6 und 13; siehe auch DL VII. 18f. 55 DL III. 1. 8–13, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 18–26; siehe auch DL III. 7–10 u.a. Es äußert sich bereits auch DL I. 9 dazu: Suárez spricht eine »Mitbestimmung« des Volkes bzgl. der Geltung des Gesetzes in DL I. 9. 7f. an (Brieskorn 245ff.). 56 Siehe hierzu auch Manfred Walther: Begründung und Beschränkung des Widerstandsrechts nach Suárez. In: Transformation des Gesetzesbegriffes im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 161–176. 57 Ders.: Defensio fidei, lib. III, cap. III, Nr. 2–3. 58 Ders.: Disputationes Metaphysicae, Disp. L; Vivès 26, 529a–587a. Sie handelt über existentia und duratio, s. auch ders.: Defensio fidei (s. Anm. 35), lib. III, cap. III, Nr. 2f.
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antwortlich Handelnden, sondern vor allem diejenige Institution, die sich »communitas«59 nennt, als normativ geordnete Gemeinschaft unter Menschen. Suárez zeigt also erstens das Recht und die Pflicht auf, vernünftig und gemeinsam einen Staat zu errichten. Er zeigt zweitens, dass im Anschluss an diese freie Handlung der Staatsgründung, die als Gemeinschaftswerk verwirklicht wird, grundsätzlich die Pflicht besteht, diese Staatsgründung sich aus den ihr mitgegebenen Kräften entwickeln zu lassen. Das geschaffene Werk wird sich selbst überantwortet und genießt einen Eigenwert. Vergleichbar ist dies mit dem Menschen nach seiner Geburt. Deshalb soll selbst der Gründer, hier das Volk, aus seiner ›mediaten‹ Stellung nicht wieder in die ›immediate‹ zurückstreben, sondern soll – gemäß dem oben skizzierten Argument – sein eigenes Werk im Recht auf sein Sein akzeptieren und sich ihm in diesem Falle unterwerfen. In dieser Weise ahmt das irdische Volk auch den überirdischen ›Mitschöpfer‹ der staatlichen Gemeinschaft nach. Ebenso wie Gott behindert oder verkürzt das Volk durch seinen Verzicht nicht sein eigenes Leben, vielmehr hat es von vornherein durch seinen Willen zur Treue zur eigenen Schöpfung die eigene Selbständigkeit begrenzt. 3. 2. 3 So wendet sich der Mensch der irdischen Welt, der Welt aller, auch seiner eigenen Welt zu. Keineswegs beschränkt er sich auf das argumentative Treiben der Metaphysik. 3. 2. 3. 1 Oben wurde gezeigt, dass das irdische Leben Gegenstand der suárezischen Überlegungen ist. Doch will er klarstellen und herausarbeiten, wie beide »Welten« miteinander verbunden sind, so beispielsweise die von felicitas naturalis und felicitas supernaturalis. 3. 2. 3. 2 Die unübersteigbare Liebe im Verhältnis der drei göttlichen Personen untereinander führt zur unerschöpflichen Charitas zu den Menschen.60
charitas und lex naturalis a) Die Trinität gibt sich als Dreiheit in Einheit, als lebendiges Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist in gleichem Rang und gleicher Macht zu erkennen.
59 Ebd., S. 18 (lib. III, cap. II, Nr. 5): »data est a Deo hominibus in civitatem seu perfectam communitatem politicam congregatis«. Später, mindestens ab dem 19. Jh. wird man auch von juristischer Person sprechen; s. auch DL III. 1. 3, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 10–12. 60 De Charitate, Disp. I, Sect. I, Nr. 2; vgl. hier 2. 1.
Norbert Brieskorn S.J. b) Gott der Schöpfer arbeitet mit dem von ihm geschaffenen Menschen eng zusammen. Dies erweist sich z.B. in der »cooperatio« von helfender Gnade und menschlicher Freiheit. »Immer wenn wir Gutes tun, wirkt Gott in uns und mit uns, damit wir so tätig sein können«.61 In De Gratia V. 3. 10 findet Suárez dazu die folgenden Worte: »Das ist genau die wirksame Gnade, durch welche Gott es leistet, dass wir [in unserer von Gott geschenkten] Selbständigkeit das von Gott Gewünschte wollen und es auch verwirklichen«.62 Und einige Zeilen später schreibt er im selben Werk: »Gott gibt die wirkende und wirksame Gnade dazu, unseren Willen zum Handeln vorzubereiten [...]. Gott wirkt nicht direkt auf unser Wollen ein, sondern er wirkt daraufhin, dass er mit uns zusammen es zu wollen vermag«.63 Darüber hinaus lässt sich betonen, dass die menschliche Vernunft mit der Gnade restlos vermittelt sein soll.64 c) Auch Vernunft und Wille ergänzen sich gegenseitig, bei allem Vorrang der Vernunft, den Suárez ihr zuerkennt.65 d) Gott gründet im Verbund mit den Menschen das Staatswesen als bloßen Staat. Das Zusammenwirken des Menschen und Gottes in diesem Staatsgründungsprozess erfolgt nach dem natürlichen Gesetz. Nach dieser Gründung bleibt Gott nurmehr indirekt an der Wahl der Staatsform und der Führung der Staatsgeschäfte beteiligt.66 Gott billigt das selbständige Handeln des Menschen
61 Francisco Suárez: De gratia, lib. V, cap. III (Utrum auxilium efficax in omni statu et in omnibus personis sit ad salutem et ad omnes pietatis actus necesssarium), Nr. 2; Vivès 8, 394a: »Quoties bona agimus, Deus in nobis atque nobiscum, ut operemur, operatur«. Auf die sich davon unterscheidende thomistische Position ist anderweitig einzugehen. Zu Suárezʼ De gratia vgl. auch William Lane Craig: The Problem of Devine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suárez. Leiden, New York, Köln 1988, S. 218ff. 62 Ebd., Nr. 10; Vivès 8, 408a: »Illa est gratia efficax, per quam Deus facit, ut velimus, et ut faciamus.« 63 Ebd., Nr. 12; Vivès 8, 408b: »Deus dat efficacem gratiam praeparando voluntatem [...] non facit Deus ut velimus, sed ipsum velle facit nobismecum«. Ebenso lässt sich verweisen auf Suárez: De auxilio efficaci, Vivès 11, sowie auf ders.: De concursu, motione et auxilio Dei, lib. III, cap. XIV, Nr. 3, Vivès 11, 225. 64 Ders.: De religione, lib. I, cap. 4, Nr. 2; Vivès 15, 22: Vollkommenheit ist Fähigkeit des Menschen, welche alle seine Tätigkeiten erfasst und sie sämtlich durch Gnade mitbewirkt. 65 Suárez: De Voluntario, Disp. I, Sect. III, Nr. 1; Vivès 4, 170b: »ergo quod est ex perfectissima cognitione, et maxime ab intrinseco, erit perfecte voluntarium.« 66 Hier zur Verdeutlichung ders.: Defensio fidei (s. Anm. 35), S. 16 (lib. III, cap. II, Nr. 2), heißt es: »Quia nulla est potestas quae hoc modo non sit a Deo, ut a prima causa, ac proinde immediate in illo genere, atque ita potestas etiam data immediate ab hominibus, a rege vel a Pontifice, datur etiam a Deo, ut prima causa immediate influente in illum effectum et in actum voluntatis crea-tae, per quam proxime donatur. At vero talis potestas non dicitur simpliciter
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und bleibt zugleich und unabtrennbar interessierter Beteiligter, der klare Vorstellungen hat, wie der geschichtlich je einmalige Staat zu führen ist.67 e) Die hier im Zentrum stehende Passage aus DL II. 8. 4 ist oben so interpretiert worden, dass sich die Menschen in der ersten Sphäre als Individuen in Gleichheit befinden. Jedes Individuum strebt nach Gleichheit und Freiheit. Es verlangt, dass niemand ihm grundsätzlich bevorzugt behandelt, eingesetzt und ausgestattet wird.68 In der zweiten Sphäre treten sie als Gleiche in einen Diskurs, der ihnen zu den für jeden Menschen notwendigen Gemeinschaften verhilft, von der Ehe bis zum Staat, jedem die notwendigen, zumeist gleichen Rechte gewährt und die gleichen Pflichten auferlegt.69 In der dritten Sphäre arbeiten Menschen im Wettbewerb, in Erziehung und Forschung, ohne Vorrechte und ohne von Natur vorgegebene feste Hierarchien. Selbst die Beziehung zu Gott charakterisiert Suárez in dieser Nr. 4 als »Gespräch«, als communicatio. f) Suárez kommt grundsätzlich auf dieses Zusammenwirken in Gleichheit, sodann auf die Freiheit zu sprechen. Die bei Suárez inhaltlich immer mitgedachte Freiheit wird er selbst aber erst innerhalb des Diskurses über die Gleichheit deutlich werden lassen. Beide – bis in unsere Zeit – höchsten Werte werden in ihrer Bedeutung herausgearbeitet, wobei nach Suárez die Gleichheit der Menschen zuerst zu berücksichtigen ist. Sie betont, dass allen Menschen die gleiche Freiheit zuzugestehen ist. Denn Freiheit braucht nicht erst zu fordern, dass sie allen Menschen zukommt.
Schluss 5. 1 Die unübersteigbare Liebe zwischen den drei göttlichen Personen führt zur unersetzbaren und unerschöpflichen Charitas zu und zwischen den Menschen.70 Sie bestimmt Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, drückt das Maß
esse immediate a Deo, sed solum secundum quid; nam proxime ab homine datur et ab illo pendet.« 67 Siehe hierzu auch Ada Neschke-Hentschke: Vom Staat der Gerechtigkeit zum modernen Rechtsstaat. Die Theorie der Volkssouveränität bei Francisco Suárez und das Erbe des Plato. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2002), S. 255–285. 68 Siehe oben Abschnitt 2. 1. 6, Abschnitt 2. 1. 7, Abschnitt 2. 2. 2, Abschnitt 2. 3. 3 und 3. 2. 2. 1. 69 Siehe oben Abschnitt 2. 1. 5, Abschnitt 3. 1. 2 und 3. 2. 2. 2. 70 Suárez: De Charitate, Prolegomenon, u. Disp. I, Sect. I – Sect. V; Vivès 12, 634–644.
Norbert Brieskorn S.J. aus, das Gott an die Schöpfung legt, an die sozialen Beziehungen und in den Institutionen verwirklicht sehen will, wie sich in dem Wirken Gottes für Staat und Staatsform zeigt.71 5. 2 Im Hinblick auf die Gerechtigkeit, die der Mensch als solcher, nicht also der Christ alleine, handhabt, gilt, dass sie weder die Charitas zum letzten Grund erhebt, noch sie korrigiert und auch nicht als unfähig herausstellt; vielmehr legt sie aus eigenem Anspruch und Interesse in der Treue zu sich selbst ihre Ordnung zugrunde, welche der Caritas nicht behindernd entgegentritt. Gott ist auch Schöpfer der Gleichheit, der Freiheit und der Suche nach der Gerechtigkeit. Er befürwortet uneingeschränkt ein solches Vorgehen, selbst wenn er dabei nicht genannt wird. Denn der bloße Aufbau einer solchen Ordnung würdigt ihren Schöpfer.72 Suárez zeigt in einer nicht häufig anzutreffenden Weise, wie selbständig und nahezu gleichberechtigt ungeschaffener Schöpfer und Geschaffenes, das zu Schöpfungen berufen ist, sich gegenüberstehen und zusammenwirken. 5. 3 So wie Suárez in De legibus II. 8. 4 die Dreiheit der Liebe, als Liebe zu sich, Liebe zum Nächsten und Liebe zu Gott entwirft,73 so hat er in De Charitate, Disp. I, Sect.1, Nr. 2 die drei Akte der Liebe vorgestellt:74 Die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zum Anderen und zu Gott wird als eine Art Parallele behandelt. Der Mensch betrachtet aus der ihm zukommenden Perspektive der Natürlichen Theologie und der Philosophie diese drei Beziehungen als die grundsätzlichen, auf jeden Moment des Lebens wirkenden, ihm helfenden und es befördernden. Je stärker sich die menschliche Freiheit betätigt, desto stärker realisiert sich die Charitas; sie nimmt nicht ab, ihr ›Außenwirken‹ nimmt im Gegenteil zu. 5. 4 Je freier sich der Mensch entwickelt und lebt, desto mehr ist die Freiheit Gottes realisiert, und zwar zugleich als Charitas. So wie die Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen und die soziale Welt in den Blick rücken, so können sich zugleich mit ihnen auch die davon unabtrennbare Verknüpfung Gottes mit dem Wohl der Menschen sowie das von Gott gewollte Sorgen für sich und alle anderen entwickeln. Es gilt auch die folgende ›Parallele‹ zu erkennen: Gott erschuf und erschafft die Welt, und das geschaffene Wesen Mensch erschafft ihm nötige Einrichtungen, wie den Staat. Gott zog sich von seiner Schöpfung
71 Siehe oben Abschnitt 2. 2. 2, Abschnitt 2. 2. 3, Abschnitt 3. 2. 1. 1, Abschnitt 3. 2. 3. 1 und 4 d). 72 Siehe oben Abschnitt 2. 1. 5, Abschnitt 2. 2. 1, Abschnitt 2. 3. 1 und 3. 1. 3. 4. 73 Siehe oben Abschnitt 1., Abschnitt 2. 1. 3, Abschnitt 2. 1. 4 und 2. 3. 2. 74 Siehe oben Abschnitt 2. 2. 5, Abschnitt 2. 3. 2 und Abschnitt 3.
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aus dem Grunde zurück, damit der Mensch aus der ihm von Gott geschenkten Freiheit die Schöpfung mit- und weitergestaltet. Das Staatsvolk soll und muss die Staatsregierung frei und selbstverantwortlich regieren lassen. Gott billigt nicht nur, sondern befördert grundsätzlich eine solche Selbständigkeit. Indem die Menschen gleichfalls ihre Zustimmung aussprechen, erleiden sie keine schmerzhafte Einbuße, sondern dürfen mit solchem Handeln Gott in klarer Weise ähnlich werden.
3 Naturrecht und Ethik
Stefan Schweighöfer
Proxima regula bonitatis Das Gewissen und das natürliche Gesetz
De legibus und die römischen Vorlesungen Die Zusammenhänge zwischen dem Begriff des Gesetzes und dem des Gewissens stellen die Grundlage dar, auf der sich sowohl die Gesetzeslehre als auch die Moralphilosophie des Francisco Suárez herausbilden. Suárez macht diesen Zusammenhang mehrfach deutlich, jedoch geschieht dies in seinem rechtsphilosophischen Hauptwerk De legibus ac Deo legislatore1 nur verkürzt und in bestimmter Hinsicht.2 Dies rührt auch daher, dass es sich bei De legibus um eines seiner Spätwerke handelt, das in großem Umfange Kenntnis übriger von Suárez eingehend behandelter Themenbereiche voraussetzt, etwa der Theorie des Willens, der praktischen Vernunft oder der moralischen Seiendheiten (entia moralia). Besonders relevant ist aber die suárezianische Lehre vom Gewissen, ohne die wesentliche Kernstücke des De legibus dunkel bleiben müssen, etwa die Rolle der Gesetzesdefiniton und des ewigen Gesetzes, der lex aeterna. Diese Unklarheiten treten in der Forschung klar zu Tage, besonders wenn die Funktion des ewigen Gesetzes thematisiert wird. Vor allem scheint hier strittig zu sein, ob das ewige Gesetz ein echtes Gesetz ist, das unter ein und denselben Gesetzesbegriff fällt wie alle übrigen Gesetze auch, ob es wirklich ewig ist und welche Funktion es für Suárez erfüllt. Eine Auswahl charakteristischer Interpretationsversuche kann dies verdeutlichen. So führt etwa Pauline Westerman an, dass der Begriff des ewigen Gesetzes bei Suárez überflüssig, nur der Tradition halber überhaupt noch auffindbar und letztlich in sich selbst widersprüchlich sei.3 1 Im Folgenden werden die verwendeten Werke Suárezʼ in den folgenden Ausgaben zitiert: Francisco Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Coimbra 1612; Francisco Suárez: De bonitate et malitia humanorum actuum. Lyon 1628; Francisco Suárez: Disputationes metaphysicae. Salamanca 1597; Francisco Suárez: De anima. Lyon 1621. Alle Übersetzungen von mir. 2 Vgl. DL Prooemium; DL I. 17. 4–9; DL II. 5. 10–15. 3 Pauline Westerman: The Disintigration of Natural Law Theory. Aquinas to Finnis. Leiden, New York, Köln 1998, S. 84f.: »This passage clearly reveals that on the basis of law-as-concept, ›eternal law‹ has lost its function. If it is eternal, it can only be located in the mind of God and is therefore no true ›law‹. […] On the basis of Suárezʼs concept of law-as-precept, eternal law is properly speaking a contradiction in terms.«
Stefan Schweighöfer Gemäßigter argumentiert Manfred Walther, der zumindest den einheitlichen und univoken Begriff des ewigen Gesetzes als verloren ansieht und dem ewigen Gesetz an sich keinen Gesetzescharakter mehr zuspricht.4 Andere Interpretationsversuche nehmen die von Suárez selbst beanspruchte zentrale Rolle des ewigen Gesetzes als Urbild aller übrigen Gesetze ernst, verneinen aber ebenfalls, dass Suárez einen einheitlichen Gesetzesbegriff verwende.5 Dagegen positionieren sich Autoren, die Suárez sowohl einen univoken Gesetzesbegriff zubilligen und daneben die Unerlässlichkeit eines solchen Gesetzes für alle übrigen Gesetzesarten betonen. So argumentiert etwa Francisco Puy Muñoz, dass das ewige Gesetz dem Menschen intuitiver und direkter bekannt sei als alle anderen Gesetzesarten,6 und Beau führt aus, dass Gesetze an sich nur verstanden werden können, wenn das ewige Gesetz als univoker Gesetzesbegriff mitgedacht werde.7 Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass das ewige Gesetz bei Suárez erstens unter seine allgemeine Gesetzesdefinition passt, es sich also um einen univoken Gesetzesbegriff handelt, dass zweitens das ewige Gesetz das Herzstück der gesamten Gesetzeslehre darstellt, so dass sie nicht überflüssig sondern für das suárezianische System unentbehrlich ist, und dass drittens die Funktion des ewigen Gesetzes nur dann richtig verstanden werden kann, wenn Suárezʼ Lehre vom menschlichen Gewissen zu Grunde gelegt wird. Dabei kann auch gezeigt werden, wie das ewige Gesetz im eigentlichen Sinne promulgiert ist und woher die Verpflichtungskraft von Gesetzen hervorgeht. Dazu werde ich neben De legibus weitere Texte von Suárez heranziehen, allen voran die sogenannten ›römischen Vorlesungen‹, die Suárez zwischen 1580 und 1585 am Collegium
4 Manfred Walther: Facultas moralis. Die Destruktion der Leges-Hierarchie und die Ausarbeitung des Begriffs des subjektiven Rechts durch Suárez. Ein Versuch. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Norbert Brieskorn, Kay Waechter u. Manfred Walther. Stuttgart 2008, S. 135–159, hier S. 143: »Wirklichen Gesetzescharakter erhält die lex aeterna erst in Gestalt der lex naturalis […]. Damit ist aber nicht nur der einheitliche Begriff des ewigen Gesetzes der Tradition preisgegeben, sondern darüber hinaus auch der Sinn, in dem überhaupt von einem ewigen Gesetz gesprochen werden kann, in mehrfacher Hinsicht entscheidend eingeschränkt.« 5 Vgl. Michel Bastit: Naissance de la loi moderne. La pensée de la loi de saint Thomas à Suarez. Paris 1990, S. 362f. 6 Vgl. Francisco Puy Muñoz: Los conceptos de derecho, justicia y ley en el ›de legibus‹ de Francisco Suárez (1548-1617). In: Persona y derecho 40 (1999), S. 175–195, hier S. 185f. 7 Vgl. Albin Eduard Beau: Begriff und Funktion des ›Imperium‹ bei Francisco Suárez. In: Romanische Forschungen 61 (1948), S. 225–266, hier S. 226f.
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romanum gehalten hat8 und von denen die fünf umfangreichsten und zusammengehörigen posthum von seinem Sekretär Balthasar Alvarez für den Druck aufgearbeitet sowie herausgegeben wurden und die in der Ausgabe von Vivés in Band vier abgedruckt sind. Wie auch die Disputationes Metaphysicae – die von Suárez hingegen selbst zu einem Gesamtwerk komponiert und herausgegeben wurden – stellen auch die römischen Vorlesungen eine Grundlegung für das gesamte philosophisch-theologische Werk des Suárez dar, wobei sich die römischen Vorlesungen primär dem Feld menschlichen Handelns zuwenden. So betrachtet Suárez in der ersten Vorlesung die Finalursächlichkeit menschlichen Handelns, in der zweiten das Willentliche (voluntarium) und die Willenfreiheit und schlägt von dort die Brücke zur Moralphilosophie, indem er in der dritten Vorlesung das Gute und Schlechte menschlicher Handlungen erörtert, worauf eine Vorlesung zu den Passiones und eine über Laster und Sünde folgen. In diesem Kontext ist besonders die dritte Vorlesung mit dem Titel De bonitate et malitia humanorum actuum von Interesse, da Suárez dort – ungefähr 20 Jahre, bevor er die Vorlesungen, aus denen De legibus hervorging, hielt – das ewige Gesetz als die »erste oder entfernte Regel des Guten« (proxima seu remota regula bonitatis)9 und das Gewissen als »nächste Regel des Guten« (proxima regula bonitatis)10 erörtert. In den folgenden beiden Abschnitten wird das ewige Gesetz betrachtet, wie es in De legibus und De bonitate dargestellt wird. Dabei stehen die Schwierigkeiten, die sich in De legibus im Bezug auf seine Subsumierbarkeit unter den allgemeinen Gesetzesbegriff zeigen, im Vordergrund. Die Abschnitte vier und fünf behandeln die zum richtigen Verständnis der Gesetzeslehre notwendige Verbindung zwischen Gewissen und ewigem Gesetz, bevor im sechsten Abschnitt der Ursprung der Verpflichtungskraft des natürlichen und letztlich auch aller anderen Gesetze rekonstruiert wird.
8 Vgl. Joachim Giers: Die Gerechtigkeitslehre des jungen Suárez. Edition und Untersuchung seiner römischen Vorlesungen De iustitia et iure. Freiburg im Breisgau 1958, S. 20f. 9 Vgl. Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 11. Prooemium. 10 Vgl. ebd., 12. Prooemium.
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Die problematische Definition des ewigen Gesetzes Bevor Suárez in De legibus die verschiedenen Arten von Gesetzen behandelt, erörtert und präzisiert er die viergliedrige Gesetzesdefinition des Thomas von Aquin. So muss das Gesetz eine Regel sein, die zum Tun von moralisch Gutem anleitet,11 es muss auf das Gemeinwohl bezogen sein,12 es muss von einem hierarchisch Übergeordneten gegeben werden13 und es muss hinreichend bekannt gemacht sein.14 Suárez fasst seine Gesetzesdefiniton in einer stark verkürzten Form zusammen, wonach »[d]as Gesetz eine allgemeine, gerechte und dauerhafte Vorschrift ist, die ausreichend bekannt gemacht ist.«15 Gegenüber der Gesetzesdefiniton des Thomas hebt Suárez aber noch die Dauerhaftigkeit des Gesetzes hervor.16 Dieses Definitionsmerkmal führt er deshalb ein, weil zuvor das Gesetz im eigentlichen Sinne als der gesetzgeberische Akt im Geiste des Gesetzgebers (actus in mente legislatoris)17 gedeutet wurde. Zwar ist der Akt des Gesetzgebens selbst irgendwann vergangen, von ihm verbleibt aber ein moralisches Sein, ein ens morale, das als Gesetz fortdauert,18 genauso wie beispielsweise die Schuld nach der Sünde bestehen bleibt, auch wenn der Akt des Sündigens bereits vergangen ist. Für das Verlagern des Gesetzes in den »Geist« des Gesetzgebers ist die bekannte via media des Gesetzesbegriffs verantwortlich, denn nach Suárez genügen weder Wille noch Vernunft allein, um ein Gesetz zu schaffen.19 Zwar ist der Wille das Vermögen, das befehlen kann, den Inhalt des Befehles muss er aber der Vernunft entnehmen, so dass beide Vermögen von Bedeutung sind.20 Im Bezug auf das ewige Gesetz stellt Suárez diesen Zusammenhang in De bonitate folgendermaßen dar: [...] es muss aber angemerkt werden, dass das ewige Gesetz entweder in der göttlichen Vernunft, so wie sie dem göttlichen Willen vorhergeht, oder im göttlichen Willen an sich betrachtet werden kann. Auf erstere Weise wird es anzeigendes Gesetz genannt, [...] auf 11 Vgl. DL I. 1. 6. 12 Vgl. DL I. 7. 3–4. 13 Vgl. DL I. 8. 3. 14 Vgl. DL I. 11. 3–4. 15 DL I. 12. 5: »Lex est commune praeceptum, justum ac stabile, sufficienter promulgatum.« 16 Vgl. DL I. 10. 14–18; DL I. 12. 5. 17 Vgl. DL I. 4. 2. 18 Vgl. Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 1. 3. 3–6. 19 Vgl. hierzu die Beiträge von Simon Eultgen und Gideon Stiening im vorliegenden Band. 20 Vgl. DL I. 5. 20–24.
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letztere Weise ist es ein eigentliches befehlendes Gesetz, mag bezüglich diesem auch die Frage bestehen, ob es im Intellekt oder im Willen liegt. Sicher ist dennoch, dass seine Kraft und Wirksamkeit aus dem Willen entstehen.21
Durch Suárezʼ eigene Gesetzesdefinition und die Verortung des Gesetzes in Willen und Vernunft des Gesetzgebers ergeben sich im Hinblick auf das ewige Gesetz aber drei sehr problematische Fragen. Die erste ist die Frage nach der Promulgation, denn wie sollte ein Gesetz, das im göttlichen Geist vorliegt, den Menschen bekannt sein? Zwar kann das ewige Gesetz jenen Definitionsmerkmalen genügen, wonach es eine moralische Regel ist, auf das Gemeinwohl hingeordnet ist und von einem hierarchisch übergeordneten Gesetzgeber ausgeht; es wird aber nicht ersichtlich, wie ein solches Gesetz promulgiert sein könnte. Denn irgendwie müsste sich der gesetzgebende Befehl des göttlichen Willens kundtun, damit man ihm Folge zu leisten im Stande ist. Die Frage danach, wozu das ewige Gesetz überhaupt benötigt wird, stellt das zweite Problem dar. Denn Suárez führt in De legibus mehrfach aus, dass das ewige Gesetz das Wesen oder die Idee des Gesetzes beinhaltet und damit singulär ist.22 Wie sollte ein solches Gesetz aber zahlreiche Vorschriften enthalten? Deshalb spricht auch Walther23 dem ewigen Gesetz den eigentlichen Gesetzescharakter ab, denn individuierte Normen kann es nicht enthalten und muss daher durch andere Gesetze, etwa das natürliche Gesetz, verpflichten. Das dritte Problem liegt in der Forderung nach Ewigkeit, denn Suárez macht in De legibus deutlich, dass ein Gesetz immer als Befehl an einen Untergeordneten erfolgen muss. Da die Menschen als eigentliche Adressaten aber nicht von Ewigkeit her bestehen, kann auch das ewige Gesetz in dieser Weise nicht ewig sein. Zusammengefasst stellen sich damit drei Fragen an die Konzeption des ewigen Gesetzes: 1. Die Frage nach der Promulgation. 2. Die Frage nach der Funktion des ewigen Gesetzes als lex per essentiam. 3. Die Frage bezüglich der Forderung nach Ewigkeit des Gesetzes.
21 Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 11. Prooemium: »[A]dvertendum est [...] legem aeternam posse considerari, aut in ratione divina, ut antecedit divinam voluntatem, aut in ipsa divina voluntate. Priori modo dicitur lex indicans, [...] posteriori modo est proprie lex imperans, de qua quamvis sit questio, an sit in intellectu, vel voluntate; certum est tamen vim et efficaciam ejus ex voluntate oriri [...].« 22 Vgl. DL II. 3. 14–15. 23 Vgl. Walther: Facultas moralis (s. Anm. 4), S. 143.
Stefan Schweighöfer Im Folgenden Abschnitt wird zunächst die zweite und dritte Frage erörtert. Die Frage nach der Promulgation kann erst danach und unter Bezug auf das Gewissen aufgelöst werden.
Das ewige Gesetz als ewiges Urbild Suárez verwendet den Begriff der »Idee« (idea) nur gelegentlich. Wenn er von Ideen spricht, so macht er stets deutlich, dass er den Begriff gemäß Thomas24 und Augustinus25 verwendet, nämlich nur insofern von Ideen im Geiste Gottes die Rede ist.26 Da für Suárez Universalien reine Gedankendinge sind,27 lehnt er ebenfalls die platonische Variante der Ideenlehre ab.28 Ideen sind demnach Eigenschaften der göttlichen Natur und finden sich allein im göttlichen Verstand. Daraus wird bereits deutlich, dass das ewige Gesetz keine Idee sein kann, denn um Gesetz zu sein müsste es nach Suárez auch einen Akt des Willens umfassen. Die göttlichen Ideen können nun durch göttlichen Schöpfungsakt zu Urbildern (exemplares) werden, indem sich Gott entscheidet, diese oder jene Idee zu schaffen. Mit dem Begriff der Idee ist somit in keinster Weise verbunden, dass sie auch geschaffen sein muss. Würde man das ewige Gesetz als eine solche Idee bestimmen, dann beginge man einen Fehler: Denn dann wäre das ewige Gesetz auch vom Standpunkt Gottes aus absolut notwendig und nicht frei geschaffen, da die Ideen zur Gottesnatur gehören.29 Vorbild oder Urbild sind demnach nur die Ideen, die von Gott bewusst und frei verursacht wurden. Die verursachende Kraft ist hierbei aber der Wille, der sowohl die Entscheidung für die Schaffung einer Idee fällt als auch sie wirksam umsetzt. Demnach lässt sich von dem ewigen Gesetz, wie Suárez betont, eher als Urbild denn als Idee sprechen.30 Von der platonischen Idee her ist aber die Teilhabe aller Gesetze am ewigen
24 Vgl. Thomas von Aquin: STh I–II, q. 93, art. 1, re. 25 Vgl. Aurelius Augustinus: De diversis questionibus. In: Patrologia Latina. Hg. von JacquesPaul Migne. Paris 1844–1855, Bd. 40, (PL 40), cap. XLVI. 26 Vgl. DL II. 3. 3. 27 Vgl. John B. South: Singular and Universal in Suárezʼ Account of Cognition. In: The Review of Metaphysics 55 (2002), S. 785–823, hier S. 816f. 28 Vgl. Suárez: De anima (s. Anm. 1), IV. 2. 2. 29 Vgl. Rainer Specht: Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 86–113, hier S. 107f. 30 Vgl. DL II. 3. 2–4.
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Gesetz verständlich, denn genauso wie – im platonischen Sinne – jedes sichtbare Dreieck, um ein solches sein zu können, an der Idee des Dreiecks partizipieren muss, so muss auch jedes Gesetz, um Gesetz zu sein, am ewigen Gesetz partizipieren. Wir werden später bei der Erörterung des Gewissens genauer sehen, dass diese Teilhabebeziehung mehr ist als nur eine platonische Floskel oder nur die Tatsache, dass jedes Gesetz eben gesetzesförmig sein muss. Es wäre auch falsch, Suárez hier zu unterstellen, er gebrauche das ewige Gesetz als lex per essentiam nur, weil die Tradition dies gebiete. Vielmehr ist die gesamte Verpflichtungstheorie nur durch den Bezug auf die lex aeterna als lex per essentiam überhaupt tragfähig, wie noch ausführlich gezeigt werden wird. Die Feststellung, nach der das ewige Gesetz ein göttlicher Akt ist und nicht im eigentlichen Sinne eine Idee im göttlichen Verstand, hat nun unmittelbare Rückwirkungen auf die Frage nach der Ewigkeit dieses Gesetzes. Hätte Suárez zugestimmt, dass das ewige Gesetz eine Idee im eigentlichen Sinne wäre, dann könnte er einfach anführen, dass es als Teil des göttlichen Verstandes genauso ewig sei wie dieser selbst. Da er aber unter Verweis auf den Beitrag des Willens das ewige Gesetz als göttlichen Befehlsakt interpretiert, der zudem einen Adressaten erfordert, legt sich Suárez eine schwere Beweislast auf. Auch die Lösungsmöglichkeit, Gott könne selbst der Adressat des ewigen Gesetzes sein, wird von Suárez zurückgewiesen. Weder ist es möglich, dass ein Gleicher einem Gleichen befiehlt31 – außer in metaphorischer Sprechweise – noch steht Gott überhaupt unter irgendeinem Gesetz, weil er schlicht keiner Notwendigkeit unterworfen ist und keinem höheren Gesetzgeber untersteht.32 Der Erklärungsversuch, den Suárez anbietet, ist ähnlich dem in der antiken christlichen Philosophie besonders durch Augustinus und Boethius erörterten Problem, wie ein ewiger und unveränderlicher Gott überhaupt in eine Wechselwirkung mit der Welt zu treten vermag, ohne sich dabei selbst zu verändern. In seiner Zeittheorie in den Disputationes Metaphysicae verweist Suárez drauf, dass sich der Mensch einen Begriff wie den der Ewigkeit überhaupt gar nicht vorzustellen vermag. Wir sind als Menschen nur einer unvollkommenen oder näherungsweise angemessenen Vorstellung von etwas Ewigem fähig, einer Vorstellung, die immer nur unter der Anschauung der Dauerhaftigkeit (apprehensio durationis) vollzogen werden kann:
31 Vgl. DL I. 8. 3; DL III. 2. 1. 32 Vgl. DL II. 2. 3.
Stefan Schweighöfer Wir sagen nämlich sowohl, dass Gott immer war als auch dass er ist, als auch dass er immer sein wird, weil wir ein ewiges Ding nicht begreifen, wie es in sich ist, sondern auf unsere Weise durch Vergleich irgendeiner wahren oder scheinbaren Abfolge.33
Suárez schließt sich Augustinus an, wenn er ausführt, dass etwas Ewiges nicht überzeitlich, sondern vollkommen außerzeitlich sein muss, da es Vergangenes und Zukünftiges ausschließt, wodurch aus der Perspektive des Ewigen alles Gegenwart ist.34 Die Koexistenz Gottes mit unserer Vergangenheit und Zukunft ist damit nur etwas, so schlussfolgert Suárez, was Gott nach der Art einer äußerlichen Benennung (denominatio extrinseca) zukommt und das nichts über sein Wesen aussagt.35 Vor diesem Hintergrund bietet Suárez für das Ewigkeitsproblem den theologischen Lösungsvorschlag an, dass innere göttliche Handlungen, wie etwa seine Willensentschlüsse, von Ewigkeit her feststünden und unwandelbar seien. Handlungen im Bezug auf die Schöpfung – ja sogar die Schöpfung selbst – seien dann zu verstehen als eine, wie Hans Christian Schmidbaur dies formuliert, »begrenzte Verlängerung der ewigen, innergöttlichen Hervorgänge«.36 Demnach habe der Beschluss zur Schaffung des Menschen von Ewigkeit her festgestanden. Wie Suárez in De legibus hinzufügt, sei mit der Erzeugung eines derartig freien und vernunftbegabten Wesens auch die Schöpfung eines Gesetzes zur Lenkung seiner Handlungen notwendigerweise mitbeschlossen worden. Wenn es aus der für uns unvorstellbaren Perspektive des Ewigen nur Gegenwärtiges gibt, dann folgt daraus, dass die geschaffene Welt für Gott zwar nicht bedingungslos existiert, aber immer gegenwärtig sein muss – ein Punkt, auf den Suárez durch Anspielung auf die providentia Dei im Bezug auf das ewige Gesetz in De legibus verweisen will.37 Mit diesem zugegebener Weise philosophisch nicht zwingenden Argument glaubt Suárez die Einwände gegen die Ewigkeit der lex aeterna zumindest abgemildert zu haben – dass eine Argumentation, die sich auf etwas dem menschlichen Verstand nicht vollkommen Zugängliches wie den Begriff der Ewigkeit
33 DM L. 3. 12: »Dicimus enim et Deum fuisse semper, et esse, et futurum esse, quia nos non concipimus rem aeternam prout in se est, sed nostro modo, per comparationem ad aliquam successionem veram vel imaginariam.« 34 Vgl. DM L. 3. 11. 35 Vgl. DM L. 3. 12; DM L. 4. 13. 36 Vgl. Hans Christian Schmidbaur: Die Ewigkeit Gottes. In: Ewigkeit? Klärungsversuche aus Natur- und Geisteswissenschaften. Hg. von Otfried Reinke. Göttingen 2004, S. 123–139, hier S. 131. 37 Vgl. DL II. 1. 5.
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stützt, aber philosophisch unbefriedigend bleiben muss und somit nur theologisch begründet werden kann, steht außer Frage.
Das ewige Gesetz und das Gewissen als Regeln des Guten Nimmt man Suárezʼ Antwort auf das Ewigkeitsproblem an und betrachtet man das ewige Gesetz als Urbild oder als verwirklichte Art einer Idee, so stellt sich letztlich noch immer die Frage, woher die Menschen Kenntnis einer solchen Idee haben können. Zwar ist Suárez hier konsequent, wenn er das Gesetz im eigentlichen Sinne in den Geist des Gesetzgebers verlegt, genau dorthin also, wo auch die göttlichen Ideen zu verorten sind, das Problem der Erkennbarkeit des ewigen Gesetzes durch den Menschen wird durch diesen Bezug auf den göttlichen Geist aber eher verschärft denn abgemildert. Suárez möchte auch nicht sagen, dass die eigentliche Promulgation des ewigen Gesetzes in dem natürlichen Gesetz, der lex naturalis, erfolge. Die lex naturalis ist eine vom ewigen Gesetz verschiedene Gesetzesart, die an diesem zwar ebenso partizipiert wie jedes andere (echte) Gesetz auch, die aber nicht die Promulgationsform des ewigen Gesetzes an sich ist. Vielmehr kann das ewige Gesetz, so die Forderung von Suárez, an sich verpflichten, sofern es hinreichend bekannt gemacht ist: »Vom ewigen Gesetz auf diese Weise betrachtet sagen wir also, dass es die Kraft zu verpflichten aus sich hat, sofern es ausreichend bekannt gemacht und [uns] nahegebracht wurde.«38 Prinzipiell kann das ewige Gesetz, so fährt Suárez in De legibus fort, an sich erkannt werden, auch wenn nicht jeder, der moralisch gut handelt, das ewige Gesetz an sich erkennen muss.39 Wie diese Erkenntnis nun erlangt werden kann, wird mit einem auf De legibus eingeschränkten Blick jedoch nicht vollkommen deutlich. Ähnlich fragwürdig erscheint zunächst die Erörterung des göttlichen Willens, die Suárez in De bonitate vornimmt, wenn er schreibt, dass sich der menschliche Wille, um moralisch gut zu sein, dem göttlichen angleichen müsse.40 Auch hier ist nicht ohne weiteres ersichtlich, woher der Mensch den göttlichen Willen kennen sollte. Dabei kann sich der menschliche Wille dem göttli-
38 DL II. 4. 2: »De lege igitur aeterna sic spectata dicimus habere vím obligandi de se, si sufficienter promulgetur et applicetur.« 39 Vgl. DL II. 4. 4–7. 40 Vgl. Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 11. 1. 4.
Stefan Schweighöfer chen auf zwei Weisen angleichen. Entweder spricht man auf uneigentliche Weise vom göttlichen Willen, insofern er das ewige Gesetz bezeichnet. Dann erfolgt die Angleichung durch Befolgen dieses Gesetzes. Oder aber der menschliche Wille gleicht sich dem göttlichen Willen schlechthin an, was bedeutet, dass sich der Mensch aus freien Stücken die gleichen Ziele setzt, die auch der göttliche Wille intendiert und um deren Willen das ewige Gesetz erlassen wurde. Suárez nennt diese Art der Willensangleichung daher auch eine conformitas finalis seu formalis. Ihr entgegen steht die conformitas materialis, die eine Angleichung an das ewige Gesetz beschreibt, insofern diese Angleichung nicht deshalb geschieht, weil man das Ziel an sich intendiert, sondern weil man weiß, dass der göttliche Wille zu diesem Ziel verpflichtet.41 Eine dritte Form der Angleichung wäre eine Angleichung des menschlichen Willens durch göttliche Allmacht, die eine Befolgung des Gesetzes derart notwendig macht, dass der menschliche freie Wille ausgehebelt würde. Suárez gesteht Gott zwar die Möglichkeit zu, den menschlichen Willen auf diese Weise zu zwingen, dann kann aber weder von der Beachtung eines Gesetzes einerseits und noch von moralischem Handeln andererseits gesprochen werden, ohne in einen Widerspruch zu geraten. Diese dritte Angleichungsoption birgt demnach für Suárez an dieser Stelle keinen weiteren Nutzen. Die beiden Formen der möglichen Angleichung, die materiale und die formale, finden sich auch in De legibus wieder, wenn Suárez zwei Funktionen des Gesetzes unterscheidet.42 Denn da die Ziele des Menschen den Zielen Gottes nicht immer entsprechen – auch wenn dies eine höchste Form moralischer Gutheit nach sich zöge –, sei ein Gesetz dem Menschen schlechthin notwendig und gehe mit der Schaffung vernunftbegabter und freier Geschöpfe einher, damit diese die Ziele des göttlichen Willens mit Sicherheit erkennen, gleichgültig, ob diese Ziele auch ihre eigenen sind. Darüber hinaus ist das Gesetz aber noch nützlich, um die Ziele zu erreichen, bietet dem Menschen also auch unter einer conformitas finalis zum göttlichen Willen eine Stütze an, die einen Weg zur Erreichung des Zieles aufzeigt. Die beiden dargestellten Formen der Angleichung, entweder die Angleichung an den göttlichen Willen selbst oder die an das ewige Gesetz, stellen aber 41 Vgl. ebd., 11. 1. 5. 42 DL I. 3. 3: »Supposita creatione rationalium creaturarum, lex fuit necessaria necessitate finis, tam simpliciter, quam ad melius esse. [...] quoad priorem partem de necessitate simpliciter declarari potest, quia intellectualis creatura eo ipso quod creatura est, superiorem habet, cujus providentiae et ordini subjaceat, et quia inellectualis est, capax est gubernationis moralis, quae fit per imperium [...]. Item talis creatura eo ipso quod ex nihilo facta est, flecti potest ad bonum et malum […].«
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noch immer keine Antwort auf die Frage nach der Bekanntmachung des ewigen Gesetzes oder des göttlichen Willens dar. Suárez scheint diese Lücke in De bonitate sehr bewusst offen zu lassen, redet er doch vom befehlenden göttlichen Willen als »entfernter Regel des Guten« (remota regula bonitatis),43 die zwar Ursprung der Verpflichtungskraft von Gesetzen ist, aber eben nur entfernt und mittelbar verpflichtet. Daraus darf nun aber keinesfalls der Schluss gezogen werden, dass den Suárezinterpretationen zuzustimmen ist, die eine Bekanntmachung des ewigen Gesetzes nur durch andere Gesetze behaupten. Dieser Interpretationsversuch steht in offenem Widerspruch zu den Ausführungen von Suárez selbst, der wiederholt betont, dass das ewige Gesetz an sich erkennbar sei44 und dass es vollkommen und widerspruchsfrei zu der entworfenen Gesetzesdefinition passe.45 Als unmittelbare Regel des moralisch Guten führt Suárez nun das Gewissen (conscientia) ein. Dabei bezeichnet das Gewissen etwas, das zum Verstand gehöre.46 Das Gewissen könne als Akt des Verstandes oder als ein Habitus im Verstand bezeichnet werden,47 am treffendsten beschreibe man das Gewissen aber als praktisches Urteil des Verstandes bezüglich moralisch guter und schlechter Handlungen bzw. bezüglich vorgeschriebener oder verbotener Handlungen.48 Durch diesen Verweis nicht nur auf das Gute und Schlechte, sondern sogar auf das Vorgeschriebene oder Verbotene verweist Suárez bereits darauf, dass das Gewissen wirksam verpflichten kann und nicht nur das Gute oder Schlechte anzeigt. Suárez bezeichnet das Gewissen, wie bereits angemerkt, zudem in thomasischer Terminologie als »Regel des Guten«. Spricht man daher von einer Regel, die zum moralisch guten Handeln anleitet und die zudem Kraft zu verpflichten hat, dann verwendet man im Grunde den Begriff des Gesetzes, jedoch mit der entscheidenden Einschränkung, dass Gesetze universell gelten, das Gewissen jedoch im eigentlichen Sinne subjektiv ist. Dennoch lässt Suárez keinen Zweifel daran, dass das Gewissen nur durch die Einsicht des Verstandes in das Gute und Schlechte wirksam verpflichtet:
43 Vgl. Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 11. Prooemium. 44 Vgl. DL II. 4. 4f. 45 Vgl. DL II. 2. 15; DL II. 3. 8. 46 Vgl. Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 12. 1. 3. 47 Vgl. ebd., 12. 1. 4. 48 Vgl. ebd., 12. 1. 5.
Stefan Schweighöfer Drittens ist zu sagen, dass das Gewissen ein gegenwärtiges und praktisches Urteil des Intellekts ist, durch das er bezüglich zu tuender Dinge zwischen gut und schlecht, schändlich und ehrenhaft, vorgeschrieben und verboten unterscheidet.49
Hier drängt sich nun aber die weitere Frage auf, wie der Verstand verpflichten können soll, denn im Hinblick auf andere Textstellen scheint dies einen deutlichen Widerspruch zu enthalten. Denn in De legibus hatte Suárez erstens deutlich gemacht, dass Verpflichten immer ein Akt des Willens und nicht des Verstandes sein müsse50 und dass es unmöglich sei, sich selbst zu verpflichten oder sich selbst Gesetze zu geben.51 Will sich Suárez hier nicht selbst widersprechen, so müsste er zeigen können, dass die Verpflichtung in den Urteilen des praktischen Verstandes, die das Gewissen konstituieren, einerseits von einem Befehlenden herstammt, der vom Träger des Gewissens verschieden und ihm übergeordnet ist, und andererseits aus dessen Willen herrührt. Suárez ist sich diesen Anforderungen an das Gewissen bewusst und konzipiert das Gewissen deshalb als Promulgationsort der lex aeterna. Hier muss aber genauer erläutert werden, wie das ewige Gesetz im Gewissen promulgiert sein kann, denn es sind noch eine Reihe von Fragen offen: erstens die bereits bestehende Frage, wie das ewige Gesetz erkannt werden kann, wie es also zuerst ins Gewissen gelangt und wie es demnach promulgiert wird. Zweitens ist nicht klar, wie das ewige Gesetz als Wesenheit, die lex aeterna als lex per essentiam, die als eine Art Idee singulär sein muss, in verschiedenen, individuellen Verstandesurteilen bestehen kann. Drittens ist schließlich unklar, warum es sich hier überhaupt um das ewige Gesetz handeln sollte und nicht viel eher um das natürliche Gesetz, die lex naturalis, die nach Thomas genau das Gesetz ist, das in den Urteilen der natürlichen praktischen Vernunft des Menschen promulgiert ist.52
49 Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 11. 1. 5: »Dicendum tertio conscientiam esse actuale et practicum judicium intellectus discernentis de rebus agendis inter bonum et malum, turpe et honestum, praeceptum et prohibitum.« 50 Vgl. DL I. 5. 13f. 51 Vgl. DL I. 8. 2f. 52 STh I–II, q. 90, a. 4, ad 1; q. 91, a. 2, re.
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Die Promulgation des ewigen Gesetzes im Gewissen Zur Beantwortungen der gestellten Fragen muss auf das erste Prinzip des Gewissens oder der praktischen Vernunft zurückgegriffen werden, das Suárez mit der Tradition als Synderesis bezeichnet. Die Synderesis bildet die Grundlage, auf der sich jede Moral- und Rechtsphilosphie bei Suárez zurückführen lässt. Umso mehr muss etwa die Position Westermans zurückgewiesen werden, die Suárez ein Unverständnis der Synderesis unterstellt: »Suárez has no room for synderesis. Although he knows the term, he hardly uses it and where he does it is mainly in order to refer to the fact, that rationality is the same in all men.«53 Zwar verwendet Suarez in De legibus den Begriff der Synderesis tatsächlich nur ein einziges Mal, in De anima und in De bonitate taucht der Begriff aber häufiger im thomasischen Sinne auf.54 Suárez stellt die Funktion der Synderesis in De bonitate folgendermaßen dar: Ferner bezeichnet das Gewissen einen gewissen unmittelbar von der Synderesis herkommenden Habitus oder mittelbar ein Urteil irgendeiner praktischen Schlussfolgerung. Das Gewissen ist nämlich eine gewisse aktive Überprüfung unserer Handlungen, durch die wir beurteilen, dass jene schlechte oder gute [Handlungen] sind […].55
In De anima bestimmt Suárez die Synderesis an sich. Sie bezeichnet »[…] nicht den Verstand, sondern einen Habitus, der sich in ihm zeigt und der mühelos eine Zustimmung zu den praktischen Prinzipien erteilt […].«56 Die Synderesis ist damit ein Teil der Architektonik der menschlichen Vernunft und selbst nicht weiter hinterfragbar, sie ist, wie beispielsweise das Bivalenzprinzip im Bereich der spekulativen Vernunft, eine Grundstruktur menschlichen Erkennens. Ein solcher Prinzipienhabitus ist selbst einerseits singulär, wie etwa auch der oberste Satz der praktischen Vernunft bei Thomas,57 andererseits liegt er in seiner 53 Westerman: Disintegration (s. Anm. 3), S. 97. 54 Vgl. Maximilian Forschner: Thomas von Aquin. München 2005, S. 107. 55 Suárez: De anima (s. Anm. 1), IV. 10. 9: »Jam conscientia significat habitum quemdam dimanantem a synderesi immediate, vel mediate judicio alicujus conclusionis practicae, est enim conscientia quoddam actuale examen nostrarum operationum, quo judicamus illas malas esse, aut bonas […].« Eine ähnliche Begriffsdefinition findet sich mit Blick auf die Fähigkeit, Gutes und Schlechtes überhaupt zu unterscheiden, in: De bonitate, 12. 1. 3. 56 Suárez: De anima (s. Anm. 1), IV. 10. 9: »[…] non intellectus, sed habitus in eo existentis, facilemque reddit ad assentiendum principiis practicis […].« 57 STh I–II, q. 94, art. 2, re.
Stefan Schweighöfer Anwendung auf die einzelnen Erkenntnisse des Guten oder Schlechten in vielen verschiedenen Urteilen vor. Die Synderesis an sich ist damit singulär, sie liegt aber gleichsam individuiert in den einzelnen Urteilen des Gewissens vor, so dass diese Urteile letztlich an der Synderesis partizipieren. Die Synderesis ist damit das menschliche Äquivalent der lex aeterna, die ebenfalls als lex per essentiam singulär sein muss, an der aber alle anderen Gesetze ihrer Form nach partizipieren müssen. Da nun für Suárez der Mensch ein göttliches Geschöpf ist, hat Gott auch den menschlichen Verstand geschaffen und ist damit direkter Urheber der Synderesis. Somit kann das ewige Gesetz als im Gewissen promulgiert angesehen werden, was Suárez auch in De legibus wörtlich sagt, jedoch ohne auf die Konzeption der Synderesis zu verweisen: Deshalb wird – von diesem ewigen Gesetz an sich gesprochen – keine öffentliche Bekanntgabe benötigt, damit es durch seinen Akt verpflichtet, sondern allein, dass es zur Kenntnis der Untergebenen gelangt. Deshalb würde es zum Verpflichten genügen, wenn uns durch eine innere Offenbarung der Beschluss des göttlichen Willens klar gemacht würde […].58
Diese innere Offenbarung ist nun nicht anderes als die Anwendung der Synderesis in den Urteilen des praktischen Verstandes. Somit wäre einerseits erklärt, wie die Einfachheit des ewigen Gesetzes auch in seiner promulgierten Form beibehalten werden kann, aber auch, wie sich sowohl das ewige Gesetz als auch seine Promulgation im Gewissen auf verschiedene Regeln beziehen können. Andererseits ist es nun möglich, das derart promulgierte ewige Gesetz und die aus ihm resultierende Verpflichtung als von einem Gesetzgeber herkommend zu deuten, denn Gott verkündet dieses Gesetz im Schöpfungsakt selbst. Suárez kann deshalb auch in De legibus sagen, dass selbst die Heiden das ewige Gesetz an sich kennen, obwohl sie es freilich nicht durch den geoffenbarten Glauben kennen können.59 Die Unterscheidung zwischen natürlichem und ewigem Gesetz entspricht der Unterscheidung zwischen Synderesis und den Urteilen, an denen die Synderesis mitwirkt. Während das promulgierte ewige Gesetz die Synderesis selbst ist, so fallen die Urteile des praktischen Verstandes, die durch die Synderesis zustande kommen, unter das natürliche Gesetz. Da das promulgierte ewige Gesetz somit auch vor dem natürlichen Gesetz vorhanden sein muss, wird eben-
58 DL II. 1. 11: »Unde in hac lege aeterna per se loquendo, nulla publica promulgatio requiritur ut actu obliget, sed solum quod veniat in notitiam subditi, unde si per internam revelationem nobis innotesceret divinae voluntatis decretum, sufficeret ad obligandum […].« 59 Vgl. DL II. 4. 4.
Proxima regula bonitatis
falls ersichtlich, warum Puy Muñoz das ewige Gesetz zu Recht als dem Menschen im Gegensatz zu den anderen Gesetzesarten intuitiv bekannt bezeichnen kann.60 Nicht nur das natürliche Gesetz setzt nämlich ein Urteil des praktischen Intellekts voraus, sondern auch alle anderen Arten von Gesetzen. Deshalb betont Suárez in De legibus letztlich auch, dass alle Gesetze, um zu verpflichten, eine Verpflichtung im Gewissen voraussetzen.61
Verpflichtung und natürliches Gesetz Ein klassisches Diskussionsthema im Bereich des natürlichen Gesetzes stellt die Frage dar, ob das natürliche Gesetz nur ein anzeigendes Gesetz, eine lex indicativa, oder darüber hinaus auch ein befehlendes Gesetz, eine lex imperativa, ist. Für Suárez ist diese Frage von besonderer Bedeutung, denn er geht davon aus, dass das Erkennen des moralisch Guten ein von der Erkenntnis des Gesollten distinkter Akt ist. Suárez macht diese Grundposition an verschiedenen Stellen seines Gesamtwerks deutlich, in De legibus besonders bei der Erörterung des Ratschlags, den Suárez von seiner Definition des Gesetzes abgrenzen will.62 Suárez führt aus, dass der Ratschlag nicht nur deshalb kein Gesetz sei, weil er moralfreie Handlungen betreffe – etwa eine Empfehlung zur besseren Ausführung einer handwerklichen Tätigkeit –, sondern er besonders deshalb keines sei, weil er nicht von einem übergeordneten Gesetzgeber stammen müsse und weil er nicht wirksam verpflichten könne. Diese Festlegung führt aber zu Problemen in Bezug auf das natürliche Gesetz, denn wenn das moralisch Gute nicht aus sich selbst verpflichtet, woher stammt dann diese Verpflichtung? Woran liegt es also, dass bei einigen moralisch guten Dingen eine Verpflichtung zu ihrem Tun besteht, bei anderen jedoch nicht? Auch hier sollte Suárez ernst genommen werden, wenn er anführt, dass jegliche Verpflichtung aus dem ewigen Gesetz herrührt. Denn auf gewisse Weise fallen alle moralischen Handlungen unter das ewige Gesetz, wie Suárez in De legibus schreibt: Gleichwohl kann bedingungslos versichert werden, dass alle moralischen Handlungen auf irgendeine Weise unter das ewige Gesetz fallen, sogar insoweit es im eigentlichen Sin-
60 Vgl. Muñoz: Los conceptos de derecho, justicia y ley (s. Anm. 6), S. 185f. 61 Vgl. DL I. 14. 12f.; DL III. 21. 5f. 62 Vgl. DL I. 2. 6–8; DL II. 2. 14f.
Stefan Schweighöfer ne vorschreibend ist. […] Beispielsweise die Ehe: Obwohl sie kein Werk gemäß eines Rates ist, sondern aus einem niederen Gut [hervorgeht] und sie nicht regulär unter eine Vorschrift fällt, so fällt sie aus dem Gesetz der Natur unter eine Verpflichtung, sofern sie zur Erhaltung der Art notwendig ist. Und daher fällt sie auch unter das ewige Gesetz. So gibt es also kein gutes Werk, das nicht unter das ewige Gesetz fällt, insofern es befehlend ist.63
Inwiefern fallen aber alle Handlungen unter das ewige Gesetz? Der Schlüssel ist auch hier wieder im Gewissen zu suchen. Das Gewissen ist zwar Teil des praktischen Verstandes, es ist aber nicht der praktische Verstand selbst. So können Handlungen zwar als moralisch gut oder schlecht erkannt werden, diese Erkenntnis muss aber nicht zugleich auch im Gewissen binden. Ein Beispiel, das Suárez sowohl in De bonitate als auch in De legibus verwendet, ist das Beten. Zweifellos ist es als eine gute Handlung anzusehen, man ist aber nicht dazu verpflichtet. Verpflichtet ist man lediglich zu einer bestimmten Ausführung des Betens – etwa dem Wahren von Aufmerksamkeit –, falls man sich zum Beten entschlossen hat.64 Genauso ist die Ehe im obigen Beispiel nicht schlechthin geboten. Vielmehr kommt es hier auf die genaueren Umstände an: Erfordert etwa die Arterhaltung das Eingehen der Ehe, dann ist sie unter diesem Umstand nicht mehr nur erlaubt, sondern sogar geboten. Sie ist dann aber geboten, weil sie als natürliches Gesetz am ewigen Gesetz teilhat, denn insofern wird sie nicht mehr nur als erlaubt erkannt, sondern als im Gewissen bindend. Derart können nun alle Ratschläge, sofern sie auf moralisch Gutes hinzielen, als natürliches Gesetz verpflichtend sein. Wichtig ist dabei die unterschiedlichen Quellen der Erkenntnis der Verpflichtung und des moralisch Guten aufzuzeigen. Die Erkenntnis des Guten entspringt der lex naturalis in ihrer Rolle als lex indicativa. Dieses Gesetz wird nur metaphorisch als Gesetz bezeichnet, da es noch nicht verpflichtet. Wird vor dem Gewissen aber zusätzlich erkannt, dass die angeratene Handlung auch getan werden soll, dann hat sie am ewigen Gesetz Teil und die lex naturalis wird als lex imperativa zu einem Gesetz im eigentlichen Sinne. Denn als etwas Gesolltes kann eine Handlung nur unter Zuhilfenahme der Synderesis erkannt werden, was nichts anderes ist als die Zuhilfenahme des promulgierten ewigen Gesetzes. Dann aber verpflichtet weder
63 DL II. 2. 15: »Verumtamen absolute affirmari potest omnes actiones morales cadere aliquo modo sub lege aeterna, etiam ut proprie praeceptiva est. Sicut matrimonium, quamvis non sit opus consilii, sed ex bonis inferioribus, nec regulariter cadat sub praeceptum: ex lege naturae cadit sub obligationem, si ad conservationem speciei sit necessarium, et ita etiam cadit sub legem aeternam. Sic ergo nullum est opus bonum, quod sub illam legem, ut imperantem, non cadat.« 64 Vgl. DL I. 2. 8; Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 12. 4. 2.
Proxima regula bonitatis
das natürliche Gesetz noch irgendein Ratschlag in letzter Instanz aus sich heraus, sondern die Verpflichtung entstammt dem ewigen Gesetz selbst. Diese Perspektive hilft auch zu verstehen, was Suárez genau meint, wenn er ausführt, dass im Naturgesetz neben der moralischen Güte auch eine Verpflichtung miterkannt wird, die der natürlichen Güte als göttliches Gebot hinzugefügt ist.65 Die moralische Güte kann auch ohne das Gewissen erkannt werden, die Verpflichtung, dieses Gute auch zu tun, muss aber aus dem Gewissen stammen. Derselbe Sachverhalt gilt neben der lex naturalis auch für alle anderen Gesetzesarten. Auch die Teilhabe positiver menschlicher Gesetz am ewigen Gesetz begründet sich daraus, dass nur dann, wenn diese Gesetze im Gewissen binden, das menschliche Gesetz auch am ewigen teilhat. Natürlich führt Suárez aus, dass man menschlichen Gesetzen nicht ohne Weiteres entgegenhandeln darf. Die Voraussetzungen dafür sind streng umrissen, Suárez hält es aber dennoch für möglich, dass menschliche Gesetze ungerecht und damit keine echten Gesetze sein können. Das zu erkennen setzt aber eine sehr sorgfältige Gewissensbildung und intensive Beratung voraus, zu der nicht jedermann ohne Weiteres im Stande sein dürfte.66 Das ewige Gesetz stellt sich somit keineswegs als für Suárez unwichtig oder gar als selbstwidersprüchlich und überflüssig heraus. Auch wird es nicht nur angeführt, um der Tradition zu genügen. Vielmehr ist das ewige Gesetz die Grundlage jedweder moralischen Verpflichtung, denn nur durch Teilhabe am ewigen Gesetz können die übrigen Gesetze überhaupt verpflichten. Verpflichten heißt aber immer im Gewissen verpflichten, denn ein Gesetz bewegt den ihm Untergebenen nicht wie eine physische Wirkursache mit Notwendigkeit, sondern wie eine moralische Wirkursache unter Freiheitsbedingungen.67 Eine einfache Vernunfteinsicht entfaltet aber keine derartige Ursächlichkeit, sie kann nur in der Neigung des Gewissens angetroffen werden, das im Lateinischen daher bezeichnenderweise weniger als Wissen oder Gewissen, sondern als Mitwissen (conscientia) bezeichnet wird. Soll das ewige Gesetz aber in der Synderesis promulgiert sein und sollen alle anderen Gesetze am ewigen Gesetz teilhaben können, dann muss das ewige Gesetz ein einer Idee ähnliches Urbild sein, nämlich die lex per essentiam. Damit ist das ewige Gesetz zugleich in seiner Funktion als Urbild singulär, muss aber auf alle individuellen Gesetze Anwendung finden können – eine Eigenschaft, die sich somit auch in der Synderesis wiederfinden muss. 65 Vgl. DL II. 6. 11f. 66 Vgl. DL III. 20. 10–13. 67 Vgl. DM 17. 2. 6.
Stefan Schweighöfer
Ergebnis In diesem Beitrag wurde eine Interpretation vorgeschlagen, die daran ansetzt, Suárez rechtsphilosophisches Hauptwerk De legibus ac Deo legislatore nicht länger isoliert von seiner gesamten Philosophie und Theologie zu lesen, denn nur dann können die Konzeptionen, die zwar in De legibus ihre Anwendung finden, nicht aber zugleich auch dort entwickelt werden, richtig verstanden werden. Dabei darf man Suárez nicht nur als Philosophen verstehen, sondern muss ihn im eigentlichen Sinne als Theologen lesen. Nur der Theologe könne, wie dies Suárez selbst im Vorwort zu De legibus schreibt, die Gesamtheit und Einheit aller Gesetze in der lex aeterna überhaupt richtig erfassen. Deshalb müsse sich der Theologe auch nicht mit der Erörterung der göttlichen Gesetze bescheiden, sondern ihm obliege es vielmehr, die Letztbegründung aller Gesetze darzulegen – eine Perspektive, die dem Juristen wie dem Philosophen verwehrt bleibt.68 Dabei ist die Kennzeichnung der suárezischen Position als Theonomie des göttlichen Willens missverständlich. In keiner Weise möchte Suárez ein göttliches Willkürrecht postulieren, dem sich der Mensch als Untergebener auf Gedeih und Verderb zu unterwerfen habe und das er darüber hinaus gar nicht selbst erkennen könne und es ihm somit – etwa durch die Autorität von Staat oder Kirche – auferlegt werden müsste. Die richtig verstandene Theonomie stellt die moralische Selbstbestimmung des Menschen nicht in Frage, vielmehr begründet sie diese überhaupt erst. Das Gewissen nämlich ist es, das im Diesseits als proxima regula bonitatis die letzte Instanz der Rechtfertigung menschlichen Handelns bildet, und zwar ungeachtet der persönlichen theologischen Vorbildung oder der religiösen Überzeugung. Indirekt kennen durch das Gewissen alle Menschen das ewige Gesetz als remota regula bonitatis. Die Rückbindung an Gewissen und ewiges Gesetz soll vor allem die menschlichen Gesetze vor einer Entwicklung zur reinen Willkürherrschaft bewahren. Höchste Pflicht des Einzelnen ist damit einerseits die sorgfältige Bildung des eigenen Gewissens und andererseits die Vorschrift, niemals gegen die Einsicht des eigenen Gewissens zu handeln. Selbst ein irrendes Gewissen kann schlechthin verpflichten, sofern der Irrtum unüberwindbar ist und mit einer sorgfältigen Gewissensbildung einhergeht.69 Der Mensch bleibt somit, selbst unter ungerechten menschlichen Gesetzen, doch immer vor seinem Gewissen für seine Taten verantwortlich.
68 Vgl. DL. Prooemium. 69 Vgl. Suárez: De bonitate (s. Anm. 1), 12. 4. 6
Proxima regula bonitatis
Der Begriff des ewigen Gesetzes bildet das begründungstheoretische Kernstück in De legibus. Im Bezug auf die individuellen Gesetze mag dieser Begriff in der Tat problematisch erscheinen, wie etwa die Frage nach der Ewigkeit gezeigt hat, im Bezug auf den Status als lex per essentiam hingegen hebt sich diese Problematik jedoch auf und das ewige Gesetz zeigt sich als einheitsstiftende und ursprüngliche Instanz jeglicher menschlicher Moralität. Dabei widerspricht die Konzeption der lex aeterna auch nicht dem von Suárez entworfenen Gesetzesbegriff, auch wenn die Frage nach der Promulgation nicht leicht zu beantworten ist. Eigentlicher Promulgationsort des ewigen Gesetzes ist die Synderesis, zu einzelnen distinkten Handlungen verpflichten kann es jedoch nur unter Hinzunahme weiterer Erkenntnisse der praktischen Vernunft, die im natürlichen Gesetz ihren Niederschlag finden. Die Bereiche, die dabei nichts intrinsisch Gutes oder Schlechtes umfassen, bilden den Regelungsgegenstand der positiven Gesetze, die deswegen aber nicht minder an das ewige Gesetz gebunden sind,70 denn auch die Forderung, ihnen zu gehorchen, muss vor dem Gewissen als verbindlich eingesehen werden können.
70 Vgl. DL III. 21. 15.
Frank Grunert
Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez ›Gewissen‹, bekanntlich eine Lehnübersetzung aus dem lateinischen ›conscientia‹, was wiederum auf dem griechischen ›syneidesis‹ basiert, gilt im allgemeinen Verständnis als eine im Internum des Menschen angesiedelte Instanz, die das Handeln des Einzelnen sowohl prospektiv als auch retrospektiv moralisch bewertet. Ge-Wissen, con-scientia stellt sich als ein Wissen der moralischen Norm dar, das dieses Wissen mit der persönlichen Motivation und den gegebenen Umständen einer konkreten Situation in Verbindung bringt, und auf der Basis von gewussten moralischen Maßstäben bewertet.1 Gewissen ist handlungsregulierend, es orientiert Handlungen an gewussten Normen, und zwar auch dann noch, wenn gegen diese Normen verstoßen wird und das Urteil über die vollzogenen oder noch beabsichtigten Handlungen negativ ausfällt. Das dann schlechte Gewissen wirkt sich so oder so auf die weiteren Handlungen aus, denn es führt entweder zu einer moraladäquaten Modifikation der beabsichtigten Handlung und kann sich zu einem ›guten‹ Gewissen wandeln, oder aber das ›schlechte‹ Gewissen wird prolongiert. Falls es in diesem Falle nicht ausgeschaltet und der Handelnde solcherart ›gewissenlos‹ wird, begleitet das schlechte Gewissen die schlechte Handlung bzw. die schlechten Handlungen weiter und bewirkt sowohl innere Reaktionen im Umgang mit dem schlechten Gewissen als auch – womöglich – äußere Effekte, mithin gewissensbedingte Handlungsmodifikationen, die freilich nicht immer in dezidiert moralische Handlungen ausmünden müssen. Im Gewissen kommen also eine ganze Reihe von Faktoren oder Aspekte zum Tragen, die philosophisch, moralphilosophisch und – wie sich im gegebenen Zusammenhang zeigen wird – auch rechtsphilosophisch von Interesse sind. Es sei hier auf die folgenden vier hingewiesen: 1 Gerade aus einer historischen Perspektive hat das Gewissen seit einiger Zeit das interdisziplinäre Interesse auf sich gezogen, vgl. etwa noch immer grundlegend Hans Reiner: Art. Gewissen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Hg. von Joachim Ritter. Basel, Stuttgart 1974, Sp. 574–592. Sowie: Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1995; Paolo Prodi: Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat. Übers. von Annette Seemann. München 2003, 2. Aufl. 2005; Simon Bunke u. Katerina Mihaylova (Hg.): Gewissen. Interdisziplinäre Perspektiven auf das 18. Jahrhundert. Würzburg 2015; demnächst erscheint: Michael Germann u. Wim Decock (Hg.): Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen. Leipzig 2017 [i.D.].
Frank Grunert 1.
Gewissen ist das Gewissen des Einzelnen, das dieser auf sich und seine Handlungen bezieht. 2. Das Gewissen ist eine innere Instanz, oder ein inneres Vermögen, das sich wertend sowohl auf äußere Handlungen als auch auf innere Bewusstseins(zu)stände bezieht und damit Folgen für die Zukunft bewirkt. Das Gewissen erweist sich so als ein produktives, d.h. so oder so gestaltendes Vermögen, das nicht nur den Einzelnen, sondern auch und in besonderer Weise den Nächsten und den Übernächsten betrifft. 3. Das Gewissen ist zunächst ein Wissen von moralischen Normen, so dass sich hier sogleich drei weitere Fragen anschließen lassen, nämlich: woher werden diese Normen bezogen, sowie: wie gelangen sie in das Innere des einzelnen Menschen, und schließlich: was geschieht dort mit ihnen? Gewusst wird aber auch ein Wissen von der durch unterschiedliche Faktoren gekennzeichneten Situation, in der gehandelt wird, und der Handelnde hat zudem ein Wissen von sich selbst, seinen Präferenzen, seinen Erfahrungen, seinen Empfindungen, und zwar jeweils jetzt und in seinem bis dato gelebten Leben. 4. Dieses im Gewissen versammelte und aktualisierte Wissen führt dazu, dass das Gewissen kein statisches Vermögen ist, sondern ein dynamisches, das intern abwägt und sich auch extern austauscht, insofern wäre das Gewissen nicht nur aktiv, sondern interaktiv, es ist als Vermögen formal immer das Gleiche, nicht aber material, d.h. es ist hinsichtlich des sachlichen Gehaltes des im Gewissen Gewussten variabel. Das Gewissen ist so gesehen veränderlich; es wertet immer, aber es wertet das Gleiche nicht immer gleich. Diese nur skizzenhaften Hinweise machen bereits deutlich, dass das Gewissen offenkundig ein Relais darstellt: Es vermittelt zwischen der Norm, von wo auch immer sie bezogen wurde, bzw. wie auch immer sie entstanden ist, dem Handeln, das normiert wird bzw. normiert werden soll, und dem Einzelnen, der sowohl in seinem Inneren die Norm aufgreift und reflektiert, als auch mit dem doppelten Blick auf eine je bestimmte Situation und auf die gegebene Norm handelt. Dabei scheinen insbesondere diejenigen Aspekte von besonderem Interesse zu sein, die oben unter Punkt 3 angesprochen wurden. Es fragt sich nämlich 1. woher die in Frage stehenden Normen kommen; 2. worin ihre Verbindlichkeit gründet und wie weit diese reicht, und 3. wie der Einzelne in seinem Inneren mit von außen kommenden Normen umgeht: Ist er willens, in der Lage und berechtigt, die von außen kommenden Normen als normatives Material zu begreifen und eigene, nicht beliebi-
Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez
ge, sondern mit einem Geltungsanspruch verbundene Normen zu schaffen? Dies impliziert – und darauf käme es an – die Frage nach dem sittlichen Status des Einzelnen: Ist er einer heteronomen Norm unterworfen, die für ihn in jeder Hinsicht unverfügbar ist, oder ist gerade das Gewissen als innere Instanz der Ort, an dem sich normative Autonomie tatsächlich oder auch nur der Möglichkeit nach formiert? All diese Fragen sind nicht nur von moralphilosophischer, sondern – berücksichtigt man einen in der Tradition für lange Zeit verbindlichen Zusammenhang zwischen Recht und Moral – auch von rechtsphilosophischer Relevanz. Sie ist dann gegeben ist, wenn rechtliche Normen im weiten Sinne dieses Begriffes mit dem Anspruch auftreten, auch im Gewissen verbindlich zu sein. Dies ist bei Francisco Suárez sowie bei vielen vor ihm und – wegen der auf eine stärkere Autonomisierung zulaufenden Entwicklung der Moralphilosophie und der damit einhergehenden schärferen Unterscheidung zwischen Recht und Moral – bei nicht ganz so vielen nach ihm durchaus der Fall. Dabei wird behauptet, dass rechtliche Normen, d.h. von außen von Menschen gesetzte Normen im Inneren des Menschen wirken, so dass, falls die Bindungswirkung absolut, also unbedingt ist, eine die Autonomie zumindest ermöglichende Residualfunktion des Inneren nicht gegeben ist. Bringt man diesen Befund in eine historische Perspektive, dann kann man konstatieren, dass das Verständnis für diese Autonomie sich erst langsam im Laufe eines längeren Prozesses entwickelt hat, an dem Suárez, zumindest mit De legibus ac Deo legislatore, noch keinen Anteil hat.2 Ein für die spätere Diskussion dieser Fragen einschlägiger locus classicus ist die Antwort, die Thomas von Aquin auf die folgende Frage gibt: »Utrum lex humana imponat homini necessitatem in foro conscientiae«.3 Mit Blick auf die Gewissensbindung des menschlichen Gesetzes liefert die Antwort des Aquinaten alle wichtigen Elemente, die bei der Diskussion der Gewissensverpflichtung von Normen eine Rolle spielen. Die von Thomas aufgeworfene Frage wird mit Bezug auf Spr 8, 15 – »durch mich regieren die Könige« – bejaht, und zwar unter 2 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass eine »autonome Entscheidungsfunktion« des Gewissens bereits im Neuen Testament auftaucht, in den nachpaulinischen Schriften des NT allerdings schon zurücktritt und »bei den apostolischen Vätern […] noch mehr verloren« geht. Reiner spricht in diesem Zusammenhang einprägsam vom »autoritären Typus des Gewissens« bzw. vom »Gewissen der Folgsamkeit«. Vgl. Reiner: Art. Gewissen (s. Anm. 1), Sp. 579f. Zur Entstehung und Entwicklung des Autonomiegedankens in der Frühen Neuzeit vgl.: Jerome Schneewind: The Invention of Autonomy. A history of modern moral philosophy. Cambridge et al 1998. 3 STh I–II, qu. 96, art. 4, DThA 13, S. 118.
Frank Grunert der Voraussetzung, dass die vom Menschen erlassenen Gesetze gerecht sind. Und gerecht sind die Gesetze durch ihr Ziel, d.h. wenn sie dem Gemeinwohl dienen, durch die Legitimität ihres Urhebers und durch ihren Inhalt, d.h. durch die erforderliche gleichmäßige Verteilung der Lasten auf alle Untergebenen. Diese gerechten Gesetze leiten sich von der lex aeterna ab, von der sie insofern ihre gewissensbindende Kraft empfangen. Ungerechte Gesetze, die die genannten Bedingungen nicht erfüllen, sind tatsächlich keine Gesetze, sondern Gewaltmaßnahmen, die nicht im Gewissen verpflichten, es sei denn »um Ärgernis oder grobe Unordnung zu vermeiden; denn aus solchem Grunde muß der Mensch auf sein Recht verzichten«.4 Diese Cautele fällt weg, wenn sich die Gesetze im Gegensatz zum »bonum divinum« befinden. Dies ist etwa dann gegeben, wenn »die Gesetze von Tyrannen« zur Gottlosigkeit verleiten, »oder zu was auch immer, was dem göttlichen Gesetz widerspricht«. »Solche Gesetze« – so hält Thomas kategorisch fest – »dürfen auf keine Weise beobachtet werden; denn es heißt: ›Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen‹ (Apg. 5,29)«.5 Thomas erläutert hier die Gewissensbindung des positiven Gesetzes und weist zugleich auf die Grenzen dieser Bindung hin. Dies ist deswegen interessant, weil hier ein theonom begründetes und nur aus dieser Quelle wirksames Residuum menschlicher Moralität mehr sichtbar als definiert wird, das – freilich eben mit göttlicher Unterstützung – die Vermittlung zwischen individuellem Gewissen einerseits und normativem Anspruch des menschlichen Gesetzes andererseits normativ begründet verweigert. An die Stelle der Gewissensbindung durch das positive Gesetz, tritt im gegebenen Fall eine konkurrierende und eindeutig höherwertige Bindung des Gewissens, die die Lösung der Gewissensbindung durch das positive Gesetz rechtfertigt. Das Gott gehorchende Gewissen erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf normative Selbstständigkeit, ist aber insofern von außen, d.h. auf ziviler Ebene unverfügbar, als es den Gegensatz zum positiven Gesetz unter Verweis auf eine höhere Legitimität nicht nur aushält, sondern faktisch überbietet. Thomas’ Antwort auf die Frage, ob das menschliche Gesetz im Gewissen verpflichtet, liefert die Vorlage, möglicherweise sogar das Modell für die Diskussion dieser und ähnlich gelagerter Fragen. Dies gilt auch für Suárez. Im Folgenden wird zwar auch die Frage nach der Gewissensbindung des positiven Gesetzes eine Rolle spielen, doch soll mit Blick auf den vorhin entwickelten
4 STh I–II, q. 96, art. 4, resp., DThA 13, 120. 5 STh I–II, q. 96, art. 4, DThA 13, 121f.: »[T]ales leges nullo modo licet observare; quia sicut dicitur Act. 5, ›obedire oportet Deo magis quam hominibus.«
Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez
Fragekomplex die Perspektive ausgeweitet werden. Dabei geht es mit Bezug auf De legibus um folgende Fragen: 1. In welchen theoretischen oder gar praktischen Kontext hält Suárez das Problem der Verpflichtung im Gewissen für entscheidend relevant? 2. Wie definiert er Gewissen, welche Funktion hat es bei ihm? 3. Wie beantwortet Suárez die von ihm DL II. 9 selbst gestellte Frage: »Darf das natürliche Gesetz im Gewissen verpflichten?« Die Antwort auf die dritte Frage sollte – so ist zu hoffen – interessante Aufschlüsse auf die zunächst nicht absehbaren normativen Dimensionen von Suárez’ Naturrechtsdenken verschaffen.
Die theologischen Voraussetzungen des rechtsphilosophischen Gewissensbegriffs Im Vorwort zu De legibus ac Deo legislatore stellt Suárez ganz unmissverständlich und mit einer gewissen Eindringlichkeit die Kompetenz der Theologie klar, über Gesetze zu handeln.6 Schon allein der hohe Rang der Theologie, der sich aus nichts anderem als ihrem erhabenen Gegenstand ableite, reiche eigentlich hin, um jedem Zweifel an der Zuständigkeit der Theologie den Boden zu entziehen. Dieses ebenso ostentativ wie offensiv vorgetragene Selbstverständnis, das kritische Anfragen von Seiten der in Rechtsangelegenheiten gewöhnlich für zuständig gehaltenen Jurisprudenz gleich im Ansatz zurückzuweist, nimmt dezidiert theologische Gründe für sich in Anspruch, so dass Suárez gegenüber der bekannten, von Alberico Gentili vorgetragenen Mahnung an die Theologen, innerhalb fremder Mauern zu schweigen, unmissverständlich klarstellt, dass sich die Theologie bei der Erörterung von Fragen des Rechts sehr wohl auf dem eigenem Terrain befindet. Die Theologie erkennt in Gott das Endziel, »auf das sich die vernunftbegabten Geschöpfe ausrichten und in dem ihre einzige Glückseligkeit besteht«.7 Aufgabe der Theologie ist es, dieses Ziel zu benennen und 6 Vgl. dazu etwa: Gideon Stiening: Der hohe Rang der Theologie? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárezʼ ›De legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 97–133. 7 DL I. Prooemium, Brieskorn 15, Pereña I, 2: »Deus enim ut multis aliis titulis a theologo, ita illo expendi debet, quod ultimus sit finis ad quem tendunt creaturae rationis participes et in quo unica illarum felicitas consistit.«
Frank Grunert den Weg zu lehren, der zu diesem Ziel führt. Dabei ist entscheidend, dass Gott nicht nur das Ziel ist, sondern als Wirkursache des Menschen, die Menschen, »nachdem ihnen der Weg gezeigt worden ist«, zu sich hin leitet. Und Gott tut dies »indem er durch seine Lehre erleuchtet, durch Ratschläge ermahnt, durch Gesetze zwingt und ihnen hauptsächlich mit der Unterstützung seiner Gnade hilft«.8 Obwohl selbstverständlich Lehre, Ratschläge und vor allem die Gnade eine wichtige heilswirksame Rolle spielen, befindet Suárez, dass der »Weg zu diesem Heil [...] in frei vollzogenen Handlungen und in der Richtigkeit der sittlichen Haltung« besteht. »Diese Richtigkeit der sittlichen Haltung hängt wiederum am stärksten vom Gesetz ab, welches die Regel menschlicher Handlungen ist. Genau deshalb« – so hält Suárez fest – »beansprucht die Betrachtung der Gesetze einen großen Teil der Theologie: Während sie sich als Heilige Lehre mit den Gesetzen beschäftigt, achtet sie in der Tat auf nichts anderes als auf Gott selbst, den sie als Gesetzgeber ansieht«.9 Auf die intrinsische und in keiner Weise lösbare Verbindung von Gott und Gesetz wird nicht von Ungefähr bereits im Titel des Buches – De legibus ac Deo legislatore – verwiesen: Auf Gott als Gesetzgeber, der seinen Geschöpfen die Gesetze als ein Mittel auf dem zu ihm führenden Weg gegeben hat, kommt es ganz entschieden und entscheidend an. Der Theologie wird dabei die Aufgabe zugewiesen, den Menschen auf seinem über die Gesetze führenden Weg zu Gott zu begleiten bzw. zu geleiten. Es versteht sich von selbst, dass sie sich mit Blick auf dieses Ziel faktisch keinerlei Kompetenzen mit der Jurisprudenz teilen muss, denn für den Weg zu Gott sind die Rechtswissenschaften nicht zuständig, während umgekehrt die Theologie mit der Hilfe »eines Lichts aus größerer Höhe«10 die verschiedenen Gebiete des Rechts aus einem »noch einmal höheren Zweck«11 betrachtet. Sie »untersucht das Naturrecht unter der Voraussetzung, dass es der übernatürlichen Ordnung
8 DL I. Prooemium, Brieskorn 15f., Pereña I, 2: »Neque vero Deus solummodo est finis et veluti scopus ad quem creaturae intellectuales tendunt, sed etiam […] creaturas suas regit et ostensa via ad se ducit; et ne a recto itinere deflectant, admonendo compescit deflectentesque sua ineffabili providentia revocat ac reducit doctrina illuminando, consiliis monendo, legibus cogendo et praecipue suae gratiae auxiliis adiuvando.« 9 DL I. Prooemium, Brieskorn 16, Pereña I, 3: »Quoniam igitur huius salutis via in actionibus liberis morumque rectitudine posita est, quae morum rectitudo a lege tanquam ab humanarum actionum regula plurimum pendet, idcirco legum consideratio in magnam theologiae partem cedit et dum sacra doctrina de legibus tractat, nihil profecto aliud quam Deum ipsum ut legislatorem intuetur.« 10 DL I. Prooemium, Brieskorn 18, Pereña I, 4: »sub altiori lumine.« 11 DL I. Prooemium, Brieskorn 20, Pereña I, 6: »Theologia vero sub altiori ratione haec omnia complectitur.«
Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez
unterstellt ist und von ihr eine stärkere Kraft empfängt, als es sich selbst zu geben vermag«, und sie prüft die staatlichen Gesetze auf ihre »Richtigkeit gemäß der übergeordneten Regeln«, wobei sie klärt, »ob und welche Verpflichtungen dem Gewissen aus den staatlichen Gesetzen entstehen«.12 Gewicht, Dignität und Notwendigkeit, ja Dringlichkeit dieser Aufgabe ist nicht zu überbieten und so ist klar, dass Suárez in seinen Ausführungen nichts übergehen will (und darf), was von der Theologie als Wissenschaft zu bearbeiten ist.13 Wenn er zugleich im Gestus einer nicht ganz glaubwürdigen Bescheidenheit beteuert, keine »Grenzen überschreiten« zu wollen, »die der Heiligen Lehre gezogen sind«,14 dann ist doch zumindest offenkundig, dass diese Grenzen außerordentlich weit gezogen sind, und so bleibt dem Juristen im Grunde nur dasjenige zu tun übrig, das jenseits der Heilsrelevanz geradezu beliebig geregelt werden kann. Dass Heilsnotwendige ist seine Sache nicht, und alles andere ist am Ende, d.h. sub specie aeternitatis, allenfalls zweitrangig.15 Im Kontext dieser Überlegungen zur spezifischen Kompetenz der Theologie in Fragen des Rechts kommt Suárez immer wieder auf das Gewissen zu sprechen, und dies in einer Weise, die wichtige Aufschlüsse über die eigentliche – und nach allem kaum verwundernde – theologische Valenz des Gewissens verschafft. Schon früh im Prooemium bemerkt Suárez: Außerdem ist es eine theologische Aufgabe, für die Gewissen der zum Heile pilgernden Menschen Sorge zu tragen. Die Richtigkeit des Gewissens bestätigt sich in der Gesetzestreue, seine Verworfenheit in der Gesetzesmissachtung. Da nun ein jedes Gesetz eine Regel ist, die bei der ihr geschuldeten Beachtung das ewige Heil erlangen und bei ihrer Verletzung es verlieren lässt, gehört auch aus diesem Grund die Überprüfung des Gesetzes, insoweit es das Gewissen verpflichtet, zum Amt des Theologen.16
12 DL I. Prooemium, Brieskorn 20f., Pereña I, 6: »[N]am ius ipsum naturale considerat ut supernaturali ordini supponitur et ab illo firmitatem maiorem accipit; leges vero civiles solum vel ut de earum honestate ac rectitudine per altiores regulas diiudicet vel ut obligationes conscientiae quae ex illis orientur iuxta principia fidei declaret.« 13 Vgl. DL I. Prooemium, Brieskorn 23, Pereña I, 8. 14 DL I. Prooemium, Brieskorn 23, Pereña I, 8: »[N]ec sacrae doctrinae terminos transilire videamur.« 15 Siehe zur Funktion der Jurisprudenz bei Suárez: Klaus-Gert Lutterbeck: Jurisprudenz als ›ausübende Rechtslehre‹? Zur Funktion der Rechtswissenschaft im Spannungsfeld von Theologie und Philosophie in Suárez’ De legibus. In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez‘ ›De legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. v. Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 52–72. 16 DL I. Prooemium, Brieskorn 17f., Pereña I, 4: »Deinde theologicum est negotium conscientiis prospicere viatorum; conscientiarum vero rectitudo stat legibus servandi, sicut et pravitas
Frank Grunert Das Gewissen ist hier Gegenstand explizit seelsorgerlicher Bemühungen der Theologen, denn der Weg zum Heil führt über die Achtung derjenigen Gesetze, die im Gewissen verpflichten. Diese Gewissensverpflichtung bezeichnet ganz offenkundig ein besonderes Gewicht der Verpflichtung, die über andere weniger gewichtige Formen der Verpflichtung hinausgeht. Dies wird deutlich, wenn Suárez später – nämlich in DL II. 9 auf Verpflichtungen zu sprechen kommt, die ohne Gewissensbindung auskommen. Ausdrücklich nennt er dort Verpflichtungen, die etwa aus Dankbarkeit oder Freundschaft entstehen.17 Diese Verpflichtungen sind zwar tugendhaft, binden aber nicht im Gewissen, d.h. die Gewissensbindung einer Norm stellt eine spezifische Qualität dar, die nicht für alle Normen gegeben ist. Entscheidend an der aus dem Vorwort zitierten Passage ist nun, dass der Gehorsam gegenüber dem im Gewissen verpflichtenden Gesetz das ewige Heil erwirbt, der Ungehorsam aber das ewige Heil preisgibt. Insofern kommt dem Gewissen und der Gewissensverpflichtung in der theologischmoralischen Heilsökonomie von Sünde und Erlösung eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Funktion zu. Auch wenn an dieser Stelle noch nicht klar ist, wie genau das Gewissen agiert, so ist doch deutlich, dass gegenüber anderen Formen der Verpflichtung mit der Gewissensverpflichtung eines Gesetzes über die damit indizierte Heilsrelevanz das spezifische Gewicht einer sowohl vom Transzendenten herreichenden als auch auf es zurückführenden Norm markiert wird. Wenn in späterer Zeit, genaugenommen kaum hundert Jahre nach Suárez von der Gewissensbindung einer von außen kommenden Norm nicht mehr die Rede ist – etwa im zweiten Naturrecht von Christian Thomasius, übrigens im Gegensatz zu Samuel Pufendorf18 – und die Verpflichtung als solche für hinreichend erachtet wurde, dann rechtfertigt sich bei Suárez die Emphase einer Verpflichtung im Gewissen durch ihre nur im theologischen Kontext fungierende
violandis, cum lex quaelibet sit regula, si ut oportet servetur, aeternae salutis assequendae; si violetur, amittendae; ergo et legis inspectio, quatenus est conscientiae vinculum, ad theologum pertinebit.« 17 Vgl. DL II. 9. 5, Brieskorn 486; Pereña II, 140. 18 Vgl. dazu demnächst Frank Grunert: Äußere Norm und inneres Gewissen. Das Gewissen in der Naturrechtslehre von Samuel Pufendorf und Christian Thomasius. In: Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen. Hg. von Michael Germann. Leipzig 2017 [i.D.]. Zu Pufendorf siehe den instruktiven Beitrag von Katerina Mihaylova: Gewissen als Pflicht gegen sich selbst. Zur Entwicklung des forum internum von Pufendorf bis Kant. In: Gewissen. Interdisziplinäre Perspektiven auf das 18. Jahrhundert. Hg. von Simon Bunke u. Katerina Mihaylova. Würzburg 2015, S. 53–70. Vgl. hierzu auch den zweiten Beitrag von Gideon Stiening im vorliegenden Band.
Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez
heilsökonomische Funktion, die mit Beginn der Aufklärung nicht nur in Frage gestellt, sondern ausdrücklich zurückgewiesen wurde.
Definition und Funktion des Gewissens Bevor Suárez sich der Beantwortung der Frage, »utrum lex naturalis obliget in conscientia«, zuwendet, kommt er an verschiedenen Stellen in DL I und II von De legibus auf das Gewissen zu sprechen, zumeist eher en passant und nicht immer hinreichend aufschlussreich, in DL II. 7 dann aber doch ausführlicher. Bemerkenswert ist an den eher verstreuten Hinweisen, dass sie unmittelbar an die Befunde aus dem Vorwort anschließen. So wird die durch Gesetz auferlegte »Verpflichtung im Gewissen« umstandslos mit »Schuld« identifiziert19 und an anderer Stelle wird umgekehrt festgehalten, dass derjenige, der qualifiziert schuldig wird, zugleich sündigt; so heißt in DL I. 14: »[I]mmer wenn einer durch sein Handeln gegen eine echte Verpflichtung verstößt, sündigt er dadurch im Gewissen«.20 D.h. der solcherart Schuldige verstößt gegen eine in letzter Konsequenz von Gott durch das Gesetz auferlegte und im Gewissen bindende Verpflichtung und wendet sich so – mit Folgen für sein Heil – von Gott ab. Neue, bisher noch nicht thematisierte Aspekte werden ins Spiel gebracht, wenn Suárez in DL II. 7 Gesetz und Gewissen begrifflich sowohl voneinander absetzt als auch miteinander in Beziehung bringt. Im Unterschied zu Basilius und Damaszenus, die Gewissen einfach als einen für das Handeln verbindlichen Urteilsspruch auffassen und damit in Suárezʼ Augen die Differenz zwischen Gesetz und Gewissen einziehen, will er selbst ausdrücklich an der Unterscheidung festhalten. »Streng genommen«, so konstatiert er, handelt es sich um »zwei verschiedene Dinge: Gesetz besagt nämlich ›Regel, die im Allgemeinen für das, was zu tun ist, aufgestellt ist‹, ›Gewissen‹ hingegen bedeutet‚ praktisches Urteil im besonderen Fall. Von daher gesehen« – so Suárez weiter – »ist
19 Vgl. DL I. 14. 7, Brieskorn 272, Pereña II, 85: Es »ist aber darauf hinzuweisen, dass man im Gesetz zwei Verpflichtungen ausmachen kann: Die eine bezieht sich auf die Schuld; man nennt sie gewöhnlich ›die Verpflichtung im Gewissen‹.« / »[A]dvertendum est duas posse intelligi obligationes in lege: una est ad culpam quae solet dici in conscientiae.« 20 Vgl. DL I. 14. 12, Brieskorn 278, Pereña II, 90: »[Q]uoties aliquis agendo contra obligationem propriam in conscientia peccat.«
Frank Grunert das Gewissen eher die Anwendung des Gesetzes auf ein besonderes Tun«.21 Das Gewissen ist nicht die Norm selbst, sondern es sagt die Norm aus und geht mit Blick auf das in einer Situation zu Tuende mit ihr um, und dies in Wahrnehmung unterschiedlicher normativer Rollen. Denn während das Gesetz sich normativ nur auf zukünftiges Handeln bezieht, was – dies nur in Parenthese –, wie sich anhand des Strafgesetzes zeigen ließe, freilich nur zum Teil stimmt,22 befasst »sich das Gewissen [...] auch mit dem bereits Geschehenen«. Dabei erfüllt es – wie Suárez unter wörtlichem Bezug auf Thomas von Aquin feststellt23 – unterschiedliche normative Aufgaben, d.h. nicht nur die Aufgabe »zu verpflichten, sondern auch anzuklagen, zu bezeugen und zu verteidigen«.24 Diese Rollenvielfalt, der Auftritt des Gewissens als Gesetzgeber, als Ankläger, als Zeuge und als Verteidiger auf einem – jenseits der kanonistischen Begrifflichkeit25 metaphorisch gefassten – forum internum, in der der Einzelne vor dem Hintergrund der gewussten und als verpflichtend erkannten Norm mit sich selbst und über sich selbst und seine Handlungen zu Gericht sitzt, macht das Gewissen zu dem zentralen normativen Vermögen, das nicht einlinig verpflichtet und urteilt, sondern das Urteil als Ergebnis einer Verhandlung präsentiert.26 Es wird ange-
21 DL II. 5. 15, Brieskorn 420, Pereña III, 73f.: »Nihilominus tamen in rigore haec duo diversa sunt. Nam lex dicit regulam generaliter constitutam circa agenda. Conscientia vero dicit dictamen practicum in particulari. Unde potius est veluti applicatio legis ad particulare opus.« 22 Auch Suárez’ eigene Strafrechtslehre ist in ihren Bezügen sowohl prospektiv als auch retrospektiv, siehe dazu: Frank Grunert: Strafe als Pflicht. Zur Strafrechtslehre von Francisco Suárez (DL V). In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárezʼ ›De legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 255–266. 23 Es heisst bei Thomas in STh I, q. 79, a. 13, DThA 6, 13: »Dasselbe geht auch aus dem hervor, was dem Gewissen zugeschrieben wird. Man sagt nämlich vom Gewissen, es bezeuge, binde, sporne an oder auch, es klage an, foltere und tadle. All dies folgt in irgendeiner Anwendung unseres Erkennens oder Wissens auf unser Handeln.« / »Idem autem apparet ex his, quae conscientiae attribuntur. Dicitur enim conscientia testificare, ligare, vel instigare, vel etiam accusare, vel etiam remordere, sive reprehendere; et haec omnia consequuntur applicationem alicujus nostrae cognitionis, vel scientiae ad ea, quae agimus.« 24 DL II. 5. 15, Brieskorn 421, Pereña III, 74: »[I]deo illi tribuitur non solum ligare, sed accusare, testificari et defendere.« 25 Siehe dazu Winfried Trusen: Zur Bedeutung des geistlichen Forum internum und externum für die spätmittelalterliche Gesellschaft. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtgeschichte. Kanon. Abt. LXXVI (1990), S. 254–285; Prodi: Eine Geschichte der Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 82–114. 26 Bemerkenswert ist, dass Suárez sich zwar bis in die Formulierung hinein auf Thomas bezieht, tatsächlich aber das forensische Modell insofern stärker als Thomas betont, als er nur die dafür kennzeichnenden Elemente – Anklage, Zeugenschaft und Verteidigung – aufzählt und
Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez
klagt, bezeugt und verteidigt, d.h. das Ergebnis ergibt sich nicht durch eine einlinige auf den Kasus fokussierte Erkenntnis, sondern durch Rede und Widerrede auf geradezu diskursivem Weg. Insofern stellt sich das Gewissen hier als ein verhandelndes und in gewisser Weise interaktives moralisches Vermögen dar. Freilich fehlt in der Aufzählung der unterschiedlichen forensischen Rollen bezeichnenderweise der Richter. Und dies sicher nicht ohne Grund. Denn in letzter Konsequenz richtet natürlich allein derjenige, der als der ursprüngliche Gesetzgeber einzig zu diesem wahren Urteil legitimiert ist, weil er dem Menschen die Gesetze als Weg zu ihm hin gegeben hat. Unterhalb dieser letzten Instanz gibt es allenfalls guten Willen und halbwegs richtige Erkenntnis, doch keine vollständige Gerechtigkeit. Deswegen wird man festhalten dürfen: So sehr das forensische Modell die Subjektivität des Gewissens markiert – und das ist sicher nicht zu unterschätzen – so deutlich sind doch auch seine Grenzen. Es geht nicht um eine auf Selbstgesetzgebung hinauslaufende innere moralische Auseinandersetzung, sondern um die Realisierung einer heteronomen Norm, die als Weg zum Heil von Gott gegeben wurde. Dabei ist jede der beteiligten Positionen von Gott geschaffen: Der Mensch, sein Vermögen und das ihn leitende Gesetz; die ebenfalls von Gott gegebene Freiheit zur Sünde betont schließlich den subjektiven Wert des Gehorsams. Freilich ist die damit als Möglichkeit gegebene das Verderben ansteuernde Abwendung von Gott in keiner Weise moralisch zu rechtfertigen, so dass es theoretisch in keiner Weise – auch nicht in der Form eines negativen Nukleus – für Autonomie in Anspruch genommen werden kann. Suárezʼ hier an Thomas angelehnte Ausführungen zum Verhältnis zwischen Gesetz und Gewissen und damit zur spezifischen Wirkungsweise des Gewissens als einem Vermögen macht deutlich, dass Suárez mit einem doppelten Gewissensbegriff27 operiert: Es stellt zum einen ein normatives Vermögen dar, das ein Gesetz auf ein besonderes Tun anwendet, wobei es gleichgültig ist, ob es sich dabei auf die lex naturalis oder auf ein menschliches bzw. ein göttliches Gesetz bezieht. Weil Suárez – ebenfalls im Anschluss an Thomas – sogar das irrige Gewissen (»conscientia erronea«) berücksichtigt, das sich nicht auf ein wahres, sondern nur auf ein vermutetes Gesetz bezieht und schließlich normativ fehl die von Thomas aber auch benannten subjektiven Wirkungen – »instigare« (antreiben) und »ligare« (binden, bremsen) – nicht weiter verfolgt. 27 Siehe zur Tradition des zweifachen Gewissensbegriffs die Hinweise von Simon Bunke u. Katerina Mihaylova: Das Gewissen zwischen Vernunft und Gefühl. Zur Entwicklung eines Schlüsselbegriffs im 18. Jahrhundert. In: Gewissen. Interdisziplinäre Perspektiven auf das 18. Jahrhundert. Hg. von Simon Bunke u. Katerina Mihaylova. Würzburg 2015, S. 9–25, hier S. 12.
Frank Grunert geht, wird deutlich, dass es bei der Qualifizierung des Gewissens als Vermögen nicht um den normativen Wert des zugrundeliegenden Gesetzes geht; das Gewissen als Vermögen fungiert formal als eine Instanz normativer Wertung, die auch als irrende ihre spezifische Lenkungsfunktion erfüllt. Zum anderen aber ist das Gewissen bei Suárez gerade – eher material – insofern durch ein Moment normativer Wertigkeit ausgezeichnet, als die theologisch bestimmte Gewissensverpflichtung eines Gesetzes seine Bedeutung für das Heil des Einzelnen und damit sein besonderes normatives Gewicht markiert. Insofern ist bei Suárez einerseits ein formal philosophischer und andererseits ein theologischer, zumindest theologisch aufgeladener Gewissensbegriff gegeben.
»Utrum lex naturalis obliget in conscientia« Suárez’ Antwort auf die Frage, ob das natürliche Gesetz im Gewissen verpflichte, ist knapp und einigermaßen umstandslos. Viel Mühe verwendet er auf die Begründung des nach allem geradezu Selbstverständlichen nicht. Im Abschnitt zwei heißt es mehr oder weniger lapidar: »Zuerst ist festzuhalten, dass das Naturgesetz im Gewissen verpflichtet«. Dies steht aus Glaubensgründen, die als erstes bemüht werden, fest, und zwar wird als locus classicus ein weiteres Mal Röm 2 bemüht, wo Paulus feststellt: »›Die Heiden, die das Gesetz nicht haben, tun von Natur aus, was zum Gesetzesinhalt gehört‹ etc. ›wobei ihr Gewissen Zeugnis für jene Gesetze ablegt‹«.28 Doch stützt sich Suárez nicht auf Glaubensaussagen allein, sondern führt zusätzlich Gründe an. Der erste ist, dass das Naturgesetz ein Gesetz Gottes ist, und damit eben nicht nur irgendwie verpflichtet, sondern seinem Gewicht, d.h seiner sittlichen Notwendigkeit, entsprechend im Gewissen verpflichtet. Und ein zweiter Grund ist eher materialer Natur: Das Naturgesetz ist dasjenige Regelwerk, dem es wie kein anderes um die sittliche Gutheit geht. Daher bäumt sich die sittliche Schlechtigkeit gewöhnlich im Widerstand gegen dieses Gesetz auf und deshalb versteht man unter Sünde ja auch ein Handeln, das gegen das Gesetz Gottes verstößt.29
28 DL II. 9. 2, Brieskorn 482, Pereña III, 137: »Gentes quae legem non habent, naturaliter quae legis sunt, faciunt, etc. Testimonium reddente illis conscientia ipsorum.« 29 DL II. 9. 2, Brieskorn 482 Pereña III, 137: »est proxima regula honestatis moralis. Unde malitia moralis per oppositionem ad hanc legem insurgere solet et ita definitur peccatum esse actum contra legem Dei.«
Die obligatio in conscientia im Naturrecht des Francisco Suárez
Nach möglichen Einwänden, die Suárez alle abweist, befindet er schließlich bündig: »Wo eine naturgesetzliche Verpflichtung besteht, fehlt nie die Gewissensverpflichtung.«30 Vor dem Hintergrund dessen, was bisher dargestellt wurde, ist dies wenig überraschend. Interessant ist aber nun die von Suárez vorgenommene Umkehrung der Fragestellung: nämlich »ist jede Gewissensverpflichtung eine Wirkung des Naturgesetzes?« Indem Suárez dies bejaht und feststellt, dass es »keine Verpflichtung im Gewissen gibt, die nicht in irgendeiner Weise Wirkung des Naturgesetzes wäre, zumindest in vermittelter und aus dem Hintergrund wirkender Weise«,31 wirft dies ein bezeichnendes Licht auf seine Naturrechtslehre. Denn diese wird so zum Angelpunkt jeglicher Verpflichtung gemacht, und zwar sowohl hinsichtlich des von Menschen gesetzten positiven Gesetzes, als auch mit Blick auf die übernatürliche Verpflichtung, die aus dem von Gott als positives Gesetz gegebenen göttlichen Gesetz hervorgeht. Der Grund liegt in der Allgemeinheit der natürlichen Prinzipien: Die natürlichen Prinzipien aber, durch welche sich der Mensch in sittlichen Fragen leiten lassen soll, sind so allgemein, dass sie ihrer Möglichkeit nach [virtute] eine jede Verpflichtung mit einbeziehen, so dass praktisch keine auf den Menschen Anwendung findet, die nicht durch diese Prinzipien vermittelt ist.32
Dass selbst noch die Verbindlichkeit des positiven Gesetzes Gottes formal – freilich nicht material – naturrechtlich begründet ist, markiert die eminente Bedeutung des Naturrechts insgesamt, die freilich bei Suárez und bei den Vertretern der für ihn maßgeblichen (spät)scholastischen Tradition mit einer ganz klaren praktischen bzw. politischen Funktion versehen wird. Denn mit seinen Ausführungen zur Gewissensbindung des Naturrechts bereitet Suárez die im dritten Buch von De legibus eingehend erörterte und positiv beantwortete Frage nach der Gewissensbindung der lex humana vor. Auf diese Gewissensbindung des positiven Rechts kommt es ihm deswegen an, weil die Nachachtung des positiven Rechts »nicht nur wegen der Furcht vor Strafe, sondern auch um der zu vermeidenden Schuld willen«33 durch die Internalisierung der Norm den 30 DL II. 9. 6, Brieskorn 487, Pereña III, 141: »Ergo repugnat obligationem esse ex lege naturae et non esse in conscientia.« 31 DL II. 9. 12, Brieskorn 491, Pereña III, 144: »[V]ero dicendum est nullam esse obligationem in conscientia quae non sit aliquo modo effectus legis naturalis, saltem mediate et remote.« 32 DL II. 9. 10, Brieskorn 490, Pereña III, 143f.: »Principia etiam naturalia per quae homo in moralibus gubernari debet, tam sunt generalia, ut virtute comprehendant omnem obligationem, ita ut nulla possit homini applicari, nisi mediantibus illis principiis.« 33 DL III. 21. 5, Bach, Brieskorn, Stiening III/2, 26/27: »non tantum propter iram, sed etiam propter conscientiam.«
Frank Grunert Staat von der permanenten Exekution seiner Zwangsgewalt entlastet und somit die Funktionstüchtigkeit des Gemeinwesens gewährleistet. Suárez gehört damit in den theoretischen Kontext einer Entwicklung, die – wie Paolo Prodi konstatiert – die Gewissensverpflichtung des positiven Rechts von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts an zum bestimmenden Thema macht.34 Wenn Prodi allerdings die »Herrschaft der positiven Norm auch im Gewissensforum« mit dem »Verschwinden des Naturrechts aus der konkreten juristischen Welt«35 verbindet, dann scheint dieser Befund auf Suárez nicht in jeder Hinsicht zuzutreffen. Die bei Suárez entscheidende allgemeine obligationsbegründende Funktion des Naturrechts, deutet eher darauf hin, dass hier dem Naturrecht eine politische Bedeutung erhalten bleiben soll, die im Ernstfall als korrigierendes Moment aktiviert werden kann. Die sich später verlierende, bei Suárez aber noch prononciert gegebene und funktional wirksame theologische Begründung des Naturrechts spielt hierbei zweifellos die entscheidende Rolle.
34 Prodi: Eine Geschichte der Gerechtigkeit (s. Anm. 1), S. 145. 35 Ebd., S. 146.
Holger Glinka
Francisco Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung 1 Vorbemerkungen Es scheint außer Frage zu stehen, dass der spanische Jesuit Francisco Suárez im Fahrwasser der von Francisco de Vitoria begründeten spätscholastischen Schule von Salamanca zu einer Restitution der theonomen Begründung des Naturrechts in der Tradition des Aquinaten zurückkehrt.1 In dieser Hinsicht ist der Werktitel Tractatus de legibus ac Deo legislatore (1612) programmatisch. Schon im »Prooemium« dieser Schrift bezieht sich Suárez auf Jes. 33,22: »Der Herr ist unser Gesetzgeber, der Herr ist unser König. Er selbst wird uns retten.«2 Die Gesetze, so Suárez, seien der Weg zu Gott; habe dieser die Welt einmal geschaffen, so habe er auch ihr Gesetzgeber werden müssen.3 Weil die Theologie Gott als universalen Gesetzgeber anerkenne,4 bezieht der Gesetzestheoretiker Suárez hieraus seinerseits die Legitimation, diesen Wesenszug Gottes per rationem zu ergründen.5 Verstehen wollen heißt hier auch rechtfertigen wollen – Theodizee. Suárez konstatiert, die Ausleger des kanonischen Rechts6 würden ihrer Sache nur gerecht, »wenn sie die heiligen Vorschriften von einer höheren Zielsetzung und Vernunft aus [der übernatürlichen Ordnung, H. G.] berücksichtigen und auslegen«; die »Theologie aber betrachtet alles dies zusammen« um willen
1 Thomas von Aquin zufolge ist das sittliche Naturgesetz bzw. das Naturrecht schlechthin unveränderlich, insoweit die Natur unveränderlich ist; in mancher Hinsicht modifizierbar dagegen ist die menschliche Natur. STh II–II, q. 57, a. 2, ad 1. Vgl. Josef de Vries: Grundbegriffe der Scholastik. 2., durchgesehene Auflage Darmstadt 1983, S. 110. 2 Suárez zitiert nicht vollständig (DL I. Prooem., Pereña, I, 2), in der Bibel heisst es: »Dominus enim iudex noster Dominus legifer noster Dominus rex noster ipse salvabit nos.« 3 DL II. 6. 23, Pereña III, 105f. 4 Anders als die Philosophie, die Gott unmittelbar als Erstursache oder unmittelbar als Kraft in der Zweitursache wirkend begreift. – Vgl. zuletzt: Stephan Schmid: Finalursachen in der frühen Neuzeit. Berlin, New York 2011, S. 115–121. 5 Zur Gotteserkenntnis nach Suárez vgl. noch immer: Josef Leiwesmeier: Die Gotteslehre bei Franz Suarez. Paderborn 1938. 6 DL IV (»De lege positiva canonica«), Pereña VI u. VII.
170 Holger Glinka einer noch einmal höheren Zweckorientierung, „denn sie untersucht sogar das Naturrecht unter der Voraussetzung, dass es der übernatürlichen Ordnung unterstellt ist und von ihr eine stärkere Kraft empfängt, als es sich selbst zu geben vermag. Die staatlichen Gesetze macht die Theologie nur insoweit zu ihrem Gegenstand, als sie jene auf ihre Würdigkeit und Richtigkeit gemäß der übergeordneten Regeln prüft oder gemäß der Grundaussagen des Glaubens klarstellt, ob und welche Verpflichtungen dem Gewissen aus den staatlichen Gesetzen entstehen.«7 Dem entspricht die interne Anordnung des Tractatus de legibus, dieser von Suárez im Interesse der Explikation eines Systems von Rechtsgesetzen konzipierten Untersuchung.8 Denn auch sein formaler Aufbau gibt ein inhaltliches Argument an die Hand, es nicht zu einer durch Säkularisierung bestimmten Geschichte zu zählen: Das Allgemeine, keinem Werden unterworfen, subordiniert hier das Besondere, d.h. zunächst wird das Gesetz als solches erörtert, bevor im zweiten Buch die besonderen Gesetze: lex aeterna, lex naturalis9 und ius gentium, behandelt werden;10 Genaueres hierzu handelt Suárez in den acht folgenden Büchern ab. Zu dem Merkmal einer Resakralisierung bei Suárez zählt insbesondere der Rückgriff auf die thomistische Grundformel, die Gnade modifiziere die Natur nicht, sondern vollende sie letztlich.11 Allerdings ist der Mensch Suárez zufolge nicht nur in der Lage, sondern auch berechtigt, die Ansprüche der Offenbarungstheologie mit dem Interesse der Vernunft zu vermitteln, ja sich sogar abseits des Glaubens und seiner Institutionen zu stellen. Wenn ein und
7 DL I Prooemium, Brieskorn 20, Pereña, I, 6: »Iuris ergo canonici interpretes, per se ac ex proprio instituto, superiori fine et ratione sacros canones considerant ac interpretantur. Theologia vero sub altiori ratione haec omnia complecitur; nam ius ipsum naturale considerat, ut supernaturali ordini supponitur, et ab illo firmitatem majorem accipit; leges vero civiles solum, vel ut de earum honestate ac rectitudine per altiores regulas diiudicet, vel ut obligationes conscientiae quae ex illis oriuntur iuxta principia fidei declaret; […].« 8 Der durchgreifend systematische Charakter der Werke des Suárez tritt insbesondere in De legibus zutage. So wählt Suárez nicht die in seiner Zeit übliche Form des Kommentierens der Autoritäten, sondern ordnet seinen Stoff nach sachlichen Gesichtspunkten, wobei Zitate und Verweise immer nur dann beigebracht werden, wenn sie der Erörterung der jeweils einschlägigen Problemstellungen dienlich sind. 9 Von Naturgesetzen im modernen Sinne des Wortes weiß Suárez sicherlich so wenig wie Thomas. 10 DL II. 17. 2, Pereña, IV, 101: »Utrumque ergo ius potest dividi in naturale, gentium et civile.« 11 STh I, q. 1, a. 8, ad 2, DThA 1, 25: »Gratia non tollit naturam, sed elevat et perficit eam.« Vgl. Francisco Suárez: De pace – De bello. Über den Frieden – Über den Krieg. Hg. u. eing. von Markus Kremer. Ins Dt. übers. von Markus Kremer u. Josef de Vries. Mit einem Vorwort von Peter Schallenberg. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 3f., S. 15–18.
Francisco Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung 171
dieselbe Person um das Dasein, die Existenz Gottes wissen und zugleich daran glauben könne, dann sei dies möglich, weil in dem einen Fall die natürliche Einsicht der Grund der Erkenntnis dieser Realität, in dem anderen Fall die göttliche Offenbarung dieser Grund sei. Sowohl Suárez als auch Alexander von Hales, Albertus Magnus und Bonaventura betonen, dass das natürliche Erkennen einerseits und der Glaube andererseits jeweils verschiedenen Seinsordnungen angehören: das Erkennen der Ordnung der Natur, der Glaube der Ordnung des Übernatürlichen. Gotteserkenntnis bzw. Gottesglauben betreffen also ein jeweils besonderes Formalobjekt.12 So könnte hier begonnen und könnten in entsprechender Weise verschiedene Fortsetzungen des Begonnenen gefunden werden. Aber gerade die angesprochene Naturrechtslehre des Suárez liegt in mancher Weise quer zu eindeutigen Interpretationen. Inwiefern? Im Jahr 2007 hat Charles Taylor sein A Secular Age betiteltes Magnum opus vorgelegt.13 In diesem in der deutschen Übersetzung gut 1.300 Seiten umfassenden Buch wird Suárez an lediglich zwei Stellen namentlich erwähnt; eine Auseinandersetzung mit seiner Philosophie bleibt aus. Zu Recht? Ich denke, nicht.14
12 Dieser Gedanke ragt noch hinein in René Descartes: Oeuvres de Descartes. Publiées par Charles Adam & Paul Tannery. Meditationes de prima philosophia. VII. Nouvelle présentation, en co-édition avec le Centre national de la recherche scientifique. Paris 1964, – mit folgenreichen Konsequenzen: Im Anschluß an das 1. Wahrheitskriterium »clare et distincte« wird – in der Nachfolge Anselms – in der III. Meditation (25) das 2. Kriterium ›höherer Realitätsgrad‹ eingeführt, welches besagt, der Gottesvorstellung komme die größte objektive Realität zu (»plus realitatis obiectivae quam ulla alia contineat«) – und d.h.: ihr eigne mehr Evidenz als »ego sum, ego existo«. Spätestens jetzt weiß der Leser nicht mehr, was Descartes zufolge als erstes Prinzip fungiert: die Ich-Erkenntnis oder Gott. In III, 29 zeigt sich schließlich, was Descartes umtreibt: nämlich der Prioritätenwechsel von der Epistemologie hin zur Ontologie orientiert an der Frage: Kann ich ohne Gott existieren? Die III. Meditation endet damit, dass Descartes sagen kann: Erkenne ich mich selbst, erkenne ich gleichermaßen Gott. 13 Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2009, S. 221, S. 501. 14 Dass Taylor die Säkularisierung, wie sie in England als »secular society« und in Deutschland in der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur als Kampfbegriff des kulturpolitischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts aufkommt, nicht ausführlich erörtert, überrascht – man denke etwa an den Fortschritt durch Naturwissenschaft und Technik; das Eintreten gegen rückständige Bildung, Staat und privilegierte Kirche; die Forderung, die öffentliche Moral möge fortan nicht auf Kirchen angewiesen sein usw.
172 Holger Glinka
2 Zur Methode des Folgenden Erstreckt sich die Wirkreichweite der sogenannten Säkularisierung von der rechtlich-politischen15 Sphäre bis in die – und dies gehört zum Umstrittensten – Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie,16 so liegt sein Ursprung doch im kanonischen Recht,17 verstanden als ein letztlich politisch begründeter Rechtsakt, »kraft dessen die Besitztümer und die weltlichen Güter der Kirche geschmälert oder enteignet werden, um so erzielte finanzielle Gewinne anderen (nicht nur wirtschaftlichen, sondern etwa auch schulischen) Zwecken zuzuführen.«18 Gleichwohl ist zu betonen, dass die Vorgeschichte der heute ubiquitären Signatur des Begriffs der Säkularisierung in nicht wenigen ihrer Etappen nach wie vor im Dunkeln liegt. In Bezug auf die Naturrechtslehre des Suárez wird im Folgenden weniger die politische bzw. soziologische, umso mehr jedoch die theologisch-philosophische Dimension von Säkularisierung zu erörtern sein. Die problemgeschichtliche Frage, ob dem historischen Vorgang der sogenannten Säkularisierung Fermente der Naturrechtslehre des Suárez innewohnen, soll im Folgenden beantwortet werden, indem aus Sicht des Verfassers einschlägige Aspekte der geistesgeschichtlich jüngeren Debatte um die Signatur des Begriffs der Säkularisierung zur Sprache kommen. Unser Ausgangspunkt liegt also nicht schon in der Frage, ob Suárez einem säkularisierten Naturrecht das Wort redet, sondern die Aufgabe lautet umgekehrt, ob der – mit Hermann Lübbe zu sprechen – »ideenpolitische Begriff der Säkularisierung«19 bis heute
15 So auch Volker Gerhard: Christentum – Staat – Kultur. Vom säkularen Geist der Politik. In: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen SchleiermacherGesellschaft in Berlin, März 2006. Hg. von Andreas Arndt, Ulrich Barth u. Wilhelm Gräb. Berlin, New York 2008, S. 21–37, hier S. 35. 16 Indem Walter Jaeschke die Unversehrtheit der Genealogie der Geschichtsphilosophie vor der – ihrerseits säkularen – Idee eines ›Weltreichs‹ zu bewahren sucht, führt er Blumenbergs Kritik an der Säkularisierungsthese weiter: Walter Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München 1976. Konziser als in der 1988 ›erneuerten Ausgabe‹ entwickelt Blumenberg seine Kritik an einer substantialistischen Ontologie der Geschichte in: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1966, S. 68–74. 17 Suárez behandelt das kanonische Recht in DL IV. 18 Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band. 8. Hg. von Karlfried Gründer. Basel 1992, Sp. 1134. 19 Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg im Breisgau, München 1965 (2. Aufl. mit neuem Vorwort 1975); ders.: Das Theorem der säkularisierten Gesellschaft. In: Säkularisierung. Hg. von Heinz-Horst Schrey. Darmstadt 1981, S. 51–
Francisco Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung 173
Deutungsmittel generiert hat, die es gestatten, Suárez’ Naturrechtslehre als extensiven, möglicherweise sogar integralen Baustein für das Konzept von Säkularisierung zu verstehen. D.h.: Sollte Suárez’ Naturrechtslehre eine lediglich synchrone Renovation vermeintlich säkularer Elemente anderweitiger Naturrechtslehren darstellen, liegt ein extensiver Typus verweltlichten Naturrechts vor. Zur Bedingung hat dieser Typus freilich die Möglichkeit einer Sammlung maßgeblicher Charakteristika eines Begriffs von Säkularisierung im Sinne einer Retrospektive seiner chronologisch nachfolgenden Konstitution. Sollte dagegen Suárez’ Naturrechtslehre originäre Momente zu der Genese einer als Funktionsbegriff20 verstandenen Säkularisierung beitragen, gehört sie zum integralen Typus. Die Anwendung dieser Methode ermöglicht Antworten auf die Frage, ob aus der Analyse der Naturrechtslehre des Suárez Faktoren zu gewinnen sind, die eine Reformulierung des Säkularisierungstheorems rechtfertigen, ja möglicherweise sogar ein bislang verborgenes Stadium desjenigen Prozesses, der Säkularisierung genannt wird, zur Erscheinung bringen.
3 Säkularisierung – Aspekte der Signatur eines strittigen Begriffs Zwecks näherer Rechtfertigung besagter Methode sei – gänzlich profan – daran erinnert, dass der Ausdruck »säkularisieren« in Suárez’ Gegenwart gewiss noch keine Verwendung findet,21 erst recht nicht im Sinne einer geistesgeschichtlichen »Interpretationskategorie«,22 wie sie heute in transdisziplinären Kontexten 66. Zur Kritik vgl. Walter Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie (s. Anm. 16), 17–21. 20 Vgl. hierzu näher Holger Glinka: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und der Aufklärung. 2., durchgesehene Aufl. Hamburg 2012, S. 33–37. Zur Wandlungsfähigkeit (früh-)neuzeitlicher, hier einschlägiger Begriffs-Repristinationen vgl. den sich vehement gegen die Säkularisierungsthese positionierenden Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1988, S. 9–134 (Kap. »Säkularisierung – Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts«), insb. S. 35ff. 21 Quellen, welche die disponible terminologische Distribution von »saecularisatio« im Umkreis der Schule von Salamanca ausweisen, sind leicht beizubringen, z.B. mit: Gonzalo Suárez de Paz: Praxis Ecclesiastica et sæcularis, cum actionum formulis, & actis processuum Hispano sermone compositis. Salamanticæ 1583. 22 So wieder Ulrich Ruh: Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes in der modernen Geistesgeschichte. Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 1980.
174 Holger Glinka begegnet. Ob dieser mit einem neuen Einheitskonzept von historischer Zeit versehenen Kategorie sodann neuzeitliche Schlüsselbegriffe wie ›Fortschritt‹,23 ›Emanzipation‹ (rechtsgeschichtlich, religiös, individuell) bzw. ›Autonomie‹,24 ›Befreiung‹ (rechtlich, gesellschaftlich, geistig) oder gar ›Revolution‹ (in Bezug auf Suárez: Widerstandsrecht25) eingeschrieben sind, ja korrespondieren, wird bekanntlich erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts diskutiert.26 Karl Löwith legt dar, wie die modernen Geschichtsphilosophien den Verlauf der Geschichte gekennzeichnet sehen durch die Ersetzung der Vorsehung durch den Fortschritt, Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit, S. 29–34) prüft schon Hermann Zabel: Verweltlichung – Säkularisierung. Zur Geschichte einer Interpretationskategorie. Diss. Münster 1968. 23 Eine kulturoptimistische Fortschrittstheorie vertritt u.a. Anne Robert Jacques Turgot, in dessen Tableau philosophique des progrès successifs de l’esprit humain (1750) sich folgende Passage findet: Anne Robert Jacques Turgot: Oeuvres de Turgot. Avec les notes de Dupont de Nemours. Éd. par M. Eugène Daire. Tome Second. Paris 1844, S. 598: »[L]es mœurs s’adoucissent, l’esprit humain s’éclaire, les nations isolées se rapprochent les unes des autres ; […] et la masse totale du genre humain, […] marche toujours, quoiqu’à pas lents, à une perfection plus grande.« Vgl. ebenso: Voltaire: Essai sur l’histoire générale, et sur les mœurs et l’esprit des nations (1756). Amsterdam 1764, S. 25, S. 39, S. 56–58, S. 307. Siehe auch: Ders.: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain. Ouvrage posthume de [Jean Antoine Nicolas de Caritat] Condorcet. Paris 1795. Cf. Troisième époque: Progrès des peuples agriculteurs, jusqu’à l’invention de l’ècriture alphabètique (S. 42–73); Quatrième époque: Progrès de l’esprit humain dans la Grèce, jusqu’au temps de la division des sciences, vers le siècle d’Alexandre (S. 74–100); Cinquième époque: Progrès des sciences depuis leur division jusqu’à leur dècadence (S. 101–143); Septième époque: Depuis les premiers progrès des sciences vers leur restauration dans l’Occident, jusqu’à l’invention de l’imprimerie (S. 166– 184); Dixième époque: Des progrès futurs de l’esprit humain (S. 327–385). Auguste Comte erntet für seinen radikalen Fortschrittsglauben bereits zu Lebzeiten harsche Kritik. Bekanntlich identifiziert Hegel die Weltgeschichte mit dem »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit«. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungsmanuskripte II. (1816–1831). Hg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1995, S. 153. 24 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV. Berlin 1903, S. 385–464, hier S. 440. 25 Norbert Brieskorn: Die Widerstandslehre des Francisco Suárez. In: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu. Hg. von Michael Sievernich u. Günter Switek. Freiburg i. Br. 1990, S. 323–339. 26 Reinhart Koselleck zeigt, wie diese historisch-semantisch aufgeladenen universalistischen Ideen der Neuzeit relativiert werden vor dem Hintergrund des mit der Moderne entstehenden Problems der Destruktion eines einheitlichen Konzepts von Universal- bzw. Weltgeschichte, die der unabgegoltene dialektische Austrag von ›objektiver‹ Verweltlichung und ›subjektiver‹ Entweltlichung erzeugt. Siehe: Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg, München 1959.
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d.h., dass der Mensch Gott als ›Subjekt‹ der Geschichte ablöst.27 Wie bereits angesprochen, avanciert insbesondere im 19. Jahrhundert das Verhältnis von Verweltlichung und Geschichtszeit zu dem bestimmenden Thema der Philosophie (unangesehen ob oder in welcher Weise ein theologischer bzw. religionsphilosophischer Bezug jeweils gegeben ist). Dieser Vorgang gründet v.a. in dem Bedürfnis, geistesgeschichtlich verfestigte Problemstellungen einer Lösung zuzuführen, wie sie z.B. aus theologisch-philosophischen Verstandesdualismen wie ›Jenseits – Diesseits‹ oder ›Ewigkeit – Welt‹ resultieren, die in diesem Fall Augustinus’ Lehre der zwei »civitates« entstammen.28 Die noch gemäß Luther strikte Abtrennung von weltlicher Obrigkeit und dem Reich Gottes, die sogenannte Zwei-Regimente-(Reiche)-Lehre (Harald Diem,29 Karl Barth30), zeichnet sodann verantwortlich für das heute gängige Begriffspaar ›geistlich/weltlich‹. Die neu gewonnene Idee einer Universal- oder – wie es wenig später heißt – Weltgeschichte31 solle sämtliche dem Christentum eingeschriebene Antithesen
27 Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941). In: Sämtliche Schriften 4. Stuttgart 1988, II. Teil, V, 11; ders.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1953). Stuttgart 61973, S. 62–98. (Engl. Originaltitel: Meaning in History. Chicago 1949). 28 Vgl. Apg 5,29. Vgl. Augustinus’ Unterscheidung von »civitas terrena« und »civitas dei«: Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Bd. 2: Buch 11–14. Übers. von Wilhelm Thimme. Eingel. u. erl. von Carl Andersen. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Zürich, München 1978, S. 3–211; Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523). In: Luthers Werke in Auswahl. Hg. von Otto Clemen. Bd. 2. Berlin 1950, S. 360–394, hier S. 370: »Denn mit dem eynen [sc. im Reich Gottes] sihestu auff dich vnd auff das deyne / mit dem andern [sc. das Reich der Welt] auff den nehisten vñ auff das seyne / An dyr vnd an dem deynem helltistu dich nach dem Euangelio vñ leydest vnrecht als eyn rechter Christ fur dich / An dem andern vñ an dem seynen helltistu dich nach der liebe vnnd leydest keyn vnrecht / fur deynen nehisten / wilchs das Euangelion nicht verpeutt / ja viel mehr gepeutt am andern ortt.« 29 Harald Diem prägt den Begriff »Zwei-Reiche-Lehre«: Luthers Lehre von den zwei Reichen, untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. Ein Beitrag zum Problem: ›Gesetz und Evangelium‹. (1938). In: Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers. Hg. von Gerhard Sauter. München 1973, S. 1–173; Friedrich Gogarten: Luthers Theologie. Tübingen 1967, S. 181–212. 30 Barth spricht von der Wirksamkeit der »Königsherrschaft Christi«, deren weltliche Analogien zu erkennen bereits heute möglich sei: Karl Barth: Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von der Versöhnung. Band IV/3, 1. Hälfte. Zürich 1959, § 69: Jesus Christus der wahrhaftige Zeuge. 31 Herder indes kritisiert die Perfektibilitätsvorstellung der Aufklärer, die gesamte Menschheit schreite permanent fort zum Besseren. Vgl. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. O.O. 1774; Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine Akademische Antrittsrede bey der Eröfnung seiner Vorlesungen gehalten von Friedrich Schiller, Professor der Geschichte in Jena. Jena 1789; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundli-
176 Holger Glinka aufheben. Denn je »länger die Parusie ausblieb«, so Bultmann, »je weiter das Ende der Welt in unbestimmte Ferne hinausgeschoben wurde, je mehr die Kirche eine Geschichte in dieser Welt erlebte, desto mehr erwachte auch das Interesse für ihre Geschichte.«32 Wenn nicht zuletzt vorauszusetzen ist, dass mit Säkularisierung im Sinne eines rechtlich-politischen Begriffs das Verhältnis von Souveränität und ›Verweltlichung‹ thematisch ist, dann steht auch der Prozeß der allmählichen Verdrängung der kirchlichen Autorität aus einer Sphäre weltlicher Herrschaft zur Verhandlung, auf die fortan der moderne europäische Staat – ein Resultat des Pacis Westphalicae des Jahres 1648 (Suárez stirbt 1617) – einen Monopolanspruch erhebt.33 So unspezifisch wie möglich formuliert stehen also Formen weltlich-staatlicher Rechtsprechung im Sinne institutioneller Vorläufer des modernen europäischen Staates zur Diskussion, die dazu tendieren, sich aus spätmittelalterlichen Herrschaftsordnungen herauszulösen. Demnach bedeutet Säkularisierung sowohl Entzug oder Entlassung einer Sache, eines Territoriums, einer Institution aus kirchlich-geistlicher Herrschaft als auch Entlassung einer Person aus den Verpflichtungen mönchischer Gelübde, wenn sie als ›Weltpriester‹ in die Welt zurückkehrt. Hinsichtlich formaler und materialer Rationalisierungen des Rechts ist insbesondere in der Rechtssoziologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Tendenz einer ›Säkularisation des Rechts‹ zu verzeichnen.34 Soweit der erste Teil eines Katalogs von Elementen, die zu dem Konzept der Säkularisierung gehören. Sodann steht die Herkunftsgeschichte dieses Begriffs insbesondere in Verbindung mit der Theologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, innerhalb derer Grundlegendes für die Formung der sogenannten Säkularisierungsthese gewonnen wird. Denn diese These verdankt sich v.a. auch einem innertheologischen Bedürfnis, weil die Theologie – und dies konfessionsübergreifend – in Zugzwang gerät, sich in der europäischen
nien der Philosophie des Rechts. Hg. von Klaus Grotsch u. Elisabeth Weisser-Lohmann. Hamburg 2009, §§ 341–360. 32 Rudolf Bultmann: Geschichte und Eschatologie. 3. Aufl. Tübingen 1979, S. 65. 33 Vgl. z.B.: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967). In: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. 2006, S. 92–114. Diskutiert werden kann hier nicht die Rechtmäßigkeit von Carl Schmitts Sentenz: Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 2. Aufl. München, Leipzig 1934, S. 51: »Die ›Omnipotenz‹ des modernen Gesetzgebers, von der man in jedem Lehrbuch des Staatsrechts hört, ist nicht nur sprachlich aus der Theologie hergeholt.«; vgl. ebd., S. 49. 34 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51972, II/7, § 5.
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Moderne zu legitimieren. In der evangelischen Theologie ist nach dem Tode Schleiermachers 1834 in ähnlicher Weise wie in der Philosophie nach Hegels Tod 1831 zunächst kein System mehr vorhanden, das diese Theologie in universaler Weise repräsentierte und von allen Flügeln anerkannt würde.35 In annähernder Weise gelingt dies ab Mitte der 1860er Jahre Albrecht Ritschl (in auffälliger Parallele zum Aufstieg des Neukantianismus in der Philosophie), dessen Theologie in ihrer Verbindung von Festhalten an der dogmatischen Tradition bei gleichzeitigem Anspruch der Modernisierung, in ihrer Hervorhebung der Sittlichkeit bei gleichzeitigem Rückzug des Christentums aus der politischen Welt als typisch für die Gründerzeit gelten kann.36 So bedeutet insbesondere auch das Säkularisierungstheorem ein wichtiges Resultat des vorrangig von der protestantischen Theologie als Leitdisziplin geleisteten Selbstverständnisses des 19. Jahrhunderts insgesamt. Ausgeprägte Varianten der Theologie geraten aber auch selber in Gefahr, von Säkularisierung absorbiert zu werden: Franz Overbeck, ein dezidiert antimodernistischer Traditionalist, identifiziert die Dekadenz der Verweltlichung konsequent mit der theologischen Dimension als solcher. Theologie ist für ihn »nicht[s] anderes als ein Stück der Verweltlichung des Christenthums«: Seit dem Urchristentum spiele sich eine Verfallsgeschichte des ursprünglich mit dem Auftreten Jesu Intendierten im Christentum selbst ab.37 In der Konsequenz erkennt – trotz vergleichbarer Symptombeschreibung – Friedrich Gogarten »eine andere Art der Säkularisierung«: »Spricht man heute von Säkularisierung, so meint man meist diejenige Art, bei der sich der Mensch auch vom christlichen Glauben löst, und ist dann der Meinung, mit einer neuen Zuwendung zu diesem müsse die Säkularisierung auch wieder beseitigt werden. Auf die andere 35 Troeltsch deutet den nachfolgenden Kulturkampf als Ausdruck eines kulturellen Konflikts zwischen einem der Moderne aufgeschlossenen deutsch-nationalen protestantischen Bürgertum und dem als rückständig empfundenen Katholizismus: In der heutigen Welt erkenne man »Antike und Katholizismus, die sozialen und politischen Eigentümlichkeiten der romanischgermanischen Völker, die Entstehung der modernen Geldwirtschaft und des Kapitalismus, die spätmittelalterliche Differenzierung der Nationen, die koloniale und maritime Ausbreitung, die Renaissance, die moderne Wissenschaft, die moderne Kunst und Ästhetik, den Protestantismus.« (Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913). Hg. von Trutz Rendtorff. Berlin, New York 2001, S. 221.) 36 Die für die Zwischenzeit gängige und mit Vorliebe auf das gesamte 19. Jahrhundert ausgedehnte idealtypische Aufteilung der Theologie in drei Flügel (Konfessionalisten, Liberale, Vermittler) ist eine unzureichende Vereinfachung. Sie bedarf der genaueren Differenzierung und der Wahrnehmung von Mischformen, v.a. aber der Einordnung der Theologie in die politischen und sozialen Kontexte des Vor- und Nachmärz. 37 Franz Overbeck: Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Leipzig 21903, S. 34.
178 Holger Glinka Art der Säkularisierung, bei der der Mensch im christlichen Glauben gebunden bleibt, ist man noch kaum aufmerksam geworden.«38 Wenn im Folgenden untersucht wird, ob Säkularisierung in den bislang erörterten Gestaltvarianten die Schule von Salamanca betrifft, erscheint Suárez zunächst deshalb als ein geeigneter Kandidat, weil er gerade seine Naturrechtslehre dezidiert als Bestandteil christlicher Theologie ausgibt; wie gesagt widerstreitet jedoch Suárez’ Lehre der lex aeterna39 einem wesentlichen Charakteristikum von Säkularisierung, nämlich ihrer Prozeßhaftigkeit.40 So spielen hier also theologische bzw. philosophische Autoritäten sowie die Frage, ob die Wahrheit bereits in früherer Zeit ausgesprochen, d.h. ob sie geschichtlich geworden sei, eine lediglich theologiehistorische Rolle. Dessen ungeachtet ist Suárez weithin bemüht, seine Naturrechtslehre aus der antiken Tradition abzuleiten, insbesondere Platon, Aristoteles und Cicero sind seine Gewährsmänner. Und sogar Gott, so Suárez, ist – wenigstens zufolge seines vernünftigen und daher eine Ordnung implizierenden Willens – unvermögend, sich vom natürlichen Gesetz zu entbinden; »um so weniger kann ein menschlicher Machthaber selbst in Gottes Namen von einem natürlichen Gesetze dispensieren.«41 Dieses Moment repräsentiert die scholastische Idee von Wahrheit: Die Philosophen dieser Zeit sehen sich selbst als Verbündete, dementsprechend suchen sie um der ewigen Wahrheit willen, der sie sich in ihrem Werk verpflichtet sehen, Vorläufer. Man wendet sich nicht gegen andere, sondern leistet als Angehöriger einer ehrwürdigen Tradition heiligen Dienst an der göttlich verbürgten Wahrheit. In Erinnerung gerufen sei des Weiteren, dass erst Max Weber die Entwicklung der okzidentalen-europäischen Gesellschaft (der ja auch Suárez angehört) erstmals als Säkularisationsprozeß42 deutet – eine Charakterisierung, der mitt 38 Friedrich Gogarten: Der Mensch zwischen Gott und Welt. Stuttgart 31956, S. 139. 39 Suárez’ Lex-aeterna-Adaption dürfte sich Augustinus’ Auseinandersetzung mit der antiken Naturrechtslehre verdanken, der in dieser Gesetzesform die »Begründungsfigur für die GottEbenbildlichkeit des Menschen« erblickt: Anne Eusterschulte: Lex libertatis und ius naturale. Freiheitsgesetz und Naturrechtslehre bei Wilhelm von Ockham. In: Misellanea Mediaevalia 38 (2014), S. 399–423, hier S. 413. 40 Vgl. hierzu im allgemeinen Rainer Specht: Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehre. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 39–60. 41 Carl Werner: Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte. Bd. 2. Regensburg 2 1889, S. 253f. 42 Indes erörtert Weber an entsprechender Stelle die Lage der »nordatlantischen Staaten«: Max Weber: Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus (1906, 1920). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I. Tübingen 1920, S. 217. Weber erkennt religiöse Impulse der Säkularisierung in der jüdischen Prophetie und im Christentum (Katholi-
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lerweile wieder mit Argumenten »für die Transformation eines starken Säkularisierungsparadigmas«43 begegnet wird. Weber bricht mit der dialektischspekulativen und dialektisch-materialistischen Geschichtsphilosophie eines Hegel bzw. Marx, sprich mit den großen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts. Die Frage nach dem theologischen Ertrag des »Aufstands gegen Hegel« im 19. Jahrhundert wäre zunächst mit Blick auf die Hegel-Schule selbst zu beantworten – und hätte das Problem, dass gerade Hegel – und hierin folgen ihm Weber und Ernst Troeltsch – die herausragende Bedeutung des Protestantismus, genauer: die Reformation, im Säkularisierungsgeschehen erkennt. Wir sehen sofort, dass Webers Säkularisationsbegriff,44 der einen Zusammenhang von kapitalistischem Geist und calvinistischem Protestantismus herstellt – aber keine (wie häufig behauptet) ursächliche Herkunft des Ersteren aus dem Letzteren45 –, kein geeignetes Interpretationsmodell für das Naturrechts zismus, Luthertum, Calvinismus). Zur Öffnung der Perspektive auf nicht-jüdische bzw. christliche Kulturkreise: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (s. Anm. 34), Zweiter Teil, Fünftes Kapitel, § 4. 43 Stellvertretend für eine große Gruppe dieser Tendenz sei hier genannt: Michael Reder: Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie. 2., aktualisierte u. neu bearbeitete Aufl. Freiburg, München 2014, S. 27. Für eine »Phase des Übergangs« optiert auch Albrecht Koschorke: ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹. Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne. In: Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung. Hg. von Ulrich Willems et. al. Bielefeld 2013, S. 237–260, hier S. 239. 44 Max Webers »Entzauberung der Welt« erfährt noch einen Reflex in der späten dialektischen Theologie Friedrich Gogartens: Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem. Stuttgart 1953. Zu den Gefahren einer sich selbst überlassenen menschlichen Sittlichkeit in der neuzeitlichen Welt ders.: Was ist Christentum? 2., durchgesehene Aufl. Göttingen 1959, S. 55–62. 45 Max Weber will zeigen, dass die innerweltliche Askese des puritanischen Calvinismus – insbesondere Sparsamkeit und Achtsamkeit – eine dem Kapitalismus angemessene Lebensform darstellt. Seine ›Protestantische Ethik‹ sucht nicht die Entstehung des Kapitalismus zu erklären. Askese vermag das Alltagsleben zu bestimmen, als sie aus der Außerweltlichkeit der Klöster heraustritt und beginnt, als Leistungsethos in die Welt hineinzuwirken. Puritanisch daran ist die Vorstellung, ein der Arbeit, der Leistung verpflichtetes Leben begründe die Hoffnung auf ein Heil im Jenseits. Allerdings sind ›kapitalistische‹ Lebensüberzeugungen auch schon in vor-reformatorischer Zeit nachweisbar. Gleichwohl scheint das innerweltliche calvinistische Askese-Ideal die Entwicklung des Kapitalismus enorm beschleunigt zu haben, beflügelt es doch die Kapital-Akkumulation als Ergebnis des Verbrauchsverzichts. Webers Theorie des Ethos des Berufsmenschen bildet in diesem Zusammenhang gleichermaßen ein Nebenprodukt. Das Streben nach dem Heil im Jenseits setzt sich um in das Gefühl, sich hienieden nicht ausruhen zu sollen. So wird der Beruf zu einer der wesentlichen Ausrichtungen des Lebens – freilich auch zum säkularisierten Schicksal der Neuzeit.
180 Holger Glinka denken des Suárez an die Hand gibt – wenngleich bei anderer Gelegenheit zu überlegen wäre, ob die Antworten zu Fragen der Ökonomie, welche die Schule von Salamanca um Suárez gibt, zur Frühgeschichte eines im Sinne Webers verstandenen Kapitalismus zu zählen wären; jedenfalls nimmt Weber sie meines Wissens nicht zur Kenntnis.46 Wie Webers scheidet auch Troeltschs These zur Säkularisierung aus für eine Interpretation der Naturrechtslehre des Suárez, sieht dieser doch mit der protestantischen Askese eine Säkularisierung der christlichen Ethik am Werk, in deren Konsequenz sich, so Troeltsch, »aber auch das Säkulum vergeistlicht.«47 Weber lobt Troeltschs 1912 erschienene Arbeit Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen.48 Dieses Buch darf berechtigten Anspruch erheben, die bedeutendste Arbeit zur Säkularisierung zu sein, die der sogenannte Deutsche Historismus hervorgebracht hat. Es orientiert sich stark an Adolf von Harnacks Lehrbuch der Dogmengeschichte (erschienen in den Jahren 1886–1889). Troeltsch sieht – als »die wichtigste Tatsache der modernen Welt« – eine »Säkularisation des religiösen Individualismus« als Voraussetzung für eine »Säkularisation des Staates«. Den Ausgangspunkt für diese Entwicklung erkennt Troeltsch – aus meiner Sicht zurecht49 – im Civil War, den Thomas Hobbes unter der Leitfrage nach dem Prinzip ungeteilter Herrschaftsgewalt rechts- und religionsphilosophisch zu begreifen sucht.50 Das Studium des Geset 46 Die Schule von Salamanca erwirbt sich nachhaltige Verdienste um die Begründung der ›klassischen‹ Nationalökonomie. Angesichts des anhaltenden Kampfes gegen arabische Invasoren sind die dominikanischen Theologen bestrebt, alle religiösen Fragen unter ihrer strenger Kontrolle zu halten, »als Interpreten des kanonischen Rechts wurden Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit ökonomischer Praktiken erwartet; daher mußten sie Verfahren entwickeln, mit denen sich einzelne Fälle analysieren und allgemeine Normen für rechtmäßiges Verhalten aufstellen ließen.« (Karl Pribram: Geschichte des ökonomischen Denkens. Erster Band. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 1992, S. 66–71, hier S. 67. Siehe auch Rainer Specht: Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 3–17, hier S. 5f. Zur theologischen Ökonomie der Gotteslehre Francisco Suárez: Über die Individualität und das Individuationsprinzip. Fünfte metaphysische Disputation. Hg., übers. u. mit Erl. versehen von Rainer Specht. Hamburg 1976, S. 314. Zur Ökonomie theologischer Anthropologie Hans Blumenberg: Schriften zur Technik. Hg. von Alexander Schmitz u. Bernd Stiegler. Frankfurt a. M. 2015.) 47 Ernst Troeltsch: Luther, der Protestantismus und die moderne Welt (1907/08). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4: Aufsätze zur Geschichtsphilosophie und Religionssoziologie. Tübingen 1920, S. 202–254, hier S. 210. 48 Vgl. hierzu Hermann Lübbe: Säkularisierung (s. Anm. 19), S. 73–85. 49 Glinka: Zur Genese autonomer Moral (s. Anm. 20), S. 177–192. 50 Vgl. jetzt die Studienausgabe: Thomas Hobbes: Behemoth oder Das Lange Parlament. Übers., mit einer Einl. und Anm. hg. von Peter Schröder. Hamburg 2015.
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zesdenkens des Suárez, dem die These der Koinzidenz von lex naturalis und ratio naturalis recta51 zu entnehmen ist, führt dahin, dass Suárez mit dieser Engführung zu den Vorbereitern des letztlich mitentscheidenden Durchbruchs für die Etablierung der Individualisierung des Naturrechts, wie es nicht zuletzt auch schon bei Hobbes in Kraft ist, gezählt werden kann. Für meine Begriffe dürfen hier schon Voraussetzungen erkannt werden für die spätere Herausbildung des Vernunftrechts des Zeitalters der Aufklärung oder der »Kritik«, wie Kant es nennt.52 Die These eines solchen Vernunftrechts reicht zwar weiter als Suárez’ Begriff des Gesetzes insgesamt – sie lautet: Das Recht entstammt allein der Einsicht menschlicher Vernunft, mithin aus dem Menschen selbst, er trage das Rechtsgesetz in sich. Gleichwohl kommt auch schon Suárez zu dem Schluss, der vernunftbegabte Mensch könne gesellschaftliche Notwendigkeiten durch vernünftige Überlegungen einsehen und dieser Einsicht gemäß handeln: Er sei befähigt, durch Reflexion und Bewertungen das Rechtsgesetz zu erkennen.
4 Suárez’ Naturrechtslehre als problemgeschichtliches Stadium der ›Genese autonomer Moral‹ Vertiefen wir diese Betrachtung. Die Leerstelle, welche die Austreibung des Theonomie-Grundsatzes aus dem Rechtsbegriff der frühen Neuzeit hinterlässt, wird nach meinem Verständnis der Naturrechtsdebatten dieser Zeit mit divergierenden Moral-Konzepten neu besetzt.53 Inwiefern kann Suárez als richtungsweisender Anwalt besagten Prozesses beansprucht werden? Suárez geht es um den Nachweis moralisch notwendiger Handlungen, oder anders gesagt um die
51 DL II. 5. 5f., Pereña, III, 63. In der Bestimmung der lex als Naturgesetz folgt Suárez Cicero: Es verfehle niemals recta ratio, d.h. es sei stets naturkongruent, jederzeit allen bekannt sowie in Seinsgeltung; lex humana dagegen könne differieren von der recta ratio – mit allen Konsequenzen: DL II. 5. 8, Pereña III, 65f. Siehe auch Francisco Suárez: De Republica Ecclesiastica. III, 22 [33]. Zum anderen versteht Suárez (mit Thomas) unter Gesetz eine Regel, d.h. Richtschnur (mensura). 52 Vgl. Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV. Berlin 1903, S. 1–252. 53 Vgl. Glinka: Zur Genese autonomer Moral (s. Anm. 20), S. 1–10.
182 Holger Glinka allgemeine, gerechte und stabile Vorschrift, die in hinreichender Weise in Kraft gesetzt wird.54 Dabei identifiziert er die Vernunft als die im Menschen selber gelegene »regula proxima« der menschlichen Handlungen.55 Was ihr entspricht, reguliert das dem Menschen innewohnende natürliche Gesetz seiner Handlungen. Suárez gehört so zu den wenigen Scholastikern, deren Definition des Rechtsgesetzes ausdrücklich dem subjektiven Rechtsanspruch gerecht wird.56 Allerdings ist Suárez nicht der Ansicht, das Naturrecht lasse sich unabhängig von Religion begründen – eine Lehre gleichwohl, die schon früher, bei Fernando Vásquez de Menchaca (1512–1569), einem Dezisionismus ausgesetzt ist: Das Naturrecht sei entweder von Natur den Lebewesen eingepflanzt oder Gott selbst habe es in sie hineingelegt.57 Entsprechend tritt Suárez einer – aus seiner Sicht verfehlten – ›Autonomie der sittlichen Vernunft‹ entgegen; er sieht gleichsam den Weg zu Kants »Primat« der praktischen Vernunft versperrt.58 DL II. 3 bestätigt: Formaliter verdankt sich jedwedes Gesetz – zunächst die lex aeterna – dem göttlichen Willen. Das natürliche Gesetz kündigt sich im Menschen nicht bloß an als Gebot oder Verbot, als Wissen um den Unterschied von Gut und Böse, sondern es ist ein wirkliches Gebot oder Verbot. M.a.W.: Ein über der Vernunft stehender Gebietender oder Verbietender, sprich Gott, ist durch seinen Willen Urheber und Welt-Regent. Keinesfalls erschließt sich hieraus aber die Güte Gottes (wie z.B. Wilhelm von Ockham59 sagt), sondern der Grund für ein Gebot oder Verbot ist Suárez zu
54 Zum Folgenden vgl. Carl Werner: Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte. Bd. 2 (s. Anm. 41), S. 244f. 55 DL II. 5. 5f., Pereña, III, 63. 56 DL II. 17. 2, Pereña, IV, 99: »Explicantur variæ juris acceptiones.« 57 Fernandus Vasquius: Controversarium illustrium aliarumque usu frequentium libri III. Francoforti 1572, Lib. I, cap. XXIX, num. 14 : »Vides ergo, ut quod Iurisconsulti dixerunt a natura omnia animalia ius naturale edocta fuisse, id Poeta et Philosophi declarant esse a Deo: sicque hoc casu Deum et naturam pro eodem sumi.« 58 Der spekulativen Vernunft kann die praktische nicht untergeordnet sein, »weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist.« (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band V. Berlin 1908, S. 1–163, hier S. 121.) 59 Wilhelm von Ockham: Opera Theologica: Tomus II. Scriptum in librum primum sententiarum (Ordinatio). Ed. by the Franciscan Institute of St. Bonaventure University. St. Bonaventure 1970, S. 321. Der Nominalismus darf erst seit 1481 wieder an den Universitäten gelehrt werden; Suárez verweist in De legibus des öfteren auf Autoren nominalistischer Provenienz. Zu Suárez’ Nominalismus-Kritik vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 149f. (1. Aufl. Stuttgart 1981).
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Folge darin zu sehen, dass etwas an sich gut oder böse sei.60 Nur aus diesem einen Grund: dass etwas natürlich gut bzw. böse ist, ist etwas durch Gottes Willen geboten oder verboten. Daher widerstreitet das natürliche Gesetz dem freien Willen des Menschen nicht, ist es doch Ausdruck des göttlichen Willens, d.h. die recta ratio – und das ist hier entscheidend – kann nicht verfehlt werden: Denn dass das natürliche Gesetz Gottes Gebot sei, gehört zur Vernunfteinsicht selbst, so dass niemand, der das natürliche Gesetz mißachtet, von der Schuld einer Sünde gegen Gott freigesprochen werden kann. Suárez versteht das natürliche Gesetz als Emanation der ewigen, die Welt ordnenden und sie regierenden Weisheit. Hans Welzel spricht in diesem Zusammenhang von einem »autonomen Wertobjektivismus der spanischen Spätscholastik«.61 Alexander Hollerbach argumentiert zurecht wie folgt: »Hier wird der Widerstreit von intellektualistischem und voluntaristischem Naturrechtsverständnis gewissermaßen aufgehoben in der Vorstellung von der ›natura objecti‹, die als rationale rational erkennbar ist. Dabei werden Gott und seine Offenbarungen zunehmend zu Sekundärphänomenen. Die Loslösung des Naturrechts von seiner theonomen Basis ist hier weit vorangetrieben.«62 Dies also ist das ius naturale: Ein Gesetz, das vollständig den in Gott notwendig zu denkenden Eigenschaften und Vollkommenheiten sowie der Beschaffenheit unserer Natur entspricht. So resultiert aus Suárez’ Begriff des Gesetzes ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen positivem, durch Übereinkunft
60 Dagegen gilt Thomas’ Grundsatz für Handlungen (Akte), nicht für Sachen: Handlungen seien zunächst von ihrem Wesen her zu beurteilen (»Objekt der Handlung«). Eine Sache könne nicht an sich schlecht sein, es komme stets auf ihre Verwendungsweise an. Dieser voluntaristische Intentionalismus fungiert als ethische und rechtliche Begründungsfigur für alle Handlungen, die ihrem Wesen, ihrem Objekt nach moralisch indifferent sind. Prinzipiell entscheidet der »innere Wille«, die innerlich gewollte Absicht als das Ziel der Handlung über deren moralische Güte bzw. Strafbarkeit, nicht der äußere Vollzug oder die Folgen, die erhofft werden bzw. tatsächlich eintreten. Die kontinentale Moralphilosophie der Neuzeit bestätigt diese thomistische Auffassung (man denke etwa an Kants Gesinnungsethik) und hat auch Einzug gehalten in unser Strafrecht. Vgl. STh I–II, q. 18, a. 2–4. Zilsel arbeitet den bedeutenden »Fortschritt zur logischen Klärung des Gesetzesbegriffes« bei Suárez heraus, indem er auf dessen – von Thomas missachteter – Unterscheidung von Moral und Natur abhebt: Edgar Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Hg. u. übers. von Wolfgang Krohn. Mit einer bibliographischen Notiz von Jörn Behrmann. Frankfurt a. M. 1976, S. 79. 61 Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. 2., unveränderter Nachdruck der 4. Aufl. Göttingen 1990, S. 95. 62 Alexander Hollerbach: Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst-Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 9–38, hier S. 20, Hervorh. H. G.
184 Holger Glinka entstandenen Gesetz und dem Naturgesetz, das durch die Teilhabe am göttlichen Gesetz (der lex divina) gegeben ist und gleichermaßen das Wesen des Menschen zum Ausdruck bringt. Ein solches Gesetz hat Gott dem Menschen geben müssen, damit dieser erstens unter Anleitung desselben seinen freien Willen auf eine vernunftgemäße und seiner menschlichen Natur entsprechende Weise gebrauche und zweitens kraft dieses vernünftigen und naturgemäßen Gebrauchs seines Willens das ihm von Gott gestellte Ziel erreiche und so Glückseligkeit erlange.63 Gehen wir noch einen Schritt weiter: Eine mit Blick auf Suárez plausible Referenz ermöglicht Richard Rothes Säkularisierungsbegriff.64 Der Protestant Rothe zählt in Heidelberg zu Hegels Schülern. Seine Theologie bietet ein Beispiel dafür, dass sich die Theologie beider Konfessionen unabhängig von den Debatten in der und um die Hegel-Schule entwickelt. Rothe präsentiert einen dezidiert heilsgeschichtlichen Entwurf, d.h. sein Geschichtsbegriff hat eine eschatologische Wurzel. Indes versteht Rothe unter Säkularisierung den Prozeß des Auf- und Eingehens der Kirche in den Staat, kraft dessen die weltliche Macht das christliche Prinzip gleichwohl nicht auslöscht, sondern adaptiert und in geläuterter Weise verinnerlicht. Diese Entwicklung habe eingesetzt mit der Reformation, d.h. mit dem Eintritt in ein weltliches, sittliches, staatliches und politisches Zeitalter. Zitat Rothe: »In demselben Verhältniß, in welchem der Staat sich entsäcularisirt, säcularisirt sich die Kirche, tritt sie zurück, die nur ein provisorischer, immer ungenügender werdender Nothbau für den christlichen Geist ist für die Zeit bis jene seine eigentliche Behausung ausgebaut ist.«65 Wenn, wie gesehen, Troeltsch – quasi im Gefolge Hegels – die »Säkularisation des religiösen Individualismus« als Voraussetzung für eine »Säkularisation des Staates« ansetzt, dann dürfte Suárez als früher Protagonist dieser Interdependenz verstanden werden – denn, wie gesehen, besteht schon dieser einerseits auf dem Rechtsanspruch des Individuums, d.h. auf einem notwendigen Rückzug in die Sphäre des Moralischen, hält freilich aber andererseits daran fest, dass ein überpositives, vor der Existenz eines Staates in Geltung befindli 63 Vgl. Werner: Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte. Bd. 2 (s. Anm. 41), S. 250. Zur Frage nach dem Streben des Menschen nach seinem letzten Ziel vgl.: Salvador Castellote Cubells: Die Anthropologie des Suarez. Beiträge zur spanischen Anthropologie des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 2., unveränderte Aufl., Freiburg, München 1982 (1. Aufl. 1962), S. 160–175. 64 Richard Rothe: Theologische Ethik. Drei Bände in zwei Abtheilungen. Wittenberg 1845–48, Bd. 2, S. 322. 65 Ders.: Die Anfänge der Christlichen Kirche und ihrer Verfassung. Ein geschichtlicher Versuch. Wittenberg 1837, S. 85.
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ches Rechtsgesetz existiert. Aus dem göttlich verbürgten Rechtsgesetz und dem Naturrecht leitet Suárez denn auch die Existenz des Staates ab. Aber das Naturrecht weist »das Volk als ordnende und gestaltende Kraft staatlicher Ordnung«66 aus. So entwirft Suárez keinesfalls eine theokratische Staatslehre,67 sondern lehrt, „dass das Volk das Recht schaffe und deshalb der Einzelwille mit der interpersonellen Struktur einen Pakt bzw. eine Gesellschaftsübereinkunft schließe. Mit dieser Theorie antizipierte Suárez den später von Rousseau konzipierten Gesellschaftsvertrag.«68 Dem entspricht sein Begriff des Volkskörpers: corpus politicum mysticum ist Träger der Staatsgewalt, die sich gleichwohl nicht vom Volk, sondern von Gott herleitet.69 Der Volkskörper jedoch entscheidet über die Herrschaftsform und berechtigt im Falle von Ungerechtigkeiten zum Widerstand gegen dieselbe. Auch dies interpretiere ich als einen wichtigen Schritt auf dem langen Weg der Ausdifferenzierung von Recht und Moral. Suárez: »Die staatlichen Gesetze sind nur insoweit Gegenstand der Theologie, als sie jene auf ihre Würdigkeit und Richtigkeit gemäß der übergeordneten Regeln prüft oder gemäß der Grundaussagen des Glaubens erklärt, ob und welche Verpflichtungen dem Gewissen aus den staatlichen Gesetzen entstehen.«70
66 Brieskorn 656. 67 So bereits Heinrich Rommen: Die Staatslehre des Franz Suarez S.J. Mönchengladbach 1926, S. 4. 68 Heinz Krumpel: Aufklärung und Romantik in Lateinamerika. Ein Beitrag zu Identität, Vergleich und Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem Denken. Frankfurt a. M. 2004, S. 36. Vgl. ebenso Josef Soder: Francisco Suarez und das Völkerrecht. Grundgedanken zu Staat, Recht und internationalen Beziehungen. Frankfurt a. M. 1973. 69 Anders Hobbes: Für ihn »bildet das ius publicum keinen ›quasi-geistlichen‹ Überbau des ius sacrum, sondern es überlässt religiöse Andachtsformen dem privaten Gewissen eines irdischer Gesetzesmacht ergebenen Individuums. Dem entspricht Hobbes’ Ansicht in der Frage nach der libertas ecclesiae: Sie sei real einzig im Gewissen der Bürger des Staates, welche das Corpus Christianum sind. […] Die Entscheidung, welche göttlichen Gesetze Geltungskraft beanspruchen können, obliegt der höchsten Staatsgewalt oder derjenigen Instanz, welcher das Recht, Gesetze zu erlassen, zukommt. Eine Abweichung von der durch den Souverän sanktionierten Lehre gilt als Häresie. […] Nach Hobbes bestimmt der Staat ›sein‹ religiöses ›Bekenntnis‹ – und macht gleichfalls die Form der Kirche aus, deren Existenz mit dem Fortbestand seiner selbst identisch ist. Ein solcher Staat bietet allerdings nicht mehr als ein Asyl des Glaubens.« (Glinka: Zur Genese autonomer Moral [s. Anm. 20], S. 196.) Zur langen Vorgeschichte von Königtum und Verfassung (Corpus ecclesiae resp. reipublicae mysticum) siehe auch Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 21994, S. 205–241. 70 DL I. Prooem., Pereña, I, 6: »[…] leges vero civiles solum, vel ut de earum honestate ac rectitudine per altiores regulas dijudicet, vel ut obligationes conscientiæ quæ ex illis oriuntur juxta principia fidei declarent […].« Neben De legibus et de Deo Legislatore hat Suárez folgende
186 Holger Glinka Das bislang konturierte Panorama ist erweiterbar, und zwar hinsichtlich neuzeitlicher Elemente in Suárez’ naturrechtlich fundierter Völkerrechtslehre. Eingangs ist gesagt worden, die Schule von Salamanca um Suárez befördere die Erneuerung des naturrechtlichen Denkens im 16. Jahrhundert. Was ist hier unter Erneuerung zu verstehen? Das Recht der Kolonialvölker auf ein gerechtes Rechtsgesetz muss erstens fortan nicht nur systematisch verortet, sondern sowohl geistlich als auch weltlich gerechtfertigt werden. Daraus resultiert ein neuartiges Völkerrecht auf Basis eines einheitlichen Rechts, das in damaliger Zeit noch ausschließlich zum Naturrecht zählt. Franz Böckle führt zweitens trefflich aus: Anstelle der spekulativen Fragerichtung nach der Eingliederung der Sittlichkeit in eine umfassende Ordnung tritt mehr die praktische Frage nach der Verbindlichkeit konkreter Normen. Und geistesgeschichtlich ist gerade diese Frage wie die gesamte Naturrechtsdiskussion stark bedingt durch die langen Auseinandersetzungen mit dem Voluntarismus.71
In Bezug auf Suárez’ Haltung angesichts reformatorischer Säkularisierungstendenzen72 kommt die in De legibus vorgenommene Erörterung der Frage nach dem Ursprung politischer Gewalt in den Blick. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem Bereich weltlicher und dem Bereich geistlicher Macht be für seine Staatslehre bedeutsame Schriften zu Lebzeiten herausgegeben: Defensio Fidei Catholicae et Apostolicae adversus Anglicanae sectae errores, De opere sex dierum; post mortem erscheint Opus de triplici virtute theologica. 71 Franz Böckle: Natürliches Gesetz als göttliches Gesetz in der Moraltheologie. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst-Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 165–188, hier S. 183. 72 Auch Suárez identifiziert das reformatorische Anliegen – und selbstverständlich nicht die »fides vere Christiana« – mit dem Grundsatz sola scriptura. Wie auch der Übergang vom römisch-katholischen Glauben zum Calvinismus bedeutet dies Häresie. Ernst Feil: Religio. Bd. 2: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540–1620). Göttingen 1997, S. 140f.: »Suárez kann sich infolgedessen nicht darauf beschränken, für die Einheit der Kirche zu plädieren; er muß vielmehr die Wahrheit ihrer ›fides‹ als der einzig legitimen verteidigen. Deswegen kann er dem König ebensowenig wie Luther und den anderen Reformatoren einen wahren Glauben zusprechen. Grundsätzlich reserviert Suárez den Terminus ›fides‹ also für die katholische Kirche, er spricht verschiedentlich von ihr als ›fides antiqua‹, ohne ihr jedoch eine ›nova fides‹ gegenüberzustellen. Die Kennzeichen zum Erweis der wahren Kirche, die im Glaubensbekenntnis enthalten sind, nämlich Einheit, Katholizität und Apostolizität, gelten auch für die ›fides‹, die somit ihrerseits nur ›una‹ und ›catholica‹ sein kann. Insbesondere das Merkmal ›catholica‹ dient nicht der Abgrenzung von Mohammedanern, Heiden oder Juden, sondern den von der einen, der wahrhaften ›fides‹ Abgefallenen, nämlich zur Unterscheidung von den ›sectae haereticorum‹.«
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fehdet Suárez in diesem Zusammenhang die evangelische Lehre des Gottesgnadentums der Könige und bestimmt wie gesehen das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt: Nicht ein absoluter Monarch, sondern einzig das Volk in seiner Gesamtheit stehe über dem Staatsrecht. Damit macht Suárez sich auch zum Anwalt der Relectiones eines Vitoria:73 Der Rechtsanspruch der Könige setze nicht nur die Toleranz, sondern mehr noch die juridische Anerkennung eines Volkskörpers voraus, der einen unwürdig Regierenden – wo nötig auch unter Anwendung von Gewalt – aus sich entlassen, sprich seines Amtes entheben dürfe. Allerdings betont Suárez, Gewalt – auch zur Selbstverteidigung – wohne dem Menschen nicht per legem naturalem inne. Dieser Standpunkt hat entscheidenden Einfluss auf nachfolgende Theorien zum Kriegsrecht. Wenn die physische Welt – ich komme zurück auf einen eingangs erwähnten Aspekt – durch vernünftige Gesetze geregelt ist, dann ist es unmöglich, dass die moralische Welt regellos, d.h. gesetzlos ist und sich selbst überlassen wird. Also muss es ein ius gentium sowie eine vernünftige Summe ›gesatzten‹ Rechts, d.h. positive Gesetzgebungen geben. Auch die Relevanz, die Suárez dem Stellenwert des Gewohnheitsrechts beimisst, ist bereits angesprochen worden. Das sicherlich am besten geeignete Beispiel für ein solches Gewohnheitsrecht ist das ius gentium: Für Suárez folgt das – wie es gemeinhin genannt wird – Völkerrecht nicht aus der Natur der Sache, sondern aus Zweckmäßigkeitserwägungen; als positives menschliches Rechtsgesetz sei es nicht notwendig, folglich veränderbar. Ob auch Suárez in die lange Ahnenreihe derjenigen gehört, die an der ›saecularisatio‹ des Codex Iuris Canonici mitwirken, ist differenziert zu betrachten: Einerseits bekennt er sich ausdrücklich zur römisch-rechtlichen Tradition, wenn er z.B. kundtut, ein jeder Mensch werde frei geboren.74 Dazu passt, dass er voraussetzt, dass Gott dem Menschen einen Teil seiner Gewalt überträgt: der
73 Vitoria sucht bekanntlich die Souveränität des Gemeinwesens des Indianervolks der Yucatáns zu erweisen: »Imperator, licet esse dominus mundi, non ob id posset occupare provincias babaorum et constituere novos dominos et veteres deponere vel vectigalia capere.« (Franciscus de Vitoria: De indis recenter inventis et de jure belli hispanorum in barbaros. Relectiones. Vorlesungen über die kürzlich entdeckten Inder in das Recht der Spanier zum Kriege gegen die Barbaren 1539. Lateinischer Text nebst deutscher Übersetzung hg. von Walter Schätzel. Tübingen 1952, S. 4, S. 59–61. Siehe ebenso ders.: Vorlesungen II (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche. Hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven u. Joachim Stüben. Stuttgart, Berlin, Köln 1997, S. 371–541.) 74 Norbert Brieskorn erklärt, Suárez zufolge stehe »der Mensch unter der lebendigen Führung Gottes, deren Charakter aus der Sicht menschlicher Freiheit weder mit heteronom noch autonom zutreffend erfasst ist.« (Brieskorn 655)
188 Holger Glinka Kirche die kanonische und dem Staat die weltliche Gesetzgebungshoheit.75 Insbesondere jedoch Suárez’ Revision des Völkerrechts überbietet die im tradierten römischen Recht vorgenommenen Bestimmungen: Dort betrifft ius gentium keine zwischenstaatliche Rechtsbeziehung im Sinne transnationaler Rechtsverhältnisse, wie sie heute selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern im römischen Recht firmiert das Völkerrecht als Inbegriff derjenigen Rechtsbestimmungen, die zwischen ius naturae und dem Bürgerrecht (ius civile positum) angesiedelt sind.76 Traditionell ist ius gentium demnach in der Nähe des Naturrechts verortet gewesen; Suárez hingegen trennt beide scharf voneinander: Ius naturae sei ein Wesensmerkmal des Menschen, sei dem Menschen also angeboren, wohingegen ius gentium Menschenwerk, lex humana sei und auf Übereinkunft beruhe.77 Zugleich unterscheidet Suárez zwei Begriffe des Völkerrechts: einerseits ius intra gentes resp. gentem verstanden als Inbegriff der Gesetze, die sämtlichen Völkern gemeinsam sind, und andererseits ius inter gentes verstanden als zwischenstaatliches Recht, das nicht von Natur aus, sondern positiv und deshalb auch veränderbar ist.78 So gilt Suárez neben Vitoria und Hugo Grotius zu Recht als derjenige, der einem modernen und neuzeitlichen Verständnis von Völkerrecht den Weg ebnet.79 Dass die Rechtsvernunft wesentlich auch historisch verfaßt ist, hat v.a. Grotius deutlich gesehen. Der quantitative Umfang von De jure belli ac pacis erklärt sich letztlich aus Grotius’ ausladend angelegten Erörterungen thematisch einschlägiger rechtshistorischer – aber noch nicht
75 Rommen: Die Staatslehre des Franz Suarez S.J. (s. Anm. 67), S. 46. 76 Die über alle Völker und Nationen hinweg gültige, durch das Vernunftlicht gewährleistete Einsicht in gute und böse Handlungen spricht schon Cicero an: »Quae [… enim] natio […] superbos, […] quae crudeles, quae ingratos non aspernatur, non odit?« (Marcus Tullius Cicero: De legibus. Lib I, c. XI., Opera omnia. Ex recensione Jo. Augusti Ernesti qui et notas suas adjecit. Vol. IV/2. Londini 1819, S. 690.) Seneca hält fest, besagte allgemeine Übereinstimmung sei uns ins Herz geschrieben: »Est ergo a deo tanquam auctore naturae impressum inditumque cordibus nostris, per quod secundum dictamen rationis practicae actus humanos liberos ad bonum justum qua dirigimus.« (Lucius Annaeus Seneca : Ad Lucilium. Epistulae morales. In: Ders.: Philosophische Schriften. Lateinisch u. deutsch. Bd. 3. Übers., eingel. und mit Anm. versehen von Manfred Rosenbach. Darmstadt 41995, Ep. 66.) 77 DL II. 17–20, Pereña IV, 99–149. 78 Zur abwägenden Kritik der Völkerrechtslehre des Suárez: Arthur Nussbaum: Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung. München, Berlin 1960. 79 Francisco de Vitorias Rechtstheorie behandelt vor dem Hintergrund der geschichtsphilosophischen Problemlage Dimas Figueroa: Philosophie und Globalisierung. Würzburg 2004, S. 25–72.
Francisco Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung 189
rechtsgeschichtlicher – Fallbeispiele. So erreicht Grotius immerhin eine ideelle Vertiefung sowohl der natürlichen als auch der positiven Rechtslehre.80 Schon für Suárez gilt jedenfalls die vermeintlich erst von Grotius eingeführte Unterscheidung von Moral und Natur.81 Der Begriff des Gesetzes kann so – anti-thomistisch – nicht nur permanent auf Moral bezogen, sondern das wahrhafte Naturgesetz auch ausschließlich dem menschlichen Geist zugehörig gewußt sein.82 Der rationalen Natur der Dinge bleibt auch Gott verpflichtet: Er muss untersagen, was an sich schlecht und gegen die natürliche Vernunft ist,83 oder anders gesagt: Der Wille Gottes fügt dem schon an sich bestehenden Guten oder Schlechten nur die spezielle Verpflichtung des göttlichen Gesetzes hinzu.84
5 Fazit Gewiss setzt Suárez nicht schon wie Friedrich Gogarten voraus, dass erst die christliche Offenbarung die Verweltlichung der Welt ermögliche.85 Aber auch Suárez sieht diese Welt als Schöpfung in die moralische Verantwortung des Einzelnen gelegt; daraus folgt für ihn aber noch nicht die Differenz von Säkularismus (im Sinne einer politischen Ideologie) und legitimer Säkularisierung. Dies schließt ein, dass Suárez angesichts einer zunehmend sich ›säkularisierenden Welt‹ für die Kirche noch kein Handlungsfeld eröffnet sieht, beispielsweise 80 Siehe ausführlich Dominik Recknagel: Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spaltung. Parallelen zwischen den Rechtslehren von Francisco Suárez und Hugo Grotius. Frankfurt a. M. 2010. 81 DL II. 2. 12, Pereña, III, 26: »[…] omnia tam naturalia quam moralia.« 82 DL I. 1. 9, Pereña I, 17–19. 83 DL II. 6. 5, Brieskorn 428, Pereña, III, 84: »[…] non posse non prohibere ea quae mala sunt et contra rationem naturalem.« 84 Ausführlich DL II. 6. 11, Brieskorn 437, Pereña, III, 93: »Dieser Wille Gottes als Verbieten oder Gebieten ist nicht der gesamte, d.h. der einzige Grund für die Gut- und Schlechtheit, die sich mit der Beachtung oder Übertretung des Naturgesetzes einstellt. Vielmehr geht dieser Wille davon aus, dass schon im Voraus die Handlungen selbst unter der Verpflichtung zur sittlichen Gutheit oder gegen die Schändlichkeit stehen, und knüpft folglich an diese Handlungen die besondere Verpflichtung des göttlichen Gesetzes an.« / »Haec Dei voluntas, prohibitio aut praeceptio non est tota ratio bonitatis et malitiae quae est in observatione vel transgressione legis naturalis, sed supponit in ipsis actibus necessariam quamdam honestatem vel turpitudinem et illis adiungit specialem legis divinae obligationem.« Vgl. hierzu: ErnstWolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. 2., überarbeitete u. erweiterte Aufl. Tübingen 2006, S. 382f. 85 Vgl. Abschnitt 3.
190 Holger Glinka als Kampfplätze im Erziehungs- und Bildungswesen. Wenn Ernst Troeltsch der modernen Zivilisation eine zunehmend ambivalente Signatur attestiert, sucht noch Suárez – vielleicht letztmalig – das theologische Anliegen der römischkatholischen Kirche systematisch zu erschöpfen86 und steht damit im Dienst der Gegenreformation. Infolgedessen ist Suárez’ Theologie nicht gegen den katholischen, wohl aber den lutherischen Patriarchalismus gerichtet. Wie gesehen verhindert dies nicht, dass im Zuge einer Selbstverständigung des Protestantismus im 19. Jahrhundert die Ausformung der These zur Säkularisierung erheblich befördert wird. In diesem Sinne korrespondiert auch Franz Overbecks Verständnis von Theologie als Verweltlichung des Christentums vortrefflich mit Suárez’ Naturrechtsdenken, das bereits die Individualisierung des Rechtsbegriffs87 vorantreibt (wenn auch, wie gesehen, innertheologisch). Wenn das Naturrecht aber eine gott-menschliche ›Natur‹ repräsentiert, resultiert aus der Koinzidenz vom freien Willen des Menschen88 und der moraltheologischen Unversehrtheit menschlicher Handlungen demungeachtet keine Sündenresistenz, sondern vielmehr die Legalität strafrechtlicher Sanktion im Falle rechtsgesetzlicher Verfehlungen. Insofern geht Richard Rothes heilsgeschichtliches Panorama: Säkularisierung sei der Prozess des Auf- und Eingehens der Kirche in den Staat, nicht konform mit Suárez’ Naturrechtslehre, weil sie keinen wissenschaftlichen Ausdruck eines in dieser Weise verstandenen Staates bietet. In Suárez’ Zeit betrifft ius naturae den Inbegriff der sowohl im Natürlichen als auch in menschlicher Gemeinschaft sich gegenseitig beschränkenden Befugnisse bezogen auf sämtliche menschliche Individuen. Die eigentliche Grundlage des positiven (gegebenen, befohlenen) ius naturae ist sonach das ius dominativum. So unterscheidet Suárez zwischen natürlicher Rechtsbefugnis (ius naturale dominativum) und natürlicher Rechtspflicht (ius naturale praeceptivum).89 Diese Unterscheidung wird wichtig, weil, wie gesehen, Grotius kurz zuvor die Moral vom
86 Vgl. DL III. 12, Pereña V, 159–184. 87 In diese Richtung wird Suárez auch interpretiert bei: Jean-François Kervegan: Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne. In: Die Bildung der Moderne. Hg. von Michael Dreyer et. al. Tübingen 2013, S. 83–99, hier S. 86–88. 88 Vgl. Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening: Einleitung: ›Voluntas est anima et quasi substantia legis‹. In: Francisco Suárez: De legibus ac deo legislatore. Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Liber tertius: De lege positiva humana. Drittes Buch: Über das positive menschliche Gesetz. Teil I. Hg., eingel. u. ins Deutsche übers. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2014, S. XIII–XXVII, hier S. XXIf. 89 Siehe hierzu: Markus Kremer: Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez (1548–1617). Stuttgart 2008, S. 90–94; Recknagel: Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spaltung (s. Anm. 80), S. 59f.
Francisco Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung 191
Naturrecht abtrennt. Erst Christian Wolff integriert in seinem Naturrecht wieder eine moralische bzw. religiöse Pflichtenlehre; Kant lässt sodann alles in Moraltheologie auslaufen. Hans Welzel sieht Suárez zurückschrecken vor den Konsequenzen – nämlich der Loslösung des Naturrechts von seiner theonomen Basis bei Gabriel Vásquez –, „bis zu denen der Kampf des idealistischen Naturrecht[s] gegen das voluntaristische die streitenden Parteien geführt hatte.«90 Welzel verweist in diesem Zusammenhang auf Suárez’ berühmte Analysen in De legibus, denen zufolge die Gesetzeskraft des Naturrechts auch unter der Voraussetzung von Gottes Nicht-Existenz, seiner Unvernunft sowie seiner defizienten Urteilskraft Bestand hätte.91 Folglich ist die Ordnung, die das Naturrecht darstellt, nicht allein als göttliches, sondern zugleich als ethisches Gebot bzw. Verbot zu verstehen. Welzel nennt diese Theorie des Suárez »Mittelweg« und »Kompromiß«,92 90 Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 61), 97. 91 DL II. 6. 3, Brieskorn 425, Pereña, III, 81f.: »Und diese Autoren scheinen folgerichtig einräumen zu müssen, dass das Naturgesetz nicht von Gott in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber stamme, da es nicht vom Willen Gottes abhänge, und so führe sich Gott aus der Kraft seines Willens nicht wie ein Oberer auf, der gebietet oder verbietet. Ja, Gregor, welchem sich die übrigen anschlossen, sagt, selbst wenn es Gott nicht gäbe oder er entweder die Vernunft nicht benützen oder nicht recht über die Dinge urteilen würde und wenn im Menschen derselbe Urteilsspruch der richtigen Vernunft anzutreffen wäre – der beispielsweise festlegen würde, es sei schlecht zu lügen –, dass dann jener Urteilsspruch denselben Charakter als Gesetz haben würde, wie er ihn auch jetzt innehabe; denn es würde sich um ein Gesetz handeln, welches die Schlechtigkeit offen legt, die zuinnerst im Gegenstand vorhanden sei.« / »Atque hi auctores consequenter videntur esse concessuri legem naturalem non esse a Deo ut a legislatore, quia non pendet ex voluntate Dei, et ita ex vi illius non se gerit Deus ut superior praecipiens aut prohibens. Immo ait Gregorius, quem caeteri secuti sunt, licet Deus non esset vel non uteretur ratione vel non recte de rebus iudicaret, si in homine esset idem dictamen rectae rationis dictantis v[erbi] g[ratia] malum esse mentiri, illud habiturum eandem rationem legis quam nunc habet, quia esset lex ostensiva malitiae, quae in obiecto ab intrinseco existit.« Diese Enttheonomisierungstendenz setzt sich fort z.B. bis Gottfried Wilhelm Leibniz’ Konzept dreier Stufen des von Natur aus Gerechten, dessen vermeintliche Modernität zu beurteilen wäre an dem – aus Sicht des Verf.s – unentbehrlichen Kriterium einer Autonomie im Moralischen, die sich auf der höchsten Stufe des Naturrechts Leibniz zufolge in der Verbindung der Prinzipien von Menschenliebe und Weisheit findet und letztlich keine Vorgaben weltanschaulich gebundener Normen mehr hat: Gottfried Wilhelm Leibniz: Universale Gerechtigkeit als klug verteilte Liebe zu allen. In: Ders., Frühe Schriften zum Naturrecht. Hg., mit einer Einl. u. Anm. vers. sowie unter Mitwirkung v. Hans Zimmermann übers. von Hubertus Busche. Hamburg 2003, 215–243. 92 Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (s. Anm. 61), 97. Zur Analyse dieser These siehe: Dominik Recknagel: Der Begriff des Naturgesetzes zwischen Intellektualismus und Voluntarismus und die via media bei Francisco Suárez. In: Miscellanea Mediaevalia 38, S. 509– 523.
192 Holger Glinka und tatsächlich versucht Suárez zu relativieren, indem er Vásquez’ These, die lex naturalis primaria sei unabhängig von der lex aeterna, verwirft. Andererseits modifiziert Suárez das tradierte Naturrecht, indem er ihm nicht nur dessen theonome Grundsätze, sondern auch deren weltliche Folgerungskontexte zurechnet. Bezogen auf die ›Genese autonomer Moral‹ wird Suárez’ Generierung eines moralphilosophischen Anteils im Begriff des Rechts bestätigt durch anschließende Entwicklungen: Wenn Christian Thomasius gegen seinen Lehrer Samuel Pufendorf ins Feld führt, dieser komme letztlich zu keiner echten, theoretisch tragfähigen Unterscheidung von Recht und Moral, ja dessen gesamtes Naturrecht bleibe der Moral verhaftet, sei jedoch selbst keine wahrhafte Moral, »weil das in [den Teil der Moral] fallende pflichtgemäße Handeln ausschließlich auf den zeitlichen [sprich irdischen] Wohlfahrtszweck bezogen wird«,93 konzediert schon Suárez, dass insbesondere Moralphilosophen sich der Probleme der Rechtsgesetze annehmen. Damit bezieht er sich auf die Tradition der platonischen Nomoi, deren Kurzfassung Ciceros De legibus darstellt; in dieser Linie stehen auch Aristoteles, Seneca, Plutarch u.a., wobei diese zwar allesamt menschliche Gesetze (in der res publica) und die Gesellschaft (civitas), nicht aber das Naturrecht als solches untersuchen, sondern lediglich, wie es sich per rationem hominem demonstrieren läßt »und die sittliche Haltung der erworbenen Tugenden lenkt […].«94 So ist die im 2. Abschnitt dieser Untersuchung gestellte Frage, ob Suárez’ Naturrechtslehre zum extensiven oder integralen Naturrechtstyp zu zählen sei, wie folgt zu beantworten: Suárez’ Naturrechtslehre zählt zum integralen Typ, weil sie auf Grund ihrer vergleichsweise ausgeprägten moralphilosophischen Ausrichtung maßgeblich beiträgt zur Individualisierungstendenz neuzeitlicher Naturrechtstheorien. Insbesondere auch in Suárez’ Auffassung des positiven menschlichen, sprich bürgerlichen Gesetzes hat eine theonome Fundierung keine primäre systematische Funktion mehr. Vielmehr ist für Suárez’ Staatsrechtslehre entscheidend, dass die politische Herrschaft auf menschlicher Rechtsgesetzgebungskompetenz beruht, d.h. dass sie ihre Legitimität nicht aus der Natur bezieht, sondern sich der Freiheit des menschlichen Willens verdankt, genauer: der Gesamtheit der in einem politischen Gemeinwe-
93 Vgl. Werner: Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte. Bd. 2 (s. Anm. 41), S. 256. Pufendorf hat also weder eine philosophische Rechtslehre noch eine philosophische Moral. Die Moral schlechthin koinzidiert bei ihm mit theologischer Moral. 94 DL I. Prooem., Pereña, I, 5: »[…] et moralem honestatem virtutum acquisitarum dirigit […].«
Francisco Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung 193
sen vereinigten menschlichen Willen.95 Denn wenn Suárez den Prozess der Übertragung politischer Gewalt auf Personen der jeweiligen politischen Instanzen als einen natürlichen, d.h. naturrechtlich gestützten Vorgang begreift, dann wirkt die Macht Gottes nur mittelbar. Bezogen auf die Konstitution politischer Staatsmacht steht das theonome hinter dem anthropologischen Moment zurück.
95 DL III. 4. 2, Bach, Brieskorn, Stiening III,1: »Zweitens folgt aus dem Gesagten, dass die politische Gewalt, sooft sie in einem einzigen Menschen oder dem Herrscher angetroffen wird, diesem vom Volk und der Gemeinschaft nach gerechtfertigten und der Grundverfassung entsprechenden Recht übertragen worden ist..« / »[S]equitur ex dictis potestatem civilem, quoties in uno homine vel principe reperitur, legitimo ac ordinario iure a populo et communitate manasse vel proxime vel remote, nec posse aliter haberi, ut iusta sit.«
4 Veränderbarkeit oder Unveränderbarkeit des Naturrechts
Dominik Recknagel
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum Die Unveränderlichkeit des Naturrechts bei Francisco Suárez Mit seiner These der völligen Unveränderlichkeit natürlicher Gesetze betritt Francisco Suárez Neuland innerhalb der Naturrechtsdebatte. Gegen die immer wieder heran gezogenen klassischen Autoren Aristoteles und Thomas von Aquin, deren jeweils entwickelte Ausnahmen von naturrechtlichen Geboten selbst zum klassischen Bestand der Naturrechtsdebatte geworden sind, entwickelt Suárez eine systematisch grundlegend geänderte Theorie des Naturrechts. Deren Konstruktion gestattet es, alle bisher als Ausnahmen entwickelten und angeführten Fälle von Pflichtenkollisionen in ein solches System naturrechtlicher Regelungen zu integrieren und ihnen den Status der Ausnahme zu nehmen. Dies leistet die suárezische Theorie in zweierlei Hinsicht: Zum einen überwindet sie die von Aristoteles und Thomas von Aquin überlieferten unterschiedlichen Grade an Verbindlichkeit von grundlegenden Prinzipien und den daraus gewonnenen abgeleiteten konkreteren Schlussfolgerungen des Naturrechts; zum anderen bietet sie eine konsistente Trennung von gebietendem und erlaubendem Naturrecht und dessen jeweiliger Verbindlichkeitswirkung an, die die klassischen Probleme der Dichothomie etwa von Gemein- und Privateigentumsordnung oder auch von angeborenem Freiheitsrecht des Menschen und Legitimität der Sklaverei auflöst. Francisco Suárez beschäftigt sich mit den Problemen der Unveränderlichkeit des Naturgesetzes und den verschiedenen Hinsichten der Verpflichtungswirkung desselben unter anderem in den Kapiteln 13 und 14 des zweiten Buches von De legibus ac Deo legislatore.1 Das Kapitel 13 ist dabei der Frage gewidmet, ob die Vorschriften des Naturgesetzes aus ihrer Natur heraus wesentlich unveränderbar seien. Suárez kann sich hierbei auf die aristotelische und thomasische Tradition einer Hierarchisierung der Ge- und Verbote des Naturgesetzes beziehen. Er übernimmt die Unterscheidung der allgemeinen [principia generalia] bzw. besonderen [principia magis determinata et particularia] Prinzipien von den aus
1 DL II. 13f., Brieskorn 522–569, Vivès V, 132–144.
Dominik Recknagel ihnen abgeleiteten Schlussfolgerungen [conclusiones].2 Nach Thomas von Aquin nun weichen diese Ebenen in ihrem Grad an Verbindlichkeit voneinander ab. Der volle Grad an Verbindlichkeit sei lediglich bei den allgemeinen Prinzipien erreicht, die aus sich heraus bekannt sind, welche die sittliche Gutheit oder Schlechtigkeit betreffen und sich formulieren lassen als ›das Gute ist zu tun, das Böse ist zu meiden‹, ›Was du nicht willst, dass es dir geschehe, darfst du nicht einem anderen antun‹ etc. Nicht jedoch seien es die Schlussfolgerungen, welche aus diesen Prinzipien gezogen werden, wie ›Die hinterlegte Sache ist zurückzugeben‹ oder ›Wucher ist zu meiden‹.3
Die Schlussfolgerungen erreichten dabei nicht die universale Verbindlichkeit der Prinzipien, weil ihre Gegenstände, die menschlichen Handlungen, vereinzelte und kontingente Inhalte darstellten. Daher und aufgrund einer möglichen geschwächten menschlichen Vernunft gesteht ihnen Thomas nicht immerwährend sondern nur meistenteils und für den Normalfall Geltung zu.4 Ausnahmen sind ausdrücklich möglich. So führt Thomas das bekannte Beispiel des Depositums an, das in der überwiegenden Zahl der Fälle zurück gegeben werden müsse. Eine Ausnahme vom naturrechtlichen Gebot der Rückgabe sei dann vorzunehmen, wenn der Rückfordernde es dafür gebrauchen möchte, »das Vaterland zu bekämpfen« bzw. dem Gemeinwesen zu schaden. In diesem Fall würde aus der Anwendung des Prinzips der Rückgabe Schädliches und damit Unvernünftiges folgen. Für Francisco Suárez ist eine solche Ausnahmeregelung mit seinem Begriff des Naturgesetzes unvereinbar. Hier sind Prinzipien wie auch Schlussfolgerungen gleichermaßen vollgültige und mit Verbindlichkeit ausgestattete Anordnungen des Naturgesetzes,
2 Vgl. DL II. 7. 5, Brieskorn 460f., Vivès V, 113. 3 DL II. 7. 2, Brieskorn 457f., Vivès V, 112f.: »[S]ola generalia principia per se nota, quae versantur circa bonitatem, vel malitiam moralem, qualia sunt, bonum est faciendum, malum vitandum: quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris, esse materiam huius legis, non vero conclusiones quae ex his principiis eliciuntur, ut depositum esse reddendum, usuram vitandam.« 4 Vgl. dazu Ludger Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus. In: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Hg. von Jürgen Miethke u. Klaus Schreiner. Sigmaringen 1994, S. 195–213, hier S. 205–207; Wilhelm Metz: Lex und Ius bei Thomas von Aquin. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suarez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 17–36, hier S. 24–30.
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum
die von notwendiger und damit dauernder Wahrheit sind. [Denn] dieses Recht umfasst [...] sowohl Prinzipien sittlichen Verhaltens, die aus sich heraus bekannt sind, als auch sämtliche Schlussfolgerungen, allerdings auch nur solche, welche aus jenen Prinzipien mit notwendiger Folgerung abgeleitet sind [...]. Sie alle zeichnen sich durch Wahrheit von zeitloser Geltung aus, da die Wahrheit der Prinzipien nicht ohne die Wahrheit solcher Schlussfolgerungen besteht; die Prinzipien selbst sind aus ihrem Ziel heraus [ex terminis] notwendig.5
Damit weitet Suárez die volle Verbindlichkeit und Gesetzeswirkung gegen Aristoteles und Thomas auch auf die aus den Prinzipien gewonnenen Schlussfolgerungen aus und weist diesen zudem eine Schlüsselrolle in der Vermittlung naturgesetzlicher Prinzipien auf ihr Anwendungsgebiet, die menschlichen Handlungen, zu. Die allgemeinen Prinzipien (»Tue Gutes!«, »Meide Böses!« usw.) wären für sich viel zu allgemein und unbestimmt, erst die Schlussfolgerungen stellen konkrete und anwendbare Handlungsanweisungen dar. Wie aber überwindet Suárez das Problem der vernünftigen Ausnahmen, wie etwa den Fall des Depositums, wenn er den Schlussfolgerungen aus den Prinzipien des Handelns volle Verbindlichkeit zuweist? Er antwortet mit einem Gleichnis, das einen ersten Einblick in die von Suárez vorgestellte Struktur des Naturrechts gewährt: Man muss doch sehen, dass alles [...] in zweifacher Weise geändert [werden kann]: Entweder von innen heraus durch eine Änderung seiner selbst, wie beispielsweise ein Vater aufhört, Vater zu sein, wenn er stirbt, oder von außen her durch eine Änderung im anderen Bezugspunkt; so hört der Vater durch den Tod des Sohnes auf, Vater zu sein.6
Für das Naturgesetz nun tritt nach Suárez eine Änderung nie auf die erste, sondern nur auf die zweite Weise ein, nämlich durch die Änderung des Regelungsgegenstandes [materia]. Es erfolgt die Änderung nicht deswegen, weil das Gesetz aufgehoben oder vermindert wird – denn beständig wird es immer auf dieselbe Weise
5 DL II. 13. 3, Brieskorn 525f., Vivès V, 133: »[L]eges eius sunt necessariae et perpetuae veritatis. Complectitur enim hoc ius [...] principia morum per se nota et omnes ac solas conclusiones quae ex illis necessaria illatione inferuntur [...] Omnia autem haec perpetuae veritatis sunt, quae veritas principiorum non subsistit sine veritate talium conclusionum et principia ipsa ex terminis necessaria sunt.« Übers. geändert. Vgl. Robert Schnepf: Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation. In: Die Ordnung der Praxis: neue Studien zur spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert und Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 75–108, hier S. 99–102. 6 DL II. 13. 6, Brieskorn 529, Vivès V, 134: »[D]upliciter posse mutari [...] scilicet, vel intrinsece per mutationem sui, ut pater desinit esse pater si moriatur: vel extrinsece tantum per mutationem alterius, quomodo pater desinit esse pater per mortem filii [...].«
Dominik Recknagel verpflichten, auf die es immer schon verpflichtet hat –, sondern allein deswegen, weil der Regelungsgegenstand des Gesetzes und nur er eine Änderung erfährt.7
Wendet man diesen Gedanken auf das Naturgesetz an, so kann das nur heißen, dass für jede Handlungssituation als empirischer Einzelfall, der notwendig von jeder anderen Handlungssituation in unserer kontingenten Welt schon allein nach Zeit und Ort unterschieden ist, ein je verschiedener Regelungsgegenstand angenommen werden muss. Und auf diese jeweils verschiedenen Situationen und Gegenstände findet dann das Naturgesetz Anwendung und liefert ein Urteil über die Gut- bzw. Schlechtheit einer entsprechenden Handlung. Beachtet man dabei die Hierarchie des Naturgesetzes, dessen Regeln mit wachsender Konkretheit der Handlungsanweisung von den obersten Prinzipien zu den Schlussfolgerungen hinab steigen, so scheint Suárez hier eine grobe Klassifizierung von Handlungstypen vorzuschweben. Liegen für diese Typen »normale« oder »übliche« Umstände und Bedingungen vor, kann man von typischen Handlungsanweisungen, nämlich dem Zurückgeben des geliehenen Gutes oder dem Tötungsverbot, ausgehen. Sind die Umstände aber andere, etwa, dass der Eigentümer dem Gemeinwohl schaden will, so ist die Rückgabe zu unterlassen. Der Trick, der es Francisco Suárez erlaubt, genau diese anderen Umstände mit in den Regelungsbereich des Naturgesetzes zu integrieren und damit Ausnahmen auszuschließen, besteht darin, das Naturgesetz so zu konzipieren, dass es, da es ja von sich aus nicht auf Tafeln oder pergamentene Seiten, sondern in das Bewusstsein [mens] der Menschen geschrieben ist, sich nicht immer im Bewusstsein in jenen allgemeinen Worten oder unbestimmten Ausdrücken ausspricht, wie wir sie im mündlichen Vortrag oder in der Niederschrift verwenden. [...] Die Vernunft fordert [...], das Gut nur demjenigen zurückzugeben, der es nach Recht und aus vernünftigen Gründen zurückbegehrt, und nur dann, wenn kein vernünftiger Grund zum berechtigten Schutz entweder des Gemeinwesens, des Handelnden selbst oder eines Unschuldigen entgegensteht. Im Allgemeinen aber pflegt man jenes Gesetz nur mit den Worten vorzutragen: ›Man muss das verwahrte Gut zurückgeben‹, weil man die übrigen Klauseln stillschweigend mit versteht; und natürlich kann man diese gar nicht alle im begrenzten Rahmen eines Gesetzes, das Menschen verfassen, aufführen und ausformulieren.8
7 DL II. 13. 6, Brieskorn 529f. Vivès V, 134: »[I]n lege autem naturali minime, sed solum secundo modo, per mutationem materiae contingit [...], non quia lex tollatur, vel minuatur: semper enim eo modo obligat et obligavit; sed quia ipsa materia legis mutatur [...].« 8 DL II. 13. 6, Brieskorn 530, Vivès V, 134: »[C]um per se non sit scripta in tabulis vel membranis, sed in mentibus, non semper dictari in mente illis verbis generalibus, vel inde finitis,
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum
Der Trick besteht also darin, jegliche, vordergründig als Ausnahme vom Naturgesetz vorgestellte Situation nunmehr als eine inhärente und vom Naturgesetz als Regelungsgegenstand erfasste Situation zu begreifen. Die Ausnahme vom Naturgesetz wird zur naturrechtlichen Ausnahme, damit zum integralen Bestandteil des Naturgesetzes und ist schließlich keine Ausnahme mehr: Denn tatsächlich erleidet die Vorschrift für sich betrachtet gar keine Ausnahme, weil ja die natürliche Vernunft selbst vorschreibt, dass dieses Gebot nur auf eine sehr bestimmte Weise und nicht anders erfüllt werden dürfe oder müsse oder nur unter bestimmten Umständen und eben dann nicht, wenn diese fehlen sollten.9
Das Beispiel der Tötung aus Notwehr etwa ist damit keine Ausnahme vom naturrechtlichen Tötungsverbot, auch stellt es keine Änderung des Regelungsgegenstandes aus menschlicher Vereinbarung dar, sondern es gehört zur vernünftigen Gesamtbetrachtung der möglichen Umstände einer Tötung und kann selbst als eine naturrechtliche Klausel betrachtet werden. In diesem Sinne bildet die Berechtigung zur Tötung aus Notwehr keine Ausnahme vom Tötungsverbot, sondern ist Teil dieser naturrechtlichen Regelung.10 Damit entzieht Suárez zu-
quibus a nobis ore profertur vel scribitur [...] dictat enim ratio reddendum esse depositum iure et rationabiliter petenti vel nisi ratio defensionis iustae vel reipublicae vel propria vel innocentis obstet. Communiter autem solet illa lex illis tantum verbis proferri: Reddendum est depositum, quia caetera subintelliguntur, nec in forma legis humano modo positae omnia declarari possunt.« 9 DL II. 13. 7, Brieskorn 531, Vivès V, 134: »Sic enim praeceptum in se spectatum nullam exceptionem patitur, quia ratio ipsa naturalis dictat hoc debere fieri tali vel tali modo et non aliter, vel concurrentibus talibus circumstantiis et non absque illis.« Vgl. Friedo Ricken: Unveränderlichkeit und Wandelbarkeit des natürlichen Sittengesetzes nach Francisco Suárez. In: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu. Hg. von Michael Sievenich u. Günter Switek. Freiburg i. Br. 1991, S. 340–353, hier S. 349: »Diese Umstände setzen nicht ein geltendes allgemeines Gesetz außer Kraft, sondern sie gehören zum Inhalt des Gesetzes. Die Vernunft fordert, dass die allgemein beschriebene Handlung unter diesen bestimmten Umständen und nur unter diesen geschehen soll.« Ricken wendet die von Suárez für das ius naturale praeceptivum getroffene Charakterisierung allgemein auf das Naturrecht an und nimmt keine Unterscheidung desselben vom ius naturale dominativum vor. 10 Die Nichtbeachtung dieses Unterschieds in der Aufhebbarkeit ist m. E. bei einigen Autoren die Ursache für eine Fehldeutung der Auslegung des Naturgesetzes nach Suárez. So ordnet Arwed Klug das Tötungsverbot zum ius naturale dominativum und zählt so den Fall der gerechten Notwehr zur Möglichkeit der freien Gestaltung jener Regelung durch menschliche Vereinbarung. Vgl. Arwed Klug: Die Rechts- und Staatslehre des Franciscus Suarez: eine rechtsphilosophische Untersuchung. Köln, Univ., Diss., 1958, S. 56. Pauline C. Westerman macht die Entscheidung über die Beachtung der Umstände einer Tötung von »human (read: governmental) interpretations« (S. 119) abhängig. Ihr Schluss, »[a]nd this decision considerably diminis-
Dominik Recknagel gleich die Regelung bezüglich der Notwehr der menschlichen Vereinbarung. Der menschlichen Gemeinschaft steht es danach nicht frei, die Tötung aus Notwehr als Ausnahme zuzulassen oder abzulehnen, sondern die natürliche Vernunft als Instanz des Naturrechts fordert allgemein die Berechtigung zur Notwehr, es sei denn, andere ebenso vernünftige Gründe sprächen in gewissen Fällen wiederum dagegen. Die derart gewonnene Systemkonformität wird von Suárez teuer erkauft. Die Integration der Ausnahmen in das Naturgesetz verlagert die Erkenntnismöglichkeit naturgesetzkonformen Verhaltens vom bloßen Erfassen der für verschiedene mögliche Handlungstypen vorgegebenen Imperative und deren Ausnahmeregelungen weg und hinein ins Bewusstsein, das exklusiv mittels der Vernunft jeglichen Einzelfall mit allen Umständen und Bedingungen zu beurteilen hat. Wenn also Suárez die Unveränderlichkeit des Naturgesetzes damit rettet, dass er das Änderungspotenzial der Handlungsanweisungen in den Regelungsgegenstand delegiert, so öffnet er das Tor für die Unberechenbarkeit der Kontingenz des Einzelfalls. Die Kontingenz des Einzelfalls und seiner Umstände, die dann auch die Kontingenz der resultierenden Handlungsanweisung bedeuten muss, ist in gewisser Weise nur noch durch die Einheitlichkeit der Vernunft in jedem Menschen aufzufangen, die Suárez gleichwohl voraussetzt, indem er von einer unveränderlichen Natur des Menschen ausgeht: So wie es [das Naturrecht] im Menschen ist, kann es keine Änderung erfahren, weil es eine ihm zuinnerst und wesentlich zugehörige Eigenschaft ist, die mit Notwendigkeit aus dieser Natur als solcher fließt, oder wie andere es eher sagen würden, welche die vernünftige Natur selbst ist.11
Aus der angenommenen Einheit der Vernunft resultiert theoretisch, dass jeder Mensch mittels vernünftiger Beurteilung des einen bestimmten Einzelfalls zum
hes the role of natural law in assessing positive law« (S. 119), gilt eben nur für den Teil des vorschreibenden Naturrechts, der sich in menschlichen Willensakten ausdrückt, als naturrechtlicher Verankerung der Verpflichtungswirkung positiver Gesetzgebung, aber nicht für das unmittelbare ius naturale praeceptivum, das ein unveränderliches Vernunftrecht mit konkreten Handlungsimperativen und der vernünftigen Beachtung sämtlicher Umstände zu Grunde legt. Vgl. Pauline C. Westerman: The disintegration of natural law theory: Aquinas to Finnis. Leiden 1997, S. 118–120. 11 DL II. 13. 2, Brieskorn 524, Vivès V, 133: »Prout est in homine mutari non potest, quia est intrinseca proprietas necessario fluens ex tali natura, qua talis est, vel (ut alii volunt) est ipsa rationalis natura.« Hierzu auch João Manuel Azevedo Alexandrino Fernandes: Die Theorie der Interpretation des Gesetzes bei Francisco Suárez. Frankfurt a. M. 2005, S. 153f.
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum
gleichen Ergebnis bezüglich der rechten Handlungsanweisung kommen würde – genau dies bedeutet die Unveränderlichkeit des Naturgesetzes für Suárez. Für die Praxis aber ist das ohne Belang, da immer nur genau einer in genau diese eine Situation gerät und geraten kann. Letztlich haben wir es mit einem Modell des Naturgesetzes zu tun, in dem bei einer unendlichen Anzahl von Einzelfällen, die je nach Umständen und Bedingungen notwendig verschieden sind, für jeden einzelnen Fall unmittelbar genau eine vernünftige Lösung der Handlungsanweisung gefunden werden kann und auch gefunden wird, die aber nie Beispiel für eine andere gleichartige Situation sein kann. Denn Suárez geht davon aus, dass Menschen alle Klauseln, die in der Beurteilung des Einzelfalls beachtet werden müssen, nur stillschweigend mit verstehen, diese aber nun einmal nicht »verfassen, aufführen und ausformulieren« können. In DL II. 14, wo Suárez sich der letztlich unmittelbar verneinten Frage widmet, ob eine menschliche Macht das Naturrecht ändern oder von ihm dispensieren kann, unternimmt Suárez den Versuch, die soeben nachgewiesene Unveränderbarkeit des Naturrechts gegen anderslautende Thesen der Veränderbarkeit desselben etwa durch einen Dispens, durch Begrenzung oder gar Aufhebung zu verteidigen und darüber hinaus den Umfang des Naturgesetzes neben dem bisher verhandelten positiven bzw. vorschreibenden Teil auch auf einen in den Bereich der menschlichen Vereinbarung und Gesetzgebung reichenden erlaubenden Teil auszuweiten. Ausgehend von einer weiteren Unterteilung der Modi naturrechtlicher Vorschriften, die ein erhebliches Verwirrungspotenzial birgt, weist Suárez seiner verästelten Unterscheidung der Zugehörigkeit von Geboten zum Naturrecht so unterschiedliche Attribute wie »positiv« und »negativ«, »vorschreibend« und »erlaubend«, »unmittelbar« oder »durch Verträge vermittelt«, »gebietend« oder »herrschaftlich«, »konzessiv«, »affirmativ«, »abhängig« oder »unabhängig vom menschlichen Willen verpflichtend« usw. zu und ordnet dies alles darüber hinaus in verschiedenen Hierarchien an. Zumindest soll hier gezeigt werden, dass die in der bisherigen Forschung, etwa von Manfred Walther oder Pauline C. Westerman12, vorgenommene Identifikation des ius naturale dominativum mit
12 Vgl. Manfred Walther: Facultas moralis. Die Destruktion der Leges-Hierarchie und die Ausarbeitung des Begriffs des subjektiven Rechts durch Suarez. Ein Versuch. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suarez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 135–159, hier S. 148–150; Westerman: The disintegration of natural law (s. Anm. 10), S. 112–114, 118; Richard Tuck: Natural rights theories. Their origin and development. Cambridge 1993, S. 55–57.
Dominik Recknagel dem erlaubenden Naturrecht sowie die beiden Thesen, dass das ius naturale dominativum die strenge Verpflichtungswirkung des ius naturale praeceptivum nicht teile und dass mit den beiden Hinsichten des ius naturale praeceptivum und des ius naturale dominativum das Naturrecht erschöpfend wiedergegeben sei, einige Akzente der von Suárez erarbeiteten differenzierteren hierarchischen Gliederung außer Acht lassen und letztlich von Suárez so nicht intendiert sein können. Zum neuerlichen Nachweis der Unveränderlichkeit des Naturrechts führt Suárez das Grundgerüst eines aus drei Ebenen der Zugehörigkeit bestehenden Naturrechts ein. In erster Weise verstehe man demnach die ureigentliche Art des Naturrechts [darin,] dass die natürliche Vernunft [ratio naturalis] – nur für sich betrachtet – verpflichtend bestimmt, etwas gehöre unabdingbar zum Bestand der sittlich richtigen Handlungen, egal ob sie diese Norm unmittelbar [sine discursu] oder vermittelt durch einen Überlegungsprozess gebietet und sich dabei eines Schrittes oder mehrerer Schritte bedient.13
Damit wären – wenig überraschend – sowohl die oben entwickelten allgemeinen und besonderen Prinzipien als auch die Schlussfolgerungen aus diesen Prinzipien für das Naturrecht erschöpfend abgebildet und Suárez bezeichnet diese Variante denn auch als maxime proprius. Er entwickelt aber noch zwei weitere Hinsichten, die ebenfalls als zum Naturrecht gehörig vorgestellt werden: Auf eine zweite Weise wird etwas als zum Naturrecht gehörend ausgegeben, indem es als nur von ihm erlaubt [permissive], entweder negativ [negative] oder als eingeräumt [concessive] ausgegeben wird [...]. Solcher Art sind zahlreiche Einrichtungen, welche mit Blick auf das reine Naturrecht erlaubt oder den Menschen zur Ausgestaltung überlassen sind, wie das Gemeineigentum, die Freiheit der Menschen und Ähnliches.14
Für diese Hinsicht – das ius naturale permissivum –, im Gegensatz zur ersten Hinsicht der verbindlichen Ge- und Verbote – das ius naturale praeceptivum –, eröffnet Suárez einen besonderen Bereich menschlicher Vereinbarung, der gleichwohl der naturrechtlichen Verpflichtungswirkung und Unveränderlichkeit unterliege. Innerhalb dieses Rahmens ist dem Menschen die Ausgestaltung 13 DL II. 14. 6, Brieskorn 543f., Vivès V, 137: »[H]ic est modus proprius iuris naturalis [...] Ad quod necesse est ut ratio naturalis per se spectata dictet aliquid esse necessarium ad morum honestatem, sive id dictet absque discursu sive ex illo, uno vel pluribus.« 14 DL II. 14. 6, Brieskorn 544, Vivès V, 137: »Alio vero modo dicitur aliquid esse de iure naturali solum permissive aut negative aut concessive [...] Talia sunt multa quae attento solo naturali iure licita sunt vel data hominibus, ut rerum communitas, hominum libertas et similia.«
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum
durch eine vernünftige Festlegung überlassen. Insbesondere der Verweis auf die natürliche Nacktheit des Menschen, die im Zustand der Unschuld nicht hätte bedeckt werden müssen, im Zustand der gefallenen Natur dagegen aber sehr wohl aufgrund vernünftiger Überlegung, lässt für diesen Bereich des suárezischen Naturrechts an die wohlbekannten traditionellen Debatten um die Änderbarkeit des Naturrechts im Zusammenhang des Sündenfalls denken, wie sie etwa bei Johannes Duns Scotus hinsichtlich der Aufhebung des Gemein- und der Einführung des Privateigentums15 prominent vertreten wurde. Eine dritte Hinsicht des Naturrechts schließlich, deren Normen zwar auf der Grundlage natürlicher Eigenschaften beruhen und dennoch nicht dem strikten Naturrecht angehören, wie etwa die natürliche Erbfolge, ordnet Suárez ohne Umschweife der Hinsicht des erlaubenden Naturrechts unter.16 Mit dieser ersten Übersicht wird bereits deutlich, dass dem ius naturale praeceptivum nicht etwa das ius naturale dominativum, das in der bisherigen Unterteilung noch gar nicht vorkam, sondern vielmehr das ius naturale permissivum entgegengesetzt wird. In einer weiteren Unterscheidung, die allein auf den Begriff des Naturrechts in der aufgeführten ersten Hinsicht des ius naturale praeceptivum beschränkt ist, eröffnet Suárez eine bemerkenswerte Aufteilung in zwei Typen von vorschreibenden Naturgesetzen: Ersterer Typus verpflichtet dabei erst, »wenn es zum Abschluss von Verträgen [pacta], Abmachungen [conventiones] und Verpflichtungen gekommen ist, die sich menschlichen Willensakten verdanken.« Zum zweiteren Typus dagegen zählen »die Naturgesetze, welche unmittelbar mit ihren Inhalten verpflichten, unabhängig von irgendeiner vorausgehenden Willensübereinstimmung [consensus] des Menschen.«17 Während der an zweiter Stelle genannte Typus des unmittelbar verpflichtenden Naturrechts noch einmal die Prinzipien moralischen Handelns und deren Schlussfolgerungen als unveränderlichen und strikt verbindlichen Teil des Naturrechts bestätigt, bezieht sich der an erster Stelle genannte Typus auf die durch Vertrag oder Versprechen gewonnenen Verpflichtungen kraft – 15 Johannes Duns Scotus: Ordinatio IV, dist. 15, q. 2. (In: Duns Scotus on the will and morality. Selected a. transl. with an introd. by Allan B. Wolter. Washington, D.C. 1986, S. 219–222). 16 DL II. 14. 6, Brieskorn 544f., Vivès V, 137: »Alio item modo dicitur aliquid esse de iure naturae quia fundamentum habet in conditione naturali, licet non simpliciter praecipiatur iure naturali, ut filium succedere patri ab intestato [...], quia licet id non praescribat omnino lex naturae, ad id inclinat et quasi naturaliter sequitur nisi aliunde impedimentum ponatur.« 17 DL II. 14. 7, Brieskorn 545, Vivès V, 138: »[...] inter praecepta iuris naturalis, quaedam esse quae versantur circa pacta, conventiones aut obligationes quae per humanas voluntates introducuntur [...] Aliae vero sunt leges naturales, quae immediate obligant in suis materiis independenter ab omni praevio consensu voluntatis hominis […].«.
Dominik Recknagel kontingenter – menschlicher Willensakte. Dennoch behauptet Suárez für beide Typen ob ihrer Zugehörigkeit zum ius naturale praeceptivum die gleiche Verpflichtungswirkung: »Beide Arten dieser Vorschriften teilen dieselbe sittliche Verpflichtung, da beide im formalen Sinn Recht sind; und infolgedessen weisen sie auch dieselbe Unveränderlichkeit und Unwandelbarkeit als Charakteristikum auf.«18 Zudem muss hier betont werden, dass aufgrund der vorgestellten Hierarchisierung der Typus des Naturrechts der durch Vertrag oder Versprechen gewonnenen Verpflichtungen nicht etwa mit dem oben vorgestellten ius naturale permissivum, dem Bereich der Ausgestaltung durch menschliche Vereinbarung wie Eigentum und Freiheit, übereinstimmen kann. So führt Suárez, offenbar eine mögliche Verwechslungsgefahr berücksichtigend, hier als Beispiele für einen entsprechenden Regelungsbereich »Gesetze über die Erfüllung der Gelübde und die menschlichen Versprechen, mögen sie einfacher Art oder durch einen Eid bestärkt sein«19, an. Während der Nachweis der Unveränderlichkeit des zweiten Typs, der Naturgesetze, die unmittelbar mit ihrem Inhalt verpflichten, laut Suárez bereits oben in Kapitel 13 geleistet wurde, gestaltet sich ein entsprechender Nachweis für den ersten Typus, der durch Vertrag oder Versprechen gewonnenen Verpflichtung, durchaus anders. Suárez vermeidet dabei selbstverständlich, die Unveränderlichkeit naturrechtlicher Vorschriften in den Regelungsgegenständen zu finden, die der menschlichen Willkür entspringen: »Der Grund dafür ist aber kein anderer als der, dass es überhaupt nicht gegen das Naturgesetz verstößt, jenen Regelungsgegenstand zu ändern und auszuwechseln, weil ihn der menschliche Wille ändern darf und dieser Wille selbst sich ändern darf.«20 Die unveränderbare natürliche Verpflichtungswirkung dringt bis zum jeweiligen menschlichen Willen vor: »Ist aber eine solche Änderung im Willen geschehen, so stellt es gar keinen Verstoß gegen irgendetwas dar, dass die Verpflichtung
18 Ebd.: »Et in utroque genere istorum praeceptorum est eadem necessitas quoad formalem rationem iuris et consequenter eadem invariabilitas et immutabilitas.« Vgl. zum Naturrechtsbegriffspaar ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum: Westerman: The disintegration of natural law (s. Anm. 10), S. 111–120; Walther: Facultas moralis (s. Anm. 12), S. 150– 155. 19 DL II. 14. 7, Brieskorn 545, Vivès V, 138: »[...] ut sunt leges de servandis votis et promissionibus humanis, sive simplicibus, sive juramento conformitatis [...]« 20 DL II. 14. 11, Brieskorn 551, Vivès V, 139: »Ratio autem non est alia nisi quia materiam illam mutari vel variari non est contra legem naturalem, quia pendet ex voluntatis mutatione.«
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum
des Naturgesetzes beseitigt wird, vielmehr weicht die Verpflichtung von sich aus und hört auf zu verpflichten.«21 Die Unveränderlichkeit der naturrechtlichen Verpflichtung bleibt damit unabhängig von den jeweiligen Inhalten menschlicher Vereinbarung. Allein der menschliche Wille, der sich in den Verträgen, Abmachungen, Versprechen, Gelübden und Eiden ausdrückt, wird zum Träger einer naturrechtlichen Verpflichtungswirkung.22 Die naturrechtliche Verpflichtung heißt dann im Sinne der allgemeinen naturrechtlichen Norm pacta sunt servanda: »Erfülle Deine Verträge!« oder »Halte Deine Versprechen!«. Diese Norm stellt nach Suárez die unveränderliche Komponente dieses Typs von Naturrecht dar, die auch durch die Veränderung des Regelungsgegenstandes, etwa einer Schuld durch einen Schuldenerlass, nicht aufgehoben werden kann. Insofern stellt dieser Nachweis der Unveränderlichkeit nur eine konsequente Weiterentwicklung des bereits geleisteten Nachweises für die unmittelbar durch ihre Inhalte verpflichtenden Ge- und Verbote dar. Denn die dort auf unterster Ebene zu berücksichtigenden Klauseln zur Beurteilung des Einzelfalls werden hier durch die menschlichen Vereinbarungen ergänzt, die ihrerseits der Änderung unterliegen können, deren jeweilige verpflichtende Beachtung selbst aber unveränderlich bleiben muss. Im Übrigen ist hier auch der Ursprung der naturrechtlichen Verpflichtung des Einzelnen zur Beachtung der positiven menschlichen Gesetzgebung hinreichend geklärt. Schließlich stellt Suárez noch klar, dass menschliche Vereinbarungen und Gesetze, die dem Primat der naturrechtlichen Prinzipien bzw. deren Schlussfolgerungen widersprechen, ungültig sind: Das Naturrecht ist die Grundlage des menschlichen Rechts; also kann das menschliche Recht nicht das Naturrecht unwirksam machen; […] das, was gegen das Naturrecht aufgestellt wird, [ist] aus sich heraus schlecht […]. Also würde sich jenes menschliche Recht eine intrinsisch schlechte Sache zu eigen machen, folglich wäre es weder Recht noch Gesetz.23
21 Ebd.: »Facta autem tali mutatione, non solum non repugnat auferri obligationem legis naturalis, sed etiam ipsa per se cessat ac desinit obligare.« 22 Vgl. DL II. 14. 7, Brieskorn 545, Vivès V, 138. 23 DL II. 14. 8, Brieskorn 547, Vivès V, 138: »[...] ius naturale est fundamentum humani iuris. Ergo non potest ius humanum iuri naturale derogare [...] quod est contra ius naturae intrinsece malum est. Ergo illud ius humanum esset de re intrinsece mala et consequenter non esset ius neque lex.«
Dominik Recknagel Damit ist die menschliche Gesetzgebung auch immer auf moralische, vernunftrechtliche Werte verpflichtet, da diese für die Gültigkeit der Gesetze entscheidend sind. Die bisherige Erörterung der Unveränderlichkeit des Naturrechts kam gänzlich ohne den Begriff des ius naturale dominativum aus. Damit wäre es auch voreilig gewesen, einer oder vielleicht mehrerer der bisher genannten Varianten diesen Begriff zuzuordnen. Welcher Umstand also ist es, der Suárez veranlasst, diesen Begriff einzuführen? Es ist der von Suárez heftig bestrittene, aber niemals tatsächlich ausgeräumte erste Einwand des Juristen Fortunius Garcia de Ercilla, dass gemäß der vorgenommenen Beschreibung des erlaubenden Naturrechts »die Freiheit nicht stärker als die Knechtschaft und die Gütergemeinschaft nicht weniger als die Gütertrennung vom Naturrecht gedeckt«24 sei. Denn während die weiteren Einwände Garcias, die eine willkürliche Freiheitsberaubung oder Herrschaftsinanspruchnahme thematisieren und hinsichtlich einer konkreten bestehenden Rechtsordnung als gegenstandslos bezeichnet werden müssen, trifft der erste grundsätzliche Einwand genau die Schwachstelle des suárezischen Systems zwischen gebietendem und erlaubendem Naturrecht. Will Suárez die bekannten Fälle des Wandels vom Gemein- zum Privateigentum oder von einer ursprünglichen Freiheit zur legitimierten Sklaverei innerhalb seines Naturrechtssystems dem Bereich des Erlaubten zuordnen, dann bleibt ihm eben nicht mehr die Möglichkeit, eine naturrechtliche Präferenz des einen vor dem anderen abzuleiten. Doch genau das tut er mit Hilfe der Einführung des Begriffs des ius naturale dominativum. Hatte Suárez noch für das erlaubende Naturrecht, das für Gemeineigentum und Freiheit zuständig war, ausdrücklich festgestellt, dass es sich in negativer Weise – nicht verbietend oder gebietend, sondern zulassend – verhalte, bestimmt er nun das ius naturale dominativum für denselben Inhalt so, dass das Naturrecht die Freiheit in positiver und nicht in bloß negativer Weise versteht, weil es die Natur selbst ist, die dem Menschen eine wahre Herrschaft über seine Freiheit zugeteilt hat. Auch die Gütergemeinschaft würde, wenn und solange keine Privateigen-
24 DL II. 14. 15, Brieskorn 555, Vivès V, 140: »Quia juxta illam distinctionem non magis libertas quam servitus, nec magis communitas quam divisio rerum esset de jure naturae...«. Suárez setzt sich hier mit den Thesen des Juristen Fortunius Garcia de Ercilla (Commentaria de iustitia et iure. Lyon 1532) auseinander, der eine vom Naturrecht gestützte Beliebigkeit zwischen Freiheit und Knechtschaft bzw. zwischen Gütergemeinschaft und Gütertrennung erkannt haben wollte, sowie die Rechtfertigung von spontaner Freiheitsberaubung oder Herrschaftsergreifung durch das negative Naturrecht gedeckt sah.
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum
tumsordnung errichtet worden wäre, kraft des Naturrechts in gewisser Weise dem Herrschaftsrecht des Menschen entsprechen.25
Zweifellos kann es bemerkenswert erscheinen und in einer Untersuchung der ideengeschichtlichen Entwicklung hin zur Proklamation von Menschenrechten durchaus als bahnbrechend zu bezeichnen sein, wenn Suárez der menschlichen Freiheit die Qualität eines ursprünglichen natürlichen und subjektiven Rechts der Person zuspricht, und wenn er postuliert, »dass der Zustand der Freiheit mehr als jener der Knechtschaft dem Naturrecht entspricht.«26 In seinen Naturrechtsentwurf selbst allerdings lässt sich ein solches Postulat nicht integrieren. Im Gegenteil, es widerstreitet der eingangs dargelegten Hierarchie naturrechtlicher Regelungen, eben weil es dem negativ verstandenen erlaubenden Naturrecht völlig unbegründet und systematisch unvereinbar wiederum positive Regelungen bzw. Graduierungen unterstellt. Wenn Suárez proklamiert, dass die »Natur [...] die Menschen positiv [...] zu freien Wesen mit einem in ihrem Innersten verankerten Recht auf Freiheit ausgestattet, [...] sie jedoch nicht in der erwähnten positiven Weise zu Sklaven gemacht«27 hat, und dabei nun ausdrücklich die Positivität der Regelung betont, dann kann er folgerichtig seine Bestimmungen des ius naturale dominativum nicht dem erlaubenden Naturrecht, das systematisch keine positiven Regelungen enthalten kann, sondern müsste diese dem vorschreibenden Naturrecht, also dem ius naturale praeceptivum, zu- und unterordnen. Hätte Suárez dies beabsichtigt, wäre die ursprünglich unternommene systematische Unterteilung ganz nutzlos geworden. Denn das unmittelbare Folgeproblem bestünde darin, 25 DL II. 14. 16, Brieskorn 557f., Vivès V, 141: »[S]ic verum est libertatem esse de iure naturali positive et non tantum negative, quia ipsa natura verum dominium contulit homini suae libertatis. Communitas etiam rerum aliquo modo pertineret ad dominium hominum ex vi iuris naturae, si nulla esset facta rerum divisio [...].«. Vgl. Walther: Facultas moralis (s. Anm. 12), S. 152f. Walther stellt diese positive Weise des Verständnisses der menschlichen Freiheit der von Pauline C. Westerman als für das Leben bloß rhetorische Relevanz besitzend und der Autorität unterworfen beschriebenen negativen Weise gegenüber (vgl. Westerman: The disintegration of natural law [s. Anm. 10], S. 125–128). Westerman zieht diese positive Weise des Verständnisses in Zweifel: »Suárez leaves no doubt about his view that the materia of the laws dealing with liberty is just as liable to change as the laws concerning property.« (S. 115). Die Begründung erfolgt mit Verweis auf die Stelle DL II. 14. 19, Brieskorn 560f., Vivès V, 141. Vgl. auch DL III. 30. 5, Vivès V, 294, an der Suárez ein höheres Recht des Gemeinwesens zugunsten der rechten Regierung über das individuelle Freiheits- und Eigentumsrecht des Bürgers stellt. 26 DL II. 14. 16, Brieskorn 558, Vivès V, 141: »Nam hac ratione libertas est de jure naturae, potius quam servitus [...].« 27 Ebd.:»[Q]uia natura fecit homines positive (ut sic dicam) liberos cum intrinseco jure libertatis, non tamen ita fecit positive servos, proprie loquendo.«
Dominik Recknagel dass aufgrund der systematisch eindeutigen positiven Vorentscheidung des ius naturale praeceptivum für oder gegen eine bestimmte Regelung die Zulässigkeit des Nebeneinanders von Gemein- und Privateigentum und vor allem von Freiheit und Sklaverei in Frage stünde, die Suárez doch zu retten beabsichtigte und für die er eigens den Bereich des erlaubenden Naturrechts konstruiert hatte. Wenn er hier den Bereich eines »neutralen« erlaubenden Naturrechts verlässt, indem er in einer Vorentscheidung das natürliche Primat der Freiheit über die Sklaverei beschließt, entscheidet er sich zugleich gegen die für das erlaubende Naturrecht konstitutive negative Bestimmung über den Vorzug einer Regelung über die andere. Eine mögliche alternative Zuordnung des ius naturale dominativum zur anderen Variante des ius naturale praeceptivum, nämlich zum Typus der aus menschlichem Vertrag oder Versprechen abgeleiteten naturrechtlichen Verpflichtung des pacta sunt servanda, kommt dabei noch weniger in Frage, da eine Disposition der Freiheit aus der Natur kaum der willkürlichen menschlichen Verfügbarkeit unterworfen werden kann, denn dies würde das Problem der Wandelbarkeit nur verschärfen. Andererseits besteht Suárez in einem neuerlichen Versuch der Entscheidungsfindung über die Änderbarkeit des ius naturale dominativum nunmehr doch auf der menschlichen Verfügbarkeit: »Obwohl die Freiheit und alle aus ihr fließende Herrschaft eine Gabe der Natur ist, so hat sie dennoch nicht absolut verboten, diese Freiheit aufzuheben. Denn gerade dadurch, dass der Mensch Herr seiner Freiheit ist, kann er sie veräußern bzw. sich fremder Gewalt unterstellen.«28 Wertet man dieses Zugeständnis der menschlichen Verfügbarkeit über die eigene Freiheit als vorerst letztes Wort Suárez’ zum Thema, dann ist eine entsprechende Entscheidung über die Zuordnung des ius naturale dominativum unausweichlich. Dieses muss, wie es auch bereits die ursprüngliche sachliche Zuordnung der Freiheits- und Eigentumsproblematik nahelegte, dem erlaubenden Naturrecht (ius naturale permissivum) zugeordnet werden, und dies mit der Konsequenz, dass der behauptete natürliche Vorzug der Freiheit vor der Sklaverei und der des Gemeineigentums vor dem Privateigentum ganz im Sinne des Einwands von Fortunius Garcia de Ercilla systematisch nicht in die entworfene Hierarchie des Naturrechts passt. Für die Naturrechtslehre des Suárez bleibt festzuhalten, dass der beschriebene Entwurf des Nebeneinanders von vorschreibendem und erlaubendem 28 DL II. 14. 18, Brieskorn 560, Vivès V, 141: »[Q]uamvis natura dederit libertatem et dominium ejus, non tamen absolute prohibuisse, ne auferri possit. Nam imprimis eo ipso quod homo est dominus suae libertatis, potest eam vendere seu alienare.«
ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum
Naturrecht in die Lage versetzt, jegliche Änderungen naturrechtlicher Regelung auszuschließen. Im Gegensatz zur möglichen Änderbarkeit der aus obersten Prinzipien gewonnenen Schlussfolgerungen bei Thomas von Aquin setzt Suárez ein aus Prinzipien und deren auch entferntesten Schlussfolgerungen bestehendes unveränderliches naturrechtliches Gebäude, das durch die Ausweitung des Regelungsbereichs auf die vernunftrechtliche Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls trotz der damit verbundenen Probleme der Kontingenz und der Vergleichbarkeit als widerstandsfähiges Rechtssystem aufgefasst werden kann.29 Das Naturrecht eröffnet dabei in seinem erlaubenden Anteil einen Freiraum menschlicher Rechtsgestaltung, dessen Inhalte durch den Grundsatz des pacta sunt servanda bezüglich positivrechtlicher Vorschriften selbst wieder naturrechtlich verbindlich verankert sind, allerdings dann einer von Suárez selbst hinsichtlich der Freiheit unternommenen problematischen Vorentscheidung über einen naturrechtlichen Vorzug im Sinne des ius naturale dominativum entzogen werden müssen.
29 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 2002, S. 357. Böckenförde erkennt in diesem Systemansatz von Suárez die Grundlegung für den »spätere[n] Ausbau des Naturrechts zu einem deduktiv abgeleiteten System naturrechtlicher Sätze, wie er sich unter führenden Rechtsphilosophen der beiden folgenden Jahrhunderte ergeben sollte«. Allerdings ist sich schon der »Vorläufer« Suárez im klaren darüber, dass eine vollständige (schriftliche) Entfaltung des Naturrechts und sämtlicher Klauseln und Einschränkungen nicht möglich ist, denn »natürlich kann man diese gar nicht alle im begrenzten Rahmen eines Gesetzes, das Menschen verfassen, aufführen und ausformulieren.« (DL II. 13. 6, Brieskorn 530, Vivès V, 134: »[N]ec in forma legis humano modo positae omnia declarari possunt.«)
Kurt Seelmann
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts Kann das Naturrecht sich wandeln, darf man es ändern? Das ist eine Frage, die an die Fundamente unseres Rechtsverständnisses rührt. Mehr noch, sie rührt an die Fundamente unseres Verständnisses von Recht, Moral und Religion, spielen Normen und ihre Verbindlichkeit doch mindestens in diesen drei Gebieten eine ganz entscheidende Rolle. Ob und von wem solche Normen geändert werden dürfen, hängt von mancherlei wichtigen Umständen ab, etwa davon, wer der Normgeber ist, wie und wem gegenüber Normen zu begründen sind, wie stark die Geltung welcher Normen im Fall von Normenkollisionen ist und wie es um die Geschichtlichkeit und Kulturabhängigkeit von Normen steht. Man muss nur an ganz aktuelle Debatten um Begründung, Ausgestaltung und Durchsetzung von Menschenrechten denken, um sich klar zu machen, wie sehr solche Grundsatzfragen nichtpositiver Richtigkeitskriterien uns heute noch in ihren Bann ziehen.
Suárez’ Änderungsverbot und die Vorgeschichte Wenn man bei der Behandlung solcher Fragen in erster Linie Franciso Suárez zu Rate zieht, so kann man dies allein schon mit seinem im Jahr 1612 erschienenen bedeutsamen Werk über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, De Legibus ac Deo Legislatore, begründen. Es steht am Ende jener großen und wissenschaftlich so fruchtbaren Epoche der Spanischen Spätscholastik – oder, was die Bedeutung und die innere Spannung dieser Zeit noch mehr betont – der »Renaissance-Scholastik«. Somit erfährt man viel bei Suárez über diese seine Epoche, über seine berühmten Vorgänger und Vordenker und deren wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Hinzu kommt aber, dass Suárez nicht einfach als Kommentator und Zusammenfasser auftritt, der eine Summe aus dem Bisherigen zu ziehen trachtet. Auch das tut er zwar, aber für uns interessant wird sein Werk über die Gesetze noch mehr aus dem Grund, weil er eine beeindruckende Selbständigkeit des Denkens an den Tag legt und Gesammeltes nicht nur ausstellt und ausbreitet, sondern befragt, verwirft, weiterentwickelt und neu ordnet.
Kurt Seelmann
. Suárez’ Änderungsverbot Fragt man im Text von Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore nach seiner Sicht von einer Wandelbarkeit des Naturrechts, so scheint die Antwort, zunächst jedenfalls, klar und eindeutig: Das Naturrecht verändert sich nicht, es ist also unwandelbar und universell. So ist von vornherein keine Normenänderung insgesamt möglich, keine Änderung des Gesetzes als solchen, so erklärt uns eindeutig das 13. Kapitel des zweiten Buches in diesem seinem Werk. Weiter können der Mensch und selbst Gott auch nicht im Einzelfall von Normen des Naturrechts einen Dispens erteilen, so belehren das 14. und das 15. Kapitel im selben zweiten Buch des genannten Werks. Und schließlich kann auch der Gedanke der Interpretation nach Billigkeit Naturrecht nicht ändern im Sinne von verbessern oder mildern, sei das Naturrecht doch eindeutig und bedürfe keiner Interpretation – so schreibt Suárez es im anschließenden 16. Kapitel.
. Die Tradition vor Thomas von Aquin Mit dieser Position kann sich Suárez durchaus in einem weiten Umfang auf die Tradition vor ihm berufen. Gern hat man hierfür immer auf den großen Begründer einer systematischen Sammlung des Kirchenrechts, Gratian, verwiesen, der im 12. Jahrhundert, und dies unter Rückgriff auf den Naturrechtsbegriff des Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert,1 feststellt, dass ein Dispens vom Naturrecht nicht möglich sei: »Item adversus naturale ius nulla dispensatio admittitur«,[2] und an anderer Stelle: »Naturale ius ... manet immobile«3 – sei doch das Naturrecht nichts anderes als der von Gott in die menschliche Natur gelegte Schöp-
1 Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W.M.Lindsay, tomus I-II, Oxford 1911, V 4,1. 2 Gratian: Decretum Magistri Gratiani. Cur. Emil Ludwig Richter, instr. Emil Friedberg. Leipzig 2 1879, Sp. 31 (Dictum Introductorium in D. XIII), vgl. dazu Sten Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung. Stockholm u.a. 1960, S. 181. 3 Gratian: Decretum Magistri Gratiani (s. Anm. 2), Sp. 11 (D. VI, C. 3). Vgl. demgegenüber die neuere Nachkriegs-Naturrechtstradition etwa bei Johannes Messner: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Innsbruck et. al. 51966, wonach der Gedanke einer Änderung des Naturrechts völlig unproblematisch erscheint, vgl. etwa S. 119: »Mit der Kulturentwicklung entstehen völlig neue Forderungen des Naturgesetzes [...] Das sittliche Bewusstsein von einzelnen Völkern und der Menschheit im Ganzen unterliegt der Entwicklung.« Auf diese neuere Tradition des Naturrechts wird im Folgenden nicht eingegangen.
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts
fungsplan.4 Menschliches Recht sei deshalb nur dann zu befolgen, wenn es nicht vom Naturrecht abweiche.5 Auf der anderen Seite war die Lehre von der dispensatio »in der klassischen Kanonistik ein überaus zentrales Problem«,6 ja die klassische Kanonistik wird heute mitunter gar als die Geschichte der Lehre von den Grenzen des Naturrechts geschildert – war doch jeder Naturrechtsverstoß ein peccatum mortale und lag es somit auch im Interesse kirchlicher Gesetzgebung, die Grenzen der Verbindlichkeit von Naturrecht aufzuzeigen.7 Auch Gratian ist in seiner Lehre von der Dispensfeindlichkeit des ius naturale keineswegs konsequent, sondern lässt eine dispensatio zu »nisi forte duo mala ita urgeant ut alterum eorum necesse sit eligi«,8 wofür das klassische Beispiel in dem Schwur bestand, einen anderen zu töten. Das naturrechtliche Gebot, einen Schwur einzuhalten, musste hier zurücktreten hinter das ebenfalls naturrechtliche Tötungsverbot.9 Dies ist ein erster Weg zum Abweichen von einer Norm des Naturrechts. Allerdings gab es auch schon in dieser Zeit noch einen anderen, zweiten Weg aus der Unveränderlichkeit des Naturrechts heraus – nämlich den, dass man die jeweilige Norm nicht als Naturrecht im eigentlichen Sinn kennzeichnete, sondern durch den Ausschluss aus diesem engeren Kreis wandelbar machte. Communis opinio bei Dekretisten und Dekretalisten war hierfür die Unterscheidung des Rufinus im Hinblick auf die Gebote der Bibel, deren Normen Gratian grosso modo zum Naturrecht gezählt hatte und die Rufinus dann in – unwandelbare – »moralia« und – wandelbare – »ceremonialia« unterschied.10
. Thomas von Aquin Thomas von Aquin hat ein Jahrhundert später, im 13. Jahrhundert, daran angeknüpft: Unwandelbar sind für ihn die ersten, obersten Prinzipien des Natur-
4 Gratian: Decretum Magistri Gratiani (s. Anm. 2), Sp. 7 (Dictum Introductorium in D. V), vgl. dazu Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (s. Anm. 2), S. 183. 5 Ebd., S. 184. 6 Ebd., S. 181. 7 Ebd., S. 185. 8 Gratian: Decretum Magistri Gratiani (s. Anm. 2), Sp. 31 (Dictum Introductorium in D. XIII), vgl. Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (s. Anm. 2), S. 181. 9 Gratian: Decretum Magistri Gratiani (s. Anm. 2), Sp. 31 (in D. XIII, C. 1). 10 Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (s. Anm. 2), S. 186. Für Gratian galt noch allgemein: »Ius naturale est, quod in lege et evangelio continetur.« (Gratian: Decretum Magistri Gratiani [s. Anm. 2], Sp. 1 [in D. I, C. 1]).
Kurt Seelmann rechts, da sie einfach zu erkennen11 und dem menschlichen Herzen nach dem Römerbrief (2.15) eingeschrieben, »scriptum in cordibus hominum«, seien.12 Sofern aus diesen obersten Prinzipien aber Schlüsse gezogen werden, woraus dann ein konkreteres Naturrecht zweiter Ordnung entsteht, kann dieses Naturrecht zweiter Ordnung sich bei Thomas wandeln – allerdings nur weil und nur insofern sich der Gegenstand wandelt, der durch dieses Naturrecht geregelt wird – eine dritte Legitimation zum Abweichen vom Naturrecht, die uns später bei Suárez dann immer wieder begegnen wird als eine von der geregelten Sache her einschränkende Relativität der weiterhin universell geltenden Norm.13 Ein Beispiel ist bei Thomas wie schon in langer Tradition vor ihm das »Depositum«, dessen philosophische Bedeutung ja bis Kant und Hegel in einem umgekehrten Verhältnis zu seinem juristischen Nischendasein steht. Man soll Anvertrautes zurückgeben, um das Vertrauen zu schützen – Waffen aber muss man nicht an einen Verrückten zurückgeben und Geld nicht an jemand, der das Vaterland damit kriegerisch bekämpft.14 Aber auch Rufinus’ Differenzierungen hinsichtlich der Normen des »Alten Testaments« hält er aufrecht und differenziert sie weiter.15 Über die Interpretation glaubt Thomas allerdings Naturrecht nicht ändern zu können, denn die naturrechtlichen Regeln seien, anders als menschliches Recht, »per se nota« und folglich nicht der Interpretation bedürftig.16
. Duns Scotus U.a. Duns Scotus, wieder ein Jahrhundert später, im 14. Jahrhundert, greift die Problematik auf und unterscheidet, anders als Thomas, drei Stufen des Naturrechts. Anders auch als Thomas hält er nämlich ebenfalls auf der zweiten Stufe, derjenigen der unmittelbaren Schlussfolgerungen aus den obersten Grundsätzen, eine Änderung des Naturrechts nicht für möglich, da es sich auch bei den Schlussfolgerungen um logisch zwingende Ableitungen aus den obersten Prin-
11 Ausführlich dazu Robert Schnepf: Francico Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 75–108, hier S. 81; bei Thomas von Aquin: STh I–II, q. 94 art. 5. 12 »Scriptum in cordibus hominum«, den Herzen der Menschen eingeschrieben, vgl. die Referenz auf Paulus auch noch bei Suárez DL II. 5. 10, Pereña III, 67. 13 Schnepf: Veränderbarkeit (s. Anm. 11), S. 81. 14 STh I–II, q. 94, art. 4, resp., DThA 13, 82f.; Schnepf: Veränderbarkeit (s. Anm. 11), S. 81. 15 Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (s. Anm. 2), S. 187. 16 Schnepf: Veränderbarkeit (s. Anm. 11), S. 83f.
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts
zipien handle – seien diese unwandelbar, so auch jene.17 Die Gebote auf einer weiteren, der dritten Stufe, stimmen zwar mit denen der anderen Stufen zusammen, sind wertungsmäßig mit ihnen konsistent, folgen aber nicht logisch aus ihnen und können deshalb gewandelt werden. Zu diesen Normen der dritten Stufe gehört für Duns Scotus aber fast alles, was das Verhältnis zwischen Menschen regelt, nämlich die gesamte zweite Tafel des Dekalog und damit auch das Tötungsverbot und alle anderen im Verhältnis zwischen Menschen geltenden Verbote in diesen 10 Geboten.18 Einzig und allein die drei ersten Gebote, also die der ersten Tafel, die nur das Verhältnis Mensch-Gott festlegen, sind unwandelbar und gehören zum absolut geltenden Naturrecht. Die Gebote der zweiten Tafel folgen nicht zwingend aus denen der erste Tafel und rufen deshalb geradezu nach einer positiv-rechtlichen Regelung, die sich um die Interpretation der grundlegenden naturrechtlichen Normen bemüht. Deshalb wird Duns Scotus ja gerne zum Ahnherrn einer Philosophie von der Dignität des positiven Rechts erklärt.19 Wenn auf der dritten Stufe aber auch interpretiert werden darf, ja muss, bedeutet dies seit den Glossatoren nicht nur, dass dunkle Stellen aufzuhellen wären, sondern auch, dass Gesetze auf Grund einer anderen Interpretation der Grundregeln verändert werden dürfen,20 eine vierte Gelegenheit zur Abweichung vom Naturrecht neben derjenigen der Güterkollision, der Ebenen-Differenzierung des Alten Testaments und der Veränderung der Umstände. Allerdings kann sich Duns Scotus durchaus auch eine revocatio göttlicher Gebote ganz direkt durch Gott vorstellen, ist für ihn Gottes Wille doch keinesfalls von vornherein an eine ewig unveränderliche göttliche Vernunft gebunden. Der Sündenfall veranlasst seiner Auffassung nach Gott, ein praeceptum, etwa das des »omnia communia«, zurückzunehmen21 – eine Vorstellung, in der ihm etwa Wilhelm von Ockham folgt.22 Andere Autoren, wie Conradus Summenhart, lösen dieselbe Problematik dadurch, dass das praeceptum von vornherein nur für den Zustand vor dem Sündenfall aufgestellt worden sei, es einer 17 Überblick ebd., S. 85. 18 Ebd., S. 85. 19 Hans Welzel: Naturrecht und Rechtspositivismus. In: Naturrecht oder Rechtspositivismus? Hg. von Werner Maihofer. Darmstadt 1966, S. 322–338. 20 Schnepf: Veränderbarkeit (s. Anm. 11), S. 85. 21 Johannes Duns Scotus: Quaestiones in lib. I-IV Sententiarum. In: Ders.: Opera Omnia. Vol. V-X. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Lyon 1639. Hildesheim 1968, dist. 15, q. 2, n. 5. 22 Wilhelm von Ockham: Breviloquium de principatu tyrannico. In: Richard Scholz: Wilhelm von Ockham als politischer Denker und sein Breviloquium de prinipatu tyrannico. Unveränd. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1944. Stuttgart 1952, Lib. III, cap. 7.
Kurt Seelmann revocatio durch Gott folglich gar nicht bedurft hatte.23 Auch so, mit dem Sündenfall-Einschnitt, lässt sich in einer fünften Variante das Gebot als solches formal aufrecht erhalten, nämlich für Menschen »qui sunt naturae integrae, non corruptae«,24 aber de facto doch davon abweichen, da eben die Voraussetzungen vor dem Sündenfall nicht mehr bestehen, d.h. es die integren Menschen vor dem Sündenfall eben nicht mehr gibt, für die allein die ursprüngliche Norm galt.
. Die unmittelbare Vorgeschichte in der Spanischen Spätscholastik Aber auch in der unmittelbaren Vorgeschichte, bei anderen Autoren der Spanischen Spätscholastik, wird die Frage der Veränderbarkeit von Naturrecht debattiert, auch hier im Sinne einer prinzipiellen Unmöglichkeit einer solchen Veränderung bei zugleich vorhandenen Möglichkeiten des Abweichens, die aber nicht ausdrücklich als Ausnahmen kenntlich gemacht werden, sondern deren Ausnahmecharakter explizit bestritten wird. Betrachten wir auch hier die Situation anhand des im 16. Jahrhundert insbesondere wegen der wirtschaftlichen Entwicklung besonders bedeutsamen Beispiels von der Verabschiedung des Gemeineigentums durch das Privateigentum. Die Autoren der Spätscholastik des 16. Jahrhunderts, hierin ihren Vorläufern entsprechend, gingen vom Naturrechtscharakter des Gemeineigentums aus – und doch zugleich auch davon, dass zu ihrer Zeit Privateigentum zu Recht bestehe. »A principio mundi omnia erant communia«25 meint der Dominikaner Francisco de Vitoria und auch sein Ordensbruder Domingo de Soto pflichtet ihm bei, dass »iure naturali omnia sunt communia«.26 Auch für den weltlichen Juristen Fernando Vázquez gilt selbstverständlich, dass »initio rerum [...] omnia erant communia«,27 wofür er sich, wie alle seine Zeitgenossen, auf Gratians Dekret beruft, wo es im Introductorium zu D. 8, c. 1 heißt: »Nam iure naturae sunt omnia communia omnibus«. Und dennoch waren alle Autoren von der 23 Conradus Summenhart: Septipertitum opus de contractibus pro foro conscientiae atque theologico. Hagenau 1515, tract. 1, q. 10 24 Ebd. 25 Francisco de Vitoria: De iustitia. Tom. 1. Ed. Beltran de Heredia. Madrid 1934, q. 62, art. 1 nr. 9. 26 Domingo de Soto: Libri decem de iustitia et iure. Lugduni 1569, lib. IV, q. 3, a. 1. 27 Fernando Vázquez: Controveriarum illustrium aliarumque usu frequentium libri tres. Barcelona 1563, lib. I, cap. 4, nr. 2.
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts
Legitimität des Privateigetums zumindest an Land – zum Meer gab es eine spezielle Diskussion – im Prinzip jedenfalls überzeugt. Wie ließ sich das vereinbaren: omnia communia, das Gemeineigentum, gehört zum unwandelbaren Naturrecht, und doch hat es sich zum dominium in particulari, zum Privateigentum, gewandelt? Die Argumentationen sind unterschiedlich. Vitoria und Soto bedienen sich einer Differenzierung innerhalb des Naturrechts. Das »omnia communia« sei kein naturrechtliches Gebot, sei überhaupt nicht normativ gemeint, sondern, wie Vitoria sagt, eine bloße »concessio«, eine bloße Erlaubnis, von der menschliches Recht jederzeit abweichen konnte.28 Ähnlich formuliert es Soto, der in Bezug auf das Privateigentum davon ausgeht: »lex naturalis [...] permisit«,29 also das Naturrecht hat es zugelassen, nicht gefordert. Auch dies war eine Möglichkeit, die sechste, die Möglichkeit des Abweichens vom Naturrecht in das formal unwandelbare Naturrecht zu integrieren. Ganz anders argumentiert Vázquez, für den das »omnia communia« im scotistischen Sinn ein echtes Gebot ist, das aber – entgegen Duns Scotus – nicht durch eine revocatio sondern im Wege einer Prinzipienkollision, weil das Privateigentum zu einem sorgsameren Umgang mit Ressourcen führe und Hungersnöte eher verhindere, aufgehoben werden dürfe.30 Gratians eher nebenher und ausschließlich für die dispensatio gemachte Bemerkung von den beiden Übeln, deren kleineres zu wählen sei, erlebt im 16. Jahrhundert eine Anwendung als allgemeines Prinzip – die siebte Möglichkeit – in unserer Zählung – von unwandelbarem Naturrecht abzuweichen.
Suárez’ Wege einer Relativierung des Änderungsverbots Was macht nun Suárez aus diesem Stand der Debatte? Zunächst fällt auf, dass Suárez die Diskussion um die Änderbarkeit von Naturrecht weit intensiver, sowohl umfassender als auch genauer, führt als seine Vorgänger. Thomas’ Ge-
28 Vitoria: De iustitia (s. Anm. 25), tom. 1, q. 62, art. 1, nu. 20. 29 Soto: Libri decem de iustitia (s. Anm. 26), q. 3, a. 1. 30 Ausführlich zu dieser Argumenation von Vázquez vgl. Kurt Seelmann: ›Ius naturale‹ und ›ius gentium‹ bei Fernando Vázquez de Menchaca. In: Kontroversen um das Recht : Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez. Hg. von Kirstin Bunge et. al. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 235–260, hier S. 237ff., S. 249ff.
Kurt Seelmann setzestraktat »de legibus« in der Ia IIae, wo Thomas Fragen der Änderbarkeit in den Quaestiones 90, 91, 93, 94 und 97 aufgreift, wird bei Suárez weit ausholend kommentiert, zum Teil ohne Vorlage weiterentwickelt und schließlich in wechselseitigen Verschränkungen entfaltet.31 Schon in Suárez’ erstem Buch, De legibus in communis, ist ein Kapitel der Wandelbarkeit des Rechts gewidmet. Im zweiten Buch, das sich mit lex aeterna, lex naturalis und ius gentium befasst, sind es – verglichen mit einem Kapitel zur Wandelbarkeit bei Thomas – vier Kapitel, die Erscheinungsformen der Wandelbarkeit aufgreifen: Es geht, jeweils beim Naturrecht, um allgemeine Normänderungen im 13. Kapitel, um die Frage, ob es einen durch Menschen veranlassten Dispens vom Naturrecht gibt im 14. Kapitel, ob Gott vom Naturrecht dispensieren kann im 15. Kapitel, und im 16. Kapitel wird entschieden, ob eine Interpretation nach Billigkeit Änderungen gestattet. Schließlich ist auch noch insbesondere im 17. Kapitel das ius gentium, das, wie wir sehen werden, in einer gewissen Nähe zum Naturrecht steht, ein möglicherweise taugliches Instrument, um die Änderbarkeit von fundamentalen Normen zu gewährleisten. Zwei ganze Bücher schließlich, das sechste und das siebte, gelten im Werk von Suárez verschiedenen Fragen im Umkreis der Änderbarkeitsproblematik bei Gesetzen.32 Bei der Debatte über die Möglichkeit von Änderungen des Naturrechts geht Suárez in folgender Reihenfolge vor: Im 13. Kapitel erwähnt er die Möglichkeit einer göttlichen revocatio, nennt die Möglichkeit einer Änderung der Umstände, einen Spielraum bei Handlungspflichten und die Möglichkeit, dass Änderungen dem Gesetz selbst als Ausnahmen schon immanent sind. Im 14. Kapitel nennt er Fälle der Veränderung durch menschliche Mitwirkungspflicht und Fälle, in denen das Naturrecht nur eine Erlaubnis aufstellt. Im 15. Kapitel wird Gott eine unbeschränkte Herrschaftsgewalt zu Naturrechtsänderungen zugesprochen, bloße – auch weit verbreitete – Gewohnheiten werden für änderungsfähig gehalten. Im 16. Kapitel wird erneut auf die Änderbarkeit der Umstände hingewiesen und im 17. Kapitel schließlich das ius gentium als international verbreitetes Gewohnheitsrecht für prinzipiell änderbar erklärt. Zu den sieben bereits bei Suárez’ Vorläufern genannten bedeutenden Möglichkeiten eines legitimen Abweichens vom Naturrecht, treten vier weitere noch im Folgenden auch näher aufzugreifende Möglichkeiten hinzu: Die Argumente vom Spielraum bei Handlungspflichten (= achtens), von im Gesetz bereits implizit enthaltenen Ausnahmen (= neuntens), von den Fällen der menschlichen Mitwirkung (= zehntens) 31 Zur Intensität der Beschäftigung von Suárez mit dieser Problematik vgl. Schnepf: Veränderbarkeit (s. Anm. 11), S. 90. 32 Zur Einteilung ebd., S. 90, Fn. 55.
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und schließlich – der schwierigste Fall – die Problematik des ius gentium, also des dem Naturrecht nahen, ›inter nationes‹ weit verbreiteten Gewohnheitsrechts (= elftens). Will man das reiche von Suárez und seinen Vorläufern herangezogene Material sinnvoll und übersichtlich sowie ohne Redundanzen gliedern und die wichtigsten Schwerpunkte setzen, so kann man folgende Argumentationswege auflisten und in den Vordergrund stellen: 2.1 Als einzigen ausdrücklichen Fall einer wirklichen Änderung des Naturrechts führt Suárez eine Änderung durch Gottes revocatio in oberster Herrschafts-Gewalt auf – in zwei anderen großen Fallgruppen (gleich unten 2.2) und 2. 3) bemüht er sich hingegen um den Nachweis, dass eine wirkliche Änderung nicht vorliege. 2.2 Eine erste Fallgruppe von – aus Suárez’ Sicht nur scheinbaren - Veränderungen liegt, so könnte man sagen, vor, wenn das Ziel, das Telos des Naturgesetzes bestehen bleibt, der Einzelne aber an dessen Formulierung aber nicht gebunden ist. Suárez nennt hierfür, wenn ich recht sehe, drei Anwendungsfälle: einmal den einer den Wortlaut korrigierenden Interpretation, die sich aber am Zweck des Gesetzes orientiert (2. 2. 1), zum anderen den Fall, dass die Umstände sich ändern und so das Ziel des Naturrechts nur durch Reaktion auf diese Veränderung der Umstände erreicht werden kann (2. 2. 2) und drittens den Fall, dass das Gesetz selbst immanente Schranken aufweist, also bei genauerer Betrachtung bestimmte Ausnahmen schon bei Orientierung an seinem Ziel enthält (2. 2. 3). 2.3 Die zweite Fallgruppe solcher aus der Sicht von Suárez bloß scheinbarer Änderungen betrifft sodann Fälle, bei denen man in moderner Terminologie von »Privatautonomie« sprechen könnte. Es geht hier also um Fälle, die durch menschlichen Mitwirkungsbedarf gekennzeichnet sind: Etwa durch die Abgabe eines Gelöbnisses gestaltet der Einzelne das Naturrecht inhaltlich mit, wonach er das Gelöbnis nunmehr halten muss – eine Verpflichtung, die er so vorher nicht hatte (2. 3. 1). Zu diesen Fällen der Privatautonomie gehört aber auch der Fall, dass das Naturrecht nur eine Erlaubnis erteilt, von welcher der Mensch Gebrauch machen darf, von der Gebrauch zu machen er aber auch verzichten und dadurch die Situation anders gestalten kann (2. 3. 2). Oder weiter, das Gesetz beschreibt nur einen Zustand, der nicht normativ verpflichtend ist, sondern durch Gewohnheit geändert werden kann (2. 3. 3). Schließlich hat bei Handlungspflichten der Einzelne immer unvermeidbar einen Handlungsspielraum (2. 3. 4). Werfen wir einen genaueren Blick auf diese Fallgruppen:
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. revocatio Den einzigen echten Fall von Änderung des Naturrechts, nämlich eine göttliche revocatio – behandelt Suárez in aller Kürze und gewissermaßen »mit spitzen Fingern« – da ist ihm nicht so ganz wohl. Die Quellen geben klar die Unabänderlichkeit des Naturrechts vor, und doch kann und will er natürlich Gottes Allmacht nicht leugnen. Gott, so meint er, könne natürlich Ausnahmen vom Naturrecht vorsehen – in diesem Fall liege aber kein Dispens, sondern ein Eingriff göttlicher Herrschaftsgewalt in die Umstände vor, die vom Naturrecht geregelt würden. Wenn Gott einem bereits Verheirateten befehle, noch einmal zu heiraten, wird dieser Mensch eben vom Bigamieverbot ausgenommen und nicht das Bigamieverbot als solches wird wirklich verändert. Mit seiner Herrschaftsgewalt kann Gott alle Umstände ändern und das Naturrecht doch beibehalten. Suárez unterscheidet nämlich zwischen Gott als oberstem Gesetzgeber, als »supremus legislator«33 – und für einen solchen würde sich die Frage der dispensatio stellen – und Gott als oberstem Herrscher, als »supremus dominus«,34 und als solcher dispensiert er nicht im eigentlichen Sinn, aber er kann »tollere materiam legis«,35 also die Umstände ändern, auf die sich die naturrechtliche Norm bezieht. Interessanter sind die beiden anderen Fallgruppen, in denen nach Suárez’ Auffassung von vornherein eine Änderung ausgeschlossen ist – in denen er aber dennoch Wege findet, um Abweichungen vom Naturrecht de facto dann doch möglich zu machen.
. Teleologische Betrachtungen Betrachten wir zuerst diejenigen Fälle näher, in denen unter Hinweis auf das Telos des Gesetzes für einen großzügigen Umgang mit diesem eingetreten wird. Hier interessiert uns zunächst die den Wortlaut korrigierende Interpretation.
33 DL II. 15. 19, Pereña IV, 63. 34 DL II. 15. 19, Pereña IV, 63. 35 DL II. 15. 19, Pereña IV, 63.
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts
.. Interpretation Ein Einfallstor für Änderungen bildet die Interpretation. Das mag den heutigen Juristen befremden, ist es doch heute verbreitetes Verständnis, dass Interpretation nur innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinns stattfindet und nur andere juristische Argumentformen, wie Analogie, argumentum a fortiori etc., die Wortlautgrenze übersteigen können. Interpretation wird im 17. Jahrhundert aber weiter verstanden als in der heutigen Begriffsverwendung und umfasst auch Billigkeit und »Auslegung« contra legem.36 Suárez kennt dieses weite Verständnis von Interpretation, das von den Glossatoren und Kommentatoren herrührt und das Interpretation auch im Sinne von Korrekturen des Gesetzes mit einschließt.37 Für das Naturrecht ist nach Suárez’ Auffassung eine solche an Billigkeit orientierte Interpretation verboten.38 Nur Veränderungen der Umstände, des Regelungsgegenstandes, erlauben nach Suárez eine Interpretation contra legem39 – also auch hier macht sich wieder das formell universell bleibende Naturrecht de facto von den relativen Umständen abhängig.
.. Veränderte Umstände Wichtiger für das teleologische Verständnis des Naturrechts ist deshalb für Suárez eben dieser Gesichtspunkt sich verändernder Umstände – ein Gesichtspunkt, der immer wieder in verschiedensten Kontexten aufscheint und der uns sogar bereits bei der Problematik einer möglichen Revocatio durch Gott begegnet ist. Schon im 13. Kapitel steht die Veränderung der Umstände, wir würden heute vielleicht sagen: der Gedanke eines Fortfalls der Geschäftsgrundlage, für
36 DL II. 15. 2, Pereña IV, 47: »etiam praeter verba eius«. Ausführlich zur Interpretation bei Suárez im Fall menschlicher Gesetze vgl. Oliver Bach: Juridische Hermeneutik. Francisco Suárez zur Auslegung und Veränderung der menschlichen Gesetze (DL VI). »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárezʼ ›De legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 267–309. 37 Zum Ausgang von diesem weiten Interpretationsverständnis von Suárez vgl. Schnepf: Veränderbarkeit (s. Anm. 11), S. 88, S. 96. 38 DL II. 16. 7, Pereña IV, 84: »propria epiikia non habet locum in aliquo praecepto naturali, […].« 39 DL II. 16. 12, Pereña IV, 93: »Quoties ergo praeceptum aliquod naturale videtur non obligare in aliqua opportunitate, necesse est mutari materiam talis actus […].«; vgl. auch Schnepf: Veränderbarkeit (s. Anm. 11), S. 100.
Kurt Seelmann Suárez im Zentrum der Änderbarkeitsdebatte40 – und dieser Gedanke des Fortfalls der Geschäftsgrundlage lebt natürlich von der Ausrichtung an einem Gesetzeszweck, dessen Beibehaltung bei veränderten Umständen nur mit einem Abweichen von der Norm bewerkstelligt werden kann. Suárez’ allgemeines Beispiel: Ein Vater höre auf, Vater zu sein, wenn er sterbe, aber ebenso, wenn sich an ihm nichts verändere, aber der Sohn sterbe. Ebenso könne sich ein Gesetz selbst ändern oder aber die äußeren Umstände änderten es, obwohl es als Gesetz streng genommen gleich bleibe.41 Als Beispiel aus dem Recht nennt Suárez die hier schon bei Thomas von Aquin und in der Tradition immer wieder angesprochene Pflicht, einen verwahrten Gegenstand zurückzugeben: diese Pflicht gelte von Natur unabänderlich, aber es könne gute Gründe geben, einzelne Personen oder Gegenstände nicht davon erfasst zu sehen: etwa wenn die Rückgabe der Gegenstände Einzelnen oder der Gemeinschaft Schaden verursache.42
.. Immanente Schranken Drittens schließlich ergeben sich am Zweck des Gesetzes orientierte QuasiÄnderungen, »loquitur de mutatione impropria«,43 dadurch, dass das Gesetz selbst immanente Schranken aufweist, die es nicht ausdrücklich benennt. Naturrecht sei eben nur sehr allgemein in unseren Herzen formuliert, deshalb müsse man es mit »Einschränkungen und umsichtigen Klauseln«44 anwenden, »cum limitatione et circumspectione«,45 wie es Suárez fomuliert. Dafür nennt er dann auch wieder das Depositum-Beispiel: die Ausnahmen von der Rückgabepflicht verstehe man stillschweigend, »subintelliguntur«,46 wie er es nennt, er bezieht sich aber auch auf vorausgehende Beispiele wie das Töten in Notwehr oder die Ehe mit der Schwester, um die Menschheit zu erhalten. 47
40 DL II. 13. 5/6: Änderbarkeit nur »quia ipsa materia legis mutatur« 41 DL II. 13. 6. 42 DL II. 13. 6. 43 DL II. 13. 7, Pereña IV, 10. 44 DL II. 13. 6, so übersetzt bei Brieskorn 530. 45 DL II. 13. 6, Pereña IV, 10. 46 DL II. 13. 6, Pereña IV, 10. 47 DL II. 13. 5.
Zur historischen Wandelbarkeit des Naturrechts
. Privatautonomie Aber wenden wir uns nun den Fällen der Abweichung vom Naturrecht zu, in denen man von einer »Privatautonomie« im weitesten Sinn sprechen könnte, in denen also für das Zustandekommen der Norm eine Mitwirkung einzelner Personen erforderlich ist
.. Menschliche Beteiligung Genannt werden hier bei Suárez einige Beispiele für menschliche Beteiligung am Naturrecht, wie der Abschluss von Verträgen und Vereinbarungen, das Eingehen von Verpflichtungen und die Abgabe von Gelübden oder Versprechen. Zu deren Einhaltung gebe es naturrechtliche Vorschriften, aber der Mensch habe es völlig in der Hand, sich in solche vom Naturrecht geschützten Verpflichtungen zu begeben oder zu entscheiden, es nicht zu tun, und je nachdem gelte die Verpflichtung oder sie gelte nicht – ganz im Unterschied zu den Pflichten der Gottesliebe, der Pietät gegenüber den Eltern oder der Nächstenliebe, die unabhängig von menschlichen Entscheidungen gälten.48 Aber obwohl der Mensch hier, bei den privatautonomen Selbstverpflichtungen, über die Anwendbarkeit von naturrechtlichen Normen entscheiden kann, sie »per humanas voluntates introducuntur«,49 ist auch dies für Suárez nicht wirklich ein Fall von Änderung des Naturrechts durch Menschen – ja überhaupt kein Fall der Änderung von Naturrecht, da dieses in derlei Fällen ohnehin nur bedingt durch menschliche SelbstVerpflichtungen gelte.
.. Erlaubnis, nicht Gebot Weiter kann man diesen Fällen der Privatautonomie Fälle zurechnen, in den das Naturrecht nur eine Erlaubnis und kein Gebot vorsieht, eine Erlaubnis von welcher der Mensch Gebrauch machen kann oder nicht. Naturrecht könne, so Suárez, auf unterschiedliche Weise verstanden werden – gemeint sein könne, dass »lex aliqua naturalis id praecipit«,50 aber auch, dass etwas »de iure natura-
48 DL II. 14. 7. 49 DL II. 14. 7, Pereña IV, 23. 50 DL II. 14. 6, Pereña IV, 22.
Kurt Seelmann li solum permissive«51 sei. Er fügt Beispiele an, die uns gerade in diesem Zusammenhang schon bei Autoren ein halbes Jahrhundert vor Suárez, bei Vitoria und Soto, begegnet sind, nämlich »rerum communitas« und »hominum libertas«.52 Gemeineigentum und Freiheit, beides von alters her Gegenstände des Naturrechts, haben sich ja später in Privateigentum und Sklaverei gewandelt, und es war schon in der früheren Spätscholastik eine wenn auch umstrittene Lösung dieses Gegensatzes gewesen, das ursprüngliche Gemeineigentum und die ursprüngliche Freiheit nur als Erlaubnisse anzusehen, von denen nach menschlichem Recht deshalb bedenkenlos abgerückt werden konnte. Dennoch zeigt die genauere Lektüre, dass Suárez dem Naturrecht nicht einfach, wie es bei Vitoria und Soto in der Tradition von Thomas der Fall zu sein scheint, eine gewisse Neutralität in dieser Sache zubilligt, sondern durchaus eine menschliche Neigung zu Gemeineigentum und Freiheit voraussetzt53 und auch für den Zeitraum des Gemeineigentums und der ursprünglichen Freiheit ein Gebot annimmt, sich an diese Vorgaben zu halten.54 Eine gewisse Sympathie mit diesen beiden ursprünglichen Gegebenheiten scheint hier durch.55 Ihre Abschaffung rechnet er ausschließlich menschlichem Recht zu, denn »non habent illam intrinsecam necessitatem, ut divisio rerum et servitus« – Privateigentum und Sklaverei haben eben nicht jede instrinsische Notwendigkeit wie ihr Gegenteil (es hatte).56
.. Durch Gewohnheit entstandener Zustand Weiter kann eine Quasi-Änderung von Naturrecht dadurch erfolgen, dass Gegenstand der naturrechtlichen Regelung nur ein »Zustand« ist ohne normative Bedeutung und mithin von menschlichem positiven Recht jederzeit gestaltet werden kann. In diesem Kontext behandelt Suárez das ›ius gentium‹, dessen Bedeutung schon das Mittelalter über und dann bis ins frühe 17. Jahrhundert 51 DL II. 14. 6, Pereña IV, 22. 52 DL II. 14. 6, Pereña IV, 22. 53 DL II. 14. 16, Pereña IV, 34: »[…] quia natura fecit homines positive (ut sic dicam) liberos […].« 54 DL II. 14. 17, Pereña IV, 35: »[...] durante illo statu, positivum praeceptum iuris naturae erat.« 55 Wilenius äussert die Vermutung, dass Suárez die Unabänderlichkeit des Naturrechts deshalb so betont, weil er bei Grundverteilung und Freiheit den ursprünglichen Zustand vorzog, vgl. Reijo Wilenius: The Social and Political Theory of Francisco Suárez. Helsinki 1963, S. 60f. 56 DL II. 17. 8, Pereña IV, 108.
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höchst umstritten ist. Manche Autoren, insbesondere die meisten Juristen, verstehen unter ›ius gentium‹ das speziell für die Menschen geltende Naturrecht, andere sehen darin nur eine Abart des ius civile, des von Menschen gemachten Rechts. Ius gentium wäre dann eben das bei vielen oder im Grenzfall allen Völkern in gleicher Weise geltende positive Recht. Suárez laviert etwas, ist sich etwas unsicher, wenn er das »ius gentium« als »naturali (sc. iure) proximum«, also »dem Naturrecht am nächsten« bezeichnet.57 Auch behandelt er es «priusquam ad positivum transeamus«, also bevor er sich dem positiven Recht zuwendet, dem es somit eigentlich nicht angehöre, da es doch »magnam habet cum iure naturali affinitatem«,58 es sei »quasi medium inter naturale ius, et humanum«,59 meint er, um es dann aber am Ende nach vielen, teilweise etwas verwirrenden Argumenten doch dem ius civile zuzurechnen und von Gott wie von den Menschen für änderbar zu erklären: »ideo mutabile«.60 Das ius gentium legt also auf übernationaler Ebene Gewohnheiten fest, ist eine Art übernationales Recht, darin dem Naturrecht ähnlich. Weist man es wie Suárez gleichwohl dem menschlichen Recht zu, sind diese Gewohnheiten Zustände, die menschliches positives Recht jederzeit ändern kann. Da es diese Rechtsmaterie des ius gentium war, die aus der Sicht der Theologen und Juristen der Zeit das omnia communia und die libertas aufgehoben haben, so leuchtet es angesichts der angesprochen Sympathien von Suárez für diese Einrichtungen des Gemeineigentums und der Freiheit auch ein, dass das ius gentium, das Privateigentum und Sklaverei brachte, letztlich doch dem menschlichen Recht zuordnet, gerade um dieses Recht auch wieder von Menschen ändern lassen zu können.
.. Handlungspflichten Eine letzte Konstellation, in der Suárez menschliche Entscheidungsbefugnisse und somit Möglichkeiten des Abweichens vom Naturrecht sieht, betrifft den Fall von Handlungspflichten. Im Unterschied zu Unterlassungspflichten wie »töte nicht«, »lüge nicht«, »stiehl nicht«, deren Nichtbeachtung im Einzelfall immer klar zu benennen und zu sanktionieren ist, kann die Feststellung der Verletzung einer Handlungspflicht mitunter äußerst schwierig sein. Wann verstößt jemand
57 DL II. 16. 15. 58 DL II. 17. 1, Pereña IV, 99f. 59 DL II. 17. 1, Pereña IV, 100. 60 DL II. 16. 15. Vgl. auch DL II. 15. 10, Pereña IV, 54: »[...] non solum a Deo, sed etiam ab homines mutabile est.«
Kurt Seelmann etwa gegen das Gebot, Armen in Not zu helfen? Wer ist arm, wer ist in Not – und falls, was nahe liegt, sehr viele gleichzeitig arm und in Not sind, wem soll zuerst geholfen werden, wem anschließend? Hier, bei den Handlungspflichten, auch soweit sie eindeutig naturrechtlich begründet erscheinen, gibt es offenbar unvermeidlich ein den Verpflichteten betreffendes Auswahlrecht, ja eine Auswahlpflicht, ohne welche die Handlungspflicht gar nicht bestehen könnte. Während also »praecepta negativa«, d.h. Unterlassungspflichten, »prohibent res per se [...] et pro semper«,61 ist dies dagegen anders bei den Handlungspflichten. Diese, meint Suárez, gelten zwar auch immer, aber nicht »für immer«, also »licet semper obligent, non tamen pro semper«.62 Damit ist eigentlich im Prinzip schon die klassische Unterscheidung in uneingeschränkt und immer geltende »vollkommene« Unterlassungspflichten und situationsabhängig geltende »unvollkommene« (Handlungs-)Pflichten angesprochen, die nach dem bisherigen Stand der Debatte erst von Grotius soll initiiert worden sein und von Pufendorf und Leibniz übernommen worden ist.63
Die hinter der Änderungsdebatte stehenden Naturrechtsbegründungen Bis hierher ging es um die Frage eines Abweichens vom Naturrecht bei Suárez. Von dieser Änderungsdebatte lohnt ein Blick zurück auf die Begründungsdebatte des Naturrechts. Hier wird sich, so die These, ergeben, dass es unter den gängigen Naturrechtsbegründungen ein einschränkendes, retardierendes Element für das Abweichen vom Naturrecht gibt und ein eher das Abweichen vom Naturrecht beförderndes Element, dass die Autoren der Spätscholastik sich beider Elemente bedienen und dass zudem beide Elemente noch in der modernen Normbegründungsdebatte sehr aktuell sind. Es handelt sich einmal um die Vorstellung vom Naturrecht als Gegenstand unserer Intuitionen und zum anderen um die Vorstellung, Naturrecht entstehe auch durch Gewohnheiten von Menschen und damit in einer Art von stillschweigendem Konsens. 61 DL II. 13. 4, Pereña IV, 7. 62 DL II. 13. 4, Pereña IV, 7. 63 Zum bisherigen Stand der Debatte vgl. Wolfgang Kersting: Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit. Kant und die Pflichtenlehre des 18. Jahrhunderts. In: Studia Leibnitiana 14 (1982), S. 184–220, hier S. 188f.: »Die ersten Anklänge einer Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten [...] finden sich bei Hugo Grotius.«
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. Intuitionismus Fragt man nach der Herkunft des Naturrechts, so verweist Suárez mit der Tradition auf zweierlei: Zum einen ist nach dem heiligen Paulus das Naturrecht »scriptum in cordibus hominum«64. Auch die Heiden, die mit der christlichen Überlieferung zunächst keinen Kontakt haben, sind sich angesichts dieser »natürlichen« Intuition, des Gewissens (der »Synderesis«), wie Suárez mit Thomas ergänzt, nach der Aussage von Paulus selbst das Gesetz65 und leben folglich nicht in einem gesetzlosen Zustand. Zum anderen aber sieht Suárez für das natürliche Gesetz als Erkenntnisquelle auch das »dictamen naturale rectae rationis«.66 Cor und ratio, Herz und Verstand, lassen den Menschen so die Gebote des Naturrechts erkennen, ganz unabhängig von geschriebenem Recht und Offenbarung – welch letztere dann aber seit Gratian doch auch zumindest in Teilen zum Naturrecht hinzugerechnet wurde. Der Mensch hat in dieser Erkenntnis seines Herzens und seins Verstandes teil am ewigen Gesetz Gottes.67 Der allgemein-menschliche Intuitionismus dieser Sicht kommt dem Projekt einer neuen Stufe von Universalisierung entgegen. Dieser Intuitionismus breitet nämlich einerseits den Kreis der diesem Recht Unterworfenen weit über den des grundsätzlich nur die Getauften erfassenden Kirchenrechts hinaus aus. Andererseits setzt er Papst und Krone Grenzen – zwei Umstände, auf die besonders hinzuweisen ist.68 Dieser naturrechtliche Intuitionismus erscheint zudem dem heutigen Menschen fast modern, spielen doch auch noch heute bei der Begründung von Wertungen die Intuitionen im Gefolge des metaethischen Intuitionismus eine zentrale Rolle. Zugleich wird aus diesem Intuitionismus verständlich, dass Suárez so große Zurückhaltung übt bei der Vorstellung einer Änderung des Naturrechts durch Interpretation. Der Interpretation bedarf, was nicht eindeutig sondern mehrdeutig ist. Unmittelbar von Herz und Verstand eingeschriebene Maßstäbe des Richtigen aber können nicht mehrdeutig sein und sind infolge dessen der Interpretation nicht bedürftig. Ja, sie sperren sich in einer Zeit, da Intuition auf Wahrheit zielt, jedem Wandel – oder lassen, bei allem praktischen Bedürfnis 64 DL II. 5. 10, Pereña III, 67. 65 DL II. 5. 10, Pereña III, 67. 66 DL II. 5. 10, Pereña III, 68. 67 DL II. 5. 10, Pereña III, 68. 68 Thomas Duve: Katholisches Kirchenrecht und Moraltheologie im 16. Jahrhundert. Eine globale normative Ordnung im Schatten schwacher Staatlichkeit. In: Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung. Hg. von Stefan Kadelbach u. Klaus Günther. Frankfurt a.M. 2011, S. 147–174, hier S. 164f.
Kurt Seelmann nach Wandel, kein theoretisches Konzept des Wandels zu, so dass ein Abweichen vom Naturrecht, wie zu sehen war, auf – elf verschiedenen – anderen Wegen begründet werden muss.
. Konsensorientierung Dennoch beschränkt sich die Naturrechtsbegründung nicht auf diesen Aspekt der Intuition. Insbesondere für diejenigen Autoren, die im »ius gentium« wirkliches Naturrecht für Menschen sehen, für Suárez selbst also nur – aber immerhin – sehr eingeschränkt als Quasi-Naturrecht, gewinnt neben der Intuition das Element des Konsenses naturrechtsbegründende Bedeutung. Naturrecht entsteht nach diesem Ansatz als Gewohnheitsrecht, als allgemeine Übung unter den Menschen – und dass sehr viele diese Gewohnheit teilen, ist dann ein Argument für ihre Fundierung. Auch dieses Argument erscheint uns durchaus noch heute aktuell – Konsens- und Diskurstheorien zur Normbegründung speisen sich auch ganz aktuell aus diesen Überlegungen. Auch für Suárez ist der in der Gewohnheit des »ius gentium« steckende Konsens von rechtsbegründender Art und überspielt gewissermaßen die Mängel des »ius gentium«. Dieses ius gentium ist – aus Suárez’ Sicht und im Gegensatz zu der unter den Juristen der Zeit vorherrschenden Meinung – nicht von naturrechtlicher Dignität. Und es ist nicht von der Verschriftlichung des ius civile gekennzeichnet. Dennoch ist es, auch für Suárez, im Vollsinne Gesetz.69 Der Gedanke einer gewohnheitsmäßigen Aufhebung des »omnia communia« wie überhaupt gewohnheitsrechtlicher Begründungen beim ius gentium70 einerseits und der Gedanke des Konsenses andererseits hatten schon traditionell fließende Übergänge. Vitoria etwa lässt die Entwicklung stattfinden »non consensu certo et formali, sed quodam consensu interpretativo«.71 Aus der Gewohnheit wird hier auf einen stillschweigenden Konsens geschlossen, dem wiederum
69 Vgl. dazu Gideon Stiening: ›Quasi medium inter naturale ius, et humanum‹. Francisco Suárez’ Lehre vom ius gentium (DL II. 17-20). In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ ›De Legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Canstatt 2013, S. 175–194, hier S. 180. 70 Zum gewohnheitsrechtlichen Charakter des ius gentium als »consuetudo communissima« vgl. Robert Schnepf: Suárez über das Gewohnheitsrecht (DL VII). In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ ›De Legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Canstatt 2013, S. 311–331, hier S. 322. 71 Vitoria: De iustitia (s. Anm. 25), q. 62, a. 1, nr. 23
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eine normbegründende Wirkung innewohnt. Auch dieser Gedanke begegnet uns durchaus auch noch heute in der modernen Debatte über die Normbegründung, ja steht heute in seinen verschiedenen Varianten eigentlich im Vordergrund, wenn es um die Begründung nichtpositiver Normen oder Werte geht. An den breiten Ausführungen zum Gewohnheitsrecht bei Suárez erkennt man im übrigen auch, wie er das nominalistisch angehauchte Interesse für empirische Forschung mit anderen Autoren der Spätscholastik teilt72 und man bemerkt immer wieder sein großes Interesse an den demokratischen Aspekten einer Theorie des Gewohnheitsrechts – das ganze siebte Buch seines Traktats ist dem Gewohnheitsrecht gewidmet.73 Also auch Gewohnheit ist für Suárez durchaus eine wichtige Quelle von grundlegenden Rechtsprinzipien.
. Die Modernität des Altmodischen Was führt nun aber Suárez einerseits zu seiner großen Zurückhaltung gegenüber der von anderen Autoren seiner Zeit anerkannten Konsensorientierung des Gewohnheits-Naturrechts als eines modernen Naturrechts und andererseits zur besonderen Betonung des Änderungen behindernden Intuitionselements bei der Naturrechtsbegründung? Es könnte seine schon erwähnte Sympathie mit einem Zustand sein, der schon nach Isidor und Gratian dem Naturrecht entspricht, der aber nach der gängigen Auffassung seiner Zeit durch Gewohnheit außer Kraft getreten ist, nämlich der Zustand des Gemeineigentums einerseits und der Freiheit vor Sklaverei andererseits. Wie weit darin ein jesuitisches Ideal, wie Wilenius vermutet, verfolgt wird, das in Paraguay eine praktische Form bekommen habe,74 wäre noch genauer zu ergründen. Diesen Zustand bemüht sich Suárez, wie wir sahen, aus dem Bereich einer reinen Erlaubnis einerseits etwas herauszuführen und andererseits die Änderung dieses Zustands als rein menschliches Gesetzeswerk ohne naturrechtliche Dignität zu betrachten. Also in cordibus scriptum, wenn auch nur als eine Art empfohlener Erlaubnis, sind sowohl das Gemeineigentum als auch das Nichtbestehen der Sklaverei. Zugleich aber gelingt es Suárez, durch die (Wieder)Einführung75 einer klaren Dichotomie 72 Vgl. die Nachweise bei Wilenius: Francisco Suárez (s. Anm. 55), S. 30. 73 Dazu ebd., S. 46ff. 74 Ebd., S. 17. 75 Diese scharfe Trennung von Suárez findet sich im Prinzip schon in den Digesten bei Ulpian: ius naturale ist dort »quod natura omnia animalia docuit« (D 1.1.1.3), ius gentium dagegen »quo gentes humanae utuntur« (D 1.1.1.4) und das letztere ist nicht Teil des ersteren. Erst später, anknüpfend an die Gaius-Stelle in den Institutionen und an Isidor und Gratian, wird das Ver-
Kurt Seelmann zwischen dem Naturrecht und dem von Menschen wandelbaren ius gentium, letzteres und damit auch die ihm weniger sympathischen Ausprägungen des ius gentium, eben Privateigentum und Sklaverei, aus einem naturrechtlichen Schutz herauszunehmen – es liegt m.a.W. an den Menschen, ob sie das Privateigentum mit (z.B. Gemeinwohl-)Schranken versehen und die Sklaverei wieder abschaffen wollen. Formal geht Suárez also in der Entwicklung der Naturrechtsbegründung hinter das Konsenselement zurück – denn das ius gentium ist für ihn gerade in seiner Abhängigkeit von arbitrium und consensus76 Menschenwerk und er stellt das ius gentium in einen klaren Gegensatz zum »in cordibus scriptum« des intuitiven Naturrechts.77 Das unterscheidet ihn, wie zu sehen war, von vielen anderen spätscholastischen Autoren bereits vor seiner Zeit, die im Konsenselement des für Menschen gültigen Naturrechts etwas behaupteten, was schon kurze Zeit später zur Grundlage für die neuzeitlichen Gesellschaftsvertragstheorien werden konnte. Sein eigenes Gegenkonzept erscheint Suárez offenbar inhaltlich moderner als die über das »ius gentium« konstruierbaren strukturell moderneren Varianten der Naturrechtsbegründung und –begrenzung aus dem Gedanken des in Gewohnheit erkennbaren Konsenses. Denn mit einer Veränderbarkeit von Privateigentum und Sklaverei durch einfaches menschliches Recht, die er sich mit einer Zurückstufung des ius gentium auf bloßes ius civile erkauft, begründet er eine, gemessen am weiteren Verlauf, inhaltlich modernere Position, auch wenn ihn das in der Begründungsstruktur seiner Naturrechtslehre und einer gewissen Geringschätzung der konsensbegründeten Gewohnheit strukturell altmodischer aussehen lässt.
hältnis von ius naturale und ius gentium kontrovers erörtert, vgl. dazu ausführlich Kurt Seelmann: Ius naturale (s. Anm. 30), S. 235ff. 76 DL II. 17. 8, Pereña IV, 108: [...] praecepta iuris gentium ab hominibus introducta sunt per arbitrium et consensum [...]«. 77 DL II. 17. 8, Pereña IV, 108: » [...] nam omnia praecepta, quae a Deo sunt in cordibus hominum scripta, pertinent ad ius naturae.«
Oliver Bach
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht Der vorliegende Beitrag untersucht Francisco Suárezʼ Überlegungen zur Möglichkeit einer Dispens vom Naturrecht. Er folgt dabei seiner mehr juridischen als juristischen Perspektive: Suárez geht es um die Dispensabilität des Naturrechts im Allgemeinen. Er behandelt die Dispens als Problem eines integralen Naturrechts. Insofern Suárez allerdings eine strikte leges-Hierarchie vorsieht, in der das ius naturale dem positiven menschlichen Recht nicht nur historisch vor-, sondern auch systematisch übergeordnet ist,1 hat seine Naturrechtstheorie und mit ihr das Problem einer menschlichen Dispens vom Naturrecht eine mögliche Bedeutung für die Theorie der menschlichen Gesetze. Daher ist im Folgenden neben den gesetzestheoretischen Bedingungen (1.) auch die Frage der Dispens als Bedingung (2.) zu erläutern. Die ideengeschichtlichen Voraussetzungen, an die Suárez einerseits anknüpfen kann, von denen er sich andererseits distanzieren muss, sind dabei ebenso zu skizzieren (2.2) wie seine systematische Problemstellung (2.1) und Problemlösung (2.3). Im Hinblick auf den Status von De legibus als Rechtstheologie gilt es schließlich zu untersuchen, wie Suárez die Frage einer göttlichen Dispens vom Naturrecht (3.) vor dem Hintergrund der konstitutiven Spannung zwischen der Allmacht des göttlichen Willens und der gesetzestheoretischen Rationalität des Naturrechts sub specie hominis beantwortet.
Gesetzestheoretische Voraussetzungen »Als Gesetz wird uns alles das gelten, was durch die Vernunft begründet wurde, insofern es mit der Religion zusammenstimmt, was der Disziplin zukommt und
1 Vgl. Klaus-Gert Lutterbeck: Jurisprudenz als ›ausübende Rechtslehre‹? Zur Funktion der Rechtswissenschaft im Spannungsfeld von Theologie und Philosophie in Suárez’ ›De legibus‹. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ›De Legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. StuttgartBad Cannstatt 2013, S. 53–72, hier S. 58–64.
Oliver Bach dem Heil nützt«:2 In einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dieser Sentenz Isidors von Sevilla hatte Francisco Suárez bereits im ersten Buch von De legibus vor allem anderen das Gerechtigkeitskriterium als notwendige Bedingung des Gesetzes selbst bestimmt: »Es kommt dem Gesetz seiner Vernünftigkeit und seinem Wesen nach zu, Gerechtes zu gebieten«.3 In dieser Argumentationsbewegung verbindet Suárez Gerechtigkeit und Rationalität.
. ratio legis zwischen Gesetzeszweck und Rationalität In der Tat geht es Suárez an dieser Stelle mit der Rede von der ratio legis nicht um den Gesetzeszweck, sondern um die Vernünftigkeit als denjenigen Grund, der die Rechtmäßigkeit von Gesetzeszwecken allererst zu bestimmen erlaubt und insofern aller teleologischen Auslegung von Gesetzen notwendig vorausgeht. Denn Suárez präzisiert seine Überlegungen dahingehend, dass man die Aussage, das Gesetz müsse gerecht sein, auf zwei Weisen verstehen kann: erstens in Bezug auf das Handeln selbst, zu dem das Gesetz den Adressaten verpflichtet, d.h. es muss so bestimmt sein, dass er es in gerechter Weise zu erfüllen vermag. Zweitens gilt dies im Hinblick auf das Gesetz selbst: Die Verpflichtung darf dem Menschen nicht zu Unrecht auferlegt werden.4
Für das menschliche positive Gesetz gilt insofern ohnehin, dass sich seine Gerechtigkeit nur schwer an seinem ihm eigenen Zweck messen lässt, da schon ebendieser Zweck falsch gewählt sein kann. Mit Blick auf den zwecksetzenden Willen des menschlichen Gesetzgebers sind die Rationalitätsvermutung ebenso wie die Gerechtigkeitsannahme bei Suárez nicht nur solche auslegenden Instrumente,5 die das Gesetz in jedem Fall anzuwenden und damit praktisch an 2 Isidorus: Etymologiarum sive originum libri XX, lib. V, Cap. 3, § 4, PL 82, Sp. 199: »[L]ex erit omne jam quod ratione constiterit, duntaxat, quod religioni congruat, quod disciplinae conveniat, quod saluti proficiat«. Bei Suárez siehe in DL I. 9. 1. 3 DL I. 9. 2, Übers. n. Brieskorn, 186 / Pereña II, 4: »De ratione et essentia legis est ut praecipiat iusta.« 4 DL I. 9. 2, Übers. n. Brieskorn, 186 / Pereña II, 4: »[D]uobus modis intelligi potest legem debere esse iustam: uno modo, respectu ipsius actus exercendi a subdito ex vi talis legis, nimirum quod talis sit ut possit ab eo iuste fieri; alio modo, respectu ipsiusmet legis, quod nimirum sine iniuria homini imponatur.« 5 Robert Schnepf: Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert u. Kurt Seelmann. Tübingen 2001, S. 75–108, hier S. 98; Oliver Bach: Juridische Hermeneutik. Francisco Suárez zur Auslegung und Veränderung der menschlichen Gesetze. In:
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
zuerkennen erlauben. Sie können vielmehr auch zu dessen cessatio führen können, »wenn aus einer Mangelhaftigkeit seines Regelungsgegenstandes oder seines Zwecks oder seiner Begründung heraus seine Verpflichtungskraft aufhört«.6 Aber auch im Falle eines positiven Gesetzes, dessen Zweck an ihm selbst nicht ungerecht sein kann, können Einzelfälle auftreten, auf die das Gesetz anzuwenden ungerecht wäre, und zwar auch dann, wenn sich diese Einzelfälle unter den positiven Gesetzeszweck subsumieren ließen – aber eben nicht unter das Naturrecht. Eine Dispens ist im Falle positiver Gesetzesvorschriften gerade aus dem Grund erlaubt, dass sie in Einzelfällen ungerecht sein können – ungerecht gerade aus der Perspektive des Naturrechts. Wird man von der Anwendung einer positiven Gesetzesvorschrift enthoben, so wird nicht jenseits des Rechts entschieden. Die Dispens ist hier im vollen Sinne des Wortes Einzelfallgerechtigkeit und ist allemal ein juridischer Akt: ein Einzelfall und damit auf den ersten Blick außerhalb der staatlichen Ordnung des positiven menschlichen Gesetzes; Gerechtigkeit und damit innerhalb der zeitlichen Ordnung mit Blick auf das Naturrecht. Gerade weil das Naturrecht in temporalibus mehr Grundlage als Gegenstand der Dispens ist, ist die Frage nach einer Dispens vom Naturrecht allein theoretisch problematisch, drohen doch entweder eine zirkuläre Begründung der Dispens oder eine Positivierung des Naturrechts. Ist das Naturrecht selbst notwendiger Weise gerecht, sodass ein natürliches Gesetz dem Menschen unmöglich »zu Unrecht auferlegt« werden könnte? Vor dem Hintergrund von Suárezʼ allgemeiner Gesetzestheorie lautet die Frage folglich, ob eine Dispens vom Naturrecht nicht allein rechtmäßig, sondern überhaupt denkbar ist. Es steht schließlich anzunehmen, dass ein universales Naturrecht unmöglich ungerecht sein kann – selbst für den Einzelfall, denn schließlich realisiert sich doch ein Universalanspruch gerade darin, alle denkbaren Möglichkeiten menschlicher Handlungswirklichkeit subsumieren und beurteilen zu können.
»Auctoritas omnium legum« Francisco Suárez’ ›De Legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. StuttgartBad Cannstatt 2013, S. 267–309, hier S. 291f. 6 DL VI. [Prooemium], Muniozguren IV, 623a: »Dico autem legem mutari ex se et ab intrinseco, quando ex defectu materiae, vel finis, aut rationis ejus obligatio cessat«; Übers. O.B. Vgl. ausführlicher DL VI. 6. 9.
Oliver Bach
. Ganzes und Teil – Allgemeines und Besonderes Über die Veränderbarkeit der natürlichen Gesetze liegen in diesem Band zwei ausführliche Artikel von Kurt Seelmann und Dominik Recknagel vor. Wichtig ist im Zusammenhang der Dispens, dass Suárez Änderung präzise als »Aufhebung des Gesetzes oder seiner Verpflichtung« bestimmt.7 Eine solche Änderung kann sich zum einen durch eine Änderung der Sache oder durch eine von außen eintretende Änderung vollziehen; zum anderen kann eine solche Änderung das ganze Gesetz betreffen und dasselbe damit abschaffen oder nur Teile des Gesetzes: Eine solche Änderung von Teilen des Gesetzes ist die Dispens.8 Allerdings steht für Suárez unabhängig vom Unterschied ganzer und teilweiser Änderung fest, »dass das natürliche Gesetz im eigentlichen Sinne solange von sich aus seine Kraft nicht verlieren und sich auch nicht ändern kann – und zwar weder im Allgemeinen noch im Besonderen –, als die vernünftige Natur mit ihrem Gebrauch der Vernunft und der Freiheit besteht«.9 Da Gott selbst ohnehin nicht unter das natürliche Gesetz fällt, ist der Wegfall der vernünftigen Natur und damit das Herabsinken des natürlichen Gesetzes zum bloßen Potenzial ohne historische Aktualisierung sub specie Creatoris unproblematisch: Es besteht fort »als mögliches Sein im Bewusstsein Gottes«.10 Sub specie hominis jedoch ist das 7 DL II. 13. 1, Brieskorn 522, Pereña IV, 3: »Tractamus ergo de propria mutatione quae fit per ablationem legis vel obligationis eius.« 8 DL II. 13. 1, Brieskorn 522f, Pereña IV, 3f.: »Dabei geschehen Änderungen in den Dingen gewöhnlich auf zwei Weisen: Zum einen durch eine Änderung der Sache selbst, was so viel heißt wie: durch einen inneren Grund zu bestehen aufhören, zum anderen durch eine von außen wirkende Änderung, die jener Handelnde vornimmt, der dazu die Befähigung hat. Jede der beiden Weisen der Änderung lässt sich auf das Gesetz anwenden. […] Beide Änderungen können zweifach erfolgen, entweder nämlich uneingeschränkt und auf das gesamte Gesetz bezogen, dann spricht man von der Abschaffung des Gesetzes; oder die Änderung betrifft nur Teile des Gesetzes, dann spricht man von der Dispens bzw. seiner teilweisen Lockerung. Man kann diese Arten von Änderungen auch mit Blick auf das natürliche Gesetz erörtern.« / »Haec autem mutatio dupliciter solet in rebus accidere, nimirum vel per mutationem rei ab intrinseco deficientis vel per extrinsecus factam virtute alicuius agentis habentis potestatem. Et uterque modus potest ad legem applicari […] Et utraque istarum mutationum contingit: vel absolute et universaliter in tota lege, et dicitur abrogatio legis; vel in particulari, et dicitur dispensatio vel particularis relaxatio. De his ergo omnibus modis mutationum potest inquiri circa legem naturalem.« 9 DL II. 13. 2, Brieskorn 523, Pereña IV, 4: »Dico igitur proprie loquendo legem naturalem per seipsam desinere non posse vel mutari, neque in universali neque in particulari, manente natura rationali cum usu rationis et libertatis«. Hervorhebung von Oliver Bach. 10 DL II. 13. 2, Brieskorn 523, Pereña IV, 4: »[M]aneret tantum secundum esse essentiae seu possibile obiective in mente Dei.«
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
natürliche Gesetz an die recta ratio gebunden,11 und zwar sowohl als ratio cognoscendi des natürlichen Gesetzes als auch als Vernunftbegabung im Sinne eines anthropologischen Wesensmerkmals: So wie es im Menschen wirkt, kann es keine Änderung erfahren, weil es eine ihm wesentlich zugehörige Eigenschaft ist, die mit Notwendigkeit aus der Natur fließt, so wie sie ist, oder anders gesagt, welche die vernünftige Natur selbst ist. Es wäre also ein Widerspruch, dass die Natur weiterbesteht, die zum Gebrauch der Vernunft geeignet ist, und das natürliche Gesetz aufgehoben würde.12
Solange die menschliche Natur nicht nur der Möglichkeit in Gottes Bewusstsein nach, sondern aktuell existiert, solange existiert und gilt auch das natürliche Gesetz. Eine Änderung des natürlichen Gesetzes durch den Menschen ist nicht sinnvoll denkbar und bedeutete nur eine Selbstverleugnung des Menschen als Menschen, indem er eines seiner notwendigen Wesensmerkmale zu verändern suchte. Scheint also eine vom Menschen vollzogene Dispens vom Naturrecht sowohl im Ganzen als auch in Teilen bereits unmöglich, so wendet sich Suárez dennoch eigens gegen den Einwand des Aristoteles und des Thomas von Aquin, dass das Naturrecht zwar nicht als Ganzes, aber dennoch im Einzelnen der Veränderung unterliegen könne: Insbesondere Thomas differenziert mithilfe einer Normenhierarchie innerhalb des Naturrechts selbst. Demgemäß befindet der Aquinat die Prinzipien des Naturrechts für invariant, dessen Schlussfolgerung aber unter Umständen für variabel:13 Daß das natürliche Gesetz eine Änderung erfährt, kann in zweifacher Weise verstanden werden. Einmal dahin, daß ihm etwas ergänzend beigefügt wird. Und einer solchen Änderung des natürlichen Gesetzes steht nichts im Wege. Denn sowohl durch das göttliche Gesetz wie durch menschliche Gesetze wurde dem natürlichen Gesetz vieles hinzugefügt, was dem menschlichen Leben dienlich ist. Zum anderen kann Änderung des natürlichen Gesetzes Wegnahme bedeuten, so daß nämlich etwas, was bislang unter das natürliche Gesetz fiel, fürderhin nicht mehr unter das natürliche Gesetz fällt. Und so gesehen ist das natürliche Gesetz in seinen ersten Grundsätzen ganz und gar unwandelbar. Hinsichtlich der zweiten Gebote hingegen, die wir als ins Einzelne gehende, den ersten Grundsätzen
11 Vgl. hierzu den ersten Beitrag von Gideon Stiening in diesem Band. 12 DL II. 13. 2, Brieskorn 524, Pereña IV, 5: »Prout est in homine mutari non potest, quia est intrinseca proprietas necessario fluens ex tali natura, quia talis est, vel (ut alii volunt) est ipsa rationalis natura. Ergo repugnat, manente tali natura apta ad utendum ratione, auferri legem naturalem.« 13 Vgl. den Beitrag von Kurt Seelmann im vorliegenden Band und Schnepf: Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen (s. Anm. 5), S. 75–81.
Oliver Bach jedoch nahestehende Folgesätze kennzeichneten, ändert sich das natürliche Gesetz nur dergestalt, daß seine Forderungen für die Mehrzahl der Fälle immer gerecht bleiben. In einem einzelnen Sachverhalt aber, und auch das nur selten, kann es sich jedoch ändern, und zwar wegen gewisser besonderer Ursachen, die eine Beobachtung solcher Gebote verhindern.14
Auffällig an dieser Stelle ist die eigentümliche Temporalisierung in Thomasʼ Argumentation, mithin dass Thomas das eigentlich systematische Problem allgemeiner und besonderer Naturrechtsnormen einer historischen Lösung ursprünglicher und nachfolgender Naturrechtsnormen zuführen will. Auffällig ist aber auch, dass Suárez dieses verzeitlichende Moment in seiner Paraphrase von Thomasʼ Argumentation übergeht.15 Es wird indessen in seinem eigenen Lösungsvorschlag, mit dem Suárez an Thomas anknüpfen und ihn zugleich überbieten will, keine Rolle spielen. An dieser Stelle referiert Suárez auf Thomasʼ berühmtes Beispiel von der Leihgabe (depositum): So besteht laut Thomas zwar die natürliche Pflicht, einen geliehenen Gegenstand dem Leihgeber zurückzugeben; sie besteht aber nicht, wenn es sich dabei um einen Gegenstand handelt, mit dem der Leihgeber nachweislich dem Gemeinwesen schaden will:16 14 STh I–II q. 94, art. 5, resp, DThA 13, 85f.: » Respondeo dicendum quod lex naturalis potest intelligi mutari dupliciter. Uno modo, per hoc quod aliquid ei addatur. Et sic nihil prohibet legem naturalem mutari, multa enim supra legem naturalem superaddita sunt, ad humanam vitam utilia, tam per legem divinam, quam etiam per leges humanas. Alio modo intelligitur mutatio legis naturalis per modum subtractionis, ut scilicet aliquid desinat esse de lege naturali, quod prius fuit secundum legem naturalem. Et sic quantum ad prima principia legis naturae, lex naturae est omnino immutabilis. Quantum autem ad secunda praecepta, quae diximus esse quasi quasdam proprias conclusiones propinquas primis principiis, sic lex naturalis non immutatur quin ut in pluribus rectum sit semper quod lex naturalis habet. Potest tamen immutari in aliquo particulari, et in paucioribus, propter aliquas speciales causas impedientes observantiam talium praeceptorum, ut supra dictum est.« Die Übersetzung wurde leicht verändert. 15 DL II. 13. 5, Brieskorn 527f., Pereña IV, 8: »Dazu bekennt sich auch der hl. Thomas, der ausführt: Das natürliche Gesetz ist hinsichtlich der ersten Grundsätze gänzlich unveränderbar und wird selbst in den Schlussfolgerungen zumeist nicht abgewandelt. Doch erfahren die Letzteren gelegentlich eine Änderung, wenn auch in nur wenigen Fällen, in denen Ursachen auftreten, die den Bestimmungen der Schlussfolgerungen entgegenstehen.« / »Quod etiam tradit divus Thomas (I II, quaest. 94, art. 5) dicens legem naturae quoad prima principia omnino esse immutabilem; quoad conclusiones autem ut plurimum non mutari, in aliquo tamen casu et in paucioribus mutari propter particulares causas occurrentes«. Einzig hinter der Formulierung von den ersten Grundsätzen bzw. prima principia könnte man eine verzeitlichende Semantik vermuten – ebenso aber eine systematische. 16 Vgl. Schnepf: Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen (s. Anm. 5), S. 81; Bach: Juridische Hermeneutik (s. Anm. 5), S. 296.
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
Bei allen ist es nämlich recht und wahr, daß der Mensch vernunftgemäß handeln muß. Aus diesem Grundsatz ergibt sich nun als Einzelfolgerung, daß hinterlegtes Gut zurückzugeben ist. Das ist zwar wahr für die meisten Fälle; es kann aber der Fall eintreten, daß die Rückgabe hinterlegten Gutes verderblich und folglich unvernünftig ist; z.B. wenn jemand sein Eigentum zurückfordert, um es im Kampf gegen sein Vaterland einzusetzen. […] Mithin muß gesagt werden: Hinsichtlich der ersten allgemeinen Grundsätze ist das natürliche Gesetz für alle dasselbe sowohl hinsichtlich seiner Wahrheit wie hinsichtlich seiner Kenntnis. Aber hinsichtlich gewisser Einzelheiten, die gleichsam Folgerungen aus den Grundsätzen darstellen, ist es in der Mehrzahl der Fälle nach Wahrheit und Kenntnis für alle dasselbe; in der Minderzahl der Fälle kann es hingegen hinsichtlich ihrer Wahrheit fehlerhaft sein, und zwar wegen vereinzelter Hindernisse […].17
Während Thomas die naturrechtliche Pflicht zur Leihrückgabe ebenso unter die recta ratio subsumiert wie die gleichfalls naturrechtliche Pflicht, dies im Falle eines drohenden Risikos für das Gemeinwesen eben nicht zu tun, scheint er die Abweichung der besonderen Wahrheit von der allgemeinen nichtsdestoweniger durch sie selbst als besondere Wahrheit bestimmen zu wollen. Mit anderen Worten: Die Wahrheit, ein dem Vaterland gefährliches depositum nicht zurückgeben zu dürfen, bleibt einerseits als besondere Wahrheit der allgemeinen Wahrheit, deposita zurückgeben zu müssen, zugeordnet; andererseits partizipiert diese besondere Wahrheit nicht an der Verpflichtungswirkung der allgemeinen Wahrheit. Das nicht vollständig geklärte Verhältnis von allgemeiner und besonderer praktischer Wahrheit wird von Suárez vereindeutigt. Hierbei beklagt er bei aller üblichen Zurückhaltung gegenüber der Autorität des Aquinaten recht unumwunden eine terminologische Unschärfe des Thomas: Wenn der hl. Thomas mit Aristoteles sagt, dass gewisse Vorschriften des natürlichen Gesetzes geändert werden, ihre Kraft verlieren oder eine Einschränkung erleiden – wenn auch nur in wenigen Fällen oder gar in nur einem einzigen Fall –, so benutzt der hl.
17 STh I–II q. 94, art. 4, resp., DThA 13, 82f.: » Apud omnes enim hoc rectum est et verum, ut secundum rationem agatur. Ex hoc autem principio sequitur quasi conclusio propria, quod deposita sint reddenda. Et hoc quidem ut in pluribus verum est, sed potest in aliquo casu contingere quod sit damnosum, et per consequens irrationabile, si deposita reddantur; puta si aliquis petat ad impugnandam patriam. […]Sic igitur dicendum est quod lex naturae, quantum ad prima principia communia, est eadem apud omnes et secundum rectitudinem, et secundum notitiam. Sed quantum ad quaedam propria, quae sunt quasi conclusiones principiorum communium, est eadem apud omnes ut in pluribus et secundum rectitudinem et secundum notitiam, sed ut in paucioribus potest deficere et quantum ad rectitudinem, propter aliqua particularia impedimenta […].« Die Übersetzung wurde leicht verändert.
Oliver Bach Thomas zwar das Wort Änderung, doch handelt es sich nicht um eine Änderung im eigentlichen Sinne, da sich nicht die Norm, sondern außerhalb ihrer der Regelungsgegenstand geändert hat.18
Suárez bestreitet nicht, dass Subnormen des Naturrechts gegenüber höherrangigen zurücktreten. Allerdings ist für Suárez die Auffassung, hierbei handelte es sich um eine Veränderung der natürlichen Pflicht der Leihrückgabe, unzutreffend: Denn die naturrechtliche Norm, jemandem seine Leihgabe zurückzugeben, bedeute vernünftiger Weise ohnehin nicht, dies auch für denjenigen Fall tun zu müssen, dass der Andere damit dem Gemeinwesen schaden will. Hier kommt vielmehr das Gebot der Nächstenliebe in einer Regelungsfrage zur Anwendung, für die das Leihrückgabegebot ohnehin nie gedacht war: Eine solche Vorschrift erleidet an ihr selbst tatsächlich keine Ausnahme, weil die natürliche Vernunft selbst vorschreibt, dass dieses Gebot lediglich auf eine bestimmte Weise und nicht anders erfüllt werden dürfe oder müsse bzw. nur unter bestimmten Umständen und genau dann nicht, wenn diese fehlen sollten.19
Suárez differenziert mithin deutlicher als Thomas zwischen der bloßen Partikularität naturrechtlicher Subnormen und ihrer bestimmten Spezifität: Als Einzelfall gehört das Problem einer gemeinwohlgefährdenden Leihgabe selbstverständlich nicht zu den Prinzipien des Naturrechts und konkurriert insofern nicht mit dem naturrechtlichen Prinzip, Leihgaben zurückzugeben. Als besondere Norm gehört die Pflicht, eine gemeinwohlgefährdende Leihgabe zurückzubehalten, dem naturrechtlichen Prinzip der Nächstenliebe als seinem Allgemeinen an; mit diesem Allgemeinen ist das naturrechtliche Prinzip der Leihrückgabepflicht ohnehin nicht identisch. Die spezifische Norm widerspricht einer allgemeinen Norm schlechthin deswegen nicht, weil diese gar nicht ihr Allgemeines ist. Insofern ist weder von einer Änderung dieser allgemeinen Norm noch von einer Dispens von ihr zu sprechen.
18 DL II. 13. 7, Brieskorn 530f., Pereña IV, 10: »Quando ergo divus Thomas cum Aristotele ait aliqua praecepta legis naturalis mutari vel deficere aut exceptionem pati in paucioribus seu in casu, loquitur de mutatione impropria per solam denominationem extrinsecam ratione mutationis quae in materia fit […].« 19 DL II. 13. 7, Brieskorn 531, Pereña IV, 11: »Sic enim praeceptum in se spectatum nullam exceptionem patitur, quia ratio ipsa naturalis dictat hoc debere fieri tali vel tali modo et non aliter, vel concurrentibus talibus circumstantiis et non absque illis.«
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
Die Dispens vom Naturrecht als Staatsentstehungstheorie Im vierzehnten Kapitel kommt Suárez schließlich auf die Dispens selbst zur sprechen: »Kann menschliche Macht das Naturrecht ändern oder von ihm dispensieren?«20 Diese Frage mag im Vergleich zur theologisch weitaus interessanteren Frage des fünfzehnten Kapitels, ob nämlich Gott vom Naturrecht dispensieren kann, weniger interessant, ja im Hinblick auf die von Suárez bis zu dieser Stelle schon herausgearbeitete Rechtssystematik sogar obsolet erscheinen. So empfindet es Suárez offensichtlich auch selbst: Systematisch erscheint ihm dieses sein eigenes vierzehntes Kapitel eigentlich als überflüssig: Obwohl diese Frage im vorangehenden Kapitel genügend geklärt zu sein scheint, fehlt es nicht an gewichtigen Autoritäten, die mit Nachdruck behaupten, der Mensch könne vom Naturrecht dispensieren oder es durch menschliches Gesetz – sei es Völkergemeinrecht oder bürgerliches Recht – ändern.21
Dieses vierzehnte Kapitel verfolgt weniger einen theoretischen Zweck, der in der Sache schon zuvor erreicht wurde, sondern es verfolgt einen mehr polemischen Zweck. In der Tat führt Suárez eine Reihe gewichtiger Autoritäten – u.a. Accursiusʼ Glossa ordinaria – an, die entweder eine Dispens vom Naturrecht befürworten oder sie zumindest konstatieren: »Diese Ansicht vertreten ausdrücklich die Glosse zu den Dekratalen und zu den Digesten. Darin folgen ihnen Abbas, Felinus, Innocentius und andere Kanonisten in übereinstimmender Weise«.22 Man läge allerdings falsch, wenn man vermutete, Suárez betreibe im vierzehnten Kapitel ›nur‹ die detaillierte Zurückweisung von Lehrmeinungen, die dem Leser als falsch schon evident sein müssten. Allerdings ist die Auffassung, der Mensch könne vom Naturrecht dispensieren, nicht allein theoretisch, sondern auch praktisch problematisch: Sie erstreckt sich nämlich auch auf die 20 DL II. 14, Brieskorn 536, Pereña IV, 14: »Utrum ius naturale mutari vel dispensari possit per humanam potestatem.« 21 DL II. 14. 1, Brieskorn 536, Pereña IV, 15: »Quamvis haec quaestio videatur ex praecedenti definita, nihilominus non desunt graves doctores qui absolute dicant posse dispensari interdum per hominem in iure naturali vel mutari per ius humanum, vel gentium vel civile.« 22 DL II. 14. 1, Brieskorn 536f., Pereña IV, 16: »Ita expresse declarat Glossa (in cap. A nobis, De decimis, v. Exemptus). Idem sentit Glossa (in lege Manumissiones, v. nascerentur) et Glossa (1 in lege ius civile, ff. De iustitia et iure). Sequitur Abbas (in dicto cap. A nobis, num. 4, et in cap. Cum tanto, De consuetudine, num. 3, et cap. Quae in ecclesiarum, De constitutionibus, num. 11), ubi etiam Felinus (num. 26) et ibi Innocentius et alii communiter.«
Oliver Bach politische Theorie – und zwar auf diejenige Form von Staatsentstehungstheorie, die Suárez selbst in Buch III von De legibus vertreten wird.
. Unfreiheit als Dispens von der Freiheit? Zunächst referiert Suárez die zwei meistverbreiteten Beispiele einer angeblich anthroponomen Dispens vom Naturrecht, nämlich »die Aufteilung des Gemeinschaftsbesitzes in Privateigentum, weil gemäß Naturrecht den Menschen alles gemeinsam war und die Güteraufteilung erst durch sie eingeführt wurde«,23 und »die Freiheit, die durch Naturrecht den Menschen zusteht und die dennoch durch Gesetze der Menschen beseitigt wird«.24 Letzteres ist von besonderem Interesse. Hierbei bezieht sich Suárez u.a. auf den Digestentitel De statu hominum, in dem u.a. der römische Jurist Florentinus (2. Jhr. n. Chr.) zum einen die Freiheit als »natürliche Fähigkeit« definiert, »das zu tun, was jedem zu tun beliebt«,25 und zum anderen die Knechtschaft als gewohnheitsrechtliches Institut des ius gentium bestimmt, das ausdrücklich gegen die Natur eingeführt wurde.26 Dieser bei Florentinus noch vermehrt deskriptive Freiheitsbegriff wird darüber hinaus von Ulpian (3. Jhr. n. Chr.) in eine juridische Freiheit überführt, wenn er im Digestentitel De iustitia et iure im Hinblick auf die Freilassung von Sklaven schreibt, dass Versklavung der ursprünglichen naturrechtlichen Freiheit gegenüberstand.27 Zwar stehen diese Bestimmungen 23 DL II. 14. 2, Brieskorn 538, Pereña IV, 17: »Primum et vulgare [exemplum; O.B.] est de divisione dominiorum, quia iure naturae omnia erant communia et nihilominus rerum divisio ab hominibus introducta est.« 24 DL II. 14. 2, Brieskorn 538, Pereña IV, 17: »Secundum exemplum simile est de libertate, quae iure naturae hominibus convenit et tamen per leges humanas aufertur.« 25 D 1. 5. 4. pr, (Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung. Bd. II: Digesten 1–10. Übers. u. hg. von Okko Behrends et. al. Heidelberg 1995, S. 118): »Libertas est naturalis facultas eius quod cuique facere libet, nisi si quid vi aut iure prohibetur.« 26 D 1. 5. 4. 1 (Corpus Iuris Civilis, Bd. II [s. Anm. 25], S. 118): »Servitus est constitutio iuris gentium, qua quis dominio alieno contra naturam subicitur.« 27 D 1. 1. 4 (Corpus Iuris Civilis, Bd. II [s. Anm. 25], S. 92f.): »Auch Freilassungen gehören zum Völkergemeinrecht. Die Freilassung aber ist die Entlassung aus der ›Hand‹, das heißt die Gewährung der Freiheit. Denn solange jemand in Sklaverei ist, befindet er sich in der Hand und der Herrschaftsgewalt [seines Eigentümers; Behrends et. al.], und er wird, sobald er aus dieser Hand entlassen ist, von der Gewalt frei. Diese Einrichtung entstammt dem Völkergemeinrecht, da nach Naturrecht ja alle frei geboren wurden und, als man die Sklaverei noch nicht kannte, auch die Freilassung unbekannt war.« / »Manumissiones quoque iuris gentium sunt. est autem manumissio de manu missio, id est datio libertatis: nam quamdiu quis in servitute est, manui et potestati suppositus est, manumissus liberatur potestate. quae res a iure gentium originem
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
erstens nicht notwendig in einem werkgenetischen Zusammenhang – schließlich sind die Pandekten eine Gesetzessammlung, die erst im 6. Jahrhundert n. Chr. veranstaltet wurde. Zweitens meint Knechtschaft im unmittelbaren Zusammenhang des klassischen römischen Rechts zwar speziell den Sklaven, über den ein freier Bürger Roms unbeschränktes Eigentumsrecht besaß; servitus meint folglich im ursprünglichen Zusammenhang nicht diejenige Unfreiheit im Allgemeinen, der alle Bürger gegenüber dem Herrscher unterworfen sind. Und drittens erstreckt sich das ius naturale der Digesten zwar auch auf Tiere, und zwar ohne jegliche juristische Folgen zugunsten derselben.28 Dennoch setzte die unmittelbare Gegenüberstellung der beiden Bestimmungen von Freiheit und Knechtschaft das Rechtsdenken unter einen Plausibilisierungsdruck, der sich aus dem werkgenetischen Zusammenhang allein nicht hinreichend erklären lässt, sondern offensichtlich aus einer zwischenzeitlichen Neukonzeptionierung von Freiheit als naturständlicher Freiheit und von Knechtschaft als politischer Unfreiheit generiert. Dies gilt auch für Suárez: Er sieht in diesem Digestentitel auf der einen Seite eine Freiheit bestimmt, die dem Menschen qua Naturrecht zusteht, die aber durch den Eintritt in den status civilis und die Einführung menschlicher Gesetze beschränkt, wenn nicht gar aufgehoben wird. Dem Conimbricenser Theologen stellt sich hier ein gravierendes Problem für seine Position, dass der Mensch eben nicht vom Naturrecht dispensieren dürfe. Denn einerseits will und wird Suárez im dritten Buch von De legibus selbst eine politische Theorie vertreten, die die Notwendigkeit der Vergemeinschaftung und der Schaffung menschlicher Gesetze ebenso formuliert wie die Einführung des Privateigentums; andererseits vertritt Suárez ebenso wie fast alle politischen Theorien, die vor Jean-Jacques Rousseaus Contrat social bzw. in Abgrenzung zu diesem konzipiert wurden, die Ansicht, dass Staat und Gesetze
sumpsit, utpote cum iure naturali omnes liberi nascerentur nec esset nota manumissio, cum servitus esset incognita.« Vgl. Rudolf Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten von Irnerius bis Accursius und von Gratian bis Johannes Teutonicus. München 1967, S. 64f. 28 Inst. 1. 2. pr. (Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung. Bd. I: Institutionen. Übers. u. hg. von Okko Behrends et. al. 2., verbesserte u. erw. Aufl. Heidelberg 1997, S. 2): »Naturrecht ist das, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat. Denn dieses Recht ist nicht allein dem Menschengeschlecht eigen, sondern allen Lebewesen.« / »Ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit, nam ius istud non humani generis proprium est, sed omnium animalium.«; D 1. 1. 1. 3 (Corpus Iuris Civilis, Bd. II [s. Anm. 25], S. 92): »Naturrecht ist das, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat. Denn dieses Recht ist nicht allein dem Menschengeschlecht eigen, sondern allen Lebewesen.« / »Ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit: nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium.«
Oliver Bach die menschliche Freiheit beschränken statt sie zu realisieren.29 So gut wie die gesamte Staatsentstehungstheorie der frühen Neuzeit – d.h. auch diejenige, die Suárez selbst vertritt – scheint Vergemeinschaftung, Staatengründung, menschliche Gesetzgebung und Privateigentum auf den ersten Blick als eine große menschengemachte ›Generaldispens‹ vom Naturrecht zu bestimmen, nämlich vom Naturrecht der natürlichen Freiheit des Menschen. Es ist folglich die staatstheoretische Perspektive, deretwegen Suárez die Frage, ob der Mensch vom Naturrecht dispensieren kann oder nicht, keineswegs schon mit dem dreizehnten Kapitel für erledigt befinden kann. Suárezʼ zugleich rechts- und staatstheoretisches Problem ist nicht zu unterschätzen: Solange die naturständliche Freiheit als natürliches Recht galt, zugleich aber der Eintritt in den status civilis nur unter der Bedingung einer Aufgabe oder Beschneidung dieser Freiheit gedacht wird, steht nicht etwa nur die Tyrannei, sondern jedwede Staatlichkeit unter fundamentalem Rechtfertigungsdruck. Es verwundert mithin kaum, dass die Auseinandersetzung mit der Dispens mit zwei umfangreichen Kapiteln am Ende der Abteilung über das Naturrecht steht: Ließe sich nämlich nicht plausibilisieren, dass die Einschränkung naturrechtlicher Freiheit durch die Einführung obrigkeitlichen Zwangs rechtlich überhaupt möglich ist, entbehrten das folgende Buch III über die menschlichen positiven Gesetze ebenso wie die Bücher IV–VIII jeder Grundlage. Die zwei umfangreichen Kapitel 14 und 15 bilden mithin das Scharnier zwischen Suárezʼ allgemeiner Gesetzestheorie sowie seiner Lehre von den überpositiven Gesetzen einerseits und seiner Lehre von den positiven Gesetzen andererseits.
29 Vgl. Gideon Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ›De legibus‹ (DL III). In: »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ ›De Legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. StuttgartBad Cannstatt 2013, S. 195–230; Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social. Vom Gesellschaftsvertrag. Frz./Dt. Übers. u. hg. von Hans Brockard. Stuttgart 22010, S. 33 (I, 6): »Diese Schwierigkeit lässt sich […] so ausdrücken: ›Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor‹.« / »Cette difficulté […] peut s’énoncer en ces termes. ›Trouver une forme d’association qui défende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s’unissant à tous n’obeisse pourtant qu’à lui-même et reste aussi libre qu’auparavant?‹«. Vgl. Oliver Bach: Obligatio. Instanzen und Fundamente von Verbindlichkeit: Melanchthon – Pufendorf – Hobbes – Rousseau. In: Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert. Hg. von Simon Bunke, Katerina Mihaylova u. Daniela Ringkamp. Tübingen 2015, S. 19–35, hier S. 32f.
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
. Der Stoff, aus dem die Unfreiheit ist – Dispens vom Naturrecht im Mittelalter Es ist bemerkenswert, dass dieses Problem schon in der mittelalterlichen Rechtslehre, insbesondere derjenigen der Dekretisten, präsent war: Sie legten verschiedene Problembeschreibungen und -lösungen vor. Auch Suárez selbst verweist in DL II. 14 vor allem auf Dekretisten bzw. Dekretalisten, obgleich er einen anderen Lösungsweg nehmen wird. Nichtsdestoweniger lohnt der Blick in die mittelalterliche Kanonistik: Dieser Blick vermag nämlich zum einen aufzuzeigen, dass das rechtstheoretische Problembewusstsein für den Austritt aus dem status naturalis keineswegs eine Domäne der Neuzeit ist; zum anderen erlaubt gerade dieser Blick ins Mittelalter zu verdeutlichen, worin der spezifische Mehrwert von Suárezʼ Überlegungen zur Dispens vom Naturrecht besteht. Rudolf Weigand hat bereits 1967 in seiner großen Studie über die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten gleichfalls das Problem von libertas und servitus bzw. den Lösungsweg der Dispens als den interessantesten, weil zentralen Komplex seines Gegenstandes ausgemacht.30 Gratian († ca. 1160) beschreibt in seinem Decretum Unterdrückung und Unterwerfung als Einrichtungen des Gewohnheitsrechts: Das Naturrecht beginnt also mit dem Anfang des vernünftigen Geschöpfes und bleibt, wie oben gesagt wurde, unveränderbar. Das Gewohnheitsrecht aber nahm seinen Anfang nach dem natürlichen Gesetz, und zwar von dem Zeitpunkt an, als die Menschen zusammentraten, sich vereinigten und begannen gemeinsam zu siedeln. Man glaubt, dass dies zu der Zeit geschah, als Kain eine Stadt baute. Jedoch schien das Gewohnheitsrecht durch die Sintflut und die geringe Anzahl an Menschen nahezu ausgelöscht gewesen zu sein. Nach dieser Zeit hat angeblich Nimrod das Gewohnheitsrecht wiederhergestellt und es verändert, als er mit Anderen gemeinsam Menschen entweder unterdrückte oder diese sich wegen ihrer Schwäche ihrer Herrschaft unterwarfen.31
30 Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten (s. Anm. 27), S. 64–78, S. 259– 282. 31 DG p. D. 6, c. 3 (Decretum Magistri Gratiani. Hg. v. Emil Ludwig Richter u. Emil Friedberg. Leipzig 1879, Sp. 11): »Naturale ergo ius ab exordio rationalis creaturae incipiens, ut supra dictum est, manet immobile. Ius vero consuetudinis post naturalem legem exordium habuit, ex quo homines conuenientes in unum ceperunt simul habitare; quod ex eo tempore factum creditur, ex quo Cain civitatem edificasse legitur, quod cum diluvio propter hominum raritatem fere videatur exstinctum, postea postmodum a tempore Nemroth reparatum siue potius immutatum existimatur, cum ipse simul cum aliis alios cepit opprimere; alii sua imbecillitate eorum ditioni ceperunt esse subiecti.« Übers. O.B.
Oliver Bach Hierbei fällt nicht nur die Variabilität des Gewohnheitsrecht auf, seine Veränderbarkeit durch eine einzige natürliche Person und somit sein Charakter als positives Recht. Bemerkenswert ist an dieser Stelle des Decretum Gratiani auch die strikt historische Perspektive, dergemäß das ius consuetudinis »seinen Anfang nach dem natürlichen Gesetz« nahm: Damit ist eine systematische Perspektive, ob nämlich das Naturrecht über die Einführung des Gewohnheitsrechts hinaus nicht nur Geltung hat, sondern auch eine Vorrangstellung unter den Rechtsquellen einnimmt, auf den ersten Blick verdeckt. Da aber Gratian zugleich den Begriff servitus vermeidet, eröffnet er gleichsam die Möglichkeit zur Diskussion, ob er mit den Unterdrückten und Unterworfenen nicht auch »das Untertanenverhältnis allgemein im Auge hat«.32 Bei allen Mängeln seiner temporalisierenden Argumentation erweitert sich bei Gratian dennoch nicht nur der schiere Umfang der gegen das natürliche Gesetz eingeführten Sklaverei, sondern auch ihre juridische Qualität: Sie wird vom Problem privaten Eigentums an Menschen und damit von einer ›lediglich‹ innerstaatlichen Unfreiheit zum allgemein staatsrechtlichen Problem des uneingeschränkten obrigkeitlichen dominium an allen Bürgern und so zur staatlichen Unfreiheit überhaupt. Obwohl also Gratian selbst seine rechtshistorischen Ausführungen zur ursprünglichen Freiheit des Menschen nicht um rechtstheoretische Überlegungen ergänzt, verwundert es nicht, dass in der Folge nahezu alle Dekretisten im Rahmen ihrer Naturrechtslehre das Problem der Sklaverei in ihrem Verhältnis zur naturrechtlichen Freiheit des Menschen eingehen.33 Die Vermittlungsversuche sind dabei mannigfaltig, teilweise auch erstaunlich. Am meisten mag aus rechtstheoretischer Perspektive wohl die pragmatische Argumentation der Summe Ius aliud diuinum verwundern: Zwar verstößt u.a. die Sklaverei gegen das natürliche und göttliche Recht; gleichwohl sollten christliche Prediger den Sklavenhaltern ihr Eigentum an Sklaven nicht streitig machen, auf dass das Christentum nicht als aufrührerisch angesehen und die Konversion scheitern möge.34 Einen Lösungsvorschlag rechtstheoretischer Natur legt die Summe Reverentia sacrorum canonum vor. Sie schreibt dem Naturrecht der Freiheit bloßen Hinweischarakter zu:
32 Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten (s. Anm. 27), S. 264. 33 Ebd. 34 Summa Ius aliud diuinum. Biblioteca Pinacoteca Accademia Ambrosiana, Sign. H 94 sup., f. 73–80, hier f. 74rb–va; zit. n. Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten (s. Anm. 27), S. 265f.
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
Mit Blick auf die Freiheit und die Gütergemeinschaft, die von manchen als Hinweise des Naturrechts bezeichnet werden, wurde das Naturrecht um die Form erweitert, sodass auch die der Freiheit entgegengesetzte Sklaverei durch das geschriebene [göttliche] Recht als rechtmäßig anerkannt wurde.35
Zurecht weist Weigand dieser Stelle die Vorstellung eines ungeformten Naturrechts einerseits und eines geformten Naturrechts andererseits nach: Die Formgebung wird dabei gleichsam als Redaktionsakt einer göttlich inspirierten Verschriftung der natürlichen Gesetze betrachtet.36 Grundsätzlich ist diese Argumentationsbewegung dem Denken von einem ius naturale primaevum und ius naturale secundarium zuzurechnen.37 Im Vergleich zu dieser allgemeinen Temporalisierung des Naturrechts argumentiert die Summe Reverantia dennoch ungleich spezifischer: Durch die Redaktionsmetaphorik wird zum einen eine werkgenetische Perspektive auf das Naturrecht eröffnet. Die Unfreiheit wurde zu einem Zeitpunkt gegen das natürliche Recht der Freiheit eingeführt, zu dem dieses natürliche Recht noch gar nicht endgültig beschlossen war; insofern ist von Dispens keine Rede, schließlich ist sie bei einer ›unfertigen‹ Norm gar nicht erforderlich. Zum anderen wird durch die Rede von der Form eine metaphysische Terminologie bemüht, die vor dem Hintergrund der aristotelischen VierUrsachen-Lehre und Ontologie insinuiert, dass das ius naturale vor der göttlich inspirierten Verschriftung gleichsam nur Materie ist, der erst der Verschriftungsakt die Form gibt. Das Problem einer Dispens vom Naturrecht durch die Einführung der servitus wird unter diesem Gesichtspunkt konsequent umgangen, denn schließlich ist es allererst die später hinzugetretene Form, die zu-
35 Summa Reverentia sacrorum canonum. Stadtbibliothek, vormals Dombibliothek Erfurt, Sammlung Bibliotheca Amploniana, Sign. Amplon. quart. 117, f. 116rb; zit. n. Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten (s. Anm. 27), S. 269: »Circa libertates uero et rerum communiones que a quibusdam demonstrationes iuris naturalis dicuntur, forma adiecta est, ut et seruitus libertati contraria hoc iure scripto comprobetur […]«. Übers. O.B. 36 Summa Reverentia sacrorum canonum, f. 116ra–b; zit. n. Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten (s. Anm. 27), S. 190: »Nachdem dem natürlichen Gesetz die Form hinzugefügt wurde, ist es anschließend durch göttliche Eingebung schriftlich festgehalten worden, weshalb es Gesetz der Schrift genannt wird, welches wiederum unterteilt wird in das Gesetz Mose, das Gesetz der Propheten, das Gesetz des Evangeliums und das Gesetz der Apostel.« / »[A]diecta forma ex eo quod postmodum in scriptis diuinitus redactum est, dicitur lex scripturae que distinguitur in legem mosaicam, in legem propheticam, in legem evangelicam, in legem apostolicam […]«. Übers. O.B. 37 Vgl. Kurt Seelmann: ›Ius naturale‹ und ›ius gentium‹ bei Fernando Vázquez de Menchaca. In: Kontroversen um das Recht: Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez. Hg. von Kirstin Bunge et. al. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 235–260, hier S. 236–240.
Oliver Bach gleich das aktive und überzeitlich gültige Prinzip darstellt.38 Mit anderen Worten: Erst die formgebende Aktualisierung durch die göttlich inspirierte Verschriftung setzte das göttliche Naturrecht eigentlich in seine Existenz (Hylemorphismus).39 Dasjenige, wovon bei Einführung der Knechtschaft ›dispensiert‹ wurde, war nicht das göttliche ius naturale. Die Freiheit also der Stoff, aus dem die Unfreiheit ist? Neben dieser Aporie einer unvermittelt auf die praktische Vernunft angewandten spekulativen Metaphysik lässt der Lösungsvorschlag der Summe Reverentia offen, wie das Zeitalter zwischen Schöpfung und der Stiftung des Dekalogs anders als rechtlos begriffen werden kann. Darüber hinaus bestimmt die Summe anders als die Digesten die servitus nicht als Institut des Staats- oder Völkergemeinrechts, sondern eben als Einrichtung des ›geformten Naturrechts‹. Andere Summen halten sich demgegenüber sichtlich stärker an die romanistische Vorstellung, dass die Freiheit durch das Völkergemeinrecht aufgehoben bzw. abgeschafft worden sei. Weigand führt hierzu eine Reihe von Beispielen an und beschreibt diese zu Recht als eigene Gruppe genuin »historischer Erklärungen«.40 Sie teilen zwar das temporalisierende Moment, wie es auch in den bereits angeführten Lösungsvorschlägen vorhanden war, und scheinen insofern »nur eine Modifikation« derselben zu sein.41 Dennoch zeichnen sich Weigands Beispiele durch einen Historismus insofern aus, als sie die Tatsache der Unfreiheit durch die historische Perspektive mehr akzeptieren als systematisch befragen. Paradigmatisch hierfür ist die Summe Sicut vetus testamentum:
38 Aristoteles: Metaphysik. Neubearb. d. Übers. von Hermann Bonitz, hg. von Horst Seidl. Hamburg 42009, Bd. 2, VII, 1033 b5–7: »Es ist also offenbar, daß die Form, oder wie man sonst die Gestaltung am sinnlich Wahrnehmbaren nennen soll, nicht wird, und daß es keine Entstehung derselben gibt, und daß ebensowenig das Sosein entsteht […].« / »φανερον ἄρα ὅτι οὐδὲ τὸ εἶδος, ἢ ὁτιδήποτε χρὴ καλεῖν τὴν ἐν τῷ αἰσθητῷ μορφήν, οὐ γίγνεται, οὐδʼ ἔστιν αὐτοῦ γένεσις, οὐδὲ τὸ τί ἦν εἶναι.« 39 Ebd., IX, 1050 a15–16: »Ferner ist der Stoff dem Vermögen nach, weil er zur Form gelangen kann; sobald er aber in Wirklichkeit ist, dann ist er in der Form.« / »ἔτι ἡ ὕλη ἐστὶ δυνάμει, ὅτι ἔλθοι ἂν εἰς τὸ εἶδος. ὅταν δέ γʼ ἐνεργείᾳ ᾖ, τότε ἐν τῷ εἴδει ἐστίν.« 40 Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten (s. Anm. 27), S. 271–274. 41 Ebd., S. 271.
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
Gemäß dem Naturrecht wurden von Beginn der Zeit an alle Menschen frei geboren. Dieser Teil wurde dem Naturrecht allerdings vom Völkergemeinrecht entzogen, sodass sich heute drei Arten von Menschen finden, nämlich die Freigeborenen, die Sklaven und die Freigelassenen.42
Der Beitrag der mittelalterlichen Kanonistik lässt sich wie folgt zusammenfassen: Sie hat unterschiedliche Vorschläge gemacht, um die Einführung der politischen Unfreiheit gegen das Naturrecht zu erklären. Nicht allen gelang es, diesen Akt anders denn als Dispens vom Naturrecht zu bestimmen. Insbesondere die Summe Ius aliud diuinum hebt mit ihrer missionspragmatischen Duldung der Sklaverei die Freiheit als geltende naturrechtliche Regel situativ auf. Auch die Summe Sicut vetus testamentum lässt unterbestimmt, wie die unhinterfragte historische Aktualität des Völkergemeinrechts und seines Instituts der Sklaverei rechtstheologisch anders gedacht werden soll denn als göttliche Dispens vom Naturrecht. Demgegenüber versucht insbesondere die Summe Reverentia, die Freiheit durch ihre Reduktion zum bloßen Hinweis und durch die Idee der Abschaffung dieser Freiheit durch ein von Gott allererst fertig ›geformtes‹ Naturrecht rechtstheoretisch zu entproblematisieren. Zwar macht diese Summe damit die politische Unfreiheit zu einer naturrechtlichen Einrichtung und bestimmt implizit die Zeit zwischen Schöpfung und Altem Bund als rechtsfreies Zeitalter – beides Positionen, die Suárez ausdrücklich nicht vertreten wird.43 Allerdings wird Suárez an eine allgemeine Idee vom Hinweischarakter des Naturrechts und an eine verstärkte Einführung der Gottesinstanz anknüpfen können.
42 Summa Sicut vetus testamentum. Biblioteca Nazionale Centrale, Sign. Conv. Soppr. G IV 1736, f. 2rb; zit. n. Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten (s. Anm. 27), S. 271: »Iure enim naturali ab initio omnes homines [liberi; Weigand] nascebantur, set iure gentium derogatum est iuri naturali ut hodie tria genera hominum inueniantur, ingenui uidelicet, serui et liber[t]i [Emendation Weigand].« Übers. O.B. 43 Siehe zur Geltung des Naturrechts vor dem Alten Bund DL II. 15. 9, Brieskorn 578f., Pereña IV, 53: »Wenn nämlich die Vorschriften der zweiten Tafel nicht natürliches Gesetz wären, so hätten sie die Menschen vor der Verkündigung des Gesetzes durch Moses nicht allein aus der Kraft der natürlichen Vernunft gebunden. Ob jedoch etwas durch besonderen göttlichen Akt untersagt war, konnte die natürliche Vernunft lediglich dadurch feststellen, dass sie in den betreffenden Handlungen eine wesentliche Schlechtigkeit aufzeigte.« / »[E]nim si praecepta secundae tabulae non essent legis naturae, ante legem per Moysem datam non obligassent homines ex vi solius rationis naturalis; quia per illam non poterat constare de speciali prohibitione divina, si ratio non ostendebat in actibus intrinsecam malitiam.«
Oliver Bach
. Freiheit als ius permissivum und ius dominativum Suárez will weder dem Naturrecht seine übergeordnete Geltung absprechen noch will er bestreiten, dass das menschliche Gesetz die natürliche Freiheit einschränke und einschränken darf. Was er also im Ergebnis nicht bestreiten will, muss er rechtsquellentheoretisch richtigstellen. Im Rahmen seiner Behandlung des menschlichen positiven Rechts im dritten Buch wird Suárez vor allem anthropologisch argumentieren: Gideon Stiening hat präzise herausgearbeitet, inwiefern Suárez dort den Menschen einerseits »als von seiner Natur aus frei und niemandem außer seinem Schöpfer allein unterworfen« bestimmt,44 andererseits als ein »gesellschaftliches Wesen« definiert, das »von Natur aus und um seiner Wesenheit willen danach strebt, in Gemeinschaft zu leben«.45 Insbesondere diesem zweiten Anthropologem, einem gleichsam vor-grotianischen appetitus societatis, entnimmt Suárez im dritten Buch das normative Element, sich der natürlichen Freiheit nicht nur zu begeben, sondern auch begeben zu müssen.46 Die politische Beschneidung naturständlicher Freiheit ist – ebenso wie die Einführung des Privateigentums – zwar historisch menschengemacht bzw. anthropogen. Darum ist sie jedoch nicht auch anthroponom; sondern sie ist selber Gebot des Naturrechts. Auch das dritte Buch von De legibus wird also implizit argumentieren, dass die Abschaffung naturständlicher Freiheit normativ innerhalb des Naturrechts selbst geregelt ist. Gleichwohl argumentiert Suárez an den genannten Stellen des dritten Buches unmittelbar nur mit den Bedingungen der Natur – der Mensch ist »von seiner Natur aus frei« und strebt »von Natur aus und um seiner Wesenheit danach, in Gemeinschaft zu leben«; die eigentliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Naturrechts erfolgt dagegen schon im vierzehnten Kapitel des zweiten Buches. Naturständliches Sollen und naturrechtliches Sollen sind sichtlich nicht dasselbe bei Suárez. Dies stellt einen wichtigen Schlüssel für Suárezʼ Strategie dar, sowohl um seine politische Theorie nicht schon im zweiten Buch ihrer Voraussetzungen zu benehmen als auch um zu widerlegen, dass die Beschränkung natürlicher Freiheit im Staat eine Dispens vom Naturrecht darstelle. Zunächst stellt Suárez auf eine offensichtlich nicht ausreichend behutsame Sprachregelung des Dispens-Diskurses ab:
44 DL III. 1. 1, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 6/7: »[H]omo natura sua liber est et nulli subiectus nisi creatori tantum.« 45 DL III. 1. 3, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 10/11: »[H]ominem esse animal sociale et naturaliter recteque appetere in communitate vivere.« 46 Vgl. Stiening: Libertas et potestas (s. Anm. 29), S. 197–200.
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Um zu zeigen, inwiefern die These zutrifft, ist zu berücksichtigen, dass man den Satz, »etwas gehöre zum Naturrecht«, auf mehrere Weisen verstehen kann. Die erste Weise ist die eigentümlichste und liegt genau dann vor, wenn eine Handlung von einem natürlichen Gesetz vorgeschrieben wird. Dies ist die ursprüngliche Weise, vom Naturrecht zu sprechen, die wir an dieser Stelle erörtern. […] Auf eine zweite Weise wird etwas als zum Naturrecht gehörend ausgegeben, indem es nur als erlaubt bestimmt wird, also entweder negativ – als nicht verboten und nicht geboten – oder positiv – als eingeräumt – bestimmt wird. Solcher Art sind zahlreiche Einrichtungen, die mit Blick auf das reine Naturrecht erlaubt oder den Menschen zur Ausgestaltung überlassen sind; hierzu zählen das Gemeineigentum, die Freiheit der Menschen und Ähnliches. In Bezug auf diese Gegebenheiten ordnet das natürliche Gesetz nicht an, dass die Menschen im jeweils vorgefundenen Zustand bleiben sollen; vielmehr überantwortet es ihre Zukunft der menschlichen Gestaltung selbst, die vernünftig vorzunehmen ist. […] So ist auch die Freiheit dem Menschen eine natürliche Ausstattung, die er der Kraft des Naturrechts verdankt, und doch verbietet es das natürliche Gesetz nicht, jene Freiheit zu verlieren.47
Suárez ›schwächt‹ die naturständliche Freiheit insofern, als sie vom Naturrecht nur erlaubt, nicht aber geboten sei. Daher erfolgt ihre Aufhebung nicht als Verstoß gegen das oder als Dispens vom Naturrecht. Die Freiheit ist ebenso wie die Gütergemeinschaft lediglich rechtlich möglich, nicht aber rechtlich notwendig. Die Aktualisierung gegenteiliger Möglichkeiten, nämlich die Beschränkung der Freiheit und die Einführung des Privateigentums, ist somit im Umkehrschluss keineswegs rechtlich unmöglich. Schon mit dieser Distinktion zwischen einer lex naturalis praeceptiva und einem ius naturale permissivum gewinnt Suárezʼ Lösungsstrategie erste Konturen: Von einem lediglich permissiven Satz des Naturrechts ist eine Dispens weder erforderlich noch auch nur möglich. Wie nämlich kann man die Dispens von einer freien Alternative eines ius permissivum erwägen, ohne implizit den Vorrang einer anderen, notwendigen Alternative zu behaupten? Damit ist Suárezʼ Argumentation allerdings noch nicht abgeschlossen. Denn gezeigt wurde bislang lediglich, dass die Beschränkung der naturrechtlichen Freiheit nicht verboten ist und dass der Umgang mit dieser Freiheit »der
47 DL II. 14. 6, Brieskorn 543f., Pereña IV, 22: »Ut ergo veritatem breviter explicemus, advertendum est multis modis posse aliquid dici de iure naturali. Primus et maxime proprius est quando lex aliqua naturalis id praecipit; et hic est modus proprius iuris naturalis de quo nos tractamus. […] Alio vero modo dicitur aliquid esse de iure naturali solum permissive aut negative aut concessive (ut sic res explicetur). Talia sunt multa quae attento solo naturali iure licita sunt vel data hominibus, ut rerum communitas, hominum libertas et similia. De quibus lex naturae non praecipit ut in eo statu permaneant, sed hoc relinquit hominum dispositioni iuxta rationis exigentiam. […] Sic etiam libertas est homini naturalis quia ex vi iuris naturalis illam habet, licet lex naturae non vetet illam amittere.«
Oliver Bach menschlichen Gestaltung selbst« überlassen wurde. Es steht allerdings noch zu begründen aus, wie diese menschliche Gestaltung vor sich gehen können soll. Im vorliegenden Zusammenhang geht es bei dieser Frage nicht um den Vergemeinschaftungsprozess und den Vorgang der Machtübertragung als solchen, wie sie Suárez im dritten Buch im Einzelnen erläutern wird.48 Vielmehr interessieren abermals die vorausgehenden naturrechtstheoretischen Grundlagen. Wie nämlich Brian Tierney jüngst minutiös herausgearbeitet hat, unterscheidet sich das permissive Recht bzw. die juridische Erlaubnis von der bloßen faktischen Erlaubnis bei Suárez gerade dadurch, dass die permissio facti lediglich empirische Hindernisse beseitigt, und zwar unabhängig davon, welche diese Hindernisse auch sein mögen. Die juridische Erlaubnis hingegen beseitigt rechtliche Hindernisse und erlaubt insofern nur bestimmte Handlungen, woraus die Verpflichtung generiert, an diesen Handlungen nicht zu hindern.49 Ebendies gilt für das natürliche ius permissivum der Freiheit: Die Prohairesis, die naturständliche Freiheit beizubehalten oder einzuschränken, obliegt nur deren Inhaber selbst. Unter Rückgriff auf das erste Buch von De legibus führt Suárez daher eine weitere Distinktion ein: Dort nämlich hatte Suárez erläutert, »dass Recht gelegentlich Gesetz, gelegentlich aber auch Herrschaft oder gleichermaßen Herrschaft über eine Sache bzw. auch Befugnis, die Sache zu benutzen, bezeichnet«.50 Vom Naturrecht, als Gebot bzw. Verbot schlechthin verstanden, unterscheidet er einen Begriff des Naturrechts als ius dominativum. Damit kommt Suárez auf den folgerichtigen, im Argumentationsgang aber bemer-
48 Stiening: Libertas et potestas (s. Anm. 29), S. 201–208. 49 Brian Tierney: Liberty and Law. The Idea of Permissive Natural Law, 1100–1800. Washington D.C. 2014, S. 199–201. 50 DL II. 14. 16, Brieskorn 557, Pereña IV, 33: »Diximus enim ius aliquando significare legem, aliquando vero significare dominium vel quasi dominium alicuius rei seu actionem ad utendum illa«; vgl. DL I. 2. 5, Brieskorn 42, Pereña I, 24f.: »Bei der an zweiter Stelle genannten, engeren Bedeutung bezeichnet Recht zutreffend eine bestimmte moralische Fähigkeit, die jeder entweder in Bezug auf sein Eigentum oder eine ihm geschuldete Sache ausüben darf. Daher sagt man zu Recht, dass der Eigentümer eines Gegenstandes das Recht auf den Umgang mit ihm habe und dass einem Arbeiter das Recht auf Lohn zustehe. Deswegen sagt man auch: ›Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert‹. Die Verwendung dieses Wortes trifft man nicht nur in der Rechtssprache, sondern auch in der Hl. Schrift häufig an. Im Recht werden nämlich auf diese Weise das Recht an einer Sache und das Recht auf eine Sache unterschieden.« / »Et iuxta posteriorem et strictam iuris significationem solet proprie ius vocari facultas quaedam moralis, quam unusquisque habet vel circa rem suam vel ad rem sibi debitam; sic enim dominus rei dicitur habere ius in re et operarius dicitur habere ius ad stipendium ratione cuius dicitur ›dignus mercede sua‹. Et haec significatio vocis huius frequens est non solum in iure sed etiam in Scriptura; nam in iure hoc modo distinguuntur ius in re vel ad rem.«
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
kenswerten Zwischenschluss: Auch wenn das Naturrecht die Unfreiheit zwar nicht verbietet, so teilt es sie dennoch nicht in gleicher Weise zu wie die Gütergemeinschaft und die Freiheit. Wenn wir jedoch über das Naturrecht als Herrschaftsrecht sprechen, so ist zutreffend, dass die Freiheit dem Naturrecht in positiver und nicht bloß in negativer Weise entspricht, weil es die Natur selbst ist, die dem Menschen eine wahre Herrschaft über seine Freiheit zugeteilt hat.51
Auf den ersten Blick wirft die Bestimmung der natürlichen Freiheit als ius dominativum Suárez also zurück: Das Problem, die Einschränkung der Freiheit durch den status civilis anders denn als Dispens vom Naturrecht zu erklären, scheint sich mit dieser Distinktion neu zu stellen: Freiheit ist ein subjektives Recht und insofern gegen den Eingriff Dritter geschützt. Bei näherem Hinsehen findet Suárez jedoch gerade im ius dominativum den entscheidenden Ansatz, um seine Argumentation zu vervollständigen. Die Übersetzung von dominium mit Herrschaft darf diesen Ansatz nicht übersehen lassen: Denn in der Tat ist Suárezʼ Begriff von Herrschaft in der vorliegenden Bestimmung als »Herrschaft über eine Sache bzw. als Befugnis, die Sache zu benutzen« identisch mit dem Begriff von Eigentum. Als solcher wird dominium zwar seit dem Mittelalter von der sachenrechtlichen proprietas unterschieden, die »das Recht über eine körperliche Sache umfassend zu bestimmen« bezeichnet;52 gleichwohl impliziert auch und gerade der Begriff des dominium die Möglichkeit, das betreffende Rechtsgut auch zu veräußern (»cum alienandi potestate«).53 Auch Suárez selbst wird im dritten Buch Herrschaft und Eigentum nochmals engführen.54 Dennoch ist es die vorliegende Stelle im zweiten Buch, an der Suárez aus dieser Bestimmung des dominium bzw. des ius dominativum für die Auflösung der drohenden Aporie zwischen naturrechtlicher Freiheit und keineswegs naturrechtswidriger Unfreiheit Kapital schlagen wird. Das Rechtsgut veräußern zu können, ist nämlich dasjenige Merkmal des dominium, das die naturrechtliche Freiheit als umfas 51 DL II. 14. 16, Brieskorn 557f., Pereña IV, 34: »At vero si loquamur de iure naturali dominativo, sic verum est libertatem esse de iure naturali positive et non tantum negative, quia ipsa natura verum dominium contulit homini suae libertatis.« 52 Vgl. Hans-Rudolf Hagemann: Art. Eigentum. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig überarb. und erw. Aufl. Bd. I. Hg. von Albrecht Cordes et. al. Berlin 2008, S. 1271–1285. 53 Ebd. 54 Vgl. auch DL III. 2. 3, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 28/29: »[D]eshalb hat keiner eine politische Rechtsmacht und auch keine Spur von Herrschafts- oder Eigentumsrecht über einen anderen.« / »[I]deo nullus habet iurisdictionem politicam in alium, sicut nec dominium.«
Oliver Bach send subjektives Recht und doch bzw. gerade deshalb als jederzeit veräußerbar denken lässt. Mit dieser Vorstellung einer Veräußerung der Freiheit weist Suárez durchaus auf den Unterwerfungsvertrag des Thomas Hobbes voraus: Obwohl die Freiheit und die gesamte aus ihr hervorgehende Herrschaft eine Gabe der Natur ist, ist es dennoch nicht uneingeschränkt verboten, diese Freiheit aufzuheben. Denn gerade dadurch, dass der Mensch Herr seiner Freiheit ist, kann er sie veräußern bzw. sich fremder Gewalt unterstellen.55
Wenn der Mensch den Anderen seiner natürlichen Freiheit schon nicht ohne Weiteres berauben darf, weil sie diesem und nicht ihm als Naturrecht zusteht, so darf dieser Andere sehr wohl sich selbst seiner natürlichen Freiheit begeben und sich unterwerfen. Suárez befindet diesen Unterwerfungsvertrag als eine naturrechtlich mögliche und wirksame Aktualisierung einer von mehreren Möglichkeiten, die das Naturrecht bereitstellt. Als Aktualisierung naturrechtlicher Möglichkeit bedarf die Aufgabe der Freiheit eben keiner Dispens. Mehr noch: Durch die Bestimmung der natürlichen Freiheit als ius dominativum kann Suárez ihre Veräußerung nicht gegen, sondern aus diesem Recht schlussfolgern. Nachdem Gratian also die servitus vom letztlich rein privatrechtlichen Problem innerstaatlicher Unfreiheit zum allgemein staatsrechtlichen Problem staatlicher Unfreiheit erweitert hatte (2. 2), ist es bei Suárez ausgerechnet die Reduktion auf privatrechtliche Kategorien, die ihm die Aufhebung der Freiheit als rechtlich möglich darzustellen erlaubt: Beim Unterwerfungsvertrag ebenso wie bei der Versklavung ist die Freiheit des Menschen ein dem Eigentum ähnliches Rechtsgut, das veräußert werden kann.
Dispens vom präzeptiven Naturrecht: Gott als Gesetzgeber, Gott als Herrscher Sieht man vom politisch so bedeutenden permissiven Naturrecht der Freiheit ab, gelangt man zur prima vista rein theologischen Frage, ob Gott seine Vorsehung in einer Weise ändern kann, dass sie eben nicht mehr ihren Ort schon im Naturrecht hat: Gibt es mit Blick auf Gottes freien unzwingbaren Willen doch eine Vorsehung jenseits des Naturrechts? Dies ist Gegenstand des fünfzehnten 55 DL II. 14. 18, Brieskorn 560, Pereña IV, 36: »[Q]uamvis natura dederit libertatem et dominium eius, non tamen absolute prohibuisse ne auferri possit. Nam imprimis eo ipso quod homo est dominus suae libertatis, potest eam vendere seu alienare.«
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Kapitels: »Steht es Gott in seiner uneingeschränkten Macht zu, vom natürlichen Gesetz zu dispensieren?«56 Das entscheidende Problem hierbei ist, dass von naturrechtswidrigen Handlungen die Rede ist, die Menschen anbefohlen werden. Suárez sieht seine nicht wenig heikle Aufgabe darin, Gottes Allmacht einerseits nicht dem Naturrecht zu unterwerfen; andererseits sieht der Conimbricenser Rechtstheologe, dass zumindest die Dispens vom ersten Gebot, Gott zu lieben, unmöglich ist: Erstens widerspräche ein Befehl Gottes an den Menschen, ihn zu hassen, schlechterdings seiner eigenen bonitas, Gottes irreduzibler Positivität.57 Suárez sieht allerdings davon ab, dieses Argument hier genauer zu entwickeln. Jedoch entwickelt Suárez zweitens scheinbar beiläufig das sub specie hominis eigentlich schlagende Argument: Gott zu gehorchen ist der Anlage und Möglichkeit nach ein bestimmter Ausdruck der Liebe zu ihm; und die Verpflichtung zum Gehorsam entstammt der Liebe. Dem widerspricht jedoch, durch ein Gebot verpflichtet zu werden, Gott zu hassen.58
Insofern die Liebe zu Gott notwendige Bedingung des Gehorsams gegenüber Gott ist, ist Gehorsam unmöglich ohne diese Liebe. Folglich kann der Mensch, unabhängig von der bonitas Gottes, gar nicht zum Hass gegen Gott verpflichtet werden: Diesem Befehl Gehorsam zu leisten, wäre dem Menschen schlicht unmöglich, weil dieser Befehl die notwendige Bedingung jedes Gehorsams negiert. Der Befehl, Gott zu hassen, machte es sich selbst unmöglich, zu seiner eigenen Durchführung zu verpflichten. Selbst wenn man daran festhält, dass Gott vom ersten Gebot dispensieren könnte und wollte, so besäße diese Dispens beim Menschen schlechterdings keine Geltung. Eine solche Dispens vom ersten Gebot bzw. ein solcher Befehl zu dessen Missachtung scheiterten an ihrem Selbstverhältnis. Im Hinblick auf die restlichen Gebote des Dekalogs, die Suárez als unmittelbare Schlussfolgerungen aus den Prinzipien Das Böse ist zu meiden und Das Gute ist anzustreben bestimmt,59 gilt zwar nicht apriori die Selbstwidersprüchlichkeit einer Dispens. Gleichwohl sieht Suárez auch bei ihnen davon ab, einen Befehl Gottes zu einer naturrechtswidrigen Handlung als Dispens zu bestim-
56 DL II. 15, Brieskorn 570, Pereña IV, 45: »Utrum Deus dispensare possit in lege naturali etiam de absoluta potestate.« 57 DL II. 15. 5, Brieskorn 574f., Pereña IV, 50f. 58 DL II. 15. 5, Brieskorn 574, Pereña IV, 50: »[O]bedire Deo est quidam virtualis amor eius; et obligatio ad obediendum praesertim nascitur ex amore. Ergo repugnat obligari ex praecepto ad ipsummet Deum odio habendum.« 59 DL II. 15. 2, Brieskorn 574f., Pereña IV, 48.
Oliver Bach men. Dem geht eine wichtige Überlegung im Hinblick auf Gottes freien Willen voraus, die Suárez in einer umfangreichen Auseinandersetzung mit Duns Scotus entwickelt und das Verhältnis des göttlichen Willens zur Schöpfung betrifft: Wir haben weiter oben aufgezeigt, dass es als wahrscheinlich zutreffend gilt und mit einem angemessenen Gottesverständnis zusammenstimmt, dass der göttliche Wille zu dem erwähntem Verbot im Dekalog genötigt war, nachdem er sich bereits entschlossen hatte, die menschliche Natur zu erschaffen, zu lenken bzw. über sie eine Vorsehung auszuüben.60
Suárez behandelt hier nicht allein das Verhältnis des göttlichen Willens zu einem Erschaffenen, sondern beleuchtet an dieser Stelle auch und vor allem das Verhältnis zweier erschaffener Dinge zueinander, nämlich dasjenige zwischen Mensch und Gebot:61 Erst aus diesem Verhältnis zieht Suárez seine Schlüsse im Hinblick auf den göttlichen Willen. Suárez versucht sichtlich die Behauptung zu vermeiden, dass Gott vom Naturrecht deshalb nicht dispensieren könne, weil ihn die Vernunft als eine ihm übergeordnete Instanz dazu zwänge. Suárez’ Verteidigung seiner simultanen und damit scheinbar widersprüchlichen Formulierung von Nötigung und Entschluss Gottes besteht darin, dass Gott durch seinen freien Willen den Menschen mit einer bestimmten Ausstattung geschaffen habe. Aus dieser Anlage, die von Gott frei erschaffen wurde, folgt nun eine bestimmte Gestalt des Naturrechts, unter anderem eben das achte Gebot, nicht zu lügen. Am Anfang der Schöpfungs- und damit auch der göttlichen Rechtsgeschichte steht für Suárez folglich allemal ein Willensakt. Wenn Gott anschließend diesem einmal gefassten Plan weiter folgt und entsprechend nicht von einem Naturrecht dispensiert, das der einmal geschöpften Natur des Menschen allein gemäß ist, dann handelt Gott zwar konsequent, aber konsequent seinem eigenen Willen gegenüber. Suárez versucht also erstens den Vernunftdruck auf die Gottesinstanz gleichsam zu einem Konsistenzdruck zu reduzieren. Zweitens geht es Suárez hier ausschließlich um juridische Konsistenz. Er schließt nämlich naturrechtswidrige Befehle Gottes nicht aus – Beispiele solcher Befehle liefert schließlich die Heilige Schrift selbst, wie gleich noch zu sehen ist. Seine Naturrechtstheorie unternimmt es lediglich, diese Befehle als
60 DL II. 15. 12, Brieskorn 582, Pereña IV, 57: »Nos autem supra ostendimus ut probabilius etiam illo modo non esse inconveniens necessitari divinam voluntatem ad illam prohibitionem, ex suppositione quod decrevit naturam humanam condere et illam gubernare seu convenientem providentiam circa illam habere.« 61 Suárez spricht an dieser Stelle vom achten Gebot.
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Akte Gottes dem juridischen Diskurs überhaupt zu entziehen und damit die Frage der Dispens für hinfällig zu erklären. Suárez gesteht nämlich ein, dass Gott es unter Umständen bewirken kann, Handlungen eines spezifischen Regelungsgegenstandes zu erlauben, die – ohne sein unmittelbares und eigenmächtiges Eingreifen – nie anders als unerlaubt vollzogen werden können.62
Im Konditionalsatz bringt Suárez allerdings bereits den Lösungsansatz unter: Die Unmittelbarkeit und Eigenmächtigkeit von Gottes Eingreifen sind Bedingung einer solchen Erlaubnis. Schon zuvor im vierzehnten Kapitel deutete Suárez an, dass Gott nicht kraft seiner »gewöhnlichen Rechtsmacht« dispensieren könne, sehr wohl aber aufgrund seiner »absoluten Macht« Vorschriften zu ändern in der Lage sei.63 Um zu erläutern, warum auch dies nicht als Dispens gelten kann, präzisiert Suárez im fünfzehnten Kapitel diese Distinktion zwischen der absoluten und der gewöhnlichen legislatorischen Macht Gottes. Er schlägt vor, »in der Gottesinstanz verschiedene Funktionen zu unterscheiden«, nämlich obersten Gesetzgeber, obersten Richter und obersten Herrscher.64 Auf diesem Wege kommt Suárez zu folgendem Schluss:
62 DL II. 15. 19, Brieskorn 589, Pereña IV, 63: »Quia vero negare non possumus Deum aliquando efficere ut actus illi materiales liceant, qui alias, non interveniente Deo ipso et eius potestate, licite fieri non possint […].« 63 DL II. 14. 10, Brieskorn 548, Pereña IV, 25: »Deus ipse non potest (saltem iure ordinario) dispensare in aliquo ex praeceptis legis naturalis. Quod si interdum aliquam in his praeceptis mutationem facit, utitur absoluta potentia, immo et supremo dominio.« 64 DL II. 15. 19, Brieskorn 589f., Pereña IV, 63: »Um daher zu verstehen, wie dies geschieht, weshalb dieser Akt keine Dispens ist und auch nicht so genannt werden sollte, ist es hilfreich, in der Gottesinstanz verschiedene Funktionen zu unterscheiden. Er ist nämlich oberster Gesetzgeber, der neue und vom bisherigen Bestand abweichende Vorschriften aufzuerlegen vermag. Er ist zugleich oberster Herrscher, dem es zusteht, Herrschaftsrechte abzuändern und zu begründen. Schließlich ist er auch oberster Richter, der bestrafen und jeden Einzelnen zuteilen kann, was ihm zusteht.« / »[I]deo ut intelligatur quomodo hoc fiat et cur illa non sit nec appelletur dispensatio, oportet distinguere in Deo varias rationes. Est enim supremus legislator, unde habet ut possit nova et varia praecepta imponere. Est etiam supremus dominus, qui potest dominia mutare vel concedere. Est item supremus iudex, qui potest punire vel unicuique reddere quod ei debetur.«
Oliver Bach Sooft Gott also einen Akt, der durch das Naturrecht verboten schien, in einen erlaubten umwandelt, vollzieht er dies niemals ausschließlich als Gesetzgeber; er wird vielmehr in einer anderen Funktion tätig und dispensiert daher nicht.65
Wenn Gott einem Menschen etwas zu tun befiehlt, was gegen das Naturrecht ist, so ist nicht dieser Mensch, sondern Gott selbst der Akteur, das Subjekt dieser Handlung. Von einer Dispens ist folglich auch hier nicht zu sprechen, insofern zum einen der Mensch als Subjekt des Naturrechts gar nicht der Handelnde war und insofern zum anderen Gott als Subjekt dieser Handlung nicht Subjekt des Naturrechts ist. Suárez’ folgendes Beispiel ist die befohlene Tötung Isaaks: Als Gott nämlich Abraham befahl, seinen Sohn zu töten, tat er dies als Herr über Leben und Tod. Hätte Gott selbst Isaak mit eigener Hand töten wollen, so hätte er dazu keiner Dispens bedurft, sondern er hätte diesen Akt mit seiner Herrschaftsgewalt ausführen können. In derselben Rolle vermochte er es, Abraham als Instrument zu benutzen. Das fünfte Gebot verbietet es nicht, als Werkzeug Gottes bei einer Tötung mitzuwirken, wenn Gott selbst sie vorgeschrieben hat.66
Letztlich ist diese Argumentation des Suárez imputationstheoretischer Natur: Eine Handlung, die aus einem das Naturrecht aufhebenden Befehl hervorgeht, ist erstens allein Gott, nicht aber dem unmittelbar handelnden menschlichen Akteur zuzurechnen. Da Gott zweitens nicht Subjekt des Naturrechts ist, ist weder diese Handlung ihm als Bruch des Naturrechts vorzuwerfen noch ist diese Handlung als Dispens zu verstehen, weil Gott als der eigentlich verantwortliche Handelnde keiner Dispens vom Naturrecht bedarf. Dieses imputationstheoretische Argument funktioniert allerdings ausschließlich unter der Voraussetzung, dass ein solcher naturrechtswidriger Befehl, wie ihn Abraham empfing, als Nötigung verstanden wird: Entweder ergeht ein Befehl unter gesetzlichem Zwang, d.h. unter dem Zwang eines geltenden Rechtes; dieses straft zwar die Zuwiderhandlung, überlässt aber die Willensentschließung allemal demjenigen, der die befohlene Handlung vollziehen soll. Oder ein Befehl ergeht unter beugendem Zwang, der erstens arbiträr und zwei-
65 DL II. 15. 19, Brieskorn 590, Pereña IV, 63: »Quoties ergo Deus facit licitum actum qui iure naturae videbatur prohibitus, nunquam id facit ut purus legislator, sed utendo alia potestate; et ideo non dispensat.« 66 DL II. 15. 20, Brieskorn 590, Pereña IV, 63f.: »Quando enim Deus praecepit Abrahae interficere filium, id fecit tanquam dominus vitae et mortis. Si enim Deus ipse per seipsum voluisset interficere Isaac, non indiguisset dispensatione, sed ex suo dominio id facere posset. Eodem ergo modo potuit uti Abrahamo ut instrumento; et quintum praeceptum non prohibet esse instrumentum Dei in occisione, si ipse praeceperit.«
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
tens unmittelbar ist; der Befehl ergeht jenseits geltenden Rechts67 und will die freie Willensentschließung desjenigen, der die befohlene Handlung vollziehen soll, durch beugende Gewalt gerade unterbinden. Mit Blick auf das Isaak-Opfer ist einerseits nicht zu bestreiten, dass dieser Befehl Gottes jenseits seines für Abraham und den Menschen rationablen Rechts erging: Gerade darin besteht schließlich ein Moment der Versuchung Abrahams. Andererseits spricht der Bibeltext Gen 22,1–10 weder von besonderen Zwangsmaßnahmen Gottes noch von einem Hadern Abrahams wie im Falle Hiobs68 oder Christi69 noch folgt aus dem außerordentlichen Charakter von Gottes Befehl, dass die folgende Handlung Abraham nicht zuzurechnen wäre: Das andere Moment seiner Versuchung besteht schließlich in Abrahams Bewährung, also gerade darin, sich richtig entschlossen zu haben: »Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und deinen einzigen Sohn nicht um meinetwillen verschont hast«.70 Dass Gott davon spricht, nun – und nicht schon zuvor – von Abrahams Gottesfurcht zu wissen, und er daher Abraham seine buchstäbliche Aufopferungsbereitschaft hoch anrechnet, machte schlechterdings keinen Sinn, wenn Abraham für die befohlene Handlung apriori nicht verantwortlich zu machen wäre wie im Falle unüberwindlichen Zwangs: Versuchung meint schließlich die Versuchung zum Abfall.71 Für Gen 22,1–19 gilt folglich ein Unterschied zwischen Gottesfurcht und der servilen Angst desjenigen, der genötigt wird. Ebendiesen Unterschied zwischen timor filialis und timor servilis, wie er sowohl von Augustinus als auch von Thomas von Aquin geprägt wurde,72 hebt Suárezʼ Lesart von Gen 22,1–19 auf, um gegen den Dispens-Charakter des Isaakopfers argumentieren zu können.
67 Vgl. zur juridischen Unterscheidung rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gehorsamsverweigerung Georg Geismann: ›Befehl ist Befehl‹. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 6 (1996), S. 601–622. 68 Hiob 40,1. 69 Mt 27,46. 70 Gen 22,12 (Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem. Hg. von Robert Weber, 3. verbesserte Auflage hg. von Bonifaz Fischer. Stuttgart 1983, S. 30): »[N]unc cognovi quod timeas Dominum et non peperceris filio tuo unigenito propter me.« 71 Vgl. Klaus Berger: Art. Abraham II. Im Frühjudentum und Neuen Testament. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 1. Hg. von Horst Balz et.al. Berlin, New York 1995, S. 372–382, hier S. 373–376; besonders pointiert S. 374: »Zwischen Erwählung und dem endgültigen Unter-dieGerechten-Gerechnetwerden kann die Phase der Versuchung zum Abfallen stehen.« 72 Vgl. Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Buch 11 bis 22. Übers. v. Wilhelm Thimme, eing. u. komm. von Carl Andresen. München 1978, S. 726 (lib. 21, cap. 24): »Sie fürchten Gott zwar, aber mit jener knechtischen Furcht, die nicht in Liebe ist, denn völlige Liebe treibt die Furcht aus. Deshalb erweist er denen, die auf ihn hoffen, seine Süßigkeit, indem er ihnen seine Liebe einflößt, auf daß sie in keuscher Furcht, die die Liebe nicht austreibt, sondern die ewiglich
Oliver Bach
Resümee Suárezʼ Überlegungen zur Dispens vom Naturrecht zeichnen sich durch ein großes begründungstheoretisches Problembewusstsein aus. Während das Mittelalter einesteils vordringlich das Wie der Dispens vom Naturrecht erläuterte, reflektiert Suárez auf ihr Ob und Warum. Wo das mittelalterliche Rechtsdenken andernteils rechtstheoretische Vorschläge über einen Hinweischarakter des ius naturale unterbreitet, schließt Suárez an sie an und baut sie zu einer Theorie permissiven Rechts aus, das gerade nicht von bloßer Indifferenz bestimmt ist. Suárez begründungstheoretischem Problembewusstsein korrespondiert gleichzeitig ein solches für die anderweitigen theoretischen Folgen, insbesondere für seine Staatsentstehungstheorie im dritten Buch. Dies kann als weiterer Beleg für die Einheit des Werkganzen von De legibus gelten, wofern einzelne Inkohärenzen dem nicht entgegenstehen. Beispielsweise ist die Frage einer genaueren Untersuchung wert, ob die anthropologische Staatsentstehungstheorie im dritten Buch und die naturrechtstheoretische Staatsentstehungstheorie im zweiten Buch weitgehend unabhängig voneinander argumentieren oder sowohl werkgenetisch als auch argumentationslogisch aufeinander bezogen sind. Unter Umständen ergibt sich im dritten Buch ein gravierendes Problem: Vom Akt der Unterwerfung unter eine Herrschaft sagt Suárez dort nämlich nicht mehr allein, dass es nicht gegen das permissive Naturrecht verstoße, sondern »die Unterwerfung verstößt doch
bleibt, sich im Herrn rühmen, wenn sie ihn rühmen.« / ders.: De civitate Dei. Hg. von Bernhard Dombart u. Alfons Kalb. Darmstadt 51981, vol. II, S. 534 (lib. 21, cap. 24): »[Q]uoniam timent quidem Deum, sed illo timore seruili, qui non est in caritate, quia perfecta caritas foras mittit timorem. Ideo sperantibus in eum perficit dulcedinem suam inspirando eis caritatem suam, ut timore casto, non quem caritas foras mittit, sed permanente in saeculum saeculi, cum gloriantur, in Domino glorientur«. Thomas von Aquin: STh II–II q. 19, art. 9–12, hier vor allem art. 9, ad 1 (Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa des Thomas von Aquin. Übers. von Ceslaus Maria Schneider. Bd. 7. Regensburg 1888, S. 131): »Die Hoffnung und die Furcht hängen innig miteinander zusammen und vollenden sich gegenseitig. Denn durch die Furcht fürchten wir nicht, daß uns das mangle, was wir kraft des göttlichen Beistandes zu erlangen hoffen; sondern wir fürchten, uns dem göttlichen Beistände zu entziehen.« / ders.: Summa Theologiae. Vol. 33: Hope. Latin text and English transl., introd. by Wiliam J. Hill. London, New York 1966, S. 72: »Ad primum ergo dicendum quod timor filialis non contrariatur virtuti spei. Non enim per timorem filialem timemus ne nobis deficiat quod speramus obtinere per auxilium divinum, sed timemus ab hoc auxilio nos subtrahere. Et ideo timor filialis et spes sibi invicem cohaerent et se invicem perficiunt.«
Francisco Suárez über die Dispens vom Naturrecht
auch nicht gegen das vorschreibende Naturrecht«.73 Entweder hat man es an dieser Stelle mit einer systematischen Inkonsistenz zu tun: Suárez befindet die natürliche Freiheit in Abgrenzung zum zweiten Buch als präzeptives natürliches Gesetz, macht damit aber doch eine Dispens hiervon denknotwendig. Oder es liegt eine terminologische Unschärfe vor: Suárez befindet die natürlich Freiheit in Übereinstimmung mit dem zweiten Buch als bloß permissives Naturrecht und gerade insofern verstößt ihre Aufhebung nicht gegen das präzeptive Naturrecht. Zu letzterer Alternative kann an dieser Stelle allemal resümiert werden, dass Suárez mit seiner Bestimmung der Freiheit als bloßes ius permissivum im zweiten Buch zwar die Bedingungen dafür herstellt, dass die im dritten Buch abermals problematisierte Aufgabe der Freiheit als naturrechtlich möglich erscheint. Dass sie aber auch naturrechtlich gesollt ist und nicht allein einen technischen Imperativ der menschlichen Imbezillität darstellt, wie Suárez sie in seiner politischen Anthropologie des zweiten Buchs bestimmt, bleibt das zweite Buch ebenso zu begründen schuldig wie das dritte. Insofern bleibt es im Hinblick auf Suárezʼ Staatsentstehungstheorie beim Eindruck einer »tendenziell antinomischen politischen Anthropologie«.74 Dass dieser Unterwerfungsvertrag – bei Suárez genauso wie später bei Hobbes – widersprüchlich und damit nichtig ist, weil sich die Unterwerfenden durch 73 DL III. 1. 11, Bach, Brieskorn, Stiening III/1, 22/23: »Unde actu illi subici, licet non sit immediate a natura, non est etiam contra ius naturale praecipiens.« 74 Stiening; Libertas et potestas (s. Anm. 29), S. 199. Christian Wolff wird 1721 diesen Widerspruch damit aufzulösen versuchen, dass das Naturrecht zwar systematisch vernünftig, die Menschen jedoch empirisch häufig nicht hinreichend vernünftig gebildet sind: Die Notwendigkeit des positiven Rechts generiert für den Hallenser mithin aus der vermehrt pragmatischen Erwägung, dass das Naturrecht keine praktische Wirksamkeit besitzt. Dabei kommt Wolff zu einem Schluss, der an Thomas Hobbes erinnern mag: »Unterweilen geschiehet es, daß das Gesetze der Natur sich nicht genau beachten lässet, weil es dadurch zu vielem Streite und Uneinigkeit würde Anlaß geben. […] Derowegen ist nöthig an statt des natürlichen Gesetzes ein anderes zu geben, dabey zwar unterweilen einiges Unrecht erduldet, jedoch aber dadurch zugleich mehrerem Unheile vorgebeuget wird«. (Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Frankfurt an der Oder, Leipzig 31732, S. 416f. [§ 401]). Zwar erkennt Wolff ähnlich Hobbes, dass das Naturrecht alleine Konflikte nicht nur nicht verhindern, sondern auch hervorrufen kann; gleichwohl besteht diese Disharmonie anders als für Hobbes nicht a priori, sondern ist kontingent (»unterweilen geschiehet es«). Nichtsdestoweniger führt dies bei Wolff zu einer Legitimität positiven Rechts, die sich aus dem Naturrecht selbst nicht mehr ableiten lässt, da es dieses brechen darf, ja muss. Ob es sich dabei nach Wolff um so etwas wie eine Dispens handeln kann – schließlich vollzieht sich auch »solches der Vernunfft gemäß« (ebd., S. 417) –, wäre allerdings Gegenstand einer eigenen Abhandlung, die das Problem der Dispens als Lackmustest einer kohärenten Vernunftrechtstheorie im 18. Jahrhundert zu verfolgen hätte.
Oliver Bach die Unterwerfung ihrer Freiheit als Bedingung ihrer Rechtssubjektivität entledigen – derselben Rechtssubjektivität, derer der Vertrag gerade bedarf und die er doch gleichzeitig beseitigen soll: Diese Widersprüchlichkeit ist, wie Georg Geismann herausgearbeitet hat, erst eine Erkenntnis bei Rousseau.75 Auch Suárezʼ funktionale Ausdifferenzierung der Gottesinstanz in Gesetzgeber und Herrscher hinterlässt Fragen: Die Argumentation, dass Gott im Falle seiner naturrechtswidrigen Befehle dem Handelnden keine Dispens vom Naturrecht zu erteilen braucht, weil nicht diesem, sondern Gott die befohlene Handlung zuzurechnen ist, mag allmachtstheoretisch zwar schlüssig sein – wenn man vom Versuchungscharakter eines solchen Befehls gerade im Falle des Isaakopfers einmal abzusehen bereit ist. Gleichwohl lassen sowohl Gen 22,1–10 als auch Suárez moraltheologisch die Frage offen, wie sub specie hominis Dritte unterscheiden können zwischen einem als göttliches Instrument Handelnden und einem aus freien Stücken handelnden Brecher des Naturrechts. Mithin stellt sich auch unter rechtstheologischen Bedingungen hienieden im Naturzustand die Frage: »Quis iudicabit?«76
75 Georg Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. In: Der Staat 21 (1982), S. 161–189, hier S. 170: »Mit der von Hobbes vorgestellten bedingungslosen Unterwerfung aber liefert man sich vertraglich, also rechtlich vollständig einem empirischen Willen aus. Man verzichtet zwecks Sicherung seines natürlichen Rechts gegenüber irgendwelchen empirischen Willküren auf all sein Recht gegenüber einer bestimmten empirischen Willkür. Ein solcher Vertrag ist nicht allein vollkommen wirkungslos, weil man sich ein Recht nicht durch den Verzicht darauf sichern kann. Er ist vor allem juridisch schlechterdings widersprüchlich und deshalb absolut rechtswidrig und ohne jede Verbindlichkeit. Denn erstens negiert der Vertrag seinem Inhalt nach genau das, was er seiner Form nach (zu Recht) voraussetzt: daß der Unterzeichner eine Rechtsperson ist. Zweitens aber steht der Verzicht auf den Charakter als Rechtssubjekt mit der Idee des Rechts überhaupt in Widerspruch, die mit dem Rechtssubjekt als dem Träger möglicher Rechte und Pflichten ihren Gegenstand verlöre.« 76 Vgl. Simone Chambers: ›Who shall judge?‹ Hobbes, Locke and Kant on the construction of public reason. In: Ethics and Global Politics 2 – 4 (2009), S. 349–368.
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Ausgewählte Forschungsliteratur Walther, Manfred: Facultas Moralis – Die Destruktion der Leges-Hierarchie und die Ausarbeitung des Begriffs des subjektiven Rechts durch Suárez – Ein Versuch. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 135–160. Werner, Carl: Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte. Bd. 2. Regensburg 2 1889. Wilenius, Reijo: The Social and Political Theory of Francisco Suárez. Helsinki 1963. Williams, David: The Immutability of natural Law According to Suárez. In: The Thomist 62 (1988), pp. 97–115.
Forschungsliteratur zum Naturrecht Abbà, Giuseppe: Lex et virtus. Studi sull’ evoluzione della dottrina morale di san Tommaso d’Aquino. Rom 2010. Achtner, Wolfgang: Vom Erkennen zum Handeln. Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehen den Mittelalter. Göttingen 2008. Andrick, Michael: Göttlicher Wille und menschliche Macht. Strategien zur Befriedung der Gesellschaft bei Locke und Spinoza. Freiburg 2009. Armgardt, Matthias u. Tilman Repgen (Hg.): Naturrecht in Antike und früher Neuzeit. Symposion aus Anlass des 75. Geburtstages von Klaus Luig. Tübingen 2014. Bach, Oliver: Natur als juridisches Argument an der Schwelle zur Aufklärung. In: Aufklärung 25 (2013), S. 23–50. Bach, Oliver: Obligatio. Instanzen und Fundamente von Verbindlichkeit: Melanchthon – Pufendorf – Hobbes – Rousseau. In: Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert. Hg. von Simon Bunke, Katerina Mihaylova u. Daniela Ringkamp. Tübingen 2015, S. 19–35. Bachof, Otto: Naturrecht und Gegenwart. Ein Versuch zur Klärung der Begriffe. In: Archiv des öffentlichen Rechts 139 (2014), S. 1–31. Bäcker, Carsten: Gerechtigkeit im Rechtsstaat. Das Bundesverfassungsgericht an der Grenze des Grundgesetzes. Tübingen 2015. Bärthlein, Karl: Zur Lehre von der ›recta ratio‹ in der Geschichte der Ethik von der Stoa bis Christian Wolff. In: Kant-Studien 56 (1966), S. 125–155. Blänsdorf, Jürgen: Das Naturrecht in der Verfassung – Von Ciceros Staatstheorie zum modernen Naturrechtsdenken. In: Lateinische Literatur, heute wirkend. Hg. von Hans-Joachim Glücklich. Göttingen 1987, S. 30–59. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 22006. Böckle, Franz: Natürliches Gesetz als göttliches Gesetz in der Moraltheologie. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst-Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 165–188. Brieskorn, Norbert: Menschenrechte. Eine historisch‐philosophische Grundlegung. Stuttgart 1997. Brieskorn, Norbert: Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? In: »Vom Rechte, das mit uns geboren ist«. Aktuelle Probleme des Naturrechts. Hg. von Wilfried Härle u. Bernhard Vogel. Freiburg, Basel, Wien 2007, S. 97–126.
Ausgewählte Forschungsliteratur
Brieskorn, Norbert, Paul Mikat, Daniela Müller (Hg.): Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte. Paderborn 1994. Brieskorn, Norbert, Manfred Walther u. Kay Waechter (Hg.): Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Stuttgart 2008. Chroust, Anton-Hermann: The Fundamental Ideas in St. Augustin’s Philosophy of Law. In: American Journal of Jurisprudence 18.1 (1973) pp. 57–79. Daston, Lorraine u. Michael Stolleis (Ed.): Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy. Aldershot 2008. Dreitzel, Horst: Naturrecht. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, 2. Hbd., S. 749–866. Ebbinghaus, Julius: Die Idee des Rechts. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Georg Geismann u. Hariolf Oberer. Bonn 1988ff., Bd. II, S. 141–198. Eggers, Daniel: Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes. Berlin 2008. Erz, Stefanie: Vertrag und Gesetz. Das Naturrecht und die Bibel bei Grotius, Hobbes und Spinoza. Würzburg 2014. Detjen, Joachim: Kantischer Vernunftstaat der Freiheit oder klassische Ordnung zum Gemeinwohl? Zur Kontroverse mit Georg Geismann um die Grundlagen der politischen Philosophie. In: Jahrbuch für Politik 4 (1994), S. 157–188. Dölemeyer, Barbara u. Diethelm Klippel (Hg.): Gesetz und Gesetzgebung im Europa der frühen Neuzeit. Berlin 1998. Döring, Detlef: Samuel von Pufendorf (1632–1694). In: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland. Hg. von Bernd Heidenreich u. Gerhard Göhler. Darmstadt, Mainz 2011, S. 92–116. Eusterschulte, Anne: Lex libertatis und ius naturale. Freiheitsgesetz und Naturrechtslehre bei William von Ockham. In: Das Gesetz – The Law – La Loi. Hg. von Andreas Speer u. Guy Guldentops. Berlin, Boston 2014, S. 399–423. Fiorillo, Vanda u. Frank Grunert (Hg.): Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert. Berlin 2009. Gagnér, Sten: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung. Stockholm u.a. 1960. Geismann, Georg: Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 229–266. Geismann, Georg: Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die klassische Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben. In: Jahrbuch für Politik 5 (1995), S. 141–177. Geismann, Georg: Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ›klassischen‹ politischen Philosophie. In: Jahrbuch für Politik 2 (1992), S. 319–336. Giradet, Klaus M.: Naturrecht und Naturgesetz: Eine gerade Linie von Cicero zu Augustinus? In: Rheinisches Museum für Philologie 138 (1995), S. 266–298. Glinka, Holger: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und in der Aufklärung. Hamburg 2012. Griffin, James: On human rights. Oxford: University Press 2008. Grunert, Frank: Die Unterscheidung zwischen delictum publicum und delictum privatum in der Spanischen Spätscholastik. In: Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen
Ausgewählte Forschungsliteratur und Entwicklungsstufen. Hg. von Hans Schlosser, Rolf Sprandel u. Dietmar Willoweit. Köln, Wien, Weimar 2002, S. 421–438. Grunert, Frank: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000. Grunert, Frank: Vollkommenheit als (politische) Norm. Zur politischen Philosophie von Christian Wolff (1679–1754). In: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland. Hg. von Bernd Heidenreich u. Gerhard Göhler. Darmstadt, Mainz 2011, S. 164–184. Haakonssen, Knud: Divine/Natural Law Theories in Ethics. In: The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy. Ed. by Daniel Garber a. Michael Ayers. Cambridge 1998, vol II, pp. 1327–1357. Haakonssen, Knud: Hugo Grotius and the History of Political Thought. In: Political Theory: An International Journal of Political Philosophy 13 (1985), S. 239–265. Haakonssen, Knud: Natural Law and Moral Philosophy. Cambridge University Press 2004. Haakonssen, Knud: Vom Naturrecht zu den Menschenrechten. Bemerkungen zur europäischamerikanischen Diskussion im 18 Jahrhundert. In: Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 51 (1992), S. 203–220. Habermas, Jürgen: Konstitutionalisierung des Völkerrechts und die Legitimationsprobleme einer verfassten Weltgesellschaft. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann u. Stefan Kriste. Frankfurt a. M: 2008, S. 360–379. Hartung, Gerald: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999. Hervada, Javier: The Old and The New in the Hypothesis ›Etiamsi daremus‹ of Grotius. In: Grotiana 4 (1983), S. 4–20. Hollerbach, Alexander: Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst-Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 9–38. Honnefelder, Ludger: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Duns Scotus. In: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Hg. von Jürgen Miethke u. Klaus Schreiner. Siegmaringen 1994, S. 197–213. Hügli, Anton: Art. Naturrecht IV: Neuzeit, 1–4. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel 1984, Sp. 582– 594. Hüning, Dieter: Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff. In: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer. Hg. von Eva Graul u. Gerhard Wolff. Berlin 2002, S. 525–544. Jansen, Nils: Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution. Außervertragliche Ausgleichsansprüche im frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurs. Tübingen 2013. Kaufmann, Sebastian: Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann. 2 Bde. Berlin, New York 2008, Bd. 1, S. 229–292. Kersting, Wolfgang: Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit. Kant und die Pflichtenlehre des 18. Jahrhunderts. In: Studia Leibnitiana 14 (1982), S. 184– 220.
Ausgewählte Forschungsliteratur
Kervegan, Jean-François: Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne. In: Die Bildung der Moderne. Hg. von Michael Dreyer et. al. Tübingen 2013, S. 83–99. Klippel, Diethelm u. Elisabeth Müller-Luckner (Hg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.-19. Jahrhundert). München 2006. Klippel, Diethelm: Persönlichkeit und Freiheit. Das »Recht der Persönlichkeit« in der Entwicklung der Freiheitsrechte im 18. und 19. Jahrhundert. In: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. von Günther Birtsch. Göttingen 1987, S. 269–290. Klippel, Diethelm: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976. Kluxen, Wolfgang: ›Lex naturalis‹ bei Thomas von Aquin. Wiesbaden 2001. Kluxen, Wolfgang: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin. Hamburg 31998. Krieger, Gerhard u. Rolf Wingendorf: Christsein und Gesetz: Augustinus als Theoretiker des Naturrechts (Buch XIX). In: Augustinus. De Civitate Dei. Hg. von Christoph Horn. Berlin 1997, S. 235–258. Lutterbeck, Klaus-Gert: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. Lutz-Bachmann, Matthias u. James Bohmann (Hg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a. M. 2002. Maier, Eva Maria: Teleologie und politische Vernunft. Entwicklungslinien republikanischer Politik bei Aristoteles und Thomas von Aquin. Baden-Baden 2002, S. 224–274. Messner, Johannes: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Innsbruck et. al. 51966. Metz, Wilhelm: Lex und Ius bei Thomas von Aqiun. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 17–36. Miethke, Jürgen: Ockhams Weg zur Sozialphilosophie. Berlin 1969. Miethke, Jürgen: Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham. Tübingen 2008. Möhle, Hannes: Ethik als scientia practica nach Duns Scotus. Münster 1995. Negro, Paola: Un Topos in Hugo Grotius. Etsiamsi Daremus Non Esse Deum. In: Studi Filosofici 18 (1995), S. 57–80. Nisters, Thomas: Mensch und Natur als Subjekte der ›lex aeterna‹. In: Mensch und Natur im Mittelalter. 2 Bde. Hg. von Albert Zimmermann u. Andreas Speer. Berlin, New York 1992, Bd. 2, S. 622–644. Nussbaum, Arthur: Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung. München, Berlin 1960. Prodi, Paolo: Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat. Übers. von Annette Seemann. München 2003, 2. Aufl. 2005. Reimer, Franz: Lex und ihre Äquivalente im Gesetzestraktat der Summa theologica Thomas von Aquins. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez. Hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter. Stuttgart 2008, S. 37–50. Reiner, Hans: Die goldene Regel und das Naturrecht. Zugleich Antwort auf die Frage: Gibt es ein Naturrecht? In: Studia Leibnitiana 9 (1977), S. 231–254. Ricken, Friedo: Art. Naturrecht I. In: TRE 24, S. 132–153.
Ausgewählte Forschungsliteratur Röd, Wolfgang: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1970. Rommen, Heinrich: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts. München 1947. Sauter, Johann: Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Geschichte der Rechts- und Staatslehre. Frankfurt a. M. 1966. Scattola, Merio: Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell'età moderna. Milano 2003. Scattola, Merio: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999. Scattola, Merio: ›Ein Stein des Anstoßes‹. Thomas Hobbes und die deutsche Naturrechtslehre des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. In: Der Lange Schatten des Leviathan. Hobbes politische Philosophie nach 350 Jahren. Hg. von Dieter Hüning. Berlin 2005, S. 331–354. Scattola, Merio: Eine innerkonfessionelle Debatte. Wie die Spanische Spätscholastik die politische Theorie des Mittelalters mit der Hilfe des Aristotelismus revidierte. In: Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Alexander Fidora, Johannes Fried, Matthias Lutz-Bachmann u. Luise Schorn-Schütte. Berlin, S. 139–161. Scattola, Merio: Principium oder principia? Die Diskussion über den Rechtsgrundsatz im 16. und 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), S. 3–26. Schubert, Alois: Augustins Lex-Aeterna-Lehre nach Inhalt und Quellen. Aschendorf 1924. Seelmann, Kurt u. Frank Grunert (Hg.): Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Tübingen 2001. Seelmann, Kurt: ›Ius naturale‹ und ›ius gentium‹ bei Fernando Vázquez de Menchaca. In: Kontroversen um das Recht : Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez. Hg. von Kirstin Bunge et. al. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 235–260. Seelmann, Kurt: Theologie und Jurisprudenz an der Schwelle zur Moderne. Die Geburt des neuzeitlichen Naturrechts in der iberischen Spätscholastik. Baden-Baden 1997. Seelmann, Kurt u. Gerd Brudermüller: Menschenwürde ‐ Begründung, Konturen, Geschichte. Würzburg 2008. Specht, Rainer: Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 86–113. Specht, Rainer: Art. Naturrecht III: Mittelalter und frühe Neuzeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel 1984, Sp. 571–582. Specht, Rainer: Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehre. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 39–60. Specht, Rainer: Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehre. In: Naturrecht in der Kritik. Hg. von Franz Böckle u. Ernst Wolfgang Böckenförde. Mainz 1973, S. 39–60. Spindler, Anselm: Die Theorie der natürlichen Gesetze bei Francisco de Vitoria. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015. Spute, Jürgen: Rechts- und Staatsphilosophie bei Cicero. In: Phronesis 28 (1983), S. 150–176. Stiening, Gideon: »›Notitiae principiorum practicorum‹. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria.« In: Der Philosoph Melanchthon. Hg. von Günter Frank u. Felix Mundt. Berlin, New York 2012, S. 115–146.
Ausgewählte Forschungsliteratur
Stolleis, Michael: Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. In: Ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a. M. 1990, S. 37–72. Stolleis, Michael: Naturgesetz und Naturrecht – zwei Abkömmlinge der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. In: Naturrecht in Antike und früher Neuzeit. Symposion aus Anlass des 75. Geburtstags von Klaus Luig. Hg. von Matthias Armgard u. Tilman Repgen. Tübingen 2014, S. 137–150. Strauss, Leo: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt a. M. 1977 [EA 1953]. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2009, S. 275–364. Tierney, Brian: Liberty and Law. The Idea of Permissive Natural Law, 1100–1800. Washington D.C.. 2014. Trusen, Winfried: Zur Bedeutung des geistlichen Forum internum und externum für die spätmittelalterliche Gesellschaft. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtgeschichte. Kanon. Abt. LXXVI (1990), S. 254–285. Tuck, Richard: Natural Rights Theories. Their origin and development. Cambridge 1979. Verdross, Alfred: Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau. Wien 1963. Vereecke, Louis: Conciencia y ley de Santo Tomás a Francisco Suárez. In: Salmanticensis 37 1/2 (1990), S. 201–212. Vollhardt, Friedrich: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001. Wald, Berthold: Die Bestimmung der ratio legis bei Thomas von Aquin und Duns Scotus. In: Mensch und Natur im Mittelalter. Hg. von Albert Zimmermann u. Andreas Speer. 2 Bde. Berlin, New York 1992, Bd. 2, S. 662–681. Weigand, Rudolf: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten von Irnerius bis Accursius und von Gratian bis Johannes Teutonicus. München 1967. Welzel, Hans: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 41962. Westerman, Pauline: The Disintigration of Natural Law Theory. Aquinas to Finnis. Leiden, New York, Köln 1998. Wieland, Georg: Art. »Gesetz, ewiges«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1974, S. 514–516. Wieland, Georg: Gesetz und Geschichte. In: Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen. Hg. von Andreas Speer. Berlin, New York 2005, S. 223–245.
Personenregister Abbas → Panormitanus Abraham 258f. Accursius 241 Achenwall, Gottfried 6 Alexander Halensis 48, 109 Alvarez, Balthasar 137 Aquin, Thomas von → Thomas von Aquin Aristoteles 4, 12, 73f., 178, 192, 197, 199, 237, 239, 248 Augustinus von Hippo 13, 18, 20, 27–35, 37–39, 41, 42f., 45–49, 53, 57f., 75, 83, 94, 99, 105f., 140–142, 175, 178, 259 Blumenberg, Hans 4, 97, 105, 172–174 Bodin, Jean 5, 7 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 29, 83, 85– 87 Boethius, Anicius Manlius Severinus 49, 141 Cajetan, Thomas 48, 123 Cicero, Marcus Tullius 9, 20, 28, 32, 34– 39, 43f., 46f., 53, 57f., 75, 178, 181, 188, 192 Duns Scotus → Johannes Duns Scotus Ebbinghaus, Julius 83, 88f. Florentinus 242 Garcia de Ercilla, Fortunius 208, 210 Gentili, Alberico 159 Gerson, Johannes 110 Gogarten, Friedrich 177f., 189 Gratian 214f., 218f., 229, 231, 245f., 254 Gregor von Rimini 13, 77, 79, 81, 97, 191 Grotius, Hugo 5, 18, 26f., 79, 97, 104, 188–190, 228 Hare, Richard 81, 86 Harnack, Adolf von 180
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 174, 177, 179, 184, 216 Hiob 259 Hobbes, Thomas 5f., 18, 26f., 90, 104, 125, 180f., 185, 254, 261 Innozenz VIII. (Papst) 241 Isaak 258f., 262 Isidor von Sevilla (Isidorus Hispalensis) 49, 214, 241, 234 Jesus Christus 11, 115, 177, 259 Johannes Duns Scotus 9, 65, 76, 100, 205, 215–219, 256 Kant, Immanuel 6, 12, 21, 59, 62, 69, 80, 89f., 104, 181–183, 191, 216, 228 Kelsen, Hans 15 Leibniz, Gottfried Wilhelm 79, 191, 228 Locke, John 26 Löwith, Karl 174 Lübbe, Hermann 172 Luther, Martin 34, 109f., 175, 186 Machiavelli, Niccolò 5, 7 Marsilius von Padua 48 Marx, Karl 179 Molina, Luis de 77 Newton, Isaac 79 Nicolaus de Tudeschis → Panormitanus Overbeck, Franz 177, 190 Padua, Marsilius von → Marsilius von Padua Panormitanus 241 Paulus 11, 68, 166, 216, 229 Platon 4, 49, 63, 65, 73, 75, 140f., 178, 192 Plutarch 192 Pufendorf, Samuel 6, 18, 26, 71, 89, 104, 162, 192, 228
Personenregister Rimini, Gregor von → Gregor von Rimini Ritschl, Albrecht 177 Rothe, Richard 184, 190 Rousseau, Jean-Jacques 90, 104, 185, 243, 262 Rufinus von Bologna 215f. Sandeus, Felinus 241 Schleiermacher, Friedrich 177 Scotus → Johannes Duns Scotus Seneca, Lucius Annaeus 188, 192 Sevilla, Isidor von → Isidor von Sevilla Soto, Domingo de 48, 218f., 226 Spinoza, Baruch de 108 Summenhart, Konrad 217 Taylor, Charles 3, 108, 171 Thomas von Aquin 8f., 18, 38–46, 75, 91, 93f., 98, 103, 105, 108–111, 138, 157, 164, 169, 197f., 211, 214–216, 224, 237, 239, 259
Thomasius, Christian 104, 162, 192 Torquemada, Juan de (Turrecremata) 48 Troeltsch, Ernst 177, 179f., 184, 190 Ulpian 231, 242 Vásquez, Gabriel 8, 74, 77–79, 83, 93, 191f. Vázquez de Menchaca, Fernando 182, 218f. Vinzenz von Beauvais (Bellovacensis) 48 Vitoria, Francisco de 77, 83, 96, 110, 169, 187f., 218f., 226, 230 Weber, Max 178–180 Welzel, Hans 83f., 183, 191 Wilhelm von Ockham 65, 72, 76f., 83, 92f., 98–100, 109f., 182, 217 Wolff, Christian 14, 89, 98, 191, 261