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German Pages 148 Year 2013
Schriften zur Rechtstheorie Heft 265
Rechtspositivismus versus Naturrechtslehre als Folge des Legitimitätskonzepts Von Pavel Holländer
Duncker & Humblot · Berlin
PAVEL HOLLÄNDER
Rechtspositivismus versus Naturrechtslehre als Folge des Legitimitätskonzepts
Schriften zur Rechtstheorie Heft 265
Rechtspositivismus versus Naturrechtslehre als Folge des Legitimitätskonzepts
Von Pavel Holländer
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, und der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn.
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© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14104-3 (Print) ISBN 978-3-428-54104-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84104-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Dem Andenken an meine Freunde – Doz. Dr. Ján Danisˇ und Dr. Ernest Valko
Vorwort Erscheint uns bei der Begründung der demokratischen Legitimität ein Bild voller verschiedener Elemente – wie die Volkssouveränität, der Imperativ der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskernes oder die Menschenrechte und -freiheiten –, liefert auch die Rechtsphilosophie ein ähnlich buntes Bild, in dem verschiedene Variationen des Iusnaturalismus und Iuspositivismus in Streit geraten. Das Dilemma der Wahl zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht erinnert an das Dilemma zwischen Sein und Sollen im Lichte der Humeschen These. Zeigte Alasdair MacIntyre, dass diese These in Form zweier Elemente keine Lösung liefert, so dass sie dringend um ein drittes Element ergänzt werden muss, erscheint mir nur folgerichtig, dieselbe Methode auch im Streit zwischen Iusnaturalismus und Iuspositivismus anzuwenden. Dieser Streit in seiner Gestalt, in der er heute wahrgenommen wird, entstand, nachdem sich die beiden Kategorien gelöst haben von seinem Fundament, dessen Derivate sie sind, d. h. vom Ursprung der Legitimität der Gewalt; er entstand, nachdem man begonnen hat, sie als (abstrakte) Ursprungskategorien zu erforschen. Neben dem Sich-Lösen von ihrem Fundament hat auch die Emanzipation der neuen Legitimitätsquelle und ihre Ambitionen auf Ausschließlichkeit eine Schlüsselrolle in diesem Prozess gespielt, die in der Folge auch die Ambition auf Ausschließlichkeit des Derivates (des positiven Rechts) hervorbrachte. Wenn wir jedoch die Erfahrung der europäischen Geschichte (oder der Weltgeschichte) des 19. und 20. Jahrhunderts akzeptieren, aus der die Ablehnung einer einzigen Legitimitätsquelle – oder anders gesagt die Ablehnung ihrer Ambition auf Vollständigkeit – resultiert (d. h. die Erfahrung akzeptieren, die auch bei der Ausgestaltung der Verfassung in Bezug auf die „metaphysische“ Ewigkeitsklausel oder die Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskernes berücksichtigt wurde), dann kann dieser Dualismus der Legitimitätsquellen auch beim Dualismus des Rechts in Form des positiven Rechts und dessen ultima ratio – des metaphysischen Korrelats – nicht unberücksichtigt bleiben. Interpretation des Rechts, die als Diskurs zu verstehen ist, ebenso wie jede andere Interpretation, mündet im einen Gerechtigkeitsstandpunkt und damit in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Polemik, die Robert Alexy und Josef Raz geführt haben, dient als Illustration dieser These: die Spannung zwischen rechtspositivistischer und naturrechtlicher Ansicht auf Recht wird am Hintergrund der Relevanz einer vom Appellationsgericht gewählten Auslegungsalternative manifestiert. Auslegung des Rechts wird also zum zweiten Teil meiner Erwägungen über positives und natürliches Recht.
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Vorwort
Die zweite Hälfte des 19. und die erste des 20. Jahrhunderts halte ich für Sternstunden der tschechischen Rechtsphilosophie (für alle sei der Name von Franz Weyr zu erwähnen). Als Ausdruck meiner Achtung, widme ich den letzten Teil meines Büchleins der großen Diskussion zwischen den Vertretern des Rechtspositivismus und des Naturrechts in der tschechischen Rechtsphilosophie dieser Zeit. Der Fritz Thyssen Stiftung und der Alexander von Humboldt-Stiftung gebührt mein besonderer Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Dem Kollegen Martin Ondrejka danke ich herzlichst für die kritische Prüfung meines Manuskriptes. Brno, im Januar 2013
Pavel Holländer
Inhaltsverzeichnis A. Spannung zwischen dem Rechtspositivismus und der Naturrechtslehre: Nur als Dreisatz lösbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Raz vs. Alexy – die ewige Diskussion über das ewige Thema . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Distinktionen und Argumente: Erster Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Kurze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 a) Iusnaturalismus: Dualität des Rechts in Verbindung mit der Priorität des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 b) Das Hume-Jörgensensche Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 c) Thomas Hobbes: Geburt des Rechtspositivismus (auf der iusnaturalistischen Grundlage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Relativierung des Unterschiedes zwischen Positivismus und Iusnaturalismus
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3. Zeitalter des positiven Rechts vs. Wiederkehr des natürlichen Rechts: Auschwitz oder Radbruchsche Formel, Geschichte Frankreichs oder Ewigkeitsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Kontexte und Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Iusnaturalismus versus Iuspositivismus: Die Folge des Konzeptes der Machtlegitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Eudaimonistische Lebenserwartungen oder die paulinische Wandlung . . . . . . 62 4. Richter und die Spannung zwischen der Moral und dem Recht: Das iuspositivistische Paradoxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5. Aufhebung des Speenhamland-Gesetzes oder der Niedergang der alten und die Geburt der neuen Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 B. Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in der Zeit der Dekonstruktion
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Inhaltsverzeichnis
C. Rechtspositivismus und Naturrechtslehre am Beispiel der Sternstunden der tschechischen Rechtsphilosophie (die zweite Hälfte des 19. und die erste des 20. Jahrhunderts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 I. Rechtsphilosophie – ihre Emanzipation von der Theologie, der sozialen Philosophie und der Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 II. Antonín Randa, Emanuel Tilsch (historisch-rechtlicher Leitweg) . . . . . . . . . . . . . 103 III. Frantisˇek Weyr (Franz Weyr) – die Brünner rechtstheoretische Schule . . . . . . . . . 105 IV. Emanuel Chalupny´ – soziologisch-rechtlicher Leitweg in der Rechtsphilosophie 123 V. Jaroslav Kallab, Karel Englisˇ – Phänomenologie und neukantsche Lehre in der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 VI. Emil Svoboda, Josef Turecˇek – der naturrechtliche Leitweg . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
A. Spannung zwischen dem Rechtspositivismus und der Naturrechtslehre: Nur als Dreisatz lösbar? I. Raz vs. Alexy – die ewige Diskussion über das ewige Thema Die ewige Diskussion über das ewige Thema wird mit der aktualisierten Neubesetzung ihrer Akteure auch in der Gegenwart fortgesetzt. Laut Joseph Raz stellt die These, wonach „die Existenz der zwangsläufigen Verbindung des Rechts und der Moral nicht wirklich angezweifelt werden kann“, eine „relativ triviale These“ dar, die „eine unwesentliche Bedeutung für die strittige Frage“ in der ewigen Diskussion zwischen dem Rechtspositivismus und dem Iusnaturalismus hat.1 In seiner Polemik mit Raz, und zwar zugunsten der „nicht-positivistischen“ Wahrnehmung des Rechts, analysiert Robert Alexy den Fall, in dem ein hypothetischer Richter eine Rechtsvorschrift anwendet, welche zwei Interpretationen zulässt, wobei lediglich die erste mit „moralischen Argumenten gestützt wird“. Er kommt dann zu dem Schluss, dass sie beide, d. h. sowohl Raz als auch Alexy, einen Standpunkt einnehmen würden, wonach eine Interpretation zu wählen wäre, die sich zwar auf moralische Argumente stützt, jedoch „von unterschiedlichen Ansichten über die Bedeutung und die Implikationen“ dieser Wahl ausgeht.2 Laut Raz bedeutet nämlich die Tatsache, dass der Richter die moralisch richtige Interpretationsalternative wählt, nicht, dass diese – den moralischen Grund unterstützende Alternative Bestandteil des Rechts sei. Die Wahl der moralisch richtigen Interpretation stellt den Akt „der autoritativen Auslegung“ mit dem Effekt der „Rechtsschaffung“ dar. Es ist vielmehr der Akt der Rechtsbildung selbst, der die Moral in ein Recht transformiert – auf ähnliche Weise wie dies bei den legislativen Akten der Rechtsschaffung geschieht.3 Dabei überlegt Alexy die Auswirkungen dieser Razschen Überlegung für den Fall, dass unser hypothetischer Richter sich für die zweite Alternative, d. h. die moralisch bedenkliche, entscheidet. Abschließend stellt Alexy fest, dass der Richter „keinen Rechtsstandard verletzt“, wobei „ein Appellationsgericht sein Urteil le1 J. Raz, About Morality and the Nature of Law. The American Journal of Jurisprudence, 48 (2003), S. 3. 2 R. Alexy, Agreements and Disagreements. Some Introductory Remarks, Anales de la cátedra francisco suárez 39 (2005), S. 737 – 742. 3 J. Raz, On the Nature of Law, Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy, 82 (1996), S. 23.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
diglich aus moralischen, nicht jedoch aus rechtlichen Gründen rückgängig machen könnte“.4 Alexys Standpunkt zu „Bedeutung und Implikationen“ der Wahl zwischen den Interpretationsalternativen unterscheidet sich vom Razschen Standpunkt: „Sollte es tatsächlich erforderlich sein, dass das Recht den Anspruch auf Richtigkeit stellt, dann schließt es den Anspruch auf moralische Richtigkeit ein, der – falls er an die Reihe kommt – insbesondere die Forderung nach Gerechtigkeit darstellt. Rechtsentscheidungen, welche diesem Anspruch nicht gerecht werden, können keine rechtlich perfekten Entscheidungen sein. Ihre moralische Mangelhaftigkeit wächst über eine rechtliche Mangelhaftigkeit hinaus. Die rechtliche Unzulänglichkeit an sich impliziert jedoch keine rechtliche Ungültigkeit als solche. Zu der kommt es nämlich nur in Fällen der extremen Ungerechtigkeit. Dies ermöglicht dann den Appellationsgerichten – sollten sie die Entscheidung unseres Richters rückgängig machen im Falle, dass dieser sich für die moralisch falsche Auslegung entschied –, dass sie auch weiterhin Rechtsgerichte bleiben. Sie transformieren sich dadurch nicht zu moralischen Gerichten. Dies alles ist jedoch die Nebenfolge der Inkorporation der moralischen Elemente in das Recht, und zwar auf dem Wege des Anspruches auf Richtigkeit. Die wesentliche Folge ist dann die fundamentale Änderung der Rechtsnatur. Das Recht bleibt zwar autoritativ, jedoch in der Folge nicht ausschließlich autoritativ. Seine autoritative Dimension ist innerlich verbunden mit der ideellen Dimension. Die Spannung zwischen diesen beiden Dimensionen ist nunmehr keine Spannung zwischen Recht und Moral als Folge von etwas, das sich außerhalb des Rechts befindet, sondern eine Spannung innerhalb des Rechts selbst. Und dies hat weitreichende Folgen. Die effektivste in diesem Zusammenhang ist wahrscheinlich die Radbruchsche Formel, die auf prägnanteste Art und Weise besagt, dass „eine extreme Ungerechtigkeit kein Recht mehr sein kann“.5 Die zweite Runde der Polemik zwischen Joseph Raz und Robert Alexy wird dann von 2007 bis 2009 geführt. Den „Kampfring“ betritt als erster Raz, und dies mit der Kritik an Alexys Konzeption der nicht-positivistischen Rechtstheorie. Diese Kritik kann in folgenden Punkten zusammengefasst werden: ¢ Zieht Alexy eine Grenze zu Hart, so lässt er nicht nur die umfangreiche angelsächsische Tradition außer Acht, sondern auch die neuere Entwicklung auf dem Gebiet des Rechtspositivismus; in diesem Zusammenhang behauptet Raz, dass Alexy den Begriff des Rechtspositivismus mit einem anderen Inhalt füllt, der sich von dem unterscheidet, was im angelsächsischen Rechtsdenken unter diesem Begriff normalerweise verstanden wird.6 Ferner weist er darauf hin, dass es 4
R. Alexy, Agreements and Disagreements (Fn. 2), S. 742. Ibidem, S. 742. 6 J. Raz, The Argument from Justice, or How Not to Reply to Legal Positivism, in: G. Pavlakos (ed.), Law, Rights and Discourse. The Legal Philosophy of Robert Alexy, Oxford/ Portland 2007; im Folgenden wurde aus der wiederholten Veröffentlichung zitiert: J. Raz, The Authority of Law. Essays on Law and Morality, 2. ed., Oxford/New York 2009, S. 313, 314, 320. 5
I. Raz vs. Alexy – die ewige Diskussion über das ewige Thema
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„Bentham war, der Gründer des Rechtspositivismus in Großbritannien, der für die Auffassung, dass das Recht moralisch zu sein hat, mehr als jeder andere getan hat“.7 ¢ Stützt sich Alexy bei seiner Abgrenzung des Rechtspositivismus auf die Kelsensche These, wonach „jeder beliebige Inhalt Recht sein kann“8, behauptet im Gegensatz dazu Raz, dass aus dem Gedanken Kelsens keine Trennungsthese abgeleitet werden kann. Dabei kehrt er zu seiner früheren Feststellung zurück, wonach „das Recht zwangsläufig eine legitime Autorität fordert“,9 wobei „dieser Anspruch einen moralischen Anspruch darstellt“.10 Er fügt hinzu, dass der Anspruch aufgrund seines Inhaltes zum moralischen Anspruch wird, das heißt zu einem Anspruch, der die Durchsetzung der Berechtigung einschließt, das Recht anzuwenden und die Pflichten in einem Maß aufzuerlegen, das die wesentlichen Aspekte des menschlichen Lebens sowie deren Interaktionen beeinflusst. Er stellt die Frage, inwieweit man daraus ableiten kann, dass er Iusnaturalist ist (was nach seiner Ansicht analog auch für die Überlegungen Fullers und Finnis’ gilt). Er weist auf das Erfordernis hin, den breiteren Rahmen beim Inhalt eines Begriffes und den engeren Rahmen bei dessen Identifikationsmerkmalen zu unterscheiden. Er vertritt die Ansicht, dass die Kelsensche Zufälligkeitsthese die nichtpositivistische Konzeption Alexy’s nicht unterstützt, da er diese These auch mit der eigenen „positivistischen“ These für nicht vereinbar hält. In diesem Zusammenhang betont Raz, dass präziser als der Begriff „Rechtspositivismus“ der Terminus „Theorie in der Tradition des Positivismus“ ist, und neigt zu dem Gedanken A. Marmor’s, wonach „die Normierung, was Recht ist, nicht zwangsläufig oder begriffsmäßig abhängig ist von moralischen oder anderen Bewertungsüberlegungen darüber, was Recht unter relevanten Umständen zu sein hat“.11 Raz lehnt es ab, die Position des Teilnehmers (d. h. des Richters, Verwaltungsbeamten usw.) mit der iusnaturalistischen Sichtweise sowie die Position des Beobachters (z. B. des Verfassers eines Kommentars) mit dem positivistischen Standpunkt12 in Verbindung zu setzen und wirft an dieser Stelle Alexy die Absenz einer klaren und deutlichen methodologischen Position vor.13 7
Ibidem, S. 335. R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2. Aufl., Freiburg/München 1994, S. 16. 9 Der Begriff der legitimen Autorität unterscheidet sich jedoch bei Raz von der Krieleschen iusnaturalistischen Auffassung (siehe M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, Göttingen 1979, S. 117; M. Kriele, Rechtspflicht und die positivistische Trennung von Recht und Moral, in: M. Kriele, Recht – Vernunft – Wirklichkeit, Berlin 1990). Der von Raz formulierte Begriff der legitimen Autorität nähert sich in seiner Abgrenzung der behavioralen Definition, wonach „der akzeptable Begriff der legitimen Autorität mit unserer Vorstellung über Rationalität oder Moral nicht zu vereinbaren ist“ (J. Raz, The Authority of Law. Essays on Law and Morality, 2. ed., New York 2009, S. 27). 10 J. Raz, Practical Reason and Norms, 2. ed., Oxford 1999, S. 163 ff. 11 A. Marmor, Positive Law and Objective Values, Oxford 2001, S. 71. J. Raz, The Authority of Law (Fn. 9), S. 313 – 319. 12 R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts (Fn. 8), S. 63 – 64. 8
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
¢ Ferner stellt er sich der Richtigkeitsthese, wie bei Robert Alexy formuliert, skeptisch gegenüber: zum einen relativiert er diese anhand des Beispiels der Herrschaft einer Gruppe von Banditen im christlichen Glauben das Gute zu tun (Robin Hood), zum anderen bezeichnet er sie als eine formelle These, für die es gilt, dass – obwohl wahrhaftig, doch nicht das Mittel zur Klärung des Wesens des Rechts bieten zu können.14 Dieser Einwand Joseph Raz’ bezieht sich dabei nicht nur auf die Verknüpfung der Richtigkeitsthese mit den Rechtsnormen, sondern auch auf die Verknüpfung dieser These mit den Rechtsprinzipien.15 ¢ Gleichermaßen steht er auch dem Argument der Ungerechtigkeit, wie von Alexy vorgetragen, skeptisch gegenüber: Laut Raz hat ein Richter die moralische Pflicht, die Anwendung eines extrem unbilligen Rechts zu verweigern. Nach seiner Meinung ist die Rechtsverbindlichkeit der Gerichtsentscheidungen nicht dadurch gegeben, dass der Richter anhand rechtlicher Argumente entscheidet, sondern dadurch, dass er die Kompetenz hat, einen Streit, der vor ihm geführt wird, zu entscheiden. Gleichzeitig mutmaßt er, dass die Regel, die Anwendung extrem unbilliger Gesetze zu verweigern, mit der die Kompetenz der Gerichte begründet wird, in einigen Rechtssystemen existieren kann und in einigen eben nicht. Damit ist die Existenz dieser Regel ein soziales Faktum unter der Voraussetzung, dass es zwischen den Systemen keinen moralischen Unterschied gibt, welcher das Vorhandensein einer solchen Regel in einem Rechtssystem und deren Absenz in einem anderen System begründen würde. Darüber hinaus formuliert Raz als Einwand die Modifikation des ewigen Problems, das man mit der Frage „wer wacht über den Wächter?“ zusammenfassen kann: er fragt, inwieweit die Richter moralisch kompetent sind, den extremen Widerspruch der Gesetze und der Gerechtigkeit zu beurteilen, und somit auch moralisch berechtigt sind, die Anwendung solcher Gesetze abzulehnen.16 Auf den „Handschuhwurf Razs“ reagiert Robert Alexy mit einer Replik. Er behauptet, dass die „Unterscheidung zwischen den rechtspositivistischen und nonpositivistischen Theorien des Wesens des Rechts eine Klärungskategorie über die gesamte Dauer der Existenz des Rechts bleibt. Der Grund dafür ist die doppelte Natur des Rechts, die aus der Tatsache hervorgeht, dass das Recht durch sein Wesen einerseits faktual, anderseits aber ideell ist. Die Wechselwirkung zwischen dem Recht als Tatsache und dem Recht als Ideal stellt den wichtigsten Ausgangspunkt bei der Klärung dessen Wesens dar.“17 Den Unterschied zwischen dem Non-Positivismus und dem Positivismus sieht Alexy in der Akzeptanz bzw. Ablehnung „der inneren Verbindung der faktualen und der ideellen Dimension des Rechtes“, indem für den 13
J. Raz, The Authority of Law (Fn. 9), S. 319 – 323. Ibidem, S. 323 – 327. 15 Ibidem, S. 334. 16 Ibidem, S. 327 – 333. 17 R. Alexy, An Answer to Joseph Raz, in: G. Pavlakos (ed.), Law, Rights and Discourse. The Legal Philosophy of Robert Alexy, Oxford/Portland 2007, S. 37. 14
I. Raz vs. Alexy – die ewige Diskussion über das ewige Thema
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Positivismus „das Ideal in Bezug darauf, was Recht ist, grundsätzlich etwas Äußerliches bleibt“.18 Da für Raz das Recht ein institutionelles Faktum bleibt (Ergebnis der legitimen Autorität), verwendet Alexy diese Unterscheidung auch bei seiner Antwort auf Kritik bezüglich des Argumentes der extremen Ungerechtigkeit, wie auch auf die Kritik zur Verbindung des Non-Positivismus und des Prinzipienarguments.19 Wenn Joseph Raz gegen die Anwendung des Argumentes mit der Kelsenschen Zufälligkeitsthese zugunsten der Kritik des Rechtspositivismus entgegenhält, finden wir bei Alexy keine Antwort auf die Behauptung, dass diese auch im Widerspruch zur Wechselwirkung des Rechts und der Moral so, wie von Raz verstanden, stehen würde. Alexy äußert sich lediglich zur Josef Raz’ Anmerkung, wonach man die Kelsensche Rechtstheorie nicht anhand der Zufälligkeitsthese charakterisieren kann. Diesen Hinweis lehnt jedoch Alexy ab. Er behauptet vielmehr, dass die Zufälligkeitsthese nicht auf die formellen Merkmale des Rechts, sondern auf dessen Wesen verweist.20 Dabei weist er methodologisch auf die Überlegungen John Gardners hin, eines weiteren Rechtspositivisten, der die Rechtsgeltung entweder mit Aspekten verbindet, die sich an Quellen orientieren, oder mit Gesichtspunkten, die sich auf wesentliche Eigenschaften (Merkmale) richten, wobei er die ersteren unabhängig in Bezug auf die letzteren hält.21 Dazu vermerkt Alexy, dass Aspekte, welche das Recht anhand seiner wesentlichen Merkmale definieren, nicht nur auf den Inhalt des Rechts, sondern auch auf dessen Form angewendet werden können – Beispiele dazu sind die Allgemeinheit oder die Akzeptanz des Rechts als des Ergebnisses einer demokratischen Prozedur. Aus diesem Grund – wenn auch der Kelsensche Begriff des „Inhaltes“ durch den Begriff der wesentlichen Eigenschaften (Merkmale) ersetzt wurde, verweigert sich Alexy die Zufälligkeitsthese als widersprüchlich zu der gesamten Kelsenschen Theorie zu betrachten.22 Anders gesagt – nach Alexy steht die Kelsensche These, wonach das Recht einen beliebigen Inhalt erfahren kann, nicht im Widerspruch zu den wesentlichen Thesen seiner Rechtstheorie (d. h. der These über die Grundnorm, den Stufenaufbau der Rechtsordnung und die Geltung einer Norm, die sich von der Kompetenznorm ableitet). Zum Vorwurf, der Positivismus könne nicht mit der Ablehnung der Wechselwirkung zwischen Recht und Moral in Verbindung gebracht werden, erklärt Alexy, dass das Wesentliche für die Geltung des Rechts nicht die Akzeptanz der engen Verbindung zwischen Recht und Moral ist, sondern die Akzeptanz moralischer Gründe (d. h. wesentlicher moralischer Merkmale, Eigenschaften oder moralisch
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Ibidem, S. 37. Ibidem, S. 50 – 55. 20 Ibidem, S. 40. 21 Siehe J. Gardner, ,Legal Positivism: 5 1/2 Myths‘, American Journal of Jurisprudence, 2001 (46), S. 199, 208. 22 R. Alexy, An Answer to Joseph Raz (Fn. 17), S. 40 – 41. 19
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
wesentlicher Defizite) sei.23 Raz weist an dieser Stelle auf eine der acht von Fuller formulierten wesentlichen moralischen Legalitätsforderungen hin, nämlich auf die Forderung der Allgemeinheit der Rechtsnormen, und verweist dabei auf das Argument Gardners, wonach das, „inwieweit die jeweilige Norm rechtsgültig ist … von deren Quelle und nicht von einem wesentlichen Merkmal abhängig ist“.24 Ist die Geltung einer Rechtsnorm nur von ihrer Quelle abhängig (und somit auch vom Resultieren von der Ermächtigungsnorm), so Alexy, wird die Allgemeinheit nur zur Nebeneigenschaft des positiven Rechts, zu seinem formellen Merkmal, das von der Moral gefordert wird, sie wird jedoch nicht durch seine positive Geltung impliziert.25 Am Rande der Razschen Kritik der methodologischen Unzulänglichkeit bei der Begründung des Unterschiedes in der Position des Teilnehmers und des Beobachters weist Alexy insbesondere darauf hin, dass – wenn sich der Teilnehmer in Bezug auf die zu entscheidende Sache die Frage stellt: „Welche Antwort ist rechtlich korrekt?“, stellt der Beobachter eine andere Frage: „Wie wurde die Entscheidung getroffen?“ Somit behauptet Alexy nicht, dass die Trennungsthese aus der Sicht beider Positionen falsch ist, sondern, dass sie „lediglich aus der Perspektive des Teilnehmers falsch ist; aus der Sicht des Beobachters ist sie dagegen richtig“.26 Last but not least: Es wäre nicht richtig die „unendliche Geschichte“ nicht zu erwähnen, die sich auf dem Boden der tschechischen Rechtswissenschaften abspielt. Nach 1989 sind wir Zeugen zweier Diskussionswellen (oder Polemiken?) zum Thema des Naturrechts und des positiven Rechts geworden: die Akteure der ersteren, die sich mehr auf dem konstitutionalistischen Boden abspielte, waren der Iusnaturalist Vladimír Klokocˇka und die Rechtspositivisten Frantisˇek Sˇamalík und Václav Pavlícˇek,27 die letztere Diskussion in den Jahren 2010 und 2011 wurde überwiegend auf dem rechtlich-philosophischen Boden geführt.28 23
Ibidem, S. 43 – 44. J. Gardner, ,Legal Positivism: 5 1/2 Myths‘, Anmerkung 57, S. 201. 25 R. Alexy, An Answer to Joseph Raz, Anmerkung 53, S. 44. 26 Ibidem, S. 45, 46. 27 F. Sˇamalík, Svrchovanost v právním státeˇ (dt.: Obergewalt im Rechtsstaat), Lidové noviny, 14. Juli 1994; V. Klokocˇka, Ústavní systémy Evropsky´ch státu˚ (dt.: Verfassungsssysteme Europäischer Staaten), Praha 1996, S. 98 ff.; V. Pavlícˇek, O cˇeské státnosti. Úvahy a polemiky. 2. O právech, svobodách a demokracii (dt.: Über die tschechische Staatlichkeit. Betrachtungen und Polemiken. 2. Über Rechte, Freiheiten und Demokratie), Praha 2002, S. 144 ff. Die Grundlage der Konzeption Klokocˇka’s kann man mit der These der Legitimität als dem grundlegenden und dauerhaften Kriterium der demokratischen Qualität des Systems charakterisieren: „Die konstitutive Obergewalt des Volkes kann auf verschiedene Weise realisiert werden, einschl. der revolutionären Aktivitäten. Das grundlegende Kriterium dieser Aktivitäten ist deren Legitimität und diese Legitimität – nicht nur formelle Legalität, verleiht ihnen die Berechtigung aus der Sicht der demokratischen Prinzipien, die über Verfassung und Gesetze gestellt sind.“ An dieser Stelle argumentiert Klokocˇka mit der Existenz der Normen des „überpositiven Rechtes“, die über den Gesetzen und den Verfassungsgesetzen stehen. „Deren Verbindlichkeit berührt die eigentlichen Grenzen des Verfassungsstaates: es ist nicht wahr, dass sie nur eine höhere Rigidität genießen, da sie durch keine Prozedur der Verfassungsänderung geändert werden können. Sie können lediglich 24
II. Distinktionen und Argumente: Erster Akt
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II. Distinktionen und Argumente: Erster Akt 1. Kurze Zusammenfassung Für die grundlegende Distinktion zwischen Positivismus und Iusnaturalismus hält Robert Alexy (gleichwie eine ganze Reihe weiterer Rechtsphilosophen auch29) die Akzeptanz der „Verbindungsthese“ oder der „Trennungsthese“. Die erstere ist nach seiner Auffassung typisch für den Iusnaturalismus (hierbei geht es um die innere Verbindung zwischen Recht und Moral), die letztere dann für den Positivismus (der das Recht und die Moral als zwei voneinander unabhängige Normkomplexe strikt unterscheidet). Die Naturrechtslehre erarbeitete zum einen eine Standardauslegung der Verbindungsthese, nach der sich Recht und Moral inhaltlich durchdringen30 (dabei kann Moral als absolut oder als relativ verstanden werden31), und zum anderen eine Auslegung, nach der Recht und Moral institutionell miteinander verknüpft sind. Ein weiterer Unterschied ergibt sich auf der erkenntnistheoretischen Ebene: „Die Voraussetzung der Existenz des Naturrechts ist dann und nur dann von Bedeutung, wenn sie zur Begründung rechtspolitischer Auffassungen beiträgt. Von diesem argumentationstheoretischen Standpunkt aus ist der Begriff der praktischen Erkenntnis entscheiaus einer Machtposition beseitigt werden, zusammen mit der Beseitigung des existierenden Verfassungsstaates. Deren Unterschied zu den Gesetzen besteht nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität: sie sind ihnen übergeordnet. Daher kann man auch nicht von der Übermacht des Gesetzes sprechen. Die Übermacht des Gesetzes gleichwohl wie die Übermacht des Parlamentes ist eine Illusion.“ (V. Klokocˇka, Ústavní systémy Evropsky´ch státu˚ [dt.: Verfassungssysteme Europäischer Staaten], Praha 1996, S. 113 – 114.) Im Gegensatz dazu behauptet V. Pavlícˇek, dass „in den demokratischen Staaten das Volk des jeweiligen Staates der Inhaber der Staatsgewalt ist“, wobei „der Inhaber der Staatsmacht berechtigt ist zu entscheiden, was im Staat zur Verfassung wird“. Gegen die Konzeption des Naturrechts argumentiert er mit der iusnaturalistischen Orientierung des faschistischen bzw. nazistischen Rechts (V. Pavlícˇek, Kdo je v Cˇeské republice ústavodárcem a problém suverenity [dt.: Wer ist in der Tschechischen Republik Verfassungsgeber und das Problem der Souveränität], in: M. Vantuchová/J. Horák [Hrsg.], Na krˇizˇovatkách práva. Pocta Janu Musilovi k sedmdesáty´m narozeninám [dt.: Auf den Scheidewegen des Rechtes. Festschrift für Jan Musil zu seinem 70. Geburtstag], Praha 2011, S. 21, 24.) 28 J. Prˇibánˇ/P. Holländer et al., Právo a dobro v ústavní demokracii. Polemické a kritické úvahy (dt.: Recht und Gemeinwohl in der Verfassungsdemokratie. Polemische und kritische Überlegungen), Praha 2011. 29 Siehe z. B. K.F Röhl/H.Ch. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., Köln/München 2008, S. 294. 30 Der Gedanke des gegenseitigen inhaltlichen Durchdringens von Naturrecht und positivem Recht erscheint bereits bei Aristoteles; siehe Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, München 1991, S. 219. 31 Zur angeführten Unterscheidung siehe z. B. H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Berlin/New York 1993, S. 198 ff., wobei Coing selbst die Position eines Vermittlers innehat: Auf der einen Seite findet er das Naturrecht „in seinen ethischen Grundlagen apriorisch“ (S. 207), auf der anderen Seite ist es für ihn „die Summe der Erfahrungen, die der Mensch in seinem Suchen nach gerechter Ordnung in challenge und response gemacht hat“ (S. 209).
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre dend. […] Unter ,praktischer Erkenntnis‘ versteht man die Erkenntnis, was richtiges Sollen ist. Wer die Möglichkeit einer praktischen Erkenntnis voraussetzt, behauptet, daß es möglich ist, durch rationale Analyse oder/und empirische Erkenntnis ohne stellungnehmende Momente objektiv zu begründen, was sein sollte, was richtiges Recht ist. Nach dieser Auffassung läßt sich richtiges Recht rein kognitiv begründen. Rechtspolitische Lehrmeinungen, die behaupten, daß es praktische Erkenntnis gibt, bezeichne ich als Naturrechtslehren. Der Rechtspositivismus bestreitet die Möglichkeit der praktischen Erkenntnis: es ist unmöglich, rein kognitiv zu bestimmen, was richtiges Recht ist bzw. was objektiv gültige Werte sind.“32
Ein dritter Unterschied besteht in der Bestimmung des Geltungsgrundes. Für den Rechtspositivismus ist das Recht in seiner Geltung Ergebnis der normbildenden Aktivität universeller Machtinstitutionen wie des Staates. Das Naturrecht bestreitet dies und greift auf verschiedene andere übernatürliche oder materielle Begründungen der Geltung zurück (den Gotteswillen – Augustinus Aurelius, Thomas von Aquin; den Verstand – Marcus Tullius Cicero; die menschliche Natürlichkeit – J.J. Rousseau; Grundprinzipien der Moral – Gustav Radbruch; die Legitimität des Machtsystems – Martin Kriele). Ein weiterer Unterschied betrifft die Perspektive, aus der heraus der Begriff des Rechts definiert wird (d. h. aus der Perspektive des Gesetzgebers, des Richters und des äußeren Beobachters). So gibt es eine deskriptive und eine normative Auffassung von der Funktion der Rechtsdefinition. Die Rechtswissenschaft verfährt deskriptiv, „wenn sie untersucht, welchen Rechtsbegriff die Richter im allgemeinen tatsächlich haben und welche Strukturen er aufweist“; normativ verfährt sie dann, „wenn sie untersucht, welchen Rechtsbegriff die Richter von Amts wegen haben sollten“.33 Zur Abgrenzung dieser Sichtweisen bedienen sich die Rechtsphilosophen auch unterschiedlicher Bezeichnungen. So verwendet Norbert Hoerster anstelle des Begriffes „Trennungsthese“ den Termin „die Neutralitätsthese“, wonach es für den Rechtspositivismus kennzeichnend ist, dass der Begriff des Rechts inhaltlich neutral zu definieren ist. Die noetische Distinktion bezeichnet er dann mit dem Termin „Subjektivismusthese“, wonach keine Maßstäbe oder Kriterien des richtigen oder begründbaren Rechts existierten, deren Natur objektiv wäre. Das Analogon zum Gesichtspunkt der Gültigkeitsbestimmung ist für Hoerster die Definition des Rechts mit Hilfe des Begriffes vom Gesetz.34 Darüber hinaus – was genau genommen eine Form des analytisch und soziologisch definierten Begriffes der Rechtsgeltung darstellt ¢ verknüpft er mit dem
32
O. Weinberger, Norm und Institution. Eine Einführung in die Theorie des Rechts, Wien 1988, S. 57. 33 R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft, Frankfurt a.M. 1991, S. 110. 34 N. Hoerster, Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München 2006, S. 70, 71, 74.
II. Distinktionen und Argumente: Erster Akt
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Rechtspositivismus die „Subsumptionsthese“ und die „Befolgungsthese“.35 Am Rande dieser Gesichtspunkte nur eine kurze Anmerkung: Hoersters Subsumptionsthese findet ihre Analogie in der Reinen Rechtslehre im Begriff der Grundnorm, der Zurechnungsfähigkeit und des Stufenaufbaus der Rechtsordnung, bei Ota Weinberger im Begriff der Stammbaumtheorie des Rechts, bei Robert Alexy in den Begriffen der sozialen und der internen Geltung der Rechtsnormen.36 Der Ursprung dieser Qualifizierung der Rechtsvorgänge ist in der europäischen Entwicklung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert zu suchen. Die Historisch-rechtliche Schule sowie die Schule des Pandektenrechts haben an der Wende vom 18. und 19. Jahrhundert die im Laufe der Geschichte gesammelte Masse an Zivilrecht zu einem System der allgemeinen Begriffe verallgemeinert und die Dogmatik des Privatrechts bzw. die Rechtsbegriffslehre geschaffen. Im Anschluss an die neue (mehr abstrakte) Form des Rechts ordnen die Denker der Begriffsjurisprudenz und Rechtsauslegung die auf diese Weise erschaffene Materie – sicherlich beeinflusst von den Erfolgen der Mathematik, Geometrie und Logik – theoretisch zu einem logisch-deduktiven System. Außerdem nahm die Begriffsjurisprudenz „auf entsprechende Art und Weise an, dass das Finden des Rechts im Einzelfall ausschließlich auf dem Wege der logischen Deduktion, d. h. mit der ,Subsumption‘ des Tatbestandes als der unteren Prämisse unter die Rechtsregel als die obere Prämisse“. geschieht37 Die Kritik der Begriffsjurisprudenz, die insbesondere mit dem späten Werk Rudolf von Jherings und den Werken Eugen Ehrlichs, François Génys, Hermann Kantorowicz’, Philiph Hecks und weiterer Rechtsdenker verbunden war, richtete sich gegen ihren Anspruch auf Vollständigkeit, widerspiegelte die Spannung zwischen dem Grundsatz des Verbotes denegationis iustitiae und der Unvollständigkeit des geschriebenen Rechts und offenbarte schließlich die Unerreichbarkeit des Projektes Puchtas, auf dem Wege der deduktiven Methode von allgemeinen normativen Ausgangspunkten zu wahrhaften Schlussfolgerungen über das konkrete Recht oder die konkrete Pflicht bei der Subsumption der Tatbestandfeststellungen zu gelangen. Die Richtung der soziologisch-rechtlichen Denkweise (in ihren mannigfaltigen Mutationen) wurde geboren. Ein inhaltlich identischer Prozess der kritischen Reflexion verlief – wenn auch mit 35 Ibidem, S. 70, 72 – 74, 77 – 78. Zur analytischen und soziologischen Auffassung der Geltung von Rechtsnormen siehe auch R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts (Fn. 8), S. 139 ff. 36 Siehe H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 1. Aufl. 1934, hrsg. v. M. Jestaed, Tübingen 2008, S. 73 ff.; O. Weinberger, Norm und Institution (Fn. 32), S. 122 ff.; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts (Fn. 8), S. 142 – 143. 37 F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien/New York 1991, S. 110; siehe auch F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 436; W. Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, Darmstadt 1976; T. Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G.F. Puchta, Köln 2004; H-P. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt a.M. 2004; Ch.-E. Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta, Göttingen 2009.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
einer bedeutenden zeitlichen Verschiebung – auch in den Vereinigten Staaten, wo er den Rechtsrealismus hervorbrachte. Historisch erlangte somit der Rechtspositivismus zwei grundsätzlich mögliche Ausprägungen: die analytische und die soziologische Form. Dieses Knäuel von Distinktionen versuchen wir nun anhand der Verbindung der ersten und der dritten Distinktion zu entwirren – damit bemühen wir uns um den Vergleich der Argumente zu Gunsten und Ungunsten der Trennungs- bzw. Verbindungsthese (bzw. der Neutralitätsthese) und somit auch zwangsläufig um den Vergleich der Argumente bei der Begründung der Rechtsgeltung. a) Iusnaturalismus: Dualität des Rechts in Verbindung mit der Priorität des Naturrechts Alle iusnaturalistischen Konzeptionen (sowohl zu verschiedenen Zeiten als auch mit unterschiedlichen terminologischem oder begriffstechnischem Apparat) gehen von der Doppelnatur des Rechts als Grundlage aus:38 d. h. von der Akzeptanz des Rechts als einem Normenkomplex, der das Werk der Menschen – der öffentlichen Machtinstitutionen darstellt, und ferner aus dem Konzipieren eines dazu gehörenden – transzendenten Normenkomplexes, mit dem die Legitimität des ersteren begründet wird, der zudem im Falle eines Widerspruches den ersteren aufhebt, und aus dem dann die Normen des menschlichen Verhaltens unmittelbar hervorgehen. Dies illustriert in diesem Fall die Überlegung Augustinus Aurelius: „… wo also die wahre Gerechtigkeit mangelt, da kann es auch kein Recht geben. Denn was nach Recht geschieht, geschieht ohne weiteres gerechterweise; was dagegen ungerechterweise geschieht, kann auch nicht nach Recht geschehen. Unbillige Menschensatzungen darf man doch nicht für Recht ausgeben oder halten. … Wenn nun also ein Mensch Gott nicht unterwürfig ist, was an Gerechtigkeit wird ihm dann innewohnen? Gott nicht unterwürfig, kann ja der Geist so wenig die gerechte Herrschaft über den Leib ausüben, wie die menschliche Vernunft über die Leidenschaften. Und wenn sich in einem solchen Einzelmenschen keine Gerechtigkeit findet, so natürlich auch nicht in einer Menschenvereinigung, die aus solchen Einzelmenschen besteht. … gemäß dieser Begriffsbestimmung sei eine Menschenvereinigung, bei der die Gerechtigkeit nicht zuhause ist, nicht ein staatbildendes Volk. … Denn ganz allgemein mangelt die wahre Gerechtigkeit dem staatlichen Verbande von Gottlosen: über einen solchen gebietet nicht Gott mit der wirksamen Forderung, keinem anderen als ihm allein zu opfern, so daß also in einem solchen auch nicht der Geist über den Leib und die Vernunft über die Leidenschaften in der rechten Weise und Gesinnung gebietet.“39 38
Siehe R. Alexy, Hauptelemente einer Theorie der Doppelnatur des Rechts, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 95, 2009, S. 166. 39 Aurelius Augustinus, De civitate Die (dt. Übersetzung: Vom Gottesstaat, München 2007, 19. Buch, 21, 24). Näheres zur Konzeption der Beziehung des natürlichen und des positiven Rechts bei Augustinus Aurelius – siehe: E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Sozialphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, S. 208 – 213.
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Mit anderen Worten äußert diese Maxime auch Thomas von Aquin. Er bietet dabei eine strukturelle analytische Überlegung, in der er die Gründe umreißt, welche die Gerechtigkeit und zugleich auch die Gründe, welche die Ungerechtigkeit der Gesetze begründen, und welche den Verlust der Verbindlichkeit „irdischer“ Gesetze zur Folge haben: „Es muss gesagt werden, dass die von den Menschen aufgestellten Gesetze entweder gerecht oder ungerecht sind. Sind sie gerecht, leiten sie ihre Kraft, das Gewissen zu verpflichten aus dem ewigen Gesetz, aus dem sie hervorgehen … Die Gesetze werden dann ihrem Ziel nach als gerecht bezeichnet, wenn sie zum Gemeinwohl erschaffen worden sind; ihrem Urheber nach, wenn das Gesetz die Befugnisse des Verfassers nicht übersteigt; und schließlich auch ihrer Form nach, wenn den Untertanen Lasten nach der Verhältnisgleichheit zum Allgemeinwohl auferlegt werden. Indem der Mensch ein Part der Menge ist, gehört er dieser Menge durch das, was er ist und hat an: wie auch jedes Part der Gesamtmenge dadurch angehört, was es ist und hat. So fügt auch die Natur einem Teil Schaden hinzu, um das Gesamte zu retten. Demnach sind auch Gesetze, welche die Lasten verhältnisgleich auferlegen, gerecht, in Bezug auf Gewissen verpflichtend und somit auch gesetzlich. Ungerecht können Gesetze auf zwei Weisen sein: einerseits, wenn sie – wie vorstehend erwähnt – dem menschlichen Wohl widersprechen: entweder dem Ziel, wenn zum Beispiel ein Herrscher seinen Untertanen schwierige Gesetze auferlegt, die nicht dem Gemeinwohl, sondern viel mehr der eigenen Begierde oder dem eigenen Ruhm dienlich sind; oder auch dem Urheber, wenn jemand ein Gesetz herausbringt, welches die ihm auferlegten Kompetenzen überschreitet; oder auch der Form, wenn die Lasten ungleich auf die Menge verteilt werden, obwohl sie für das Allgemeinwohl erschaffen wurden. Dies sind dann mehr Gewalttätigkeiten als Gesetze, da – wie Augustinus in seinem Buch Über die freie Entscheidung sagt, nichts Gesetz zu sein scheint, was nicht gerecht ist‘, sodass man ,menschliche Gesetze missachten muss, …. die gegen das göttliche Gebot errichtet wurden‘.“40
Nach Thomas von Aquin „greift nicht die Machtordnung, die von Gott verliehen wurde“ im Falle eines Gesetzes, welches „den Untertanen unbillige Belastung bringt“, so dass „der Mensch nicht gebunden ist, das Gesetz zu befolgen, wenn er sich ohne Ärgernis oder größeren Schaden widersetzen kann“.41 Die Konzeption der Vertreter der christlichen Patristik und Scholastik knüpfte an die früheren Zivilisationen und Kulturen an: „In den meisten archaischen Kulturen hat man über die Autorität, welche die Gesetze garantierte, nicht gestritten. Diese wurde von Göttern – sei es als Gesamtheit, oder von namentlich konkreten Göttern – gebildet: siehe z. B. die ägyptische Maat, den indischen Varuna, den griechischen Zeus usw. Viele Gesetze, Gesetzesbücher und Rechtstexte haben sich auf die Götter und numinöse Kräfte ausdrücklich berufen, andere stützten sich auf deren Existenz und Wirkung zumindest implizit. Weitere Belege über die Verbundenheit der Götter mit den Gesetzen liefern die Mythologie und die Legendaristik. … Nicht anders 40 T. von Aquin, Summa theologica, II, I, zit. nach: J. Bahounek, Politické mysˇlení sv. Tomásˇe (dt.: Politisches Denken des Heiligen Thomas), Brno 1995, S. 60 – 61. 41 Ibidem, S. 61. Näheres zur Konzeption der Beziehung zwischen dem natürlichen und dem positiven Recht bei Thomas von Aquin siehe: E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechtsund Sozialphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, S. 225 – 234.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre bestellt war es um die gesetzgeberische Autorität. Die beruhte zwar … oft auf der Autorität der Götter, praktisch jedoch fiel sie gewöhnlich dem Menschen zu: im Falle der offenbarten Religionen häufig den Empfängern der göttlichen Offenbarung (Moses, Muhammad), in anderen Fällen dann einem vom Gott autorisierten Sprecher (Priester, Herrscher) oder einer Institution (z. B. einem Senat). Beide Ebenen waren jedoch im Unterbewusstsein des archaischen Menschen eng verbunden, und es war keine Ausnahme – eher die Regel – die Gesetzesautorität auf beiden Ebenen – der sakralen und der profanen zu suchen. So wurde das indische Gesetzbuch des Manu in den Mund des Gottes Brahma gelegt, gleichzeitig wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch der königliche Spruch die Verbindlichkeit eines Gesetzes genießt … Die primäre Rechtsautorität blieb zwar der Gott, doch wurde der Herrscher beauftragt, diese Autorität zu verwalten und darüber zu wachen.“42
Über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende bleibt die Konzeption „der Doppelnatur des Rechtes“ bis zur Wende zum 19. Jahrhundert hinaus bestehen. Zum Zeitpunkt der beginnenden Neuzeit sucht und findet sie zwangsläufig eine neue Gestalt. Alfred Verdross verknüpft mit der Person Gottfried Wilhelm Leibniz’ den letzten Versuch, nicht nur eine naturrechtliche ontologische Struktur zu erschaffen, sondern auch den Inhalt des Naturrechts detailliert zu beschreiben und zu begründen.43 Danach verbleibt vom Naturrecht – wenn überhaupt – nur noch eine abstrakte Idee übrig. Verdross selbst bietet dann eine zweite iusnaturalistische Interpretation der „Verbindungsthese“ – die Idee der institutionellen Verknüpfung des Rechts und der Moral.44 In seiner Konzeption geht er davon aus, daß der Rechtspositivismus das Recht als Zwangsordnung mit beliebigem Inhalt definiere. Es sei eine normative Ordnung, die zum Teil Verhaltensanordnungen gegenüber den Normadressaten enthalte, aber auch Anordnungen gegenüber bestimmten durch Organe verkörperten juristischen Personen, die Rechtsfolgen gegen diejenigen Normadressaten zu realisieren, welche die Norm verletzt haben. Jede Rechtsordnung sehe jedoch die Existenz eines Organs vor, dem eine gewisse Verhaltensweise angeordnet und befohlen werde, ohne daß ihm für den Fall einer Verletzung Sanktionsfolgen drohen würden. Als Beispiel für ein solches Organ nennt Verdross das Oberste Gericht. Dadurch kommt er zum Kern seines Arguments: „In jeder Rechtsgemeinschaft stoßen wir also schließlich auf ein letztes Organ, das wir als Grenzorgan bezeichnen wollen. Auch ein Grenzorgan ,soll‘ auf Grund der positiven Rechtsordnung ein bestimmtes Verhalten einhalten. Dieses ,Sollen‘ wird aber nicht durch die Androhung einer Unrechtsfolge, sondern durch einen Appell an das Gewissen des 42
J. Stary´/T. Vítek, Zákon, právo a spravedlnost v archaickém mysˇlení (dt.: Gesetz, Recht und Gerechtigkeit im archaischen Denken), in: Zákon a právo v archaicky´ch kulturách. Sveˇt archaicky´ch kultur (dt.: Gesetz und Recht in archaischen Kulturen), Praha 2010, S. 35 – 37. 43 A. Verdross, Höhepunkt und Abschluss der abendländischen Rechtsmetaphysik, in: P. Fischer/H.F. Köck/A. Verdross (Hrsg.), Völkerrecht und Rechtsphilosophie. Internationale Festschrift für Stefan Verosta zum 70. Geburtstag, Berlin 1980, S. 461 – 466. Siehe auch: H.-P. Schneider, Justitia universalis. Quellenstudien zur Geschichte des „christlichen Naturrechts“ bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt a.M. 1967. 44 A. Verdross, Die naturrechtliche Basis der Rechtsgeltung, in: N. Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie, Stuttgart 1991, S. 42 – 43.
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Grenzorgans, also durch die Verweisung auf die Moral begründet, die das Grenzorgan verpflichtet, die Rechtsordnung nach bestem Wissen und Gewissen einzuhalten. […] Denkt man nämlich diese moralische Norm weg, dann würde auch die sanktionierte Normenreihe hinfällig werden, da keinerlei Pflicht bestünde, die angedrohte Sanktion zu verhängen. […] Denkt man sich diese ethische Grundlage weg, dann vernichtet man daher auch das Gesetzesrecht. So führt der philosophische Rechtspositivismus schließlich zur Aufhebung der generellen Normen. In seiner Hand bleiben nur mehr die einzelnen Entscheidungen zurück. Dadurch wird er aber schließlich zur Behauptung gedrängt, daß allein das Recht sei, was das Grenzorgan im einzelnen Falle als Recht erklärt hat, was auch immer dies sein möge.“45
Nach Jahrhunderten, möglicherweise Jahrtausenden erschütterte die Neuzeit den festen Bau des Rechts. Zu dessen Einsturz trugen – noch bevor es die Geschichte selbst tat – insbesondere zwei große philosophische Propheten und monumentale Persönlichkeiten des englischen Empirismus bei: David Hume, der als erster die These über die „nicht überwindbare Kluft“ formulierte, welche die Fakten von Werten und Normen trennte, und Thomas Hobbes, der das Fundament für die begriffsbildende Verbindung des Rechts ausschließlich mit der Aktivität der Institutionen der öffentlichen Macht legte. b) Das Hume-Jörgensensche Dilemma Karl Popper vermerkt am Rande seiner Moralphilosophie: „Vermutlich ist der einfachste und wichtigste Punkt von der Ethik rein logisch. Ich meine damit die Unmöglichkeit, nicht-tautologische ethische Regeln von Behauptungen über Tatsachen abzuleiten.“46
Das Bewusstwerden dieser Unmöglichkeit beginnt bei Hume: „In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, daß der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das Dasein Gottes feststellt oder Beobachtungen über menschliche Dinge vorbringt. Plötzlich werde ich damit überrascht, daß mir, anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ,ist‘ und ,ist nicht‘ kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein ,sollte‘ oder ,sollte nicht‘ sich fände. Dieser Wechsel 45
Ibidem, S. 43 – 44, 46. K.R. Popper, What can logic do for philosophy?, in: The Aristotelian Society, Supp. Vol. 22, 1948, S. 154; zu den Ergebnissen der logischen Analyse des Hume-Jörgensenschen Dilemma siehe E. Morscher, Sein-Sollen-Schlüsse und wie Schlüsse sein sollen, in: W. Krawietz/H. Schelsky/G. Winkler/A. Schramm (Hrsg.), Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, Berlin 1984, S. 434: „So hat insbesondere Kutschera (F. von Kutschera, Das Humesche Gesetz. Grazer Philosophische Studien, 4/1977 – Anm. P. H.) einen einwandfreien Beweis für den DIC (d. h. für die Unableitbarkeit der Normen von den Aussagen – Anm. P. H.) geliefert.“ R. Stuhlmann-Laeisz, Das Sein-Sollen-Problem. Eine modallogische Studie, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983, S. 192: „Wir können das Humesche Gesetz (bzw. das Theorem H 3 in Kutschera [1977]) in der folgenden allgemeinen Form aussprechen: Für jede Deutung der normativen Terme, deren Bedeutungspostulate in reinen Normaussagen ausgedrückt sind, gilt: Aus einer konsistenten Menge rein deskriptiver Aussagen folgen analytisch nur solche reinen Normaussagen, die selbst analytisch wahr sind.“ 46
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre vollzieht sich unmerklich; aber er ist von größter Wichtigkeit. Dies ,sollte‘ oder ,sollte nicht‘ drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muß also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden für etwas, was sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind.“47
Diese Dichotomie fand später in der Philosophie verschiedene Ausdrucksweisen. Bei I. Kant zeigte sie sich in der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, bei A. Schopenhauer in der Unterscheidung zwischen „Wesensgrund“ und „Handlungsgrund“, bei Windelband und Wundt im Widerspruch zwischen der Welt der Faktizität und der Welt der Normativität und endlich bei H. Kelsen und F. Weyr in der Gründung der „Reinen Rechtslehre“ auf der Voraussetzung der Dichotomie zwischen „dem, was ist“ und „dem, was sein soll“. Die Transformation der Dichotomie des Kausalen und des Normativen aus dem Gebiet der Ontologie und Noetik in das Gebiet der Logik bei Poincaré48 und später bei Dubislav49 und insbesondere Jörgensen50 wies auf einen weiteren Aspekt hin und bereicherte die Möglichkeiten für eine Lösung dieser Erkenntnisse der modernen Logik. Jörgensen transponiert also in seinen Erwägungen die Humesche These in den Bereich der Logik. Er geht dabei von den folgenden Voraussetzungen aus: (1) Die Logik beschreibt nur solche Urteile, in denen Prämissen und Schlüsse die Werte Wahrheit oder Unwahrheit erreichen können. (2) Im zweiten Schritt seiner Überlegung übernimmt er die Behauptung von Poincaré, wonach imperative Sätze (Normen) nicht von Aussagen abgeleitet werden können. Aufgrund dieser Behauptung stellt Jörgensen dann fest, daß „nach solcher Definition der logischen Deduktion der Satz in der Imperativform nicht von den Aussagesätzen abgeleitet werden kann, weil das Verhältnis der Implikation nur für die Sätze gilt, die wahr oder unwahr sein können … Diese Bedingung erfüllen jedoch die Imperativsätze nicht“, insofern „sie weder wahr oder unwahr in keiner Bedeutung sein können, in welcher diese Worte in der Logik verwendet werden“.51 (3) Aus der vorangehenden Feststellung ergibt sich dann ein weiterer Bestandteil des Dilemmas: „Zwei Gebote können erfüllt oder nicht erfüllt, angenommen oder nicht angenommen werden, und sie können für begründet oder unbegründet gehalten werden; aber danach zu fragen, ob sie wahr oder unwahr sind, scheint
47 D. Hume, A Treatise of Human Nature, ed. by L.A. Selby-Bigge, Erstausg. Oxford 1888 (dt. Ausg.: Traktat über die menschliche Natur. II., Hamburg 1973, S. 211 f.). 48 H. Poincaré, Dernières pensées, Paris 1912, S. 225. 49 W. Dubislav, Zur Unbegründbarkeit der Forderungssätze, Theoria, 3/1937, S. 330 – 342. 50 J. Jörgensen, Imperatives and Logic, Erkenntnis, 7, 1937/1938, S. 288 – 296. 51 Ibidem, S. 289.
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ohne jede Bedeutung zu sein – genau so, wie es unmöglich scheint, die Methode anzudeuten, die ihre Wahrheit oder Unwahrheit überprüfen würde.“52 (4) Aufgrund dieser Behauptungen kommt Jörgensen zu dieser Schlußfolgerung: „Die Imperativsätze können nicht nur keine Schlüsse in der Deduktion mit indikativen Prämissen sein, sondern können auch nicht als Teil eines logischen Beweises allgemein funktionieren.“53 Das Jörgensensche Dilemma54 ist demnach durch den Widerspruch des angeführten Schlusses zur alltäglichen Erfahrung gegeben, von der „es offensichtlich scheint, daß der Schluß in der Imperativform aus zwei Prämissen abgeleitet werden kann, von denen eine oder zwei in der Imperativform ausgedrückt sind.“55 Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß das lebenslange Thema von Ota Weinberger, das Thema, mit dem er den europäischen philosophisch-rechtlichen Diskurs beschreitet,56 das Thema, das auch in seinen späten Arbeiten präsent ist,57 eben das Jörgensensche Dilemma, oder die Frage der logischen Normanalyse ist. Er selbst beschreibt den Ursprung dieser Inspiration und ihre Zielrichtung: „Mein berühmter Lehrer Frantisˇek (Franz) Weyr, ein enger Freund Hans Kelsens und dessen tschechischer Weggefährte, hat mir durch eine Bemerkung in einer rechtsphilosophischen Vorlesung die Problematik der Normenlogik vor Augen geführt. Er wies darauf hin, daß die Frage, ob die Norm ein Urteil (eine Aussage im Sinne der Logik) sei, ungeklärt und offen ist. Er hat in dieser Form das Problem angesprochen, das dann später zum Gegenstand von Untersuchungen seines Freundes, des tschechischen Nationalökonomen und Logikers Karel Englisˇ wurde – und unter dessen Einfluß – zum normenlogischen Skeptizismus Hans Kelsens in dessen Spätlehre geführt hat. Mir war sofort klar, daß es hier um das Grundproblem geht, ob es eine Logik der Normen gibt, und nicht nur um die Frage, ob Normsätze als eine Art von Aussagesätzen betrachtet werden können. Ich habe jahrelang über dieses Problem von verschiedenen Seiten her nachgedacht, ziemlich unbeschwert von der Tradition der Logik, aber geleitet von der Überzeugung, daß die logische Analyse der Normen und eine Theorie der normenlogischen Deduktion die unerläßlichen Vorbedingungen für die Strukturtheorie des Rechts und die Theorie der Rechtsdynamik sind.“58
Die Lösung des Jörgensenschen Dilemmas besitzt jedoch nicht nur logische und noetische Konsequenzen, sondern – und dies ist grundsätzlich – auch ontologische und axiologische Auswirkungen. Die Beantwortung des Jörgensenschen Dilemmas ist gleichzeitig eine Vorbestimmung für die Akzeptanz des iusnaturalistischen bzw. des iuspositivistischen Grundes der Rechtsgültigkeit. Dadurch ist sie zugleich mit 52
Ibidem, S. 289. Ibidem, S. 289. 54 Diesen Terminus hat A. Ross in dem Aufsatz Imperatives and Logic. Theoria, 7, 1941, S. 32 eingeführt. 55 J. Jörgensen (Fn. 50), S. 290. 56 O. Weinberger, Die Sollsatzproblematik in der modernen Logik, Praha 1958. 57 O. Weinberger, Alternative Handlungstheorie, Wien/Köln/Weimar 1996. 58 Ibidem, S. 9 – 10. 53
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dem Akzeptieren der kognitivistischen bzw. der dezisionistischen axiologischen Position verbunden, in anderen Worten mit der Position betreffend Gesichtspunkte zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Die Existenz des Naturrechts ist mit der Frage seiner Erkennbarkeit verbunden. Deren Inhalt ist die Abklärung dessen, ob die Ableitung einer Rechtsnorm von den Grundprinzipien der Gerechtigkeit (der Moral) ein Vorgehen von der Aussage über Wirklichkeit (d. h. eine sog. faktuelle Aussage) hin zur Norm, oder aber ein Vorgehen von der Aussage über eine Norm hin zur Aussage über eine andere Norm darstellt. Die erste Alternative, d. h. die Ableitung einer Rechtsnorm von den Fakten, ist vom Blickwinkel einer relevanten wissenschaftlichen Diskussion her kaum haltbar. Die bisherige Analyse der Hume-Jörgensenschen These hat in diesem Zusammenhang, nach meiner Ansicht, eine Reihe überzeugender Nachweise zusammengetragen.59 Die zweite Alternative bedarf einer Lösung des Schlüsselproblems, das im Finden von Auswahlkriterien für Moralnormen (Werte, Prinzipien) aus der Gesamtheit der Moralnormen (Werte, Prinzipien) besteht, die für die Geltung des Rechts von konstitutiver Bedeutung sind. Das Problem ist bekannt und bildet z. B. bei Kelsen das gegen den Iusnaturalismus gerichtete Hauptargument (obschon in einer etwas abweichenden Wortfassung, und zwar in der Formulierung einer Einwendung, dass „es nicht nur eine einzige Moral, ,die‘ Moral, sondern viele, von einander höchst verschiedene und vielfach einander widersprechende Moralsysteme gibt“).60 Akzeptiert man, dass sich Normen aus Normen logisch ableiten lassen, steht man vor dem Problem des Verhältnisses zwischen den zwei Normensystemen des Rechts und der Moral. Grundsätzlich könnte – in der Terminologie der Mengenlogik – die Beziehung zwischen dem Recht und der Moral als Exklusion, Identität, Inklusion oder Durchdringung gestaltet sein. Die Exklusion würde jedoch jegliche moralische Legitimität des Rechts ausschließen. Eine Identitätsbeziehung ist deswegen nicht gegeben, weil eine Reihe von Rechtsnormen ein Verhalten ohne moralische Dimension regelt (z. B. die Anordnung, mit dem Fahrzeug auf der rechten Seite der Straße zu fahren). Die Inklusion der Moral in das Recht ist ebenfalls ausgeschlossen, weil eine Reihe von Moralnormen das Verhalten in einem unvergleichlich breiteren Maß als das Recht abdeckt (z. B. ist anders als in der Moral nur eine bestimmte Form der Lüge rechtlich bedeutsam – etwa der Betrug). Es bleibt daher nur die Feststellung, dass für die Beziehung zwischen Recht und Moral ein teilweises gegenseitiges Durchdringen typisch ist. Des Weiteren gibt es zweierlei Abgrenzungen dieses Durchdringens: das tatsächliche (existierende) und das erforderliche (normative). Setzen wir nun voraus, dass bei dieser Abgrenzung mittels Vergleich von zwei 59 Detailliert dazu siehe G. Frege, Der Gedanke. Eine logische Untersuchung, in: G. Frege, Logische Untersuchungen, hrsg. v. G. Patzig, Göttingen 1966, S. 34: „Einem Befehlsatze wird man einen Sinn nicht absprechen wollen; aber dieser Sinn ist nicht derart, daß Wahrheit bei ihm in Frage kommen könnte.“ 60 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960; Nachdruck: Wien 1992, S. 70.
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existierenden (reellen) Normensystemen des Rechts und der Moral nicht diejenigen Rechtsnormen darunter fallen, die in Bezug zur Moral moralisch indifferent sind, und ferner die moralischen Normen, die zu den Rechtsnormen im Widerspruch stehen. Ausgehend von dieser Analyse ist die Schlussfolgerung möglich, dass der Iusnaturalismus auf der These aufgebaut ist, nach der das Naturrecht (mit einer gewissen Lizenz kann man sagen – die Moralnormen) auf der Grundlage eines qualifizierten Widerspruchs zum positiven Recht Geltung hat (Vorrang hat gegenüber dem positiven Recht). Wie ist jedoch dieses „Durchdringen“ zu definieren? Die Antwort hierauf erfordert den Rekurs auf den Norminhalt, wobei man auf einem Umweg wieder zum Hume-Jörgensenschen Dilemma bzw. zur Frage der Ableitung einer Norm aus einer Tatsachenaussage (d. h. aus einer Aussage über eine Moralnorm) zurückkehrt. Das, was für Frege aus der Sichtweise der logischen Semantik nicht akzeptabel ist, ist für die positivistisch orientierten Rechtsphilosophen den Begriffen nach nicht akzeptabel – an dieser Stelle möchte ich zumindest den Standpunkt Ota Weinbergers61 oder auch Norbert Hoersters erwähnen.62 Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse63 stellt einen Punkt dar, zu dem die Überlegung durch Regress ad infinitivum bei der Analyse des Begriffes der Gerechtigkeit führt.64 Diese Unterscheidung bildet einen Gegenstand der Theologie und 61 Weinberger vermerkt zu der Möglichkeit, die Normen logischerweise aus den Aussagen über die Wirklichkeit abzuleiten, folgendes: „… dann wäre das einzig Vernünftige das Parlament und alle anderen normbildenden Organe des Staates aufzulösen und die Normbildung dem soziologischen Institut und einigen Logikern zu überlassen, die die optimale Rechtsordnung aus den soziologischen Erkenntnissen deduzieren würden.“ (O. Weinberger, Norma, právní norma a právo v pojetí Jirˇího Boguszaka [dt.: Norm, Rechtsnorm und Recht in der Auffassung von J. Boguszak], Právník, Nr. 9, 1967, S. 865.) 62 N. Hoerster, Was ist Recht? (Fn. 34), S. 75: „Es gibt keine vorpositiven, dem Wünschen und Wollen des Menschen vorgegebenen und von Menschen erkennbaren ethischen Maßstäbe oder Normen, anhand deren sich feststellen ließe, wie die positiven Normen einer Rechtsordnung richtigerweise zu lauten haben.“ 63 Für die tiefgründigste Analyse der Kategorien des Guten und des Bösen in der Moralphilosophie der vergangenen Jahrzehnte kann die Arbeit von Georg Henrik von Wright, The Varieties of Goodness (1963); Nachdruck: Bristol 1996, gehalten werden. 64 Das aristotelische Gerechtigkeitsschema kann folgendermaßen kurz beschrieben werden: Dieses Schema bemesst die Zuordnung der Güter und Lasten anhand des Kontexts, indem sie erfolgt. Sofern es einen Ausgleich geht, ist der Kontext die Entität, die durch das zugeordnete Gut bzw. das Übel (die Last) ausgeglichen wird. Diese Entität ist das individualisierte Gut bzw. Übel (und dies allgemein ausgedrückt, z. B. in einer Norm, oder konkret, z. B. in einem gewissen Fall). Es sei jedoch bemerkt, dass für Aristoteles die Struktur der gerechtigkeitsbezogenen Schlüsse und Einschätzungen lediglich eine besondere Gerechtigkeit darstellte. Die allgemeine Gerechtigkeit ist für ihn eine Tugend. Eine Tugend, bzw. eine im Handeln zum Ausdruck gebrachten Eigenschaft, das Gute zu verwirklichen. Der Utilitarismus bringt eine Umwandlung des aristotelischen Schemas. Zur kontextuellen Entität wird der approximative Nutzen. Rawls legt seiner Analyse der Gerechtigkeit keine möglichen Situationen zu Grunde, unter denen er zur Zuordnung (zum Abnehmen) des Guten kommt, sondern das Abwiegen der Güter an sich (Priorität der Freiheit), sowie das Formulieren von Gesichtspunkten, unter denen eine Un-
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der Moral. In anderen Worten ausgedrückt, wird sie entweder von einem metaphysischen oder einem säkularen Herantreten abgewickelt. Das Recht ist durch Definition mit dem Konzept der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verbunden, das Anspruch und Ambition auf Universalität erhebt. Das Problem mit seinen Spannungen beruht darauf, dass das säkulare Konzept der Moderne bei der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die eine allgemeine Akzeptanz erreicht hätte, versagt hat. In der Moralphilosophie war Albert Camus derjenige, der die Gründe dieses Versagens der wirkungsvollsten Obduktion unterzog.65 Alasdair MacIntyre bat eine analytische Diagnose an: er zeigte, dass in den durch das Humesche Theorem abgegrenzten Koordinaten des menschlichen Denkens ein solches Konzept nicht machbar ist – man könnte es lediglich in den Koordinaten der aristotelisch-thomistischen Denkweise schaffen.66 Für die postmodernen Denker ist das Versagen der Moderne ein Grund zur Skepsis. In der Staatslehre, und des Gleichen auch in der Rechtsphilosophie, tauchen jedoch starke Impulse einer Erneuerung des aristotelisch-thomistischen Herantretens auf.67 gleichheit akzeptierbar ist. Kant, und in der modernen Philosophie des Rechts insbesondere Radbruch, bringen in die Gerechtigkeitsdiskussion den Gesichtspunkt der Allgemeinheit hinein, das die Konzeption eines anderen Blickwinkels für das Gleichheitskriterium bedeutet. Für die Gerechtigkeit ist es in diesem Sinne typisch, wie Radbruch bemerkt, dass die „Gleichheit ist ihr Wesen, Allgemeinheit ist deshalb ihre Form“ (G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Göttingen 1959, S. 25). Zur Fundamentalfrage der Gerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang die allgemeine Akzeptierbarkeit der Gesichtspunkte der Absonderung. Man kann dabei das Handeln und die handelnden Subjekte sowie die Güter und die Lasten voneinander trennen. Die Gerechtigkeitsauswertung., die mit der kontextuellen Bewertung zusammenhängt, ist also von der Beurteilung der Gesamtheit der Güter und der Lasten und vom Maß deren Kongruenz abhängig, deren Verbindung mit der Forderung der Allgemeinheit führt zur Unerlässlichkeit einer Analyse der Absonderungsmerkmale. 65 A. Camus, L’Homme révolté, Paris 1951, zit. nach der deutschen Übersetzung: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2006. 66 A. MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, 2. ed., London 1985, zit. nach der tsch. Übersetzung: Ztráta ctnosti. K morální krizi soucˇasnosti (dt.: Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart), Praha 2004, S. 74 ff. Siehe dazu auch J. Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, 1993, zit. nach der tsch. Übersetzung: Pravda, hodnoty a moc. Prubírˇské kameny pluralistické spolecˇnosti (dt.: Wahrheit, Werte und Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft), Brno 1996, S. 57: „Das Ziel des Staates kann nicht nur in einer inhaltslosen Freiheit bestehen; um eine sinnvolle und lebensträchtige Ordnung des menschlichen Zusammenlebens begründen zu können, braucht der Staat ein minimales Maß an Wahrheit, die nicht manipulierbar ist. Ansonsten sinkt er, wie Augustinus sagt, auf ein Niveau einer gut funktionierenden Räuberbande, da er ähnlich wie eine solche lediglich auf Funktionalität, aber nicht auf Gerechtigkeit beruhen würde, die gut für alle ist. … Der Staat muss daher das unabdingbare Maß an Erkenntnis und Wahrheit über das Gute von Außen akzeptieren. … Dieses ,von Außen‘ wäre im günstigsten Fall eine reine Ansicht des Verstandes, der von einer unabhängigen Philosophie zu kultivieren und zu schützen wäre. Praktisch gibt es jedoch keine solche reine, von der Geschichte unabhängige Zweifellosigkeit des Verstandes. Der metaphysische und moralische Verstand wirkt nur in den historischen Zusammenhängen, von denen er abhängt und die er zugleich transzendiert.“ 67 In der Staatslehre siehe die Konzeption des Imperativs der Unabänderlichkeit des materiellen Kerns der Verfassung (mit mehr Details siehe P. Holländer, Verfassungsrechtliche
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Kehren wir aber zurück zur Erklärung von MacIntyre. Nach ihm setzte das moralische Schema vor Hume, sei es das aristotelische oder das des Thomas von Aquin, drei Elemente voraus: „… den natürlichen Zustand des Menschen; eines Menschen, zu dem er sich entwickeln könnte, wenn er seinen telos verwirklichte; und die moralischen Grundsätze als Mittel zum Übergang von einen Zustand in den anderen. Allerdings bestand der gemeinsame Nenner sowohl der säkularen Ablehnung der protestantischen und katholischen Theologie, als auch der wissenschaftlichen und philosophischen Ablehnung des Aristotelismus, im Eliminieren jeder Erwähnung eines Menschen, der werden könnte, sollte er seinen telos umsetzen … Da die Aufgabe der moralischen Gebote in deren ursprünglichem Schema im Korrigieren, Verbessern und Erziehen der menschlichen Natürlichkeit bestand, können diese Gebote natürlich von den wahren Behauptungen über die menschliche Natürlichkeit nicht abgeleitet, oder auf eine andere Art und Weise gerechtfertigt werden, z. B. durch das Berufen auf ihre charakteristischen Züge. … Und somit kam es dazu, dass die Moralphilosophen des 18. Jh. in Bestrebungen einbezogen wurden, die unbedingt zum Misserfolg führen mussten; sie versuchten nämlich, ein rationelles Fundament für ihre moralischen Überzeugungen im Rahmen einer gewissen Auffassung der menschlichen Natürlichkeit zu finden, wobei sie auf der einen Seite einen Satz moralischer Gebote, und auf der anderen Seite eine Auffassung zur menschlichen Natürlichkeit übernommen hatten, die ausdrücklich zur gegenseitigen Unvereinbarkeit vorbestimmt waren.“68
Ja, zwischen dem empirisch reflektierten Bild des Menschen und dem geschichtlich geerbten moralischen System ist es dem Modell der Aufklärung und dem daran anknüpfenden moralischen Modell der Moderne nicht gelungen – und es konnte ja auch nicht anders ausfallen – die Beziehungen der gegenseitigen Abfolge zu formulieren (zu einer Begründung mit der Kraft einer wahrhaftigen Aussage). MacIntyre zeigt, dass der noetische Grund im Verlassen des Betrachtungsmodells der drei Elemente und dessen Ersatz mit dem Zwei-Elemente-Modell liegt. Das DreiElemente-Modell ist allerdings notwendigerweise mit Transzendenz (mit Metaphysik) verbunden. Die Metaphysik – und dies nicht nur auf dem Gebiet der Staatswissenschaft oder des Rechtsdenkens – verkörpert die menschliche Reaktion auf die Unvollständigkeit des Rationellen69 (wie sich aus der Natur der Sache ergibt). Wenn wir die empirisch nachprüfbare These akzeptieren, nach der einen Menschen, dieses denkende und freie Wesen, unter anderem die Ambition erfüllt, die ihn umfassenden Erscheinungen, mit denen er konfrontiert wird, zu erklären, so ist die Metaphysik Ausdruck der Spannung zwischen dem Postulat der Vollständigkeit und Argumentation – zwischen dem Optimismus und der Skepsis, Berlin 2007, S. 68 – 96), in der Philosophie die metaphysische Begründung der Menschenrechte (siehe R. Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik? Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52 [2004] 1, S. 15 – 24; G. Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: G. Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hrsg. v. R. Dreier/S.L. Paulson, 2. Aufl., Heidelberg 2003, S. 210). 68 A. MacIntyre, After Virtue (Fn. 66), S. 72. 69 In diesem Zusammenhang darf das berühmte Gödels Theorem der Unvollständigkeit nicht unerwähnt bleiben. Zu seinem Ihnhalt siehe z. B. E. Nagel/J.R. Newman, Gödel’s Proof, Revised Edition by D.R. Hofstadter, New York 2001, zit. nach der tsch. Übersetzung: Gödelu˚v du˚kaz (dt.: Gödels Nachweis), Brno 2003.
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dem Theorem der Unvollständigkeit. In der physikalischen Terminologie ist die Metaphysik (und ihre menschliche Reflexion, die Projektion, in den großen Geschichten – Gott) eigentlich eine Konstante an Stelle von Variablen, deren Werte zu vermessen wir nicht in der Lage sind. Die Bedeutung der Norm ist die deontische Alternative der wirklichen Welt, es ist eine deontisch mögliche Welt, ein deontischer Sachverhalt. Die Normen sind also widerspruchsvoll, wenn ontologisch (kausal) die gleichzeitige Existenz der deontisch möglichen Welten nicht möglich ist, d. h. wenn eine bestimmte Verhaltensalternative von der Normen für das Subjekte gleichzeitig bestimmt und ausgeschlossen ist. Das bedeutet, dass diese Normen gleichzeitig unerfüllbar sind. Im praktischen juristischen Denken wird also entweder das logische Gesetz der Widerspruch auf die Normen als Sprachausdrücke angewendet (ähnlich wie an den Begriff oder die Frage), oder es werden wahre Aussagen über gültige Rechtsnormen mit den für die deontisch ideale Welt geltenden logischen Gesetzen verglichen. Das normative Denken ist also eigentlich das Einsetzen der Werte aus den deontisch wirklichen Welten (z. B. der widerspruchsvollen Normen Op und O~p) in das logische System, von dem Urteile beschrieben werden, die in Bezug auf die deontisch ideale Welt realisiert werden. Das bedeutet, dass die Behauptungen Op und O~p gleichzeitig in der deontisch wirklichen Welt wahr sein können, aber ihre gleichzeitige Existenz in der deontisch idealen Welt falsch (widerspruchsvoll) ist. Die Folgen (die Schlüsse) des Einsetzens der Behauptungen über die Normen der deontisch wirklichen Welt in das logische System der Behauptungen über die Normen der deontisch idealen Welt werden dann rückwirkend aus der deontisch idealen in die deontisch wirkliche Welt übertragen. Es gilt also, dass zwei Rechtsnormen für widerspruchsvoll gehalten werden, wenn die Behauptungen über ihre Gültigkeit in der deontisch wirklichen Welt wahr und gleichzeitig in der deontisch idealen Welt widerspruchsvoll sind. Von diesem Modell wird erklärt, warum es Unterschiede in den logischen Konstruktionen der Rechtsbegründungen gibt. Es gibt diese Unterschiede, weil verschiedene Vorstellungen über die deontisch ideale Welt bestehen. Jene deontisch ideale Welt ist dann entweder eine humesche, d. h. eine Pluralitätswelt, oder eine thomistische, eine Universalwelt. Das Aufgreifen einer von diesen zwei Vorstellungen ist ein Vorzeichen für die Antwort auf das Jörgensensche Dilemma, und auch ein Vorzeichen für das Maß an Sicherheit und Bestimmtheit beim Unterscheiden zwischen Gut und Böse.
c) Thomas Hobbes: Geburt des Rechtspositivismus (auf der iusnaturalistischen Grundlage) Lon L. Fuller spannt in der Geschichte der Rechtsphilosophie den Bogen zwischen der Philosophie Thomas Hobbes’ und der positivistisch analytischen Iurisprudenz. Hobbes ist für ihn mit der Geburt des Rechtspositivismus auf der iusna-
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turalistischen Grundlage gleichzusetzen, ohne dass er damit ein Paradox aufzeichnen möchte. Hobbes begründet die Unumgänglichkeit der Geburt eines Staates und dessen Definition mittels der Kategorie eines Souveräns iusnaturalistisch – die Folge aus diesem Prozess ist dann die positivistische Konzeption des Rechts: „… die Positivisten der späteren Zeit versuchten es nicht mehr, die Notwendigkeit der souveränen Macht nachzuweisen; vielmehr sind sie von dieser ausgegangen. Das Problem, welches Hobbes zu einer großen Anstrengung gezwungen hat, haben sie durch dessen Ignorieren gelöst.“70
An dieser Stelle sei an die wesentlichen Thesen Hobbes erinnert, mit denen er die Grundlagen des Rechtspositivismus legt: „Jeder sieht auch, daß Gesetze die Regeln für gerecht und ungerecht sind, da nichts als ungerecht angesehen werden kann, das nicht einem Gesetz widerspricht. Ebenso, daß niemand anderes als das Gemeinwesen Gesetze erlassen kann, da wir nur dem Gemeinwesen unterworfen sind, und daß Befehle durch ausreichende Zeichen kenntlicht gemacht werden müssen, da andernfalls niemand weiß, wie er ihnen gehorchen soll. … In allen Staaten ist nur der Souverän Gesetzgeber, ob er nun ein Einzelner, wie in einer Monarchie, oder eine Versammlung von Menschen ist, wie in der Demokratie oder Aristokratie. Denn Gesetzgeber ist, wer das Recht macht. Und nur das Gemeinwesen schreibt die Beachtung jener Regel vor, die wir Recht nennen, und befiehlt sie: Deshalb ist das Gemeinwesen der Gesetzgeber.“71
Hobbes gliederte Gesetze in drei Kategorien: die Gesetze des Staates, die der Moral und die des Gottes. Nachdem für ihn die moralischen Gesetze die Naturgesetze sind72 und er Abstand nimmt von der Kategorie der Offenbarung, kommt er zu der entscheidenden Schlussfolgerung: „In einem Gemeinwesen hat ein Untertan, dem selbst keine bestimmte und gesicherte Offenbarung des göttlichen Willens widerfuhr, dafür dem Befehl des Gemeinwesens zu gehorchen. Denn hätten die Menschen die Freiheit, ihre eigenen Träume und Einbildungen oder die Träume und Einbildungen von Privatpersonen für die Befehle Gottes zu halten, so würden kaum zwei Menschen miteinander übereinstimmen, was nun göttlicher Befehl ist – und doch würde jedermann aus Achtung die Befehle des Gemeinwesens mißachten. Deshalb komme ich zu dem Schluß, daß in allen Dingen, die nicht dem moralischen Gesetz, das heißt dem Naturgesetz, widersprechen, alle Untertanen verpflichtet sind, den Vorschriften zu gehorchen, die die Gesetze des Gemeinwesens zum göttlichen Gesetz erklären.“73
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L.L. Fuller, The Law In Quest of Itself, Boston 1966, S. 24. T. Hobbes, Leviathan or the Matter, Form and Power of a Common-Wealth Ecclesiastical and Civil (dt. Ausg.: Leviathan oder Materie, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens), Leipzig 1978, S. 226. 72 Ibidem, S. 110 – 137. 73 Ibidem, S. 245 – 246. 71
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2. Relativierung des Unterschiedes zwischen Positivismus und Iusnaturalismus Laut Joseph Raz ist das Ineinanderfließen des Rechts und der Moral eine selbstverständliche These genauso wie die Pflicht des Richters, die Anwendung eines offensichtlich unbilligen Rechts – was eine moralische Pflicht darstellt, abzulehnen. Und schließlich spricht er sich auch für die Berechtigung des Richters aus, in solchen Situationen aus moralischen Gründen contra legem zu iudizieren, was zum Ausdruck seiner rechtsbildenden Kompetenz wird. Das positive Recht ist dabei ex definitionem das Ergebnis der „legitimen Autorität“.74 Ota Weinberger relativiert einerseits den Unterschied zwischen Positivismus und Iusnaturalismus, anderseits lehnt er jedoch die wesentlichen Thesen des Iusnaturalismus ab. Zu der Relativierung ihrer Unterschiede führt er auf: „In der gegenwärtigen Rechtsphilosophie existieren nämlich zwischen dem Positivismus und der Naturrechtslehre nicht unwesentliche Annährungstendenzen. Dabei handelt es sich um keine eklektischen Kompromisse, sondern um eine Erscheinung, die meiner Meinung nach durch zwei Momente bedingt ist: 1. Die Problemsituation in der Rechtswissenschaft stellt alle Forscher vor die gleichen Aufgaben und Probleme, so dass die Gesichtspunkte der Positionen der Gegner durchaus zu berücksichtigen sind, wenn wir uns mit diesen Phänomenen und dieser Aufgabe wirklich auseinandersetzen wollen; 2. die strittige Frage wird in ein anderes Licht gestellt, nachdem das Problem der Begründung und der Argumentation in den Mittelpunkt rückt – dadurch gelangen wir zu einer Perspektive, die uns nicht erlaubt weiter zu schreiten, indem man sich einfach zum Positivismus oder zum natürlichen Recht meldet. Der Charakter der positivistischen und der naturrechtlichen Lehre verändert sich. Die Positivisten werden vorsichtiger bei der Formulierung ihrer Thesen und offener bei der Festlegung des Forschungsprogramms der Rechtswissenschaft. Die modernen Naturrechtslehren treten nicht als apodiktische Systeme des Glaubens auf, sondern als rationell argumentierende wissenschaftliche Theorien, und dies selbst dann, wenn der Verfasser vom Standpunkt des Glaubens aus argumentiert. Ebenfalls werden sich heute die Vertreter des Naturrechtes meistens bewusst, dass nicht die These über die Existenz der immanenten Werte und der praktischen Erkenntnis den empfindlichen Punkt darstellt, sondern lediglich die Frage, wie man die immanenten Rechtsgrundsätze belegen bzw. begründen kann. Außerdem erscheint mir, dass die Tendenz existiert, lediglich ,schwache’ Systeme des Naturrechtes zu postulieren.“75
Zu den „schwachen“ Systemen des Naturrechts zählt Weinberger das von Alfred Verdross konzipierte Modell der institutionellen Verbindung des Rechts und der Moral, sowie die von Hart formulierte Theorie über den minimalen natur-rechtlichen
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Siehe J. Raz, The Authority and Law (Fn. 9), S. 4 ff. O. Weinberger, Jenseits von Positivismus und Naturrecht, in: Contemporary Conception of Law, 9th IVR World Congress (Basel 1979), Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Supplementa, Vol. 1, Part 1, 1982, S. 43 – 56 (tsch. Übersetzung: O. Weinberger, Filozofie, právo, morálka. Problémy praktické filozofie [dt.: Philosophie, Recht, Moral. Probleme der praktischen Philosophie], Brno 1993, S. 63 – 64). 75
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Inhalt des Rechts.76 Anderseits akzeptiert aber Weinberger auch keinen der Gründe, die nach seiner Meinung „Motive für die Akzeptanz des Naturrechtes darstellen“, zu denen er die „Begründung des richtigen Rechts“, ferner den „Wunsch, das Recht nicht als Folge der Macht zu verstehen“, und schließlich auch die „Bemühung Hilfestellung beim Lösen der Problemfälle anzubieten“ zählt.77 Als Quellen für die Begründung der Richtigkeit des Rechts kommen seiner Meinung nach „Vernunft, Intuition und Erfahrung“ in Frage – jedoch bietet keines davon ein „überzeugendes Verfahren““, um die Grundsätze für die Richtigkeit des Rechts zu bestimmen. Ebenso hält er „die Beschwerlichkeit des Beweises entgegen, mit der der Vertreter des positiven Rechts konfrontiert wird, wenn er die immanenten Rechtsgrundsätze zu belegen hat“ und äußert seine Zweifel darüber, inwieweit „sich ein unmoralischer Gesetzgeber von seiner Macht- und Gewaltausübung durch das Wirken der naturrechtlichen Spekulationen abhalten ließe“. Schließlich äußert er die folgende Meinung: „betrachtet man Rechtsgrundsätze, den theologischen Hintergrund des Rechtssystems und das institutionalisierte Verfahren der rechtlichen Hermeneutik als Bestandteil der positiven rechtlichen Wirklichkeit, könnte der Befürworter des Naturrechtes wohl kaum mehr zur Lösung der Problemfälle beitragen, als der Positivist“.78 Das moralische verwandelt sich nach seiner Auffassung in ein rechtliches Phänomen aufgrund der Existenz der Kompetenz: es akzeptiert die Situation, in der Prinzipien oder Normen angewendet werden, die entweder in den Vorschriften oder in der Judikatur implizit beinhaltet sind, so dass man sie induktiv abstrahieren kann, oder die vom Richter aufgrund seiner rechtbildenden Kompetenzen geschaffen wurden.79
3. Zeitalter des positiven Rechts vs. Wiederkehr des natürlichen Rechts: Auschwitz oder Radbruchsche Formel, Geschichte Frankreichs oder Ewigkeitsklausel Zwei entscheidende Ideenströme in der europäischen Geschichte haben vor zweihundert Jahren die Transzendenz und ihre metaphysische Reflexion verdrängt. Sowohl die Französische Revolution (mit Aufklärung und Rationalismus), als auch der englische Liberalismus (mit seinem Utilitarismus und der Vorstellung von einem selbstregulierenden – über der Gesellschaft stehenden Markt). Dieser tektonische Druck fand seine Projektion auch in der Welt des Rechts. Zu den Ideenquellen der Begriffsjurisprudenz und der ecole de l’exegese avancierten nicht nur Rationalismus und Aufklärung, beide eng verbunden mit dem Glauben an die Macht des menschlichen Denkens, die Welt apriori zu erfassen (die dann im Rechtsdenken in 76
O. Weinberger, Über Schwache Naturrechtslehren, in: H. Miehsler/E. Mock/B. Simma/ I. Tammelo (Hrsg.), Ius humanitatis. Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, Berlin 1980, S. 321 – 339. 77 O. Weinberger, Jenseits von Positivismus und Naturrecht (Fn. 75), S. 71. 78 Ibidem, S. 72 – 73. 79 O. Weinberger, Norm und Institution (Fn. 32), S. 97.
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den Kodifikationskonzepten mündete), sondern auch die radikalen Interpretationen der Volkssouveränität, welche die Französische Revolution hervorgebracht hat. Die Begriffsjurisprudenz ist mit den Paradigmen des Kognitivismus, der Rationalität, Vollständigkeit, Konsistenz und schließlich auch der hierarchischen Anordnung der Rechtsordnung eng verbunden. Zu Gedankenquellen des englischen Positivismus des 19. Jahrhunderts wurden dann der englische philosophische und ökonomische Liberalismus, sowie der Utilitarismus. Hundert Jahre des rationalistischen Optimismus endeten jedoch in der wiederholten Rückkehr der Metaphysik. Dies hatte eine ganze Reihe von Gründen. An dieser Stelle sollten zwei davon erwähnt werden, welche aus der Sicht der Auswirkungen auf die erneute Suche nach einem Raum für das Naturrecht außerordentlich bedeutungsvoll erscheinen. Für die Bezeichnung des ersteren davon wähle ich den Begriff „Auschwitz“. Die Apokalypse des Zweiten Weltkrieges mit Holocaust und all den Dämonen, welche die Fundamente der bis dahin herrschenden gesellschaftlichen Ordnung erschütterten – dies alles hatte zur Folge, dass sich die Diskussion über das Naturrecht erneut entfachte. Zu dem vielleicht wichtigsten Impuls wurde dabei der Gedanke Radbruchs, den er in seiner berühmten Abhandlung „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ äußerte.80 Den zweiten Grund lieferte die Verfassungsgeschichte Frankreichs des 19. Jh., die mit Verfassungsrückschlägen und Änderungen der republikanischen oder der monarchistischen Ordnung verbunden war. Die Reflexion dieser historischen Turbulenzen wurde ursächlich für den Gedanken der materiellen und nicht nur prozessbezogenen Beschränkung des Raumes für eine Revision der Verfassung. Art. V. des französischen Verfassungsgesetzes vom 14. August 1884 bestimmt ausdrücklich: „Die republikanische Regierungsform kann kein Revisionsgegenstand sein.“81 Mit Abstand einiger weniger Jahre inkorporiert bereits Georg Jellinek den Imperativ der Unabänderlichkeit in den Rahmen der Kategorien der modernen Staatslehre: „Souveräne Gewalt ist demnach nicht staatliche Allmacht. Sie ist rechtliche Macht und daher durch das Recht gebunden. … Durch Anerkennung des Völkerrechts und durch die auf Grund dieser Anerkennung vorgenommenen, ihn bindenden Akte schränke der Staat sich sodann rechtlich ohne weiteres durch selbsteigenen Entschluß von solchem Bande lösen könnte. Aber auch nach ihnen sind Fälle möglich, in denen selbst auf dem Wege der Verfassungsänderung ein geltender Rechtssatz nicht geändert werden kann. Das französische Gesetz vom 14. August 1884 verbietet, die republikanische Regierungsform zum Gegen-
80 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, 1947; wiederabgedruckt in: G. Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 2. Aufl., hrsg. v. R. Dreier/S.L. Paulson, Heidelberg 2003, S. 211 ff. 81 Die angegebene Bestimmung ist durch den identischen Wortlaut auch in Art. 89 der bestehenden Verfassung der Französischen Republik verankert.
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stand eines Antrages auf Verfassungsrevision zu machen. Dieser Satz kann durch Gewalt, aber nicht durch Recht aufgehoben werden.“82
Zur Frage des Ermessens bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen seitens des Verfassungsgebers verlief in den Jahren des Ersten Weltkrieges auf den Seiten der Zeitschrift Juristische Blätter eine inhaltlich brillante und formell durch Noblesse geprägte Diskussion, deren Protagonisten die damaligen großen Gestalten der Lehre des öffentlichen Rechts waren. Zum historischen Sieger der Diskussion dreier Riesen des Rechtdenkens aus den Jahren 1916 und 191783 wurde nicht Frantisˇek Weyr, sondern Adolf Merkl. Die Verfassungsgebung ist nach seiner Ansicht nicht mit der Verfassung selbst zu verwechseln, nach ihm geht es, paradox wie es klingen mag, ebenso um die bloße Durchführung der Verfassung, zu der sie eine Einwilligung gegeben hat, ebenso wie bei allen Akten der gewöhnlichen Gesetzgebung, wobei diese Durchführung lediglich in der Änderung von Verfassungsbestimmungen besteht, zu denen die Verfassung selbst die Ermächtigung lieferte, also gilt: „Ohne Ermächtigung der Verfassung keine Verfassungsänderung.“84 Die Unabänderlichkeit, und nicht die Abänderlichkeit ist nach Merkl maßgeblich: „Die Souveränität des Staates scheint sich mir nicht in der Abänderlichkeit, sondern gerade in der Unabänderlichkeit der Staatsverfassung am ansprechendsten zu äußern.“85 Die Ansicht Merkls teilt auch die derzeitige deutsche Verfassungslehre: „Die Frage, ob Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes selbst aufhebbar wäre, ist nach der hier vertretenen Auffassung falsch gestellt, weil Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes den Bestandsanspruch der Verfassung in ihrer Identität nicht begründet, sondern die Abänderlichkeit der Verfassung nach Art. 79 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes mit dem verfassungsimmanenten Bestandsanspruch des Grundgesetzes in Einklang hält.“ 86
Der Gedanke, wonach die demokratische Verfassung nicht nur die momentanen Machtverhältnisse widerspiegelt, sondern auch die für die menschliche Gemeinschaft konstitutiven Werte der Freiheit und der Gleichheit fixiert und diese institutionell mittels Gerechtigkeit und Rationalität garantiert – dieser Gedanken kann mit der Bezeichnung Konrad Hess versus Ferdinand Lassalle personifiziert werden. 82
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1922, S. 482 – 484. A. Verdroß, Die Neuordnung der gemeinsamen Wappen und Fahnen in ihrer Bedeutung für die rechtliche Gestalt der der österreichisch-ungarischen Monarchie, Juristische Blätter, Nr. 11, 12, 1916; F. Weyr, Zur Frage der Unabänderlichkeit von Rechtssätzen, Juristische Blätter, Nr. 33, 1916; A. Verdroß, Zum Problem der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers, Juristische Blätter, Nr. 40, 41, 1916. Ausführlicher zu dieser Diskussion siehe P. Holländer, Verfassungsrechtliche Argumentation (Fn. 67), S. 72 – 75. 84 A. Merkl, Die Unabänderlichkeit von Gesetzen – ein normologisches Prinzip, Juristische Blätter, Nr. 9, 10, 1917, S. 109. 85 Ibidem, S. 111. 86 P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S. 802. 83
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Konrad Hesse eröffnete 1959 seinen Inaugurationsvortrag Die Normative Kraft der Verfassung87 an der Universität in Freiburg mit dem Hinweis auf die Lassallsche These, in der die Verfassung mit den momentanen Machtverhältnissen identifiziert wird.88 Seine Antithese stellt dann die Negation derselben dar: „Die normative Kraft der Verfassung beruht nicht allein auf der klugen Anpassung an das Gegebene. … Die rechtliche Verfassung … wird zur tätigen Kraft, wenn diese Aufgabe ergriffen wird, wenn die Bereitschaft besteht, das eigene Verhalten durch die von der Verfassung normierte Ordnung bestimmen zu lassen, wenn die Entschlossenheit vorhanden ist, jene Ordnung gegenüber aller Fragestellung und Anfechtung durch augenblickliche Nützlichkeitserwägungen durchzusetzen, wenn also im allgemeinen Bewußtsein und namentlich im Bewußtsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen nicht nur der Wille zur Macht, sondern vor allem der Wille zur Verfassung lebendig ist. … Die wesentliche … Voraussetzung der normativen Kraft der Verfassung ist es also, daß sie nicht nur die sozialen, politischen oder ökonomischen Gesetzlichkeiten, sondern vor allem auch die geistige Situation ihrer Zeit in sich aufnimmt, daß sie vom allgemeinen Bewußtsein als sachmäßige und gerechte Ordnung bejaht und getragen wird.“89
Bereits in seinem ersten Urteil im Normenkontrollverfahren hinsichtlich der Verfassungskonformität des Gesetzes Nr. 198/1993 des Gesetzblattes über die Rechtswidrigkeit des kommunistischen Regimes und dem Widerstand ihm gegenüber (Aktenzeichen Pl. ÚS 19/93), formulierte das Verfassungsgericht seine grundlegenden Thesen zum materiellen Verfassungskern, zur Auslegung und zum Verstehen des Imperativs der Unabänderlichkeit.90 Es stellte insbesondere fest, daß die konstitutiven Grundsätze der demokratischen Gesellschaft im Rahmen der Verfassung über die gesetzgebenden Kompetenzen gestellt werden, und dadurch „ultra vires“ aus Sicht des Parlaments sind, wobei die Beseitigung irgendeines dieser Prinzipien durch beliebige, ob mehrheitliche oder einstimmige, Entscheidungen des
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K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen 1959. Hundert Jahre lang wurde Mitteleuropa von einer These beherrscht, die am zutreffendsten von Ferdinand Lassalle formuliert wurde. Diese wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine neue These ersetzt. So sieht Lassalle in seinem berühmten Vortrag „Über Verfassungswesen“ (der Vortrag Lassalls über Verfassung wurde am 16. April 1862 auf einer Versammlung in Friedrichstadt in Berlin hervorgebracht und im Juli in der Presse vorgestellt; der Vortrag wurde auch während der Wahlkampagne nach der Auflösung des preußischen Parlaments durch Wilhelm I. im Frühjahr 1862 verwendet) in der Verfassung „eine tätige Kraft, welche alle anderen Gesetze und rechtlichen Einrichtungen, die in diesem Land erlassen werden, mit Notwendigkeit zu dem macht, was sie eben sind, so daß von nun ab gar keine andere Gesetze als eben diese in diesem Lande erlassen werden können.“ Diese „tätige Kraft“ sind „die tatsächliche Machtverhältnisse, die in einer Gesellschaft bestehen.“ Lassalle unterscheidet die geschriebene Verfassung als ein bloßes „Blatt Papier“ von der wirklichen Verfassung (F. Lassalle, Über Verfassungswesen [1862], in: Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. v. E. Bernstein, Bd. 2, Berlin 1919. S. 31 ff.). 89 K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (Fn. 87), S. 12 – 13. 90 Die tschechische Verfassung bestimmt in Art. 9 Abs. 2, daß eine Änderung der wesentlichen Merkmale des demokratischen Rechtsstaates unzulässig ist. 88
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Parlaments nicht anders ausgelegt werden könnte, als die Beseitigung dieses Verfassungsstaates als solchen.91 Im Jahr 2009 kommt es in der Tschechischen Republik aufgrund des Misstrauensvotums zu einer Regierungskrise. Auf den gescheiterten Versuch eine neue Regierung zu bilden, reagieren die parlamentarischen politischen Parteien mit der Auflösung der Abgeordnetenkammer. Dies geschieht jedoch nicht im Wege eines verfassungskonformen Verfahrens (d. h. im Zuge der Auflösung der Kammer durch den Präsidenten der Republik), sondern kraft eines einmaligen Verfassungsgesetzes über die Verkürzung der Wahlperiode der Abgeordnetenkammer. Es folgt die Verfassungsbeschwerde, eingereicht vom Abgeordneten Milosˇ Melcˇák, mit der er die Aufhebung der Entscheidung des Präsidenten der Republik Nr. 207/2009 Slg. über die Ausrufung der Wahlen ins Abgeordnetenhaus des Parlaments der Tschechischen Republik beantragte. Zusammen mit der Beschwerde in der Sache brachte er auch 91
Aufgrund seiner Bedeutung kann auch ein umfangreicheres Zitat aus dem angegebenen Urteil als angebracht erachtet werden: „Die rechtspositivistische Tradition, die auch in die Nachkriegsverfassungen (einschließlich unserer Verfassung vom Jahre 1920) übertragen wurde, enthüllte … im Laufe der weiteren Entwicklung mehrere Male ihre schwachen Seiten. Die auf solchen Grundlagen konstruierten Verfassungen sind wertneutral: sie bilden einen institutionellen und prozessualen Rahmen, der mit sehr unterschiedlichen politischen Inhalten befüllbar ist, da als Kriterien der Verfassungskonformität die Einhaltung der Ermächtigung und des Verfahrensrahmens der Verfassungsinstitutionen und Verfahren, und daher Kriterien des formell-rationellen Charakters gelten. Infolge dessen wurde in Deutschland die nationalsozialistische Herrschaft als legal akzeptiert, obschon sie den Inhalt ausräumte und letzten Endes das eigentliche Wesen der Weimarer Demokratie vernichtete. Die legalistische Auffassung der politischen Legitimation erleichterte es nach dem Krieg für Klement Gottwald, die alten Fässer mit neuem Wein zu füllen‘, um dann die Machtübernahme vom Februar 1948 durch das formelle Einhalten von Verfassungsprozessen zu ,legitimieren‘. Das Prinzip ,Gesetz ist Gesetz‘ erwies sich gegen das in Gesetzesform gegossene Unrecht als machtlos. Das Bewußtsein, daß Unrecht einfach Unrecht bleiben muß, obschon es sich in den Mantel des Gesetzes hüllt, wurde nicht nur in die Nachkriegsverfassung Deutschlands aufgenommen, sondern auch in die derzeitige Verfassung der Tschechischen Republik. Unsere neue Verfassung ist auf keiner wertmäßigen Neutralität begründet, sie ist keine bloße Definition von Institutionen und Prozessen, sondern integriert in ihrem Text auch gewisse regulative Ideen, die die grundlegenden unantastbaren Werte der demokratischen Gesellschaft ausdrücken … Das tschechische Recht ist nicht auf der Souveränität des Gesetzes gegründet. Die Überordnung von Gesetzen im Verhältnis zu den niedrigeren Rechtsnormen bedeutet noch nicht ihre Vorrangigkeit. Nicht einmal im Sinne des Umfangs der gesetzgebenden Ermächtigung im Rahmen des Verfassungsstaates ist die Rede von der Souveränität des Gesetzes. In der Auffassung des Verfassungsstaates, auf dem die tschechische Verfassung gegründet ist, sind Recht und Gerechtigkeit kein Gegenstand des freien Ermessens des Gesetzgebers, und dadurch auch nicht des Gesetzes, da der Gesetzgeber durch gewisse Grundwerte gebunden ist, die von der Verfassung als unantastbar erklärt werden. Die tschechische Verfassung bestimmt z. B. in Art. 9 Abs. 2, daß eine Änderung der wesentlichen Merkmale des demokratischen Rechtsstaates unzulässig ist‘. Dadurch werden die konstitutiven Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft im Rahmen dieser Verfassung über die gesetzgebende Kompetenz und daher ,ultra vires‘ des Parlaments gesetzt. Mit diesen Prinzipien steht und fällt ein Verfassungsstaat. Die Beseitigung eines dieser Grundsätze durch beliebige, sei es durch mehrheitliche oder einstimmige Entscheidung des Parlaments, könnte nicht anders ausgelegt werden, als die Beseitigung dieses Verfassungsstaates als solchen.“
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
einen Antrag auf Aufhebung des Verfassungsgesetzes Nr. 195/2009 Slg. über die Verkürzung der fünften Wahlperiode des Abgeordnetenhauses ein. In seiner Erkenntnis Aktenzeichen Pl. ÚS 27/09 hob das Verfassungsgericht das oben genannte Verfassungsgesetz über die Verkürzung der fünften Wahlperiode des Abgeordnetenhauses auf. In der Begründung dieser Erkenntnis wies das Verfassungsgericht auf die Verfassungsgeschichte europäischer Länder hin. Es stellte fest, daß beim Schutz der konstitutiven Prinzipien der demokratischen Gesellschaft die Verfassungsentwicklung in der Tschechischen Republik mit der Verfassungsentwicklung der europäischen Demokratien überein stimme. Gleich wie der deutsche Fall des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes eine Reaktion auf die undemokratische Entwicklung und die nationalsozialistische Willkürherrschaft in der Zeit vor 1945 darstellt (ähnlich wie Art. 44 Abs. 3 der Bundesverfassung der Republik Österreich), so ist auch Art. 9 Abs. 2 der Verfassung eine Konsequenz der Erfahrungen mit dem Verfall der Rechtskultur und der Verletzung der Grundrechte in der Zeit der vierzigjährigen Herrschaft des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei. Infolge dieser Analogien sind daher die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht der BRD und die Vorgänge in weiteren demokratischen Ländern für das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik stark vorbildhaft. Das Verfassungsgericht analysierte den allgemeinen Charakter der Verfassungsgesetze als wesentliches Erfordernis des Rechtsstaates und bewertete die Durchbrechung der Verfassung durch ein Ad-hoc-Verfassungsgesetz (Verfassungsgesetz für den Einzelfall) als Widerspruch zu wesentlichen Erfordernissen des demokratischen Rechtsstaates. Zugleich wies es auf die Rechtsgeschichte Europas hin. Das Gericht stellte Folgendes fest: „Die Verfassungspraxis der Weimarer Republik war in den Jahren 1919 bis 1933 durch die Durchbrechung der Verfassung auf dem Wege spezieller Verfassungsgesetze gekennzeichnet, und zwar auch für Einzelfälle (dies führte zur Unübersichtlichkeit der Verfassung und zu ihrer Labilität). Über die Zulässigkeit der Durchbrechung der Verfassung wurde eine erbittere Auseinandersetzung zwischen den Positivisten (P. Laband, G. Jellinek, G. Anschütz, S. Jaselsohn, W. Jellinek) und den materiell-(wert-)orientierten Verfassungslehrern (C. Schmitt, G. Leibholz, C. Bilfinger) geführt. Seitdem versteht die europäische Verfassungslehre unter der Durchbrechung der Verfassung folgenden Vorgang des Parlaments: ,Bei der Durchbrechung wird die verfassungsgesetzliche Bestimmung nicht geändert, sondern es wird in einem einzigen Fall eine abweichende Verordnung getroffen, unter Erhaltung ihrer gesetzlichen Geltung in anderen Fällen … Solche Durchbrechungen stellen ihrer Natur nach nur Maßnahmen und keine Normen dar, womit sie keine Gesetze im staatsrechtlichen Sinne des Wortes sind. Als Konsequenz daraus sind sie keine Verfassungsgesetze. … Der Gesetzgeber kann in seiner Funktion als Gesetzgeber lediglich Gesetze erlassen, er kann sie jedoch nicht durchbrechen; die Frage betrifft nicht die Gesetzgebung, sondern die Souveränität.‘92 In Reaktion auf die verfassungsrechtliche Praxis in der Weimarer Republik und ihre Ergebnisse verankerte das Grundgesetz aus dem Jahre 1949 für 92
C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl., Berlin 1993, S. 103 – 105, 109 – 110.
II. Distinktionen und Argumente: Erster Akt
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die BRD eine Rechtsregelung, nach der das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt (Art. 79 Abs. 1 erster Satz des Grundgesetzes). Die angeführte Verfassungsbestimmung schließt dies aus, und lässt keine Möglichkeit der Durchbrechung des Grundgesetzes zu. Die Unzulässigkeit der Verfassungsdurchbrechung durch ein Ad-hoc-Verfassungsgesetz (für einen Einzelfall) wird auch in weiteren demokratischen Ländern Europas hervorgehoben.93 Der Umstand, dass den Gesetzen (d. h. den fixierten Rechtsnormen) ein allgemeiner Charakter innewohnt, ist keine erst im 19. Jahrhundert entwickelte Vorstellung des bürgerlichen Rechtsstaats. Diese Idee begleitet die ganze europäische Rechtsgeschichte. Sie findet sich in den Aussagen großer römischer Juristen, sie verschwindet im Mittelalter und wird in der Zeit der Aufklärung und des Rationalismus wieder ins Leben gerufen. Der allgemeine Charakter des Gesetzesinhalts stellt ein ideales, typisches und wesentliches Merkmal des Gesetzes im Vergleich zu Gerichtsentscheidungen oder Regierungs- und Verwaltungsakten dar. Der Zweck der Gewaltenteilung in die gesetzgebende, vollziehende und rechtssprechende Gewalt liegt in der Zuweisung der allgemeinen und primären Machtregulation des Staates durch die Gesetzgebung, die davon abgeleitete allgemeine Machtregulation und die Entscheidungstätigkeit über Individualfälle der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit. Die Anforderung der allgemeinen Gültigkeit der Gesetze bildet einen wichtigen Bestandteil des Prinzips der Herrschaft des Gesetzes.“
Zum Verfassungsgesetz über die Kürzung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses stellte es dann fest: „Ein Ad-hoc-Verfassungsgesetz (für den Einzelfall) stellt weder eine Ergänzung, noch eine Änderung der Verfassung dar. Was den Inhalt betrifft, so kann das Verfassungsgesetz (für den Einzelfall) zwei Formen annehmen – entweder handelt es sich um eine zeitlich beschränkte Suspendierung der Verfassung, oder um eine sachliche bzw. persönliche Ausnahme von der allgemeinen Geltung der Verfassungsregelung. Die Verfassungsergänzung kann man dadurch charakterisieren, dass die ergänzende Bestimmung die Verfassung nicht ändert, wobei die ergänzten und ergänzenden Bestimmungen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Die Verfassungsänderung bedeutet die Aufhebung bzw. Teilaufhebung einer bestimmten Verfassungsbestimmung und die Verankerung einer neuen Bestimmung. Durch die Durchbrechung der Verfassung wird die Verfassung nicht aufgehoben, wobei die durchbrochene (im beurteilten Falle suspendierte) Bestimmung und die durchbrechende (im beurteilten Falle suspendierende) Bestimmung in Widerspruch stehen.“
Nach Meinung des Verfassungsgerichts stellt das Verfassungsgesetz Nr. 195/2009 Slg. nur der Form halber, jedoch nicht dem Inhalt nach ein Verfassungsgesetz dar. Sein Inhalt ist vielmehr ein individueller Rechtsakt, der keinen allgemein abgegrenzten Kreis von Adressaten und Situationen betrifft, sondern ein konkret bestimmtes Subjekt (das im Jahre 2006 gewählte Abgeordnetenhaus des Parlaments der Tschechischen Republik) und eine konkrete Situation (Beendigung der Wahlperiode am Tage der Wahlen, die bis zum 15. Oktober 2009 stattfinden sollten, und eine nur 93 Siehe P. Pernthaler, Der Verfassungskern. Gesamtänderung und Durchbrechung der Verfassung im Lichte der Theorie, Rechtsprechung und europäischen Verfassungskultur, Wien 1998, S. 78 ff.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
für diesen Fall geltende Verkürzung der Fristen nach dem Gesetz über Wahlen ins Parlament der Tschechischen Republik und der Verwaltungsgerichtsordnung). Diese Tatsache ist nicht nur in Art. 1 des angeführten Verfassungsgesetzes, sondern auch im Wortlaut seines Art. 2 (der eine direkte, durch ein Verfassungsgesetz durchgeführte Novelle der Gesetze darstellt) ausgedrückt, der bei der Regelung über die Verkürzung der angegebenen Fristen die Formulierung „für diesen Fall“ enthält. In Art. 9 Abs. 2 der Verfassung, welcher die Prinzipien festhält, die das Verfassungssystem der Tschechischen Republik grundlegend identifizieren, stellte der Verfassungsgeber das demokratische Prinzip und das Rechtsstaatsprinzip auf das gleiche Niveau. Wie sich aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes ergibt, fällt die Verletzung des Prinzips der Allgemeinheit der Gesetze in den Rahmen der unzulässigen Beeinträchtigung des Rechtsstaates. In Frage kommende Ausnahme stellen entweder Fälle des Erlasses eines Rechtsanwendungsaktes in Form von Gesetzen (z. B. des Gesetzes über den Staatshaushalt) dar, weiter Fälle der ausdrücklichen Ermächtigung zum Erlass von Ad-hoc-Gesetzen (z. B. aufgrund von Art. 11 und Art. Abs. 3 der Verfassung erlassene Verfassungsgesetze) oder Ad-hocGesetze, für deren Erlassung Ausnahmegründe sprechen, welche die Bedingungen des Proportionalitätstests (z. B. Restitutionsgesetze) erfüllen. Bei einer fehlenden Verfassungsermächtigung zum Erlass von Ad-hoc-Verfassungsgesetzen könnte die Verfassungskonformität des Verfassungsgesetzes, das im von der Verfassung abgegrenzten Kompetenzrahmen des Parlaments angenommen wurde, lediglich aufgrund des Schutzes des materiellen Kerns gem. Art. 9 Abs. 2 der Verfassung begründet werden. Mit anderen Worten: der Schutz des demokratischen Rechtsstaates in Form der Verabschiedung eines Ad-hoc-Verfassungsgesetzes könnte nur unter völlig außerordentlichen Umständen (z. B. im Kriegszustand oder bei einer Naturkatastrophe, deren Lösung weder die Verfassung noch das Verfassungsgesetz Nr. 110/1998 Slg. über die Sicherheit der Tschechischen Republik (in der Fassung des Verfassungsgesetzes Nr. 300/2000 Slg.) ermöglichen) akzeptiert werden, wobei dieser Vorgang die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergebenen Gesichtspunkte erfüllen müsste. Außer dem Prinzip der Unzulässigkeit, die Wahlen in den die Wahlperiode überschreitenden Fristen stattfinden zu lassen, verankert Art. 21 Abs. 2 der Charta auch das Prinzip der Regelmäßigkeit von Wahlperioden (Regelmäßigkeit der Ausübung des Wahlrechts). Das Ad-hoc-Verfassungsgesetz über die Verkürzung der Wahlperiode steht nur für einen Einzelfall (und nicht allgemein für die Zukunft) im Widerspruch zum Verfassungsimperativ der Regelmäßigkeit der Wahlperioden, und stellt daher anhand der Bestimmung des Art. 16 Abs. 1 der Verfassung eine Ausnahme dar. Die auf diese Art und Weise dargelegten Ausgangspunkte stellten die Grundlage für die Beantwortung der Frage dar, ob die Begriffsmerkmale der Verfassungsgesetze im zu beurteilenden Fall erfüllt wurden, und zwar, ob diese außer der prozeduralen Bedingung gem. Art. 39 Abs. 4 der Verfassung auch die Bedingung der Kompetenz
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(der Ermächtigung) gem. Art. 9 Abs. 1 der Verfassung (oder gem. anderer ausdrücklicher Verfassungsermächtigungen [Art. 2 Abs. 2, Art. 10a Abs. 2, Art. 11, Art. 100 Abs. 3]) und die materielle Bedingung gem. Art. 9 Abs. 2 der Verfassung erfüllen. Das Verfassungsgericht vertritt die Meinung, dass die Geltung des Verfassungsgesetzes nur durch die Erfüllung der drei angegebenen Bedingungen gegeben ist: durch die prozedurale Bedingung, die Kompetenz-(Ermächtigungs-)Bedingung und die materielle Bedingung (Übereinstimmung mit den unveränderbaren Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates). In der beurteilten Sache gelangte das Verfassungsgericht zur Ansicht, dass das Verfassungsgesetzes Nr. 195/2009 Slg. einen verfassungsunzulässigen, individuellen und rückwirkenden Charakter besitzt, und dass es Art. 9 Abs. 1 der Verfassung, Art. 21 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Verfassung und Art. 1 Abs. 1 der Verfassung in der Intensität verletzt, die einen Eingriff in Artikel 9 Abs. 2 der Verfassung begründen. Die Erkenntnis des Verfassungsgerichtes wurde sowohl von Politik94 als auch Verfassungslehre95 heftig kritisiert. Das Hauptargument der Kritiker war die Ablehnung der Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtes im Bezug auf Verfassungsgesetze, also der Hinweis auf den autonomen Charakter des Imperativs der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskernes und die daraus folgende Absenz heteronomer Garantien seiner Anwendung. Zum Schluss möchte ich noch als eine spezielle Kategorie den Kommentar des Journalisten Jirˇí Hanák erwähnen, der die Reaktionen auf die Causa der Verfassungswidrigkeit des Verfassungsgesetzes zur Abkürzung der Wahlperiode der Abgeordnetenkammer mit spöttischen Worten glossierte: „Und so haben die Politiker einen bisher unerhörten Fleiß an den Tag gelegt – man konnte sogar beobachten, wie der blaue Wolf (d. h. die rechtsgerichtete Bürgerliche demokratische Partei – Anm. P.H.) neben dem orangefarbenen Lamm (d. h. der linksgerichteten Sozialdemokratischen Partei – Anm. P.H.) in seltener Eintracht und unter dem zustimmenden 94 Siehe z. B.: „Das Verfassungsgericht … mit seiner Entscheidung bewußt und absichtlich vertieft die politische Krise in unserem Land“ (Erklärung des Staatspräsidenten Václav Klaus zur Entscheidung des Verfassungsgerichtes von 10. September 2009, http://www.klaus.cz/ klaus2/asp/clanek.asp?id=LjSZX0c13q2x.). 95 V. Mikule, Mu˚zˇe Ústavní soud zrusˇit ústavní zákon? (dt.: Darf das Verfassungsgericht das Verfassungsgesetz aufheben?), Jurisprudence, 1, 2010, S. 18 – 23; V. Pavlícˇek, Kdo je v Cˇeské republice ústavodárcem a problém suverenity (dt.: Wer ist in der Tschechischen Republik der Varfassungsgeber und das Souverenitätsproblem), in: M. Vantuchová/J. Horák (Hrsg.), Na krˇizˇovatkách práva. Pocta Janu Musilovi k sedmdesáty´m narozeninám (dt.: Auf den Scheidewegen des Rechts. Festschrift für Jan Musil zum siebzigsten Geburtstag), Praha 2011, S. 25 – 33; J. Bárta, Modus operandi ústavních delikventu˚ (dt.: Modus operandi der Verfassungsdelinquenten), Právník, Nr. 5, 2010, S. 474; R. Suchánek, Nepohodlné cˇlánky Ústavy aneb co nezmeˇníme, to opomineme nebo vylozˇíme (dt.: Die unbequemen Verfassungsartikel oder was wir nicht ändern, das unterlassen oder legen wir aus), in: P. Mlsna et al., Ústava CˇR – vznik, vy´voj a perspektivy (dt.: Verfassung der Tschechischen Republik), Praha 2011, S. 109 ff.; Z. Kühn, Nad nálezem Ústavního soudu ve veˇci protiústavnosti „ústavního“ zákona cˇ. 195/2009 Sb. (dt.: Über der Erkenntnis in der Sache der Verfassungswidrigkeit „des Verfassungsgesetzes“ Nr. 195/2009 Slg.), Právní rozhledy, Nr. 1, 2010, S. 20 ff.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre Kiebitzen des Präsidenten liegt. Schurke oder Held, alles eine Familie! Sofort wurde das Verfassungsgericht von dieser Gemeinschaft der Betroffenen mit Zweifeln über dessen Kompetenz überhäuft, es wurde Böswilligkeit (,Richterkratie‘) unterstellt und über skandalöse Entscheidung gemunkelt, auch die Ehrenwürdigkeit und Unabhängigkeit des Gerichtes hat man auf verschiedene Weise in Frage gestellt… Diese Aufregung und Entwürdigung des Verfassungsgerichtes ist darauf zurückzuführen, dass der Beschluss die tschechischen Politiker ziemlich kalt erwischt hat.“96
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt 1. Kontexte und Deutungen Im Jahr 1978 erscheint in Prag die tschechische Übersetzung des Buches Aron J. Gurjewitsch’ „Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen“.97 Das Werk hat in der damaligen Tschechoslowakei eine außerordentliche Aufmerksamkeit geweckt. Mit einem bemerkenswerten Mut lehnt Gurjewitsch in seinem Buch das hegelschemarxistische Herangehen bei der Erforschung der Geschichte ab, welches auf der apriori Annahme der allgemeinen Geschichtsphilosophie basiert, die folglich maßgebend ist für die Interpretation der historischen Fakten. Hierzu sagt Gurjewitsch: „Die Zeit des Mittelalters besitzt auch einen selbstständigen historischen Wert.“98 Er kehrt zu der Autorität Leopold von Rankes zurück, der im 19. Jahrhundert die folgende Aufforderung formuliert: „… jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“.99 Gurjewitsch (ähnlich wie z. B. Jacques Le Goff100 in Frankreich), proklamiert die wesentliche methodologische These: „Die Kultur der Vergangenheit kann man nur durch ein streng historisches Herangehen verstehen, nur dann, wenn man sie mit dem ihr entsprechenden Maße mißt. Einen einheitlichen Maßstab, dem man alle Zivilisationen und Epochen unterordnen könnte, gibt es nicht, da kein Mensch existiert der in allen diesen Epochen der gleiche ist. … Und wenn wir die Vergangenheit, wie es eigentlich gewesen (wieder eine von Rankes These – Anm. P.H.), begreifen wollen, dann müssen wir danach streben, an sie mit den ihr adäquaten Kriterien heranzugehen, sie immanent zu studieren, ihre eigene innere Struktur zu erschließen, und uns davor hüten, ihr unsere moderne Auffassungen und Einschätzungen aufzuzwingen.“101
96
J. Hanák, Klofací porˇádek (dt.: Die Pickordnung), Právo, 4. September 2009. A.J. Gurjewitsch, Kategorii srednevekovoj kuljtury, Moskwa 1972 (tsch. Übersetzung: Kategorie strˇedoveˇké kultury [dt.: Kategorie der mittelalterlichen Kultur], Praha 1978). 98 A.J. Gurjewitsch, Kategorii srednevekovoj kuljtury, Moskwa 1972 (dt. Übersetzung: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, 5. Aufl., München 1997, S. 7). 99 Ibidem. 100 J. Le Goff, La Civilisation de l’Occident médiéval, Paris 1964; J. Le Goff, L’Europe racontée aux jeunes, Paris 1996. 101 A.J. Gurjewitsch (Fn. 98), S. 8 – 9. 97
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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Die Frage, welche sich aus der Überlegung Gurjewitsch’ für die Rechtsphilosophie ableiten lässt, lautet, ob wir bei den Überlegungen zur Wechselbeziehung des Naturrechts und des positiven Rechts aus der hermeneutischen Sicht nicht auf dem Weg der Ex-post-Projektion schreiten, ob wir die philosophischen Werke und die Kunstwerke der Geschichte nicht mit dem Verständnis der Gegenwart bewerten. Das Bewusstwerden des Unterschiedes zwischen dem Positivismus und dem Iusnaturalismus kann (ähnlich wie der Anfang fast aller großen Fragen der europäischen Sozialphilosophie) bis in die Antike zurückverfolgt werden. Beispielhaft seien der berühmte Dialog des Perikles mit Albikiades aus Xenophons Erinnerungen an Sokrates102 und der nicht weniger berühmte Monolog der Antigone von Sophokles erwähnt: „Kreon: Und wagtest, mein Gesetz zu übertreten? Antigone: Der das verkündete, war ja nicht Zeus,/Auch Dike in der Totengötter Rat/Gab solch Gesetz den Menschen nie. So groß/ Schien dein Befehl mir nicht, der sterbliche,/ Daß er ungeschriebene Gottgebote,/ Die wandellosen, konnte übertreffen./ Sie stammen nicht von heute oder gestern,/Sie leben immer, keiner weiß, seit wann.“103
102
Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, Stuttgart 1985, S. 16 f.: „,Sage mir, Perikles‘, so habe er begonnen, ,kannst du mir wohl erklären, was ein Gesetz ist?‘ – ,Aber sicher‘ habe Perikles geantwortet. – ,So lehre es mich denn, bei den Göttern,‘ habe Alkibiades erwidert. ,Ich höre nämlich von einigen, daß sie gelobt werden, weil sie gesetzestreue Männer sind. Ich glaube aber, daß einer, der nicht weiß, was ein Gesetz ist, kaum mit Recht dieses Lob erhalten dürfte.‘ – ,Nichts Schwieriges verlangst du, Alkibiades‘, habe Perikles geantwortet, ,wenn du wissen willst, was ein Gesetz ist. Dies alles ist Gesetz, was das versammelte Volk nach eingehender Prüfung schriftlich festgesetzt hat, indem es aufzeigt, was man tun und was man lassen soll.‘ – Alkibiades: ,In der Meinung, man müsse das Gute tun oder das Schlechte?‘ – Perikles: ,Das Gute natürlich, mein Knabe, das Schlechte aber nicht.‘ – ,Wenn aber nicht das Volk, sondern nur wenige, wie es dort der Fall ist, wo eine Oligarchie herrscht, zusammenkommen und schriftlich festsetzen, was man tun soll, worum handelt es sich dann?‘ – Perikles: ,Alles, was die Staatsgewalt nach Prüfung dessen, was man tun soll, schriftlich festgesetzt hat, wird Gesetz genannt.‘ – Alkibiades: ,Und wenn nun ein den Staat beherrschender Tyrann den Bürgern vorgeschrieben hat, was man tun soll, ist das auch Gesetz?‘ – Perikles: ,Auch alles das, was ein herrschender Tyrann als Gesetz aufschreiben läßt, wird Gesetz genannt.‘ Alkibiades: ,Was aber, Perikles, ist den Gewalt und Gesetzlosigkeit? Sprechen wir nicht dann von diesen Dingen, wenn der Stärkere den Schwächeren nicht durch Überzeugungen, sondern durch Gewaltanwendung zwingt, das zu tun, was ihm beliebt?‘ – Perikles: ,Ganz meiner Meinung.‘ – Alkibiades: ,Und immer dann, wenn ein Tyrann nicht durch Überzeugen die Bürger zu etwas zwingt, sondern indem er einfach ein Gesetz aufstellet, ist das Gesetzlosigkeit?‘ – Perikles: ,Es will mir so scheinen. Ich nehme meinen falschen Zug zurück und sage jetzt, daß alles das nicht Gesetz ist, was ein Tyrann als Gesetz aufschreiben läßt, wenn er nicht die Bürger von dessen Zweckmäßigkeit überzeugt hat.‘ – Alkibiades: ,Nennen wir alles das, was die wenigen als Gesetz verordnen, indem sie nicht davon überzeugen, sondern einfach ihre Macht ausüben, Gewaltanwendung oder nicht?‘ – Perikles: ,Es scheint mir, daß es sich immer eher um Gewalt als um Gesetz handelt, wenn jemand einen zu etwas zwingt, ohne ihn zu überzeugen, sei es nun schriftlich oder nicht.‘ – Alkibiades: ,Und wäre wohl alles das, was das Gesamtvolk als herrschende Macht über die Besitzenden gesetzlich verordnet, ohne diese zu überzeugen, eher Gewaltanwendung als Gesetz?‘ – Perikles: ,Ja durchaus, Alkibiades.‘“ 103 Sophokles, Antigone, Stuttgart 1998, S. 22.
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Georg Jellinek104 beginnt seine Abhandlung, die der Idee des Rechts in der Geschichte des Dramas gewidmet ist, mit einer „Rankeschen“ Überlegung zum griechischen Drama: „Das moderne Denken unterscheidet zwischen sittlicher und rechtlicher Ordnung … Dem Hellenen waren nun beide Ordnungen ein und dieselbe. Die göttlich-sittliches Ordnung … war zugleich Rechtsordnung. Die Anschaulichkeit des hellenischen Geistes … verkörperte auch die sittliche Mächte zu sinnlichen Gestalten, so daß ihm als Gebot einer fremden Macht entgegentritt, was dem modernen Menschen die nur dem inneren Ohre vernehmbare Stimme des Gewissens zuruft. Nicht sowohl dem Triebe ihres Herzens, als dem ewigen, ungeschriebenen Recht der Götter, deren Rache sie fürchtet, folgt Antigone, als sie gegen das Gebot des Herrschers den toten Bruder begräbt; daß sie das göttliche Recht höher achtet als den Befehl des Mannes, der, seine Macht mißbrauchend, die Satzung der Todesgötter verletzt, ist ihr Ruhm und ihr Stolz.“105
Nach der Jellinekschen Meinung erscheint den Griechen „das Recht nur als Rechtsordnung, als objektives Recht … Von dem Rechte des einzelnen, von der Freiheit, die das Gesetz verleiht, als einer berechtigten Idee, ist in antiken Drama keine Rede. … alle Personen, welche ein subjektives Recht zu haben glauben oder es geltend machen wollen, werden durch den Zorn der Götter, durch das Walten der Nemesis niedergestürzt. Prometheus schreibt dem Verbote des Zeus keine bindende Kraft für seine Taten zu; da wird er an den Felsen geschmiedet. … Das Recht ist dem griechischen Dramatiker nur ein Sollen, nie ein Dürfen. Was wir Freiheit nennen, ist ihm vermessene Willkür.“106
Für Jellinek stellt daher der Konflikt zwischen Antigone und Kreon, der Konflikt zwischen Iusnaturalismus und Iuspositivismus, nicht den Konflikt des subjektiven und des objektiven Rechts, da „im antiken Drama also die Rechtnormen selber in Konflikt stehen“.107 Am Beispiel Shakespeares Dramen manifestiert er die veränderte Sichtweise Kopernikus’ in Bezug auf Recht, welches die Gestalt des menschlichen Werkes erlangt, das schwach und spröde ist wie jedes menschliche Werk: „Die Idee des Rechtes ist also bei Shakespeare nicht mehr die höchste. … Man hat Shakespeare den Dichter der Geschichte genannt … Das Recht entsteht und vergeht, es verschwindet, ohne jemals wiederzukehren, nur die Gesetze, welche in jeder Menschenbrust mit unauslöschlichen Zügen eingegraben sind, nur die sittliche Welt bleibt in der Erscheinungen Flucht unversehrt erhalten. Nicht die Unverbrüchlichkeit des Rechts weist Shakespeare auf; im Gegenteile zeigt er, wie Throne umgestürzt werden, Vasallen ihre 104
An dieser Stelle sollte erinnert werden, dass Georg Jellinek nicht nur Verfasser berühmter und bis heute wissenschaftlich wertvoller Abhandlungen war, sondern auch eine wahre Renaissancepersönlichkeit, die sich unter anderem auch mit der Rechtsreflexion der Literatur oder der Biblischen Gestalten befasste (siehe z. B. G. Jellinek, Adam in der Staatslehre, Heidelberg 1893). 105 G. Jellinek, Die Idee des Rechts im Drama in ihrer historischen Entwickelung, in: G. Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden, Erster Band, Berlin 1911, S. 213. 106 Ibidem, S. 214, 216. 107 Ibidem, S. 218.
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Herren verdrängen, ohne daß, die alte Ordnung je wiederkehrt. … Das antike Drama kannte den Kampf der Rechtsnormen untereinander; ein ähnlicher Kampf spielt sich in Shakespeare ab; nur kämpft nicht Recht mit Recht, sondern Recht mit Gnade.“108
Georg Jellinek manifestiert seine rechtlich-hermeneutische These mit der Interpretation der Werke „Der Kaufmann von Venedig“ und „Maß für Maß“. Im Geiste Georg Jellineks interpretiert Shakespeares Werk Maß für Maß, das dem Genre nach nur schwer einzuordnen ist, auch Gustav Radbruch: „Alles, was an Einwänden gegen den juristischen Positivismus vorgebracht worden ist, und alles, was positivistische Juristen darauf zu erwidern haben, erscheint hier in großer Vollständigkeit und äußerster Knappheit. Angelo beruft sich erst auf die Rechtskraft des Urteils, dann auf den Zwang des Gesetzes und auf die Notwendigkeit, die Geltung des Gesetzes durch Strafe zu bewähren und zu bewahren, letzten Endes auf die im Gesetze verkörperte Gerechtigkeit. Isabella stellt der kalten männlichen Sachlichkeit menschlich-persönliche Argumente gegenüber: die Gnade und ihr Vorbild, die göttliche Gnade, derer gerade auch die Richter in ihrer menschlichen Sündhaftigkeit bedürfen, die Ungerechtigkeit, nach jahrzehntelanger Straflosigkeit gleicher Taten plötzlich einen einzelnen wieder zu bestrafen.“109
Von Shakespeare wendet Jellinek seine Aufmerksamkeit auf das deutsche Drama, insbesondere dann auf die Person Friedrich Schillers: „Wenn der antike Dramatiker die Frage beantwortet: Was soll und muß der Mensch nach der herrschenden Ordnung tun? – so zeigt uns das deutsche Drama die Macht und die Kraft des Menschen, es versucht das weite Reich der natürlichen Freiheit des Menschen darzustellen; die Frage, auf welche es die Antwort gibt, lautet: Was darf und kann der Mensch gegenüber der herrschenden Ordnung? … Der Mensch darf alles, was seine Freiheit ihm erlaubt, und diese hat nur natürliche und sittliche Schranken. Vor allem aber darf er diese Freiheit, auf der das Recht beruht, verwirklichen, er darf die Ordnung des Unrechts stürzen und die Freiheit an die Stelle der Tyrannei setzen.“110
Die Frage, die sich für die Rechtsphilosophie aus der Betrachtung Jellineks und der methodologischen These Gurjewitschs (Ranks oder Le Goffs) ableiten lässt, berührt daher die eigentlichen Ambitionen der Rechtsphilosophie. Diese Frage lautet, inwiefern es die Aufgabe der Rechtsphilosophie ist, die Definitionsmerkmale des universellen Rechtsbegriffes festzulegen, welche für die verschiedensten menschlichen Ordnungen in der Zeit und im Raum, für alle „möglichen Welten“ der 108
Ibidem, S. 222 – 224. G. Radbruch, Shakespeare. Maß für Maß, in: G. Radbruch, Gestalten und Gedanken. Zehn Studien, Stuttgart 1954, S. 44. In einer ganzen Reihe seiner Veröffentlichungen widmete Radbruch seine Aufmerksamkeit den Rechtsreflexionen der Kunst. Neben der bereits erwähnten Sammlung der zehn Essays sollten zumindest seine Bücher Karikaturen der Justiz. Lithographien von Honoré Daumier, Göttingen 1957, und Kleines Rechtsbrevier. Spruchbuch für Anselm, Göttingen 1954, das er seinem geliebten, im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sohn widmete, genannt werden. 110 G. Jellinek, Die Idee des Rechts im Drama in ihrer historischer Entwickelung (Fn. 105), S. 228, 230. 109
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Existenz des Rechts gelten würden. Sie ähnelt daher auch der Frage, die sich die allgemeine Philosophie oder die allgemeine Geschichtswissenschaft stellen: Existiert eine allgemeine Geschichtsphilosophie oder eine allgemeine Geschichtstheorie, der alle historischen Fakten untergeordnet werden, und welche es ermöglicht, die Zukunft zu prädizieren? Können also wissenschaftliche Theorien aus den sozialen Disziplinen außerhalb der Kontexte formuliert werden? Das heißt außerhalb der historischen Kontexte, der Kontexte gedanklicher Paradigmen, die den Raum für menschliche Entscheidungen und Handlungen schaffen, außerhalb der Kontexte der zeitgenössischen Sprachdeutungen? Ich neige zur Skepsis gegenüber diesen Ambitionen, den universellen Rechtsbegriff im Hinblick auf Zeit und Raum (Geschichte und Kulturen), aber auch im Hinblick auf die angewandten Methoden und Betrachtungswinkel einzugrenzen. In diesem Zusammenhang möchte ich den Gedanken Dreiers in Erinnerung rufen, wonach die Kriterien für die Angemessenheit des Rechtsbegriffes aus den spezifischen Forschungsaspekten derjenigen Disziplinen hervorgehen, welche sich mit dem Recht befassen. Dies bedeutet, dass für das Recht stets mehrere Begriffe existieren, die gleichermaßen legitim und adäquat sind.111 Und dieselbe Schlussfolgerung teile ich auch in Bezug auf die zeitlich-räumliche Universalität des Rechtsbegriffes: „Ich habe jedenfalls keine Schwierigkeiten zu sagen, daß der Rechtsbegriff, um den es mir hier geht, der Rechtsbegriff des demokratischen (und sozialen) Rechtsstaats ist, unabhängig davon, ob und wie sich für ihn ein universaler Geltungsanspruch begründen läßt.“112
Ich möchte versuchen einen Terminus für die Bezeichnung des Gegenstandes der folgenden Überlegung zu finden – vielleicht wäre ,der kontextuelle Rechtsbegriff‘ passend. Damit meine ich die Bemühungen, zu verstehen, wie öffentliche Institutionen bei der Geltendmachung der Macht (der Herrschaft) funktionieren, nach welchen Gedankenparadigmen sie sich richten, wie solche Paradigmen geschaffen werden und wie sich dieselben in Abhängigkeit von historischen Umwandlungen, Traditionen, zeitgenössischen Herausforderungen, leitenden Ideen innerhalb einer Gemeinschaft von zeitgenössischen Vorstellungen über Gerechtigkeit und Rationalität und schließlich auch von der Lehre als solcher verändern. Die kontextuale Überlegung kann anhand des Exkurses illustriert werden, den Herbert L.A. Hart in sein berühmtes Werk hineinkomponierte, welches sich mit dem Begriff des Rechts befasste. Das Fortbestehen der Gesetze aus dem Mittelalter in Großbritannien erforschend, stellt Hart folgende Frage: „Wie kann ein Gesetz, das von einem früheren Gesetzgeber stammt, der schon lange tot ist, noch für eine (gegenwärtige – Anm. P.H.) Gesellschaft gesetzt sein?“113 Auf diese Frage antwortet Hart konsistent und im Einklang mit der eigenen Konzeption des Rechtsbegriffes: 111
R. Dreier, Der Begriff des Rechts, in: R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft, Frankfurt a.M. 1991, S. 108. 112 Ibidem, S. 112. 113 H.L.A. Hart, Concept of Law, Oxford 1961 (dt. Ausg.: Der Begriff des Rechts, Frankfurt a.M. 1973, S. 92).
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„Die Antwort auf dieses Problem, ,warum noch Recht‘, ist im Prinzip dieselbe wie die Antwort auf unser … Problem, ,warum schon Recht‘.“114 Das Problem des Fortbestehens des Rechts hat Thomas Hobbes in das Rechtsdenken eingebracht, indem er sagt: „Wenn der Souverän eines Gemeinwesens ein Volk unterwirft, das unter anderen geschriebenen Gesetze gelebt hat, und es danach mit Hilfe derselben Gesetze regiert, durch die es zuvor regiert worden war, so sind diese Gesetze dennoch die staatlichen Gesetze des Siegers und nicht des besiegten Staates. Denn der Gesetzgeber ist nicht der, durch dessen Autorität die Gesetze zuerst erlassen worden waren, sondern der, durch dessen Autorität sie nunmehr weiterhin Gesetze sind.“115
Wenn heute als Teil der aktuellen tschechischen Rechtsordnung eine ganze Reihe österreichischer, österreichisch-ungarischer, tschechoslowakischer (entweder aus der Zeit 1918 bis 1939 oder aus der Zeit 1945 bis 1992) Gesetze oder sogar Gesetze aus der Zeit des Protektorats (1939 bis 1944) gelten, ist dies auf die Rezeptionsnormen zurückzuführen.116 Mit der Rezeptionsnorm wird die Gültigkeit der Rechtsvorschriften des vorhergehenden Staates durch den Machtsouverän eines neu entstehenden Folgestaates festgeschrieben. Der Grund für die Annahme der Rezeptionsnormen ist offensichtlich: es soll die Rechtsentropie, das Rechtsvakuum verhindert werden, welches zwingend den Zustand der Unsicherheit, Spannung und der Konflikte zur Folge hätte. Aus der allgemein theoretischen Sicht kann der These beigepflichtet werden, welche Viktor Knapp am Rande der Frage nach dem Fortdauern des Rechts äußerte: „Das Wesen der Sache hängt mit der Existenz des Rechts als solchem zusammen. Eine Rechtsnorm, wenn diese entsteht, wird zum Teil der Existenz des Rechts und gilt zugleich als ein Teil desselben. Sie ist die Rechtsnorm eines bestimmten Staates und ist aufgrund ihrer Existenz an diesen Staat gebunden. Gleichzeitig jedoch löst sie sich von dem gesetzgebenden Organ los, das sie geschaffen hat, sie hypostasiert, wird zur gegenständlichen Realität und erlangt somit ihre eigene Existenz, die von der Existenz des Erschaffers unabhängig ist.“117 114
Ibidem, S. 92 – 93. T. Hobbes, Leviathan or the Matter, Form and Power of a Common-Wealth Ecclesiastical and Civil (Fn. 71), S. 228. 116 Siehe Art. 2 des Gesetzes Nr. 11/1918 GBl., über das Errichten des eigenständigen tschechoslowakischen Staates; Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik Nr. 11/1944 Úrˇ. veˇst. cˇsl., über die Erneuerung der Rechtsordnung, in der Fassung der Bekanntmachung des Innenministers Nr. 30/1945 Sb., über die Gültigkeit des Verfassungsdekrets des Präsidenten der Republik vom 3. August 1944, Nr. 11 Úrˇ. veˇst. cˇsl., über die Erneuerung der Rechtsordnung und des Verfassungsgesetzes Nr. 72/1947 Sb., anhand dessen die Rechtsvorschriften zur Erneuerung der Rechtsordnung geändert werden; Art. 112 Abs. 1 und 3 des Verfassungsgesetzes Nr. 1/ 1993 Sb., Verfassung der Tschechischen Republik, Art. 1 und Art. 3 des Verfassungsgesetzes Nr. 4/1993 Sb., über Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Auflösen der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik. 117 V. Knapp, Teorie práva (dt.: Rechtstheorie), Praha 1995, S. 58. 115
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Aus der Überlegung über das Fortbestehen des Rechts bei der Analyse der Kategorie der Souveränität formuliert Herbert Hart das folgende Prinzip: „Das Parlament kann durchaus die legislative Kompetenz seiner Nachfolger unwiderruflich begrenzen und soll im allgemeinen diese selbst-beschränkende Befugnis besitzen. … In Wirklichkeit wird hier unterschieden zwischen einer ständigen Omnipotenz in allen Angelegenheiten, welche die legislative Kompetenz der nachfolgenden Parlamente nicht berührt, und einer absoluten, sich aber selbst einschränkenden Omnipotenz, die nur ein einziges Mal ausgeübt werden kann. Diese beiden Begriffe von Omnipotenz haben ihre Parallele in zwei Begriffen eines allmächtigen Gottes: einerseits ein Gott, der sich in jedem Augenblick seiner Existenz derselben Kraft erfreut und deshalb diese auch nicht beschneiden kann, und andererseits ein Gott, dessen Kraft die Möglichkeit einschließt, in Zukunft seine Omnipotenz zu zerstören. Welche Form der Omnipotenz – die dauernde oder die sich selbst einschränkende – unser Parlament genießt, ist eine empirische Frage und betrifft die Regel, die als oberstes Kriterium für die Identifizierung von Recht akzeptiert wurde. … Man konnte sogar annehmen, daß … das Parlament sich selbst vollständig auflöst, indem es seine Befugnisse für erloschen erklärt und die Gesetze über die Wahl zukünftiger Parlamente abschafft.“118
Im Fall – so Hart – wenn die Gerichte diese Angelegenheit entscheiden müssen, dann „werden die Gerichte die oberste Regel festgelegt haben, durch die gültiges Recht zu identifizieren ist. … Die Möglichkeit, daß die Gerichte die Autorität besitzen, jederzeit solche Grenzfälle der obersten Gültigkeitskriterien zu entscheiden, beruht nur auf der Tatsache, daß zu einer bestimmter Zeit die Anwendung jener Kriterien auf ein weites Rechtsgebiet, einschließlich der Regeln, die jene Autorität übertragen, zu keinen Zweifeln Anlaß gab, obwohl ihre genaue Kernbedeutung und ihr Sinnhorizont zweifelhaft sind. … Eine Art des ,formalistischen‘ Irrtums besteht vielleicht darin, daß man einfach glaubt, jeder Schritt, den ein Gericht tut, sei durch eine allgemeine Regel gedeckt, die im voraus die Autorität, den Schritt zu tun, überträgt, so daß hier die rechtsschöpferischen Befugnisse des Gerichts immer eine Form von delegierten legislativen Befugnissen sind. In Wahrheit empfangen vielleicht die Gerichte, wenn sie unvorhergesehene Fragen, welche die fundamentalsten Verfassungsregeln betreffen, entscheiden, im Nachhinein ihre Autorität, nachdem die Fragen aufgetaucht und die Entscheidungen gefallen sind. Hier ist nichts so erfolgreich wie der Erfolg.“119
Mit anderen Worten sagt Hart, dass der gerichtliche Schutz der Ewigkeitsklausel oder des Imperativs der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskerns mit den zeitgenössischen Zusammenhängen, mit der gesellschaftlichen Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidung in einer Grenzsituation gegeben ist, mit der Akzeptanz einer Entscheidung, welche sich auf die Grundregel bezieht, die wiederum die Gültigkeitsbedingungen festlegt. Auf diese Weise denkt Hart an dieser Stelle im Sinne des kontextuellen Rechtsbegriffes.
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H.L.A. Hart, Concept of Law (Fn. 113), S. 207 – 208, 210. Ibidem, S. 211 – 212.
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Wenn ein Bestandteil des kontextuellen Rechtsbegriffes auch der sprachliche Kontext sein sollte, kann am besten anhand der Einführung der Herausgeber der Internationalen Zeitschrift für Rechtstheorie (Hans Kelsen, Léon Duguit und Frantisˇek Weyr) zum ersten Band aus dem Jahr 1926 illustriert werden: „Wenn von einer ,Theorie des Rechts‘ und nicht von Rechtsphilosophie gesprochen wird, so soll damit angedeutet werden, daß jenes Problem, dessen spekulative Lösung man für gewöhnlich unter der Bezeichnung der ,Rechtsphilosophie‘ zu verstehen pflegt: das Problem der Gerechtigkeit, des richtigen, gerechten, des natürlichen oder absoluten Rechts, in den Kreis jener Erörterungen nicht einbezogen werden soll, denen die neue Zeitschrift gewidmet ist.“120
Nach Ralf Dreier ist für das 19. und für zwei Drittel des 20. Jahrhunderts die Orientierung auf das Naturrecht zusammen mit der Verwendung des Begriffs der Rechtsphilosophie kennzeichnend. Die Orientierung auf das positive Recht wird mit dem Begriff der Rechtstheorie in Verbindung gebracht. In den vergangenen vierzig Jahren – wohlgemerkt in der postmodernen Zeit – ging die offenkundige Distinktion dieser Kennzeichnung verloren.121
2. Iusnaturalismus versus Iuspositivismus: Die Folge des Konzeptes der Machtlegitimität Die These der Verbindung des weltlichen und des göttlichen Rechts entfaltete sich aus dem Konzept der Machtlegitimität. Die Legitimität der Gewalt (ihre theoretische Konzeption) wurde über Jahrhunderte, ja vielleicht Jahrtausende, durch die Idee einer von Gott verliehenen Legitimität begründet. Obschon sich im Verlauf des Mittelalters das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, die Beziehung zwischen dem Papst und dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und später dann die Beziehung zwischen dem Papst und dem König Frankreichs geändert haben, obschon die Art und Weise der Bestimmung des Herrschers Änderungen unterworfen war, die Symbolik seiner Legitimität blieb die gleiche. Das biblische Gleichnis der Salbung des weltlichen Herrschers vom Priester (des Königs Saul vom Propheten Samuel122) wurde in den Ritus der Inauguration des Herrschers übertragen, als Symbol dieses Typs der Legitimierung der Gewalt.123 120
Zitiert nach R. Dreier, Von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie und wieder zurück?, in: R. Grote u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2007, S. 23. 121 Ibidem, S. 25 ff. 122 „Aber der Herr hatte Samuel das Ohr aufgetan einen Tag bevor Saul kam und gesagt: ,Morgen um diese Zeit will ich einen Mann zu dir senden aus dem Lande Benjamin, den sollst du zum Fürsten salben über mein Volk Israel, daß er mein Volk errette aus der Philister Hand.‘ … Da sprach Samuel zu Saul: ,Sage dem Knecht, daß er uns vorangehe – und er ging voran – ,du aber steh jetzt still, daß ich dir kundtue was Gott gesagt hat.‘ Da nahm Samuel den Krug mit Öl und goß es auf sein Haupt, küßte ihn und sprach: ,Siehe der Herr hat dich zum Fürsten über sein
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Die von Gott gegebene Legitimität enthält auch die Maxime der Beschränkung der weltlichen Macht (die im Verlauf des Mittelalters eine ganze Reihe von Ausdrucksformen fand: vom Widerstandsrecht124 bis zum Konzept der Monarchomachen125). Die Französische Revolution, die Geschichte des auslaufenden 18. und des ganzen 19. Jahrhunderts brachten eine dramatische Wende: Ein neues Legitimitätskonzept, eine Legitimität, die von der Souveränität des Volkes abgeleitet wird. Sie brachten auch die Vorstellung von der „unbeschränkten Macht des Souveräns“. Am 4. Januar 1960, im Alter von 46 Jahren – es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her! – stirbt bei einem Autounfall Albert Camus: Gérard Philipe der europäischen Philosophie und Literatur: „quem dii diligunt, adolescens moritur“.126 Camus’ „Rebell“ tötet Gott, am Ende des 18. und zum Anfang des 19. Jahrhunderts wird eine neue („wunderschöne“) Welt des Rationalismus geboren, deren Bestandteil das neue Konzept der Machtlegitimität und das neue Konzept der Bindungskraft für die politische Ordnung und das staatliche Leben ist. Es werden zwei neue Paradigmen Erbteil gesalbt.‘“ (Altes Testament. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Berlin 1967, Das Erste Buch Samuel 9,10.) 123 „Während der erste Capet, Hugo Capet, sein Amt im Jahre 987 durch Wahl und Weihe erlangen mußte, erzielten seine Nachfolger, daß das Königreich zur Erbschaft, und der gewählte König zur Erbmonarchie wurde. … Das neue Königreich schuf auch neue Symbole. Der Legende nach kam das Öl, mit dem seinerzeit König Chlodwíg bei seiner Taufe von Bischof Remigius gesalbt wurde, direkt vom Himmel. Mit diesem himmlischen Öl, das in der Obhut des Klosters St. Remy in Reims war, wurden dann alle französischen Könige gesalbt. … Der König, sitzend auf seinem Thron, wurde mit Hoheitszeichen des Reiches versehen – Krone, Fahne, Schwert, Ring, Stock und Zepter und mit heiligem Öl gesalbt. Eine geringe Menge dieses heiligen Öls entnahm der Erzbischof mit goldener Nadel von der heiligen Ampulle, vermengte es mit Heiligungsöl und salbte den König.“ (H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Heidelberg 1994, zit. nach der tsch. Ausg.: Evropské deˇjiny práva, Praha 1998, S. 277 – 278.) 124 „Sofern Gott für die Quelle des Rechtes gehalten wurde, ergab sich daraus, daß das Recht weder ungerecht oder schlecht sein konnte, durch sein Wesen selbst stellte es das Gute und Vorteilhafte dar. Recht und Gerechtigkeit waren Synonyme. … Der Gepflogenheit und dem Gesetz waren alle unterworfen, vor allem der Herrscher. Seine wichtigste Funktion war es, das Recht zu schützen und zu pflegen … Wenn der König den Thron betritt, gab er einen Eid auf das Recht ab. Kein gesondertes Herrscherrecht ist im Mittelalter bekannt. Der Herrscher muß den Usus respektieren und dementsprechend herrschen. Verletzt er das Gesetz, so sollen sich die Untertanen der Ungerechtigkeit nicht unterwerfen: ,Der Mensch ist verpflichtet, sich dem König und dem Richter zu stellen, wenn er Böses tut, und soll ihn da mit allen Mitteln hindern, auch wenn es sein Verwandter ist. Dadurch wird sein Treueid nicht verletzt‘, bekundet ,der Sachsenspiegel‘. … Eine willkürliche Verletzung des Rechtes enthebt den Herrscher der gesetzlichen Grundlagen seiner Macht und entbindet die Untertanen vom Treueid.“ (A.J. Gurjewitsch, Kategorii srednevekovoj kuljtury [Fn. 97], S. 128 – 130.) 125 C. J. Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975; E. Quin, Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600, Berlin 1999. 126 „Wen die Götter lieben, der stirbt jung“, Plauti Bacchides, Lipsiae 1845, S. 66I (IV, 7, 18).
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geboren: das Paradigma der Souveränität des Volkes127 und das Paradigma des Nationalstaates.128 Und es ist Camus, der diese kopernikanische Wandlung vor dem 127
J.J. Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politice (dt. Übersetzung: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1994). 128 Die Geschichte des Begriffes des Volkes verändert sich mit Fichte (Johann Gottlieb Fichte, 1762 – 1814) und seinem Werk Die Reden an die deutsche Nation. Als eine unmittelbare Reaktion auf die Expansion Napoleons nach Deutschland formuliert er das mythologische Kriterium der Existenz einer Nation: „Diese Reden haben zunächst Sie eingeladen, und sie werden eingeladen die ganze deutsche Nation, inwieweit es dermalen möglich ist, dieselbe durch den Bücherdruck um sich zu versammeln, bei sich selbst eine feste Entscheidung zu fassen, und innerlich mit sich einig zu werden über folgende Fragen: 1. ob es wahr sei, oder nicht wahr, daß es eine deutsche Nation gebe, und daß deren Fortdauern in ihrem eigentümlichen und selbstständigen Wesen dermalen in Gefahr sey; 2. ob es der Mühe wert sei, oder nicht wert sei, dieselbe zu erhalten; 3. ob ein irgendein sicheres und durchgreifendes Mittel dieser Erhaltung gebe, und welches dieses Mittel sei.“ (J.G. Fichte, Reden an die deutsche Nation. Berlin 1808, zit. nach Ausgabe Leipzig, ohne Jahresangabe, S. 195). In der Suche auf Anworten auf diese Fragen, insbesondere auf die dritte davon, die Fichte als „die bedeutenste“ betrachtet, stellt er zum ersten Mal im philosophischen und politischen Denken die Forderung nach dem Zusammenhang zwischen der „politischen Selbständigkeit“ und der Nation (ibidem, S. 198 ff.) Die geschlossene politische Theorie, welche nach der Verbundenheit der nationalen (ethnischen) und politischen Einheit verlangt, ist mit Giuseppe Mazzini (1805 – 1872) und seinem Werk Nation als Grundlage des internationalen Rechts (1851) eng verbunden, mit dem er das Programm „Junges Italien“ ausgerufen hat. Als konstitutive Elemente, welche die Nation außerhalb „Rasse, Land, Sprache, Gebräuche, Geschichte, Gesetze und Religion“ als Subjekt der Staatsgemeinschaft definiert, betrachtet er „den Willen eine Nation zu werden“, oder anders gesagt – das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität: „die Karte Europas muss neu gestaltet werden … Die Nationen“ müssen „frei sein, um sich selbst fragen zu können; um ihre Lehre festzulegen und deren Umsetzung durch eine Gemeinschaft sicherzustellen, die befähigt ist, die absolutistische Liga zu ersetzen, die nun hoheitlich herrscht. Nehmt die Karte Europas. Schaut euch diese Karte in ihrer geografischen Gesamtheit an, mit ihren Linien der Berge und Flüsse, mit der gleichmäßigen Anordnung der einzelnen Teile. Vergleicht die Umrisse der Zukunft, die euch diese Betrachtung zuflüstert, mit der jetztigen Verteilung der wesentlichen Rassen und Mundarten. Öffnet das Buch der Geschichte und sucht bei verschiedenen Nationen nach den Zeichen der Lebenskraft, die aus dem Ensemble deren Traditionen hervorgeht … Dann schaut euch die offizielle Herrscherkarte an, die anhand der Verträge von 1815 verabschiedet wurde. Im Widerspruch zwischen diesen zwei Dingen findet ihr dann die endgültige Antwort auf die Ängste und Klagen der Diplomatem. Hier steckt das Geheimnis dieser Verschwörung, die sie versuchen zu Fall zu bringen und somit zu vernichten, die jedoch sie selbst vernichten wird. Hier steckt auch das Geheimnis der künftigen Welt. … möge jede Nation frei sein, um ihr eigens Leben leben zu können. Diese Freiheit sind wir bereit mit dem Wort – und wenn nötig, auch mit dem Schwert zu verteidigen.“ (G. Mazzini, Essays: Selected from the Writings, Literary, Political, and Religious, of Joseph Mazzini, 1887, zit. nach der tsch. Übersetzung: Úvahy vybrané z literárních, politicky´ch a nábozˇensky´ch spisu˚ Josefa Mazziniho (dt.: Überlegungen aus den literarischen, politischen und religiösen Schriften Josef Mazzini], Praha 1900, S. 462 – 468.) Den Impuls zum Aufstieg der Theorien, welche die Identifizierung der politischen und der ethnischen Einheit postulieren, gab die politische Unterdrückung, auf dem Gebiet der Theorie dann die naturrechtliche Konzeption. Daher ist auch die Anwendung des Begriffs „Nation“ bzw. „Nationalität“ im demokratischen Sinne auf die Flüchtlinge des jungen Europas zurückzuführen, d. h. auf Griechen, Polen, Italiener, welche das Recht der Nation auf den Aufstand gegen die Unterdrücker formulierten. Der radikal nationalistische Standpunkt in der Staatswissen-
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Hintergrund der Hinrichtung des Königs Ludwig XVI. beschreibt, indem er auf einmalige Art und Weise die philosophisch-exakte Genauigkeit mit der Wirkmächtigkeit des literarischen Essays verbindet: „Die Monarchie des Ancien Régime … war von Gottes Gnaden, d. h. ohne höhere Instanz, was ihre Legitimität betrifft. … die, welche sie ausübten, betrachteten sie und stellten sie dar als ein Axiom. … Bis dahin erschuf Gott die Könige, die ihrerseits die Völker schufen. Vom ,Contrat social‘ an erschaffen sich die Völker selbst und nachher erst die Könige. Was Gott betrifft, ist von ihm vorübergehend nicht mehr die Rede. Auf dem Gebiet der Politik haben wir hier eine Entsprechung zur Revolution Newtons. … Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache, daß das Urteil über den König durch seine Begründung und seine Folgen den Wendepunkt unserer modernen Geschichte darstellt. Es symbolisiert die Entheiligung dieser Geschichte und die Entkörperung des christlichen Gottes. Gott mischte sich bis dahin durch die Könige in die Geschichte. Aber man tötet seinen geschichtlichen Stellvertreter, es gibt keinen König mehr. Es gibt nur noch einen Scheingott, der in den Himmel der Prinzipien verwiesen wird. … Auf die Königsmörder des 19. folgen die Gottesmörder des 20. Jahrhunderts, die bis ans Ende ihrer rebellierenden Logik gehen und aus der Erde das Königreich machen wollen, wo der Mensch Gott sein wird. Die Herrschaft der Geschichte beginnt, und der Mensch, der, untreu seiner wahren Revolte, sich bloß mit seiner Geschichte identifiziert, weiht sich fortan den nihilistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die, jede Moral leugnend, verzweifelt die Einheit des Menschengeschlechts suchen durch eine zermürbende Anhäufung von Verbrechen und Kriegen.“129
In der Ära der Moderne wird die Moral zur rationalistischen Version von Gott. Nicht nur anhand ihrer Ambition, sondern auch aus der Notwendigkeit heraus, den frei gewordenen Raum zu füllen, schließt sie in sich auch fundamentale Aspekte der Gerechtigkeit und Freiheit ein. Wird im Mittelalter der Begriff der Moral auf das Gebiet des „anständigen Benehmens“ begrenzt, oder im Altertum – bei Cicero – auf das Gebiet der Regel, die sich auf eine bestimmte Lebensweise bezieht, ändert sich die Bedeutung in der Zeitperiode der Aufklärung dramatisch: „Zu dieser Zeit wurde ,Moral‘ zur Bezeichnung für ein Gebiet, auf dem den Verhaltensregeln, die weder theologisch, noch rechtlich oder ästhetisch sind, ein eigenständiger kultureller Raum gewährt wird. Erst zum Ende des 17. und im Laufe des 18. Jahrhundert, als die Lehre akzeptiert wurde, welche das Moralische vom Theologischen, Rechtlichen und Ästhetischen unterscheidet, hört die Bestrebung nach einer unabhängigen rationellen Begründung der Moral auf, die Sache einzelner Denker zu sein, und avanciert zur wichtigsten Sache der nordeuropäischen Kultur.“130
schaft des 19. Jahrhunderts ist mit dem Namen des deutschen Staatswissenschaftlers Johann Kaspar Bluntschli (1808 – 1881) verbunden: „Jede Nation ist berufen und berechtigt einen Staat zu bilden. Wie die Menschheit in eine Anzahl von Nationen geteilt ist, soll die Welt in ebenso viele Staaten zerlegt werden. Jede Nation ein Staat. Jeder Staat ein nationales Wesen.“ (J.K. Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl., Stuttgart 1886; Neudruck: Aalen 1965, S. 107.) 129 A. Camus, L’Homme révolté, Paris 1951 (dt. Übersetzung: Der Mensch in der Revolte, 26. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2006, S. 131 – 132, 140 – 141, 154). 130 A. MacIntyre, After Virtue (Fn. 66), S. 54 (dazu sagt MacIntyre folgendes: „die fundamentale These dieses Buches lautet, dass das Versagen dieser Bemühungen einen histori-
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Mit den Worten von Camus: „Es gibt nur noch einen Scheingott, der in den Himmel der Prinzipien verwiesen wird.“ Diese Sphära der Prinzipien erlangt nun eine neue Bezeichnung – Moral. Dadurch wurde jedoch ein neues Problem etabliert, das mit dem folgenden literarischen Bild Milan Kunderas beschrieben wird: „Als Gott den Platz verlassen hat, von wo aus er das ganze Universum steuerte und seine Wertordnung, von wo aus er das Gute vom Bösen trennte und einen Sinn jeder Sache verlieh, ging Don Quijote hinaus und konnte plötzlich die Welt nicht wiedererkennen. In Abwesenheit des obersten Richters erschien die Welt in ihrer ganzen verräterischen Vieldeutigkeit; die einzige Wahrheit Gottes zerfiel in Hunderte von relativen Wahrheiten, die sich die Menschen untereinander teilten. So wurde das Zeitalter der Neuzeit geboren.“131
Die Wandlung der Epoche verkündet wohl am lautesten Friedrich Nietzsche: „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“132
Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert grenzen sich alle einflussreichen philosophischen Richtungen gegenüber der Transzendenz ab: mit Karl Marx beginnend,133 und mit Ludwig Wittgenstein und anderen großen Persönlichkeiten des logischen Positivismus endend.134 Wie Clemens Jabloner bemerkt: „… für Neurath war Kelsen daher zwar ein Überwinder theologischer Restbestände in der Staatslehre, aber doch ,nicht ganz metaphysikfrei‘“.135 Kopernikus‘ neues Paradigma zur Auffassung des Menschen bekommt jedoch Risse. Die Französische Revolution, und natürlich die Geschichte zum Ende des 18. und über das gesamte 19. Jahrhundert hinaus, brachten zwar einen dramatischen schen Hintergrund entstehen ließ, auf dem man die Krise unserer eigenen Kultur erläutern kann“). 131 M. Kundera, Zneuznávané deˇdictví Cervantesovo (dt.: Verkanntes Erbe Cervantes’), Brno 2005, S. 13. 132 F.W. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. 1882, 1887, Frankfurt a.M./Leibzig 1982, Kap. 6/125. 133 Zur Analyse der Begriffe des Rechts und der Gerechtigkeit in der Philosophie Karl Marx’ siehe J. Rawls, Lectures oh the History of Political Philosophy, zit. nach der deutschen Übersetzung: Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt a.M. 2008, S. 483 – 507. 134 Siehe z. B. A. Ayer, Demonstration of the Impossibility of Metaphysics, Mind 43, 1934, N. 171, s. 335 – 345. 135 C. Jabloner, Beiträge zu einer Sozialgeschichte der Denkformen: Kelsen und die Einheitswissenschaft, in: C. Jabloner/F. Stadler (Hrsg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre. Beziehungen zwischen dem Wiener Kreis und der Hans Kelsen-Schule, Wien/ New York 2001, S. 19. Jabloner zitiert aus der Studie O. Neurath, Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, 1931; Neudruck in: O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. I, hrsg. v. R. Haller/H. Rutte, Wien 1981, S. 501.
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Wandel: ein neues Konzept der Legitimität, einer Legitimität, welche sich von der Souveränität des Volkes abwickelt, und brachten auch die Vorstellung von der „uneingeschränkten Macht des Souveräns“; doch sofern die Moderne die Ambitionen hegte, ein System von Machtinstitutionen zu erschaffen, welche in Bezug auf die Wertefundamente der Gemeinschaft die Maxime der Vollständigkeit erfüllen vermag, versagte dieses Konzept in bestimmten historischen Situationen.136 Es erschien das metaphysische Korrelat in den demokratischen Verfassungen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, das eine Reaktion auf die historische Erfahrung war und bleibt: in Frankreich auf die Änderungen der Regierungsformen als Folge einer ganzen Reihe dramatischer gesellschaftlicher Veränderungen, in der Bundesrepublik Deutschland auf die bestialische Nazi-Herrschaft und auf den „legalistischen“ Weg der nazistischen Revolution im Jahr 1933, in Griechenland und Portugal auf die Unterdrückung des autoritativen bzw. totalitären Regimes, in der Tschechischen Republik auf die Verbrechen des kommunistischen Regimes und den ähnlich „legalistischen“ Weg der kommunistischen Revolution im Jahr 1948. Insbesondere die schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts boten genügend Argumente für die Rechtfertigung des – sagen wir mal – naturrechtlichen Korrelats der Macht, oder mit anderer Bezeichnung – des metaphysischen Korrelats, oder in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichtes der Bundesrepublik Deutschland „des überpositiven Rechts“.137 Die Vorstellung von der Souveränität der Verfassung, der Unabänderlichkeit ihres materiellen Verfassungskerns, ihrer legitimierenden und bevollmächtigenden Funktion bietet dann die Möglichkeit den Kelsenschen Begriff der „Grundnorm“138 a posteriori rationell zu interpretieren (ähnlich wie in den Naturwissenschaften, z. B. in der Physik139). Auf der allgemeinen Ebene liegt dann die These nahe, wonach auch in den sozialen – und nicht nur in den mathematischen und physikalischen bzw. den allgemeinen Naturwissenschaften – a priori analytische Konstruktionen entwickelt werden können, zu welchen a posteriori empirische Interpretationen mit Explika136 „Auch eine demokratische Regierung unterliegt der Überzeugung, dass sie das Recht auf eine absolute Souveränität (d. h. Macht) besitzt. Dies kann zur Zentralisierung der Macht, oft mittels verfassungswidriger Mittel und gewöhnlich mit schlechten Ergebnissen führen.“ (F. Zakaria, The Future of Liberty. 2003, zit. nach der tsch. Übersetzung: Budoucnost svobody [dt.: Zukunft der Freiheit], Praha 2004, S. 125.) 137 BVerfGE 23, 98: „,Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers‘. Die Vorstellung, daß ein ,Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzpositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann‘ (BVerfGE 3, 225 [232]).“ 138 Zum Begriff der Grundnorm siehe H. Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 60), S. 196 ff. 139 Siehe z. B. nichtklassische Geometrien (Lobatschevskij, Gauss) und deren a posteriori physikalische Interpretationen in der allgemeinen Relativitätstheorie, oder die Urknalltheorie (George Gamow) und die mit ihr verbundene Vorstellung von einer Reliktstrahlung, die a posteriori im Jahr 1969 gemessen und für deren Erforschung der Nobelpreis 2006 verliehen wurde.
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tions- und Prädiktionspotenzial formuliert werden können. Für Kelsen, der aus der neukantischen unüberwindbaren Kluft zwischen der Welt des Seins und des Sollens ausgeht, stellt die Kategorie der Souveränität des Staates – im Sinne eines rechtswissenschaftlichen und nicht soziologischen, bzw. politischen Begriffes – eine normative und keine faktuelle Kategorie dar. Als solche kann sie dann nicht anders als mittels einer Norm definiert werden, die eine bestimmte, eigenständige Rechtsordnung identifiziert und die die Ausschließlichkeit ihrer Gültigkeit begründet. Und diese Norm ist nach seiner Auffassung die Grundnorm.140 An einer anderen Stelle fasst Kelsen seine Konzeption der Souveränität mit folgenden Worten zusammen: „Nur wenn man die Staatsgewalt normativ als Geltung einer Sollordnung, der staatlichen Rechtsordnung, begreift, läßt sich von ihr, richtiger vom Staate, Souveränität sinnvoll aussagen. Daß die Staatsgewalt souverän sei, bedeutet dann: daß der Staat höchste Ordnung ist, der keine höhere Ordnung über sich hat, sofern die Geltung der staatlichen Rechtsordnung aus keiner höheren Norm abgeleitet ist. … Daß der Staat souverän sei, bedeutet: daß man voraussetzungsgemäß die Frage nach einem außerhalb dieses Systems liegenden Geltungsgrunde nicht stellen dürfte.“141
Darüber hinaus ergänzt Weyr die Auslegung Kelsens um ein außerordentlich interessantes Argument, welches sich gegen die kausale und nicht die normative Sichtweise der Souveränität des Staates richtet: „Der kausale Bereich, in dem die Unabhängigkeit des souveränen Akteurs zum Vorschein kommt, wechselt jedoch zu einem metanormativen Bereich, wenn wir die Unabhängigkeit als die Befähigung zur durch nichts eingeschränkten Normbildung betrachten wollen. Danach kann ein souveräner Staat ohne etwaige normative Einschränkungen Normen mit dem Anspruch festlegen, dass diese als gültige Normen angesehen werden. Diese Unabhängigkeit rührt von der obersten Gewalt her, die der Staat – nach der allgemeinen Sichtweise – gegenüber seinen Untertanen anwendet. Er übt gegenüber ihnen das aus, was man allgemein als Imperium bezeichnet – er kann befehlen und verbieten, was ihm gefällt. Diese Unabhängigkeit (als Macht) rührt jedoch nicht – und kann auch nicht herrühren – aus einer Norm, die lauten würde: Du kannst nach Belieben festlegen, da eine solche ,Norm’ nicht als Norm zu betrachten wäre, indem sie eigentlich den logischen Widerspruch als Ausdruck der absoluten Freiheit darstellt.“142
Anhand einer brillanten analytischen Überlegung, welche den Widerspruchsbeweis beinhaltet, gelangt Weyr zu dem gleichen Schluss wie das Bundesverfassungsgericht mit seiner „Radbruchschen“ Überlegung auch: damit eine positive (souveräne, hoheitliche) Machtordnung (Rechtsordnung) nicht zur Willkür mutiert, muss sie durch iusnaturalistische Sichtweise den „metaphysischen Appendix“ oder den metanor-
140 141 142
Siehe H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925; Nachdruck: Wien 1993, S. 102 ff. Ibidem, S. 102 – 103. F. Weyr, Teorie práva (dt.: Rechtstheorie), Brno/Praha 1936, S. 228.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
mativen materiellen Kern umfassen, und durch analytische Betrachtung der Dinge aus der hypothetischen Grundnorm hervorgehen. 143 Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte beinhaltet diese grundlegende Idee: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss ebendieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden.“
Durch diese berühmte Bestimmung dokumentiert Ernst-Wolfgang Böckenförde fundamentale Änderung des Menschenbildes in der europäischen Kultur. Im neuen Konzept des Menschenbildes tritt „der Mitmensch und das Netzwerk sozialer Beziehungen, in denen der Einzelne lebt, nicht als Bedingung des eigenen Menschseins und seiner Entfaltung“ auf, „sondern als eine Grenze, die Grenze der eigenen Ausdehnung und Freiheitsbetätigung.“144 Böckenförde weist an dieser Stelle auf die Marxsche Kritik des Art. 4 der Menschenrechtserklärung hin: „Die Grenze, in welcher sich jeder dem anderen unschädlich bewegen kann, ist durch Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheit der Menschen als isolierter, auf sich zurückgezogener Monade. … das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung.“145
Böckenförde kehrt damit zu seinem berühmten Satz zurück, den er im Oktober 1964, bei einem von Ernst Forsthoff in Ebrach in Oberfranken veranstalteten Seminar für Schüler und Nachfolger von Carl Schmitt, brachte, zum Satz, welcher glei-
143 Zu naturrechtlicher Auslegung der Grundnorm siehe vor allem R. Marcic, Das Naturrecht als Grundnorm der Verfassung, in: F.M. Schmölz (Hrsg), Das Naturrecht in der politischen Theorie, Wien 1963, S. 69 ff.; wiederabgedruckt in: R. Marcic/I. Tammelo, Naturrecht und Gerechtigkeit. Eine Einführung und Grundprobleme, Frankfurt 1989, S. 219 – 243. Hans Kelsen hat dazu Folgendes geäußert: „Ich glaube, dass das, was Herr Kollege Marcic uns vorgetragen hat, überaus wertvoll von folgendem Standpunkt ist: Er sieht die Rechtsphilosophie vom Standpunkte der Naturrechtslehre, wobei gewisse Kategorien der Reinen Rechtslehre in Anwendung kommen. Wenn man auf dem Grund der Reinen Rechtslehre steht, so ist das eine konsequente und überaus aufschlussreiche Darstellung der Naturrechtslehre. Ich halte diese von außerordentlichem Wert und obgleich ich kein Naturrechtslehrer bin, so freut es mich überaus, zu sehen, dass die Kategorien, die die Reine Rechtslehre geschaffen hat, auch anwendbar sind, wenn man auf dem Boden der Naturrechtslehre steht. Auch dann sind sie anwendbar, freilich mit einem anderen materiellen Ergebnis. Aber auf das kommt es vielleicht nicht so sehr an. Worauf es ankommt, ist eben die Strukturanalyse. Die Strukturanalyse hat Marcic in ausgezeichneter Weise vorgetragen.“ (Wortmeldung von Hans Kelsen, in: F.M. Schmölz [Hrsg], Das Naturrecht in der politischen Theorie, Wien 1963, S. 148.) 144 E.-W. Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 2011, S. 27. 145 K. Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1953, S. 192 ff.
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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chermaßen als Radbruchsche Formel bekannt wurde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“146 Böckenförde entwickelt seine These weiter. Er stellt sich die Frage „woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann?“ Und Böckenförde setzt fort: „Bis zum 19. Jahrhundert war ja, in einer zunächst sakral, dann religiös gedeuteten Welt die Religion immer die tiefste Bindungskraft für die politische Ordnung und das staatliche Leben gewesen. Läßt sich Sittlichkeit innerweltlich, säkular begründen und erhalten, kann der Staat sich auf eine ,natürliche Moral‘ erbauen? Wenn nicht, kann er – unabhängig von dem allen – aus der Erfüllung der eudämonistischen Lebenserwartung seiner Bürger leben?“ Prinzipiell resultiert für ihn aus den vorhergehenden Überlegungen die folgende Frage: „Wieweit können staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen leben ohne ein einigendes Band, das dieser Freiheit vorausliegt? Der Vorgang der Säkularisation war zugleich ein großer Prozeß der Emanzipation, der Emanzipation der weltlichen Ordnung von überkommenden religiösen Autoritäten und Bindungen. Seine Vollendung fand er in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Sie stellte den Einzelnen auf sich selbst und seine Freiheit. Damit aber mußte sich, prinzipiell gesehen, das Problem der neuen Integration stellen: Die emanzipierten Einzelnen mussten zu der einen Gemeinsamkeit und Homogenität zusammenfinden, sollte der Staat nicht der inneren Auflösung anheimfallen, die dann eine totale sog. Außenlenkung herbeiführt. Dieses Problem blieb zunächst verdeckt, weil im 19. Jahrhundert eine neue einheitsbildende Kraft an die Stelle der alten trat: die Idee der Nation. Die Einheit der Nation folgte der Einheit aus der Religion und begründete eine neue, allerdings mehr äußerlich-politisch gerichtete Homogenität, innerhalb derer man noch weithin aus der Tradition der christlichen Moral lebte. Diese nationale Homogenität suchte und fand ihren Ausdruck im Nationalstaat. Inzwischen hat die Idee der Nation, nicht allein in vielen Staaten Europas, diese Formkraft verloren. Auch in den jungen Staaten Asiens und Afrikas wird ihre Formkraft von vorübergehender Dauer sein: Der Individualismus der Menschenrechte, zur vollen Wirksamkeit gebracht, emanzipiert nicht nur von der Religion, sondern, in einer weiteren Stufe, auch von der (volkhaften) Nation als homogenitätsbildenden Kraft. … So stellt sich die Frage nach den bindenden Kräften von neuem und ihrem eigentlichen Kern: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinem Bürger gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und des autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen 146
E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2006, S. 112. Zum Verhältnis zwischen dem Böckenförde-Diktum und der Radbruchschen Formel siehe P. Bahners, Der Unsinn der Zivilreligion, Frankfurter allgemeine Zeitung, 9. 5. 2008, Nr. 115, s. 37.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgefunden hat.“147
Nehmen wir an, dass die Gesellschaft, welche die Kraft der Transzendenz und die Ideen des Nationalstaates integriert, in der Gegenwart ersetzt wird durch die Idee der Freiheit oder die Idee der Menschenrechte. Die über Jahrhunderte andauernde Suche nach deren Begründung führte zu keinen und konnte auch zu keinen allgemein befriedigenden Ergebnissen führen. Alasdair MacIntyre macht auf diese Tatsache mit derber Rauheit aufmerksam: „… die Wahrheit ist offensichtlich: es gibt keine (natürlichen und menschlichen – Anmerkung P.H.) Rechte, und der Glaube an solche gleicht dem Glauben an Hexen und Einhorne … kein Versuch um eine gute Begründung der Existenz dieser Rechte ist je gelungen. Die philosophischen Befürworter der Naturrechte im 18. Jh. erklären an einigen Stellen, dass Behauptungen, dass die Menschen solche Rechte innehaben, selbstverständliche Wahrheiten sind. Heute wissen wir allerdings, dass es keine selbstverständlichen Wahrheiten gibt. Die Moralphilosophen des 20. Jh. berufen sich manchmal auf ihre eigene und unsere Intuition; immerhin eine der Sachen, die wir uns von der Geschichte der Moralphilosophie merken sollten, ist der Umstand, dass wann immer ein Moralphilosoph das Wort ,Intuition‘ einsetzt, es jeweils ein Signal ist, dass mit der Argumentation etwas Grundsätzliches in Unordnung sei. Die Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 hält sich sehr strikt an den Grundsatz, keinerlei Behauptungen zu begründen, was dann in den Vereinten Nationen zur üblichen Praxis geworden ist. Der neuerliche Verfechter dieser Rechte Ronald Dworkin lässt zu, dass ihre Existenz nicht nachgewiesen werden kann, worauf er hinzufügt, dass von der Unmöglichkeit, irgendeine Behauptung zu beweisen, nicht etwa der Schluss folgt, sie sei nicht wahr. Dies ist schon wahr, aber es kann ebenso gut zur Verteidigung einer Behauptung über das Vorhandensein von Einhornen oder Hexen eingesetzt werden. Die Natur- bzw. Menschenrechte sind also eine Fiktion.“148
Die Begründung der Existenz von Menschenrechten (d. h. deren Gegebenheit ohne Berücksichtigung deren eventueller positiver Form eines geschriebenen Rechts, Gewohnheitsrechts oder richterlichen Rechts) stößt nämlich fundamental gegen die durch die Humesche These gegebenen Barrieren, oder gegen Barrieren, die durch die Unmöglichkeit der Ableitung von Normen (Rechten oder Pflichten) von Aussagen über die Wirklichkeit (von faktuellen Aussagen) entstanden sind. Die Überlegung von MacIntyre fordert Robert Alexy zur Reaktion auf, zur Suche nach einer möglichen Begründung von Menschenrechten. Einführend definiert Alexy die Menschenrechte durch folgende fünf Elemente: Universalität (jeder Mensch ist deren Träger), Fundamentalität (nicht jedes Gut, sondern nur grundlegende Güter sind deren Gegenstand), Abstraktheit (die Allgemeinheit heißt keine Gegebenheit in einem konkreten Fall, z. B. infolge einer Kollision von Menschen-
147 148
Ibidem, S. 111 – 112. A. MacIntyre, After Virtue (Fn. 66), S. 89 – 90.
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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rechten), moralische Geltung (gegeben durch deren Begründung) und Priorität (vor den Normen des positiven Rechts).149 Es bleibt also die Frage, ob und wie die Menschenrechte begründbar sind. Alexy sondert acht Konzeptionen einer solchen Begründung ab:150 ¢ Die erste Begründung ist eine religiöse, gegeben durch den Glauben. Ihr Nachteil besteht in ihrer Begrenzung auf die Gläubigen bzw. auf die Art der Religion. ¢ Für die nächste sei die biologische, bzw. die sozial-biologische Begründung gehalten. Sie beruht auf der These, nach der die Moral eine Art des Altruismus ist, wobei der gegenseitige Altruismus ein bedeutendes Element der Reproduktion ist.151 Der gegenseitige, bzw. reziproker Altruismus ist jedoch in den meisten Fällen auf eine begrenzte Gruppe gebunden und mit Gleichgültigkeit, ja sogar Feindseligkeit gegen die Außenstehenden gekennzeichnet. ¢ Die intuitive Begründung stützt sich auf die Behauptung, nach der die Geltung bzw. die Existenz von Menschenrechten evident ist. Offensichtlich kann dies jedoch Beweise nicht ersetzen. ¢ Die konsensuale These besagt, dass die Menschenrechte in der allgemeinen Zustimmung (Konsensus aller) begründet worden sind. Ist jedoch deren Begründung die Zustimmung der Mehrheit, wie ist es dann mit deren Beständigkeit und Unverjährbarkeit bestellt, wenn ein solcher Konsensus abwesend ist? ¢ Das instrumentale Herantreten argumentiert damit, dass die Anerkennung der Menschenrechte den Nutzen maximiert. Nach James Buchanan ist dann der Gesellschaftsvertrag nach Hobbes ein Abrüstungsvertrag, der einem „Sklavereivertrag ähnlich ist, nach dem die ,Schwachen‘ zustimmen, sie würden Güter für die ,Starken‘ als Gegenleistung dafür produzieren, dass sie ein klein wenig mehr als das Existenzminimum behalten dürfen, was wahrscheinlich unter den Bedingungen einer Anarchie nicht abgesichert wäre. Ein Vertrag über die Sklaverei wird ähnlich wie die anderen Verträge die individuellen Rechte definieren, und sofern diese Bestimmung gegenseitig akzeptiert wird, … kann ein gegenseitiger Gewinn abgesichert werden.“152 Bei der Instrumentalkonzeption ist also ein Preis zu zahlen, der mit einer Universalvorstellung über Menschenrechte kaum vereinbar ist.
149
R. Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik? (Fn. 67), S. 16. Zum Merkmal der Priorität der Menschrechte vor den Normen des positiven Rechts siehe G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (Fn. 80), S. 211 ff. 150 R. Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik? (Fn. 67), S. 17 – 21. 151 Siehe mehr in R. Dawkins, The God Delusion, London 2006, zit. nach der deutschen Ausg.: Der Gottes Wahn, Berlin 2007, S. 299 ff. 152 J. Buchanan, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviatan, Chicago/London 1975, zit. nach der slowakischen Ausg.: Hranice slobody. Medzi anarchiou a Leviatanom (dt.: Die Grenzen der Freiheit: zwischen Anarchie u. Leviatan), Bratislava 1996, S. 74.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
¢ Nach der Konzeption der kulturellen Begründung sind die Menschenrechte eine Errungenschaft der Geschichte der menschlichen Kultur: „Die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, dass in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“153 Allerdings gilt es nicht in allen Kulturen, dass es im Ergebnis ihrer historischen Gestaltung und Entwicklung zu Menschenrechten kommt. Daher erscheint die kulturelle Begründung bezüglich der Anforderung der Universalität von Menschenrechten nicht als ausreichend. ¢ Die nächste ist die explikative oder Kantsche Begründung, bzw. eine an Kant anknüpfende. Sie beruht auf dem Moment einer transzendentalen Notwendigkeit: die Anerkennung eines anderen (Menschen) als einer autonomen Persönlichkeit ist mit der Anerkennung des Wertes seiner Ehrwürdigkeit verknüpft, was unbedingt das Respektieren seiner Menschenrechte zur Folge hat. ¢ Die existentielle Begründung ist Ausdruck der Gesichtspunkte für die Akzeptanz bzw. für das Ablehnen einer explikativen Begründung. Das Grundlegende dabei ist die Unterscheidung, ob die menschliche Gemeinschaft vom Blickwinkel der individuellen Maximierung des Nutzens aus oder durch die Richtigkeitsanforderung (im moralischen Sinn) gestaltet wird. Für Alexy ist daher eine akzeptable Modalität zur Begründung von Menschenrechten die Verbindung der siebten und achten Alternative, gestützt auf eine metaphysische Grundlage, die konstruktive Metaphysik. Nach ihm sind also „die Menschenrechte ohne rationelle und universelle Metaphysik nicht möglich“.154 Mittels Alexys These kehren wir zurück zur Erklärung von MacIntyre. Nach ihm setzte das moralische Schema vor Hume, sei es das aristotelische oder das Thomas von Aquins, drei Elemente voraus: „… den natürlichen Zustand des Menschen; eines Menschen, zu dem er sich entwickeln könnte, wenn er seinen telos verwirklichte; und die moralischen Grundsätze als Mittel zum Übergang von einem Zustand in den anderen. Allerdings der gemeinsame Nenner sowohl der säkularen Ablehnung der protestantischen und katholischen Theologie, als auch der wissenschaftlichen und philosophischen Ablehnung des Aristotelismus, bestand im Eliminieren jeder Erwähnung eines Menschen, der werden könnte, sollte er seinen telos umsetzen … Da die Aufgabe der moralischen Gebote in deren ursprünglichem Schema im Korrigieren, Verbessern und Erziehen der menschlichen Natürlichkeit bestand, können diese Gebote natürlich von den wahren Behauptungen über die menschliche Natürlichkeit nicht abgeleitet, oder auf eine andere Art und Weise gerechtfertigt werden, z. B. durch das Berufen auf ihre charakteristischen Züge. … Und somit kam es dazu, dass die Moralphilosophen des 18. Jh. in Bestrebungen einbezogen wurden, die unbedingt zum Misserfolg führen mussten; sie versuchten nämlich, ein rationelles Fundament für ihre moralischen 153
G. Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie (Fn. 67), S.. 210. R. Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik? (Fn. 67), S. 24: „Die konstruktive Metaphysik besitzt zugleich das rationelle als auch das universelle Wesen.“ 154
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Überzeugungen im Rahmen einer gewissen Auffassung der menschlichen Natürlichkeit zu finden, wobei sie auf der einen Seite einen Satz moralischer Gebote, und auf der anderen Seite eine Auffassung zur menschlichen Natürlichkeit übernommen hatten, die ausdrücklich zur gegenseitigen Unvereinbarkeit vorbestimmt waren.“155
Ja, zwischen dem empirisch reflektierten Bild des Menschen und dem geschichtlich geerbten moralischen System ist es dem Modell der Aufklärung und dem daran anknüpfenden moralischen Modell der Moderne nicht gelungen – und es konnte ja auch nicht anders ausfallen –, die Beziehungen der gegenseitigen Abfolge zu formulieren (zu einer Begründung mit der Kraft einer wahrhaftigen Aussage). MacIntyre zeigt, dass der noetische Grund im Verlassen des Betrachtungsmodells von drei Elementen und dessen Ersatz mit dem Zwei-Elemente-Modell liegt. Das Drei-Elemente-Modell ist allerdings notwendigerweise mit Transzendenz (mit Metaphysik) verbunden. Die Metaphysik – und dies nicht nur auf dem Gebiet der Staatswissenschaft oder des Rechtsdenkens – verkörpert die menschliche Reaktion auf die Unvollständigkeit des Rationellen156 (in diesem Zusammenhang können nicht unerwähnt bleiben der berühmte Gödelsche Unvollständigkeitssatz, der mathematisch-physikalische Begriff der Unendlichkeit, das Kuhnsche Paradigma der Entwicklung der Wissenschaft usw.). Wenn wir die empirisch nachprüfbare These akzeptieren, nach der einen Menschen, dieses denkende und freie Wesen, unter anderem die Ambition erfüllt, die ihn umfassenden Erscheinungen, mit denen er konfrontiert wird, zu erklären, so ist die Metaphysik Ausdruck der Spannung zwischen dem Postulat der Vollständigkeit und dem Theorem der Unvollständigkeit. In der physikalischen Terminologie ist die Metaphysik (und ihre menschliche Reflexion in den großen Geschichten – Gott) eigentlich eine Konstante an Stelle von Variablen, deren Werte zu vermessen wir nicht in der Lage sind. Das Gegenbild zum Gödelschen Unvollständigkeitssatz in der Kantschen Welt der praktischen Vernunft stellt das David Humsche Dilemma dar, wonach es unmöglich sei, aus Aussagen (Behauptungen über Tatsachen) logische Normen abzuleiten. MacIntyre zeigte überzeugend, dass seine Lösung ohne den Verweis auf Transzendenz nicht möglich ist. Damit bleibt uns zum Überlegen noch der Konsens in Verbindung mit der Gleichheit. Im Verfassungssystem der Freiheit und Demokratie sind dies Institutionen der öffentlichen Gewalt, deren Zweck es ist, die Koexistenz der annährend maximalisierten Freiheiten sicherzustellen. Die Bemühungen zum Erreichen dieses Zwecks sind inhaltlich mit der Funktion dieser Institutionen verbunden – und dies ist die Gerechtigkeit. Diese ist zum einen eine Tugend, d. h. eine in der Handlung offenbarte Eigenschaft, das Gute zu tun, zum anderen auch das Suchen nach den kontextuellen und allgemeinen Kriterien der Gleichheit (Angemessenheit) und der Abgrenzung des Gegenstandes für deren Anwendung im Bereich der menschlichen 155
A. MacIntyre, After Virtue (Fn. 66), S. 72. In diesem Zusammenhang kann der berühmte Gödelsche Unvollständigkeitssatz nicht unerwähnt bleiben. Zu dessen Inhalt siehe z. B. E. Nagel/J.R. Newman, Gödel’s Proof, Revised Edition by D.R. Hofstadter, New York 2001, zit. nach der tsch. Übersetzung: Gödelu˚v du˚kaz (dt.: Der Gödelsche Unvollständigkeitssatz), Brno 2003. 156
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Koexistenz und Kooperation – und dieser Gegenstand ist die sich verändernde Welt der Güter und der Lasten und deren Kompensation bzw. Distribution. Die Gerechtigkeit als Tugend in Verbindung mit den Institutionen der öffentlichen Macht ist fundamental aufgrund ihrer Legitimität gegeben. Die Grenzen der demokratischen Legitimität haben zweierlei Wesen. Die ersteren sind „Gödelsche“ Grenzen, oder anders gesagt – verbunden mit der Unmöglichkeit rationelle Modelle funktionierender Instititionen zu schaffen, welche die Ambitionen auf Vollständigkeit hegen. Diese steuern auf die gleichen Konsequenzen wie die ökonomische Theorie der öffentlichen Wahl hinaus: zur Skepsis bei der Fähigkeit eine Prozedur zu formulieren, welche das Paretsche Optimum verfolgen könnte. Die zweiteren könnten wir vielleicht als Zivilisationsgrenzen oder tektonische Grenzen bezeichnen – dies sind Herausforderungen der einzelnen Epochen, welche die Modifizierung bei der Gestaltung und beim Funktionieren der öffentlichen Institutionen unter Berücksichtigung der gegeneinander gerichteten Werte erforderlich machen (z. B. Gleichheit und Freiheit, die relativ kurze Periodizität der Legitimitätsbestätigung und die Langfristigkeit beim Erreichen des öffentlichen Wohles usw.).157
3. Eudaimonistische Lebenserwartungen oder die paulinische Wandlung Bevor wir in unseren Überlegungen fortschreiten, sollten wir uns mit dem eudaimonistischen Gral – der Ökonomie – näher befassen. Die heutige Ökonomie hegt die Ambition zu einer universellen sozialen Wissenschaft zu avancieren. Sie ist bestrebt die moralische und soziale Philosophie, die Staatswissenschaft, das Recht, aber auch andere Wissenschaften zu ersetzen. Wodurch? Auf zweierlei Weise: zum einem durch die Ambition, die einzig mögliche kulturell-anthropologische Auffassung des Menschen und der Motivation seines Handelns zu bieten, zum anderen die Ambition, eine universelle Methodologie für die Analyse menschlichen Verhaltens daraus zu formulieren. Nach dieser Ansicht, die den Anspruch der Ausschließlichkeit erhebt, ist der Mensch ein rationell handelndes Wesen, das stets bestrebt ist, in den Interaktionen zu seinem Umfeld (in der Kommunikation, Kooperation oder in Konflikten mit anderen Menschen) den Nutzen für sich selbst zu maximalisieren. Handelt der Mensch zum Beispiel altruistisch, ist es ein „reziproker Altruismus“.158 Die Ökonomie setzt hypothetisch ein 157 Mehr zu den beiden Arten der demokratischen Grenzen siehe P. Holländer, Bajka o motorkárˇi – deˇjství druhé: fiat iustitia, pereat mundus (dt.: Fabel über Motorradfahrer – der zweite Akt: fiat iustitia, pereat mundus), in: J. Bejcˇek/J. Kozˇiak (Hrsg.), Pocta prof. Petru Hajnovi k 75. narozeninám (dt.: Festschrift für Prof. Petr Hajn zum 75. Geburtstag), Praha 2010. 158 Zu dem Begriff „reziproker Altruismus“ siehe z. B. F. Fukuyama, The Great Disruption: Human Nature and the Reconstitution of Social Order. 1999 (tsch. Übersetzung: Velky´ rozvrat. Lidská prˇirozenost a rekonstrukce spolecˇenského rˇádu [dt.: Der Aufbruch. Menschliche Naturstand und Rekonstruktion der Gesellschaftsordnung], Praha 2006, S. 181 ff.).
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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gewisses kulturell-anthropologisches Modell des Menschen voraus – nämlich das sozial-darwinistische. Nach diesem Modell ist der Mensch ein rationelles Individuum, welches in seinen Beziehungen zum Umfeld den eigenen Nutzen maximalisiert und lediglich das für sich selbst günstigste Verhältnis zwischen Ertrag und Kosten abwägt – Homo oeconomicus. Richard Allen Posner, diese führende Persönlichkeit der ökonomischen Rechtstheorie,159 ordnet die klassischen Gerechtigkeitskonzeptionen unter den Begriff der Moralphilosophie, um zu der These zu gelangen, dass diese Konzeptionen „keinen Weg für die Suche nach den Antworten auf spezifische Rechtsfragen bieten können“.160 Posners Versuch die neoliberalen ökonomischen Thesen auf das Gebiet des Rechts anzuwenden durchschritt mehrere Phasen. Die erste davon kann man als die utilitaristische bezeichnen: „Benthams Utilitarismus als eine positive Theorie des menschlichen Verhaltens stellt lediglich eine weitere Bezeichnung der ökonomischen Theorie dar. Das Vergnügen ist der Wert, das Leiden der Preis.“161 Herbert Hart leitet von den Posnerschen Überlegungen die Schlussfolgerung ab, wonach „der Utilitarismus insgesamt und explizit als Inspiration für die in Chicago geborene ökonomische Analyse des Rechts anerkannt wird.“162 Die zweite Phase ist mit dem Abwenden vom Utilitarismus163 und der Formulierung des Standpunktes verbunden, den Posner als den zentralen Standpunkt für die Analyse und die Prädiktion von Rechtserscheinungen betrachtet (an dieser Stelle möge ein wichtiger Umstand nicht unerwähnt bleiben – nämlich dass die ökonomische Theorie des Rechts die Ambition hegt, nicht nur eine deskriptive, analytische, sondern – und insbesondere – eine präskriptive, normative Theorie zu sein): „Wichtig erscheint die Frage, inwieweit Utilitarismus und Ökonomie tatsächlich ein und dieselbe Sache darstellen. Ich glaube nämlich, dass dies nicht der Fall ist, und ferner, dass eine ökonomische Norm, welche ich als ,Maximalisierung des Reichtums‘ (wealth maxi-
159 „Bei der Entwicklung der ökonomischen Rechtstheorie … spielte Posner eindeutig eine entscheidende Rolle.“ (R.H. Coase, Law and Economics at Chicago, Journal of Law and Economics, 36, 1993, S. 251.) ¢ Die Literatur zur ökonomischen Rechtstheorie ist unerschöpflich. Aus den kritischen Reflexionen siehe z. B. K. Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts, Berlin 2004. Aus den positiven Reflexionen siehe z. B. M. Adams, Ökonomische Theorie des Rechts. Konzepte und Anwendungen, Frankfurt a.M. 2002. 160 R.A. Posner, The Problems of Jurisprudence, Cambridge/London 1993, S. 348 ff. 161 R.A. Posner, Economic Analysis of Law, Boston 1972, S. 357. 162 H.L.A. Hart, American Jurisprudence through English Eyes: The Nightmare and the Noble Dream, in: H.L.A. Hart (ed.), Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, S. 143. 163 Posner bemerkt ausdrücklich, dass „er nicht ausreichend unterschieden hatte zwischen den zwei Denksystemen“ – nämlich der eigenen normativen Theorie und dem Utilitarismus (R.A. Posner, Utilitarism, Economics, and Legal Theory, Journal of Legal Studies, 8, 1979, S. 104).
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre mization) bezeichnen würde, ein solideres Fundament der normativen Theorie des Rechtes bieten kann, als dies der Utilitarismus tut.“164
Als Reichtum gilt dabei nach Auffassung Posners etwaiges Wohl, das man mit Geld bewerten kann.165 In dieser Konzeption erlangt es die Bedeutung der Effizienz und wird als das leitende Prinzip nicht nur auf dem Gebiet des zivilen, sondern auch des öffentlichen, insbesondere des Strafrechts angewendet. 166 Die dritte Phase von Posners Denkwanderung ist mit der Bestrebung verbunden, das Prinzip der Maximalisierung des Reichtums auch ethisch zu begründen. Diese Begründung wird im Kaldor-Hicks-Kriterium gesucht, welches im Anschluss an die Unerreichbarkeit der sog. Pareto-Effizienz den Aspekt der Rechtfertigung von Veränderungen beinhaltet: diese haben den Anstieg des Nutzens zur Folge, jedoch zu Lasten des Einzelnen.167 (Ein Beispiel dafür ist das Beseitigen der Schutzzollmaßnahmen zugunsten des freien Handels, das insgesamt mehr Nutzen mit sich bringt als Verluste für die Einzelnen in einigen Bereichen der Wirtschaft.) Die ethische Begründung des Kaldor-Hicks-Kriteriums ist nach Auffassung Posners mit dem Konzept der ex ante Kompensation gegeben – die Zustimmung der potentiell Unterlegenen kann man davon ableiten, dass auch sie von dem Saldo profitieren werden, das mit dem Prinzip der Maximalisierung des Reichtums erschaffen wurde (und dies auch dann, wenn das ex post nicht in jedem Fall zutreffen muss).168 In der vierten Phase relativiert Posner seine vorherigen Thesen: „Meine Absicht ist daher ein wenig bescheiden. Ich fordere niemanden auf, zur Maximalisierung des Reichtums zu ,konvertieren‘. Ich will nur überzeugen, dass dies vernünftig ist, wenn auch nicht ethisch offensichtlich oder allgemein richtig.“169 Im Jahr 1998 bemerkt er dann, dass es nicht seine Absicht sei „die Effizienz als die einzig taugliche Sichtweise der sozialen Wahl zu verteidigen“, dass er jedoch glaube, dass es sich „um einen wichtigen Gesichtspunkt handelt“.170 Unter einem Gemälde Peter Brueghels im Kunsthistorischen Museum – in dieser herrlichen Wiener Galerie – steht geschrieben: „Die Bekehrung Pauli …“ Sollten Böckenfördes Thesen zum Unvermögen des Staates, die Voraussetzungen der eigenen Existenz zu garantieren, adäquat sein, und Alexys Thesen zur meta164
Ibidem, S. 103. In dieser Phase betrachtet er das Negativum des Utilitarismus insbesondere in dem Umstand, dass dieser die Begründung der staatlichen Interventionen ermöglicht – siehe dort, S. 133. 165 Ibidem, S. 119. 166 Der Mitbegründer der ökonomischen Analyse des Strafrechts und der Nobelpreisträger Gary Becker brachte die ökonomische Betrachtungsweise des Strafrechts kurz und bündig anhand folgender These: „Einige Personen werden zu ,Kriminellen’ nicht deswegen, dass sich ihre Grundmotivation von der der anderen unterscheidet, sondern deswegen, dass sich ihre Nutzen und Kosten unterscheiden.“ (G. Becker, Crime and Punishment: An Economic Approach, Journal of Political Economy, 76, 1968, S. 176.) 167 R.A. Posner, The Economics of Justice, Harvard 1981, S. 91 ff. 168 Ibidem, S. 95 ff. 169 R.A. Posner, Wealth Maximization Revisited, Notre Dame Journal of Law, Ethics and Public Policy, 2, 1985, S. 90. 170 R.A. Posner, Economic Analysis of Law, 5. ed., New York 1998, S. 13.
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physischen Begründung der Menschenrechte zutreffen, und sollten wir uns nicht damit begnügen, dass der Staat (und somit auch das Recht) lediglich den Zweck hat, eudaimonistische Lebenserwartungen seiner Bürger zu erfüllen, dann würde die Resignation auf das Suchen und Finden transzendentaler Ausgangspunkte, welche die Gesellschaft verbinden, ihr eine Identität verleihen und als solche auch akzeptiert werden, sehr düstere Folgen mit sich bringen. Obwohl Gott – mit Worten Nietzsches – tot ist, verbindet Ernst Tugendhat das menschliche Sein mit der Erfordernis „immanenter Transzendenz“.171 Ist diese jedoch ohne die normative Kraft denkbar? Welche Schlussfolgerungen leiten sich davon für das Recht ab? Eine als Diskurs aufgefasste Interpretation (so wie jede andere Interpretation auch) wird sich mit der Frage der Gerechtigkeit und somit auch mit der Unterscheidung des Guten und des Bösen auseinandersetzen müssen. Wie soll man jedoch zu dieser Unterscheidung gelangen? Böckenfördes und Alexys Schlussfolgerungen bringen uns zur ultima ratio der vorherigen Überlegungen zurück, nämlich zu den vom entscheidenden Teil der Gesellschaft (insbesondere der gesellschaftlichen Eliten) autonom und ohne äußeren Druck akzeptierten Regeln bei der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Nach Auffassung des tschechischen Philopsophen Václav Beˇlohradsky´ resultieren diese jedoch nicht aus der Religion, die für ihn „keine moralische Verankerung darstellt. … die Religion ist der mangelnde Mut, die menschliche Lebenssituation auf dieser Welt zu akzeptieren, mit ihrer Endlichkeit, Geschichtlichkeit, der ungewissen Erkenntnis der Wirklichkeit und der Verletzbarkeit. Die Ethik stellt kein Verzeichnis von Regeln auf. Es ist vielmehr ein exemplarisches Handeln einiger Menschen, dessen einmalige Bedeutung aus der Geschichte der menschlichen Gemeinschaften nicht mehr verdrängt werden kann. Den Kern der Ethik stellen die ewigen Exempla dar.“172
Eine von Beˇlohradsky´ sich unterscheidende Position nahm Joseph Ratzinger ein: „Das Ziel des Staates kann aber nicht in einer bloßen inhaltlosen Freiheit liegen; um eine sinnvolle und lebbare Ordnung des Miteinander zu begründen, braucht er ein Mindestmaß an Wahrheit, an Erkenntnis des Guten, die nicht manipulierbar ist. Andernfalls wird er, wie Augustinus sagt, auf die Stufe einer gut funktionierenden Räuberbande herabsinken, weil er wie diese nur vom Funktionalen her bestimmt wäre und nicht von der Gerechtigkeit, die gut ist für alle. Der Staat muss daher das nötige Maß an Erkenntnis und Wahrheit über das Wohl von außen aufnehmen. Dieses ,von außen‘ könnte im günstigsten Falle die reine Einsicht der Vernunft sein, die jedoch gepflegt, kultiviert und geschützt werden müsste von einer unabhängigen Philosophie. Praktisch jedoch existiert eine solche reine, von der Geschichte unabhängige vernünftige Unstrittigkeit nicht. Das metaphysische und moralische Ratio
171
E. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, 2. Aufl., München 2007, S. 13 ff. V. Beˇlohradsky´, Procˇ nejsem antikomunistou (dt.: Warum bin ich kein Antikommunist), Právo, 18. Juli 2009, S. 7. 172
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre funktioniert nur in historischen Zusammenhängen, von welchen es abhängig ist und welche es zugleich auch überschreitet.“173
Wenn nicht die demokratische Prozedur, sondern die innere Akzeptanz der demokratischen Werte die endgültige Begründung der demokratischen Legitimität darstellt, wird der moralische Diskurs zum Diskurs über deren Begründung mit Hilfe der Ex-post- Rationalität, oder der A-priori-Transzendenz. Die Frage ist jedoch, ob diese zwei gegeneinander stehenden Positionen nicht eher auf dem Glauben als auf der Ratio basieren. Und die Frage ist, ob dies nicht zwingend erforderlich ist. Was resultiert daraus für das Spannungsverhältnis zwischen dem Iusnaturalismus (oder Nonpositivismus) und dem Iuspositivismus? Zur Einschränkung der Freiheit kann eine Autorität, die sich auf Transzendenz beruft, genauso führen wie eine Demokratie ohne dieselbe (in diesem Sinne müssten Lynch oder Pogrom höchst demokratische Institutionen sein – sind sie doch der Ausdruck des Willens einer Mehrheit). Der Nonpositivismus kann nicht nur die Gestalt des fanatischen Savonarola, sondern auch die des Humanisten Radbruch einnehmen; der Positivismus kann seinen Ausdruck in der Gestalt Stalins oder Hitlers Henker Wyschinski und Freisler, oder der Liberalen Kelsen und Hart finden. Die Frage nach der Autorität, welche den Inhalt der transzendenten Maxima formuliert, löst Kant mit Hilfe der Willensautonomie – mit dem Gleichsetzen des Erschaffers und des Adressaten der Norm (die der kategorische Imperativ ist). Die Verallgemeinerung des Kantschen Prinzips stellt für die Gemeinschaft der Gemeinschaftsvertrag dar. Die Frage lautet jedoch, ob dieser Vertrag das Ergebnis der Entscheidung Einzelner hinter dem Rawlsonschen Schleier des Nichtwissens ist, oder eher das Ergebnis der Entscheidung, welche mit der normativen Kraft der Transzendenz verbunden ist. Jürgen Habermas vertritt gegenwärtig die nonpositivistische Position, gibt jedoch dabei sein Lebenswerk nicht auf. Somit sucht er die Lösung in einer nichttheologischen Transzendenz (d. h. Transzendenz, die das Ergebnis der Erfahrung menschlicher Geschichte ist, und die von den Menschen nicht als Wirklichkeit sondern als ein a priori – im Vorfeld gegebener Wert angenommen wird). Er spricht von „einer nichtreligiösen und nachmetaphysischen Rechtfertigung der normativen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates“.174 Der entscheidende Teil der Tradition des Nonpositivismus (angefangen bei Thomas von Aquin über Kant bis zu Radbruch) gründet auf dem Standpunkt, der die Vernunft, die Rationalität nicht bestreitet, jedoch auf ihre Lückenhaftigkeit hinweist. Die Welt wird in der Spannung der Pole, in der Suche nach Proportionen wahrgenommen. Für den Juristen resultiert aus dieser Schlussfolgerung die Wahrnehmung 173
J. Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg/Basel/Wien 1993. S. 63. 174 J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2009, S. 107.
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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des Rechts als Wechselwirkung der rationellen und der Willenselemente bei der Entscheidung, und es resultiert für ihn daraus auch das Beurteilen des Inhaltes des positiven Rechts im Blickwinkel der Werte, mit welchen sich der Einzelne und die Gemeinschaft identifizieren. Zwischen der Position der Positivisten und der Nichtpositivisten gibt es zweierlei Differenzen: die erste betrifft die Standpunkte bei der Bewertung des positiven Rechts, die zweite die Folgen des extremen Widerspruches zwischen diesen Standpunkten und dem positiven Recht für dessen Gültigkeit. Nach Ansicht der Positivisten sind diese Standpunkte diskursiv und rationell, nach Meinung der Nichtpositivisten sind sie gegenüber dem positiven Recht transzendent; nach Ansicht der Positivisten hat der extreme Widerspruch zwischen ihnen und dem positiven Recht keine Folgen für dessen Gültigkeit, nach Meinung der Nichtpositivisten ist jedoch diese Eventualität durchaus gegeben. Erscheint uns bei der Begründung der demokratischen Legitimität ein Bild voller verschiedener Elemente – wie die Volkssouveränität, der Imperativ der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskerns oder die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die inmitten des Hume-Jörgensen-Paradoxons geraten, liefert auch die Philosophie oder die Rechtstheorie ein ähnlich buntes Bild, in dem verschiedene Variationen des Iusnaturalismus und Iuspositivismus in Streit geraten. Das Dilemma der Wahl zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht erinnert an das Dilemma zwischen Sein und Sollen im Lichte der Humeschen These. Zeigte MacIntyre, dass diese These in Form zweier Elemente keine Lösung liefert, so dass sie dringend um ein drittes Element ergänzt werden muss, erscheint mir nur folgerichtig, dieselbe Methode auch im Streit zwischen Iusnaturalismus und Iuspositivismus anzuwenden. Dieser Streit in seiner Gestalt, in der er heute wahrgenommen wird, entstand, nachdem sich die beiden Kategorien gelöst haben von seinem Fundament, dessen Derivate sie sind, d. h. vom Ursprung der Legitimität der Gewalt; er entstand, nachdem man begonnen hat sie als (abstrakte) Ursprungskategorien zu erforschen. Neben dem Sich-Lösen von ihrem Fundament hat auch die Emanzipation der neuen Legitimitätsquelle und ihre Ambitionen auf Ausschließlichkeit eine Schlüsselrolle in diesem Prozess gespielt, die in der Folge auch die Ambition auf Ausschließlichkeit des Derivates (des positiven Rechts) hervorbrachte. Wenn wir jedoch die Erfahrung europäischer Geschichte (oder der Weltgeschichte) des 19. und 20. Jahrhunderts akzeptieren, aus der die Ablehnung einer einzigen Legitimitätsquelle – oder anders gesagt die Ablehnung ihrer Ambition auf Vollständigkeit – resultiert (d. h. die Erfahrung akzeptieren, die auch bei der Ausgestaltung der Verfassung in Bezug auf die „metaphysische“ Ewigkeitsklausel oder die Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskernes berücksichtigt wurde), dann kann dieser Dualismus der Legitimitätsquellen auch beim Dualismus des Rechts in Form des positiven Rechts und dessen ultima ratio – des metaphysischen Korrelats – nicht unberücksichtigt bleiben.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
4. Richter und die Spannung zwischen der Moral und dem Recht: Das iuspositivistische Paradoxon Die These der institutionellen Verknüpfung des Rechts und der Moral halte ich für begründet und überzeugend, wobei diese nicht nur als ultima ratio bei der Entscheidung eines Grenzorgans, sondern auch in anderen Kontexten gilt, insbesondere im Zuge der Anwendung durch staatliche Organe. Man kann sich eine vernünftige und gerechte Entscheidung dieser Organe ohne moralische Prinzipien (ohne das Vorhandensein akzeptierter moralischer Werte) bei der Interpretation von Rechtsvorschriften kaum vorstellen. Eine Rechtsordnung, deren Existenz nur auf einem System von Sanktionen beruhen sollte (insbesondere innerhalb des Systems der Organe öffentlicher Gewalt), und dies ohne etwaige Verknüpfung mit den von der Gesellschaft akzeptierten moralischen Prinzipien, verliert jegliche Legitimität. Wenn ich die Argumente der Positivisten und der Iusnaturalisten abwäge, schränke ich meine Überlegungen auf den Wertekontext eines demokratischen Rechtsstaates ein. Dabei versuche ich, das Recht nicht nur mit dem Blick des Gesetzgebers (was der typische Blick von Hobbes oder Austin ist) und auch nicht nur mit dem Blick eines unparteilichen Beobachters (und so mit dem Blick der Rechtssoziologie, wie z. B. beim Rechtsrealismus, oder die Betrachtungsweise Webers, Luhmanns usw.) zu betrachten, sondern mit dem Blick eines Richters (bzw. umfassender mit dem Blick des Adressaten einer Pflicht). Der Unterschied in der rechtlichen und der soziologischen Sichtweise ist der Unterschied bei der Suche nach Antworten auf die Frage, was sein soll und was ist. Schließlich ist meine Überlegung in diesem Zusammenhang nicht deskriptiv, sondern normativ, und bringt so die Vorstellung über das ideelle Sollen zum Ausdruck. Diese Schlussfolgerung tritt noch mehr in den Vordergrund im Zusammenhang mit dem Handeln eines „Grenzorgans“, für das wir – im Einklang mit Verdross – das Gericht halten. Für Iuspositivisten beruht eine mögliche Lösung der inhaltlichen Spannung zwischen Moral und Recht, so, wie diese im demokratischen Rechtsstaat anzutreffen ist, in der Zuerkennung der normsetzenden Kompetenz (dem Richter oder der bürgerlichen Gesellschaft im Falle des bürgerlichen Ungehorsams). Sollte die HumeJörgensen-These gelten, stellt das Recht ein institutionelles Faktum dar (es ist ein Willensakt bzw. eine Gesamtheit von Willensakten) und ist somit kein Ergebnis einer logischen Ableitung von faktuellen Aussagen. Seine Beziehung zur Moral wird somit zur Sache normsetzender Kompetenz (und insbesondere der Kompetenz zur primären Normsetzung). Demnach ist die Schlussfolgerung Radbruchs, Krieles bzw. Fullers keine noetische Schlussfolgerung – vielmehr ist deren Inhalt die Derogation (und dies auch mit ex tunc Wirksamkeit)! Ein Argument zugunsten der vorstehenden Feststellung stellt auch der Gedanke Englisˇ’ dar, der den Unterschied zwischen der Negation und der Derogation einer Norm umreißt: „Jedes Urteil kann bestritten werden, man kann dessen Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit bestreiten; eine Norm kann man nicht bestreiten, man kann nicht ihre Wahrhaftigkeit bestreiten, weil diese sie nicht zum Ausdruck bringt; eine Norm kann lediglich aufgehoben
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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(widerrufen) werden. Ein Urteil kann von jedem bestritten werden, eine Norm kann lediglich von demjenigen aufgehoben (widerrufen) werden, der sie gesetzt hat, oder von jemandem, den derjenige, der sie gesetzt hat, dazu bevollmächtigte.“175
Später formuliert K. Englisˇ den gleichen Gedanken, indem er den Begriff der Negation explizit verwendet: „Die Inhaltsänderung der Norm kann nur das normsetzende Subjekt vornehmen, und sie ist keine Negation der Norm selbst. Die Norm kann nicht negiert werden […] Das Urteil (d. h. die Aussage in der Terminologie von Englisˇ – Anm. P. H.) kann von jedem erkennenden Subjekt negiert werden.“176
Am Rande dieser These stellt der Rechtspositivist O. Weinberger zustimmend fest: „Die Erkenntnis Englisˇ’, wonach Normen nicht als Urteile (Aussagen) negiert werden können, ist richtig. Sie stellt einen wichtigen Beitrag zur Erkennung der Logik normativer Sätze dar.“177
Aus dieser Sicht muss die moralische Bewertung des positiven Rechts und dessen Vervollständigung (auf der Grundlage der Judikation nach Prinzipien) oder Aufhebung (wegen des „unerträglichen Widerspruchs des positiven Rechts zu den grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit“) für eine positive bzw. negative Normsetzung gehalten werden. Die Kompetenz der primären Normsetzung (d. h. die Souveränität) ist in einem demokratischen Rechtsstaat nicht ausschließlich in den Händen des Gesetzgebers konzentriert (was ermöglicht, der judizialen Macht insbesondere auf dem Wege der Verfassungsgerichtsbarkeit an dieser Kompetenz zu partizipieren), und sie ist als ultima ratio mit der offenen Möglichkeit der direkten machtgeberischen Entscheidung (des Eingriffs) des Souveräns , d. h. des Volkes – verbunden: entweder auf dem Wege der direkten Entscheidung oder auf dem Wege des bürgerlichen Ungehorsams. Auf der Ebene der rechtlich theoretischen Betrachtung bedeutet dies im Kontext des europäisch-kontinentalen Rechtsdenkens die Akzeptanz auch weiterer – nicht nur schriftlich verfasster – Rechtsquellen (dies bedeutet insbesondere die Akzeptanz der rechtssetzenden Kompetenz der Gerichte). Auf dem iuspositivistischen Wege findet so das Ethos der Idee des Naturrechts seine Erfüllung in der kulturellen Präzeption der humanitären und demokratischen Werte durch die bürgerliche Gesellschaft und in der damit verbundenen aktiven Verantwortung. Diese schafft dann die bürgerliche Garantie für das Funktionieren des Systems und zugleich auch die professionelle Garantie – in diesem Zusammenhang insbesondere auf dem Gebiet der richterlichen Entscheidungen. Wenn nun der Rechtspositivist die These vertritt, wonach der Richter die moralische Pflicht hat, die Anwendung eines extrem unbilligen Rechts abzulehnen, re175
K. Englisˇ, Malá logika. Veˇda o mysˇlenkovém rˇádu (dt.: Kleine Logik. Wissenschaft über Gedankenordnung), Praha 1947, S. 137. 176 K. Englisˇ, Die Norm ist kein Urteil, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, L, 1964, S. 307, 306. 177 O. Weinberger, Die Sollsatzproblematik in der modernen Logik (Fn. 56), S. 91.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
sultieren daraus zwei Fragen: erstens die der Definition des Begriffes der extremen Unbilligkeit und zweitens die der Art, wie diese Entscheidung getroffen wurde. Die erstere schließt das Argument der Verschiedenheit der moralischen Systeme ein. Hier kann man einwenden, dass – wenn wir (nach der Kantschen Terminologie) in den Koordinaten einer der möglichen Welten – nämlich der des demokratischen Rechtsstaates – denken, wir damit auch eine gewisse Menge moralischer Prinzipien (Werte) in Verbindung bringen können. Die zweite Frage nach der Art, wie die Entscheidung getroffen wurde, schließt zwei mögliche Antworten ein. Die erste ist die Resignation, das heißt das Aufgeben der Funktion des Richters, die zweite der Weg contra legem. In einem solchen Fall öffnet sich das Problem der Begründung einer solchen Entscheidung. Wenn wir nun die Vorgehensweise der angelsächsischen und der europäischen kontinentalen Gerichte verallgemeinern und von den Fällen absehen, in welchen das Gericht contra legem unter Hinweis auf den Zweck des Gesetzes entscheidet, können zwei Fälle auftreten: entweder das Gericht entscheidet contra legem unter Berufung auf Gewohnheitsrecht (Common law)178 oder aber unter Berufung auf die Billigkeit (equity), der es den Vorzug gewährt. Die Berufung auf das Gewohnheitsrecht und die Bevorzugung desselben vor dem Gesetz geschieht im positivistisch rechtlichen Rahmen: die Rechtsdoktrin, die anhand des Konzeptes des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches geschaffen wurde, basierte auf dem Grundsatz, dass ein Gesetz nur per Gesetz aufgehoben werden kann: „Diese Regel wurde im § 9 festgelegt. Hier steht: – a) Das Gesetz wird nicht dadurch aufgehoben, dass sich die Umstände geändert haben, welche den Anlass zum Erlass dieses Gesetzes geliefert haben. Allerdings – wenn der Gegenstand des Gesetzes gänzlich weggefallen ist oder wenn sich die Umstände so sehr geändert haben, dass es keine Gelegenheit mehr gibt, dieses Gesetz anzuwenden, wird es wirkungslos … c) Das Gesetz wird nicht dadurch aufgehoben, dass es nicht mehr gebraucht wird (desuetudine); und somit auch dadurch nicht, dass es in Vergessenheit geraten ist. Es ist allerdings (solange dieser Zustand faktisch überdauert) wirkungslos.“179
Im System des schriftlich verfassten Rechts öffnet sich jedoch die Frage der möglichen Anwendung desuetudinis und des Prinzips cessante ratione legis cessat lex ipsa. Diese Frage hängt von der Akzeptanz auch anderer – nicht nur schriftlich 178 „Zum Verhältnis des ungeschriebenen Gewohnheitsrechts (common law) zum Gesetz führt Tripartitum auf, dass die Rechtsgepflogenheit ein neues Recht erschaffen und ein altes ändern oder ein Gesetz authentisch erklären kann … Diese Grundsätze blieben in der alten ungarischen Rechtsordnung aufrechterhalten, daher erlaubt es das ungarische Recht, dass die Rechtsgepflogenheit die Gesetze ergänzt … authentisch erklärt …, und diese gegebenenfalls auch aufhebt.“ (J. Rauscher, O obycˇajovom práve na Slovensku [dt.: Über das Gewohnheitsrecht in der Slowakei], in: F. Roucˇek/J. Sedlácˇek [Hrsg.], Komentárˇ k cˇeskoslovenskému obecnému zákoníku obcˇanskému a obcˇanské právo platné na Slovensku a Podkarpatské Rusi [dt.: Kommentar zum tschechoslowakischen allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch und Bürgerliches Recht in der Slowakei und in Karpatenrussland], Erster Teil, Praha 1935, S. 162.) 179 E. Tilsch, Obcˇanské právo rakouské (dt.: Bürgerliches Recht in Österreich), Allg. Teil, 2. Ausg., Praha 1913, S. 61.
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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verfasster Rechtsquellen im kontinentalen europäischen Recht ab, und ferner auch von den Bedingungen und dem Rahmen einer solchen Akzeptanz. Nach O. Weinberger müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit eine „Obsolenz“ vorliegt (die neben der desuetudo auch das Prinzip cessante ratione legis cessat lex ipsa umfaßt): „a) Den anwendenden Organen wird implizit die Kompetenz zugesprochen, Rechts-regeln, die der aktuellen institutionellen Lage und Wertung nicht mehr entsprechen, nicht mehr als geltende Vorschrift zu betrachten […] b) Man deutet das Obsoletwerden als ,ne-gatives (oder: derogierendes) Gewohnheitsrecht‘. Das heißt: die Gewohnheit der Nichtanwendung zusammen mit der allgemein herrschenden Überzeugung der Unrechtlichkeit der formal gültigen Regel erzeugt eine Gewohnheitsrechtsnorm, die die bisherige Regel aufhebt.“180
Der Richter verfügt nicht – auch nicht im angelsächsischen System – über die Befugnis der primären Normsetzung (im Vergleich zum Gesetzgeber). Allgemein gilt, dass er den Rechtsfall im Wege der Rechtsfindung entscheidet, und dies können neben dem Gesetz auch Gepflogenheit, gerichtliche Präzedenz, Vernunft oder Gerechtigkeit sein. Das Wesen einer Rechtsquelle (gerichtliche Präzedenz) erlangt es dann erst bei den Entscheidungen in ähnlichen Fällen. Die Argumentation contra legem, die sich auf die Werte der Gerechtigkeit stützt, denen sie die Qualität einer Rechtsquelle zuspricht, der dann beim Urteil des Gerichtes in einem konkreten Fall Vorrang vor dem Gesetz gewährt wird, führt uns auf dem Umweg vom iuspositivistischen zum iusnaturalistischen Standpunkt. In diesem Sinne, d. h. im Sinne der positivistischen These von der Pflicht des Richters, die Anwendung eines Gesetzes aus moralischen Gründen abzulegen, könnte man vom Paradoxon des positiven Rechts sprechen.
5. Aufhebung des Speenhamland-Gesetzes oder der Niedergang der alten und die Geburt der neuen Zivilisation Im Jahr 1834 wurde in Großbritannien das sog. Speenhamland-Armengesetz aufgehoben. Nach dem Entstehen des Warenmarktes, des Kapitals und der Währungen entsteht nun auch der Arbeitsmarkt, der Kreis schließt sich, die Gesellschaft ändert sich. Eine Analyse dieses Prozesses, der in seiner Durchschlagskraft und Tiefe seinesgleichen sucht, bietet Karl Polanyi, Historiker der ökonomischen Entwicklung und der ökonomischen Ideen, ein erbarmungsloser Kritiker beider führender Ideologien des 19. Jahrhunderts – des Liberalismus sowie des Marxismus. Nach seiner Sichtweise bietet der Anfang des 19. Jahrhunderts folgendes Bild und stellt die führenden Persönlichkeiten dieser Zeit vor folgende Fragen: „In der neuen Ordnung haben die alten Gesellschaftsklassen in der mehr oder weniger ursprünglichen Hierarchie nicht aufgehört zu existieren, wenn auch deren Rechtsprivilegien und Handicaps verschwunden sind. Wenn auch kein Gesetz den Arbeiter mehr gezwungen hat, dem Farmer zu dienen, und den Farmer, die Tasche des Grundbesitzers zu füllen, 180
O. Weinberger, Norm und Institution (Fn. 32), S. 121 – 122.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre verhielten sich die Arbeiter und die Farmer so, als ob ein solcher Zwang auch weiterhin existent wäre. Welches Gesetz zwang den Arbeiter dazu, dem Herrn zu gehorchen, an den er durch keine gesetzlichen Fesseln mehr gebunden war? Welche Kraft hielt die Gesellschaftsklassen getrennt, als ob diese von verschiedenen Menschenarten gebildet wären? Und wodurch wurden in diesem menschlichen Kollektiv, das den Eingriff der politischen Regierung weder forderte noch tolerierte, das Gleichgewicht und die Ordnung aufrechterhalten?“181
Die Denker, zu welchen auch Bentham, Ricardo und Malthus gehören, kamen zu der Überzeugung, dass die sozialen Wissenschaften – ausgehend vom empirischen Ansatz – befähigt sind, eine neue Gesellschaft formen zu können: „Das Entdecken der Ökonomie war eine riesige Offenbarung, welche die Transformation der Gesellschaft und die Einführung des Marksystems wesentlich beschleunigte, obwohl die entscheidenden Maschinen von ungebildeten Handwerkern erfunden wurden, von welchen einige weder des Lesens noch des Schreibens mächtig waren. Es war daher nicht nur gerecht, sondern auch folgerichtig, dass den Platz der intellektuellen Eltern der mechanischen Revolution, welche die Naturkräfte dem Menschen unterstellte, nicht die Natur- sondern die Sozialwissenschaften eingenommen haben.“182
Die Kritik der Armengesetze in Großbritannien hat Joseph Townsend eröffnet. Dabei hat er sich des Theorems von Ziegen und Hunden bedient: auf einer Insel, auf der sich die Ziegen, die als Vorrat für englische Seeleute dienten, zu stark vermehrt haben, setzten spanische Behörden Hunde aus. Dadurch wurde das natürliche Gleichgewicht wieder hergestellt. Aus dieser Geschichte leitete Townsend eine Lösung für die Reform des Armengesetzes ab: „Der Hunger zähmt auch die wildesten Tiere und lehrt auch den Verkehrtesten unter ihnen Anstand, Höflichkeit, Gehorsam und Unterordnung. Allgemein ist es eben der Hunger, was sie (die Armen – Anm. P.H.) zur Arbeit bewegen und animieren kann; unsere Gesetze besagen jedoch, dass sie niemals hungern sollen. Diese Gesetze besagen aber auch – und das muss man gelten lassen – dass sie gezwungen werden sollen zu arbeiten. Der rechtliche Zwang wird jedoch von Problemen, Gewalt und Geschrei begleitet, schafft bösen Willen und kann niemals einen guten und akzeptablen Dienst leisten; im Gegensatz dazu schafft der Hunger nicht nur einen ruhigen und stetigen Druck – als das natürlichste Motiv für Fleiß und Arbeit ruft er die größte Anstrengung hervor. Wenn er durch eine freiwillige Gabe eines anderen befriedigt wird, schafft er eine dauerhafte und feste Basis für guten Willen und Dankbarkeit. Ein Sklave muss zur Arbeit gezwungen werden, aber einem freien Menschen sollte es selbst überlassen werden, damit er nach seinem eigenen Ermessen und Willen handelt, er sollte bei der uneingeschränkten Inanspruchnahme seines Besitzes – sei es groß oder klein – geschützt und stets dann bestraft werden, wenn er das Eigentum seines Nachbarn antastet.“183
181
K. Polanyi, The Great Transformation, 1944 (tsch. Übersetzung: Velká transformace [dt.: Die große Transformation], Brno 2006, S. 119). 182 Ibidem, S. 123. 183 J. Townsend, A Dissertation on the Poor Laws, 1786, Republished London 1817, S. 15 – 16.
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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Townsend hat eine wissenschaftliche Lösung angeboten: die menschliche Gesellschaft sollte nach den Gesetzen der Natur geordnet werden: „So geschah es, dass die Ökonomen alsbald begonnen haben, Smiths humanistische Fundamente zu verlassen und diejenigen von Townsend anzunehmen.“184 Die Methode des „Stechens durch Hunger“, eingeführt nach dem Aufheben des Speenhamland Gesetzes, schafft einen Arbeitsmarkt, der Warenmarkt wird im Zuge staatlicher Eingriffe – durch Beseitigung von Restriktionen (Schutztarife, Ausfuhrsubventionen usw.) vollzogen. In diesem historischen Prozess entdeckt Polanyi ein Paradoxon: „Indem die Laissez-faire Ökonomik das Ergebnis der gezielten Tätigkeit des Staates war, haben die Laissez-faire Restriktionen spontan begonnen. … Der hoheitliche Liberal Dicey … ist schließlich in seiner tiefgreifenden Untersuchung zu dem Schluss gekommen, dass an der Seite derjenigen, die für die restriktiven gesetzlichen Bestimmungen der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts direkt verantwortlich waren, eine gezielte Absicht völlig gefehlt hat, die Funktionen des Staates zu erweitern oder die Freiheiten des Einzelnen einzuschränken.“185
Angefangen in den sechziger Jahren wurden sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland oder Frankreich oder Österreich-Ungarn, das heißt zu den Zeiten Bismarcks oder Disraelis, staatliche Kontrollen der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Lebensmitteln, Pflichtimpfungen bei Armen, öffentliche Gesundheitsund Rentenversicherung, staatliche Kontrollen der Arbeitsbedingungen in den Fabriken, Einschränkung der Kinderarbeit usw. eingeführt. Es war das neue System und dessen Folgen,186 es waren die Externalitäten, die es in die soziale Ausgestaltung hineinbrachte (an dieser Stelle sollte man an die geniale Schilderung dieser Zeiten in den Romanen Charles Dickens’ erinnern), die sich eine spontane Reaktion erzwungen haben. Die Folgen dieser Veränderungen, angesichts der Dickensschen Welt, waren auch das Suchen und das Finden einer neuen Gerechtigkeitskonzeption der Gesellschaft:
184
K. Polanyi, The Great Transformation (Fn. 181), S. 119. Ibidem, S. 142, 143. 186 „Das soziale Unheil stellt in der Wirklichkeit selbstverständlich primär ein kulturelles und nicht ein ökonomisches Phänomen dar, das man anhand des Einkommens oder mit Populationsstatistiken messen kann. Die kulturellen Katastrophen, welche breite Massen gewöhnlicher Menschen befallen, können natürlicherweise nicht allzu oft auftreten. … Die Ursache dieser Devastation ist nicht – wie häufig behauptet, die ökonomische Ausbeutung, sondern die Desintegration des kulturellen Umfeldes der Opfer. Der ökonomische Prozess kann selbstverständlich zum Werkzeug der Destruktion werden und die schwächere Seite wird fast immer ökonomisch untergeordnet, doch die unmittelbare Ursache ihres Unheils ist nicht die ökonomische – diese ist vielmehr auf den tödlichen Zerfall der Institutionen zurückzuführen, in welchen ihre soziale Existenz verankert ist.“ (Ibidem, S. 159.). Den gleichen Gedanken – wenn auch mit anderen Worten – äußert auch Ernest Gellner: „Die Menschen können furchtbare Ungleichheiten ertragen, wenn diese dauerhaft sind und von Gewohnheit gesegnet werden.“ ¢ E. Gellner, Nations and nationalism, Oxford 1988 (tsch. Übersetzung: Národy a nacionalismus [dt.: Nationen und Nationalismus], Praha 1993, S. 36). 185
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre „Die Wissenschaftler erklärten unisono, dass eine Wissenschaft entdeckt wurde, welche die Gesetze postuliert, die in der menschlichen Welt herrschen und die sicher nicht in Frage gestellt werden können. Und gerade auf Befehl dieser Gesetze wurde Erbarmen aus den Herzen verbannt, und die stoische Entscheidung der menschlichen Solidarität im Namen des höchsten Glücks der größten Menge erlangte das Ansehen der weltlichen Religion.“187
So wurde der Utilitarismus geboren. Der „Vater“ des Utilitarismus J. Bentham definiert den Begriff des Nutzens folgendermaßen: „Als Prinzip des Nutzens verstehen wir den Grundsatz, wonach jede Handlung, abhängig von dem Maß der Zustimmung oder Nichtzustimmung, auf den Zustand des größeren oder kleineren Glücks einer Gruppe hinausläuft, ggf. diesen Zustand hervorruft oder verhindert.“188
J.S. Mill, ein weiterer großer Vertreter des Utilitarismus, hat Benthams Konzeption im gewissen Maße modifiziert. Er knüpfte an die These Benthams vom „größten Glück der größten Menge“ an, interpretierte sie jedoch im Gegensatz zu Bentham nicht nur quantitativ, vielmehr konzipierte er den Begriff des Glücks differenziert: „Die Glückskomponenten sind sehr verschieden und jede davon ist wichtig für sich selbst und nicht nur als etwas, was die Gesamtheit vergrößert. Das Prinzip der Nützlichkeit bedeutet nicht, dass ein bestimmtes Vergnügen, wie zum Beispiel Musik, oder die Absenz von Leiden, wie zum Beispiel die Gesundheit, als ein Mittel zu etwas Massenhaftem verstanden werden sollte, was man als Glück bezeichnet, und dass man danach aus diesem Grund trachten sollte. Diese Dinge sind an sich und für sich gefragt und wünschenswert. Sie stellen das Mittel zum Ziel, sind aber zugleich ein Teil des Zieles.“189
Ferner bringt Mill die Kategorien der Gerechtigkeit und der Nützlichkeit (des Nutzens) eindeutig zusammen: „Einerseits lehne ich das Bestreben jeder Theorie ab, welche die scheinbare Norm der Gerechtigkeit setzt, die nicht auf dem Nutzen basiert, anderseits betrachte ich die Gerechtigkeit, die auf dem Nutzen basiert, für den Hauptbestandteil – einen unvergleichbar edlen und verbindlichen Bestandteil jeder Moral.“190
Benthams Gedanken und der Utilitarismus haben einen extremen Einfluss erlangt – und dies nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den Vereinigten Staaten und insbesondere dann auf dem europäischen Kontinent:
187
K. Polanyi, The Great Transformation (Fn. 181), S. 106. J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London 1823, in: W. Harrison (ed.), A Fragment on Government and An Introduction to the Principles of Morals and Legislation by Jeremy Bentham, Oxford 1967, S. 126. 189 J.S. Mill, Utilitarianism, 1861 (tsch. Übersetzung: Utilitarismus, Praha 2011, S. 101). 190 Ibidem, S. 147. 188
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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„Der Utilitarismus konnte politisch und philosophisch wirksam werden zu einer Zeit, als die religiösen, metaphysischen oder einfach nur traditionellen Erklärungen für überindividuelle Bindungen die allgemeine Anerkennung eingebüßt haben.“191
Ein Beispiel dafür liefert der Artikel 6 im sog. Nürnberger Kodex, in dem die Grundsätze formuliert sind, welche am 20. August 1947 das Urteil des Kriegstribunals über 23 nazistische Kriegsverbrecher begründeten, die des Durchführens unzulässiger medizinischer Experimente an Menschen beschuldigt wurden, sowie der Artikel 7 der Deklaration von Helsinki, die 1964 von der Weltgesundheitsorganisation angenommen wurde. Diese verankerten bei den medizinischen Experimenten an Menschen das Prinzip der Proportionalität, bzw. dessen Akzeptanz in Abhängigkeit vom Verhältnis des Beitrags der zu prüfenden Erkenntnis oder Methode zu den eventuellen Risiken für die Testpersonen. Nach diesem Prinzip gilt, dass mit dem steigenden zu erwarteten Beitrag der zu prüfenden Erkenntnis oder Methode das höhere Maß an Risiko bei den Testpersonen begründet wird. Diese streng utilitaristische Betrachtungsweise zeigte sich jedoch alsbald als moralisch nicht haltbar und wurde deswegen von der Weltgesundheitsorganisation um das Prinzip der Risikominimalisierung ergänzt.192 Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit des Wirtschaftswachstums, verlässt der Neoliberalismus die liberale Sichtweise, die schließlich zum Utilitarismus geführt hat, und versteht ab nun die Gesellschaft nur als Summe parallel nebeneinander existierender Individuen: „Das Wesen der liberalen Philosophie (vorerst wird noch nicht die Sprache sondern nur die Bedeutungen geändert – Anm. P.H.) ist der Glaube an die Würde des Einzelnen, an seine Freiheit, die meisten Fähigkeiten und Möglichkeiten nach eigenem Ermessen umzusetzen und dies nur unter der einzigen Bedingung, dass er die Freiheit der anderen dasselbe zu tun, nicht einschränkt.“193
Milton Friedman erinnert mehrmals an das allgemein wachsende Lebensniveau in den westlichen Marktgesellschaften, das kleinere Maß an Ungleichheit im Vergleich zu Kastengesellschaften, die Befreiung von Schwerstarbeit sowie die breite Zurverfügungstellung von Produkten und Dienstleistungen.194 Er schweigt jedoch zu den Proportionen und analysiert auch nicht, ob und in welchem Maß dieser Zustand das 191 O. Höffe, Einleitung, in: O. Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, 3. Aufl., Tübingen/Basel 2003, S. 14. 192 Näher siehe A. Mitscherlich/F. Mielke, Wissenschaft ohne Menschlichkeit: Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg, Heidelberg 1949; Neuauflage: Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Heidelberg 1960; A. Ebbinghaus/K. Dörner/ K. Linne u. a. (Hrsg.), Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/ 47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, München 1999; J. Drgonec/P. Holländer, Moderná medicína a právo (dt.: Moderne Medizin und das Recht), 2. Aufl., Bratislava 1988, S. 38 ff. 193 M. Friedman, Capitalism and Freedom, 1962 (tsch. Übersetzung: Kapitalismus a svoboda [dt.: Kapitalismus und Freiheit], Praha 1993, S. 168). 194 Ibidem, S. 147 – 149.
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
Ergebnis der spontanen Wirkung des Marktes und der gegen ihn gerichteten öffentlichen Eingriffe ist. In seiner optimistischen Betrachtungsweise schweigt er aber auch über die neuen Formen der Lasten: Entfremdung, Zerfall der Familie, steigende Arbeitsintensität, dramatisch zurückgehende Geburtsraten, Alterung der Population und Verlust der natürlichen Beziehungen und Bindungen zwischen den Generationen, schwindende Vitalität der Gesellschaft, dramatische Umweltschäden. Er ist nicht in der Lage die Entwicklung zu überschauen, die zur Schaffung virtueller Wachstumsquellen weltweit, zur steigenden Instabilität und zum immer höheren Risiko auf den Märkten führt. Nach seiner Meinung existiere die Gesellschaft nur noch außerhalb der Gerechtigkeit, der einzige Maßstab sei der persönliche Erfolg des Einzelnen oder sein „Verdienst“, alles andere sei die Sache des Zufalls: „Schließlich ist die Göttin des Glücks genauso blind wie die Göttin der Gerechtigkeit.“195 Bei der Antwort auf diese Thesen überlasse ich die Stimme dem politischen Philosophen Isaiah Berlin: „Die Freiheit der Wölfe bedeutet oft genug den Tod der Schafe. … Die Freiheit hat – zumindest im politischen Kontext, identische Grenzen mit der Absenz der Persekution oder der Dominanz. Dennoch ist die Freiheit nicht der einzige Wert, der unser Verhalten bestimmen kann oder soll. … Eine Freiheit kann die andere vernichten. Eine Freiheit kann eine andere einschränken oder solche Bedingungen schaffen, die andere Freiheiten, oder ein größeres Maß an Freiheit, oder Freiheit für mehrere Leute nicht ermöglichen. … Aber hinter allen diesen Fragen lauert ein noch größeres Problem, nämlich das dringende Bedürfnis auch andere – genauso wenig reduzierbare Werte zu befriedigen: die Gerechtigkeit, das Glück, die Liebe, oder die Realisierung von Fähigkeiten zur Schaffung neuer Dinge, Erfahrungen und Gedanken, zum Aufdecken der Wahrheit.“196
Ist somit die moralische Philosophie tot? Sind die Gerechtigkeitskonzeptionen für das Recht und die Staatswissenschaft ohne jegliche Bedeutung? Wird die Welt vom Homo oeconomicus oder vielleicht vom Moliers Harpagon beherrscht? Ist es den Vertretern der neoliberalen ökonomischen Denkrichtung und der daraus resultierenden ökonomischen Rechtstheorie gelungen, das „Endprinzip“, den „Gral“ der Erläuterung sämtlicher sozialer Erscheinungen zu entdecken? Isaiah Berlin beantwortet diese Fragen im Allgemeinen, indem er das Postulat der Pluralität und der Nichtreduzierbarkeit der Grundprinzipien formuliert: „Die Auffassung, auf normative Frage müsse es endgültige, objektive Antworten geben, die Wahrheit könne bewiesen oder intuitiv erfaßt werden, im Prinzip müsse es möglich sein, die harmonische Struktur zu enthüllen, in der alle Werte die Aussöhnung finden, und diesem einzigen Ziel müssen wir nacheilen, die Auffassung, das einzige Leitprinzip aufdecken zu können, welches diese These formuliert und welches dann die Herrschaft über unsere Leben übernimmt – dieser uralte und fast allgemein geteilte Glauben, auf das sich ein beträchtlicher Teil des traditionellen Denkens, Handelns und philosophischer Lehren stützt, scheint mir 195
Ibidem, S. 144 – 145. I. Berlin, Four Essays on Liberty, Oxford 1969 (tsch. Übersetzung: Cˇtyrˇi eseje o svobodeˇ [dt.: Vier Essays über die Freiheit], Praha 1999, S. 53, 66). 196
III. Distinktionen und Argumente: Zweiter Akt
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keine Gültigkeit zu besitzen und zuweilen zu Absurditäten in der Theorie und zu barbarischen Konsequenzen in der Praxis geführt zu haben (und noch zu führen).“197
Berlin trifft mit seinem Postulat eine der wichtigsten Distinktionen in der Entwicklung der Moral- und Sozialphilosophie. Auf der einen Seite steht die Linie, welche sich auf das Postulat Berlins stützt – sei es Aristoteles (und seine analytische Konzeption der Teilgerechtigkeit), Augustinus Aurelius (und der von ihm dargestellte ewige Konflikt des Guten und des Bösen), Immanuel Kant (und sein Postulat der Koexistenz von Freiheiten). Auf der anderen Seite steht die Linie, die das Postulat Berlins negiert, „das einzige Leitprinzip“ der Explikation und Prädiktion zu suchen – diese Linie wird vertreten von so gegensätzlichen Denkern wie Hegel, Marx, Nietzsche, Hayek oder Popper. Es sei vermerkt, dass sich diese Distinktion nicht nur durch die Moral- und Sozialphilosophie, sondern auch durch die ganze Rechtsphilosophie schlängelt. Verweilen wir aber noch bei einer anderen These Berlins. In dieser reflektiert er die Folgen der Bestrebungen, das Postulat der Pluralität und der Nichtreduzierbarkeit der Grundprinzipien zu bestreiten. Auf das 19. und 20. Jahrhundert zurückblickend stellt er folgendes fest: „Es gab zwei große politische Befreiungsbewegungen des 19. Jahrhunderts: den humanitären Individualismus und den romantischen Nationalismus, wobei diese zwei Strömungen in den übertriebenen und zweifelsfrei verzerrten Formen des Kommunismus und des Faschismus ihren Ausgang fanden – die erstere als verräterisches Erbe des liberalen Internationalismus des vorhergehenden Jahrhunderts, die andere als der Gipfel des mystischen Patriotismus.“198
Haben aber die vorhergehenden Jahre nicht eine Veränderung hervorgebracht?199 Anders gesagt: „Nicht laissez-faire war die Pest, gegen die die Waffe der negativen Freiheit erhoben wurde, sondern der Despotismus.200 Den Aufstieg und den Fall der beiden Begriffe kann man insbesondere in Bezug auf die konkreten Risiken verfolgen, welche zum gegebenen Zeitpunkt eine bestimmte Gruppe oder Gesellschaft gefährdet haben: einerseits die übertriebene Kontrolle und die zahlreichen Eingriffe, anderseits die unkontrollierte ,Marktwirtschaft‘. Beide Begriffe neigen allem Anschein nach zur Perversion, als sie sich ausgerechnet in diejenige Gemeinheit verwandeln, gegen die sie erschaffen wurden.“201
Zum Impuls für die nächste „Runde“ intensiver Diskussionen oder Polemiken gegen das Thema der Gerechtigkeit wurde in den 80er und 90er Jahren des ver197
Ibidem, S. 65. Ibidem, S. 81, 83. 199 Ibidem, S. 68: „Diejenigen, welche die Fehler eines Systems auf eigenem Leib zu ertragen haben, vergessen oft die Mängel des anderen.“ 200 Ibidem, S. 65: „Zum Wesen der Freiheit gehört die Befreiung von den Knebeln, aus der Gefangenschaft und der Sklaverei. Alles andere ist dann entweder die Erweiterung dieser Deutung oder eine Metapher.“ 201 Ibidem, S. 54. 198
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A. Spannung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
gangenen Jahrhunderts die Gerechtigkeitstheorie John Rawls’. Kritisch hat sich dazu eine Gruppe von Philosophen (unter ihnen auch Alasdair MacIntyre, Michael Walzer, Benjamin R. Barber, Charles Taylor und Amitai Etzioni) mit Thesen geäußert, die die Bezeichnung „Kommunitarismus“ tragen. Der Ausgangspunkt dieser Thesen war die kontextuelle Herangehensweise, wonach die Gerechtigkeit nicht außerhalb der Werte-, Sprach-, Ethik-, Religions- und weiterer Kontexte untersucht werden kann, die für die Identität einer bestimmten Gesellschaft immanent sind.202 Ein wesentlicher Ausgangspunkt war den so gegensätzlichen Denkern des 19. Jahrhunderts wie Bentham, Marx und Nietzsche, die das Fundament unterschiedlicher Gesellschaftskonzeptionen gelegt haben, gemeinsam: Nachdem – mit Worten Nietzsches – Gott getötet wurde, trat an seine Stelle der Mensch (ohne die transzendenten Einschränkungen). Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat dann die Rechnung gestellt: Faschismus und Kommunismus, und nach dem Fukuyamschen Siegesruf zum Anfang der 90er Jahre203 auch der Post-Fukuyamsche-Katzenjammer zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Das kommunitaristische Suchen von Kontexten wird zum Suchen nach einer Lösung im leeren Raum. Für eine interessante Transposition der kommunitaristischen Vorgehensweise halte ich den Versuch Winfried Bruggers, diese als Verfassungstheorien des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu betrachten.204 In diesem Sinne kann dann auch die Position interpretiert werden, die das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland seit dem Beginn seiner Existenz vertritt: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Dies heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“ (BVerfGE 4, 7, 15 ff; 32, 98, 107 ff; 33, 1, 10 ff.)
202 Mehr dazu siehe R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a.M. 1996, S. 12 ff. 203 F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992. 204 W. Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, Archiv für öffentliches Recht, 123, H. 3, 1998, S. 337 – 374. Siehe auch: W. Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999.
B. Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in der Zeit der Dekonstruktion Interpretation des Rechts, die als Diskurs zu verstehen ist, ebenso wie jede andere Interpretation, mündet im einen Gerechtigkeitsstandpunkt und damit in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Die Polemik, die Robert Alexy und Josef Raz geführt haben, dient als Illustration dieser These: die Spannung zwischen der rechtspositivistischen und der naturrechtlichen Sicht auf Recht wird vor dem Hintergrund der Relevanz einer vom Appellationsgericht gewählten Auslegungsalternative manifestiert.205 Daher liegt das Interpretationsfeld nicht außerhalb des Spannungsfeldes zwischen dem Iusnaturalismus und dem Iuspositivismus. Die Formulierung des Problems, das zum Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen wurde, möchte ich mit dem Hinweis auf „die alte Erfahrung der Methodendiskussion von der wechselseitigen Abhängigkeit von Gegenstand und Methode“206 beginnen. Die europäische Rechtswissenschaft entwickelte sich über Jahrhunderte als eine hermeneutische Disziplin, die zum Gegenstand die Interpretation autoritativer Texte wie auch deren Systematisierung, sprachliche Beschreibung und Begriffserzeugung hatte.207 Ihre heutige Gestalt glossiert Gizbert-Studnicki in der Reaktion auf den Erfolg hermeneutischer Ideen in den Rechtswissenschaften sehr zutreffend folgendermaßen: „Daß die philosophische Hermeneutik gerade in der Jurisprudenz einen guten Nährboden fand, läßt sich auch darauf zurückführen, daß die Juristen von den Bemühungen um eine Reform der Rechtswissenschaft im Geiste der Sozialwissenschaften (Soziologie und Psychologie) tief enttäuscht waren. Alle derartigen Versuche, die größtenteils in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unternommen 205
Siehe oben Kap. A. I. E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik (1975); wiederabgedrückt in: E.-W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1991, S. 82. 207 In diesem Zusammenhang schreibt Ralf Dreier sehr zutreffend: „Die kontinentaleuropäische Rechtswissenschaft hat sich im Hochmittelalter als dogmatische Buchwissenschaft konstituiert und sie hat diesen Charakter im wesentlichen bis heute behalten. Fixiert auf die exegetische und systematische Bearbeitung autoritativer Texte, gewann sie ihre spezifische Methodik aus Logik, Philologik und Historik.“ (R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier/F. Schwegmann [Hrsg.}, Probleme der Verfassungsinterpretation. Dokumentation einer Kontroverse, Baden-Baden 1976, S. 18.) Übereinstimmend sagt z. B. Ernst Forsthoff: „Theologie und Jurisprudenz sind wesentlich hermeneutische, das heißt auslegende Wissenschaften.“ (E. Forsthoff, Recht und Sprache. Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, Darmstadt 1964, S. 3.) 206
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B. Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze
wurden, sind de facto gescheitert. Zwar mußte letzten Endes die Jurisprudenz ihr Forschungsgebiet stark erweitern (z. B. entstand die Rechtssoziologie als ein Zweig der Rechtswissenschaft), dennoch veränderte sich das Kernstück der Jurisprudenz – die Rechtsdogmatik – kaum.“208 Die Jahrhunderte lange Entwicklung des europäischen Rechtsdenkens findet ihren Ausdruck im Savignys Paradigma.209 F.C. von Savigny, der im 19. Jahrhundert die Grundlagen der Methodologie der Rechtsauslegung im Kontinentaleuropa legte, versteht darunter die „Rekonstruktion des Gedankens, der im Gesetz ausgesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist“.210 Diese „Rekonstruktion“ wird durch die Anwendung der vier Auslegungsmethoden ermöglicht (im Sinne Savignys Terminologie der „Auslegungselemente“): nämlich der grammatischen, logischen, historischen und systematischen Methode.211 Zum Gegenstand der grammatischen Methode ist nach Savigny „das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt“. Die logische Methode unterstützt die Analyse des Gedankens, d. h. die Rekonstruktion der logischen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Gedankenelementen. Zum Gegenstand der historischen Methode werden die Situation zum Zeitpunkt der Gesetzesannahme (occasio legis), ein Zustand auf den das Gesetz reagierte (ratio legis) sowie die Art und Weise, wie es reagierte, das heißt das Novum, das dadurch eingeführt wurde. Die systematische Methode „bezieht sich auf inneren Zusammenhang, welche alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft“; sie zwingt uns, die Bedeutung des Gesetzes im Rahmen der Rechtssystemgesamtheit zu verstehen.212 Diese Methoden stehen jedoch bei Savigny nicht unabhängig nebeneinander und lassen dem Interpreten auch keine Willkür bei der Wahl ihrer Anwendung – vielmehr müssen sie, soll die Auslegung erfolgreich sein – in gegenseitiger Wechselwirkung und Verknüpfung wirken.213 Bei der Aufzählung der Auslegungsmethoden („Elemente“) ließ Savigny die teleogische Methode (telos = Zweck) ausdrücklich beiseite. Im Zusammenhang mit der Analyse der möglichen Interpretationen unklarer und unbestimmter Begriffe nutzt er als Hilfsmittel die Suche nach dem Sinn („Grund“) des Gesetzes und die „inneren Werte des Ergebnisses“ dieser Interpretation. Von der Unterscheidung 208 T. Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen. Rechtstheorie 18 (1987), Heft 3, S. 345. 209 Näheres zu der Geschichte der Rechtswissenschaft siehe z. B. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 45 ff.; H. Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II, München 1977, S. 731 ff. 210 F.C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, I, Berlin 1840, S. 214; F.C. von Savign, Juristische Methodenlehre (Kollegnachschrift von Jacob Grimm), hrsg. v. G. Wesenberg, Stuttgart 1951, S. 18, 19. 211 F.C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 210), S. 213. 212 Ibidem, S. 213 – 214. 213 Ibidem, S. 215.
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zwischen dem speziellen und allgemeinen „Grund“ ausgehend hält Savigny fest, dass die Unbestimmtheit eines Begriffes beseitigt wird, indem sich die Interpretation auf einen speziellen „Grund“ stützt, der nachzuweisen ist (die höchste Beweiskraft liegt dann vor, wenn der Inhalt explizit im Gesetz definiert wird). Fehlt ein spezieller „Grund“, muss sich die Auslegung auf einen allgemeinen „Grund“ stützen, d. h. auf einen allgemeinen Rechtsgedanken (Prinzip), wie z. B. auf die Egalität oder die Billigkeit. Bei dem „inneren Wert des Ergebnisses“ der Interpretation eines unbestimmten bzw. unklaren Begriffes wählt Savigny unter mehreren Alternativen diejenige aus, die dem Zweck des Gesetzes nach am günstigsten erscheint. Nichtsdestotrotz gilt es bei der teleologischen Auslegungsmethode „große Vorsicht“ walten zu lassen.214 Wenn auch Savigny ursprünglich eine streng restriktive Position vertrat, wonach die Pflicht durch ihre Bestimmung gegeben ist so, wie sie dem exakten Wortlaut des Gesetzes anhand der grammatischen, logischen uns systematischen Methode entnommen werden kann,215 revidiert er in seinem Fundamentalwerk „System des heutigen Römischen Rechts“ diesen Standpunkt doch zum Teil. Anhand der bereits angedeuteten Verfahren im Falle unbestimmter und unklarer gesetzlicher Begriffe lässt er im begrenzten Rahmen die vorsichtige Anwendung der historischen und teleologischen Methode zu. Dabei lehnt er die Möglichkeit ab, die Interpretation lediglich auf den allgemeinen Sinn („Grund“) des Gesetzes zu stützen, was nach seiner Sicht der Dinge das Verlassen des Raumes für die mögliche Auslegung des Rechts bedeuten würde und mit Rechtsfortbildung gleichzusetzen wäre.216 Sich des Spannungsverhältnisses zwischen der Vielseitigkeit des Rechtsinstitutes und den begrenzten Möglichkeiten bei der Auslegung der Rechtsnorm mithilfe der Interpretationskanone durchaus bewusst, revidiert er seine ursprünglich restriktiven Standpunkte und transformiert die damit verbundene Suche nach dem institutionellen und methodologischen Raum für die Fortbildung des geschriebenen Rechts in die Vorstellung vom Errichten eines Obersten Gerichtes, das von der Verpflichtung befreit wäre, die Auslegungskanone strikt einzuhalten, und die Bevollmächtigung zur Rechtsfortbildung erhalten würde.217 Für Savigny als Begründer und führende Persönlichkeit der historischen Rechtsschule ist das Verbinden von Rechtsinstituten (wie z. B. Vertrag, Ehe, Eigentum, Beerbung) mit den verschiedenen Lebensverhältnissen kennzeichnend.218 214
Ibidem, S. 215 – 230. F.C. von Savigny, Juristische Methodenlehre (Fn. 210), S. 40, 43: „Eine Vervollkommnung des Gesetzes ist zwar möglich, allein bloß durch den Gesetzgeber, nie durch den Richter darf sie vorgenommen werden.“ 216 F.C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 210), S. 238. 217 Ibidem, S. 326 ff. 218 Mit dieser Auffassung stellt er bis heute eine Inspirationsquelle für zahlreiche Denker dar. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die große Wertschätzung Savignys Lehre hinweisen, die sie im amerikanischen Rechtsdenken durch Richard Posner erfahren hat (siehe R.A. Posner, Frontiers of Legal Theory, Cambridge/London 2001, S. 193 ff.). 215
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Nach seiner Sicht der Dinge existieren im gesellschaftlichen Bewusstsein keine abstrakten Rechtsregeln – vielmehr sind diese lediglich der Ausdruck der Rechtsinstitute, welche der Gesetzgeber in ihrer organischen Einheit bei der Gestaltung einzelner Rechtsregel vor Augen hatte.219 Die Rechtsregel gründet auf der „Anschauung“ der Rechtsinstitute, wobei deren Inhalt nicht mit den einzelnen Rechtsregeln erschöpft ist – somit ist sie im Vergleich zu einer bloßen Summe dieser Regel reicher und auch komplexer.220 Der europäischen Fachöffentlichkeit ist der Streit zwischen Friedrich Carl von Savigny und Anton Friedrich Justus Thibaut über die Notwendigkeit, das bürgerliche Recht in Deutschland zu kodifizieren, wohl bekannt.221 Aus der Gedankenkonfrontation der beiden Rechtsdenker ist auch die Distinktion zwischen der subjektiven und der objektiven Auslegungsmethode hervorgegangen. Da Savignys historische (subjektive) Auslegungsmethode bereits Erwähnung fand, genügt es an dieser Stelle lediglich auf die gegensätzliche Position Thibauts zu verweisen.222 Bei der Zusammenfassung wesentlicher Gedanken Savignys in Bezug auf die Interpretation des Rechts darf man jedoch nicht außer Acht lassen, dass sich seine Überlegungen insbesondere aus der Sicht des Gegenstandes lediglich auf das Privatrecht beschränkt haben.223 Dem berühmten britischen Mathematiker und Philosophen Alfred Whitehead, der zusammen mit Bertrand Russell das berühmte Werk Principia mathematica verfasste, wird folgende Aussage zugeschrieben: „Die ganze Geschichte westlicher Philosophie ist nichts anderes als das Nachdenken über Fragen, die bereits Platon formulierte.“ Als Paraphrase auf diese Aussage könnte man in Bezug auf die Interpretation des Rechts sagen, dass die ganze Geschichte der Methodologie des Rechtdenkens in den vergangenen zwei Jahrhunderten nichts anderes darstellt, als die fortsetzende Diskussion über das Paradigma Savignys. Wie Winfried Hassemer sagt, kodifizierte Savigny den Kern der Rechtsmethodologie: „Er hat – gültig bis heute – vier Wege beschrieben, auf denen Gesetze sich dem Verständnis erschließen können, auf denen sich aber auch Rechtfertigung und Kritik dieses Verständnisses finden lassen.“224 In der Folge erfüllt Savignys Analyse der Rechtsinterpretation die Funktionen eines Paradigmas, hier dann insbesondere die Erkenntnisfunktion und 219
F.C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 210), S. 9, 16, 44. Ibidem, S. 44, 48. 221 Siehe J. Stern (Hrsg.), Thibaut und Savigny. Ein programmatischer Rechtsstreit auf Grund ihrer Schriften, Darmstadt 1959. 222 A.F.J. Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, 2. Aufl. 1806; wiederabgedruckt: Über die logische Auslegung nach dem Grunde des Gesetzes, in: H.G. Gadamer/G. Boehmn (Hrsg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1979, S. 100 – 108. 223 F.C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 210), S. 326 ff. 224 W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie, 39 (2008), S. 9. 220
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die normative Funktion.225 Mit ihr wurde ein allgemeiner und universeller methodologischer Rahmen des Rechtsdenkens geschaffen, so dass man ihr sowohl in der Rechtssprechung der Verfassungsgerichte demokratischer Staaten,226 als auch in den Lehrbüchern totalitärer Rechtskonzeptionen begegnen kann.227 Dabei haben Savignys Paradigma vielmehr einen Rahmen als eine Anleitung für das Rechtsdenken geschaffen. Zutreffend stellt Konrad Hesse in diesem Zusammenhang fest: „Der Wortlaut sagt häufig noch nichts Eindeutiges über die Wortbedeutung und läßt die Frage entstehen, wonach – etwa dem allgemeinen oder einem speziellen juristischen Sprachgebrauch, der jeweiligen Funktion des Begriffes – sich diese Bedeutung bestimmt. ,Systematische Interpretation‘ kann unterschiedlich gehandhabt werden, je nachdem, ob der formale Zusammenhang der Einordnung der Norm an einer bestimmten Stelle des Gesetzes oder ihr sachlicher Zusammengang ins Auge gefaßt wird. ,Teleologische Interpretation‘ ist kaum mehr als ein Blankett, weil mit der Regel, daß nach dem Sinn eines Rechtsatzes zu fragen ist, nichts für die entscheidende Frage gewonnen ist, wie dieser Sinn zu ermitteln sei. Unklar ist schließlich das Verhältnis der einzelnen Methoden zueinander. Es ist eine offene Frage, welcher von ihnen jeweils zu folgen oder der Vorzug zu geben ist, vollends, wenn sie zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.“228
Savignys methodologisches Werk stellt dabei eine Gedankeninspiration auch für die heutige Rechtstheorie dar.229 Eine Vielzahl von Autoren präsentieren heutzutage eine eigene Klassifizierung der Interpretationsmethoden, die jedoch – frei nach Ludwig van Beethoven – mehr oder weniger nur „Variationen auf Diabellis (Savignys) Walzer“ darstellen. Stellvertretend für alle möchte ich an dieser Stelle die Klassifikation Alexys vorstellen, wonach die Interpretation das linguistische Argument (das den semantischen und syntaktischen Ansatz beinhaltet), das genetische Argument (das mit der subjektiven historischen Auslegung gleichzusetzen ist), das systematische Argument (das mit der inneren Konsistenz des Rechts, der kontextuellen Argumentation und der begriffs225 Zum Begriff des Paradigmas im Wissenschaftsdenken siehe T.S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1970 (tsch. Übersetzung: Struktura veˇdecky´ch revolucí [dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen], Praha 1997, S. 10): „Als Paradigma bezeichne ich die allgemein anerkannten wissenschaftlichen Ergebnisse, die für eine Gemeinschaft von Fachleuten zum gegebenen Zeitpunkt ein Modell der Probleme und ein Modell für deren Lösung darstellen.“ 226 Gem. dem Bundesverfassungsgericht der BRD (BVerfGE 11, 126 [130], BVerfGE 35, 263 [278 ff.]) dient der Interpretation eine Auslegung, die „aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung) herrührt.“ 227 Siehe z. B. das prominente stalinistische Lehrbuch: M.A. Arzˇanov/S.F. Kecˇekjan/ B.S. Manˇkovskij/M. S. Strogovicˇ, Teorija gosudarstva i prava (tsch. Übersetzung: Theorie státu a práva [dt.: Staats- und Rechtstheorie], Praha 1951, S. 467 – 468). 228 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17. Aufl., Heidelberg 1990, S. 22. 229 Siehe z. B. U. Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, Juristen Zeitung, 58 (2003), Heft 1, S. 1 – 17.
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systematischen Interpretation verbunden ist) und schließlich auch die allgemein praktischen Argumente (zu welchen Alexy auch die teleologischen und die deontologischen Argumente zählt) einschließt. 230 Daher lautet die Frage, ob überhaupt und wenn ja – inwiefern – man in der Gegenwart (im Vergleich zu Savignys Zeit) noch vom identischen Gegenstand sprechen kann. In seinem berühmten Werk „Der Begriff des Rechts“ bringt Herbert Hart in die rechtlich-theoretische Terminologie den Begriff der offenen Textur ein: „Welches Mittel man auch wählt, ob Präzedenz oder Gesetzgebung, für die Vermittlung von Verhaltensstandards werden sie sich an irgendeiner Stelle, wo ihre Anwendung fraglich ist, als unbestimmt erweisen, auch dann, wenn sie bei der großen Masse der gewöhnlichen Fälle reibungslos funktionieren. Sie werden eine offene Struktur haben, wie man so sagt. … Jedoch ist es wichtig zu wissen, warum wir, abgesehen von dieser Sprachabhängigkeit und der charakteristisch offenen Struktur der Sprache (d. h. der natürlichen Sprache – Anm. P.H.), den Regelbegriff (selbst als Ideal) nicht überstrapazieren dürfen – einen Regelbegriff, der so ausgearbeitet ist, daß die Frage, ob die Regel auf einen besonderen Fall angewendet werden kann oder nicht, ein für allemal im voraus beantwortet wurde und niemals bei aktueller Anwendung eine Wahl zwischen offenen Möglichkeiten zuläßt. Kurz gesagt, der Grund ist der, daß die Notwendigkeit der Wahl uns deshalb auferlegt wurde, weil wir Menschen und nicht Götter sind.“231
Den Begriff der offenen Textur hat Hart von Friedrich Waismann übernommen,232 der diesen – in der Reaktion auf das Werk Ludwig Wittgensteins – als ein Werkzeug zur Klärung des Problems der Verifikation (der Wahrhaftigkeit) konzipierte. Für Waismann sind Begriffe mit geschlossener Textur zum Beispiel mathematische Begriffe – im Gegensatz dazu haben empirische Begriffe eine offene Textur (bzw. Porosität). Die offene Textur der Sprache ist für ihn mit der Möglichkeit (Potentialität) der Vagheit, Unbestimmtheit, Unvollständigkeit gleichzusetzen.233 Nehmen wir nun an – als eine reine Arbeitshypothese, dass die offene Textur (d. h. die Potentialität der Unbestimmtheit) erstens auf die Noetik und somit auch auf die Unmöglichkeit, die Welt a priori gedanklich in ihrer Komplexität (in ihrer statischen und dynamischen, d. h. in ihrer Entwicklungskomplexität) zu erfassen, zurückzuführen ist, zweitens auf die Erfordernis der Kommunikation (d. h. die Notwendigkeit als Kommunikationsmittel die natürliche Sprache bzw. deren Modifikationen zu verwenden, für die eine gewisse semantische sowie auch syntaktische Ungenauigkeit 230
R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs. Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1995, S. 84 – 89. 231 H.L.A. Hart. Concept of Law (dt. Übersetzung: Der Begriff des Rechts, Frankfurt a.M. 1973, S. 178). 232 F. Waissmann, Verifiability. Proceedings of the Aristotelian Society, suppl. vol. 19 (1945), S. 119 – 150. 233 Näheres zu Waismanns Konzeption der offenen Textur siehe B. Bix, Law, Language and Legal Determinacy, New York 1993, S. 7 ff.; S. Dönning, Die Vagheit der Sprache, Wiesbaden 2005, S. 78 ff.
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kennzeichnend ist), drittens auf die Allgemeinheit der Rechtsregulierung als ein wesentliches Merkmal des Rechts (und die damit verbundene Unbestimmtheit beim Überwinden des Bogens zwischen der allgemeinen normativen Regelung und den konkreten Parametern eines Rechtsfalls, auf den diese Regelung angewendet wird), und schließlich auf den Unterschied zwischen der Struktur der Rechtsvorschrift und der Struktur der Rechtsnorm, den man nur mit der auf Vorverständnis gestützten Gedankenaktivität des Interpreten überwinden kann. Abschließend ist anzumerken, dass Hart selbst zu den Gründen für eine offene Struktur den noetischen und den sprachlichen Grund sowie die Allgemeinheit des Rechts zählt.234 Bis zu diesem Punkt können wir davon ausgehen, dass diese analytischen Überlegungen im Grunde genommen denselben Gegenstand betreffen, den zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch Savigny im Sinne hatte. Die traditionelle Rechtsmethodologie, ausgehend vom Paradigma Savignys, unterscheidet bei der Anwendung des Rechts zwischen der Kategorie der Rechtsinterpretation und der Kategorie der Rechtsfortbildung. Die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien bildet der Wortlaut des Gesetzes (der Rechtsvorschrift) bzw. dessen Wortsinn.235 Im Wissen über die Tatsache, dass in der Gegenwart die Lehre und die Praxis beim geschriebenen Recht die richterliche Rechtsfortbildung akzeptieren,236 versteht Matthias Klatt diese Grenze als „semantische Grenze“.237 Die Rechtsfortbildung wird regelmäßig mit dem Ausfüllen der echten (technischen) Rechtslücken und mit der Ableitung der in der Rechtsordnung implizit beinhalteten Normen aus den hier explizit verankerten Normen in Verbindung gebracht (diese Ableitung wird als Auslegung largo sensu bezeichnet, im Unterschied zu stricto sensu, die eine Auslegung der explizit zum Ausdruck gebrachten Merkmale darstellt).238 Im kleineren Maße (aus der Sicht der Akzeptanz vonseiten der Theorie
234
H.L.A. Hart. Concept of Law (Fn. 231), S. 173 ff. Siehe M. Klatt, Die Wortlautgrenze, in: K. D. Lerch (Hrsg.), Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, Berlin 2005, S. 343 – 344, und die an dieser Stelle zitierte rechtstheoretische Literatur. 236 Dies gilt auch für die konservativ orientierten Theoretiker – siehe E. Forsthoff: „Indem wir anerkennen, daß der Richter zu einer schöpferischen, daß heißt das Rechts fortführenden Rechtssprechung befähigt und befugt ist – was heute eines Beweises nicht mehr bedürftig sein sollte –, schließen wir die Deutung der Rechtsfindung als bloße Gesetzesvollziehung aus“, mit der Folge, dass es einen logischen Raum richterlicher Erwägung gibt, welcher nicht gesetzesbestimmt ist. Die Bedeutung der Präjudizien, das Verfahren beim Schweigen des Gesetzes oder bei einem inneren Widerspruch der Gesetze, … die Anwendung analogischer Schlüsse im bürgerlichen wie im Strafrecht, die Auswägung der Gerechtigkeits- und Billigkeitsgesichtspunkte – alles das sind Probleme der Hermeneutik,“ wobei „deren Lösung vielmehr von der Gestalt des Richters in hohem Maße abhängig ist“ (E. Forsthoff, Recht und Sprache [Fn. 207], S. 29). 237 M. Klatt, Die Wortlautgrenze (Fn. 235), S. 345 ff. 238 Zur Unterscheidung der Auslegung stricto und largo sensu siehe Z. Ziembin´ski, Problemy podstawowe prawoznawstwa, Warszawa 1980, S. 275 – 276; J. Wróblewski, Legal 235
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und Praxis, als auch der Akzeptanz deren Zulässigkeit für die einzelnen Rechtsbereiche) zählt zu der Rechtsfortbildung auch das Ausfüllen der unechten Rechtslücken sowie die Rechtsprechung contra legem im Falle einer extremen Spannung zwischen der Intention und der Gesetzesdiktion. Mit anderen Worten gesagt – wenn ein Teil der Rechtsnorm nicht in einer Rechtsvorschrift (in Rechtsvorschriften) ausdrücklich beinhaltet ist, handelt es sich entweder um eine unvollständige Rechtsregulierung (d. h. um eine echte oder unechte Rechtslücke), oder um eine Rechtsnorm, die in der Rechtsordnung implizit beinhaltet ist, so dass deren Inhalt aus den hier explizit benannten Normen logisch abzuleiten ist (z. B. aus der explizit benannten Pflicht eines Schuldners seiner Verpflichtung nachzukommen kann der Anspruch des Gläubigers abgeleitet werden, ein solches Verhalten des Schuldners zu erwarten und einzufordern). Zu den wichtigsten Instrumenten „der Ausfüllung“ der Rechtslücken gehört bereits traditionell die Argumentation mittels Analogie, ferner der Gegenschluss (argumentum a contrario), die teleologische Reduktion, argumentum a minori ad maius, argumentum a maiori ad minus, die systematische Auslegung und die Argumentation aus der Natur der Sache. Die Ableitung der impliziten Normen aus den explizit benannten, d. h. die Interpretation largu sensu, bedeutet also eigentlich das Einsetzen der Werte aus den deontisch wirklichen Welten in das logische System, von dem Urteile beschrieben werden, die in Bezug auf die deontisch ideale Welt realisiert werden. Die Folgen (die Schlüsse) des Einsetzens der Behauptungen über die Normen der deontisch wirklichen Welt in das logische System der Behauptungen über Normen der deontisch idealen Welt werden dann rückwirkend aus der deontisch idealen in die deontisch wirkliche Welt übertragen. Die Interpretation largo sensu ist somit durch das Vorverständnis – genauer gesagt durch das rechtsdogmatische Vorverständnis – gegeben. Die Ausfüllung der Rechtslücken, in diesem Fall der unechten, sei an folgendem Beispiel illustriert zu sein: Mit dem Gesetz Nr. 243/1992 GBl. wurden Restitutionsansprüche von Personen deutscher Nationalität begründet, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft eingebüßt hatten und denen im Anschluss daran ihr Eigentum nach und nach konfisziert wurde. Die Bedingung für das Geltendmachen der Restitutionsansprüche war das erneute Erlangen der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft sowie die Tatsache, dass sich diese Personen während der Okkupation nichts haben zuschulden kommen lassen in Bezug auf den tschechoslowakischen Staat. In der Gerichtspraxis gab es jedoch auch Fälle der Geltendmachung von Restitutionsansprüchen seitens Personen deutscher Nationalität, die ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft nie eingebüßt haben. Die allgemeinen Gerichte – dem Argument a contrario folgend – haben dann solche Ansprüche mit Hinweis auf den Wortlaut dieses Gesetzes abgewiesen.
Reasoning in Legal Interpretation, in: J. Wróblewski, Meaning and Truth in Judicial Decision, 2. ed., Helsinki 1983, S. 72 ff.; R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (Fn. 230), S. 72 ff.
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In den Rechtssachen unter den Aktenzeichen II. ÚS 22/94, III. ÚS 39/95 und Pl. ÚS 48/95 hat das Verfassungsgericht jedoch eine gegensätzliche Meinung geäußert, indem es diese Ansprüche anerkannte und für seine Schlussfolgerung folgende Argumentation verwendete: „Wenn laut Gesetz Nr. 243/1992 GBl. das Vermögen an Personen zurückgegeben wird, die dieses anhand des Dekrets verloren und ihre Staatsbürgerschaft einbüßten, die ihnen später wieder zuerkannt wurde, muss es denjenigen um so mehr zurückgegeben werden, denen die Staatsbürgerschaft erst gar nicht erneut zuerkannt werden musste, da sie diese aufgrund ihres bestimmten Verhaltens nicht verloren haben.“ Eine andere Auslegung hat das Verfassungsgericht als „diskriminierend“ und „im Widerspruch zum Zweck des Gesetzes Nr. 243/1992 GBl.“ bezeichnet. Die oberste (nicht explizit zum Ausdruck gebrachte) Prämisse dieser Schlussfolgerung des Verfassungsgerichtes stellt die These dar, wonach dem Ausfüllen der Rechtslücke mittels Verfahrens der teleologisch begründeten Analogie Vorzug vor dem allgemeinen negativen Satz gegeben werden muss;239 anders gesagt – das Argument a fortiori (im gegebenen Fall als Argument a minori ad maius) muss dem Argument a contrario bevorzugt werden. Diese These zugrunde legend (die jedoch – wie bereits erwähnt – nicht explizit zum Ausdruck gebracht wurde), hat das Verfassungsgericht in dieser Rechtssache festgestellt, dass in der Situation, als mit dem Gesetz die Restitutionsansprüche nach dem Wiedererlangen der Staatsbürgerschaft begründet wurden, diese umso mehr in Fällen existieren müssen (trotz der Gesetzeslücke), in welchen Personen deutscher Staatsbürgerschaft aufgrund ihrer Treue zum tschechoslowakischen Staat und ihrer antifaschistischen Widerstandsaktivitäten ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft nie eingebüßt haben. Mit anderen Worten – das Verfassungsgericht demonstrierte, dass die für diesen Fall formulierte Begründung analogie legis die Bedingung der Subsumption unter die explizit nicht zum Ausdruck gebrachte Allgemeinregel erfüllt, wonach die teleologisch begründete Analogie dem allgemeinen Negativsatz zu bevorzugen ist. Als Beispiel der Rechtsfortbildung mittels Auslegung contra legem lässt sich der Fall der Entschädigung der Opfer des Naziterrors heranziehen. Mit dem Gesetz Nr. 217/1994 GBl. wurde das Ausbezahlen eines einmaligen finanziellen Betrags an bestimmte Opfer der nazistischen Persekution eingeführt, wobei die Kategorie der berechtigten Personen mit dem Hinweis auf den Begriff des tschechoslowakischen politischen Häftlings nach Sondergesetz festgelegt wurde. Nach dieser Rechtsregelung unterliegt dieser Begriff der Definition (auf die das Gesetz Nr. 217/1994 GBl. auch verweist), wonach es sich um Personen handelt, welche zwischen dem 15. März 1939 und dem 4. Mai 1945 hingerichtet wurden oder 239 Der Begriff „des allgemeinen Negativsatzes“ ist mit der Reinen Rechtslehre verbunden. Nach diesem Satz existieren keine Berechtigungen (Ansprüche) und keine Pflichten, solange sie nicht mit dem positiven Recht begründet werden können. In solchen Fällen ist der Richter verpflichtet, den Anspruch, welcher nicht mit dem positiven Recht begründbar ist, abzulehnen.
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„in Untersuchungshaft, in Haft, in Gefängnissen, Konzentrations- oder Internierungslagern“ gestorben sind oder welche „im Zusammenhang mit ihrer Verhaftung“ gewaltsam getötet wurden. Im Rechtsfall, geführt unter dem Aktenzeichen Pl. ÚS 23/ 96, hat sich das Verfassungsgericht mit dem Anspruch einer verbliebenen Ehefrau befasst, deren Ehemann anhand vorliegender Dokumente am 8. Mai 1945 entweder im Konzentrationslager Flossenbürg, oder (eher) in Folge der Evakuation (Todesmarsch) in der Gemeinde Eggenfelden gestorben ist, wo er auch im Verstorbenenregister aufgeführt ist. Das Verfassungsgericht hat diesen Anspruch anerkannt, obwohl es sich um einen gewaltsamen Tod im Zuge der nazistischen Persekution nach dem 4. Mai 1945 handelte. Dabei hat es sich folgender Argumentation bedient: „Das Verfassungsgericht vertritt die Ansicht, dass das Datum 4. Mai 1945 nicht auf die Bestimmungen eines völlig anderen Gesetzes bezogen werden kann, nämlich des Gesetzes über das Leisten eines einmaligen finanziellen Betrages an Opfer der nazistischen Persekution. Während mit dem Gesetz Nr. 255/1946 GBl. festgelegt wird, wer als betroffener Bürger gilt, befasst sich das Gesetz Nr. 217/1994 GBl. mit den Bedingungen, unter welchen Ansprüche von Witwen und Witwern nach diesen politischen Häftlingen begründet werden: der Anspruch gilt als begründet, wenn die betroffenen Bürger hingerichtet wurden oder ,in Untersuchungshaft, in Gefängnissen, in Konzentrations- und Internierungslagern’ gestorben sind oder wenn sie ,im Zuge der Verhaftung’ gewaltsam getötet wurden. Der Gedanke, wonach der betroffene Bürger seinen Status aufgrund des Fortdauerns der Gefangenschaft über das Datum 4. Mai 1945 hinaus verliert, ist absurd und dem Sinn des Gesetzes widersprechend. So kann man auch für die Auslegung des Begriffes des Konzentrationslagers nach Gesetz Nr. 217/1994 GBl. nicht den Zeitraum gem. Gesetz Nr. 255/ 1946 GBl. zu einem anderen Zweck und in einem anderen Zusammenhang verwenden. Wenn nämlich das Gesetz weder den Begriff des Konzentrationslagers noch den Zeitraum für die Existenz solcher Lager festlegt, gibt es auch keine gesetzliche Grundlage für die Interpretation, wonach ein solches Lager nach dem 5. Mai 1945 nicht mehr existieren konnte und somit die Freiheit des Gefangenen nach diesem Tag nicht mehr eingeschränkt wurde. Daher ist es zu überlegen, ob man als Zeitraum für die Existenz eines Konzentrationslagers nicht den Zeitraum wählt, in dem die Häftlinge das Lager nicht frei verlassen konnten – und dies muss individuell anhand konkreter Umstände von Fall zu Fall entschieden werden.“ Zur obersten (nicht explizit zum Ausdruck gebrachten) Prämisse in der Schlussfolgerung des Gerichtes wird die These, wonach im Falle mehrerer Interpretationsalternativen anhand der Auslegung per reductionem ad absurdum (teleologische Reduktion) diejenige(n) auszuschließen ist (sind), welche aus der Sicht des Sinnes und Zweckes der einschlägigen Norm inakzeptable Folgen mit sich bringen würde(n), wobei die teleologische Reduktion den entscheidenden Gesichtspunkt bei der Wahl zwischen der extensiven und der restriktiven Auslegung darstellt. Zur nachgeordneten Prämisse in der Schlussfolgerung des Verfassungsgerichtes wird dann die Feststellung, dass sich der Ehemann der Klägerin zum Zeitpunkt seines Todes in den Händen einer fremder Macht befand (indem es zur Kapitulation
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Deutschlands erst am 8. Mai 1945 kam), oder zumindest in einem Lager, das von den sich zurückziehenden nazistischen Einheiten gerade erst verlassen wurde oder vielleicht auch bereits verlassen war. Hinzu kommt die Feststellung, dass es hinsichtlich des Datums 8. Mai nicht entscheidend sei, ob er sich im Konzentrationslager oder im Gefangenentransport befand. Diese Feststellungen hat das Gericht der obersten (nicht ausgesprochenen) Prämisse untergeordnet und aus dieser Subsumption die Existenz des Anspruches auf die einmalige finanzielle Leistung für die Witwe als Opfer der nazistischen Persekution nach dem Gesetz Nr. 217/1994 GBl. abgeleitet. Die auf diese Weise erklärte methodologische Begriffsstruktur der Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung widerspiegelt die Savigny-Kelsen-Hartsche Auffassung des Gegenstandes (Auffassung der Offenheit der Rechtstextur). Die Frage lautet jedoch, inwiefern wir vielleicht heute mit anderen Parametern der Offenheit dieser Textur konfrontiert werden, und falls das der Fall ist, wie man die methodologische Reaktion auf diese Unterschiedlichkeit beschreiben könnte. Noch im Jahr 1937 vertritt F. Weyr im europäischen „Streit“ um die unmittelbare Verbindlichkeit der einzelnen Verfassungsbestimmungen zwischen der deutschen und der französischen Theorie des Verfassungsrechts die Meinung, dass man „aus juristischer Sicht … jedenfalls den deutschen Theorien Vorzug gewähren sollte“, welche „die entsprechenden Verfassungsbestimmungen über bürgerliche Rechte und Freiheiten und ihre Garantien vielfach nur als akademische Grundsätze, als ,Monologe des Gesetzgebers‘ betrachten, die in der Praxis keine Verbindlichkeit für Gerichte und Verwaltungsorgane besitzen“.240 Im Zuge der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich folgerichtig die Konzeption der unmittelbaren Verbindlichkeit der verfassungsrechtlichen Regelung der Grundrechte und Grundfreiheiten für die Gerichte und andere Verwaltungsorgane durchgesetzt. Um etwaige Bedenken in dieser Richtung zu beseitigen, wurde im Artikel 1 Abs. 3 des Grundgesetzes der BRD folgendes verankert: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Ferner hat das Grundgesetz das Organ des Bundesverfassungsgerichtes konstituiert, welches mit der Einführung der Verfassungsbeschwerde die Prüfungskompetenz gegenüber der ordentlichen Gerichten erlangte, wodurch der Verfassungskatalog der Grundrechte und -freiheiten zum unmittelbaren und anwendbaren Recht für natürliche und juristische Personen wurde. In der Rechtswelt kommt es dadurch zu einer neuen Erscheinung, nämlich der Spannung zwischen dem Wesen der Verfassung mit ihrer Allgemeinheit und Unvollständigkeit, mit ihren Prinzipien anstelle von Normen, insbesondere im Teil, in dem Grundrechte und -freiheiten verankert sind einerseits,241 und dem Paradigma der F. Weyr, Cˇeskoslovenské ústavní právo (dt.: Das tschechoslowakische Verfassungsrecht), Praha 1937, S. 248. 241 Nach Ernst Wolfgang Böckenförde enthält die Verfassung „neben den vergleichsweise detaillierten Regelungen im Kompetenzbereich und bei einigen Organisationsfragen – im 240
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direkten Anwendbarkeit der Verfassung, die jedoch das Vorhandensein einer anwendbaren Norm voraussetzt auf der anderen Seite. Mit anderen Worten gesagt: diese Spannung besteht zwischen der inhaltlichen Nichtanwendbarkeit der Verfassung ohne ihre weitere Konkretisierung, und dem Paradigma ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit durch das gesamte Gerichtssystem sowie das System der öffentlichen Verwaltung. Dadurch wird eins der wesentlichen Probleme des modernen Rechts um eine „Etage“ nach oben verschoben – nämlich das Problem der Beziehung zwischen dem Prinzip des Verbotes denegationis justitiae und der (aus der Natur der Sache resultierenden) Unvollständigkeit des Rechts, bzw. der Unvollständigkeit des geschriebenen kontinentalen Rechts. Dieses fundamentale Problem, das auf der Ebene des einfachen Rechts vorhanden ist, gelangt dadurch auch auf die Ebene des Verfassungsrechts. In den siebziger Jahren kommt Ronald Dworkin mit einer revolutionären Auffassung der ontologischen Rechtsstruktur, indem er zu den Bausteinen des Rechts neben Normen auch die Prinzipien zuordnet und deren Unterschiede definiert.242 Robert Alexy modifizierte dann Dworkins Theorie zu einer Gestalt, die man mit folgenden Thesen zum Ausdruck bringen könnte:243 ¢ Prinzipien stellen eine Art von Normen dar, für welche die aproximale und nicht die absolute Gültigkeit charakteristisch ist. ¢ Zum Gegenstand der Prinzipien werden nicht nur Grundrechte und -freiheiten, sondern auch kollektive Güter. ¢ Das Wesen eines Prinzips, d. h. die Tatsache, dass eine bestimmte Norm ein Prinzip darstellt, ist lediglich bei dessen Kollision mit einem anderen Prinzip erkennbar und durch seine Eigenschaft gegeben, dass es in verschiedenen Stufen erfüllt werden kann. ¢ Die Kollision der Prinzipien muss mit der Methode des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entschieden werden, d. h. mit dem Gebot zur Erreichung der Optimierung (Optimierungsgebot) beim Maß der Erfüllung beider in Kollision geratener Prinzipien. Innerhalb der Struktur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes spielt dabei der Grundsatz der Abwägung bei der Erreichung der Ergebnisoptimierung die Hauptrolle.
wesentlichen Prinzipien, die erst der Ausfüllung und Konkretisierung bedürfen, um im Sinne einer Rechtsanwendung vollziehbar zu sein; Zielbestimmungen, die nur das – zuweilen in sich nicht eindeutige – Ziel festlegen, aber Wege, Mittel und Intensität der Verwirklichung offen lassen; Lapidarformen, die – oft aus der Verfassungstradition überkommen – für etwas stehen, das in ihrer Wortfassung keinen annähernden Ausdruck findet; Formelkompromisse, die gerade Ausdruck der Nichteinigung sind.“ (E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation [Fn. 206], S. 57 – 58.) 242 R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978 (dt. Übersetzung: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a.M. 1990, S. 119 ff.). 243 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1994, S. 75 ff.
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¢ Aus diesen Tatsachen geht hervor, dass die Prinzipien als Optimierungsgebote definiert werden. Darüber hinaus hat man nach dem Zweiten Weltkrieg damit angefangen, zu weiteren fundamentalen Ordnungsprinzipien der Rechtsordnung (neben der Unwidersprüchlichkeit, der Konsistenz, dem Stufenbau oder der hierarchischen Struktur usw.) auch das Prinzip der Ausstrahlungswirkung der Grundprinzipien auf die Rechtsordnung zu zählen, das zum ersten Mal durch das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland im berühmten Lüth-Urteil ausgesprochen wurde. Diese Linie verfolgte dann auch das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik und fasste sie vor Kurzem in seinem Urteil unter dem Aktenzeichen III. ÚS 939/10 zusammen.244 Die Offenheit der Textur des Rechts erlangt dadurch eine weitere Dimension: zum Gedanken, rekonstruiert durch die Auslegung des Rechts, wird nicht nur die Norm als solche, sondern auch das Prinzip selbst, im Wissen, dass dessen normativer Druck durch sein Gewicht vorgegeben ist, welches im Falle gegenseitiger Kollision der 244
„Einen der wesentlichen Ansätze des Verfassungsgerichtes bei der Interpretation der Verfassungsordnung stellt die Maxime der verfassungskonformen Interpretation des einfachen Rechtes dar. Zum ersten Mal hat sich das Verfassungsgericht darauf in seinem Urteil unter dem Aktenzeichen Pl. ÚS 48/95 berufen, indem es erklärte, dass in einer Situation, in der eine Regelung der Rechtsvorschrift zwei unterschiedliche Interpretationen zulässt, wobei eine im Einklang mit der Rechtsordnung ist und die andere im Widerspruch zu derselben steht, die Aufgabe der Gerichte bei deren Anwendung darin bestehen muss, diese Regelung auf eine verfassungskonforme Art und Weise zu interpretieren. In einer Situation, in der die Verfassung nicht nur als ein Grundgesetz sondern auch als die Verankerung der Grundwerte einer Gesellschaft betrachtet wird, geht das Gebot der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechtes aus der Stellung der Verfassung innerhalb des Systems der Rechtsquellen, aus der direkten Verbindlichkeit der Verfassung und aus dem Gebot der wertorientierten Auslegung hervor. In diesem Zusammenhang spricht das Verfassungsgericht von der ausstrahlenden Wirkung der Verfassung auf die gesamte Rechtsordnung, bzw. über die Wirkung der Ausstrahlung der Verfassung auf das einfache Recht (Aktenzeichen III. ÚS 129/98, III. ÚS 257/98): Eine der Funktionen der Verfassung – insbesondere ihrer Regelungen in Bezug auf Grundrechte und -freiheiten – besteht in der Ausstrahlung auf die gesamte Rechtsordnung. Der Sinn der Verfassung besteht nicht nur in der Regelung der Grundrechte und -freiheiten und des institutionellen Mechanismus und Prozesses zur Gestaltung legitimer Entscheidungen des Staates (bzw. der Organe der öffentlichen Macht), nicht nur in der direkten Verbindlichkeit der Verfassung und in deren Stellung als der unmittelbaren Rechtsquelle, sondern auch in der Aufgabe der Staatsorgane bzw. der Organe der öffentlichen Macht, das Recht aus der Sicht der Schutzes der Grundrechte und -freiheiten zu interpretieren und anzuwenden. Das Gebot der verfassungskonformen Interpretation des einfachen Rechts wendet das Verfassungsgericht konsequent nicht nur im Verfahren der Normenkontrolle (z. B. Aktenzeichen Pl. ÚS 5/96, Pl. ÚS 19/ 98, Pl. ÚS 15/98, Pl. ÚS 4/99, Pl. ÚS 10/99, Pl. ÚS 17/99 und andere), sondern auch im Zuge des Verfassungsbeschwerdenverfahrens (z. B. Aktenzeichen III. ÚS 86/98, III. ÚS 257/98, III. ÚS 293/98, I. ÚS 282/01, IV. ÚS 143/01, III. ÚS 52/2000 und andere) an. Wenn bei der Beurteilung einer Sache das relevante einfache Recht … zwei alternative Interpretationen zulässt, ist es nach der Maxime der Priorität der verfassungskonformen Interpretation des einfachen Rechtes die Pflicht der ordentlichen Gerichte, sich im Sinne der etablierten und umfangreichen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes für diejenige zu entscheiden, die man für verfassungskonform hält.“
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Grundrechte oder der Grundrechte mit den öffentlichen Gütern anhand der Verhältnismäßigkeitsmethode oder aber – in einer Situation, in welcher alternative Interpretationsmethoden des einfachen Rechts gegenseitig kollidieren – anhand der Methode der Priorität der verfassungskonformen Auslegung – zu bestimmen ist. Das Erweitern der Textur des Rechts um eine weitere Dimension (d. h. eine Änderung bei der Auffassung des Gegenstandes der Interpretation) hat in der Entwicklung der Rechtsmethodologie der vergangenen dreißig Jahre das Konzipieren und das Anwenden neuer Interpretationsmethoden mit sich gebracht: der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Methode der Priorität der verfassungskonformen Auslegung (diese führt beim Normenkontrollverfahren zur Ablehnung des Derogationsantrags, beim Verfassungsbeschwerdeverfahren zum Kassationsentscheid). Der Druck auf das Öffnen der Rechtstextur ist nicht zuletzt auf die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen zurückzuführen, welche sich in der zweiten Hälfte des 20. und zum Anfang des 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa abgespielt haben. Die Gewaltigkeit dieser Veränderungen hat – metaphorisch ausgedrückt – den „tektonischen“ Rahmen für rechtstheoretische Überlegungen geschaffen.245 Die stürmische Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ist mit Kataklysmen von Weltkriegen, Völkermord, Vertreibungen, Revolutionen und dadurch auch mit der Notwendigkeit neuer Anfänge verbunden. Diese Erschütterungen konnten gemeinsam mit anderen Faktoren (z. B. mit dem technologischen Optimismus, den massiven demografischen Verschiebungen u. dgl.) nichts anderes, als den Rückgang der Einflussnahme der Religion, der Moral, der Tradition und der Anständigkeit zur Folge haben. Wenn der Hauptzweck des Rechts die Absicherung des inneren Friedens innerhalb der menschlichen Gesellschaft ist und wenn sich am Erreichen dieses Zieles auch die nichtrechtlichen normativen Systeme beteiligen, wenn wir zudem noch von der – sagen wir– mathematischen Hypothese ausgehen, der zufolge die Absicherung des inneren Friedens durch eine gewisse Normativitätskonstante vorgegeben ist, dann überträgt der Verfall nichtrechtlicher Normativsysteme zwangsläufig die Last der gesellschaftlichen Entscheidungen zur Absicherung des inneren Friedens auf das Recht, was dessen übermäßiges Anwachsen verursacht. Der technologische Optimismus der industriellen Epoche des 20. Jahrhunderts, der eine Fixation des Paradigmas des geschriebenen Rechts als der Technologie der Gewalt, als der Technologie der Steuerung der Gesellschaft zur Folge hat, ferner die stürmische Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, verbunden mit der Notwendigkeit neuer Anfänge (begleitet durch legislative Hyperaktivität), die Intensität technologischer und der daran anknüpfenden gesellschaftlichen Umwälzungen – all dies führte und führt zu einer nie dagewesenen Hypertrophie des geschriebenen 245 Siehe P. Holländer, Verfassungsrechtliche Argumentation (Fn. 67), S. 97 ff., 118 ff.; P. Holländer, Hypertrophie der Gesetzgebung – Entmachtung der Richter?, in: J. Schwarze (Hrsg.), Globalisierung und Entstaatlichung des Rechts. Ergebnisse der 31. Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung vom 20. bis 22. September 2007 in Halle, Teilband 1: Beiträge zum Öffentlichen Recht, Europarecht, Arbeits- und Sozialrecht und Strafrecht, Tübingen 2008, S. 93 ff.
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Rechts. In den postkommunistischen Ländern Mitteleuropas beteiligen sich noch weitere Momente an der Expansion des geschriebenen Rechts: nach 1989 die Notwendigkeit einer radikalen, systembezogenen Veränderung, eine Welle neuer Regelungen, verbunden mit dem Entstehen eines Staats, danach der Assoziierungsprozess und der sich anschließende Beitritt zur EU. All dies geschieht unter dem nachhaltigen legislativen Optimismus, einer naiven Vorstellung, nach der jedes Gesellschaftsproblem durch die Verabschiedung einer Rechtsvorschrift lösbar sei. Die Hypertrophie des geschriebenen Rechts und seine ständigen Veränderungen führen dann zum Verlust der natürlichen Fähigkeit des gesellschaftlichen Umfelds, das Recht anzuwenden, sich seinen Sinn durch Gewohnheit und Gepflogenheiten anzueignen und das Recht durch praktischen Einsatz zu interpretieren. Die Dynamik des Rechts, die keine allmähliche Absorption seines Inhalts, Sinns und Zwecks ermöglicht, führt notwendigerweise zum Druck auf dessen autoritative Interpretation bzw. zu seiner Fortbildung seitens der Gerichte. Der Umfang und die Intensität der autoritativen Rechtsinterpretation ist dann auch mit den theoretischen und empirischen Auswirkungen der Idee des Rechtsstaates eng verbunden, die zwangsläufig u. a. auch zur Stärkung des Wirkungsbereiches der gerichtlichen Gewalt sowohl gegenüber der gesetzgeberischen Gewalt (Durchsetzung des Institutes der Verfassungsgerichtsbarkeit), als auch der exekutiven Gewalt (insbesondere gegenüber der Staatsverwaltung) führte. Weiter, Globalisierung bedeutet nicht nur Druck auf das Anwachsen des Rechtsstoffs, sondern auch Druck auf die Struktur des Rechts und auf die Rechtssprache. Was die Struktur betrifft, sind die neuen Gegenstände der Rechtsregulierung (z. B. in Tschechien das Gesetz über elektronische Kommunikation) und weiter eine Tendenz zur kasuistischen Rechtsregelung (z. B. beinhaltet das neue Strafgesetzbuch im Verhältnis zum alten ca. 100 neue Straftaten) zu erwähnen. Was die Rechtssprache betrifft, ist eine Tendenz zur Dekonstruktion der Rechtsdogmatik zu beobachten (z. B. strafrechtliche Verantwortung juristischer Personen oder Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht im Sinne der gedeckten Kassation nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte). Die Auswirkungen dieser Erscheinungen könnte man als die Dekonstruktion des Rechts bezeichnen. Ich denke, dass der Begriff der Dekonstruktion zwei Komponenten innehat: die inhaltliche und die strukturelle. Die erste resultiert aus der Fragmentation,246 d. h. aus dem Verlust der Fähigkeit, den Zweck des Rechts zu 246 Der tschechische Philosoph Václav Beˇlohradsky´ hat in seinem Interview für das Tschechische Fernsehen am 27. 9. 2010 in diesem Zusammenhang festgestellt: „Wir leben unter der Tyrannei der Fragmente, die Beschreibung des Systems als Gesamtheit muss aufgegeben werden.“ (Siehe J. Guth, Beˇlohradsky´ v CˇT: Liberalismus je levicovy´, samozrˇejmeˇ [dt.: Beˇlohradsky´ im Tschechischen Fernsehen: Liberalismus ist linksorientiert, selbstverständlich], Tageszeitung Referendum, 28. 9. 2010, http://www.denikreferendum.cz/clanek/6270-beloh radsky-v-ct-liberalismus-je-levicovy-samozrejme.)
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formulieren und zu interpretieren. Die zweite Komponente rührt aus dem Verlassen bzw. aus der Relativierung der traditionellen Ordnungsprinzipien des Rechts (nehmen wir an, dass zu diesen Prinzipien insbesondere die Widerspruchlosigkeit und die inhaltliche Konsistenz, der Stufenbau der Rechtsordnung, die relative Stabilität des Rechtssystems und dessen Sprache sowie die relative Stabilität des Rechts gehören). Die Dekonstruktion des Rechts, deren Bestandteil auch die Dynamik der Normbildung ist, die das Anwachsen des Rechtsvolumens sowie die steigende Anzahl der Änderungen im Recht mit sich bringt,247 kommt insbesondere in folgenden Phänomenen zum Vorschein: ¢ Die steigende Anzahl der Gesetzesnovellen ist regelmäßig mit dem Fehlen der Übergangsbestimmungen und somit auch mit der Notwendigkeit eng verbunden, seitens der Gerichte auf die Unbestimmtheit der normativen Prämissen zu reagieren. In einer Situation, in der der Gesetzgeber sowohl zu der Frage nach dem Fortbestehen des Anspruches nach der vorhergehenden Regelung, als auch zu der Frage nach der Anwendbarkeit der neuen Regelung schweigt, muss nach Meinung des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik eine solche Auslegung gewählt werden, welche „den Sinn und das Wesen des Grundrechtes bewahrt, im gegebenen Fall des Rechtes auf die legitime Erwartung. Eine andere Anwendung oder Interpretation würde das Verletzen des Artikels 4 Abs. 4 der Charta (wonach keine Beschränkung der Grundrechte und -freiheiten ihr Wesen beseitigen kann) bedeuten“, und wäre daher „in der Folge rückwirkend“.248 ¢ Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik kam in der Frage der Zulässigkeit der Überprüfung von Verwaltungsentscheiden in Sachen, die mit verwaltungsrechtlichem Ermessen verbunden sind,249 zu dem Entscheid unter dem Aktenzeichen III. ÚS 2556/07, wonach das Ministerium im Verfahren zum Steuererlass wegen Unstimmigkeiten in der Anwendung der Steuergesetze zwecks Milderung der Härte des Gesetzes, die Steuer gänzlich oder zum Teil erlassen kann; d. h. in der Gesetzesregelung ist der Steuererlass ggf. der Erlass des Steuerzubehörs als Kombination des unbestimmten Rechtsbegriffes und des Ermessens verankert. Dabei kann man den unbestimmten Rechtsbegriff – hier geht es um Gründe der „Unstimmigkeiten bei der Anwendung der Steuergesetze“ und „Milderung der Härte des Gesetzes“ – inhaltlich nicht ausreichend abgrenzen. Somit hängt dessen Anwendung von der Abwägung und Bewertung in jedem Einzelfall ab. Der Steuererlass bei „Unstimmigkeiten bei der Anwendung 247 Zur quantitativen Analyse dieser Erscheinung siehe F. Cvrcˇek, Základní kvantitativní parametry cˇeského právního rˇádu (dt.: Wesentliche quantitative Parameter in der tschechischen Rechtsordnung), Právník, Nr. 4, 2006, S. 434 – 450. 248 Siehe Urteile des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik, Aktenzeichen II. ÚS 444/03, II. ÚS 37/04, I. ÚS 287/04, I. ÚS 344/04, IV. ÚS 178/04, III. ÚS 556/06. 249 Siehe Beschlüsse unter dem Aktenzeichen IV. ÚS 226/09, IV. ÚS 2323/07, III. ÚS 103/ 06, IV. ÚS 1136/08, I. ÚS 398/09, IV. ÚS 2323/07, III. ÚS 963/09.
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der Steuergesetze“ stellt jedoch nichts anderes dar als die Akzeptanz der Rechtsdekonstruktion von Seiten des Gesetzgebers, die Akzeptanz der Tatsache, dass die Anwendung der Steuergesetze in konkreten Fällen Effekte hervorrufen kann, die vom Gesetzesgeber nicht beabsichtigt waren. ¢ Aus der inhaltlichen Sicht, in Bezug auf den Typus der verwendeten Normen, ist bei der Entwicklung der Rechtsordnung in den vergangenen zwanzig Jahren allgemein ein bedeutendes Anwachsen der Regulierung mit Hilfe kasuistischer Rechtsnormen zu verzeichnen. In der Tschechischen Republik kann dieser Trend am neuen Strafkodex, an der neuen Verwaltungsordnung, am neuen Bürgerlichen Gesetzbuch oder am neuen Arbeitsgesetzbuch, an fast jeder Novelle der Zivilprozessordnung oder der Strafprozessordnung usw. illustriert werden. Diese Tendenz trägt einen genetischen Virus inne – den Virus der Unvollständigkeit, verursacht durch die eingeschränkte Möglichkeit der detaillierten Welterkennung, und zudem auch die Unfähigkeit der so konzipierten Gesetze die gesellschaftliche Entwicklung zu absorbieren. Die Rechtsordnung mit der Prävalenz kasuistischer Normen schließt die Textur des Rechts nicht, vielmehr öffnet sie diese noch mehr. Stellvertretend für die zahlreichen Kritiker dieser Tendenz, die nicht nur für die Tschechische Republik kennzeichnend ist, kann man Hans Schneider zitieren: „Je mehr das Gesetz zu einem Mittel der Steuerung von sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen eingesetzt wird, um so mehr verdrängt kurzfristige Zweckhaftigkeit die Suche nach dauerhafter Gerechtigkeit. Die in der raschen und häufigen Veränderung sichtbare Kurzlebigkeit der Vorschriften gibt der ganzen Gesetzgebung einen unsteten Zug. … Der Perfektionsdrang – jetzt durch das rechtsstaatliche Bestimmheitsgebot von Verfassungs wegen befördert – verleitet den Gesetzgeber häufig dazu, mehr zu sagen als notwendig ist. Das führt zu ellenlangen Paragraphen … und vielen Absätzen …, deren Lektüre jeden Leser verschreckt. Offenbar schätzt der moderne Gesetzgeber die Fähigkeit der Richter und Verwaltungsbeamten, aus einem knappen Text sich selbst die Folgerungen zu ziehen, gering ein. Bei straff gefaßten Texten fühlt sich der Interpret zu geistiger Anstrengung aufgerufen, bei breit angelegten verkümmert die Interpretationskunst. Freilich handhaben in weiten Bereichen nicht mehr Juristen sondern Rechtspfleger und Inspektoren die Gesetze.“250 ¢ Die vergangenen zehn Jahre brachten auch die Veränderung der Gesichtspunkte bei der Formgebung des Rechtssystems mit sich – es erscheint das Verbraucherschutzrecht, das Medizinrecht usw., zudem kommt es in verschiedenen Bereichen zu komplexen Regelungen, welche verschiedene Elemente des öffentlichen und des privaten Rechts beinhalten. Die Folge dieser Entwicklung ist die Unsicherheit bei der Lösung des Widerspruchs zwischen den Rechtsnormen im Zuge der Anwendung der Interpretationsregel lex specialis derogat legi generali, die Unsicherheit bei der Entscheidung, welches von den in den Widerspruch geratenen Gesetzen specialis und welches generalis ist. Am Rande dieses 250
H. Schneider, Gesetzgebung, 2. Aufl., Heidelberg 1991, S. 252, 256.
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Phänomens stellte das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik in seinem Urteil unter dem Aktenzeichen III. ÚS 648/04 fest: „… zum Grundsatz der Priorität der speziellen vor der allgemeinen Rechtsregelung äußerte sich das Verfassungsgericht in einer ganzen Reihe seiner Urteile (siehe z. B. die Urteile unter dem Aktenzeichen Pl. ÚS 41/02, III. ÚS 132/04, II. ÚS 133/04), indem es in diesem Zusammenhang auch die relevanten doktrinalen Standpunkte reflektierte: ,Entsteht ein Konflikt zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Regel, so nimmt man an, daß der Gesetzgeber durch ein besonderes Gesetz von der allgemeineren Regel abweichen wollte.‘251 Bei einem Konflikt zweier Regelungen des einfachen Rechts mit gleicher Rechtskraft, die sich nota bene nicht im Inklusions- sondern im Überdeckungsverhältnis befinden, ist die Bestimmung, welche davon die allgemeine und welche die spezielle Regelung ist, durch den Gegenstand des Verfahrens vorgegeben (und dieser ist wiederum durch den Prozessantrag festgelegt). Als allgemeine Regelung gilt dann diejenige, welche aus der Sicht des einfachen Rechts prima facie den durch den Antrag festgelegten Verfahrensgegenstand reguliert.“ Bietet die Rechtsordnung prima facie keine Anhaltspunkte zur Bestimmung von legi speciali und legi generali, bleibt nichts anderes übrig, als erneut den Grund für die Unbestimmtheit normativer Prämissen bei der Rechtsanwendung und somit auch den Grund für die weitere Öffnung der Rechtstextur festzustellen. ¢ Laut dem slowakischen Rechtstheoretiker Sˇtefan Luby gehören zu den Erfordernissen der Rechtsterminologie die sprachliche und die fachliche Richtigkeit, die Eindeutigkeit, Präzision und Klarheit, sowie das Etablieren des Rechtsbegriffes.252 Bei all diesen Erfordernissen kann man jedoch lediglich über das Maß, über das „sich nähern“ oder „sich entfernen“ vom Ideal sprechen. So gerät die Kategorie des Etablierens eines Rechtsbegriffes in ein Spannungsverhältnis mit der Entwicklung des Gegenstandes der Regelung, mit der Entwicklung der natürlichen Sprache oder der Rechtsterminologie, und somit auch mit der Forderung nach der Einführung von Neologismen. Dabei existieren in der praktischen Anwendung Grenzen bei der Fähigkeit, die sprachlichen Veränderungen zu absorbieren, die häufig noch durch die sprachliche Ungenauigkeit der Vorschriften verstärkt werden, die aus den ungenauen Übersetzungen ausländischer Vorlagen resultieren usw. Dabei fehlt oft die Zeit für die entsprechende Entwicklung und Ausarbeitung der Rechtsprechung, für die doktrinale Reflexion, denn das Leben des Rechts wird bereits mit der nächsten Novellisierung oder einer weiteren Kodifizierung konfrontiert. Die sprachliche Analyse des neuen tschechischen Bürgerlichen Gesetzbuches von F. Cvrcˇek illustriert diesen Trend und zeigt die Methodik der sprachlichen Analyse der Rechtsvorschriften aus der Sicht der 251
Ch. Perelman, Logique Juridique, Paris 1976 (dt. Übersetzung: Juristische Logik als Argumentationslehre, Freiburg/München 1979, S. 65). 252 ˇ S. Luby, Teoretické otázky právnej terminológie v normotvornom procese (dt.: Theoretische Fragen in Gesetzgebungsverfahren), Právník, N. 8, 1974, S. 728.
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eingeführten sprachlichen Veränderungen unter Anwendung der EDV.253 Man kann nur feststellen, dass – wie schon Cvrcˇek sagt – 63 % bis 90 % der Abwandlungen der Rechtssprache innerhalb einer Kodifikation 254 (abhängig von der Struktur der Rechtstermini, bei denen sich folgende Struktur unterscheidet: Adjektiv – Substantiv, Adjektiv – Adjektiv – Substantiv und Substantiv – Adjektiv – Substantiv) die radikale Öffnung der Rechtstextur zur Folge haben. ¢ Im europäischen Rechtsraum werden in den letzten Jahren zwei Begriffe intensiv diskutiert: zum einen die Pluralität der Rechtsordnungen, zum anderen das judizielle „Bermuda-Dreieck“. Armin von Bogdandy stellt die Frage, inwiefern sich vielleicht die Kelsensche Vorstellung des pyramidalen Aufbaus der Rechtsordnung 255 in Europa bereits überlebt hat.256 Darüber hinaus weist eine ganze Reihe von Autoren auf die tatsächlichen und die potentiellen Tensionen zwischen drei Gerichten bzw. drei Gruppen von Gerichten hin, welche in Europa für sich das Recht beanspruchen, mit definitiver Wirkung zu entscheiden (und dies im vollen Umfang oder zumindest im Teil der zu entscheidenden Materie): Die Verfassungsgerichte, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof.257 Wenn nun die aufgeführten Standpunkte die reelle Wirklichkeit widerspiegeln, ist das wesentliche theoretische Problem, das so etabliert wird, das Sicherstellen der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung (der Rechtsordnungen) in einer Situation, wenn diesen Anspruch nicht die Hierarchie der Rechtsnormen erfüllt. An dieser Stelle möchte ich an die These Weinbergers erinnern, nach der das Postulat der Widerspruchslosigkeit stärker ist als das Postulat der Hierarchie der Rechtsnormen.258 Wenn wir nun von den 253 F. Cvrcˇek, Návrh nového obcˇanského zákoníku – z hlediska jazykového a legislativneˇ technického (dt.: Entwurf des neuen Zivilgesetzbuches – aus sprachlichem und legislativtechnischem Blickwinkel), Soudce, Nr. 4, 2011, S. 7 – 12. 254 Ibidem S. 10. 255 Zum Stufenbau der Rechtsordnung siehe A. Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: A. Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre. Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstage gewidmet, Wien 1931, S. 252 – 294. 256 A. von Bogdandy, Pluralism, direct effect, and the ultimate say: On the relationship between international and domestic constitutional law. International Journal of Constitutional Law, vol. 6, n. 3 & 4, 2008, S. 457 ff. 257 Siehe S. Oeter, Rechtssprechungskonkurenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, in: Bundesstaat und Europäische Union – zwischen Konflikt und Kooperation. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Berlin 2007, S. 362. 258 Diese These formulierte O. Weinberger in seinem Beitrag „Neuer Institutionalismus als Grundlage der Rechtstheorie und der politischen Theorie“, den er am 9. April 1999 an der Rechtsfakultät der Karlsuniversität in Prag vortrug. Sein Prinzip der Priorität des Postulats der Widerspruchslosigkeit vor der Hierarchie eines Normensystems führt zur notwendigen Akzeptanz auch anderer Rechtsquellen als des geschriebenen Rechts, insbesondere des richterlichen Rechts und des Gewohnheitsrechts. Dabei stellt sich die Frage nach der Legitimität einer solchen Erweiterung des Systems von Rechtsquellen. Dazu kann auf ein geschichtliches
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allgemeinen Überlegungen zur Notwendigkeit der Koordination der obersten Gerichtsinstanzen bzw. zur Notwendigkeit derer Zurückhaltung absehen, wird in der Position des reellen Mechanismus zur Sicherstellung der Widerspruchslosigkeit der normativen Rechtsordnung zum einen die Übereinstimmung der Werte und der wesentlichen Prinzipien europäischer Kultur und europäischer Anordnung, zum anderen die Anwendungspriorität des europäischen Rechts gegenüber dem innerstaatlichen Recht gesichtet.259 Leider bestätigt die Praxis nicht immer diesen Optimismus, was am Beispiel des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes der BRD in der Causa Görgülü vom 14. Oktober 2004 (BVerfGE, 111, 307) deutlich wird. Das komplizierte Model der Koexistenz von drei Rechtsordnungen – der innerstaatlichen, der europäischen und schließlich der internationalen – kann als ein weiterer Moment zur Öffnung der Rechtstextur betrachtet werden. Kann man aus diesen Feststellungen eine solche relevante Abwandlung in Bezug auf den Gegenstand der Rechtsanwendung ableiten, die sich auf die Methodologie auswirken würde (d. h. auf die Interpretation des Rechts und ggf. auch auf eine Rechtsfortbildung)? Laut Ólafur P. Jónsson ist dies nicht der Fall: nach seiner Überzeugung hat weder die Vagheit des Rechts, noch das Anwachsen dieser Vagheit eine spezielle Interpretation des Rechts zur Folge.260 Ich bin der Meinung, dass man gegen die These, welche die Auswirkungen der steigenden Vagheit des Rechts auf die Rechtsmethodologie ablehnt, eine gegensätzliche Hypothese aufstellen kann, nach der die Veränderungen der Ausgestaltung des Gegenstandes der Anwendung das Erfordernis der richterlichen Rechtsfortbildung hervorruft, die auf die Unbestimmtheit der normativen Prämissen zurückzuführen ist. Diese stellt einerseits die Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung, anderseits aber auch die Dekonstruktion derselben dar.
Beispiel zur Lösung der Kollision zwischen analytischer und soziologischer Geltung hingewiesen werden: „Die ungarischen Gesetze berufen sich oft auf das Gewohnheitsrecht, das sie als verbindlich anerkennen […]. Über das Verhältnis des Gewohnheitsrechts zum Gesetz führte Tripartitum an, eine Rechtsgewohnheit könne neues Recht bilden, altes Recht ändern und das Gesetz authentisch erklären […]. Diese Grundsätze haben sich in der ungarischen Rechtsordnung erhalten, und daher ermöglicht das ungarische Recht, daß eine Rechtsgewohnheit die Gesetze ergänzt […], authentisch auslegt […], bzw. daß das Gewohnheitsrecht Gesetze aufhebt.“ (J. Rauscher, O obycˇajovom práve na Slovensku [dt.: Über das Gewohnheitsrecht in der Slowakei] [Fn. 178], S. 162.) 259 Siehe z. B. F. Merli, Rechtssprechungskonkurenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, in: Bundesstaat und Europäische Union – zwischen Konflikt und Kooperation. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Berlin 2007, S. 420 – 422. 260 Ó.P. Jónsson, Vagueness, Interpretation and the Law, Legal Theory, 15 (2009), S. 193 – 214.
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Die Konstitutionalisierung 261 und die Dekonstruktion der Rechtsordnung,262 diese neuen Momente, welche die Textur des Rechts öffnen – wir wollen hier diese Hypothese in dem Wissen über die ernsthaften Folgen aufstellen, die sie für die Gewaltenteilung hat, sowie auch mit dem Wissen über den Unterschied bei der axiologischen Bewertung dieser Erscheinungen – bilden somit ein neues Segment der Rechtssetzung, wie bereits gesagt, die richterliche Rechtsfortbildung, welche aus der Unbestimmtheit der normativen Prämissen herrührt. Zum empirischen Indikator wird schließlich das sog. „Overruling“263 und dessen Häufigkeit.264 Die Verhältnismäßigkeitsmethode und die Methode der Priorität der verfassungskonformen Interpretation gehören zur Methodologie, die das Öffnen der Textur des Rechts als 261
Zum Begrif der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung siehe M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ, 1, 2012, S. 6. 262 Zum Begriff der Dekonstruktion im Rechtsdenken siehe A. Somek, Haben Sie heute schon dekonstruiert? Zur Bedeutung der Dekonstruktion in der neueren amerikanischen Rechtstheorie, Rechtstheorie 27, 1995, S. 201 – 222; G. Teubner, Des Königs vieler Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts. Soziale Systeme, Zeitschrift für soziologische Theorie, 2 (1996), H. 2, S. 229 – 256. 263 Näheres zu dieser Problematik siehe J. Raz, The Authority of Law (Fn. 9), S. 189 ff.; P. Holländer, Zmeˇna právního názoru v judikaturˇe Ústavního soudu (dt.: Änderung der Rechtsansicht in der Rechtssprechung des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik), in: M. Kokesˇ/I. Pospísˇil (Hrsg.), In dubio pro libertate. Úvahy nad ústavními hodnotami a právem. Pocta Elisˇce Wagnerové u prˇílezˇitosti zˇivotního jubilea (dt.: Überlegungen zu Verfassungswerten und zum Recht. Festschrift für Elisˇka Wagnerová), Brno 2009, S. 89 – 98. 264 Siehe Urteile des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik, Aktenzeichen Pl. ÚS 11/02, III. ÚS 613/06, III. ÚS 117/07, IV. ÚS 2170/08, II. ÚS 635/09. In dem Urteil Aktenzeichen III. ÚS 1275/10 hat das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik entscheidende Gesichtspunkte für die verfassungskonforme Akzeptanz der Änderung der Rechtsansicht in der Rechtssprechung der ordentlichen Gerichte formuliert: „Das intertemporale richterliche Recht (overruling) fordert ähnlich wie beim geschriebenen intertemporalen Recht, die Annahme gewisser Gesichtspunkte bei der Bewertung seiner Akzeptanz. Diese Gesichtspunkte müssen dann den Schutz des angewandten subjektiven Rechtes berücksichtigen, den zeitlichen Moment für die Bestimmung des relevanten materiellen Rechtes für die Beurteilung der Sache festlegen, die Gleichheit bei der Geltendmachung der Rechte garantieren und das Vertrauen in das Recht schützen, und die Voraussehbarkeit der Gerichtsentscheidungen ermöglichen. Darüber hinaus müssen sie aber auch das Erfordernis der Entwicklung der gerichtlichen Interpretation und der Anwendung des gesetzlichen Rechtes sowie die Notwendigkeit berücksichtigen, die Starrheit bei der Interpretation und der Anwendung des Rechtes zu verhindern, die ein Hemmnis bei der Erreichung des Zwecks der Rechtsregulierung darstellen würde. Der Bewertung der Kollision zwischen dem Wert der richterlichen Rechtsfortbildung einerseits und dem Wert der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der richterlichen Entscheide anderseits muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zugrunde gelegt werden. Zum Inhalt muss die sorgfältige Abwägung der negativen Auswirkungen aus der Veränderung der Rechtsansichten der Gerichte werden, die das Einschränken der Möglichkeiten bei der Geltendmachung des subjektiven Rechts für die Verfahrensbeteiligten bedeutet, die im guten Glauben an die Existenz des Rechtes glauben, das von der gefestigten Interpretation des Rechtes durch die Gerichte herrührt. Ferner muss zum Inhalt dieser Bewertung auch die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Dringlichkeit einer solchen Veränderung werden. Und solche Überlegungen des Gerichtes müssen in transparenter Form an die Öffentlichkeit getragen werden.“
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Folge der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung reflektiert. Das Beseitigen der Unbestimmtheit der normativen Prämissen mittels der Anwendung von Rechtsprinzipien gehört dann zur Methodologie, die das Öffnen der Textur des Rechts als Folge seiner Dekonstruktion wiederspiegelt. Das Nachdenken über die Verknüpfung zwischen dem Gegenstand und der Methode der Rechtsinterpretation führt uns somit zurück zur Frage nach der Gerechtigkeit, und somit auch zur Frage nach der Beziehung zwischen dem Rechtspositivismus und der Naturrechtlehre. Was könnte man zum Schluss sagen? Würde Franz Kafka seinen Roman „Das Schloss“ heute schreiben, dann würde wohl nicht mehr der Landvermesser K. allein durch das Schloss irren – mit ihm würde dort auch der Dworkinsche Richter Herkules irren.
C. Rechtspositivismus und Naturrechtslehre am Beispiel der Sternstunden der tschechischen Rechtsphilosophie (die zweite Hälfte des 19. und die erste des 20. Jahrhunderts) I. Rechtsphilosophie – ihre Emanzipation von der Theologie, der sozialen Philosophie und der Moralphilosophie Die Rechtswissenschaften haben im tschechischen wissenschaftlichen und kulturellen Leben erst zum Ende des 19. Jahrhundert nach und nach an Bedeutung gewonnen. Vorlesungen in tschechischer Sprache werden an der Jurafakultät der Karl-Ferdinand-Universität in Prag erst nach 1848 angeboten, im Jahr 1854 werden die ersten zwei Professoren-Lehrstühle für Parallelvorlesungen in tschechischer Sprache errichtet, langsam bildet sich auch das tschechische Professorenkollegium – dieser Prozess findet seinen Gipfel in der Trennung der tschechischen und der deutschen Jurafakultät im Jahre 1882.265 Wie bereits von B. Tomsa festgestellt – zum Anfang haben in den tschechischen Rechtswissenschaften „positiv dogmatische und historische Disziplinen überwogen … andere (theoretische – Anmerkung P.H.) Rechtswissenschaften gewinnen erst mit Verspätung an Einfluss“.266 Bevor ich das Reich der Rechtswissenschaften betrete, muss ich – am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stehend, die Person Tomásˇ Garrigue Masaryks267 265 Ausführlich siehe H. Slapnicka, Die Prager Juristenfakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: M. Neumüller (Red.), Die Teilung der Prager Universität 1882 und die intellektuelle Desintegration in den böhmischen Ländern, München 1984, S. 55 ff. 266 B. Tomsa, Nauka o právních veˇdách. Základy právní metodologie (dt.: Lehre über Rechtswissenschaften. Grundlagen der Rechtsmethodologie), Praha 1946, S. 111 – 112. 267 Geb. 1850, gest. 1937. 1878 habilitierte er mit einer Schrift über den Suizid. 1879 wurde er Dozent in Wien, 1882 außerordentlicher und 1897 ordentlicher Professor in Prag. 1886 wurde er auf einen Schlag einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als er sich in den Streit um zwei angeblich aus dem Mittelalter stammende, in Wirklichkeit aber zu Anfang des 19. Jahrhunderts gefälschte Handschriften einschaltete. In der Zeitschrift Athenäum ließ er die Gegner der Echtheit dieser Handschriften zu Wort kommen und vertrat vehement die Meinung, dass eine moderne Nation sich nicht auf eine erfundene Vergangenheit berufen solle. Ebenso entschieden verteidigte er 1899 in einem der letzten Ritualmordprozesse Mitteleuropas den jüdischen Angeklagten Leopold Hilsner. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfolgte er seine Pläne für einen eigenständigen tschechoslowakischen Staat und wurde damit ohne seine Absicht mit 64 Jahren zur Schlüsselfigur des beginnenden tschechischen Widerstandskampfes, an dessen Ende
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erwähnen. Er war die Schlüsselfigur der Philosophie und der Politik der tschechischen Gesellschaft dieser Zeit, eine Persönlichkeit, die in der tschechischen Gesellschaft maßgeblich auch die rechtlich-philosophischen Ansichten beeinflusste. Als Philosoph und überzeugter Demokrat entwickelte er Ideen über die Entstehung eines „neuen Menschen“ durch eine bessere Gesellschaft. Als notwendige Grundlage hierfür erachtete er ein christlich-soziales Weltbild, in dem allerdings Religion „vom Staate und der Willkür absolutistischer Dynastien frei“ sein sollte: „Jesus, nicht Caesar – so lautet die Bedeutung unserer Geschichte und unserer Demokratie.“268 Dem Staat galt sein grundsätzliches Misstrauen, weil er der Nation als demokratischer Organisation entgegenstehe. In der Nation sei jeder Einzelne dazu berufen, sich zur Geltung zu bringen; „der Staat ist eine aristokratische, Zwangsmittel anwendende, unterdrückende Organisation: demokratische Staaten sind erst im Entstehen begriffen“.269 Karl Popper hat anlässlich seiner Vorlesung an der Karls-Universität in Prag im Jahr 1994 zur Person T. G. Masaryks folgendes gesagt: „Ich bewundere zutiefst Masaryk. Er war einer der bedeutendsten Wegbereiter für das, was ich ein oder zwei Jahre nach seinem Tod als offene Gesellschaft bezeichnete. Er war der Vorkämpfer der offenen Gesellschaft sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis; er war in der Tat einer ihrer größten Vorkämpfer von Abraham Lincoln bis Winston Churchill. Von den Folgestaaten des Österreichischen Reichs, die hier niedergeschlagen und verarmt standen, war die Schöpfung Masaryks – die Tschechoslowakische Republik, das einzig erfolgreiche Ergebnis. Die erste Republik war dank ihres Finanzwesens, ihrer Industrie, Politik, Bildung und Kultur erfolgreich; und sie wurde auch sehr gut verteidigt. Niemals sonst in der Geschichte war ein neuer Staat – der letztendlich aus einer Revolution hervorging – so friedfertig und so erfolgreich; Und dabei war es zum großen Teil das Werk des schöpferischen Denkens und Tuns eines einzigen Mannes! Dies alles ist jedoch nicht selbstverständlich und ohne Schwierigkeiten entstanden; es war das Ergebnis Masaryks Philosophie, seiner Weisheit und seines Charakters, bei dem der persönliche Mut, die Aufrichtigkeit und Offenheit herausragend waren. Seine eigene Philosophie hat er stets als
die Auflösung Österreich-Ungarns stand. Von Mai bis Dezember 1918 gelang es Masaryk, die Alliierten von einer tschechoslowakischen Staatsbildung zu überzeugen. Am 14. November 1918 wurde er von der Tschechoslowakischen Nationalversammlung zum Präsidenten gewählt. Masaryk wurde insgesamt dreimal wiedergewählt (1920, 1927 und 1934) und war bis zu seinem Tod die dominierende Persönlichkeit des neuen Staates. Deutsche Übersetzungen der Masaryks Werke siehe: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen, Berlin 1925; Das neue Europa. Der slavische Standpunkt, Volk und Welt, Berlin 1991. Zur Persönlichkeit, Lebenslauf und Lehre von T.G. Masaryk siehe ausführlicher: O.A. Fulda, Thomas Garrigue Masaryk: sein philosophisches, religiöses und politisches Denken, Bern 1978; D. Truhlar, Thomas G. Masaryk – Philosophie der Demokratie, Frankfurt a.M. 1994; R. Hain, Staatstheorie und Staatsrecht in T.G. Masaryks Ideenwelt, Zürich 1999. 268 T.G. Masaryk, Das neue Europa. Der slavische Standpunkt, Volk und Welt, Berlin 1991, S. 201. 269 Ibidem, S. 54.
II. A. Randa, E. Tilsch (historisch-rechtlicher Leitweg)
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kritischen Realismus bezeichnet – und das war sie auch in der Tat. Jedoch haben sein Humanismus und sein humanistisches Denken auch eine wichtige Rolle gespielt.“270
II. Antonín Randa, Emanuel Tilsch (historisch-rechtlicher Leitweg) Antonín Randa271 war die Schlüsselfigur beim Formen der tschechischen Rechtswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Helmut Slapnicka vermerkt zur Randas Stellung in der tschechischen Rechtswissenschaft: „An der tschechischen Universität wurde … Antonín Randa als der ,größte tschechische Jurist‘ und als ,tschechischer Savigny‘ gefeiert. Sein wissenschaftliches Ansehen beruht auf seinen Arbeiten über den Besitz und das Eigentum … Sie lassen ihn als einen Hauptvertreter der historischen Schule der österreichischen Zivilistik (neben Unger und Exner) erscheinen.272 Unter seinen tschechischen Landsleuten genoß Randa ein unvorstellbares Ansehen … in der juristischen Auseinandersetzung wog kein Argument schwerer als das Argument ,Randa dixit‘.“273
Walter Wilhelm schreibt über die Bedeutung der Konzeption des Eigentumsrechts nach Auffassung Antonín Randas: „Der Österreicher Anton Randa veröffentlicht 1884 in Leipzig eine Monographie über Das Eigenthumsrecht nach österreichischem Rechte mit Berücksichtigung des gemeinen Rechtes und der neueren Gesetzbücher, die als die umfassendste und modernste rechts270
http://old.lf3.cuni.cz/aff/p2_c.html. Geboren 1834, verstorben 1914, Professor für Zivilrecht an der Jurafakultät der KarlFerdinand-Universität in Prag, Begründer der modernen tschechischen Wissenschaft über Zivilrecht, Ehrendoktor der Universitäten in Bologna und in Krakau. Nach der Teilung der Prager Universität in zwei eigenständige Hochschulen mit tschechischer und deutscher Unterrichtssprache wurde er zum ersten Prorektor (1882/83) und dann zum zweiten Rektor (1883/ 84) der tschechischen Universität gewählt; in den Jahren 1872 und 1885 hat er das Amt des Dekans bekleidet. Ab 1881 Mitglied des österreichischen Herrenhauses und des österreichischen Reichsgerichtes, in den Jahren 1904 – 1906 „Landsmannminister“ in der österreichischen Regierung. Aus seinen zahlreichen Werken sind insbesondere folgende zu erwähnen: Der Besitz nach österreichischem Rechte mit Berücksichtigung des gemeinen Rechtes, des preußischen, französischen und sächsischen Gesetzbuches, Leipzig 1865; Der Erwerb der Erbschaft nach österreichischem Rechte, auf Grundlage des gemeinen Rechtes, mit Berücksichtigung des preußischen, französischen, sächsischen und Zürcher Gesetzbuches, Wien 1867; Das Eigenthumsrecht nach österreichischem Rechte mit Berücksichtigung des gemeinen Rechtes und der neueren Gesetzbücher, Leipzig 1884. Aus den Werken über Randa siehe insbesondere: V. Knapp, Portrét Antonína Randy – k jeho dvojímu vy´rocˇí (dt.: Portrait von Antonín Randa – zu seinem doppelten Jubiläum), Právník 1994, Nr. 9 – 10, S. 866 ff.; B. Banaszkiewicz, Antonín Randa (1834 – 1914), Kwartalnik Prawa Prywatnego 2008, Nr. 4, S. 913 ff. 272 W. Ogris, Die historische Schule der österreichischen Zivilistik, in: Festschrift Hans Lentze, Innsbruck/München 1969, S. 460. 273 H. Slapnicka, Die Prager Juristenfakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Fn. 265), S. 77 – 78. 271
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C. Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
wissenschaftliche Arbeit jener Zeit zu diesem Thema angesehen werden kann; als modernste insofern, als Randa versucht, in die traditionelle Eigentumslehre der Pandektenwissenschaft gewisse rechts- und sozialpolitische Aspekte einzubringen und Tradition und Forderung der Gegenwart in einer versöhnlichen Formel zu vereinigen. Das Eigentumsrecht formuliert Randa als die durch das objektive Recht gewährte und durch dasselbe begrenzte rechtliche Möglichkeit relativ vollster, unmittelbarer Herrschaft über eine Körperliche Sache. Das E. ist somit die oberste, umfassendste, unmittelbare rechtliche Macht, die der Idee nach schrankenlose, jedoch durch das positive Recht mit Rücksicht auf das Gemeinwohl begrentzte, auch durch Privatrechte zeitlich eigenschränkbare rechtliche Herrschaft über einen körperlichen Gegenstand. Die rechtliche Möglichkeit unbeschränkter Verfügung gilt somit lediglich innerhalb der durch den objektiven Rechtswillen und durch (zufällige) unmittelbare Berechtigungen Dritter gezogenen Grenzen.‘ Damit ist die Beschränkbarkeit und Beschränkung des Eigentumsrechts in seinem Begriff aufgenommen. Das Eigentum ist von vornherein unter den Vorbehalt der positiven Rechtsordnung gestellt, bei gleichzeitiger Anerkennung des Eigentums als eines seiner ,Idee‘ nach vorbehaltlosen, schrankenlosen Rechts.“274
Randa bleibt nicht nur für das zeitgenössische tschechische, sondern auch für das österreichische und deutsche Zivil- und Verfassungsrecht auch nach mehr als 100 Jahren ein aktueller und reflektierter Autor.275 Die Prager Juristische Fakultät wurde von seinen Ansichten über Recht und Rechtswissenschaften maßgeblich geprägt, eine Schlüsselrolle bei der weiteren Entwicklung haben seine eigenen Schüler gespielt. Aus ihren Reihen wäre insbesondere der Zivilrechtler Emanuel Tilsch276 zu erwähnen, Wegbereiter der tschechischen vergleichenden Rechtswissenschaft und origineller Denker mit umfassenden theoretischen Kenntnissen. Zum Zeitpunkt der Jahrhundertwende ist für das europäische Rechtsdenken das dezisionistische Aufbegehren gegen die kognitivistische Konzeption des Rechts symptomatisch. Die zwei wesentlichen Strömungen dieses Denkens stellen die Interessenjurisprudenz (beginnend beim späten Jhering, bis zu Heck), und insbesondere dann die Konzeption der Freirechtsschule (Kantorowicz, Ehrlich, Gény) dar, welches auf das Problem der Unvollständigkeit des geschriebenen Rechts in Konfrontation mit dem Prinzip des Verbotes denegationem iustitiae reagiert, indem es versucht, die mögliche schöpferische Aktivität des Richters in Bezug auf Lücken im 274 W. Wilhelm, Private Freiheit und gesellschaftliche Grenzen des Eigentums in der Theorie der Pandektenwissenschaft, in: H. Coing/W. Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1979, S. 32. 275 Siehe F Bydlinsky, Zu doppelten Eigentumsbegriff, in: E. Bucher/C.-W. Canaris/ H. Honsell/T. Koller (Hrsg.), Norm und Wirkung. Festschrift für Wolfgang Wiegang zum 65. Geburtstag, Bern/München 2005, S. 144, 147, 149, 151; M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, Baden-Baden 1998, S. 428. 276 Geb. 1886, gest. 1912. Seit 1903 bis zu seinem Tod Professor der Jurafakultät an der Karl-Ferdinand-Universität in Prag. Zu seinen wichtigsten Werken gehören: Der Einfluss der Civilprozessgesetze auf das materielle Recht, 2. Aufl., Wien 1901; Deˇdické právo rakouské se stanoviska srovnávací veˇdy právní (dt.: Das Österreichische Erbrecht aus der Sicht der komparativen Rechtswissenschaft), Praha 1905; Obcˇanské právo rakouské. Cˇást vsˇeobecná (dt.: Österreichisches Zivilrecht. Allgemeiner Teil), Praha 1913.
III. F. Weyr – die Brünner rechtstheoretische Schule
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Recht zu analysieren.277 Diese Tendenzen werden zum Anfang des 20. Jahrhunderts auch in der tschechischen Rechtswissenschaft reflektiert. So gilt nach E. Tilsch: „… je bestimmter das Recht formuliert ist, desto mehr gebunden ist auch der Richter bei seinen Abwägungen. Der Glaube an die Möglichkeit einer klaren Formulierung einerseits und das Misstrauen gegen die richterliche Unparteilichkeit anderseits (beides ist sowohl dem mittelalterlichen Geist, als auch dem Rationalismus des XVIII. Jahrhunderts gemeinsam), haben zur Parömie geführt: ,Optima lex est quae minimum relinquit arbitrio judicis‘. In der Neuzeit hat der Glauben an die Möglichkeit einer klaren Formulierung erheblich nachgelassen (als Folge des Studiums der Sprachentwicklung und der Noetik), dagegen ist das Vertrauen in die richterliche Urteilsbefähigung (deren Ausbildung, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit seien auf gewisse Weise garantiert) gestiegen. Dem Richter werden nun mehr Freiheiten beim formellen Recht zugestanden (freie Beweiswürdigung, Befugnisse bei der Prozesslenkung), es gibt sogar Tendenzen, ihn auch auf dem Gebiet des materiellen Rechts zu befreien (,freie Rechtsfindung‘). Das Zivilprozessgesetzbuch gibt dem Richter Freiheiten im Rahmen der besagten Arbitrationsregeln, und dann auch dadurch, dass es nach dem Ausschöpfen der Analogie auf die natürlichen Rechtsgrundsätze verweist. In der Tat ist seine Freiheit größer geworden.“278
Tilsch, der auch Veranlagungen eines Schriftsteller hatte und diese Ambitionen auch hegte, war zudem ein geistreicher und scharfsinniger Glossator der Rechtswissenschaft – insbesondere mit seinen Aphorismen. Stellvertretend möchte ich hier einen davon vorstellen: „Mathematik ist selbstverständlich, nur für verworrene Köpfe schwierig, für helle dafür leicht, und daher auch von minderer Bedeutung. Für helle Köpfe sind diejenigen Wissenschaften schwierig, welche keine absoluten Prinzipien (ausnahmslose Regeln) innehaben und daher für die geistige Gymnastik nutzvoller sind (z. B. die konfuse Rechtswissenschaft).“279
III. Frantisˇek Weyr (Franz Weyr) – die Brünner rechtstheoretische Schule Im Jahr 1908 veröffentlicht ein junger Jurist in Wien – Frantisˇek Weyr, das Buch „Prˇíspeˇvky k teorii nuceny´ch svazku˚“ (Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände)280
277 Stellvertretend möge hier in diesem Zusammenhang das Werk von H. Kantorowicz genannt werden, das er unter Pseudonym Gnaeus Flavius veröffentlichte: Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906 – erneut veröffentlicht in: Hermann Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, Karlsruhe 1962, S. 13 ff. 278 E. Tilsch, Obcˇanské právo. Cˇást vsˇeobecná (dt.: Zivilrecht. Allgemeiner Teil), 3. Ausg., Praha 1925, S. 62. 279 E. Tilsch, Aforismy a mysˇlenky (dt.: Aphorismen und Gedanken), Praha 1916, S. 56. 280 F. Weyr, Prˇíspeˇvky k teorii nuceny´ch svazku˚ (dt.: Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände), Praha 1908, 273 S.
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C. Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
sowie die Studie „Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems“.281 Mit diesen Werken wird der Bereich der Rechtsphilosophie im tschechischen Umfeld als eigenständiger Bereich der Rechtswissenschaft geboren. Frantisˇek Weyr (Franz Weyr),282 Begründer und führende Persönlichkeit der Brünner rechtstheoretischen Schule, Rechtsphilosoph und Verfassungslehrer sowie auch Politiker, Schöpfer der komplexen analytischen philosophisch-rechtlichen Konzeption, die in den Fußstapfen Immanuel Kants schreitet. 281 F. Weyr, Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv für öffentliches Recht, 23, 1908, S. 529 – 580. 282 Geb 1879, gest. 1951. Geboren in Wien in der Familie eines Universitätsprofessors für Mathematik. Sein Jurastudium hat er in Prag abgeschlossen, wo er später – im Jahr 1909 auch habilitierte. Ab 1919 Professor, einer der Begründer der Jurafakultät an der Masaryk-Universität in Brünn nach dem Ersten Weltkrieg, nach 1918 kurz auch Abgeordneter der Nationalversammlung, einer der Autoren der Verfassung der Tschechoslowakischen Republik. Wiederholt bekleidete er das Amt des Dekans an der Brünner Fakultät der Masaryk-Universität, in den Jahren 1923 und 1924 auch das des Rektors der Universität. Zwischen 1919 bis 1929 stand er an der Spitze des staatlichen statistischen Amtes. Er engagierte sich in vielen wissenschaftlichen Gesellschaften im Ausland. Nach dem Schließen der tschechischen Hochschulen im Jahr 1939 durfte er nicht mehr als Universitätsprofessor arbeiten, nach einer kurzen Zeit zwischen 1945 bis 1948 musste er nach der kommunistischen Machtübernahme endgültig die Universität verlassen. Weyr hinterließ ein außerordentlich umfangreiches Werk auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie und des Verfassungsrechts, das er im großen Umfang auch im Ausland veröffentlichte. Zu seinen wichtigsten und bedeutendsten rechtsphilosophischen und konstitutionalistischen Titeln gehören: Prˇíspeˇvky k teorii nuceny´ch svazku˚ (dt.: Beiträge zur Teorie der Zwangsverbände), Praha 1908; Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv für öffentliches Recht, 23, 1908; Zur Theorie des natürlichen Rechtes, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 6, 1913, S. 84 – 90; Základy filosofie právní. Nauka o poznávání právnickém (dt.: Grundlegung der Rechtsphilosophie. Juristische Erkenntnislehre), Praha 1920, 244 S.; Bu˚h a stát (dt.: Gott und Staat), Almanach Veˇdecká rocˇenka právnické fakulty Masarykovy univerzity, 1, 1922, S. 18 – 30; Soustava cˇeskoslovenského práva státního (dt.: Tschechoslowakisches Staatsrecht), 2. Ausg., Praha 1924, 476 S.; La théorie normative. Almanach Veˇdecká rocˇenka právnické fakulty Masarykovy univerzity, 4, 1925, S. 3 – 39; O metodeˇ sociologické (dt.: Über die soziologische Methode), Brno 1927, 63 S.; Pojem positivnosti práva (dt.: Begriff der Rechtspositivität), Almanach Veˇdecká rocˇenka právnické fakulty Masarykovy univerzity, 10, 1931, S. 17 – 32; Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht. Festschrift gewidmet Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, hrsg. v. A. Verdross, Wien 1931, S. 367 – 389; La „Stufentheorie“ de la theórie du droit vue par un Français, Revue internationale de la theórie du droit, 1934, S. 235 – 242; Právní veˇda a veˇda o právu (dt.: Rechtswissenschaft und Wissenschaft vom Recht), Praha/Brno 1935, 52 S.; Teorie práva (dt.: Rechtstheorie), Brno/ Praha 1936, 388 S.; Cˇeskoslovenské právo ústavní (dt.: Tschechoslowakisches Verfassungsrecht), Praha 1937, 339 S. Deutsche Übersetzung der Texte Weyrs siehe: V. Kubesˇ/O. Weinberger, Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), Wien 1980. Aus den Werken über Weyr siehe insbesondere: H. Slapnicka, Autobiografien dreier tschechischer Rechtslehrer: Frantisˇek (Franz) Weyr, Vladimír Kubesˇ, Viktor Knapp, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte, 25. Jahrgang, 2003, Nr. 1/2, S. 63ff; R. Bohácˇková, Zˇivot a dílo prof. JUDr. Frantisˇka Weyra (dt.: Das Leben und das Werk von Professor JUDr. Frantisˇek Weyr), Brno 1993; Frantisˇek Weyr, hrsg. v. M. Vecˇerˇa, Brno 2001. Über das Leben Weyrs siehe: F. Weyr, Pameˇti (dt.: Erinnerungen), 1. Za Rakouska (1879 – 1918), Brno 1999, 489 S., 2. Za republiky (1918 – 1938), Brno 2001, 519 S., 3. Za okupace (1939 – 1951), Brno 2004, 231 S.
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In seinen „Erinnerungen“ beschreibt Weyr seine erste Begegnung mit Hans Kelsen. Das Erinnern beginnt er mit der Schilderung seiner Begeisterung über das Buch Kelsens „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“: „Ich bin außer Stande meine Freude zu beschreiben, die ich verspürte, als ich erkannte, dass der Verfasser mit gleichen Argumenten wie ich die Grundtheorie der traditionellen Rechtslehre zum Unterschied zwischen dem zivilen und dem öffentlichen Recht ablehnt, und dass er auch in anderen Richtungen meine Ansichten über das noetische Wesen und die noetische Methode der Rechtswissenschaft teilt – z. B. in Bezug auf ihr Verhältnis zur Soziologie. In ,Hauptprobleme‘ war aber auch eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse beinhaltet. … Mit Genugtuung verspürte ich, dass hier ein Geist zu mir spricht, der meinem eigenen Intellekt nahe steht; es war eine Affinität“,
die „auf einer gewissen rationellen Denkweise gründete, die man auch mathematische oder allgemein deduktive Denkweise bezeichnen könnte, und damit hängt auch die größere Vorliebe für allgemeine wissenschaftliche Probleme, die näher zur Philosophie stehen, zusammen. Die Rechtswissenschaft vor dreißig und vierzig Jahren war jedoch offensichtlich aphilosophisch und diese Aversion gegen die Philosophie hat sie regelrecht gepflegt. Sie war von Naturwissenschaft, Deskription und Geschichte angetan. … Es war nur natürlich, dass ich nach dem Durchlesen der ,Hauptprobleme‘ den Verfasser dringend und persönlich kennen lernen wünschte. … Ein Treffen mit Dr. Kelsen vermittelte mir mein Freund Dr. Perels. Ich traf mich mit Kelsen im Gebäude der Wiener Universität – an das erste persönliche Treffen mit ihm kann ich mich klar erinnern. Die Folge war, dass zwischen uns beiden neben der gegenseitigen wissenschaftlichen Sympathie auch eine persönliche Sympathie entstand, die im Laufe der Zeit zu einer aufrechten und innigen Freundschaft heranwuchs. Auf meine weitere wissenschaftliche Entwicklung übte der um zwei Jahre jüngere Kelsen einen enorm großen Einfluss, jedoch habe auch ich – wie ich glaube – in seinem späteren Leben eine ziemlich wichtige Rolle gespielt. Ich bezweifele zum Beispiel, dass er zu einer Zeit, als die Deutschen begonnen haben, die Juden zu verfolgen, ohne meine Hilfe die Stelle als Professor an der deutschen Universität in Prag bekommen hätte.“283
Im Jahre 1923 schreibt Hans Kelsen im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Pionierarbeit „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ am Rande der grundlegenden Thesen der Reinen Rechtslehre, welche auf das Überwinden der Dichotomie zwischen dem öffentlichen und privaten, dem objektiven und subjektiven Recht hinaussteuern und die Einheit der Rechtsordnung behandeln: „Doch schon vor mir hat Franz Weyr in einer 1908 erschienenen grundlegenden Abhandlung ,Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems‘ (Archiv des öffentliches Rechtes, Bd. 23, S. 529 ff.) den entscheidenden Gedanken ausgesprochen. Er hat in der Folge in einer Reihe von Arbeiten Wesentliches zu einer reinen Rechtslehre beigebracht. (Von seinen in deutscher Sprache erschienenen Schriften seien genannt: ,Über zwei Hauptpunkte der Kelsenschen Staatsrechtslehre‘, Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der 283
415.
F. Weyr, Pameˇti (dt.: Erinnerungen), 1. Za Rakouska (1879 – 1918), Brno 1999, S. 414 –
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Gegenwart 1913, Bd. XL, S. 175 ff.; ,Zum Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht‘, Österr. Zeitschr. f. öffentl. Recht 1914, Bd. I, S. 439 ff.; ,Zur Lehre von den konstitutiven und deklaratorischen Akten‘, Österr. Zeitschr. f. öffentl. Recht 1918, Bd. III, S. 490 ff.; ,Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft‘, Zeitschr. f. öffentl. Recht 1921, Bd. II, S. 671 ff.).“284
Bezaubert von der intellektuellen Schönheit der analytischen Methode und unter Einfluss des Logizismus in der Wissenschaft zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts (Mach, Hilbert, Russell, Whitehead), lange bevor der gebürtige Brünner Kurt Gödel diesem ambitionierten Programm der Wissenschaft seinen tödlichen Stoß verpasste, findet die Reine Rechtslehre – um eben diese Ideale zu erreichen – ihre Methode in der neukantschen Inspiration. Als wissenschaftliche Aufgabe erscheint das Erlangen der inneren Konsistenz der Begriffsstruktur, welche die abstrakte Normwelt widerspiegelt (deontisch ideelle Welt). Die Norm wird dabei als eine besondere, von den anderen sich unterscheidende Form des Denkens betrachtet. Die neukantisch konsequent angewandte Humesche These wirkt in diesem Zusammenhang wie das Occamsche Rasiermesser (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem), das den traditionellen Gegenstand der Rechtswissenschaft maßgebend reduziert und von der „Fracht“ der Politik, Ideologie, Historiographie, Ökonomie, Soziologie oder Psychologie befreit. Im Unterschied zu der traditionellen Rechtswissenschaft, die in Form von Begriffen empirische Fakten (positive Normen bzw. soziale Erscheinungen) systematisiert, sortiert, verallgemeinert und interpretiert, erscheint für die analytische Jurisprudenz die Auseinandersetzung mit Empirie häufig als irrelevant. In vielen Fragen kommt jedoch Weyr nicht mit Kelsen überein. So ist für Weyr der philosophische Ausgangspunkt nicht die neukantsche Lehre, sondern Kant selbst.285 F. Weyr unterscheidet Norm und Regel nach erkenntnistheoretischen Merkmalen: Die Norm sei Gegenstand der normativen Erkenntnis, die Regel Ergebnis der naturgesetzlichen Erkenntnis im Bereich etwa der Biologie oder Psychologie, in denen keine exakten Gesetze formulierbar sind, sondern nur gewisse Regelmäßigkeiten festgestellt werden können.286 Den Imperativ betrachtet Weyr als eine besondere grammatische Form der Norm mit Motivierungsgehalt.287 Eine Maxime versteht er – an Kant anlehnend – als subjektives Prinzip des Wollens bzw. als Überlegung de lege ferenda, also als eine normative Überlegung, deren Inhalt noch keine Norm ist, sondern „eine sein sollte“.288 Zurück zu Kelsen: Dieser nimmt in seinen Arbeiten 284 H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2. Aufl., Vorrede zur zweiten Auflage, S. VIII-IX, Tübingen 1923. 285 Siehe V. Kubesˇ, Die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, in: V. Kubesˇ/O. Weinberger (Hrsg.), Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), Wien 1980, S. 12 – 13. 286 F. Weyr, Základy filosofie právní. Nauka o poznávání právnickém (dt.: Grundlegung der Rechtsphilosophie. Juristische Erkenntnislehre), Brno 1920, S. 24. 287 Ibidem, S. 26. 288 Ibidem, S. 30.
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wiederholt und nachdrücklich zu der Idee einer relativen Gerechtigkeit Stellung, die der Relativität moralischer Systeme entspricht.289 In gleicher Weise äußert sich F. Weyr: „Nur die relative Gerechtigkeit ist nachzuweisen […]; die absolute Gerechtigkeit kann man nur voraussetzen, und diese Gerechtigkeit ist also kein möglicher Gegenstand der Erkenntnis.“290
Ferner interpretiert er auch den Begriff der Rechtspflicht anders: „Aus logischen Gründen erscheint es uns – im Unterschied zu Kelsen – nicht notwendig, nur den Ausdruck des Sollens als eine eigenständige Rechtsnorm anzuerkennen, die die Pflicht des Staates zum gewissen Verhalten festlegt (Kelsens ,Rechtssatz im weiteren Sinne‘). Wenn nämlich der entscheidende Begriffsinhalt jeder Norm die Festlegung von Pflichten und des Pflichtsubjekts ist, kann für eine Rechtsnorm nichts anderes gelten. Man kann nicht einsehen, warum es logisch notwendig wäre, den Betriff der Rechtsnorm nur auf solche Fälle einzuschränken, in denen das Subjekt der Rechtsnorm (der Staat) gleichzeitig das Pflichtsubjekt ist. Für uns besteht hingegen der Grund der Kenntnisnahme darin, dass es im konkreten Fall um eine Rechtsnorm nur insoweit geht, dass man diese einem gewissen Normsubjekt (nicht dem Pflichtsubjekt) – d. h. dem Staat beimessen muss. Dies hindert uns nicht daran, im Ausdruck, der (nur) eine Pflicht eines anderen Subjektes der Pflicht festlegt, eine selbständige Rechtsnorm zu sehen, wenn nur dieser erwähnte Grund der Kenntnisnahme evident ist. Auch der sonst richtige Gedanke von Kelsen, dass – vom kausalen Blickwinkel aus – eine Vorstellung des ,Wollens einer fremden Handlung‘ nur dann möglich ist, wenn dieses Wollen motivierend wirken kann, steht dem nicht im Wege. Denn das, was wir uns als Willen des Normsubjektes vorstellen, ist etwas vollkommen anderes als der Wille im real-psychischen Sinne. Die Vorstellung dieses normativen Willens ist nur eine Hilfsvorstellung, ein bildhaftes Hilfsmittel, das notwendig wird, sobald wir in die normative Auffassung den Begriff des Normsubjektes aufnehmen. Aus dem bisher Angeführten ergibt sich für die logische Form der Rechtsnorm nur Folgendes: für den logischen Ausdruck der Rechtsnorm ist jede Form tauglich, die ausdrückt, dass Sollen festgelegt wird und die Pflicht von etwas (von jemand), was (wer) das Pflichtsubjekt erfüllen soll. Für die logische Form der Rechtsnorm gelten somit keine anderen Regeln als für die logische Form jeder Norm überhaupt: es muss daraus die normative Vorstellung folgen. … Unsere Abgrenzung ermöglicht uns, auch sog. Pflichten ohne Sanktion (d. h. Staatspflichten) als Rechtspflichten zu verstehen, was dem idealistischen Charakter der normativen Auffassung entspricht. Dadurch kann man weiter (wie aus der folgenden Behandlung noch klar folgen wird) Rechtssubjekte der sog. ,Untertanen‘ – d. h. aller Subjekte außer dem Staat – gleichwertig und eigenständig neben den Staat stellen, was man nach Kelsen, der für eine selbständige Rechtsnorm nur die hält, die eine Pflicht des Staates enthält, nicht tun kann.“291
Anders ist auch die Weyrsche Vorgehensweise beim Herantasten an den Begriff „Berechtigung“:
289 290 291
H. Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 60), S. 69 – 71. F. Weyr, Teorie práva (Fn. 142), S. 84. Siehe F. Weyr, Základy filosofie právní (Fn. 286), S. 120 – 121.
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„Es ist jedoch sicher, dass die Rechtswissenschaft mit dem Begriff des ,Rechtes‘ (im subjektiven Sinn), der ,Berechtigung‘, des ,Anspruches‘ operieren muss; daraus folgt jedoch noch nicht, dass man diese Begriffe, bzw. ihre Definitionen mit einer rein normativen Methode ableiten könnte, wie Kelsen annimmt. Aus dem Blickwinkel dieser Methode sieht die ,Berechtigung‘ wie ein bloßes Akzidentale aus, ohne dass man sich normative Beziehungen ohne weiteres vorstellen kann. … Es genügt, wenn wir sagen, dass sich formell die Pflicht als eine normative Sonderbeziehung zur Norm offenbart. Ähnlich einfach kann man die ,Berechtigung‘ nicht definieren. Dieser Begriff wurde und wird auch wirklich von der herrschenden Kunde mit Begriffen definiert, die nicht in den Bereich der normativen Auffassung gehören, und zwar mit den Begriffen des ,Interesses‘ bzw. des ,Willens‘ (der Willensmacht) im psychologischen Sinne. Dadurch wird allerdings nicht die formelle Beziehung desjenigen definiert, der zu einer Rechtsordnung (Norm) berechtigt ist – wie dies beim Begriff der Pflicht der Fall ist – sondern der Inhalt dieser Berechtigung in seiner Beziehung (sc. psychischen) zum Berechtigten. Kelsen deckt jedoch leicht die Mängel dieser Konstruktionen vom normativen Gesichtspunkt auf, die in der Notwendigkeit verschiedener Fiktionen beruhen: der Wille oder die Willensmacht werden auch dort vorgetäuscht, wo davon – vom psychologischen Gesichtspunkt – überhaupt keine Rede sein kann (Fälle, in denen die „Berechtigung“ jemandem zusteht, der überhaupt keinen Willen im psychologischen Sinne haben kann, wie z. B. die sog. moralische Person); ähnlich ist diese Kunde gezwungen, die ,Berechtigung‘ dort zu konstruieren, wo ein ,Interesse‘ welches gerade nach der Definition ihren wesentlichen Inhalt bilden soll, in der Wirklichkeit nicht existiert, was dann wieder zur zweifelhaften Konstruktion der sog. ,Durchschnittsinteressen‘ führt, die ohne Rücksicht darauf ,präsumiert‘ werden, ob sie im konkreten Fall wirklich existieren. Dies alles ist wahr – es beweist jedoch nichts anderes, als dass der Begriff ,Berechtigung‘ normativ überhaupt nicht konstruiert (definiert) werden kann. Zu dieser Konsequenz hat jedoch Kelsen sich nicht entschlossen. Es wurde bereits angedeutet, dass er sich die Beziehung des Berechtigten zur Norm analog zu der Beziehung des Verpflichteten zur Norm vorstellt. Dies gilt für das Fach des objektiven Rechts. Was jedoch die subjektive Seite des Rechts betrifft – also der sog. subjektiven Rechte und Pflichten – wurde oben bereits auch dazu darauf verwiesen, dass es Kelsen – zum Unterschied von den vorherrschenden Meinungen – dabei um eine gewisse Subjektivierung des objektiven Rechtes, also der Normen geht, sodass er das subjektive Recht als eine Norm definiert, und zwar in ihrer gewissen Beziehung (subjektive Erscheinungsform). Wer mit dieser Auslegung nicht zufrieden wäre, der sei an den Umstand erinnert, welcher wahrscheinlich dem Autor selbst nicht ganz klar bewusst wurde: dass nämlich sein Werk sich ausschließlich am theoretischen Gesichtspunkt der Kenntnisnahme des Rechtes (abstrakten) orientiert, obwohl der Gesichtspunkt der praktischen (d. h. konkreten) Anwendung des Rechtes völlig unbeachtet geblieben ist. Und gerade aus diesem Blickwinkel wird der Begriff der subjektiven Rechte und Pflichten aktuell. … Wenn wir anerkennen, dass zur ganzheitlichen Erkenntnis der Rechtsordnung eine ganze Reihe von Begriffen notwendig ist, die in andere Bereiche der Kenntnisnahme gehören, wie z. B. biologische, mathematische, philosophische, kurz technische Begriffe im weitesten Sinne, bedeutet dies kein Verlassen der richtigen normativen Methode. Ich bestehe – zum Unterschied von Kelsen – darauf, dass auch der Begriff des subjektiven (latenten und virtuellen) Rechts zu dieser Gruppe von Begriffen gehört, und bin der Meinung, dass man ihn anders nicht definieren kann, als mit Hilfe von teleologischen Begriffen (Interesse). Dabei muss man jedoch darauf bestehen, dass es zum Einsatz dieser Begriffe nur sozusagen ,praeter‘ und nie ,gegen‘ die normative Methode kommen darf, was
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bedeutet, dass davon die Ergebnisse der normativen Kenntnisnahme nicht betroffen sein dürfen.“292
Der Gedanke der materiellen und nicht nur prozessbezogenen Beschränkung des Raumes für eine Revision der Verfassung ist eine Reflexion der Verfassungsgeschichte Frankreichs des 19. Jh. als Folge von Verfassungsrückschlägen und Änderungen der republikanischen oder der monarchistischen Ordnung. Art. V. des französischen Verfassungsgesetzes vom 14. August 1884 bestimmt ausdrücklich: „Die republikanische Regierungsform kann kein Revisionsgegenstand sein.“293 Mit Abstand einiger weniger Jahre inkorporiert bereits Georg Jellinek den Imperativ der Unabänderlichkeit in den Rahmen der Kategorien der modernen Staatslehre: „Souveräne Gewalt ist demnach nicht staatliche Allmacht. Sie ist rechtliche Macht und daher durch das Recht gebunden. … Durch Anerkennung des Völkerrechts und durch die auf Grund dieser Anerkennung vorgenommenen, ihn bindenden Akte schränke der Staat sich sodann rechtlich ohne weiteres ein, ohne sich durch selbsteigenen Entschluß von solchem Bande lösen zu können. Aber auch nach ihnen sind Fälle möglich, in denen selbst auf dem Wege der Verfassungsänderung ein geltender Rechtssatz nicht geändert werden kann. Das französische Gesetz vom 14. August 1884 verbietet, die republikanische Regierungsform zum Gegenstand eines Antrages auf Verfassungsrevision zu machen. Dieser Satz kann durch Gewalt, aber nicht durch Recht aufgehoben werden. Ferner gibt es Fälle, in denen die politische Unmöglichkeit der Rechtsänderung so unzweifelhaft ist, daß sie den soeben erwähnten unmittelbar angeschlossen werden können, da das faktisch Unmögliche niemals als rechtliche Möglichkeit konstruiert werden darf. Dazu zähle ich z. B. das Verbot der bill of attainder in der Verfassung der Vereinigten Staaten. Gerade an solchen politische unmöglichen Fällen wird die ,Rechtsmacht über die Kompetenz‘ als bloßer Hilfsbegriff deutlich erkannt.“294
Zur Frage des Ermessens bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen seitens des Verfassungsgebers verlief in den Jahren des Ersten Weltkrieges auf den Seiten der Zeitschrift Juristische Blätter eine inhaltlich brillante und formell durch Noblesse geprägte Diskussion der damaligen großen Gestalten der Lehre des öffentlichen Rechts. Sie wurde von Alfred Verdroß295 angebahnt und zwar durch die Erwägung der Möglichkeit, eine Rechtsverbindlichkeit von zwei Staaten nicht lediglich durch einen internationalen Vertrag (Staatsvertrag) zu gründen, sondern auch durch Selbstbindung der beiden Legislativen, wodurch die Verfassung die Klausel der
292
Ibidem, S. 153 – 155. Die angegebene Bestimmung ist durch den identischen Wortlaut auch in Art. 89 der bestehenden Verfassung der Französischen Republik verankert. 294 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1922, S. 482 – 484. 295 A. Verdroß, Die Neuordnung der gemeinsamen Wappen und Fahnen in ihrer Bedeutung für die rechtliche Gestalt der der österreichisch-ungarischen Monarchie, Juristische Blätter, Nr. 11, 12, 1916. 293
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Unabänderlichkeit enthalten würde, gebunden an die Erfüllung einer von ihrem Willen unabhängigen Bedingung.296 Frantisˇek Weyr hält in seiner Reaktion eine solche Klausel für logisch unrichtig.297 Durch ihre Verallgemeinerung in die Form einer Annehmbarkeit (Unannehmbarkeit) des Prinzips der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskerns polemisiert er vor allem mit der Ansicht von Georg Jellinek: „Bestimmt z. B. das französische Gesetz vom 14. August 1884 (Art. V), daß die republikanische Regierungsform nicht Gegenstand eines Entwurfes zur Revision der Verfassung gemacht werden darf, so ist und kann dadurch nicht gesagt werden, wie Jellinek meint, daß ,eine solche Bestimmung durch Gewalt, nicht jedoch rechtlich abgeschafft werden kann‘. Die richtige Auslegung ist diejenige, daß ein Vorschlag zur Verfassungsrevision mit ähnlichem Inhalt nur insoweit juristisch unmöglich ist, sofern jene Norm Gültigkeit hat. Weiß ich jedoch, unter welchen Bedingungen diese Norm nach der Rechtsordnung, deren Bestandteil sie ist, rechtsgültig entstanden ist, so muß ich notwendigerweise logisch anerkennen, daß unter solchen Bedingungen auch ihre Abänderung, bzw. ihre Abschaffung juristisch möglich ist. Ein Änderungsvorschlag einer solchen Norm kann daher nicht als juristisch unmöglich erachtet werden. Dieser und der oben erwähnte Entwurf sind jedoch nicht inhaltlich identisch!“298 296 297
1916.
Ibidem, S. 135. F. Weyr, Zur Frage der Unabänderlichkeit von Rechtssätzen, Juristische Blätter, Nr. 33,
298 F. Weyr, Základy filosofie právní, F. 286, S. 106 – es sei angemerkt, daß die Handschrift dieser Arbeit nach Weyr in den Jahren 1914 bis 1915 vollendet wurde (siehe ebd., Vorwort S. 1), allerdings ist es offensichtlich, daß er an diesem Werk auch später arbeitete und die erwähnte Erwägung erst nach einer Serie von Aufsätzen in der Zeitschrift Juristische Blätter in das Buch aufnahm. Diese dargestellte Ansicht vertritt Weyr auch weiterhin. Er akzeptiert dabei die Vorstellung der Unveränderlichkeit durch Verbindung des Begriffes der Grundnorm und der Identität eines Normensatzes: „Sind wir von der Vorstellung eines Normbildners getragen, der zu seiner Tätigkeit durch eine Norm berufen wurde, so ist es offensichtlich, daß in der Fähigkeit (Beschaffenheit, Kompetenz) eine gewisse Norm festzusetzen, überhaupt nicht die Fähigkeit inbegriffen sein muß, diese nachträglich aufzuheben oder zu ändern, und daß daher eine prinzipiell unveränderliche Norm sehr wohl denkbar ist, wenn es hier eben niemanden gibt, der nach dem Normensatz, zu dem jene Norm gehört, berufen wäre, sie aufzuheben oder zu ändern, ja man kann sogar behaupten, daß jede ursprüngliche Norm (Kern, Urnorm), die wir gleich am Anfang oder am Kulminationspunkt jedes Normsatzes uns vorstellen, notwendigerweise jeweils unveränderlich ist, sofern überhaupt die normative Identität des Normsatzes beizubehalten ist.“ (F. Weyr, Teorie práva [Fn. 142], S. 105.) Gleichzeitig verbindet Weyr den Begriff des Rechts mit der Kategorie heteronomer, nicht autonomer Normen, und er macht auf die Möglichkeit einer Änderung derselben Norm aufmerksam, deren Inhalt der Imperativ der Unabänderlichkeit ist, zu deren Ausgabe nach ihm auch eine Ermächtigungsnorm existieren muß, deren Bedingungen wiederholt erfüllbar sind: „Eine solche Verbindung des souveränen Normsetzers kann jedoch keine Rechtsverbindung sein wegen ihrer offensichtlichen Autonomie. Letztendlich verursacht auch die Vorstellung eines souveränen Normbildners, der zugleich auch ein Pflichtenträger wäre, beträchtliche Schwierigkeiten … Also: sofern der Grundsatz gilt, daß die Norm, die die Unabänderlichkeit der republikanischen Staatsform bestimmt, selbst unabänderlich ist, so können wir, wenn wir wollen, zulassen, daß der Normbildner tatsächlich diese republikanische Form nicht ändern kann (z. B. in eine monarchistische), es gibt jedoch eine andere Frage, ob jener Grundsatz, der die Unabänderlichkeit der republikanischen
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Mit anderen Worten wäre Art. 9 Abs. 2 der Verfassung der Tschechischen Republik (also die ausdrückliche Verankerungung des Verfassungskerns) nach Weyr in dem Sinne zu interpretieren, dass die darin enthaltene Bestimmung den Verfassungsgeber durch das Verfahren nach Art. 39 Abs. 4 der Verfassung (das für Verfassungsänderung bestimmte, eine qualifizierte Merheit verlangt) seiner Kompetenz, wesentliche Gegebenheiten eines demokratischen Rechtsstaates zu ändern, enthoben hat, was allerdings nichts an der Tatsache ändert, dass durch das erwähnte Verfahren Art. 9 Abs. 2 der Verfassung selbst änderbar ist. Auf Weyrs Artikel reagiert Verdroß mit seiner Replik,299 in der zwei Grundargumente enthalten sind. Auf dem Gebiet der Rechtsfindung vertritt Verdroß konsequent eine positivistische Stellung, nach welcher der Rechtsinhalt aus Quelldaten zu ermitteln ist, die lediglich einer immanenten, nicht jedoch einer transzendentalen Kritik unterworfen werden können. Die letzte rechtliche Grundlage, von der sämtliches Recht eines gewissen Staates abgeleitet werden kann, ist seine Verfassung, die aus seiner Souveränität entstanden ist, und daher „ist es jedem Forscher der gegebenen verfassungsrechtlichen kontinuierlichen Materie verschlossen, die aus der Verfassung entwickelte Rechtsordnung normativ aus irgendeiner anderen Ordnung abzuleiten“.300 Des Weiteren spricht Verdroß die folgende These aus: „Denn soll der ,Staat‘ souverän sein, so kann er dies nur durch seine Verfassung sein, da er ja rechtlich erst durch sie zum Staate wird“, wobei er bei deren Bildung allerdings „ganz frei, d. h. autonom“ ist, und die Gebundenheit der Legislative, der Justiz und der Verwaltung durch die Verfassung „aber die Souveränität des Staates nicht aufhebt, sondern sie erst recht zur Geltung bringt.“301
Adolf Merkl knüpft an die Überlegung von Verdroß an und setzt diese fort.302 Die Verfassungsgebung ist nach seiner Ansicht nicht mit der Verfassung selbst zu verwechseln, nach ihm geht es, paradox wie es klingen mag, ebenso um die bloße Durchführung der Verfassung, zu der sie eine Einwilligung gegeben hat, ebenso wie bei allen Akten der gewöhnlichen Gesetzgebung, wobei diese Durchführung lediglich in der Änderung von Verfassungsbestimmungen besteht, zu denen die Verfassung selbst die Ermächtigung lieferte, also gilt: „Ohne Ermächtigung der VerStaatsform festsetzt, selbst unveränderlich ist, was wieder ein neues Problem der Möglichkeit einer autonomen Selbstbindung des Normbildners darstellt. Beantworten wir dieses Problem negativ, so ist es klar, daß dadurch auch die Möglichkeit gegeben ist, die Norm, die für unabänderlich erklärt wurde, zu ändern, und zwar nicht so, daß sie unmittelbar geändert würde (also z. B. eine republikanische Staatsform in eine monarchistische), sondern vorerst vom Normsatz das Prinzip beseitigt würde, daß sie für unabänderlich erklärt, wodurch sie eben veränderlich wird.“ (Ibidem, S. 106.) 299 A. Verdroß, Zum Problem der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers, Juristische Blätter, Nr. 40, 41, 1916. 300 Ibidem, S. 472, 473. 301 Ibidem, S. 485. 302 A. Merkl, Die Unabänderlichkeit von Gesetzen – ein normologisches Prinzip, Juristische Blätter, Nr. 9, 10, 1917.
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fassung keine Verfassungsänderung“303. Die Unabänderlichkeit, und nicht die Abänderlichkeit ist nach Merkl maßgeblich: „Die Souveränität des Staates scheint sich mir nicht in der Abänderlichkeit, sondern gerade in der Unabänderlichkeit der Staatsverfassung am ansprechendsten zu äußern.“304
Eher als eine Rekapitulation, als in Form einer Fortsetzung, schließt F. Brychta die Diskussion zum Ermessensspielraum des Gesetzgebers ab, indem er sich den Ansichten von Verdroß und Merkl anschließt.305 Petitio principii stellt einen der Deduktionsfehler dar, die bereits Aristoteles erkannte, der darin besteht, daß in der Ableitung, die eine gewisse These erst nachweisen soll, eine unwahre Prämisse verwendet wird. Weyrs Skepsis gegenüber dem Imperativ der Unabänderlichkeit ist dann durch den Vorwurf – sagen wir mal – einer unwahren Prämisse gegeben: „Weiß ich jedoch, unter welchen Bedingungen diese Norm (der Imperativ der Unabänderlichkeit) entsprechend der Rechtsordnung, deren Bestandteil sie ist, gültig entstand, so muß ich notwendigerweise logisch akzeptieren, daß unter solchen Bedingungen auch ihre Änderung, bzw. ihre Beseitigung juristisch möglich ist. Ein Entwurf zur Änderung einer solchen Norm ist daher nicht für juristisch unmöglich zu halten.“306 Ein aufmerksamer Leser wird bereits auf Weyrs Argument ein Gegenargument entdeckt haben, das sich anbietet. Konrad Hesse hat es deutlich und überzeugend formuliert, indem er anführt, daß in dem Rahmen, auf den sich der Imperativ der Unabänderlichkeit bezieht, notwendigerweise auch er selbst aufzunehmen ist: „Vor allem darf Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht dadurch gegenstandslos gemacht werden, daß er selbst im Wege der Verfassungsänderung beseitigt wird.“307 Ergänzen wir noch, daß im entgegengesetzten Fall der Imperativ der Unabänderlichkeit und seine Verankerung in demokratischen Verfassungen jeden vernünftigen Sinn verlieren. Durch dieses Argument, bzw. per reductionem ad absurdum, oder durch teleologische Reduktion, kann man nur zum Schluß gelangen, daß auch Art. 9 Abs. 2 der Verfassung der Tschechischen Republik, oder der Imperativ der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskerns dem Rahmen des begrifflichen Inhalts der „wesentlichen Merkmale des demokratischen Rechtsfalles“ unterzuordnen ist. Des Weiteren enthält Weyrs Überlegung noch einen weiteren logischen Fehler, auf den Merkl aufmerksam macht. Argumentiert Weyr mit logischer Unmöglichkeit, so kann er sie lediglich in einem einzigen Bezugssystem, und nicht in zweien zugleich betrachten. Merkl weist auf die Tatsache hin, daß die Unabänderlichkeit der 303
Ibidem, S. 109. Ibidem, S. 111. 305 F. Brychta, Otázka nezmeˇnitelnosti ústav (dt.: Die Frage der Unabänderlichkeit der Verfassungen), Zeitschrift: Cˇasopis pro právní a státní veˇdu. Jahrg. I, 1918, S. 4 – 15. 306 F. Weyr, Základy filosofie právní (Fn. 286), S. 106. 307 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 228), S. 269 – 270. 304
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Verfassung die Äußerung der Souveränität eines Souveräns darstellt; die Möglichkeit ihrer Änderung und Ergänzung ist also nur durch seinen Willen gegründet, der durch die Ermächtigung ausgedrückt wird. Der Imperativ der Unveränderlichkeit, welcher der Identität des Verfassungssystems zugrunde liegt, ist also der Verfassung immanent, und ist auch dann darin enthalten, wenn es nicht explizit ausgesprochen wurde. Die Ansicht Merkls teilt auch die derzeitige deutsche Verfassungslehre: „Die Frage, ob Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes selbst aufhebbar wäre, ist nach der hier vertretenen Auffassung falsch gestellt, weil Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes den Bestandsanspruch der Verfassung in ihrer Identität nicht begründet, sondern die Abänderlichkeit der Verfassung nach Art. 79 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes mit dem verfassungsimmanenten Bestandsanspruch des Grundgesetzes in Einklang hält.“ 308
Die Vorstellung von der Souveränität der Verfassung und der Unabänderlichkeit ihres materiellen Kerns, sowie ihre legitimierende und ermächtigende Funktion bieten somit die Möglichkeit, den kelsenschen Begriff der „Grundnorm“309 a posteriori (ähnlich wie in den Naturwissenschaften, z. B. der Physik310) rationell zu interpretieren. Auf der allgemeinen Ebene eröffnet sich dann die These, wonach man auch in den sozialen und nicht nur mathematischen, physikalischen ggf. allgemeinen Naturwissenschaften a priori analytische Konstruktionen entwickeln kann, zu welchen man a posteriori empirische Interpretationen mit Explikations- und Prädiktionspotential formuliert. Für Kelsen, der von der neukantschen Auffassung der nichtüberbrückbaren Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ausgeht, stellt die Kategorie der Souveränität des Staates – als Begriff der Rechtswissenschaft und nicht der Soziologie oder gar Politik – eine normative und keine faktuale Kategorie dar. Und als solche kann sie nicht anders als mittels einer Norm definiert werden, welche eine bestimmte, eigenständige Rechtsordnung identifiziert und die Ausschließlichkeit ihrer Gültigkeit begründet. Diese Norm ist für ihn die Grundnorm.311 An einer anderen Stelle fasst Kelsen seine Konzeption der Souveränität in folgenden Worten zusammen: „Dass der Staat souverän ist, kann aus der Sicht der normativen Theorie nichts anderes bedeuten, als dass das Normsystem, welches wir als Staatsordnung bezeichnen, seinen letzten Gültigkeitsgrund und somit auch seine Einigkeit in einer Norm findet, welche als die letzte angenommen wird, und welche als Grundnorm keine andere Begründung oder Ableitung erfordert. … Erst mit dieser hypothetischen Grundnorm werden die Einigkeit der 308 P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S. 802. 309 Zum Begriff der Grundnorm siehe H. Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 60), S. 196 ff. 310 Siehe z. B. die nichtklassische Geometrien (Lobatschewski, Gauss) und deren a posteriori physikalische Interpretation in der allgemeinen Relativitätstheorie oder in der sog. „BigBang“-Theorie (Urknalltheorie) (George Gamow), und die damit verbundene Vorstellung von der kosmischen Reliktstrahlung, die a posteriori im Jahr 1969 gemessen wurde und für deren Erforschung der Nobelpreis 2006 erteilt wurde. 311 Viz H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925; Nachdruck: Wien 1993, S. 102 ff.
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Staatsordnung sowie der rechtliche Charakter sämtlicher Handlungen erzielt, die diesen Staat bilden; dadurch kann man diese hypothetische Grundnorm als Verfassung im rechtslogischen Sinne bezeichnen, im Unterschied zur Verfassung im positiv rechtlichen Sinne, welche als erste auf der Grundlage dieser verfasst wurde.“312
Die Darlegung Kelsens ergänzt Weyr durch ein außerordentlich interessantes Argument, welches sich gegen die kausale und nicht die normative Betrachtung des Begriffes der Staatssouveränität wendet: „Der kausale Bereich, in dem sich die Unabhängigkeit des souveränen Repräsentanten äußert, verwandelt sich jedoch in den metanormativen Bereich, sobald wir die Unabhängigkeit als Befähigung zur Normschaffung bezeichnen wollen, die durch nichts und niemand eingeschränkt ist. Dies bedeutet, dass der Staat – sofern souverän – gänzlich unabhängig, d. h. ohne jedwede normative Einschränkung Normen mit dem Anspruch verfassen kann, diese als gültig zu betrachten. Diese Unabhängigkeit rührt von seiner obersten Macht her, welche er – nach der gängigen Meinung – gegenüber seinen Untertanen ausübt. Der Staat übt ihnen gegenüber das aus, was nach der geläufigen Ansicht als Imperium bezeichnet wird: er kann ihnen nach Belieben befehlen oder verbieten. Auch diese Unabhängigkeit des Staates (als Macht) kann jedoch nicht von einer Norm herrühren, die vielleicht lauten könnte: du kannst bestimmen, was dir gefällt, da eine solche ,Norm‘ nicht als Norm bezeichnet werden kann, indem sie als Ausdruck der absoluten Freiheit den logischen Gegensatz der Norm darstellt.“313
Somit gelangt Weyr anhand einer brillanten analytischen Überlegung, welche den indirekten Beweis (reductio ad absurdum) innehat, zu dem selben Schluss, wie auch das Bundesverfassungsgericht anhand der „Radbruchschen“ Formel,314 nämlich dass 312 H. Kelsen, Základy obecné teorie státní (dt.: Grundsätze der allgemeinen Staatstheorie), Brno 1926, S. 32. 313 F. Weyr, Teorie práva (Fn. 142), S. 228. 314 Die Radbruchsche Formel hat nicht nur im rechtsphilosophischen Denken, sondern auch in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes breite Anwendung gefunden. Am berühmtesten ist in diesem Zusammenhang das Urteil zur Staatsangehörigkeit aus dem Jahre 1968 geworden (BVerfGE 23, 98). Das Gericht hatte darin den Erlaß Nr. 11 zum Gesetz über die Reichsbürgerschaft vom 24. 11. 1941 (GBl. I., S.772) zu beurteilen, auf dessen Grundlage den ausgewanderten Juden die Staatsangehörigkeit und das Eigentum genommen wurden. Der Kern der Überlegung des Gerichtes ist in der folgenden Passagen enthalten: „Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein „Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch Gesetzgeber Unrecht setzen kann“ (BVerfGE 3, 225 [232]). Daher hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit bejaht, nationalsozialistischen „Rechts“-Vorschriften die Geltung als Recht abzuerkennen, weil sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. … Die 11. Verordnung verstieß gegen diese fundamentalen Prinzipien. In ihr hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muß. … Sie ist auch nicht dadurch wirksam geworden, daß sie über einige Jahre hin praktiziert worden ist oder daß sich einige der von der „Ausbürgerung“ Betroffenen seinerzeit mit den nationalsozialistischen Maßnahmen im Einzelfall abgefunden oder gar einverstanden erklärt haben. Denn einmal
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– soll die positive (souveräne, hoheitliche) Machtordnung (Rechtsordnung) nicht der Willkür verfallen – sie mit dem iusnaturalistischen Blick die „metaphysische Appendix“ oder den metanormativen materiellen Kern erfassen, und mit dem analytischen Blick die hypothetische Grundnorm als Basis berücksichtigen muss. Frantisˇek Weyr war bedeutende wissenschaftliche Persönlichkeit und ein Rechtsphilosoph, der zu den respektierten Teilnehmern am europäischen rechtsphilosophischen Diskurs gehörte. Aus diesem wurde er jedoch ausgeschlossen – so wie einige seiner Kollegen auch, zum ersten Mal nach 1939, nach der Besatzung Böhmens und Mährens durch Hitlerdeutschland,315 endgültig dann nach 1948, nach der kommunistischen Machtergreifung in der damaligen Tschechoslowakei, nach dem zwangsläufigen Verlassen der Universität und nach dem Errichten des Eisernen Vorhangs in Europa. In den darauffolgenden – letzten – drei Jahren seines Lebens verfasst Weyr weitere Studien, die jedoch erst nach November 1989 aus seinem Nachlass veröffentlich wurden. Ähnlich wie Gustav Radbruch nach 1945 kann auch Frantisˇek Weyr nicht die im 20. Jahrhundert so stark zunehmende Spannung zwischen Moral und Recht unberücksichtigt lassen, ein Problem, für welches gerade Radbruch die ausgesprochen zutreffende Bezeichnung fand: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht.316 Scharfe Ablehnung der Reinen Rechtslehre von Seiten der Repräsentanten der nazistischen oder der faschistischen, aber auch der kommunistischen oder marxistisch-leninistischen Rechtslehre, stellte für Weyr die Bestätigung dar, dass sein Weg des wissenschaftlichen Denkens richtig ist: „Meine Lehre ist sich dessen sehr wohl bewusst, dass man ggf. die moralischen (ethischen) Normen und die Rechtsnormen auch anders konstruieren könnte – z. B. so, dass wir als die einzig wahre und gültige Rechtsnorm nur eine solche betrachten, deren Inhalt mit dem Grundsatz einer Ethik konform ist (d. h. ihr positiv gegenüber steht). Dadurch würden wir jedoch auf die Möglichkeit verzichten, Sitte (Ethos) und Recht als zwei voneinander unterschiedliche Normbereiche auseinanderzuhalten, und in einem solchen einheitlichen ethisch-rechtlichen Normsystem wäre zudem kein Platz für Normen, deren Inhalt offensichtlich ethisch indifferent ist, wie zum Beispiel die Norm, dass man auf den öffentlichen Wegen rechts zu fahren und links zu überholen hat usw. … Solche und ähnliche Überlegungen legte ich während meines gesamten pädagogischen Wirkens vor … und ergänzte sie um meine Auslegungen über das Wesen der normativen Theorie als der formellen Lehre über die Rechtserkenntnis, indem ich häufig auf die Parallelität zwischen dieser Lehre und gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechts verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, daß es angewendet und befolgt wird.“ 315 Im Jahr 1939, anlässlich des 60. Geburtstags Weyrs, war bereits seine Festschrift zum Druck vorbereitet, zu welcher viele hervorragende Kollegen aus dem Ausland – als Ausdruck der Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit – ihren Beitrag leisteten: Hans Kelsen (Théorie du droit international coutiumier), Gustav Radbruch (Die Natur der Sache als juristische Denkform), Rudolf Aladár Métall (Verfassungsrecht und Auslieferung), Julius Moór (Der Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz), Simon Rundstein (Die Rechtssprechung als Erkenntnisquelle der Rechtstheorie) und viele andere; dieses Werk wurde jedoch wegen der bereits begonnenen Besatzung durch die Hitlerarmee nicht mehr veröffentlicht (siehe F. Weyr, Pameˇti [dt. Erinnerungen], 3. Za okupace [1939 – 1951], Brno 2004, S. 18 – 19). 316 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (Fn. 80), S. 211 ff.
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der Mathematik als einer ebenso formellen Lehre hingewiesen habe, … hinzufügend …, dass die Regeln mathematischer Lehrsätze ohne Rücksicht darauf gelten, was wir zusammenzählen – sei es Äpfel, Knöpfe, Geld oder vielleicht auch nur inhaltslose Zahlen – und ohne Rücksicht darauf, ob solche mathematischen Operationen von einem Heiligen vorgenommen werden, der sein Geld unter die Bedürftigen verteilt, oder von einem Dieb, der feststellen will, was ihm sein letzter Diebstahl brachte, oder von jemanden, der einfach nur das Geld zusammenzählt, das er in seinen Taschen hat, um festzustellen, ob die Summe für ein Mittagessen reicht. … Mathematik als besondere Disziplin und ihre Lehrsätze tragen keinerlei Schuld, sollte sich das Ergebnis der vorstehend aufgezeichneten rechnerischen Operationen des Heiligen, des Diebes oder des Gaststättenbesuchers als erfreuliche oder – im Gegensatz – traurige Angelegenheit herausstellen. … Mathematik bleibt ähnlich wie die normative Theorie an solchen erfreulichen oder traurigen Erkenntnisse völlig unbeteiligt und … die einzige Begeisterung, die sie unter Umständen hervorrufen kann, ist die über die absolute Sicherheit und allgemeine Gültigkeit dieser Ergebnisse, zu welchen sie gelangt: nämlich dass zwei mal zwei stets, überall und unter allen Umständen vier bleibt.“317
Frantisˇek Weyr war kein „Solitaire“. Er gründete die Schule der Reinen Rechtslehre, in der sich zahlreiche Gleichgesinnte aus seiner Generation, aber auch viele seiner Schüler profilierten. Sie alle haben sich für das Verbreiten der wesentlichen Thesen der normativen Rechtstheorie in den einzelnen Bereichen der Rechtswissenschaft verdient gemacht.318 Stellvertretend für viele der berühmten Persönlichkeiten möchte ich an dieser Stelle Vladimír Kubesˇ 319 nennen. Die philosophisch-rechtliche Wirkung von Vladimír Kubesˇ fällt sowohl in die erste als auch in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Bücher und Studien, die bereits in einen Zeitraum fallen, der den Zeitrahmen dieser Erwägung überschreitet, wurden nota bene in wesentlichen Teilen bereits in deutscher Sprache veröffentlicht und sind so dem deutschen Fachpublikum zugänglich. Zu erwähnen wären jedoch die originellen Konzeptionen Kubesˇ’ aus den Anfängen seiner wissenschaftlichen Karriere, d. h. aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ich habe eine 317 F. Weyr, Étos, politická ideologie a právo (dt.: Ethos, politische Ideologie und Recht), in: M. Vecˇerˇa (Hrsg.), Frantisˇek Weyr, Brno 2001, S. 216 – 217. 318 Bibliographie der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre zusammengestellt von Vladimír Kubesˇ siehe in: Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), Wien 1980, S.341 ff. 319 Geb. 1908, gest. 1988. Professor der Jurafakultät der Masaryk-Universität in Brünn; nach 1948 war er aus politischen Gründen gezwungen die Universität zu verlassen. Erneut übte er hier sein Amt kurz zu der Zeit des Prager Frühlings (1968) aus. In den Jahren 1974 bis 1981 war er als Gastprofessor auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fkultät der Wiener Universität tätig. Zu seinen bedeutendsten rechtsphilosophischen Werken zählen: Nemozˇnost plneˇní a právní norma (dt.: Die Unmöglichkeit des Leistens und die Rechtsnorm), Praha/Brno 1938, 280 S.; Právní filosofie XX. století (dt.: Rechtsphilosophie des XX. Jahrhunderts), Brno 1947, 138 S.; Grundfragen der Philosophie des Rechts, Wien/New York 1977, 87 S.; Die Rechtspflicht, Wien 1981, 168 S.; Ontologie des Rechts, Berlin 1986, 470 S.; Theorie der Gesetzgebung, Wien/New York 1987, 299 S. Aus den Werken über Kubesˇ siehe insbesondere: H. Slapnicka, Autobiografien dreier tschechischer Rechtslehrer: Frantisˇek (Franz) Weyr, Vladimír Kubesˇ, Viktor Knapp, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte, 25. Jahrgang, 2003, Nr. 1/2, S. 63 ff.
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davon ausgewählt, die sich der Beziehung zwischen Kausalität und Normativität, oder auch zwischen Möglichkeit (Notwendigkeit) und Pflicht (Erlaubnis) widmet. Das Rechtsdenken bedient sich normativer Modalitäten, jedoch nicht nur dieser. Es kommen auch alethische Modalitäten, d. h. Modalitäten der Notwendigkeit und der Möglichkeit zum Einsatz. Diese Modalitäten widerspiegeln die kausalen, ggf. die analytischen Beziehungen (d. h. die Beziehung zwischen der Ursache und ihrer Wirkung).320 Eine poetisch-literarische Erläuterung der Beziehung zwischen der Unmöglichkeit und der Pflicht bietet das Sinnieren des Königs, den Saint-Exupéry’s Kleiner Prinz auf seinem Weg durch das All besucht: „Wenn ich einem General geböte, nach der Art der Schmetterlinge von einer Blume zur andern zu fliegen oder eine Tragödie zu schreiben oder sich in einen Seevogel zu verwandeln, und wenn dieser General den erhaltenen Befehl nicht ausführte, wer wäre im Unrecht, er oder ich?‘ ,Sie wären es‘, sagte der kleine Prinz überzeugt. ,Richtig. Man muß von jedem fordern, was er leisten kann‘, antwortete der König. ,Die Autorität beruht vor allem auf der Vernunft. Wenn du deinem Volke befiehlst, zu marschieren und sich ins Meer zu stürzen, wird es revoltieren. Ich habe das Recht, Gehorsam zu fordern, weil meine Befehle vernünftig sind.‘“321
Seit den Anfängen der europäischen Zivilisation gehört zum festen Bestandteil der Bemühung um das Verstehen der Beziehungen zwischen der Welt des Seins und des Sollens auch das Erforschen der Wechselwirkung zwischen den alethischen Modalitäten und den Modalitäten der Verpflichtung und der Erlaubnis (deontische Modalitäten), und somit auch die Analyse der Beziehungen zwischen der Notwendigkeit und der Möglichkeit einerseits und der Verpflichtung (d. h. dem Gebot und dem Verbot) und der Erlaubnis anderseits. Und ohne Zweifel verbindet jeder europäische Jurist diese Kategorien sofort mit dem berühmten Satz von Celsus: „Impossibilium nulla obligatio“ (D 50, 17, 185). Den rechtlich philosophischen Kern der Problematik der Beziehung zwischen den alethischen und den normativen Modalitäten sah Vladimír Kubesˇ in folgender Distinktion: „Durch die gesamte Lehre von der Unmöglichkeit zieht sich – bewusst oder unbewusst – wie ein roter Faden die Frage: stellt der Satz ,impossibilium nulla obligatio‘ lediglich eine positive Regel des römischen Rechts dar, oder ist er ein naturrechtliches Axiom, das heißt eine apriorische Bestimmung in jeder positiven Rechtsordnung?“322 320 Zur Analyse philosophischer und logischer Konzeptionen solcher Beziehungen siehe P. Holländer, Logical Models of the Relation Between Duty and Necessity, Permissibility and Possibility, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 78, Heft 2, 1992, S. 242 – 258. 321 A. de Saint Exupéry, Le petit prince (1943), Paris 2006, S. 44 (hier Zitat aus der deutschen Übersetzung). 322 Komentárˇ k cˇeskoslovenskému obecnému zákoníku obcˇanskému a obcˇanské právo platné na Slovensku a v Podkarpatské Rusi (dt.: Kommentar zum tschechoslowakischen All-
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Celsus’ Satz, wonach die (kausale bzw. analytische) Unmöglichkeit das Erlöschen der Verpflichtung zu Folge hat, möge auch der Ausgangspunkt für die folgende Analyse der komplexen Beziehungen zwischen den alethischen und den deontischen Modalitäten sein. Kubesˇ’ Distinktion ergießt sich durch die Geschichte des gesamten europäischen Rechtsdenkens. Die römischen Juristen Gaius und Paulus führten den Satz „impossibilium nulla obligatio“ auf „naturalis obligatio“323 zurück; zu den repräsentabelsten Verfechtern der Apriori-Auffassung der Unmöglichkeitskategorie im Rechtsdenken zählen im 19. und 20. Jahrhundert Franz von Zeiller, Hauptschöpfer des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches aus dem Jahr 1811 und Bekenner der Kantschen Noetik,324 aber auch Philipp Heck, einer der bedeutendsten Vertreter der juristischen Methodenlehre der Interessenjurisprudenz.325 Ein typischer Verfechter der gegensätzlichen Herangehensweise war F. Weyr (der paradoxerweise – genauso wie Zeiller – von Kant beeinflusst wurde): „Die Norm ist ein Ausdruck dafür, was sein soll was zu sein habe. Man kann also sagen, dass – indem wir die Norm erkennen, wir gleichzeitig auch deren Inhalt erforschen, das heißt das, was nach dieser Norm sein soll. Die Norm kann etwas Beliebiges zum Inhalt haben. …. Betrifft der Inhalt der Norm etwas, was nicht ist (sprich: in der Außenwelt), ist es egal, ob es früher mal war (aber nicht mehr ist), also nichts, oder ob es mal (herbeigeführt) wird, oder ob es gemäß den Naturgesetzen nie werden kann. Dies alles ist für die Art des normativen Erkennens unerheblich, woraus wiederum die vollkommene methodische Trennung der beiden Welten resultiert: der Welt, wie sie ist (nach dem kausalen Gesetz), und der Welt, wie sie zu sein hat (nach der Norm). … Lediglich für den praktischen Gesetzgeber stellt eine gewisse mögliche und voraussehbare Spannung zwischen der Welt, wie sie ist, und wie sie es sein soll, eine unabkömmliche Vorbedingung seiner Tätigkeit dar (sofern diese als vernünftig, d. h. sinnvoll betrachtet werden soll). … Es wäre daher eine methodologische Verfehlung zu behaupten (was jedoch häufig der Fall ist), dass das, was aus der Sicht des praktischen Gesetzgebers vielleicht als eine unmögliche, sinnlose oder undenkbare Norm erscheint, nicht als Gegenstand der normativen Erkundung tauglich ist, d. h. nicht gilt (= und daher normativ nicht existent ist), oder (logisch) nicht gelten kann. Damit würden wir nämlich behaupten, dass Vorstellungen von Normen, die nicht entstehen oder zumindest nicht als Motive funktionieren können, auch nicht zum Gegenstand der normativen Erkundung werden können.“326
gemeinen Zivilgesetzbuch und Zivilrecht in der Slowakei und in Karpatenrussland), Teil vier, hrsg. v. F. Roucˇek/J. Sedlácˇek, Praha 1936, S. 109. 323 Siehe V. Kubesˇ, Nemozˇnost plneˇní a právní norma (dt.: Unmöglichkeit des Leistens und Rechtsnorm), Praha/Brno 1938, S. 169. 324 F. von Zeiller, Das natürliche Privat-Recht, 3. Aufl., Wien 1819, S. 148, 149. Zeillers apriore Wahrnehmung der Kategorie der Unmöglichkeit im Recht wurde von der philosophischen Konzeption Immanuel Kants beeinflusst. 325 Ph. Heck, Grundriß des Schuldrechts, Tübingen 1929, S. 21, 93, 139. 326 F. Weyr, Teorie práva (Fn. 142), S. 34, 35, 56.
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Weyrs Schüler Ota Weinberger argumentiert zugunsten der Unterscheidung normativer und alethischer Modalitäten mit Hilfe einer anderen These: „Die Beschränkung des Sollens auf Mögliches (sc. empirisch Mögliches, im Unterschied zum logisch Möglichem) halte ich für sehr problematisch. Sie würde einerseits Ideale, die nur approximativ erfüllbar sind, als Norminhalte ausschließen, z. B. die generelle Norm ,Du sollst nicht stehlen‘, da die Soziologie uns darüber belehrt, daß unbeschränkte Befolgung dieser Norm empirisch unmöglich ist.“327
Unter den tschechischen Rechtsphilosophen widmete sich der Problematik der Beziehung zwischen der Unmöglichkeit und der Normalität gerade Vladimír Kubesˇ. Seiner Betrachtungsweise liegt die Prämisse zugrunde, wonach zum Definitionsmerkmal des Rechts als Gesamtheit (nicht jedoch einer einzelnen Rechtsnorm) auch dessen „gewisse Faktizität“328 gehört. In Bezug auf das eigentliche Problem schlussfolgert er dann: „Nur diejenige Rechtsordnung, die auf einer gewissen Stufe faktizid (gegeben) ist, betrachten wir als gültige Rechtsordnung, bzw. als Rechtsordnung schlechthin. Damit eine Rechtsordnung faktizid wird, muss der Durchschnitt der hier festgelegten Pflichten vollbringbar und somit auch möglich sein. So erscheint uns die Forderung nach Faktizität als Forderung nach Möglichkeit. Eine Rechtsordnung, die in ihrem Durchschnitt unmöglich ist und Pflichten beinhaltet, die nach den Naturgesetzen nicht erfüllbar sind, ist keine gültige, sondern eine ungültige Rechtsordnung, besser gesagt – hier haben wir es mit überhaupt keiner Rechtsordnung zu tun. Daher stellt die Möglichkeit der Rechtsordnung als Gesamtheit, d. h. ihre Erfüllbarkeit im Durchschnitt, die essentielle Eigenschaft der Rechtsordnung dar. Und demzufolge hat die theoretische Unmöglichkeit, die Unerfüllbarkeit im Durchschnitt, umgehend auch die Ungültigkeit des Rechtes als Gesamtheit, und die Ungültigkeit der Rechtsordnung als Gesamtheit zu Folge.“329
Diese Schlussfolgerung über die apriorischen Auswirkungen der Unmöglichkeit auf die Gültigkeit der Rechtsordnung als Gesamtheit gilt jedoch nach Kubesˇ nicht für eine konkrete Rechtsnorm: „Eine Rechtsnorm, obgleich sie auch eine theoretisch unmögliche Leistung beinhaltet, stellt trotzdem eine gültige Rechtsnorm dar, da allein ihre Eingliederungsfähigkeit im Gesamtsystem der Rechtsordnung, d. h. im Rahmen der übergeordneten Delegationsnorm, über ihre Gültigkeit zu entscheiden hat. Nur dann, wenn die übergeordnete Rechtsnorm eine ausdrückliche Regelung beinhalten würde, dass nämlich die untergeordnete Norm – um als sc. gültige Rechtsnorm zu gelten – zwecks ihrer Gültigkeit eine mögliche Leistung beinhalten muss – nur in diesem Falle dürfte diese untergeordnete Rechtsnorm, um als gültige Rechtsnorm zu gelten, auf keine unmögliche Leistung hinauszielen; dann hätten wir es aber mit einer positiv-rechtlichen Bestimmung und nicht mit der Frage der apriorischen Unmöglichkeitskategorie zu tun.“330
327 328 329 330
O. Weinberger, Alternative Handlungstheorie (Fn. 57), S. 190. V. Kubesˇ, Nemozˇnost plneˇní a právní norma (Fn. 323), S. 222 – 223. Ibidem, S. 234. Ibidem, S. 236.
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Anders gesagt: für Kubesˇ ist in der Rechtsordnung, die hinsichtlich der Faktizität der Gesamtheit als gültig betrachtet wird, die Gültigkeit einer konkreten Rechtsnorm durch eine im Rahmen des Stufenaufbaus (Hierarchie) der Rechtsordnung existierende Ermächtigungsnorm gegeben, nicht jedoch durch die Kategorie der AprioriMöglichkeit. Anhand der Interpretation des § 878 im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch löst er dann dieses Problem mit Hilfe einer Konstruktion, wonach die darin beinhaltete positive Ermächtigungsnorm die Möglichkeit als Gültigkeitsbedingung beinhaltet (d. h. im gegebenen Fall, dass die Maxime „impossibilium nulla obligatio“ eine positiv-rechtliche und keine apriorische, oder metapositiv-rechtliche bzw. naturrechtliche Kategorie darstellt). Die analytische Jurisprudenz, deren ausgeprägte Form die Reine Rechtslehre bietet, hegt den Anspruch, mittels Apriori-Analyse und der Systemisierung der Rechtsbegriffe ein konsistentes wissenschaftliches System zu erschaffen (anders gesagt – zum Gegenstand der Erkundung wird die deontisch ideelle Welt). Im Gegensatz zu der traditionellen Rechtslehre, welche die empirischen Fakten in Form von Begriffen systemisiert, klassifiziert, verallgemeinert und interpretiert (positive Normen bzw. auch soziale Erscheinungen), erscheint die Konfrontation mit der Empirie für die analytische Jurisprudenz häufig irrelevant zu sein. In diesem Zusammenhang sind jedoch zwei Begriffe zu unterscheiden: jedwede gedachte (d. h. im kantschen Sinne mögliche) deontische Welt und eine deontisch ideelle Welt. Die definitionsrelevante Eigenschaft der deontisch ideellen Welt sieht G. H. von Wright in der Vorstellung, wonach der „ideelle“ Zustand das Ergebnis des rationellen Wollens darstellt, und die deontische Logik bedeutet „das Studium von Bedingungen, welche bei der rationellen normschaffenden Tätigkeit erfüllt werden müssen“.331 Ähnlich überlegt auch Franz von Kutschera, ein weiterer der bedeutendsten Erschaffer der Normenlogik, indem er erklärt: „vernünftige normative Systeme müssen stets realisierbar sein“, wobei er die Struktur eines solchen Systems von der Maxime „impossibilium nulla obligatio“ ableitet.332 Stellt jedoch Kubesˇ die Frage, inwiefern die Kategorie der Unmöglichkeit in Bezug auf die normativen Modalitäten eine apriorische (was für ihn „naturrechtliche“) oder eine aposteriorische (sprich: „positivrechtliche“) Kategorie darstellt, ist diese Formulierung nicht präzise genug. Die Beziehung zwischen der deontisch ideellen und der deontisch wirklichen Welt ist mit der Beziehung des Naturrechts und des positiven Rechts nicht identisch. Die Auffassung der deontisch ideellen Welt ist im Gegensatz zur Auffassung des Naturrechts nicht mit deren Verständnis im Sinne der Gültigkeitsgründe verbunden, sondern lediglich mit dem Standpunkt zur Bewertung der deontisch wirklichen Welt (sprich: des positiven Rechts). Es ist dann eine andere Sache, wenn die Maximen der deontisch ideellen Welt, deren Begrün331
G.H. von Wright, Is and Ought, in: Bulygyn/J.L. Gardies/I.Niiniluoto (ed.), Man, Law and Modern Forms of Life, Dordrecht/Boston/Lancaster 1985, S. 272; G.H. von Wright, Is There a Logic of Norms? Ratio juris, 4/1991, S. 266. 332 F. von Kutschera, Grundlagen der Ethik, Berlin/New York 1982, S. 68 – 70.
IV. E. Chalupny´ – soziologisch-rechtlicher Leitweg
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detheit im Allgemeinen geteilt wird (und dies auch innerhalb des Systems des geschriebenen Rechts), die Qualität des positiven Rechts erlangen – sei es auf dem Weg der Legislative, der rechtlichen Gewohnheiten oder der richtlichen Fortbildung des Rechts. Auf diese Weise kann man die Maxime „impossibilium nulla obligatio“ eher für eine aus der deontisch ideellen Welt stammende Maxime halten, deren Nicht-Akzeptanz in der deontisch wirklichen Welt die innere Widersprüchlichkeit derselben zu Folge hat. Ihre Gültigkeit in der deontisch wirklichen Welt (d. h. zum Beispiel in einer konkreten Rechtsordnung) kann dabei durch eine explizite Regelung des Gesetzgebers begründet werden, genauso aber ist auch ihre Verankerung als Rechtsgewohnheit oder mittels einer Gerichtsentscheidung (mit allen Präzedenzfolgen) denkbar. Natürlich kann man sich in einer bestimmten Rechtsordnung auch ihre Absenz vorstellen. Allerdings würde eine solche Rechtsordnung, die eine Pflichtregelung des kausal nicht möglichen Verhaltens beinhaltet, auf Grund des Widerspruchs zur Rationalität und Gerechtigkeit mit Gewissheit eine erhebliche Spannung in einer solchen menschlichen Gemeinschaft begründen.
IV. Emanuel Chalupny´ – soziologisch-rechtlicher Leitweg in der Rechtsphilosophie Eine eigenständige Erscheinung sowohl in Bezug auf die berufliche Profilierung als auch aufgrund des schwierigen Lebensweges stellt die Persönlichkeit von Emanuel Chalupny´ dar.333 Mit seinem Werk repräsentiert er eine wissenschaftliche 333 Emanuel Chalupny´ (geb. 14. 12. 1879, gest. 27. 11. 1958), Pädagoge, Rechtsanwalt, Soziologe, Schriftsteller und Sprachwissenschaftler. Er beschäftigte sich mit den Beziehungen zwischen Soziologie, Philosophie und Recht, bemühte sich um die Schaffung einer genauen soziologischen Begriffsbestimmung und die Begründung der soziologischen Methodologie; Mitbegründer des Soziologischen Institutes, Mitbegründer und später auch der Vorsitzende der soziologischen Gesellschaft Masaryks, Mitglied und Vizepräsident (1934 – 1935) des Internationalen Soziologischen Institutes in Paris. Als Rechtsanwalt geriet er häufig in scharfe akademische Dispute, was dazu geführt hat, dass er seine Habilitation erst im Jahre 1921 an der Masaryk-Universität in Brno erlangte. Ohne Erfolgt bemühte er sich um die Professur der Soziologie an der neuen Universität in Bratislava, und damit war er ab 1923 als Dozent der Soziologie an der Universität in Brno tätig. Ferner habilitierte er im Jahr 1924 in der Soziologie an der Tschechischen technischen Hochschule in Prag. Im Jahr 1928 wurde er zum Professor der Soziologie an der Freien Schule politischer Wissenschaften in Prag berufen (die jedoch keinen Status als Hochschule erlangte), im Jahr 1936 zum außerordentlichen Professor an der Masaryk-Universität in Brno. Als Schüler Masaryks setzte er die Weiterentwicklung der Soziologie, deren Grundlagen Masaryk schaffte, fort. Seine lebenslangen Bemühungen gipfelten in 14 Bänden der systematischen Soziologie, die den einzelnen Aspekten dieser Wissenschaft gewidmet wurden. Der Wissenschaftler und Schriftsteller Chalupny´ wurde in mancher Hinsicht von den totalitären Regimes gekennzeichnet – nach der nazistischen Ära hat er in den Jahren 1945 bis 1948 mehrere Bücher herausgegeben, nach der Machtergreifung durch die Kommunisten im Jahr 1948 durfte er jedoch seine Werke nicht mehr veröffentlichen. Zu seinen
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C. Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
Richtung, die sich ihrer Zeit der bedeutendsten Strömungen in der tschechischen Rechtsphilosophie entzogen hat – der Inhalt und die Darlegung des Werkes von Emanuel Chalupny´ bringen eine scharfe Kritik der damaligen Rechtsphilosophie mit sich. Die strikte Unterscheidung zwischen Recht und Moral stellt die Schlüsselthese seiner Rechtsphilosophie dar. Als einziger im tschechischen Umfeld reflektiert er dabei nicht nur die Werke mittel- und westeuropäischer Rechtsphilosophen, sondern auch die der russischen und ukrainischen. Die genannte These stützt er auf die Aussage von V. S. Solovjev, wonach „es zur Aufstellung eines ausreichenden Prinzips zur Unterscheidung des Rechts und der Moral erforderlich ist, ein Element im Recht zu finden, welches mit der Moral überhaupt nicht verbunden ist und jedwede ethnische Bedeutung missen lässt“.334 Den Inhalt dieser These formuliert er dann wie folgt: „Das Recht stellt weder eine mit der Moral verwandte Erscheinung, noch deren Gegenteil dar. Vielmehr stellen beide völlig eigenständige kulturelle Komponenten dar, wobei jede davon ihren besonderen Charakter und Zweck innehat; daher sind ihre Berührungspunkte nicht anders als die Berührungspunkte anderer Bestandteile der Zivilisation, wie zum Beispiel die der Kunst und Erziehung, der Wirtschaft und der Sprache, der Technik und der Organisation etc.: manchmal stehen sie im Einklang, manchmal kreuzen sie sich und kollidieren miteinander, und manchmal wirken sie sogar völlig unabhängig voneinander, d. h. zuweilen lässt das Recht die Moral außer acht, ein andermal ignoriert die Moral das Recht.“335
In seiner Polemik über die Auffassung des Rechts im Sinne des Rechtsminimums (V.S. Solovjev, G. Jellinek, E. Svoboda, G. Radbruch und S. Dnistrajnskij) argumentiert Chalupny´ mit der Behauptung, dass die entscheidende Mehrheit der rechtlichen Phänomene keine „besondere Verbindung zur Moral“336 aufweist. Er selbst sagt: „… sofern die Rechtsphilosophie bestrebt ist, Rechtsphänomene zu deuten, wird sie eigentlich zur Rechtssoziologie, nämlich zur speziellen ,Gesellschaftswissenschaft‘; sofern sie versucht, mit Hilfe von Spekulation hinter die Grenzen von Phänomenen zu gelangen und zum Beispiel den ewigen Sinn der Gerechtigkeitsidee zu suchen, hört sie auf, eine Wissenschaft zu sein und wechselt zum Bereich der Metaphysik und Mystik. Aber selbst in wichtigsten und bedeutendsten rechtsphilosophischen Titeln gehören: Sociologie. Sociologie a filosofie práva a mravnosti. Cˇást I (dt.: Soziologie. Soziologie und Philosophie des Rechts und der Moral. Teil I), Praha 1929; Logika veˇd (dt.: Logik der Wissenschaften), Praha 1945. Aus den Werken über Chalupny´ siehe insbesondere: Emanuel Chalupny´, cˇeská kultura, cˇeská sociologie a Tábor (dt.: Emanuel Chalupny´, tschechische Kultur, tschechische Soziologie und Tábor), hrsg. v. J. Zumr, Praha 1999. 334 E. Chalupny´, Sociologie. Sociologie a filosofie práva a mravnosti. Cˇást I (dt.: Soziologie. Soziologie und Philosophie des Rechts und der Moral. Teil I), Praha 1929, S. 102 (der Schluss Solovjevs zitiert nach: V. S. Solovjev, Sobranije socˇinenija, VIII, Bd. 2, hrsg. in S. Petersburg 1913, S. 536). 335 Ibidem, S. 152. 336 Ibidem, S. 165.
V. J. Kallab, K. Englisˇ – Phänomenologie und neukantsche Lehre
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dieser Form ist sie insofern auf die Soziologie angewiesen, als weder der metaphysische noch der mystische Sinn der Gerechtigkeitsidee nicht anders denkbar ist, als im Rahmen der gesamten Kultur – in der Welt der Natur ohne die menschliche Kultur ist auch die Gerechtigkeitsidee nicht denkbar – daher ist eine solche Rechtsphilosophie in der heutigen Zeit nur als Bestandteil der sozialen Philosophie vorstellbar.“337
Chalupny´ lehnt die Reine Rechtslehre strikt ab, und misst ihr nur eine „unerhebliche wissenschaftliche Bedeutung“ bei. Nach seiner Auffassung „erlangte sie durch zufällige Gegebenheiten von außen einen Einfluss, der ihre wissenschaftliche Qualität bei Weiten übersteigt“, wobei er als „zufällige Gegebenheiten“ den „fanatischen Eifer ihrer Epigonen, die Propaganda, Werbung und schließlich auch die zufällige Konjunktur“338 bezeichnet. In seiner Zeit allein auf weiter Flur stehend, später – nach der kommunistischen Machtergreifung – in Vergessenheit geraten, wird er im tschechischen rechtsphilosophischen Denken erst nach 1989 nach und nach neu entdeckt.339
V. Jaroslav Kallab, Karel Englisˇ – Phänomenologie und neukantsche Lehre in der Rechtsphilosophie Jaroslav Kallab340 unterscheidet sich in seiner Konzeption von Frantisˇek Weyr durch die Interpretation der kantschen Dichotomie zwischen Sein und Sollen, aber auch durch das Erfassen des Begriffes einer Sache an sich. Die Folge ist das pluralistische Verständnis der Rechtswissenschaft: „Als wissenschaftlich gilt nur dasjenige Urteil, das seinen Inhalt aus der Erfahrung nimmt, und das aus dem Streben nach der Erkenntnis dessen, was ist (also nur als objektives Urteil) gebildet wurde. Analoges gilt für das Gebiet dessen, was sein soll. Auch die Erkenntnis dessen, was sein soll, kann ich nicht anders ausdrücken, als in der Form der Norm, aber nicht jede Norm ist eine Erkenntnis dessen, was sein soll. Es kann sich auch um den Ausdruck eines Wunsches, einen Befehl, einen Ausdruck der Willkür, der Gewalt usw. handeln. Was einer Norm den Sinn der Norm gibt, ist also nicht die Form der Norm, sondern ihr Inhalt; nämlich dass es sich um ein Ergebnis der Wahl zwischen möglichen Antworten auf die Frage, was sein soll, handelt, und zwar einer Wahl, bei der es dem Erkennendem um die Bildung einer allgemeingültigen Erkenntnis ging. Als wissenschaftlich anerkennen wir also 337
Ibidem, S. 12. E. Chalupny´, Logika veˇd (dt.: Wissenschaftslogik), Praha 1945, S. 46. 339 Siehe Emanuel Chalupny´, cˇeská kultura, cˇeská sociologie a Tábor (dt.: tschechische Kultur, tschechische Soziologie und Tábor), hrsg. v. J. Zumr, Praha 1999. 340 Geb. 1879, gest. 1942. Professor für Strafrecht und Strafverfahren an der Jurafakultät der Masaryk-Universität (seit 1919), dreimal Dekan dieser Fakultät, in den Jahren 1927 und 1928 Rektor der Universität. U.a. nahm er als Experte der tschechoslowakischen Delegation an der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg teil. Sein wichtigstes rechtsphilosophisches Werk ist das Buch: Úvod ve studium metod právnicky´ch (dt.: Einführung in das Studium der Rechtsmethoden), Bd. I. (144 S.), II. und III. (266 S.), Praha 1920 – 1921. 338
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nur die objektive Norm, und zwar in dem oben dargelegten Sinn. Wenn Weyr sagt, daß die Wissenschaft nichts schaffen kann, sondern nur erkennt, wende ich ein, dass das Erkennen nicht anders möglich ist, denn als ein Bilden objektiver Urteile. Ich mache darauf aufmerksam, dass das nicht nur in Bezug auf das Erkennen dessen gilt, was ist, sondern auch in Bezug auf das Erkennen dessen, was sein soll – wo wir allerdings schon nicht mehr von Urteilen, sondern von Normen sprechen. Wenn dann nach der Lehre der Normativisten die Aufgabe der Rechtswissenschaft in der Erkenntnis dessen besteht, was sein soll, können wir dies auf zweierlei Art verstehen: Entweder wir machen die Norm zum Gegenstand unserer Erkenntnis, wir sagen über sie aus, daß sie ist. Das ist, wenn es sich um Rechtsnormen handelt, Weyrs Wissenschaft vom Recht. Oder wir versuchen, selbst die Antwort auf die Frage, was sein soll, zu geben, eine objektive Norm zu bilden, und das ist mein Begriff der Rechtswissenschaft.“341
Kallabs Lehre – ähnlich wie bei Weyr auch – übte großen Einfluss auch auf seine zahlreichen Kollegen – stellvertretend auch auf Bohusˇ Tomsa,342 einen bedeutenden Propagandisten der Rechtsphilosophie und Verfasser vieler philosophisch-historischer und didaktischer Werke aus.343 Weyrs nahestehender Freund und Kollege an der Brünner Juristischen Fakultät war Karel Englisˇ,344 ausgebildeter Jurist mit Orientierung auf die Volkswirtschaft, 341 J. Kallab, Právní veˇda a veˇda o právu. Poznámky k Weyroveˇ noetice (dt.: Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht. Bemerkungen zu Weyrs Erkenntnistheorie), Zeitschrift: Cˇasopis pro právní a státní veˇdu, XVIII, 1935, S. 337 – 339. 342 Geb. 1888, gest. 1977. 1921 – 38 war er an der Rechtsfakultät der Komensky´-Universität in Bratislava tätig, seit 1926 als Professor, zweimal als Dekan, 1933 – 34 als Rektor der Universität. Im Jahr 1938 wechselte er an die Jurafakultät der Karls-Universität in Prag. Nach der kommunistischen Machtergreifung im Jahr 1948 war er gezwungen seine pädagogische und öffentliche Tätigkeit aufzugeben. 343 Moderní italská právní filosofie. Prˇíspeˇvek k deˇjinám právní filosofie posledních let (dt.: Moderne italienische Rechtsphilosophie. Beitrag zur Geschichte der Rechtsphilosophie der letzten Jahre), Praha 1921, 59 S.; Idea spravedlnosti a práva v rˇecké filosofii (dt.: Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in der griechischen Philosophie), Bratislava 1923 – Nachdruck in Pilsen 2007, 228 S.; Filosofické základy Ciceronovy nauky o právu a státu (dt.: Philosophische Grundlagen Ciceros Lehre von Recht und Staat), Bratislava 1924, 37 S.; Masaryku˚v zápas o právo prˇirozené (dt.: Masaryks Kampf um Naturrecht), Bratislava 1928, 90 S.; Nauka o právních veˇdách. Základy právní metodologie (dt.: Lehre von Rechtswissenschaften. Grundlagen der Rechtsmethodologie), Praha 1946, 137 S. 344 Geb. 1880, gest. 1961. Professor der Volkswirtschaft zuerst an der Technischen Hochschule in Brünn (seit 1911), dann an der Jurafakultät der Masaryk-Universität in Brünn (seit 1919), mehrmals auch ihr Dekan, erster Rektor der Masaryk-Universität (1919, 1920), zum wiederholten Mal auch Finanzminister in mehreren tschechoslowakischen Regierungen zwischen den beiden Weltkriegen (in diesem Amt machte er sich um die Währungs- und Wirtschaftsstabilität des Landes verdient und setzte mehrmals ausgeglichene Staatshaushalte durch), nach dem Zweiten Weltkrieg war er Professor an der Jurafakultät der Karls-Universität in Prag und ihr letzter demokratisch gewählter Rektor vor der kommunistischen Machtergreifung im Jahr 1948 – danach war er gezwungen die Uni zu verlassen. Bis zu seinem Tod durfte er nicht mehr wissenschaftlich und pädagogisch tätig sein. Aus seiner umfangreichen wissenschaftlichen Tätigkeit möchte ich stellvertretend folgende Werke nennen: Teleologie jako forma veˇdeckého poznání (dt.: Teleologie als Form der wissenschaftlichen Erkenntnis), Praha 1930, 162 S.; Finanzwissenschaft: Abriss einer Theorie der Wirtschaft der öffentlichen
V. J. Kallab, K. Englisˇ – Phänomenologie und neukantsche Lehre
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gleichzeitig aber auch Philosoph, Logiker und bedeutender Politiker wie auch langjähriger Finanzminister der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit. Von Kant und dessen Interpretation der Lehre Schopenhauers beeinflusst, erschafft Englisˇ eine eigenständige philosophische Konzeption, welche wesentliche Konsequenzen auch für das Verständnis des Begriffes der Norm hatte: „Das Denken ist nach Englisˇ eine Zwecktätigkeit, das Ordnen von Gedankeninhalten zum Zwecke der Erlangung des Erkenntniszieles. Das Instrument hierzu ist die Gedankenordnung als ein System der einzelnen Denkinhalte mit allen ihren Beziehungen untereinander; auch die Gedankenordnung selbst ist eine zweckgerichtete Schöpfung. Von der Realität, an sich‘, ohne unsere Erkenntnis, kann man nichts wissen. Was man über die Realität weiß, ist das Resultat unserer Sinneswahrnehmung und der Vorstellung Sofies, derer gedanklicher Verarbeitung mit Hilfe der Gedankenordnung, der die Funktion eines Erkenntnisinstruments zukommt. Was auch immer über die Realität gesagt wird, ist daher bereits durch diese Ordnung geformt, und zwar durch eine der drei möglichen Beobachtungsarten: der ontologisch-kausalen, der finalen (teleologischen) oder der normologischen. … Durch das Element des Willens unterscheiden sich Postulat und Norm. Im Urteil wird die Zusammengehörigkeit der in ihm angeordneten Begriffe nur erkannt und festgestellt, in Postulat und Norm wird sie aber durch den direkten oder durch den indirekten Willen erzeugt. Zweck der Ordnung der Gedankeninhalte im Urteil ist die Erkenntnis; Zweck der Ordnung der Gedankeninhalte im Postulat und in der Norm ist eine verständliche Äußerung des Willens.“345
Englisˇ also verbindet sehr konsequent den Begriff der Norm mit dem Begriff des Willens. Er behauptet, daß „die Norm nicht nur eine Anordnung von Begriffen (nur ein Gedanke) ist, sondern eben auch eine Willens- oder Pflichtäußerung. Ihr Gedankeninhalt ist ein Inhalt des Willens, bzw. der Pflicht … Ihr Inhalt ist nicht nur gedacht, sondern auch gewollt.“346 Die Behauptung, daß Normen nicht Bestandteil der logischen Bechreibung sein können, beweist Englisˇ dadurch, daß er die Möglichkeit der Vergabe von Wahrheitswerten an Normen leugnet, zudem durch die These, daß im Gegensatz zu einer Aussage eine Norm nicht negiert werden kann, mit anderen Worten ausgedrückt, daß es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Negation und der Derogation der Norm gibt: „Jeder Spruch kann verneint werden, es kann seine Richtigkeit bzw. Wahrhaftigkeit verneint werden; eine Norm kann nicht verneint werden, ihre Wahrhaftigkeit ist nicht zu verneinen, da sie keine ausdrückt; eine Norm kann lediglich aufgehoben (widerrufen) werden. Eine Aussage kann jeder verneinen, eine Norm kann lediglich derjenige aufheben (zurückneh-
Verbände, mit besonderer Berücksichtigung der Tschechoslowakei; Brünn/Prag/Leipzig 1931, 430 S.; Malá logika. Veˇda o mysˇlenkovém rˇádu (dt.: Kleine Logik. Die Lehre von der Gedankenordnung), Praha 1947, 511 S.; Das Problem der Logik, Wien 1960, 67 S.; Die Lehre von der Denkordnung, Wien 1961, 279 S. 345 V. Kubesˇ, Die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, in: V. Kubesˇ/O. Weinberger (Hrsg.), Die Brünner Rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), Wien 1980, S. 22 – 23. 346 K. Englisˇ, Die Norm ist kein Urteil, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, L, 1964, S. 313 – 314.
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men), der sie herausgegeben hat, oder ein anderer, der dazu durch den Herausgebenden bevollmächtigt wurde.“347
Nach einer gewissen Zeit formuliert K. Englisˇ denselben Gedanken, wobei er sich bereits ausdrücklich des Begriffes der Negation bedient: „Die Inhaltsänderung der Norm kann nur das normsetzende Subjekt vornehmen, und sie ist keine Negation der Norm selbst (es ist eine neue, eine derogierende Norm – Anm. P. H.). Die Norm kann nicht negiert werden. … Das Urteil (d. h. die Aussage in der Terminologie von Englisˇ – Anm. P. H.) kann von jedem erkennenden Subjekt negiert werden.“348
Auf diese These weist O. Weinberger zustimmend hin: „Englisˇ’s Erkenntnis, daß die Normen nicht wie Urteile (Aussagen) negiert werden können, ist richtig. Dies bedeutet einen wichtigen Beitrag zu der Erkenntnis der Sollsatzlogik.“349 Englisˇ macht auf die Tatsache aufmerksam, dass „aus dem Wortlaut eines Sollsatzes (einer Aussage) somit noch nicht immer erkennbar ist, ob es eine Norm, die von ihrem normsetzenden Subjekt herkommt, oder ein Urteil über einer Norm ist, das von einem die Norm erkennenden Subjekt ausgesagt wird.“350 Durch Unterscheidung der Norm und der Behauptung über die Norm kommt er zur Frage der Beziehung zwischen der Norm als einer „Denkordnung“ und dem Erkenntnisprozess. Er stellt fest, daß auch die Norm als „Denkordnung“ Bestandteil der Wirklichkeit sei, und „sie kann als Wirklichkeit wieder nur mit der Denkordnung erfasst und erkannt werden, ontologisch, teleologisch oder normologisch, so daß diese Wirklichkeit wieder der Denkordnung gegenübersteht“.351 Für die logische Analyse des normativen Denkens stellt Englisˇ dann die ausschließliche Existenz der Logik der Behauptungen über Normen fest: „Im Erkenntnisprozeß und beim Erkenntnissubjekt sind nur Urteile über die Norm, nie aber Normen selbst enthalten.“352 Am Rande der Englisˇ’schen Konzeption fasst Matthias Jestaedt zusammen: „Man ging dabei aus von einer methodischen Dreifachheit der Erkenntnisperspektiven: die des Normschöpfers, des Normadressaten und des Normerkennenden.“353 Wie Ota Weinberger feststellte, bei Englisˇ „findet sich ein systematischer Versuch, die Unmöglichkeit des normenlogischen Folgerns sowie logischer Beziehungen zwischen Normen zu beweisen, der auch Kelsens Spätlehre beeinflußt hat. Obwohl ein Teil der einschlägigen Arbeiten von Englisˇ in tschechischer Sprache 347
K. Englisˇ, Malá logika. Veˇda o mysˇlenkovém rˇádu (dt.: Kleine Logik. Die Lehre von der Gedankenordnung), Praha 1947, S. 137. 348 K. Englisˇ, Die Norm ist kein Urteil (Fn. 346), S. 306, 307. 349 O. Weinberger, Die Sollsatzproblematik in der modernen Logik (Fn 56), S. 91. 350 K. Englisˇ, Die Norm ist kein Urteil (Fn. 346), S. 310. 351 Ibidem, S. 314. 352 Ibidem, S. 316. 353 Editorische Berichte: Sociologická a právnická idea státní/Die Soziologische und die Juristische Staatsidee (1913/1914), in: Hans Kelsen Werke, 3. 1911 – 1917, hrsg. v. M. Jestaedt u. a., Tübingen 2010, S. 696.
VI. E. Svoboda, J. Turecˇek – der naturrechtliche Leitweg
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erschienen ist, so daß sie Kelsen nicht direkt zugänglich waren, weiß ich aus persönlichen Informationen, daß nicht nur enge freundschaftliche Beziehungen zwischen Kelsen und Weyr und zwischen Weyr und Englisˇ bestanden haben, sondern ich weiß auch, daß Kelsen über diese Gedanken K. Englisˇ’ sehr wohl informiert war. Außerdem ist die Parallele zwischen der Argumentationen von Englisˇ und Kelsen – trotz unterschiedlicher Terminologie – so frappant, daß an dem Einfluß von Englisˇ’ Überlegungen auf Kelsens Spätlehre nicht gezweifelt werden kann.“354
VI. Emil Svoboda, Josef Turecˇek – der naturrechtliche Leitweg Die kritischen Reflexionen der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts lassen sich sehr gut insbesondere anhand der naturrechtlich orientierten Werke des Prager Zivilrechtlers Emil Svoboda belegen.355 Hier eine Anmerkung von ihm am Rande der Reinen Rechtslehre. „All diese logisch unstrittigen, in ihren Auswirkungen dennoch bedenklichen Urteile resultieren aus dem hartnäckigen und beharrlichen Bestreben, die Rechtswissenschaften auch von den letzten psychologischen Überresten zu befreien. Es ist ein Kampf gegen Psychologismus, wie er insgesamt in der reinen Logik, aber auch auf anderen Feldern des Gedankenringens geführt wird. Dennoch befürchte ich, dass es ein hoffnungsloser Kampf ist, genauso hoffnungslos, wie der Kampf um das Beseitigen der letzten Reste der Metaphysik. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, die Worte des spanischen Rechtsphilosophen (Luis Legaz y Lacambra) … zu zitieren, wonach wir zwar behaupten können, wie sehr wir jede Metaphysik ablehnen: ,Aber was wir nicht können, ist, ohne sie auszukommen.‘ … Ich erinnere mich an den Gedanken Weyrs, wonach die Grundnorm oder die oberste Norm, welche den Brennpunkt der gesamten Normen (die sog. Brennpunktnorm) darstellt, in dem das gesamte Normsystem des Staates gipfelt und aus dem die niedrigeren Normen und die niedrigeren Stufen der Rechtshierarchie abgeleitet werden können – absolut sei. Was bedeutet eigentlich das Wort ,absolut‘ und welchen Inhalt besitzt dieses Wort, das mit Recht und Nachdruck den Schulen des alten Naturrechts der Aufklärungszeit vorgehalten wird? Ich gebe zu, dass ich mir auf der ganzen Welt keine absolute Norm vorstellen kann, und dass ich einen solchen Gedanken für logisch unmöglich halte. Alles ist relativ und alle Normen müssen als hypothetische Sätze formuliert werden. … An der Relativität dieses Satzes ändert die Tatsache nichts, dass der bedingende Teil dieses hypothetischen Satzes fast unerforschbar ist, dass er ins Unendliche hinausläuft. … Das strenge Auseinanderhalten der Psychologie und der Metaphysik von den rein logischen Schlussfolgerungen stellt den 354 O. Weinberger, Der normenlogische Skeptizismus, Rechtstheorie 17 (1986), S. 18 – 19. Siehe auch O. Weinberger, Alternative Handlungstheorie (Fn. 57), S. 9 – 10. 355 Geb. 1878, gest. 1948. Professor für Zivilrecht an der Jurafakultät der Karls-Universität in Prag, ihr Dekan im Jahr 1929 und 1930, Verfasser – außer der Titel zum Zivilrecht – einer Reihe rechtsphilosophischer und essayistischer Texte: Základní mysˇlenky demokracie (dt.: Grundgedanken der Demokratie), Praha 1919, 113 S.; Mysˇlenky o právu, ethice a nábozˇenství (dt.: Gedanken über Recht, Ethik und Religion), 2. Ausg., Praha 1926, 199 S.
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C. Rechtspositivismus und Naturrechtslehre
Imperativ des wissenschaftlichen Denkens dar und wahrhaftig auch dessen Voraussetzung. Es ist der unabdingbare Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit, ohne den es keine wirkliche Wissenschaft geben kann und geben wird. Dennoch ist es nur ein Teil – sicherlich nicht restlos alles. Die analytische Arbeit findet in der Synthese ihre unabdingbare Ergänzung, damit sich die Wissenschaft nicht vom Leben entfernt.“356
Josef Turecˇek,357 der auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte und des Religionsrechts tätig war, reagierte im Jahr 1946 auf die apokalyptischen Grauen des Zweiten Weltkrieges und auf die Gräueltaten des nazistischen Regimes analog zu Gustav Radbruch:358 „Alle drei Begriffe – Recht, Leid und Unrecht – … zeichnen sich im Leben der menschlichen Gesellschaft durch einen hohen Grad der Vitalität, egal, ob wir nach hinten schauen oder auf die Zukunft schließen. Für die Vergangenheit – ich glaube nicht, dass ich da falsch liege, wenn ich sage, dass Recht, Leid und Unrecht die Menschheit seit der Entstehung der menschlichen Gemeinschaft begleiten, wenn wir den mythologischen Zustand der goldenen Ära weglassen. … Für die Zukunft – ich denke, dass ich auch hier kein falscher Prophet bin, wenn … ich die Meinung äußere, dass alle drei Erscheinungen – Recht, Leid und Unrecht – wie die apokalyptischen Reiter unsere Gesellschaft bis zu ihrem Untergang begleiten werden. … Auch terminologisch sind die Bezeichnungen Recht und Leid uralte Bestandteile der menschlichen Sprache. Anders ist es – sofern ich in der Literatur nachlesen konnte, bei der Bezeichnung ,Unrecht‘, die ich für neu halte. … Dieses Wort drängt sich geradezu auf mit der Intensität seiner Negation: Un-Recht. … Als Unrecht bezeichne ich solche Regeln für das Verhalten von Menschen, welche funktionieren, als ob sie Rechtsregeln wären. Sie beanspruchen für sich die Funktion der Rechtsordnung. … weisen jedoch wesentliche Fehler oder wesentliche Mängel in einem oder in mehreren Elementen auf, die erfüllt werden müssen, damit wir überhaupt vom Begriff Recht sprechen können … Wir finden hier einen wesentlichen Mangel in einem der Merkmale des Rechtes vor. Zum Unrecht kann eine Gesamtheit von Regeln werden, die anstelle der Rechtsordnung funktionieren. Zum Unrecht kann auch ein Teil einer sonst rechtskonformen Ordnung werden. Und zum Unrecht kann eine einzige Regel innerhalb der Rechtsordnung werden – die unrechte Norm.“359
356
E. Svoboda, Neˇkolik mysˇlenek o cˇisté nauce právní (dt.: Einige Gedanken zur reinen Rechtslehre), in: E. Svoboda, Vy´bor prací z práva obcˇanského a z právní filosofie. K sˇedesáty´m narozeninám Prof. Dr. E. Svobody (dt.: Auswahl der Werke aus dem Zivilrecht und der Rechtsphilosophie. Zum sechzigsten Geburtstag von Prof. Dr. E. Svoboda), hrsg. v. O. Sommer, Praha 1939, S. 42 – 44. 357 Geb. 1900, gest. 1979. Professor der Jurafakultät an der Karls-Universität in Prag, Verfasser einer Reihe historisch-rechtlicher Werke und Werke zum Kirchenrecht: Glosy o povaze neˇktery´ch prˇísah v kanonickém právu (dt.: Glossen zum Wesen einiger Eide im kanonischen Recht), Praha 1930, 47 S.; Povaha kultovy´ch práv k veˇcem: Prˇíspeˇvek k dogmatice práva, platného v historicky´ch zemích CˇSR (dt.: Das Wesen der Kultrechte an Sachen: Beitrag zur Rechtsdogmatik – Recht in den historischen Ländern der CˇSR), Praha 1934, 110 S. 358 Siehe G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (Fn. 80), S. 211 ff. 359 J. Turecˇek, Právo, krˇivda a neprávo s hlediska dnesˇní doby (dt.: Recht, Leid und Unrecht aus der heutigen Sicht), Praha 1946, S. 11, 12, 26.
VI. E. Svoboda, J. Turecˇek – der naturrechtliche Leitweg
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In seiner nächsten Überlegung antizipiert Turecˇek die Entwicklung der iusnaturalistischen Lehre von Radbruch bis zu Fuller360 – er führt keine komplette Aufstellung auf, sondern nennt nur „Beispiele für Unrecht“. Nach seiner Sichtweise ist Unrecht ein Zustand, in dem „die Regeln kein System bilden und chaotisch sind“, oder eine Situation, in der „ein Regelsystem aus Bestimmungen besteht, die nur geistlosen Formalismus hervorbringen“, oder auch ein Zustand, in dem „bei einem Machtelement – wie Garantien und Sanktionen – die Menschlichkeit grundsätzlich missachtet wird und die Sanktionen zu hart und dem Zweck einer rechtschaffenden Gesellschaft unangemessen sind … und die Härte dieser Regeln von der Praxis noch überholt wird“, aber auch ein – den Zweck des Rechts berührendes Element in einer Situation, in der „das Regelsystem nicht die Freiheit des Menschen, nicht die Betreuungsaufgabe der rechtsbildenden Gesellschaft und nicht die kulturellen Bedürfnisse der Menschen kennt“. Ferner sieht er als Fehler, der letztendlich zum Unrecht führt, auch eine Situation, in der die „Unrecht bildende Gesellschaft von der Vorstellung ihrer – vom Begriff her uneingeschränkten – Möglichkeiten ausgeht“, zudem „ein Übel in der Verifikationsfunktion: die Gesellschaft verfügt über geschriebene Gesetze … jedoch kümmert sich keiner darum, ob man nach diesen Gesetzen auch tatsächlich lebt“.361 Die vorhergehende Analyse bildet für Turecˇek den Ausgangspunkt zur Lösung des Problems der Rechtskontinuität: „Die Periode der Tschechoslowakischen Republik 1918 – 1938 kann und konnte nicht von einer vorübergehend triumphierenden Un-Rechts-Ordnung aus der Welt geschaffen werden.“362
Die naturrechtlichen Reflexionen der analytischen Jurisprudenz und des nazistischen Unrechts haben quasi die bewegte Geschichte Mitteleuropas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet – dies stellt jedoch ein anderes Kapitel in der allgemeinen Geschichte und in der Geschichte der Rechtsphilosophie dar.
360 361 362
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Sachverzeichnis Begriffsjurisprudenz 19, 33 f. Begründung der Menschenrechte 58 ff. Brünner rechtstheoretische Schule 105 ff., 117 f., 126 ff. Dekonstruktion des Rechts 93 ff. Doppelnatur des Rechts 20, 22 Ewigkeitsklausel 7, 34 ff., 54, 111 ff. Fortbestehen des Rechts 46 ff. Grundnorm 19, 54 ff., 115 ff., 129 historisch-rechtliche Schule 19, 81, 103 ff. Humesche These 7, 23 ff., 29, 30 impossibilium nulla obligation 119 ff. Iusnaturalismus 7, 11 ff., 20 ff., 32, 33 ff., 43 ff., 49 ff., 66 f., 129 ff. Iuspositivismus 7, 11 ff., 30 f., 32, 33 ff., 43 ff., 49 ff., 66 f., 68 ff. Jörgensensches Dilemma 23 ff., 67 f.
Law and Economics 62 ff. Legitimität 7, 49 ff., 62, 67 Neukantsche Lehre 108, 125 ff. Neutralitätsthese 18 offene Textur des Rechts 84 ff., 89, 91 ff., 99 Ordnungsprinzipien der Rechtsordnung 91 Rechtsphänomenologie 125 ff. soziologisch-rechtliche Schule 123 ff. Stammbaumtheorie 19 Subsumptionsthese 19 Trennungsthese 17 ff. Utilitarismus 73 ff. Verbindungsthese 17 ff., 22 Verfassungskern 7, 34 ff., 54, 111 ff.
Zum Autor Prof. Dr. Pavel Holländer, derzeit Richter und Vizepräsident des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik, erhielt die Professur für Rechtstheorie und Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Im deutschsprachigen Raum ist er fachlich mit zahlreichen Veröffentlichungen präsent ¢ darunter sind vor allem die folgenden Bücher zu erwähnen: Rechtsnorm, Logik und Wahrheitswerte (Versuch einer kritischen Lösung des Jörgensenschen Dilemmas), Nomos-Verlag, Baden-Baden 1993; Abriß einer Rechtsphilosophie. Strukturelle Überlegungen, Duncker & Humblot, Berlin 2003; Verfassungsrechtliche Argumentation – zwischen dem Optimismus und der Skepsis, Duncker & Humblot, Berlin 2007.