Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen [1 ed.] 9783737006651, 9783847106654


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Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen [1 ed.]
 9783737006651, 9783847106654

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Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft / Vienna Forum for Theology and the Study of Religions

Band 13

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und dem Institut für Islamisch-Theologische Studien der Universität Wien von Ednan Aslan, Karl Baier und Christian Danz

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Michael Hackl / Christian Danz (Hg.)

Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen

Mit 3 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0718 ISBN 978-3-7370-0665-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Rektorats der UniversitÐt Wien.  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Hackl / Christian Danz Einleitung: Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre gegenwärtige Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ernst-Otto Onnasch Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie? . . . . . . . . .

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Alexander Schubach Die Frage nach dem Anfang der Philosophie. Hegels Phänomenologie des Geistes als wissenschaftliche Hinführung zum philosophischen System .

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Andreas Arndt Freiheit in Religion und Philosophie. Heine und Hegel

. . . . . . . . . .

77

Steffen Dietzsch Vom spekulativen Begriff zum mythischen Begreifen. Wie mit Schellings Philosophie der Offenbarung der Deutsche Idealismus anthropologisch in die Moderne geführt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Bernhard Schmid Some Scenes from the History of the “Volksgeist”. Social Ontology in 19th Century German Nationalism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Michael Hackl Ein Appell an die Freiheit. Existenz, Mythos und Freiheit bei H. Jonas und F.W.J. Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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Inhalt

Antonios Kalatzis Spekulation und Ereignis. Gott, Welt und Mensch bei Hegel und Rosenzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Max Brinnich Die Bedeutung des Wartens und der Hoffnung. Anmerkungen zu Kant und Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Violetta L. Waibel Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit. Was bleibt?

. . . . . . 183

Christian Danz Freiheit als Autonomie. Anmerkungen zur Fichte-Rezeption Paul Tillichs im Anschluss an Fritz Medicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Rainer Adolphi Hegelscher Idealismus im Zeitalter der Wissenschaft. Über die Rolle des Gedankens des ,Lebens‘ zwischen Neukantianismus und neuem Hegelianismus des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Fernando Su#rez Müller Letztbegründung und Intersubjektivität in der klassischen deutschen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Christian Thein Synthesis a priori und gesellschaftliche Synthesis. Transformationen der idealistischen Semantik in der Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . 299 Cem Kömürcü Jacques Derrida im Ausgang von Schellings Denken . . . . . . . . . . . . 321 Stefan Bird-Pollan McDowell’s Two Readings of Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

Vorwort

Die vorliegenden Beiträge gehen auf die Tagung Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen zurück, welche von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien in Kooperation mit der Internationalen HegelGesellschaft e. V. am 20. und 21. März 2015 in Wien veranstaltet wurde. Für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung ist besonders der Universität Wien, der Evangelisch-Theologischen-Fakultät der Universität Wien sowie der Stadt Wien (MA 7) herzlich zu danken. Die Drucklegung des Sammelbandes wurde dankenswerterweise durch die großzügige Förderung der Universität Wien ermöglicht. Die Vorarbeiten für die Drucklegung des Bandes lagen in den Händen von Frau Györgyi Empacher-Mili. Wir danken ihr sehr herzlich für die geleistete Arbeit und ihre Unterstützung. Auch bei Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere bei Herrn Oliver Kätsch, möchten wir uns für die zügige Realisierung und die kompetente Unterstützung bei der Publikation des vorliegenden Bandes sehr herzlich bedanken. Wien, 2017

Michael Hackl / Christian Danz

Michael Hackl / Christian Danz

Einleitung: Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre gegenwärtige Bedeutung

Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen Die philosophische Epoche nach Immanuel Kant war die Zeit der großen philosophischen Systeme, die das Ganze zu fassen suchten. Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts besteht eine zunehmende Skepsis gegenüber den systemphilosophischen Konzeptionen im Umfeld des Deutschen Idealismus, welche im Wesentlichen auf der Ablehnung der metaphysischen Beantwortung erster, letzter Fragen seitens der erstarkten Naturwissenschaften, wie auch des aufstrebenden Historismus beruht. Schon deswegen ist es wenig verwunderlich, dass die Diskussion um die Absolutheit immer mehr ins Abseits driftet, wohingegen materiale und relativistische Positionen mehr und mehr ins Zentrum rücken. Diese Entwicklung ist von einer tiefsitzenden Wissenschaftsgläubigkeit seit dem frühen 20. Jahrhundert begleitet. Die Philosophie entfernt sich sukzessive vom Einheitsdenken, lässt sich doch in der jüngeren Philosophiegeschichte einerseits eine Fokussierung auf die Sprache, die Rationalität ausmachen, während andererseits die Natur auf ihr empirisches Dasein reduziert wird.1 Die Abwendung von den Vernunftsystemen der nachaufklärerischen Philosophie hat ein enormes philosophisches Potential freigesetzt, sodass neue und wegweisende Richtungsänderungen innerhalb der Philosophie möglich waren, die dazu beigetragen haben, unser Verständnis von der Welt neu zu entfalten. Hierzu zählen unter anderem die Lebensphilosophie, der Logische Positivismus, die Phänomenologie oder der Existentialismus sowie die Kritische Theorie, die Postmoderne, die Analytische Philosophie und die Sprachphilosophie. Trotz aller Weiterentwicklungen ist nicht zu übersehen, dass die Traditionen mitunter 1 Zur Bedeutung und zum Einfluss der Klassischen Deutschen Philosophie vgl. The Impact of Idealism. The Legacy of Post-Kantian German Thought, 4 Bde., hg. v. Karl Ameriks/John Walker/Christoph Jamme/Ian Cooper/Nicholas Adams, Cambridge 2013.

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Michael Hackl / Christian Danz

in klarer Abgrenzung zur Philosophie des Deutschen Idealismus entstanden sind. Dabei haben sie sich nicht bloß weiterentwickelt, sondern auch von dem vernunftphilosophischen Anspruch, allgemeingeltende Antworten zu geben, verabschiedet. Es scheint, als hätten sich mit der Abwendung von den Vernunftsystemen zwei völlig verschiedene und nichts miteinander zu schaffende Denkweisen aufgetan, die unvereinbar nebeneinanderstehen. Aus heutiger Sicht scheint es gar so, dass das Denken von Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling das philosophische Denken der „ewig Gestrige[n]“ sei,2 sind sie es doch, die vom metaphysischen Wahrheitsanspruch und vom Glauben an die Vernunft nie abgelassen haben. Wir bedürfen aber dieses Zugangs, um Antworten auf die ersten, letzten Fragen zu geben, nur so ist es möglich, das Allgemeine und nicht bloß das Besondere in den Blick zu nehmen. Gleichwohl es die Systemkonzeptionen des Deutschen Idealismus sind, die den Versuch unternommen haben, das Ganze, somit Geist und Natur, begrifflich zu fassen und dabei auf die weitreichende Bedeutung des Vernünftigen für das empirische Wissen hingewiesen haben, sind sie es, die aufgrund ihres ganzheitlichen Anspruchs viel Kritik haben erfahren müssen. Diese Kritik führte dazu, dass die Philosophie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts danach strebt, sich in Abgrenzung zu den großen Vernunftsystemen neu zu bestimmen, womit sie gewissermaßen die Folgen derer sind. Dass es in den letzten Jahrzehnten nicht nur zu Abgrenzungsversuchen seitens der zeitgenössischen Philosophie, sondern auch zu einer Annäherung gekommen ist, darf als Indiz einer zunehmenden Anerkennung der Klassischen Deutschen Philosophie verstanden werden. Bezüge finden sich in der jüngeren Philosophiegeschichte nicht nur in den diskursethischen Arbeiten, sondern unter anderem auch in den Ausführungen von Robert Brandom, John McDowell, Christine Korsgaard, Slavoj Zˇizˇek und Judith Butler. Sie alle weisen mit Blick auf aktuelle Forschungsfragen das Potential, die Tragweite und die Bedeutung der scheinbar obsolet gewordenen Vernunftphilosophie neu aus, wenngleich sie dem Systembegriff nicht in der klassischen Weise folgen. Dennoch belegt diese Entwicklung, dass die Klassische Deutsche Philosophie mit Blick auf spätere Rezeptionen von zentraler Bedeutung ist und dass sich die von ihr formulierten Gedanken mit den gegenwärtigen Ansprüchen verbinden lassen. Auch in der Philosophie kommt es weniger auf den Zeitgeist, denn auf die Qualität der Begründung an.

2 Friedrich Schiller : Wallenstein, in: ders.: Sämtliche Werke, 5 Bde., hg. v. Gerhard Fricke/ Herbert G. Göpfert/Herbert Stubenrauch, München 1962, Bd. 2, 415.

Einleitung

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Diskussionsfelder im Umfeld der Klassischen Deutschen Philosophie Die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze widmen sich sowohl den problemgeschichtlichen Konstellationen mit Bezug auf die interpretativen Entwicklungen im Umfeld der Klassischen Deutschen Philosophie als auch den späteren Entwicklungen im Geiste der Moderne.3 Des Weiteren weisen die Beiträge die Folgen dieses Denkens aus und nehmen hierauf Bezug, um sodann in fruchtbarer Weise die Einflüsse der nachaufklärerischen Philosophie für spätere Konstellationen herauszuarbeiten. In diesem Band werden nicht nur verschiedene zeitgenössische Rezeptionslinien diskutiert, sondern auch die Rezeptionen moderner Denker mit Blick auf deren Weiterführungen und Entwicklungen bezüglich der jeweiligen Konzeptionen dargestellt, wodurch sich zeigen lässt, wie sich spätere philosophische, aber auch theologische Denkrichtungen unter Bezugnahme auf die diskutierten idealistischen Philosophien entwickelt haben.4 Dies hilft nicht nur, das Denken der Späteren zu verstehen, sondern trägt wesentlich dazu bei, die Debattenlage neu zu erschließen, wird doch verständlich, unter welchem Einfluss die Texte rezipiert wurden und inwiefern dies für das spätere Denken von Bedeutung ist. Hiervon ausgehend lässt sich die thematische Entfaltung der Ansätze besser verstehen, schließlich wird nicht bloß die Form des Denkens, sondern auch dessen Inhalt entfaltet. Letzteres ist von nicht minderer Bedeutung, schließlich begründen sowohl die Form als auch der Inhalt den Anspruch jeder Philosophie. Entsprechend sind es auch die Fragen nach dem Anfang allen Wissens oder nach der Bedeutung des mythologischen Wissens, welche uns Aufschluss über uns geben.5 Gerade der hohe Anspruch vom vernünftigen Begreifen ist es, der die deutsche Vernunftphilosophie unter den Verdacht stellt, einen bestimmten Wahrheitsbegriff für sich in Anspruch zu nehmen und hierdurch die eigene Tradition über andere Traditionen zu erhöhen.6 Mitunter ist es diese Überhöhung, die dazu geführt hat, dass die deutsche Schreckensherrschaft im frühen 20. Jahrhundert mit der Vernunftphilosophie des Deutschen Idealismus in Zusammenhang gebracht wurde. Die erlebte Dehumanisierung hat nicht nur dazu geführt, dass sich die Menschen intensiv mit dem Tod und der Hoffnung auseinandergesetzt haben, das Denken war auch von einem Nihilismus begleitet und

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Die Schwierigkeiten dieser Bestimmung diskutiert Ernst-Otto Onnasch. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Arndt sowie Freiheit als Autonomie. Zu diesen Themenfeldern vgl. die Beiträge von Alexander Schubach und Steffen Dietzsch. Auf dieses Problemfeld nimmt der Beitrag von Hans Bernhard Schmid Bezug.

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Michael Hackl / Christian Danz

man stellte aufs Neue die Frage nach Gott.7 Jene Schreckenszeit hat das Vertrauen an das Gute und in die Vernunft zutiefst erschüttert. Dass die „deutsche Bildung“, um sich der Worte Karl Kraus’ zu bedienen, zu einem „Schmückedeinheim, mit dem sich das Volk der Richter und Henker seine Leere ornamentiert“,8 verkommt, ist der Vernunftphilosophie nicht immanent. Die Überhöhung des Vernünftigen ist gerade wider die Vernunft, ist sie doch weit davon entfernt, ein bloßes Schmückedeinheim zu sein, sie ist kein bloßes Ornament. Ihr Zweck ist es, die Freiheit aller Menschen und das Gute vernünftig zu begründen und zu entfalten.9 Um zu prüfen, ob der idealistische Freiheitsbegriff noch heute Geltung hat, ist es notwendig, sich die Frage nach dessen Vereinbarkeit mit unserem zeitgenössischen Wissen zu stellen. Jede Philosophie, deren Denken Anspruch auf Gültigkeit erheben möchte, darf sich dem Kenntnisstand der zeitgenössischen Wissenschaften nicht entziehen, sondern muss sich vor diesem zu behaupten wissen.10 Der interdisziplinäre Austausch ist nicht nur die Probe des Denkens, er ermöglicht darüber hinaus fruchtbare Synergien. Dass sich auch über philosophische Traditionen hinweg Synergien ergeben, lässt sich schon damit belegen, dass sich bereits in der Klassischen Deutschen Philosophie Motive späteren Denkens ausmachen lassen. Ersichtlich wird dies unter anderem an der Diskursethik, die sich beispielhaft an den kommunikationstheoretischen Bestimmungen sowie an den Begriffen von Intersubjektivität und Interaktion abmüht, welche bereits dem Deutschen Idealismus wesentlich sind.11 Die Bezugnahme beschränkt sich hierauf nicht, so stehen doch sowohl der Dekonstruktivismus als auch der Deutsche Idealismus vor demselben Problem, nämlich das Unaussprechliche auszusprechen.12 Bei näherer Betrachtung der gegenwärtigen Arbeiten zur Philosophie des Geistes zeigt sich sehr deutlich, wie thematisch und wie gewinnbringend die Arbeiten der Klassischen Deutschen Philosophie für die Verhältnisbestimmung von Mensch und Welt sind.13 Das impliziert freilich nicht, dass die alte Philosophie der neuen nichts mehr hinzuzufügen oder die neue Philosophie die alte überholt hätte, vielmehr ist anzuerkennen, dass die zeitgenössische Philosophie in einem kaum zu überschätzenden Ausmaß von den Leistungen der alten Philosophie lernen kann. 7 Zu diesen Punkten vgl. die Beiträge von Max Brinnich und Antonios Kalatzis. 8 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, in: ders.: Die Fackel (in zwölf Bänden), Nr. 1–922, München, 1968–1976, Bd. 12, 173. 9 Zu diesen Themenfeldern vgl. den Aufsatz Appell an die Freiheit. 10 Auf diese Fragen gehen sowohl Violetta L. Waibel als auch Rainer Adolphi näher ein. 11 Dies wird von Fernando Su#rez Müller und im weiteren Sinn auch von Christian Thein näher diskutiert. 12 Vgl. hierzu die Ausführungen von Cem Kömürcü. 13 Dieser Frage geht Stefan Bird-Pollan nach.

Einleitung

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Problemgeschichtliche Aufarbeitung Die hier versammelten Beiträge liefern nicht nur einen Einblick in die zeitgenössischen Rezeptionslinien der vernunftphilosophischen Konzeptionen, sondern auch hinsichtlich späterer Positionen und setzen sich kritisch mit dem Erfolgsversprechen und den Folgen der metaphysischen Vernunftsysteme und ihrer philosophischen Bedeutung auseinander. Die Vernunftphilosophie ist nicht auf ihre Wirkungsgeschichte zu reduzieren, unterliegt sie doch keiner einheitlichen Rezeption und trägt darüber hinaus auf eigenständige Weise dazu bei, den philosophischen, theologischen und praktischen Herausforderungen in der Zeit gewahr zu werden. Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit den philosophiegeschichtlichen Zusammenhängen, weist aber sogleich auf die Bedeutung der nachaufklärerischen Philosophie für die Beantwortung philosophischer Fragen unserer Zeit hin. Der Band darf, ohne dass er einer bestimmten Rezeptionslinie folgt oder ein bestimmtes Bild verteidigen will, als Offert verstanden werden, sich kritisch mit dem Erfolgsversprechen vernünftiger Systemkonzeptionen und deren Folgen neu auseinanderzusetzen. Es ist ebenso wenig der Anspruch des Sammelbandes, die unterschiedlichen Konzeptionen und vielfältigen Rezeptionslinien vollständig abzubilden, stattdessen liefern die Beiträge einen diversifizierenden Blick auf diese, wie auf die Begründungskonzepte im Umfeld des Deutschen Idealismus, wodurch das Denken jener Zeit in seiner weitreichenden Bedeutung fassbar wird. Trotz aller Weiterentwicklungen und problemgeschichtlicher Aufarbeitungen ist es der Leser, der über die geltungstheoretische Tragweite der Vernunftphilosophie urteilen muss. Resümierend lässt sich etwas zugespitzt sagen, dass vernünftiges Philosophieren nie außer Mode kommen wird und diesem der philosophische Zeitgeist, um sich der Worte Hans Jonas’ zu bedienen, den „Buckel herunterrutschen“ kann.14

14 Hans Jonas: „Der Zeitgeist kann mir den Buckel herunterrutschen“, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Dietrich Böhler/Michael Bonghardt/Holger Burckhart/ Christian Wiese/Walter Christoph Zimmerli, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010ff., Abt. I, Bd. 2,1, 547.

Ernst-Otto Onnasch

Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?

Die Klassische Deutsche Philosophie1 ist ursprünglich verwurzelt in der Philosophie Immanuel Kants. Mit dieser Behauptung, die keiner bezweifeln wird, ist allerdings zugleich ein philosophiehistorisches Problem verbunden, nämlich das der Kontinuität oder Einheit der Philosophie von Kant bis Hegel. Die Frage ist nämlich, ob es überhaupt eine solche Kontinuität oder Einheit gibt und, wenn ja, wie diese zu verstehen ist? Sobald wir uns hierin vertiefen, tauchen mehr Fragen als Antworten auf. Ganz allgemein ist schlechthin unklar, wie überhaupt der Einfluss Kants auf die unmittelbar folgende Entwicklung der deutschen Philosophie zu deuten ist. Es gab nämlich viel zu wenig Zeit, die kantische Philosophie angemessen zu rezipieren, zwischen ihrem Aufkommen um 1786 und ihrer Ablösung durch ganz andere philosophischen Tendenzen, angefangen mit der Grundsatzphilosophie Karl Leonhard Reinholds und Johann Gottlieb Fichtes. Ein anderes Problem ist die gegenwärtige Rezeptionslage der kantischen Philosophie, die entweder als ein eigenständiges philosophisches Ereignis betrachtet wird oder aber sehr eng mit ihrer nachfolgenden Entwicklung verknüpft 1 Der Titel Klassische Deutsche Philosophie geht auf Friedrich Engels zurück, der ihn erstmals in seiner kleinen Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1888, verwendet. Als klassisch wird von Engels die philosophiegeschichtliche Epoche von Kant bis Feuerbach bezeichnet. Letzterer habe, so Engels, die Konsequenz der philosophischen Kontinuität von Kant bis Hegel darin erkannt, daß Hegel der Natur erstmals eine von der Idee unabhängige Existenz zubilligt habe, womit die Voraussetzung dafür geschaffen ist, daß Feuerbach zunächst den „Materialismus […] auf den Thron“ heben konnte (F. Engels: Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 12). Somit ist die Klassische Deutsche Philosophie lediglich eine Vorstufe für den wissenschaftlichen Sozialismus, kulminierend in den Worten: „Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie“ (F. Engels: Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 78). Im damaligen Ostblock bestand das Erbe der Klassischen Deutschen Philosophie dann hauptsächlich darin, daß es bürgerliches Kulturgut, wie das der philosophisch inferioren deutschen Romantik ausschloß. Vgl. dazu auch Ernst-Otto Onnasch: Von Kant zu Hegel. Oder: Was heißt klassische deutsche Philosophie, in: Wissenschaft und Natur. Studien zur Aktualität der Philosophiegeschichte, hg. v. Klaus Wiegerling/Wolfgang Lenski, Nordhausen 2011, 109–123.

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Ernst-Otto Onnasch

wird, wobei in der Regel unser heutiges versiertes Verständnis der kantischen Philosophie für die Deutung dieser nachfolgenden Entwicklung eingesetzt wird. Hinsichtlich des Letzteren gilt es allerdings erst einmal genauer zu klären, wie Kants Nachfolger dessen Philosophie lasen und welche Kenntnisse sie von ihr hatten; allerdings auch, was ihre philosophischen Fragen waren, von denen aus sie sich der kantischen Philosophie zuwendeten. Die nachkantische philosophische Entwicklung wird von vielen entweder nicht besonders ernst genommen oder sogar als philosophiehistorischer Irrweg gedeutet. Kant ist dann ein Denker, der alle wesentlichen Probleme der Philosophie gelöst hat und wir nur sein Werk besser verstehen müssen, um die unzweifelhaft bestehenden Lösungen herbeizuführen. Gegen eine solche KantAuffassung spricht die einfache Tatsache, die von vielen Kantianern peinlichst oder mit den absurdesten Argumenten von der Hand gewiesen wird. Kant spricht nämlich in den späten 90er Jahren in authentischen Zeugnissen von einem „tantalischen Schmerz“,2 der ihm eine Lücke im System der Transzendentalphilosophie machte. Diese Lücke musste Kant unbedingt beheben, um seine Philosophie zu retten. Das sie um diese Zeit tatsächlich schon nicht mehr zu retten war, hatten fast alle bedeutenden Nachkantianer, allen voran K. L. Reinhold und J. G. Fichte und ihnen hinterher Schelling und Hegel erkannt. Die Lücke schließen, sollte Kants fragmentarisch erhaltenes Horsd’œuvre, das heute so genannte Opus postumum. Es handelt sich hierbei keineswegs um ein kleines Fragment, sondern um über 1.400 Druckseiten Text, die von der einschlägigen Kant-Forschung bislang kaum wahrgenommen worden sind. Kants Schmerz kann seiner sich anbahnenden Demenz nicht zugeschrieben werden,3 wie ich an andere Stelle gezeigt habe,4 denn um 1799 glaubte Kant und seine Umgebung, dass das geplante Übergangswerk kurz vor dem Abschluss stand. Ich werde nachher auf den Inhalt dieses Fragmentes zu sprechen kommen. An dieser Stelle soll lediglich gesagt sein, dass auch der mit Selbstkritik äußerst sparsame Kant gravierende Probleme in seiner Transzendentalphilosophie erkannt hatte. Diese Probleme sind also durchaus ernst zu nehmen, obwohl sie nicht direkt auf Kants Rezeption der nachkantischen Philosophieentwicklung zurückgehen. Allerdings gilt genauso gut umgekehrt, dass auch die Nachkantianer nichts von 2 Vgl. Immanuel Kant an Christian Garve, 21. September 1798, Akad.-Ausg. XII, 257, in: Immanuel Kant: Kant’s gesammelte Schriften, 22 Bde., hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. XII, 256–258, hier : 257. Im Folgenden zitiert als Akad.Ausg. mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 3 Vgl. zu Kants Krankheit Renato Fellin/Alessandro BlH: The disease of Immanuel Kant, in: The Lancet 350/13, Dezember 1997, 1771–1773. 4 Vgl. Ernst-Otto Onnasch: Der Briefwechsel zwischen Immanuel Kant und Jeronimo de Bosch. Oder ein Beitrag zum holländisch-deutschen Austausch über die kritische Philosophie, in: Kant-Studien 102/1 (2011), 89–112.

Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?

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jenen Problemen wussten, die der späte Kant mit seinem Übergangswerk beabsichtigte zu beheben. Solange nun einerseits Unklarheit über Kants Absicht mit seinem Übergangswerk besteht, und anderseits für die Nachkantianer das darin adressierte Problem nicht existierte, kann man in der Tat behaupten, dass sich die Nachkantianer mit einer Chimäre der kritischen Philosophie auseinandergesetzt haben. In diesem Lichte besehen, ist es bemerkenswert, wenn sowohl Reinhold als auch Fichte ziemlich unkritisch behaupten, ihre Philosophie sei nichts anderes als eine Vertiefung oder Begründung der an sich richtigen und als abgeschlossen betrachteten Resultate der Kant’schen Transzendentalphilosophie. Ihre Stoßrichtung ist die, das von Kant noch nicht gelieferte System der Vernunft auf der Grundlage von Prinzipien aufzustellen, die die kantische Philosophie voraussetzt, jedoch nicht begründet. Dass es der kritischen Philosophie an einer Begründung fehle, ist allerdings gar keine von Kant geforderte oder gar vertretene Auffassung. Folglich geht die Diskussion um die kritische Philosophie bald Wege, die Kant für seine Philosophie weder sieht noch in Betracht zieht. So gesehen, muss die sich an Kants Philosophie anschließende Diskussion als eine eigenständige Entwicklung betrachtet werden, die ihren Anstoß zwar in jener findet, hinsichtlich der daraus gezogenen Konsequenzen jedoch ganz eigene Wege geht, wobei die Frage ist, ob und inwiefern diese mit der kantischen Philosophie überhaupt in irgendeinem Zusammenhang stehen. Mit anderen Worten ist die Frage, wie von Kant aus die nachfolgende philosophiehistorische Entwicklung zu verstehen und zu verorten ist. Angestoßen wurde die Begründungsdebatte in der modernen Philosophie eigentlich von David Hume. Er legt dar, dass die empiristische Position notwendig auf einen Skeptizismus hinauslaufen muss, wenn sie sich selbst radikal ernst nimmt und ihren eigenen philosophischen Anspruch ebenfalls empirisch versucht zu legitimieren. Kant scheint dieses Problem Humes irgendwie erkannt zu haben, obwohl die Details trotz vieler Nachforschungen im Dunkeln bleiben.5 Kants Lösung ist nun nicht von einem Begründungsdenken getragen, sondern ist transzendentalphilosophisch motiviert, indem er Raum und Zeit zu reinen Anschauungsformen umdefiniert; hierin liegt, wie auch immer man das historisch im Detail deuten mag, eine entscheidende Pointe für die Überwindung des Hume’schen Skeptizismus und damit auch für die Möglichkeit von Wissenschaft und letztendlich Metaphysik überhaupt. Kant begründet jene Möglichkeit nicht streng oder more geometrico, vielmehr ist sie die Folge einer Problemanalyse, die darlegt, dass synthetische Urteile a priori möglich sind, was jedoch noch 5 Vgl. etwa Manfred Kühn: Kant’s Conception of „Hume’s Problem“, in: Journal of the History of Philosophy 21/2 (1983), 175–193; ders.: Scottish common sense in Germany, 1768–1800. A contribution to the history of critical philosophy, Kingston/Montreal 1987.

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nicht heißt, dass sie Wahrheit über empirische Sachverhalte aussagen. Für Letzteres ist mehr nötig als nur Prinzipien a priori für mögliche Erfahrung. Nach Kant ist Erfahrung nämlich schlechthin möglich, womit allerdings nichts über das Objekt der Erfahrung ausgemacht wird, da dieses in keiner durchgängigen Bestimmung steht, was für wahre Objekterkenntnis notwendig wäre. Eine Begründung im strengen Sinne des Wortes von möglicher Erfahrung ist folglich nach Kant – wie ja auch schon nach Hume – schlechthin unmöglich. Die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori ist lediglich gegeben, sofern der Gegenstand auf Erscheinung beruht, weshalb auch alles Existierende bloß in der Anschauung und mithin subjektiv ist. Und hier liegt ein zentrales Problem der kantischen Philosophie, dass nämlich Existenz etwas Subjektives ist. Das gilt für die Existenz der Dinge, aber auch für die Produkte unseres Willens und sowieso für die des Denkens; alle Existenz ist nach Kant aus prinzipiellen Gründen subjektiv. Historisch wichtig ist nun die bloße Tatsache, dass man ohne viel Kant-Exegese auf diese Einsicht stoßen kann. Und das ist nun genau der Punkt, für den ich mich hier stark machen möchte. In den Anfangsjahren der Kant-Rezeption konnte man ohne detaillierte Exegese der allein schon textuell schwierigen Philosophie Kants trotzdem entscheidende Einsichten in ihre wesentlichen Probleme gewinnen, die für die Entwicklung der modernen Philosophiegeschichte dann bestimmend werden sollten. Auch die wichtigen Vertreter der Klassischen Deutschen Philosophie, gemeint sind die Nachkantianer im Tübinger Stift, haben ihre Einsichten in die kantische Philosophie aus den Diskussionen im Stift über die kantische Philosophie gewonnen, nur sehr beschränkt entstammen sie einer eigenständigen Lektüre.6 Diese These möchte ich im Folgenden näher erläutern.

6 In diesem Zusammenhang ist auch ein Blick auf die Auktionskataloge der Bibliotheken Hegels und Schellings verblüffend, auffallend ist nämlich, wie wenige Schriften Kants in beiden Bibliotheken, was den Zufallsfaktor einschränkt, aufgelistet sind. Was Schelling und Hegel von Kant besaßen, ist erschütternd wenig. Für Schelling ist Kritik der Vernunft in der Ausgabe von 1781 und 1790 ausgewiesen, die beiden anderen Kritiken sind lediglich in Raubdrucken von 1794 (Kritik der Urteilskraft) und 1795 (Kritik der praktischen Vernunft) vertreten. Neben den Prolegomena (1794) und Über eine Entdeckung (1796), ebenfalls Raubdrucke, verzeichnet der Katalog lediglich noch die Tugend- und Rechtslehre. Bei Hegel sieht es ähnlich traurig aus; die erste Kritik fehlt, allerdings sind die Kritik der Urteilskraft, die Kritik der praktischen Vernunft, die Anfangsgründe der Naturwissenschaft und die Religionsschrift in den Erstdrucken verzeichnet, wie auch die Tugend- und Rechtslehre, damit ist der Katalog allerdings auch schon erschöpft. Von Reinhold fehlt in beiden Katalogen alles, im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, Wichtige.

Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?

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Die Kant-Rezeption in den 80er Jahren: Reinhold Hinsichtlich der frühen Rezeption Kants kann man nicht oft genug wiederholen, dass eine philosophisch wirklich ernstzunehmende Auseinandersetzung mit den Raffinessen der kantischen Philosophie erst sehr spät in Gang kam. Und wo sie in Gang kam, hatte sie kaum Einfluss auf die Entwicklung der Klassischen Deutschen Philosophie; hier kann man auch an Kants Debatte mit Johann August Eberhard denken. Die eigentlich für die Klassische Deutsche Philosophie bestimmende Debatte wurde im Grunde genommen abseits von Kant und seiner Einflussnahme geführt und entfaltete eine ganz eigene Dynamik, durch die die kantische Philosophie bald von ganz anderen philosophischen Tendenzen abgelöst wurde, wie etwa durch die Reinhold-Fichte’sche Grundsatzphilosophie sowie durch ihre Gegenbewegung, insbesondere in Tübingen. Allgemein ist jedoch festzustellen, dass es einfach zu wenig Zeit gab, Kants, zugegebenermaßen auch für viele von uns schwierige Philosophie angemessen zu verstehen. In diesem Zusammenhang sollte man sich auch stets vergegenwärtigen, dass es eine positive Breitenwirkung der kantischen Philosophie erst seit dem Erscheinen von Karl Leonhard Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie gab, also seit 1786/87, mehr als fünf Jahre nach dem Erscheinen der ersten Kritik.7 Und auch Reinhold darf man, wie ich meine an anderer Stelle plausibel gemacht zu haben,8 keine tiefergehenden Kant-Kenntnisse zuschreiben, als er seine Briefe anfing zu schreiben. Hiermit hat er den Ton gesetzt, sofern man offenbar mit ziemlich wenigen Kenntnissen vieles über Kants Philosophie sagen, mit ihm mitdenken und in gewisser Weise auch über ihn hinausgehen konnte, wie Reinhold das in seiner Jenaer Zeit (von 1787 bis 1794) vorgeführt hat. Historisch fatal war sicherlich die Kritiklosigkeit Kants, mit der er Reinholds Briefe aufnahm, was vielleicht auch dadurch motiviert war, endlich jenen Zuspruch mit Breitenwirkung erhalten zu haben, auf den Kant so lange gehofft hatte. Es ist bemerkenswert, dass selbst an jener Stelle, wo Kant mit seinen Nachfolgern abrechnet, insbesondere mit Fichte, jede Zuspielung auf Reinhold fehlt, der nota bene der erste war, der von der kritischen Philosophie behauptet hat, sie sei lediglich eine Propädeutik des Systems der Vernunft, welche Behauptung Kant in der hier zur Rede stehenden Erklärung unverfroren Fichte zuschreibt, der das lediglich ein einer Fußnote in der schlecht erhältlichen ersten 7 Ich muss an dieser Stelle von der Sonderentwicklung der Universität Jena absehen, wo die kantische Philosophie seit Mitte der 80er Jahre fest in den Lehrplan verankert war, vgl. hierzu Horst Schröpfer : Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie (FMDA), Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. 8 Vgl. meine Einleitung zu Kap. 5 Reinhold ein Kantianer?, in: Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 2 Teilbde., Hamburg 2010, LVIII ff.

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Jenaer Wissenschaftslehre vertritt und noch dazu im Anschluss an Reinhold.9 Seine Kritiklosigkeit erklärt Kant in einem Gespräch mit Daniel Jenisch in den 90er Jahren und bedarf keines weiteren Kommentars: „Reinhold hat mir zu viel guts gethan, als daß ich böses von ihm sagen wollte.“10 Man kann sich in der Tat kaum vorstellen, wie die spätere Kant-Rezeption ausgesehen hätte, mit einem von Kant selbst ramponierten Reinhold, besonders für die Tübinger Situation. Reinholds Briefe, die erst in Aufsatzform in dem weitverbreiteten Teutschen Merkur erscheinen (1790 erscheint eine Buchausgabe, erst als Raubdruck, dann als erweiterte Fassung von Reinholds Hand), ist eines der allerersten Bücher, das sich positiv auf Kant einlässt. Entgegen allen Beteuerungen Reinholds stammen allerdings so gut wie alle seine Einsichten in die kantische Philosophie aus der anderen, hinsichtlich ihrer Wirkung nicht zu unterschätzenden Publikation von Johann Schultz, Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft von 1784. Diese Schrift bringt auf etwa 250 Seiten in wirklich hervorragender Art eine konzise Zusammenfassung der ersten Kritik. Nicht nur Reinhold, auch die Studenten am Tübinger Stift sind über diese Schrift mit der kantischen Philosophie familiär geworden. Hierzu später mehr. Eine historisch sehr bedeutend gewordene Stelle in den Erläuterungen ist ein kurzer Abriss zur Bedeutung der Religion für die Philosophie. Wie auch in der ersten Kritik heißt es dort, dass ohne Gott und Unsterblichkeit die Ideen der Sittlichkeit keine Triebfeder ihrer Ausführung sein können.11 Genau diese Stelle wird Reinhold in seinem ersten Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 als jenes „Morceau“ der kritischen Philosophie bezeichnen, das er irgendwie verstanden hat.12 Es geht freilich um dieses ,irgendwie‘, dass tatsächlich schwer zu deuten ist. Interessanterweise wird nun diese Stelle auch im Tübinger Stift immer und immer wieder herangezogen, obwohl den Tübingern auch klar war, dass sich Kant spätestens seit seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 von dieser Position gelöst hatte.13 Die Pointe dieser Stelle ist nun, dass die sittlichen Ideen nicht den ganzen Zweck der Philosophie erfüllen, „der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich ist“,14 denn der natürliche Mensch muss zusätzlich auch hoffen können, ihrer teilhaftig werden zu können. Mit anderen Worten muss es eine wie auch immer 9 Siehe Kants Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre vom 7. August 1799, Akad.-Ausg. XII, 370f. 10 Vgl. Immanuel Kant in Rede und Gespräch, hg. v. Rudolf Malter, Hamburg 1990, 353. 11 Vgl. Johann Schultz: Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft, Königsberg 1784, 176; die Stelle geht auf die Kritik der reinen Vernunft, A 813/B 841 zurück. 12 Karl Leonhard Reinhold an Immanuel Kant, 12. Oktober 1787, Akad.-Ausg. X, 498. 13 Vgl. dazu auch Eberhard Günter Schulz: Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik. Eine Untersuchung über Grundlagen, ihrer Berücksichtigung durch Kant und ihrer Wirkungen auf Reinhold, Schiller und Fichte, Köln/Wien 1975. 14 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 813/B 841.

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gestaltete Harmonie zwischen sinnlicher und intelligibler Welt geben, die hier unter dem Begriff der Hoffnung zum Ausdruck kommt. Es geht also um die Frage, wie eine solche Hoffnung verstanden und kraft welchen Prinzips sie zum Tragen kommt, sodass eine reine Willensbestimmung auch wirklich Einfluss auf unsere sinnlichen Neigungen haben kann, letztendendes auch, um uns zu besseren Menschen zu machen, worum es ja in der Ethik geht. Die Triebfeder unseres Handelns steht somit unter dem zweifachen Aspekt, sowohl sinnlich (affektiv) sein zu müssen, um auf den sinnlichen Menschen wirken zu können, als auch intelligibel sein zu müssen, da ansonsten die Handlung nicht frei wäre (vorausgesetzt, die Freiheit ist ein intelligibles Wesen, wofür Kant ja einen philosophisch starken Nachweis erbracht hat). Allgemein geht es um die Frage, wie eine reine oder intelligible Vorstellung überhaupt irgendeinen Einfluss auf die sinnliche Welt haben könne. Für ihre Beantwortung darf nun nicht auf Gott oder Unsterblichkeit als konstitutive Gründe rekurriert werden, weil damit ein zentraler Wesenszug der kantischen Philosophie aufgegeben würde, nämlich Empirismus und Rationalismus miteinander in einer grundlegend neuen philosophischen Form zu verbinden. Dem Gedanken der Verbindung von Empirismus und Rationalismus durch die kritische Philosophie liegt nun tatsächlich die Gedankenführung der Reinhold’schen Briefe über die Kantische Philosophie zugrunde.15 In dem methodisch wichtigen Entwurf zu ihnen schreibt er : „Kant berichtiget die Leibnizische und Lockische Lehre und vereinigt das Wahre von beyden“.16 Ein besonderer Aspekt der Reinhold’schen Briefe ist allerdings, dass sie den Streit zwischen den philosophischen Parteien als das große Problem der zeitgenössischen Philosophie und Theologie analysieren, womit Reinhold im Grunde genommen die kantische Antinomieenlehre zu einem Gegensatz innerhalb des damaligen Zeitgeistes ausweitet. Die kantische Position mit ihrem moralischen Vernunftglauben sei dann nach Reinhold erstmals in der Lage „die glücklichste Vereinigung“ zwischen den Lagern herbeizuführen,17 um so einen Frieden unter den Parteien zu stiften. Dieses Friedensmotiv ist zwar durchaus auch ein Anliegen der kritischen Philosophie selbst, allerdings geht es Kant nicht um eine Vereinigung der Standpunkte Empirismus und Rationalismus, sondern vielmehr darum, ihre Einseitigkeit und damit Falschheit darzutun.18 Dass die kritische Philosophie 15 Vgl. dazu auch Gerhard W. Fuchs: Karl Leonhard Reinhold. Illuminat und Philosoph: Eine Studie über den Zusammenhang seines Engagements als Freimaurer und Illuminat mit seinem Leben und philosophischen Wirken, Frankfurt/M. u. a. 1994, 115. 16 Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Korrespondenzausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1, Stuttgart-Bad Canstatt, 1983, 156. 17 Dieses Motiv ist besonders in den Briefen 2, 3 und 4 gegenwärtig. 18 Vgl. etwa I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 423f. und A 388f.; ders.: Prolegomena, Akad.Ausg. III, 134 und 236 sowie ders.: Reflexionen zur Metaphysik 5645, Akad.-Ausg. XVIII, 293:

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eine Vereinigung beider Standpunkte beabsichtige, wird jedoch zur vorherrschenden Vorstellung der damaligen Zeit, die auf Reinholds Konto geht.19 Reinholds Einfluss auf die sich damals erst anbahnende Kant-Rezeption ist kaum zu überschätzen; dies nicht so sehr, weil er die kritische Philosophie in Bezug auf ihre Richtigkeit verteidigt hat, sondern vielmehr, weil er ihre Bedeutung auf höchst ingeniöse Weise mit einem allgemeinen Bedürfnis der damaligen Zeit abzustimmen wusste, was ihn auch quasi über Nacht berühmt machte. Die eher technische und vornehmlich kritische Auseinandersetzung mit Kant bleibt seit den Briefen eine akademische Angelegenheit, die das gelehrte Publikum eher nur am Rande wahrgenommen hat. Reinhold ist mit seinen Briefen der große Wurf gelungen, die kritische Philosophie vom Katheder in die Herzen der Menschen zu bringen. Und das unter Umgehung der damaligen Debatte zwischen Popular- und Schulphilosophie, die im Grunde genommen ebenfalls ein Streit zwischen Empirismus und Rationalismus war. Nichtsdestotrotz wird Reinholds Leistung oftmals als Popularisierung der kritischen Philosophie getadelt. Dieses Urteil wird allerdings seiner eigenständigen philosophiegeschichtlichen Leistung nicht gerecht. Der ich mich nunmehr zuwenden möchte. Nicht erst wenn Reinhold selbst durch seine Jenaer Professur ins akademische Lager übersiedelt, sondern von Anfang an hat er die These vertreten, dass die kritische Philosophie nicht über die Mittel verfügt, die ihr entgegengebrachten „unphilosophischen“ sowie „philosophischen Vorurtheile“ aus dem Weg zu räumen. Die kritische Philosophie kann folglich dem ihr von Reinhold zugeschriebenen Vereinigunspotential nicht gerecht werden, welche Erkenntnis ihn dann dazu bringt, jenes Potential in einem „äußeren Grund“ zu suchen,20 nämlich im Zeitgeist. Kants Philosophie, so die implizite These Reinholds, vereinigt alle Probleme der Gegenwart und führt diese einer letztendlichen Lösung zu. So avanciert die kritische Philosophie zum Kulminationspunkt der gesamten durch die Philosophie getragenen Kulturgeschichte; und das ist, was ihr ihre epochale Bedeutung gibt. Die Verbindung von kantischer Philosophie mit dem Zeitgeist basiert wie gesagt auf äußeren Gründen, wie Reinhold sie nennt, was dann ferner impliziert, dass die inneren Gründe der kritischen Philosophie zu ihrer eigenen Rechtfertigung nicht hinreichen. In dem soeben erwähnten me„Zwischen dem Dogmatism und Scepticism ist die mittlere und eintzig-gesetzmäßige Denkungsart der Criticism.“ 19 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Trichotomie Dogmatismus, Empirismus und die Überwindung im Kritizismus durch Kuno Fischer und Friedrich Ueberweg in der Philosophiegeschichte kanonisch geworden, vgl. dazu Hans-Jürgen Engfer : Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, Paderborn 1996, 27f. 20 Karl Leonhard Reinhold: Briefe über die Kantische Philosophie. 3. Brief, in: Der Teutsche Merkur, Februar 1787, 117–142, hier : 118 Anm.

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thodisch wichtigen Entwurfschreiben Reinholds geht es um diese beiden Gründe; die äußeren Gründe werden von den Briefen erörtert, über die inneren Gründe sagt der Entwurf jedoch kaum etwas. Die Grundanlage ist jedoch, dass diese inneren Gründe dann von Reinholds Hauptwerk Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens von 1789 geliefert werden, und zwar aufgrund eines Grundsatzes, der der kritischen Philosophie durchaus fremd ist. Reinhold rekonstruiert in seinem Versuch aufgrund dieses, wie er ihn nennt, Grundsatzes des Bewusstseins die an sich richtigen Resultate der kritischen Philosophie. Die äußeren Gründe führen zu diesem Grundsatz.21 Reinholds Kant-Analyse ist im Grunde genommen schlechthin bahnbrechend, sofern eine so intime Verbindung von Philosophie und Zeitgeist ein echtes Novum ist. Nur erinnert sei hier, dass Hegel diesen Gedanken viele Jahre später in dem Diktum wieder aufgreift, dass „die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.“22 Kulminieren alle philosophischen Probleme der Zeit in der kritischen Philosophie, ist eine Rückbesinnung auf die Zeit keine bloße historische Übung, sondern trifft überhaupt den Kern der Auffassung von Philosophie, der sich, wie gesagt, nicht aus ihr selbst herleitet. Die Philosophie versteht die Zeit, diese jedoch bringt sie aus ihrem dunklen Schoße hervor. So betrachtet, ist die epochale Bedeutung der kritischen Philosophie von Reinhold überhaupt erst gestiftet, und fängt mit ihr die neue Philosophie eigentlich erst an. In der Philosophie beziehungsweise in der kantischen Philosophie liegt beschlossen, was die Not der Zeit ist, während sie ihr zugleich den Weg aus dieser Not weist. Hieraus folgt eine weitere wichtige Pointe, nämlich die Emanzipierung der Philosophiegeschichte von der Philosophie, indem nämlich die Philosophiegeschichte für die Erklärung dessen notwendig ist, was von der Philosophie selbst (in diesem Falle von der kantischen) als erklärungsbedürftig aufgestellt wird, wobei die Philosophiegeschichte allerdings zugleich mit der Philosophie verbunden bleibt. Dies ist auch der der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes zugrundeliegende Kern, dass sich nämlich der Anfang erst aus dem Resultat ergibt, sofern nichts als Resultat zu erkennen ist, was nicht auch von diesem her, allerdings als Anfang genommen, entwickelt werden kann. In diesem Zusammenhang wundert es deshalb nicht, dass Reinhold, nachdem er von Hegel und Schelling im Kritischen Journal zur Schnecke gemacht worden ist, urplötzlich wieder in der Wissenschaft der Logik auftritt, wenn es um die Frage geht, womit in der Philosophie der Anfang gemacht werden soll. Offensichtlich verdankt 21 Näheres zu dieser Konzeption von äußeren und inneren Gründen in meiner Einleitung zu Kap. 8 Zur Entstehung des Versuchs in: K.L. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie, LXXXIIIff. 22 Vgl. Hegels Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 7, 26.

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Hegel Reinhold höchst entscheidende Denkanstöße für seine philosophische Methode.23 Doch kommen wir zurück auf Reinholds äußere Rechtfertigungsgründe der kritischen Philosophie, die er der Systematik seiner Philosophie nach in den Briefen über die Kantische Philosophie darlegt. Diese liegen in den moralischen Bedürfnissen der Zeit, die die kantische Moraltheologie lediglich systematisch auf den Punkt bringt. Um noch einmal an das historisch so wichtig gewordene Zitat der ersten Kritik zu erinnern, bedürfen wir der Religion, um den Ideen der Sittlichkeit eine Triebfeder ihrer Ausführung zu geben. Es ist nun nicht so, dass Reinhold den systematischen Vorrang der Moral vor der Religion wieder umkehrte; vielmehr ist ja die Rede von den äußeren Gründen für die kritische Philosophie, die historisch vermittelt und irgendwann zu einem wirklich gefühlten Bedürfnis geworden sind. Es geht in den Briefen in diesem Zusammenhang um Grundwahrheiten der Moral und Religion,24 über die es in der vorkritischen Philosophie kein Einverständnis geben konnte, weil sie von den verschiedenen philosophischen Parteien gegeneinander eingebracht und ausgespielt wurden. Kant habe, so Reinhold, mit seiner kritischen Philosophie diesen Parteienstreit überwunden, womit er, ohne es zu wissen, das Bedürfnis der Zeit ans Licht geführt hat. Die philosophiehistorische Leistung der kritischen Philosophie, die Einseitigkeiten von Empirismus und Rationalismus in einem übergreifenden philosophischen Neuentwurf zu überwinden, würde tatsächlich zu Nichts verglühen, wenn damit nicht auch ein viel Größeres geleistet würde, was nämlich das Bedürfnis des Menschen angeht. Dies ist keinesfalls eine popularphilosophische Vereinnahmung Kants, sondern vielmehr der Versuch, die Philosophie als etwas zu verstehen, was Not tut, um so Denken und Herz wieder miteinander in Einklang zu bringen. Hierbei hat Reinhold freilich auch immer den folgenden Schritt im Blick, dass nämlich das Herz oder unser sittliches beziehungsweise sittlich-religiöses Gefühl nur unter der Bedingung einer philosophischen Rechtfertigung seine Rechtmäßikeit erhält. Mitunter muss die Philosophie über eine praktische Vernunft auf das Gefühl zurückwirken; und wenn die Philosophie selbst als ein Bedürfnis der Zeit oder als ein Zeitgefühl verstanden wird, wirkt sie auch auf dasselbe, nun allerdings rechtfertigend zurück. Was also zunächst als äußere Rechtfertigungsgründe der kritischen Philosophie in den Briefen erörtert wird, bedarf noch einer eigenen Rechtfertigung durch innere Gründe, was in Reinholds eigentlichem Hauptwerk, dem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens geschieht, das von 23 Vgl. dazu auch Martin Bondeli: Hegel und Reinhold, in: Hegel-Studien 30 (1995), 45–87. 24 Kant spricht nirgends von solchen Grundwahrheiten der Religion oder Moral. Einem Fragment zufolge schlägt er sie sogar dem natürlichen Vernunftgebrauch zu und zwar „nach der analogie des empirischen Gebrauchs“ (I. Kant: Reflexionen, Akad.-Ausg. XVIII, 6).

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einem aus den äußeren Gründen hergeleiteten Standpunkt, nämlich dem des Bewusstseins, die an sich richtigen Resultate der kritischen Philosophie für alles Bewusstsein ableitet.25 An dieser Stelle brauchen wir nicht näher auf die von Reinhold verfolgte Strategie einzugehen. Entscheidend ist der Gedanke, dass die Philosophie ein praktisches Interesse haben muss, und dass dieses Interesse Denken und Herz gleicherweise angeht. Diese Einsichten hatte Reinhold in nuce bereits in seiner vorkantischen Periode entwickelt,26 mit ihrer Anwendung auf die kritische Philosophie verschafft er ihr erstmals eine Breitenwirkung, die einen Flächenbrand auslöst. Kant wird zur Sensation, obwohl sein kritisches Programm um 1788 weder fertig war noch, wegen seiner unglaublichen Komplexität, dem zeitgenössischen Verstand wirklich offen lag. Man muss sich deshalb auch ernsthaft fragen, ob die Aufnahme der kantischen Philosophie ohne die von Reinhold entwickelten Voraussetzungen nicht völlig anders ausgesehen hätte. Meines Erachtens ist dies nicht nur eine müßige Frage, sie ist schlechthin unsinnig; denn es geht hier um keine individuelle philosophische Leistung Reinholds, sondern um die Breitenwirkung, wofür Reinhold zwar die unmittelbare Ursache war, als Wirkung jedoch nicht nur mit dieser Ursache, sondern auch mit dem von ihm unabhängigen Zeitgeist im Zusammenhang steht, der viel zu komplex ist, als dass Reinhold ihn hätte einfangen können. In der Philosophiegeschichte, wie in der Geschichte überhaupt, hängen wir meines Erachtens noch viel zu stark an der antiken Auffassung, dass Individuen Geschichte machen, während diese lediglich etwas hinstellen, das entfesselt. Was allerdings genau entfesselt wird, welche untergründigen Kräfte plötzlich beginnen zu wirken, hat einen schier unentwirrbaren Zusammenhang mit der Ursache, sofern die Entfesselung selbst der ganze Sinn ist. Von diesem Sinn als Wirkung auf die Ursache Reinhold zurückzuschließen ist ein absurdes Unterfangen. Die Welt, insbesondere die philosophische Welt, die zu jenem Zeitpunkt noch ziemlich deckungsgleich mit der wissenschaftlichen Welt ist, hat sich nach Reinhold in dem Sinne grundlegend verändert, dass philosophische Fragen dem dunklen Zeitgeist entstammen, in ihrer eigenen Domäne der Vernunft zur Darstellung kommen, allerdings in irgendeiner Weise auch wieder kanalisierend 25 Es ist übrigens nicht uninteressant zu erwähnen, dass Kant Reinholds Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens befürwortend gegenüberstand, das Prinzip der kritischen Philosophie von den äußeren Gründen aufwärts zu suchen, nur den Weg abwärts, aus diesem Prinzip dann die an sich richtigen Resultate der kritischen Philosophie abzuleiten, konnte Kant nichts abgewinnen, vgl. meine Einleitung zu Kap. 8 Zur Entstehung des Versuchs, in: K.L. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie, LXXXIIIff. 26 Vgl. Karianne Marx/Ernst-Otto Onnasch: Zwei Wiener Reden Reinholds: Ein Beitrag zu Reinholds Frühphilosophie, in: Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment (Studies in German Idealism 9), hg. v. George di Giovanni, Dordrecht/Heidelberg/London/New York 2009, 269–289.

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auf den Zeitgeist zurückwirken müssen. Seit Reinhold ist Philosophie ohne praktische Wirkung so etwas wie Unphilosophie.

Umbruch und Neuorientierung der Kant-Rezeption Anfang der 90er Jahre im Tübinger Stift Die weiteren Schicksale von Reinholds Aufgriff und Verbreitung der kantischen Philosophie sind in vielen Punkten historisch falsch aufgearbeitet. Eine immer noch völlig unterschätzte Schlüsselfigur ist in diesem Zusammenhang der Tübinger Theologe und zeitweilige Philosophieprofessor Johann Friedrich Flatt. Er stand, wie alle anderen Tübinger Professoren, der kantischen Philosophie und damit auch ihrer Verbreitung durch Reinhold skeptisch gegenüber, dem allerdings sofort nachzusetzen ist, dass diese Skepsis eine durchaus offenherzige war. Das heißt, man konnte es sich in Tübingen durchaus leisten, sich mit der kantischen Philosophie einzulassen, offenbar weil dort schon sehr bald tragfähige Argumente gegen sie entwickelt waren. So konnte Flatt bereits um 1789 recht gelassen behaupten, „daß das System des Königsbergischen Philosophen sich nicht nur vollkommen gut mit der Religion vertrage, sondern auch dieser eine neue unerschütterlich feste Stüze gebe, mit der alle übrige, einzeln betrachtet oder zusammen genommen, die Vergleichung nicht aushalten.“27 Ähnlich vertritt er in seiner Metaphysik-Vorlesung gegenüber seinen Studenten, darunter auch Hegel und Hölderlin: „Das Kantische System ist also in Absicht auf ihre Resultate nichts weniger, als gefährlich.“28 Und als sich in Tübingen die ersten Studenten mit Kant in der Hand von der christlichen Offenbarungswahrheit abkehrten, wie Friedrich Niethammer und noch energischer Immanuel Carl Diez, warf das niemanden aus der Bahn. Diez disqualifizierte sich mit seiner philosophischen Haltung nicht einmal für eine Stelle als Repetent im Stift. Diese Offenheit gegenüber der kantischen Philosophie, die es an vielen anderen

27 Johann Friedrich Flatt: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund der Religion überhaupt, und besonders in Beziehung auf die Kantische Philosophie, Tübingen 1789, 4. – Lediglich Flatts Kollege Johann Friedrich LeBrett hatte anlässlich einer Disputation seine Studenten vor Kant und Reinhold gewarnt, indem er sie als „flüchtige Scholastiker“ bezeichnete und letzterem außerdem seinen katholischen Hintergrund ankreidete, vgl. Immanuel Carl Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen– Jena (1790–1792), hg. v. Dieter Henrich, Stuttgart 1997, 30f. 28 Vgl. Metaphysische Vorlesungen im Sommerhalb-Jahre 1790 gehalten (Nachschrift von August Friedrich Klüpfel), Ms. 64. Die Veröffentlichung der Nachschriften Flatts ist in Vorbereitung: Johann Friedrich Flatt: Philosophische Vorlesungen 1790. Nachschriften von August Friedrich Klüpfel, hg., eingeleitet und kommentiert v. Michael Franz/Ernst-Otto Onnasch, Spekulation und Erfahrung (Abt. I), Stuttgart-Bad Cannstatt (voraussichtlich 2017).

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deutschen Universitäten nicht gab, sollte viele junge Tübinger Flügel geben, sich auf eine eigenständige Weise mit ihr einzulassen und auseinanderzusetzen. Flatts philosophische Auffassungen waren allerdings nicht nur für seine Studenten wichtig. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, hat er auch J. G. Fichte, der ihn 1793 vermutlich auch aus diesem Grunde in Tübingen besuchte, entscheidende Denkanstöße vermittelt, durch die ihm die Defizite der Reinhold’schen Grundsatzphilosophie überhaupt erst richtig klar wurden.29 Fichte wird später die von Flatt stammenden Einsichten publizistisch herunterspielen, indem er die Lektüre des Aenesidemus-Schulze für seine neuen, über Reinhold hinausführenden Einsichten verantwortlich macht, die ihn schließlich zu seiner Wissenschaftslehre geführt haben. Die genaueren Umstände müssen hier wegen ihrer verschachtelten historisch-philologischen Argumentation übergangen werden. Dennoch ist diese neue Einsicht von großem philosophiehistorischem Interesse. Ist sie nämlich richtig, dann avanciert Flatt zu einem historisch durchaus wichtigen Bindeglied zwischen den beiden Strängen der späteren Kant-Rezeption, wovon der eine über Reinhold zu Fichte und der andere über Reinhold zu den jungen Tübinger Studenten führt. Ferner eröffnet sie auch eine neue Strategie, das von Anfang an zwiespältige Verhältnis der jungen Tübinger zu Fichte genauer zu verorten. An dieser Stelle entstehen schon die ersten Brüche hinsichtlich der von Kant ausgehenden vermeintlichen Kontinuität oder Einheit der Klassischen Deutschen Philosophie. Wir hatten bereits gesehen, dass die Kant-Rezeption von Reinhold auf eine philosophisch eigensinnige Weise vorangetrieben wurde, weshalb man das zeitgenössische Kant-Verständnis historisch kaum angemessen verstehen kann, wenn man diesem Umstand nicht genügend Rechnung trägt. Von unserem versierteren Kant-Verständnis heraus ist es historisch nur sehr beschränkt sinnvoll, seine Nachfolger verstehen zu wollen. Die damalige KantExegese war einfach keine, wie wir sie heute kennen, weshalb wir uns darum bemühen müssen, jenes zeitgenössische Kant-Bild genauer zu verstehen, das eben nicht aus den technischen Raffinessen der kantischen Philosophie argumentiert. Fichte ist eigentlich der einzige Zeitgenosse, von dem man behaupten kann, dass er Kants Kritiken gelesen hat und im Gegensatz zu Reinhold und den Tübingern seine Kant-Kenntnisse nicht aus dem Schultze’schen Handbuch schöpft. Was Fichte allerdings aus Kant macht, hat seinen Ursprung in Flatts Reinholdund Kant-Kritik. Ähnliches gilt auch für die jungen Tübinger Studenten, für die 29 Vgl. Ernst-Otto Onnasch: Fichte im Tübinger Stift. Johann Friedrich Flatts Einfluss auf Fichtes philosophische Entwicklung, in: Fichte-Studien 43 (2016): Fichte und seine Zeit. Kontext, Konfrontationen, Rezeptionen, hg. v. Matteo V. d’Alfonso/Carla De Pascale/Erich Fuchs/Marco Ivaldo, 31–47.

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die direkte Kant-Lektüre vielleicht eine zu hohe Hürde war oder aber aus irgendwelchen Gründen als überflüssig empfunden wurde: für die frühen 90er Jahren lässt sich eine intensivere Kant-Lektüre im Tübinger Stift nur sehr beschränkt nachweisen. Als schwierig wurde Kant in Tübingen auf jeden Fall empfunden, man sollte sich jedoch auch die Frage stellen, ob seine Lektüre wirklich notwendig war, um an den dortigen Diskussionen teilnehmen zu können. Es ist nun tatsächlich kaum zu erkennen, weshalb zu diesem Zweck die Lektüre des Schultze’schen Handbuches nicht ausreichen sollte. Die Tübinger Kant-Rezeption arbeitet sich im Gegensatz zu Fichte nicht aus der Reinhold’schen Grundsatzphilosophie hervor, der die Tübinger ablehnend gegenüberstehen, sondern ist stark von Reinholds Briefen und viel weniger als Fichte von einer gewissenhaften KantLektüre inspiriert. Unterschätzt und auch falsch bewertet ist bislang die Rolle Flatts für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie. Seine kritischen Einsichten haben nicht nur Fichte, sondern auch die jungen Tübinger Studenten maßgeblich beeinflusst. Flatt beschäftigt sich seit spätestens 1787 mit der Philosophie Kants, zunächst in Rezensionen für die Tübingischen gelehrten Anzeigen, dann auch mit Buchpublikationen. Sein Scharfsinn muss bedeutend gewesen sein, denn Fichte, der diesen Scharfsinn anerkennt, ist äußerst sparsam mit solchen Komplimenten. Sein philosophischer Einfluss auf die Tübinger Studenten war zweischneidig. Einerseits erkennt er Schwachstellen in der kantischen aber auch reinholdschen Philosophie, die er anderseits – wohl eher unbewusst – so darlegt, dass sie als Vorgaben für ein Weiterdenken jener Positionen funktionieren. Ein wichtiges Dokument seiner Kant-Auseinandersetzung in der Lehre ist eine Nachschrift seiner Metaphysik-Vorlesung aus dem Jahre 1790. In dieser Nachschrift findet sich auch eine Übersicht der zeitgenössischen Kant-Literatur mit einer knappen Evaluation. Auffallend ist zunächst, dass er zur Einführung in die kritische Philosophie uneingeschränkt Schultzes Erläuterungen empfiehlt, was sich viele Stiftler auch zu Herzen genommen haben. Aus der Biographie Plitts geht hervor, dass Schelling sich im Frühjahr 1791 durch ihre Lektüre erstmals mit der kritischen Philosophie vertraut gemacht hat.30 In der Vorlesung geht Flatt auch ausführlich auf Reinhold ein, was auch die große Bedeutung seiner bis dahin erschienenen Schriften für viele Stiftler unterstreicht. In sechs Punkten zusammengefasst behauptet er folgendes: 30 Vgl. Gustav Leopold Plitt: Aus Schellings Leben. In Briefen, 3. Bde., Leipzig 1869–1870, Bd. 1, 27: „Neben seinen fleißigen alttestamentlichen Arbeiten hatte übrigens Schelling […] sich auch an Kant gemacht; er bediente sich beim ersten Studium der Kritik der reinen Vernunft des Schulzeschen Auszugs, den er auch später Anfängern empfahl; in seinem Exemplar stehen unter seinem Namen und der Jahreszahl 1791 die Worte: abs. pr. d. 23 Mart. ej. Da hatte er also Kants Kritik zum erstenmal gelesen.“

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1. Reinhold habe „manche Kantische Ideen in ein sehr vorteilhaftes Licht gesezt“; 2. Dennoch sind diese Werke nicht „gleich anfangs zu empfehlen“; 3. Denn sie tragen die kantische Philosophie nicht so vor, „wie sie Kant lehrte“; 4. Reinhold trägt vielmehr sein eigenes System vor, „das zwar auf Kantische Resultate führt, aber aus höhern Prinzipien abgeleitet ist“; 5. Die im Versuch aufgestellten allgemeingültigen Prinzipen sind mißraten; 6. Abschließend hält Flatt zusammenfassend und auch ad hominem gegen Reinhold fest (wo er diese Information her hat, ist unklar, aus Kants Umkreis kann sie keineswegs stammen): „Kant selbst ist mit diesem Werk gar nicht zufrieden“.31 Flatt erkennt sehr klar die philosophischen Intuitionen Reinholds und setzt sie der kritischen Philosophie entgegen.32 Der Versuch war im Oktober 1789 erschienen und im Sommer 1790 hat ihn, soweit ich sehe, noch kein Stiftler ganz gelesen. Wenn also, wie aus dem Dietz’schen Briefwechsel aus derselben Zeit hervorgeht, im Stift „reinholdisiert“ wurde, kann sich das nur auf die Briefe beziehen, die wegen des Ausdrucks „reinholdisieren“33 offenbar großen Einfluss auf die damalige Diskussion im Stift hatten. Das bestätigt auch die Biographie Niethammers, in der es heißt, dass „die Gründe für das Dasein Gottes“, die tatsächlich in den Briefen thematisch sind, Hauptgegenstand des damaligen Kant-Interesses waren.34 Hinweise auf eine intensivere Auseinandersetzung mit den Schriften des Königsbergers selbst fehlen für diesen Zeitpunkt im Stift fast ganz. Diesbezüglich scheint im Stift, Flatt der Platzhirsch und die einzige Informationsquelle zu sein. Seine Kant-Kritik hat er offenbar mit einem Scharfsinn und einer Überzeugungskraft vorgetragen, dass kaum ein Stiftler noch den Andrang verspürte, sich auf die Schriften des Königsbergers einzulassen. Als ebenso scharfsinnig ist auch dessen Reinhold-Kritik wahrgenommen worden. Denn als Niethammer Anfang 1790 nach Jena abgereist war und anlässlich eines Besuchs bei Reinhold feststellen musste, „Zweifel“ an der Vorstellungstheorie zu haben,35 so hat er ihm allem Anschein nach – denn es gibt keinen Hinweis darauf, dass er zu diesem Zeitpunkt Reinholds Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens gelesen hat – eine durch Flatt informierte 31 Metaphysik-Vorlesung, siehe oben Anm. 28, Ms. 16. 32 Übrigens ist auch Immanuel Carl Diez der Meinung, Flatt habe Kant oft besser verstanden als Reinhold, vgl. Immanuel Carl Diez, hg. v. D. Henrich, 280. 33 Briefwechsel und Kantische Schriften: Wissensbegründung in der Glaubenskrise TübingenJena (1790–1792), hg. v. Dieter Henrich, Stuttgart 1997, 12. 34 Julius Döderlein: Unsere Väter Kirchenrat Christoph Döderlein, Oberconsistorialrat Immanuel von Niethammer und Hofrat Ludwig von Döderlein, Erlangen/Leipzig 1891, 23. 35 J. Döderlein: Unsere Väter, 21.

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Kritik an derselben vorgetragen, die Reinhold nicht angemessen parierte. Mithin kann man behaupten, dass in Tübingen die Grundsatzphilosophie bereits tot zu Boden lag als sie noch kaum die Presse verlassen hatte. Mithin hat Flatts Kritik den Versuch sehr viel härter getroffen als sie Reinholds Briefe getroffen hat, wenn sie diese überhaupt getroffen hat. Das ist keine ganz unwichtige Erkenntnis, deren genauere Deutung jedoch noch aussteht. Bedeutungsvoll ist eine weitere Behauptung in der Metaphysik-Vorlesung, die der Nachschreiber Klüpfel in indirekter Rede aufzeichnet, wie nämlich das kantische System „durch und durch mit sich selbst zusammenstimme, sieht Flatt gegenwärtig noch nicht ein. Wird aber dieses noch gezeigt, so ist es unstreitig das vollkommenste System.“36 Hierin liegt ein Anstoß, sich näher mit dem inneren Zusammenhang der kritischen Philosophie als System zu befassen. Wie gesagt, hatte Reinhold bereits den Anspruch vertreten, jenes System der kritischen Philosophie in seinem Versuch entwickelt zu haben. Doch stieß dieses von einem Grundsatz her entwickelte System bei Flatt auf Ablehnung, die offenbar wegen ihrer guten Begründung von vielen Tübinger Studenten übernommen wurde.37 Damit war, wie die Vorlesung zeigt, die Idee eines Systems allerdings noch nicht zu Grabe getragen; Flatt hält ein solches nämlich durchaus für möglich. Die Suche nach diesem System voranzutreiben, ist auch theologisch motiviert; schon 1789 schreibt Flatt nämlich, „daß das System des Königsbergischen Philosophen sich nicht nur vollkommen gut mit der Religion vertrage, sondern auch dieser eine neue unerschütterlich feste Stüze gebe, mit der alle übrige, einzeln betrachtet oder zusammen genommen, die Vergleichung nicht aushalten.“38 Das ist keine Höflichkeitsfloskel, sondern ein ernster Rat, den Flatt sicherlich auch seinen Studenten mitgegeben hat. Die wesentlich von Flatt geschaffene Ausgangslage der Kant-Rezeption in Tübingen ist, dass Reinholds Grundsatzphilosophie abgewiesen wird, ohne dass deshalb auch der von ihm popularisierte Gedanke eines Systems der kantischen Philosophie abgewiesen würde. Die stark religions- und moralphilosophisch geprägten Briefe werden von Flatt kaum angegriffen, weshalb sie auch wegweisend für die weiteren Diskussionen um die kantische Philosophie im Stift bleiben konnten. Übrigens ist es bemerkenswert, dass Flatt zuweilen auch selbst ein sich stark an Reinholds Briefen anlehnendes Vokabular zur Hochschätzung Kants verwendet. 36 Metaphysik-Vorlesung, siehe oben Anm. 28, Ms. 64. 37 Vgl. dazu auch Schellings spätere Kritik von „unglücklichen Untersuchungen über einen ersten Grundsatz in der Philosophie“, worin der „Tod alles Philosophirens“ besteht, vgl. dessen Antikritik im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1796, nachgetragen in Schellings Sämtlichen Werke in XIV Bänden, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861, Bd. I, 242. 38 J.F. Flatt: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund, 4.

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Jedenfalls dauert es relativ lange, bis die späteren Hauptvertreter der Klassischen Deutschen Philosophie eine eigenständige Lektüre Kants vornehmen. Zwar bildet sich im Stift um 1790 ein Kant-Lesekreis, doch gibt es keinen Hinweis dafür, dass ihm jene Studenten angehören. Der Kreis ist den spärlichen Nachrichten zufolge aus dem Bedürfnis hervorgegangen, dass in Tübingen die „Wasser des Denkens […] trübe und schlammig“ seien.39 Hiermit kann nun der durchaus scharfsinnige Vortrag Flatts nicht gemeint sein. Nimmt man allerdings dessen Kritik an Reinhold ernst, ihm gehe es nicht um Kant, sondern um sein eigens System, dann liegt die Vermutung nahe, dass Reinhold dieser Verschlammung vorgearbeitet hat. Der Lesekreis zerschlägt sich bald wieder, womöglich weil die Lektüre Kants eigener Schriften nicht jenes Licht abgewonnen werden konnte, das man sich von ihr erhoffte. So konnte Reinholds Diktum in Tübingen irgendwie in Kraft bleiben, dass die kantische Philosophie ein Bedürfnis der Zeit ist, weshalb man, wie ja auch Reinhold in seinen Briefen, lediglich die Pointe der kritischen Philosophie zu erfassen brauche – was diese auch immer sein mag –, um auch dieses Bedürfnis zu erfassen. Diese Tendenz ist auch noch in dem späteren Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus greifbar, das ebenfalls kraft einer Analyse der Zeitumstände ein an Kant angelehntes Programm entwickelt, das der Zeit nottut. Jedenfalls tut sich, wenn wir um 1790 bei den späteren Hauptvertretern der klassischen deutschen Philosophie angekommen sind, ein Rezeptionsgefüge auf, in dem der kantischen Philosophie selbst kaum eine Rolle von Bedeutung zukommt. Letzteres zeigt auch der Leutwein-Bericht, aus dem hervorgeht, dass Hegel im Herbst 1792 noch kaum mit Kant vertraut war : „Dieser war Eklektiger, und schweifte noch im Reiche des Wissens cavalieremente herum.“40 Nach den Quellen zu urteilen, ist auch bei Hölderlin und Schelling um diese Zeit keine ins Gewicht fallende KantLektüre zu erkennen. Und jene Stiftler, die sich in den Folgejahren tatsächlich mit Kants Schriften auseinandersetzen, werden von Schelling 1795 dann als solche kritisiert, die den moralischen Beweis an der Schnur führen.41 Erst Fichtes Offenbarungsschrift von 1792 und dann Kants Religionsschrift von 1793 haben Hegel für die kritische Philosophie sensibilisiert, wenn auch unter Einfluss eines anderen Tübinger Diskussionsstranges, der ebenfalls stark auf Reinhold bezo39 Vgl. dazu den Bericht von Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen-Jena (1790–1794), 2 Bde., Frankfurt/M. 2004, 716ff. 40 Vgl. Dieter Henrich: Leutwein über Hegel. Ein Dokument zu Hegels Biographie, in: HegelStudien 3 (1965), 39–77, hier : 57. 41 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 6. Januar 1795, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. der SchellingKommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff., Abt. III, Bd. 1, 16. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und der Bandnummer in arabischen Zahlen.

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gen ist, jedoch auch, und das ist wichtig, die Flatt’sche Kant-Kritik berücksichtigt. Es handelt sich um den älteren Stiftler und späteren Repetenten, allerdings bereits 1794 verstorbenen Gottlob Christian Rapp. Dieser unternimmt 1790 eine Bildungsreise nach Jena, wo er intensiv mit Reinhold diskutiert und Ende 1790 eine kleine Schrift verfasst, mit dem Anspruch, die kantisch-reinholdische Position mit der der Tübinger Storrschule und ihrer Kant-Kritik zu versöhnen. Seine Tübinger Freunde standen diesem Versuch eher kritisch gegenüber. In einem brieflichen Bericht heißt es über ihn, er „sei als entschiedener Kantianer und Storrianer von Jena gekommen“,42 was ihm weder von dem kantischen Enrag8 Diez noch dem Storrianer Friedrich Gottlieb Süsskind Beifall einbrachte. Die jüngeren Stiftler dagegen erkennen in Rapps Versuch einen Weg, die Skylla moralischer Beweise und die Charybdis der storrianischen Kant-Kritik zu umschiffen. Vielleicht auch unter Fürsprache des von Hölderlin hochgeschätzten Repetenten Carl Philipp Conz, der übrigens die Position Diezens scharf ablehnte, haben Hegel und Hölderlin Rapps Versuch nicht nur wahrgenommen, sondern ihn auch für ihr eigenes Denken antizipiert.43 Conz Hochachtung entgegenbringen und zugleich mit Diezens Position zu sympathisieren, war sicherlich nicht möglich; aus diesem Grunde sollte man den Einfluss Diezens auf die späteren Tübinger Protagnisten der Klassischen Deutschen Philosophie auch nicht überbewerten. Ferner implizierte Rapps Position auch eine gewisse Kritik an der Tübinger Storr-Schule. Und genau hieran sollten die späteren Differenzen abgeglichen werden, die die jüngeren Tübinger der Storr-Schule entgegenbrachten. Mit einer vermeintlichen Tübinger Orthodoxie haben diese Differenzen wenig zu tun, denn orthodox war die Storr-Schule keineswegs.44 Flatts Kritik am Kantianismus und Rapps Antwort sind die entscheidenden Vorgaben für die jüngeren Studenten gewesen, sich auf den Kantianismus einzulassen. Die Lektüre Kants spielte dabei eine untergeordnete, wenn überhaupt eine Rolle. In einer seiner frühesten Schriften zur Religionsphilosophie (Sommer 1793) greift Hegel bereits das zentrale Topos Rapps auf: Der Mensch brauche „ausser der reinen Achtung fürs Gesez noch andre sich auf seine Sinnlichkeit beziehende Triebfedern“.45 In diesem Zusammenhang wird der ebenfalls von Rapp über42 Immanuel Carl Diez an Friedrich Immanuel Niethammer, 5. Dezember 1790, in: Immanuel Carl Diez, hg. v. D. Henrich, 47. 43 Vgl. dazu auch Wolfgang Wirth: Transzendentalorthodoxie? Ein Beitrag zum Verständnis von Hölderlins Fichte-Rezeption und zur Kritik der Wissenschaftslehre des jungen Fichte anhand von Hölderlins Brief an Hegel vom 26. 1. 1795, in: Hölderlin. Lesarten seines Lebens, Dichtens und Denkens, hg. v. Uwe Breyer, Würzburg 1997, 159–234, bes. 168ff. 44 Vgl. dazu auch Michael Franz: „Tübinger Orthodoxie“. Ein Feindbild der jungen Schelling und Hegel, in: Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum, hg. v. Steffen Dietzsch/Gian Franco Frigo, Berlin 2006, 141–160. 45 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen

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nommene Begriff der Liebe ins Spiel gebracht. Diese kommt nämlich als ein Verbindungsstück zwischen sinnlicher Neigung und rein-vernüftigem sittlichem Gesetz zur Geltung, kraft der der ganze Mensch als Teil einer sowohl sinnlichen als auch übersinnlichen Welt in einem erfüllten Sinne handelt. Handelt der Mensch lediglich im Sinne seiner sittlichen Pflicht, wie es Kants Sittengesetz fordert, nicht jedoch auch als sinnliches Dasein, geht mit der Ausführung des moralischen Gesetzes ein wesentlicher Mangel einher, sofern nicht klar ist, wie sich der Mensch als ganzer Mensch moralisch bessern könne. Erfüllt kann das Gesetz nur dann sein, das heißt sein Pleroma, wenn der Mensch auch dazu geneigt ist, moralisch zu handeln; es ist mithin entschieden zu wenig, lediglich dem Gebot der Pflicht zu gehorchen. Die Liebe wird von Rapp, worin ihm Hölderlin und Hegel folgen, als jenes Strukturprinzip eingeführt, das Sinnliches und Reinvernünftiges vereint, um so den ganzen Menschen in ein erfülltes sittliches Dasein zu führen. Genau betrachtet, wird die Liebe von einem der kritischen Philosophie überliegenden Standpunkt, nämlich einem religiösen Standpunt, als jenes der kantischen Philosophie fehlende Bindeglied eingeführt, um Empirisches und Rationales überhaupt miteinander zu vereinen. Es ist bekannt, dass Hegel den Liebesbegriff später unter Kritik stellt, weil in ihm der wirkliche Unterschied nicht besteht, weshalb er ihn durch den reicheren Geistbegriff ersetzt.46 Die Liebe selbst scheint Hegel dann später der ewigen Idee zuzuschlagen, die noch nicht in ihre Entäußerung übergegangen ist, in der sie als Geist das wirkliche Anderssein erkennt und im absoluten Geist überwindet. Mit den historischen Details der Entwicklung des Hegel’schen Liebesbegriffes wollen wir uns hier nicht befassen, hervorgehoben sei lediglich, dass hier ein lebendiges Prinzip zum Tragen kommt, das die bereits von Reinhold für die kantische Philosophie beklagte Not abstellen soll, die Dichotomie von Empirismus und Rationalismus auf einer höheren reflexiven Stufe wirklich zu überwinden. Kant bleibt, wie Hegel an vielen Stellen immer wieder hervorhebt, der Philosoph der endlichen Reflexion, was bedeutet, dass er des Grundes dieser Reflexion nicht habhaft geworden ist. Bei der Liebe geht es freilich auch um ein Prinzip, das der christlichen Offenbarung Rechnung trägt, die der Storrschule zufolge wahre Erkenntnisse enthält. Diesen Erkenntnisanspruch weist die kantische Philosophie allerdings ab, womit sie sich auch vereinseitigt. Kant kann deshalb, wie Flatt ihn kritisiert, lediglich bloß wollen, dass ein Gott sei,47 womit er das Absolute, allerdings damit letztlich auch die ganze daseiende Wirklichkeit subjektiviert. Forschungsgemeinschaft hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (bzw. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste), Hamburg 1968ff., Bd. 1, 100. 46 Vgl. Dieter Henrich: Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 1971, 27; Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 131–133. 47 Vgl. J.F. Flatt: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund, 72.

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Nun kommt, wie gesagt, die Rapp’sche Position auch nicht ohne Kritik am Tübinger Storrianismus aus. Sich ihr aufzuschließen, heißt somit auch, diese Kritik mitzutragen. Das sollte man auch für die jüngeren Stiftler Hegel, Hölderlin und Schelling im Blick haben, weshalb bei ihnen – wie ja auch bei Rapp – Kritik nicht gleich pauschale Abweisung ist. Wie sehr die jüngeren Tübinger bestimmten Elementen der Storr-Schule trotz aller Kritik aufgeschlossen bleiben, zeigt sich im bislang falsch interpretierten Briefwechsel zwischen Hegel und Schelling um den Jahreswechsel 1794/95. Schelling berichtet, im Stift gäbe es um diese Zeit jede Menge Kantianer, die den kantischen Moralbeweis an der Schur ziehen, und „ehe man sich’s versieht […] das persönliche individuelle Wesen, das da oben im Himmel sitzt“ hervorspringt.48 Dies ist sicher keine Kritik, die die Tübinger Lehrer aufs Korn nimmt, sondern vielmehr studentische Umtriebe im Tübinger Stift, denen Hegel und Schelling, aber sicherlich auch Hölderlin ablehnend gegenüberstanden. Dass mit dieser Kritik, wie oftmals angenommen, Flatt nicht gemeint sein kann, geht allein schon aus der Tatsache hervor, dass dieser ausdrücklich gegen den kantischen moralischen Beweis argumentiert.49 Wenn Flatt dem Moralbeweis etwas abgewinnen kann, dann nur unter der Bedingung der Gültigkeit andere Argumente, die der kantischen Position schlechthin entgegenlaufen. Eines dieser Argumente formuliert nun ausgerechnet Hegel in einem Antwortschreiben von Anfang 1795 an Schelling. In diesem Brief erklärt er den Unfug, der im Stift mit dem Moralbeweis getrieben wird, anhand von Fichtes Offenbarungsschrift, die dieser Schlussart „Thür u. Angel“ geöffnet habe und so „die alte Manier der Dogmatik zu beweisen wieder eingeführt hat“.50 Diese Manier der Dogmatik ist zweifelsohne nicht die der Storrschule, die mit der herrschenden lutherischen Kirchendogmatik, insbesondere hinsichtlich der Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre, ganz bestimmte Probleme hat und deshalb auch nicht orthodox ist.51 Überhaupt bedeutet bei den Tübingern dogmatisch, dass einem der christliche Glaubensinhalt durch bloßen Glauben zufalle, ohne dass dafür eine eigene Bemühung im Leben, sich diesem würdig zu machen, notwendig wäre. Das ist schlussendlich auch eine Pointe der kantischen Philosophie, die als theoretische Vernunft die Idee eines Unbedingten zwar als Postulat erzeugt, jedoch nicht realisiert, worauf schließlich bei Kant das praktisches Postulat aufbaut. Das heißt, dass Kants praktischer 48 F.W.J. Schelling an G.W.F. Hegel, 6. Januar 1795, AA III/1, 16. 49 Vgl. etwa J.F. Flatt: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund, 13: „[E]s scheint mir immer, die practische Vernunft spanne vergebens ihre Flügel aus, um sich zu dem Uebersinnlichen empor zu schwingen, wenn der theoretischen die ihrigen in dem Maasse beschnitten seyen, wie es durch die Critik der reinen Vernunft geschehen ist“. 50 AA III/1, 19. 51 Vgl. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, Bonn 31889, 426f.

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Philosophie ein theoretischer Begründungsimpuls vorhergehen muss, den seine theoretische Philosophie allerdings selbst nicht erbringen kann. Hier kommt Flatts Kritik an Kants inkonsequentem Begriff der Kausalität zum Tragen, sofern Kausalität nach Kant nur in der Erfahrung Anwendung finden darf, obwohl er auch ihren transzendentalen Gebrauch, hinsichtlich des Affiziertseins des Subjekts durch ein transzendentales Objekt, zulassen muss. Aus diesem Grund muss und darf der moralische Beweis auch, so Flatt an vielen Stellen, um den kosmologischen und physikotheologischen erweitert werden. Genau diese Strategie verfolgt nun der junge Hegel, der Schelling in Bezug auf seine Kritik an den Kantianern im Stift antwortet: „Wenn ich Zeit hätte so würde ich suchen, es näher zu bestimmen, wie weit wir – nach Bevestigung des moralischen Glaubens die legitimirte Idee von Gott izt rükwarts brauchen z. B. in Erklärung der Zwekbeziehung, u. s. w. – sie von der Ethikotheologie her izt zur Physikotheologie mitnehmen, u. da izt mit ihr walten dürften – diß scheint mir der Gang überhaupt zu seyn, den man bei der Idee der Vorsehung, sowohl überhaupt – als auch bei Wundern, u. wie Fichte bei Offenbahrung nimmt u. s. w. Sollte ich dazu kommen, meine Meinung weiter zu entwikeln, so werde ich sie deiner Kritik unterwerfen“.52

Woraufhin ihm Schelling antwortet: „Ein herrlicher Gedanke, den Du auszuführen im Sinne hast! Ich beschwöre Dich, so eilig als möglich Hand an’s Werk zu legen.“53 Hegel beabsichtigt also den moralischen Beweis mit einer Physikotheologie zu erweitern und in diese einzubetten, um so jene Fehler zu vermeiden, die aus Fichtes Offenbarungsschrift hervorgehen, wenn ihre Grundsätze einmal fest angenommen sind, was bei den kritisierten kantianisierenden Stiftlern offenbar der Fall ist. Die Stoßrichtung des Hegel’schen Planes ist klarerweise nicht, aus dem moralischen Beweis einen Beweis für das Dasein Gottes zu liefern, sondern im Gegenteil, den moralischen Beweis durch theoretische Beweise zu bestätigen. Und das ist auch genau jene Strategie, die Flatt hinsichtlich des moralischen Beweises im Auge hatte. Dieser kritisiert nämlich Kants Abweisung des physikotheologischen Beweises mit dem durchaus triftigen Argument, dass, wenn Kausalität nur auf Gegenstände in der Anschauung geht, diese jedoch von einem nur gedachten Objekt affiziert ist (das heißt einem außer der Vorstellung liegenden Ding-an-sich), ein transzendentaler Gebrauch der Kausalitätskategorie vorliegt, den die kritische Philosophie unterstellt, jedoch theoretisch unberücksichtigt lässt.54 Wie Flatt an vielen Stellen immer wieder hervorbringt, 52 AA III/1, 19 (ohne kritische Zeichen). 53 AA III/1, 21. 54 Vgl. Mukendi Mbuyi: Kants Tübinger Kritiker. Die Kritik von Johann Friedrich Flatt an Kants moralischem Argument für die Annahme Gottes, Aachen 2001, 46–69. Siehe auch Martin Brecht: Die Anfänge der idealistischen Philosophie und die Rezeption Kants in Tübingen (1788–1795), in: 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der

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muss deshalb auch der moralische Beweis um den physikotheologischen ergänzt werden. Der moralische Beweis führt nach Flatt auf eine Voraussetzung, die nicht nur Naturerscheinungen oder außernatürliche Facta bestätigen, wie etwa die Auctorität Jesu und die eines höchsten Geistes.55 Die Allmacht Gottes, aber auch die von Fichte vorausgesetzte Offenbarung oder die Wunder lassen sich durch einen mit Hilfe des kosmologisch und physikotheologisch, also theoretisch abgesicherten moralischen Beweis einsichtig machen; auch hier sind Hegel und Flatt ganz einer Meinung. Nicht nur Kants Kausalitätsbegriff wird von Flatt kritisiert. Auch dessen Prinzip der Sittlichkeit als „eine subjective vor aller Erfahrung hergehende Vernunftnothwendigkeit“, von der aus sich eben nicht „auf eine objective Gültigkeit und Nothwendigkeit“ schließen lässt.56 Weil nach Flatt bei Kant das Verbindungsstück zwischen Subjektivität und objektiver Notwendigkeit fehlt, ist das kantische Sittengesetz einseitig und verfehlt letztendlich „alle Antriebe zur Befolgung des Sittengesezes“.57 Es geht hier um Antriebe, die weder in einer bloßen Achtung vor dem Gesetz noch in einem Wunsche oder einer Hoffnung liegen. Vielmehr bedarf es zur Ausführung des Sittengesetzes eines wirklichen in der Sinnenwelt gelegenen Antriebs, um das, was sich im Rahmen der kantischen Philosophie nur denken lässt, auch zu erkennen und im wirklichen Leben nutzbar zu machen. Kurzum, die Ideen müssen der Erkenntnis zugänglich sein; oder, anders gewendet, was gedacht werden kann, muss auch wirklich und mithin erkennbar sein. Hiermit sind wir dem reifen Hegel schon greifbar nahe, der der kantischen Philosophie diesen in ihr fehlenden Übergang von Denken zu Erkennen immer und immer wieder angelastet hat. In einem Brief von 1793 an Kant erörtert Flatt dasselbe Problem von einem etwas anderen Blickwinkel aus und fragt ihn, wie er es zu lösen gedenke (allem Anschein nach ist der Brief die Folge der für Flatt nicht zufriedenstellenden Antworten Fichtes).58 Ist nämlich Moralität etwas bloß Gedachtes, ist (im Rahmen der kritischen Philosophie) überhaupt nicht einzusehen, wie sie uns zu

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Universität Tübingen 1477–1977, hg. v. Hansmartin Decker-Hauff, Tübingen 1977, 381–428, 408. Vgl. Johann Friedrich Flatt: Bemerkungen über den aus der Bibel, besonders aus der Lehre und Geschichte Jesu, hergenommenen Ueberzeugungsgrund von Daseyn Gottes, in: ders.: Beyträge zur christlichen Dogmatik und Moral und zur Geschichte derselben, Tübingen 1792, 56f. Siehe auch ders.: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund, 105. J.F. Flatt: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund, 15f. J.F. Flatt: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund, 18. Vgl. dazu auch Michael Franz, Johann Friedrich Flatts philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit Kant, in: „…an der Galeere der Theologie“? Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen, in: Schriften der Hölderlin-Gesellschaft. Materialien zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund von Hölderlin, Hegel und Schelling, Bd. 23/3, Tübingen 2007, 189–222.

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wirklich besseren Menschen machen könne. Denn, um einen früheren Gedanken Flatts aufzugreifen, es gibt ja keinen kausalen Einfluss zwischen intelligibler und phänomenaler Welt, weshalb eine Veränderung, beziehungsweise moralische Besserung kraft des moralischen Gesetzes der kantischen Philosophie nicht zu erwarten ist. Die Kritik könnte in dieser konkreten Gestalt von Rapp beeinflusst sein, sie ergibt sich jedoch auch aus Flatts Grundgedanken gegen den moralischen Beweis. Zwar argumentiert Flatt, wie gesagt, nicht mit dem Liebesprinzip für das bei Kant fehlende Bindeglied zwischen phänomenaler und intelligibler Welt, sondern damit, dass nur dann, wenn der moralische Beweis mit dem physikotheologischen (verbunden mit dem kosmologischen) zusammenstimmt,59 er nützlich für den Menschen sein kann. Die von Flatt gestiftete und von Rapp weiter ausgebaute Ausgangslage hinsichtlich der Kant-Rezeption im Tübinger Stift war im Grunde genommen die, wie sich unser durchaus legitimes Streben nach Glückseligkeit mit der als richtig anerkannten kantischen Moralphilosophie vereinen lasse. Oder : Wie kann ich meinen Willen nach Glückseligkeit erhalten, ohne deshalb die Freiheit aufgeben zu müssen? Hier geht es freilich auch um christliche Heilsfragen, sofern wir ja auch als fleischliche Wesen dem göttlichen Heil vorbestimmt sind, mit der extremen Steigerung der fleischlichen Auferstehung. Die Diskussionen Anfang der 90er Jahre im Tübinger Stift mussten insbesondere die jüngeren Studenten davon überzeugen, dass weder Kant noch Reinhold das verheißene Vernunftsystem errichtet haben. Das ist auch schon eine Pointe von Schellings Magisterdissertation De malorum origine von 1792. In dem wichtigen § 7 stellt dieser nämlich fest, dass die menschliche Natur sowohl sinnlich als auch vernünftig sei. Das scheint zunächst eine offene Tür, interessant ist allerdings, wie Schelling aus diesen beiden Aspekten der menschlichen Natur seine drei Epochenlehre ausgestaltet, die die gesamte Geschichte der Menschheit charakterisiert. Dieses Epochenmodell ist sicherlich auch von Reinhold inspiriert, obwohl es auch ein durchaus zeitgenössisches Topos ist. Die erste Epoche ist durch Sinnlichkeit, die zweite durch den Streit zwischen Sinnlichkeit und Vernunft und die dritte durch die Vernunft beherrscht. Gegen Reinholds Auffassung, dass diese dritte Epoche mit der kantischen Philosophie erreicht sei, führt der junge Schelling jedoch an, dass die kantische Philosophie sie lediglich angekündigt habe. Diese Einsicht konnte Schelling vielleicht der 1791 erschienenen Fundamentschrift Reinholds entnehmen, die erstmals den bloß propädeutischen Charakter der kritischen Philosophie bezüglich des noch aufzustellenden Systems der Vernunft hervorhebt.60 Reinhold deutet also in seinen späteren Schriften auf eine weder von Kant noch von ihm selbst geleistete Aufgabe 59 J.F. Flatt: Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund, 105. 60 Karl Leonhard Reinhold: Ueber das Fundament des philosophischen Wissens, Jena 1791, 115f.

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hin, die allerdings in Tübingen bereits von Rapp in Angriff genommen worden war. Die jüngeren Tübinger konnten in Rapps Position eine erfolgversprechende Idee erkennen, die – auch von Flatt – anerkannten Einseitigkeiten der kantischen Position zu überwinden, um endlich so das vollkommenste System hervorzubringen. Alle Indizien weisen darauf hin, was in seiner ganzen Provokation hier einfach einmal gesagt werden soll, dass Kant für die jüngeren Tübinger schon gegessen war, als sie mit der Ausarbeitung ihrer eigenen Philosophie begannen. Das zeigt auch ein Blick auf die Kant-Bezüge in den früheren Arbeiten von Schelling und Hegel, wo sich hinsichtlich der Philosophie Kants lediglich Gemeinplätze und nur selten Zitate oder gar Erläuterungen zu irgendwelchen Raffinessen seiner Philosophie finden. Das sollte hinsichtlich des gängigen Bildes einer Kontinuität oder Einheit der Klassischen Deutschen Philosophie von Kant bis Hegel/Schelling nachdenklich stimmen. Meines Erachtens wird man sich sehr viel stärker als bisher mit der in Tübingen seit Flatt geschaffenen Ausgangslage der Kant-Diskussion befassen müssen, um zu verstehen, was bei Hegel und Schelling philosophisch überhaupt passiert ist. Jedenfalls scheint ein wichtiger Hintergrund für die Auseinandersetzung mit Kant und Reinhold die Frage gewesen zu sein, wie unser legitimes Streben nach Glückseligkeit ohne Verlust unser Freiheit systematisch zu entwickeln ist. Dieses Anliegen hat seinen Ursprung in der Flatt’schen Kant-Kritik. Eine Lösungsstrategie hat er lediglich angedeutet. Rapp war es dann, der unter Zuhilfenahme des Liebesbegriffs den Versuch unternommen hat, die schroffe kantische Gegenüberstellung von Pflicht und Neigung systematisch zu überbrücken. Bei seinem Liebesbegriff geht es um ein selbst lebendiges Prinzip, die selbst nur als lebendig zu verstehende Bezogenheit von Sinnlichem und Übersinnlichem darzutun. Dass die Substanz als Subjekt verstanden werden muss, ist Hegels technische Version dieser Einsicht. Systematisch arbeitet er sie in seiner Wissenschaft der Logik heraus, wo das Leben das erste, noch unvermittelte Moment der Idee ist. Dass das Denken oder die reine Vernunft lebendig ist und auch so verstanden werden muss, war jene Einsicht, durch die die Klassische Deutsche Philosophie ihre eigentliche Bedeutung für unsere Zeit erlangt hat. Reinholds Rekurs auf den Zeitgeist hat diesen Gedanken in seiner ganzen, damals jedoch auch noch unverstandenen Unmittelbarkeit gestiftet. Diese Lebendigkeit ist in den meisten der späteren philosophisch wichtigen Grundstrukturen präsent; ob nun in Schopenhauers Willen, Nietzsches Machtwillen, Heideggers Sein oder Wittgensteins Sprache, überall geht es um selbstzweckhafte Grundstrukturen, die außerdem auf ein irgendwie physikotheologisch erschlossenes Absolutes hinausweisen, ob als blinder Wille, Übermensch, rettender Gott oder schweigender Sprache verstanden.

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Ausblick: Kants Opus postumum und Hegel Hat nun Kant jene in Tübingen erkannten systematischen Probleme auch selbst gesehen? Ich bin der Meinung, dass er das in gewisser Weise hat, und dabei auch die soeben erwähnte Lebendigkeit versucht hat, philosophisch zu berücksichtigen.61 Das umfangreiche Fragment, das heute unter dem Titel Opus postumum bekannt ist, unternimmt in seinen früheren Teilen in der Tat den Versuch, einen durch das reine Denken selbst geführten transzendentalen Beweis für den empirischen Materiebegriff zu erbringen, womit er vielleicht die in der Transzendentalphilosophie erkannte Lücke beheben wollte, was allerdings aus den Textfragmenten nicht so klar hervorgeht. In den späteren Teilen des Fragments rückt dann die Moralphilosophie zunehmend in den Vordergrund. Hier stellt der alte Königsberger Sätze auf, die Flatts Forderung nach einer kausalen Wirkung der rein-sittlichen Idee auf den Menschen entgegenkommen: „Auch Ideen der moralisch-practischen Vernunft haben bewegende Kräfte auf die Natur des Menschen“.62 In dem spätesten ersten Konvolut des Opus postumum geht es dann um einen höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie, wobei der seiner Pflicht, das heißt Gott angemessene Mensch in der Welt steht und so Gott und Welt miteinander vereinigt „in Einem das All der Wesen vereinigenden System der reinen Vernunft“.63 Der Mensch wird in diesem System als die Verbindung einer Spontaneität ohne Rezeptivität (Gott) und einer Rezeptivität ohne Spontaneität (Welt) vorgestellt.64 Sofern sich der Mensch oder das Ich sowohl als erkennend als auch als frei selbst bestimmt, können kraft dieser Selbstbestimmung, das heißt einer Wirkung des Subjekts auf sich selbst, auch Welt und Gott miteinander vereinigt werden. Lebendige Selbstbestimmung ist somit das eigentlich zentrale Prinzip der Transzendentalphilosophie. Sie folgt unmittelbar aus der Tatsache der Erfahrungserkenntnis. Erfahrungserkenntnisse gibt es nämlich viele, die jedoch alle in dem einen Ich zusammenkommen. Und dieses Ich hat die beiden Seiten, zum einen, wie die eingestandene Tatsache der Erkenntnis, empirisch zu sein, zum anderen allerdings auch transzendental zu sein, sofern es ja auch alle meine Vorstellungen begleitet. Als empirisches Ich existiere Ich als raum-zeitliches Wesen, dessen Existenz allerdings auch einen Grund haben muss, den sich die erkennende Existenz selbst setzt – da sie sich ja nicht unter raumzeitlichen Bedingungen erkennen lässt – und zwar a priori als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis 61 Vgl. dazu Ernst-Otto Onnasch: The Role of the Organism in the Transcendental Philosophy of Kant’s Opus postumum, in: Kant’s Theory of Biology, hg. v. Ina Goy/Eric Watkins, Berlin/New York 2013, 239–256. 62 I. Kant: Opus Postumum, Akad.-Ausg. XXII, 59. 63 I. Kant: Opus Postumum, Akad.-Ausg. XXI, 38. 64 Vgl. I. Kant: Opus Postumum, Akad.-Ausg. XXI, 40.

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überhaupt. Kraft dieser Bedingung setzt es sich diesen Grund spontan und mithin frei, wodurch sich das Ich auch selbst und zwar denkend zur wirklichen Welt machen kann, die einerseits in der Anschauung immer nur als eine partielle Erkenntnis der ganzen Welt oder der einen Erfahrung gegeben ist, anderseits aber auch ein Akt der Freiheit ist, die aus diesem Grunde auch mit der Welt verbunden gedacht werden muss. Erfahrungserkenntnis zu haben oder zu behaupten, setzt in uns einen Grund der Existenz voraus, zu dem wir zwar lediglich Zugang kraft des Denkens haben und der mithin strenggenommen nicht so existiert, wie die Weltteile in der Anschauung existieren, welchen Grund wir uns aber dennoch selbst frei erschaffen müssen, wenn die Behauptung Erfahrungserkenntnis zu haben, sinnvoll sein soll, was ja die kritische Philosophie voraussetzt. Sind wir also in der Lage auch nur irgendetwas zu erkennen, ist damit die Transzendentalphilosophie in Gang gesetzt, um aus dem Denken zwar nicht den Inhalt, allerdings die Formen hervorzubringen, unter denen alle Erkenntnis eines Vernunftwesens steht. Die Fragmente des Opus postumum lassen sich somit durchaus vor dem Hintergrund jener Probleme lesen, die die Tübinger der kantischen Philosophie attestiert haben, weshalb diese Fragmente auch durchaus als eine Alternative zu den großen nachkantischen Entwürfen verstanden werden können. In gewisser Weise steht Kants später Entwurf im Opus postumum unter der Bedingung der Tatsache von Erkenntnis, von der dann gezeigt wird, dass sie genauso unmittelbar ist, wie sie auch vermittelt ist. Genügt Kants Spätansatz damit allerdings dem spekulativen Satz? Man wird hier meines Erachtens Hegel Recht geben müssen, dass dem nicht so ist, sofern nämlich die kantische Transzendentalphilosophie ihre Formalität nicht vermag abzulegen. Sie entbehrt jede Substantialität, solange Existenz oder Dasein von Anfang an unter dem Gesichtspunkt unendlicher Zeit und unendlichem Raum steht. Die Einheit, unter der Raumzeitliches gedacht wird, ist nämlich niemals eine substantielle Einheit von Raum und Zeit, sondern eben nur eine gedachte, das heißt formell-ideelle oder bloß regulative Einheit. Und wegen der Unendlichkeit von Raum und Zeit gibt es nur angeschautes Dasein und daher kann die Totalität des Daseins lediglich nur unter einem formalen Gesichtspunkt erörtert werden. So kann ich zwar wissen, dass ich frei handeln kann, niemals jedoch, ob meine Handlung auch wirklich frei ist. Und hiermit harrt das anthropologische Problem der moralischen Besserung des Menschen der Lösung. Diese Formalität meinte Hegel zu überwinden, indem er die Freiheit in die Welt legt, die sich als Geist beziehungsweise als Institution realisiert. Hegels philosophische Lösung zahlt allerdings keinen geringen Preis, sofern nämlich die eigentliche Individualität des im Rechtstaat handelnden Individuums letztendlich bedeutungslos ist. In Bezug auf den Geist, egal ob dieser sich als Voll-

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strecker des Weltgeistes oder als institutionalisierter Geist manifestiert, ist es nämlich vollkommen egal, ob man als Individuum moralisch oder unmoralisch handelt, lediglich ein Handeln gegen den Geist oder gegen die Institution hat wirkliche Konsequenzen für das Individuum. Das heißt, ob ich nun ein guter oder ein schlechter Mensch bin, geht den Geist nichts an, es sei denn, es gibt einen persönlichen Gott. Und ein solcher Gott ist von Hegel vielleicht irgendwie intendiert, bleibt jedoch philosophisch auf der Strecke. Von Hegel zu Nietzsches Nihilismus ist der Schritt dann nicht mehr groß, wobei auch die den Nihilismus überwindende Willensbejahung als Wille zur Macht jenseits aller Moral ist. Die Alternative Kant oder Hegel spitzt sich somit auf die Frage zu, ob wir moralisch sein sollen, ohne jemals zu wissen, ob wir es auch wirklich sind, oder ob wir unter einem freien Geist handeln sollen, dem meine Individualität letztendlich völlig egal ist. Die Herausforderung der Klassischen Deutschen Philosophie scheint somit darauf hinauszulaufen, ob und wie sich noch ein der Moralität verpflichtetes Individuum ohne einen persönlichen Gott retten lässt. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderung ist Heideggers Gelassenheit oder fragende Einstellung des Menschen noch längst keine Überwindung der klassischen Metaphysik. Denn Heideggers Frage hält den gelassenen Menschen ans Sein, während der nichtfragende Mensch der Seinsvergessenheit anheimgestellt ist. Die Frage baut an einem Empfangsort für das Rettende, erlischt jedoch die Frage, gilt dasselbe auch für die Rettung. Mitunter bleiben wir auch als Fragende in der Verantwortung ohne zu besitzen, was es zu verantworten gilt, nämlich das Rettende. Ein nachmetaphysisches von dem rettenden Sein wirklich erfülltes Leben ist also trotz aller Fragen vorerst der Sprachlosigkeit anheimgestellt. Zur Sprache kommt lediglich, was möglich ist, wirklich ist es damit freilich noch nicht. Das Wirkliche ist sprachlos. Und das ist im Grunde genommen die kantische Position, die uns ebenfalls in der Verantwortung für Mögliches und nicht für Wirkliches hält (denn ob eine Handlung wirklich frei ist, kann nicht gewusst werden). Nach Hegel ist die Frage, ob wir uns für Wirkliches zu verantworten haben, allerdings mit ja zu beantworten, obwohl die Verantwortung von der Wirklichkeit erzwungen ist, sofern das Individuum ganz in den freien Geist aufgeht. Das Individuum ist hinsichtlich seiner personellen Individualität lediglich scheinbar frei im freien Staat, denn diese personelle Individualität ist dem Staat ganz und gar egal. Ist mithin Heideggers fragender Mensch und die Frage selbst die allerletzte Festung eigentlich freier Individualität? Ist nur der Künstler und Philosoph in eigentlichem Sinne frei? Und ist deren Ausübung von Freiheit die Verwirklichung einer institutionslosen Freiheit, im Sinne des kommenden Retters? Kann die Freiheit mithin überhaupt noch als die Freiheit eines daseienden Seins oder gar eines entborgenen und damit wahren Seins verstanden werden? Werfen uns

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die Entwicklungsstränge der Klassischen Deutschen Philosophie also in eine Freiheit, die ganz ohne Wahrheit auskommen soll?

Alexander Schubach

Die Frage nach dem Anfang der Philosophie. Hegels Phänomenologie des Geistes als wissenschaftliche Hinführung zum philosophischen System

1.

Einleitung

1.1

Problemexposition: Die Frage nach dem Anfang der Philosophie

G.W.F. Hegels 1807 publiziertes erstes Hauptwerk, das unter dem vollständigen Titel System der Wissenschaft. Erster Theil. Die Phänomenologie des Geistes1 erschien, verstand er als grundlegenden ersten Teil des geplanten Gesamtsystems, welchem die propädeutische Aufgabe einer Einführung in dasselbe zukommt.2 Aus welchen Gründen setzt Hegel seinem System, und das heißt der Philosophie als Wissenschaft, eine Hinführung zum wissenschaftlichen Standpunkt voraus? Diese Frage erwächst nicht aus einem bloßen Interesse an einer werkgeschichtlichen Einordnung von Hegels Frühwerk3, sondern zielt grund1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (bzw. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste), Hamburg 1968ff., Bd. 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede, Hamburg 1980. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 2 Hierbei ist zu betonen, dass die Phänomenologie des Geistes als Hinführung zur Wissenschaft den ersten Teil der Wissenschaft ausmacht, insofern, wie im Folgenden noch zu erläutern ist, die dargestellten Bewusstseinsgestalten von Anfang an Formen des absoluten Wissens sind. 3 Auf die Frage, ob die Phänomenologie des Geistes in der späteren Systemfassung ihre systematische, wesentlich einführende Funktion eingebüßt hat beziehungsweise ob dieselbe dem System als zweiter Teil der Philosophie des subjektiven Geistes lediglich integriert wurde, kann im Kontext dieses Aufsatzes nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu: Emerich Coreth: Das absolute Wissen bei Hegel, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 105, Heft 4, Wien 1983, 389–405, hier : 389f. Martin Heidegger: Erläuterung der „Einleitung“ zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1942), in: ders.: Gesamtausgabe, III. Abt., Bd. 68: Hegel, hg. v. Ingrid Schüßler, Frankfurt/M. 22009, 63–146, hier : 65–72. Ders.: Gesamtausgabe, II. Abt., Bd. 32: Hegels Phänomenologie des Geistes, hg. v. Ingtraud Görland, Frankfurt/M. 31997, 1–61, hier : 1–13.

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legender auf die Problematik des Anfangs der Philosophie überhaupt: Der Anfang des Philosophierens, so Hegel in der Vorrede, müsse von der Philosophie als ihr Anfang notwendig vermittelt werden, oder anders formuliert: Die Vermittlung ihres Anfangs ist der Philosophie wesentlich.4 Mit dem Begriff des Anfangs ist nicht ein zeitlich zuerst fassbares Entwicklungsstadium im Sinne des Beginnens gemeint, sondern er bezeichnet zunächst ganz allgemein mit Aristoteles gesprochen die !qw¶, nämlich dasjenige, von woher etwas ausgeht.5 Als solche ist sie der Ermöglichungsgrund, der niemals zeitlich zurückgelassen werden kann, insofern er das von ihm Ermöglichte durchwaltet und begründet. Der Anfang der Philosophie beschreibt demnach das der Sache nach Erste im Sinne des begründenden Prius, von dem ausgehend die Komplexität der Wirklichkeit systematisch und das heißt im Aufweis der inneren Gliederung der Einheit und Unterschiedenheit des Seienden beschrieben werden soll. Vor dem Hintergrund dieser skizzenhaften Charakterisierung des Anfangs der Philosophie gewinnt die Frage nach der Notwendigkeit der Vermittlung desselben erst ihre Brisanz: Worin sieht Hegel die Notwendigkeit begründet, zum Wissen des sachlichen Prius als schlechthin nicht objektivierbare Größe hinführen zu müssen? Einleitend soll die Grundproblematik, welche in der zuletzt gestellten Frage zum Ausdruck kommt und der sich Hegel in der Phänomenologie des Geistes widmet, vor dem problemgeschichtlichen Horizont näher beschrieben werden.

1.2

Problemgeschichtlicher Horizont6

1.2.1 Das Problem der endlichen Vernunft in der Transzendentalphilosophie Kants als Ausgangspunkt des Schellingschen und Hegelschen Frageansatzes Den Ausgangspunkt markiert die Transzendentalphilosophie Kants, die sich unter anderem der Frage nach der grundsätzlichen Ermöglichungsbedingung 4 Vgl. das programmatische und seinem Gehalt nach im Folgenden noch zu erläuternde Zitat aus der Vorrede: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn. […] Der Anfang, das Princip, oder das Absolute, wie es zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine.“ (GW 9, 19) 5 Aristoteles: Met. 1012b–1013a (= Aristoteles: Metaphysik, 1. Halbband: Bücher I [A]–VI [E], hg. v. Horst Seidl, Hamburg 21982, 176–179). 6 Vgl. für das Folgende: E. Coreth: Das absolute Wissen bei Hegel, 390–395.

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unseres Weltbezugs stellt: Worin besteht die Bedingung der Möglichkeit des Überhaupt-Erscheinens von etwas und damit von Erkenntnis überhaupt, so lautet die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft. Im Zuge der Selbstreflexion der Vernunft unterscheidet sie zwischen den empirischen Inhalten einerseits, und den in ihr selbst liegenden Ermöglichungsgründen des Überhaupt-Erscheinens eben dieser rezeptiv erworbenen Qualitäten andererseits. Menschliche Erkenntnis ist stets von zwei Komponenten konstituiert: Anschauung und Denken. Das anschaulich Gegebene muss denkend und das heißt begrifflich bestimmt werden.7 Es ist die überindividuell sich vollziehende Vernunft oder mit dem Kantischen Terminus gesprochen: das transzendentale Subjekt, das die Bedingungen für das Überhaupt-Erscheinen eines Gegenstandes für das Subjekt bereitstellt. Zusammengefasst kann der kantische Erkenntnisbegriff wie folgt beschrieben werden: Das Subjekt setzt die ihm rezeptiv, das heißt sinnlich gegebenen Qualitäten voraus, bestimmt jedoch dieses Vorauszusetzende, indem es das Gegenstandsein des Gegenstandes für das Subjekt a priori konstituiert.8 Die Vernunft als eine auf Vorgabe von etwas angewiesene ist für Kant eine wesentlich endliche Größe: Das transzendentale Subjekt bestimmt den Gegenstand nicht hinsichtlich seines Daseins, das heißt an sich, sondern nur hinsichtlich seiner Gegenständlichkeit, qua seines Erscheinen-könnens für das Subjekt. Es bleibt letztlich auf die Affektion eines Dinges an sich angewiesen. Damit wird jedoch – und dies ist im gegenwärtigen Kontext der entscheidende Aspekt – eine ursprüngliche Affinität des Dinges an sich als Inbegriff aller Erkenntnisgegenstände und des transzendentalen Subjekts als Inbegriff aller Intelligenz vorausgesetzt.9

7 Die nachfolgend genannten Passagen aus der Einleitung zur Transzendentalen Logik fassen das Gesagte prägnant zusammen: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werkausgabe. 12 Bände, Bd. 3/4, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 51/B 75. 8 Kant stellt sich die rhetorische Frage, ob wir bezüglich der Frage nach der Reichweite unserer Erkenntnis nicht „damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll“ (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XVI; im Original kursiv gedruckt). 9 Für eine alternative der heute weithin akzeptierten Lesart Kants siehe: Gerhard Gotz: Der „intelligible Charakter“ des Menschen, in: Homo universalis. Evolution, Information, Rekonstruktion, Philosophie. Festschrift für Erhard Oeser (= Wiener Arbeiten zur Philosophie. Reihe B: Beiträge zur philosophischen Forschung 21), hg. v. Stephan Haltmayer/Franz M. Wuketits/ Gerhard Gotz, Frankfurt/M. 2011, 93–120, hier : 101–120.

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1.2.2 Schellings identitätsphilosophischer Ansatz10 Indem der transzendentalphilosophische Ansatz Kants wesentlich von der Endlichkeit der die Gegenständlichkeit des Gegenstands konstituierenden Vernunft ausgeht, lasse Kant, wie Schelling bemerkt, die Frage offen, wie transzendentales Subjekt und Objekt in einer sie umgreifenden Einheit vermittelt sind.11 Gehen wir auf die Kritik Schellings näher ein, indem wir Schellings Begriff der Differenz explizieren: Differenz wird von Schelling als Selbstdifferenzierung einer ihr übergeordneten Einheit verstanden: Es ist die Einheit, welche sich selbst differenziert. Nur innerhalb dieser ihnen sachlich vorgeordneten Einheit können Entgegengesetze ihren Gegensatz entfalten. Die Einheit darf hierbei in keiner Weise als synthetische Einheit verstanden werden, welche die Gegensätze lediglich voraussetzt und erst nachträglich, das heißt rein äußerlich vereint. Sie muss vielmehr als eine ursprüngliche Einheit begriffen werden, die selbst den Ursprung der Differenzen ausmacht.12 Kehren wir zu Schellings Kritik an Kant zurück: Der Kantische Ansatz vermag es nach Schelling nicht, die im konkreten Wissensvollzug waltende Identität von Subjektivem und Objektivem, das heißt von Denkvollzug und seinem Inhalt zu erklären, sondern bleibe bei einer Dualität von Subjekt und Objekt stehen, welche die Grundstruktur des menschlichen Wissens – wohlgemerkt sowohl in seinem theoretischen als auch in seinem praktischen Vollzug – nicht angemessen beschreibt. Reflektieren wir nämlich, so Schelling in den Einleitungspartien seines 1800 erschienenen Systems des transscendentalen Idealismus, auf unser je inhaltlich bestimmtes Wissen, so können wir zwar nachträglich zwischen zwei Momenten – unserem Wissen und dem im Wissen Gewussten – unterscheiden, im Vollzug des Wissens jedoch handle es sich um zwei Momente eines Vollzuges.13 10 Vgl. dazu den demnächst erscheinenden Aufsatz des Verf.: Reflexive Entwicklung und systematisch strukturelle Entfaltung des philosophischen Begriffs der absoluten Identität als Hinführung zu Schellings Würzburger System von 1804, in: Schelling in Würzburg, hg. v. Christian Danz/Patrick Leistner, Stuttgart-Bad Cannstatt (im Erscheinen). 11 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie (Münchener Vorlesungen; aus dem handschriftlichen Nachlaß), in: ders.: Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, 1. Abt., Bd. 10, Stuttgart/Augsburg 1861, 1–200, hier : 84f. 12 Schelling entfalten die hier nur angedeutete Vorstellung einer „Einheit der Einheit und des Gegensatzes“ u. a. in seiner Schrift Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge von 1802: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge. Ein Gespräch (1802), in: ders.: Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, 1. Abt., Bd. 4, Stuttgart/Augsburg 1859, 213–332, hier : 239, 295, 298. Der beschränkte Rahmen dieses Aufsatzes erlaubt es nicht, auf die Diskussion um die Frage, ob die Idee einer in sich differenzierten absoluten Identität Hegel oder Schelling zuzuschreiben ist, einzugehen. 13 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus (1800), in: ders.: Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen

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Resümierend kann das Gesagte folgendermaßen ausgedrückt werden: Das Erscheinen eines konkreten Inhalts für das Wissen ereignet sich als unser Wissen selbst.14 Es gilt im Anschluss an Kant – und zwar nicht nur für Schelling, sondern in ausgezeichneter Weise auch für Hegel – diese im jeweiligen Wissensvollzug geschehene Vollzugsidentität von Wissen und seinem Inhalt zu erklären, indem die in der Differenz von Subjekt und Objekt waltende Einheit und damit die unbedingte Bedingung des gesamten theoretischen wie praktischen Wissens aufgezeigt wird. Insofern die rein bedingende absolute Identität die durch den Subjekt-Objekt-Gegensatz gekennzeichnete Sphäre des menschlichen Wissens konstituiert, ist sie als eine nicht objektivierbare Größe zu verstehen und liegt als Bedingung jegliches Gegenstandsbewusstseins sachlich voraus und zugrunde.15 Wir sind zur Ausgangsfrage nach dem Anfang der Philosophie zurückgekehrt: Will die Philosophie jenes absolute Prius als Prinzip der Wirklichkeit ausweisen, so bezieht sich die Frage nach dem Anfang der Philosophie im Rahmen des Schelling’schen identitätsphilosophischen Systems auf die Problematik der Objektivierbarkeit eines an sich nicht Objektivierbaren. Schelling setzt dem philosophischen System die intellektuelle Anschauung des Absoluten voraus; der Philosoph wird der absoluten Identität als einer nicht objektivierbaren Größe im einem Akt der unmittelbaren, intellektual sich vollziehenden AnAkademie der Wissenschaften hg. v. Wilhelm G. Jacobs/Jörg Jantzen/Hermann Krings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff., 1. Abt., Bd. 9,1, hg. v. Harald Korten/Paul Ziche, StuttgartBad Cannstatt 2005, 15–334, hier: 29. 14 Vgl. hierzu Günther Pöltner: Schönheit als endliche Darstellung des Unendlichen. Schelling, in: ders.: Philosophische Ästhetik (= Grundkurs Philosophie 16), Stuttgart 2008, 130–148, hier : 130f. 15 Die absolute Identität als das schlechthin Eine liegt jeder Zweiheit und Vielheit als deren ermöglichender Grund voraus. Bedenkt man die angesprochene Transzendenz der absoluten Identität, so kann das Eine weder Objekt des Wissens oder einer satzhaften Aussage, noch als das Subjekt von Wissen verstanden werden. Versucht Fichte in der Wissenschaftslehre von 1794 die Konstitution der Subjekt-Objekt-Entgegensetzung im menschlichen Wissen im Ausgang einer transzendentalen Subjektivität als absolutes Apriori zu beschreiben, so bestimmt er das Absolute doch wiederum, mit Schelling gesprochen, als ich-hafte Größe: „Wenn aber Fichte glauben konnte“, so Schelling, „den Schwierigkeiten, denen der philosophische Geist unter Voraussetzung des objektiven Daseyns der Dinge bei Erklärung der Welt begegnet, dadurch entgangen zu seyn, daß er die ganze Erklärung in das Ich verlegte, so mußte er nur um so mehr sich verbunden erkennen, ausführlich zu zeigen, wie mit dem bloßen Ich bin für einen jeden die ganze sogenannte Außenwelt mit allen ihren sowohl nothwendigen als zufälligen Bestimmungen gesetzt sey. […] Allein es ist, als ob Fichte in der Außenwelt gar keine Unterschiede wahrgenommen hätte. Die Natur ist ihm in dem abstrakten, eine bloße Schranke bezeichnenden Begriff des Nicht-Ich, des völlig leeren Objekts, an dem gar nichts wahrzunehmen ist, als daß es eben dem Subjekt entgegengesetzt ist, – die ganze Natur ist ihm in diesem Begriff so zusammengeschwunden, daß er eine Deduktion, die weiter als dieser Begriff sich erstreckte, nicht für nöthig hielt.“ (F.W.J. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, 90f.)

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schauung inne. Besagt Selbstbewusstsein Reflexivität und impliziert jene wiederum die Unterscheidung von reflektierendem Subjekt und reflektiertem Objekt, so kann die intellektuelle Anschauung keine Form des Selbstbewusstseins beziehungsweise des endlichen Wissens sein.16 Kann Kants methodisch-systematisches Vorgehen als reduktiv beschrieben werden, insofern er von der Gegebenheit der Erfahrung schrittweise die Bedingung der Möglichkeit derselben aufweist, so ermöglicht die Unmittelbarkeit der intellektuellen Anschauung ein – im weiten Sinne verstandenes – deduktives Verfahren: Schelling schließt nicht mehr vom Bedingten auf dessen Bedingung, die wohlgemerkt stets in Bezug auf das Bedingte, niemals jedoch als solche in den Blick kommt, sondern er beansprucht das Absolute seinem Wesen nach, das heißt rein für sich, dank der intellektuellen Anschauung aufzuzeigen und in einem weiteren Schritt das Bedingungsverhältnis zwischen Absolutem und in ihm gründenden Endlichem aufzuweisen.17

16 E. Coreth arbeitet in seinem Aufsatz Das absolute Wissen bei Hegel u. a. präzise die problemgeschichtliche Stellung von Hegels Frühwerk im Kontext der Debattenlage um einen identitätsphilosophischen Ansatz heraus. Was jedoch seine Beschreibung der intellektuellen Anschauung bei Schelling angeht, wird seine Interpretation derselben als einen „geradezu mystischen Akt der Gottesschau“ (E. Coreth: Das absolute Wissen bei Hegel, 392) dem Schelling’schen Problembewusstsein nicht gerecht, denn der im Gedanken der mystischen Schau zum Ausdruck kommende elitäre und exklusive Anspruch widerstrebt gerade demjenigen Schellings auf ein allgemein nachvollziehbares Verfahren der Philosophie. Resultiert Coreths Einschätzung offensichtlich aus einer klaren Abgrenzung des Schelling’schen Verständnis des Absoluten zur Philosophie Hegels, so bleibt jedoch auch bei Hegel am Ende die Frage offen, wie eine (wenngleich vermittelte) Erkenntnis des das diskursive Denken transzendierenden Absoluten zu begreifen ist. 17 Schelling orientiert sich zwar bei der Systemdarstellung an Spinoza, es bleibt jedoch bei einer bloßen Orientierung, insofern Schelling seiner Systemdurchführung die für das Verfahren more geometrico konstitutiven Leitsätzen, Axiomen und Postulate nicht zugrunde legt. Darüber hinaus darf der von Schelling zur Beschreibung seines methodischen Vorgehens gewählte Begriff der Deduktion nicht missverstanden werden. Schellings methodisches Verfahren zielt nicht auf kausale oder syllogistisch-deduktive Systemkonstruktion. Zum Systembegriff Schellings sowie dessen Abgrenzung gegenüber der nach dem Verfahren more geometrico verfahrenden Systemkonzeption Spinozas vgl. Paul Ziche: Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling, in: System und Systemkritik um 1800 (= System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus III), hg. v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg, Hamburg 2011, 147–168, hier : 147f. sowie Christian Danz: Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809, in: Systeme in Bewegung: Systembegriffe nach 1800–1809 (= System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus IV), hg. v. Violetta L. Waibel/Christian Danz/Jürgen Stolzenberg, Hamburg (im Erscheinen).

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1.2.3 Hegels Begriff einer dialektischen absoluten Identität18 Genau an diesem Punkt setzt die Kritik Hegels sowie seine Forderung nach der Vermittlung des Anfangs der Philosophie an: Vergegenwärtigt man sich den Umstand, dass die intellektuelle Anschauung des über allen Gegensätzen stehenden Absoluten keine inhaltlich bestimmte Erkenntnis des Absoluten sein kann, so fragt man sich mit Hegel, wie aus dieser Unmittelbarkeit der Anschauung das diskursiv fortschreitende Denken folgen soll, als dessen Grund das solcherart beschriebene Absolute ja gefasst werden soll. Hegels Kritik an Schelling, welche für ein problemgeschichtliches Verständnis Hegels bedeutsam ist, beschränkt sich nicht auf die Frage nach einer angemessenen Form des Wissens vom Absoluten. Vielmehr gelinge es Schelling nach Hegels Ansicht nicht, einen angemessenen Begriff der absoluten Identität zu entwickeln: Schellings identitätsphilosophischer Ansatz, so Hegel in der Phänomenologie des Geistes, könne das Verhältnis von reiner Einheit und differenzierter Vielheit nicht adäquat beschreiben. Ob Hegels Einschätzung zutrifft, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht entschieden werden. Schellings Kritik an Kant beziehungsweise sein Dialog Bruno zeigen jedoch ein deutliches Problembewusstsein, was die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Differenz angeht. Hegels pauschales Diktum über Schellings Identitätsphilosophie in der Phänomenologie des Geistes, wonach Schelling die absolute Identität als eine bloße Indifferenz verstehe, wird dem Schelling’schen Problemansatz nicht gerecht.19 Ungeachtet dessen besteht jedoch eine entscheidende Differenz in Bezug auf das Verständnis der absoluten Identität bei Hegel und Schelling: Hegel denkt das Absolute als eine dialektische Identität, die den Gegensatz nicht aus-, sondern in sich schließt, indem sie – und dies ist die spezifisch Hegel’sche Interpretation des Absoluten – in der Setzung und Aufhebung ihrer differenten, qua nichtidentischen Momente ihre eigene Identität prozessual verwirklicht und entfaltet: Erst durch die Vermittlung seiner endlichen Momente realisiert sich das Absolute. Dieser Ansatz zeitigt Konsequenzen für das methodische Vorgehen Hegels: Nicht von einer intellektuellen Schau des Absoluten geht die Philosophie unvermittelt aus, sondern ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, die Bedingungen der Erfahrungen des Bewusstseins reduktiv bis hin zur rein bedingenden Be-

18 Vgl. für das Folgende: E. Coreth: Das absolute Wissen bei Hegel, 395–397. Ders.: Hegel, in: ders.: Gott im philosophischen Denken, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, 206–217, bes. 206–210. 19 Siehe hierzu die vernichtende Kritik Hegels an Schelling in der Vorrede: „Diß Eine Wissen, daß im Absoluten Alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fodernden Erkenntniß entgegenzusetzen, – oder sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntniß.“ (GW 9, 17)

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dingung aller Bedingungen aufzuweisen, welche wohlgemerkt zwar von allem Anfang an das menschliche Wissen implizit ermöglicht, als ursprüngliche Einheit der Subjekt-Objekt-Differenz jedoch erst schrittweise, das heißt geschichtlich ausdrücklich eingeholt werden kann. Damit ist aber der Hegel’sche Ansatz noch nicht vollständig beschrieben: Es geht nicht einseitig um die Entwicklung des philosophischen Wissens vom Absoluten. Die Frage nach dem Anfang der Philosophie bezieht sich für Hegel gleichzeitig auf die in eins mit der Entfaltung des menschlichen Wissens sich vollziehende prozessuale Entwicklung des Absoluten selbst, insofern Hegel von einer substantiellen Identität von menschlichem Wissen und Absoluten ausgeht. Diesen Weg nachzuzeichnen und damit die Philosophie zum wissenschaftlichen Standpunkt des Wissens der absoluten Identität (genetivus subjektivus und objektivus) hinzuführen, ist die Aufgabe der Phänomenologie des Geistes.20 Diese im Status bloßer Andeutungen verbleibende Charakterisierung des Absoluten soll im Folgenden systematisch entfaltet werden: In einem ersten Schritt wird die Aufgabe und die dialektische Methode der Phänomenologie des Geistes anhand der Explikation einiger zentraler Stellen der Einleitung beschrieben werden. Sodann wird die Form der geschichtlichen Entfaltung des anfänglich noch impliziten wesenhaften Wissens des menschlichen Bewusstseins thematisiert, bevor in einem zweiten Schritt die skizzierte Entwicklung des menschlichen Bewusstseins als Selbstentfaltung des Absoluten aufgezeigt wird.

2.

Aufgabe und dialektische Methode der Phänomenologie des Geistes21

2.1

Hegels Begriff des Erkennens

In einem ersten Schritt ist auf Hegels Begriff des Wissens einzugehen, welchen er in kritischer Auseinandersetzung mit dem zu seiner Zeit im Gefolge der Kanti20 In diesem Sinne ist die Notwendigkeit zu verstehen, dem Individuum eine Leiter zum wissenschaftlichen Standpunkt zu reichen: „Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu fodern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche.“ (GW 9, 23) 21 Vgl. zum Folgenden: Eugen Fink: Hegel. Phänomenologische Interpretation der „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt/M. 32012, 1–57, bes. 35–57. Ders.: Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hg. v. Egon Schütz/Franz-Anton Schwarz, Freiburg i. Br./ München 2004, 11–164, bes. 73–131. Ders.: Hegels Problemformel „Prüfung der Realität des Erkennens“ (in der „Phänomenologie des Geistes“), in: Praxis 7, Zagreb 1971, 39–47. M. Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes, 13–57. Ders.: Erläuterung der „Einleitung“, 79–146. In den angeführten Werken verfolgt Eugen Fink das Ziel, Hegels ontologisches und auch kosmologisches Denken hervorzuheben. Auf Finks eigenen Ansatz eines ontologischen

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schen Vernunftkritik herrschenden und bereits zu einer gewöhnlichen Vorstellung gewordenen Verfahren der Erkenntniskritik gewinnt. Gemäß dieser Form des Kritizismus hat der Philosophie prinzipiell eine kritische Untersuchung des Erkenntnisvermögens voranzugehen – und dies umso mehr, als es in der Philosophie, nach Hegels Verständnis, um die Erkenntnis des Absoluten gehe. Es ist nicht die Selbstsicherung des Vorgehens im Sinne einer Prüfung der Wahrheitsfähigkeit des Erkennens, gegen die sich Hegel kritisch wendet, sondern er macht vielmehr auf einen unzureichenden Vorbegriff von Erkenntnis und in weiterer Folge auf einen unangemessenen Begriff des Wesens des der erkenntniskritischen Prüfung unterworfenen Absoluten aufmerksam, mit denen die zeitgenössische Erkenntnistheorie operiert. Gemäß dieser erkenntnistheoretischen Auslegung des Erkennens, so Hegel, werde dasselbe als ein Mittel (im Sinne eines Werkzeuges oder eines Mediums) verstanden, durch dessen Anwendung die zu erkennende Sache, im gegenwärtigen Kontext: das Absolute, entweder verändert oder nur gebrochen zum Vorschein komme.22 Bedenkt man aber, dass die Prüfung des Erkennens selbst nur erkennend sich vollziehen kann, mehr noch, dass die Prüfung der Tauglichkeit des Erkenntniswerkzeuges bereits eine Form absoluten Erkennens darstellt, wird deutlich, dass die zu Hegels Zeit gängigen erkenntnistheoretischen Ansätze gerade dasjenige voraussetzen, was sie in Frage stellen: die Erkenntnis des Absoluten. Das Wesentliche seiner Kritik betrifft die implizite Behauptung einer Getrenntheit und Gegenüberstellung von Absolutem und Wissen und damit den Versuch, den Bezug von Absolutem und Wissen in einer Weise zu denken, die das Absolute wie ein ansichseiendes, dem Wissen gegenüberstehendes, unbezügliches Ding oder Überding nach dem Modell einer bewusstseinsfremden Sache begreift.23 Denn Weltbegriffs ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht einzugehen. Die Stärke der methodischen Auslegung Finks liegt m. E. in der Herausarbeitung der Grundstruktur der Erfahrung des Bewusstseins im Sinne einer Selbstprüfung seiner Vorstellungen vom Sein: Das Grundanliegen der Phänomenologie des Geistes kann demnach nach Fink als eine „Ontologie der Ontologie“ beschrieben werden, „sofern das Grundverhältnis von on und logos, von noein und einai das Bedachte und immer erneut zu Bedenkende“ (E. Fink: Hegel, 202f.) ausmacht. 22 „Es ist eine natürliche Vorstellung, daß, eh in der Philosophie an die Sache selbst, nemlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es nothwendig sey, vorher über das Erkennen sich zu verständigen, das als das Werkzeug, wodurch man des Absoluten sich bemächtige, oder als das Mittel, durch welches hindurch man es erblicke, betrachtet wird. […] Denn ist das Erkennen das Werkzeug, sich des absoluten Wesens zu bemächtigen, so fällt sogleich auf, daß die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache, sie vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formirung und Veränderung mit ihr vornimmt. Oder ist das Erkennen […] ein passives Medium […] so erhalten wir auch so sie nicht, wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist.“ (GW 9, 53) 23 „Sie setzt nemlich Vorstellungen von dem Erkennen als einem Werkzeuge und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem Erkennen voraus; vorzüglich aber diß, daß das Absolute auf einer Seite stehe, und das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt

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indem das Bewusstsein das Absolute als eine unerkennbare jenseitige Größe sich gegenüberstellt, so verbleibt es doch als nicht erkennbares Objekt im SubjektObjekt-Gegensatz. Seinem Wesen gemäß ist es aber gerade die diesen Bewusstseinsgegensatz schlechthin bedingende Bedingung. Mit diesen ungeprüften Vorstellungen von Erkenntnis verfehlt diese spezifische Form des Kritizismus das Wesen des Absoluten, das als Absolutes alles Relative und somit auch jedes Verhältnis des Relativen zum Absoluten in sich begreift. Es kommt hier wesentlich darauf an, die Absolutheit des Absoluten angemessen zu fassen: Das Relative darf nicht als dem Absoluten äußerlich gedacht werden, das heißt das Absolute steht dem menschlichen Wissen nicht unbezüglich gegenüber, sondern letzteres ist schon die Gegenwart des Absoluten: Das Absolute ist als Absolutes, so Hegel, „an und für sich schon bey uns“ (GW 9, 53). Vorausgreifend sei erwähnt, dass der Gedanke der Präsenz des Absoluten nur dann adäquat verstanden wird, wenn darunter nicht nur ein Erkennen des Absoluten seitens des Menschen gefasst wird. Das Absolute muss als das wesentlich Wirkende begriffen werden, sodass das Erkennen eine Manifestation, das heißt ein Sichdarstellen des Absoluten ist. Diese Selbsterkenntnis des Menschen und des Absoluten zugleich wird erst im Zuge eines geschichtlichen Vermittlungsprozesses auf der Stufe der Religion erlangt, worauf im dritten Teil dieser Arbeit einzugehen ist.24 Verbleibt die zunächst formelhaft benannte Bestimmung des Absoluten am Beginn der Einleitung lediglich im Status einer spekulativen Antizipation, so muss deren Wahrheitsgehalt in der Durchführung der Phänomenologie des Geistes, deren Hauptaufgabe in einer „Darstellung des erscheinenden Wissens“ (GW 9, 55) im Sinne einer Hinführung zum wissenschaftlichen Standpunkt besteht, erwiesen werden. Versuchen wir das mit letztgenannter Formel bezeichnete Grundanliegen des Hegelschen Frühwerkes näher zu fassen.

von dem Absoluten doch etwas reelles, oder hiemit, daß das Erkennen, welches, indem es außer dem Absoluten, wohl auch außer der Wahrheit ist, doch wahrhaft sey“ (GW 9, 54). 24 Vgl. M. Heidegger : Erläuterung der ,Einleitung‘, 82f.: Eine Stärke der Interpretation Heideggers besteht m. E. darin, dass er den Darstellungsprozess des erscheinenden Wissens als Entfaltung des Absoluten herausarbeitet und damit aufzeigt, dass das Absolute bereits auf den ersten Stufen der Entwicklung des Bewusstseins in unausdrücklicher Weise präsent ist. Pointiert ausgedrückt: Das absolute Wissen ist das grundlegende Movens des Erfahrungsprozesses des Bewusstseins. Auf die komplexe Problematik einer Entwicklung des Absoluten im Allgemeinen sowie auf die Auseinandersetzung Heideggers mit der Hegelschen Philosophie im Besonderen kann in diesem Kontext nicht eingegangen werden. Zur Rezeption Hegels seitens M. Heidegger vgl. Annette Sell: Auf dem Kreuzweg von Endlichkeit und Unendlichkeit. Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Hegels „Phänomenologie des Geistes“, in: Liberacijn y constitucijn del esp&rituelementos hegelianos en el pensamiento contempor#neo, hg. v. Mariano ]lvarez Gjmez/Mar&a del Carmen Paredes Mart&n, Salamanca 2010, 115–124.

Die Frage nach dem Anfang der Philosophie

2.2

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Bestimmung der Aufgabe der Phänomenologie des Geistes als „Darstellung des erscheinenden Wissens“

Das Wissen ist als erscheinendes Wissen zu bezeichnen, insofern es das Wissen der Erscheinung des Seienden ist. Der Begriff der Darstellung dagegen ist in der Phänomenologie des Geistes nicht im Sinne einer Katalogisierung dessen, was wir vom erscheinenden Wissen wissen, noch weniger als eine Beschreibung seines Vermögens und seiner Tragweite zu verstehen, sondern im Sinne von „zur Darstellung bringen“, verstanden als Hervor- und Herausheben. Das phänomenale Wissen von den Phänomenen soll selbst zur Darstellung gebracht werden, und zwar als Wissen vom Absoluten. „Das natürliche Bewußtseyn“, so Hegel, „wird sich erweisen, nur Begriff des Wissens, oder nicht reales Wissen zu seyn“ (GW 9, 56). Entfalten wir im Folgenden den Gehalt des vorangestellten Zitats: Das natürliche Bewusstsein als der Inbegriff des mannigfachen und vielfältigen (nicht-) wissenschaftlichen Wissens mit seinen Wahrheitsansprüchen ist zwar noch nicht realiter, jedoch wesentlich bestimmt durch die noch ausstehende Möglichkeit, sich zum eigentlichen, qua absoluten Wissen zu entwickeln. Das natürliche Bewusstsein ist an sich das Wissen des Absoluten, aber dies, dass es dies ist, ist nicht in reflexiver Ausdrücklichkeit seitens des natürlichen Bewusstseins gewusst. Gerade im impliziten, das heißt nicht expliziten Wissen um seine Absolutheit besteht die Natürlichkeit des Bewusstseins. Angesichts dieser Diskrepanz sei es, wie Hegel sagt, genötigt, so lange über sich hinaus zu gehen, bis es sich eingeholt habe, das heißt so lange, bis keine Differenz zwischen dem unreflektierten und dem explizierten Wissen seines Wesens mehr bestehe. Die Darstellung der Explizierung des impliziten Wissens ist die Aufgabe des Philosophen:25 Die bereits angedeutete Auseinandersetzung Hegels mit der kritizistischen Erkenntnistheorie, oder fassen wir es allgemeiner : das kritische Sich-Einlassen auf derartige Gegenpositionen macht einen wesentlichen Zug von Hegels philosophischem Vorgehen aus: Letzteres besteht darin, das relative Wissen als (defiziente) Form des Wissens des Absoluten aufzuweisen. Erhebt die Philosophie Hegels den Anspruch, Wissen des Absoluten zu sein, darf dieses Wissen nicht in Gegenüberstellung zur relativen Form desselben begriffen werden; vielmehr muss Hegel den impliziten Wahrheitsgehalt der vielfältigsten Wissensformen erweisen können.26 25 Hierbei ist zu beachten, dass der Philosoph, welchem nach Hegel das „reine Zusehen“ (GW 9, 59) bleibt, weder den Entwicklungsprozess des Bewusstseins initiiert, noch denselben an einem bloß behaupteten Wissensideal misst. Allerdings kommt ihm, der diese Entwicklung bereits vollzogen hat, das Wissen um die Gesetzmäßigkeit derselben zu und kann er daher diesen teleologisch verlaufenden Prozess darstellen. 26 „Weil nun diese Darstellung [des erscheinenden Wissens] nur das erscheinende Wissen zum

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2.3

Bestimmung der Methode der Phänomenologie des Geistes als „Prüfung der Realität des Erkennens“

2.3.1 Kritische Prüfung unseres Vorverständnisses von „Realität“ und „Prüfung“ Besteht die Aufgabe der Philosophie darin, ihren Anfang zu vermitteln, so gilt es, ihre wesenhafte Wahrheit aus dem erscheinenden und zunächst uneigentlichen Wissen in Form der Darstellung des erscheinenden Wissens herauszuarbeiten. Nun stellt sich jedoch die Frage, auf welche Weise, das heißt gemäß welcher Methode sich die besagte Darstellung des erscheinenden Wissens vollzieht. Sie geschehe, so Hegel, als eine „Untersuchung und Prüffung der Realität des Erkennens“ (GW 9, 58). Nähern wir uns dem Verständnis der Methode der Phänomenologie des Geistes, anhand der Explikation der Begriffe der „Realität“ und der „Prüfung“ in der Formel „Prüfung der Realität des Erkennens“: Realität besagt im gegenwärtigen Kontext nicht wie im gewöhnlichen Sprachgebrauch so viel wie Wirklichkeit im Sinne von Vorhandenheit, sondern es geht Hegel vielmehr um das Was-Sein einer Sache und zwar um das wesenhafte Was-Sein derselben; also um das, was eine res zu einer solchen macht. Die Untersuchung der Realität des Erkennens ist die Prüfung desselben auf sein Wesen hin. Das alltägliche Erkennen, so Hegel, sei zumeist unwesentliches Erkennen, nicht weil es etwa nur nebensächliche Dinge zum Gegenstand habe, sondern vielmehr, weil es im Erkennen der seienden Dinge nicht dasjenige begreife, was die Dinge erst zu seienden macht: das Sein des Absoluten. Solches Erkennen ist unwesentlich, da es nicht das ist, was es sein könnte, und daher hinter seinem Wesen als Wissen dieses Seins zurückbleibt. Bezüglich der Bestimmung dessen, was Prüfung bedeutet, geht Hegel zunächst von unserem geläufigen Begriff der Prüfung aus. Indem er diesen auf seine zugrundeliegenden ontologischen Voraussetzungen prüft, wird ihm ein unkritischer Vorbegriff von „Prüfung“ zum Ausgangspunkt der für seine Philosophie grundlegenden Verhältnisbestimmung von ansichseiendem und erscheinendem Wissen. Die Prüfung, so referiert Hegel das gewöhnliche Verständnis von „Prüfung“, bestehe sowohl in einem Vergleich einer Sache mit dem Maßgeblichen als auch in der Feststellung, inwieweit erstere dem maßgeblich Seienden entspricht. Etwas Gegenstande hat, so scheint sie selbst nicht die freye, in ihrer eigenthümlichen Gestalt sich bewegende Wissenschaft zu seyn, sondern sie kann von diesem Standpunkte aus, als der Weg des natürlichen Bewußtseyns, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden: oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntniß desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist.“ (GW 9, 55)

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wird mit einem anderen verglichen, welch letzteres der Maßstab des Zu-Prüfenden ist, insofern jener möglichst vollkommen die Sache verkörpert. Die Vergleichung zeigt den Grad der Unvollkommenheit der zu prüfenden Sache an. Die gewöhnliche Idee der Prüfung, die mehr oder weniger für alles Seiende gilt, mache damit, wie Hegel aufweist, implizit Gebrauch von der ontologischen Vorstellung eines Wesens: Das, woran man das zu prüfende Seiende misst, gilt als das Wesen. Mit Letzterem bezeichnen wir die inneren Bestimmungen, die einem Seienden an sich, das heißt ihm ausschließlich selbst zukommen: das Ansichsein des Seienden.27 Wie kann aber gemäß diesem explizierten Verständnis von Prüfung das Erkennen einer solchen unterzogen werden? Erscheint es nicht zirkelhaft, das wesenhafte Wissen qua Philosophie als Maßstab für das erscheinende Wissen einerseits vorauszusetzen und es andererseits aus eben demselben herausarbeiten zu wollen? Versteht man den Maßstab des erscheinenden Wissens als Ansichsein eines Seienden, so stellt die Hinführung zum Wissen des solcherart verstandenen Wesens eine Aporie dar, da letzteres dem Wissen per definitionem transzendent bleibt. Wäre es hingegen ein gewusstes Ansich, so doch kein echtes, außerhalb des Wissens verbleiben müssendes Ansichsein. Der hier auftauchende circulus vitiosus bricht nach Hegel nur dann auf, wenn die Rückfrage nach der sachlichen Angemessenheit des Vorbegriffs von Wesen und Ansich der Erkenntnis und damit nach dem prinzipiellen Verständnis der Verfasstheit des menschlichen Bewusstseins unterbleibe.28

2.3.2 Die wesenhafte Verfasstheit des geschichtlich verstandenen Subjekts 2.3.2.1 Das Bewusstsein als entwerfend-setzendes Denken des Seins Nähern wir uns diesem Sachproblem auf dem Weg einer näheren Bestimmung des Hegel’schen Begriffs des Bewusstseins. Die eigentliche Natur des Bewusstseins besteht für Hegel nicht vorrangig darin, Inbegriff unseres Wissens von uns selbst und von den Dingen zu sein, sondern die wesenhafte Verfasstheit des 27 „Denn die Prüffung besteht in dem Anlegen eines angenommenen Maßstabes, und in der sich ergebenden Gleichheit oder Ungleichheit dessen, was geprüfft wird, mit ihm, die Entscheidung, ob es richtig oder unrichtig ist; und der Maßstab überhaupt, und ebenso die Wissenschaft, wenn sie der Maßstab wäre, ist dabey als das Wesen oder als das an sich angenommen. […] Untersuchen wir nun die Wahrheit des Wissens, so scheint es, wir untersuchen, was es an sich ist. Allein in dieser Untersuchung ist es unser Gegenstand, es ist für uns; und das an sich desselben, welches sich ergäbe, wäre so vielmehr sein Seyn für uns; was wir als sein Wesen behaupten würden, vielmehr nicht seine Wahrheit, sondern nur unser Wissen von ihm.“ (GW 9, 58f.) 28 „Aber die Natur des Gegenstandes, den wir untersuchen, überhebt dieser Trennung oder dieses Scheins von Trennung und Voraussetzung.“ (GW 9, 59)

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Bewusstseins sieht er vielmehr in der allem Vernehmen des Ontischen vorgängigen, weil sie ermöglichenden apriorischen Erkenntnis des Seins im Sinne eines – und das ist entscheidend – „entwerfend-setzende[n] Denken[s] des Seins“.29 Als Entwurf der Seinsgedanken durch das Bewusstsein ist das Sein dem Bewusstsein nicht äußerlich, die Prüfung der Erkenntnis auf ihr Wesen hin vollzieht sich als Selbstprüfung des Bewusstseins. Wie dieser komplexe Sachverhalt genauer zu verstehen ist, soll im Weiteren anhand des folgenden Zitats expliziert werden. „Das Bewußtseyn gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst seyn; denn die Unterscheidung, welche so eben gemacht worden ist, fällt in es. […] An dem also, was das Bewußtseyn innerhalb seiner für das an sich oder das Wahre erklärt [im Sinne von Proklamieren], haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen.“ (GW 9, 59)

Das Bewusstsein gibt sich selbst seinen Maßstab, das heißt nach dem bereits Gesagten, es entwirft das Wesen oder das Ansich und damit in eins sein zugehöriges Wissen vom Sein des Seienden. Beschreiben wir die zwei Momente, die das Bewusstsein in sich selbst unterscheidet, noch genauer. Einerseits unterscheidet das Bewusstsein dasjenige, worauf es sich wissend bezieht: den Gegenstand im Sinne der Gegenständlichkeit desselben als das Ansich oder das Wesen. Andererseits unterscheidet es von seinem Gegenstand dasjenige, was es vom Gegenstand weiß: sein Wissen oder den Begriff.30 Das Ansich als Gegenständlichsein des Gegenstandes ist der dem natürlichen Bewusstsein immanente, weil von ihm selbst gesetzte Maßstab zur Prüfung seines Wissensanspruchs. Das Bewusstsein wird also nicht gemäß ihm äußerlich bleibenden Maßstäben beurteilt, sondern unterzieht sich selbst einer Prüfung, welche in der Frage nach dem Grade der Entsprechung des erscheinenden in Bezug auf das wesenhafte Wissen gesehen werden kann. Um diesen Sachverhalt herauszustreichen, bezeichnet Hegel die Selbstprüfung als eine Dialektik, eine prüfende Unterredung des Bewusstseins mit sich selbst über seine Vorstellung vom Bezug von Sein und Wissen.31 Das Ansich ist für das Subjekt, insofern es im Entwurf des transzendental sich vollziehenden Subjektes gründet. Erinnert der Konstitutionscharakter des 29 E. Fink: Hegel, 49. 30 „Nennen wir das Wissen den Begriff, das Wesen oder das Wahre aber, das Seyende oder den Gegenstand, so besteht die Prüffung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht.“ (GW 9, 59) 31 „[D]as wesentliche aber ist, diß für die ganze Untersuchung festzuhalten, daß diese beyden Momente, Begriff und Gegenstand, für ein anderes, und an sich selbst seyn, in das Wissen, das wir untersuchen, selbst fallen, und hiemit wir nicht nöthig haben, Maßstäbe mitzubringen, und unsere Einfälle und Gedanken bey der Untersuchung zu appliciren.“ (GW 9, 59)

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Subjekts an die Kantische Position, so ist mit dem Gedanken der Selbstprüfung die spezifische Hegel’sche Weiterentwicklung des kantischen Ansatzes angezeigt. Arbeiten wir im Zuge einer negativen Abgrenzung zur Kantischen Philosophie und deren eigenständiger Aufnahme durch Fichte und den frühen Schelling den Hegelschen Problemansatz im Folgendem heraus. 2.3.2.2 Die konstitutive Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung für das Subjekt Gründet die Objektivität und damit das Überhaupt-Erscheinen von etwas für Kant in den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt, so stellt für ihn das Subjekt in seiner formalen Identität des Bewusstseins im Gegensatz zu einer variablen Welt noch eine Konstante dar. Dem Kantischen Ansatz einer schlechthinnigen invariablen Subjektivität stellt Hegel sein Konzept einer jeweils bestimmten und geschichtlich sich entwickelnden Subjektivität gegenüber.32 Stellen wir die für das Wissen konstitutive Bedingung in Gestalt der geschichtlichen Entwicklung desselben, in Abgrenzung zum Fichteschen und Schellingschen Ansatz dar.33 Im Anschluss an Kant erhebt Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 den Anspruch, die Konstitutionsleistung des von ihm konstant verstandenen Subjekts zu beschreiben. Die dem empirischen Ich, das sich in seinem theoretischen wie praktischen Verhalten zur Welt manifestiert, zugrundeliegenden unbewussten, weil das Bewusstsein erst konstituierenden Handlungen werden von Fichte im Ausgang vom gegensatzlosen, weil den Bewusstseinsgegensatz von Subjekt und Objekt allein bedingenden absoluten Ich rekonstruiert. Der frühe Schelling, der die Aufgabe des Systems des transscendentalen Idealismus in der „Erklärung des Selbstbewußtseyns“34 sieht, knüpft mit dieser Aufgabenstellung der Philosophie an das Vorhaben Fichtes in analoger Weise an, indem er die prinzipiell unendlichen Handlungen des Selbstbewußtseyns in Form einer „Geschichte des Selbstbewußtseyns“35 schilderte, wobei er sich an dem traditionell-subjektiven 32 Siehe hierzu Thomas Sören Hoffmann: Anamnese des menschlichen Geistes: Phänomenologie, in: ders.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 32015, 207–289, hier : 213–217. 33 Bestechen die Schriften Eugen Finks zu Hegels Phänomenologie des Geistes durch ihre präzisen Beschreibungen des Grundanliegens von Hegels Frühwerk, welches als Selbstprüfungsprozess des Bewusstseins hinsichtlich seiner Vorstellungen vom Sein gefasst werden kann, so geht Fink nur am Rande auf die konstitutive Rolle des Geschichtlichen in Bezug der Seinsvorstellungen ein. Fokussiert Fink vor allem die formale Struktur des Selbstprüfungsprozesses, so kann das Verdienst von Thomas Sören Hoffmann in diesem Kontext darin gesehen werden, auf die geschichtliche Ermöglichungsbedingung dieses Prozesses aufmerksam gemacht zu haben. 34 F.W.J. Schelling: System des transscendentalen Idealismus, 152. 35 F.W.J. Schelling: System des transscendentalen Idealismus, 91.

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Verständnis von Geschichte im Sinne von Bericht bzw. Erzählung orientiert: Die Geschichte der Genese des Selbstbewusstseins besagt demgemäß, das Ordnungsgefüge der Bedingungen, unter denen das Ich zu seiner Selbstanschauung gelangt, zu beschreiben, wobei die Stufenfolgen nicht geschichtlich verfasst sind. Hegels Phänomenologie des Geistes versteht sich gerade nicht als transzendentalphilosophisches Programm einer Wissenschaftslehre, das heißt als Rekonstruktion der Konstitution des Wissens. Das sich selbst prüfende Bewusstsein hat den transzendentalphilosophischen Rahmen überschritten und unterliegt bereits einer zeitlichen Entwicklung. Der entscheidende Gedanke ist hierbei, dass die transzendentalphilosophische Rekonstruktion der das Wissen konstituierenden Handlungen des Ichs für Hegel zwar eine notwendige Voraussetzung für das Wissen bildet, aber noch nicht zugleich eine hinreichende: Die geschichtliche Entwicklung des Bewusstseins ist für Hegel von konstitutiver Bedeutung für das Wissen.36 Anders formuliert: Die Bedeutung des Geschichtlichen besteht nicht nur in einer bloß additiven, das heißt illustrierenden Funktion, sondern die geschichtliche Entwicklung ist wesenskonstitutiv für die Bedingung der Möglichkeit von Wissen: Ihr kommt, um es zugespitzt zu formulieren, eine verändernde und begründende Rolle zu.37 Auf unseren Kontext bezogen heißt dies: Die die Gegenständlichkeit des Gegenstandes ermöglichenden reinen Verstandesbegriffe sind keine konstanten Größen mehr, sondern unterliegen einem geschichtlichen Prozess. Oder anders formuliert: Das sich in den Kategorien aussprechende Seinsverständnis unterliegt einer geschichtlichen Entwicklung. Das entwerfende Setzen der Seinsgedanken – dies zeigt schon der Plural an – kann nicht in dem Entwurf einer konstanten Gegenständlichkeit gesehen werden, sondern das adäquate Wissen des Seins bildet sich in einem geschichtlichen Prozess heraus.38 Die Philosophie, welche diesen geschichtlichen Prozess als Hinführung zum Wissen des Absoluten vollzieht, muss wesentlich als ein geschichtlich sich entfaltendes System des Wissens verstanden werden. 36 Hiermit macht Hegel mit der Kantischen Formel von der „Geschichte der Vernunft“, die sich an exponierter Stelle am Ende der ersten Vernunftkritik findet (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 852/B 880–A 856/B 884), ernst und erkennt im Gegensatz zu Kant ihre systematische Bedeutung. 37 Hierbei ist zu beachten, dass die in der Phänomenologie des Geistes nachgezeichnete geschichtliche Entwicklung anhand exemplarischer Bewusstseinsgestalten aufgezeigt wird: Hegel intendiert keine streng chronologische Historie des Entwicklungsprozesses des menschlichen Wissens. Des Weiteren haben die historischen Bezüge, die Hegel in seinem Frühwerk herstellt, einen idealtypischen Charakter, insofern die geschichtlichen Bezugspunkte exemplarisch die jeweils bestimmte Bewusstseinsgestalt bezeichnen sollen. 38 Vgl. hierzu: Walter Jaeschke: Das Selbstbewußtsein des Bewußtseins, in: Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt. Beiträge zur Deutung der „Phänomenologie des Geistes“ aus Anlaß ihres 200-Jahr-Jubiläums (= Hegel Studien, Beiheft 50), hg. v. Thomas Sören Hoffmann, Hamburg 2009, 15–30, bes. 15–26.

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2.3.3 Die Selbstprüfung als dialektische Erfahrung des Bewusstseins Das Hegel’sche Programm einer Darstellung des erscheinenden Wissens kann zusammenfassend als eine schrittweise und in einem geschichtlichen und sozialen Kontext sich vollziehende Prüfung des sich in Begriffen aussprechenden Verständnisses des Seins des Seienden am selbst gesetzten Maßstab beschrieben werden. Stellen wir nun präziser in dem folgenden, den Gedankengang der Einleitung abschließenden Abschnitt, die Selbstprüfung als dialektische Erfahrung des Bewusstseins ihrer formalen Struktur nach dar. Das sich transzendental vollziehende Bewusstsein entwirft eine Idee von dem, was es heißt zu sein. Der Akt des Entwurfs des Seins weist hierbei zwei Momente auf: Einerseits die Setzung des Ansich als Maßstab und zugleich das Wissen dieses Entwurfs. Prüft es nun sein Wissen vom Gegenstand, indem es dasselbe ausspricht, tritt ein Widerspruch in Form einer Nichtentsprechung zwischen seinem Wissen und dem bewusstseinsimmanenten Maßstab des ansichseinenden Gegenstandes auf. Es muss im Zuge der Selbstprüfung seines Wissensanspruchs anhand des bewusstseinsimmanenten Maßstabes die zunächst negative Erfahrung machen, dass sein Wissen nur ein vermeintliches Wissen ist und nicht dem von ihm selbst anerkannten Maßstab entspricht.39 Gehen wir nun in zwei Schritten auf diese formale Beschreibung der Selbstprüfung des Bewusstseins näher ein: 1. Es ist zunächst auf die konstitutive Rolle der Darstellung des Wissens im Medium der Sprache im Prozess der Selbstvermittlung des philosophischen Wissens aufmerksam zu machen. Es geht hierbei um sehr viel mehr als die Problematik des korrekten Ausdrucks beziehungsweise der adäquaten kommunikativen Darstellung des schon Gewussten. Es geht Hegel vielmehr darum, die Darstellung als wesentliches Moment der Erkenntnis selbst zu beschreiben. Erst im Zuge der Ausarbeitung der Seinsmeinung, die sich in der argumentativen Entwicklung des Gedankens konkretisiert, erfährt das Bewusstsein, was es denn eigentlich weiß und zugleich wer es als dieses Wissende selbst ist.40 2. Dies führt uns unmittelbar zur Frage: Was ermöglicht die Einsicht in die Unwahrheit des eigenen Wissens? Die Einsicht in die Vermeintlichkeit des aktuellen Wissens setzt das implizite Wissen um das Wesen des Seins voraus, das in dem Augenblick zu Tage tritt, in dem das Bewusstsein sein Wissen der 39 „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtseyn an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt […] ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“ (GW 9, 60) 40 Vgl. hierzu: Thomas Sören Hoffmann: Hegels phänomenologische Dialektik. Darstellung, Zeitbezug und Wahrheit des erscheinenden Wissens – Thesen zur „Vorrede“, in: Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt, hg. v. T.S. Hoffmann, 31–52, hier : 32–40.

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Seinsmeinung ausspricht. Erst aus der Distanz dieses neuen Wissens kann die Unwahrheit des bereits verlassenen Wissensstadiums erkannt und aufgehoben werden. Die Aufhebung ist hierbei nicht als bloße Negation im Sinne einer Vernichtung zu verstehen, sondern vielmehr – mit Hegel gesprochen – als bestimmte Negation: Die Negation der jeweils vorhergehenden Bewusstseinsgestalt vermittelt die neue Gestalt, insofern zum negativen Resultat wesentlich das, wovon es Resultat ist, gehört.41 Das Bewusstsein, so kann der Gedankengang formelhaft zusammengefasst werden, bewegt sich in einem es wesentlich kennzeichnenden Gegensatz zwischen dem, was es meint und dem, was es in Wahrheit implizit weiß. Weil das Bewusstsein in Wahrheit mehr weiß, als es meint, wird es dazu getrieben, das Gemeinte zu ändern: Das bedeutet aber, dass es nicht nur sein Wissen vom Gegenstand ändert. Es setzt in eins damit einen neuen Gegenstand, da es durch die dialektische Erfahrung dazu genötigt ist, das im Entwurf des Gegenstandes sich ausdrückende Verständnis des Seins verwandelnd zu konkretisieren.42 Bedenkt man, dass sich das adäquate Verständnis des Seins erst schrittweise in einem geschichtlichen Prozess herausbildet, versteht sich die sich nun aussprechende Seinsmeinung wiederum nur als vorläufige Stufe auf dem Weg zum Sichwissen des Bewusstseins. Dieser komplexen Gedankengang soll am Beispiel der ersten Bewusstseins41 In Gegenüberstellung zum Skeptizismus stellt Hegel im nachfolgenden Zitat seine Position einer „bestimmten Negation“ dar : „[I]m Allgemeinen [kann] zum voraus bemerkt werden, daß die Darstellung des nicht wahrhaften Bewußtseyns in seiner Unwahrheit, nicht eine bloß negative Bewegung ist. Eine solche einseitige Ansicht hat das natürliche Bewußtseyn überhaupt von ihr ; und ein Wissen, welches diese Einseitigkeit zu seinem Wesen macht, ist eine der Gestalten des unvollendeten Bewußtseyns, welche in den Verlauff des Weges selbst fällt, und darin sich darbieten wird. Sie ist nemlich Skepticismus, der in dem Resultate nur immer das reine Nichts sieht, und davon abstrahirt, daß diß Nichts, bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultirt. Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkömmt, in der That das wahrhafte Resultat; es ist hiemit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt. […] Indem dagegen das Resultat, wie es in Wahrheit ist, außgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen, und in der Negation der Uebergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt.“ (GW 9, 57) 42 „Entspricht sich in dieser Vergleichung beydes [Begriff und Gegenstand] nicht, so scheint das Bewußtseyn sein Wissen ändern zu müssen, um es dem Gegenstande gemäß zu machen, aber in der Veränderung des Wissens ändert sich ihm in der That auch der Gegenstand selbst; denn das vorhandene Wissen war wesentlich ein Wissen von dem Gegenstande; mit dem Wissen wird auch er ein anderer, denn er gehörte wesentlich diesem Wissen an. […] Indem es also an seinem Gegenstande sein Wissen diesem nicht entsprechend findet, hält auch der Gegenstand selbst nicht aus; oder der Maßstab der Prüffung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab es seyn sollte, in der Prüfung nicht besteht; und die Prüffung ist nicht nur eine Prüffung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabes.“ (GW 9, 60)

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gestalt, der sinnlichen Gewissheit, schematisch verdeutlicht werden: Stellt sich der sinnlichen Gewissheit, welche als ein ganz und gar der sinnlichen Affektion hingegebenes Bewusstsein vorgestellt wird, das Sein als ein konkret unmittelbares Einzelnes dar, so wird ihr erst durch ihr eigenes Aussprechen ihrer Idee des Seins deutlich, dass sie zwar ein Konkretes meint, dagegen stets etwas Allgemeines sagt. Ist die sinnliche Gewissheit vor der Darstellung ihres Wissens überzeugt, dass Letzteres dem selbst gesetzten Ansich entspricht, so zeigt sich im elaborierten Ausdruck der konkreten Wissensidee des Seins, dass diese Darstellung der im Ansich vermeinten Vorstellung des Seins als eines Konkreten nicht angemessen ist. Das elaborierte Wissen brachte die Konkretheit des Konkreten nicht adäquat zum Ausdruck, insofern es das Sein des Konkreten als bloße Beständigkeit versteht. Durch die Darstellung ihres Wissens der Seinsidee des Konkreten und des sich darin zum Ausdruck bringenden impliziten Wissens des Seins wird der sinnlichen Gewissheit erst deutlich, was sie unter dem Konkretsein eines Konkreten eigentlich versteht: Das vermeinte Einzelne ist in Wahrheit ein Allgemeines. Sofern das Sein des Konkreten in Wahrheit ein Allgemeines ist, macht diese Einsicht nicht nur den Wandel des Wissens vom Konkretsein nötig, sondern auch den der Idee des Seins: Der dem Bewusstsein immanente Maßstab muss konkretisierend geändert werden, indem auf der nächsten Stufe das Sein als ein Allgemeines gefasst wird. Dieser am Beispiel der sinnlichen Gewissheit dargestellte prozessual zu verstehende Läuterungsprozess des Bewusstseins, der von Hegel näherhin als „sich vollbringende[r] Skepticismus“ (GW 9, 56) bezeichnet wird, endet erst mit der Aufhebung des Gegensatzes des Bewusstseins: also mit der Aufhebung des Antagonismus zwischen dem, was das Bewusstsein meint und dem, was es in Wahrheit bereits ist.43

3.

Die prozessuale Entwicklung des Selbstbewusstseins des Geistes

3.1

Der Entwicklungsprozess des wesenhaften Wissens des Bewusstseins

Im letzten Abschnitt haben wir die formale Struktur der dialektischen Bewegung des Bewusstseins beschrieben: Die durch sein implizites Wissen ermöglichte Erfahrung der Inkongruenz zwischen dem der betreffenden Bewusstseinsform 43 „Das Ziel aber ist dem Wissen ebenso nothwendig, als die Reihe des Fortganges, gesteckt; es ist da, wo es nicht mehr über sich selbst hinaus gehen nöthig hat, wo es sich selbst findet, und der Begriff dem Gegenstande, der Gegenstand dem Begriffe entspricht.“ (GW 9, 57)

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Erscheinenden auf der einen Seite und dessen entworfener Objektivität auf der anderen Seite nötigt das Bewusstsein, schrittweise ein angemessenes Wissen seines Wesens zu erlangen. Ist das Bewusstsein seinem Wesen nach absolut, so gilt es nun die Stufenfolge des geschichtlichen Entwicklungsprozesses der Explizierung seiner anfänglichen unausdrücklichen Absolutheit, oder anders ausgedrückt: seiner substantiellen Identität mit dem Absoluten, formal zu beschreiben. Erst auf der Stufe der offenbaren Religion, auf welche noch einzugehen ist, wird das Bewusstsein erreicht, dass das Bewusstsein das Absolute in seiner Entäußerung ist. Entwickeln wir im Folgenden die geschichtlichen Wegmarken der wesenhaften Entwicklung des Bewusstseins anhand von Hegels Konstitutionsanalyse des Bewusstseins: Das Bewusstsein weist drei Strukturmomente auf: Hegel fasst es als eine Differenzgestalt, insofern es zwischen sich selbst und dem anderen als Gegenstand unterscheidet. Das Bewusstsein ist jedoch nicht nur diese Unterscheidung zwischen Subjekt und dem als Objekt gesetzten Gegenstand, das heißt die im Bewusstsein konstitutiven Momente des Reflexiven und Intentionalen stehen nicht unvermittelt nebeneinander, sondern das Bewusstsein ist ebenso die identifizierende Beziehung dieser beiden Seiten.44 Entfalten wir diese formelhafte Bestimmung des Bewusstseins nun schrittweise:45 Versteht das Bewusstsein das ihm begegnende Seiende als bloß beständigen, für sich auch unabhängig vom Wissen bestehenden Gegenstand, der gleichsam den Wahrheitsgrund der Erkenntnis ausmacht, so muss es als erste phänomenologische Grundgestalt46 des Bewusstseins (im engeren Sinne) in einem dialektischen Prozess die Objektivität des Objekts anerkennen: Der Gegenstand ist für es ein Objekt und in diesem Sinne ein gewusster Inhalt seines Denkens. Würde das Wissen dem erkenntnisnackten Gegenstand lediglich gegenüberstehen, dürften wir von unseren Inhalten überhaupt nichts wissen. Diese Einsicht führt unmittelbar zur zweiten Grundgestalt des Selbstbewusstseins, die nun – die Grundstruktur der ersteren fundamental umkehrend – das Verhältnis

44 „Dieses [das Bewusstsein] unterscheidet nemlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie diß ausgedrückt wird, es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens, oder des Seyns von Etwas für ein Bewußtseyn ist das Wissen.“ (GW 9, 58) Vgl. hierzu: Thomas Sören Hoffmann: „Unsere Zutat“. Zum näheren Verständnis eines methodologischen Motivs aus der „Einleitung“ zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, in: Synthesis Philosophica 43, Heft 1, Zagreb 2007, 87–105, hier : 88–95. Ralf Beuthan: „Wahrhafte Erfahrung“. Zur Spezifik von Hegels phänomenologischem Erfahrungsbegriff, in: Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt, hg. v. Thomas Sören Hoffmann, 53–70, hier: 56–59. 45 Zum Folgenden: T.S. Hoffmann: Anamnese des menschlichen Geistes, 238–240. M. Heidegger : Hegels Phänomenologie des Geistes, 20–23. 46 Vgl. zu den naturphilosophischen Grundlagen des „Gestaltbegriffs“ siehe: Ulrich Barth: Systematische und werkgeschichtliche Überlegungen zu Hegels Geistbegriff, in: Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, hg. v. Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl, Tübingen 2014, 69–81, hier: 75–80.

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zwischen Ich und Gegenstand wiederum einseitig interpretiert, insofern das Subjekt als Maß und Norm der Gegenstände fungiert. Die Beschreibung der inneren Prozessualität des evolutionären dialektischen Ganges des Bewusstseins in Form der beiden ersten Grundgestalten zeigt, dass das Bewusstsein seinen Gegenstand als etwas anderes als es selbst, und zwar im Sinne des Vorausgesetzten setzt und damit entgegen seiner wesenhaften umfassenden Relationalität sich als ein starres Gegenüberverhältnis von Subjekt und Objekt versteht: entweder als bloß den Gegenstand rezipierendes Erkennen oder als Subjekt, das zwar das Gegenstandsein des Gegenstandes für das Subjekt konstituiert, aber die dabei vorausgesetzte Affinität zwischen menschlichem Erkennen als solchem und bloßem Gegenstand lediglich voraussetzt und damit dem Erkenntnis konstituierenden Subjekt letztlich die Gegenstandswelt nur gegenübergestellt sein lässt. In der dritten Grundgestalt, der Vernunft, die gleichsam den Zielpunkt der phänomenologischen Bewegung ausmacht, wird die Antizipation der die Bewusstseinsdifferenz umfassenden Totalität selbst ausdrücklich: Es wird der Einheitsgrund sichtbar, der die sich als Akzidenz der Welt verstehende Erkenntnis einerseits und die das Überhaupt-Erscheinen von etwas konstituierende Subjektivität andererseits erst ermöglicht. Das vom Bewusstsein gesetzte Andere ist nicht mehr das rein äußerlich verstandene Andere, sondern das Andere seiner selbst. Es verliert seine Fremdheit dank der zunächst unmittelbar auftretenden und in ihrem Gehalt erst dialektisch zu vermittelnden Einsicht in das wesenhafte Sein des Bewusstseins, das als jene Totalität zu charakterisieren ist, die in sich selbst die beiden Seiten von inhaltlichem Denken und gedachtem Inhalt differenziert. Das Bewusstsein steht nicht nur auf einer Seite des ihm wesenhaften Gegensatzes, indem seine Inhalte einander gegenüberstehen, sondern es ist das Bewusstsein selbst, das in sich (nicht lokativ) sich als wissendes Subjekt und als gewusstes Objekt unterscheidet.47

3.2

Die Selbstauslegung der Vernunft – Hegels Geistbegriff48

Der Übergang zum Geistkapitel markiert einen entscheidenden Einschnitt in der Komposition der Phänomenologie des Geistes: Gewinnt die Vernunft eine, 47 Vgl. G. Gotz: Der „intelligible Charakter“ des Menschen, 98–100: In seinem Aufsatz, der den Freiheitsbegriff der Neurowissenschaften in Auseinandersetzung mit dem Kantischen bespricht, arbeitet Gerhard Gotz klar die triadische Grundstruktur des Bewusstseins heraus. 48 Vgl. zum Geistbegriff Hegels vor allem U. Barth: Systematische und werkgeschichtliche Überlegungen, 69–75. 80f. Der Aufsatz von Ulrich Barth zeichnet sich durch eine präzise Darstellung der phänomenologischen Gestalt des Geist aus. Im Unterschied zum Hegelschen Ansatz fungiert allerdings der Begriff des Geistes, nach Barth, als eine Beschreibung einer

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wenngleich noch in unmittelbarer Weise auftretende Einsicht in ihr wahrhaftes Wesen, so hat dies eine Änderung der Art ihres Gegenstandes zur Folge. Sie prüft nicht mehr – wie in den vorangegangen Bewusstseinsgestalten – ihre Seinsvorstellungen hinsichtlich der bloß äußeren Realität, der das Erkennen nur vermeintlich gegenübersteht. Dank der Gewissheit, diejenige Instanz zu sein, welche die Realität selbst konstituiert,49 wird sie selbst zum Gegenstand ihrer Selbstprüfung. Die Vernunft vollzieht sich als Geist, insofern sie nun vorrangig um die Erfassung ihrer selbst bemüht ist, und das heißt, insofern sie die Vorstellungen ihrer Seinsverfassung einer Prüfung unterzieht. Dezidiert ist darauf hinzuweisen, dass die Vernunft ihr Wesen noch nicht in einer vollständig reflexiven Weise einsieht: Das sich nun herausbildende Selbstbewusstsein unterliegt einer prozessualen Entwicklung, insofern der für das Bewusstsein signifikante Antagonismus von Wahrheitsanspruch und Wahrheitserfüllung, also die Diskrepanz zwischen dem, was es als wahr und seiend behauptet und der Form der Gewissheit desselben, sich auf höherer Ebene und in durchaus anderer Form wiederholt. Wie stellt sich aber die Diskrepanz von Gegenstand und Begriff an den besagten Geistphänomenen dar, oder anders formuliert: Inwiefern unterliegt die Selbsterkenntnis der Vernunft einer ihr wesentlichen geschichtlichen Entwicklung? Das Telos der Phänomenologie des Geistes in Gestalt eines wirklichen Selbstbewusstseins der Vernunft könne nach Hegel nicht angemessen von einer abstrakten Struktur der Reflexivität her verstanden werden. Die Selbstauslegung der Vernunft vollzieht sich vielmehr im Horizont ihrer intentionalen Gehalte. Ist sie je inhaltlich von Sachverhalten bestimmt, so ist des Weiteren darauf hinzuweisen, dass diese Inhalte jeweils kulturell-geschichtlich vermittelt sind. Aus der kulturellen, geschichtlich auftretenden Verschiedenheit der als Horizont dienenden intentionalen Gehalte der Selbstauslegung der Vernunft ergibt sich die qualitative Diversität der Geistgestalten. Entfalten wir die beschriebene formale Struktur der in Gestalt des Geistes sich vollziehenden Selbstexplikation der Vernunft näher : In seiner konkreten Existenz erfährt sich das Selbstbewusstsein hineingestellt in einen spezifischen kulturellen und sozialen Kontext, in dem es sich inmitten konkreter Vorstellungen von Subjektivität wiederfindet. Es übernimmt diese Vorstellungen auf komplexen Form bewussten menschlichen Lebens. Die Rede von einem absoluten Geist kann daher für Barth lediglich den Charakter einer „analogen Symbolisierung“ (U. Barth: Systematische und werkgeschichtliche Überlegungen, 80) besitzen. 49 „Der Geist ist hiemit das sich selbsttragende absolute reale Wesen. Alle bisherigen Gestalten des Bewußtseyns sind Abstractionen desselben; sie sind diß, daß er sich analysirt, seine Momente unterscheidet, und bey einzelnen verweilt. Diß Isoliren solcher Momente hat ihn selbst zur Voraussetzung und zum Bestehen, oder es exisirt nur in ihm, der die Existenz ist.“ (GW 9, 239)

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individuelle Weise, indem es sie in Form von subjektiven Haltungen habitualisiert, wodurch es indirekt an der Verwandlung der Gestalt, die die tradierten Vorstellungsgehalte in einer Gesellschaft annehmen, mitwirkt. Eine sich schrittweise herausbildende Selbstbeziehung und Selbsterkenntnis, so kann man die soweit entwickelte Struktur des Geistes beschreiben, impliziert wesentlich die Bezogenheit auf Anderes als einen konstitutiven Zug von Vernunft. Mit dem Begriff des Geistes bezeichnet Hegel das Vermögen, in der Objekt- und Fremdbeziehung eine Selbstbeziehung aufzubauen. Oder nochmals anders gewendet: Erst in der Beziehung zu Äußerem und Anderem gewinnt die Beziehung zu sich selbst einen Inhalt. Es handelt sich hierbei um einen Prozess, in dem sich aus einer anfänglichen Gewissheit der Vernunft von ihrem Wesen, also aus einer zunächst heteronom verfassten Wissensweise um sich, ein Selbstbewusstsein herausbildet. Bedenkt man, dass die dem Subjekt gegenübertretenden Traditionen und Wertvorstellungen Überzeugungen von Individuen sind, die sich gegebenenfalls in Gruppen organisieren, so verläuft die in der Fremdbeziehung aufzubauende Selbstbeziehung zumeist nicht ohne Konflikte: Das Subjekt wird vielmehr mit dem ihm Äußeren konfrontiert und vollzieht sich erst dann als Geist, wenn es die ihm von außen gegenübertretenden Vorstellungen und Ansprüche nicht nur abwehrend bewältigen, sondern in dieser Auseinandersetzung gerade seine Selbstbeziehung aufbauen kann.

3.3

Das Gewissen als Erfahrung des Fremdbezuges im Selbstbezug

Zu den Grundphänomenen einer Erfahrung eines Fremdbezugs im Selbstbezug gehört die Stimme des Gewissens, in dem die Kontroverse zwischen individuellem Handeln und allgemeinem Pflichtbewusstsein auftritt. Diese sich als innerer Konflikt des menschlichen Geistes zeigende Entgegensetzung50 inszeniert Hegel als Auseinandersetzung zweier Subjekte, welche in der Rolle des handelnden Gewissens einerseits und der die Handlung beurteilenden Instanz andererseits auftreten. Damit stellt er sich im Gewissenskapitel der grundlegende 50 Eine alteritätstheoretische Lesart des Gewissenskapitels vertritt Andreas Gelhard (Die Sprache des Gewissens. Über Alterität und Anerkennung in Hegels „Phänomenologie des Geistes“, in: Alterität und Anerkennung [= Zeitgenössische Diskurse des Politischen 2], hg. v. Andreas Hetzel/Dirk Quadlieg/Heidi Salaverr&a, Baden-Baden 2011, 113–129). Der Gedankengang des Gewissenskapitels beschreibt für ihn nicht einen intrasubjektiven Konflikt, der durch zwei Subjekte inszeniert wird, sondern vielmehr eine intersubjektive Auseinandersetzung. Die intrasubjektive Zugangsweise, welche der Verfasser im Blick auf eine Hegel immanente Lektüre bevorzugt, muss sich zumindest die Frage gefallen lassen, wie der Akt der Verzeihung intrasubjektiv adäquat verstanden werden kann.

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Frage nach der Vermittlung von – im spezifisch Hegel’schen Sinne verstandener – Moralität und Sittlichkeit. In diesem in Szene gesetzten Konflikt tritt das Gewissen nicht als Instanz der Pflichtenabwägung auf, sondern fungiert vielmehr als Geltungsgrund der Moralität: Es entscheidet gleichsam intuitiv, das heißt ohne vorausgehende Prüfung einzelner Pflichten, was zu tun geboten ist51 und agiert, seine eigenen partikularen Ziele verfolgend, ausschließlich als handelndes Gewissen (vgl. GW 9, 355): Das Konfliktpotential der Dialektik des Gewissens liegt hierbei nicht darin, dass es die Tat verwirklicht, sondern vielmehr darin, dass es sich zu seiner Handlung implizit oder explizit bekennt.52 Es erhebt damit nicht nur einen Anspruch auf Anerkennung seiner Tat, sondern tritt in bewusster und überzeugter Weise in Konfrontation zu seinem Gegenpart, der den Allgemeinheitsanspruch seines die Handlung beurteilenden Pflichtbewusstseins verkörpert. Letzteres, welches allein die Nachvollziehbarkeit der Handlungsgründe und damit deren Verallgemeinerunsfähigkeit einfordert, macht sich seinerseits der Abstraktion von den jedem Individuum zukommenden Trieben und Neigungen schuldig, insofern es als Handlungskriterium allein die Vernunftbestimmtheit anerkennt und dabei von den die konkreten Handlungen ebenso bestimmenden inhaltlichen Zwecken gänzlich absieht. Des Weiteren bleibt es auch hinsichtlich der Realisierung der geforderten Handlungen abstrakt, insofern es die Konkretisierung der den individuellen Taten zugrundeliegenden Maßstäbe nicht beachtet.53 Indem beide Seiten ihren exklusiven Anspruch auf allgemeine Anerkennung und Gültigkeit im Handeln implizit oder explizit handelnd bekunden und damit bewusst einen Konflikt provozieren, der letztlich in die Verzweiflung führt, wird ihre wechselseitige Abstraktion deutlich: Handeln impliziert im Gegensatz zu einem bloßen unmittelbaren menschlichen Vollzug die Beurteilung der Tat des Subjektes. Spricht es sich als handelndes Gewissen aus, so sagt es implizit die 51 „In der einfachen moralischen Handlung des Gewissens sind die Pflichten so verschüttet, daß allen diesen einzelnen Wesen unmittelbar Abbruch gethan wird, und das prüffende Rütteln an der Pflicht in der unwankenden Gewißheit des Gewissens gar nicht statt findet.“ (GW 9, 343) 52 Zur wesenskonstitutiven Bedeutung „der Sprache als das Daseyn des Geistes“ (GW 9, 351) siehe Thomas Sören Hoffmann: „Absoluter Geist“: Zur Aktualität eines Hegelschen Theorems, in: Philotheos 11, Beograd 2011, 152–161, hier : 156f. sowie A. Gelhard: Die Sprache des Gewissens, 120–122. 53 „Dieser innerlichen Bestimmung steht also das Element des Daseyns oder das allgemeine Bewußtseyn gegenüber, welchem vielmehr die Allgemeinheit, die Pflicht, das Wesen, dagegen die Einzelnheit, die gegen das Allgemeine für sich ist, nur als aufgehobnes Moment gilt. Diesem Festhalten an der Pflicht gilt das erste Bewußtseyn als das Böse, weil es die Ungleichheit seines Insichseyns mit dem Allgemeinen ist, und indem dieses zugleich sein Thun als Gleichheit mit sich selbst, als Pflicht und Gewissenhaftigkeit ausspricht, als Heucheley.“ (GW 9, 356)

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Verwiesenheit auf das ihm entgegengesetzte Subjekt aus. In Ansehung des Pflichtbewusstseins erschließt sich dem Gewissen die Notwendigkeit einer Allgemeingültigkeit seiner Handlungsmaxime. Sind umgekehrt die Handlungsmaximen wesentlich auf deren Anwendung hin orientiert, disqualifiziert das das beurteilende Pflichtbewusstsein verkörpernde Subjekt seinen Anspruch, sobald es sich auf die bloße Richterrolle zurückzieht. Im Aussprechen bekundet sich die wahrhafte, qua wesenhafte Einsicht in die Gleichheit der beiden Seiten und damit in die eigene Abstraktheit. Um eine wahre Einsicht handelt es sich jedoch nicht, wenn sie als bloß theoretische Anerkennung des Rechts der jeweils anderen Position missverstanden wird. Sie ist wesentlich eine im praktischen Vollzug sich realisierende Einsicht. Worin gründet der praktische Vollzug wechselseitiger Anerkennung und in welcher Weise ist deren Vollzugscharakter zu beschreiben? Zunächst zur ersten Frage: Die reziproke praktische Anerkennung der beiden Seiten gründet im Akt der Verzeihung: Die anfängliche Abstraktheit der jeweils entgegengesetzten Position wird nicht verurteilt, sondern jede der beiden Seiten übt Nachsicht in Erwartung der Erwiderung derselben verzeihenden Haltung der anderen Seite für die eigene Position.54 Dank dieser gegenseitigen Verzeihung kann eine reziproke Anerkennung der jeweils anderen Position in Gestalt der Versöhnung vollzogen werden. Als versöhnt können beide Seiten dann bezeichnet werden, wenn die modifizierte Gültigkeit der eigenen Position die veränderte Geltung der anfänglich entgegengesetzten Seite einschließt. Zur zweiten Frage: Auf welche Weise konkretisiert sich nun der praktische Vollzug der sich wechselseitig anerkennenden Positionen? Dank der Erkenntnis der begrenzten Reichweite der eigenen Position realisiert sich die jeweilige Seite auf dem Umweg der Berücksichtigung der ihr entgegengesetzten Position. Oder allgemeiner formuliert: Das jeweilige Selbstsein kann nur in Berücksichtigung des Andersseins realisiert werden, und das heißt: Es drängt über das Wissen eines Anderen hinaus und gelangt zu einem Sich-Wissen im Anderen.55

54 „Diese Gleichheit anschauend und sie aussprechend, gesteht es sich ihm ein, und erwartet ebenso, daß das Andre, wie es sich in der That ihm gleich gestellt hat, so auch seine Rede erwiedern, in ihr seine Gleichheit aussprechen und das anerkennende Daseyn eintreten werde.“ (GW 9, 359) 55 „Durch diese Entäusserung kehrt diß in seinem Daseyn entzweyte Wissen in die Einheit des Selbsts zurück; es ist das wirkliche Ich, das allgemeine sich selbst Wissen in seinem absoluten Gegentheile, in dem insichseyenden Wissen, das um der Reinheit seines abgesonderten Insichseyns willen selbst das vollkommen allgemeine ist.“ (GW 9, 362)

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Offenbare Religion als Selbstbewusstsein des Geistes in Form der Vorstellung

3.4.1 Methodologische Bestimmung und Aufgabe des Religionskapitels Fassen wir das Resultat der Dialektik des Gewissens als Ausgangspunkt des Religionskapitels zusammen. In jedem Selbstsein, das sich auf dem Umweg der Anerkennung seines Andersseins realisiert, zeigt sich das Wesen der Vernunft in Gestalt des Geistes: Konstituiert sich das selbständige Selbstsein in der versöhnenden Anerkennung und ausdrücklichen Berücksichtigung der Position seines jeweiligen Andersseins und drückt es durch diese Handlung die Gleichheit der beiden Seiten im praktischen Vollzug aus, so macht es damit zunächst unausdrücklich die Einheit der beiden differenten Seiten, des Einzelnen und Allgemeinen, offenbar. Das heißt konkret: In der versöhnenden Anerkennung werden beide Seiten als Momente der sich in ihnen zeigenden und sich darstellenden Totalität, welche Hegel mit dem Begriff des absoluten Geistes bezeichnet, sichtbar.56 Ruft man sich in Erinnerung, dass die beiden Geistgestalten des intuitiven Gewissens und des Pflichtbewusstseins aus den vorangegangenen Gestalten im Sinne der bestimmten Negation hervorgegangen und letztere im Hegelschen Sinne in jenen aufgehoben sind, so stellt uns das nun beginnende Religionskapitel methodisch vor die Notwendigkeit, die sich am Ende des Gewissenskapitels zeigende Totalität näherhin als Einheit und als Kontinuum der Pluralität des erscheinenden Wissens zu verstehen.57 Die verschiedenen Weisen des Wissens 56 „Das Wort der Versöhnung ist der daseyende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegentheile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seyenden Einzelnheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist.“ (GW 9, 361) 57 „Auf diese Weise ordnen sich nun die Gestalten, die bis hieher auftraten, anders, als in ihrer Reihe erschienen […]. In der betrachteten Reihe bildete sich jedes Moment, sich in sich vertiefend, zu einem Ganzen in seinem eigenthümlichen Princip aus; und das Erkennen war die Tiefe, oder der Geist, worin sie, die für sich kein Bestehen haben, ihre Substanz hatten. Diese Substanz ist aber nunmehr herausgetreten; sie ist die Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes, welche es dem einzelnen Princip nicht gestattet, sich zu isoliren und in sich selbst zum Ganzen zu machen, sondern diese Momente alle in sich versammelnd und zusammenhaltend, schreitet sie in diesem gesammten Reichthum ihres wirklichen Geistes fort, und alle seine besondern Momente nehmen und empfangen gemeinschaftlich die gleiche Bestimmtheit des Ganzen in sich. – Dieser seiner selbst gewisse Geist und seine Bewegung ist ihre wahrhaffte Wirklichkeit, und das an und für sichseyn, das jedem einzelnen zukommt.“ (GW 9, 366f.) Vgl. hierzu: Thomas Sören Hoffmann: „Die Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes“ – Funktion und Begriff der Religion in Hegels erstem Hauptwerk, in: Phänomen und Analyse. Grundbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts in Erinnerung an Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807), hg. v. Wolfram Hogrebe, Würzburg 2008, 62–82, bes. 66–71, 77–82.

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treten damit nicht nur additiv im Sinne eines linearen Prozesses auf, sondern mit dem wenngleich noch defizienten Wissen um die Totalität als letztem Bezugspunkt aller Formen des erscheinenden Wissens gelangt der Geist auf der Stufe der Religion zu einem Wissen von sich: Religion bezeichnet nach Hegel den sich selbst wissenden Geist. Vorausgreifend sei gesagt, dass es sich hierbei um eine defiziente Form handelt, insofern das Selbstbewusstsein nicht in jener vollständig reflexiven Weise erreicht wird, die das unterscheidende Merkmal der Philosophie ist. Erörtern wir zunächst den Sinn dieser formelhaften Bestimmung der Religion als Selbstbewusstsein des Geistes.58 Bisher wurde die Entwicklung zum Selbstbewusstsein des Geistes von der Seite des endlichen Geistes dargestellt: Indem am Ende des Gewissenskapitels der endliche Geist Verzicht auf seine Endlichkeit und Partikularität leistet und in der Anerkennung des Allgemeinen sich selbst allgemein vollzieht, wird in seinem Tun das Absolute selbst offenbar. Das heißt: Der Mensch wird als Verendlichung des Absoluten sichtbar. Der endliche Geist ist nichts vom absoluten Geist Verschiedenes, sondern ist das Absolute selbst im Menschen.59 Entfalten wir diesen für das Religionsverständnis Hegels elementaren Gedanken. Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins spiegelt den Entwicklungsprozess des Absoluten wider : Erreicht der endliche Geist ein wenngleich defizientes Wissen von sich, so weiß das Absolute sich selbst im Wissen des Menschen. Das selbst bewusste Wissen des Absoluten geschieht als das Bewusstsein des Menschen vom Absoluten. Gehen wir noch genauer auf die Funktion des endlichen Geistes in der Entwicklungsbewegung des Absoluten ein: Das menschliche Bewusstsein nimmt wesentlich eine Vermittlungsfunktion im Prozess des göttlichen Selbstbewusstseins ein: Das Selbstbewusstsein des Absoluten ist durch das Bewusstsein des 58 Vgl. zum Folgenden: Günther Pöltner : Die spekulative Deutung des Christentums bei Hegel, in: Theologie und Glaube 72, Münster 1982, 310–329, bes. 310–313. Bernhard Welte: Hegels Begriff der Religion, in: ders.: Auf der Spur des Ewigen. Philosophische Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Religion und der Theologie, Freiburg i. Br./Basel, Wien 1965. Walter Jaeschke: Religion als Selbstbewußtsein Gottes, in: Philosophie de la religion entre 8thique et ontologie. Bibliotheca dell’Archivo di Filosofia 64, Padua 1996, 229–240, bes. 231–234, 238–240. Ders.: „Selbstbewußtsein des Geistes“. Hegels Religionsphilosophie im geschichtlichen Kontext, in: Die Folgen des Hegelianismus. Philosophie, Religion und Politik im Abschied von der Moderne (= Philosophie an der Jahrtausendwende 1), hg. v. Peter Koslowski, München 1998, 117–135, bes. 122–131. Ders.: Das absolute Wissen, in: Hegels ,Phänomenologie des Geistes‘ heute (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 8), hg. v. Andreas Arndt/Ernst Müller, Berlin 2004, 194–214, hier : 205–210. 59 „Der sich selbst wissende Geist ist in der Religion unmittelbar sein eignes reines Selbstbewußtseyn. […] [D]ie Vollendung der Religion (besteht) darin, daß […] er [der Geist] sich als seiner selbstbewußter Geist wirklich und Gegenstand seines Bewußtseyns werde.“ (GW 9, 364f.)

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endlichen Geistes vermittelt. Ist die Entwicklung des Menschen die Entwicklung des absoluten Geistes – wohlgemerkt: von der Seite des menschlichen Bewusstseins betrachtet –, so kommt derjenigen des Absoluten der Vorrang zu, denn es ist das Absolute, das sich selbst unterscheidet und durch die Entwicklung des endlichen Geistes aus seiner Selbstunterscheidung zurückkehrt. Für Hegel realisiert das Christentum in vollkommener Weise dasjenige, was die Religion ihrem Wesen nach ausmacht: nämlich Wissen des Absoluten durch die Vermittlung des endlichen Geistes. In der Menschwerdung des göttlichen Wesens als den entscheidenden Inhalt des Christentums60 wird die Nichtigkeit des abstrakten Gegensatzes von Endlichem und Unendlichem für das christliche Bewusstsein offenbar und die Versöhnung von Gott und Mensch, welche es bereits in der Anerkennung am Ende des Geistkapitels vollzieht, anschaulich. Im Folgenden gilt es unter anderem die Defizienz der mentalen Präsenz der bereits vollzogenen Versöhnung herauszuarbeiten. Zuvor soll jedoch noch die Aufgabe der letzten Passagen des Kapitels Offenbare Religion, deren Gedankengang im Folgenden dargestellt wird, bestimmt werden. Letztere besteht in der Darstellung der Explikation des Inhalts der offenbaren Religion seitens des religiösen Bewusstseins. Indem es die in der Menschwerdung des Absoluten und dem Tode des Gottmenschen vollzogene Versöhnung von endlichen und absoluten Geist im Ausgang vom Absoluten selbst aufarbeitet, begreift es schrittweise in vorstellender Art das Wesen des Absoluten. Dieser reflexive Nachvollzug ist einerseits ein Wissen über sich selbst, insofern das religiöse Bewusstsein das Absolute in seiner Andersheit ist. Andererseits begreift sich das Absolute vermittelt durch den Menschen selbst als absoluter Geist, welcher in seinem wirklichen Anderssein bei sich selbst ist. 3.4.2 Die Explikation des christlichen Inhalts61 Die Menschwerdung des göttlichen Wesens ist der entscheidende Inhalt der christlichen Religion: Das Absolute wird seitens des religiösen Bewusstseins als einzelnes, unmittelbares Selbstbewusstsein gewusst. Unmittelbar ist dieses 60 „Diese Menschwerdung des göttlichen Wesens, oder daß es wesentlich und unmittelbar die Gestalt des Selbstbewußtseyns hat, ist der einfache Inhalt der absoluten Religion.“ (GW 9, 405; Hervorhebung, A.S.) 61 Vgl. zum Folgenden: Falk Wagner : Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff. Zur Rekonstruktion des religionsphilosophischen Grundproblems der Hegelschen Philosophie, in: ders.: Religion in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Jörg Dierken/Christian Polke, Tübingen 2014, 228–258, bes. 232–243. Ders.: Philosophisch begriffene christliche Religion zwischen Voll-Endung und Umformung, in: ders.: Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 75–119, bes. 93–116. Walter Jaeschke: Hegels Religionsphilosophie als Explikation der Idee des Christentums, in: Philosophisches Jahrbuch 95, Freiburg i. Br./München 1988, 278–293.

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Selbstbewusstsein insofern zu nennen, als das Absolute in die Gestalt eines sinnlich erfahrbaren, konkreten Menschen sich entäußert. Der Manifestation des Absoluten in unmittelbarer sinnlicher Gestalt korrespondiert die Bewusstseinsform der Jünger als sinnlich gebundenes Wissen, das sich das Mensch gewordene göttliche Wesen unmittelbar vergegenwärtigt.62 Begründete das religiöse Bewusstsein seinen Glauben an die Menschwerdung des Absoluten zunächst durch das sinnliche Faktum, dass das göttliche Wesen als singuläres Selbstbewusstsein präsent ist, so verliert es mit dem Tode des sinnlich einzelnen göttlichen Menschen seine unmittelbare – sich auf die unmittelbar sinnliche Gegenwart des Gottmenschen bezogene – Begründung.63 Der Verlust seiner auf einem bloßen Faktum beruhende Begründung stellt das religiöse Bewusstsein vor die Notwendigkeit, seinen Glauben explizierend zu begründen, indem es die Menschwerdung des göttlichen Wesens aus der Eigenlogik des Absoluten, oder anders formuliert: aus seiner Eigenverfasstheit begreifen muss: Die Entäußerung des Absoluten in ein singuläres Selbstbewusstsein muss als ein wesenskonstitutiver Zug des Absoluten selbst expliziert werden. Bevor auf die in Form einer prozessualen Explikation sich vollziehende Begründung des Inhalts des christlichen Glaubens näher eingegangen werden soll, muss zunächst die Form der Explikation näher beschrieben werden: Mit dem Tode des sinnlich einzelnen göttlichen Menschen wird dessen Menschwerdung nicht mehr sinnlich angeschaut, sondern in Form der Erinnerung seitens der Gemeinde geistig vergegenwärtigt. Die Erinnerung als eine Form der Vergeistigung des Sinnlichen ist – mit Falk Wagner gesprochen – als „reproduzierendes Produzieren“64 zu verstehen:65 1. Im Vollzug des Erinnerns orientiert sich die Gemeinde einerseits zwar an der vergangenen historischen Gestalt und ihren Taten, andererseits gelingt der 62 „Diß daß der absolute Geist sich die Gestalt des Selbstbewußtseyns an sich und damit auch für sein Bewußtseyn gegeben, erscheint nun so, daß es der Glauben der Welt ist, daß der Geist als ein Selbstbewußtseyn, d. h. als ein wirklicher Mensch da ist, daß er für die unmittelbare Gewißheit ist, daß das glaubende Bewußtseyn diese Göttlichkeit sieht und fühlt und hört.“ (GW 9, 404) 63 „Was dieser sich offenbarende Geist an und für sich ist, wird daher nicht dadurch herausgebracht, daß sein reiches Leben in der Gemeine gleichsam aufgedreht und auf seinen ersten Faden zurückgeführt wird, etwa auf die Vorstellungen der ersten unvollkommnen Gemeine, oder gar auf das, was der wirkliche Mensch gesprochen hat. Dieser Zurückführung liegt der Instinct zu Grunde, auf den Begriff zu gehen; aber sie verwechselt den Ursprung als das unmittelbare Daseyn der ersten Erscheinung mit der Einfachheit des Begriffes.“ (GW 9, 408f.) 64 F. Wagner : Die Aufhebung der religiösen Vorstellung, 235. 65 Die erinnernde Vorstellung der Gemeinde vollzieht sich nach Hegel als „die synthetische Verbindung der sinnlichen Unmittelbarkeit, und ihrer Allgemeinheit oder des Denkens“ (GW 9, 408). „In dem Verschwinden des unmittelbaren Daseyns des als absoluten Wesens gewußten erhält das Unmittelbare sein negatives Moment; der Geist bleibt unmittelbares Selbst der Wirklichkeit, aber als das allgemeine Selbstbewußtseyn der Gemeine.“ (GW 9, 408)

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reproduktive Bezug auf die vergangenen Ereignisse nur dann, wenn das vorstellende religiöse Bewusstsein sie selbstständig vergegenwärtigt: Die Erinnerung ist daher nicht als eine bloße Abbildung des Geschehenen zu verstehen. Sie stellt nicht bloß vergangene Ereignisse und Fakten, sondern die vergangenen Geschehnisse als erinnerte und vergegenwärtigte vor. 2. Die Erinnerung, so kann der Gedanke weiter entfaltet werden, verfährt notwendig selektiv: Sie greift nicht nur einzelne Ereignisse als für sie besondere heraus, sondern sie bereichert dieselben zugleich. Die durch das Erinnern des Lebens des Gottmenschen nun entstehende Geschichte ist kein Aggregat bloß objektiver Fakten, sondern eine seitens der Gemeinde vollzogene, durch ihr Interesse geprägte Interpretation der Geschehnisse und gleichzeitig insofern eine Konstruktion, als die Ereignisse seitens der Gemeinde in einen konstruierten einheitlichen Zusammenhang eingefügt und aus diesem heraus verstanden werden. 3. Schließlich ist noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam zu machen: Die erinnernde Aneignung des Inhalts erfolgt prozesshaft, insofern der erinnerte Inhalt der christlichen Religion schrittweise, abhängig von der Entwicklungsstufe des geschichtlich verfassten Subjekts, erfolgt. Ist das Bewusstsein – worauf bereits mehrmals hingewiesen wurde – materialiter durch sein konkretes Weltverhältnis bestimmt, so ist es eingebettet in einen sprachlich vermittelten sozialen und kulturellen Kontext, der als konstitutiver Horizont des Selbstverständnisses des christlichen Glaubens dient. Die nun näher zu beschreibende Explikation der Menschwerdung des Absoluten aus der Eigenlogik des Absoluten weist drei Entwicklungsstufen auf: Das religiöse Bewusstsein expliziert den Inhalt in Form des reinen Denkens, der Vorstellung (im engeren Sinn) und des vorstellenden wie selbsttätigen Selbstbewusstseins seiner selbst. Erst auf der dritten Stufe ist sich die Gemeinde des christlichen Inhalts, den sie sich erinnernd in Form der Vorstellung vergegenwärtigt, bewusst. 3.4.2.1 Die Explikation des Inhalts der christlichen Religion in Form des reinen Denkens Die begründende Explikation beginnt mit der Klärung der Frage, wie eine solche Entäußerung des Absoluten zu denken ist, welches Absolute nur dann absolut ist, wenn es kein abstraktes Außerhalb seiner selbst kennt: Die Entäußerung muss vielmehr als Entäußerung des Absoluten begriffen werden. Die Aufgabe der vorstellenden Gemeinde besteht also darin, das Absolute als ein in sich differenziertes Selbstsein zu denken, um damit einem Rückfall auf die Vorstellung einer bloßen Substanz Gottes zu entgehen: Das Selbstsein des Absoluten muss eine Binnendifferenzierung in Form einer Selbstbeziehung aufweisen.

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Das in sich differenzierte Selbstsein des Absoluten wird seitens der vorstellenden religiösen Gemeinde in Gestalt des reines Denkens gefasst:66 Denken impliziert einen Unterschied zwischen Vollzug und Gegenstand des Denkens. Ist das Absolute reines Denken, so ist der Gegenstand des Denkens das Absolute selbst: Im Vollzug der Selbsterkenntnis unterscheidet es sich von sich selbst und wird sich Gegenstand: Das Absolute denkt sich und erfasst sich als Objekt. Der Gedanke des Denkens ist kein Außerhalb desselben, sondern vielmehr das Andere seiner selbst. Das Absolute ist nur von sich unterschieden und sich nur ein Anderer, insofern es sich denkt; damit ist es aber zugleich mit sich identisch. 3.4.2.2 Die Explikation des Inhalts der christlichen Religion in Form des Vorstellens Die vorstellende Gemeinde kann bei diesem ersten Entwicklungsschritt der Entfaltung des Inhalts der christlichen Religion nicht stehen bleiben, denn es wurde zunächst eine bloße Selbstdifferenzierung des göttlichen Selbstseins gedacht. Der in ihr gesetzte Unterschied hat noch die Form der Un-unterschiedenheit: Gott ist nur, insofern er sich denkt, anders. Die wesenhafte Identität des Andersseins und des göttlichen Selbstseins erweist sich aber erst dann, wenn das Anderssein des Geistes als ein wirkliches selbstständiges Anderssein vorgestellt wird. Das wirkliche Anderssein des Geistes stellt nicht schon die raumzeitlich verfasste Welt, welche als eigenständige Schöpfung dem Schöpfergott gegenübergestellt vorgestellt wird, dar. Die Verselbständigung des wirklichen Andersseins des Geistes wird vielmehr in einem selbständigen geistigen Wesen erblickt: dem Menschen. Die Selbständigkeit des Anderen des Geistes kündigt sich zwar bereits in dessen potentieller Anlage zur Entwicklung eines eigenständigen Selbstbewusstseins an, sie wird aber erst wirklich, indem der Mensch sich selbst bewusst wird und sich als geistiges Wesen erkennt.67 Wird die anfängliche Übereinstimmung des menschlichen Geistes mit dem göttlichen Geist als gut qualifiziert, so erscheint die menschliche Selbsterkenntnis als ein Bruch mit Gott und wird als böse angesehen. Aus der Perspektive der Entwicklung Gottes zum absoluten Geist ist jedoch die Entfaltung des menschlichen Geistes 66 „Der Geist zuerst als Substanz im Elemente des reinen Denkens vorgestellt, ist er hiemit unmittelbar das einfache sich selbstgleiche, ewige Wesen.“ (GW 9, 409f.) 67 Das folgende Zitat fasst die Entäußerung des Absoluten in Form der Welt und des Menschen nochmals prägnant zusammen: „Der also nur ewige und abstracte Geist wird sich ein Anders oder tritt in das Daseyn und unmittelbar in das unmittelbare Daseyn. Er erschafft also eine Welt. […] Die Welt ist aber nicht nur dieser auseinander in die Vollständigkeit und deren äussere Ordnung geworfene Geist, sondern da er wesentlich das einfache Selbst ist, ist dieses an ihr ebenso vorhanden; der daseyende Geist, der das einzelne Selbst ist, welches das Bewußtseyn hat, und sich als Andres oder als Welt von sich unterscheidet.“ (GW 9, 412)

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zu einem eigenständigen, in sich reflektierten Selbstbewusstsein wesensnotwendig, insofern der Mensch erst im Zuge dieser Entwicklung zu einem vom göttlichen Wesen wirklich unterschiedenen Anderssein wird. Der Gegensatz zwischen dem göttlichen Wesen und dem menschlichen Geist kann nun verschieden interpretiert werden, je nachdem, ob man diesen Antagonismus aus der Perspektive Gottes oder des Menschen betrachtet. Beide behaupten ihre Selbständigkeit, die die Depotenzierung der jeweils anderen Seite miteinschließt: In göttlicher Perspektive gilt es, die faktische Selbständigkeit des Menschen aufzuheben, dagegen erscheint aus der menschlichen Perspektive das göttliche Wesen lediglich als unwesentlich und abhängig vom menschlichen Geist. Dieser doppelte Gegensatz kann nicht nur von einer Seite aufgelöst und versöhnt werden, sondern muss von beiden ausgetragen und aufgehoben werden, wenngleich die Selbstüberschreitung dieses Gegensatzes zunächst vom göttlichen Wesen ausgehen muss, da die Gegensätzlichkeit auf seine realisierte Selbstdifferenzierung zurückgeht. Gleichzeitig ist die besagte Selbstüberschreitung für das Absolute wesensnotwendig, insofern seine Selbständigkeit in Anbetracht eines ebenso selbständigen menschlichen Wesens depotenziert wird. Die Überschreitung des Gegensatzes vonseiten des göttlichen Wesens besteht in der Entäußerung seiner abstrakt-absoluten Selbständigkeit. In der Entäußerung Gottes als selbständiges menschliches Anderssein anerkennt das göttliche Wesen nicht nur den Gegensatz zwischen sich und dem Selbständigsein des Menschen, sondern überschreitet denselben vielmehr, wobei die Überwindung des Gegensatzes als eine Egalisierung von Gott und Mensch verstanden wird. Diese Gleichwertigkeit von Gott und Mensch impliziert jedoch den definitiven Verlust der göttlichen substantiellen Selbständigkeit, welcher im Tod des Mensch gewordenen Gottes besiegelt wird.68 Der anfängliche Gegensatz zwischen göttlichem und menschlichem Selbstsein ist seitens des göttlichen Wesens mit der Aufhebung seines substantiellen Selbständigseins nur einseitig aufgelöst. Es bedürfe, so Hegel, nun der Überschreitung des Antagonismus seitens des menschlichen Geistes. 3.4.2.3 Die Explikation des Inhalts der christlichen Religion in Form des vorstellenden und selbsttätigen Selbstbewusstseins der Gemeinde Das vorstellende religiöse Bewusstsein, das zunächst in Form des reinen Denkens die Selbstdifferenzierung des Absoluten erfasste, sodann das wirkliche Anderssein Gottes als Welt und menschlicher Geist sich im engeren Sinne vorstellte, tritt auf der dritten Entwicklungsstufe als vorstellendes und gleichsam selbst68 „Der Tod dieser Vorstellung [vom Gottmenchen seitens der Gemeinde] enthält also zugleich den Tod der Abstraction des göttlichen Wesens, das nicht als Selbst gesetzt ist.“ (GW 9, 419)

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tätiges Selbstbewusstsein der Gemeinde auf. Zunächst ist zu klären, worin das selbsttätige Moment der uns auf dieser Stufe begegnenden Vorstellungsweise der Gemeinde besteht. Hegel weist darauf hin, dass die Versöhnung zwischen Gott und Mensch zunächst durch das Absolute selbst ermöglicht werden muss und nicht vonseiten des menschlichen Geistes initiiert werden kann. Die seitens des menschlichen Geistes zu vollziehende Aufhebung des Gegensatzes zwischen Gott und Mensch muss notwendigerweise an dem Resultat der Entäußerung des Mensch gewordenen und gestorbenen göttlichen Wesens anknüpfen und es aneignen. Die Pointe des Hegel’schen Gedankenganges besteht nun darin, dass das religiöse Bewusstsein die durch Gott ermöglichte Versöhnung zwischen Gott und Mensch als Ausdruck seines eigenen Versöhntseins mit Gott anerkennt; es bezieht damit die mit der Entäußerung des göttlichen Wesens vollzogene Anerkennung des menschlichen Geistes nicht auf ein ihm gegenüberstehendes Mensch gewordenes göttliches Wesen, insofern sie im Gottmenschen die Vereinigung von Gott und Mensch bloß ansieht, es bezieht vielmehr die im Akt der Entäußerung des Absoluten vollzogene Egalisierung auf sich, indem es sich durch diese Tat versöhnt weiß. Mit diesem Akt der Anerkennung überschreitet es zugleich seine eigene unmittelbare, Gott entgegengesetzte in sich reflektierte Selbständigkeit. Wie versteht nun das religiöse Bewusstsein seine eigene Versöhnung? Auf der Entwicklungsstufe der offenbaren Religion, so Hegel, führe das Bewusstsein der Gemeinde seine Versöhnung, welche es bereits in der versöhnenden Anerkennung von moralischem Gewissen und sittlich gewachsenem Pflichtbewusstsein vollzieht, auf die Versöhnungstat eines Mensch gewordenen Gottes zurück. Selbst auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe unterliegt die Religion immer noch jenem Bewusstseinsantagonismus zwischen dem absoluten Gehalt der versöhnenden Anerkennung und ihrer vorstellungshaften mentalen Präsenz: Selbst die offenbare Religion ist durch das Missverhältnis zwischen der im Handeln bekundeten substantiellen Identität von menschlichem und absolutem Geist einerseits, welche andererseits selbst nicht vollends vollzogen wird, geprägt. Oder nochmals anders ausgedrückt: Die Gemeinde erfasst sich nicht als jene Instanz, die den Inhalt der christlichen Religion – die Menschwerdung Gottes – erinnernd und das heißt reproduzierend produziert vergegenwärtigt. Sie wird sich ihrer Produktion als Produktion nicht bewusst.69 Vielmehr findet sie sich in einem bloß äußerlichen Verhältnis zu ihrem produzierten Inhalt wieder.70 69 „Sie hat nicht auch das Bewußtseyn über das, was sie ist; sie ist das geistige Selbstbewußtseyn, das sich nicht als dieses Gegenstand ist, oder sich nicht zum Bewußtseyn seiner selbst aufschließt; sondern insofern sie Bewußtseyn ist, hat sie Vorstellungen, die betrachtet wurden.“ (GW 9, 420) 70 In ihrer Verhaftung an die Form des vorstellenden religiösen Bewusstseins versteht die Gemeinde die Ermöglichungsbedingung einer Versöhnung zwischen Gott und Mensch in

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4.

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Resultat der spekulativen Deutung des Christentums und Ausblick

Fassen wir das Resultat der dialektischen Entwicklung des religiösen Bewusstseins hinsichtlich seines Ungenügens gegenüber dem philosophischen Begriff abschließend zusammen: Die durch die Entäußerung des Absoluten ermöglichte Egalisierung des menschlichen und absoluten Geistes weiß das religiöse Bewusstseins als einen vorgestellten und nicht einen von ihm produzierten Inhalt. Wird dem christlichen Bewusstsein in der Menschwerdung des Absoluten und im Tode des Gottmenschen die Wahrheit über sein Wesen als Manifestation des Absoluten gewiss, so jedoch nur in Form der sinnlichen Anschauung. Ist die Form des religiösen Bewusstseins durch die Differenz von Vorstellung und Vorgestelltem charakterisiert, so entspricht diese Form des Wissens nicht dem Gegenstand des Wissens, der gerade die Aufhebung von Subjekt und Objekt, von Gott und Mensch bzw. von singulärem und allgemeinem Selbstbewusstsein thematisiert.71 Die Explikation dieses Inhalts ist demselben nicht adäquat und drängt angesichts einer solchen Inadäquanz notwendig zu einer Aufhebung des religiösen Bewusstseins in den philosophischen Begriff: Erst im philosophischen Begreifen und der daraus folgenden Realisierung wird die in der offenbaren Religion noch vorgestellte substantielle Identität von menschlichem und absolutem Geist im wechselseitigen Anerkennen des einzelnen Gewissens und des allgemeinen Selbstbewusstseins vollzogen und damit der Standpunkt der philosophischen Wissenschaft erreicht.72 Das heißt schließlich in Bezug auf das Absolute gesprochen: Erst auf der Stufe der Philosophie weiß das Absolute, vermittelt durch den endlichen Geist, sich selbst und hat sich als absoluter Geist, der im wirklichen Anderen seiner selbst bei sich selbst ist, als Absolutes gezeigt.

Gestalt des Todes des Gottmenschen als ein Geschehen in der Vergangenheit. Damit steht die eigene Versöhnung zwischen Mensch und Gott noch aus und wird ferner als ein Geschehen in der Zukunft vorgestellt. Durch das Ausbleiben der wirklichen Versöhnung versteht sich das menschliche Bewusstsein als entzweit, welcher Entzweiung die Trennung in eine religiöse und in eine weltlich soziale Sphäre entspricht: Die durch die göttliche Tat ermöglichte Versöhnung des Menschen mit Gott ist als Ereignis in der Vergangenheit schon geschehen und wird in der religiösen Sphäre tradiert. Der Selbst- und Weltumgang des Einzelnen ist jedoch durch den Konflikt zwischen Einzelnem und Allgemeinem geprägt, der erst im Jenseits aufgelöst werden wird. 71 „Der Geist der Gemeinde ist so in seinem unmittelbaren Bewußtseyn getrennt von seinem religiösen, das zwar es ausspricht, daß sie ansich nicht getrennt seyen, aber ein Ansich, das nicht realisirt, oder noch nicht ebenso absolutes Fürsichseyn geworden.“ (GW 9, 421) 72 Auf die komplexe Problematik, ob im Zuge dieser Aufhebung der Form des religiösen Bewusstseins auch der Inhalt der christlichen Religion einer Änderung unterzogen wird, kann hier nicht eingegangen werden. Siehe hierzu die Problemanzeige bei: F. Wagner : Die Aufhebung der religiösen Vorstellung, 228–231, 240f.

Andreas Arndt

Freiheit in Religion und Philosophie. Heine und Hegel

1. „Schon hier auf Erden möchte ich, durch die Segnungen freyer und industrieller Instituzionen jene Seligkeit etabliren, die, nach der Meinung der Frommen, erst am jüngsten Tage, im Himmel, statt finden soll.“1 Heines Worte aus dem ersten Buch seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) scheinen eine Absage an das Christentum darzustellen, die bereits auf die Religionsauffassung und Religionskritik der Junghegelianer vorausdeutet. Die „Seligkeit“, von der Heine spricht, ist die Versöhnung einer zerrissenen Weltsicht, welche nach seiner Auffassung der Idee des Christentums zugrunde liegt: Himmel und Hölle, Christus und Satan, Geist und Leib, Jenseits und Welt. Aus der Überwindung dieser Trennungen werde, so Heine (wohl unter Anspielung auf Saint-Simons Neues Christentum von 1825), eine „Religion der Freude“2 emporblühen, welche das Reich Gottes auf Erden realisiere. Das Christentum entstehe aus dem Bedürfnis der „leidende[n] Menschheit“, die darin „durch sich selbst“ Trost findet; entsprechend sei das „endliche Schicksal des Christenthums […] davon abhängig, ob wir dessen noch bedürfen“.3 Dass die Menschen in der Religion durch sich selbst Trost finden, hatte Marx unter Rückgriff auf Feuerbach zehn Jahre nach Heine, 1844, so formuliert: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“4 Christus, der leidende, menschgewordene Gott, dessen Blut nach Heine symbolisch als der „lindernde Balsam“ 1 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf, Hamburg 1973ff., Bd. 8/1, 17. Im Folgenden zitiert als HDA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 2 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 17. 3 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 18. 4 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: ders./Friedrich Engels: Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1956ff., Bd. 1, 378.

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aufzufassen sei, der „in die Wunden der Menschheit herabrann“,5 dieser leidende Gott-Mensch Christus ist dann auch für Feuerbach im Wesen des Christentums (1841) die Projektion des mit–leidenden menschlichen Herzens auf Gott, eine „Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst.“6 Heinrich Heine, so scheint es, steht denjenigen Autoren näher, die nach dem Tod Hegels (1831) den „Bruch“7 mit der Klassischen Deutschen Philosophie inszenierten, als seinem philosophischen Lehrer Hegel, dessen Vorlesungen er von 1821 bis zum Wintersemester 1822/23 hörte, darunter über Logik, Religionsphilosophie, Philosophie der Weltgeschichte und Philosophie des Rechts.8 Ich spreche bewusst von einem inszenierten Bruch, denn tatsächlich fand eher ein Abbruch der Auseinandersetzung mit der Vernunftepoche der Philosophie statt, weil die politisch-gesellschaftliche Realität des Biedermeier keiner Vernunft mehr zugänglich zu sein schien. Dabei geriet sehr schnell in Vergessenheit, was in den nachhegelschen, scheinbar hegelkritischen Positionen von Hegel stammte. Die eingangs zitierte und referierte Position Heines in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland jedenfalls lässt sich zwar auch mit Feuerbach und Marx in Verbindung bringen, aber nur deshalb, weil Heine, Feuerbach und Marx selbst noch in der Tradition einer Hegelschen Konzeption stehen, um die es hier gehen soll: seiner Konzeption einer Freiheitsgeschichte. Durch Heines Text, davon kann man sich leicht überzeugen, schimmern die Schlussparagraphen der Hegelschen Grundlinien der Philosophie des Rechts hervor, in denen er die Weltgeschichte umreißt. Die moderne, christlich geprägte Welt, die er dort skizziert, ist, wie bei Heine, eine Welt des absoluten Gegensatzes des Geistigen und Irdischen. In dem „harten Kampfe dieser Unterschiede“, verschwinde dieser Gegensatz schließlich, indem, so Hegel wörtlich, „das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradirt, – das Weltliche dagegen sein abstractes Fürsichseyn zum Gedanken und dem Principe vernünftigen Seyns und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet“.9

5 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 18. 6 Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Stuttgart 2008, 120 (Teil 1, Kap. 6: Das Geheimnis des leidenden Gottes). 7 Vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts (1941), Hamburg 1995 [21950]. 8 Vgl. Gerhard Höhn: Heine-Handbuch, Stuttgart 1987, 293. 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften (bzw. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste), Hamburg 1968ff., Bd. 14/1, 281, § 360. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.

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Es handelt sich hierbei, wohlgemerkt, nicht um eine der Erläuterungen, die Hegels Schüler seinem Text posthum hinzugefügt haben, sondern um Hegels eigene Worte, wie er sie selbst in den Druck gegeben hat. Der vernünftige Staat – nach Hegel der „Gang Gottes in der Welt“10 – ist die Realisierung des als ein Jenseits vorgestellten Himmels im irdischen Diesseits und damit die Versöhnung des in sich zerrissenen Bewusstseins der Moderne. Geschichte als Weltgeschichte ist für Hegel überhaupt „der Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit“,11 und in diesem Fortschritt spielt das Christentum eine besondere Rolle, weil es das Prinzip der Freiheit enthält und überhaupt als Religion der Freiheit zu verstehen ist. Das vollständige Bewusstsein dieser Freiheit aber wird in der Philosophie ausgearbeitet, die Hegel in seiner Zeit als Reflexion des politischen Freiheitsprinzips der Französischen Revolution versteht. Die Realisierung der Freiheit im vernünftigen Rechtsstaat wäre dann folgerichtig der Schritt, der dem entwickelten Freiheitsbewusstsein zu folgen hat; Hegel geht ihn bewusst nicht, denn dies sei „nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie“, wie es in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion heißt.12 Warum, wird noch zu erörtern sein. Hier kommt es mir vorerst nur darauf an, dass Heinrich Heine in seiner Geschichte der Religion und Philosophie diesem Hegel’schen Konzept der Freiheitsgeschichte folgt. „Die Religion“, so heißt es zu Beginn, „deren wir uns in Deutschland erfreuen, ist das Christenthum. Ich werde also zu erzählen haben: was das Christenthum ist, wie es römischer Katholizismus geworden, wie aus diesem der Protestantismus und aus dem Protestantismus die deutsche Philosophie hervorging“,13 eine Philosophie, aus der dann, so Heine, eine politische Revolution hervorgehen wird. Ich werde also im Folgenden das zu erzählen haben, was auch Heinrich Heine zu erzählen hat; aber ich muss es zweimal erzählen: einmal in Bezug auf Hegel, dann in Bezug auf Heine. Die Frage, wie es nach der Philosophie weitergeht, klammere ich dabei zunächst aus; ihr ist der Schluss meiner Ausführungen gewidmet.

10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1981, 284, § 258, Zusatz; vgl. ders.: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Nachschrift Griesheim 1824/25), GW 26/3, 1406. 11 G.W.F. Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31, GW 18, 153. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Nebst einer Schrift über die Beweise vom Daseyn Gottes. Zweiter Theil, hg. v. Philipp Marheineke, Berlin 2 1840, 356. 13 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 14.

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2. Bevor ich auf die (Gretchen-)Frage komme, wie Hegel es denn nun mit der Religion und speziell der christlichen hält, muss ich ein paar Worte zu dem theoretischen Rahmen sagen, in dem bei Hegel diese Frage zu verorten und zu verhandeln ist. Zunächst: Religion und Philosophie sind für Hegel Gestalten des absoluten Geistes, wie auch die Kunst. Was also ist Geist? Und was ist absoluter Geist? Sodann: was eigentlich ist Geschichte für Hegel? Geist ist, entgegen manchen englischen Übersetzungen, nicht spirit, lat. spiritus, hat also mit Spiritualismus (dem klassischen Gegensatz zum Materialismus) nichts zu tun, sondern Geist ist Hegels Verdeutschung für das lat. mens, also Bewusstsein (im weitesten Sinne). Für Hegel ist Bewusstsein qua Geist eine Seinsweise, ein Dasein also, das konstitutiv auf ein anderes Dasein bezogen ist, sei es Natur oder selbst Geist. Geist ist Dasein der Idee wie auch Natur Dasein der Idee ist,14 und Geist ist Geist nur als aus der Natur herkommend15 und die Natur als selbständig voraussetzend.16 Die Idee hat keine selbständige Existenz gegenüber Natur und Geist, sondern sie existiert nur in Natur und Geist als ihren Daseinsweisen.17 Sie beruht auf der Möglichkeit des Geistes, „von allem Aeußerlichen und seiner eigenen Aeußerlichkeit, seinem Dasein selbst [zu] abstrahiren“.18 Diese Abstraktion macht den Geist absolut, denn durch sie bezieht er sich ausschließlich auf sich selbst; absoluter Geist ist Selbstverständigung des (menschlichen) Geistes über sich. Dieser Selbstverständigungsprozess erfolgt geschichtlich in Kunst, Religion und Philosophie, die – jeweils auf eigene Weise – den Geist als Geist zu bestimmen versuchen. Diese drei Gestalten des absoluten Geistes unterscheiden sich durch die Medien der geistigen Selbstverständigung: in der Kunst die Sinnlichkeit, in der Religion die Vorstellung und in der Philosophie der Begriff. Der Philosophie kommt es dabei zu, die Vernunftgehalte der Kunst und Religion, die beide noch der Sinnlichkeit verhaftet sind, in dem der Vernunft adäquaten Medium des Begriffs zu erfassen. Die Philosophie spricht die Wahrheit der Kunst und der Religion jenseits der sinnlichen Anschauungen und der Vorstellungen aus. Der Geist ist geschichtlich, denn nur in der Geschichte kommt er zu sich. Kunst, Religion und Philosophie sind Teilgeschichten des absoluten Geistes, die in die allgemeine Geschichte des Geistes, die Weltgeschichte, eingebettet sind. Sie 14 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 236. 15 Vgl. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), GW 20, 381f., § 381. 16 Vgl. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), GW 20, 382, § 383. 17 Vgl. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band (1816), GW 12, 236. 18 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), GW 20, 382, § 382.

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sind damit insgesamt Teilgeschichten des allgemeinen Geistes, nämlich des Weltgeistes. Dieser ist die Gesamtheit aller geistigen Verhältnisse zur Natur und des Geistigen zu sich; man könnte ihn auch im weitesten Sinne als Kultur beschreiben, die dort beginnt, wo der Mensch aus der unmittelbaren Naturabhängigkeit heraustritt. Nach Hegel geschieht dies in der Arbeit; die erste Form der Vernünftigkeit ist für ihn daher auch nicht ein geistiges Vermögen, sondern das Werkzeug.19 Geschichte insgesamt ist für Hegel Arbeit des Geistes beziehungsweise des Weltgeistes, wie es bereits in der Phänomenologie des Geistes gültig formuliert wird. Der Weltgeist unternehme die „ungeheure Arbeit der Weltgeschichte“, um „das Bewußtseyn über sich“ zu erreichen,20 jedoch komme er zu diesem Selbstbewusstsein erst dadurch, dass die menschlichen Individuen sich das bereits erworbene Eigentum des allgemeinen Geistes aneigneten. Anders gesagt: der Weltgeist ist keine Entität, die über ein eigenes, von dem der Menschen unterschiedenes Bewusstsein verfügen würde, sondern er kommt zum Bewusstsein seiner selbst nur dadurch, dass die endlichen gesellschaftlichen Individuen als die realen Träger und Agenten des Weltgeistes sich über den weltgeschichtlichen Prozess verständigen. In diesem Prozess ist das jeweilige Selbstbewusstsein des Geistes Ausdruck und zugleich auch praktisches Moment der Gestaltung der jeweiligen Welt und in diesem Sinne ist die Entwicklung des Geistes nicht nur die Entwicklung des Selbstbewusstseins bis hin zum philosophischen Begriff, sondern zugleich ein Prozess des Weltlichwerdens geistiger Prinzipien überhaupt, wie sie auf verschiedenen Stufen des Selbstbewusstseins entwickelt werden. Diese Prinzipien beziehen sich im Grunde nur auf Eins, auf die Freiheit, denn der Geist selbst ist nichts anderes: „Das Wesen des Geistes ist […] formell die Freiheit, die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich.“21 Im Ergebnis dieses Prozesses, der für Hegel mit der Weltgeschichte zusammenfällt, erfasst der Geist sich schließlich selbst als Freiheit: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit“.22 In dieser Freiheitsgeschichte kommt der christlichen Religion zentrale Bedeutung zu. In dem Manuskript der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1830/31 heißt es: „Erst die germanischen Nationen sind im Christenthum zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frey, die Freyheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; diß Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber diß Princip auch in das weltliche Wesen einzubilden, diß war eine 19 20 21 22

Vgl. G.W.F. Hegel: System der Sittlichkeit, GW 5, 291f. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 25f. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), GW 20, 382, § 382. G.W.F. Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31, GW 18, 153.

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weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere, lange Arbeit der Bildung erfodert. […] Diese Anwendung des Princips auf die Wirklichkeit, die Durchdringung, Durchbildung des weltlichen Zustands durch dasselbe ist der lange Verlauff, welcher die Geschichte selbst.“23

An dieser Stelle ist jetzt zu fragen, was für Hegel das christliche Prinzip ist und weshalb für ihn das Christentum Religion der Freiheit ist. Religion überhaupt ist für Hegel Bewusstsein Gottes. Das ist eine pointierte Aussage insofern, als Religion hier vom Inhalt her bestimmt wird, während Schleiermacher in seinen Reden über die Religion (1799) und später auch in seiner Glaubenslehre (1821/ 22) – deren Erscheinen die unmittelbare Veranlassung für Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion war24 – die Religion von der Subjektivität her bestimmt und in der Konsequenz unter der Form eines unmittelbaren Selbstbewusstseins aufgefasst hatte. Gott, als unendlich gedacht, kann aber für Hegel auch nicht als ein vom menschlichen Bewusstsein radikal unterschiedenes Objekt gedacht werden, denn dann wäre er selbst etwas Endliches gegenüber diesem Bewusstsein. Religion ist weder einseitig objektiv das Wissen eines Gegenstandes, das heißt Gottes, noch ist es nur subjektiv das Bewusstsein unserer Beziehung auf etwas, was wir Gott nennen. Religiöses Bewusstsein ist für Hegel beides: ebenso subjektiv wie objektiv. So ist die Religion „ebensosehr als vom Subjecte ausgehend und in demselben sich befindend als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist.“25 Gott, so lautet dann die immer wiederkehrende Formel, ist Geist, aber als Geist für den Geist in seiner Gemeinde. In der Einleitung zur Religionsphilosophie-Vorlesung von 1827 heißt es hierzu: „Gott ist Geist nur, insofern er in seiner Gemeinde ist.“26 Das heißt: Gott ist Geist, er ist Geist aber nur für den Geist in seiner Gemeinde, das heißt: Gott ist nur im geistigen Verhältnis der Gemeinde – er ist selbst dasjenige Selbstverhältnis des Geistes, das der absolute Geist bezeichnet. Indem die Einseitigkeiten sowohl der objektivistischen Gottesauffassung als auch der rein subjektiven Religionsauffassung zurückgewiesen werden, ist das recht verstandene Christentum für Hegel ein Selbstverhältnis, in dem der Geist sich selbst objektiv wird und erfasst. Die Religion als Bewusstsein Gottes ist sich hier selbst Gegenstand, und zwar im doppelten Sinne des Genitivs als genitivus subjectivus und genitivus objectivus: Das Bewusstsein ist Bewusstsein von Gott als Gegenstand, aber zugleich das Bewusstsein Gottes von sich; beides ist 23 G.W.F. Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31, GW 18, 153. 24 Vgl. Walter Jaeschke: Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers, in: Internationaler Schleiermacher-Kongress 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1985, 1157–1169. 25 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), GW 20, 542, § 554. 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Einleitung. Der Begriff der Religion, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983, 73f.

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identisch und untrennbar voneinander, das heißt das Bewusstsein von Gott als Gegenstand, welches unser Bewusstsein ist, ist zugleich das Selbstbewusstsein Gottes – und Gott ist nichts anderes als dieses geistige Selbstverhältnis „in seiner Gemeinde“, das heißt im Selbstverhältnis des menschlichen Geistes, der sich selbst zum Gegenstand hat. Hier ist jede Transzendenz im Sinne eines Jenseitigen eingezogen, was christologisch darin begründet ist, das Gott in Christus Mensch geworden ist. Ostern und Pfingsten – die nach einem Wort Michael Theunissens bei Hegel kontaminiert werden27 – bezeugen dann, dass dies nicht an der sinnlichen Gegenwart Christi hängt, sondern allgemein gilt für das Verhältnis des Geistigen, das seinen christlichen Ausgang bei der Ausgießung des Geistes in die Gemeinde nimmt. Mit der Selbstbezüglichkeit der Religion als Bewusstsein Gottes hängt religionsphilosophisch die Charakteristik des Christentums als vollendete Religion und als Religion der Freiheit zusammen. Sie ist darum vollendet, weil die Religion – das Bewusstsein Gottes – sich hier selbst Gegenstand ist, während nach Hegel alle anderen Religionen in der einseitigen Objektivität Gottes befangen bleiben; die Religiosität als Subjektivität, wie sie vor allem Schleiermacher vertritt, ist hingegen für Hegel ein Phänomen „unserer Zeit“,28 der entwickelten Moderne am Anfang des 19. Jahrhunderts, deren Bedeutung darin besteht, den Objektivismus des Gottesbewusstseins, wenn auch einseitig, zu überwinden. Die Überwindung dieses Objektivismus bedeutet gleichzeitig aber auch, dass die Selbstbezüglichkeit des Geistes überhaupt – das heißt, nicht nur die des subjektiven, endlichen Geistes – das Wesen des Christentums ausmacht. Dies ist nichts anderes als die formale Struktur der Freiheit: „Freiheit ist, abstrakt [genommen], das Verhalten zu einem Gegenständlichen als nicht zu einem Fremden“;29 sie zielt daher auf die Überwindung jeder Entfremdung, in der Wirklichkeit, sofern sie real getilgt werden kann, und wo nicht, in dem versöhnenden Bewusstsein. „Die Versöhnung ist so die Freiheit, ist nicht ein Ruhendes, sondern Tätigkeit, die Bewegung, die Entfremdung schwinden zu machen.“30 Hierin liegt die Beziehung des christlichen Prinzips oder des Geistigen der Gemeinde zur Wirklichkeit überhaupt, einschließlich der Weltlichkeit: „das Reich Gottes, die Gemeinde hat so ein Verhältnis zum Weltlichen. […] Für diese Weltlichkeit sind die Prinzipien in jenem Geistigen vorhanden; das Prinzip, die Wahrheit für das Weltliche ist das Geistige.“31 Dieser Prozess bedeutet indessen auch eine „Um27 Michael Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, 282. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3. Die vollendete Religion, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1984, 101. 29 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3, 106. 30 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3, 107. 31 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3, 262.

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wandlung der Gemeinde“: Ihre Versöhnung mit der Welt erfolge schließlich so, dass sich der Widerspruch des Geistigen und Weltlichen „auflöst in Sittlichkeit, daß in das Weltliche selbst das Prinzip der Freiheit eingedrungen ist, und daß das Weltliche, indem es so dem Begriff, der Vernunft, der ewigen Wahrheit gemäß gebildet ist, die konkret gewordene Freiheit, der vernünftige Wille ist.“32 Diese als vernünftiger Wille konkret gewordene Freiheit muss aber auch als solche erfasst werden. Dies geschieht in der Philosophie, die das, was die vollendete, christliche Religion zum Prinzip hat und im Medium der Vorstellung ausspricht, auf den Begriff bringt. Als zentrale Vorstellung identifiziert Hegel die Trinität, den dreieinigen Gott, in dem der Unterschied gegeben, aber zugleich in ein Selbstverhältnis aufgehoben ist, wie es der formalen Struktur der Freiheit entspricht. Ihre philosophische Aufhebung erfährt diese Vorstellung – gleichsam ein dialektisches Bild – in dem sich als Begriff selbst erfassenden Begriff – der absoluten Idee als absolute Methode in der Wissenschaft der Logik. Aber auch dies ist ein langer Weg geschichtlich sich vollziehender Selbstverständigung der Moderne. Am Beginn dieses Weges steht die Reformation, durch die, so Hegel, der Lutheraner durch und durch war, die autoritären Strukturen der alten christlichen Kirche ins Wanken gebracht und das Freiheitsprinzip als Freiheit des Christenmenschen bewusst in den Mittelpunkt gestellt wurde. Die Reformation ist für Hegel – neben der Französischen Revolution – das weltgeschichtliche Ereignis der Moderne, zugleich aber auch nicht nur eine religionsgeschichtliche, sondern vor allem auch eine philosophiegeschichtliche Zäsur. Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen steht am Beginn der Moderne: „Dies“, so heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ist also „das große Prinzip, das alle Äußerlichkeit in dem Punkte des absoluten Verhältnisses zu Gott verschwindet. Alle Entfremdung seiner selbst, die Abhängigkeit und Knechtschaft ist dadurch verschwunden.“33 Hegels eigene Philosophie, wie die ganze Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, steht in dieser Tradition; zugleich stellt sie jedoch auch die geistige Verarbeitung der Französischen Revolution dar, die der Reformation weltgeschichtlich zur Seite steht. So heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist […]. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte, deren innerstes Wesen begriffen wird in der Weltge32 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3, 264. 33 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg. v. Pierre Garniron/Walter Jaeschke, Hamburg 1986, 64.

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schichte, haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk, sosehr sie entgegengesetzt sind, oder gerade weil sie entgegengesetzt sind. […] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen.“34

Von einer Realisierung der Freiheit auf der Höhe des erreichten Bewusstseins der Freiheit lässt sich im Deutschland der Reaktion nicht sprechen; die deutschen Zustände bleiben hinter der französischen Wirklichkeit zurück. Nicht ohne Ironie heißt es bei Hegel: „In Deutschland hat dasselbe Prinzip das Interesse des Bewußtseins für sich genommen; aber es ist theoretischerweise ausgebildet worden. Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei läßt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner.“35

Aber auch unter der Schlafmütze kann sich das Bewusstsein der Freiheit entfalten, welches sich in Religion und Philosophie ausgebildet hat.

3. Dass der Deutsche Michel die Schlafmütze aufbehalten hatte, ist auch Heines Fazit aus der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland: ein „methodisches Volk wie wir, mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen.“36 Heine ironisiert den deutschen Sonderweg, den auch Hegel als solchen darstellt. Zugleich aber erklärt Heine unumwunden die Philosophie zu dem Gedanken, der zwangsläufig auch die politische Tat nach sich ziehen wird. Dies entspricht im Groben auch dem Schluss der Hegel’schen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die den Bogen von der Reformation über die Französische Aufklärungsphilosophie bis zur Französischen Revolution spannen.37 Die Übereinstimmung im großen Verlauf der Geschichte, den Hegel und Heine erzählen, verhindert nicht, dass sie im Einzelnen von ganz unterschiedlichen Bestimmungen und Bewertungen ausgehen. Das Christentum erscheint bei Heine 34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders.: Werke. Theorie-Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 20, 314. Im Folgenden zitiert als TWA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 35 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA 20, 332. 36 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 117. 37 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, GW 27, 1, 459ff.

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als „Lehre von den beiden Prinzipien“, dem Guten und dem Bösen, die ihren Ursprung in einer „gnostischen Weltansicht“ habe.38 Hieraus resultiere die Spaltung zwischen Leib und Seele, Sinnlichem und Geistigen, Weltlichem und Geistlichen, welche die ganze Geschichte des Christentums durchziehe und erst durch die künftige „Religion der Freude“ überwunden werde. Hegel hat zwar auch die fortschreitende Aufhebung des Gegensatzes des Geistlichen und Weltlichen zum Entwicklungsprinzip der christlichen Religion gemacht, worin sich aber nur realisiert, dass das, was Heine als die Idee des Christentums bezeichnet, gerade nicht auf einem Dualismus beruht. Die Spaltung beruht nach Hegel vielmehr darauf, dass Gott als Geist dem subjektiven Geist bis zur Reformation starr gegenübergestellt und damit verdinglicht wurde. Gerade deshalb aber sei, so Hegel, das Sinnliche im Katholizismus gleichsam ungehemmt frei gesetzt worden. Zugespitzt: während Heine – dessen Text ja auch an das Publikum im katholisch geprägten Frankreich adressiert ist – die Idee des Christentums an der vorreformatorischen Kirche und Dogmatik ausrichtet, richtet Hegel sie am Protestantismus aus: Christentum und Protestantismus sind für ihn letztlich austauschbare Bezeichnungen. Den Katholizismus dagegen sieht er weitgehend als eine im Prinzip vergangene, schon längst überwundene Gestalt des Geistes an, die nur noch eine bloße, leer gewordene Existenz hat. Erst relativ spät kommt Hegel zu der Auffassung, dass der sich erneuernde Katholizismus in der Gegenwart als Gegner des auf modernen säkularen Rechtsstaates ernst zu nehmen, weil mit ihm kein Staat zu machen, das heißt keine vernünftige Verfassung möglich sei.39 Die Differenz zwischen Heine und Hegel in der Beschreibung der christlichen Idee beruht also darauf, dass Heine nicht von der Gleichsetzung von Christentum und Protestantismus ausgeht. Entsprechend gehen auch die Einschätzungen Luthers und der Reformation zunächst auseinander. Die protestantische Innerlichkeit erscheint bei Heine als der Versuch, den Dualismus der christlichen Idee gewaltsam aufzulösen. Luther, so Heine, „hatte nicht begriffen, daß die Idee des Christenthums, die Vernichtung der Sinnlichkeit, gar zu sehr in Widerspruch war mit der menschlichen Natur, als daß sie jemals im Leben ganz ausführbar gewesen sey ; er hatte nicht begriffen, daß der Catholizismus gleichsam ein Concordat war zwischen Gott und dem Teufel, d. h. zwischen dem Geist und der Materie“.40

Die Reformation in Deutschland war, so Heine, „ein Krieg, den der Spiritualismus begann, als er einsah, daß er nur den Titel der Herrschaft führte“, während 38 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 16. 39 Vgl. Hans-Joachim Birkner : Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel, in: ders.: Schleiermacher-Studien, Berlin/New York 1996, 125–136, hier : 135. 40 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 27.

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der Sensualismus de facto herrschte;41 in Frankreich beflügelte umgekehrt der Sensualismus die Kritik an der katholischen Kirche, als er sah, dass er nur de facto, aber nicht de jure herrschte. Der spiritualistische Angriff war aber nur der Anfang der Reformation: „sobald der Spiritualismus in das alte Kirchengebäude Bresche geschossen, stürzte der Sensualismus hervor mit all seiner langverhaltenen Glut, und Deutschland wurde der wildeste Tummelplatz von Freyheitsrausch und Sinnenlust“,42 wofür unter anderem die Bauernaufstände und die Wiedertäufer stehen. Mag Luther sich hierzu auch ablehnend verhalten haben, im Ergebnis bedeute das evangelisch-lutherische Christentum, dass „die nothwendigsten Ansprüche der Materie nicht bloß berücksichtigt, sondern auch legitimirt werden“, und dadurch werde „die Religion wieder eine Wahrheit“.43 Dies ist – und hier kommt Heine mit Hegel wieder vollständig überein – ganz im Sinne dessen zu verstehen, was Hegel die Vernunft in der Religion nennt: die Wahrheit der Religion ist keine andere als die der Philosophie, es gibt nur eine Wahrheit, wodurch die Denkfreiheit umfassend legitimiert wird, und „eine wichtige, weltwichtige Blüthe derselben ist die deutsche Philosophie“.44 Mit der Reformation ist daher in der Konsequenz der Unterschied des Geistlichen und Weltlichen obsolet geworden und das Prinzip der Freiheit, vorerst als Prinzip der Gedankenfreiheit, etabliert. Auf diese „religiöse[] Revoluzion“, wie Heine die Reformation auch nennt, folgt die „philosophische Revoluzion“.45 Auch hier identifiziert Heine im Hintergrund einen Gegensatz, der dem der christlichen Idee entspricht und die ganze Philosophiegeschichte durchzieht, nämlich den Gegensatz des Idealismus und Materialismus – der Lehre von den angeborenen Ideen oder Ideen a priori einerseits und den durch Erfahrung erworbenen Ideen oder Ideen a posteriori andererseits.46 Spinoza – hierin folgt Heine ganz der Hegel’schen Sicht – überwindet diese Entgegensetzung und weist damit auf die „deutsche[] Identitätsphilosophie, die in ihrem Wesen durchaus nicht von der Lehre des Spinoza verschieden ist“,47 hin. Es handelt sich um den „ewigen Parallelismus“ zwischen „Geist und Materie“, was gleichbedeutend sei mit „Geist und Natur“ oder „Ideales und Reales“.48 Den Beginn der kritischen Wende der Philosophie und damit der eigentlichen Revolution sieht Heine dann bei einem Denker, den Hegel 41 42 43 44 45 46 47 48

H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 29. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 31. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 34f. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 36. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 47. Vgl. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 49. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 56. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 57.

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eher beiseitelässt: bei Lessing, dem Kritiker und Polemiker, den Heine zu einer Art zweiten Luther stilisiert.49 Dies ist – man erinnere sich an Friedrich Schlegels Wertschätzung für Lessing – frühromantisches Erbe bei Heine und zugleich die Aufnahme der kantischen Charakteristik seines Zeitalters als Zeitalter der Kritik.50 Mit Kant beginnt dann die eigentliche Revolution in der Philosophie, die Heine – Hegel und vielen seiner Zeitgenossen folgend – mit der Französischen Revolution parallelisiert: „Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradizion wird alle Ehrfurcht aufgekündigt, wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifiziren, und wie hier das Königthum, der Schlußstein der alten socialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes.“51

Entsprechend konzentriert sich Heine in seiner Darstellung Kants auch auf die Kritik der Gottesbeweise – einschließlich der „Farce“, dass Kant – aus Erbarmen für seinen Diener Lampe, wie Heine spottet – in der Kritik der praktischen Vernunft den soeben theoretisch erledigten Gott als Postulat wiederauferstehen lässt.52 Fichte, der von Heine – Fichtes Selbststilisierung wie auch Hegels Behandlung in der Geschichte der Philosophie folgend53 – als radikaler Kantianer vorgeführt wird, vollendet den Angriff auf den Deismus, indem „der Fichtesche Gott keine Existenz“ hat, „er ist nicht, er manifestirt sich nur als reines handeln, als eine Ordnung von Begebenheiten, als ordo ordinans, als das Weltgesetz.“54 Der durch Fichtes Aufsatz Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798) ausgelöste Atheismusstreit, der – unter Goethes Beteiligung – zu Fichtes Entlassung in Jena führte, erscheint Heine daher, was das Verhältnis Fichtes zu Goethe betrifft, als sachlich nicht gerechtfertigt, denn im Grunde komme Fichte mit Goethes Pantheismus überein. Diesen Pantheismus erneuert dann Schelling mit seiner Naturphilosophie, die, so Heine, mit der „Lehre des Spinoza […] wesentlich eins und dasselbe“ sei.55 Schelling habe jedoch diesen philosophisch konsequenten Weg verlassen, als er versuchte,

49 Vgl. H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 73. 50 Vgl. Friedrich Schlegel: Lessings Gedanken und Meinungen, in: ders.: Schriften zur Kritischen Philosophie, hg. v. Andreas Arndt/Jure Zovko, Hamburg 2007, 144–200; Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781), in: ders.: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. IV, 8f. 51 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 77. 52 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 89. 53 Vgl. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4, 156. 54 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 103. 55 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 111.

Freiheit in Religion und Philosophie. Heine und Hegel

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„durch eine Art mystischer Intuizion zur Anschauung des Absoluten selbst zu gelangen“ und dabei in „Narrheit“ endete.56 Hier erfolgt dann der Auftritt Hegels als Vollender der Revolution in der Philosophie. Er sei „der größte Philosoph, den Deutschland seit Leibnitz erzeugt hat. Es ist keine Frage, daß er Kant und Fichte weit überragt.“ Zwar habe er „Staat und Kirche einige allzubedenkliche Rechtfertigungen“ verliehen, aber es geschah „dieses doch für einen Staat, der dem Prinzip des Fortschrittes wenigstens in der Theorie huldigt, und für eine Kirche, die das Prinzip der freyen Forschung als ihr Lebenselement betrachtet“.57 Eine Ambivalenz in Heines Urteil über Hegel, dessen Philosophie selbst nicht mehr Gegenstand seiner Darstellung ist, ist unüberhörbar. Die These, seine Philosophie habe sich an das Bestehende akkommodiert, die dann die liberale Hegel-Kritik zur Rede vom preußischen Staatsphilosophen verdichten sollte, schwingt mit, aber sie wird gleichzeitig entschärft durch den Verweis auf die damaligen Reformbestrebungen in Preußen und den liberalen, durch Schleiermacher geprägten Protestantismus. Dass aber aus dem philosophischen Gedanken unmittelbar die revolutionäre Tat folgt, wie es der Schluss des Heine’schen Textes andeutet, geht unmittelbar nicht aus der hegelschen Philosophie hervor.

4. Mit dem vollendeten Freiheitsbewusstsein ist für Hegel die Geschichte, die ja nichts anderes ist als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, an ihr Ende gekommen. Das schließt nicht aus, dass noch etwas geschieht – auch Fortschritte, zum Beispiel in der Realisierung der Freiheit. Sie lassen sich aber aus dem Bewusstsein der Freiheit nicht deduzieren und es macht für Hegel auch keinen Sinn, das Freiheitsprinzip als Sollen gegen die Welt zu kehren. Die Zukunft zu erkennen und zu beeinflussen übersteigt das Vermögen der Philosophie. Wie die Eule der Minerva in der Abenddämmerung ihren Flug beginnt und dabei erkennt, was der abgelebte Tag vollbracht hat, ist auch die Philosophie an die Erkenntnis dessen verwiesen, was ist. Die Realisierung des geistigen Prinzips, welches das Christentum repräsentiert, bis hin zu Napoleon und mit ihm die Vertiefung des Freiheitsbewusstseins kann sie erkennen, nicht aber die Zukunft, die auf das mit dem vollständigen Begriff der Freiheit erreichte Ende der Geschichte folgen kann. Die Philosophie, so heißt es in Hegels Vorlesungen zur Religionsphilosophie, sei

56 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 112. 57 H. Heine: Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, 113.

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„ein abgesondertes Heiligthum und ihre Diener bilden einen isolirten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitzthum der Wahrheit zu hüten hat. Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.“58

Hegels Schweigen muss keineswegs als resignativ gedeutet werden und schon gar nicht als Einverständnis mit dem, was ist. Es hat auch nichts mit der ebenso unsinnigen wie verbreiteten Behauptung zu tun, Hegel verleugne jede Zukunft. Viel eher spricht es für den Realismus Hegels, der die Realisierung des Freiheitsbewusstseins von den jeweiligen Bedingungen und realen Möglichkeiten abhängig macht. Heine, so ließe sich argumentieren, könnte Hegel gerade hierin gefolgt sein. Es ist unverkennbar und vielfach gesagt worden, dass sein Bild der deutschen Revolution, die den Gedanken in die Tat umsetzt, wie er es in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland vor Augen stellt, höchst ambivalent ist. Transzendental- und Naturphilosophen, die altgermanisch nicht um des Ziels, sondern des Kampfes willen kämpfen, realisieren ja nicht Freiheit im Sinne der Vernunftphilosophie, sondern allenfalls ihr subjektives Selbstgefühl, aller Bindungen ledig zu sein. Mit Sicherheit kannte Heine Hegels Kritik an der Terrorherrschaft der Jakobiner, die einem solchen abstrakten, negativen Freiheitsverständnis folgte: „Sosehr die Freiheit in sich konkret ist, so wurde sie doch als unentwickelt in ihrer Abstraktion an die Wirklichkeit gewendet; und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören. Der Fanatismus der Freiheit, dem Volke in die Hand gegeben, wurde fürchterlich.“59

Dem steht, bei Heine wie bei Hegel, die Hoffnung auf eine vernunftgemäße Realisierung der Freiheit entgegen, die sich aber nicht erzwingen lässt. Die Ambivalenz des Bildes der kommenden deutschen Revolution bei Heine spiegelt die Ambivalenz Hegels in dieser Sache – und sie bestimmt Heines Ambivalenz gegenüber Hegel, weshalb die Hegel-Kritik des späten Heine auch immer wieder in einen Hegelianismus umkippt. Am deutlichsten wird dies in der Absage an den (Hegel’schen) „Gott der Pantheisten“ im Nachwort zum Romanzero (1851): „Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bey den Hegelianern die Schweine gehütet“;60 mit diesem Bekenntnis zugleich aber widerspricht Heine der Ansicht, „daß man wählen müsse zwischen 58 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Zweiter Teil, hg. v. P. Marheineke, 356. 59 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA 20, 331. – Vgl. Joachim Ritter : Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt/M. 1965. 60 H. Heine: Romanzero. Nachwort, HDA 3/1, 179.

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der Religion und der Philosophie, zwischen dem geoffenbarten Dogma des Glaubens und der letzten Consequenz des Denkens, zwischen dem absoluten Bibelgott und dem Atheismus.“61 Es ist dies genau die Position Hegels, der einer solchen Alternative durch die „Flucht in den Begriff“62 entgehen wollte, das heißt durch den Nachweis, dass Vernunft und Freiheit in der Religion wie in der Philosophie seien. Die Auflösung des Gegensatzes von Religion und Philosophie bedeutet aber auch, dass der Gottesbegriff, wie eingangs gezeigt, ambivalent wird: Gottesbewusstsein des Menschen, Selbstbewusstsein Gottes und Selbstbewusstsein des Menschen bilden letztlich eine Einheit. Heine berichtet rückblickend, er habe „hinter dem Maestro [Hegel] gestanden“, als er die Melodie des Atheismus komponierte, „freilich in sehr undeutlichen und verschnörkelten Zeichen, damit nicht jeder sie entziffre – ich sah manchmal, wie er sich ängstlich umschaute, aus Furcht, man verstände ihn. Er liebte mich sehr, denn er war sicher, daß ich ihn nicht verriet; ich hielt ihn damals sogar für servil.“63

Dieser Verdacht, so Heine weiter, bezog sich auf Hegels Diktum in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, wonach das, was wirklich ist, auch vernünftig ist.64 Eins verändert allerdings den Wortlaut entscheidend; bei ihm heißt es: „Alles, was ist, ist vernünftig“. Wirklichkeit ist für Hegel jedoch nicht das, was bloß ist, also Existenz hat, sondern Wirklichkeit ist das, was als Realisierung der Idee gelten kann, also als Realisierung der Freiheit – denn die absolute Idee ist das vollständig entwickelte Bewusstsein der Freiheit. Nach Heines Bericht lächelte Hegel auf Heines Kritik hin „sonderbar und bemerkte: ,Es könnte auch heißen: ,Alles, was vernünftig ist, muß sein.‘‘ Er sah sich hastig um, beruhigte sich aber bald, denn nur Heinrich Beer [ein Bruder Giacomo Meyerbeers] hatte das Wort gehört.“65 Hegels hier referierte Antwort bringt, selbst wenn sie nur gut erfunden sein sollte, jedenfalls den Sinn von Hegels Diktum zum Ausdruck, indem sie zugleich die Freiheitsgeschichte – wiederum durchaus im Hegelschen Sinne – in eine offene Zukunft stellt. Mit seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland gilt Heine vielfach und zu Recht als Mitinitiator des Junghegelianismus. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Heine Geschichte nicht gegen Hegel, sondern auf der Linie der hegelschen Konzeption einer Freiheitsgeschichte verstand – wie

61 H. Heine: Romanzero. Nachwort, HDA 3/1, 180. 62 Vgl. Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf/Falk Wagner, Stuttgart 1982. 63 Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hg. v. Günther Nicolin, Hamburg 1970, 234f. 64 Vgl. G.W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14/1, 14. 65 Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hg. v. G. Nicolin, 235.

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neben Heine übrigens auch Karl Marx.66 Die bisweilen undeutlichen und verschnörkelten Zeichen indes, in denen Hegel die Melodie der Freiheit komponiert hatte, waren für die anderen Junghegelianer schon bald nicht mehr lesbar, denn sie standen zum großen Teil in derjenigen Disziplin des Hegelschen Systems, das aufgrund der sich überschlagenden Religionskritik antiquiert zu sein schien: in der Philosophie der Religion.

66 Vgl. Andreas Arndt: Geschichte und Freiheitsbewusstsein, Berlin 2015.

Steffen Dietzsch

Vom spekulativen Begriff zum mythischen Begreifen. Wie mit Schellings Philosophie der Offenbarung der Deutsche Idealismus anthropologisch in die Moderne geführt wird

In Memoriam odo marquard (26. Februar 1928–9. Mai 2015) „Die absolute Philosophie gebe ich Ihnen von Herzen Preis.“1 Friedrich Hebbel

Die geistige Situation, in der – ein allerletztes Mal! – philosophisch noch um den Sinn des Absoluten diskutiert wurde, war auch eine Zeit, in der das Vertrauen in die Vernunft brüchig wurde. So jedenfalls hat es Karl Rosenkranz wahrgenommen. In der Goethezeit, so konstatiert Rosenkranz, „war […] der Begriff des Absoluten [noch] lebendig, während in unserer Epoche gewöhnlich nur Momente desselben verabsolutiert werden, sei es das Ich, sei es die menschliche Gattung, sei es die Materie, sei es die Kraft, sei es der Wille, […] sei es die logische Kategorie. Der Begriff des Absoluten geht über alle solche einseitigen Abstractionen hinaus und fordert [dreierlei], ebenso wohl das Denken, als das Sein, als ihre absolute Einheit.“2

Ob und wie das ginge, das führte zu einer Fundamentalkritik im Deutschen Idealismus – ein Prozess, den manche immerhin als Vollendung, andere gar als seinen Zusammenbruch verstehen wollten. Der sich da am weitesten mit der Figur des Dritten, mit einem Überwindungsbegehren hervorwagte, war der späte Schelling. Schellings geistiger Zugang zum Problem des Absoluten erfolgte jetzt – in seiner späten Zeit aus einem christologischen Ansatz heraus. „Alle Schätze der Erkenntnis“, so Schelling in Berlin 1841, „sind in Christo verborgen, d. h. in ihm 1 Friedrich Hebbel: Tagebücher, 4 Bde., hg. v. Richard Maria Werner, Berlin 1903/04, Bd. 4 (1854–1863), 186 [Eintrag v. 31. März 1861]. – Drastischer schon bei Christian Dietrich Grabbe: Brief an Carl Georg Schreiner, Oktober 1835, in: Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden, hg. v. der Akademie der Wis senschaften in Göttingen, bearbeitet v. Alfred Bermann, Darmstadt 1973, Bd. VI, 288. 2 Karl Rosenkranz: Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870, XIII.

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begriffen.“3 Das war, auch angesichts des positivistischen Zeitgeistes, eine nur zu verständliche Reaktion, sich dem Ursprung moderner philosophischer Problemlagen zuzuwenden. Denn, wie noch am Ende des Jahrhunderts zu sagen war : „Die Vernunft ist naturhaft christlich; sie ist das Wort […]; die Passion war notwendig, um den […] Geist zur Welt zu bringen, […] damit das Natürliche übernatürlich werde und am göttlichen Leben teilgewinne.“4 Schelling hat damit dem Umstand Rechnung getragen, dass eine moderne Philosophie nach der Aufklärung auf eine ganz neue Weise eine instauratio christiana der Vernunft anzustreben habe, aber : das „man diese Vollendung der Vernunft nicht als eine in sich geschlossene Vollkommenheit versteht.“5 PHre Tilliette, der der gegenwärtigen Schelling-Forschung genau diesen Impuls zu geben sucht, macht auch einige Probleme damit namhaft. Ein zentraler Einwand, der sich bei einer philosophischen Christologie auftut, ist die Gefahr der (rationalistischen) Entleerung von Glaubensinhalten. Aber, mit PHre Tilliette gesagt, „Christus hat den Philosophen wirklich etwas zu sagen, und wie das Christentum in die (abendländische) Philosophie dringt auch die Christologie in die Philosophie ein, um sie zu verändern.“6 Nebenbei: Schon Spinoza nannte Christus den „Summus philosophus“.7

1. Als Schelling Ende der zwanziger Jahre an der neueröffneten Universität zu München Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie hielt, machte er eine bemerkenswerte Differenz zu seinem alten Kommilitonen, Freund und Kollegen Hegel öffentlich: der nämlich beanspruche als eine „erste Forderung“ an die Philosophie, „daß sie sich in das reine Denken zurückziehe, und daß sie zum einzigen unmittelbaren Gegenstand den reinen Begriff habe.“8 Schelling

3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42. Paulus-Nachschrift, hg. und eingeleitet v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1993, 254. – „La christologie de Schelling 8labore l’exemple par excellence de la victoire de l’existant sur le fondement et, de ce fait, elle est le meilleur expos8 sp8culatif du devenir-personne“ (Miklos Vetö: Le fondement selon Schelling, Paris, 1977, 550). 4 Maurice Blondel: Tagebuch vor Gott 1883–1894, hg. v. Peter Henrici, Einsiedeln 1964, 343 [Eintrag v. 10. Februar 1890]. 5 Xavier Tilliette: Philosophische Christologie, Einsiedeln/Freiburg, 1998, 21. 6 X. Tilliette: Philosophische Christologie, 28. 7 Überliefert in einem Gespräch Leibniz’ mit Tschirnhaus, vgl. Eduard Bodemann: Die LeibnizHandschriften, Hildesheim 1966 [Nachdruck], 103: „Christum ait fuisse summum philosophum.“ 8 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg

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moniert hier die bloß „logische Natur“ der Philosophie bei Hegel, dass eben seine Logik „nur die Erzeugung der vollendeten Idee“9 beanspruche. Hegel müsse, wenn er von einem objektiven Anfang auszugehen beanspruche, dieses „Objektivste als Negation alles Subjektiven, als reines Seyn bestimmen […] als Seyn, in dem gar nichts von einem Subjekt ist.“10 Der Gedanke bliebe also in diesem „Allerabstraktesten und Allerleersten“ befangen. Von diesem unbestimmten Sein, von dem Hegel ausgeht, sagt dann Schelling, das das „weder das wesentliche noch das gegenständliche ist, von dem aber alsdann unmittelbar einleuchtet, das in ihm wahrhaft nicht gedacht“11 werden könne. Daraus folge aber, nach Hegel: „das reine Seyn ist das Nichts.“ Auch mit dem Einführen des Werdens, so Schelling, ist nicht viel gewonnen: sodass bei Hegel „also im Werden Nichts und Seyn eigentlich nicht vereinigt werden, sondern das Nichts vielmehr verlassen wird.“12 – Wie also wollte Hegel mit dieser „mageren Koste des reinen Seyns“ Form & Gestalt gewinnen zum Weltbegreifen? Doch höchstens, so Schelling, wohl wieder bloß durch einen Begriff oder die Idee vom Werden. Deren Erzeugung geschieht „durch eine ihm (dem Begriff) selbst innewohnende bewegende Kraft“, die dialektisch heißt, wodurch er vom Leeren zu immer inhaltsvolleren Bestimmungen fortschreitet. Hegel nenne diese „Fortbewegung des Begriffs einen Prozeß.“13 Der verberge aber, so wie ihn Hegel als reinen (Denk-)Prozess vermutet, etwas, was ein Denkprozess auch gar nicht haben kann, – nämlich die Fülle des „wahren Lebens.“14 Damit hat aber Schelling vor einem anthropologischen Defizit bei der Erforschung moderner Denk- und Erkenntnisstrukturen gewarnt, nämlich nie zu vergessen, was ihr aller Lehrer – Kant – einmal in einer Anthropologievorlesung gesagt hat: „Unsere Seele denckt niemals allein, sondern im Laboratorio des Cörpers, es ist immer eine Harmonie zwischen ihnen beyden.“15 So wurde aus Königsberg am Beginn unserer Moderne schon vor einem Denken sub specie aeternitatis gewarnt. Das sei eben auch einer der Gründe dafür, dass Schelling jetzt von Hegels

9 10 11 12 13 14 15

1856–1861, Bd. X, 3–200, hier: 126. Im Folgenden zitiert als SWmit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. SW X, 136. SW X, 131. SW X, 133. SW X, 135. SW X, 137. SW X, 137. Immanuel Kant: Vorlesungen über Anthropologie, in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. XXV, Erste Hälfte. Berlin 1997, 145. Im Folgenden zitiert als Akad.-Ausg. mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen.

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Philosophie als bloß von einer Episode in ihrer neueren Problemgeschichte zu sprechen berechtigt sei. Oder, aus der Perspektive des zwanzigsten Jahrhunderts: „Von Schelling trennt ihn [Hegel] der Abgrund des ganzen existentialen Weltlebens.“16 – Damit wird dessen Werk natürlich nicht als im gemeinen Sinne fehlerhaft oder oberflächlich disqualifiziert. Es weist ganz im Gegenteil natürlich eine interne logische Klarheit und Folgerichtigkeit aus, die sich aber eben konsequenter- und paradoxerweise im Fokus des Absoluten verlieren muß. Die philosophische Problemdifferenz des späten Schelling zu Hegel ist: Schelling vertieft sich fortan in die literarischen (geistlichen, philosophischen) Zeugnisse der Menschheit, die von ihrer Grunddisposition erzählen, nämlich dass-etwas-noch-nicht-zu-Ende ist. Die Phänomene an denen diese Differenz deutlich zu werden schien, waren das Leben, die Passion, das Wandelbare des Menschen, nicht so sehr sein Begriff. Oder, wie es der Dichter Hebbel wahrnimmt: „Hegel schlägt das Leben todt und sagt dann, er habe es abgethan.“17 Seit dem Deutschen Idealismus bilden sich – mit Kant und Schelling, sowie mit Hegel – zwei konträre philosophische Lebens- und Arbeitsauffassungen in Deutschland heraus, die man mit zwei mythologischen Gestalten personifizieren könnte: Sisyphos und Atlas – während der eine sich am Konkreten und seiner Unberechenbarkeit asymmetrisch abmüht … nach oben, bewältigt und vereinigt der andere alles Konkrete, Weltförmige mit einer spannungsreichen absoluten Geste … über sich.

2. Einen seiner Gedanken aber, den Schelling bei aller Kritik an Hegel weiterführt, ist dessen Gedanke vom „doppelten Werden“,18 – nämlich, dass die Idee ein „logisches Resultat“ habe und damit zugleich auch ein „reales“. – Was aber moniert Schelling hier trotzdem an Hegel? Dass er die „Doppelseitigkeit von Anfang“19 wieder nur als logisches Problem vorstellt. Es werde zwar ein „Was“ der Dinge – logisch – angesprochen, ohne aber über deren „wirkliche Existenz“20 Auskunft geben zu können. Die Frage nach der „Existenz“ werde gar nicht

16 Hans Urs von Balthasar : Prometheus. Studien zur Geschichte des deutschen Idealismus, Heidelberg 1947, 563. 17 F. Hebbel: Tagebücher, Bd. 3 (1845–1854), 407 [Eintrag v. 15. Oktober 1851]. 18 SW X, 146. 19 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992, 642. Im Folgenden zitiert als UPhO. 20 SW X, 148.

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berührt. Die Natur – als ein exemplarisch anders Existierendes – sei dann für Hegel bloß, wie Schelling drastisch sagt, „die Agonie des Begriffs.“21 Eine Konsequenz daraus wäre es dann, das, wenn mit Hegel die Bewegung des Begriffs die allgemeine, absolute Tätigkeit ist, „auch für Gott nichts anderes übrig [ist], als die Bewegung des Begriffs, d. h. selbst nur der Begriff zu seyn.“22 Eine Annahme, die von Kant genommen sei, dem ja Gott auch nur ein Vernunftbegriff, eine Vernunftidee war. Hier bleibe Gott doch seinem „Wesen nach Geist“,23 kritisiert Schelling. Zur „Idee einer freien Weltschöpfung“24 aber, die Hegel in der zweiten Ausgabe seiner Logik als neues zu bewältigendes Problem für das absolute Wissen aufnimmt, hätte es allerdings, so Schelling, eines zweiten, positiven Systementwurfs bedurft, – einer jetzt Positiven Philosophie. Denn in der ersten Philosophie, der „absoluten Logik liegt nicht Weltveränderndes.“25 Also es ist immer wieder ein nur logischer Binnenprozeß der Idee zwischen Entäußerung und ihrer gleichzeitigen Rückkehr zu sich selber. – So bleibt der absolute Idealismus den „Maximen des behaglichsten Rationalismus“26 verpflichtet.

3. Schelling geht jetzt einen neuen Weg, um jenes „doppelte Werden“ begreiflich zu machen. Sein neuer Begriff ist jetzt: Offenbarung; mit ihr werden natürliche Konstellationen als übernatürliche (überempirische) identifizierbar, damit aber als sozusagen synthetische, doppelte Gebilde. Damit könne man, so Schelling, ein neues Verhältnis des menschlichen Bewusstseins zu den Dingen, namentlich auch zu Gott, eröffnen. „Dieses Verhältnis ist kein natürliches, sondern ein außerordentliches; doch ist es nicht Urverhältnis, und kann also nicht bleibend, sondern muß [immer] vorübergehend gedacht werden.“27 Offenbarung ist also zwar als etwas Übernatürliches zu begreifen, sie ist aber ein Verhältnisbegriff, „ein relativer Begriff, und setzt ein Natürliches, das er überwindet voraus.“28 Damit kann Schelling etwas Wirkliches und etwas Überwirkliches in ein 21 22 23 24 25 26 27 28

SW X, 152. SW X, 127. SW X, 155. SW X, 156. SW X, 153. SW X, 162. UPhO, 8. UPhO, 8.

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Kommunikationsverhältnis bringen, derart, dass sich beide miteinander verflechten, auch wenn sie ganz asymmetrisch sind. So könne man auf begreifliche Weise zeigen, dass und wie sich Wirkliches übernatürlich und Übernatürliches wirklich darstellt – also wie etwas „ein unsichtbar=sichtbares zu sein“,29 begreiflich wird. – Die literarische und geistliche Verkehrsform dafür ist der Mythos. Nur mit der Mythologie kann dann der Schritt heraus aus der Logik, hin zu anderen Verlaufs- und Erklärformen, letztlich hin zu Geschichten und zu Geschichte getan werden. Unmöglich sei es, so Schelling, „einen Übergang ohne Mythologie zu dem zu finden, was erst eigentlich Geschichte, Geschichte im vollen Sinne zu nennen ist, zum Christentum, denn erst mit dem Christentum gibt es eine eigentliche Geschichte.“30

4. Damit wird Schellings letztes Problem lösbar : Wenn Gott „eine Vernunft-Idee ist, so kann sich die Vernunft nicht nehmen lassen, diese Idee auch als solche zu verwirklichen.“31 Was Schelling namentlich über seine Neue, Positive Philosophie (als Philosophie der Offenbarung) zu sagen hatte, war keineswegs etwa mit einem Wechsel hin zur Inferiorität von Vernunft und Wissen zugunsten eines (wie immer auch gearteten) Glaubens verbunden. „Die Offenbarung“, so betonte Schelling dann auch zuletzt in seiner Berliner Eröffnungsvorlesung vom 15. November 1841, „muß etwas über die Vernunft hinausgehendes enthalten, etwas aber, das man ohne die Vernunft noch nicht hat.“32 Schelling kann sich mit diesem Begehren zur Erweiterung im Begreifen des Absoluten, namentlich zum Begreifen der Metamorphose des Absoluten, einig wissen mit einer Idee, die er in Jena gemeinsam mit Hegel geteilt hatte: einer Idee, die in der Metapher vom „speculativen Charfreytag“33 anschaulich gemacht wurde. Es geht hier um die Dramatik von Tod und Resurrektion, das heißt um die philosophischen Dispositionen, die mit dem Umstand „Gott selbst ist tot“34 verbunden werden müssen. Nämlich, und das ist eine Jenaer Hoffnung (Schelling & Hegels), zu vermuten, dass als Resultat des spekulativen Karfreitags sich in der 29 30 31 32 33

UPhO, 524. UPhO, 417. SW X, 197. F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung (Paulus-Nachschrift), 98. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen, in: Kritisches Journal der Philosophie, hg. v. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling/Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Zweyter Band, erstes Stück, Tübingen 1802, 1–188, hier : 188. 34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen, in: Kritisches Journal der Philosophie, hg. v. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling/Georg Wilhelm Friedrich Hegel, neu hg. v. Steffen Dietzsch, Leipzig 1981, 329.

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„Philosophie die Idee der absoluten Freiheit […] in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen“ und neu darstellen lässt, und dass man auch neu begreifen kann, wie der Mensch selber „in die heiterste Freiheit seiner Gestalt auferstehen kann und muß.“35 Übrigens: Schelling nennt seine Positive Philosophie dann ursprünglich einen „Empirismus“, der aber ein „freies Verhältnis zu Gott“36 behauptet, das gerade vom Rationalismus in einem logischen Gehäuse der Deduzierbarkeit stillgelegt werde. Diese Freiheit kommt von einer neuen Hochschätzung der Kontingenz, des klassisch von Epicur sogenanntem clinamen atomorum; und entsprechend nennt Schelling gar das epicureische System dann „eine Zuflucht der Freiheit.“37 Wir bemerken zugleich bei dieser Rationalismuskritik Schellings wieder eine theoretische Rücksichtnahme auf seinen alten Meister Kant, nämlich immer wieder auf die „Angemessenheit aller Erkenntnisse mit der Bestimmung des Menschen“38 zu achten.

5. Schellings geistige Dispositionen in seiner Kritik am absoluten Idealismus sind also anschaulich zu machen in der Pathosformel Golgatha. – Was da am Kreuz geschieht, ist nun aber philosophisch nicht einfach nur als ein – wie immer auch zu bewerkstelligender – Übergang ins externe Absolute (oder als eine Verdoppelung!) zu verstehen. Vielmehr setzt ein sozusagen inverser Prozess im Absoluten (in Gott) ein, demzufolge es (er) sich sukzessive seiner absoluten (göttlichen) Prädikate entleert, das heißt, wie Paulus diesen Vorgang den Philippern erklärt, es kommt jetzt dazu, dass Gott (das Absolute, verbum dei) im Modus der Sohnschaft, eben als Christus Jesus, nicht seine Gottgestalt den Menschen präsentiert, sondern „Knechtsgestalt annahm, gleich ward wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward Gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“39 – Dieser Vorgang wird mit dem Begriff K8nose40 beschrieben. Damit wird also auf Entleerung, auf Ver35 36 37 38 39 40

G.W.F. Hegel: Glauben und Wissen, neu hg. v. S. Dietzsch, 330. SW X, 198. SW X, 198. I. Kant: Reflexionen zur Metaphysik 4970, Akad.-Ausg. XVIII, 44. Phil. 2,7 und 8. Vgl. Gottfried Thomasius: Christ Person und Werk, Erlangen 1852/61; Otto Bensow: Die Lehre von der Kenose, Leipzig 1903; Henry Pirenne: K8nose, in: Suppl8ment au Dict. de la Bible, V (1957), 1–161; Ernst Käsemann: Kritische Analyse von Phil. 2,5–11, in: Zeitschrift für Theol. und Kirche 47 (1950), 313–360.

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nichten und Fahrenlassen der Gottgleichheit insistiert: „Als erwiesen darf gelten, dass das Subjekt, das sich entleert, indem es Knechtsgestalt annimmt, nicht der schon menschgewordene Christus, sondern der Überweltliche, in Gottgestalt weilende ist.“41 Es geht hier bei der Kenose um den ,Menschwerdenden‘, das heißt um Selbstbegrenzung der Gottheit, also auch um Verzicht auf Eigenschaften der Gottheit, wie Allmacht, Allwissen, Allgegenwart, etc. „Im Akt der Selbstentäußerung ist Christus zugleich Gott und Mensch […]. Die Entäußerung ist gleichsam die Negation der Negation.“42 Hegelfreund Schelling bezeichnete dieses Pauluswort an die Philipper einmal als „die herrliche Stelle […], die in das tiefste Geheimnis weist“43 und entsprechend Paulus als den „Kühnsten der Apostel“, bei dem die „Donnerschläge des Genies“44 vernehmbar seien. So wird gerade in der Glaubensgeschichte vom Gekreuzigten die spekulative Konstruktion des Menschen begreifbar ; zumal unsere sozusagen zweite Abkunft. Und gerade die in den Glaubensgeschichten von der Wiederauferstehung erzählte Geschichte ist deshalb auch über die Zeiten künstlerisch wie denkerisch immer wieder innovativ gewesen. Dieses hier artikulierte „doppelte Werden“ ist dann der zentrale Gegenstand in mythologisch-religiösen Konstellationen, wenn sie sich mit der Menschwerdung befassen. Diese zweite – spirituelle – Herkunftsvermutung ist als Ergänzung zur ersten – stofflichen –, der adamitischen, zu begreifen. Aber mit dieser zweiten Erzählung (von der Resurrektion) wird nun aber nicht etwa auf eine Vollendung, Versöhnung, Komplettierung oder Befriedung im Absoluten hingewiesen, sondern es wird – gewissermaßen unterhalb der Erlösung – der so narrativ neu verständlich gemachte Mensch begriffen als Widerspruch, als Entzweiung, ja als Paradox. Das historische Christentum hatte lange die entscheidende philosophische Botschaft des Kreuzes marginalisiert: das es nämlich als „Zeichen des Widerspruchs im höchsten Sinne“45 zu begreifen ist. – In Athen konnte man etwas von den kognitiven Dimensionen des Widerspruchsproblems lernen, wie man es formalisieren konnte, dass es beim analytischen Denken zu einem Lösungsabusus führt, dass es folglich in Wissens- und Erkenntnisdiskursen zu vermeiden 41 Hans Urs von Balthasar : Mysterium Paschale, Leipzig 1984, 27. Die Befremdlichkeit, „dass man heute Phantasien über die Christologie, wie die kenotische Theorie, einfach unter den Schutz des alten Dogmas stellt, d. h. dasselbe factisch abdecretirt, aber sich dennoch als vindex dogmatis gebehrdet“, hatte allerdings schon der Kulturprotestantismus moniert (Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Freiburg 1886–1890, Bd. 3, 743). 42 Walter Kasper: Jesus der Christus, Leipzig 1981, 332. 43 SW XIV, 39. 44 UPhO, 420 und 700. 45 X. Tilliette: Philosophische Christologie, 276.

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sei (Tertium non datur). – Aber jetzt, nach Golgatha, wandelt sich Widerspruch aus einem Schulbegriff zu einem Weltproblem. Der Widerspruch transzendiert seine formal-begriffliche Form hin zu seiner leibhaften Verkörperung, zu seiner Anthropologisierung: Der Mensch identifiziert ab jetzt nicht nur Widersprüche im Denken des Wahren, sondern er selber wird als widerspruchsförmig begreifbar, tritt wahrhaftig als ein Widerspruch sui generis in die Welt. Der aber ist – anders als der logische – nicht mehr zu lösen oder zu vermeiden! So tritt mit dem Auferstandenen ein (neuer) Mensch in die Welt, der nicht mehr – wie seine Abkunft vermuten lassen könnte – ein ens perfectissimum, eine Eine, Höchste, Einfache etc. Substanz ist, sondern als absolut-endliche Zwienatur agiert. Und es ist „erst diese schauerlichste Paradoxie“46 des Kreuzes, die uns klar werden lässt, was die eigentliche philosophische Pointe des Todes Gottes ist – eben die Geburt des Neuen, des dann sogenannten Über-Menschen: „Der Mensch ist menschlich nur durch das, was er an Übermenschlichen aufbietet, und der ist nicht wahrhaft Mensch, der sich nicht vom Menschen zu mehr als Mensch wandelt.“47 Also gerade in dieser Sicht auf den Menschen – „Das Ziel ist der Mensch, das Wahre der Natur“48 – wird es mit Schellings Spätphilosophie möglich, dessen dramatische Doppelnatur (wirklich & überwirklich bzw. sichtbar=unsichtbar zu sein) zu begreifen. Damit beginnt Schelling seine Münchner akademische Arbeit, nämlich den „Geheimnissen der Menschwerdung“49 und damit der (zunächst christlichen) Religion, sowie ganz generell auch Mythen auf die Spur zu kommen. Um am Ende zu verstehen: „Die Menschwerdung ist daher nicht bloß der Gegenstand, sondern das Prinzip aller Offenbarung.“50 Das singuläre Ereignis, das mit der Dynamik der Offenbarung erzählt wird, ist also mit jener Schädelstätte verbunden, als dem Ort der Passionsgeschichte des Menschen. Hier erfolgt eine Transfiguration des Göttlichen ins Menschliche (– für diese Praxis der Offenbarung findet Nietzsche ein neues Wort: Verklärung). – Schellings Verfahren hierbei ist „einer mythologischen Procedur des Geistes entsprossen.“51

46 Friedrich Nietzsche: Der Anti-Christ, ders: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli/Mazziono Montinari, München 1988, 165–254, hier : 213. 47 Paul Val8ry : Cahiers/Hefte 5, hg. v. Hartmut Köhler/Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M. 1992, 198. 48 UPhO, 6. 49 UPhO, 525. 50 UPhO, 398. 51 F. Hebbel: Tagebücher, Bd. 1 (1835–1839), 44 [Eintrag v. 18. Juli 1836].

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6. Jener „Logos vom Kreuz“52 lässt uns den Modus der Menschwerdung klar werden, und zwar in Begriffen der Negativität, als einen „actus continuus der Entäußerung“53, der Entfremdung und des Leidens. Die damit im Verhältnis Gott zu Mensch verbundene „abgründige Paradoxie“, nämlich „die sich steigernde Unähnlichkeit, völlige Unvergleichbarkeit ruft […] ein immer tieferes SichHerniederneigen, eine wachsende Ähnlichkeit herauf.“54 Der Tod Gottes – am Kreuz – muss so als ein „nicht endender Untergang“ und gleichzeitig Menschwerdung als „nicht endendes Überwundenwerden“ zu begreifen versucht werden – „mit Luthers Formel: mysterium absconditus sub contrario: Verborgensein des Mysteriums unter seinem Gegenteil.“55 Oder eben, wie Schelling das begreift: „Gott ist keineswegs ein Gegensatz der Endlichkeit. Gott ist keineswegs der, der nur in der Unendlichkeit sich gefällt, sondern eben dadurch zeigt er sich, als das künstlichste aller Wesen, daß er die Endlichkeit sucht und nicht ruht, bis er alles in die endlichste Form gebracht hat.“56 Ein Geheimnis – und das Geschehen von Golgatha ist eines schlechthin – verbirgt natürlich zunächst einmal etwas. Aber es fordert dadurch auch in bemerkenswert intensiver Weise unser Denken heraus. Wozu nun gerade das Denken und Reden vom Geheimnis, namentlich eben des Kreuzes – „das Geheimnis unseres Glaubens“57 – überhaupt angehalten ist, die Begriffsform des Denkens zu überdenken, zu problematisieren und womöglich einen Selbstüberstieg der reflektierenden Vernunft zu unternehmen. Damit war die alte Frage nach Glauben und Wissen nachhaltig in ihrem Gleichgewicht als Paradox zu halten. Aber „ob nun mit einer allzu beredten Aufklärung Gott als Mysterium bestritten oder mit einem im Schweigen gipfelnden Idealismus Gott als Geheimnis verehrt werden soll – so oder so gilt als Geheimnis, was sich nicht denken läßt und worüber deshalb nur geschwiegen werden kann.“58 In diesem Schweigen wird zunächst ein Unvordenkliches geheimnisvoll angezeigt. Das aber, weil es – vom Christentum her gedacht – doch Logos ist, den Menschen in eine zunächst noch ganz unbestimmte Resonanz einbezieht. 52 1 Kor. 1, 18. 53 SW XIV, 192. 54 Reinhold Schneider: Erich Przywara: Alter und Neuer Bund, in: ders.: Pfeiler im Strom, Wiesbaden 1958, 300–307, hier: 301. 55 R. Schneider: Erich Przywara, 301. 56 UPhO, 422. 57 1 Thimoth. 3, 16. 58 Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1992, 343.

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7. Das hier philosophisch zu bewältigende Problem am Ende des deutschen Idealismus wäre also, ob es gelingt, im Umgang mit den biblischen Erzählungen/ Geheimnissen eine Differenz begreiflich zu machen: nämlich das es das Eine ist, in diesen Geschichten einen Weg nach oben gezeigt zu bekommen (das wäre der Glaube, an die Transzendenz etc.) oder hier umgekehrt den Weg Gottes nach unten, zu uns Menschen, verstehen zu lernen. Gerade das aber kann Schelling an der Dramatik des Todes Gottes (am Kreuz) begreiflich machen. Mit seinem Liebling Goethe (der sich als Nicht-Krist59 verstand) kann er verstehen, dass mit dem Erscheinen des Wiederauferstanden, mit Christus, eines passiert ist, nämlich: „Gott tritt in den Hintergrund zurück, der Himmel ist leer.“60 Der spirituelle Weg, den der Gekreuzigte beginnt, führt also auf die Erde, hier ist der Platz des Neuen Menschen, des Auferstandenen, des, wie das eben später einmal genannt wird, Über-Menschen. – Was wir dabei aber übergreifend von uns und unserer Welt erfahren können, ist, wieder in Luthers Worten, dass dasjenige, was „von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht“61 und begreifbar wird. Also: „Mit Christus stieg das Reich des Göttlichen hernieder, Das Unsichtbare offenbart dem Menschen sich.“62 Der Auferstandene also ist ein Mensch! Aber was für einer? Ist das nicht exemplarisch eben der am Fin de siHcle der Metaphysik neu begriffene Übermensch (– nämlich eben jener, der sozusagen mit dem Kopf noch im Himmel und mit den Füßen schon auf der Erde ist?). Und das ist natürlich auch ein theologischer Grenzfall: „An der Bedeutung der kenosis scheiden sich die (theologischen) Geister ; für die dogmatische Theologie war der Begriff immer schon ein Ärgernis, weil oder obwohl er das paradoxe Herz der religiösen Beziehung betrifft: das Paradoxon absoluter Entfernung und absoluter Nähe zwischen Mensch und Gott.“63 59 „Da ich zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber doch ein dezidirter Nichtkrist binn“ (Johan Wolfgang von Goethe an Johann Caspar Lavater, 29. Juli 1782, in: Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe), hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887–1919, Abt. IV, Bd. 6, 20. Im Folgenden zitiert als WA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 60 J.W. v. Goethe: Tagebuch, WA III/3, 271 [7. September 1807]. 61 Vgl. Martin Luther : Heidelberger Disputation (1518), hg. v. Helmar Junghans, Berlin 1979, 186ff. 62 Karoline v. Günderode: Verschiedene Offenbarungen des Göttlichen. Gesammelte Dichtungen, hg. v. Elisabeth Salomon, München 1923, 411. 63 Bart Philipsen: „buchstabengenau“, kenosis der Zeichen, der Zeit und des Subjekts in Hölderlins später und spätester Dichtung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 30 (2006), Heft 2, 238–251, hier : 240.

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Das philosophisch und politisch-theologisch interessante am Kenosis-Problem ist die begreifbar werdende Erzeugung eines Neuen Menschen, nämlich die Auffassung, das hier das – mensch-gewordene – Wort (das verbum dei) göttliche wie irdische Perspektiven zugleich ausweist, also, wie noch Martin Luther bekundet, „das Christus ein pur Mensch und zwo Personen sey.“64 Die Kenosis ist also das Verfahren der Selbstverwandlung (Selbstentäußerung) Gottes, wie er „den Logos Mensch werden“65 lässt. Diese Metamorphose in den Neuen Menschen, exemplarisch in die Person Christi, wird konstitutiv gewissermaßen in Freund-Feind-Bildern erzählt. In Bildern der Erniedrigung und Demütigung des Einen durch den Anderen. Dadurch aber kann uns auch klar werden, dass wir selber, die wir – golgathaerfahren – als Neue Menschen ein paradoxes Selbstverhältnis ausweisen, uns selber zugleich Freund-Feind sind, fähig zugleich zum Guten wie zum Bösen. Also: diese kenotische Erzeugung des Neuen Menschen ist dabei weder a.) mit einer durchgängig salvatorischen Heils-Integration des Menschen (der Menschheit) in die alte transzendente Gottheit verbunden – „denn vom abgesonderten Gott ists beides falsch. Nemlich das Christus Gott sei und Gott gestorben sei. […] Denn da ist Gott nicht Mensch“,66 noch ist b.) damit eine Zwei-Reiche-Lehre nötig. Auch ist c.) die Neue Person – Christi – nach Golgatha nicht mit einer bloß scheinbaren Leiblichkeit ausgestattet, wie dies der Doketismus oder die Gnosis nahelegte. Die Kenosis aber ist ein sozusagen metamorphose-praktisches Verfahren, sowohl die Authentizität des Neuen Menschen als auch seine Integrität in seinen transzendentalen Grund zu bewahren. Diese Metamorphose Gottes offenbart sich also als Anthropogenese. In seiner Menschwerdung (nach dem Karfreitag) verschwindet gewissermaßen der alte transzendente (das heißt allmächtige, allwissende und allgegenwärtige) Gott; und wir begreifen den nihilismus-überwindenen Impetus dieser Operation, nämlich „daß gerade in dem Menschgewordenen die unsichtbare Gottheit aufs glänzende sichtbar wird.“67 Dies eine zentrale Einsicht, die Blumenberg zu dem Urteil führt: „Diese Begründung des Idealismus aus dem Neuen Testament ist das tollste Stück von Schellings Mythologie.“68

64 Martin Luther : Von den Konziliis und Kirchen (1539), in: ders.: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883–2009, Abt I, Bd. 50, 589. Im Folgenden zitiert als WA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 65 Hans Urs von Balthasar : Theologie der drei Tage, Einsiedeln 1990, 29. 66 M. Luther : Von den Konziliis und Kirchen, WA I/50, 589. 67 UPhO, 528. 68 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1981, 629.

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8. In der späten Philosophie Schellings wird damit ein Bogen geschlagen vom transzendentalphilosophischen Subjektivitätsverständnis mit den zwei Körpern des Ich über die spekulativen Vernunft hin zur mythischen Praktik. Das transzendentalphilosophische Subjektivitätsverständnis (dem empirischen und zugleich transzendentalen Subjekt), oder wie Luther sagt: „darumb führt die Person beider natur jdiomata“,69 steht damit über das Ende des deutschen Idealismus hinaus in der methodischen Kontinuität hin zum mythischen Begreifen, das in der Menschwerdung seine Bewährung finden kann. Sie ist das Verfahren der communicatio idiomatum, das heißt der wechselseitigen Mitteilung (Übergabe, Anerkennung) der Eigenschaften (göttlicher, transzendenter, immanenter). Das heißt aber auch, dass der Neue Mensch (nach Golgatha) „ein von Gott zurückgezogenes (Sein)“70 ausweist. „Die Schellingsche Idee, daß zu einer bestimmten Zeit aus Gott dem Vater Gott der Sohn hervor treten musste, führt den Dualismus in die Gottheit selber hinüber […] und macht Gott zur Wurzel der Welt-Entzweiung.“71 Und diese spekulative Logik von einst (aus der Jenaer Zeit) wird so erneut beim Mythosproblem des späten Schelling jetzt fruchtbar. – Diesen Vollzug der Menschwerdung als kenotischen Prozess zu begreifen, erlaubt die beiden Sphären, die des Endlichen, des Menschlichen und die des Absoluten, des Göttlichen, als zwei – wenn auch nicht symmetrische – Seinsbereiche eigener Ordnung zu unterstellen, die eben gerade nicht himmelweit verschieden sind. Die auf den ersten Blick unüberwindbar unendliche Distanz des Absoluten zum Endlichen kann also kenotisch auf ein mittleres Maß gebracht und so ein Zusammenhang von Endlichem und Unendlichem in die Reichweite des Denkmöglichen hergestellt werden. Die Kenosis ist „Depotenzierung des Logos durch Selbstentäußerung“72 und damit so etwas wie die Bedingung der Möglichkeit einer doppelten Affektion als innerer Form spekulativer Vernunft, nämlich, wie Hegel sagt, als eine „ursprüngliche zweiseitige Identität […] nach der einen Seite Subjekt […] nach der andern aber Objekt, und ursprünglich […] nichts als die Vernunft selbst.“73 Sie kann so, wie schon der vorjenenser Hegel schrieb, „zwi-

69 M. Luther : Von den Konziliis und Kirchen, WA I/50, 590. – Vgl. Jens Wolff: Martin Luthers „innerer Mensch“, in: Lutherjahrbuch 75 (2008), 31ff. 70 UPhO, 441. 71 F. Hebbel: Tagebücher, Bd. 1, 348 [Eintrag v. 8. April 1839]. 72 A. Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, 304. 73 G.W.F. Hegel: Glauben und Wissen, neu hg. v. S. Dietzsch, 227f.

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schen Himmels-Unendlichem, Schrankenlosem und zwischen der Erde, dieser Versammlung von lauter Beschränkungen – in der Mitte schweben.“74 Also erst die Kenosis des Absoluten in die „abgrundtiefe Einsamkeit des Ich oder des ,reinen Begriffs‘“75, d. i. aber eben nach seiner Entgottung, ist es wieder möglich, Göttliches und Menschliches (Göttliches als Menschliches und vice versa) zu denken, und zwar als Verobjektivierungs-Prozeß zu denken. Denn sonst stehen wir in dem Dilemma: (a) entweder gibt es bloß das unvermittelt Absolute (das man mit Jacobi nur glauben könnte, weil unmittelbar jedes Wissen über Göttliches in Form der Reflexion Ausgedrückte widersinnig ist), oder (b) es gibt nur seine transzendentalkritische Ausgrenzung, damit wäre aber „alle Philosophie aus dem Feld geschlagen.“76 Schelling (wie auch anfänglich sein Jenaer Freund Hegel) will aber gerade die spekulative Philosophie über diese Idee einer philosophica crucis retten. Damit verbunden ist eine Horizonterweiterung für den Gegenstand der spekulativen Philosophie. Ihr Gegenstand wird dann später bestimmt als „die ewige Wahrheit in ihrer Objectivität selbst […]. Die Philosophie ist nicht Weisheit der Welt, sondern Erkenntnis des Nichtweltlichen, nicht Erkenntnis der äußerlichen Masse, des empirischen Daseyns und Lebens, sondern Erkenntnis dessen, was ewig ist, was Gott ist und was aus seiner Natur fließt.“77

Fazit Was also macht die Modernität des späten Schelling aus, seinen „GreisenAvantgardismus?“78 – Er weist das logisch-Absolute als Modus des Geschichtlich-Werdenden aus und will „den Anspruch der Idealität auf Absolutheit als falsch erweisen.“79 Was heißt das? 1. Aus dem Kenosis-Problem erwächst, in den Worten Hans Urs von Balthasars, eine neue „,dynamisch-transzendentale‘ Anthropologie.“80 Daraus sollte als die philosophische Pointe des Kenosis-Problems eine doppelte Einsicht klarwerden: erstens führt es zu „einer göttlichen Sanktionierung der End74 Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel: Theologische Jugendschriften, hg. v. Herman Nohl, Tübingen 1907, 335. 75 X. Tilliette: Philosophische Christologie, 254. 76 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Kritische Schriften III, Hamburg 1986, 48. 77 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Religion, in: ders.: Jubiläumsausgabe, Bd. XI/1, Berlin 1840, 21. 78 Thomas Mann an Heinrich Mann, 14. Juli 1949, in: Briefwechsel Thomas & Heinrich Mann, hg. v. Ulrich Dietzel, Berlin/Weimar 1977, 267. 79 Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, Stuttgart 1979, 695f. 80 H.U. v. Balthasar : Theologie der drei Tage, 30.

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lichkeit als solcher“81 und zweitens ist Menschwerdung als Entgottung, ja Erniedrigung zu begreifen. Denn: „Der Mensch ist das Procrustesbett der Gottheit.“82 2. Die Kenosis zeigt, dass Gott in der – zunächst paradoxen – Erniedrigung der Menschwerdung nicht nur – wiederum paradox – der Welt aufgeholfen hat, sondern eben auch sich selber in seiner tiefsten Eigentlichkeit geoffenbart hat. – Und es geht gerade nicht darum, wie die junghegelianische Kritik noch vermutete, dass man die Gedankenbestimmungen „zu immer neuer Entwicklung und Wiedergeburt forttreibt, bis sie endlich als absolute Idee in unvergänglicher, fleckenloser Herrlichkeit zum letzten Male aus dem Grab der Negation erstehen.“83 Dieser Zuhörer Schellings 1841 in Berlin fragte sich am Ende nämlich auch, „ob der hier von Schelling behauptete Einfluß des Menschen auf die Selbstentwicklung Gottes – denn nur so kann dies genannt werden – christlich ist? Der christliche Gott aber ist ein von Ewigkeit fertiger, dessen Ruhe selbst durch das temporäre Erdenleben des Sohns keine Veränderung erleidet.“84 – Damit hat sich dieser idealismusbeflissene Hörer Schellings von dessen Überwindungsdiskurs des deutschen Idealismus klar ausgeschlossen. 3. Mit dem Kreuz, das einen neuen Menschen stiftet, wird auch seine ganz neue Denk- und Verkehrsform möglich: Freiheit nämlich. Von allem Anfang an – „wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“85 bzw. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“86 – bis in den Umkreis der kulturellen Geburt unserer Moderne im Deutschen Idealismus ist dieser Sachverhalt das philosophische Axiom, aus dem alles andere erst folgt – in den Worten aus Schellings Philosophie der Offenbarung: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes.“87 4. Die sozusagen innere Form des Neuen Menschen (des Übermenschen!) mit dieser Genealogie von Golgatha her wird aber auch schon in dem Diktum Hölderlins deutlich: „An das Göttliche glauben, / Die allein, die es selber sind.“88 81 Hans Urs von Balthasar : Apokalypse der deutschen Seele, Bd. III, Einsiedeln 1939, 395. 82 F. Hebbel: Tagebücher, Bd. 1, 377 [Eintrag v. 8. Oktober 1839]. 83 [Friedrich Engels:] Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie [Leipzig 1842], in: Marx-Engels-Gesamtausgabe [MEGA], hg. v. Internationale Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1975ff., Abt. I, Bd. 3, 281. Im Folgenden zitiert als MEGA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 84 [F. Engels]: Schelling und die Offenbarung, MEGA I/3, 302. 85 2 Kor. 3,17. 86 Gal. 5,1. 87 UPhO, 79. 88 Friedrich Hölderlin: Menschenbeifall, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hg. v. Günter Mieth, Berlin/Weimar 1970, 324.

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So hatte Jacob Burckhardt, der auch in Schellings Berliner Hörsaal saß, dessen Weiterführung des deutschen Idealismus zu neuen Horizonten weitsichtig, allerdings widerwillig, konstatiert: „Wer Schellings Christum noch lieben kann, der muß ein weites Herz haben.“89

Nachklang Diesen Problemwechsel, den der späte Schelling hier betreibt, ist später als der Überstieg von der Denkform zur Lebensform charakterisiert worden. „Indem Schelling den Horizont der Mythologie als Horizont eines konkreten Bewußtseins entdeckt (und nicht als einen bloßen Bereich der Fabel), eröffnet Schelling den Blick auf eine Analyse des mythologischen Bewußtseins, eine nicht mehr metaphysische, sondern eine transzendentale Analyse. E. Cassirer sollte diese Analyse dann in seiner Philosophie der symbolischen Formen leisten.“90

Hier wurde dann, eben bei Ernst Cassirer, der Gedanken Schellings aufgenommen (und weitergeführt), dass wir mit dem Gegensatz von Philosophie und Mythologie nicht lediglich vor eine Wahl gestellt seien, Irrationales vom Rationalen trennen zu müssen, sondern vielmehr im Gegensatz als Gegensatz ein Problem zu sehen hätten, nämlich, dass, wie Schelling schreibt, „gerade in dem Gegensatz selbst […] die bestimmte Aufforderung und die Aufgabe [liegt], eben in dieser scheinbaren Unvernunft Vernunft, und in dem sinnlos Scheinenden Sinn zu entdecken“. Aber wie? – Jedenfalls nicht so, wie das „bisher allein versucht worden ist, vermöge einer willkürlichen Unterscheidung, so nämlich, daß irgendetwas, was man sich als vernünftig oder sinnvoll vorstellt, als das Wesentliche, alles übrige aber bloß als zufällig erklärt.“91 Daraus erwächst eine Disposition, nach der „nicht der stoffliche Inhalt der Mythologie, sondern die Intensität, mit der er erlebt, mit der er – wie nur irgendein objektiv-Daseinendes und Wirkliches – geglaubt wird“,92 das Problem bildet. – Das aber bedeutet, die Mythologie ist ab jetzt nicht mehr vor allem eine Götterlehre, sondern eine ursprüngliche Lebensform, nicht ein Wissen sondern eine Praktik. Was heißt das? – Das in mythologischen Denk- bzw. Lebensformen dargestellte wird nicht deduktiv oder mimetisch abgebildet, sondern autopoie89 Jacob Burckhardt an Gottfried Kinkel, 13. Juni 1842, in: Jacob Burckhardt: Briefe, hg. v. Fritz Kaphahn, Leipzig 1935, 58. 90 Alexis Philonenko: F. W. J. Schelling, in: Geschichte der Philosophie, Ideen, Lehren, Bd. V: 7 Philosophie und Geschichte, hg. v. FranÅois Chatelet, Frankfurt/M./Berlin 1974, 81–106, hier: 106. 91 SW XI, 194ff. und 220f. 92 Ernst Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1994, 8.

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tisch erzeugt. Gerade darin sieht dann Cassirer überraschenderweise die Möglichkeit, Schellings Spätphilosophie vom absoluten Idealismus (Hegels) abzulösen, das heißt sie „vom Boden der Philosophie des Absoluten auf den Boden der kritischen Philosophie zu versetzen“, sie zu prüfen, ob sie „einer kritischtranszendentalen Lösung fähig ist?“93 Und so bekräftigt Cassirer die Grundannahme Schellings: „Der mythologische Prozeß ist ein theogonischer Prozeß: ein Prozeß, in dem Gott selbst wird, in dem er sich, als der wahre Gott stufenweise erzeugt.“94 Womit aber auch klar ist: „Der mythologische Prozeß hat also nicht bloß religiöse, er hat allgemeine Bedeutung.“95 Im Dichter Friedrich Hebbel hatte Schelling gerade dafür einen kompetenten Gewährsmann für Übergangsprozesse – „Denken und Darstellen“, so bemerkt Hebbel, „sind die zwei verschiedenen Arten der Offenbarung. Das Denken hat es mit dem Unbeschränktesten zu thun […]. Das Darstellen wirkt im Beschränkten ein Unbeschränktes; darum sind im Laufe der Zeit alle philos[ophischen] Systeme abgethan worden, aber kein einziges Kunstwerk.“96 – Kurzum, es bleibt zu hoffen: „Wenn Denken erst und Dichten Auf ihren Zwist verzichten, Sich nach der langen Spaltung Aus der Gemeinheit Schichten Vereint aufs Höchste richten.“97

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E. Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, 14. E. Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, 10. SW XI, 216. F. Hebbel: Tagebücher, Bd. 1, 267 [Eintrag v. 12. August 1838]. Friedrich Rückert: Aus dem Nachlaß. Werke in vier Bänden, hg. v. Conrad Beyer, Leipzig 1905, Bd. 4, 511.

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Some Scenes from the History of the “Volksgeist”. Social Ontology in 19th Century German Nationalism

Abstract: This paper uses Google Ngrams to investigate into the history of the term Volksgeist, as well as of related terms. It is argued that the term is deeply rooted in – and shares the fate of – German Nationalism. However, some aspects of the underlying idea survive under other labels.

The concept of the Volksgeist – translated as the “mind” or “spirit of a people”, where it is not rendered in German in the relevant literature – has roots that go way further back in history, but it is in the context of the philosophical proponents of German nationalism – or perhaps proponents of German nationalist philosophy – that it has gained particular notoriety. The idea does not usually seem to strike recent and contemporary readers as particularly attractive. As the New Dictionary of the History of Ideas observes, “Volksgeist […] has not been a popular word among intellectuals since the middle of the twentieth century”,2 and in German, the otherwise rather restrained Historisches Wörterbuch der Philosophie calls it a thoroughly “discredited theorem”.3 The term itself and its cognates – “Volksseele”, “Volkscharakter”, “Volksbewußtsein”, “Volkskörper”, and “Nationalgefühl” (the soul, character, consciousness, and body of the people, and national sentiment) are often associated with German authoritarian collectivism, anti-democratic spirit, and anti-liberalism, and the literature provides ample evidence for this assessment.4 Even before it began, its final spook had begun. Friedrich Nietzsche called the Volksgeist a “phantom”,5 and the legal theorist Georg Jellinek denounced it as “merely a specter”.6 In recent social 1 I am grateful to the editors for helpful comments. 2 David Woodruff Smith: Volksgeist, in: The New Dictionary of the History of Ideas, Vol. 6, ed. by Marianne Cline Horowitz, Detroit 2005, 2441–2443, see 2442. 3 Andreas Grossmann: Volksgeist, Volksseele, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Vol. 11, Basel 2011, 1102–1107, see 1106. 4 For references see Hans Bernhard Schmid: ‘Volksgeist’ – ‘Moritz Lazarus’ Social Ontology, in: id..: Plural Action. Essays in Philosophy and Social Science, Dordrecht 2009, 181–196. 5 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Sommer 1872 bis Ende 1874, in: id.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, ed. by Giorgio Colli/Mazziono Montinari, Berlin 1978, III/4, 253. 6 Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, Berlin 1914, 153.

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ontology, such ideas are still denounced as “spooky”7 or “abominable”, and “perfectly dreadful metaphysical excrescences”.8 “Volksgeist” seems to epitomize a philosophico-political spook that has haunted Germany from the time it started with German romanticism and idealism, and that finally ended with the catastrophe of German nationalism the Third Reich. This general picture receives further support by this Google Ngram9 : 0.000450% 0.000400% 0.000350% 0.000300% 0.000250% 0.000200% 0.000150% 0.000100% 0.000050% 0.000000% 1820

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2000

Nationalgefühl Volkskörper Volksgeist Volksseele Volkscharakter Volksbewußtsein

Fig. 1 shows the relative frequency curve of the German words for the spirit, soul, consciousness, character, body of the people, and national sentiment, based on Google Book’s database over the time between 1800 and 2000. The most conspicuous feature is that the whole semantic field obviously peaks in the Nazi era in a brown and presumably foul blossom that withers away rather abruptly in 1945. The sole exception to the end of this spook is what one might think is the most remote member of this group, “Nationalgefühl”, the national sentiment, which has a small but noticeable come-back around the time of German reunification. Within this larger picture, some details hit the eye, and two of them are the following: – “Volksgeist” and “Nationalgefühl” have two earlier blossoms: a small one around the end of the Napoleonic era – the time of restoration –, and a considerable one in the early 40ies of the 19th century – the German Vormärz, the time preceding and leading up to the unsuccessful attempt of democratic national unification in the March Revolution of 1848 in the states of the German Confederation. It is at this time, not in the Third Reich, that the 7 Raimo Tuomela: The Importance of Us: A Philosophical Study of Basic Social Notions, Stanford 1995, IX, 5, 353, 367. 8 John R. Searle: Social Ontology and the Philosophy of Society, in: Analyse und Kritik 20 (1998), 143–158, see 150. 9 For a short and critical introduction to the powers and pitfalls of Google Ngram searches for historical inquiry cf. Chris Gratien/Daniel Pontillo: Google Ngram: an Intro for Historians, 2014, available at: http://hazine.info/google-ngram-for-historians/ [Nov. 8, 2015].

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“Volksgeist” has its all-time peak – it is the only member of its semantic group that is not surpassed in the Nazi era, and it is thus a bit surprising that in much of the literature, this item should epitomize the German philosophico-political spook in parts of the recent literature, rather than “Volkskörper”, “Volkscharakter”, or “Volksseele”, which seem to be much more conspicuous candidates for that role. – Like “Volkskörper”, “Volksseele” does not catch on in the early decades of the 19th century, and seems to play no role in the semantic battles between the eras of restoration and the liberal revolution. “Volkskörper” has its boom only in the Nazi era, but “Volksseele” has an astounding rise already in the years following 1870 – the time of German unification and the foundation of the German empire – followed by a twin peak in the late 1920ies and the late 1930ies. Mapping the frequency curves of those terms directly onto the big events of German national history may seem na"ve for a whole plethora of reasons, and it is certainly unusual as an approach to the topic of Classical German Philosophy and its Consequences. Conversely, however, it is hard to ignore that at least some of these terms have firm roots in core issues of classical German philosophy, and it seems obvious that one cannot remain silent on the topic of nationalism when speaking of the consequences of this tradition. Of course, nationalism is not a privilege of German intellectual history, and as far as current accounts of nationalism in the European thought of the 19th century are concerned, names such as the French historian Jules Michelet’s or the Polish poet Adam Mickiewicz’ often figure more prominently than those of the protagonists of classical German philosophy.10 Chauvinism has received a French name. Yet it deserves to be mentioned that it was in German that the very word “nationalism” was introduced in political thought.11 German nationalism seems to be somewhat different from nationalisms of other traditions in that it first appears on the scene in a distinctively philosophical guise. The philosophical project is an attempt to capture the unity of a people in the form that is perhaps at the core of classical German philosophy : the subject. Propagating the national unity of a people in terms of a subject with spirit, soul, passion, feeling, character, and a body is not a marginal point in German philosophical thought, and in the following, I will focus on three controversial scenes from the development of this concept, and a sequel that leads up to current concepts in which some of the 10 Cf., e. g. Llyod Kramer: Nationalism in Europe and America: Politics, Cultures, and Identities since 1775, Chapel Hill, UNC Press 2011. 11 Cf., e. g. Alan Patten: ‘The Most Natural State’: Herder and Nationalism, in: History of Political Thought 31/4 (2010), 657–689.

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underlying ideas survive. The first scene is in the pre-history of 19th century German nationalism, and it focuses on the origin of Johann Gottfried Herder’s conception of the soul of the people in his critical accommodation of Immanuel Kant’s concept of the subject. Kant’s philosophy, and the cosmopolitan individualism which his conception of the subject implies, develops in a contrast to the contemporary ideas of his student Herder (1.). The second scene jumps forward to the Napoleonic era, and it features Georg Wilhelm Friedrich Hegel and Johann Gottlieb Fichte. Both Hegel and Fichte spiritualize Herder’s affectively laden soul of the people in their respective attempts to nationalize – and indeed popularize, in a literal sense – the Kantian cosmopolitan subject. The third chapter fast-forwards to the end of the 1870ies – at the focus is Heinrich Gotthardt von Treitschke and his article Our Outlooks (1879), which makes heavy use of the semantics of the collective subject in coming to the conclusion that “the Jews are our misfortune”. This may be seen as the beginning of the end of the semantics of the Volksgeist, but a short side glance on Marx’ reading of Hegel will reveal a decidedly anti-nationalist guise under which the collective subject survives – for a while, until the break-down of the Soviet Union (3.). A concluding section (4.) addresses some of the ways in which in spite of appearances, the “Volksgeist” extends into current debates. Moritz Lazarus, one of the founders of “Völkerpsychologie”, sets his own conception of the spirit of the people against Treitschke’s view. And among Treitschke’s students we find the African American sociologist and historian William Edward Burghardt Du Bois, who finds ways to turn Treitschke’s “Volksgeist” into a tool to fit the purposes of the Civil Rights Movement. Under different terms, these two conceptions of the Volksgeist continue to be of great influence on current social thought and social ontology.

1.

The Enlightened Self, Kant, and Herder

Where classical German philosophy and its consequences are concerned, subjectivity is not an unlikely topic to come up. Subjectivity is tightly connected to other terms from the German philosophical tradition: self-determination, selfconsciousness, transcendental philosophy, idealism. At the core of the concept of the subject is the idea of something that is what it is through itself. A subject is not produced by anything else; it is self-constituted, to use a term under which the idea is widely discussed in contemporary philosophy. Epistemically as well as practically, a subject finds its determination through and within itself. From the perspective of social history, it is perhaps no coincidence that the idea of the subject first appears in classical German philosophy in a radically individualistic guise. The subject, that is the individual in terms of its being for and through

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him- or herself. Subjectivity is first-personal, and as the individual, subjectivity is first-personal in the singular. The subject is I – and only I am subject, because there is nothing other than myself that I have the kind of self-relation through which I am subject. But of course, anyone is a subject. Everybody is I, but each one only for him- or herself. In this way, the concept of the subject conjoins the ideas of radical singularity with strong universality. As the sociologist Niklas Luhmann keenly observed in his Social Structure and Semantics (2003), the idea of the subject both de-socializes human self-description, and universalizes human sociality. The development of the semantics of the subject is thus an emancipatory move, and politically speaking it has two sides: it is as radically individualistic as it is cosmopolitan. Understanding oneself as a subject, or individual, replaces a self-understanding in terms of what one is through others with a self-understanding in terms of what one is through oneself. A subject is a subject not through its belonging to a particular group, class, estate, or whatever other social category there might be. Being a subject is being an individual: it is not primarily a family-, guild-, or clan-member anymore, but just that: itself. In the guise of the semantics of individuality, the idea of the subject thus makes room for social dynamics, or, normatively put: individual freedom or self-determination. Conversely, this idea shifts responsibility from social structure to individual agency : problems can now be ascribed to the self-responsibility of individual decision. De-socializing human identity is not the only consequence of the semantics of individuality. It also comes with a perspective on a certain form of social integration. I is only me, but it is, at the same time, anybody, that is, everybody else, too: not just my family, my professional group, or class. As subjectivity, individuality both singularizes and universalizes human identity. Not only does it radically throw us back on our own sole self; it also brings all of us together. As Luhmann observes,12 the idea of reason plays the central role here, and nowhere is this more clearly expressed than in Immanuel Kant’s conception. The conception of the subject in terms of one’s own rational capacity, or autonomy, brings together individualism and cosmopolitanism. Conceived of in terms of reason, the idea of the subject is not just the idea of a metaphysically private existence in terms of what one is solely through oneself. As Kant makes clear, it comes with a political perspective, and that perspective is all-encompassing, or universal. As reason, what commits me in individual self-determination also conjoins me with everybody else. Reason is what is general in each, and thus ties

12 Niklas Luhmann: Social Structure and Semantics, Stanford 2003.

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singular selfhood to a perspective on identity in terms of the idea of humanity, or the universal “kingdom of ends” of rational existence. The Kantian idea of the subject thus ties radical singularity with the widest conception of plurality, individual self-will with the most universal communal spirit. Luhmann ironically calls this “a very strained conception”,13 and it does indeed not seem to be a particularly plausible one from a sociological point of view. Humans are not isolated specimens of the universal. They come in all sorts of social formations. Recent sociologists are not the first to note the problem. Kant’s student Johann Gottfried Herder picks up Montesquieu’s conception of the “spirit of the people” (which Montesquieu, following his ancient sources, takes to mean no more than that people tend to think and feel differently according to their geographical circumstances), and turns it into a truly communitarian program of human self-interpretation and self-constitution, and an alternative to the individualistic cosmopolitanism of the universal singular subject that Kant was developing at around the same time. Herder does not deny the enlightenment idea that in virtue of our reason, each single subject instantiates the universal. Yet we are, according to Herder, not just a formal “I think” to go with our thoughts. We are these thoughts, too, and we are the histories that connect these thoughts – histories that are not of single selves, but of tightly interconnected social lives –, and we are the particular language in which these histories are told. Reason may be universal, language is particular. In the last resort, our self-understanding thus captures us as people or nations – embedded in universal humanity, but with, as a recent interpreter of Herder’s views puts it, “incommensurable distinctiveness”.14 As the first theoretical proponent of the term nationalism, Herder’s prime focus is thus neither on the singular nor on the universal, but on the communal and the particular. For Herder, “nation” is primarily culture, especially language; culture is contingent and particular, not necessary and general. Culture could always have been different, but in the way it is, as historically grown, culture is ours, and it determines who we are, together, as a people, and it is in Herder that the idea that the claim to political self-government is based on this form of social identity finds its first and powerful expression. Communities, myths, epics, folk-songs, and folk-tales thus become politically important, and the idea of the “soul of the people” or “nationsoul” (“Seele des Volkes”, “National-Seele”) receives its clearest expression in Herder’s early work on epic and folk poetry,15 and while even in this context, he

13 N. Luhmann: Social Structure and Semantics, 156. 14 Fredrick M. Barnard: Herder on Nationality, Humanity, and History, Montreal 2004. 15 Cf., e. g. Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften. Vol. 1, Riga 1769, 3, 44, 47.

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sometimes uses the term “Volksgeist” or “Nationalgeist”,16 it is clear that it is not only in the domain of the rational or spiritual, and primarily in the affective or emotional domains that he places the form of unity that is the nation: “If there be an age in which the word fatherland has not yet become an empty sound, […] the term fatherland must make the poet a hero as much as it makes the hero a poet, and both of them sympathetic sons of their fatherland. […] And if poet and hero and son of the fatherland are now united in a single person, then we find ourselves in the age of patriotic laments. These complaints will issue not from a learned pen but from an overflowing heart; they will live not only on the page but in the memory, in the soul; the voice of tradition will preserve them and the mouth of the people sing them; they will provoke tears and deeds: they are a national treasure, and the feeling that they celebrate and arouse is a national feeling, the national spirit. It will therefore be a single patriotic sentiment that now blossoms into deeds, now into songs, now into tears for the fatherland, depending on whether patriotism, as it develops, guides the sentiment this way or that and does not choke any of its offshoots.”17

Reading Herder’s nationalism as an alternative to Kant’s contemporary cosmopolitan individualism suggests placing Herder’s idea of the “national soul” alongside Kant’s transcendental subjects as versions of the enlightenment self. By socializing the enlightenment self, Herder at the same time historicizes, nationalizes, and emotionalizes that concept. The concept of being oneself thus becomes a matter of the analysis of particular, communal ways of feeling, of sensitivities and sentiments that are formed within national traditions, a form of collective self-feeling under the aegis of folk-poetry. Herder’s nationalism seems to be free of any sense or sentiment of national superiority (if it sometimes seems in Herder’s writings that Ancient Greece is the “paradigm” or “original” of the very concept of the national soul or spirit, this is because of Herder’s enthusiasm for the way in which the particular Greek national soul emerged from the participation of the public rather than some patronage of despotic power, and thus expresses his republican bias). Each nation has its own soul, and each soul is special. Herder’s national soul knows no chauvinism, and his nationalism is what Yael Tamir has identified as nationalism of the liberal sort18 – a tradition which he even may be claimed to have started. Over and above the plurality of national souls, there is the idea of universal humanity, but the idea that one particular soul should be allowed to pride itself to be the bearer of the spirit of humanity, or some sort of avant-garde of the universal (as we later find it in Hegel), seems to be alien to Herder. At the same time, the way in which Herder depicts the national soul as par16 J.G. Herder: Kritische Wälder, 49. 17 Johann Gottfried Herder: Critical Forests: First Grove, in: id..: Selected Writings on Aesthetics, transl. and ed. by Gregory Moore, Princeton 2006 [1769], 51–176, see 67. 18 Yaeel Tamir : Liberal Nationalism, Princeton 1993.

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ticular invokes a sense of purity that comes with exclusion. Chauvinism is not the only problem of nationalism. In Herder’s conception, each nation can be what it is only in and for itself, in its particular way – other ways of feeling and forms of acting may be invited to develop their own form of national self-determination, but they do not seem to be particularly welcome to intermingle (we will come back to this issue in the section on Treitschke). From its very beginning, there is an exclusive trait that resides in the idea of nationalism. The problem of any such conception is that of a pre-established collective identity on which political selfdetermination is assumed to supervene. And this goes against the grain of the idea that whatever unity of political self-determination there is, is made rather than found, and that whatever recourse is made to pre-political culture and historical traditions in the determination of who’s in and who’s out in the unit of political self-determination simply eschews facing the basic problem – or perhaps paradox – in the self-constitution of the subject of political self-determination: who we are, who’s in and who’s out, is up to us – an idea taken up and developed to an extreme in Fichte’s thought as a reaction to Napoleon’s imperialist nation-building program in Europe.

2.

Napoleon, Hegel, and Fichte

Herder’s idea of a general humanity – a sort of cosmopolitan identity that is over and above the nations and does not have any privileged connection to any national soul – seems to have spelled out as some sort of global freemasonry in Herder’s mind. This is rather remote from real-life politics. In the figure of Napoleon, the idea of relating nation to mankind turned imperialistic in practice. Napoleon’s conception of the nation seemed to focus on nations as living and active creatures rather than on nations as sentiments in the way Herder imagined. “Vive la nation” was the battle cry with which Napoleon’s armies carried the spirit of the French revolution across Europe. “Vive la nation” is not “vive la France”. The core idea is not of a particular nation, but of the principle of national self-organization: each nation for itself, a sort of cosmopolitan individualism on the level of nations – yet within the same movement, France becomes the paradigm of the “nationalizing empire”.19 Rebecca Comay summarizes the relation of “classical German philosophy” to this development as follows: “The project of German idealism – autonomy in all colors, shapes, and sizes – becomes the virtual precursor and prolongation of the political event”.20 Yet this “prolongation” is not without twists and turns, as 19 Nationalizing Empires, ed. by Stefan Berger/Alexei Miller, Budapest/New York 2015. 20 Rebecca Comay : Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution, Stanford 2011, 2.

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becomes obvious from the way Hegel and Fichte attempt to develop Herder’s views further. Georg Wilhelm Friedrich Hegel agrees with Herder that selfhood is not simply a matter of singular interiority that is charged with rational universality. Selfhood is historical and cultural, a matter of language and traditions, and for Hegel, too, this involves a people and indeed a nation. The self-constitution of the subject is in the political and cultural history of the nation, and it is a nationalist project in Herder’s sense. At the same time, Hegel is Kantian enough to see this not primarily as a matter of the soul, the affective parts of the mind, but as a matter of reason. Thus it is not the soul, but rather the spirit of the people which he invokes, and it is not so much a matter of poetry, as in Herder, but of philosophy. Hegel’s use of the term “Volksgeist” should certainly not be over-estimated, but it is there, and it does play a role. In his lectures on the history of philosophy, Hegel here expresses the view that the “Volksgeist” develops in history, that the development of the Volksgeist is tied to a succession of states’ governmental organization, and that the development goes from “low” to “high”, and that philosophy – the “standpoint of thought” grounds the “Volksgeist” in terms of the “self-consciousness of the people”: “[T]he definite character of the standpoint of thought is the same character which permeates all the other historical sides of the spirit of the people, which is most intimately related to them, and which constitutes their foundation. The particular form of a Philosophy is thus contemporaneous with a particular constitution of the people amongst whom it makes its appearance, with their institutions and forms of government, their morality, their social life and the capabilities, customs and enjoyments of the same; it is so with their attempts and achievements in art and science, with their religions, warfares and external relationships, likewise with the decadence of the States in which this particular principle and form had maintained its supremacy, and with the origination and progress of new States in which a higher principle finds its manifestation and development. Mind in each case has elaborated and expanded in the whole domain of its manifold nature the principle of the particular stage of self-consciousness to which it has attained. Thus the Mind of a people in its richness is an organization, and, like a Cathedral, it is divided into numerous vaults, passages, pillars, and vestibules, all of which have proceeded out of one whole and are directed to one end. ”21

According to Hegel, the nation-state is not just a formal general principle of political organization according to national self-determination. As “spirits”, nations and nation-states are located on a scale; some of them are “lower”, some “higher”. Asian and African people lack any self-consciousness of their freedom, and they thus do not “exist as being free”.22 Yet whereas Asian people have at least 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Lectures on the History of Philosophy, Vol. 1, transl. by. E. S. Haldane, London 1892 [1831], 53f. 22 G.W.F. Hegel: Lectures on the History of Philosophy, 22.

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some “ethical life”, African people do not seem to have developed any spirit at all in Hegel’s view, as their “human development” is “arrested” at the level of “the sensuous nature” of “childlike good nature” and “unreflected ferocity”.23 It is hard to imagine that Herder, had he thought of African people, would have judged this way – and in order to understand the way in which the history of the term “Volksgeist” epitomizes the development of German nationalism, it is important to know why. One obvious reason is in Hegel’s dialectic, and thus the aim to justify, in his analysis, his own position as the position from which a judgment is made. According to Hegel, the Volksgeist comes to full self-awareness in Hegel’s own philosophy, and that Volksgeist is Prussian. Hegel’s nationalist turn of the idea of the subject thus substitutes Napoleon’s imperialist agenda with the awakening of the principle of national mindedness in the alleged fate of German culture, and it is hard to deny that this project shows some chauvinist traits. Johann Gottlieb Fichte defended the French Revolution even after critical reactions by the German intellectual public to the occurring acts of political violence.24 Yet in his Addresses to the German Nation, delivered and published in the wake of Napoleon’s subjugation of Prussia, he proves to be rather disenchanted with the whole project. Here, he advocates a kind of nationalism that develops distinctive traits. Transferring his idea of the “Tathandlung” of selfconstitution to the national level, he develops the idea of the nation not as a general form of unity, but as a particular German task; the nation-state is a “mere concept” that becomes real through political self-organization as the “national spirit”, and the voice track of the spook of that “Volksgeist” is in German. Herder’s idea of a historical, cultural, linguistic pre-determination of the collective “self” of national self-determination is not alien to Fichte; yet at the same time, he clearly understands it as a truly governmental “act” of self-constitution in a rather brute and militantly patriotic attitude: as “Volksgeist”, nation constitutes itself as the state through its members’ patriotism. For Fichte, the question “what is a people?” is the question “what is love of fatherland?”.25 The way in which Fichte conceives of patriotism openly pits the idea of the spirit and soul of nation against liberalism. Fichte’s version of the “Volksgeist” is nothing but openly declared anti-liberalism about the state in its relation to society : “Love of fatherland must govern the state by putting before it a higher purpose than the ordinary one of maintaining internal peace, property, personal freedom, life and the 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Lectures on the Philosophy of World History, Vol. 1, transl. by. Robert F. Brown/Peter C. Hodgson, Oxford 2011 [1822/23], 196. 24 Cf. David James: Fichte’s Social and Political Philosophy, Cambridge 2011, 57ff. 25 Johann Gottlieb Fichte: Addresses to the German Nation, transl. and ed. by Gregory Moore, Cambridge 2009 [1807/08], 100.

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well-being of all. For this higher purpose alone, and with no other end in view, does the state assemble an armed force. When the question of the deployment of this force arises, when it is a matter of staking all the aims of the state according to its limited concept – property, personal freedom, life and well-being, indeed the continued existence of the state itself; when we are called upon to decide originally, answerable to God alone, and without a clear notion that what is intended will be surely achieved, which is never possible in things of this nature; then and only then does a truly original and primal life take the helm of state, and at this point only enter the true sovereign prerogatives of government: to hazard, like God, the lower life for the sake of the higher. In maintaining the traditional constitution, laws and civic welfare there is no truly authentic life at all and no original decision. These are the creation of circumstances and contingencies, of legislators perhaps long dead; subsequent ages continue faithfully along the road once taken and do not in fact live a public life of their own, but merely repeat a former one. In such times there is no need for government proper. But if this orderly progress is imperiled, and now is the time to decide about new and unprecedented cases, then a life is required that lives out of itself. What spirit is it that may in such cases take the helm […]? Not the spirit of calm civic love for the constitution and laws, but the blazing flame of the higher love of fatherland that embraces the nation as the vesture of the eternal, for which the noble man joyfully sacrifices himself and the ignoble, who exists only for the sake of the former, should likewise sacrifice himself”.26

Here, we find Fichte talk not so much of a universalist Principle of the life of Nations, but of something of which he conceives as a special Teutonic matter. Even though Fichte occasionally ascribes other nations a spirit of their own, and even though the cosmopolitan idea is not absent from Fichte’s addresses, “true” Volksgeist is exclusively German: “it must be evident that only the German – the original man whose spirit has not become dead in some arbitrary organisation – truly has a people and is entitled to reckon on one; that only he is capable of real and rational love for his nation”.27 Only the Germans, it seems, are people with full authentic life and true spirit. The “Volksgeist” thus develops into an autistic or indeed solipsistic idea, and Fichte’s idea of political self-constitution oscillates remarkably between an emphasis on fate and pre-determination through archaic cultural sources – a pre-figured German identity – and a collective act of political self-creation or self-enactment.

26 J.G. Fichte: Addresses to the German Nation, 106f. 27 J.G. Fichte: Addresses to the German Nation, 100.

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3.

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Treitschke, the Beginning of the End – and a side glance at Marx

Let us fast-forward in the history of the semantics of the collective subject and the development of nationalist conceptions that are connected to it. The place is still Berlin, but the time is more than seventy years after Fichte’s Addresses to the German Nation. And much has happened in the meantime in matters of the Volksgeist and its cognate terms. A look at the Google Ngram in Fig. 1 above shows that the Volksgeist has its hayday in the semantics of societal self-description behind it. The Volksgeist will be reactivated during the Nazi-era, but not even in the worst hours of German nationalism will it rise to the heights of early 19th century. It is the time at which the soul rather than the spirit of the people has its rapid ascent. The soul of the people is a matter of feelings, emotions, and sentiments rather than a matter of concepts, social institutions, and Hegelian cultural objectivations of the spirit; the idea has its roots in Herder, but somehow the idea does not really seem to have caught on in the public discourse until the later 19th century. But now, the Herderian idea experiences a real boom, and particularly in its Fichtean version; the rhetoric is now full of national feelings and passions, love of nation, and sometimes, perhaps, national hatred. Collective self-constitution or self-enactment is now expressive of collective emotions. In 1879, Heinrich von Treitschke publishes his notorious paper Our Outlooks.28 In this paper, there is much talk of national passions and excitement, of the “ardent longings” of various nations,29 and other such ideas. Treitschke argues that in the German case, “a wonderful and mighty arousal” comes from the “depths of the life of the people”. The “instinct of the masses” – and not, as Treitschke emphasizes, the press – has “recognized a serious danger […] of German life”, a danger that threatens Germany, as Treitschke argues, “from a clan of Polish Jews”. Of this “clan of Jews”, Treitschke says that according to experience, it is “pitted against the European and German nature”. Treitschke’s demand is the following: “What we have to demand from our Israelite fellow citizens simply is: they ought to become German, they ought to feel simply and rightly German – save their faith and their old holy memories that are venerable to us all; for we do not want the millennia of German manneredness [Gesittung] to be followed by an age of German-Jewish mixed culture.” It is within this attempt to uphold an ideal of some national cultural purity that the infamous slogan “the Jews are our misfortune” appears in print – the motto of later Nazi propaganda. 28 The following passage owes much to repeated discussions with Jelena Jankovic. 29 Henrich von Treitschke: Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), 559–576.

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Whatever exactly Treitschke’s own position and role in this may be, the Antisemitism-Controversy that Treitschke started with this paper is obviously related to later Nazi nationalism in that “spirit”. One might think that any such ideas have sufficiently revealed themselves for what they are in that period and do not deserve closer attention. This suggests a return to the attitude mentioned at the beginning above: history itself bears witness against any such excrescences of classical German philosophy, and the case against the nationalist version of the collective subject was closed in 1945. Yet the nationalist type is not the only version of the semantics of the collective subject, and not all versions of that semantics ended in the public discourse of societal self-description in 1945. Another branch of the semantics of the collective subject with equally firm roots in classical German philosophy came into its own only in the time after ’45, and if you trust the Google Ngram in Fig. 2, it mattered to societal self-description in the German speaking world in the time after World War II to a degree that the nationalist version of the collective subject never had. Picking up on Hegel’s ideas on the objective spirit, Karl Marx developed views on the nature and role of class consciousness. Politically, this version of the collective subject is certainly pitted against the nationalist branch. Yet in the purely formal sense of collective organization through collective selfenactment, it, too, is a conception of the collective subject. Decidedly internationalist as the idea of class consciousness may be – “working men of all countries, unite!” demands the Communist Manifesto – there is a formal similarity of this and Fichte’s call to collective self-enactment. Fichte calls upon the German people to come into its supposed national own by turning what it already is on a pre-political level – a “nation” through language and culture – into a self-enacted collective subject; Marx calls on the proletarians to turn what they already are on a pre-political level – a “class” in terms of their relations to the means of production – into an organized unity and thus a self-enacted collective subject.30

30 Hans Bernhard Schmid: Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Freiburg i. Br. 2012, 76f.

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0.000600% 0.000550% 0.000500% 0.000450% 0.000400% 0.000350% 0.000300% 0.000250% 0.000200% 0.000150% 0.000100% 0.000050% 0.000000% 1820

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Nationalgefühl Volkskörper Volksgeist Volksseele Volkscharakter Klassenbewußtsein Klassencharakter Volksbewußtsein

Fig. 2 shows the impressive career curve of “Klassenbewußtsein” and “Klassencharakter” in the time after World War II. The rapid ascent of these terms until its peak in the 1970ies German discourse is followed by an equally rapid decline, and it is hard not to map this rise and decline onto the contemporary historical events, especially the end of the Soviet Union and of the German Democratic Republic. It may seem that this look beyond the national tradition confirms that classical German philosophy, in promoting and developing further the idea of the collectivized transcendental subject, has created a “perfectly dreadful metaphysical excrescence”, not only in the nationalist version of this idea. “Class consciousness” has a problematic history, too, and it may appear just as another chapter and thus a prolongation of the same spook – a view somewhat along the lines Karl R. Popper developed in his Open Society and its Enemies (1945).31 At the beginning of the 21st century, the idea of class consciousness may seem to be almost as pass8 as the Volksgeist. Should one say that now, the spook of the collective subject has finally ended? Should we – in this regard at least – finally commit this “excrescence” of classical German Philosophy to the historical archives, and place our current aims in social thought and social ontology in another tradition, a philosophical tradition that developed independently of German philosophical thought and remained utterly unimpressed by the authoritarian collectivism of the semantics of the collective subject? Locke, Hume, Mill, Rawls, Nozick – there is no spook of some collective spirit or collective soul in this stoutly liberal Anglo-Saxon tradition. And after our look at the German philosophical tradition, it seems difficult not to feel grateful for this resistance.

31 Karl Raimund Popper: The Open Society and its Enemies. Vol. 1: The Spell of Plato. Vol 2: The High Tide of Prophecy : Hegel, Marx, and the Aftermath, London 1945.

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4.

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Continuation and New Beginnings: Lazarus and Du Bois

It is now time to show what was promised above: how in spite of all Google Ngram appearances, the history of the collective subject, especially of the “Volksgeist” and “Volksseele” versions, is not merely a matter of the past, but has branches that survive into the present. The connection is not where one would expect it to be, not in the work of those who in the recent literature, often refer back to the likes of Herder and Hegel. It has been objected to the liberal tradition that it lacks an adequate understanding for the role of national, cultural, or political identities,32 and while some of the critics place themselves in the Aristotelian tradition, Charles Taylor is among those who explicitly refer back to German thought in this context. Since the turn of the millennium, Hegel has become an often-made reference even in parts of Anglo-Saxon social thought.33 Yet such projects as the project of unearthing “the Social Foundations of Democratic Life” – a task that Honneth34 sets himself –, relies on other Hegelian conceptual tools than the Volksgeist. Browsing through the current Anglo-Saxon literature that aims at developing further current social thought on the base of German idealism, it seems that accounting for the fact that this tradition is expressive of German nationalism is certainly not foremost on the agenda. “Recognition” rather than the “Volksgeist” has become the leading idea of the recent renewal of classical German philosophy in current social and political philosophy, and the “Volksgeist” is passed by in silence. “Recognition” is between individuals, and even where it includes social identity in terms of group memberships, it includes group membership as a feature of individuals, and does not touch on the question of whether in virtue of that feature any such group might have a mind or soul of its own. Whatever holistic conception of social or cultural identity is developed in this tradition carefully seems to avoid any connection to authoritarian collectivism such as associated with the Volksgeist. Yet recent re-interpretations of classical German philosophy may not be the only (or even the foremost) way in which classical German philosophy impacts our current thinking. To see two other lines of influence, let’s return to the Treitschke-scene and take it from there. Here, we find not only the beginning of the final political disaster, 32 Cf., e. g. Aladsair McIntyre: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981; Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of Modern Identity, Cambridge/Mass. 1989. 33 Cf., e. g. Frederick Neuhouser : Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge/Mass. 2000; Hegel on Ethics and Politics, ed. by Robert B. Pippin/Otfried Höffe/Nicholas Walker, Cambridge 2004; Robert B. Pippin: Hegel’s Practical Philosophy, Cambridge, Cambridge 2008. 34 Axel Honneth: Freedom’s Right. The Social Foundations of Democratic Life, Cambridge, Polity Press 2014.

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but also the context of two new and influential developments in the semantics of the Volksgeist. Among Treitschke’s opponents, we find Moritz Lazarus, one of the founders of Völkerpsychologie, the psychology of peoples. In line with his overall project, Moritz Lazarus accepts the concept of the spirit or mind of a people, but he attempts to give it a distinctively liberal twist. And without using the term, his student Georg Simmel followed this line and imparted it to current social ontology (i.). Also, we find among Treitschke’s students the Afro-American sociologist and historian Edward Du Bois, who later transfers Treitschke’s concept of the Volksgeist into the Civil Rights Movement, with considerable impact on current thought on political identity (ii.). (i.) In his critical reaction to Treitschke’s Our Outlooks, published in 1880 under the title What Does ‘National’ Mean?, Lazarus does not reject the idea of the spirit or soul of a people, but rather gives it a politically liberal reading. Lazarus takes on the assimilationist demand made by Treitschke by rejecting the view that the spirit of the people is a matter of pre-political givens such as geography, language, or other forms of Hegelian objective spirit.35 According to the view Lazarus’ had developed together with Heyman Steinthal in his programmatic writings, “the people is a mental product of the individual that belong to it”.36 “What makes a people a people lies in the subjective view of the members of the people who regard themselves as a people. The concept of the people rests on the members’ own subjective view of themselves”.37 “Nation” is no prepolitical structure that predetermines who’s in and who’s out in a collective selfenactment as a nation. Nation is really nothing but attitude. There’s no geography or history that tells us who we are; we’ll have to make it ourselves. Lazarus thus opens the Volkgeist to a decidedly liberal, participatory reading, and develops a view on a radically hermeneutic perspective on the theory of the nation. Nations cannot be determined from the outside: “We have to explicate the existing subjective (implicit) definitions given by peoples of themselves”.38 This is the basic program of Völkerpsychologie, and its participatory and liberal potentials distinguish it favorably from the exclusive collectivism of the likes of Treitschke’s and other conceptions. Yet Lazarus sees clearly that his conception involves a circle. If to be a nation is 35 For a more detailed discussion, cf. H.B. Schmid: ‘Volksgeist’. 36 Moritz Lazarus/Heyman Steinthal: Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1860), 1–73, see 36; Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und der Kulturwissenschaft, ed. by Christian Köhnke, Hamburg 2003, 89. 37 M. Lazarus/H. Steinthal: Völkerpsychologie, 34f.; M. Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie, 88. 38 M. Lazarus/H. Steinthal: Völkerpsychologie, 35; M. Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie, 88; id.: Was heißt national? Ein Vortrag. Berlin 1880, 13.

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for individuals to see themselves as such, that attitude seems to presuppose what it constitutes. Lazarus goes as far as to call his definition of a people as “a crowd of people who see themselves as a people” a “logical mistake”.39 One way of putting the problem is to say that when individuals see themselves and others as members of a people, they do so because they think this is what they are – and not the other way around. And as Lazarus observes, the participant view is always based “on a certain objective content”, that is, “such objective circumstances as origin, language, and so on”. Though Lazarus quickly adds that the “decisive point” of the Volksgeist is not in these objective conditions, but always in a “subjective and free act of self-conception as a whole and single people”.40 But in the resulting view, the “objective circumstances” do not in fact seem to leave much more room for an open and liberal, autonomous act of self-creation than earlier exclusive conceptions; the “freedom” of collective self-conception is limited to taking up and reflexively endorsing what’s already there in terms of objective structures. Collective self-constitution can do no more than decidedly transform ready-made pre-political structures into a political self-conception. Again, “Volksgeist” thus appears largely as a matter of historical and cultural fate, and with this, Lazarus’ liberal transformation of the Volksgeist seems to reach a dead end.41 Once again – and this time very much against the author’s intention –, thinking in terms of the Volksgeist seems to condemn to an understanding of collective identity that perpetuates structures of historical and cultural closure and exclusion instead of encouraging a self-understanding that connects our conception of what we collectively are to our actions, initiatives and projects. In the given case, the critical question is this: is the difference between Treitschke and Lazarus ultimately simply that Lazarus ads to the assimilation demanded by Treitschke that this assimilation has to be reflectively endorsed by those who are to be assimilated, rather than a proper liberal alternative that allows for national unity to be made and transformed rather than found? Whatever one might think of the merits of Lazarus’ own attempt to liberalize the Volksgeist, it should be emphasized that the basic constructivist thrust of his conception of collective identity developed in this context has been of tremendous influence on later social thought, with straight lines into core issues of current social ontology. Lazarus co-founded Völkerpsychologie as a discipline, a line of research that very much against the intention and thrust of its proponents came to be viewed as implicated in the catastrophe of German nationalism. After World War II, it was seen “as a form of national stereotyping” and “associated 39 M. Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie 2003, 88; M. Lazarus/H. Steinthal: Völkerpsychologie, 35). 40 M. Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie 2003, 89f. 41 H.B. Schmid: ‘Volksgeist’.

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with the racist ideology of the Nazis”.42 Especially as far as Lazarus’ conception of the Volksgeist is concerned, the main line of influence follows a different path. The sociologist Georg Simmel, a student of Lazarus’, has formed his basic understanding of the ontology of social units on Lazarus’ Volksgeist. Simmel drops that term, but the basic conception remains the same: social units are constituted by the members’ consciousness of that unit.43 This constructivist line is powerful in current social ontology, and when Margaret Gilbert rightly calls her conception of the “plural subject” a “Simmelian View”,44 it certainly deserves to be mentioned that this much-debated approach to social ontology ultimately goes back to Lazarus’ attempt to reformulate the Volksgeist in the Berlin Anti-Semitism Controversy. (ii.) Another person deserves to be added to the constellation between Treitschke and Lazarus. Among Treitschke’s students in Berlin in the early 1890ies, we find Willam Edward Burghardt Du Bois, a historian and sociologist and later to become a leading protagonist of the Afro-American Civil Rights Movement. As Treitschke’s student, Du Bois resorbs German Volksgeist nationalism, and he transposes Herder, Hegel, and some of the later trumpery of the semantics of the Volksgeist and the national collective subject to the slums of Harlem.45 “Black Nationalism” becomes a keyword, and Du Bois contrasts integrationist conceptions such as Frederick Douglass’ with his own conception. “Race” rather than such features of received nationalism as history, culture, or language is the prime term here. Du Bois’ black nationalism entails a “conservation of races”: “The history of the world is the history, not of individuals, but of groups, not of nations, but of races, and he who ignores or seeks to override the race idea in human history ignores and overrides the central thought of all history”.46 Du Bois continues by turning the conception of the Volksgeist sharply against its Teutonic origins: “We are Negroes, members of a vast historic race that from the very dawn of creation has slept, but half awakening in the dark forests of its African fatherland. We are the first fruits of this new nation, the harbinger of that black to-morrow which is yet destined to soften the whiteness of that Teutonic to-day”.47

42 Egbert Klautke: The Mind of the Nation. Völkerpsychologie in Germany, 1851–1955, New York, Berghahn 2013, 147ff. 43 Georg Simmel: Sociology. Inquiries into the Construction of Social Forms, Leiden 2009 [1908], 40–52). 44 Margaret Gilbert: On Social Facts, Princeton 1989. 45 Cf. Ronald R. Sundstrom: Douglass and Du Bois’s Der Schwarze Volksgeist, in: Race and Racism in Continental Philosophy, ed. by Robert Bernasconi/Sybol Cook, Bloomington 2003, 32–51. 46 William Edward Burghardt Du Bois: The Souls of Black Folk, Oxford 2007 [1903], 180. 47 W.E.B. Du Bois: The Souls of Black Folk, 184.

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It is hard to accept the affirmative way in which this relates to Hegel’s chauvinist claim that in Afrika, the collective mind is sleeping or in an infantile state of development. But Du Bois turns this depreciative evaluation into a promise for the future. Du Bois’ racial discourse “from below” has become a lasting point of reference in the debate on the politics and culture of identity.48 Together with Douglass, Booker T. Washington and other “rivals”,49 Du Bois has set up the system of coordinates in which current debates on collective and national identity moves – here, too, the history of the Volksgeist finds a form of continuation as much as of transformation.

Conclusion Conceptual history, even where it is carried out in such a rough and sketchy way as in this paper, is rarely pursued for its own sake, and we engage the history of the classical German philosophy in the aim of gaining philosophical insight. This paper focused on a particularly problematic concept from classical German philosophy : the Volksgeist, and the history of nationalism to which it is tightly linked. Nationalism has appeared in this tradition in the form of a semantics of the collective subject, and the Volksgeist epitomizes this connection. We might think that the spook of the national mind – spirit and soul – is behind us. Yet classical German philosophy has not only generated the nationalist version of the semantics of the collective subjects – decidedly anti-nationalist ideas such as class consciousness are conceptions of political collective subjects, too, and have the same source. However, with some delay, internationalist versions of the semantics of the collective subject seem to have shared the same fate. In the nationalist as well as in the internationalist version, the conception of the collective subject as developed in classical German philosophy has been thoroughly discredited, and those who aim at re-reading authors from the classical German philosophical tradition for the purpose of current social thought usually avoid the topic. But not everything about the Volksgeist is simply a bygone spook. Lazarus and Du Bois are points of departure for new and influential versions of the project started in a liberal mind by Herder, and then developed into different directions by Hegel and Fichte, with reference to Kant, as the project of collective self-constitution. Lazarus’ conception of the nation as a form of collective selfawareness and self-ascription informs Simmel’s conception of social units as 48 Cf. Kwame Anthony Appiah: Lines of Descent: W. E. B. Du Bois and the Emergence of Identity, Cambridge/Mass. 2014. 49 Raymond Wolters: Du Bois and his Rivals, Columbia 2002.

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group-consciousness of its members – a view that is still influential in current social theory and social ontology. And Du Bois is a lasting reference in the debate on social, collective, and cultural identity, and on the politics thereof- a debate which in the Anglo-Saxon world has developed in the shadows of authors such as Rawls and Nozick. It is a widely shared view that the sort of analytical practical philosophy, which Rawls initiated by focusing on formal aspects of justice and democratic legitimacy, has neglected issues of collective identity. A theory of justice that takes its departure from a conception of discrete and self-contained individuals turns a blind eye on those possibilities, opportunities, limitations, and perhaps peculiarities that accrue to us in virtue of our memberships and collective identities. This has been a topic of recent communitarian and feminist criticism of standard political liberalism. We seem to need a clear understanding of the contours and structures of what we are together as much as we need a clear understanding of what each of us is for him- or herself in order to be able to answer the basic question of justice and the procedures of legitimization in a convincing way. This continued demand seems to be reflected in the Ngram (Fig. 3), where we see terms such as “national identity”, “cultural identity”, and “collective identity” on the rise in the semantics of social self-description. 0.000600% 0.000550% 0.000500% 0.000450% 0.000400% 0.000350% 0.000300% 0.000250% 0.000200%

nationale Identität kulturelle Identität

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Ein Appell an die Freiheit. Existenz, Mythos und Freiheit bei H. Jonas und F.W.J. Schelling „Gott schlägt die Freiwilligkeit des Geschöpfs so hoch an, daß er das Schicksal seines ganzen Werks von dem freien Willen des Geschöpfs abhängig machte.“1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

„Neue Solidarität“ nach Auschwitz Ob der Lauf der Geschichte Einfluss auf die metaphysische Bestimmung des Weltganzen hat, ist schwer nachzuzeichnen. Unbestreitbar ist hingegen, dass sich mit einem wandelnden Bewusstsein auch unser Verständnis von uns selbst und der Welt nachhaltig ändert. Obzwar sich durch die Geschichte die Ausdrucksform des Vernünftigen ändert, ist das Vernünftige nicht wandelbar. Das Vernünftige ist Eins und ewig. Die Feststellung von Wilhelm Dilthey, dass die „Mannigfaltigkeit der Systeme […] mit dem Leben in offenbaren Zusammenhang steht“ und „eine der wichtigsten und belehrendsten Schöpfungen desselben“ ist,2 belegt, dass unsere „Weltanschauungen“, wie er fortfährt, „ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung“ sind. Dennoch ist seine Ansicht, dass sie bloß aus dem „Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität“ hervorgehen,3 wenig überzeugend. Obwohl es in Folge konsequent erscheint, darzulegen, dass die „Weltgeschichte als das Weltgericht“ jedes metaphysische System als „relativ, vorübergehend, vergänglich“ erweist,4 impliziert dies, dass auch Diltheys Ver1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke in XIV Bänden, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861, Bd. XIII, 359. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 2 Wilhelm Dilthey : Das geschichtliche Bewusstsein und die Weltanschauungen, in: Gesammelte Schriften, Stuttgart 1957ff., Bd. VIII, 78. Im Folgenden zitiert als GS mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 3 W. Dilthey : Die Typen der Weltanschauung, GS VIII, 86, 111. 4 W. Dilthey : Das geschichtliche Bewusstsein, GS VIII, 12, 36; vgl. Vittorio Hösle: Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon (Elae 1), Stuttgart–Bad Cannstatt 1984, bes. 50,

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ständnis nur relativ, vorübergehend, vergänglich ist. Liegt Dilthey richtig, kann keine Aussage darüber getroffen werden, inwiefern sein Verständnis Geltung für sich beanspruchen kann; will jenes Geschichtsverständnis hingegen für sich Wahrheit beanspruchen, steht dies im Widerspruch zu den angeführten Voraussetzungen und muss dementsprechend an sich selbst einen allgemeinen Wahrheitsanspruch stellen. Ist dem nicht so, ist nicht einzusehen, inwiefern diese Überlegungen überhaupt Geltung haben. Dass die Geschichte uns über den Menschen aufklärt, haben die entsetzlichen Jahre des „Auschwitz-Wütens“ in erschreckender Weise gezeigt,5 denn diese haben die Menschheit vor eine kaum zu fassende und noch schwerer zu überwindende Aufgabe gestellt. Jene erschreckende Zeit hat dem menschlichen Selbstverständnis, durch das „Ausmaß des Schrecklichen und Entsetzlichen, was Menschen anderen Menschen antun können“,6 etwas hinzugefügt, was nicht für möglich gehalten wurde und doch geschah. Schon in der Antike herrschte, wie Schelling darzustellen weiß, die Vorstellung, dass nur ein „unverschuldeter Mord der Versöhnung fähig war“ (SW VIII, 373).7 Angesichts der Vernichtungsmaschinerie in den deutschen Lagern sind wir nun vor die Frage gestellt, ob überhaupt noch Versöhnung möglich ist. Dass Hannah Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ wenig zur Bewältigung der tiefen Erschütterung des zwischenmenschlichen Grundvertrauens beiträgt,8 hat Hans Jonas mit gutem Grund kritisiert. Es kann nicht darum gehen, den einzelnen Mörder als Unschuldigen zu verstehen, „der gar nicht recht wußte, was er tat, sondern einfach treu erfüllte, was ihm aufgetragen war.“9 Wird das Morden auf diese Weise entschuldigt, wird damit auch die Verantwortung preisgeben,10

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128–130; ders.: Theodizeestrategien bei Leibniz, Hegel, Jonas, in: Leibniz und die Gegenwart, hg. v. Friedrich Hermanni/Herbert Breger, München 2002, 27–51, hier : 47f. Hans Jonas: Kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Dietrich Böhler/Michael Bonghardt/ Holger Burckhart/Christian Wiese/Walter Christoph Zimmerli, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010ff., Abt. III, Bd. 1, 422. Im Folgenden zitiert als KGA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. KGA III/1, 408. Vgl. hierzu Christiane Zimmermann: Der Antigone-Mythos in der antiken Literatur und Kunst, Tübingen 1993, bes. 318. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2011, 371, 56f., 93ff., 115ff., 317ff.; dies.: Vom Leben des Geistes, 2 Bde., München 1979, Bd. 1, 14f.; dies: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006, 23f. Zu Arendts Verständnis von Banalität und Bösem vgl. auch Hannah Arendt an Gershom Scholem, 20. Juli 1963, in: Gershom Scholem: Briefe, 3 Bde, hg. v. Itta Shedletzky/Thomas Sparr, München 1994–1999, Bd. 2, 100–105 [Brief 64a], bes. 104; H. Arendt: Über das Böse, 28, 45. Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, hg. v. Christian Wiese, Frankfurt/M./Leipzig 2003, 292, 286–295. KGA I/2,1, 531; vgl. Vittorio Hösle: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1995, 40f.

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welche nicht nur die Voraussetzung dafür ist, dass der Täter für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen werden kann, sondern auch dafür, dass überhaupt Versöhnung möglich ist. Ein Unschuldiger hat Versöhnung doch gar nicht nötig. Auch die Pflichttreue gegenüber dem Staat kann ein derart grausames Handeln in keiner Weise entschuldigen, würde doch dies implizieren, dass es kein „höheres als das staatliche Recht“, sondern nur seine „irdische, soziologische Gestalt“ gibt.11 Dass die Vernichtungsmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes ohnehin, auch wenn Adolf Eichmann dies glaubhaft zu machen versuchte, nicht den Zweck hatte, „Reichsfeinde“ zu bekämpfen,12 ist unbestreitbar. Die angestrebte Vernichtung des jüdischen Volkes hatte nichts mit der „Willensrichtung ihres Personseins“ zu tun, sondern stand ausschließlich „unter der Fiktion der Rasse“.13 Der Versuch der Vernichtung darf nicht bloß als Angriff auf das jüdische Volk verstanden werden, sondern stellt vielmehr einen Angriff auf die an- und für-sich-seiende Menschheit dar (vgl. SW XIV, 148; XIII; 353; UPhO14, 519f.).15 Die Menschheit ist Eine, kein Mensch ist davon abzusondern. Der Angriff auf das metaphysische Sein, das Wesen der Menschheit ist nicht mit dem erlebten Leid vergleichbar, aber dieses lehrt uns, dass wir alle – als Menschheit – von diesem unvorstellbaren Leid betroffen sind und uns diesem 11 Gustav Radbruch: Gesamtausgabe, Heidelberg 1987ff., Bd. 4, 234, 230ff. Vgl. hierzu das Urteil zum Mauerschützenprozess: BGH 26. Juli 1994–5 Str 167/94. Den unsinnigen Gedanken, dass das positive Recht stets rechtens ist, hat Hans Kelsen noch 1960 vertreten. So heißt es in der erweiterten Neuauflage seiner erstmals 1934 erschienenen Reinen Rechtslehre: „Nach dem Recht totalitärer Staaten ist die Regierung ermächtigt, Personen unerwünschter Gesinnung, Religion oder Rassen in Konzentrationslager zu sperren und zu beliebigen Arbeiten zu zwingen, ja zu töten. Solche Maßnahmen mag man moralisch auf das schärfste verurteilen; aber man kann sie nicht außerhalb der Rechtsordnung dieser Staaten stehend ansehen“ (Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, Wien, 1960, 42). 12 H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, 122. 13 KGA III/1, 409; H. Jonas: Erinnerungen, 188; ders.: Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung, in: Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, hg. v. Dietrich Böhler, München 1994, 21–29, hier: 23; Richard Lowell Rubenstein: After Auschwitz. History, Theology and Contemporary Judaism, Indianapolis 1966, bes. 117. Die Nürnberger Rassengesetze belegen den rassenideologischen Anspruch des NS-Regimes, vgl. Cornelia Essner : Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn/ München/Wien/Zürich 2002. 14 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 2 Teilbde., hg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992. Im Folgenden zitiert als UPhO. 15 Mit Blick auf die metaphysische Dimension wurde bewusst der Begriff Menschheit gewählt, da es hier um das Selbstverständnis des Menschen an sich geht. Dennoch ist es hilfreich, die Differenz von Menschheit und Menschlichkeit näher zu beleuchten. Vgl. United Nations: Agreement for the prosecution and punishment of the major war criminals of the European Axis („London Agreement“), 08. 08. 1945, bes. 288, Artikel 6c, verfügbar unter : http://www. refworld.org/docid/47fdfb34d.html [09. 02. 2016]; H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, 398f. Zur rechtlichen Problematik vgl. Astrid Becker : Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Berlin 1996, bes. 113ff., 148ff. und Gisela Manske: Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Verbrechen an der Menschheit, Berlin 2003, bes. 332ff., 365ff.

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nicht entziehen können. Diese Einsicht ist es, die Hans Jonas, dessen Mutter Rosa Jonas in Auschwitz ermordet wurde,16 hoffen lässt, dass uns in der „Nach-HitlerZeit“ eine „neue Solidarität des Ganzen der Menschheit […] zu dämmern“ beginnt, welche unsere „gemeinsame Verantwortung“ in uns wachruft und dazu beiträgt, das „Geschrei“ der Rassenkonflikte auf ewig „zum Schweigen“ zu bringen. Wenn wir begreifen, dass wir Eine Menschheit sind und aufgrund unserer Freiheit Verantwortung für unser Tun zu tragen haben, werden wir fähig sein, das von so vielen erlittene Leid zumindest als „neuen Appell“ zur Hinwendung zum Guten zu fassen und dem Leid entgegenzuwirken.17

Auschwitz als Werk des freien Menschen Um diesem Anspruch gewahr zu werden, müssen wir unser je eigenes Sein begreifen, nur so vermögen wir unser Wesen zu fassen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, zu erkennen, was die Natur im Innersten zusammenhält und dies lässt sich, wie Schelling klarstellt, nicht bloß als „empirisch Bestimmbares“ (SW II, 105) oder als Lebenserfahrung oder dergleichen ausdrücken: Hierfür bedarf es der metaphysischen Bestimmung. Allein sie kann uns über das Sein der Welt und über die Möglichkeit unserer Freiheit Aufschluss geben (vgl. SW XIII, 242), fokussiert sie sich doch auf das Ganze des Seins und verschließt sich dem Wesentlichen nicht. Dass wir der metaphysischen Bestimmung in der „großen Pause der Metaphysik“ wohlweislich dringender denn je bedürfen, mag angesichts der harschen Kritik an ihr zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwundern.18 Ein Grund für die fortwährende Ablehnung der Metaphysik dürfte mitunter die fragwürdige Hegel-Interpretation Karl Poppers sein, für den die „Hegelian ,dialectics‘, the main tool of metaphysics“ ist und als solche die Wurzel des Gedankens:19 „that might is right“ ist.20 Diese Vereinfachung führt dazu, dass übersehen wird, dass sich die wahrhafte Vernunftphilosophie nicht auf dem Sein des bloß Subjektiven stützt, sondern auf dem wahren, objektivem Sein, welches als Sollen seinen Ausdruck finden muss.21 Dieses Wissen kann nicht von einem 16 KGA III/2, 150; III/1, 407. Vgl. Stolpersteine erinnern an Opfer der NS-Zeit, verfügbar unter : http://www.moenchengladbach.de/?id=stolpersteine [09. 02. 2016]. 17 H. Jonas: Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung, 25; KGA III/1, 398, 409f. 18 KGA III/1, 361, 267, 282, 375, 407; I/2,1, 545–547; H. Jonas: Erinnerungen, 335f.; ders.: Technik, Medizin, Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt/M. 1987, 316; vgl. Rudolf Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, hg. v. Thomas Mormann, Hamburg 2004, bes. 88, 96f. 19 Karl Popper: The Open Society and Its Enemies, 2 Bde., London/New York 2003, Bd. 2, 42. 20 K. Popper: The Open Society and Its Enemies, Bd. 2, 45, 45f., 36. 21 Dass dieses Problem auch für unseren Umgang mit der Natur von Bedeutung ist, wird an anderer Stelle skizziert, vgl. Verf.: Natur, Freiheit und Verantwortung. F.W.J. Schellings ob-

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Einzelnen für sich in Anspruch genommen werden, sondern hat Anspruch auf Allgemeingültigkeit, wodurch die wahre Vernunft weit davon entfernt ist, von might auf right zu schließen. Ohnehin kann nicht die Rede davon sein, dass sich das NS-Regime dem wahrhaft Vernünftigen zuwendete, vielmehr hat es seine eigene, das heißt subjektiv-willkürliche Wahrheit als absolute Wahrheit propagiert: Hierin begründet sich das Defizit des Begründungsanspruchs. Wie Georg Luk#cs in seinem problematischen Buch darlegt, war die Selbstdarstellung Adolf Hitlers von einer „Ablehnung der objektiven Wahrheit“ geprägt.22 Hitler war nicht nur ein „leidenschaftlicher Gegner der objektiven Wahrheit“, sondern hat auch „im Leben […] die Objektivität [bekämpft].“23 Zweifelhaft ist weniger das Reich der objektiven Vernunft, denn die Übersteigerung des subjektiven Wahrheitsanspruchs samt der Hinwendung zum Recht des Stärkeren.24 Sofern das Rechte nicht von der Stärke abhängen, sondern dem wahrhaft Vernünftigen entsprechen soll, ist die Rückkehr zur objektiven Vernunft notwendig und daher muss die „spekulative Frage nach dem Ganzen“ auch im Jetzt aufs Neue gestellt werden. Allein der vermeintliche Irrweg der Metaphysik vermag uns Antworten auf die letzten, ersten Fragen zu geben.25 Sie gewähren uns nämlich Einblick in das Wesen des Vernünftigen und des Werthaften. Das metaphysische Weltverständnis impliziert keineswegs, dass der Lauf der Welt, wie die „Schmach von Auschwitz“ einer „allmächtigen Vorsehung“ oder „dialektisch-weisen Notwendigkeit anzulasten“ ist.26 Es ist mit Jonas anzuerkennen, dass das Handeln der Menschen und damit selbst das Morden „ein Werk der menschlichen Freiheit“ ist und es keinen vernünftigen Grund gibt,27 den Menschen ihre Freiheit a priori abzusprechen. Die Verwirklichung der Vernunft scheitert nur, wenn das Sein des Vernünftigen zur Zerstörung des Vernünftigen auffordert, annihiliert sie sich doch so selbst. Das Vernünftige lehrt uns, was zu

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jektiver Idealismus als spekulative Naturethik, in: Ausgehend von Kant. Wegmarken der Klassischen Deutschen Philosophie, hg. v. Violetta Waibel/Max Brinnich/ Christian Danz/ Michael Hackl/ Lore Hühn/Philipp Schaller, Würzburg 2016, 223–244. Georg Luk#cs: Die Zerstörung der Vernunft (Werke 9), Darmstadt 1962, 633; Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York 2000, bes. 478. G. Luk#cs: Die Zerstörung der Vernunft, 631. Dieses geltungstheoretische Problem besteht im Übrigen auch beim Mehrheitsbeschluss, wird nämlich dieser zum „absolute[n] Wahrheitskriterium“ (Vittorio Hösle: Begründungsfragen des objektiven Idealismus, in: Philosophie und Begründung, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt/M. 1987, 212–267, hier: 220, 227), sind die Mehreren auch die „Stärkeren“ (V. Hösle: Wahrheit und Geschichte, 350), was jedoch keine Garantie dafür ist, dass der Beschluss auch vernünftig ist (Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997, 888). KGA III/1, 282; I/2,1, 101. Vgl. SW XIII, 7, 242. KGA III/1, 275, 410; I/2,1, 248f. KGA III/2, 151.

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tun sei und darum ist der Zweck aller wahren Metaphysik die vernünftige Begründung des Werthaften und des Sollens (vgl. SW XIII, 287f., 295). Das „ungeheuerliche[] Rätsel, wie Auschwitz möglich war“,28 lässt sich nur verstehen, wenn wir die Potentialität der Menschheit, das heißt dessen, um mit Schelling zu sprechen, „Sein Könnende[s]“ unter dem Gesichtspunkt der wirklich gewordenen Geschichte begreifen (UPhO, 24, 26ff., 165, 548, 554). Nur so vermögen wir das Wesen des aus der evolvierenden Natur hervorgetreten Menschen und die Geschehnisse der menschlichen Geschichte im Sinne eines verantwortungsvollen Miteinanders zu fassen. Dass die Vernunft auch in den grässlichsten Zeiten das Potential zur Verwirklichung zum Guten in sich birgt, zeigt Jonas’ Haltung während der Herrschaft von Nazideutschland nur allzu deutlich, hat er doch schon kurz nach seiner Emigration in einem auf Deutsch verfassten Aufruf gefordert, „Anteil an der Front zu leisten“ und der Willkürherrschaft mit aller Kraft entgegenzutreten.29 Er war vom festen Glauben an die Freiheit und die Vernunft sowie der Möglichkeit der Verwirklichung des Guten in der Welt geleitet und hat darum nie vor der Unvernunft resigniert. Jonas, für den die „Vernunft an der Spitze“ seines Denkens steht,30 war sich bewusst, dass wir als freie Wesen die Möglichkeit „zum Guten und zum Bösen“ haben und es darum möglich sein muss,31 dem Bösen entgegenzuwirken. Er baut darauf, dass sich die Menschheit von der Herrschaft der Unvernunft befreit und sich zur Herrschaft der Vernunft erhebt: „Ein Wissen vom menschlich Guten müssen wir dem Wesen des Menschen entnehmen. Für dieses haben wir zwei Quellen: die Geschichte und die Metaphysik. Die Geschichte lehrt uns, was der Mensch sein kann – die Spanne seiner Möglichkeiten: was alles es an ihm zu bewahren und zu verderben gibt. Denn in seiner Geschichte hat sich ,der Mensch‘ schon gezeigt – in seinen Höhen und seinen Tiefen, seiner Größe und Erbärmlichkeit […]. Doch über den Grund des wahrhaft Humanen und des Seinsollens des Menschen belehrt uns erst die Metaphysik mit ihrem ganz anderen, nicht phänomenologischen, sondern ontologischen Wissen vom Wesen.“

Der Lauf der Geschichte gibt uns Aufschluss über die Spanne der Möglichkeiten des Menschen, weswegen dieser nicht mit dem wahrhaft Vernünftigen gleichzusetzen ist. Die geschichtliche Entfaltung obliegt den freien Wesen. Daher ist die Geschichte nicht Ausdruck einer „List der Vernunft“,32 welche uns glaubhaft 28 KGA III/2, 152. 29 H. Jonas: Erinnerungen, 188, 132, 186, 216, 224. Jonas verfasste seinen Aufruf auf Deutsch, wollte er doch Adolf Hitler kein „Monopol auf die deutsche Sprache“ einräumen (H. Jonas: Erinnerungen, 155). 30 H. Jonas: Erinnerungen, 184; ders.: Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur, Frankfurt/M. 1993, 102. 31 KGA III/1, 362, 261; I/2,1, 210–212; III/2, 151, 154, 157. Vgl. SW VII, 389, 475; XIV, 139, 246. 32 KGA III/1, 275; I/2,1, 248. Bzgl. Jonas’ kritischer Bemerkung zu Georg Wilhelm Friedrich

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machen mag, dass wir der Geschichte ausgeliefert sind. Sie gibt uns vielmehr Auskunft über die aktual gewordene Potentialität, sie ist der Ausdruck des Sein Könnenden.

Die existentielle Erfahrung und das Wagnis der Schöpfung Dass die Menschen nicht einer geschichtlichen Notwendigkeit unterworfen sind, davon zeugt nach Jonas die Fähigkeit zur „Ausübung der Freiheit“ im Aufrechterhalten des Stoffwechsels.33 Das im Stoffwechsel aufgebotene Wechselspiel von Notwendigkeit und Freiheit erlaubt es, unsere Freiheit gegenüber der Natur zu fassen, allerdings gibt uns auch diese Kenntnis keinen Aufschluss über das Geheimnis des Anfangs des Lebens sowie der Wurzel der Freiheit in der Welt: Beides bleibt uns schlechthin „verschlossen.“34 Um zu begreifen, dass wir nicht einem „knechtischen Joch“ unterworfen sind (SW XIV, 147 Anm.), sondern wir für unser Handeln selbst verantwortlich und die Geschehnisse in der Welt keiner Gottheit anzulasten sind, müssen wir uns die Frage stellen, ob wir überhaupt wahrhafte Freiheit haben (können) und wie die Welt und somit auch das Göttliche beschaffen sein muss, sodass das Böse überhaupt geschehen kann. Dies lässt sich nur beantworten, wenn wir uns die Frage nach der Möglichkeit, das heißt der „Zulassung menschlicher Freiheit in der Schöpfung“ stellen.35 Obwohl Jonas einen hohen Geltungsanspruch an seine metaphysischen Ausführungen stellt und „das letzte Wort über die Möglichkeit von Metaphysik noch nicht gesprochen“ ist,36 versteht er seinen Ansatz weniger als Gottesbeweis, denn als „Vermutungen“ über das Göttliche in der Welt.37 Das Unbedingte ist nicht in gleicher Weise zu fassen wie das Bedingte. Es sind Vermutungen, weil das Wissen über das Unbedingte unsere Erfahrung „übersteigt“ und uns auf sinnliche Weise nicht zugänglich ist. Sofern wir Wissen über das Unbedingte haben, darf dieses nicht im Widerspruch zum Wissen vom Bedingten, sondern muss mit

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Hegel, vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Theorie-Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1969ff., Bd. 6, 452; Bd. 8, 365. KGA III/1, 327, 210f.; I/1, 13, 151, 163. Immerhin „führt die Dialektik der Lebenstatsache von der Grundpositivität der ontologischen Freiheit (Form-Stoff) zum Negativum der biologischen Notwendigkeit (Stoffabhängigkeit) […], in der die Freiheit sich der Notwendigkeit bemächtigt […]. Die Angewiesenheit auf Materie außer ihm, die Kehrseite der ontologischen Freiheit des Lebens, ist ein nicht minder neuartiges Phänomen im physischen Sein als jene Freiheit selbst. Der Stoff an sich kennt sie nicht“ (KGA I/1, 163). KGA III/1, 211, 249, 402, 407, 456. KGA III/2, 152, 110, 153; III/1, 409, 389, 398. KGA I/2,1, 99. H. Jonas: Erinnerungen, 345; KGA III/1, 407f.

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diesem „in Einklang“ stehen.38 Wäre dem nicht so, müsste es zwei einander divergierende Begriffe der Wahrheit geben, was zur Folge hätte, dass der Begriff der Wahrheit zerfällt: Es gibt nur Eine Wahrheit. Um die „Sphäre jenseits des Wißbaren“ zu fassen, bedient sich Jonas dem „Mittel bildlicher, doch glaublicher Vermutung“ in Form eines „selbsterdachten“39 bzw. „erdichteten Mythos“,40 wohlwissend, dass das Mythologische die Wahrheit nur „schattenhaft“ anzudeuten vermag.41 Diese Herangehensweise ist ihm die einzig legitime Form, einen vernünftigen Begriff von Gott zu „konstruieren42“.43 Der Mythos ist nach Jonas’ Lehrer Rudolf Bultmann der Beleg dafür, „wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht“, weswegen der Mythos „nicht kosmologisch, sondern anthropologisch – besser : existential interpretiert“ werden muss.44 Obwohl Jonas den existentialistischen Zugang für das Begreifen Gottes hervorhebt und in Anknüpfung an Bultmann klarstellt, dass das Wissen von Gott „ein Wissen des Menschen von sich selbst“ und das Wort Gottes,45 so Jonas weiter, nur aus den „Menschenworten herauszuhören, die Offenbarung des Übernatürlichen im Natürlichen zu entdecken, und als ,göttliche Eingebung‘ […] zu verstehen“ ist,46 verfällt er nicht in einen Subjektivismus, sucht er doch den ontologischen Grundcharakter des Lebens, das durch alles „durchgehende Prinzip“ herauszuarbeiten.47 Vom Göttlichen lässt sich also nur insofern sprechen, als „daß zugleich von unserer Existenz geredet wird, die durch Gottes Handeln betroffen ist“: Gott ist kein „objektiv feststellbares Weltphänomen“, sondern „analogisch“ zu unserem Selbstverständnis.48 Das Wissen über das Göttliche ist nur ein „persönliches Bekenntnis“, womit es nicht bloß eine theoretische Bestimmung, sondern eine 38 KGA III/1, 454, 400; Rudolf Bultmann: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 4 Bde., Tübingen 1933–1965, Bd. 4, 125f. 39 KGA III/1, 410, 243, 255, 348, 357, 361; vgl. Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 1977, 128f. 40 H. Jonas: Erinnerungen, 343, 342; KGA III/1, 276. Die metaphorische Sprache ist nach Jonas auch in philosophischer Nähe zu Hannah Arendt zu setzen, vgl. KGA III/2, 273 samt Anm. 41 KGA III/1, 361, 381, 385, 384, 410. Vgl. Platon: Werke in acht Bänden, Griechisch und Deutsch, Griechischer Text von Pmile Chambry und die deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1971, Bd. 8/1 (Nomoi, Tomoi 1–6), 682a, 713a ff.; Bd. 7 (Timaios), 21a ff., 28a ff. 42 Hervorhebung, M.H. 43 KGA III/1, 395. 44 Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos I. Ein theologisches Gespräch, hg. v. Hans-Werner Bartsch, Hamburg, 1967, 15–48, hier : 22. 45 R. Bultmann: Glauben und Verstehen, Bd. 2, 82; KGA III/1, 403. 46 KGA III/1, 400, 383, 385. 47 KGA I/1, 160. Zur Frage nach dem Idealismus in Jonas’ Überlegungen zum Gottesbegriff vgl. Fernando Su#rez Müller: From an Existentialist Got to the God of Existence. The Theological Conjectures of Hans Jonas, in: Sophia, Vol. 52, Nr. 4, 657–672. 48 R. Bultmann: Glauben und Verstehen, Bd. 4, 135.

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über unser lebensweltliches Gewordensein ist.49 Für Jonas steht das in der Welt Geschehene nicht unabhängig vom Göttlichen. Vielmehr gibt uns unser Sein und damit auch unsere Geschichte Aufschluss darüber, wie das Göttliche zu begreifen ist. Es ist unser „anthropische[s] Zeugnis“,50 welches uns dies einsehen lässt. Dies wird dadurch bestärkt, dass selbst während des Auschwitz-Wütens von Gott kein „rettendes Wunder“ kam und die wenigen Wunder,51 die geschahen, kamen von den Menschen. Jene Jahre des Grauens haben verdeutlicht, dass Gott mit der Schöpfung ein „gewaltige[s] Wagnis“52 eingegangen sein muss und dass sich offensichtlicher Weise das geschichtliche Werden der Welt dem absoluten „harmonischen Ausgleich“ zwischen dem Guten und dem Bösen entzieht. Jonas betont, dass es wir selbst sind, die das je eigene Handeln zu verantworten haben und ein Eingreifen Gottes schlechthin nicht zu erwarten ist.53 Dass sich die Welt dem harmonischen Weltlauf entzieht, erklärt sich Jonas mit dem Verzicht göttlicher Macht. Gott hat darauf verzichtet, alles in allem zu sein und sich „ganz in die werdende Welt hineinbeg[eben]“ und darum hat er nun auch „nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben54.“55 Das in der evolvierenden Welt hervorgetretene Leben ist das Moment des Göttlichen. In ihm wurzelt das (gewagte) Geschenk der Freiheit. Obwohl sich das Göttliche der Welt entzieht, erprobt es Jonas zufolge mittels der lebendigen Freiheit sein verborgenes Wesen und bereichert auf diese Weise die Selbsterfahrung seines Grundes. Somit vertieft das Leben einerseits die „Tonfülle der Symphonie“ und andererseits kommt dem Leben nun die Verantwortung für das Gelingen oder das Scheitern der Schöpfung zu.56 Somit wird die existentiell erfahrene Freiheit und die Geschichtlichkeit, wie Bultmann betont, in Gott „projiziert“, wodurch 49 R. Bultmann: Glauben und Verstehen, Bd. 4, 178, 134; KGA III/1, 399; I/1, 101, 323. Die von Bultmann forcierte „,Entmythologisierung‘“ bringt Klarheit in den Mythos (KGA III/1, 381), da auf diese Weise die menschliche Existenz als „Grundthema des interpretandum“ angesehen wird. Nach Jonas kann es daher nur eine „Philosophie der Existenz“ sein, welche den „Schlüssel für die Interpretation“ liefert (KGA III/1, 385). 50 KGA III/1, 256. 51 KGA III/1, 422; III/2, 157; H. Jonas: Erinnerungen, 211ff.; ders.: Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung, 23. Einen einzigartigen Einblick in das Leid Verfolgter durch das NSRegime liefert das Stück Die letzten Zeugen des Wiener Burgtheaters, vgl. das Textbuch zur Aufführung mit dem gesamten Text des Stücks: Die letzten Zeugen. 75 Jahre nach dem Novemberprogrom 1938. Aus Erinnerungen von Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, SuzanneLucienne Rabinovici, Ceija Stojka, Marko Feingold, Rudolf Gelbard, Ari Rath, Text der Aufführung des Zeitzeugenprojektes von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann, Burgtheater, Uraufführung 20. Oktober 2013, bes. 46f., 50. 52 KGA III/1, 276, 415, 417. 53 KGA III/1, 374, 389, 398. Dass Jonas mit dem Begriff vom Eingreifenden Gott hadert, wird an anderen Stellen deutlich, vgl. bes. KGA III/1, 395ff. 54 Hervorhebung, M.H. 55 KGA III/1, 425, 418, 409, 423; III/2, 154. 56 KGA III/1, 413, 374. Vgl. UPhO, 126f., 190f.

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der Mensch für das „Schicksal der Gottheit […] verantwortlich“ ist.57 Wenn der Mensch fehlgeht, wird auch die Schöpfung „fehlgehen“.58 Nun stellt sich die Frage, wie das Göttliche beschaffen sein muss, damit wir verstehen können, dass es das Böse zulässt und nicht verhindert. Sofern wir einen Gott annehmen, der die Verbrechen und das Böse in der Welt nicht will, muss dieser ohnmächtig sein, sie zu verhindern. Jonas’ Gott begab sich ganz in die werdende Welt hinein und steuert deren Geschicke nicht mehr. Das Zulassen menschlicher Freiheit ist mit dem Verzicht göttlicher Macht verbunden, somit kann Gott nicht (mehr) als allmächtig verstanden werden. Wäre er nämlich in Jonas’ Sinn allmächtig, müsste er zwecks seiner göttlichen Güte in den Lauf der Welt eingreifen und solch grausames Leid wie Auschwitz verhindern. Da dies aber nicht geschah, meint Jonas, dass es ihm – um die Allgüte Gottes zu retten – unmöglich gewesen sein muss, einzugreifen. Jene Ohnmacht ist für ihn der Beleg dafür, dass das Göttliche nicht allmächtig ist. In diesem Widerspruch steht nun der Begriff der Allmacht, den Jonas ohnehin für abwegig hält, da dieser aufgrund seiner Grenzenlosigkeit und Unbeschränktheit ein sich „widersprechender, selbstaufhebender“ Begriff ist. Da sich aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen „absolut gut und absolut allmächtig“ ausschließen, kann nur ein „gänzlich unverstehbarer Gott“ beide Attribute in sich vereinen und demgemäß impliziert diese Konzeption, dass das Attribut der Allgüte jenem der Allmacht „weichen“ muss.59 Angesichts der schrecklichen Erlebnisse ist es verständlich, dass Jonas das Attribut der Allgüte jenem der Allmacht vorzieht, allerdings ist dies philosophisch insofern problematisch, als dass die Menschen durch den Rückzug60 Gottes aus der Welt nichts mehr mit ihm zu schaffen und daher schwerlich für das Sein der Welt Verantwortung zu tragen haben. Diesem Gott kann nur „die Bedeutung einer unvollendeten Erscheinung“ beigelegt werden (SW XIII, 107; 57 R. Bultmann: Glauben und Verstehen, Bd. 4, 124. 58 KGA III/1, 412f., 359, 371f., 374, 416. 59 KGA III/1, 418–421 425; vgl. Ist Theodizee nach Auschwitz noch sinnvoll denkbar? Mathias Lutz-Bachmann, Dietrich Braun, Albrecht Wellmber und Michael Theunissen im Gespräch mit Hans Jonas, in: Ethik für die Zukunft, hg. v. Dietrich Böhler, München 1994, 173–191, hier : 178f. Um jener „Rätselhaftigkeit“ zu entgehen (KGA III/1, 419), muss Gott zumindest „in gewissem Grade verstehbar sein […] (und hieran müssen wir festhalten), […] muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist er nur, wenn er nicht allmächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“ (KGA III/1, 421). 60 Für das Bild des Rückzugs greift Jonas die „Idee des Zimzum“ auf, welche darauf fußt, „daß überhaupt ein Weltprozeß existiert, indem ja erst das Zurückziehen Gottes auf sich selbst, das irgendwo einen pneumatischen Urraum schafft“; während Gershom Scholem erklärt, dass es „für den Menschen […] oft kaum noch eine Rolle“ spielt, dass Gott „sich verborgen hat“ (G. Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 148–150; vgl. KGA III/1, 424ff.), betont Jonas gerade die Bedeutung des Rückzugs für den Menschen.

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XIV, 580), wodurch der vorgelegte Gottesbegriff der „trostloseste und der leerste Gedanke“ überhaupt ist. Somit ist nicht nur das Sein des Göttlichen, sondern in Folge auch unser eigenes Sein gänzlich „ohne Sinn“ (SW XIV, 13).

Immanenz und Transzendenz Gottes Gott und Welt können nicht identisch sein, wäre dem nämlich so, könnte Gott „weder verlieren noch […] gewinnen. Vielmehr, damit Welt sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen von der Odysee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie.“61

Dies stellt uns vor das „Paradox, daß die Gottheit ein Schicksal gewählt hat, das in der ständigen Erhebung aus der Immanenz in die Transzendenz besteht, für die wir Menschen verantwortlich sind. In solchem Prozeß, im Wechsel von Preisgabe und Erlösung, wird“, wie Bultmann darlegt, „die Gottheit sie selbst.“62 Mit der Entäußerung und des damit einhergehenden Rückzugs Gottes aus der Welt wurde dem Menschen die „offenbar gewordene göttliche Sache hinfort anvertraut“, womit „die fragwürdige Verwahrung“ auf ihn überging.63 In unserer Freiheit, „des Wagnisses höchste Spitze“,64 liegt demnach der Grund, warum die Sache Gottes fehlgehen kann. Der Rückzug Gottes aus der Welt macht es schwer nachzuvollziehen, wie das Göttliche durch das Weltgeschehen überhaupt „verletzt“ werden könnte, denn dies ist nur zu „denken, wenn Gott selbst eine Natur“ ist (SW XIV, 202). Zudem lässt sich das Göttliche nur so als das „immanent (d. h. das zum Inhalt der Vernunft) gemachte Transscendente“ begreifen (SW XIII, 170), wodurch es nicht bloß Ausdruck einer subjektiv-existentialistischen Erfahrung, sondern des Wesens des objektiv Wahren ist. Jonas ist auf der Suche nach einem Neusatz, der hilft, so Vittorio Hösle, nach Auschwitz wieder „zu Gott zurückzufinden“ und sogleich die Verantwortungsfähigkeit des Menschen in der Welt zu explizieren weiß.65 Dabei war er nicht nur bestrebt, die „Unabhängigkeit des Menschen von der Natur“ zu begründen, womit die Freiheit gegenüber der Natur einsichtig wird. Er war sich auch der Notwendigkeit bewusst, die Unabhängigkeit des Menschen vom Weltlauf, somit, wie Schelling fordert, die „innere Unabhängigkeit von Gott“ aufzuzeigen (SW 61 62 63 64 65

KGA III/1, 410f. R. Bultmann: Glauben und Verstehen, Bd. 4, 124; KGA III/1, 368, 411. KGA III/1, 413. KGA III/1, 353. V. Hösle: Theodizeestrategien bei Leibniz, Hegel, Jonas, 50, 48; vgl. Ist Theodizee nach Auschwitz noch sinnvoll denkbar?, 177.

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VII, 458). Allerdings ist die von ihm gelieferte Bestimmung der Freiheit insofern fragwürdig, als dass auf vernünftige, das heißt auf allgemeine und rationale Weise nicht einzusehen ist, worin sich der „Akt der göttlichen Selbstentäußerung“ begründet. Wir erfahren nämlich nichts über das göttliche Motiv der „Zusammenziehung“ bzw. der „Machtentsagung.“66 Jonas’ Begriff von Gott muss sich darum den Vorwurf gefallen lassen, dass er ein Rätsel ist und nur bedingt verstehbar ist. Das hat zur Folge, dass die Freiheit des Menschen nur in begrenztem Maße in Bezug auf Gott begriffen werden kann, weswegen das Wissen von der Freiheit bloß existentiell gefasst wird und so, um eine Formulierung Niels Bohrs zu verwenden, zur „experimental category of our psychic life“ verkommt.67 Des Weiteren ist an Jonas’ Ausführungen problematisch, dass der Grundgedanke seiner Ausführungen nur bedingt überzeugend ist. Zwar ist der Gottesbegriff in Form „der letzten, höchsten Vernunftidee“ mit der Erfahrung in Eins zu setzen (SW XIII, 45; XIV, 337f.), allerdings wird das vorgelegte Gottesverständnis bloß als eine Möglichkeit (unter vielen) verstanden, was insofern unzureichend ist, als dass über die Verabschiedung „pantheistischer Immanenz“ Gottes nur spekuliert wird.68 Hieraus folgt wiederum nicht, dass wir eines „existirend bewiesenen Gott“ bedürfen (SW XIII, 46), sondern nur, dass wir ein vernünftig spekulatives Wissen vom Göttlichen bedürfen, welches uns nicht bloß als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit offenbar ist: „der Gott, der nicht gewusst werden könnte, ist kein Gott“ (GPPh69, 128; SW XI, 176, 190). Da das Absolute nicht, wie die Natur oder die Sinnenwelt, der „unmittelbare Gegenstand des menschlichen Erkennens“ ist (SW XI, 76, 216f.), bedürfen wir eines je eigenen Wissens von der „ideale[n] Hülle, die um die Geschichte der Natur gewoben ist“ (UPhO, 349). Die Geschichtlichkeit von Natur und Geist muss im Sinne Jonas’ als „Vorbedingung innerer Kontinuität“ des Werdens in der Welt verstanden werden.70 Dieses Werden ist aber sogleich der Inbegriff der Freiheit: Nur so ist Freiheit überhaupt möglich. Ist nämlich das Absolute nicht frei, könnte auch im Endlichen niemals Freiheit sein, schließlich muss das „Hervorbringende“ logischerweise „mehr ,Realität‘ haben als das von ihm Hervorgebrachte“.71 Es ist unerklärlich, wie etwas aktual werden sollte, was über sein Potential hinausgeht (vgl. UPhO, 215, 5, 56, 136f., 529). Das Unbedingte erschließt sich uns auf andere Weise als das Bedingte, ihre 66 67 68 69

KGA III/1, 424–426, 418. Niels Bohr : Atom Theory and the Description of Nature, Cambridge 1934, 116. KGA III/1, 410, 411. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hg. v. Horst Fuhrmans, Turin 1972. 70 KGA I/1, 168, 136ff.; III/1, 167, 306f. 71 KGA I/1, 76; III/1, 266; vgl. SW XI, 580.

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Darstellung fällt in die Mythologie; sie ist der Ort, an dem das Unbedingte analogisch zum Bedingten seine Entfaltung erfährt. Ob es zweckhaft ist, hierbei von einem erdichteten Mythos zu sprechen, kann freilich angezweifelt werden. Nur wenn der Mythos nicht bloß ausgedacht, sondern in ihm die Sprache der Vernunft zum Ausdruck kommt, muss er sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, dass er relativ, vorübergehend, vergänglich ist. Das Wissen von der höchsten Vernunftidee ist eine Konstruktion, von der der Erweis zu erbringen ist, das heißt zu klären ist, inwiefern sie „als Wahrheit oder nicht als Wahrheit“ zu nehmen ist (SW XI, 10, 59).

„Vermuthungen“ Auch wenn uns das Unbedingte nicht konkret, das heißt empirisch zugänglich ist, folgt daraus nicht, dass uns dieser Bereich nichts angeht. Wollen wir nicht beim Subjektivismus stehenbleiben und stattdessen unseren Platz in der Schöpfung begreifen, müssen wir uns nach Jonas am „Zusammenhang mit dem All der Begriffe“ abarbeiten.72 Schon seit den frühesten Zeiten beschäftigen die Menschen, wie Schelling aufzeigt, „theils historisch dargestellte Philosopheme“ und stellen „Vermuthungen, Dichtungen über den Ursprung der Welt und des Menschengeschlechts [an] […] – kurz, die ältesten Urkunden aller Völker beginnen mit Mythologie“ (SW I, 43, 44; XI, 26).73 Die Fragen unterscheiden sich dabei nur in ihrer historischen, philosophischen Herangehensweise, wobei der Zweck der ersteren Geschichte, der letzteren Wahrheit ist. Obwohl der „Hauptzweck des Mythus […] Darstellung jener Wahrheit“ ist, ist die philosophische Beschäftigung von der Geschichte nicht abgekoppelt, beruht diese doch auf einer „ächthistorischen Tradition“ (SW I, 58, 57; XI, 26, 198, 205, 207 216f., 245f.; AA74 II/5, 143). Weil „der philosophische Mythus nichts anders zum Zweck hat, als Versinnlichung irgend einer Wahrheit, so soll, nach der Absicht seines Urhebers, ein solches Philosophem denselben Eindruck, wie etwas historisch-wahres, auf uns machen. Dieß kann nicht geschehen, außer wenn wir den Mythus, als Mythus, eigentlich verstehen. Aber einen 72 KGA III/1, 408. 73 Dass dies der Religion bzw. Mythologie zukommt, erkennt auch Gotthold Ephraim Lessing an und spricht ihr jene Fähigkeit zu, „auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unserem Verhältnisse zu Gott“ zu kommen, „auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“ (Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1970ff., Bd. 8, 507, § 77). 74 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen.

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Mythus eigentlich verstehen, und als eigentlich-verstanden glauben, ist freilich nicht Ein und dasselbe“ (SW I, 82 Anm.).

Nach Jonas kann der Mythos nur einen Vermutungscharakter für sich in Anspruch nehmen und ist ein bloß „tastender“, wahrscheinlich sogar „irrender“ Versuch,75 das Absolute zum Ausdruck zu bringen. Dadurch entsteht der Eindruck, als müssten die mythologischen Vorstellungen auf jeder Stufe neu erdacht werden, derweil sind sie aber „nicht das Werk eines Menschen, eines Individuums, nicht das Werk eines einzelnen Volkes als solchen, sondern das Werk der ganzen Menschheit“ (UPhO, 285, 234, 284f.; SW XI, 59ff., 65, 156). Mythen sind eben nichts subjektiv Erfundenes, sondern von intersubjektiver Art, das heißt etwas „Gemeinschaftliches“ (SW XI, 6, 59, 61, 65, 184; I, 44, 50, 56f.).76 Nur weil sie das Selbstverständnis der Menschheit widerspiegeln, können sich jene Vorstellungen so tief in dessen Bewusstsein „einverweben“ (UPhO, 231, 232; SW XI, 64, 100, 156). Geschichtliches hat einen prägenden Einfluss auf unser Selbstverständnis und damit auch auf unsere mythologische Vorstellung vom Göttlichen. Obzwar die Gegenstände der Mythologie jene der bloßen Spekulation sind, sind die jeweiligen „Modificationen“ nicht willkürlich (SW XI, 61, 210f.; XIV, 344f.; UPhO, 355, 358), vielmehr offenbart sich in ihnen auf sukzessive Weise das Vernünftige. Die mythologischen Vorstellungen halten im „spätern Moment immer den frühern fest“ (UPhO, 329, 234f., 275), wodurch der Lauf der Geschichte auf vernünftige Weise zur Sprache kommt. Die sich entfaltenden Vorstellungen werden demnach nicht abgekoppelt von der Welt, sondern vielmehr als mit ihr vermittelt verstanden, weswegen das aktuale Selbstverständnis jeweils als Resultat des Potentials der ganzen bisherigen Entwicklung zu deuten ist. Weil die jeweiligen mythologischen Potenzen auf vernünftige Weise „successive[] […] überwunden“ werden (SW XIV, 54, 19, 22f., 66), entäußert sich in der Geschichte der Mythologie sukzessive das Vernünftige. Obwohl die Mythen keine „erfundene[n]“ Vorstellungen des Absoluten sind (SW XI, 194, 56; XIV, 291f.; UPhO, 231f., 337), sind sie unvollendet, schließlich kommt in ihnen das Vernünftige nicht zu sich, sondern stellt sich als „progressus in infinitum“ dar (UPhO, 650). Darum kann sich im Mythos nicht die vernünftige Gottesvorstellung schlechthin darstellen, vielmehr ist das geschichtliche, mythologische Werden ein „nothwendige[r] Proceß“ (SW XI, 193, 194, 234; XIV, 34f., 54), der darnach strebt, auf vernünftige Weise objektive Wahrheit hervorzubringen. Erst im wahren, offenbaren Vernunftbegriff kommt die Vor75 KGA III/1, 263. 76 Wie intersubjektive Wahrheit zu verstehen ist, lässt sich am besten mit Blick auf Karl-Otto Apels Kommunikationstheorie verstehen, vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1976, Bd. 2, bes. 397–425.

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stellung des Absoluten zu sich; eben deswegen ist die Mythologie nicht das letzte Wort. Erst in der Philosophie der Offenbarung wird der vernünftige, der „bestimmte […], der wahre Gott“ und damit auch die wahre Freiheit expliziert (SW XI, 83; XIII, 269; XIV, 120f.).77

Philosophie „aus Einem Stück“ Um eine Idee vom Göttlichen zu formulieren, muss alles Menschliche „auf die Alleinherrschaft der Vernunft“ zurückgehen (AA I/1, 147; SW XIV, 337). Das wahrhaft Göttliche kommt mit der Vernunft zur Sprache, an diesem Punkt findet sich das „nothwendige Ende“ des mythologischen Prozesses (SW XIV, 230). Da das Unbedingte und das Bedingte miteinander in Einklang stehen müssen, muss auch Natur (Reale) und Geist (Ideale) als „Eine zusammenhängende Linie“ gefasst werden (SW X, 229, 107),78 wäre dem nicht so, müsste in der Natur eine anders geartete Vernunft herrschen als im Geiste. Obzwar das Existierende (Reale) und die Existenz (Ideale) einander gleichgültig sind, sind sie doch voneinander der Form nach geschieden. Schelling hat dies erkannt und entsprechend darauf aufmerksam gemacht, dass beide Seiten auf divergente, aber auch auf idente Weise zu betrachten sind. Die negative Philosophie, die „philosophia ascendens (von unten aufsteigende)“ widmet sich dem Realen und die positive Philosophie, die „philosophia descendens (von oben herabsteigende)“ dem Idealen (SW XIII, 151 Anm., 130 Anm.). Beide Seiten unterscheiden sich durch ihre Form, nicht aber durch ihr Wesen. Daher müssen sie einander komplementär sein.79 Es ist nicht nur schlüssig, sondern auch methodisch notwendig, beide Seiten als absolut identisch zu fassen: wäre dem nicht so, müsste es sowohl eine Wahrheit des Realen als auch eine Wahrheit des Idealen geben. Da es nur Eine Wahrheit geben kann, müssen das Reale und das Ideale absolut identisch sein. 77 Dass die „mythologische[n] Begriffe […] unleugbar mit Freiheit entwickelt“ (UPhO, 337, 639, 648) sind und ihren „wahre[n] Sitz“ im menschlichen Bewusstsein haben (SW XI, 199; UPhO, 458, 515), lässt sich daran erkennen, dass der mythologische Prozess dem Bewusstsein der Notwendigkeit „entronnen“ ist und mit dem hervortretenden Selbstverständnis „eine neue Welt für das Bewußtsein“ beginnt (UPhO, 346). 78 Daraus folgt, dass „natürliches und geistiges Leben […] auf absolute, unauflösliche Weise in Eins gebracht“ werden müssen (SW XIV, 215), nur so vermögen wir einzusehen, was das wahre, vernünftige Sein ist. 79 Vgl. SW VII, 206; XIV, 353f., 356. Zum komplementären Verhältnis (vgl. William James: The Principles of Psychology, 2 Bde., New York 1890, bes. Bd. 1, 206) von negativer und positiver Philosophie vgl. vorerst: Verf.: System im Werden. F.W.J. Schellings und G.W.F. Hegels gemeinsame Anfänge, in: Schelling in Würzburg (Schellingiana 27), hg. v. Christian Danz/ Patrick Leistner, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017 (im Erscheinen).

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Die Frage nach dem wahrhaft Vernünftigen lässt sich nicht bloß durch das Reale oder das Ideale hinreichend beantworten. Zwar dringt die Naturphilosophie in das Wesen der Natur ein, dennoch lässt sich der Ursprung der Natur nicht mittels „Einer – unendlichen Causalität“ erklären (SW XIII, 346). So führt der analytische Weg in einen unendlichen Progress der Kausalitäten. Die Vernunft ist „am Ende der negativen Philosophie außer sich gesetzt“, weswegen sie „ihren wahren Inhalt nicht als einen wirklichen besitzen kann“. Es ist also notwendig, „vom Seyn vor allem Denken auszugehen“ (SW XIV, 345; XIII, 162), wodurch die in der Natur „durch empirische Analysis gefundenen Principien“ jenen „Potenzen in Gott“ gleich sein müssen (SW X, 280; XIII, 379; XIV, 359).80 Auf diese Weise wird das „a priori Unbegreifliche a posteriori in ein Begreifliches“ (SW XIII, 165; UPhO, 231f.) verwandelt und die Prinzipien der positiven Philosophie sind auf jene „zurückzuführen, die ihr schon von anderen Seiten her bekannt und gegeben sind“ (SW XIV, 30),81 und umgekehrt.82 Dasjenige, „[w]as in der negativen Philosophie gleichsam vorbildlich war, ist hier [in der positiven Philosophie] […] wirklich. Dieselben Potenzen, die sich uns in der negativen Philosophie als apriorische darstellten, und uns alles Concrete vermittelten, kommen 80 Die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Welt ist keine bloße „Construktion der Natur“ (SW III, 278), da die um die Natur gewobene „ideale Hülle“ in vernünftiger Weise zu fassen ist (UPhO, 349). Beide Seiten müssen sich als „Probierstein der Wahrheit“ der anderen erweisen (SW VII, 472). Auch wenn die „Vernunftwissenschaft a priori begreift oder construirt, muß ihr daran gelegen seyn, eine Controle zu haben […], daß das, was sie a priori gefunden, nicht eine Chimäre ist. Diese Controle ist die Erfahrung. Denn daß das Construirte wirklich existirt, dieß sagt eben nur die Erfahrung, nicht die Vernunft“ (SW XIII, 62). 81 F.W.J. Schelling an F.I. Niethammer, 28. Februar 1797, in: Briefe und Dokumente, 3 Bde., hg. v. Horst Fuhrmans, Bonn 1962–1975, Bd. 1, 103. Vernunftwahrheiten können nicht „wahr seyn“, wenn „nichts existirte“ und darum geht die positive Philosophie insofern über die rationale hinaus, als dass sie „in die Erfahrung selbst hinein[geht] und […] gleichsam mit ihr“ verwächst. Ihr Prius, „von dem sie ausgeht, ist nicht bloß vor aller Erfahrung, […] es ist über aller Erfahrung […]. Von diesem Prius leitet sie in einem freien Denken in urkundlicher Folge das Aposteriorische oder das in der Erfahrung Vorkommende, nicht als das Mögliche, wie die negative Philosophie, sondern als das Wirkliche ab“ (SW XIII, 128 f). 82 Auch wenn Schelling mit 1804 seine Fragestellung erweitert (SW XIV, 359; Verf.: System im Werden), lässt sich in Folge des „Grundgegensatz[es]“ von negativer und positiver Philosophie, welchen Horst Fuhrmanns zweifelhafterweise als Differenz von „dialektische[r] und undialektischer[r] Philosophie“ fasst, nicht von einem „Neubau[] der Philosophie“ Schellings sprechen (Horst Fuhrmans: Schellings letzte Philosophie. Die negative und positive Philosophie im Einsatz des Spätidealismus, Berlin 1940, 175f., 273). Wäre dem so, ließen sich die beiden Seiten nicht komplementär fassen, wodurch sie einander unvermittelt gegenüberstünden und sich nicht als absolut identisch fassen ließen. Dies ist nicht nur aus geltungstheoretischer Sicht abzulehnen, sondern widerspricht auch dem philosophischen Anspruch Schellings. Sonst würde Schelling doch nicht davon sprechen, dass es sich hierbei um „die zwei Seiten einer und derselben Philosophie, die Eine Philosophie in zwei verschiedenen, aber nothwendig zusammengehörigen Wissenschaften“ handelt (SW XIII, 94; XIV, 345f.).

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hier (in der positiven) wieder, aber nicht als bloße Potenzen, d. h. nicht als solche, die dem Seyn vorausgehen, sondern die das Seyn, und zwar das als Wesen gesetzte Seyn, zu ihrer Voraussetzung, und dadurch zugleich zu ihrer unauflöslichen Einheit haben“ (SW XIV, 353f.).

Mittels dieser Wechselbeziehung wird dem Unbedingten durch das Wissen vom Bedingten, und umgekehrt, auf komplementäre Weise Ausdruck verliehen. Nur beide zusammen vollenden den „ganzen Kreis der Philosophie“ (SW XIII, 151 Anm.). Dem widerspricht nicht, dass „nach der einen Seite des Universums überwiegende Objektivität, nach der andern überwiegende Subjektivität“ vorherrscht. Das reale Subjekt-Objekt und das ideale Objekt-Subjekt sind „dasselbe Identische, aber nach entgegengesetzten Richtungen mit überwiegendem“ Pol (SW IV, 137). Trotz ihrer unterschiedlichen Pole findet sich in ihrer „Mitte – dem menschlichen Bewußtseyn – eine Art von Indifferenzpunkt“ (SW X, 230; 390; XIV, 213, 166),83 in dem das Reale und das Ideale geeint sind. Dies ist ein Beleg dafür, dass das Reale(-Ideale) und das Ideale(-Reale) einander komplementär sind, wäre dem nicht so, wäre aufzuzeigen, wie zwei vollständig disparate Momente als eine absolut indifferente Einheit, bei gleichzeitiger Differenz, gefasst werden könnten. Die wahre Vernunft eint das Objekt-Subjekt und Subjekt-Objekt und tritt am Ende der Mythologie, das heißt in der Philosophie der Offenbarung als die „wahrhaft objektive[] Philosophie“ hervor (SW XIII, 249, 529, 481, 604; XIV, 173, 230; UPhO, 556).84 Die wahre Vernunftphilosophie löst die im mythologischen Prozess hervortretende blinde Religion ab, so dass der Inhalt als „objektiv und göttlich“ verstanden werden kann (UPhO, 46, 15, 368f.). Dies ist Ausdruck der wahren, der absoluten Vernunft.

83 Dies ist nicht neu, schließlich sind Geist und Natur, „natura naturans und natura naturata“, bloß relativ entgegengesetzt und das bloß „von verschiedenen Gesichtspunkten angesehene Subjekt-Objekt“ – ihr „Princip“ ist es, „zugleich Sub- und Objektives“ zu sein (SW IV, 91, 124). Wenn sich die Philosophie zu dieser „Construktion“ emporhebt, steht sie „im absoluten Indifferenzpunkt“ (SW IV, 495), schließlich kann weder der Materialismus noch der (subjektive) Idealismus für sich die wahre Geltung beanspruchen. Allein der „objektivgewordene[] Idealrealismus“ wird dem Einheits- und Wahrheitsanspruch (SW IV, 89; X, 107), Natur und Geist als vernünftige Wahrheit zu fassen, gerecht. 84 Die Philosophie der Offenbarung ist weit davon entfernt, „dogmatische Theologie“ zu sein oder diese verteidigen zu wollen; betrachtet Schelling doch das Christentum in derselben Weise, wie er „auch die Mythologie betrachtet habe, nämlich als eine Erscheinung, die […] nur sich selbst erklären […] will“ (SW XIV, 34, 234).

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Das Werden des Göttlichen Aufgrund des wandelnden Verständnisses können mythologische Erzählungen zunächst nur (inter-)subjektive Wahrheit für sich reklamieren (SW XIV, 173), während das offenbar gewordene Gottesverständnis für sich objektive Wahrheit in Anspruch nehmen kann. Wie auch die Mythen setzt der offenbar gewordene Begriff des werdenden Gottes „etwas voraus, das schon da ist (gleichsam eine materia ex qua, eine Grundlage aus der er entsteht)“ (SW XIV, 121). Darum ist dasjenige, was sein wird, nichts anders als das „Sein Könnende, […] dieses Können des absolut Künftigen ist ein aktives Können“ (UPhO, 24, 26, 31f., 35, 165, 548, 554). Wenn nämlich nicht schon alle Potentialität im Wesen, das heißt im „ursprünglichen Keim“ des Seins enthalten ist (UPhO, 387, 23f., 131, 73, 608, 599; SW XIII, 421, 303; XIV, 117, 178f., 182, 192f.),85 wäre nicht einzusehen, wie sich etwas entfaltet, wozu die Möglichkeit gar nicht gegeben ist. Damit offenbart das Ende nur, was schon im Anfang begründet ist. Das Existierende ist die sichtbare Entäußerung der Existenz. Wie am Ende der Natur die Freiheit steht, so muss – sofern diese möglich sein soll – Freiheit auch am Anfang stehen. Dass nun im Existierenden nicht jede Potentialität bereits aktual sein muss, ist aufgrund des sich geschichtlich evolvierenden Werdens der Welt offenkundig, aber jedwede Aktualität muss potentiell gegeben sein. Nicht jede Möglichkeit muss wirklich, aber jede Wirklichkeit muss möglich sein. Darum ist der Ursprung des Seins der wahren positiven Philosophie, der Philosophie der Offenbarung, das Sein Könnende, der „wollen könnende Wille“ (UPhO, 36, 29), welcher seine Potentialität zu aktualisieren weiß. Dieser ist der „Actus des freiesten Willens“ selbst (UPhO, 410, 37ff., 155, 163f., 434, 570; SW X, 348). Daher ist das Werden nicht willkürlich, denn in jeder Bewegung „wirkt dieses Ziel schon selbst als causa finalis mit. Von Anfang der Bewegung ist das seyn Sollende mitgesetzt, und das seyn Sollende ist auch schon ein Seyn. Das Ziel der ganzen Natur ist das Menschliche, insofern wirkt das Menschliche schon in der Natur (als causa finalis)“ (SW XIV, 146).86

85 Auf jeden Fall ist der evolvierende Prozess kein „stufenweise[r] und allmähliche[r] Uebergang von der unorganischen zur organischen Welt“, denn mit letzterem fängt „eine ganz neue Welt an“ (SW X, 375). 86 „Den Process einmal gesetzt, sind freilich auch die drei Principien gesetzt; aber da der Process selbst ein bloss faktisch erkennbarer ist, so fragt sich, was denn das Setzende des Processes selbst d. h. die Ursache ist. Ich bemerke, dass im Process das erste Princip aller Dinge sich verhält als causa materialis. Denn das unbegrenzte Sein wird im Process als Stoff, als Materie behandelt, als causa, ex qua omnia fiunt. Das zweite Princip ist die causa efficiens, die bewirkende oder hervorbringende Ursache und verhält sich, weil sie nur ist, um zu wirken, vorzugsweise als Ursache. Es ist die causa, per quam omnia fiunt. Das dritte Princip

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Sofern das evolvierende Werden der Natur „nicht ins Unendliche sich verlaufen“ soll, muss „ein letztes Ziel seyn des Weges, welcher a potentia ad actum geht“ (SW XIII, 104, 104f., 114).87 Das schöpferische Werden ist kein Zufälliges, sondern das Werk eines „freien Entschlusses“ und dementsprechend strebt es auch darnach (UPhO, 404, 24f., 85, 125, 130, 650), die Freiheit wahrhaft werden zu lassen. Freiheit muss sich als „freie That“ entäußern, „im bloßen Denken“ ist sie nämlich nicht zu erkennen (SW XIII, 114; SW I, 278). Entsprechend entäußert sich im Übergang von der Potentialität zur Aktualität die Freiheit und damit der teleologische Grund bzw. das göttliche Motiv. Im Werden der Schöpfung begründet sich „ein sukzessives zu sich selbst Kommen, ein sukzessives seiner selbst bewußt Werden, welches im Menschen, als dem höchsten Geschöpfe, zuletzt hervortritt“ (UPhO, 126, 127, 136, 158; SW XIV, 132). Es ist nicht zu beantworten, ob diese auch einem anderen Wesen als dem Menschen zukommt, allerdings ist es gemäß unserem Wissen nun einmal so, dass der Mensch (bisher) das einzige Wesen ist, in welchem sich die „bis dahin blinde Natur“ zum Selbstbewusstsein erhebt (SW XIII, 5; XI, 176, 190; UPhO, 126).88 Sofern es ein Wissen von der Freiheit gibt, kommt das Sein zu sich, was nun im Menschen der Fall ist. Dadurch, dass im selbstbewussten Wesen, das heißt im Menschen die Freiheit und damit die Welt zu sich kommt, hat die Schöpfung durch ihn seinen Zweck erreicht. Dies impliziert jedoch nicht, dass die Schöpfung „für den Menschen“ da ist (SW XIII, 6), schließlich mag es potentiell auch andere Wesen geben, die als das Seinsollende ist die causa, in qua omnia fiunt. Es ist die causa finalis“ (GPPh, 297, 474f.). 87 Die Welt ist „ihrer Natur nach anfänglich, weil sie nicht anders seyn kann als durch einen Uebergang a potentia ad actum, d. h. vom nicht-Seyn zum Seyn“ (SW X, 344). Der wahre Gott ist kein „Progressus ohne Ziel“ (SW XIV, 13, 146), sondern derjenige, „der seyn wird“ und geworden ist (SW XI, 171, 165, 179). 88 „Im Anfang dieser ganzen Entwicklung ließen wir die Idee auseinander treten in ihre Momente, damit sie durch Wiederkehr in die Einheit sich verwirkliche. Das Auseinandergehen und successiv Wiedereinswerden dieser Momente ist die Natur. Die Wiederherstellung der Einheit ist ihr Ende und der Zweck der Natur. Die Wiederherstellung der Einheit ist die Verwirklichung der Idee. Die verwirklichte Idee ist der Mensch, und er ist der Intention nach nur diese. In ihm soll das ursprünglich außer-sich-Gesetzte wieder ganz in sich gesetzt und in sich gebracht seyn. Auch das Thier schon ist ein seiner selbst Mächtiges, aber nur auf gewisse Weise und partiell, der Mensch das unbedingt seiner selbst Mächtige. Das sich selbst ganz Besitzende ist das Bewußte. Bewußtseyn ist zu-sich-Gekommenseyn, und setzt daher ein von- oder außer-sich-Gekommenseyn voraus. Im Thier ist der Anfang des zu sich Kommens, des bewußt Werdens, aber dieses Bewußtwerden ist immer nur momentan, für gewisse Zwecke, zu denen das Thier hingerissen wird, das Thier ist noch immer für etwas anderes da, der Mensch hat keinen Zweck, denn er ist selbst Zweck, er ist nur, um Bewußtseyn zu seyn, und das Bewußtseyn ist der Zweck; der Mensch ist also nichts als Bewußtseyn, und nicht noch etwas anderes. Er ist im Reich des Gewordenen wieder eben das, was die ursprüngliche Idee war ; er ist nur die wiederhergestellte, die verwirklichte Idee, also er ist nicht wie alles andere ein Seyendes, sondern wieder das Seyende“ (SW X, 388f.).

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Ausdruck dieses Telos sind. Das selbstbewusste Wesen ist jedoch als das Wahre der Natur die „Finalursache“ der Schöpfung. Die Potentialität der Freiheit wurzelt im Sein der Welt und ihre Finalursache ist wiederum die „Entstehung des Weltsystems“ (SW X, 365, 380, 382; XI, 215; XIII, 464; UPhO, 6, 24, 26, 31f., 165, 233, 276, 548, 550, 554).89 Das Göttliche „vollendet“ sich nur (UPhO, 659; 88f., 98), wenn das Wissen von der Freiheit wahrhaft wird. Das Wissen und die Freiheit treten in die Welt. Indem der Mensch von der Freiheit weiß und diese praktisch werden lässt, wird Freiheit nicht nur wahrhaft, er versöhnt hierdurch auch das Absolute mit der Welt. Die Versöhnung der Welt wurzelt einzig in der wahrhaften Freiheit. Indem die Freiheit ganz zu sich kommt, lässt sich davon sprechen, dass sich im Menschen das „zu-sich-Gekommenseyn“, das „Auseinandergehen und successiv Wiedereinswerden“ (SW X, 388, 389; XIV, 112) des Weltprozesses in sich schließt und in ihm „die wahre Versöhnung stiftend alles zu Gott“ zurückführt (SW XIV, 78; UPhO, 405). In ihm werden die „natürlichen Verhältnisse wieder ins übernatürliche“ erhoben und das „Wiedereinswerden“ (SW X, 388), in welchem sich das Absolute „festhalten90“ kann (UPhO, 92, 57), ist das wahrhafte offenbar werden des Vernünftigen und der Freiheit. Somit ist die wahrhafte Freiheit die Finalursache des Werdens in der Welt.

Der „Proceß der vollendeten Bewußtwerdung“ Da der „Proceß der vollendeten Bewußtwerdung“ der „vollendeten Personalisirung Gottes“ gleichkommt (SW VII, 433), findet die Gottheit im selbstbewussten Wesen, im Menschen „ihr Ziel“ und „ihre Ruhe“ (SW X, 272; XIV, 212; UPhO, 398). Demgemäß stellt sich, wie Christian Danz zu Recht anmerkt, im „Telos der Natur Gott dar[] als der, der er immer schon war. In der Verwirkli89 Dass es in der Evolution ein „Fortschreiten […] in Richtung auf eine höhere Organisation […] und damit höherer Komplexität“ gibt, ist „schwerlich bestreitbar“ (Dieter Wandschneider : Naturphilosophie, hg. v. Vittorio Hösle, Bamberg 2008, 186, 185f.). Selbst Charles Darwin ist davon überzeugt, dass die Evolution zwecks der „Zunahme der Komplexität“ zur „Höherentwicklung“ führt, allerdings glaubt er, dass sie insgesamt „kein Ziel“ hat (Vittorio Hösle/Christian Illies: Darwin, Freiburg i. Br. 1999, 89, 29; Charles Darwin: Gesammelte Werke, übersetzt v. Julius Victor Carus, Frankfurt/M. 2008, 606, 691; Stephan Jay Gould: Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution, übersetzt v. Sebstian Vogel, Frankfurt/M. 1998, 201–214, 272). Angesichts der „Tendenz der Höherentwicklung“ kann man sich schwerlich der Frage entziehen (D. Wandschneider: Naturphilosophie, 189), wohin die Evolution strebt. Das Selbstbewusstsein, „die Wurzel des für Menschen essenziellen Freiheitsbewusstseins“ (D. Wandschneider : Naturphilosophie, 192), ist das Ziel aller Vernunft. Hierdurch kommt die Welt zu sich, das Sukzessive wird „überwunden und in das Gottsetzende, Gottbewußte verwandelt“ (SW XIII, 304). 90 Hervorhebung, M.H.

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chung des Bewußtseins offenbart sich Gott als die absolute Einheit.“91 Das schöpferische Werden ist zu seinem Ende geführt. Zur verständigen Hervorbringung dieser wahrhaften Einheit war die Menschwerdung, der Tod am Kreuz sowie die Auferstehung Christi notwendig (UPhO, 587, 599): Hierdurch werden das Reale und das Ideale miteinander versöhnt. Im ersten Moment entäußert sich das Vernünftige, im zweiten wird es negiert und letzteres, dieses „für ewige Zeiten gültige“ Opfer, ermöglicht die absolute Versöhnung mit dem Sein und dem Seinkönnenden der Welt (UPhO, 457). Durch das sich in uns vollziehende Beschreiten aller Stufen vom Unbedingten zum Bedingten ist es uns möglich, die Entfaltung der Freiheit in uns stets aufs Neue hervorzurufen und uns ihr bewusst zu werden (UPhO, 39, 453). Mit der „Auferstehung Christi war der entscheidende Beweis der Unwiderruflichkeit seiner Menschwerdung, und daß er sich von seiner Gottheit nichts als die göttliche Gesinnung, den göttlichen Willen vorbehalten. Durch das freiwillige Aushalten in der Menschheit auch im (nach dem) Tode – durch dieses allein hat der Sohn den Vater vermocht, das menschliche Seyn in ihm, und damit das menschliche Seyn überhaupt wieder anzunehmen. Diese Wiederannahme ging eben in der Auferstehung Christi vor sich, oder vielmehr, die Auferstehung Christi war nichts anderes als die Wirkung dieser vollständigen Wiederannahme; darum heißt es auch, Christus sey für unsere Sünden gestorben und zu unserer Rechtfertigung wieder auferweckt worden, d. h. zum Erweis, daß die menschliche Natur Gott wieder vollkommen genehm und gerecht sey“ (SW XIV, 217).

Daher offenbart sich uns erst in Christus, also im Kreuzigungstod die Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit. Hierdurch wird das „Geheimnis der Vermittlung […] für jeden Menschen faßlich und begreiflich und als unendliche Wahrheit und Wirklichkeit dargestellt“ (UPhO, 606). Wir erkennen unsere Teilhabe und unsere Eigenständigkeit in der Welt. Christus hat selbst „nach dem Tode nicht aufgehört, Mensch zu sein; er ist nicht in die Gottheit zurückgetreten, sondern ist Mensch geblieben, was seine Auferstehung beweist. Denn dies ist der große Sinn der Auferstehung, daß jenes Subjekt auch in seiner Verklärung nicht aufgehört hat, Mensch zu sein. Gerade eben in der Menschheit besteht sein außer Gott – praeter Deum – Sein, sein in innigster Einheit mit Gott Selbstständigsein. Christus ist unabhängig von Gott durch seine Menschheit und unabhängig vom Menschen durch seine Gottheit“ (UPhO, 604, 441, 457, 517, 538f.; SW XIV, 196).

Obzwar Schelling die Menschwerdung als „objektives Ereignis“ (UPhO, 551, 81, 139, 214, 547), Christus als „erwiesene historische Person“ und das Christentum als „unleugbares Faktum“ fasst (UPhO, 608f.), ist damit nur ein bedingter historischer Geltungsanspruch verbunden. Das offenbar gewordene Gottesver91 Christian Danz: Die philosophische Christologie F.W.J. Schellings (Schellingiana 9), StuttgartBad Cannstatt 1996, 41f., 39.

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ständnis ist nämlich ein gestiftetes, welches uns Einblick in unser selbstbewusstes Sein gibt und es dem Einzelnen durch den „Selbstvollzug der Menschwerdung“ möglich macht,92 sich als wahrhaft frei zu begreifen. Im freien Vollzug konstituiert sich das Selbst, weswegen die „Verwirklichung der Freiheit als Selbstbegründung der Freiheit […] die Konstitution des wirklichen Bewußtseins“ zur Folge hat.93 Dass dieser geschichtlich bedingt ist, wird schon dadurch verständlich, dass der „spätere geborene Mensch“, wie auch die Geschichte der Mythologie belegt, „unter dem Einflusse dieses Geistes geboren“ ist und er zwar auf der Stufe des Vernünftigen steht (UPhO, 645, 552), dessen Verwirklichung begründet sich jedoch nicht bloß im Denken, sondern wird erst als freie Tat wahrhaft. Für jeden Menschen ist das geschichtliche Umfeld wesentlich für das Verständnis des eigenen selbst. Wir können unserer Zeit und der kulturellen Bedingtheit nicht entfliehen, sondern müssen uns ihr stellen. Nur wenn wir uns unserem aktual gewordenem Sein stellen, und sei es noch so grässlich, können wir unserem Selbst in vernünftiger Weise gewahr werden.

Freiheit und die Möglichkeit zum Guten Die Vernunftphilosophie des Deutschen Idealismus94 wurde bekanntlich mit den Auswüchsen des NS-Regimes in Verbindung gebracht, doch angesichts der entfalteten Gedanken wird verständlich, dass es nicht das wahrhaft Vernünftige ist, welches zu dem „hideous crime“ der Menschheit geführt hat,95 es war vielmehr die Abkehr von der Vernunft und der Freiheit. Entsprechend liefern Friedrich Schellings Überlegungen einen wichtigen Beitrag dazu, dass wir durch das vernünftige Wissen von der Freiheit für dieselbe einzutreten haben. Dabei ist das freie Wesen im Besonderen für den Menschen, der zur Freiheit fähig ist, und im Allgemeinen für die Schöpfung, welche überhaupt erst Freiheit hervorzubringen vermag, verantwortlich. Das wahrhaft Vernünftige fordert dies geradezu 92 C. Danz: Die philosophische Christologie F.W.J. Schellings, 84, 48, 46. 93 C. Danz: Die philosophische Christologie F.W.J. Schellings, 42f. Die „göttliche Einwohnung in dem Menschen sey erst vollendet, wenn der Geist hinzukomme, dieß gilt auch von dem Ganzen“ (SW XIV, 73); somit liegt es an uns, „die Zeit des Geistes“ mitzugestalten. Während die 1) die „Zeit des Vaters […] ausschließlich in seiner Hand“ und 2) die „gegenwärtige Zeit […] die Zeit des Sohns“ war, kommt es nun uns zu, 3) die „zukünftige“ Zeit, in die „alles gelangen soll“ (SW XIV, 71), im Sinne der Freiheit wahrhaft werden zu lassen. 94 Auch wenn Schelling von der „deutsche[n] Philosophie“ spricht (SW X, 193, 193ff.; XIII, 178; XI, 589f.; UPhO, 699; GPPh, 268ff.), ist dies nicht nationalistisch gemeint, sondern repräsentiert den Gedanken, dass es zu seiner Zeit allein die deutsche Philosophie war, die sich dem Begriff der Vernunft gewidmet hat. Vgl. Vittorio Hösle: Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, München 2013. 95 K. Popper: The Open Society and Its Enemies, Bd. 2, 36, 59.

Existenz, Mythos und Freiheit bei H. Jonas und F.W.J. Schelling

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ein. Sowohl Schelling als auch Jonas haben mit Nachdruck auf die Gefahren für die Schöpfung durch den freien Menschen hingewiesen und gezeigt, dass das Göttliche mit der Hervorbringung der Freiheit ein gewaltiges Wagnis einging und Gott „das Schicksal seines ganzen Werks von dem freien Willen des Geschöpfs abhängig machte“ (SW XIII, 359), wobei sie aber sogleich auf die damit einhergehende Verantwortung hingewiesen haben. Um dies begründen zu können, darf der Begriff vom Göttlichen keine Erdichtung sein, vielmehr muss, wie Schelling gegenüber dem bayerischen König Maximilian II. bemerkt, „die göttliche Wahrheit […] zu allgemeiner Erkenntniß herausgearbeitet“ werden.96 Diesem Anspruch wird Jonas’ Begriff von der Rücknahme Gottes nur bedingt gerecht; so ist einerseits schwer nachzuvollziehen, wie ein aus der Welt zurückgezogener Gott an den Taten der Menschen Kummer leidet und andererseits folgt aus dem Nicht-Eingreifen Gottes nicht zwangsläufig,97 dass er nicht allmächtig ist. Wäre es nämlich so, dass „Gott seine [Allm]acht einen Augenblick zurück[zöge], so hörte“, wie Schelling betont, „der Mensch auf zu seyn“ (SW VII, 339; XIV, 156, 158f.). Die Allmacht Gottes drückt sich demnach nicht in der Macht über den Lauf der Welt aus, sondern wurzelt in der dynamischen Bewegung des Werdens in der Welt. Weil aus dem allmächtigen Werden die wahre Freiheit hervortritt (SW XIII, 269), hat sich Gott nicht aus der Welt zurückgezogen, sondern geht in ihr als das „immanent […] gemachte Transscendente“ auf (SW XIII, 170). Dies impliziert zwar, dass Gott auch in der Zeit der Mörder in der Welt war, heißt jedoch nicht, dass dieses Handeln unter dem Geist des Göttlichen stand. Die Gräueltaten sind nämlich ein Angriff auf die wahrhafte Freiheit und widersprechen entschieden dem vernünftigen Begriff des Göttlichen. Nicht der Begriff der Allmacht ist es, der uns Schwierigkeiten bereitet, es sind vielmehr die Prädikate der Allgüte und Allwissenheit. Indem die Schöpfung gemäß dem allmächtigen Werden nach der wahrhaften Freiheit strebt, trägt das Göttliche nicht nur das Potential zum Guten, sondern auch zum Bösen in sich,98 wäre dem nämlich nicht so, könnte das „Vermögen zum Guten und zum Bösen“ im freien Wesen nicht aktual werden (SW VII, 354, 389; XIV, 49, 263). Mit dem Zulassen von Freiheit wird auf jeden Fall die Allwissenheit beschränkt. Denn eine Zukunft, die gewusst würde, wäre zumindest prädeterminiert und stünde damit der freien Entfaltung des Vernünftigen in der Welt entgegen, würde doch nur Zugelassen, was die Allmacht des Göttlichen nicht angreift. Somit sind sowohl 96 F.W.J. Schelling an König Maximilian II. von Bayern, 17. Dezember 1853, in: König Maximilian II. von Bayern und Schelling. Briefwechsel, hg. v. Ludwig Trost/Friedrich Leist, Stuttgart 1890, 244. 97 KGA III/1, 415. 98 Vgl. König Maximilian II. von Bayern an F.W.J. Schelling, 26. November 1841, in: König Maximilian II. von Bayern und Schelling, 54.

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Michael Hackl

Allgüte als auch Allwissenheit Begrifflichkeiten, die uns unsere Bedingtheit vor Augen führen. Freiheit besteht gerade darin, keiner Vorhersehung zu obliegen. Die Welt ließe sich ohne Freiheit schlechthin nicht auf vernünftige Weise fassen, daher ist die Verwirklichung der wahren Freiheit in vernünftiger Weise unser Seinsollendes. Unser Fehlgehen ist nicht einer allmächtigen Gottheit anzulasten, sondern einzig dem allmächtigen Willen, der uns selbst zukommt. Unser Handeln ist einzig uns selbst anzulasten. Aufgrund unserer Freiheit besteht die Gefahr des Scheiterns und des Versagens, wir haben aber sogleich die Möglichkeit, das unbedingt Gute in der Welt zu verwirklichen. Gerade weil es unmöglich ist, Vergangenes ungeschehen zu machen, muss uns die Geschichte als Mahnung in unserem „Streben nach Wiedererinnerung“ dienen (SW XIII, 287). Das Gute in die Welt zu tragen ist kein Leichtes und ob wir die Freiheit, „unser und der Gottheit Höchstes“ (UPhO, 79; SW XIII, 256), dazu nützen, für das Gute in der Welt auf ewig einzutreten, obliegt allein uns. Die Vernunft lehrt uns jedenfalls, was zu tun ist.

Antonios Kalatzis

Spekulation und Ereignis. Gott, Welt und Mensch bei Hegel und Rosenzweig

1.

Hegel und die aristotelische Tradition philosophischer Theologie

Statt mit der Darstellung des Weges, wie Hegel zu seiner Auffassung der GottWelt-Mensch-Beziehung gelangt, scheint es meines Erachtens passender zu sein, den umgekehrten Weg zu gehen und gleich mit dem Abschluss des hegelschen Systems zu beginnen: „Das Denken an sich aber geht auf das an sich Beste, das höchste Denken auf das Höchste. Sich selbst denkt die Vernunft in Ergreifung des Denkbaren; denn denkbar wird sie selbst, den Gegenstand berührend und denkend, so daß Vernunft und Gedachtes dasselbe ist. Denn die Vernunft ist das aufnehmende Vermögen für das Denkbare und die Wesenheit. Sie ist in wirklicher Tätigkeit, indem sie das Gedachte hat. Also ist jenes, das Gedachte, in noch vollerem Sinne göttlich als das, was die Vernunft Göttliches zu enthalten scheint, und die Spekulation ist das Angenehmste und Beste. Wenn nun so wohl, wie uns zuweilen, der Gottheit immer ist, so ist sie bewundernswert, wenn aber noch wohler, dann noch bewundernswerter. So verhält es sich aber mit ihr. Und Leben wohnt in ihr ; denn der Vernunft wirkliche Tätigkeit ist Leben, die Gottheit aber ist die Tätigkeit; ihre Tätigkeit an sich ist ihr bestes und ewiges Leben. Die Gottheit, sagen wir, ist das ewige, beste lebendige Wesen, also Leben und stetige, ewige Fortdauer wohnet in der Gottheit; denn sie ist Leben und Ewigkeit.“1

Wie nun klar ist, stammt dieses Zitat nicht von Hegel, sondern aus dem Buch Lambda der Metaphysik von Aristoteles.2 Und es ist alles andere als zufällig, dass 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (bzw. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste), Hamburg 1968ff., Bd. 20, 572 (Aristoteles-Zitat übersetzt v. Hermann Bonitz). Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 2 Aristoteles: Opera, 1072b 18–30.

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Antonios Kalatzis

Hegel, einer der ironischsten, spottendsten, aber auch originellsten Denker der Philosophiegeschichte, sich entscheidet, mit dieser recht beeindruckenden Bescheidenheitsgeste sein System abzuschließen. Der Grund dieser Entscheidung ist kein anderer, als dass Hegel selber – ganz bewusst – auf die aristotelische Tradition philosophischer Theologie zurückgreift, um genau diese vorchristliche Bedeutung von Theologie wieder stark zu machen.3 Denn Hegel weiß, wie die Kirchenväter des Frühchristentums schon wussten und sich gegen den Terminus Theologie gewendet haben,4 dass eigentlich Theo-Logie, oder der Diskurs über Gott beziehungsweise über das Absolute nur möglich und sinnvoll ist, wenn Gott oder das Absolute als eine diskursiv greifbare Größe verstanden und vorausgesetzt wird. Mit anderen Worten: Der hegelsche Systemabschluss ist als Zeichen für eine philosophische Position zu verstehen, dass es höchste Zeit ist, von dem abrahamitischen Erbe der Unfassbarkeit Gottes und seiner unergründlichen Offenbarung Abschied zu nehmen und die Logizität beziehungsweise die Möglichkeit eines existentiell und erkenntnistheoretisch selbst-ständigen Sinnvollzugs in der diesseitigen Welt zu rehabilitieren. Nun, um zum konkreten Inhalt dieses Abschlusses zu kommen, bestehen die Hauptmerkmale dieser aristotelisch-hegelschen Gottheit und des Denkverhältnisses zu ihr in den Begriffen des Denkenden, des Gedachten, der Ewigkeit und des Lebens oder der Tätigkeit des Absoluten. Und genau an diesen Begriffen ist zu sehen, dass Hegel eigentlich nicht so bescheiden ist, denn, wie wir gleich sehen werden, will sein philosophisches Projekt nicht eine unkritisch-ahistorische Rückkehr zu Aristoteles sein, sondern eine radikale Umdeutung des aristotelischen Absoluten. Diese radikale Umdeutung besteht hauptsächlich darin, dass im Gegensatz zur aristotelischen Lehre das Sich-Begreifen des Absoluten nicht vom Absoluten selber, sondern allein von dem Menschen vollzogen wird. Mit anderen Worten: Dass das Ziel und das Movens menschlichen Denkens nicht der diskursive Nachvollzug eines ihm äußerlichen Absoluten ist, sondern das menschliche Denken, welches sich selbst als der Ort begreift, wo das Absolute sich selber theoretisch erfasst und praktisch realisiert. Kurzum, der kritische Punkt, an dem die Wege von Aristoteles und Hegel auseinandergehen, besteht in der Rolle und der Funktion menschlicher Individualität für und in dem Absoluten. Für Aristoteles ist sie in diesem Zusammenhang letztendlich irrelevant; für Hegel aber unverzichtbar. Jetzt beginnen wir zu verstehen, welche Beziehung zwischen Gott und Mensch nach Hegel sei: Der Mensch fungiert als dieser Teil des Absoluten (welches für 3 Vgl. GW 20, 20; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, hg. v. Georg Lasson, Hamburg 1973, 85–86. 4 Dazu vgl. Jean-Luc Marion: Foi et raison, in: Ptudes 420/2 (2014), 67–76 bes. 73.

Spekulation und Ereignis. Gott, Welt und Mensch bei Hegel und Rosenzweig

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Hegel in der logischen Transparenz beziehungsweise Nachvollziehbarkeit der Wirklichkeit besteht), wo das Absolute zu sich selbst denkerisch kommt. Die menschliche Denktätigkeit ist, anders gesagt, dazu fähig, die Identität von Denken und Sein zu begreifen, weil diese Identität onto-logisch dazu bestimmt ist, von der menschlichen Denktätigkeit erfasst zu werden. Zwischen Gott und Mensch oder Geist bleibt noch ein drittes Glied übrig, die Welt, welche Hegel mit der Natur gleichsetzt. Hegel hat nun zwei Gründe, zwischen Gott und Mensch die Natur einzuführen. Der erste und offensichtliche Grund besteht in seinem philosophischen Projekt, alle onto-logisch relevanten Aspekte der Wirklichkeit systematisch in ein abgeschlossenes Ganzes zu integrieren. Der zweite Grund hat eine konkretere Bedeutung für die Beziehung zwischen Gott und Mensch und kann sogar als eine Selbstkritik von Hegel an seinen eigenen früheren philosophischen Einstellungen begriffen werden, insbesondere an dem philosophischen Ideal einer intellektuellen Anschauung. Die intellektuelle Anschauung, eine von Kant eingeführte und abgelehnte Idee,5 ist nämlich das Erkenntnisideal einer unmittelbaren und deswegen überdiskursiven und vollkommenen Identität zwischen Denken und Gedachtem und im Fall Hegels zwischen dem jeweiligen, endlichen Denksubjekt und der unendlichen beziehungsweise absoluten Logizität der Wirklichkeit. Der Grund für diese spätere Ablehnung ist die Hegel’sche Einsicht, dass im Falle eines solchen Denkvollzugs das jeweilige Denksubjekt im Absoluten absorbiert würde oder umgekehrt, dass es nichts mehr gäbe, das der Logizität der Wirklichkeit bewusst wäre. Wenn Denkendes und Gedachtes vollkommen identisch würden, wäre das Absolute, im Gegensatz zur aristotelisch-hegelschen Position, weder diskursiv noch tätig. Aus diesem – systematischen – Grund sollte also der Mensch nicht nur Geist, sondern auch ein Teil der Natur, das heißt der Welt sein. Denn für Hegel bedeutet Natur prinzipiell Endlichkeit, Zufälligkeit und Isoliertheit.6 Während die Logik und (eventuell) der Geist der Ort des Denkvollzugs der Einheit und der Vereinigung der Wirklichkeitsbereiche und Gegenständen ist, ist die Natur – im 5 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, B 307. Zur Rezeption der intellektuellen Anschauung im Rahmen der philosophischen Bewegung des Deutschen Idealismus vgl. Eckart Förster : Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie (Teil 1), in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56,2 (2002), 169–190; ders.: Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie (Teil 2), in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56,3 (2002), 322–345 sowie Xavier Tilliette: Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel (Schellingiana 26), hg. v. Lisa Egloff/Katia Hay, Stuttgart-Bad Cannstatt 2015. 6 Vgl. Antonios Kalatzis: „Souveräne Undankbarkeit“? Natürlichkeit, Geistigkeit und Hegels antimoderne Logik der Befreiung, in: Hegel-Jahrbuch 2014, 254–259.

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weiten Sinne – genau ihr anderes, und zwar aufgrund ihrer Zufälligkeit und der gegenseitigen Externalität ihrer Gegenstände. Wie wir schon im ersten Absatz der Naturphilosophie lesen: „Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseyns ergeben. Da die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äußerlich ist, so ist die Natur nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die subjektive Existenz derselben, den Geist) sondern die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist.“7

Die Natursubjekte und Gegenstände können sich nämlich, trotz ihrer Beziehungen, nicht in eine aporienfreie Allgemeinheit oder Einheit erheben, wie dies der menschliche Geist eventuell kann, indem er nämlich diese Einheit denkend vollzieht. Der Geist überhaupt aber ist nicht etwas von der Natur beziehungsweise von seiner eigenen Natürlichkeit vollkommen Abgekoppeltes, sondern auch ein Teil von ihr. Mit anderen Worten, wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion sagt; es gibt keinen einheitlichen, überindividuellen und unterschiedslosen Geist (etwa wie die spinozistische Substanz), welcher von jedem menschlichen Intellekt undifferenziert instanziiert wird, sondern allein unersetzbare, individuelle Geister.8 Die Natürlichkeit oder die Weltlichkeit des Menschen, das heißt der Aspekt von Isoliertheit, Zufälligkeit und Endlichkeit seines Denkens (und Handelns) hat also auch eine positive Rolle. Nämlich, dass seine Individualität und Subjektivität nicht verlorengeht, trotz der Fähigkeit des Menschen, sich als das Bewusstwerden der allgemeinen Vernünftigkeit der Wirklichkeit zu begreifen. Darüber hinaus garantiert diese Konstruktion, dass das hegelsche Absolute ein diskursives und nicht intuitives oder mystisches Absolutes bleibt. Denn die Irreduzibilität der Naturhaftigkeit beziehungsweise Subjektivität jedes menschlichen Denksubjektes schließt eine den Unterschied zwischen den Individuen nivellierende Identität definitiv aus. Wie es schon in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes steht: „Wenn, Gott als die eine Substanz zu fassen, das Zeitalter empörte, worin diese Bestimmung ausgesprochen wurde, so lag teils der Grund hievon in dem Instinkte, daß darin das Selbstbewußtsein nur untergegangen, nicht erhalten ist, teils aber ist das Gegenteil, welches das Denken als Denken festhält, die Allgemeinheit, dieselbe Einfachheit oder ununterschiedne, unbewegte Substantialität, und wenn drittens das Denken das Sein der Substanz als solche mit sich vereint und die Unmittelbarkeit oder das Anschauen als Denken erfaßt, so kömmt es noch darauf an, ob dieses intellektuelle 7 GW 20, 237, § 247. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: ders., Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 16, 40. Im Folgenden zitiert als TWA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.

Spekulation und Ereignis. Gott, Welt und Mensch bei Hegel und Rosenzweig

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Anschauen nicht wieder in die träge Einfachheit zurückfällt, und die Wirklichkeit selbst auf eine unwirkliche Weise darstellt.“9

Der Mensch also, um wieder zur aristotelisch-hegelschen Gottesdefinition zu kommen, ist aufgrund dieser Natürlichkeit oder Endlichkeit als das Moment des ewigen Lebens oder der ewigen Denktätigkeit des Absoluten zu verstehen, weil jedes individuelle Subjekt mehr oder weniger erfolgreich immer wieder diesen Denkvollzug – im Element der Kunst, der Religion oder der Philosophie – machen muss. Der hegelsche Gott ist insofern die Logizität der Wirklichkeit, welche zu sich selbst im Menschen kommt, und dies in einer ewigen und diskursiven Weise, aufgrund des Zwischenglieds der Natur oder der Welt, derer der Mensch auch ein Teil ist. Mit den Worten Hegels: „Was Gott als Geist ist, diß richtig und bestimmt im Gedanken zu fassen, dazu wird gründliche Speculation erfordert. Es sind zunächst die Sätze darin enthalten, Gott ist nur Gott insofern er sich selber weiß, sein Sich-wissen ist ferner Selbstbewußtseyn im Menschen, und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sich-Wissen des Menschen in Gott.“10

2.

Spekulation, Notwendigkeit, Widerspruch

Diese Stelle enthält nicht nur die Zusammenfassung dessen, was Hegel unter der Gott-Welt-Mensch Beziehung versteht, sondern auch den spezifischen Terminus, welcher der Stein des Anstoßes, um zum zweiten Teil des Beitrags zu kommen, für Franz Rosenzweig ist: den Begriff der Spekulation. Was ist Spekulation und warum ist sie ein Problem für Rosenzweig? Rosenzweig liefert nämlich auch in seinem Stern der Erlösung ein „System der Philosophie“11 beziehungsweise ein System von Gott, Welt und Mensch und es lässt sich daher fragen, warum er sich so vehement gegen Hegel wendet. Der Grund für die Ablehnung Rosezweigs besteht nun in dem existentiellen Aspekt des Notwendigkeitselements des spekulativen Denkens. Damit meine ich Folgendes: Spekulation und spekulatives Denken besteht nach Hegel in einer positiven Umdeutung des Widerspruchprinzips im Rahmen seines onto-logischen Projekts. Während die philosophische Tradition den Widerspruch als das Mittel versteht, wodurch das bestimmt wird, was unmöglich, weil undenkbar, ist, versteht Hegel den Widerspruch als den logischen Rahmen, worin ein logisch9 GW 9, 18. 10 GW 20, 550, § 564. 11 Franz Rosenzweig: „Das neue Denken“, in: ders.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, 139–161 hier : 140.

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metaphysisch relevanter Begriff seinen Sinn, in der notwendigen Beziehung zu seinem inhaltslogischen Gegenteil, erst erhält. So lesen wir in der dritten Anmerkung des Widerspruchskapitels in der Wissenschaft der Logik Folgendes: „Es ist überhaupt aus der Betrachtung der Natur des Widerspruchs hervorgegangen, daß es für sich noch sozusagen kein Schaden, Mangel oder Fehler einer Sache ist, wenn an ihr ein Widerspruch aufgezeigt werden kann. Vielmehr jede Bestimmung, jedes Konkrete, jeder Begriff ist wesentlich eine Einheit unterschiedener und unterscheidbarer Momente, die durch den bestimmten, wesentlichen Unterschied in widersprechende übergehen. Dieses Widersprechende löst sich allerdings in nichts auf, es geht in seine negative Einheit zurück. Das Ding, das Subjekt, der Begriff ist nun eben diese negative Einheit selbst; es ist ein an sich selbst Widersprechendes, aber ebensosehr der aufgelöste Widerspruch; es ist der Grund, der seine Bestimmungen enthält und trägt.“12

Die negative Einheit der jeweils entgegengesetzten logischen Gehalte ist also der Ort, worin allein sie bedeutungsvoll werden, ohne aber in eine ihren Unterschied nivellierende Identität, das heißt in eine Identität, worin ihre Unterscheidung sich als überflüssig zeigt, überzugehen. Die Einheit der Entgegengesetzten, der Widerspruch, ist nämlich keine bloße Einheit, sondern eine negative, das heißt ein noematisches Ganzes, dessen Teile nichts anderes sind als der Inhalt seiner inneren Differenzierung. Anders gesagt, der Widerspruch ist der logische Rahmen, worin sich ein Bedeutungsgehalt mit sich selbst durch sein Gegenteil zusammenschießt, weil er und sein Gegenteil wechselseitig füreinander konstitutiv sind. Denn was wäre zum Beispiel der Sinn einer Ursache, welche keine Wirkung hätte, oder einer Allgemeinheit, welche keine besonderen Inhalte beinhaltete? Die spekulative Einsicht des konstitutiven und aus diesem Grund notwendigen Zusammenschlusses von Entgegengesetzten bringt uns aber wieder zum Ende und zum allerletzten Schluss des hegelschen Systems, wo Natur und Geist als Entgegengesetzte sich mit sich selbst durch einander in der negativen, das heißt widersprüchlichen Einheit, welche das Logische oder Gott ist, zusammenschließen: „Der dritte Schluß ist die Idee der Philosophie, welche die sich wissende Vernunft, das absolut-Allgemeine zu ihrer Mitte hat, die sich in Geist und Natur entzweyt, jenen zur Voraussetzung als den Proceß der subjektiven Thätigkeit der Idee, und diese zum allgemeinen Extreme macht, als den Proceß der an sich, objectiv seyenden Idee. Das Sich-Urtheilen der Idee in die beyden Erscheinungen bestimmt dieselben als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifestationen, und es vereinigt sich in ihr, daß die Natur der Sache, der Begriff, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt und diese Bewegung ebensosehr die Thätigkeit des Erkennens ist. Die ewige an und für sich seyende Idee sich ewig als absoluter Geist bethätigt, erzeugt und genießt.“13 12 GW 11, 289. 13 GW 20, 570f., § 577.

Spekulation und Ereignis. Gott, Welt und Mensch bei Hegel und Rosenzweig

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Das Ende des Systems ist also nichts anderes als eine direkte Anwendung des spekulativen Prinzips der Einheit der Entgegengesetzten. Natur und Geist oder Welt und Mensch gehören notwendig zusammen, weil sie ohne einander sinnlos wären. Und weil sie beide eine Einheit, die Einheit der diskursiven Vernünftigkeit aller relevanten onto-logischen Strukturen der Wirklichkeit ausmachen, sind sie als tätige Prozesse zu verstehen, welche sich notwendig aneinander orientieren. Die Natur oder die Welt, das ist das teleologisch-monistische Ziel Hegels, muss in einer Weise gedacht werden, nach welcher sie notwendig a) den Mensch als Geist erzeugen muss und b) so beschaffen sein muss, dass der Mensch die Vernünftigkeit der Wirklichkeit in der Welt erfassen und realisieren kann. Anderseits ist der Mensch oder der Geist dazu gezwungen, zu einer solchen Erfassung der Welt oder der Natur (deren Teil er zugleich ist) zu kommen und durch den Nachvollzug der zuerst verdeckten natürlichen und gesellschaftlichen Vernünftigkeit der Welt sich als das Bewusstwerden dieser Vernünftigkeit zu verstehen. In einem Wort: Um mit Hegel abzuschließen und zu Rosenzweig überzugehen, haben Gott, Welt und Mensch keine andere prinzipielle Möglichkeit, als das zu vollziehen, was von ihrer spekulativen, das heißt notwendigen Einheit schon onto-logisch vorbestimmt ist.

3.

Rosenzweig und die Aporien reduktionistischen Denkens

Das also, was Hegel sich so sehr zu liefern bemüht hat, nämlich ein kohärentes, in sich abgeschlossenes System, wird in Rosenzweigs Augen zum Verhängnis. In Rosenzweigs Augen besteht nämlich „die Wahrheit der Notwendigkeit“14 nicht in der Freiheit, sondern im Nihilismus und in der Sinnlosigkeit. Das spekulative System wird zu einem Puppentheater: Wenn alles Vernunft ist, zeigen sich alle inneren Differenzierungen dieser Vernünftigkeit, sprich Welt (oder Natur) und Mensch (oder Geist), als nebensächlich. Solange, um einen hegelschen Ausdruck zu verwenden, die Sache stets gedacht und begriffen wird, ist es bloß nebensächlich, welche konkrete Person dieses Begreifen vollzieht und realisiert. In uns denkt sich das, was nichts anders machen kann als sich selbst in uns zu denken; und wir können nicht anders denken, als das, was in uns sich denkt: Alles ist Vernunft, bis zu den Wirklichkeitsbereichen, das heißt der Natur und der Natürlichkeit, welche nicht vollkommen vernünftig, weil zufällig, sind. Denn erst durch diesen Gegensatz kann die Vernunft zu sich selbst kommen. Das andere des Geistes ist für den Geist nicht nur anders, sondern auch konstitutiv. Wenn aber auf einer zweiten Ebene alles Vernunft ist, das heißt notwendig verbundene 14 GW 20, 174, § 158.

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Bestandteile des Selbstbewusstwerdens der Vernunft sind, können Rosenzweig zufolge Gott, Welt und menschliches Denksubjekt nicht mehr prinzipiell unterschieden werden. „Worauf beruhte denn jene Allheit? Weshalb wurde denn die Welt nicht etwa als Vielheit gedeutet? Warum gerade als Allheit? Hier steckt offenbar eine Voraussetzung und wieder jene erst-erwähnte: die der Denkbarkeit der Welt. Es ist die Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durchsetzt in der Behauptung der Allheit der Welt. Die Einheit des Logos begründet die Einheit der Welt als einer Allheit. Und hinwiederum bewährt jene Einheit ihren Wahrheitswert in dem Begründen diese Allheit. Darum bedeutet ein erfolgreicher Aufstand gegen die Allheit der Welt zugleich eine Leugnung der Einheit des Denkens. […] [E]s ist dem Subjekt Alles schon ein eindeutiges Prädikat vorweggesichert. Die Einheit des Denkens also leugnet, wer, wie es hier geschieht, dem Sein die Allheit abspricht. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut.“15

Philosophische Systematizität setzt also Notwendigkeit und daher onto-logischen Monismus voraus. Dieser Monismus hat aber laut Rosenzweig die Bedeutung der Reduktion der verschiedenen Systemelemente auf ein Element, worin sie als unterschieden zugrundegehen.16 – Alles bedeutet letztendlich für Rosenzweig Nichts. Deswegen wendet sich Rosenzweig nicht nur gegen Hegel, sondern gegen alle Monismen, welche er als Reduktionstrategien versteht, die nur einen nihilistischen, das heißt sinnlosen Ausgang haben können: „Der Idealismus ist nämlich da nicht als solcher der Feind. Ein Antiidealismus, Irrationalismus, Realismus, Materialismus, Naturalismus oder wie er sich nennen möge, ist hier genauso gefährlich. Denn nicht das ist ja das Leiden des Verstandes, daß er das „Geistige“ als das hinter dem Wirklichen verborgene Wesen sucht, sondern daß er überhaupt etwas hinter dem Wirklichen sucht. Ob nun Realität oder Materie oder Natur – das sind alles Wesensbegriffe, die keine Spur besser sind als der Geist oder die Idee. Sie alle wollen das Wirkliche „sein“ oder es „eigentlich“ sein.“17

Die Sache aber ist nicht so einfach, wie sie eingangs aussieht. Denn auch für Rosenzweig, wie für Hegel, machen Gott, Welt und Mensch allein Sinn, wenn sie zusammengedacht beziehungsweise zusammengebracht werden; und sie sind 15 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gerschom Scholem, Frankfurt/M. 1988, 13. 16 Nun die Frage ob es der hegelschen Strategie, durch das Neuverständnis des Widerspruchs, tatsächlich gelingt, ein monistisches, nicht aber reduktionistisches Weltbild zu liefern, muss hier unbeantwortet bleiben. Wichtig für den Zusammenhang ist nur, dass für Rosenzweig die hegelsche Philosophie, noch eine, auch wenn die subtilste, Variante reduktionistischen Denkens ist. 17 Franz Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, hg und eingeleitet v. Nahum Glatzer, Königstein/Ts. 1986, 53–54.

Spekulation und Ereignis. Gott, Welt und Mensch bei Hegel und Rosenzweig

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alle drei notwendig, um zu einem kohärenten und vollständigen Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen: „Die Welt ist etwas – das heißt: sie ist nicht Nichts, sie ist aber auch nicht Alles, sondern es gibt noch andres. Und da dieses Wissen nur der erste Anfang sein soll, so muß nun jenes andre, Ich wie Gott, in jedem Augenblick für sie erreichbar sein, sie erreichen. Es darf gar nicht möglich sein, von Welt zu reden, ohne nicht schon im nächsten Augenblick vom Menschen und von Gott zu reden.“18

Rosenzweig versucht sich also mit Hegel gegen Hegel einen Weg zu schlagen zwischen der Skylla des Nihilismus der logischen Notwendigkeit des Monismus und der Charybdis der Bedeutungslosigkeit der wechselseitigen Isolierung von Gott, Welt und Mensch.

4.

Ereignis vs. Spekulation

Die Lösung dieses Rätsels glaubt Rosenzweig in der Idee des Ereignisses gefunden zu haben, welches er als das Gegenstück zur hegelschen Spekulation versteht. Damit wird die Position gekennzeichnet, dass selbst wenn Gott, Welt und Mensch allein zusammenzudenken sind, die Tatsache ihrer Vereinigung nicht auf eine logische Notwendigkeit zurückzuführen ist – sondern als unvollziehbares Ereignis zu betrachten. Wenn Kant sich fragt, ohne Antwort geben zu können, wie es möglich ist, dass der Mensch Bürger zweier Welten,19 also Teil der Erscheinungswelt und der Welt der Dinge-an-sich sei, so behauptet Rosenzweig in ähnlicher Weise, dass wir gut beraten wären, philosophisch nicht hinter diese Tatsache gehen zu wollen. Unsere Unfähigkeit aber, das Ereignis der Einheit von Gott, Welt und Mensch nachvollziehen zu können, erhält bei Rosenzweig eine ganz und gar positive Bedeutung. Sie ist nicht als eine frustrierende Schranke des Denkens zu verstehen, sondern als Ausgang aus dem Nihilismus des monistischen Denkens: „Der Mensch ist unbeweisbar, so gut wie die Welt und wie Gott. Sucht das Wissen gleichwohl eins von diesen dreien zu beweisen, so verliert es sich mit Notwendigkeit ins Nichts.“20

Kurzum, Ereignis bringt Gott, Mensch und Welt zusammen, ohne ihren Unterschied zu vertilgen. Der selbstständige, unfassbare Rest, welcher Gott Welt und Mensch vor ihrer Beziehung jeweils sind, verbietet ihre Nivellierung in einem unterschiedslosen Ganzen. Rosenzweig verfolgt also die hegelsche Lehre von der 18 F. Rosenzweig: Büchlein, 72. 19 Vgl. z. B. AA, V, S. 422. 20 F. Rosenzweig: Stern, 68.

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inhaltlichen Wechselkonstitution zwischen Gott, Welt und Mensch, ohne aber den Aspekt der Notwendigkeit dieser Wechselkonstitution beziehungsweise Sinnhaftigkeit in Kauf nehmen zu wollen. Daher besteht der Anfang des Rosenzweig’schen Systems nicht, wie bei Hegel, in einem monistisch konzipiertes Sein, worin, auch wenn nur implizit, alles beinhaltet ist, sondern in den drei gleichwertigen und selbstständigen Elementen – denen von Gott, Welt und Mensch vor ihrer Vereinigung: „Nicht als Gegenstände rationaler Wissenschaft denken wir sie wiederherzustellen, sondern gerade umgekehrt als ,irrationale‘ Gegenstände.“21 Rosenzweig braucht also genau diesen irrationalen Rest, um Gott, Welt und Mensch nicht in eine monistische Einheit aufzulösen. Das Resultat aber, wie der Abschluss seines Sterns eindeutig erklärt, ist kein spekulatives oder ähnliches Verständnis der Wirklichkeit, das heißt ein Wirklichkeitsverständnis, welches sich als weiser, tiefer oder objektiver als das alltägliche Verständnis der Wirklichkeit gibt. Der Stern der Erlösung führt nirgendwo sonst hin als „ins Leben“,22 das heißt er führt zurück zum unphilosophischen, das heißt nicht notwendigkeitsbedingten, alltäglichen Verständnis von Gott, Welt und Mensch. Gott ist der Schöpfer der Welt, das heißt der unergründliche Grund, warum es Etwas (die Welt und den Menschen) und nicht Nichts gibt. Daher, weil wir in unserem Sein und am Sein der Welt keine Notwendigkeit einsehen können, wird die Tatsache dieses Seins als Überfluss, als ein göttlicher Akt von Spontaneität verstanden. Mit einem Wort, Gott ist Liebe. Die Welt, zweitens, gilt laut Rosenzweig als das Reich der Dinge und der kausalen, ausnahmslosen Notwendigkeit. Das bezeichnet das Reich der Kreaturen, welche in mechanischen, chemischen und organischen Verhältnissen stehen. Die „Weltdinge“23 haben kein Bewusstsein ihrer selbst und vor allem nicht die Möglichkeit der Notwendigkeit der Naturgesetzte zu widerstehen. Sie sind weder gut noch böse, weil sie amoralisch sind. Sie sind unfrei. Freiheit kommt dem Menschen allein zu. Es ist frei gegeben, dem Gebot der Nächstenliebe zu folgen oder nicht. Rosenzweig versteht nämlich Freiheit wie Kant, als das „Wunder in der Erscheinungswelt“ und den Menschen als jenen Teil der Welt, welcher außerhalb der Welt ist, weil seine Handlungen nicht von der kausalen Notwendigkeit vorbestimmt sind. Damit kommt man zurück zum ersten Element der Konstellation von Gott, Welt und Mensch. Gott ist bei Rosenzweig nicht nur als Grund und Anfang verstanden, sondern auch als Ziel und als Urheber des Gebots. Wie Gott aus Liebe und nicht aus Notwendigkeit die Welt und den Menschen geschaffen hat, so ist 21 F. Rosenzweig: Stern, 21. 22 F. Rosenzweig: Stern, 472. 23 F. Rosenzweig: Stern, 42.

Spekulation und Ereignis. Gott, Welt und Mensch bei Hegel und Rosenzweig

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der Mensch dazu berufen, die Natur und die diesbezügliche Notwendigkeit des ökonomischen Prinzips von Geben-und-Nehmen zu tanszendieren, und aus Überfluss zu handeln, zu verzeihen und zu lieben. Und was am Ende kommen wird, bleibt genauso dunkel, besser : offen, wie der Anfang. Wie unergründlich die Schöpfung der Welt und des Menschen ist, so auch sein eschatologisch gedachtes Ende. Dem Menschen bleibt dem Glauben oder, konkreter, dem Vertrauen übrig.24 Die Welt oder die Natur ist wie bei Hegel das Bindeglied zwischen Gott und Mensch, aber in einer ganz anderen Weise. Während bei Hegel die Natur und der natürliche Aspekt des Geistes die Individualität garantiert, versteht Rosenzweig die Natur und das Reich der Notwendigkeit als das Reich der Abwesenheit Gottes, wo keine Gerechtigkeit oder Liebe herrscht. Dies ist aber für Rosenzweig eine notwendige Bedingung für die Freiheit des Menschen. Die Amoralität der Welt ist das, was uns die Freiheit der Entscheidung zum Guten oder zum Bösen ermöglicht. Das heißt, weil wir unmittelbar gegenüber der Welt und nicht gegenüber Gott stehen, weil wir nicht sicher sein können, dass Gott ist und dass er Liebe ist, ist das Gehorchen seinem Gebot ein Akt, welcher allein aus Freiheit und nicht aus Angst oder Kalkulation vollgezogen werden kann: „Gott muß also, um die Geister zu scheiden, nicht bloß nicht nützen, sondern geradezu schaden. Und so bleibt ihm gar nichts übrig: er muß den Menschen versuchen; er muß ihm nicht bloß sein Walten verbergen, nein er muß ihn darüber täuschen; er muß es dem Menschen schwer, ja unmöglich machen, es zu sehen, auf das dieser Gelegenheit habe, also in Freiheit, zu glauben und zu vertrauen.“25

Am Ende gelangen wir zu einem Wirklichkeitsverständnis, welches sich in nichts vom alltäglichen Wirklichkeitsverständnis, zumindest des 19. Jahrhunderts, unterscheidet: Gott bleibt ungreifbar, und das einzige, was wir von ihm ahnen, ist, dass er uns liebt; die Welt ist der Raum der Notwendigkeit und der ausnahmslosen Kausalität, das Reich der Dinge, und der Mensch, ist jenes Glied der Welt, welches allein verantwortlich und frei ist. Musste also Rosenzweig die fast 600 Seiten des Sterns schreiben, um zu diesem Resultat zu gelangen? Denn trotz den diversen genialen philosophischen Innovationen des Werks, bleibt das Resultat dasselbe: Statt Philosophie zu betreiben, wäre man gut beraten – sit venia verbo – Kirch- oder Synagogengänger zu bleiben, oder zu werden. Rosenzweig hat aber den Stern aus sehr guten Gründen geschrieben. Denn das, was seine Philosophie vielleicht zum ersten Mal signalisiert, ist der Anfang einer neuen Epoche für die Philosophie. Die Epoche ihrer radikalen Selbstkritik 24 F. Rosenzweig: Stern, 472. 25 F. Rosenzweig: Stern, 296.

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und ihres Selbstmisstrauens. Zusammen mit Heidegger und Wittgenstein versteht Rosenzweig traditionelle Philosophie und Metaphysik als „Störung“ und „Krankheit“,26 und dies deswegen, weil unsere Epoche nicht mehr an den ursprünglichen Konstitutionsgrund der Philosophie glaubt. In einer Zeit, wo weder an der Objektivität menschlichen Wissens noch an der Relevanz dieses Wissens für unsere praktische Orientierung geglaubt wird, scheint Philosophie keine Rolle mehr zu haben. Trotz dieses Zugeständnisses aber, des Bankrotts der traditionellen Philosophie, versuchen alle drei Denker nicht ein für alle Mal von der Philosophie Abschied zu nehmen, sondern den Sinn philosophischer Tätigkeit neu zu denken. Und das ist wahrscheinlich, was Hegel und Rosenzweig in weiter Ferne, so nah zueinander bringt: während Hegel das traditionelle Selbstverständnis der Philosophie zu ihrem Höhepunkt bringt, denkt Rosenzweig darüber nach, was philosophische Tätigkeit und philosophische Leistung bedeuten, wenn die ursprünglichen Gründungsprämissen der Philosophie nicht mehr gelten. In dieser Hinsicht weisen Spekulation und Ereignis nicht nur auf zwei verschiedene philosophische Modelle, welche dieselben Probleme lösen wollen hin, sondern auf zwei radikal verschiedene Verständnisse der Philosophie und ihrer Probleme. In dieser Hinsicht scheint es mir, dass bei der Auseinandersetzung zwischen Hegel und Rosenzweig viel mehr auf dem Spiel steht, als eine bloße Diskrepanz der Antworten auf klassische philosophische Probleme. Auch wenn beide radikal verschiedene Wege gehen, teilen sie mit derselben Leidenschaft dieselbe Fragstellung, nämlich die nach der eigentlichen Bedeutung ihres Philosophierens. Diese zwei Optionen gegeneinander auswerten zu wollen, wäre jedoch Gegenstand eines ganz anderen Beitrags.

26 F. Rosenzweig: Büchlein, 50.

Max Brinnich

Die Bedeutung des Wartens und der Hoffnung. Anmerkungen zu Kant und Levinas

Für Kant und Levinas bedeutet, ein Mensch zu sein, ein moralisches Gebot zu befolgen, das den Horizont dessen, wovon die letzten Gründe handeln, übersteigt. Kant spricht in diesem Kontext bezeichnenderweise von einer Hoffnung, sich dem, was einem moralisch geboten ist, unendlich anzunähern. Levinas beschreibt die Beziehung zum moralisch Gebotenen als Phänomen des SichBeugens vor und des geduldigen Wartens auf Gott. Anders als Kant geht es Levinas dabei nicht nur um die Annäherung an, sondern um die konkrete Erfüllung des Gebotenen: das Warten mündet nicht in eine Hoffnung ohne Aussicht auf Erfolg, wie Levinas an Kant kritisiert. Was dies näherhin bedeutet und ob Levinas’ Kritik berechtigt ist, steht hier zur Debatte. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden untersucht werden, inwiefern die Befolgung des moralisch Gebotenen bei Kant und Levinas jeweils mit Fragen der Menschlichkeit verbunden ist. Zu diesem Zweck wird nach einer kurzen Einleitung zunächst ausgehend von Kants kopernikanischer Revolution auf dessen Begriff der Hoffnung und dann auf den Begriff des geduldigen Wartens bei Levinas eingegangen. Zum Schluss wird die intrinsische Verflechtung von Moralitäts- und Zeitdiskurs, die in diesem Zusammenhang in den Werken der beiden Autoren zu beobachten ist, hinterfragt.

1. Mit seiner Kritik der reinen Vernunft versucht Kant die Philosophie bekanntlich in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen. Dabei orientiert er sich einerseits an Lockes Leitspruch, dass nichts im Verstand ist, was nicht zuvor in den Sinnen war, und hält andererseits am rationalistischen Glauben an ein reines Denken fest, das aus dem Sinnenmaterial allererst Erkenntnis macht.1 Es ist ein 1 Das lässt die Einleitung in die B-Auflage von Kants Kritik der reinen Vernunft deutlich erkennen, wo Kant die Überzeugung vertritt, es gehe „[d]er Zeit nach keine […] Erkenntnis in

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schmaler Grat, der zur Erkenntnis führt; über die sinnlich gegebene Materie auf der einen und die reinen Formen des Denkens auf der anderen Seite. Diesen Weg hat Kant auch für die Philosophie vorgesehen, die er in den Stand einer Wissenschaft versetzen will: sie soll den Prinzipien der reinen Vernunft Folge leisten, ohne den festen Boden der sinnlichen Phänomene zu verlassen. Anders als bei Kant, so läßt sich vorwegnehmend zusammenfassen, ist die Bedeutung sinnlicher Phänomene in Levinas’ Augen kein Produkt einer späteren Erkenntnis,2 sondern dieselben tragen umgekehrt eine Bedeutung in sich, die für den Verstand konstitutiv ist. Levinas sucht eine Bedeutung, deren Ursprung nicht der Verstand ist und verlässt damit die Grenzen der kantischen Philosophie, der er viel verdankt. In diesem Kontext ist der Begriff der Hoffnung für die kantische Philosophie nun insofern zentral, als dieselbe von einer strengen Trennung des sinnlich Wahrnehmbaren und des reinen Denkens ausgeht und in diesem Kontext von Ideen spricht, die an sich keinen Bezug zu dem sinnlich bedingten Erfahrungshorizont haben und eine Hoffnung auf eine Welt eröffnen, die reinen Vernunftgesetzen gehorcht. In der Tat spricht Kant von einer vernunftgewirkten Hoffnung, deren Erfüllung sich der Mensch, dessen Dasein stets auch sinnlich bedingt ist, nur annähern kann. Mit dieser Hoffnung ist nun nichts verbunden, das aus der Perspektive des Menschen, dessen Verstand auf Erfahrung angewiesenen ist, einen konkreten Sinn ergeben oder das er sich veranschaulichen könnte. Levinas hebt an Kants Begriff der Hoffnung auch deshalb positiv hervor, dass er den Blick für eine Bedeutung eröffne, die jenseits aller Theorie liege, kritisiert jedoch, dass diese Bedeutung bei Kant ein Produkt des Denkens sei. Nach seiner Ansicht steht der Mensch in der Spur einer Bedeutung, die kein Produkt, sondern ein Konstitutionsmoment des Denkens ist. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Begriff des Wartens. Anders als die uns der Erfahrung vorher“, wenngleich das nicht bedeute, dass es keine „von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängige Erkenntnis gebe“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Raymund Schmidt, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1993, B 1f.). Hieraus folgt nämlich, dass es zur Erkenntnis in den Augen Kants einerseits der sinnlichen Rezeption und andererseits einer davon unabhängigen Apperzeptionsleistung des Verstandes bedarf. Entsprechend dieser Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis distanziert sich Kant im Verlauf der Kritik der reinen Vernunft einerseits von dem rein empiristischen Standpunkt, den Locke vertritt, und andererseits von Leibniz’ rein rationalistischer Position. 2 Dass sinnliche Phänomene bei Kant erst durch die spätere Verstandeserkenntnis Bedeutung erlangen, erklärt sich daraus, dass nach seiner Ansicht zunächst ein sinnliches Phänomen gegeben sein muss, bevor der Verstand, indem er darüber urteilt, zur Ausübung gelangt (vgl. zu Kants Trennung von Sinnlichkeit und Verstand Anm. 1; zu seiner Rückführung sämtlicher Verstandeshandlungen auf das Urteil vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 94). Bedeutung ist bei Kant überhaupt nur bei sinnlichen Phänomenen zu finden, die vermittelst eines Urteils prädikativ bestimmt werden (vgl. bes. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 294–315).

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Hoffnung richtet sich das Warten niemals auf etwas, das prinzipiell nicht erfüllt werden kann: worauf man wartet, ist einem bereits begegnet. So richtet sich bei Levinas auch das Warten auf eine Zukunft, die prinzipiell eintreten kann und Spuren einer vergangenen Begegnung in sich trägt. Denn das Denken ist bei Levinas immer schon (toujours d8j/) konstituiert durch eine Bedeutung, die ihm vorausgeht und in deren Spur es steht. Der Sinn des Denkens ist für Levinas in diesem Zusammenhang daran gebunden, sich selbst in einem diskursiven Prozess zu hinterfragen und geduldig auf die Erneuerung jener Sinngebung zu warten, die dem Denken in der Vergangenheit eine Bedeutung verlieh, die dasselbe sich aber nie vergegenwärtigen kann, zumal sie aus seiner Perspektive immer schon vergangen ist. Ähnlich wie die Hoffnung für Kant markiert das Warten bei Levinas einen Bedeutungshorizont, der die Theorie übersteigt und für die menschliche Seinsweise dennoch konstitutiv ist. Das Warten ist allerdings kein Produkt, sondern die Bedeutung des Denkens, das schlechthin Intelligible und es kommt aus einer Vergangenheit, „die niemals Gegenwart war“.3 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Kant und Levinas an diesem Punkt, der die Begriffe der Hoffnung und des Wartens betrifft, viel gemeinsam haben und doch weit voneinander entfernt sind. Dabei ist auch ein Blick auf Levinas’ Rezeption von Kants Begriff der Hoffnung zu werfen, die sich an den Begriffen Sinn und Bedeutung abarbeitet. Zunächst soll nun auf Kants Begriff der Hoffnung eingegangen werden, dann auf Levinas’ und schließlich auf etwaige Differenzen zwischen den beiden Autoren.

2. Als Antwort auf Humes selbstgewählten Ausweg aus seiner skeptischen Infragestellung der Metaphysik lehnt Kant bekanntlich ab, auf die „Weisheit der Natur“ zurückzugehen, um die Verstandesgrundsätze aus dem Zusammenspiel von Erfahrung und Gewohnheit zu erklären.4 In den Augen Kants verhält es sich 3 Emmanuel Levinas: Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, in: ders.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, aus dem Französischen v. Frank Miething, München 1995, 278. Im Folgenden zitiert als ZU. 4 Vgl. zu Humes skeptischem Zweifel bes. David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding, hg. v. Tom L. Beauchamp, Oxford 2006. Zitiert wird nach der Paginierung der Ausgabe von Lewis Amherst Selby-Bigge/Peter H. Nidditch (Oxford 1975), „Of the Idea of Necessary Connexion“, 60–79; zu Humes Begriff der „Weisheit der Natur“: „It [the operation of the mind, by which we infer like effects from like causes] is more conformable to the ordinary wisdom of nature to secure so necessary an act of the mind, by some instinct or mechanical tendency, which may be infallible in its operations, may discover itself at the first appearance of life and thought, and may be independent of all the labored deductions of the understanding“ (D. Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding, 55). Kants Dis-

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genau andersherum: nicht die Natur zeichnet sich für die Verstandesgrundsätze verantwortlich, sondern der Verstand gibt der Natur die Regeln vor, indem er jene objektive Einheit, die wir Natur nennen, an unseren sinnlichen Wahrnehmungen erst hervorbringt.5 Dieser Gedanke findet schließlich Eingang in Kants Lehre von den zwei Stämmen der Erkenntnis, wonach zunächst eine sinnliche Wahrnehmung gegeben sein muss, bevor der Verstand zur Ausübung gerät und das in der Wahrnehmung gegebene Sinnenmaterial zur objektiven Einheit der Erkenntnis verbindet.6 Mit dieser Lehre vollzieht Kant eine strenge Grenzziehung zwischen dem Sinn, in dem sich ein Phänomen in der Wahrnehmung zeigt, und seiner Bedeutung im erkennenden Verstand. Diese Grenzziehung ist nun der Dreh- und Angelpunkt von Kants kopernikanischer Revolution der Philosophie. Im Blick auf sein eigenes philosophisches Programm kündigt Kant bekanntlich eine „Revolution der Denkart“ an,7 mit der es ebenso bewandt ist wie mit den „Gedanken des Copernicus […], der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ“.8

Mit „Revolution“ meint Kant nicht nur jenes politische Moment, das wir heute damit verbinden. Zu Kants Lebzeiten wird unter „Revolution“ auch die Umlaufbewegung der Himmelskörper um die Sterne verstanden,9 worauf Kant auch anspielt, wenn er seine „Revolution der Denkart“ mit derjenigen des Kopernikus

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kussion von Humes skeptischem Zweifel ist besonders in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik dokumentiert. Was die objektive Gegebenheit der sinnlichen Wahrnehmung in der Erfahrung betrifft, hält Kant in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der Kritik der reinen Vernunft fest, „daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben“ (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 130). Vgl. zu dieser Thematik die Anm. 1 sowie die Anm. 2 oben und bes. auch I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 1ff. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XI. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XVI. Der Begriff „Revolution“ beginnt erst Anfang des 17. Jahrhunderts die heute geläufige politische Bedeutung anzunehmen (vgl. den Eintrag Revolution von Horst Günther, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 12 Bde., hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Basel 1971–2004, Bd. 8, 957–973). Auch Kant verwendet diesen Begriff gelegentlich noch im astronomischen Kontext (vgl. etwa Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), in: ders.: Kant’s Gesammelte Schriften, 22 Bde., hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. 1, 286f. Im Folgenden zitiert als Akad.-Ausg. mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. I. Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775), Akad.-Ausg. II, 438f.; ders.: Reflexionen zur Mathematik, Physik u. Chemie, Physischen Geographie, Akad.-Ausg. XVI, 147). Zudem tritt dieser Begriff bei Kant häufig in Zusammenhängen auf, in denen bewusst auf die astronomische Verwendung dieses Wortes angespielt wird, so auch mit Blick auf Kants sogenannte kopernikanische Revolution der Denkart.

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vergleicht. In der Tat zeigt sich Kants „Revolution der Denkart“ bei näherer Betrachtung als eine Neubestimmung der menschlichen Art zu denken, die den astronomischen Überlegungen des Kopernikus sehr verwandt ist: auf die sinnliche Wahrnehmung des eigenen Zustands in der Welt angewiesen, gleichsam um seine eigene Achse rotierend, revoltiert das erkennende Subjekt bei Kant um ein unbekanntes Zentrum, dessen Gesetzmäßigkeiten es zwar wahrnimmt, das ihm jedoch, gerade weil es nur eine Wahrnehmung davon hat, so, wie es an sich ist, als ein Ding an sich notwendig unbekannt ist. Das Subjekt versucht folglich die Gesetzmäßigkeiten der Welt dadurch zu erkennen, dass es seinen Wahrnehmungen nachspürt, sodass es bildlich gesprochen als Zuschauer um die Achse seines empirischen Daseins rotiert. Die Struktur von Kants „Revolution der Denkart“ in der Philosophie weist vor diesem Hintergrund dieselben Grundzüge auf, wie seinerzeit Kopernikus’ Revolution in der Astronomie, jedoch mit dem Unterschied, dass Kant nicht astronomischen Phänomenen, sondern den Bedingungen der Möglichkeit einer streng allgemeinen und notwendigen Erkenntnis nachspürt.10 Und eine solche Erkenntnis muss in seinen Augen eine Wahrnehmung enthalten, die unabhängig von den Auffassungsleistungen des Subjekts entstanden ist und eine allgemeine Verbindlichkeit aufweist, die über das, was wir im Einzelnen erkennen, hinausgeht, indem sie sich auf die Mechanismen der sinnlichen Welt der Erfahrung schlechthin bezieht. Ferner muss es nach Kant möglich sein, die Notwendigkeit dieser Mechanismen zu begreifen, um darin nicht Eventualitäten, sondern die Gesetzmäßigkeit der empirischen Welt zu erkennen. Unter der Voraussetzung, dass die Auffassungsleistungen des Subjekts keinen unmittelbaren Einfluss auf die sinnliche Wahrnehmung ausüben, ist dies nur insofern möglich, als das Subjekt über Begriffe a priori verfügt, die in einem notwendigen Zusammenhang zu den Formen seiner sinnlichen Wahrnehmung stehen.11 Vor diesem Hintergrund unterscheidet Kant schließlich zwischen dem Vermögen solcher Begriffe a priori, dem Verstand, und dem davon unabhängigen Wahrnehmungsvermögen, das er Sinnlichkeit nennt.

10 In diesem Kontext hält Kant fest: „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori und gehören auch unzertrennlich zu einander“ (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 4). 11 Kants Argument für die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen den Form der sinnlichen Anschauung und des reinen Denkens findet sich in seinen Darstellungen zur ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht [sic!] gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird“ (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 131f.).

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Kant zeichnet damit ein „janusköpfige[s] Gebilde“ des Menschen,12 der teils Anhänger einer zeitlichen Ordnung ist, die seinen Wahrnehmungsverlauf strukturiert und wonach das Subjekt zwar vieles zugleich vorstellen kann, verschiedene Vorstellungen im inneren Sinn aber nur nacheinander wahrnehmen kann,13 und teils Anhänger einer begriffslogischen Ordnung, die auf den Strukturen der sinnlichen Wahrnehmung aufbaut,14 welche der Mensch sich begrifflich vergegenwärtigt und dadurch in einen Modus der Gleichzeitigkeit bringt, der der zeitlichen Ordnung diametral entgegensteht. Die zeitliche Ordnung der Sinne und die logische Ordnung des Denkens bilden bei Kant insofern einen ordo inverso, können aber nebeneinander bestehen. Das ist die Crux seiner kopernikanischen Revolution. Einerseits nimmt sie sowohl Motive des Empirismus als auch des Rationalismus auf und präsentiert sich im Blick auf die zu Kants Zeiten einseitig festgefahrenen Schulpositionen als weltanschauliche Revolution. Andererseits geht damit auch eine Beschreibung der menschlichen Art zu denken einher, die dem astronomischen Weltbild des Kopernikus’ nachempfunden ist, wie hier gezeigt werden konnte. 12 Violetta Waibel nennt Kants Bestimmung von Raum und Zeit qua transzendentaler Idealität und empirischer Realität ein „janusköpfige[s] Gebilde“ (Violeta Waibel: Transzendental ideal, empirisch real. Kant über Raum und Zeit, in: Kant zwischen Ost und West. Zum Gedanken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag, Bd. 2, hg. v. Wladimir Bryuschinkin, Kalingrad 2006, 210–219, hier : 210). Ich denke, dies lässt sich auch über Kants Zweiteilung der Erkenntnisvermögen in Sinnlichkeit und Verstand sagen: zum einen gibt Kant der Erkenntnis damit zwei verschiedene Gesichter, nämlich das der sinnlich bedürftigen und das der vernünftig rationalen, die einander nie zu Gesicht bekommen und die Kant mit Strenge und Nachdruck unterscheidet. Auch Janus wird mit zwei Gesichtern dargestellt, die einander als Kehrseite des jeweils anderen nie zu Gesicht bekommen. Darüber hinaus ist Kant der Ansicht, dass die Verstandestätigkeit allererst durch die Sinnlichkeit veranlasst wird und dass mit dieser alles anfängt (vgl. die Ausführungen oben und die Anm. 14), dass es dann jedoch der Verstand ist, der das Sinnenmaterial allererst zur Einheit der Erkenntnis verbindet. Auch dies wird in der Rede von einem „janusköpfigen Gebilde“ verdeutlicht, da Janus der Gott des Anfangs und des Endes ist. 13 Vorstellungen sind in Kants Augen Zustandsveränderungen des Subjekts, die im inneren Sinn wahrgenommen werden, eine Veränderung aber ist nach seiner Ansicht eine „Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate […] in ein und demselben Objekte“, die einem Ding „[n]ur in der Zeit […], nämlich nacheinander anzutreffen“ möglich ist (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 48f.; zum Zusammenhang von innerem Zustand und Vorstellungsvermögen des Subjekts vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 22f./B 37f.). Weil Kant Vorstellungen als Wahrnehmungen der Zustandsveränderungen des Subjekts begreift, sind dieselben in seinen Augen nur nacheinander möglich. Weil unsere Erkenntnis nach seiner Ansicht zudem an den Verlauf der sinnlichen Wahrnehmungen gebunden ist, formuliert er hierauf aufbauend auch den transzendentalen Grundsatz, dass verschiedene Zeiten nur nacheinander möglich sind (vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 31/B 47). 14 Wie Kant festhält, geraten die Erkenntnisvermögen nach seiner Ansicht erst durch die Erfahrung zur Ausübung, wobei dem Verstand zunächst eine sinnliche Wahrnehmung gegeben sein muss, deren empirischen Gehalt er begrifflich bestimmen kann (vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 1 und A 19f./B 33f.).

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Das Denken ist der Sinnlichkeit, obwohl es auf deren Mechanismen aufbaut, in Kants Augen also alles andere als sklavisch ausgeliefert: indem es mit eigenen Begriffe a priori über den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung urteilt, setzt es sich der Sinnlichkeit als Freiheit und mit einer eigenen Gesetzgebung entgegen.15 Gleichwohl steht, was diese Freiheit hervorbringt, jederzeit im Kontext der Sinnlichkeit und ist als Urteil darauf bezogen, weshalb es uns im Rahmen dieser Freiheit in Kants Augen auch nicht möglich ist, allein nach den Gesetzen dieser Freiheit zu handeln,16 da wir je schon in einem Geflecht von Sinnlichkeit und Verstand gefangen sind, in dem wir nur zum Teil frei und weder imstande sind, die ursprüngliche Wurzel dieses Geflechts zu erkennen, noch die Kluft, die dazwischen klafft, zu schließen.17 Indem das Denken sich der Sinnlichkeit als Freiheit entgegensetzt, verfolgt es gleichwohl das Interesse, auf der Grundlage des Bereichs der sinnlichen Wahrnehmung eine „reine Verstandeswelt“, ein „Reich autonomer Zwecke“ zu errichten und die Kluft zur Sinnlichkeit dadurch zu überwinden.18 In praktischer Absicht ist die Vernunft bei Kant also von einem Interesse geleitet, dessen Folgen oder auch nur dessen bloße Möglichkeit ihren 15 Kant bestimmt das Vermögen zu denken, den Verstand, als „Vermögen zu urteilen“ (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 94), das sich auf sinnlich gegebene Gegenstände bezieht (vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 19/B 33 sowie B 136). Die einzige Freiheit des Denkens, die vor diesem theoretischen Hintergrund möglich ist, ist auf der Urteilskraft des Menschen errichtet und besteht darin, sich der Natur des sinnlich Gegebenen auf Grundlage des eigenen Urteils entgegenzusetzen (vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, mit Sachanmerkungen von Piero Giordanetti, Hamburg 2006. Zitiert nach der Paginierung der Akad.-Ausg, hier: Akad.-Ausg. V, 195–198). 16 Vgl. Kants Bestimmung des Begriffs Heiligkeit als „Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkt seines Daseins, fähig ist“ und die eine „völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetz“ als Gesetz der Freiheit ist (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung, Sachanmerkung und einer Bibliographie von Heiner F. Klemme hg. v. Horst D. Brandt/Heiner F. Klemme, Hamburg 2003. Zitiert nach der Paginierung der Akad.-Ausg., hier : Akad.-Ausg. V, 122). 17 Nach Kant herrscht „eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen“ (vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. V, 175f.), wenngleich beides „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel“ entspringt (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 29). 18 Zum Interesse der Vernunft, eine reinen Verstandeswelt, ein Reich autonomer Zwecke zu errichten, das den im Geflecht mit der Sinnlichkeit heteronom bestimmten Interessen der praktischen Vernunft entgegensteht vgl. I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. IV, 462f. und 433–440. Levinas’ kritisiert, Kants Begriff eines Reichs der Zwecke, sei eine „Gemeinschaft der Geister“, in der nur die „Hoffnung auf Glück“ den Pluralismus aufrecht erhalte (Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, aus dem Französischen übersetzt v. Thomas Wiemer, Freiburg i. Br./München 42008, 314. Im Folgenden zitiert als TU samt franz. Originalausgabe als TI (La Haye 1980), hier: TI, 192. Dies ist insofern richtig, als diese Hoffnung bei Kant zwar den moralischen Bestrebungen einer universalen Vernunft entspringt, jedoch auf ein Gut gerichtet ist, das auch das individuelle sinnliche Glück des Menschen beinhaltet.

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theoretischen Horizont übersteigt und, das zu verwirklichen, sie daher nur hoffen kann. Dies ist schließlich der Kontext, in dem Kants Begriff der Hoffnung in Erscheinung tritt, und zwar als eine der praktischen Vernunft entspringende Hoffnung ohne jede Aussicht auf Erfolg, die es noch nicht einmal zulässt, sich aus einer theoretischen Perspektive vorzustellen, wie eine Erfüllung, die sich ja zeitlich ereignen müsste, aussehen könnte, da diese Hoffnung sich als ein reines Vernunftprodukt aus den bereits genannten Gründen nicht in der Ordnung der Zeit abbilden lässt. Doch was verspricht diese Hoffnung überhaupt so Großes, dass die Vernunft daran festhält, ohne sich im Mindesten eine Vorstellung davon machen zu können? Sie verspricht nicht nur, die Kluft zur Sinnlichkeit zu überwinden, sondern verheißt damit zugleich die Brücke zur Empfindung der Annehmlichkeit zu schlagen, auf der nach Kant das Glück des Menschen gründet:19 sie verspricht eine Welt, in der die Prinzipien des Glücks den Gesetzen des reinen Verstandes entsprechen. Um jedoch dorthin zu gelangen, muss sich die Vernunft der Sinnlichkeit und ihren allgemein verbindlichen Wahrnehmungsformen, wie gesagt, zunächst in toto entgegensetzen, um darauf aufbauend eine reine Verstandeswelt zu errichten, sodass sie ihren Zweck nur dann erfüllt, wenn sie auch selbst allgemein verbindlich handelt. Mit anderen Worten wird ihr Vorhaben von einem Imperativ zur allgemeinen Verbindlichkeit geleitet und das heißt nach Kant von einem Imperativ zur Moralität. Die praktische Vernunft handelt bei Kant insofern nach einem moralischen Imperativ, wenn sie versucht, die Kluft, die sie von der Glückseligkeit trennt, zu überwinden und dabei nach einer Gesetzmäßigkeit handelt, die für die Freiheit eines jeden Menschen, der derselben sinnlich wahrnehmbaren Welt angehört, verbindlich ist. Die Hoffnung, die die praktische Vernunft dabei hegt, richtet sich daher auf eine der Moralität entsprechende Glückseligkeit, die Kant das höchste Gut nennt,20 und die gleichwohl „niemals hier, oder in irgend einem absehlichen künftigen Zeitpunkte“ erfüllt werden kann,21 wie Kant festhält. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, kann im Blick auf den Begriff der Hoffnung 19 Bei Kant gründet Glückseligkeit auf der Empfindung der Annehmlichkeit, die ihrerseits lustbestimmt ist (vgl. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-Ausg. V, 22). Dies entspricht Kants Trennung von Sinnlichkeit und Verstand: das Glück wird dezidiert auf der Seite des Gefühls verortet, das zu einer Handlung zwar motivieren, sie aber nicht hervorbringen kann, letzteres ist die Aufgabe der praktischen Vernunft ist. Kants Engführung des Glücksbegriffs auf die Lust lässt meines Erachtens die soziale Dimensionen dieses Begriffs in den Hintergrund geraten, wie sie etwa im Familien-, Kinder- oder Freundschaftsglück enthalten sind. 20 Zum Begriff des höchsten Guts bei Kant vgl. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akad.Ausg. V, 110–112; vgl. dazu den Begriff der Hoffnung in I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-Ausg. V, 128ff. 21 I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-Ausg. V, 123f.

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bei Kant somit festgehalten werden: die Hoffnung ist ein Produkt der praktischen Vernunft, das ihrem Bestreben nach einem höchsten Gut entspringt, dessen Sinn der theoretischen Vernunft ein absolutes Rätsel ist und das sie auch niemals erreichen kann, weil sie dazu aus jener innigen Verbindung mit der zeitlichen Ordnung der Sinnlichkeit heraustreten müsste, die dieses Vorhaben und ihre damit verbundene Hoffnung allererst notwendig machen. Als Produkt der reinen Vernunft trägt diese Hoffnung eine Bedeutung in sich, die ihren theoretischen Horizont übersteigt, die jedoch im Bereich ihres praktischen Interesses liegt. Gleichwohl hilft diese Hoffnung dem Menschen, von seinen unmittelbaren sinnlichen Bedürfnissen zum Zweck eines höchsten Guts zu abstrahieren und damit die eigene Freiheit zu befördern, in dem Glauben zwar, dies würde zu einer der Moralität entsprechenden Glückseligkeit führen. Dass die strenge Trennung zwischen dem Bereich der Moralität und der Glückseligkeit bei Kant, die dort auf eine Trennung zwischen dem phänomenalen Sinn und der rein vernünftigen Bedeutung des menschlichen Lebens zurückgeht und die, wie hier gezeigt wurde, eine Folge von Kants kopernikanischer Revolution der Philosophie ist, in der Ideengeschichte vielfach kritisch aufgenommen wurde, hat zwar mehrere Gründe. Für die folgenden Ausführungen ist allerdings entscheidend, dass Kant damit das Bild eines Denkens zeichnet, das, wie Heidegger sagt, neben der Zeit steht, die seine endliche Existenz prägt, und dabei hofft, etwas zu erreichen, das sich mit den zeitlichen Bedingungen seines Daseins nicht vereinbaren lässt. An diesem Punkt setzt Levinas’ Kritik an, Kant gehe von einer Hoffnung aus, die keine zeitliche Erfüllung habe. Das wird im Folgenden noch deutlicher, wenn Levinas’ Begriff des geduldigen Wartens erörtert wird.

3. Kants rigorose Grenzziehung zwischen dem Bereich des reinen Denkens und der Sinnlichkeit wird in der Phänomenologie zuerst bei Husserl unter dem Stichwort der eidetischen Reduktion, dann bei Heidegger infrage gestellt, nach dessen Ansicht sich das menschliche Dasein immer schon in einem Seinsverständnis bewegt, das die sinnlichen Dimensionen seines eigenen Daseins miteinschließt. In dieser Traditionslinie steht auch Levinas, auf den sich die folgenden Ausführungen konzentrieren.22 Er spricht in diesem Kontext von einem „Mythos“

22 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf den Teil von Levinas’ Kant-Rezeption, der 1951 mit dessen Schrift L’ontologie est-elle fondamentale? einsetzt und seitens Levinas’ zu einer Annäherung an die kantische Philosophie führt. Zum Wandel von Levinas’ KantRezeption vgl. meinen Beitrag: Max Brinnich: Die Bedeutung des Phänomens „Zeit“ bei Levinas und das Erbe Kants, in: Überwundene Metaphysik? Beiträge zur Konstellation von

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der reinen Sinnlichkeit,23 den er in der Philosophiegeschichte vielerorts entdeckt. Ganz anders als etwa Kant vertritt er nämlich die Ansicht, dass, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht erst im erkennenden Verstand Bedeutung erlangt und sich daher auch nicht isoliert von den Bestimmungen des reinen Denkens betrachten lässt,24 wie es bei Kant ja vorgeblich geschieht. Nach seiner Ansicht bedeuten sinnliche Phänomene vielmehr „von der ,Welt‘ her und von der Position des Betrachtenden aus“.25 Levinas nimmt an, dass sinnliche Phänomene von vorherein eine Bedeutung in sich tragen und dass diese Bedeutung, indem sie das Sein des Seienden infrage stellt, ein Denken evoziert, das sein eigenes Sein reflektiert.26 Levinas’ zentrales Argument gegen Kant, im Übrigen auch gegen Heidegger, lautet nach meiner Einschätzung, dass der Mensch sich qua Denken in einem Dialog mit sich selbst befindet, indem er die eigenen Seinsweise reflektiert und thematisiert und dass dieser Dialog mit sich selbst nur unter der Bedingung möglich ist, dass sich im Sein des Menschen etwas oder vielmehr jemand findet, der es infrage stellt.27 „Man muß sich daher fragen, ob selbst der Diskurs, der sich selbst innerer nennt […] auf einer vorherigen Gemeinschaft mit einem Anderen beruht, bei der die Ge-

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Phänomenologie und Metaphysikkritik, hg. v. Murat Ates/Oliver Bruns/Choong-Su Han/Ole Sören Schulz/et. al, Freiburg i. Br. (im Erscheinen). Emmanuel Levinas: Sinn und Bedeutung, in: ders.: Humanismus des anderen Menschen, übersetzt und mit einer Einleitung versehen v. Ludwig Wenzler, mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen als Anhang Intention, Ereignis und der Andere, Hamburg 2005, 12. Im Folgenden zitiert als HAM samt franz. Originalausgabe als HAH (Montpellier 1972), hier: HAH, 21. Eine solche Isolation der reinen Form der Sinnlichkeit von den Kategorien des reinen Denkens ist das Kernanliegen von Kants transzendentaler Ästhetik. Vgl. hierzu: „In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrigbleibe“ (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 22/B 36). Vgl. E. Levinas: Sinn und Bedeutung, HAM, 13f./HAH, 22f. Zum Dialog der Seele mit sich selbst, „der erst aufgrund der Frage nach dem Anderen möglich ist“, vgl. Emmanuel Levinas: Gott, der Tod und die Zeit, aus dem Französischen v. Astrid Nettling/Ulrike Wasel, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1996. 52. Im Folgenden zitiert als GZ. Zum Verhältnis von „der Frage der Frage“ und dem Dialog der Seele mit sich selbst beziehungsweise mit dem „Andere[m]-im-Selben“ vgl. Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Französischen übersetzt v. Thomas Wiemer, Freiburg i. Br./München 42011, 67ff. Im Folgenden zitiert als JS samt franz. Originalausgabe als AQ (La Haye 1974), hier: AQ, 31f. Zur dialogischen Struktur der Egoität, die den absolut Anderen als Gesprächspartner voraussetzt vgl. JS, 263–268, 283f. samt Anm./AQ, 151–153, 163f. samt Anm.; TU, 144/TI, 74f. sowie E. Levinas: Diachronie und Repräsentation, ZU, 199. Diese Verbindung der dialogischen Struktur der Egoität mit der Infragestellung bildet sich bei Levinas auch darin ab, dass der Skeptizismus, in dem das eigene Denken in seiner Egoität infrage gestellt wird, zu jeder Zeit möglich ist und selbst dort, wo er beigelegt wurde, jederzeit aufs Neue erwachen kann (vgl. hierzu JS, 34, 192 Anm., 358ff./AQ, 9, 108 Anm., 210ff., aber auch TU, 98, 244f./TI, 44, 144).

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sprächspartner unterschieden sind. Man muß sich fragen, ob nicht, damit der innere Dialog noch Dialog genannt werden kann, diese effektive, vergessene Gemeinschaft dennoch durch den – und sei er auch vorläufig – Bruch zwischen sich und sich vorausgesetzt ist“.28

Levinas geht davon aus, dass der Mensch sich in einem Dialog befindet, der auf einer Gemeinschaft mit dem Anderen beruht. Denn nach seiner Ansicht, so lautet sein Argument, setzt alles Sinnvolle einen sinngebenden Gehalt voraus, der dem, das insgesamt sinnvoll erscheint, die dafür notwendige einheitliche Bedeutung verleiht.29 Nun ist Sinn ein wesentliches Merkmal des Dialogs. Befindet sich der Mensch also in einem Dialog mit sich, so setzt der Sinn dieses Dialogs einen sinngebenden Gehalt voraus, der jenseits dessen liegt, was darin zum Thema wird, und der dem Dialog vielmehr dadurch eine Bedeutung verleiht, das er das Sein des Menschen infrage stellt und dessen inneren Diskurs allererst provoziert. Diese Bedeutung ist sodann sinngebend für die diskursive Identität des Denkens und das Selbstbewusstsein des Menschen, die den inneren Diskurs bereits voraussetzen. Die auf dem Selbstbewusstsein begründete Einzigkeit des Menschen ruht bei Levinas somit auf einer Bedeutung, die ihn infrage stellt, indem sie dessen inneren Diskurs provoziert, und damit auf einen Gesprächspartner verweist, der absolut anders ist.30 Der absolut Andere, lässt den Menschen als eine Frage erscheinen, die sich immerfort stellt, indem sie dessen inneren Diskurs stets aufs Neue zum Leben erweckt, ohne darin jemals selbst zum Thema zu werden.31 Das heißt auch: der absolut Andere ist nicht an die Endlichkeit dieses Diskurses gebunden, für den er unsichtbar ist und demgegenüber er eine schöpferische Hoheit bedeutet.32 Unsichtbarkeit, Unendlichkeit, 28 E. Levinas: Diachronie und Repräsentation, ZU, 199; vgl. GZ, 52. Ähnlich schreibt Levinas in Totalität und Unendlichkeit: „[D]ie ,unnatürliche‘ Haltung der Reflexion ist im Leben des Bewußtseins kein Zufall. Sie impliziert, daß das Selbst in Frage gestellt ist, sie impliziert eine kritische Einstellung, die sich ihrerseits im Angesicht des Anderen und unter Autorität ereignet“ (TU, 112/TI, 53). 29 Dies ist der Grundgedanke von Levinas’ Heidegger-Kritik und zugleich das Fundament seines Gottesbegriffs: „Wir denken nicht, daß das Sinnhafte auf Gott verzichten kann, und auch nicht, daß die Idee des Seins oder die Idee des Seins des Seienden an seine Stelle treten können, um die Bedeutungen zu jener Einheit des Sinnes zu führen, ohne die es keinen Sinn gibt. […] Der Sinn ist unmöglich, wenn ein Ich der Ausgangspunkt ist, das, wie Heidegger sagt, derart existiert, ,daß es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht‘“ (E. Levinas: Die Bedeutung und der Sinn (1964), HAM, 32/HAH, 40). 30 Vgl. dazu TU, 142–144/TI, 73–75 sowie ders.: Diachronie und Repräsentation, ZU, 199. 31 Vgl. zu dieser „Iteration des Erwachens“ bei Levinas, GZ, 32, 39 und 122f., ferner auch JS, 313/AQ, 182, dazu die „Rekurrenz des Sich“ in JS, 247/AQ, 142. 32 Vgl. zu Levinas’ Gottesbegriff im Kontext der Hoheit, der absoluten Andersheit und der Infragestellung bes. E. Levinas: Die Bedeutung und der Sinn, HAM, 42–59/HAH, 49–63; im Kontext der Sprache, der Ethik und des Menschen JS, 390–395/AQ, 231–233; vgl. zu dieser Thematik auch TU, 105–109/TI, 49–52. – Das französische hauteur wird im Deutschen oft mit Erhabenheit übersetzt, was besonders im ästhetischen Kontext gebräuchlich ist; die Über-

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Hoheit, Schöpfung – Levinas spricht hier von Gott, der das Seiende im Namen der Menschlichkeit infrage stellt, seine Antwort zur Verantwortung für die Menschlichkeit erhebt,33 und ihm eine Dauer verleiht, die über die Endlichkeit seines Seins qua unendlicher Bedeutung der Menschlichkeit hinausgeht und aus einer Vergangenheit kommt, die niemals Teil seiner Gegenwart war.34 Hört der einzelne Mensch auf, sich der Menschlichkeit zu beugen, wird sein Leben sinnlos. Dies ist eine Möglichkeit, die Levinas einräumt, da der innere Diskurs, den Gott nach seiner Ansicht evoziert, auch eine Trennung von dessen sinngebender Bedeutung einschließt.35 Wer ein sinnvolles Leben führen will, das von Dauer ist, muss Verantwortung für die Menschlichkeit schlechthin übernehmen, mithin auch Verantwortung für die Verantwortung der anderen, endlichen Menschen, jedoch über deren Endlichkeit hinaus. Das heißt, wer ein sinnvolles Leben führen will, muss Verantwortung für die Endlichkeit des Menschen schlechthin übernehmen, was nur insofern gelingen kann, als Verantwortung für den Tod des anderen Menschen übernommen wird.36 Die Verantwortung eröffnet hier demnach eine Sinndimension, die über den Tod hinaus andauert,37 und zwar nicht nur über denjenigen der anderen Menschen, sondern auch über den eigenen, da auch die eigene Verantwortung im Bereich der Ver-

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setzung mit Hoheit, welcher Begriff im Deutschen für ethische Kontexte geläufiger ist, scheint daher die bessere Übersetzung. Vgl. zur Verantwortung für die Verantwortung seiner Nächsten im Kontext von Levinas’ Begriffen von Menschlichkeit und Gott: E. Levinas: Humanismus und An-archie, HAM, 78–83/HAH, 78–82. Levinas nennt diese Verantwortung, auf die er die Menschlichkeit zurückführt, auch eine Verantwortung, „die älter ist als der conatus der Substanz“ (E. Levinas: Ohne Identität, HAM, 101/HAH, 99). Im Kontext der Verantwortung spricht Levinas von einer Vergangenheit „die niemals Gegenwart war“ (E. Levinas: Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU, 278; vgl. auch ders.: Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe, ZU, 156f.) und auf die das „Immer der Zeit, die Dauer der Zeit“ zurückgeht (vgl. bes. E. Levinas: GZ, 32f. und 39). Zu dieser Trennung, die auch eine Trennung von Gott ist, und zur damit verbundenen „Möglichkeit, eine Rechtfertigung für sich zu suchen“ (TU, 123/TI, 6; vgl. TU, 105f./TI, 49f.); im Kontext der Ethik, vgl. TU, 106f./TI, 50; zur Möglichkeit des Nicht-Sinns, vgl. GZ, 30. Anders als bei Heidegger ist die ursprüngliche Bedeutung des Todes bei Levinas daher auch der Tod der Anderen (vgl. TU, 348/TI, 214; vgl. dazu TU, 303/TI, 184f. sowie TU, 350/TI, 215f. Levinas schreibt: „Höhepunkt jener Nähe des Nächsten, wenn das Antlitz des anderen Menschen […] seine – imperativische Eigenart verteidigt, dem sterblichen Ich einen Sinn zu stiften, über jede eventuelle Erschöpfung der egologischen Sinngebung und den antizipierten Zusammenbruch jedes aus dieser Sinngebung hervorgegangenen Sinns hinaus. Hier als, im Anderen, ein Sinn und eine Verpflichtung, die mich über meinen Tod hinaus verpflichtet! Urbedeutung des Futurs! Futurisierung eines Futurs, das nicht zu mir kommt wie eine Zukunft, als Horizont meiner Antizipationen oder Protentionen. […] Futurisierung des Futurs nicht als Gottesbeweis, sondern als ,Fall Gottes in den Sinn.‘ Einzigartiger Zusammenhang der Zeitdauer – über die Bedeutung der Zeit als Präsenz […] hinaus –: Zeit als das ,Hin-Zu-Gott‘ (A-Dieu) der Theologie“ (E. Levinas: Diachronie und Repräsentation, ZU, 211f.).

Die Bedeutung des Wartens und der Hoffnung

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antwortung der Anderen liegt. In Levinas’ Worten: „[d]as Sinnhafte geht nach meinem Tod weiter“.38 Die Zukunft hängt hier wie ein Damoklesschwert über dem eigenen Leben, zumal über dessen Sinn in Termen einer Verantwortung entschieden wird, die nicht einmal mit dem eigenen Tod endet, ja, die überhaupt nicht an die Endlichkeit des Menschen gebunden ist, das heißt, die aus der Perspektive des einzelnen Menschen niemals Gegenwart und auf immer zukünftig ist. Dass diese Zukunft auf ewig zu-künftig bleibt, bedeutet in Levinas’ Augen allerdings auch, stets noch die Zeit zu haben, sich als Bewusstsein der hereinstehenden Gewalt des Seins, die droht, den eigenen Bemühungen ein jähes Ende zu setzen, noch entgegensetzen zu können. In Totalität und Unendlichkeit aus dem Jahr 1961 hält er in diesem Kontext fest: „Die menschliche Freiheit beruht auf der Zukunft ihrer Unfreiheit, die immer noch minimal Zukunft ist, sie beruht auf dem Bewußtsein – dem Vorhersehen der Gewalt, die in die Zeit, die noch bleibt, hineinsteht. Bewußtsein haben heißt Zeit haben. Bewußtsein haben heißt nicht, über die Gegenwart hinausgehen in der Antizipation und der Beschleunigung der Zukunft, sondern einen Abstand haben von der Gegenwart: sich auf das Sein beziehen wie auf das künftige Sein, einen Abstand vom Sein bewahren, während man schon seine Umklammerung erleidet. Frei sein, heißt, die Zeit haben, um dem eigenen Verfall unter der Drohung der Gewalt zuvorzukommen.“39

Gegenüber dieser Zukunft der Unfreiheit nimmt der Begriff des Wartens bei Levinas nun eine entscheidende Rolle ein, die derjenigen des Hoffnungsbegriffs bei Kant diametral entgegensteht. Zur Erinnerung: die Zukunft richtet über die Verantwortung, die der Mensch auf eine Infragestellung Gottes hin übernommen hat, und sie bleibt immer zu-künftig, wird niemals Gegenwart und hört nicht auf, diese Verantwortung zu fordern beziehungsweise zu gebieten,40 worauf Levinas schließlich aufmerksam macht, wenn er folgende Zeilen schreibt: 38 Im Detail: „Im Sterben geht man doch nicht bis zum Äußersten des Denkens und des Sinnhaften! Das Sinnhafte geht nach meinem Tod weiter“ (E. Levinas: Diachronie und Repräsentation, ZU, 213). An derselben Stelle schreibt Levinas: „Bedeutung einer Autorität, die nach meinem Tod und trotz seiner Sinn stiftet: dem endlichen Ich, dem todgeweihten Ich einen sinnvollen Befehl gebend, der jenseits dieses Todes bedeutet. Gewiß kein Versprechen ewigen Lebens, sondern eine Verpflichtung, von der nicht einmal der Tod entbindet, und eine Zukunft, die sich von der synchronisierbaren Zeit der Repräsentation unterscheidet, von einer Zeit, die der Intentionalität geboten wird, wo das ,Ich denke‘ das letzte Wort spricht und einsetzt, was sich seinen Fähigkeiten der Angleichung aufdrängt. / Verantwortung für den Anderen bis zum Sterben für den Anderen!“ (ders.: Diachronie und Repräsentation, ZU, 211). 39 TU, 348/TI, 214; vgl. auch TU, 303, 350/TI, 184f., 215f. Wie im Weiteren deutlich wird, ist es besonders wichtig, Levinas’ Zeitbegriff nicht auf den Begriff der Antizipation zurückzuführen, wie dies etwa bei Wang Heng geschieht (vgl. Wang Heng: L8vinas’s phenomenology of sensibility and time in his early period, in: Journal of Chinese Philosophy 35/1, 105–121, hier: 114). 40 Vgl. in aller Kürze: E. Levinas: Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe, ZU, 156f.

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„Ist es nicht die unvergleichliche Art, wie die Zukunft absolut unwiderruflich der Gegenwart gebietet, […] ohne daß die Zukunft, im Auf-uns-zu-Kommen oder Ergreifen einer Antizipation – oder einer Protention – dominiert würde, ohne daß die Repräsentation von Furcht und Hoffnung die Dia-Chronie der Zeit und das Übermaß und die Autorität des Imperativs beeinträchtigten? […] Angeordnet wird die Verantwortung für den anderen Menschen, die Güte, die das Ich seinem unwiderstehlichen Zurück-zu-sich-selbst entreißt; befohlen wird, das Ich dem bedingungslosen Beharren des Seienden in seinem Sein zu entreißen. Betont werden muss die Einheit der Ethik dieser Unterwerfung unter ein Gebot, das die Verantwortung für den anderen Menschen gebietet“.41

Die Zukunft zeigt sich bei Levinas unter dem Vorzeichen, ein Imperativ zu sein, der der Gegenwart gebietet, sich Gott zu beugen und für die Menschlichkeit Verantwortung zu übernehmen. Die Beziehung des Menschen zu dieser Zukunft beschreibt Levinas als ein geduldiges Warten. Er trifft damit den Kern der Sache: das Phänomen des Wartens eröffnet eine Zukunftsdimension, die anders als das Phänomen der Hoffnung eine Vergangenheit voraussetzt, in der dem, worauf gewartet wird, bereits begegnet wurde und die daher wesentlich an die Möglichkeit einer Erfüllung in der Zeit gebunden ist. Auf diese Art ist auch die Beziehung eines Menschen zu seiner Zukunft bei Levinas bestimmt, nämlich als ein Warten auf Gott, der seinem Sein erst den spezifisch menschlichen Sinn verliehen hat und dem er sich nun beugen soll, der aber niemals Teil seiner Gegenwart gewesen ist und dies auch niemals sein kann. Wie Levinas in seiner Vorlesungsreihe zum Thema Gott, der Tod und die Zeit festhält, zeigt sich das Phänomen des Wartens auf Gott vor diesem Hintergrund als ein „[g]eduldiges Warten. Geduld und Ertragen des Unmaßes, Zu-Gott, Zeit als Zu-Gott. Warten ohne Erwartetes, Warten auf das, was kein Ziel sein kann und das immer vom schlechthin Anderen auf den Anderen verweist. Das Immer der Dauer : Ausdauernde Länge der Zeit, die nicht die Länge eines Flusses ausmacht, der strömt. Zeit als Beziehung des Sich-Beugens vor dem, was nicht vergegenwärtigt werden kann“.42

Anders als alltägliche Phänomene des Wartens nimmt das Phänomen des Wartens auf Gott nach Levinas keine Dauer in Anspruch, es ist das „Immer der Dauer“. Es bildet eine metaphysische Instanz, die die zeitliche Dauer und den Sinn des menschlichen Seins bestimmt, indem es dessen Beziehung zu Gott aufrechterhält, dem sich dieses beugen muss, um kein sinnloses Leben zu führen. Wie vor ihm bereits Heidegger in Sein und Zeit konterkariert Levinas damit nicht zuletzt Kants strenge Trennung zwischen dem zeitlich bestimmten Sinn und der reinen Bedeutung des Phänomens Mensch und zeigt eine Alternative auf, in der das Phänomen der Zeitlichkeit dem vollen Umfang des Phänomens Mensch 41 E. Levinas: Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU, 190f. 42 GZ, 126 sowie vgl. 30 und 39.

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gerecht wird. Levinas zeigt, wie der Sinn der menschlichen Existenz immer schon durch ein Warten auf Gott geprägt ist, der ihr erst die spezifisch menschliche Bedeutung verleiht. Das ist der wesentliche Unterschied zu Kant, nach dessen Ansicht diese Bedeutung, wie hier gezeigt werden konnte, eine Idee der Vernunft ist, die in einer Hoffnung auf ein höchste Gut mündet, die in der Zeit niemals erfüllt werden kann. Dies kritisiert Levinas auch an Kant, dass „[d]ie vernunftgemäße Hoffnung […] sich nicht mit der Hoffnung in der Zeit vergleichen lässt“ und keine zeitliche Erfüllung hat.43 Aus Levinas’ Perspektive projiziert Kant den Sinn menschlichen Lebens aus diesem Grund in das Nichts.44 Darüber hinaus haben beide Ansätze Stärken und Schwächen: so gelingt es Kant, das oftmals zu beobachtende zeitliche Nacheinander der sinnlichen Wahrnehmung zu der Bedeutung, die wir ihr beimessen, zu beschreiben. Jedoch erhebt er dieses Nacheinander zu einem transzendentalen Grundsatz. Er vertritt also die Ansicht, wir würden sinnliche Wahrnehmungen erst verstehen, wenn sie gegeben sind, nicht jedoch aus der Zeit heraus, in der sie ursprünglich erscheinen. Dies hinterlässt den befremdenden Eindruck, die zeitliche und logische Ordnung liefen auf unerklärliche Weise aneinander vorbei und man könne nur hoffen, sie jemals in Einklang zu bringen. Hier drängt sich der Einwand auf, dass sich diese Momente des menschlichen Lebens nicht isoliert voneinander betrachten lassen. Levinas dahingegen macht darauf aufmerksam, dass die Bedeutung und der zeitliche Sinn des menschlichen Lebens der isolierten Betrachtung nicht zugänglich sind. Er vertritt jedoch auch die Ansicht, der Mensch könne die Beziehung zu seiner Bedeutung verlieren, wenn er seiner Verantwortung für die Menschlichkeit nicht gerecht wird. Abgeschnitten von seiner gottgegebenen Bedeutung führt ein solcher Mensch ein sinnloses Leben, das in den Augen Gottes nicht von Dauer ist, da es nichts Menschliches hinterlässt. Doch heißt das nicht, dass wer etwa aus psychischer Störung heraus keine Verantwortung übernehmen kann, ein weniger sinnvolles Leben führt und bis zum gewissen Grad sinnlos stirbt? Festzuhalten bleibt, dass Kant und Levinas das menschliche Leben gleichermaßen aus einer humanistischen Perspektive betrachten. Kant spricht von einer berechtigten Hoffnung auf ein höchstes Gut, das Moralität und Glückseligkeit vereint, Levinas von einem Warten auf Gott, das zur Menschlichkeit auffordert. Beide lassen kaum Raum für eine Zeit, die nicht im Schatten eines humanistischen Ideals steht. Diese Sichtweise erscheint elitär, weil sie jenen Menschen, die aufgrund glücklicher Umstände das Privileg haben, ein besonders moralisches Leben führen zu können, ein exklusives Zeitverständnis verspricht. Der Frage, ob diese Sichtweise gerechtfertigt ist, kann hier

43 GZ, 77. 44 Vgl. GZ, 78.

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leider nicht mehr nachgegangen werden, eine ausführliche Diskussion wäre aus meiner Perspektive jedoch wünschenswert.

Violetta L. Waibel

Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit. Was bleibt?

Freiheit ist eines der großen Themen der abendländischen Philosophie. Freiheit in spezieller Perspektive ist zudem ein hochpolitisches Thema. Und dennoch geschieht es heutzutage nicht so selten, dass Freiheit geleugnet wird. Hat die Leugnung der Freiheit in unseren Tagen wie ein Flächenbrand um sich gegriffen, so gab es freilich auch früher schon Philosophien und Theorien, die Freiheit für eine Illusion, für ein Produkt menschlicher Selbsttäuschung oder Selbstüberheblichkeit hielten. Freiheit wird dann als Resultat einer Metaphysik angesehen, die Transzendenz behauptet, wo nur Physik wahr sein kann. Wer Freiheit verteidigt, der habe sich einer irrigen Gottesgläubigkeit, einer religiösen Täuschung verschrieben; damit gehe einher, nicht wahrhaben zu wollen, dass das richtige Weltbild rein empirisch zu begründen ist. Einige der Titel des vom FAZ-Journalisten Christian Geyer herausgegeben Bandes Hirnforschung und Willensfreiheit versprechen denn auch, Thesen wie diese zu verteidigen: Der Mensch ist nicht frei (Wolfgang Prinz), Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen (Wolf Singer), Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen (Gerhard Roth), Ich bin mein Gehirn. Nichts spricht gegen den materialistischen Monismus (Holk Cruse), Neurodämmerung. Wer den Geist schützen will, sollte seine Moleküle kennen (Christian Schwägerl).1 Zuvor hatte schon Freud darauf aufmerksam gemacht, dass wir nicht Herr im eigenen Hause seien.2 Freiheit wird aber nicht erst in unseren Tagen, nicht erst im 21. oder 20. Jahrhundert in Frage gestellt oder gar geleugnet. Bedeutende Philosophen der Vergangenheit hielten Freiheit für eine Täuschung; so etwa Baruch de Spinoza im 17. oder Arthur Schopenhauer im 19. Jahrhundert. Auch Spinoza spricht von der Selbsttäuschung des Menschen, wenn er das 1 Hirnforschung und Willensfreiheit, hg. v. Christian Geyer, Frankfurt/M. 82013 [2004]. 2 Vgl. Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917), in: ders.: Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen, Einleitung von Friedrich-Wilhelm Eickhoff, Frankfurt/M. 82001, 185–194, hier : 190f.

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zweckrationale Denken unter die Lupe nimmt und zeigt, der Mensch halte sich in seinem Handeln für frei, obwohl er in Wahrheit nur auf seine Triebe reagiere. Spinozas Trieblehre ist von höchstem Interesse, weil der conatus und die aus ihm hervorgehenden bald unbewussten, bald von Bewusstsein begleiteten zahlreichen affektiven Triebregungen den Kontext in Spinozas Konzeption darstellen, in dem sich Leib und Seele, res extensa und res cogitans systematisch am nächsten kommen. Diesen Zusammenhang zu durchschauen und zu begreifen entscheidet für Spinoza darüber, ob ein Mensch letztlich doch als frei oder als unfrei gelten darf. Wie schon aus dem Anhang zum Ersten Buch der Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt deutlich wird, resultiert Unfreiheit für Spinoza aus Unwissen. Menschliche Unwissenheit ist eine mächtige Quelle, die dazu verleitet, bequeme und dem Denken angenehme Wahrheiten anzunehmen, statt die Natur der Dinge genau zu untersuchen und so auch unbequeme Wahrheiten zuzulassen, die kurzfristig Leiden und Unannehmlichkeiten bereiten und erst längerfristig und nicht einmal mit Sicherheit Zufriedenheit möglich machen. Man sieht das Bessere, Nützlichere, Zuträglichere und handelt doch nach dem Schlechteren. Ovid zitierend schreibt Spinoza: „Ich sehe das Bessere und billige es, dem Schlechteren aber folge ich.“3 Ein deutlicher Beweis ist dies für die Unfreiheit des Menschen. Warum das so ist, erklärt Spinoza ausführlich in seiner Ethik. Schopenhauer naturalisiert den menschlichen Willen, indem er ihn als einen verschwindenden Bestandteil der in der Welt waltenden Kräfte ansieht, die er insgesamt den Willen in der Welt nennt und damit von der Welt des Willens im Gegensatz zur Welt der Vorstellung sprechen kann. Der Titel von Schopenhauers Hauptschrift Die Welt als Wille und Vorstellung kündigt dies bereits an. Der menschliche Wille partizipiert nur zu einem geringen Teil an dem Willen, der in der Welt herrscht. Der Wille ist das Prinzip, das in allen Kräften der Natur waltet. Der Körper und der Verstand des Menschen sind Ausdruck und Teil dieses umfassenden Willens in der Welt. Sofern nämlich der Mensch und sein Wille ein Teil der Natur sind, ist sein Wille Teil dieses allgemeinen Willens. Es gibt Schopenhauer zufolge Stufen der Objektivationen des Willens, beginnend mit einfacheren Organisationen wie den Steinen und Kristallen. Höhere Stufen werden von den Pflanzen, schließlich den einfacheren und höher organisierten Tieren gebildet. Der Mensch nimmt durch die Sprache und seine gesamte Kultur die höchste Stufe unter den Objektivationen des Willens ein. Die geistigen Vermögen des Menschen sind mithin Teil dieses allgemeinen Willens. Damit ist die Ausgangsposition für Schopenhauer schon umrissen. Es gibt 3 Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Lateinisch–Deutsch, neu übersetzt, hg. und mit einer Einleitung versehen v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999, IV. Teil, LS 17, 406f.

Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit. Was bleibt?

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keine Freiheit, es gibt keinen freien Willen, es sei denn, der allgemeine Wille als ewiger Drang und dunkles Walten in der Welt gelte als frei. Damit aber ist nicht sehr viel über die Freiheit des Menschen ausgesagt. Vom Willen sind nur Manifestationen wahrzunehmen, aufzufassen und zu begreifen. Der Wille ist an sich unerkennbar. Selbst eine vollständige Aitiologie der Kräfte und ihrer Verhältnisse bringt nie mehr als genau deren Manifestationen zutage. Der Wille entzieht sich im Eigentlichen dem Begreifen des Verstandes. Schopenhauer betont: „Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen.“4 Kraft ist ihm Wille, Wille ist ihm Kraft. Die beiden Denker, die sich in der Geschichte der Philosophie am entschiedensten für die menschliche Freiheit ausgesprochen haben, sind zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Fichte ist der eine, Sartre der andere.5 Insbesondere Fichte bezieht sich auf Kant, der ihn nach eigenem Bekunden in frühen Jahren aus seinem dogmatisch deterministischen Schlummer geweckt habe. An Friedrich August Weißhuhn gerichtet entwirft er im August oder September 1790 einen Fragment gebliebenen Brief, in dem er festhält: „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u. s. w. sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System giebt!“6

Diese Emphase für die Freiheit, die er durch Kant erstmals erfahren hat, wird wesentlich Fichtes gesamte Wissenschaftslehre leiten, welche Ausformungen sie auch im Einzelnen erfahren wird. In einer Anmerkung der Fragment gebliebenen Aphorismen über Religion und Deismus von 1790, also etwa aus der gleichen Zeit wie der Briefentwurf, schreibt Fichte mit flammenden Worten: „Ich weiß, daß die Philosophen, die auf andere kommen, die ihrigen eben so scharf beweisen; aber ich weiß auch, dass sie in der fortgehenden Reihe ihrer Schlüsse zu4 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders.: Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand hg.v. Ludger Lütkehaus, Frankfurt 1986, Bd. I, 165. 5 Vgl. dazu Fichte und Sartre über Freiheit. Das Ich und der Andere, hg. Violetta L. Waibel, Berlin/ New York 2015. 6 Johann Gottlieb Fichte an Friedrich August Weißhuhn, August/September 1790 [Fragment], in: ders.: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Hans Jacob/Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky et al., Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012, Abt. III, Bd. 1, 167. Im Folgenden zitiert als GA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. Diese Angaben werden ergänzt durch die Parallelverweise aus: ders.: Fichtes Werke, 11 Bde., hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971 [1834–1846]. Im Folgenden zitiert als SWmit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen.

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weilen inne halten, um mit neuen Principien, die sich irgendwoher geben lassen, eine neue Reihe anzufangen. So ist z. B. dem scharfsinnigsten Vertheidiger der Freiheit, der je war, dem in Kant’s Antinomien etc. der Begriff der Freiheit überhaupt irgendwo anders her (von der Empfindung, ohne Zweifel) gegeben, und er thut in seinem Beweise nichts, als ihn rechtfertigen und erklären: da er im Gegentheil in ungestört fortlaufenden Schlüssen aus den ersten Grundsätzen der menschlichen Erkenntniß nie auf einen Begriff von der Art würde gekommen seyn.“7

Schon hier zeichnet sich ab, was Fichtes Anspruch sein wird, nämlich Kants höchst bewunderte philosophische Resultate seiner Kritiken tiefer im Ich zu begründen. So wird es ihm auch darum gehen, Kants Prinzip der Freiheit und die mit ihm verbundene Antinomienlehre, die ihm, so Fichtes Vermutung, „überhaupt irgendwo anders her (von der Empfindung, ohne Zweifel) gegeben“ worden seien, tiefer zu begründen.8 Dem wird in diesem Beitrag nachzugehen sein. Während die Freiheitsgegner gut daran tun (würden), philosophische Argumente auch aus der Tradition eines Spinoza oder Schopenhauer zu schöpfen, bewährt es sich für die Verteidiger der Freiheit, Argumente für die Unhintergehbarkeit der Annahme menschlicher Freiheit bei Kant oder Fichte zu prüfen. Mich interessiert für jetzt insbesondere, wie Johann Gottlieb Fichte Kants Antinomienlehre aufnimmt und ob daraus Argumente zur Verteidigung der menschlichen Freiheit zu gewinnen sind. Höchst selten, an wenigen verstreuten Stellen seines Oeuvres erwähnt Fichte explizit Kants Antinomien. Er tut dies in einer Weise, die provozierend und bedenkenswert zugleich ist. Mein Versuch der systematischen Rekonstruktion von Fichtes diesbezüglichen Überlegungen wird mich notwendig zu Kant zurückführen. In der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 spielt Fichte an einer einzigen Stelle auf Kants Antinomienlehre an. Sie findet sich im Kontext der Deduktion der Vorstellung, die Fichte als letzten Teil der Grundlage des theoretischen Wissens ausgearbeitet hat. Dieser Teil ist im Herbst 1794 erschienen.9 Friedrich Hölderlin ist diese Stelle bei seinem Studium der Grundlage bereits aufgefallen, denn er teilt seinem Studienfreund Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Bern am 26. Januar 1795 mit: „Fichte hat in Ansehung der Antinomien einen ser 7 J.G. Fichte: Einige Aphorismen über Religion und Deismus (1790), GA II/1, 287–291, hier: 289 (= SW V, 6). 8 Mike Stange hat in seiner Arbeit, Antinomie und Freiheit. Zum Projekt einer Begründung der Logik im Anschluß an Fichtes ,Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‘, Paderborn 2009, Fichtes Anspruch einer tieferen Begründung der Antinomienproblematik auf eigene Weise umgesetzt. In einem sehr weiten Bezug zur Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre wird deren systematische Pointe im Ausgang von der Lügner-Antinomie entfaltet, die Fichtes eigentümlicher Begründungsrelation der Wissenschaftslehre zur Logik Rechnung tragen will. 9 Vgl. Vorwort zu J.G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, 175–247, hier: 175.

Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit. Was bleibt?

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merkwürdigen Gedanken, über den ich aber lieber Dir ein andermal schreibe.“10 Eine ausdrückliche Nachricht über Fichtes merkwürdigen, also des Merkens werten Gedanken, ist uns nicht überliefert, auch wenn der systematische Gehalt dieser Ankündigung, die möglicherweise nie niedergeschrieben wurde, in ihren Kontext eingebettet, ein gutes Stück weit rekonstruiert werden kann. Dies ist aber hier nicht meine Aufgabe. An wenigen sehr unterschiedlichen Stellen seines Oeuvres hat Fichte explizit das Problem der Antinomien thematisiert. Erstmals spricht er in seiner Schrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung im § 15 von einer Antinomie hinsichtlich des Glaubens oder Nichtglaubens an eine Offenbarung. Hier entwickelt Fichte Gedanken zu ihrer Auflösung, deren systematische Struktur an Kants Auflösung der Antinomien erinnert, ohne dass Kant hier explizit genannt wird.11 Er verweist zudem, wie erwähnt, in der Deduktion der Vorstellung am Ende der Theoretischen Wissenschaftslehre der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, auf die von „Kant aufgestellten Antinomien“12 und gibt vor, deren Grund expliziert zu haben. Ein weiteres Mal werden Antinomien im Kontext der Thematik des Raumes und seiner Begrenzung in der Wissenschaftslehre von 1812 zum Gegenstand des Untersuchungsgangs. Fichte verweist hier wiederum auf „Kants Antinomien“ und behauptet auch in diesem Kontext, dass diese „hier ihren Aufschluß bekommen, u. weiter bekommen werden.“13 Um Fichtes Bezug zu Kant genau zu untersuchen, ist es angezeigt, Kants eigene Antinomienlehre zu skizzieren. Der Fokus dieses Beitrags richtet sich auf Kants Dritte Antinomie, die Antinomie der Freiheit und deren systematische Neufassung in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794. Da die beiden anderen Stellen Fichtes wichtigen Aufschluss bieten, werden diese Kontexte mit hinzugenommen. Bemerkenswert ist, dass die Offenbarungsschrift nur wenige Jahre vor der Grundlage, 1793, erschien, während bis zur Erwähnung in der Wissenschaftslehre von 1812 immerhin ein knappes Jahrzehnt vergeht. Gleich-

10 Friedrich Hölderlin an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 26. Januar 1795, in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe (Münchner Ausgabe), 3 Bde., hg.v. Michael Knaupp, München 1992, Bd. 2, 567–569, 569. Zur Rekonstruktion dieses Zusammenhangs vgl. Violetta L. Waibel: Kants Lehre der Antinomien „scheint mir den ganzen Geist seines Systems zu enthalten“. Anmerkungen zu Hölderlin und Hegel und ein Rekurs auf Fichte. Beitrag für die Festschrift für Andreas Arndt zum 65. Geburtstag, in: Begriff und Interpretation im Zeichen der Moderne, hg. v. Dimitris Karydas/Sarah Schmidt/Jure Zovko mit Zeichnungen von Nader Ahriman, Berlin 2015, 33–50. 11 Da Fichtes Offenbarungsschrift vermutlich von Kants Verleger bewusst so lanciert wurde, als sei dies Kants lange erwartete Religionsschrift, ist nicht ausgeschlossen, dass der Verweis auf Kant, sei es durch den Verleger, sei es durch Fichte selbst, unterlassen wurde. Vgl. GA I/1, Vorwort, 3–15. 12 J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 384 (= SW I, 246). 13 J.G. Fichte: Wissenschaftslehre (1812), GA II/13, 158 (= SW X, 464).

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wohl scheint sich Fichtes systematische Pointe gegen Kant in dieser Hinsicht wenig verändert zu haben, wie sich zeigen wird.

Kants Antinomie der Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft Ich wende mich zunächst dem Grundbuch der kantischen Antinomienlehre zu, dem zweiten Hauptstück der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft.14 Gemessen an Kants Fragen nach dem Ursprung, dem Umfang und den Grenzen der Erkenntnis zählt die Antinomienlehre zur Bestimmung der Erkenntnisgrenzen. Hinsichtlich der Fragen der Erkenntnisgrenzen und der Totalität der Welt geht Kant davon aus, dass die Vernunft notwendig und unausweichlich dem sogenannten transzendentalen Schein erliege, ein Umstand, den Fichte gar nicht erst diskutiert. Die Idee einer Totalität der Welt und ihrer Grenzen sind Erkenntnisgegenstände, die außerhalb jeder möglichen Anschauung und daher auch außerhalb der Verstandeserkenntnis im engeren Sinne liegen. Gleichwohl unterliegt die Vernunft dem Bedürfnis, in der unendlichen Mannigfaltigkeit einzelner Erkenntnisse und bestimmter Verstandesgesetze Ordnung und Einheit zu schaffen. Hierzu zählt auch, das Gleichförmige als dieses zu erkennen, zusammenzufassen und seine Grenzen bestimmen zu wollen. Hinsichtlich der Grenzen der Erkenntnis unterliegt die Vernunft nun deshalb dem transzendentalen Schein, weil sie bald durch den Verstand veranlasst wird, aus der Perspektive eines bestimmten anschaubaren Gegenstandes diesen in einer unabschließbaren Reihe ins Unendliche fortzudenken, bald aber aus der zusammenfassenden Totalperspektive der Vernunft die unendliche Summe der bestimmten Mannigfaltigkeit als Totalitätsmenge zu begreifen. Je nach Sicht ist daher ein Gleichförmiges unendlicher Menge abschließbar oder unabschließbar. Zwei Gesetze, nomoi, streiten miteinander und geraten in denjenigen Konflikt, den Kant Antinomie nennt. Kant beansprucht in der Ersten Kritik, die Zahl möglicher Antinomien hinsichtlich des kosmologischen Begriffs von der Welt als einer Totalität mit Hilfe der Kategorientafel vollständig aufführen zu können. Kants Prinzipien der Erkenntnis gliedern sich in den Kategorien- und Urteilstafeln in vier Gruppen, die der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität. Jede dieser vier Gruppen erlaubt, in einer regressiven Bedingungsanalyse eine letzte Bedingung, eine Weltgrenze zu bestimmen. Die Quantität von Raum und Zeit führt zur Frage, 14 Während Zenon von Elea mit seinen Paradoxien das Problem der Antinomien in die Philosophie eingeführt hat, gab Kant dem Problem seine systematische Pointierung und prominente Bedeutung, in deren Gefolge schließlich auch Russells Antinomie der Menge aller Mengen zu verorten ist.

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ob es eine Weltgrenze und einen Weltanfang gebe, oder ob Raum und Zeit ins Unendliche reichen. Mit der Qualität, die im Feld der Erscheinungen das Sinnlich-Materiale der Natur darstellt, ist die Frage verbunden, ob das Real-Materiale aus letzten Atomen, also aus Unteilbarem besteht, oder ob es ins Unendliche geteilt werden kann. Mit der Kategorie der Relation kommt die Frage auf, ob die Kausalität der Natur gleichförmig immer weitere Ursachen in der Kette der Erscheinungen entdecken lässt, oder ob es eine erste Ursache und mithin erste Ursachen in der Welt gibt. Schließlich stellt sich die Frage, ob die Zufälligkeit die alleinige Modalbestimmung der Welt ist oder ob ihre Beschaffenheit in einem notwendigen Prinzip zu begründen ist. Kant argumentiert ausführlich für die Plausibilität der vier in der Kritik der reinen Vernunft behandelten Grenzfragen, die in idealtypischer Weise nach anschaulich empiristischen und mengentheoretisch summarischen, rationalistischen Vorgaben entwickelt werden und sich daher als vier Antinomien zeigen, die in ihren Lösungsansätzen einander radikal widerstreiten. Für jede der Thesen (Rationalismus) und Antithesen (Empirismus) stellt er Beweise auf. Unter Annahme der jeweils gegenteiligen Aussage erweist sich, so Kants Anspruch, dass die Annahme falsch und der behauptete Satz (These und dann Antithese) richtig ist. Da sich Fichte ohnehin nur für die These der Kompatibilität der beiden Sätze interessiert, werden die Beweisgänge hier nicht näher beleuchtet. Kants eigene Antwort auf den antinomischen Widerstreit liegt, wie wir wissen, weder in der Parteinahme für den Rationalisten, dessen Position überraschenderweise auch dem gesunden Menschenverstand näher liegt, der das Bedürfnis hat, jeweils eine letzte Grenze anzunehmen und eine umgrenzte Totalität zu denken, noch auch in der Parteinahme für den radikalen Empiristen, der annimmt, dass die Fragen nach den Grenzen der Welt ins Unendliche fortgeschrieben werden müssen. Kant zeigt im Kontext der Auflösung der Antinomien, dass alle vier Thesen und Antithesen keine logisch kontradiktorischen Widersprüche darstellen. Vielmehr erweisen sie sich als dialektische Widersprüche, deren Schein sich nur durch eine kritische transzendentalphilosophische Reflexion entdecken lässt. Das Problem ist, dass mit den antinomischen Behauptungen nicht zwischen Ding an sich und Erscheinungen unterschieden wird. „So wird demnach die Antinomie der reinen Vernunft bei ihren kosmologischen Ideen gehoben, dadurch, daß gezeigt wird, sie sei bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, daß man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur

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in der Vorstellung, und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im sukzessiven Regressus, sonst aber gar nicht existieren.“15

Kant macht hier und im weiteren Kontext deutlich, dass der sukzessive Regress angesichts der tatsächlichen Zeitbedingungen empirisch angesehen werden müsste. Das aber ist unserem Verstand bei der unendlichen Reihe der Erscheinungen nicht möglich, wie leicht einzusehen ist. Demnach kann die Betrachtung der Totalität dessen, was nur im Einzelnen, nicht aber in seiner Ganzheit Gegenstand einer empirischen Erfahrung sein kann, nur eine Idee sein. Wer nun in vorkritischer Manier Aussagen über die den kosmologischen Widerstreiten zugrundeliegenden Gegenstände macht, der behandelt sie Kant zufolge als Dinge an sich. Also zeigt bereits diese Überlegung, dass die Beweise zugunsten der jeweils angenommenen antinomischen Gegensätze versteckte, schwer erkennbare Fehler machen, nämlich über Dinge an sich zu sprechen, wo Erscheinungen untersucht werden müssten. Kant folgert nun, „daß Erscheinungen überhaupt außer unseren Vorstellungen nichts sind, welches wir eben durch die transzendentale Idealität derselben sagen wollten.“16 Zu bemerken ist hier, dass Kant nicht bloß von „Erscheinungen“ sondern von „Erscheinungen überhaupt“ spricht. Erscheinungen unterliegen der Zeitform gemäß ihren Schemata, während „Erscheinungen überhaupt“ hier die summarische Zusammenfassung von Erscheinungen bezeichnet, wie sie in der Reihe der Totalitäten gedacht, aber niemals sinnlich erfahren werden. Kant betont, dass die Beweise für die insgesamt acht antinomischen Behauptungen nicht als Blendwerk anzusehen seien: „Man siehet daraus, daß die obigen Beweise der vierfachen Antinomie nicht Blendwerke, sondern gründlich waren, unter der Voraussetzung nämlich, daß Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wären. Der Widerstreit der daraus gezogenen Sätze entdeckt aber, daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege, und bringt uns dadurch zu einer Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge, als Gegenstände der Sinne.“17

Unter diesen vier Antinomien kommt der Freiheitsantinomie in der Kritik der reinen Vernunft eine besondere Bedeutung zu. Sie lautet in Kants Worten: „Thesis. Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“18 15 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. v. Jens Timmermann mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998, A 506/ B 534. 16 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 507/B 535. 17 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 507/B 535. 18 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 444/B 472.

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„Antithesis. Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“19

Kant argumentiert, wie in allen vier antinomischen Widerstreiten und so auch hier, jeweils für die Plausibilität von einem der Sätze, indem er das Gegenteil, also den jeweils anderen Satz für wahr annimmt. Dann zeigt er, dass die gegenteilige Behauptung, in ihre äußerste Konsequenz getrieben, in ihr Gegenteil, also den anfänglichen Behauptungssatz umschlägt. Damit soll erwiesen sein, dass der fragliche Satz gültig ist. Wie bereits im Allgemeinen gezeigt, gibt es Kant zufolge den Widerstreit nur deshalb, weil man der Argumentation Dinge an sich zugrunde legt, obwohl dem Menschen nur Erscheinungen von daseienden Dingen zugänglich sind. Daher ist es nicht unwichtig, hier darauf zu verweisen, dass sich Fichte rühmt, von Beginn an die Frage nach dem Ding an sich aus der Wissenschaftslehre verbannt zu haben.20 Festzuhalten ist, dass der Streit um die Kausalität von Natur und von Vernunft unter veränderten Vorzeichen bis heute anhält, wenn Physikalisten alles Mentale auf Nerven- und Gehirnaktivitäten reduzierbar sehen und voraussagen, dereinst werde aus einem bestimmten physischen Befund der Bewusstseinsgehalt restlos erklärbar. Mentalisten halten dagegen, dass die Weise, wie es für ein Subjekt ist, Bewusstsein zu haben, zu fühlen, zu denken, zu erkennen, moralisch zu urteilen und zu handeln, irreduzibel sei. Der heutige Streit der Mentalisten und Physikalisten ist strukturell ähnlich dem Problem, das Kant mit der Antinomie der Freiheit behandelt. Freilich ist im Kontext dieser Streitfrage heute zumeist nicht von einer Antinomie die Rede.21 Unter der von Kant zugestandenen Prämisse, dass alles in der Welt Seiende ausnahmslos kausal erklärbar sein muss, wie die Antithese besagt, verschärft sich das Problem, dass es dennoch einiges in der Welt geben soll, das durch Freiheit verursacht wird und demnach offenkundig nicht durch Kausalgesetze voraussagbar und kausal festgelegt ist. Kants Pointe in der Auflösung dieser Antinomie besteht darin, dass die einander widerstreitenden Sätze, daher !mti-m|loi, nur scheinbar als kontradiktorisch einander widerstreitend erkannt werden. Wären sie kontradiktorisch, so gälte nach dem Satz des Widerspruchs, dass entweder beide Sätze falsch, oder einer wahr und der andere falsch sind. Kant zeigt, dass die Sätze einander gerade

19 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 445/B 473. 20 Vgl. J.G. Fichte: Rezension: Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmassungen der Vernunftkritik, GA I/2, 31–67, hier: 60–62 (= SW I, 19f.). 21 Vgl. aber Peter Bieri, der in der Schrift Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt/M. 2003, schon im Prolog: Der Irrgarten das Problem der Antinomie der Freiheit erzählerisch einführt (vgl. 15–26).

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nicht (kontradiktorisch) ausschließen, sondern nur konträr sind, und daher unter anzugebenden Bedingungen nebeneinander bestehen können.22 Näherhin zeigt Kant, dass nicht bloß das Geschehen in der Natur, sondern auch alle Handlungen und Wirkungen von Handlungen, die durch den menschlichen Willen erzeugt werden, ja sogar die Bestimmungsgründe des Willens selbst nach bloß kausalmechanistischen Gesetzen gedacht werden können müssen. Damit stimmt er dem radikalen Physikalismus zu. Demnach ist der Satz richtig, wonach alles in der Welt bloß nach Gesetzen der Natur geschieht, wie es in der Antithese formuliert wird. Mit Verweis auf das erkenntnistheoretische Resultat der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft hält Kant daher lapidar fest: „Die Richtigkeit jenes Grundsatzes, von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen, steht schon als Grundsatz der transzendentalen Analytik fest und leidet keinen Abbruch.“23 Daher geht Kant nun der Frage nach, ob die Annahme einer Kausalität durch Freiheit und Vernunft vereinbar ist mit dieser allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur. Kants besondere Pointe ist es nun, dass die Gesetze der Natur die Handlungen der Vernunft und des menschlichen Willens nicht hinreichend erklären. Damit bekommt der Mentalist tendenziell Recht, der behauptet, dass die besondere Qualität, in Zuständen des Bewusstseins zu sein, vom Physikalismus niemals hinreichend expliziert werden kann. Kausalität aus Freiheit ist damit freilich noch nicht erklärt. Kant spricht von der Merkwürdigkeit, „daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe“.24 Kant nimmt in dem Kontext eine wichtige Bestimmung vorweg, die dann in den moralphilosophischen Schriften genauer untersucht wird: „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. […] Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.“25

Kant scheint hier noch die Möglichkeit als denkbar offen zu halten, dass Freiheit im transzendentalen Verstande nicht gänzlich mit moralisch praktischer Freiheit 22 Vgl. Michael Wolff: Der Begriff des Widerspruchs in der „Kritik der reinen Vernunft“. Zum Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik, in: Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“. Festschrift für Klaus Reich, hg. v. Burkhard Tuschling, Berlin/New York 1984, 178–226. 23 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 536/B 564. 24 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 533/B 561. 25 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 533f./B 561f.

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zusammenfällt. Gleichwohl ist seine Argumentation zugunsten der Freiheit in diesem Kontext weithin von moralphilosophischen Überlegungen bestimmt. Die Frage freilich, wie Kausalität der Natur und der Vernunft nebeneinander bestehen können, wird unabhängig von moralischen Belangen bestimmt. Kant betont wiederum, dass eine durchgängige Kausalbestimmung durch Naturgesetze eine solche von den Erscheinungen und nicht von den Dingen an sich ist. Sind aber Erscheinungen „bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind.“ Kant fährt dann fort: „Eine solche intelligibele Ursache aber wird in Ansehung ihrer Kausalität nicht durch Erscheinungen bestimmt, obzwar ihre Wirkungen erscheinen, und so durch andere Erscheinungen bestimmt werden können.“26 Diese Überlegung, das sei hier vorweggenommen, musste für Fichte von größter Bedeutung sein. Hier wird eine intelligible Ursache als Freiheit gedacht, die nicht notwendig als moralisch praktisch ausgewiesen ist. Die Akte des Denkens und Erkennens, des Generierens von Vorstellungen, die Kant an anderen Stellen als Spontaneität bezeichnet, sind hier als intelligible Ursachen bezeichnet, die neben die Reihe der Naturkausalität treten. Mit Kants Worten: „Sie [die intelligible Ursache] ist also samt ihrer Kausalität außer der Reihe; dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden.“ Kant folgert weiter : „Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden“.27 Kant betrachtet nun das Subjekt, das nicht bloß Vorstellungen generiert, sondern auch intelligible Ursache der in den Vorstellungen verbundenen Erscheinungen ist, nach seinem sinnlichen und seinem intelligiblen Charakter. Das Subjekt als sinnliches Wesen ist ganz in die Naturkausalität eingebunden. Das Subjekt als intelligibles Wesen oder intelligibler Charakter kann nicht sinnlich wahrgenommen werden, es ist nicht Erscheinung und daher außer der Zeit. „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft“.28

Kant nennt das intelligible Subjekt daher in dieser Hinsicht ein Ding an sich, das uns bloß dadurch bekannt ist, dass es durch einen Begriff gedacht werden kann: 26 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 537/B 565. 27 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 537/B 565. 28 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 546f./B 574f.

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„so kann man die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt.“29

Daraus folgt: „So würde denn Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit ihrer intelligibelen oder sensibelen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden.“30

Kant räumt damit ein, dass nicht bloß Naturprozesse, sondern auch jede Handlung des Menschen theoretisch lückenlos kausal erklärbar sein könnte. Dass man heutzutage auch in der Lage ist, mentale Handlungen als solche zu erfassen, die auf Gehirnaktivitäten beruhen, konnte Kant wohl kaum ahnen. Kausale Erklärbarkeit zu postulieren bedeutet nicht, dass kausale Zusammenhänge immer aufgeklärt werden können. Dass die Wissenschaft von heute für Kant ungeahnte Wege gehen kann, ändert nichts an Kants prinzipiellem Theoriekonzept. Nun postuliert Kant neben der Naturkausalität einen Aspekt der Intelligibilität der Vernunft und ihrer besonderen Kausalität durch Gründe und Begriffe. Sorgsam scheidet er von dieser intelligiblen Kausalursache jede Form von Sinnlichkeit ab, die das Handlungsgeschehen sinnlich affektiv bestimmen könnte. Solange Affekte am Werk sind, die der Sinnlichkeit zuzurechnen sind, handelt es sich Kant zufolge nicht um eine reine intelligible Ursache. Kant sieht sich daher auf die Imperative und das Sollen der moralisch praktischen Vernunft verwiesen, noch bevor er die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) oder die Kritik der praktischen Vernunft (1788) veröffentlicht hatte: „Daß diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“31

Kant insistiert darauf, dass das der Vernunft eigene Sollen nirgends in der Natur anzutreffen sei. Während die Naturkausalität den Zeitverhältnissen gehorcht, ob sie sich nun auf Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft beziehen („Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird.“32), ist das Sollen von einer Notwendigkeit begleitet, die nicht von zeitlicher Natur ist. Das Sollen der Vernunft operiert mit Gründen, die begrifflich und nur begrifflich entwickelt werden können. 29 30 31 32

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 538/B 566. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 541/B 569. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 547/B 575. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 547/B 575.

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Um den besonderen Status der mit Gründen operierenden Vernunfttätigkeit zu explizieren, behauptet Kant: „Aber von der Vernunft kann man nicht sagen, daß von demjenigen Zustande, darin sie die Willkür bestimmt, ein anderer vorhergehe, darin dieser Zustand selbst bestimmt wird. Denn da Vernunft selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen ist, so findet in ihr, selbst in Betreff ihrer Kausalität, keine Zeitfolge statt, und auf sie kann also das dynamische Gesetz der Natur, was die Zeitfolge nach Regeln bestimmt, nicht angewandt werden. Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint.“33

Diese Behauptung muss einem physikalistischen, die menschliche Freiheit leugnenden Ansatz verdächtig sein, lässt sich doch unabweislich behaupten, dass jeder Akt, den die Vernunft denkt, ebenso in die zeitliche Ordnung der Gehirnaktivitäten einzuordnen ist, als ein sinnlicher Affekt oder eine Wahrnehmung, die von Kant offenkundig auf der Seite der zeitlich nach Regeln erfolgenden Sinnlichkeit verrechnet werden. Kant hat einen solchen Einwand nicht vorausgesehen. Der Diktion seiner Logik folgend lässt sich Kants Ansatz damit verteidigen, dass der Akt der Spontaneität der Vernunft, mit dem durch Einsicht in Gründe eine Handlungsanweisung im Denken vollzogen wird, seinem Gehalt nach Ergebnis des reinen Denkens ist. Damit steht dieses durch bloßes Denken erzeugte Ergebnis im Gegensatz zu einem Affekt, einem Wünschen, Wollen, Begehren, die eine Handlungsmaxime ihrem Gehalt nach bestimmen oder wenigstens mitbestimmen. Dass der Vollzug des Denkens eines Sollens auch eine Gehirnaktivität ist, spielt sich so gesehen auf einer anderen Ebene ab. Dort treffen sich Vollzüge der Vernunft mit jeder anderen Form von Gehirnaktivität, die sich auf dieser Ebene allesamt als kausale Ereignisse der Natur betrachten lassen. Dies hilft dann auch zu verstehen, dass das Handeln aus vernünftiger Einsicht und aus Gründen eine Wirkung in der Sinnenwelt zu erzeugen vermag. Wenn nun Kant überdies festhält, dass die „Vernunft […] also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen [ist], unter denen der Mensch erscheint“,34 könnte man ihn dessen überführen wollen, dass er hier der Seele oder wenigstens der Vernunft substanzialen Charakter zuschreibt, da er ihr das Prädikat des „Beharrlichen“ zuweist. Wäre dies Kants Absicht, so würde er seinen Überlegungen zu den Paralogismen der reinen Vernunft eklatant widersprechen. Unbesehen der Differenzen dieses Kapitels in den beiden Auflagen von 1781 und 1787 sei auf einen Satz Kants von 1787 verwiesen: „Also bleibt die Beharrlichkeit der Seele, als bloß Gegenstandes des inneren Sinnes, unbewiesen, und selbst unerweislich, obgleich ihre Beharrlichkeit im Leben, da das denkende 33 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 553/B 581. 34 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 553/B 581.

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Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist, für sich klar ist“.35 Die der Vernunft zugeschriebene Beharrlichkeit kann nur metaphorisch verstanden werden, in dem Sinne, dass die Vernunft ihren Gründen, ihren Einsichten, also ihrem Gehalt nach als nicht zeitlich bestimmt anzusehen ist. Die Vernunft, so Kant, „ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, und gerät etwa in einen neuen Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung desselben.“36 In Kants Sicht muss zur vollständigen Erklärung von Vernunft- und Willenshandlungen wenigstens in praktischer Hinsicht zusätzlich eine Kausalität der Freiheit angenommen werden, die der durchgängigen physikalistischen Erklärungsart nicht widerspricht, sondern diese vielmehr ergänzt. Dies erklärt sich Kant wie gezeigt so, dass alle Erscheinungen gemäß dem Vermögensdualismus von Anschauung und Begriff kausalmechanistisch und physikalistisch in Raum und Zeit situiert sind. Freiheit, Wille, Normativität sind als Gehirntätigkeiten zwar Erscheinungen in der sinnlichen Welt, doch als Idee der Freiheit, des Guten oder Bösen, des Schönen oder Hässlichen, des Ich-Will oder Ich-WillNicht, sind sie Kant zufolge gerade nicht sinnliche Erscheinung und daher weder zeitlich noch räumlich zu fassen. Da nun das rein rationale Moment der Freiheit und der Normativität radikal nichtsinnlich gedacht werden muss, verträgt sich die Kausalität aus Freiheit mit der Kausalität der Natur. Erst die Wirkungen der Vernunft, seien sie bloß gedachte Gedanken oder Handlungsimpulse, die Folgen in der Welt der Erscheinungen nach sich ziehen, sind in der Sukzession der Zeit oder auch im Auseinandersein des Raumes situiert. Vernünftigkeit an sich als normative Verbindlichkeit steht für Kant immer außer der Zeit. Willensäußerungen müssen daher sowohl zeitimmanent nach dem Zusammenhang der Naturgesetze in den Erscheinungen der Welt, als auch als Moment eines absoluten außerzeitlichen Anfangs mit einer Wirkung in der Zeit nach dem Gesetz der Freiheit begriffen werden. Demnach gelten in dieser Antinomie beide Sätze gleichermaßen nach den je unterschiedlichen Bedingungen der Verstandeserkenntnis einerseits, der Vernunfterkenntnis andererseits. Mit Blick auf die Argumentation zugunsten der Freiheit als einer eigenen Kausalität neben der Naturkausalität betont Kant mit sehr ernüchternden Worten, dass hier gleichwohl nicht „die Wirklichkeit der Freiheit“, ja nicht einmal die „Möglichkeit der Freiheit“ erwiesen werden konnte, „weil wir überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Kausalität, aus bloßen Begriffen a priori, die Möglichkeit erkennen können. Die Freiheit wird hier nur als 35 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 415. 36 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 556/B 584.

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transzendentale Idee behandelt, wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung durch das Sinnlichunbedingte schlechthin anzuheben denkt“.37

Die Vernunft ist es, die sich mit der Naturkausalität in eine Antinomie verwickelt, deren Grund nun immerhin als Schein aufgedeckt werden konnte. Überdies konnte gezeigt werden, dass es Gründe gibt anzunehmen, dass beide Kausalitäten miteinander Bestand haben können in ein und derselben Handlung. Nach diesem Muster behandelt Kant auch die vierte Antinomie und ihre Frage danach, ob die Welt als zufällig oder notwendig vorgestellt werden muss. Für die beiden ersten Antinomien, die nach einem möglichen Anfang von Raum und Zeit fragen, sowie danach, ob die Materie ins unendliche teilbar ist oder nicht, hält Kant fest, dass sie unentscheidbar seien.

Fichte über die kantischen Antinomien in der Deduktion der Vorstellung und der systematische Zusammenhang mit der Konstruktion der Einbildungskraft Nach dieser Darstellung der wichtigsten Züge von Kants Antinomienlehre komme ich nun zu Fichte. Die wohl wichtigste Berührung der Antinomienfrage findet sich am Ende der Deduktion der Vorstellung, obwohl er zeitlich früher sowohl in den bereits erwähnten Aphorismen über Religion und Deismus von 1790 als auch in der 1792 zunächst anonym erschienenen Schrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung die Antinomienproblematik anspricht. Die Antinomie einer Offenbarung wie die Antinomie des Raumes in der Wissenschaftslehre von 1812 werde ich im Anschluss an meine Hauptüberlegungen noch kurz streifen. Nach meinem Verständnis steht die Überlegung in der Deduktion der Vorstellung in einem engen systematischen Zusammenhang zu dem vorausgehenden Abschnitt, in dem die Tätigkeit der Einbildungskraft als dem basalen Vermögen der Theoretischen Grundlage der Wissenschaftslehre entwickelt wird. Das Verständnis dieses Zusammenhangs eröffnet erst einen tieferen Einblick in die mutmaßliche Intention dessen, was Fichte mit seinem lapidaren Verweis auf Kants Antinomien bedeuten will. Die Textstelle am Ende von Abschnitt X der Deduktion der Vorstellung lautet im Zusammenhang: „Das Ich ist in der Selbstbestimmung so eben, als bestimmend und bestimmt zugleich, betrachtet worden. Wird vermittelst der gegenwärtigen höhern Bestimmung darauf reflektirt, daß das, das schlechthin bestimmte bestimmende ein schlechthin unbestimmtes seyn müsse; ferner darauf, daß das Ich und Nicht-Ich schlechthin entgegengesezt sind, so ist, wenn das Ich als bestimmt betrachtet wird, das bestimmende 37 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 558/B 586.

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unbestimmte das Nicht-Ich; und im Gegentheil, wenn das Ich als bestimmend betrachtet wird, ist es selbst das unbestimmte, und das durch dasselbe bestimmte ist das Nicht-Ich, und hieraus entsteht folgender Widerstreit: Reflektirt das Ich auf sich selbst, und bestimmt sich dadurch, so ist das Nicht-Ich unendlich und unbegränzt. Reflektirt dagegen das Ich auf das Nicht-Ich überhaupt (auf das Universum) und bestimmt es dadurch, so ist es selbst unendlich. In der Vorstellung stehen demnach Ich und Nicht-Ich in Wechselwirkung; ist das eine endlich, so ist das andere unendlich; und umgekehrt; eins von beiden ist aber immer unendlich. – (Hier liegt der Grund der von Kant aufgestellten Antinomien.)“38

Der sehr komplexe philosophische Kontext, den Kant im Rahmen der Darstellung seiner antinomischen Widerstreite im Grundbuch der Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft zur Darstellung bringt, wird von Fichte mit leichter Hand zur Seite geschoben. Er glaubt zu wissen, worin „der Grund der von Kant aufgestellten Antinomien“ liegt, nämlich in einer Reflexion, die bald das Ich, bald das Nicht-Ich zu einem Unendlichen erklärt und mit der eine Wechselbeziehung einhergeht, nach der das jeweils andere Moment begrenzt und endlich gesetzt ist. Das Unendliche ist zugleich das Unbestimmte, das Endliche das Bestimmte. Indem nun hier das zum Unendlichen bestimmte Nicht-Ich ausdrücklich zum „Universum“ erklärt wird, spielt Fichte damit auf den kosmologischen Kontext an, in dem Kant seine Antinomienlehre in der Kritik der reinen Vernunft zur Darstellung bringt. Auffallend ist, dass Fichte von den von „Kant aufgestellten Antinomien“ spricht und mit diesem Plural insinuiert, alle Antinomien Kants im Blick zu haben, wenigstens die also in der Kritik der reinen Vernunft. Kant behauptet dort nämlich selbst, mit seiner Herleitung möglicher Antinomien auf der Basis der Kategorientafel alle möglichen Antinomien erfasst zu haben. Dass Kant selbst in den folgenden Kritiken, also der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft wiederum Antinomienprobleme behandelt, lässt sich damit begründen, dass deren Antinomien als Sonderfälle der wichtigen Dritten Antinomie der Freiheit zu betrachten sind.39 Ohne noch genauer Fichtes Interpretation von Kants Antinomien untersucht zu haben, ist es offenkundig, dass Fichte Kants subtile und differenzierte Argumentation hinsichtlich der Antinomienproblematik extrem verkürzt. So übergeht er auch, dass für Kant die ersten beiden Antinomien unlösbare Aufgaben 38 J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 383f. (= SW I, 245f.). 39 Vgl. Eric Watkins: Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft und Kants Ablehnung alternativer Teleologien (§§ 69–71 und §§ 72–73), in: Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (Klassiker Auslegen 33), hg. v. Otfried Höffe, Berlin 2008, 241–258. Eckart Förster : Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft (107–121), in: Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft (Klassiker Auslegen 26), hg. v. Otfried Höffe, Berlin 2011, 151–162. Bernhard Milz: Der gesuchte Widerstreit. Die Antinomie in Kants ,Kritik der praktischen Vernunft‘. Berlin u. a. 2002. Peter MacLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn u. a. 1989.

Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit. Was bleibt?

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aufwerfen, während die Widerstreite der Dritten und Vierten Antinomie als miteinander kompatibel ausgewiesen werden. Kant nennt die Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft mehrfach Widerstreit. Diesen Terminus verwendet Fichte in dem näheren Kontext, in dem er auf Kants Antinomien verweist. Doch es ist bemerkenswert, dass er den Terminus des Widerstreits bereits für die theoretische Tätigkeit der Einbildungskraft reserviert, die er als Widerstreit zwischen Ich und Nicht-Ich bezeichnet. Durch diesen Widerstreit wird Anschauung konstituiert. Näherhin expliziert Fichte diesen Widerstreit der Einbildungskraft durch ein Schweben ihres immer in Tätigkeit Seins. Der Widerstreit der Einbildungskraft besteht zufolge des theoretischen Teils der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre in dem grundsätzlichen Widerstreit der Welten des Ich und des Nicht-Ich, die einander in bestimmten Hinsichten wesentlich fremd sind, und daher nicht zu versöhnen, wohl aber zu verbinden und zusammenzuführen sind. In diesem Widerstreit lässt sich, ohne dass Fichte hier von Kants Antinomien spricht, ein deutlicher Bezug zur Dritten Antinomie der Freiheit herausarbeiten. Sowohl die Hervorbringung einer Anschauung wie die einer Vorstellung wird Fichte zufolge durch einen Widerstreit erzeugt, der sich in je eigener Weise zwischen Ich und Nicht-Ich vollzieht. Während Anschauungen die primäre Form der Erzeugung von Gehalten des Bewusstseins durch ein selbstbewusstes Ich sind, beruhen alle weiteren Vorstellungen auf Formen der Abstraktion, die nur dann gewonnen werden können, wenn zuvor Anschauungen produziert wurden. Vorstellungen werden entweder durch Anschauungen hervorgebracht, indem diese in Begriffen fixiert werden, oder sie beruhen auf einem „Widerstreit“, der nicht unmittelbar, sondern immer nur vermittelt auf Anschauungen bezogen ist. Es gehört zum Eigentümlichen von Fichtes Anschauungstheorie, dass die im beständigen Schweben erzeugten Anschauungen flüchtig sind, und des Verstandes und der Urteilskraft bedürfen, um in Begriffen fixiert zu werden. Der Widerstreit, den Fichte in der Synthesis E entwickelt, die der Deduktion der Vorstellung vorausgeht, hat die Konstitution dieser flüchtigen Anschauungen zum Gegenstand. Diesem Sachverhalt ist nun nachzugehen, da er Aufschluss über Fichtes ganz spezifische Deutung der Antinomie der Freiheit gibt. Die Deduktion der Vorstellung folgt der prinzipiellen Struktur, die Fichte zuvor entwickelt hat, um die Tätigkeit der Einbildungskraft, die maßgeblich alle Arten von Vorstellungen konstituiert, zunächst in ihrer Konstitutionsleistung einer Anschauung zu reflektieren. Um zu verstehen, was Fichte genauerhin im Blick hat, ist es daher sinnvoll, sich in einer kurzen Skizze vor Augen zu führen, was das Ziel der Grundlage des theoretischen Wissens war, das Fichte zur Darstellung brachte, bevor er zur Deduktion der Vorstellung übergeht. Im theoretischen Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 spielt das Schweben der Einbildungskraft als systematisches Resultat

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des erkenntnistheoretischen Ansatzes der Wissenschaftslehre eine zentrale Rolle. Im Anschauen von den Dingen der Welt verknüpfen sich für Fichte real gegebene Daten mit subjektiven Momenten der Verarbeitung und Konstruktion einer Anschauung zu einer hochkomplexen Synthesis. Das Ich ist nicht bloß hingegeben an die Dinge, also nicht bloß passiv rezipierend, wenn es anschaut. Es ist seinem Wesen nach Freiheit und Spontaneität. Daher ist auch das Anschauen nicht bloß Rezeptivität, sondern eine Leistung der Spontaneität, bei dem das Gegebensein der Dinge in eine aktive Handlung des Geistes verwandelt wird. Das Ich ist bestimmend und es wird bestimmt. Anschauungsprozesse sind einerseits ein ständiges „Uebergehen“ in der Sukzession der Zeit,40 andererseits und zugleich ein gegenseitiges Ineinandergreifen der im Wechsel befindlichen Parameter, die eine Anschauung oder Vorstellung konstituieren. Fichtes Wortwahl des „Uebergehens“ einerseits, des „Eingreifen[s]“41 andererseits, das im wechselseitigen Zusammenwirken zu einem Ineinandergreifen der mentalen Handlungen führt, spiegelt die unabdingbare Linearität des Bewusstseins in der Sukzession der Zeit einerseits, als auch ein Vor- und Zurückgreifen, ein Festhalten einzelner Momente im Ablauf der Zeit andererseits wieder. Darin spiegelt sich das Zugleichsein von Widerstreit und Vereinigung. Anschauen ist zum einen eine Synthesis, die den realen Affektionsmechanismus des Ichs durch die Dinge, also eine reale Kausalität der Dinge (oder des Nicht-Ich) auf das Ich voraussetzt. Diese Kausalität nennt Fichte ein „Entstehen durch ein Vergehen“,42 weil nämlich der das Ich affizierende seiende und daher ich-fremde Stoff im „Vergehen“ ist, wenn er in die Form des Bewusstseins aufgenommen und mithin das Sein in Bewusstsein und in die tätige Aneignung des Subjekts verwandelt wird. Das „Entstehen“ ist das des mental zugeeigneten Stoffes, oder des Vorstellungsbildes im Bewusstsein. Durch diese Kausalität kommt eine Einheit von Realität und Idealität zustande.43 Diese Einheit ist eine solche von Objekt und Subjekt, die im Anschauen untrennbar aufeinander verwiesen sind. Das bewusstseiende Subjekt muss jedoch aktiv wollen, dass das Bild von einem Ding im Bewusstsein gebildet wird. Das Zulassen eines Nicht-Ich, eines Objekts im Ich bezeichnet Fichte als ein „Entäußern“,44 nämlich das Entäußern der reinen Bewusstseinsnatur des Ich, um Fremdes, Nicht-Ichliches aufzunehmen. Um dies nun genauer zu explizieren, führt Fichte den Begriff der Sphäre ein, die in einer Perspektive bloß von der Tätigkeit des reinen freien Ich erfüllt ist; in 40 41 42 43 44

J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 319 (= SW I, 167). J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 320 (= SW I, 168). J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 329 (= SW I, 179). Vgl. J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 329 (= SW I, 179). J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 317 (= SW I, 164f.).

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anderer Perspektive schließt das Ich etwas von dieser Sphäre aus, es macht sich durch diesen Ausschluss bestimmbar. Die Bestimmbarkeit des Ich ist aus subjektiver Perspektive die Ermöglichungsbedingung einer fremdartigen Materie im Ich. Es ist dies ein Akt der Freiheit des Subjekts, sich zu öffnen für eine äußere Bestimmung, sich bestimmbar zu machen für anderes, das Gegebensein des Gegenstandes. Durch das Moment der Bestimmbarkeit des Subjekts tritt der Charakter der bloßen, gänzlich unbestimmten Tätigkeit der Spontaneität des Subjekts in den Blick. Spontaneität ist Fichte zufolge eine grundlegende Form der Realisierbarkeit von Freiheit, zu der ein Subjekt fähig ist. Das Ich ist seinem Wesen nach nichts anderes als reine Selbsttätigkeit, die fordert, sich stets durch sich selbst zu bestimmen. Das freie Ich bestimmt sich also dazu, Bestimmbarkeit in sich zuzulassen. Aber die Bestimmbarkeit fordert zugleich die Aufhebung jeder bereits erfolgten Bestimmung durch das Ich, um der Bestimmbarkeit und der Freiheit erneut Raum zu schaffen. Fichte fasst daher zusammen: „Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jezt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jezt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft. Hierdurch wird nun vollkommen vereinigt Zusammentreffen, und Zusammenfassen. Das Zusammentreffen, oder die Grenze ist selbst ein Produkt des Auffassenden im, und zum Auffassen“.45

Im Zusammentreffen spiegelt sich nochmals in sublimierter Form der durch Kausalität ausgedrückte Akt des Affizierens des Ich durch das Nicht-Ich. Das Zusammenfassen spiegelt in sublimierter Form die spontane, daher für Fichte auch freie Tätigkeit des Ich, sich den äußeren Eindruck durch das Nicht-Ich zuzueignen und zu einer eigenen, inneren Anschauung zu machen. Wenig später nennt Fichte dann die „Einbildungskraft […] ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt“, ferner spricht er vom „Schweben der Einbildungskraft zwischen unvereinbaren“ und betont deren „Widerstreit […] mit sich selbst“.46 Mit diesem Schweben zwischen Bestimmung und Nichtbestimmung wird der Bewusstseinsstrom der Sequenz einander ablösender Bilder und Anschauungen möglich, deren Zusammenfassung sich zur Synthesis komplexerer Vorstellungen 45 J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 359 (= SW I, 215). 46 J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 360 (= SW I, 216f.).

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verdichtet.47 Fichtes Konstruktion der Einbildungskraft bringt das realistische Theoriemodell der Anschauung als Affektionslehre und das idealistische Theoriemodell der Anschauung als bloße Bewusstseinsimmanenz zu einer hochkomplexen Synthese. Damit bringt er im weiteren Fortgang der Konstruktion auch die Gegensätze der Naturnotwendigkeit und subjektiven Freiheit zur Synthese, wobei Freiheit hier die Spontaneitätsleistung des Subjekts im Verein mit der notwendigen Setzung eines Gegenstandes der Anschauung darstellt. Die Tätigkeit der Einbildungskraft ist eine wesentliche Konstitutionsleistung dessen, was mit Kant im weitesten Sinne das gegenstandsbezogene Denken des Verstandes genannt werden darf. Der entscheidende Unterschied zu Kant besteht für Fichte allerdings darin, die Anschauung weit über Kant hinaus als Hervorbringung durch Spontaneität entdeckt zu haben, die nur zu einem geringen Teil auch der passiven Rezeptivität angehört. Die Konstruktion der Anschauung ist von Fichte als eine Synthese von Naturkausalität und Kausalität des Subjekts, sofern es Spontaneität ist, angelegt. Dieser die Anschauung konstituierende Widerstreit zwischen einer Kausalität des Nicht-Ich auf das Ich und der Zueignung des mit der Affektion auf das Ich einwirkenden fremden Stoffes durch Spontaneitätsleistungen des Subjekts macht sich offenkundig Kants Resultat der Antinomie der Freiheit zunutze und geht zugleich deutlich über Kant hinaus. Während Kant sehr vorsichtig dafür argumentiert, wie Natur- und Vernunftkausalität theoretisch als miteinander vereinbar gedacht werden können, und dass Freiheit überdies wenigstens in praktischer Absicht angenommen werden muss, damit etwa die Schuldfähigkeit moralischer Vergehen zu sichern ist, legt Fichte den Begriff der Freiheit eines Ich sehr viel breiter an. Kant betont in der Kritik der reinen Vernunft, wie erwähnt, dass weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit der Freiheit durch die Argumentation zugunsten der Auflösung der Freiheitsantinomie erwiesen wurde.48 Fichte zufolge ist das Subjekt seinem Wesen nach frei, weshalb es auch als absolutes Ich gedacht wird, wenigstens im Kontext der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/1795. Mit der Wissenschaftslehre nova methodo (ab 1797) rückt Fichte bekanntlich von der Terminologie des absoluten Ich ab. Fichte betont, dass die Konstruktion der Tätigkeit der Einbildungskraft eine künstliche Konstruktion der Anschauung auf der Basis der Kausalität des NichtIch und der Substanzialität des spontanen Ich sei.49 Sie ist ein Modell der Erklärung von Anschauung durch realistische und idealistische Momente. Diese 47 Eine ausführliche Rekonstruktion von Fichtes Konstruktion des Schwebens der Einbildungskraft findet sich in Violetta L. Waibel: Hölderlin und Fichte. 1794–1800, Paderborn 2000, 301–317; vgl. ferner Lore Hühn: Das Schweben der Einbildungskraft. Eine frühromantische Metapher in Rücksicht auf Fichte, in: Fichte-Studien 12 (1997), 127–151. 48 Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 557f./B 585f. 49 Vgl. J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 362f. (SW 1, 219f.).

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Erklärung beruht offenkundig auf der Explikation, die Kant anbietet, um die theoretische Möglichkeit der Interaktion von Naturkausalität und Vernunftkausalität zu plausibilisieren. Während Kant nur der Vernunft reine Akte des begrifflichen Denkens zuschreibt, die zugleich Kausalität durch Freiheit ausüben können, zeigt Fichte in seiner modellhaften Konstruktion, wie Spontaneität des Ich und äußere Bestimmung durch ein Nicht-Ich schon in den ursprünglichen Vollzügen des Anschauens zum Tragen kommen. Fichte verlegt damit die Frage der Vereinbarkeit von Natur- und Vernunftkausalität in die Konstitutionsvollzüge des Bewusstseins selbst. Man könnte einwenden, dass Fichte mit seiner Konstruktion der Anschauung nur Kausalität und Substanzialität gegeneinander ins Feld führt, nicht aber explizit Natur- und Vernunftkausalität. Hiergegen muss erinnert werden, dass Fichte zufolge das Bewusstsein als ein Wechsel von Handlungsvollzügen der Tätigkeit und des Leidens, so Fichtes begriffliche Festlegung, vorgestellt wird. Er verlegt das Geschehen von Naturkausalität und Spontaneität genau dorthin, wo moderne Hirnforschung die alleinige Herrschaft der Natur verortet. Eine Auseinandersetzung mit den Einwänden der Hirnforschung gegen die menschliche Freiheit müsste also genau an diesem Punkt weitergeführt werden. Dies kann im vorliegenden Kontext nicht vertieft werden. Mit der Deduktion der Vorstellung wird das Modell der produzierenden Einbildungskraft, die eine sinnliche Anschauung erzeugt, wie erwähnt, auf die abstrahierende Tätigkeit der Einbildungskraft projiziert, die Fichte eine höhere Bestimmung nennt. Nachdem Fichte gezeigt hat, wie eine Anschauung überhaupt als Gehalt des Bewusstseins des tätigen Ich zu rekonstruieren ist, ist sein nächster Schritt noch im theoretischen Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre die Deduktion der Vorstellung. Da die theoretische Wissenschaftslehre durch die Konstruktion der Einbildungskraft durch Einbildungskraft bestimmt ist, muss die ursprünglich auf empirische Anschauung gerichtete Tätigkeit der Einbildungskraft auch eine Dimension der vom empirischen Gegenstand absehenden Konstituitionsleistung erzeugen können.50 Bevor Fichte jedoch dazu kommt, eine von der sinnlichen Anschauung abstrahierende Vorstellung zu explizieren, zeigt er zunächst im Rahmen der Deduktion der Vorstellung, wie eine Anschauung fixiert und im Begriff durch den Verstand festgehalten wird. Fichte trägt die Deduktion der Vorstellung in elf voneinander wohl unterschiedenen Schritten vor, die hier in eine kurze Übersicht gebracht werden. I. Die 50 Eigenartig ist in diesem Kontext, dass die Vorstellung, als ein von der konkreten Anschauung abstrahierender Akt, im unmittelbaren Anschluss an die Deduktion der Anschauung überhaupt erfolgt, die noch nicht notwendig einer konkreten Anschauung entspricht. Die Darstellung einer konkreten Anschauung findet sich erst im Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre (1795) dargestellt.

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Anschauung, hervorgebracht im Schweben der Einbildungskraft, muss von anderen kognitiven Leistungen der Subjektivität unterscheidbar sein. II. Folglich muss auch die Anschauung als eine reflektierte von der bloßen, unreflektierten Anschauung unterschieden werden können, was durch die Einbildungskraft geschieht. III. Unreflektiert beruht die Anschauung auf dem bloßen Anstoß, während die Reflexion auf die Anschauung auf Spontaneität beruht und, wie die Anschauung selbst, ein ursprüngliches Faktum des natürlichen Bewusstseins darstellt. Dieses stellt zugleich eine konstitutive Bedingung der Möglichkeit aller philosophischen Reflexion dar.51 Die Reflexion geschieht durch eine Fixierung der Anschauung im Begriff durch den Verstand. Fichte kann daher sagen, dass die Einbildungskraft durch ihre Tätigkeit im Schweben zwar alle Realität hervorbringe, aber die Realität ist nur im Verstand, weil die Anschauung im bloßen Schweben flüchtig ist.52 IV. Somit kann das Anschauende als Anschauendes und das Angeschaute als Angeschautes begriffen werden, wobei für Fichte ebenso wie für Kant gilt, dass sich Anschauung und Begriff wechselseitig bedingen, und das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann. V. Trotz des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Subjekt und Objekt ist dem Subjekt eine Tätigkeit überhaupt seiner Spontaneität zuzuschreiben, die Fichte als Ideal-Grund aller kognitiven Akte bezeichnet, während die objektive Tätigkeit bloß bedingt ist und von Fichte hier als Real-Grund bezeichnet wird. VI. Die Unterscheidung beider Tätigkeiten ist nun, so Fichte, durch eine modale Komponente möglich. Die Tätigkeit überhaupt des Subjekts erfährt durch die objektive Tätigkeit eine Einschränkung, die als Zwang gefühlt werde und dieser, weil er nicht auf freier Spontaneität beruht, Notwendigkeit bei sich führt. Das Schweben der Einbildungskraft hingegen ist frei im Auffassen oder Nichtauffassen von etwas. Der modale Zustand der im Schweben begriffenen Einbildungskraft ist daher der der Möglichkeit. Die Möglichkeit beruht auf der freien Wahl des Subjekts, das Bewusstsein, und mit ihm die Aufmerksamkeit, einer Sache zuzuwenden oder von ihr abzuwenden und auf etwas anderes zu lenken. Damit ist hier schon in Ansatz gebracht, was im praktischen Teil der Wissenschaftslehre unter dem Begriff des Strebens als Intentionalität näherhin entwickelt wird. Diese modalen Differenzen, die durch Zwang und durch Freiheit in Erscheinung treten, konstituieren im Bewusstsein die Differenz von Anschauendem und Angeschautem. Ob das Subjekt anschaut, steht in seiner freien Wahl (Möglichkeit), wenn es anschaut, wird es vom Objekt gezwungenermaßen bestimmt (Notwendigkeit), was das 51 Vgl. J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 373 (= SW I, 232). 52 Erst im Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre reflektiert Fichte darauf, dass die Anschauung sich einerseits im Gegenstand der Anschauung verliert und dem Gegenstand dabei ein Sein außer dem Sein zuschreibt, andererseits aber als ein im Bewusstsein erzeugter Zustand begriffen werden muss, der im Bewusstsein ist und der überdies vom Verstand in einem Begriff fixiert wird.

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Subjekt anschaut, ist eine durch die Einbildungskraft erzeugte Realität (Wirklichkeit). VII. Die Tätigkeit der Selbstbestimmung ist zugleich die Bestimmung eines fixierten Produkts der Einbildungskraft im Verstand und ist ein Denken, das durch die Vernunft erfolgt. Denken ist ursprünglich nicht möglich ohne angeschaute Objekte und hängt insofern von der Kausalität der das Subjekt affizierenden Objekte ab. VIII. Die Urteilskraft hat die freie Option, über die im Verstand fixierten Objekte zu reflektieren oder von ihnen zu abstrahieren. Mit dieser Option stehen der Verstand und die Urteilskraft im Wechselverhältnis der Möglichkeit, Objekte oder auch nur ihre Denkbarkeit zu denken. Das als denkbar Beurteilte erweist sich als letzte Ursache dessen, was als Anschauung gedacht, oder eben dessen, was in der Konstruktion der Einbildungskraft durch Einbildungskraft hervorgebracht werden kann. IX. In der Denkbarkeit liegt die Möglichkeit, von allem bestimmten Objekt oder von jedem Objekt überhaupt zu abstrahieren. Dies erklärt Fichte nun als ein Schweben der Einbildungskraft zwischen Objekt und Nicht-Objekt. Ihre Tätigkeit dabei wird fixiert, kein Objekt zu haben, und zwar durch eine Selbstvernichtung der Einbildungskraft, in der sie sich selbst zusieht. In der so gestifteten bloßen Abstraktion artikulieren sich die bloßen Regeln der reinen Vernunft. Hierbei wird von der eigentlichen Gegenstandstätigkeit der Einbildungskraft abgesehen, wie es auch Kant in der Kritik der reinen Vernunft vorgeführt habe, ohne auf die Möglichkeit der abstrahierenden Reflexion eigens und ausführlich reflektiert zu haben. In der so ermöglichten Unterscheidung von reflektiertem Objekt und reflektiertem Subjekt liegt die Quelle alles Selbstbewusstseins. X. Hierin liegt auch der Grund der ursprünglichen Leere des Ich als reines Selbstbewusstsein, das an sich schlechthin unbestimmt ist, aber zugleich Bedingung alles Bestimmten ist. Reflektiert man auf die Selbstbestimmung des Ich, so wird das Nicht-Ich unendlich, reflektiert man auf das Nicht-Ich, wird das Ich unendlich. Ohne sich näher zu erklären, sieht Fichte darin den Grund für Kants Antinomien-Problematik, der sogleich einer näheren Betrachtung unterzogen wird. XI. Der Kreislauf von Fichtes Reflexion schließt sich mit dem Ich und unter dem Hinweis, dass in letzter Instanz alle Bestimmungen des Nicht-Ich nichts anderes als Bestimmungen des Ich im Bewusstsein sind. Im Abschnitt X bestimmt Fichte den höheren Widerstreit von Ich und NichtIch auf folgende Weise: „Das Ich ist in der Selbstbestimmung so eben, als bestimmend und bestimmt zugleich, betrachtet worden. Wird vermittelst der gegenwärtigen höhern Bestimmung darauf reflektirt, daß das, das schlechthin bestimmte bestimmende ein schlechthin unbestimmtes seyn müsse; ferner darauf, daß das Ich und Nicht-Ich schlechthin entgegengesezt sind, so ist, wenn das Ich als bestimmt betrachtet wird, das bestimmende unbestimmte das Nicht-

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Ich; und im Gegentheil, wenn das Ich als bestimmend betrachtet wird, ist es selbst das unbestimmte, und das durch dasselbe bestimmte ist das Nicht-Ich“.53

Während in der konkreten Anschauung der nicht-ichliche Sachverhalt und das tätige Ich in eine Wechselbestimmung zueinander eintreten, und so durch Gegensatz und Verbindung in einem ewigen Schweben Anschauungen erzeugt werden, ist es auf der höheren Ebene der Abstraktion der Vorstellung so, dass sich nur mehr die reinen Ideen vom Ich und vom Nicht-Ich gegenüberstehen. Die reine Idee des Ich ist das absolute Ich, das als Tathandlung am Beginn der Grundlage stand, das nun aber als Reflektiertes und als Reflektierbares auf höherer Ebene eingeholt ist. Das Wesen des reinen Ich ist aber Vernunft, wie die Deduktion der Vorstellung herausgearbeitet hat. Das Nicht-Ich als „Nicht-Ich überhaupt“ wird im folgenden Absatz ein wenig näher spezifiziert, nämlich als „Universum“. Bald wird, so Fichte, auf das eine, bald auf das andere reflektiert, das Reflektierende bleibt dabei unbestimmt, das Reflektierte wird bestimmt. Darin entdeckt Fichte einen Widerstreit, der wiederum einem ewigen Wechsel anheimgestellt ist, wie das Schweben der Einbildungskraft in der Anschauung. Im Weiteren sieht er sich zur Behauptung veranlasst, in dieser Struktur spiegle sich das von Kant aufgestellt Problem der Antinomien. In Fichtes Worten: „Reflektirt das Ich auf sich selbst, und bestimmt sich dadurch, so ist das Nicht-Ich unendlich und unbegränzt. Reflektirt dagegen das Ich auf das Nicht-Ich überhaupt (auf das Universum) und bestimmt es dadurch, so ist es selbst unendlich. In der Vorstellung stehen demnach Ich und Nicht-Ich in Wechselwirkung; ist das eine endlich, so ist das andere unendlich; und umgekehrt; eins von beiden ist aber immer unendlich. – (Hier liegt der Grund der von Kant aufgestellten Antinomien.)“54

Fichte verweist erst hier explizit auf Kants Antinomien. Im Vorausgehenden wurde herausgearbeitet und mithin die These untermauert, dass die Konstruktion der Anschauung, die durch die Tätigkeit der Einbildungskraft konstituiert wird, bereits eine Vereinigung von Freiheit und Kausalität vollzieht, denn jede Anschauung konstituiert sich aus Spontaneitätsleistungen des freien Ich und aus kausal affizierenden Bestimmungen durch das Nicht-Ich. So ist Fichte zufolge bereits jede Anschauung und jede weitere Vorstellung eine Vereinigung der widerstreitenden Gegensätze von sinnlicher Natur und frei wirkender Spontaneität, wie sie paradigmatisch durch das Problem der Antinomie der Freiheit zur Darstellung gelangte. Nun aber behauptet Fichte, dass auf der Ebene abstrakter Vorstellungen das 53 J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 383f. (= SW I, 245). 54 J.G. Fichte: Grundlage, GA I/2, 384 (= SW I, 245f.). Zur unterschiedlichen Bedeutung des Begriffs der Antinomie bei Kant und Fichte vgl. auch Manfred Baum: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft, Königstein/Taunus 1986, 49.

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reine Ich und das reine Nicht-Ich als Repräsentanten kosmologischer Ideen in einen Widerstreit geraten. Fichte sieht sich hier nicht auf die Antinomie der Freiheit restringiert. In der bisherigen Argumentation zeigte sich, dass Fichte überhaupt nicht an der Frage nach den Gründen des Entstehens von Antinomien und dem damit verbundenen transzendentalen Schein interessiert ist. Gleichwohl ist es Fichte schon sehr früh wichtig, mit der Wissenschaftslehre das Problem des Dings an sich zu lösen und zu umgehen. Erinnert sei daran, dass Kant den Schein der Antinomien dem zuschreibt, dass in kosmologischen Fragen über die Totalität von Dingen an sich geurteilt werde, wo doch nur die subjektiven Vorstellungen des Menschen einer Beurteilung zugänglich sind. Noch einmal in Kants Worten: „So wird demnach die Antinomie der reinen Vernunft bei ihren kosmologischen Ideen gehoben, dadurch, daß gezeigt wird, sie sei bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, daß man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung, und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im sukzessiven Regressus, sonst aber gar nicht existieren.“55

Hierauf beruft sich Fichte offenkundig, wenn er an der eben zitierten Stelle auf Kants Antinomien verweist. Anschauungen, aber auch Vorstellungen höherer, komplexerer oder abstrakterer Form verbinden je schon kausalmechanische Impulse der sinnlichen Natur des tätigen Denkorgans mit der Arbeit des Begriffs und des Denkens. Dies ist ein wichtiges Ergebnis von Fichtes Aufweis der verbindenden wie trennenden Funktion des Schwebens der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren, wie er sagt. Während sich Kant auf den historischen Streit der Positionen, also des Empirismus oder Naturalismus sowie des Rationalismus oder Mentalismus bezieht, und es seine entscheidende Leistung ist, diesen Streit der Philosophen durch seinen Vorschlag eines Kompatibilismus zu schlichten, setzt Fichtes Auseinandersetzung mit dem Thema zwar einerseits auch historisch an, da er Realismus und Idealismus im Gang seiner Synthesis als Opponenten behandelt, in deren Mitte er sich mit Kant als kritischer Idealist situiert. Zugleich aber argumentiert er vermögenstheoretisch hinsichtlich der Phänomenologie des Bewusstseins. Das Faktum des Gelingens der Konstitution von Anschauungen, Vorstellungen, Ideen lässt sich ausweisen als ein Vorgang, der immer schon sinnlich naturale Affektionen mit mentalen Vorgängen der Begriffserzeugung verbindet. Fichte bleibt zumeist in der Grundlage auf der Ebene der Darstellung der Bewusstseinsaktivitäten, gilt es doch, das System des Geistes zur Darstellung zu bringen. Er deduziert einige der Kategorien, die Kant als Grundprinzipien seiner Erkenntnistheorie in der Kritik der 55 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 506/B 534.

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reinen Vernunft zur Darstellung gebracht hat, aus dem Ich als grundlegende Formen des ichlichen und mit dem Nicht-Ich interagierenden Bewusstseins. Im Falle des Widerstreits von Natur und vernünftiger Spontaneität vollzieht Fichte einen Schritt, der über die bewusstseinsinternen Aktivitäten hinausgeht. Er spiegelt den Widerstreit des zur Abstraktion gelangten Ich und Nicht-Ich in Kants kosmologischen Ideen, ohne diese freilich näher zur Ausführung zu bringen. Für Kant, so lässt sich resümieren, besteht der Konflikt der in den Blick genommenen Antinomien in der Missachtung des jeweils durch den Verstand oder die Vernunft gegebenen Umfangs und der Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten. Fichtes Analyse deutet darauf hin, dass er den Problembestand des antinomischen Widerstreits zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich wie die Kategorien in die Bewusstseinsaktivitäten zurückverlegt, um ihn dann mit dem Ende der Deduktion der Vorstellung in der Form des ursprünglichen kantischen Problems nochmals aufzunehmen und kurz anzutippen. Es fragt sich freilich, ob er Kants Antinomienlehre trotz der gänzlich anderen Sprache tatsächlich angemessen erfasst hat, oder ob er sie nicht vielmehr verfehlt hat. Offenkundig ist, dass der Widerstreit zweier Gesetze und Kants Problem des transzendentalen Scheins, der sich der Vernunft aufdrängt, weil sie bald dem sinnlich orientierten Verstandesdenken folgt, bald dem auf Prinzipien und auf Vereinheitlichung abzielenden Vernunftdenken Gehör verschafft, von Fichte allzu lakonisch herabgespielt wird. Es gibt wenige Kontexte, in denen Fichte das Problem nochmals aufgreift. Man möchte gerne wissen, welche Antinomien Fichte hier in der Deduktion der Vorstellung genauerhin im Blick hat. Offenkundig sind Kants Antinomien insgesamt betroffen, auch wenn die Antinomie der Freiheit insgeheim der Hintergrund ist, von dem her sich Fichte die Dialektik des Schwebens der Einbildungskraft durchsichtig gemacht hat. Fichte kann sich darauf berufen, dass er mit der Konstruktion des Schwebens der Einbildungskraft gezeigt hat, dass es im Schweben ein Zusammenhalten der realistisch empiristischen Kausalreihe und der rationalistisch idealistischen Substanzialität, also ein Zusammenhalten zweier scheinbar antagonistischer Gesetze und Gegensätze gibt. Das Zusammenhalten ist nicht von Bestand, aber ebenso wenig hat der scheinbar radikale Gegensatz Bestand. Da nun Fichte gezielt darauf verzichtet, die Kategorien in Abhängigkeit sinnlicher Raum-Zeit-Formen zu entwickeln, und sie vielmehr als intellektuale Synthesisformen zur Darstellung bringt, so tritt das Antinomienproblem im Hinblick auf den von Fichte gewählten konstruktiven Zugriff als ein einseitiges Hinsehen auf die kausale oder die substanziale Synthesis hervor. Der transzendentale Schein wäre dann ein solcher, der sich aufdrängt, wenn der Wechsel und die Wechselgemeinschaft nicht als Wesenszug des menschlichen Geistes anerkannt werden. Fichte demonstriert mit der Konstruktion der Anschauung die Wechselge-

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meinschaft der Relationen der Kausalität und Substanzialität, die sich als eine bestimmte Form der sich selbst manifestierenden Freiheit auf der Grundlage produktiver Einbildungskraft darstellt. In der Deduktion der Vorstellung, in der der knappe Hinweis auf die Antinomien explizit ist, wird die dialektische Wechselgemeinschaft auf eine abstraktere Form der Reflexion gehoben. Die Vorstellung, so zeigt sich, ist für Fichte eine durch Reflexion gewonnene Abstraktion des Geistes von der ursprünglicher sich manifestierenden Anschauung. Das Problem der Antinomien dadurch zu tilgen, dass an die reife Vernunft die Forderung ergeht, ein ausdrückliches Bewusstsein von der dialektischen Wechselgemeinschaft einer kausalen Ordnung und einer normativ substanzialen Wesensordnung auszubilden, ist ein bemerkenswerter und wichtiger Zug des Ansatzes der Wissenschaftslehre. Das Problem der Freiheitsantinomie, wie Kant sie formuliert hat, ist gleichwohl bis heute präsent, da auch heute noch ernsthaft darüber diskutiert wird, ob die Neurowissenschaften mit ihrem rasanten Erkenntniszuwachs die Frage nach der menschlichen Freiheit ad absurdum führen können.56

Fichte über eine Antinomie der Offenbarung und eine Antinomie des Raumes In der frühen Schrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung, die zunächst anonym bei Kants Verleger Hartung erschien, nimmt Fichte Bezug auf Kants Antinomienlehre, ohne Kant explizit zu nennen. Im letzten der insgesamt 15 Paragraphen der Schrift fasst Fichte seinen vorausgehenden Argumentationsgang zusammen. Er betont, dass es unleugbare empirische Formen des Glaubens an eine Offenbarung Gottes gibt, die zugleich einem Bedürfnis des Menschen entsprechen. Gleichwohl lässt sich der Offenbarungsglaube nicht theoretisch beweisen. Nur Willkür vermag Erscheinungen zu bestimmen, die die Offenbarungen Gottes ausweisen. In dieser Perspektive fasst Fichte gegen Ende des § 13 zusammen: „Durch diese Critik wird nun die Möglichkeit einer Offenbarung an sich, und die Möglichkeit eines Glaubens an eine bestimmte gegebne insbesondre, wenn dieselbe nur vorher vor dem Richterstuhle ihrer besondern Critik bewährt gefunden, völlig gesichert, alle Einwendungen dagegen auf immer zur Ruhe verwiesen, und aller Streit darüber auf ewige Zeiten beygelegt*“ 56 So hat Joachim Bauer in seiner Schrift Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München 2006, in überzeugender Weise gezeigt, dass die genetische Forschung die Frage nach dem freien Willen mitnichten aufhebt, weil es eine Frage der Hinsicht ist, ob ein Problem primär genetisch somatisch oder psychisch mentalistisch untersucht und behandelt werden muss. Vgl. bes. 155–164.

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Mit dem Asteriskus wird auf eine Anmerkung verwiesen, in der Fichte erläutert: „Dieser Streit gründet sich auf eine Antinomie des Offenbarungsbegriffs, und ist völlig dialectisch. Anerkennung einer Offenbarung ist nicht möglich, sagt der eine Theil; Anerkennung einer Offenbarung ist möglich, sagt der zweyte: und so ausgedrückt widersprechen sich beide Sätze geradezu. Wenn aber der erste so bestimmt wird: Anerkennung einer Offenbarung aus theoretischen Gründen ist unmöglich; und der zweyte: Anerkennung einer Offenbarung um einer Bestimmung des Begehrungsvermögens willen, d. i. ein Glaube an Offenbarung, ist möglich; so widersprechen sie sich nicht, sondern können beide wahr seyn, und sind es beide, laut unsrer Critik.“57

Im Gegensatz zu dem, was Fichte hier vorführt, kennt Kant in seinem Werk keine Antinomie der Offenbarung.58 Doch die Behauptung, die „Antinomie des Offenbarungsbegriffs […] ist völlig dialectisch“, verweist bereits auf eine gute Bekanntschaft mit Kants Antinomienlehre in der Kritik der reinen Vernunft, denn Kant spricht seinerseits davon, dass „die Antinomie der reinen Vernunft […] bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins“ sei.59 Gleichwohl hat Fichte sich mit dieser Argumentation eines dialektischen Widerstreits Kants Systematik der Freiheitsantinomie und ihre Bedeutung für die praktische Philosophie sowie die der Vierten Antinomie, die danach fragt, ob zur Welt ein schlechthin notwendiges Wesen gehört oder nicht, zunutze gemacht. Kant zeigt mit Blick auf die Dritte Antinomie, dass Freiheit theoretisch nicht zu beweisen ist, gleichwohl aber in moralisch praktischer Hinsicht notwendig angenommen werden muss. Fichte untersucht, ob die Offenbarung von Gott anerkannt werden kann oder nicht. Das zeigt eine gewisse Verwandtschaft zu Kants Vierter Antinomie, ohne mit ihr identisch zu sein. Fichtes Antwort folgt offensichtlich bereits hier Kants Auflösungsstrategien. Fichte hält die Anerkennung der Offenbarung aus theoretischen Gründen für unmöglich, während sie als Bestimmung des Begehrungsvermögens, also desjenigen Vermögens, das moralisch praktisches Handeln bestimmt, nicht abgewiesen werden kann. Schon hier zeigt sich, das Fichte vor allem an Kants Überlegung interessiert ist, nach der gemäß der Auflösung der Freiheitsantinomie Kausalität der Natur und Kausalität der Vernunft sowie gemäß der Vierten Antinomie Zufall und Notwendigkeit nebeneinander bestehen können, obwohl Kant in den Beweisen der These und der Antithese Argu57 J.G. Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1793), GA I/1, 115 (= SW V, 161f.). 58 Immanuel Hermann Fichte will zufolge seiner Einleitung in der von ihm herausgegebenen Ausgabe der Werke Fichtes in Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft eine Antinomie der Offenbarung entdeckt haben, ohne dafür genaue Belege anzugeben. Vgl. Immanuel Hermann Fichte: Vorrede des Herausgebers, in: J.G. Fichte: Zur Religionsphilosophie, SW V, XV–XVII. 59 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 506/B 534.

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mente dafür aufzubringen suchte, dass sie sich jeweils wechselseitig ausschließen. Bemerkenswert ist, dass Fichte auch in seiner Wissenschaftslehre von 1812 noch einmal auf Kants Antinomien zu sprechen kommt, in einer Formulierung, die derjenigen Stelle der Grundlage von 1794 nicht unähnlich ist. Fichte schreibt in der Wissenschaftslehre 1812: „Es ist wesentlich, theils zum gegenwärtigen Verständnisse, theils für die Folge, diese Möglichkeit der Begrenzbarkeit überhaupt, und dieselbe Möglichkeit der Begrenzbarkeit in Beziehung auf die Wirklichkeit, scharf zu unterscheiden. Offenbar ist die leztere, was die Beziehung auf die Wirklichkeit überhaupt ausdrükt, Begrenzbarkeit nicht durch das Ich, also bei positiver Anwendung des Grundes [,] durch das Nicht-Ich. Dagegen wäre die erste eine Begrenzbarkeit durch das Ich selbst. Wie dieselbe, die doch auf eine Begrenzung auf die Begrenzbarkeit voraussezt, faktisch möglich sey, da wir eben die Unmöglichkeit ohne irgend eine Be[ding]ung gezeigt haben, möchte hier nicht der Ort seyn zu beantworten (davon versprechen wir uns grade andere wichtige Resultate)[,] wohl aber ist es leicht zu zeigen, worin sie besteht. Um ein Bild von der Möglichkeit eines Bildens überhaupt zu fassen, was ja die Einbildungskraft schlechthin können soll, muß sie sich begrenzen eben auf ein Bilden der Grenze oder der Begrenzbarkeit überhaupt – . Resultat: die Begrenzbarkeit durch das Nicht-Ich innerhalb der faktischen Anschauung ist schlechthin eine geschloßene, und vollendete; drum auch die ganze faktische Welt. (Denn das einzelne ist nur bestimmt durch ein geschloßnes Ganzes. Die Welt ist ein geschloßnes Ganzes). Dagegen ist die Begrenzbarkeit durch das Ich, in freier Einbildungskraft eine unendliche. Der Raum z. B. ist unendlich. Vergl. Kants Antinomien, die hier ihren Aufschluß bekommen, u. weiter bekommen werden.“60

Dieser Kontext lässt erkennen, dass Fichte hier Kants Erste Antinomie und die Frage der Begrenztheit oder Unbegrenztheit der Anschauung (im Raum) vor Augen stehen. Auch hier ist es die Einbildungskraft, die die Vorstellungen generiert. Dass Kant die Erste (und Zweite) Antinomie als nicht auflösbar und nicht entscheidbar einstufte, scheint Fichte hier wenig zu bekümmern, hat er sich doch schon 1790 zum Ziel gesetzt, dem tieferen Grund dessen nachzugehen und es aufzudecken, was Kant quasi durch einen Genius zugeflogen ist. Auch Hegel behandelt die Erste und die Zweite Antinomie Kants im Ersten Buch der Wissenschaft der Logik, Das Sein so, als sei Kants Diktum der Unauflösbarkeit längst ein Gegenstand der Vergangenheit.61 So wäre es sicher nicht ohne Reiz, Fichte und Hegel in dieser Frage in ein wenigstens virtuelles Gespräch zu bringen, zumal beide Textzeugnisse aus dem Jahr 1812 stammen, das von Hegel als öffentlich zugäng60 J.G. Fichte: Wissenschaftslehre (1812), GA II/13, 157f. (= SW X, 463f.). 61 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Das Sein (1812), in: ders.: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (bzw. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste), Hamburg 1968ff., Bd. 11, 114f. und 147–150.

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Violetta L. Waibel

licher Band, das von Fichte als Vorlesungsniederschrift. Den Seitenblick auf die von Fichte vorgesehene parallele Struktur einer Antinomie der Offenbarung und einer Antinomie des Raumes mit der der Freiheit gilt es nun zum Ausgangsthema zurückzuwenden.

Stufenmodell der Freiheit? Im eingangs erwähnten Band von Christian Geyer über Hirnforschung und Willensfreiheit findet sich ein Beitrag von Otfried Höffe, in dem dieser bemerkenswerterweise eine Stufentheorie der Freiheit bei Kant aufzeigt, die wohl Fichte, aber nicht Kant selbst so vorgesehen hat. Höffe kontert gegen die Leugner der Freiheit: Der entlarvende Ruck. Was sagt Kant den Hirnforschern?62 Auch Höffe verweist auf das Lehrstück der Dritten Antinomie der Freiheit, nach der Kant sowohl einen geschlossenen Determinismus der Naturkausalität zulässt, als auch Freiheit als Denkmöglichkeit, auch wenn sie nicht theoretisch beweisbar ist. Höffe weist zurecht darauf hin, dass die Experimentsituationen der Hirnforschung auf Kurzzeitimpulse gehen (Libet-Experimente), während Entscheidungen in Wahrheit oft sehr viel langfristiger erzeugt werden. Über die elementare Art von Freiheit, dies oder jenes zu tun, sich zu entscheiden, verfügen, so Höffe, bereits Kinder, ja auch Tiere und Pflanzen. Eine höhere Stufe sieht Höffe in der zweckrationalen Orientierung und Entscheidung. Die dritte und höchste Stufe identifiziert Höffe mit der vollen Autonomie des Willens, mit der sich der Mensch als ein sittliches Wesen zu erkennen gibt und nach der Idee des Guten handelt. Die Klärung der Frage, ob diese Formen der Freiheit, des Handelns im Horizont des Sittlich-Guten, der Pflicht und des Sollens experimentell erfassbar sind, ist eine offene Aufgabe. Höffe hat damit in ähnlicher Weise drei Stufen der Freiheit bei Kant namhaft gemacht, wie sie auch Fichte in seinem System der Sittenlehre vorsieht, das hier in aller Kürze skizziert werden soll. Fichte entwickelt im System der Sittenlehre von 1798 explizit ein bemerkenswertes Stufenmodell der sich höher potenzierenden Möglichkeiten der Freiheit des menschlichen Geistes. Dieses Modell zeigt noch einmal, wie unerschrocken Fichte den Begriff der Freiheit expliziert verglichen mit Kants vorsichtigen Schritten, die ihn dazu leiten, erst mit der Autonomie der Vernunft einen objektiven, moralisch praktischen Sinn von menschlicher Freiheit etablieren zu können. Die drei Schritte zeichnen sich ab als begriffliches Denken, das eine erste Ablösung vom Naturzusammenhang bedeutet. Dem folgt intentionales Handeln, durch das die durch Nachdenken und Planen gewonnenen Einsichten 62 Otfried Höffe: Der entlarvende Ruck. Was sagt Kant den Hirnforschern?, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, hg. v. C. Geyer, 177–182.

Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit. Was bleibt?

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auf der Basis begrifflichen Denkens handlungsleitend werden, oder werden können. Die dritte und höchste Stufe ist mit der Autonomie der moralisch praktischen Vernunft erreicht. Ein zusammenfassender Überblick dieser Stufen der Freiheit, die, einmal gewonnen, auch wieder verloren gehen können, also erst durch einen fortwährenden Prozess realisiert werden können, sieht folgende Überlegungen vor.63 Die einfachste Erscheinungsform der Freiheit ist Fichte zufolge diejenige Form der Freiheit als Spontaneität, die begriffliches Denken möglich macht. Begriffliches Denken löst die Vorstellung von der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung und Anschauung der Dinge. Begriffliches Denken erlaubt Negation, mithin die Vorstellung von Dingen in Abwesenheit ihrer unmittelbaren Präsenz. Fichte nennt dies explizit eine formale Freiheit, die er als Kausalität des Subjekts neben die Kausalität der Natur stellt, und betont: „Was auf den Trieb folgt, wirkt nicht die Natur, denn sie ist mit Erzeugung des Triebes erschöpft; ich wirke es, zwar mit einer Kraft, die von der Natur abstammt, die aber doch nicht mehr ihre, sondern meine Kraft ist, weil sie unter die Botmäßigkeit eines über alle Natur hinausliegenden Princips, unter die des Begriffs, gefallen ist. Wir wollen die Freiheit in dieser Rücksicht nennen die formale Freiheit. Was ich nur mit Bewußtseyn thue, thue ich mit dieser Freiheit. Es könnte demnach jemand dem Naturtriebe ohne Ausnahme folgen, und er wäre, wenn er nur mit Bewußtseyn, und nicht mechanisch handelte, dennoch frei in dieser Bedeutung des Wortes; denn nicht der Naturtrieb, sondern sein Bewußtseyn des Naturtriebes wäre der letzte Grund seines Handelns.“64

Die Transparenz des Begriffes für ein Bewusstsein ist es demzufolge, die dem Menschen eine Form der Freiheit gewährt, die dem Naturmechanismus nicht zu eigen ist. Das denkende Wesen weiß auf dieser Stufe, was es tut, selbst dann, wenn es nicht gezielt in den Ablauf von Handlungen eingreift. Dieser Begriff einer formalen Freiheit erschöpft mitnichten den Begriff der Freiheit, den Fichte als den eigentlichen und wesentlichen Begriff der Freiheit versteht. Eine höhere Stufe der Freiheit liegt nach dem System der Sittenlehre dann vor, wenn das Subjekt nicht nur frei in dem Sinne ist, dass es über Begriffe und Sprache verfügt und diese mit einem wachen Selbstbewusstsein begleitet, sondern, wie Fichte sagt, wenn es sich als frei setzt. Damit ist die diejenige Spontaneität bezeichnet, die einen gewollten Einsatz intentionalen Wollens möglich macht. Auf dieser Stufe der Freiheit weiß sich ein Subjekt als zielsetzende Kausalität, es weiß sich als bestimmendes und selbstbestimmendes Wesen, als Ich63 Vgl. hierzu ausführlicher Violetta L. Waibel: Der „Rechtsbegriff = die Denknothwendigkeit aller als frei“. Fichtes Modell der Erziehung zu Freiheit und Recht, in: Das Recht als Form der ,Gemeinschaft freier Wesen als solcher‘. Fichtes Rechtsphilosophie in ihren aktuellen Bezügen (Reihe Begriff und Konkretion), Bd. 1, hg. v. Thomas Sören Hoffmann, Berlin 2014, 257–283. 64 J.G. Fichte: System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), GA I/5, 19–315, hier: § 10, 129 (= SW IV, 135).

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Violetta L. Waibel

lichkeit. Fichte nennt dies die Freiheit um willen einer neuen Handlungsreihe durch Freiheit und grenzt sie mithin als materiale im Unterschied zur formalen Freiheit ab. „Die erstere [die formale Freiheit] besteht lediglich darin, daß ein neues formales Princip, eine neue Kraft eintritt, ohne daß das Materiale in der Reihe der Wirkungen sich im mindesten ändere. Die Natur handelt nun nicht mehr, sondern das freie Wesen; aber das letztere bewirkt gerade dasselbe, was die erstere bewirkt haben würde, wenn sie noch handeln könnte. Die Freiheit in der zweiten Rücksicht besteht darin, daß nicht nur eine neue Kraft, sondern auch eine ganz neue Reihe der Handlungen ihrem Inhalte nach eintrete. Nicht nur die Intelligenz wirkt von nun an, sondern sie wirkt auch etwas anderes, als die Natur je bewirkt haben würde.“65

Sofern gilt, dass, wenn das freie Wesen handelt, wie die Natur handeln würde, wäre sie Subjektivität, es sich um die formale Freiheit handelt, die begriffliches Denken und nicht mehr ist, und die Fichte hier nochmals anführt, um dagegen die materiale Freiheit zu profilieren. Während im Zustand der formalen Freiheit die Natur der Akteur ist, übernimmt diese Rolle das Subjekt, sobald es sich zur materialen Freiheit erhebt. Das Handeln wird nicht mehr durch Begriffe begleitet, sondern es liegen Zwecke und Ziele des Subjekts vor, die das Subjekt entwirft und die den Grund und die Ursachen von Handlungen bilden. Neben den beiden Stufen der formalen und der materialen Freiheit unterscheidet Fichte noch eine dritte Stufe. Diese dritte Stufe der Freiheit im System der Sittenlehre von 1798 ist die der Realisierung des Sittengesetzes, die Erlangung der vollen moralischen Autonomie. Mit Fichtes Begründung der Sittlichkeit als einer „Freiheit – um der Freiheit willen“66 verbindet sich die Erfüllung der Sittlichkeit als dem absoluten Endzweck der Menschheit. Der Endzweck des Sittengesetzes aber ist „absolute Unabhängigkeit, und Selbstständigkeit, nicht etwa bloß in Absicht unsers Willens, denn dieser ist immer unabhängig, sondern in Absicht unsers ganzen Seyns“.67 Die konstatierte Unabhängigkeit des Willens, die sich mit dem ganzen Sein eines Subjekts verbindet, bedeutet offenkundig ein moralisches Handeln in seinem vollen Sinn. Für Fichte wie für die kritische Perspektive Kants gibt es in letzter Konsequenz kein Antinomienproblem, da die Notwendigkeit, Kausalität und Freiheit vereinbar zu denken, hier wie dort Lösungen gefunden hat. Freiheit ist ein vielschichtiges Phänomen. Im Stufenmodell der Freiheit, das Höffe bei Kant sieht und in dem von Fichte, gälte es, die jeweiligen Interaktionen von Freiheit und Notwendigkeit genauer zu analysieren, um noumenale Freiheit noch genauer im Verhältnis zur Sinnlichkeit zu verstehen. 65 J.G. Fichte: System der Sittenlehre, GA I/5, § 10, 132 (= SW IV, 139). 66 J.G. Fichte: System der Sittenlehre, GA I/5, § 13, 143 (= SW IV, 153). 67 J.G. Fichte: System der Sittenlehre, GA I/5, § 17, 191 (= SW IV, 209).

Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit. Was bleibt?

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Hört man auf die Einwände von Brigitte Falkenburg, die mit ihrem 2012 erschienenen Buch über den Mythos Determinismus die Frage stellt: Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?,68 so sind die erkenntnistheoretischen Modelle der Hirnforschung in veralteten deterministischen Kausalerklärungen verhaftet. So darf mit Spannung darauf gesehen werden, wie das, was Kant als Antinomie von Freiheit und Kausalität entwickelt hat, erneut aufgegriffen werden wird und vielleicht eine aus heutiger Perspektive zeitgemäßere, elegantere Lösung finden kann. Ich denke, Fichte hat etwas Wichtiges dazu beigetragen, das Nebeneinanderbestehen von Naturkausalität und Spontaneität als Kausalität eines Ich zu deuten, das von den sinnlichen Anschauungen bis zu den hochabstrakten Ideen der Vernunft wirksam ist. Widerstreit und Zusammenbestehen der beiden Prinzipien nehmen über viele Stufen hinweg vielerlei Formen an, bis sie sich schließlich in den reinen Formen von Natur und Vernunft begegnen. Dies gälte es mit und über Kant und Fichte hinaus genauer auszudifferenzieren, um einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit eine Alternative entgegenzusetzen.69 Neuerdings wird immerhin die gesellschaftliche Dringlichkeit der Wiederentdeckung des freien Willens propagiert, wie auch immer seine philosophische Explikation, mit Kant, mit Fichte, und über beide hinaus, aussehen mag.70

68 Brigitte Falkenburg: Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?, Berlin/ Heidelberg 2012. 69 Vgl. Michael Pauen/Gerhard Roth: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt/M. 2008. 70 Vgl. Joachim Bauer : Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willen, München 2015.

Christian Danz

Freiheit als Autonomie. Anmerkungen zur Fichte-Rezeption Paul Tillichs im Anschluss an Fritz Medicus

Anlässlich der Gedächtnisfeier zum einhundertsten Todestag Friedrich Wilhelm Joseph Schellings hielt Paul Tillich am 26. September 1954 in Stuttgart auf dem vierten Kongress der Allgemeine[n] Gesellschaft für Philosophie in Deutschland den Festvortrag Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes.1 Gleich zu Beginn seiner Rede führt er seinen Hörern die Bedeutung Schellings für sein eigenes Denken vor Augen: „Er war mein Lehrer obgleich die Anfänge meines Studiums und das Jahr seines Todes genau 50 Jahre auseinander liegen; niemals in der Entwicklung meines eigenen Denkens habe ich die Abhängigkeit von Schelling vergessen. […] Meine Arbeit an den Problemen der systematischen Theologie wäre undenkbar ohne ihn.“ (MW I, 392)

Die Philosophie Schellings spielt in der Tat eine grundlegende Rolle für die Formierung der Theologie Tillichs. Ihr widmete er zwei Dissertationen.2 Wenn es im Folgenden um die Fichte-Rezeption des Theologen gehen wird, dann soll dieses Bild auch gar nicht bestritten werden. Gleichwohl führte der Weg Tillichs zu Schelling über „,Medicus‘-Fichte“,3 und er ist entscheidend mit seinem viersemestrigen Studienaufenthalt an der Theologischen Fakultät der Universität Halle zwischen 1905 und 1907 verknüpft. Über seine Hallenser Zeit bemerkt er fast vierzig Jahre später in einem Brief an Thomas Mann, sie sei „der größte 1 Paul Tillich: Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes, in: ders.: Main Works/Hauptwerke, hg. v. Carl Heinz Ratschow, 6 Bde., Berlin/New York 1987–1998, Bd. I, 391–402. Im Folgenden zitiert als MW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 2 Paul Tillich: Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: ders.: Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. v. Ingeborg Henel u. a., bisher 18 Bde., Stuttgart, dann Berlin 1971ff., Bd. IX, 156–272. Im Folgenden zitiert als EW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen; Paul Tillich: Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Renate Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959–1975, Bd. I, 13–108. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 3 So der Ausdruck von Friedrich Büchsel in einem Brief aus dem Jahre 1907 an seinen Freund Tillich. Friedrich Büchsel an Paul Tillich, 12. Oktober 1907, EW VI, 14–20, hier : 15.

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Christian Danz

Abschnitt meines Lebens“ (GW XIII, 26) gewesen. Auch der Vortrag von 1954 kommt hierauf zu sprechen. Die Analysen seines „hochverehrten Lehrers und Führers zu Fichte und Schelling, Fritz Medicus“ (MW I, 395) hätten ihn in den Deutschen Idealismus eingeführt.4 Die Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes sowie die Bedeutung von dessen Philosophie für die Genese des theologischen Denkens von Tillich ist von der Forschung bislang kaum untersucht worden.5 Die in den letzten Jahren aus dem Nachlass publizierten Texte, eine Seminararbeit aus dem Jahre 1906 mit dem Titel Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium6 sowie der Breslauer Promotionsvortrag Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte von 1910,7 machen allerdings deutlich, dass Tillichs Zugang zum Deutschen Idealismus durch die Philosophie Fichtes in der Deutung von Fritz Medicus vermittelt ist. Dieses Bild bestätigt auch die Examensarbeit von 1908 Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion?8 sowie der Briefwechsel Tillichs mit Friedrich Büchsel und der kaum bekannte Artikel Wissen und Meinen anlässlich des 150. Geburtstages Fichtes 1912.9 „Die Notwendigkeit, über Kant hinauszugehen“, so der programmatische Auftakt der Monismusschrift, zeige sich als „eine Notwendigkeit, in der Richtung auf Fichte hinzugehen“ (EW IX, 28). Der junge Theologe knüpft mit diesem Programm, wie andere seiner Zeitgenossen, ich erinnere nur an Emanuel Hirsch, Friedrich Gogarten oder Emil Lask, an die Idealismusrenaissance um 1900 an. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war Tillichs 4 Vgl. auch Paul Tillich: Auf der Grenze, GW XII, 13–57, hier : 31: „Mein philosophischer Lehrer wurde der damalige Hallenser Privatdozent und spätere Züricher Professor Fritz Medicus. Seine Schriften über Fichte gaben den Anstoß zu der Fichterenaissance im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, die sich bald zu einer Renaissance des deutschen Idealismus überhaupt erweiterte.“ 5 Vgl. Georg Neugebauer : Freiheit als philosophisches Prinzip – Die Fichte-Interpretation des frühen Tillich, in: Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge des sechsten internationalen Kongresses der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft in Halle (Saale) vom 3.–7. Oktober 2006, Bd. II (= Fichte-Studien, Vol. 36), hg. v. Jürgen Stolzenberg/Oliver-Pierre Rudolph, Amsterdam/New York 2012, 181–198; Christian Danz: Theologischer Neuidealismus. Zur Rezeption der Geschichtsphilosophie Fichtes bei Friedrich Gogarten, Paul Tillich und Emanuel Hirsch, in: Wissen, Freiheit, Geschichte, hg. v. J. Stolzenberg/O.-P. Rudolph, 199–215; Marc Boss: Au commencement la libert8. La religion de Kant r8invent8e par Fichte, Schelling et Tillich, Genf 2014, 341–363. 6 P. Tillich: Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium, EW IX, 4–19. 7 P. Tillich: Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte, EW X, 55–62. 8 Von der Examensarbeit sind zwei Versionen überliefert. P. Tillich: Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion?, EW IX, 28–93. 94–153. 9 Vgl. den Briefwechsel zwischen Paul Tillich und Friedrich Büchsel, EW VI, 14–27. 62–74. Paul Tillich: Wissen und Meinen. Zu Fichtes 150. Geburtstag am 12. Mai 1912, in: Neue Preußische Zeitung, Nr. 232 (1912), 2.

Freiheit als Autonomie. Anmerkungen zur Fichte-Rezeption

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Hallenser Lehrer und Förderer, der Privatdozent der Philosophie Fritz Medicus.10 Tillichs Beschäftigung mit der Philosophie Fichtes während seines Studiums, so die zu erläuternde These, stellt keineswegs eine Zwischenstation auf dem Weg zu Schelling dar. Vielmehr bilden sich in der Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftslehrer fundamentale Überzeugungen des jungen Theologen heraus, von denen her er die Philosophie Schellings in den Blick genommen hat und die für sein weiteres Werk grundlegend bleiben. Diese sind einmal das für die spätere Kulturtheologie konstitutive Form-Gehalt-Schema. Es stammt aus der Fichte-Deutung seines Lehrers Medicus.11 Zum anderen ist es der Gedanke der Autonomie. Die mit ihrer Entfaltung verbundenen gedanklichen Probleme werden von Tillich im Rückgriff auf die Philosophie Schellings gelöst. Dadurch erweitert sich der Freiheitsbegriff, so dass Freiheit im Sinne von Autonomie fortan dem fichteschen Begriff entspricht. Das Form-Gehalt-Schema muss im Folgenden auf sich beruhen. Ich wende mich der Fassung des Freiheitsbegriffs zu, den sich der junge Hallenser Theologe anhand seiner Beschäftigung mit der Philosophie Fichtes erarbeitet hat. Das wird in zwei Schritten geschehen. Zunächst ist die Aneignung Fichtes in der Seminararbeit von 1906 sowie in der zwei Jahre später verfassten Monismusschrift in den Blick zu nehmen. Sodann wird die Darstellung des fichteschen Freiheitsbegriffs in dem Breslauer Promotionsvortrag von 1910 zu rekonstruieren sein. Einzusetzen ist allerdings mit der Fichte-Deutung von Fritz Medicus. Sie repräsentiert den Horizont, in dem sich die Überlegungen des jungen Tillich bewegen.

10 Vgl. nur Fritz Medicus: J.G. Fichte. Dreizehn Vorlesungen gehalten an der Universität Halle, Berlin 1905; ders.: Art.: Neufichteanismus, in: RGG2, Bd. IV, Tübingen 1930, 498f. Zum bislang nicht untersuchten Verhältnis von Medicus und Tillich vgl. Friedrich Wilhelm Graf/ Alf Christophersen: Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: ZNThG 11 (2004), 52–78. 11 Vgl. F. Medicus: Fichte, 70f. 178f. Vor allem Ulrich Barth hat darauf hingewiesen, dass Tillich das Form-Gehalt-Schema aus der Fichte-Deutung von Medicus, insbesondere seiner Ausführungen zur Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 übernommen haben könnte. Vgl. Ulrich Barth: Religion und Sinn, in: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), hg. v. Christian Danz/Werner Schüßler Wien 2008, 197–213, bes. 210f. In einem Brief an Medicus vom 8. Dezember 1920 und 8. Januar 1921 unterzieht Tillich dessen Gebrauch des Form-Gehalt-Schemas in dem Aufsatz Naturforschung und Philosophie, der 1917/18 in der Zeitschrift Logos erschien, der Kritik. Vgl. Paul Tillich an Fritz Medicus, 8. Dezember 1920 und 8. Januar 1921, in: Die Korrespondenz zwischen Fritz Medicus und Paul Tillich, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf/Alf Christophersen, in: ZNThG 11 (2004), 126–147, hier: 129–131. Vgl. Fritz Medicus: Naturforschung und Philosophie, in: Logos 7 (1917/18), 247–261.

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1.

Christian Danz

Die Wissenschaftslehre als Überzeugungslehre, oder: Das Fichte-Bild von Fritz Medicus

Im Frühjahr 1905, ein Semester bevor der junge Tillich von Tübingen in die Stadt an der Saale wechselte, veröffentliche der Hallenser Privatdozent der Philosophie Fritz Medicus Vorlesungen, die er an der dortigen Universität gehalten hatte. Sie galten Johann Gottlieb Fichte. Neben der von dem Privatdozenten besorgten Neuedition der Werke des Wissenschaftslehrers gaben die genannten Vorlesungen einen wichtigen Anstoß für die um 1900 einsetzende Fichte-Renaissance.12 Medicus, der seine akademische Ausbildung im Neukantianismus erhalten hat, habilitierte sich 1901 mit einer Arbeit über Kants Philosophie der Geschichte bei Alois Riehl an der Universität Halle und lehrte an dieser bis zu seinem Wechsel an die ETH Zürich im Jahre 1911.13 Seine Rekonstruktion der Philosophie Fichtes, wie sie in der Abhandlung von 1905 vorliegt, kann im Folgenden nicht im Detail analysiert werden. Ich beschränke mich auf seine Grundthese, die Wissenschaftslehre sei Überzeugungslehre, sowie seine Deutung der späten Religionsphilosophie Fichtes aus Die Anweisung zum seligen Leben.14 Die Wissenschaftslehre, so die grundlegende These von Medicus, ist Überzeugungslehre.15 Darin liegt, wie bereits die einleitende erste Vorlesung deutlich macht, die Bedeutung Fichtes für die Gegenwart um 1900 und die Lösung ihrer Probleme. Seine eigene Zeit sieht der junge Privatdozent durch einen Relativismus bedroht. Dessen Überwindung, zu dem vor allem die Jugend bestimmt

12 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Werke. Auswahl in sechs Bänden, hg. v. Fritz Medicus, Leipzig 1910. In seinem Artikel Neufichteanismus, der 1930 in der zweiten Auflage des Nachschlagewerks Die Religion in Geschichte und Gegenwart erschien, führt Medicus selbst das um 1900 erwachte Interesse an Fichte auf Heinrich Rickerts Säkularbetrachtung zum Atheismusstreit um Fichte zurück. Vgl. F. Medicus: Art.: Neufichteanismus, 498f. Vgl. Heinrich Rickert: Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. Eine Säkularbetrachtung, Berlin 1899. 13 Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte, in: Kant-Studien 7 (1902), 1–22, 171–229. Vgl. auch den biographischen Überblick bei F.W. Graf/A. Christophersen: Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 60–68. Allerdings sind die von ihnen angegebenen Seitenangaben des zweiten Teils der in den Kant-Studien erschienenen erweiterten Fassung der Habilitationsschrift (vgl. F.W. Graf/A. Christophersen: Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 62, Anm. 32) im Sinne der oben angegeben Angaben zu korrigieren. Zu der Lehrtätigkeit von Medicus in Halle vgl. auch Georg Neugebauer : Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 146–148. 14 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre (1806), hg. v. Hansjürgen Verweyen, Hamburg 41994. 15 Vgl. F. Medicus: Fichte, 14: „Es kommt ganz allein darauf an, daß man sich überzeuge – überzeuge vom Wesen des Wissens – überzeuge vom Wesen des eigenen Ich.“

Freiheit als Autonomie. Anmerkungen zur Fichte-Rezeption

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sei,16 war indes bereits das Anliegen des Wissenschaftslehrers. Deshalb gehen, wie der Vortragende seinen Hörern und Lesern einschärft, „wir […] an Fichte heran, weil er ein Mann ist, der unserer Zeit und uns selbst etwas zu sagen hat“.17 Die Philosophie Fichtes bietet die Möglichkeit, die ,Krisis des Historismus‘ (Ernst Troeltsch) zu überwinden, da sie zum Aufbau einer reflexiven Überzeugung anleitet. Das hat, wie der Vortragende im Laufe der Vorlesung ausführt, geschichtsphilosophische Konsequenzen.18 Der späte Fichte konstruiert diese als „eine Geschichte des Bewußtseins“, die „ausdrücklich den Anspruch zurückweist, die empirische Herausbildung des Selbsbewußtseins in der Abfolge seiner psychogenetischen Hauptphasen zeigen zu wollen“.19 Die Geschichtsphilosophie wird also von der empirischen Geschichte abgelöst. Sie beschreibt den Weg des Selbstbewusstseins hin zu seiner Selbsterfassung. Die von Fichte genannten fünf Zeitalter haben die Funktion, die innere Geschichte des Bewusstseins zu strukturieren und sind somit „apriorische Schema“.20 Schon die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 führt den Gedanken „Ich bin meine Überzeugung“ aus.21 Ihr Prinzip ist das Ich als Tathandlung, und es hat ein Wissen um sich selbst.22 Die innere Struktur der Selbsterfassung des Ich in seinem Akt des Sich-Setzens rekonstruiert Medicus im Anschluss an die Begriffsschrift Fichtes mit der Unterscheidung von Form und Gehalt.23 Das „gewißheitsbegründende Moment“,24 also die Grundlage der Überzeugung ist der unbedingte Akt des Sich-Setzens des Ich. Von diesem Gehalt unterscheidet Medicus mit Fichte die Form. Sie sei „die Art, in der die Übertragung der Gewißheit von einem Satz auf den Anderen geschieht, die Art,

16 Vgl. F. Medicus: Fichte, 4: „Zwar ist es kein Zweifel, daß Fichte in der Gegenwart viel studiert wird, aber es ist vornehmlich die Jugend, die ihm mit etwas kongenialen Verständnis gegenübersteht“. 17 F. Medicus: Fichte, 11. 18 Zur Geschichtsphilosophie von Medicus vgl. auch Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte; ders.: Kant und Ranke. Eine Studie über die Anwendung der transzendentalen Methode auf die historischen Wissenschaften, in: Kant-Studien 8 (1904), 129–192. 19 F. Medicus: Fichte, 220. 20 F. Medicus: Fichte, 220. Ganz in diesem Sinne konstruiert auch der junge Tillich die Geschichtsphilosophie. Vgl. nur P. Tillich: 128 Thesen: Die christliche Gewißheit und der historische Jesus, EW VI, 31–50, bes. 42f. 21 F. Medicus: Fichte, 16. 22 Vgl. F. Medicus: Fichte, 58: „Die Freiheit des Ich, des autonomen Subjekts ist das höchste Prinzip. Das Ich ist frei und insofern unbedingt – alle Dinge sind von ihm abhängig.“ 23 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder die sogenannte Philosophie, Stuttgart 1972, 36: „Dasjenige, was der Grundsatz selbst haben, und allen übrigen Sätzen, die in der Wissenschaft vorkommen, mittheilen soll, nenne ich den inneren Gehalt des Grundsatzes und der Wissenschaft überhaupt; die Art, wie er dasselbe den andern Sätzen mittheilen soll, nenne ich die Form der Wissenschaft.“ Vgl. F. Medicus: Fichte, 70f. 24 F. Medicus: Fichte, 70.

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in der sich der Gewißheitszusammenhang entwickelt“.25 Anhand der drei Grundsätze der Grundlage der Wissenschaftslehre erörtert der Privatdozent die inneren Aufbaumomente der Überzeugung bzw. der Selbsterfassung des Ich. Letzteres ist ein selbstreflexives Urteil, welches das Mannigfaltige, das Nicht-Ich, in die als Synthesis gefasste Einheit des Selbstbewusstseins aufnimmt. Da die konkreten Bestimmungen des Ich, also die Formen, vom Ich als selbstgesetztem gewusst werden, ist jenes absolute Gewissheit oder Überzeugung.26 Zur inneren Vollendung kommt die Überzeugungslehre Fichtes allerdings erst in der Wissenschaftslehre von 1804, deren Gestalt sich in der von 1801/02 anbahnt. Die für die Spätphilosophie des Wissenschaftslehrers seit 1801 signifikante Unterscheidung des absoluten Wissens von einem diesen als Grund und Grenze vorausgesetzten Absoluten27 reformuliert der Hallenser Privatdozent mit der der Begriffsschrift entnommenen Unterscheidung von Form und Gehalt.28 Das sich in seiner reflexiven Struktur durchsichtig gewordene absolute Wissen, also die vom reflexiven Wissen nichteinholbare Erschlossenheit des Selbstverhältnisses wird nun von Medicus als Gehalt verstanden und vom Wissen nach seiner Bestimmtheitsseite, die freilich in diesem und von diesem gesetzt ist, unterschieden. „Das Wissen schafft sich selbst, aber – wie Fichte hinzufügt – nur der Form nach: die Materie empfängt es durch das absolute Sein“.29 Das als Form bestimmte Wissen ist die Erscheinung eines von ihm selbst unterschiedenen und für ihn selbst unzugänglichen Gehalts, der es – das Wissen – freilich selbst ist.30 Mit der Unterscheidung von Form und Gehalt ist bereits die Brücke zum Gottesbegriff von Fichtes Spätphilosophie geschlagen, wie er seit der Wissenschaftslehre von 1804 von diesem ausgearbeitet wurde. Medicus nennt diese die philosophische Entwicklung des Wissenschaftslehrers abschließende Phase dessen „Johanneische Periode“.31 Die Religionsphilosophie der Anweisung zum seligen Leben, ihre Unterscheidung zwischen Sein und Dasein des Absoluten, ist 25 F. Medicus: Fichte, 71. 26 Vgl. F. Medicus: Fichte, 90: „Überzeugen kann sich das Ich nur von sich selbst. Überzeugung gibt es nur, sofern das Ich sich selbst setzt; vom Nicht-Ich ist keine Überzeugung möglich. Der absolute Gehalt, aller Gehalt, alle Überzeugung liegt im Ich = Ich. Die besonderen Gestalten, in denen Überzeugung möglich ist, drücken nichts aus als die Selbstgewißheit des Ich, die sich nur je nach der Art der entgegengesetzt gewesenen Negation in anders bestimmter Synthese darstellen muß.“ 27 Vgl. hierzu Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung der Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart 1986, 249–376. 28 Vgl. hierzu U. Barth: Religion und Sinn, 210f. 29 F. Medicus: Fichte, 178. 30 Vgl. F. Medicus: Fichte, 180: „Das materiale Vernunftwissen hat sein Ende gefunden: die ganze Formalität als solche ist in der Wissenschaftslehre durchschaut: das Wissen weiß seine ewige Heimat, es kennt seinen Ursprung aus dem Sein und weiß, was dieses Sein ist: der Inbegriff der Materie der Ichheit.“ 31 F. Medicus: Fichte, 202.

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deren klarster Ausdruck. Allerdings, so der Hallenser Privatdozent mit Berufung auf Wilhelm Lütgerts Studie Die johanneische Christologie,32 beruhe Fichtes Deutung des vierten Evangelisten auf einer „verfehlte[n] Exegese“.33 Medicus expliziert dies vor allem an dem „Problem der Sünde.“34 Vor dem Hintergrund der Fichteschen Spätphilosophie, der Bindung des autonomen Subjekts an dessen reflexive Selbsterfassung, kann Sünde nur negativ gefasst werden. Der Sündenbegriff des Wissenschaftslehrers widerspricht dem religiösen Gedanken, den Johannes in seinem Evangelium ausführt, aber zugleich kann die Wissenschaftslehre die Sünde nur als einen notwendigen Durchgangspunkt auf dem Weg des Ich zu sich selbst begreifen.35

2.

Der Hallenser Fichte, oder: Theologie im Geiste der Wissenschaftslehre

Das Fichtebild des jungen Tillich unterliegt während seines Studiums einem Wandel.36 Dieser zeigt sich am deutlichsten in der Seminararbeit von 1906, dem ersten Dokument seiner Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftslehrer, sowie der Examensarbeit. In seinem ersten Hallenser Semester 1905/06 besuchte der junge Theologe ein Seminar des Privatdozenten der Philosophie Medicus zum Thema „Philosophische Übungen (Fichte)“.37 Auf dieses Seminar geht vermutlich die Hausarbeit Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium zurück, die auf den 21. Februar 1906 datiert ist. Sie setzt sich die Aufgabe, die „Hauptgedanken“ von Fichtes Religionsphilosophie „herauszuarbeiten und mit denen im Johannesevangelium zu vergleichen“ (EW 32 Wilhelm Lütgert: Die Johanneische Christologie, Gütersloh 1899. Vgl. F. Medicus: Fichte, 201, Anm. 1; 213, Anm. 2; 217f. 33 F. Medicus: Fichte, 225. Vgl. auch 224: „Ein paar Gewaltsamkeiten der Interpretation drängen sich hier so sehr auf, daß der Leser den Eindruck erhält, Fichtes Behauptung seiner Übereinstimmung mit Johannes beruhe auf einer Selbsttäuschung.“ Medicus macht für Fichtes verfehlte Auslegung des Prologs des Johannesevangeliums unter anderem auch den Einfluss Schellings auf das Denken des Wissenschaftslehrers geltend. Vgl. F. Medicus: Fichte, 224f. 34 F. Medicus: Fichte, 225. 35 Vgl. F. Medicus: Fichte, 226: „Die Sündhaftigkeit ist zwar ein notwendiges Stadium des sich selbst erfassenden Daseins […]; aber lebendige Realität gewinnt das Dasein erst dann, wenn die Stadien seines Werdens seine Objekte geworden sind, deren Nichtigkeit es erkannt und von denen es sich befreit hat.“ 36 Vgl. hierzu auch G. Neugebauer : Freiheit als philosophisches Prinzip, 184. 37 Vgl. Gerd Hummel/Doris Lax: Zur Textgeschichte: Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium, EW IX, 1. Ob die Arbeit wirklich auf die Übung von Medicus zurückgeht, muss offen bleiben. Beurteilt wurde sie nämlich, worauf auch die Herausgeber hinweisen, von Wilhelm Lütgert. Vgl. auch F.W. Graf/A. Christophersen: Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 52, Anm. 2.

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IX, 9). Tillich geht dabei von einem Religionsbegriff aus, demzufolge das religiöse Bewusstsein die „zentralste[], alles beherrschende[] Äußerung des Geistes“ (EW IX, 4) sei. Für das Geistesleben wiederum sind die zwei Funktionen des Denkens und Wollens konstitutiv.38 Aus diesen Voraussetzungen ergeben sich für den Theologiestudenten zwei Grundtypen der Religion bzw. des Gottesgedankens, ein voluntaristischer und ein intellektualistischer Typus. Während das Judentum einen voluntaristischen Gottesgedanken hervorgebracht hat, ist für die antiken Griechen eine intellektualistische Fassung signifikant. Das Christentum schließlich versteht Tillich als Synthese von Voluntarismus und Intellektualismus.39 Vor dem Hintergrund dieser Konstellation vergleicht Tillich die Religionsphilosophie Fichtes mit dem Johannesevangelium anhand von drei „Gesichtspunkten“: den metaphysischen Grundlagen, also dem Gottesgedanken und seinem Verhältnis zur Welt, der „historische[n] Bedeutung Christi und des Christentums“ sowie den „sittlich-religiösen Konsequenzen“ (EW IX, 9). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Ausführungen Tillichs muss an dieser Stelle unterbleiben. Ich beschränke mich auf einen systematischen Aspekt seiner Fichtedeutung. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich der 19-jährige Theologe im Wesentlichen auf die – von ihm im Anschluss an Medicus sogenannte – dritte Phase der werkgeschichtlichen Entwicklung der Philosophie Fichtes bezieht. Gemeint ist die 1806 erschienene Anweisung zum seligen Leben. Die Seminararbeit setzt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kenntnis der Studie des Hallenser Privatdozenten voraus.40 Deutlich bearbeitet sie das von Medicus selbst bereits notierte spannungsvolle Verhältnis von Fichtes johanneischer Religionsphilosophie und dem vierten Evangelisten.41 Doch nun zu Tillichs frühem Fichtebild. Fichtes Religionsphilosophie, so die These des jungen Theologen, habe zwar den „Subjektivismus und Skeptizismus“ (EW IX, 7) Kants überwunden und, namentlich in seiner letzten Werkphase, der johanneischen, eine Konzeption vorgelegt, welche ebenso der subjektiven wie der objektiven Seite der Religion Rechnung trägt. Allein, seine Deutung des johanneischen Christentums schließe 38 Vgl. P. Tillich: Fichtes Religionsphilosophie, EW IX, 4: „Als ein Zwiefaches stellt sich das menschliche Geistesleben dar, als Denken und Wollen.“ 39 Vgl. P. Tillich: Fichtes Religionsphilosophie, EW IX, 5: „Gott offenbart sich in Christo als ein Gott der Gnade und Wahrheit.“ 40 In dem bereits erwähnten Brief Büchsels an Tillich vom 12. Oktober 1907 wird von jenem die Kenntnis der Abhandlung von Medicus über Fichte auch bei diesem vorausgesetzt. Vgl. Brief von Friedrich Büchsel an Paul Tillich, 12. Oktober 1907, EW VI, 14–19. Vgl. auch U. Barth: Religion und Sinn, 210; G. Neugebauer: Freiheit als philosophisches Prinzip, 185. 41 Tillich teilt die Einschätzung von Medicus, bei der Fichte’schen Interpretation des Johannesevangeliums handle es sich um „zum großen Teil verfehlte Exegese“ (P. Tillich: Fichtes Religionsphilosophie, EW IX, 9). Vgl. hierzu F. Medicus: Fichte, 225. Vgl. auch oben Anm. 33.

Freiheit als Autonomie. Anmerkungen zur Fichte-Rezeption

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alle voluntativen Momente aus.42 Damit sei seine Religionsphilosophie intellektualistisch und werde weder der im Christentum erreichten Synthese noch, wie Tillich in einem Durchgang durch die drei oben genannten Vergleichsgesichtspunkte zeigt, dem Johannesevangelium gerecht. Das Fichtebild des jungen Theologen, wie es sich 1906 in der Seminararbeit zeigt, ist kritisch. Durchweg ergibt sich ihm im Vergleich des Wissenschaftslehrers mit dem vierten Evangelisten der Intellektualismus Fichtes. Dieser schlägt sich vor allem auch in dessen Sündenbegriff nieder. Das Böse sei nämlich „etwas ganz anderes als das Negative bei Fichte. Es ist Position und zwar kräftige Position, die die Welt beherrscht“, und eben kein bloßes Nicht-Ich.43 Die Seminararbeit von 1906 stellt ein Intermezzo dar. In den folgenden Jahren scheint sich Tillich eingehender mit den Texten Fichtes beschäftigt zu haben, zumindest mit der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794. Davon zeugen die Exzerpte, die im Tillich-Nachlass in Harvard aufbewahrt sind.44 Die 42 Vgl. hierzu auch die Deutung des vierten Evangeliums bei W. Lütgert: Johanneische Christologie, 61: „Die Psychologie des Evangelisten – und da er eine Theologie hat, so hat er auch eine Psychologie – ist durchaus voluntaristisch. Vom Willen scheidet er nicht das Wesen.“ Zur Lütgerts Deutung des Johannesevangeliums vgl. Peter Müller : Alle Gotteserkenntnis entsteht aus Vernunft und Offenbarung, Wilhelm Lütgerts Beitrag zur theologischen Erkenntnistheorie, Münster 2012, 132–134. Ob der junge Tillich das Buch von Lütgert gelesen hat, kann nicht belegt werden. Allerdings verweist schon Medicus in seinem Fichte-Buch auf den Hallenser Theologen. Vgl. oben Anm. 32. In seinem Brief an Friedrich Büchsel vom August 1908 bezieht sich Tillich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Kontext der Ausarbeitung seiner neutestamentlichen Examensarbeit zur Stellung des Logosbegriffs im Johannesevangelium auf dieses Buch von Lütgert. Vgl. Brief Paul Tillich an Friedrich Büchsel, [August 1908], EW VI, 24–27, hier : 25: „Nach meiner Übersicht über die historische Situation der Debatte suche ich zu zeigen, daß der Logosbegriff kein ,theo‘logischer, sondern ein christologischer ist, um dann in der Christologie eine Synthese zwischen Holtzmann und Schmuhl [= Lütgert] durchzuführen“. Zur Deutung des Logosbegriffs bei Lütgert vgl. W. Lütgert: Johanneische Christologie, 115–139. 43 Vgl. hiermit die gleichlautende Einschätzung von Medicus. Vgl. oben Anm. 35. Medicus betont allerdings an der genannten Stelle zugleich, dass jene Fassung des Sündenbegriffs für die Wissenschaftslehre notwendig ist. Diese Konsequenz der Fichte-Deutung von Medicus kritisiert auch Friedrich Büchsel in seinem Brief an Tillich vom Oktober 1907. Vgl. Brief von Friedrich Büchsel an Paul Tillich vom 12. Oktober 1907, EW VI, 15: „Dir ist bekannt, daß es sich zwischen ,Medicus‘ und mir um das Persönliche in der Religion handelt: Gebet und Schuldbegriff. Seine Religion [sc. die von Medicus] ist orientiert am Seinsbegriff, meine am Persönlichkeitsbegriff.“ Vgl. auch die Antwort Tillichs in dem Brief von 1907, EW VI, 20–24. 44 Vgl. Tillich-Nachlass Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School, Cambridge, Mass., NL Nr.: 114:003#1.f 4. Eine genaue Datierung dieser Aufzeichnungen lässt sich allerdings zurzeit nicht angeben. Auf die Exzerpte weist Tillich in seinen autobiographischen Reflexionen Auf der Grenze ausdrücklich hin, ohne sie jedoch genauer zu datieren. Vom Duktus der sehr stilisierten Darstellung her scheint er die Aufzeichnungen an das Ende seiner Schulzeit zu rücken. Vgl. P. Tillich: Auf der Grenze, GW XII, 31: „Philosoph zu werden war mein Wunsch seit den letzten Gymnasialjahren. Jede freie Stunde wurde benutzt, um philosophische Bücher zu lesen, die mir zufällig in die Hand fielen. So Schweglers ,Geschichte der Philosophie‘ in der verstaubten Ecke des Bücherbordes eines Landpfarrers, Fichtes erste

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Frucht dieser Lektüre schlägt sich in der Examensarbeit von 1908 nieder. Ihr Anliegen ist eine Rehabilitierung des Idealismus für die Theologie, und sie trägt deutlich die Spuren der Fichte-Deutung seines Lehrers Fritz Medicus.45 Dem jungen Theologen geht es um einen Monismus des Geistes, der den Dualismus als ein notwendiges Durchgangsmoment in sich aufnimmt.46 In diesem Programm klingen die Motive an, welche ihn in seinem gesamten weiteren Werk beschäftigen werden. Allerdings werden sie hier noch durchweg auf der Grundlage der Philosophie Fichtes durchgeführt.47 Auch bei der Monismusschrift müssen wir uns eine detaillierte Rekonstruktion untersagen und uns darauf beschränken, wie Tillich die beiden oben genannten Kritikpunkte an dem Denken des Wissenschaftslehrers weiterführt – den Intellektualismus einerseits und den Sündengedanken andererseits. Hatte der Theologiestudent in seiner Seminararbeit noch Fichtes Philosophie als Intellektualismus gedeutet, so revoziert die Examensarbeit dieses Bild vollständig. Die Philosophie des Wissenschaftslehrers erscheint nun als Synthese von Intellektualismus und Voluntarismus auf der Grundlage der praktischen Vernunft, der Freiheit der Selbstbestimmung. Der Vorwurf des Intellektualismus ergeht jetzt an Hegel.48 Dadurch erscheint auch der Sündenbegriff in einem neuen Licht. „Sünde ist die zu überwindende Schranke des Geistes oder schärfer : der Mangel an überwundenem Nicht-Ich, das Zurückbleiben der geistigen Persönlichkeit hinter ihrem telos.“ (EW IX, 68) Hatte Tillich in seiner Semi-

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Wissenschaftslehre auf einem Bücherwagen in einer Berliner Straße, Kants ,Kritik der reinen Vernunft‘ in Reclam, die mit klopfendem Herzen für die ungeheure Summe von einer Mark in einem Buchlanden erstanden wurde. Genau Exzerpte, namentlich der Fichteschen Wissenschaftslehre, führten mich in das Schwerste vom Schweren der deutschen Philosophie.“ Auch in anderen autobiographischen Notizen datiert Tillich seine Beschäftigung mit Fichte in die Zeit vor seinem Theologiestudium. Vgl. P. Tillich: Autobiographische Betrachtungen, GW XII, 58–77, hier : 65: „Lange bevor ich als Student der Theologie immatrikuliert wurde, studierte ich privat Philosophie. Als ich zur Universität kam, kannte ich die Geschichte der Philosophie gut und Kant und Fichte gründlich.“ Die 61 Seiten umfassende Ausarbeitung des jungen Tillich gelten der gesamten Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Auffällig ist, dass er die drei Grundsätze der Wissenschaftslehre von 1794 nicht – wie Medicus – als Überzeugungslehre rekonstruiert. Wie eng der Gedankenaustausch mit seinem Lehrer war, unterstreichen die Kommentare, welche Medicus einer Fassung der Schrift beigefügt hat. Vgl. P. Tillich: Welche Bedeutung hat der Gegensatz, EW IX, 94–153. Vgl. hierzu auch Neugebauer: Tillichs frühe Christologie, 146–155. Vgl. P. Tillich: Welche Bedeutung hat der Gegensatz, EW IX, 54: „Das ist die idealistische Deutung der Wirklichkeit. Sie führt durch einen Dualismus hindurch und endigt im Monismus des Geistes.“ Vgl. P. Tillich: Welche Bedeutung hat der Gegensatz, EW IX, 61: „Fichte, den wir der ganzen folgenden Debatte zugrunde legen“. Vgl. P. Tillich: Welche Bedeutung hat der Gegensatz, EW IX, 72: „Der Idealismus hat in Fichte und Schelling noch beide Momente [sc. die intellektuelle und die voluntative Seite des Geisteslebens] in sich, während Hegel schon wieder zum Intellektualismus überschlägt.“

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nararbeit von 1906 noch Fichtes Verständnis der Sünde als Negation kritisiert, so nimmt er nun diese Bestimmung auf. Sünde ist ein solcher Vollzug der Selbstsetzung, in dem das Ich das Nicht-Ich nicht in die Einheit des Selbstverhältnisses aufnimmt. Dadurch kommt es weder zu einer Selbsterfassung des Geistes noch zu einer Darstellung Gottes an der Überwindung des Nicht-Ich.49 Der Mensch verfehlt in der Sünde die Autonomie. Der junge Theologe scheint sich die Deutung von Medicus zu eigen gemacht zu haben, die „Sündhaftigkeit“ sei „ein notwendiges Stadium des sich selbst erfassenden Daseins“.50 In der kurzen Spanne zwischen der Hallenser Seminararbeit und der Berliner Examensarbeit hat sich das Fichte-Bild Tillichs gewandelt. Fichtes freiheitstheoretische Vernunftkonzeption in der Deutung von Medicus avanciert zur Grundlage der theologischen Systemkonzeption.

3.

Formale und materiale Freiheit, oder Fichtes Vollendung des Kritizismus als dessen Verengung

„Falls Autoritäten wie Schlatter und Schmuhl [Wilhelm Lütgert] etwas bei Dir vermögen, so teile ich Dir mit, daß ich jetzt an den philosophischen Voraussetzungen beider angelangt bin: dem zweiten Schelling“ (EW VI, 76). Die zitierte Bemerkung stammt aus einem Brief Tillichs an seinen Studienfreund und späteren Schwager Alfred Fritz aus dem Jahre 1909, in dem jener über seine Lektüre der Werke Schellings berichtet. Aufschlussreich an dem erwähnten Brief ist, dass die Philosophie des späten Schelling als philosophische Voraussetzung der Theologie seiner Tübinger und Hallenser Lehrer Adolf Schlatter und Wilhelm Lütgert bezeichnet wird.51 Mit dem Denken des Leonberger Philosophen beschäftigte sich Tillich im Rahmen seines theologischen Dissertationsprojekts seit 1909.52 Bekanntlich hat er die ursprünglich für die Erlangung des theologischen Lizenziatengrades geplante Arbeit in Breslau als philosophische Dissertation eingereicht, um das von der Stadt Berlin ausgeschriebene Säkularstipendium zu erhalten. Wer das Dissertationsthema angeregt hat, lässt sich anhand der bislang überlieferten Quellen und Dokumente nicht mehr ermitteln. 49 Vgl. hierzu P. Tillich: Welche Bedeutung hat der Gegensatz, EW IX, 61. 50 F. Medicus: Fichte, 226. 51 Zu Schlatter vgl. Werner Neuer : Das Verständnis von Geschichte bei Adolf Schlatter, in: ThBeitr 35 (2004), 39–54. Zu Lütgert vgl. P. Müller : Alle Gotteserkenntnis entsteht aus Vernunft und Offenbarung. 52 Zu Tillichs theologischem Dissertationsprojekt, welches zunächst in die philosophische Dissertation mündete vgl. G. Neugebauer : Tillichs frühe Christologie, 155–158. Neugebauer kommt das Verdienst zu, die Akten des Promotionsverfahrens zugänglich gemacht zu haben. Vgl. ders.: Tillichs frühe Christologie, 392–400.

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Vor dem Hintergrund des Studienverlaufs sowie der frühen Fichte-Rezeption legte sich eine Auseinandersetzung mit Schelling nicht unmittelbar nahe, auch wenn sie zweifellos im Umfeld der zeitgenössischen Idealismusrenaissance steht.53 Die Examensarbeit von 1908 dokumentiert zwar eine hohe Affinität zum Deutschen Idealismus, allein Schelling kommt in ihr noch keine tragende Rolle zu. Das ändert sich freilich in den Jahren um 1909, wie die oben zitierte briefliche Äußerung Tillichs an Fritz dokumentiert. „Auf jeder Seite“ bei Schelling, so Tillich in dem genannten Brief, „entdecke ich einen neuen Grundpfeiler Schmuhlschen Denkens bis in die einzelnsten Psychologumena: Ich bin völlig überrascht, daß wir uns hier wiederfinden.“ (EW VI, 76) Die Auseinandersetzung mit Schelling führt zu einer neuen Einordnung Fichtes. Sie betrifft eine Frage, welche bereits in der Seminararbeit von 1906 auftaucht und die in der Monismusschrift eigentlich keine angemessene Lösung erfährt. Ich meine den Freiheitsbegriff sowie das mit diesem zusammenhängende Verständnis der Sünde als Negation. Die Rezeption Schellings führt zu einer Vertiefung des Freiheitsbegriffs. Die in Breslau eingereichte Dissertationsschrift Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie sowie die Thesenreihe von 1911 lassen die Neufassung des Freiheitsbegriffs erkennen. Ich möchte sie kurz anhand des Breslauer Promotionsvortrags Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte vom 22. August 1910 erörtern. In dem Vortrag vom August 1910 deutet Tillich die Philosophie Fichtes als Vollendung des Kritizismus kantischer Provenienz. Die Voraussetzung hierfür macht der Theologe im Anschluss an Fritz Medicus in dem Autonomiegedanken aus, der die Grundlage des Systems bildet.54 Doch die Vollendung des Kritizismus in der Wissenschaftslehre bedeute zugleich „eine Verengung des Gesichtskreises“ (EW X, 55). Der Vortrag arbeitet diese These in zwei Argumentationsgängen aus, zunächst im Hinblick auf Fichtes „konsequente Durchführung des kantischen Anti-Empirimus“ und sodann im Hinblick auf den „kantischen Anti-Dogmatismus“ (EW X, 56). In beiden Gedankenreihen, die hier nicht im Detail in den Blick genommen werden können, ist es der Autonomiegedanke, der das gesamte Begründungsgewicht trägt. Das Ich ist kein Ge53 Vgl. hierzu auch Tillichs eigene Darstellung seiner Begegnung mit der Philosophie Schellings in seinen autobiographischen Reflexionen. Vgl. P. Tillich: Auf der Grenze, GW XII, 31: „Ich selbst wurde teils durch den Zufall eines Gelegenheitskaufes, teils durch innere Affinität zu Schelling geführt, dessen sämtliche Werke ich verschiedene Male begeistert durchlas und über den ich meine philosophische Doktor- und meine theologische Lizentiaten-Dissertation machte.“ Vgl. auch ders.: Autobiographische Betrachtungen, GW XII, 66. 54 Vgl. P. Tillich: Die Freiheit als philosophisches Prinzip, EW X, 55: „Daß diesem Vorgang in der Tat eine innere Folgerichtigkeit zukommt, soll uns eine Betrachtung des Princips der Fichteschen Philosophie, des Freiheitsbegriffs bei Fichte lehren. In ihr kommen die Motive des Kriticismus zur vollen Auswirkung.“ Vgl. hierzu auch F. Medicus: Fichte, 58.

Freiheit als Autonomie. Anmerkungen zur Fichte-Rezeption

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genstand, sondern der Akt, in dem es sich durch seine Selbstsetzung in seiner unbedingten Geltung erfasst. Wichtig für unsere Fragestellung ist eine Unterscheidung, die Tillich in diesem Zusammenhang eher nebenbei einführt.55 „In der Kritik der praktischen Vernunft wird das Postulat der Freiheit als Vermögen der willkürlichen Aufnahme von Maximen aufgestellt. Dieser – im Gegensatz zum Princip der Vernunftautonomie, etwa als formal zu charakterisierende – Freiheitsbegriff verschwindet bei Fichte. Er hat im durchgeführten System der Vernunft keinen Platz.“ (EW X, 58)

Die Grundlage des vollendeten Systems der Vernunft ist ein materialer Freiheitsbegriff, nämlich Freiheit im Sinne von sittlicher Autonomie. Vor dem Hintergrund dieses Freiheitsbegriffs kann Sünde nur als Negation begriffen werden. Darin liegt die Engführung der Konzeption Fichtes. Um Sünde als Position verstehen zu können, muss der materiale Freiheitsbegriff durch einen formalen ergänzt werden.56 Freiheit ist nur dann angemessen erfasst, wenn sie als die Macht, sich selbst zu widersprechen, verstanden wird und nicht lediglich als Unterstellung des Willens unter das Sittengesetz.57 Jenen Freiheitsbegriff in Weiterführung des Kantischen Kritizismus eingeführt zu haben, ist das Verdienst des ,zweiten Schelling‘.58 Die Schellingrezeption des jungen Tillich führt diesen, wie wir gesehen haben, zur Lösung eines Problems, mit dem er in seinen frühen Fichte-Studien gerungen hat. Es ist die Frage, wie die Sünde als Differenz und Widerspruch zum Absoluten vor dem Hintergrund eines Monismus des Geistes zu konstruieren ist. Der junge Theologe findet die Lösung in der Philosophie des späten Schelling und seiner These von der Freiheit als Macht, sich selbst zu widersprechen. Das führt zu einer Neueinordnung Fichtes sowie einer Rehabilitierung der Philosophie Kants. Fichtes Bedeutung für die Theologie besteht in der Fassung der Freiheit als Autonomie. Ganz in diesem Sinne deutet Tillich in dem eingangs erwähnten Festvortrag aus dem Jahre 1954 das Verhältnis von Fichte und Schelling.

55 Vgl. hierzu C. Danz: Theologischer Neuidealismus, 200–204. 56 Vgl. hierzu P. Tillich: Die religionsgeschichtliche Konstruktion, EW IX, 174–176. 57 Vgl. auch P. Tillich: Die christliche Gewißheit, EW VI, 41 (These 87): „Der Übergang von der Einheit in die Mannigfaltigkeit ist irrational; er wird am besten vorgestellt als Widerspruch des irrationalen Willens gegen das Wesen und stufenweise Reaktion des Wesens gegen den Widerspruch.“ 58 Vgl. P. Tillich: Die Freiheit als philosophisches Prinzip, EW X, 62: „Um diese beiden Brennpunkte des doppelten Freiheitsbegriffs läßt sich die idealistische Philosophie wie in eine Ellipse grup[p]ieren. In dem einen Brennpunkt steht Fichte und das Princip seines Systems, die Freiheit als Selbstsetzung der Vernunft. Auf der anderen [Seite] Schelling und das Prinzip seiner Religionsphilosophie, die Freiheit als Macht, sich selbst zu widersprechen.“

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„Während Fichte aus dem Prinzip der Selbstsetzung des Ich als Ich einen Monismus der moralischen Selbstverwirklichung des Absoluten ableitete, sah Schelling in seinen Frühschriften den inneren Konflikt jeder Philosophie des Absoluten. Er sah, daß die Freiheit, wenn sie mit dem Absoluten gleichgesetzt wird, sich selbst aufhebt und zu einer spinozistischen oder mystischen Vernichtung des individuellen Selbst führt. Er sah – und das bringt ihn nahe zu Kant, zu einem der überraschenden existentialen Elemente bei Kant –, daß aktuelle Freiheit nur möglich ist durch Willkür, d. h. durch die Fähigkeit des vernünftigen Willens, mit sich selbst in Widerspruch zu treten.“ (MW I, 395)

Rainer Adolphi

Hegelscher Idealismus im Zeitalter der Wissenschaft. Über die Rolle des Gedankens des ,Lebens‘ zwischen Neukantianismus und neuem Hegelianismus des 20. Jahrhunderts

Einleitung: Das Kontrafaktische Die Auseinandersetzung mit der Epoche der ,klassischen deutschen Philosophie‘ heute ist unverkennbar im Zustand einer Veränderung, und das hat Gründe. Die alte Auseinandersetzung hatte zwei elementare Traditionen verfestigt. Zum einen das Von-Kant-zu-Hegel: das Bild einer inneren Folgerichtigkeit, erwachsen aus einer gewissen zwingenden Konsequenz, die das von Kant Eröffnete von Position zu Position habe weiterentwickeln lassen. Figur ist hier jenes berühmte „Kant hat die Resultate gegeben. – Die Prämissen fehlen noch!“,1 was jeder der einzelnen Denker – nach einer kurzen Phase der Parteigängerschaft, dann einer konzeptionellen und auch mit Affekten ausagierten Entzweiung, schließlich einer lebenslangen Polarität – noch einmal gegen den jeweiligen Vorgänger gewandt hatte. Es ist der Blick, der diese Epoche strukturell als denkerischen Gesamtprozess nimmt – Gesamtereignis in der Geschichte der Philosophie –, die einzelnen Positionen als die Stufen seiner inneren denkerischen Dynamik. Daneben steht, gewissermaßen im Gegenstoß, die zweite Tradition: hier mehrere hoch individuelle Eigensysteme vor sich zu haben, autochthone Denkgebäude einer jeweiligen ursprünglichen Einsicht, allenfalls angestoßen durch das geistige Klima, das die Werke eines Vorgängers ausgelöst hatten. Ganz individuell auf einen jeweiligen Denker ausgerichtet, fixiert auf dessen niedergelegte Gedanken und Argumente, hatte dabei auch die Forschung sich gespalten – zuletzt in Gestalt der Sammlung und Identitätsstiftung der betreffenden Gesellschaften –, hatten deren Kreise, in Grundüberzeugungen wie Fragestellungen, 1 So die Formulierung des jungen Schelling, damals noch orientiert am Idealismus-Verständnis und dem thematischen Rahmen des Projekts Fichtes. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Friedrich Hegel, 6. Januar 1795, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe und Dokumente, Bd. II: 1775–1803, Zusatzband, hg. v. Horst Fuhrmans, Bonn 1973, 57.

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sich mindestens ebenso vehement gegen einander definiert wie einst die Protagonisten selbst aus ihren zum Teil persönlichen Animositäten.2 Mit ,Kant‘, ,Fichte‘, ,Schelling‘ und ,Hegel‘ waren nicht weniger als vier – oder, wenn man Jacobi noch dazurechnet oder schließlich Schopenhauer : fünf, sechs – erklärte Zentren und Höhepunkte der Epoche polar zueinander in Aufstellung gebracht. Nach dieser Tradition war die Option gefordert. Man musste sich entscheiden, ,für wen‘ man ist. Beide Traditionen hatten nicht nur die Forschung im engeren Sinne bestimmt – die Interpretation der Texte, Themen und Gedanken (sowie im Übrigen auch den Blick auf mögliche Bezüge). Ebenso die Rezeption dieses Denkens überhaupt, anknüpfend oder kritisch, und die reflexive Perspektive auf diese ganze Epoche sowie die Frage nach ihren Folgen und einer aktuellen Präsenz bewegten lange sich in diesem festen Rahmen. – Beim Zweiten, dem Bild der personellen Eigensysteme, ist ein Wandel eingetreten. Unter dem Andrängen des fundamental anderen Typus der Themen und des Argumentierens, den die Analytische Philosophie etabliert hat, kommt es seit einiger Zeit zu einem Zusammenrücken. Das hatte keine vorherige Grundsatzinfragestellung geschafft, weder der im 19. Jahrhundert immer dominanter gewordene naturwissenschaftliche Materialismus noch der Logische Positivismus, weder Kritischer Rationalismus und weitere Wissenschaftsreflexion des 20. Jahrhunderts noch die Programme der Soziologisierung, Ersetzung der Philosophie durch (kritische) Sozialwissenschaft. Die Analytische Philosophie hat in dieser Hinsicht als produktive Herausforderung gewirkt. Erstmals gibt es da auch eine Anerkennung, dass die Philosophien der Epoche der ,klassischen deutschen Philosophie‘ nicht gut gegeneinander auszuspielen sind. Es ist das Bewusstsein, dass sie kein allseitiges Entweder-Oder sind. Die Zeit des Dünkels ist vorbei, und das hat intern viele liebgewordene Frontlinien und Identitätsformeln relativiert.3 Was dagegen das einstige Deutungs-Schema eines Entwicklungsgangs betrifft – gewisser Motive einer Dynamik innerhalb des Denkens der Epoche –, so bleibt dies eher stillschweigend eingeklammert. Was einst als Weg zu verstehen versucht wurde, dass die kantische Weise des Idealismus neben Theorieantworten und einem allgemeinen 2 Es war der Blick auf Personen, eine Hermeneutik der Schöpfungen (,Werke‘), Zeugnisse und Briefe, letztlich eine Hermeneutik des (spekulativen, metaphysischen) Wollens der originären großen Denkerpersönlichkeiten. – Flankiert war dies durch etwas, was in der neuen Unübersichtlichkeit, die die Philosophie nach Kant gewonnen hatte, sich verfestigt hatte: dass es nicht um (einzelne, konkrete) ,Sach‘-Fragen gehe, sondern um das richtige „Princip“ und um ,Systeme‘. 3 In diesem Geist, in der eingetretenen nicht mehr zu banalisierenden Verteidigungssituation, arbeiten nun auch – und es ist noch nicht lange her, seitdem es dies überhaupt gibt – die verschiedenen Gesellschaften zusammen.

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grundlegenden Programm bzw. einem programmatischen Aufriss auch neue Fragen und Aufgaben gebracht hat, wurde thematisch nicht weiter verfolgt oder nur unter einzelnen punktuellen Bezügen auf andere, epochenäußere Konzepte und Theoreme erörtert.4 Hier zunächst einmal auch idealismusintern zu argumentieren – und Positionen zu beziehen innerhalb einer evtl. kontroversen Erbeund Richtungs-Debatte – scheint die gewonnene vorsichtige Offenheit der Forschungskreise, auch Bereitschaft der Neugier, jedenfalls noch zu überfordern. Für die Zusammengehörigkeit der Epoche – die Epoche als ein Projekt – und das Pro und Kontra der jeweiligen ihrer Entwicklungsausprägungen gibt es heute noch kaum thematisierende Reflexionen, die nicht nur die alten Formeln wiederholen würden. Die Einzelforschung bewegt sich auf signifikant höherem Niveau als das Einordnungsverständnis der Denkepoche als ganzer und ihrer konzeptionellen Charakteristika. Das könnte man dahingestellt sein lassen, als eben den Preis der Veränderungen, wäre davon nicht auch erfasst, was als Folgen der Errungenschaften der ,klassischen deutschen Philosophie‘ zu verstehen ist und was als ihre aktuelle Präsenz. Denn zu den Folgen gehören auch, und dies soll die Perspektive dieses Aufsatzes sein, die nicht eingetretenen Folgen. Diese aber haben offenbar entscheidend mit unbemerkten Ambivalenzen innerhalb der Entwicklung unter den Positionen zu tun. Dergestalt nach zugleich den nicht eingetretenen Folgen zu fragen und den Gründen dafür, verstehe ich als die erforderliche zweite Etappe einer heutigen neuen Auseinandersetzung, nachdem wir gelernt haben, die einzelnen großen Denkgestaltungen der Epoche nicht mehr als holistische Einheiten, einander ausschließende Grundsatzoptionen zu sehen.5 Es ist die Betrachtung, Folgen und Präsenz nicht rein positivistisch zu nehmen, sondern zwischen faktisch Eingetretenem und Möglichem zu differenzieren. Sie berührt dabei – so die programmatische Überlegung des Folgenden – maßgebend eine weitere Tradition der überkommenen Auseinandersetzung mit 4 Deshalb findet sich hinter der Einklammerung ein Weiterwirken vieler alter Klischees: etwa das Klischee vom fundamentalen Gegensatz von Hegel und spätem Schelling, die eine ganze Epochenpolarität innerhalb der modernen Mentalität verkörperten; oder das Klischee von Jacobi-gegen-den-Rest. 5 Die Fragestellung des vorliegenden Aufsatzes gehört in einen größeren Arbeitszusammenhang, in dem ich mich immer wieder mit dem beschäftigt habe, was: hätte sein können. – Bislang publiziert habe ich dies vornehmlich in Bezug auf Fichte und auf Schelling sowie die m. E. absurdeste Feindschaft innerhalb der Epoche, die zwischen diesen beiden. Genannt seien nur Rainer Adolphi: Eine nicht eingestandene Auseinandersetzung. Über das implizite Verhältnis von späterem Fichte und Schelling, in: Wissen, Freiheit und Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. III, hg. v. Jürgen Stolzenberg/Oliver-Pierre Rudolph, Amsterdam/New York 2013, 63–94; ders.: Warum wir alle gleich ticken. Ent-Intellektualisierung der idealistischen Rationalität: eine Schelling’sche Einsicht und eine Theorieentwicklung des späteren Fichte, in: Bild, Selbstbewusstsein, Einbildung, hg. v. Alexander Schnell/Jan Kunesˇ, Leiden/Boston 2016, 135–151.

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dem Denken der Epoche: Potential und Ertrag der ,klassischen deutschen Philosophie‘ (sowie umgekehrt Probleme) zu bestimmen im Spannungsfeld von Idealismus-oder-Szientismus. Was in der Auseinandersetzung hier noch weithin die vorherrschende Perspektive ist, ist die prinzipielle Gegensätzlichkeit von (modernem) Wissenschaftsprozess – Forschung wie gewonnenem Wissen – und dieser idealistischen Philosophie, obwohl in der sonstigen Wissenschaftsreflexion die Argumente dieser einstigen Oppositionsschemata sich immer mehr aufgelöst haben. Das Wissenschaftsverständnis wird zumal in den jüngsten Jahrzehnten richtungsmäßig ,idealistischer‘, doch die Beschäftigung mit dem Denken der klassischen Epoche, im alten Behauptungskampf gefangen, hat Voraussetzungen einer vergangenen Konstellation noch zu sehr internalisiert, als dass dies bereits voll fruchtbar geworden wäre. Ich werde meine Betrachtungen hier auf den großen Bogen, der mit den Namen ,Kant‘ und ,Hegel‘ bezeichnet ist, beziehen. Und ich wähle dazu bei der Frage der Folgen und des Bewusstseins von möglicher Aktualität den verfremdenden Blick des Zeitenabstands: wie ein Jahrhundert nach der Epoche der ,klassischen deutschen Philosophie‘ noch einmal das Bedürfnis respektive Erfordernis ihres Idealismus aufbrach. – Es soll gehen um eine Skizze. Das Augenmerk soll auf Typologischem liegen, auf den typologischen Tendenzen, die die Konstellationen für Folgen und Gegenwärtigkeit des klassischen Denkens bestimmt haben – die Konstellationen ihrer Erbschaften.6 Ansetzen werde ich an dem, was auch stets das Bild der Epoche, was ihr Denken erbracht habe, geprägt hat: ihr Telos in Hegel zu haben.

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Die Präsenz Hegels im weiteren Denken ist eine charakteristische Mischung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Verschiedene Kontinuitäten und Diskontinuitäten sind gelagert vor dem inhaltlichen Pro oder Kontra, den HegelRenaissancen und dem immer noch einmal brauchbaren Feindbild Hegel, der Konzeptionsabgrenzung gegen den ihm zugeschriebenen ,Panlogismus‘, metaphysischen Idealismus, Selbstinthronisierung eines letztautoritativen Wahrheitsuniversums (,System‘). Die Tatsache, wie sehr bisher noch durchweg Fortwirkung und Bruch, Erbschaften und Abwendung, Traditionen des Denkens und Revolutionierung zusammenkamen, manifestiert sich wohl nirgendwo deutlicher als darin, wie vieles es ist in der weiteren Entwicklung der fast zweihundert Jahre seit Hegel – auch 6 Diesem Zweck entsprechend sind die bibliographischen Hinweise auf weniges beschränkt. Angeführt sind vor allem Hinweise, sofern mir etwas von systematischer Relevanz scheint.

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vieles der vehementen Kritik an Hegel und dem hegelschen Erbe –, das gerade mit Figuren Hegels sich verwirklicht hat.7 Ein Ineinander von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu sein, gilt aber vor allem auch allgemeiner für die mehrmals eingetretenen Erneuerungen der Philosophie aus dem Geiste Hegels, Erneuerungen überhaupt. Auch sie hatten stets eine Meta-Bewandtnis. So entbrannte mehrmals ein Kampf um Hegel, in welchem sich entscheidende Klärungen, auch Weichenstellungen vollzogen. Hegel war ein Resonanzboden für vielerlei DenkMotivationen; und ,Hegel‘: das war das Unterpfand gegen viele empfundene Defizite und Verluste eines jeweilig herrschenden Denkens.8 Soweit generell. (1) Ein wesentlicher Epochen-Einschnitt freilich hat sich im 19. Jahrhundert vollzogen, eine fundamental neue Konstellation. Neben den neuen andrängenden gesellschaftlichen Fragen – von Fragen der gesellschaftlichen Macht in einer zunehmend industrialisierten Gesellschaft, der Lebensformen der zunehmenden Individualisierung und zugleich Vermassung, den neuen sozialen Aufgaben, den Fragen der Ethik und der Authentizität in der Lage eines zunehmend säkularen und pluralistischen Lebenssinns, bis hin zur Frage der Erziehung und Bildung und einer neuen (,realistischen‘) Aufgabe der Kunst – war es vor allem die Entwicklung der Wissenschaften, die neue Bedingungen für die Philosophie setzten. In neue, durch die Entwicklung der Wissenschaften geschaffene Gegebenheiten platziert fand das philosophische Denken sich sowohl in epistemischen Praktiken und im allgemeinen wissenschaftlichen Geist – den empirischen Verfahren, der historischen Orientierung und nicht zuletzt dem Aufstieg der technischen und Anwendungswissenschaften9 – wie auch durch die neuen Bedingungen in Gestalt neuer Wissenschaften im Bereich des ,Geistigen‘, die zunehmend das Feld besetzten und der Philosophie ihre Zuständigkeit und Kompetenz streitig machten – Psychologie, Soziologie, Sprachwissenschaft, historische Kulturwissenschaften, Anthropologie. Reflex dieses zeitalterprägenden Vorgangs waren die aufschießenden vielfältigen Reflexionen zu einem sich verändernden Wissenschaftsbegriff.10 Und Reflex waren 7 Und dies ist keineswegs nur bei den großen berühmten Beispielen Marx, Kierkegaard oder Sartre. 8 Das bleibt gerade auch dann festzuhalten, wenn wir heute wissen, wie viel an Projektionenauf-Hegel daran verbreiteterweise mit beteiligt waren. – Auf den Weg gebracht wurde die Aufarbeitung dieser Bedeutung von ,Hegel‘ in den programmatischen Selbstverständigungen der seitherigen Philosophie von Wilhelm Raimund Beyer : Hegel-Bilder. Kritik der HegelDeutungen, Berlin 1964 [3. erheblich erweiterte Aufl. Berlin 1970]. 9 Gegenüber dem neuen Prometheus des Ingenieurs wirkte der traditionelle Philosoph wie eine Gestalt aus einer vergangenen Menschheitsära. 10 Zu zentralen Aspekten davon vgl. etwa Ernst Cassirer : The Problem of Knowledge: Philosophy, Science, and History since Hegel, New Haven/London 1950. Deutsche Übersetzung: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Vierter Band, Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), Stuttgart 1957. Ulrich Johannes Schneider: Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg 1999.

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dabei in Verdichtung die bekannten Groß-Debatten: der Materialismusstreit,11 die Ignorabimus-Debatte,12 die Diskussion um Historismus, Diskussion um Psychologismus,13 die neuen Debatten um das Induktions-Problem, die Frage einer neuen Mathematik und neuen Physik jenseits von Euklid und klassischer Mechanik; ferner die ganz neuen und vielfach übertragenen Theorietypen des Wissenschaftssystems, wie ,Evolutionstheorie‘ oder ,Thermodynamik‘. Neben diesem, was die Zeit bewegte, steht als wohl Folgenbedeutsamstes indes ein struktureller Aspekt, der sich zunächst oft unausgesprochen vollzog, in einem kaum thematisierten Prozess. Die Philosophie nämlich musste sich neu positionieren im Gefüge der Wissenschaften, neu auch im Gefüge des Institutionellen.14 – Deutlichster Ausdruck ist eine seitdem alle Denkunternehmungen durchziehende doppelte Aufgabe, ein doppeltes Ziel der Philosophie. Das eine geht auf eine Philosophie gewissermaßen ,unterhalb‘ der betriebenen Wissenschaften – allgemeine Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Basisexplikation der Konzepte und Termini (Begrifflichkeiten) des epistemischen Prozesses; oder allgemein gesagt: logische Begründung der Wissenschaften. Das andere demhingegen sind Programme einer Philosophie ,oberhalb‘ der Wissenschaften – zur Verständigung über die großen Sinn-Ziele des Lebens und der Lebensführung, Thematisierung dessen, was über die Horizonte der epistemischen Tätigkeit, deren Rationalität und Wissen (welches nun explizit als „Einzelwissenschaften“, d. h. jeweilige besondere themen- und methodendefinierte Praktiken steht)15 hinausgeht, Einbindung des wissenschaftlichen Tuns in umgreifende Zusammenhänge und auch Normen. Dies sei hier, in vollem Bewusstsein, wie besetzt diese Begriffe gerade in Bezug auf Kant oder Hegel schon sind, schlagwortartig die logische und die metaphysische Auffassung der Philosophie genannt. Insofern: Es gibt eine grundlegend veränderte Lage auch für Folgen und Präsenz klassisch-idealistischen Denkens – eine erste Veränderung zunehmend seit unmittelbar dem Ende seiner Epoche. Philosophien, neue Programme wie auch die Rezeption von Konzepten aus der Tradition, denken nicht mehr aus ehemaliger Souveränität, sondern aus einem Behauptungskampf und, wie unterschwellig immer, in Rechtfertigungsbedürfnis. Die Wissenschaftswirklichkeit 11 Vgl. die Dokumentation Der Materialismus-Streit, hg. v. Kurt Bayertz/Myriam Gerhard, Hamburg 2012. 12 Vgl. die Dokumentation Der Ignorabimus-Streit, hg. v. Kurt Bayertz/Myriam Gerhard, Hamburg 2012. – Die Debatten waren von anderem Typus als die Auseinandersetzungen innerhalb der Epoche der klassischen deutschen Philosophie. 13 Vgl. Matthias Rath: Der Psychologismusstreit in der deutschen Philosophie, Freiburg 1994. 14 Alles Folgende ist evidenterweise als idealtypisch gemeint: mit allen (empirisch-historischen) Nachteilen, aber vor allem den (blickeröffnenden) Vorteilen, den problemstrukturierenden Möglichkeiten eines solchen konzeptionellen Zugangs. 15 So die inzwischen schon selbstverständliche Bestimmung.

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hat die Philosophie vor sich her getrieben. Die Veränderungen der Gegebenheiten jedenfalls sind ein Faktum. Aus der seit den Anfängen der Philosophie bestimmenden 2er-Hierarchie, Wertverhältnis von Meinungen und (philosophischen) Vernunfteinsichten, ist die Positionierung in einem – gegenüber dem vorrationalen Alltag, Lebenstraditionen und Subjektivismen – komplexen 3erFeld geworden. Alles verordnet sich in Bezug auf die alternativ-doppelte SinnAusrichtung des Reflexionsdenkens. Dies im Blick, zeigen sich auch bei der Konstellation der Auswirkungen der Entwicklung zusätzliche Zusammenhänge. Die primäre Reaktion der Philosophie war zunächst ja gewesen, um des Kontakts zu den Wissenschaften willen – und insofern der neuen Macht des Zeitalters – die Polarität gering zu halten. Neben den verschiedenerlei zeittypischen Entwürfen der Wissenschaftssynthese, „Weltbild“-Programmen auf der Höhe der szientifischen Errungenschaften,16 waren dies die großen Tendenzen, sich der Macht der aufgestiegenen Wissenschaften anzubieten, anzudienen: logisch in einer Begründung des Positivismus der empirischen Sachwahrheiten, und metaphysisch als Materialismus. Beide Zielorientierungen, ,unterhalb‘ wie ,oberhalb‘ (und die „Weltbild“-Synthesen ohnehin), waren hier stark an den Wissenschaftsprozess selbst angelehnt. Eine eigenständige – und auch kritische – Stellung der Philosophie war kaum mehr vorgesehen; sie sei rational weder möglich noch nötig. Das vormalige Denken überhaupt erschien, wenn nicht insgesamt als kryptotheologische Sinnsuche, als bestenfalls (,metaphysischer‘) Vorläufer der Wissenschaft, und das fokussierte sich in besonderem Maße auf die Bewertung des klassischen Idealismus ausgehend von Kant. Dies, was seit dem 20. Jahrhundert häufig belächelt wird und als bloßes Symptom einer großen Identitätskrise gilt, hatte doch seine Motive. Es war keineswegs nur zeitaltertypische Mentalität, Mentalität einer eben wissenschafts- und technikgläubigen Epoche. Die aufgestiegenen und sich verselbständigenden Wissenschaften vielmehr sind Wirklichkeit, eine Wirklichkeit des Rationalen, und dies zunehmend mehr. – (2) Umso einschneidender war darum der tatsächliche Schritt, als es zu einem Neuansatz kam. Offensive der Philosophie, auch Wiedergewinnung einer kritischen Stellung, war dabei, bis ins 20. Jahrhundert hinein, eine charakteristische Erneuerung des Idealismus. Ihre große Gestalt bildeten die Unternehmungen, die in der fast ein halbes Jahrhundert dominierenden Richtung des ,Neukantianismus‘ geronnen waren. Idealismus als neuer Kantianismus: eine programmatisch geforderte Wiederaufnahme des Idealismus Kants, d. h. der einstigen Anfangsform, des Aus16 Und neben denen, die sich selbst ohnehin stark an die neuen Wissenschaften und deren empirische Verfahren anähnelten, im universitären Bereich z. B. die Besetzung der Philosophie-Lehrstühle mit Forschern der neuen Psychologie.

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gangspunkts der klassischen Epoche ein Jahrhundert zuvor, trat an gegen die neuen Herausforderungen Positivismus, Materialismus (bzw. allgemein Naturalismus) sowie auch auf der Gegenseite Subjektivismus. Die Unternehmungen der geforderten Wiederaufnahme Kants standen für die Erneuerung der Philosophie als wieder idealistisches Projekt – nicht in einfacher Wiederholung, sondern in auf die Veränderungen antwortender Reformulierung.17 Das Herausstechende der ,neukantianischen‘ Strömungen, was sie unter den anderen idealistischen Tendenzen der Zeit auszeichnete, war, dass sie den Idealismus vertraten, ohne eine Frontstellung bzw. Wert-Hierarchie gegen die Wissenschaften aufzumachen; und dass sie sich dabei zugleich als Wahrung, ja Rettung des Humanen verstanden. So in ihrem Ganzen als Wendung gegen die ,Verweltanschaulichung‘ der Philosophie, gegen die aufgekommene Depotenzierung der denkerischen Aufgabe und Standards zur reinen Erfüllung subjektiver Orientierungs- und Sinnfragen, holte die Kant-Renaissance vielmehr viele Bedürfnisse, die ins Außerakademische abgewandert waren, wieder in die universitäre Forschung und Lehre und deren argumentative Debatten (etwa in den Zeitschriften des Fachs) zurück.18 Die Potenz dieses Denkprogramms schöpfte sich daraus, Wissenschaften wie auch alles Andere – alle sonstigen theoretischen und praktischen Errungenschaften und Wichtigkeiten (einschließlich ethischer und sozialer Normierungen) – als intellektuelle Unternehmungen des Menschen zu begreifen zu geben: und dabei alles als Konstruktion, jeweilige Konstruk-

17 Die idealistische Offensive – dabei zum Teil freilich auch: idealistische Rückzugsgefechte – war ein universelles, internationales Phänomen. Neben Deutschland findet es sich in starker Herausformung auch in Frankreich, Italien, den USA und England. (Zur Bedeutung des Idealismus etwa der amerikanischen Philosophie vgl. Bruce Kuklick: The Rise of American Philosophy, Cambridge, Massachusetts, 1860–1930, New Haven 1977.) Für die Kulmination der Strömungen in der Lage um die Wende zum 20. Jahrhundert vgl. die exemplarischen Fallstudien – zur Ausprägung im Kontext der deutschen Kultur – in Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. II: Idealismus und Positivismus, hg. v. Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf, Stuttgart 1997. – Die Kant-Linie war für die Philosophie natürlich niemals ganz abgerissen gewesen. Zur Übergangsphase von der klassischen idealistischen Epoche zur Erneuerung im expliziten ,Neukantianismus‘ vgl. die erklärt historische Studie Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. 1986. Köhnke vermag auch zu zeigen, wie der ,Neukantianismus‘ selber Anfänge im Positivismus hatte. 18 Dies die Motivationen bereits bei den Gründerfiguren der ,neukantianischen‘ Strömungen seit Mitte der 1860er Jahre, und dies auch in all den verschiedenen aufgefächerten Ausgestaltungen des Projekts zu einer Philosophie universeller Thematik gleich dem Erbe der klassischen Epoche. – Vgl. Otto Liebmann: Kant und die Epigonen, Stuttgart 1865; und mehr noch Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1865 (bes. das Schlusskapitel Der Standpunkt des Ideals, Leipzig 5 1896, 2. Buch, 538–562).

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tionen von Objektivitäten und Sachverhalten (Sachverhaltsdimensionen).19 Im ,Neukantianismus‘ war der Problemdruck, der mit dem Ende der klassischen Epoche aufgekommen war, als erstmals fruchtbar aufgenommen. Seine Ausformungen haben, bei aller Bandbreite der einzelnen Positionen, dabei vor allem die logische Aufgabe der Philosophie ins Zentrum gestellt – die Philosophie als (explikative) Grundlegung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion sowie dann auch Grundlegung der Normativitäten ethikhaltiger oder ästhetischer Allgemeinaussagen. Vom Logischen aus betrieb der ,Neukantianismus‘ eine Explikation unserer generellen Akte von (gültiger, nichtsubjektivistischer) Konstruktion, deren Gebäude bis an die Schwelle reiche, wo sie an die Stelle etwaiger metaphysischer Unternehmungen ,oberhalb der Wissenschaften‘ treten könne. Er zielte auf ein Logisches, eine reflexive Selbstbeschränkung auf logische Bewandtnis, ohne eine eine, letzte ,Weltanschauung‘ zur Verbindlichkeit zu geben. – In der Wirkung freilich hat dieses Denkprogramm befremdend wenig Spuren hinterlassen über seine eigene große Phase hinaus. Es ist keineswegs in ein nachhaltiges Basisbewusstsein eines nun kräftigen Idealismus eingegangen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, wie wenig gerade der neue Hegelianismus, der sich dann im 20. Jahrhundert sukzessive eingestellt hat, von den Errungenschaften der bestehenden Kant-Renaissance in sich aufgenommen und weitergetragen hat. – Ich nehme dies als Indiz in der Fragestellung nach Folgen und Präsenz der klassischen Epoche des Denkens. Meine Hypothese ist, dass es entscheidend die virulente Strömung der ,Lebensphilosophie‘ war, die, in einem irisierenden neuen Leitprogramm ,Leben!‘, die großen Motivationen der Zeit auf sich gebündelt, in sich absorbiert hatte – und die es geradezu verhindert hat, dass zwischen ,Neukantianismus‘ und neuer Hegel-Aneignung des 20. Jahrhunderts noch einmal eine so fruchtbare Entwicklung sich vollziehen konnte wie in der inneren Dynamik, die der Idealismus in der Gemengelage nach Kant, einhundert Jahre zuvor, erlebt hatte.20 Infektionen durch ,Lebensphilosophie‘ haben für 19 Bezeichnend ist, dass die Frage nach den „Grenzen des Naturerkennens“ – so und ähnlich die stehende Rede –, wie sie die Verständigungsdebatten des Jahrhunderts (s. o.) bis dahin geprägt hatte, mit der Kant-Renaissance theoriereflexiv wurde: zur Erörterung und Ausmessung der „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ (so der explizite Titel von H. Rickerts einflussreichem Werk von 1896/1902), d. h. des generellen Typus naturwissenschaftlicher Erkenntnisakte. 20 Entsprechendes gilt im Übrigen in starkem Maße – wenngleich logisch anders gelagert durch das transzendentale Programm – auch für Fichte. Ein Denken-mit-Fichte freilich hat dadurch gar keine (resp. nur eine unappetitliche völkisch-,lebensphilosophische‘) Neuaneignung erfahren. – Zu einer entsprechenden Rehabilitierung Fichtes und dem noch weithin unausgeloteten Potential seiner späten Philosophie vgl. Rainer Adolphi: Von der Lebensphilosophie zurück zum Transzendentalen Idealismus. Eine fundamentalanthropologische Perspektive auf den Theoriebegriff des ,Lebens‘ beim späteren Fichte, in: Geist?, hg. v. Paul Cruysberghs, Bd. II, Berlin 2011, 277–291.

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lange Zeit insbesondere den Hegelianismus des 20. Jahrhunderts und seinen Idealismus schwächer sein lassen, als es der originale Hegel gewesen war. Das wieder bewusst zu machen, wird zunächst einer Differenzierung bedürfen.21

II

Das Programm ,Leben‘ (Ein auratisches Konzept und seine Läuterung)

,Leben‘ wird immer dann zum Bedeutungsgedanken – und zum philosophischen Argument –, wenn generell das Rationale als zu dominant empfunden wird. Beziehungsweise wenn die Erfahrungen und Bedürfnisse sich wegentwickelt haben von den etablierten Gebilden und Formen des Rationalen. Es sind jeweils signifikante Konstellationen. Dies, was im Prozess der Neuzeit in mehreren charakteristischen Wellen sich ausgebildet hat, zeigt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine spezielle Form. ,Leben‘ richtet sich nicht mehr allein gegen eine Art des Denkens, eine Mentalität (bes.: Rationalität der ,Aufklärung‘), sondern entscheidend gegen eine erfahrene Wirklichkeit: gegen ein Herrschendes im Zeitalter der Wissenschaften und gesellschaftlichen Rationalität, eine zunehmend besitzergreifende, die Räume wie Entfaltung der Existenz zunehmend beherrschende Rationalität. In der Dynamik der Neuzeit mehrfach zum großen Oppositionsbegriff gewachsen22 – je nach Stand der Rationalität war es auch eine jeweilige spezifische Weise des Rekurses auf ,Leben‘ –, wurde so seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ,Leben‘ zum allgemeinen Gegenprogramm gegen die Mächte der Zeit und den Prozess der Entwicklung. Dadurch war es zugleich die Radikalisierung von allem. Das im Begriff ,Leben‘ Gedachte, insofern auf eine Wirklichkeit und deren Erfahrungen reagierend, stand nun allgemein als Verkörperung eines kritischen Bewusstseins. (1) Gerade dies erfordert Differenzierungen. Denn wo es strukturell stets, in allen Phasen und all seinen Ausprägungsvarianten, der anti-rationalistische Einspruch gewesen war, so vergegenständlichte im Zeitalter von mit Wissenschaft und gesellschaftlicher Veränderung – deren erfahrenen Wirklichkeiten – 21 Ein Zusammenhang mit ,Leben‘ ist sonst stets in der Gefahr unbestimmter Bedeutungen, inflationärer Rede. Fast nichts war ja unbeeinflusst geblieben von der Strömung der ,Lebensphilosophie‘, und selbst mit den heutigen ,postmodernen‘ Orientierungen geht wesentlich ein Denken einher, das sehr wohl Elemente einer neuen Welle ,lebensphilosophischen‘ Denkens an sich hat. – Zu Letzterem vgl. Rainer Adolphi: Philosophischer Neptunismus. Über die Metaphorik des Strömens und Fließens im philosophischen Denken, in: Wasser – Gewässer, hg. v. Monika Schmitz-Emans/Kurt Röttgers, Essen 2012, 39–65. 22 In den Anfängen in theosophischer Spekulation (Oetinger, und noch einmal aufgegriffen bei Baader); dann in der Wende zum 19. Jahrhundert romantisch (Fr. Schlegel, romantische Naturphilosophie, usw.). Vgl. allgemein Rainer Piepmeier : Aporien des Lebensbegriffs seit Oetinger, Freiburg 1978.

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identifizierter Rationalität sich dies zu einer changierenden Grundhaltung, und die betraf vor allem die Versprechen des Zeitalters, die mit ,Wissenschaft‘ und mit gesellschaftlicher Modernisierung verbundenen Versprechen. Einerseits trat mit ,Leben‘ das neu aufgekommene ,Evolutions‘-Programm (Logik jeweiliger ,Evolution‘) immer weiter ausgreifend herein, das gewissermaßen die alten Geschichtsgedanken von rationalen Faktoren von Entwicklung bzw. vollends intentional herbeigeführter Veränderung und Zielideen überschrieb.23 Zugleich aber wandte unter dem Leitbegriff ,Leben‘ das Denken sich gegen die Verkürzungen und Vereinseitigungen im neuzeitlichen Projekt der Erkenntnis (,Erklärung‘) und der Gestaltung von Lebensverhältnissen wie Existenz durch Vernunft. Ins Visier vehementer Kritik, zuweilen auch moralischer Aburteilung gerieten, zunehmend schon seit der ,Romantik‘, überhaupt das Vernunft-Bild des Menschen, das Gesetzes-Verständnis der Natur und jederlei Regel-Allgemeinheit in Ethik und sozialen Formen. ,Leben‘ steht hier, man mag dies als das allgemeine – und bleibende – Erbe des 19. Jahrhunderts fassen, nicht zuletzt für allgemein die Dimension der (wahren) ,Geschichtlichkeit‘; oder für das Problem (humaner) Kulturalität. – In einer Meta-Bewandtnis wurde ,Leben‘ dabei zudem zum anti-dualistischen Hyper-Begriff generell. Gegen alle hergebrachten (ontologischen) Dualismen des Denkens, wie sie sich neuzeitlich vollends polarisiert haben, sollte in ,Leben‘ Geist und Natur, Bewusstsein und Materialität, mind und body (sowie ferner Theoretisches und Praktisches, Denken und Fühlen usw.) einander angenähert werden; oder sollte gleich geradewegs vermittelt werden oder überhaupt verschmolzen, als allenfalls jeweilige zwei Schichten resp. Manifestationsweisen des im Letzten selben. Zusammen macht dies das mehrfache Anti-…, das zur funktionalen Bedeutung des im Zeitalter von Wissenschaft und gesellschaftlicher Modernisierung in einer nochmaligen, theorieradikalisierten Welle aufgekommenen ,Lebens‘Denkens gehört: ein je betreffendes theorie- bzw. argumentationskonzeptionelles Anti-… Darin erscheint es ein allgemeiner zu beobachtender Zusammenhang, dass je mehr ,kalte‘ Gesetzlichkeiten und je mehr als Mechanisches Empfundenes es gibt in den erfahrenen Wirklichkeiten, desto stärker und breiter ,Leben‘ zum Inbegriff des Protestes geworden ist. – Daneben steht einiges konstitutiv Positive, das in dieser Konstellation mit ,Leben‘ neu eingebracht war. Darunter namentlich zwei Bedeutungs- und Wichtigkeitsdimensionen. Transportiert mit der Perspektive ,Leben‘ war zum einen das Leben als das Lebewesen – das Einzellebewesen. Dies steht (positiv) für einen neuen Begriff von In23 Das musste nicht nur optimistisch sein, sondern konnte auch pessimistisch im Sinne eines Überhandnehmens der ,Masse‘ zur Theorieperspektive werden: Verdrängung von Errungenschaften (und deren kulturellen wie sozialen Trägern) rein massenmäßig durch Minderes, konkret die schiere Mengen-Macht von Minder-Qualifizierten.

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dividualität überhaupt: das werdende, sich bildende, sich ausdrückende, sich behauptende Einzelne und Für-sich-Seiende, das darin eine je eigene – dynamische – Identität besitzt24 und nicht in ,mechanisches‘ Denken aufzulösen ist und nicht aus äußerer Kausalität zu begreifen.25 Zum andern war mit dem Verweis auf ,Leben‘ eine neue Art indirekt-explikativen Denkens angezeigt: was vorausgesetzt werden muss – als Vollzugswirklichkeit – und was nur indirekt umschrieben werden oder (hierin ähnlich dem ,Neukantianismus‘) mittels konstruierter Modelle begreifbar gemacht, mit dem Bereich des Rationalen und Begründungsverständlichen verbunden werden kann. (2) In der Konstellation des Denkens wurde ,Leben‘ dergestalt zum Sammelbecken für vielfache Motivationen – eine Gegenströmung, die dann, und erstmals in seinen bisherigen Wellen, binnen kurzem zum Hauptstrom der Entwicklung geworden ist. Im Gedanken und Argument ,Leben‘ hatten sich neue aufgebrochene Bedürfnisse des Denkens gesammelt, in einer Zeit, die zugleich die der als ,Neukantianismus‘ etablierten Offensive des Idealismus war.26 – Für das, dass dies zu einer eigenen grundlegend neuen Theoriemodellierung geführt wurde, nicht nur generell atmosphärisch blieb, lassen sich einige Faktoren angeben. Sie machen auch das aus, inwiefern diese Konstellation dann die weitere Rezeption der klassischen idealistischen Philosophie und den Rahmen ihrer Aktualisierung geprägt hat. Als Ort, an dem dies ausgetragen wurde, lässt sich allgemein genau die Aus24 Sowie im Konkreten vor allem auch: bewahrt, aufrechterhält. 25 Als Tradition betrachtet, kann man dies allgemein den ,romantischen‘ (bzw. oppositionellen romantisch-wissenschaftsphilosophischen) Eintrag in den Begriff des ,Lebens‘ bezeichnen. Ihm assoziiert ist der ,Organismus‘-Begriff bzw. Metaphorik des ,Organismus‘, der dann auch vor allem auf Geschichte, Gesellschaft und Kultur übertragen wurde und darin vielfach weitergewirkt hat. – In denkgeschichtlicher Perspektive waren mit der Bewandtnis von ,Leben‘ qua Einzellebewesen im Weiteren häufig Unteraspekte verbunden. Ein strukturell wichtiger davon, ausgestaltet meist in gewisser ,phänomenologischer‘ Argumentation, ist der, mit ,Leben!‘ die Rolle von Praxis – sowie namentlich die Rolle des Körpers bzw. Leibes als meines Aktzentrums – geltend zu machen; oder allgemeiner, auf die Argumentationsstruktur hin bezeichnet: die Mittelbarkeit jedweder Wechsel-Wirkungs-Verhältnissse, im Erfahren wie Handlung. Ein gewisses Gegenstück ist ferner das, wo ,Leben!‘ für eine Ausweitung des Phänomenverständnisses und wissenschaftlichen Thematisierungshorizonts steht – Ausweitung auf umfassendere Prozess-Zusammenhänge, wie namentlich Um-Welt, Lebens-Welt und ,Kultur‘. ,Leben‘ fungiert hier, ist hier verstanden, als (heideggersch gesprochen) In-Sein, als: das Leben in… Als Struktur bzw. Platzhalter bedeutet es so viel wie solches (prozesshafte) In-Sein. 26 Die funktionale Bedeutung dessen, dem Anspruch gerecht zu werden, Leben (bzw. die mehrerlei darunter befassten Bewandtnisse) denkerisch zu erfassen, ist oft mindestens genauso groß wie das, was sich philosophisch darüber dann sachinhaltlich ausmachen lässt (über eine Zusammenstellung empirischer Merkmale und rubrizierter Ausprägungen hinaus). Sachinhaltlich ist viele ,Lebensphilosophie‘ weit argumentationsärmer – oder schematischer, in jeweilig immer gleicher Wiederholung eines Grundarguments – als die Tradition, gegen die sie sich wendet.

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einandersetzung mit Hegel bezeichnen.27 Das erste Entscheidende war dabei zunächst ein Rückwärts. Kierkegaard steht hier exemplarisch für eine ganze Generation, die für jeden weiteren Schritt den Umbruch eingeleitet hat, als sie die bisherige Philosophie der Abstraktheit und reinen Logizität zieh. Jene Tradition der Philosophie, welche in Hegel die Spitze alles Bisherigen, den Endpunkt habe, sei „abstraktes Denken“: weil all ihre Theorien völlig absähen – strukturell abstrahierten – von „dem Denkenden“, dem persönlichen und seine Existenz vollziehenden Geistsubjekt. „Abstraktes Denken“, so das berühmte Diktum, „ist das Denken, bei dem es keinen Denkenden gibt. […] Konkretes Denken [dagegen] ist das Denken, bei dem […] die Existenz dem existierenden Denker den Gedanken, Zeit und Raum gibt.“ Diesem Denken sei nicht nur das Subjekt selber offen mitpräsent, sondern ihm habe auch das jeweilige „bestimmt[e] […] Einzeln[e], das gedacht wird“ – der situierte Gedanke, das situierte Wissenwollen –, Bedeutung.28 Kierkegaard hatte darin die allgemeine argumentative Figur vorgezeichnet, die den Übergang zu generell ,Leben!‘ und dann einer prinzipiell ,lebensphilosophischen‘ Begrifflichkeit wie Theoriebildungsweise bedeutet. Es ist die Figur des „Dahinter …“ – dass hinter all unseren geistigen Akten, Hervorbringungen und Bedeutsamkeiten ein Eigentliches wirkt und webt.29 27 Im Großen gesehen, war es dagegen unmittelbar wohl weniger (bzw. nicht schon) das, an das man angesichts der bekannten großen Vernunft-vs.-Irrationalismus-Deutung als Erstes denken mag: die direkt aus den Philosophien Fichtes und Schellings hervorgewachsene Metaphysik des Willens, wie sie namentlich in Schopenhauer ihre eröffnende Gestalt bekommen hatte; oder später solche Tendenzen wie die Wirkung von Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (Berlin 1869; Untertitel: Versuch einer Weltanschauung). – Was die Bedeutung Hegels betrifft, so ist das, was später als epochal Anderes sich verselbständigen sollte, in den Gang, den das Denken nach der klassischen Epoche genommen hat, zunächst in einer eigentümlichen Verschränkung aus Schatten-der-hegelschen-Philosophie und Abstoßung-von-Hegel gekommen. Zunächst war das Problemgemenge, für das die Begrifflichkeit von „Leben“ steht, in Sachtermini gefasst worden, die offen als Erweiterung (oder auch Radikalisierungen) idealistischer Fragestellungen antraten: als „Bedürfnis“, als „Interesse“ usw. Das heißt, es bleiben – bei aller Transformation – zunächst durchaus sehr Hegel’sche Themen. Dies aber nur in einer ersten Schicht – nämlich bevor dies dann, die Phänomene dergestalt ausbuchstabiert vorliegend, in einem weiteren Schritt generalisiert und prinzipiell, fundamentalphilosophisch thematisiert wurde: und zu einer grundlegend neuen Theoriemodellierung geführt wurde. 28 Søren Kierkegaard: Entweder – Oder [1843], in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Hermann Gottsched/Christoph Schrempf, Jena 1909 ff., Bd. 2, 30; und dies dann als das durchgehende, leitende Problem der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift [1846] (dort in Bezug auf den ,Denkens‘-Gehalt der Wahrheit des Christentum), vgl. bes. 2. Teil, 2. Abschn., Kap. III, § 4. – So übrigens auch die Argumentation beim jungen Marx, zum Beispiel in den Feuerbach-Thesen [1845] (vgl. These 5–7) und in den Pariser Manuskripten [1844]: gegen Hegel und den Rest-Idealismus, Rest-Hegelianismus der Junghegelianer und etwa Feuerbachs. 29 Und wie alles philosophische Denken seinen Argumentationsraum durch eine bestimmte spezifische Polarität struktureller Art aufspannt, so ist es hier der Gegensatz von: Das Feste,

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Das, was Kierkegaard dabei exemplifiziert für die Weise, wie Impulse eines ,Lebens‘-Denkens – und die motivierenden neuen Bedürfnisse – eingegangen sind in die Philosophie, ist charakteristisch das Anti-Theoretische. Erstmals in der Neuzeit, und das markiert die Tiefe des Wandels, sind anti-theoretische Haltungen zu einem Grundsätzlichen geworden.30 Sie machen die den Unternehmungen des Denkens seitdem in weiten Bereichen bleibend anhängende Selbstskepsis der Theoriemöglichkeit überhaupt. Dabei freilich meist ohne Differenzierung zwischen Philosophie und Wissenschaften, beides vielmehr gleicherweise zurückgestuft gegenüber den Prozessen des ,Lebens‘ und der Existenzialität des von ihnen angegangenen und sie verstehen wollenden Subjekts.31 Die Wissenschaften als neue spezifische Wirklichkeit gehen gemeinhin noch nicht als eigener wesentlicher Faktor mit ein. Es blieb bei einer alten 2erPolarität, hier transformiert zu: Erfahrung (,Lebens‘-Erfahrung, existenzielle Erfahrung) vs. Theorie-Rationalität. (3) Auf dem Weg zur wirklichen Theorie blieb dies denn nicht so unschuldig. Dem ,Lebens‘-Begriff haftet eine – auratische – Vagheit an, die, wo nicht reflektiert und geläutert, eine Reihe weitreichender prekärer Voraussetzungen in betreffende Theorien eingepflanzt hat. Als Folge ,lebensphilosophischer‘ Argumentation und überhaupt ,Lebens‘-Begrifflichkeit stehen zunächst konzeptionelle Unbestimmtheiten. Denen ist das Denken in der Tat oft irgendwo erlegen. Es sind strukturelle Ambivalenzen der Theorie-Bildung, die in erster Linie mit dem Gedanken des ,Lebens‘ zusammenhängen. Ihre theoretische Ausprägung lässt sich als die metaphysischen Versuchungen der Lebensphilosophie verallgemeinern. – In Stichworten: (a) Die vitalistische Versuchung: das Ansetzen eines Lebens-„Stoffs“ oder „8lan vital“ usw., die Substantialisierung zu einer (metaphysischen) LebensKraft, einem bestimmten Quantum davon, dessen energetischer Umwälzung. Darin wirkt namentlich der Druck der ontologischen Konsistenz, ferner das erzweckte Schritthalten mit physikalischen Erklärungen, überhaupt das Problem der Erklärung. – (b) Die Identitäts-Versuchung: Als ,Leben‘ gefasst, ist das (je) Betreffende unversehens als ein Selbiges vorausgesetzt, als eine räumlich wie zeitliche Monas mit einem inneren ,Wesen‘ des empirischen Äußeren; und es ist Manifeste, Vordergründige, Abstrakte vs. Prozess (und darin Situiert-Einzelnes). – Vgl. dazu allgemein R. Adolphi: Philosophischer Neptunismus. 30 Man mag diese Reflexion das kritische Gewissen der Philosophie nennen. – Nicht von ungefähr hat auch die große Epochen-Darstellung Karl Löwiths Von Hegel zu Nietzsche (Stuttgart 21950; Untertitel: Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts) diesem Kierkegaard, obwohl er in seiner Zeit kaum Rezeption gefunden hatte, schon gar nicht unter der Philosophie und erst recht Wissenschaftsreflexion, in vielen Hinsichten eine besondere Bedeutung zugemessen. 31 Bei Kierkegaard selbst etwa ist das gewandelte Verhältnis zu den in Breite bereits aufgestiegenen Wissenschaften auch gar nicht wahrgenommen.

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vorausgesetzt alle wesentliche Veränderung als Entwicklung, als deren Entwicklung. – (c) Die Utilitäts-Versuchung: Als Bestimmung für innere Bezüge, für Zusammenhänge unter den Ausprägungen eines (oder generell des) ,Lebens‘ bleiben – vor allem wenn in Konsequenz auch der ,Geist‘ als Exponent oder vollends als Funktion von ,Leben‘ gefasst ist – im Letzten schnell nur Nützlichkeits-Kategorien, wie immer verkappt dies sein mag. Die aber bringen auf jeden Fall eine massive normative Hypothek herein. Zudem führen sie die Argumentation schnell in Beliebigkeiten – unter der Perspektive ,Leben‘ lässt sich für fast alles ein Wofür und Wozu und Warum-geworden (Warum-evoluiert) konstruieren; oder führen, wenig besser, in Zirkularitäten. Auch in diesem Punkt, innere Bezüge vorzustellen, besteht jedenfalls unmittelbarerweise ein übergroßes Einheitspräjudiz, unter dem die Phänomene nur in den Blick kommen. (d) Die biologistische Versuchung: Je weniger eine Position sieht – bzw. dafür gezielt ein Kernstück der Theorie entwickelt –, dass auch die menschliche ratio, unsere kognitiven Verobjektivierungen und zuletzt die Wissenschaft (sowie ,technische‘ Umwelt-Gestaltung) zum Aufbau unserer als Lebe-Wesen gehören, desto mehr ist mit dem lebensphilosophischen Ansatz eine offene oder doch heimliche Privilegierung des – weil die ,tieferen‘ Schichten – Triebenergetischen und der Animalität, gar des Vegetativen verbunden. Oder es ist unsere menschliche differentia, das uns Auszeichnende innerhalb des Lebendigen, in harter Weise dichotomisiert – als Zerrissenheit, Unseligkeit, Grenzenlosigkeit unserer geistig-körperlichen Hybridnatur. – (e) Die ästhetische (bzw. mystische) Versuchung: für die Einsicht in das Eigentliche allen Seins – das ,Leben‘ – eine besondere transrationale (jedenfalls eine von allen sonstigen gewöhnlichen Erkenntnis-, Verifikations- und Begründungsprozessen grundlegend geschiedene) Zugangsweise zu postulieren: die Kunst, die Ekstase, das Erlebnis, zumal Erlebnis der Erhabenheit, die Intuition, den Rausch, das Spiel. – (f) Schließlich die Versuchung von Einzelnem-und-Allgemeinem: Denn gerade mit der ,lebensphilosophischen‘ Begrifflichkeit verschwindet gleichzeitig auch tendenziell aus dem Blick, dass phänomen- sowie auch realwirkungsgestaltlich es ja nicht das Leben gibt, Leben vielmehr seine ontische Wirklichkeit als ein Lebendiges – vielfache Exemplare davon, und zeitlich in generativen Ketten – hat. Es ist dies nichts Geringeres als die Versuchung des Ontologismus – einer neuen ontologistischen Weise der Theoriebildung und der Argumentation –, der genau in der gegen klassische Begriffe ontologischer Wirklichkeit angetretenen Kategorie des ,Lebens‘ versteckt ist. (4) Zu auratischen Gedanken gehört, dass Kehrseiten meist nicht direkt bewusst werden und nicht in gerader Linie, aus dem immanenten Prozess betreffender Denkunternehmungen heraus zur Bearbeitung kommen, sondern durch anderweitige Impulse. Zu strahlend ist der Gedanke selbst, zu strahlend die mit ihm verbundenen Erwartungen. So auch bei ,Leben‘ seit dem Ende des

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19. Jahrhunderts, ,Leben‘ im Zeitalter der Wissenschaften und von gesellschaftlicher Rationalität. Eine spezielle, aufs Ganze gesehen durchaus eigengespeiste Teilentwicklung des ,Lebens‘-Denkens war es, die hier aus der Enge der metaphysischen Versuchungen herausgeführt hat. Sie hatte sich daran festgemacht, dass die neu aufgestiegenen Wissenschaften nicht nur die Position der Philosophie in Frage stellten, sondern auch einen ganzen Bereich anderer, angestammter Wissenschaften, denen kulturell bis dato das Prestige des Bildungswissens gehört hatte, zu entthronen drohten: die alte Tradition der nichtszientifisch angelegten Wissenschaften des Geschichtlichen und der menschlichen Dinge, welche dann als ,Geisteswissenschaften‘ benannt wurden. Sich diesem (zusätzlichen) Problem zu stellen, brachte die Theoriebewandtnis des ,Lebens‘-Gedankens in potentiell eine andere Stellung als unter den Vorzeichen der prekären Versuchungen. Das betraf vor allem das zum Gedanken ,Leben‘ gehörende Selbstverhältnis. Statt das Selbstverhältnis, das die Eigenidentität eines Lebens ausmacht, auch seine ,innen‘-gewirkte Vereignungskraft und Aufrechterhaltung gegen äußere ,mechanische‘ Kausalitäten, funktionalistisch anzusetzen, d. h. wie es in einer objektivistischen Position, als eine naturale Objektivität angesetzt wäre, haben diese neuen, speziellen Unternehmungen es so zu denken gelernt, wie dies auch die Akte der Reflexion, d. h. die Theorieform selbst mit einbefasst – und haben, den Idealismus ihrer eigenen Zeit indes teils überspringend, teils mit Dünkel ignorierend, gerade dabei eine Verwandtschaft mit der klassischen idealistischen Philosophie entdeckt. Während die meiste Strömung der ,Lebensphilosophie‘ den ,Lebens‘-Begriff geradewegs als allgemeine Kategorialität des Seins nahm (und gegen anderes geltend machte) – ,Leben‘ in der Nachfolge des alten psychÞ- bzw. ,Seelen‘Begriffs: als die ontologische Fundamentaldimension oder -schicht des qualitativ lebendigen Seins –, wurde hier als das Entscheidende eine subjektivitätstheoretische, zugleich epistemologische Bewandtnis hinzugefügt – das ,Leben‘ als das in seinen höheren Formen vollzugshafte Erleben, Erleben seiner eigenen ihm gegebenen Zuständlichkeiten und der darin liegenden Selbst-Evidenz. Die Konzeption, die dabei am einflussreichsten wurde, einflussreich gerade auch für die Weise der Bewertung und Aktualisierung der klassischen idealistischen Philosophie, ist wirkungsgeschichtlich mit dem Namen Wilhelm Dilthey verbunden. Die Begründung, ja Armierung des Systems der ,Geisteswissenschaften‘ und ihres (,hermeneutischen‘) Wissens auf Basis einer durchgehend ,lebensphilosophischen‘ Begrifflichkeit und Argumentation hat dabei das ,Lebens‘Denken selbst in seine elaborierteste Theoriebildung gebracht. Was die neue Weise der Argumentation, folgend aus einer neuen thematischen Fokussierung, bedeutete innerhalb des ,Lebens‘-Denkens der Zeit, ist vor allem darin begründet, nicht mehr nur die eine Richtung – die Rückführung aller Phänomene je auf ,das‘ Leben – auszugestalten, sondern zu entscheidenden

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Teilen auch den Aufbau von dorther – die Akte und Aufschichtungen – zu zeigen. Diese Theorieanstrengung ist intendierterweise sowohl das Zurück-auf-…, die (kritische) Re-Duktion, wie in gleichem Maße das Nachzeichnen der (gegliederten) Konstitution, die Re-Konstruktion. – Des Genaueren ist es die Gestalt beim späten Dilthey. Denn erst als Dilthey die psychologisierenden Anklänge seiner frühen Grundlegung der ,Geisteswissenschaften‘, die Konzeption eines psychologisierenden Fundamentalbegriffs von ,Erlebnis‘,32 durch eine Logik von ,Verstehens‘-Verhältnissen abgelöst bzw. komplementarisierend transformiert hat, kam es zur Entwicklung einer reflektiert-integralen, wirklichen ,lebensphilosophischen‘ Theorie: wie vom gelebten Leben her, und verwoben in den Prozess dieses Lebens, alle menschlichen Tätigungen, zumal auch die höheren geistigen, zu begreifen sind; und wie alle Kategorien der erfassenden Vergegenständlichung, die von Lebendigem als wesenhaft Lebendigem wie auch die der Abstraktion zu Natur-,Gesetzlichkeiten‘ und allgemeingesetzlichen seins,objektiven‘ Kausalitäten, darin wurzeln.33 Ihr neu eingebrachtes Ziel war, im Aufbau zu zeigen, wie hinter Erkennen, Vernunft und Werten, aber auch hinter jedwedem Zum-Objekt-Werden überhaupt und der äußeren naturalen ,Welt‘ und den Bildungen eines ,Gesetzes‘-Schemas die alles bewegende Quellkraft des ,Lebens‘ wirkt. (Und ,hinter den Systemen steht der Mensch‘.) Es wurde die elaborierte Theorie des lebensphilosophischen ,Dahinter…‘ – ein ,Dahinter…‘, das mehr, weil als Realgeschehen, zu sein unternimmt als transzendentale oder logische Konstituierung und das beanspruchterweise auch keiner Anleihen bei einem Vitalismus oder Monadologismus bedarf. Seine gleichsam metaphysische Seite ist eine Explikation der Bildungen des erlebend sich selbst Aufgeschlossenen. In der Grundlage jedoch ist dieses Programm dabei zugleich erkenntnislogisch reflektiert. Leben ist, in erkenntnislogischem Sinne, die „Grundtatsache“ alles erfassenden Verstehens; es ist nach dem vom späten Dilthey gestifteten Ansatz „das von innen Bekannte“.34 Hinter „Leben“ kann, aber braucht auch nicht zurückgegangen werden. Alles, was ist – für unsere menschliche Wirklichkeits- und Bedeutungswelt ,ist‘ – und in ursächlichen Beziehungen mit anderem zusammenhängt, anderes beeinflusst, ist Äußerung solchen wirkenden Inneren. Im Er-leben einer Erfassung wird uns das enthaltene Leben, wird uns dies Wirkende ansichtig – nun nicht mehr als psychologische (sowie je-einzelne) Evidenz-Unmittelbarkeit, sondern als zugehörig zu einer ganzen gedeuteten inneren Welt meiner selbst und in Abklärung mit 32 Vgl. Wilhelm Dilthey : Einleitung in die Geisteswissenschaften [Bd. 1], Leipzig 1883; ders.: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Berlin 1894. 33 Zu dieser Theorie des späten Dilthey vgl. allgemein – auch zum Folgenden – namentlich Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1910], in: Wilhelm Dilthey : Gesammelte Schriften, Bd. VII, Göttingen 1958. 34 W. Dilthey : Der Aufbau der geschichtlichen Welt, 261.

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Einsichten in Allgemeinstrukturen. – Dies ist denn verstanden gerade in Nachfolge auch des klassisch-idealistischen ,Geist‘-Begriffs. Diese reflektierte Gestalt des ,Lebensphilosophischen‘ entwickelte sich aus einer nochmalig neuen, erweiterten Auseinandersetzung mit namentlich Hegel.35 Doch strukturell anders als bei der (rationalen) Welt- und Selbstdurchsichtigkeit, die im klassisch-idealistischen ,Geist‘-Begriff gedacht ist, bleibt hier im Ganzen eine letzte Unerklärlichkeit, ein „Rätsel“ des Warum?, eine gegenüber all unserer menschlichen Erklärungskraft „Fremdartigkeit des Lebens“.36 Leben, gerade auch das Leben, das wir selber sind, sei nur unabschließbar aufzuhellen. Alle wesentliche Erkenntnis bleibe, und dies durchaus nicht als Nachteil zu werten, ein menschliches Wissen ohne letzte logische Wahrheit.37

III

Der Schatten der ,Lebensphilosophie‘

(1) Durch das aufgekommene ,Lebens‘-Denken, in der Breite seiner Strömungen, hatten sich neue Verhältnisse ergeben. Die Konstellation hat sich verändert. Am Ende der Entwicklung bilden Idealismus (Idealismen) und ,Lebensphilosophie‘ eine unübersichtliche Lage. Zu ihr gehört auch wesentlich, dass ,Leben‘, als Bedeutungsgedanke und (kritisches) Argument, nicht schon gleich ,Lebensphilosophie‘ ist oder gleichumfänglich; und auch ,Lebensphilosophie‘, als bestimmte Theoriebildung oder Ansatz, ist nicht gleich ,Lebensphilosophie‘. Was die Theorie betrifft, so besteht unter den Strömungen des ,Lebens‘-Denkens die Bandbreite zwischen den – mehrfach gelagerten – metaphysischen Versuchungen (s. II.3) und demgegenüber der erkenntnislogisch in sich reflektierten ,Lebensphilosophie‘ der menschlichen Lebensdeutung, wie sie in Dilthey (genauer : dem späten Dilthey) ihre exemplarische Ausformung hatte (s. II.4). Und, bei beidem konnte ,Leben‘ als Erweiterungs-Begriff und ebenso als Grenz-Begriff fungieren. Der Grenz-Begriff gestaltete sich in Argumentationen, die auf die Ein35 Bei Dilthey bes. seit seiner Beschäftigung mit dem jungen Hegel: Die Jugendgeschichte Hegels, Berlin 1905. 36 Welches dann in einer „Weltanschauung“ (religiös, künstlerisch-dichterisch, philosophischmetaphysisch) immer neu zu bewältigen unternommen ist. Vgl. Wilhelm Dilthey : Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen [1911], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Leipzig 1960, 75–118 („Fremdartigkeit des Lebens“, 81). 37 Die Aufgabe der philosophischen Theorie dabei ist, das adäquate Bewusstsein zu bereiten (geschichtliches Bewusstsein, hermeneutisches Bewusstsein); und, zur Umbesetzung des szientifisch-positivistischen Paradigmas, Austausch der Grundkategorien: eine deutliche Explikation wie Rechtfertigung der uns sonst nur unbewusst – und empiristisch irritierbar – leitenden „Kategorien des Lebens“ (vgl. W. Dilthey : Der Aufbau der geschichtlichen Welt, 228–245) zu geben.

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schränkung des szientifischen Wissens und überhaupt unserer rationalen Welt gegenüber den wahren letzten Seinsprozessen zielte. In der Bewandtnis eines Erweiterungs-Begriffs bringen sich positive Intentionen zum Ausdruck; und der Erweiterungs-Begriff ist gemeinhin ein relativer und nicht zuletzt dynamisch. Als solch relativ und dynamisch eingebracht, machte es sich zumal in Bezug auf das System des Wissens in einem zunehmend methodologisch geregelten Wissenschaftsbetrieb geltend.38 Mit der ,Lebens‘-Begrifflichkeit sollten Phänomene (oder ganze Phänomenbereiche), die sich einsinnig kausal-nomologischen szientifischen Erklärungen (oder vollends einer physikalistischen Theorie-Utopie oder Idee von ,Einheitswissenschaft‘) entziehen – resp. beim betreffenden aktuellen Stand der Wissenschaftsmöglichkeiten noch entziehen –, einer adäquaten empirischen Beschreibung und Modellen ihres ,erklärenden‘ Begreifens zugeführt bzw. dafür offengehalten werden. Der Erweiterungs-Begriff war insofern stets auch ein Platzhalter-Begriff. (2) Gedanke und Sprache des ,Lebens‘, seit in der Neuzeit zur großen Opposition geworden gegen jeweilig herrschende Philosophie und Wissenschaft und beider ,Rationalismus‘, hat sich dem allgemeinen Denken eingeschrieben: was mit ,Leben‘ assoziiert war, in jeder Welle noch einmal weiter und neu an diesen Gedanken gebunden, darin gebündelt war. Die seitherige Kultur denkt vielerart ,in Leben‘, und so auch die Wissenschaften.39 Die an der Wahrung der nicht-szientifischen Wissenschaften – und der (Selbst-)Erlebnishaftigkeit des Lebens – ausgerichteten Bemühungen, die sich seit dem Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert in einer Teilentwicklung der Strömungen herausgestalteten zur Theorie, brachten in der Lage dabei die größte Annäherung an – und zugleich Abwehr gegen – den neuen Idealismus der Zeit. ,Lebens‘-Denken wurde hier zum Paraidealismus. Man mag dieses – und seine Wirkung – in Idealtypus das Dilthey-Modell nennen. Die vom späten Dilthey skizzierte Theoriebildung wurde zur vorbildgebenden Gestalt, und auch in ihrer Begriffssprache prägend. Sie trat ein in einen allgemeinen Kulturkampf unter den Wissenschaften. ,Le38 Beim Grenz-Begriff hingegen ging es nicht selten keineswegs – bzw. nicht nur – um das Verhältnis von Philosophie-und-Wissenschaften, sondern eigentlich um Theologie. ,Leben‘ stand dort im Letzten für den Gottes-Vorbehalt (theistischer Vorbehalt): für die Absolutheit des Theologischen gegenüber allen eventuellen Bereichen unseres rationalen Begreifens und Erklärens und szientifischer Theorie. 39 Bei allen zu verzeichnenden problematischen Bewandtnissen, dies ändert nichts daran, dass der Gedanke des ,Lebens‘ eine bleibende auratische Kraft als Begriff besitzt und darin Fruchtbarkeit. Das manifestiert sich deutlich in seinen – ihrerseits schon terminologisch gewordenen – Komposita-Bildungen, wie „Lebensform“, „Lebensführung“, „Lebenswelt“, oder auch „Lebensverhältnisse“, „Lebenssphären“, „Lebensorientierung“, „Lebenskunst“ u. dgl. mehr. Auch in diesen Komposita-Formen freilich finden sich jeweils die zweierlei theorie- wie argumentationstypologischen Möglichkeiten des Grenz- und des Erweiterungsbegrifflichen.

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bens‘-Denken wurde auch Kulturkampf, Großpartei in einem Kulturkampf des Zeitalters der Wissenschaft. Entscheidende seitherige Felder und Themen stehen im Gefolge dieses Vorbilds, sind oft in ihren wissenschaftlichen Perspektiven davon überhaupt auf den Weg gebracht worden. Großkonzeptionen, die das Denken und die Theorie bestimmt haben, folgen derselben Argumentationsstruktur und selben Weise der Theoriebildung, konkretisiert für bestimmte weitere Sachdimensionen von Zusammenhängen als des Wesentlichen und diesbezüglich z. T. befreit von manchen idealistisch-mentalistischen Akzentuierungen bzw. Themenverengungen: Es sind Varianten, Transformationen und Teil- oder Rückbau-Formen eines Typus neuer ,lebensphilosophisch‘ imprägnierter Theorie in verschiedenen Wissenschaften, der sich als Modell Dilthey wiedererkennen lässt. Darunter : die Programme, hinter den geronnenen objektiven Formen, zumal den Formen des Sozialen oder Formen der Kultur bzw. Zivilisation und auch Formen der Wissenschaft, das (,personalistische‘) Leben der „Seele“ aufzudecken – wie bei Simmel und der ganzen ihm folgenden Richtung der Kulturkritik;40 die ,lebensphilosophische‘ Elementarschicht vieler ,Existenzphilosophie‘ (ausgebreitete ,existenzphilosophische‘ Theorie) des 20. Jahrhunderts, wo gewissermaßen rückwärtig das Dilthey-Modell in den negativen, anti-theoretischen Horizont des Vorbilds Kierkegaard eingetragen wird – und alles wahrhafte Denken und Gültige verkoppelt wird mit der gelebten Existenz (bes. Existenz des Einzelnen); dann, in der Verankerung – Rückführung und Aufbau – der vordergründigen 40 Vgl. für Georg Simmel etwa Philosophische Kultur (Leipzig 21919 [1911]; darin in theoretischer Hinsicht insbesondere Der Begriff und die Tragödie der Kultur, 223–253). – So wie bei Simmel konzipiert sich im Übrigen auch der Beginn der großen Kultursoziologie, bei Alfred Weber: vgl. Der soziologische Kulturbegriff, in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages, Tübingen 1913, 1–20, bes. 13 ff.; und Kultursoziologie, in: Handwörterbuch der Soziologie, hg. v. Alfred Vierkandt, Stuttgart 1931, 284–294, bes. 285–289. Problematisch dagegen ist, auf der Gegenseite, die Vereinseitigung des Dilthey-Modells zu einer totalisierend philosophischen Kulturkritik. So alles, was für die ,lebensphilosophische‘ Konzeption zwei – konträre – qualitative anthropologisch-geistige Prinzipien ansetzt, wie etwa L. Klages mit (auf das ,Leben‘ und damit die eigentliche, tiefe Wahrheit bezogene) ,Seele‘ und demgegenüber dem ,Geist‘. Darin ist das vom wahren Leben, dessen tiefem Prozess, sich Abwendende, Entfremdete so weit ausgedehnt, dass alle Phänomenspezifik wie Ursachen in durchgängigen – alles auf alles beziehenden – eigentlich/uneigentlich-Schematisierungen verschwimmt. Vor allem auch die kritische Selbstreflexion der Vernunft – welcher neuzeitlichen Rationalität Klages das Titelwort vom drohenden imperialen „Logozentrismus“ gegeben hat – tritt mit auf die Gegenseite des Verhängnisses des Widernatürlichen, der widernatürlichen Ordnung: der zu kritisierende „Logozentrismus“ nur in Opposition gegen den normativen „Biozentrismus“; und für die Probleme wie Pathologien der Zeit erscheint global ,Der Geist‘ verantwortlich – statt konkret die Mechanismen von Gesellschaft, Ökonomie, Technik, Wissenschaft usw. zu erörtern, die Ursächlichkeit von betreffenden Entwicklungen (sowie schlicht faktische historische Gegebenheiten). Vgl. Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig 1929/32.

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(„manifesten“) Phänomene von Bewusstsein, Emotionalität und Verhalten in den schlechthin elementaren, als solchen psychologisch universell-anthropologischen Libido-Prozessen (sowie gegenläufig Nihilierungs- und (Selbst-)Zerstörungstrieben), wie ausgehend von Freud; desgleichen in der Fundierung aller menschlichen Bedeutsamkeiten und Verstehenswelten in der Zeitlichkeit des „Daseins“ und dessen „Sorge“-Struktur, wo wie bei Heidegger aus der (,hermeneutischen‘) Erkenntnislogik eine neue („Fundamental“-) Ontologie weiterentwickelt ist.41 Aber schließlich findet sich die Linie des ,Lebens‘-Denkens nach dem Modell Dilthey auch in in unmittelbarer Gegenwartsnähe neu entwickelten Wissenschaftskonzeptionen, so etwa in der Zurückführungs-Argumentation auf die condition humaine (konkret als „condition historique“) bei P. Ricœur42 oder in derjenigen auf herrschende Ausgrenzungs-Mechanismen und „Dispositive der Macht“ bei Foucault.43 Und selbst in E. Cassirers heute so omnipräsenter Kulturtheorie finden sich starke Reminiszenzen, wenn sie ,hinter‘ den Kosmen der verschiedenen, mehrfältigen „symbolischen“ Gestaltungen unserer menschlichen Lebenswelten die „Energien des Geistes“, als deren (,lebensphilosophisch‘ gedeutetes) Schöpfersubjekt, wirken sieht.44 So breit ,Lebensphilosophie‘ sich denn aufgefächert hat,45 in allem fungiert eine bestimmte prinzipielle Form, die mit ihr neu in das Denken gekommen ist: ein bestimmter Denktypus und eine bestimmte Weise der Problembestimmung, Phänomenthematisierung. Die ,lebensphilosophische‘ Elementarargumentation, das ,lebensphilosophische‘ Kategorien-Gefüge, das – in einer seiner manifesten Ausformungen oder inkognito – von nun an weite Bereiche des Denkens und der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung (sowie auch überhaupt Erkenntniserwartung) durchzieht, ist das ist-Ausdruck-von…, ist-Äußerung-von…, isthervorgebracht-von…, ist-getragen-von…, oder – in elaborierterer Begrifflichkeit – ist-Funktion-für…, ist-Antwort-auf…; hinzu in den in sich reflektierten 41 Bei Heidegger hatte noch kurz vor dem dann epochemachenden veröffentlichten Sein und Zeit überall, wo dort das „Dasein“ und dessen ontologische Bewandtnis analysiert wird, als Begriff der des „Lebens“ gestanden. „Leben“ wurde, um der ontologisierenden Intentionen willen (und auch um strategisch die Eigenständigkeit des neuen Ansatzes zu statuieren), gegen „Dasein“ ausgetauscht. Vgl. dazu Jacek Kołtan: Der Mitmensch. Zur Identitätsproblematik des sozialen Selbst ausgehend von der Frühphilosophie Martin Heideggers und Karl Löwiths, Würzburg 2012, bes. 15–48. 42 Vgl. Paul Ricœur : La m8moire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000. 43 Vgl. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. 44 Vgl. programmatisch Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923; jetzt in: Ernst Cassirer : Gesammelte Werke, hg. v. Birgit Recki, Bd. 16, Hamburg 2003, 75–104); und dann die materialen Ausführungen in Ernst Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Berlin 1923–1929. 45 Neben all diesem wäre ferner vieles aufzuführen, das als ,Lebensphilosophie inkognito‘ gelten kann.

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Konzeptionen die zugleich gegenläufige Qualifizierung des ist-Halt-für… (oder negativ ist-Fessel-für…) und dergleichen.46 Und unter diesen Blickwinkeln, was es davon bereits erfasst oder doch erahnt habe, wurden auch die Erbschaften des vormaligen Denkens, dessen Gehalte gesehen und neu bewertet. (3) In dieser Lage teilen die idealistischen Tendenzen der Zeit, wie sie in der dominierenden Bewegung des ,Neukantianismus‘ ihre reflektierte Gestalt gefunden haben, und andererseits das aufgekommene ,lebensphilosophische‘ Drängen gerade gewisse Gemeinsamkeiten. In einigem Allgemeinem stehen die Ausgestaltungen des neuen ,lebensphilosophischen‘ Paradigmas auch in Epochenparallele zum – vor allem in den Richtungen der universitären Wissenschaft – etablierten ,Neukantianismus‘. ,Lebensphilosophie‘ ist dort Bruder des Idealismus des ,Neukantianismus‘. Beides hat sich erst aus manchen ,psychologistischen‘ Denkschemata herausentwickeln müssen, d. h. eine Selbstfindung durch Kampf gegen den Psychologismus in sich selbst;47 beides zielte ab auf eine Zurückstufung der Wissenschaften (,Einzelwissenschaften‘) und ihrer positivistischen Ansprüche, ihres vordergründigen blendenden Erkenntnisobjektivismus; und beides teilt auch die Bindung von Wissen und Wertgültigkeiten an die ,Sinn‘-Frage – beide sind Träger der in einem Zeitalter der schwindenden Bindungsmacht religiöser Transzendenz und eines zunehmenden Individualismus neu aufgekommenen ,Sinn‘-Frage.48 Doch ist beides nicht zusammengekommen. Im Gegenteil haben in dem Zeitklima ,neukantianisch‘-idealistische Konzeptionen und die Impulse der ,lebensphilosophischen‘ Motivationen sich fortschreitend polarisiert und dabei in der Wirkung auch keineswegs symmetrisch. Das Gewicht verlagerte sich zunehmend auf die Seite des ,Lebens‘-Den-

46 Seit Simmel (und dann Cassirer) ist ,lebensphilosophisches‘ Denken um das Bewusstsein komplexer geworden, dass ,das Leben‘, d. h. was jeweils darunter gefasst ist bzw. wozu, nicht nur dem Rationalen – und damit: Logischen, Mechanischen, einsinnig kausal Determinierten – gegenübersteht, sondern auch Formen, letztlich seinen eigenen Formen. – Deutlich eingezeichnet, wenngleich nicht wirklich als Weise der Theoriebildung, ist die denkerische Tradition der Wirkungen des Dilthey-Modells im Übrigen nicht zuletzt auch bei Max Weber, der, und gerade bei seiner wissenschaftslogischen Anknüpfung an offen den Neukantianismus, ohnehin operativerweise eine starke „Lebens“-Begrifflichkeit dienstbar macht: eingezeichnet etwa darin, dass bei allem Handlungsvollzug (sowie in Folge auch bei allen durch soziales Handeln gestifteten Formen des Sozialen und Gesellschaftlichen) – worin subjektive Meinungs-Rationalität, objektive Bewerkstelligungs-Rationalität sowie Güter, Wertungen und Ideale verschlungen sind – für Erklärung und zumal Rationalitäts-Erklärung gelte, „hinter der ,Handlung‘ steht: der Mensch“ (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, 530), nämlich sofern er dies Viele jeweils zu einem für ihn leidlich Integralen und Sinnhaften zusammenbringt. 47 Zum Psychologismus im anfänglichen ,Neukantianismus‘ vgl. exemplarisch die von Hermann Cohen in Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871, vorgenommenen Klärungen gegen die Richtungen seiner Vorgänger. 48 Vgl. dazu allgemein Pirmin Stekeler-Weithofer : Sinn, Berlin 2011.

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kens, das die ,neukantianische‘ Weise der Reflexion dann schnell verdrängte.49 Das hatte Folgen nicht nur für die weitere Entwicklung des dann immer vorherrschenderen ,Lebens‘-Paradigmas – in Philosophie wie in vielen Wissenschaften –, sondern hatte auch eminente Folgen für die Sicht und Aktualisierung des klassischen Idealismus der Epoche Kants und Hegels. In der Polarisierung nahm die ,neukantianische‘ Weise des Denkens sich aus wie ein Vertreter einer altphilosophischen Theorie-Tradition, der abzustreifenden geistigen Vergangenheit angehörig.50 ,Lebens‘-Denken dagegen erschien als Sachwalter, ja als Verkörperung der Bedürfnisse einer neuen Zeit. – Dadurch war indes auch in ihm selbst das mit dem ,Neukantianismus‘ gewonnene Problembewusstsein, und parallel mit diesem letztlich ein Großteil der Erbschaften des dem klassischen Idealismus zu dankenden Problembewusstseins, wieder abgegraben. Das sollte sich an typologisch zwei Linien eines Ungeklärten niederschlagen, an denen auch bei einer geläuterten, reflektierten ,Lebensphilosophie‘ prekäre Ambivalenzen in die Theorie eingetragen bleiben: gewissermaßen die Restposten der generellen metaphysischen Versuchungen auch bei der best möglichen Version einer ,Lebensphilosophie‘. Die Frontstellung gegen den ,Neukantianismus‘ jedenfalls und dessen vermeinten Logizismus hat dazu geführt, dass auch für die Inspiration – oder das produktive Herausgefordertsein – durch den Idealismus der klassischen Epoche eine Schwelle blieb, wo selbst die stärkste ,lebensphilosophische‘ Konzeption in dessen Argumentationstücken und Theoremen keine entscheidenden Einsichten wiedererkennen konnte. Zum einen bleibt mit ,Leben‘, grundsätzlich, für die betreffenden Entitäten bzw. Gebilde der Wirklichkeit von vornherein – jedenfalls als Erstes und als Rahmen der weiteren Bestimmung – Ganzheit, und Integralität, unterstellt. Das sollte dann in vielen Theorien51 das Einfallstor für die harten normativen Besetzungen werden – die Muster von ,Gesundheit‘ und ,Krankheit‘, von Ordnung und Desintegration bzw. Abweichung, von organisch-gliedhaftem Funktionsgefüge und dagegen Anomie oder Partialtendenz; sowie in Bezug auf das Subjektive, auch die Anbindung resp. das Appellieren an die subjektive Empfindung, die Muster eines normativen Authentizitäts-Verständnisses (elementar/originär vs. abgeleitet, authentisch vs. uneigentlich, Entfremdung, Selbstverlust usw.). 49 Deutlichstes Zeichen ist vielleicht, wie die Zeitschrift Logos (Untertitel: Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur), die, 1910 gegründet, schnell zum einflussreichen Organ der neukantianischen Theoriedebatten und nicht zuletzt ihrer internationalen Vernetzung aufgestiegen war, bereits mitten im Ersten Weltkrieg schnell ins Fahrwasser der Orientierungen und besonders auch der Themen des ,Lebens‘-Denkens kam. 50 Auch: wie nur eine dürre, blutleere akademische Reflexion. (Oder, nach Kants eigenem Ausdruck, eine Unternehmung nur des „Schulbegriffs der Philosophie“, gegen den der „Weltbegriff“ und dessen wahre Interessen zur Geltung zu bringen seien.) 51 Freilich nicht bei z. B. dem Modell-Vorbild Dilthey selbst.

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Ontologische Bestimmungen unterliegen in diesem Denken einem Sog, dass sie gerade stark normativ aufgeladen sind. Zum anderen sind mit der ,lebensphilosophischen‘ Weise des Denkens im Letzten alle Verobjektivierungsakte in den großen Prozess des eben ,Lebens‘ eingeschmolzen. Das sollte in den Theoriebildungen zu einem unausgleichbaren Schwanken52 zwischen zwei konträren innerkonzeptionellen Polen führen: einerseits ,Leben‘ als Chiffre für den (uneinholbaren) Impuls- oder Energie-Pol eines jedweden Wirklichen, Chiffre für das, den Impuls- oder Energie-Pol alles betreffenden Welterfassens, Wirkens und Selbstbehauptung argumentativ einzubringen – das zumal menschliche IchEinzelner und Weshalb-überhaupt und Wozu-überhaupt, vor allen intellektuellen Akten, auch allem praktisch-zwecksetzenden Verhalten –, ,Leben‘ also sozusagen als ,ontologischem‘ Subjektivitätsbegriff, und andererseits einem globalen Hermeneutizismus.53 Beides dabei treibt die Argumentation in Zirkularitäten. Und beides hat das Problem der zu allem ,Leben‘-Sein gehörenden Perspektivität (und dann den theoretisch-konzeptionellen Relativismus) verdramatisiert, die Perspektivität der Situiertheit – der raumzeitlich-naturalen oder der sozialen und kulturellen Situiertheit – und Perspektivität des durch die (je-individualeigenen) Tiefenprozesse Vordeterminiertseins. Hierin steht jedwedes solche Denken gegen die Erbschaften und das Theorie-Potential idealistischer Reflexionszugänge.

IV

Ein Hegel, den man nicht mehr braucht?

Das Programm ,Leben‘ war auch ein infektiöses Modell. Sein philosophisches Denken hat, was der ,Neukantianismus‘ gezielt nicht getan hatte, gezielt nicht als Zuständigkeit philosophischer Theorien angesehen hatte, in nicht wenigen seiner Strömungen „de[n] Hunger nach Weltanschauung“ bedient.54 Der ,Neu52 Dem einspricht das ,lebensphilosophische‘ strukturelle Zugleich zweier Maximalismen: Zugleich von schlechterdings Realisierung (Werden zum Außen-Ausdruck, Werden zum Auftritt-gegen-Anderes) und schlechterdings Ver-Innerlichung. (Plakativ gesagt: ein strukturelles Zugleich von Nietzsche und Kierkegaard, nietzscheanischen und kierkegaardschen Richtungen des Denkens.) 53 Neben dem Groß-Hermeneutizismus der ganze Systeme resp. ,Völker‘ oder ,Kulturen‘ (distinktiv) prägenden Bestimmungen, Formen, Regularitäten – in diesem Sinne einem universalen Kulturalismus – steht zuweilen auch die unter dem Titel ,Leben‘ eingeklagte Würdigung der Kleinformen, der intimen zwischenmenschlichen Bezüge und Gefühle des Alltags – das Persönliche, das Empfindsame, diese gemüthafte Bürgerlichkeit, das Familiale. Letzterer Hermeneutizismus bildet im weitesten Sinne die ,pietistische‘ Schicht in den geistigen Quellen des ,Lebens‘-Denkens und seines Rufs eines Umschwungs oder einer Erneuerung, Vertiefung, Vereigentlichung. 54 „Es ist der Hunger nach Weltanschauung, der unsere junge Generation ergriffen hat und der bei Hegel Sättigung sucht.“ So der vor allem für das philosophiegeschichtliche Bewusstsein

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kantinanismus‘ hatte, kritisch auch gegen unmittelbare Zeitbedürfnisse, dies vielmehr dem Individuum anheimgestellt, den orientierenden Halt einer ,Weltanschauung‘ zu entwickeln, als persönliche Aufgabe des Einzelnen in der modernen Welt. (1) Es hat darum seine weitreichende Bewandtnis, als aus der dominant gewordenen ,Lebensphilosophie‘ heraus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Aktualisierung Hegels ausgerufen wurde.55 Das neue Bewusstsein der Bedeutung Hegels, die neue Beschäftigung und Aneignung hatte sich nicht aus der Linie des Kantianismus der Zeit, ja überhaupt der idealistischen Offensive der Philosophie heraus ergeben, sondern weitestgehend aus dem geistigen Klima der etablierten ,Lebensphilosophie‘. Der neue Hegelianismus erwuchs mit den von der zeitgenössischen ,Lebensphilosophie‘ geweckten Erwartungen an eine universelle Weltphilosophie und Orientierung.56 Es ist bezeichnend, wie stark ,Leben‘ hier herausgekehrt wurde – Hegels Denken, und was es in der Zeit, für die Zeit bedeute, auf ,Leben‘ hin interpretiert wurde; und vor allem wie wenig ein Bezug zum ,Neukantianismus‘ überhaupt vorkam, weder in dessen logischer (,Marburger‘) noch auch in seiner rein thematisch affineren (,südwestdeutschen‘) auf ,Kultur‘ und ,Werte‘ ausgerichteten Ausformung. Wo Hegel sich vielfach mit Kant auseinandergesetzt hatte, und dabei die Maxime befolgend, sich in die Stärke des Gegners zu stellen,57 tauchen in den Werken der neuen ,neuhegelianischen‘ Offensive des 20. Jahrhunderts das zeitgenössische kantianische Denken, dessen Motive und Einsichten fast nur wie ein Klischee auf, als handle es sich um die Frucht einer schon Epochen zurückliegenden vorübergehenden Schwächephase der Philosophie.58 Alle betreffenden kantia-

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– und weit über den ,Neukantianismus‘ hinaus – einflussreiche Neukantianer Wilhelm Windelband: vgl. Die Erneuerung des Hegelianismus [1910], in: ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 1, Tübingen 41911, 278. Zu dieser Hegel-Renaissance vgl. allgemein etwa Heinrich Levy : Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie, Berlin 1927. Wie allgemein die im 19. Jahrhundert anhebende idealistische Offensive (s. oben Anm. 17) ist auch diese Aktualisierung Hegels freilich keineswegs auf Deutschland beschränkt, sondern hat Parallelen und Vernetzungen zu Entwicklungen in vielen anderen Ländern und deren Denkkulturen. So vor allem dem erstarkenden Hegelianismus in den angelsächsischen Ländern, konkret der englischen und der amerikanischen Philosophie, und in Italien. Die anlässlich der hundertsten Wiederkehr von Hegels Geburtstag in der akademischen Welt lancierten Erinnerungen waren dagegen singuläre Versuche seiner letzten noch lebenden Schüler geblieben, ohne weitere Resonanz oder Nachwirkung. Vgl. Karl Rosenkranz: Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870; Carl Ludwig Michelet: Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph, Berlin 1870. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 6, 250. Versuche, wegen irgendwelcher spezieller, zum Definiens erhobener Merkmale einzelne Denker auch einer Richtung eines vermeint anbrechenden neuen Fichteanismus oder Neuschellingianismus zuzuordnen, seien hier unberücksichtigt. Denkgeschichtlich haben sie in

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nischen Unternehmungen erscheinen als gleichsam ein Positivismus höherer Stufe, grundgelegt durch einen wirklichkeits-, erfahrungs- und ,lebens‘-blinden Logizismus (erkenntnisformalen Logizismus oder ,Werte‘- und Geltungs-Logizismus bzw. -Platonismus).59 Dies neue Denken im Zeichen Hegels war unversehens auch nicht so sehr mehr eine Auseinandersetzung um den Wissenschaftsbegriff, Klärung der Rolle der Philosophie angesichts der Wirklichkeiten einer wissenschaftlichen Welt – Philosophie vs. Positivismus und Materialismus/Naturalismus der ,Einzelwissenschaften‘ –, sondern schlug um in wesentlich einen Kampf unter den philosophischen Disziplinen. Einher mit dem ,lebensphilosophisch‘ fundierten neuen Hegelianismus kam es zu folgenreichen Umbesetzungen und Gewichtsverlagerungen: Ethik (Individualethik) etwa, die einen Fokus und Stärke des zeitgenössischen Kantianismus ausgemacht hatte und bei dem vieles der ,lebensphilosophischen‘ Theorien eher blass geblieben war,60 wurde im Geiste der ,Lebensphilosophie‘ oft überhaupt zurückgesetzt; und es wurde – weit über die epochenüblichen Debatten über Individuum-und-Gemeinschaft hinausgehend – dafür ein neues Schwergewicht auf Staatsphilosophie und Theorie des Rechts etabliert.61 Ferner das, dass der ,lebensphilosophisch‘ sich fundierende neue Hegelianismus viele Felder der pädagogischen Debatten der Zeit zu besetzen suchte – aus Hegel sollte eine Theorie der Erziehung gewonnen werden, auch und gerade in der Perspektive auf Volks- und Nationalerziehung. Ebenso in der theoretischen Philosophie. Statt irgendeiner expliziten Wissenschaftsphilosophie stand eine Theorie des verstehenden (sich verstehenden) „Lebens“ – die Wissenschaften und ihre Suche nach verobjektivierendem Wissen diesem nachordnend, als eine späte und tendenziell sich missverstehende verselbständigende Frucht dieses letztfundierenden Geschehens.62 Und nicht zuletzt und

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der Tat auch keinerlei Auswirkungen gehabt, bei denen mit dieser Charakterisierung etwas gesagt wäre. Zum umgekehrten Verhältnis dieser verweigerten Wahrnehmung und Rezeption vgl. Wolfgang Bonsiepen: Hegel und der Neukantianismus, in: Hegel in der neueren Philosophie, hg. v. Thomas Wyrwich, Hamburg 2011, 47–112. Wie sehr dies eine Rolle gespielt hat beim Aufstieg des (akademischen) ,Neukantianismus‘, vgl. K.C. Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 319–344, 404–433. Für das Rechtsdenken vgl. Sylvie Hürstel: Au nom de Hegel. Les juristes n8o-h8g8liens et la philosophie du droit de la R8publique de Weimar au TroisiHme Reich, Rennes 2010. Die Studie ist freilich auf die deutsche Situation beschränkt. – Für alle nachfolgend zu bezeichnenden negativen Aspekte, und auch hier für den Komplex des Rechtsdenkens, gilt jedoch, dass unbestritten die deutsche Situation durch gewisse Strukturen der intellektuellen Debatten am schnellsten davon erfasst wurde, aber die anderen nationalen Kulturen keineswegs immun dagegen waren. Da lässt die liebgewonnene Formel vom ,deutschen Sonderweg‘ vieles gnädig übersehen. Darin zuweilen auch: eine ,lebensphilosophische‘ Uminterpretation des aus der Kant-Tradition stammenden Programms einer „Transzendentalen Logik“.

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nicht unwesentlich, statt etwa Kants Utopie eines Völkerbunds und ewigen Friedens – und einer entsprechenden politischen Orientierung und Engagement der meisten ,Neukantianer‘ – kam es zur philosophischen Akzentuierung des Krieges: der großen Wahrheit des Krieges und von Dominanzstreben, des Krieges gesellschaftlich, völkisch, kulturell und geschichtlich. Auch innerhalb Hegels kam es zu einschneidenden Gewichtungen.63 Vorrang hatte die Phänomenologie, und die Rechtsphilosophie (dort genauer : die Theorie des Staatsrechts); und dann die ,Jugendschriften‘, die, allen gesellschafts- und zeitkritischen Gehalts entkleidet, als Theologische Jugendschriften präsentiert wurden.64 Alles demgegenüber, was an Hegel als ,Panlogismus‘ erinnern konnte, wurde entsprechend dem ,Prinzip Leben‘ uminterpretiert. Hegel wurde zu einem Vertreter der Historischen Schule und ihres organischen Denkens gemacht.65 Vor allem, die Hegel’sche ,Dialektik‘, ,dialektische‘ Weise der Erörterung wurde, ohne auf konkrete sachbezogene Argumentationen einzugehen, zu einem generellen Prinzip, einem ,lebensphilosophischen‘ Prinzip, veruniversalisiert.66 Die ,Dialektik‘ wurde in einen Tragizismus – Tragizismus allen Lebens – entschärft, metaphysiziert. Hegels Bezug zu den Wissenschaften dagegen, und die Analysen der Logik und auch der Naturphilosophie, die die wissenschaftliche Erkenntnisbildung (in den verschiedenen Wissenschaften wie ebenso der Philosophie) und die – formal wie thematisch – theorienbildenden Denkakte dif63 Hier wie im Vorigen: Dies muss im Rahmen dieses Aufsatzes ohne Einzelbelege bleiben. 64 Vgl. Hegels theologische Jugendschriften, hg. v. Hermann Nohl, Tübingen 1907. – Die Generalthese, der philosophiegeschichtliche Deutungen im Geiste der ,Lebensphilosophie‘, die Rezeption und Aktualisierung der großen Gestalten der Denkgeschichte, zum Teil überall unterstanden, war : dass die lebendigen, in seinem geistigen Charakter wurzelnden Motive eines Denkers („metaphysische Einsicht“), die in seiner Jugend- und Reifezeit am stärksten sich Ausdruck verschafften, insofern in Reinheit greifbar seien, gegen das Rationale der argumentativen Auseinanderlegung und Detailargumentation, das Korsett eines ,Systemzwangs‘, herauszuheben seien. So hier auch bei Hegel, dem damit unterstellt war, dass das ,Lebendige‘ an ihm gegen große Teile seiner eigenen Werke gerettet werden müsse – er auf dem Weg zu seiner eigenen Philosophie sich selbst gleichsam missverstanden habe. Es kam zum Mythos des ,jungen Hegel‘, als des ,wahren‘ Hegel. (Sprechend alles in dem Titel von Theodor Haerings Beitrag Hegel. Sein Wollen und sein Werk, Leipzig 1929/1938, dessen voluminöse zwei Bände nach weit über 1000 Seiten bei der Phänomenologie sogar enden.) 65 Auch politisch und kulturell verstanden als auszeichnendes Merkmal ,deutschen Denkens‘, gegen den Rationalismus und Individualismus Frankreichs, Englands sowie des Amerikanismus der Jetztmoderne. 66 Eine besondere Rolle hatten dabei die Editionen von aufgefundenen Manuskripten aus Hegels Jenaer Vorlesungen über Logik und Metaphysik, Naturphilosophie und besonders Philosophie des Geistes, die man als Ringen zwischen lebendiger Einsicht und Zwang der ,System‘-Form interpretierte (in ihrer Philosophie des ,Geistes‘ dies bis heute). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Sittlichkeit, in: ders.: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hg. v. Georg Lasson, Leipzig 1913, 417–503 [21923]; ders.: Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie, hg. v. Georg Lasson, Leipzig 1923; ders.: Jenenser Realphilosophie, hg. v. Johannes Hoffmeister, 2 Bde., Leipzig 1931/32.

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ferenziert auseinandergelegt, zu Bewusstsein gebracht haben: davon ist geradezu nirgends mehr etwas sichtbar. Desgleichen im Praktischen. Das subjektive Recht des Einzelnen – irgendwo das Recht des Subjekts, auch sein Eigensinn – taucht überall allenfalls negativ auf. Akzent und Ausrichtung der Interpretationen sind im Gegenteil auf die Völker und Nationen verschoben und deren – in Gestalt ihrer machtvollen Staaten – Recht in der Weltgeschichte. Analog in der Philosophie der Religion steht statt Hegels Philosophie der religiösen Gemeinde und ihres Glaubens eine als ,Hegel‘ verstandene theologische Dogmatik des lebendig-unergründlichen, unerreichbaren Gottes. Und überhaupt sind Hegels vielfältige konkret historische und ,sozialwissenschaftliche‘ Betrachtungen, die Betrachtungen zu konkreten sozialen Prozessen und zu Kämpfen um soziale und politische Ideen, aus dem Corpus dessen, was als Aktualität Hegels zu Bewusstsein gebracht wird, getilgt. (2) Diese in der Idealismus-Rezeption herrschend gewordene ,neuhegelianische‘ Bewegung der Philosophie antimodern zu nennen – und sie den entsprechenden geistigen Strömungen der Zeit zuzuordnen –, ist vielleicht noch das Harmloseste, was man über sie sagen kann. Denn vor allem, es hat Hegel weithin uminterpretiert. Und es hat, mit seiner Präsenz, mitgewirkt an dem vorläufig vollständigen Umschwenken des Verständnisses von ,klassischer idealistischer Philosophie‘: Umschwenken von Kant zu vermittlungslos Hegel – diesem ihrem Hegel. Hegel zum Kronzeugen zitierend, und indem dazu der Kantianismus der eigenen Zeit vollkommen herabgesetzt wurde, Kantische Argumente und Themen ins Irrelevante verdrängt oder verbanalisiert wurden, sollte ein zusätzlicher Traditionsausweis für das neue Denken der ,Lebensphilosophie‘ installiert werden, das Bild einer großen Kontinuität über das dunkle 19. Jahrhundert und dessen szientistische Abirrungen hinweg.67 Im ,neuhegelianisch‘ gedeuteten Hegel war das Schicksal des Idealismus im Zeitalter der Wissenschaft vollends besiegelt. Diese Aneignungen und Aktualisierungen haben die Ambivalenzen der ,Lebensphilosophie‘ in Hegel hineingetragen. Sie haben Hegel mit ,lebensphilosophischen‘ Ansprüchen und ,lebensphilosophischen‘ Themenschwerpunkten überfrachtet, Hegels idealistisches,

67 Der Umschwung, umgekehrt Hegel ganz herauszulösen, als singulär, aus dem Denken des 19. Jahrhunderts, war damit schon vorprogrammiert. Auch dieser Gegenstoß konnte Hegel freilich nicht mehr retten für das allgemeine Bewusstsein. Ein solcher Gegenstoß findet sich etwa exemplarisch bei Georg Luk#cs, der parallel zur großen Abrechnung Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler (Berlin 21955) Hegel als vor allem gesellschafts- und zeitkritisch motivierten Denker zu präsentieren unternahm (Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Zürich/Wien 1948 – gegen das Bild vom ,theologischen Hegel‘, einem ursprünglich rein an theologisch-spekulativen Themen und Einsichten interessierten ,Hegel‘).

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aus der Vorläuferschaft der klassischen Klärungen seit Kant herausentwickeltes Anliegen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Groß im Pathos und groß in der Rhetorik seiner – mit ,Hegel‘ in Verbindung gebrachten – Themen, war dieser neue Hegelianismus als philosophische Bewegung gedanklich seltsam schwach. Er hat sich selber schwach gemacht. Gehalten hat er sich nicht länger als seine weltanschauliche Funktionalität im geistigen Klima der Zeit. Bald schon wurde er, allgemein in seinem Denken und besonders in Bezug auf das an allen Fronten bedrängende Problem der Rolle der ,Philosophie‘ in der durch Wissenschaft geprägten Welt, gleich ganz entsorgt – und mit ihm im Grunde auch ein konzeptioneller Kern des ganzen klassischen Idealismus für erst einmal eine lange Zeit. Es verschwand tendenziell die Erinnerung an das kritische Potential des Idealismus: das Bewusstsein davon, welche fruchtbaren Impulse im Entwicklungsprozess des Systems der Wissenschaften – wie auch Impulse bei Reflexion ihrer Lebensbedeutung im Einzelnen – man mit ihm preisgibt, Impulse aus einzelnen Gedankenstücken und Impulse aus der ,idealistischen‘ Konzeption insgesamt. Wenn unter den Orientierungen in Bezug auf die Traditionen früheren Denkens eines seither stets blieb, was man über Hegel mit Gewissheit zu wissen glaubte, so war es das uneingeschränkt negative Urteil zum Thema von klassischem Idealismus und Wissenschaften, namentlich zu Hegel-und-die-Wissenschaften.68 – Dass es heute eine neue Aktualisierung Hegels gibt, kommt da geradezu überraschend. Es waren denn auch äußere Impulse, denen viele der interessantesten und am meisten wahrgenommenen Bereiche der gegenwärtigen neuen Beschäftigung mit Hegel und seinem Idealismus zu danken sind. Es ist, nach der Bewegung des ,Neuhegelianismus‘ aus den frühen Dekaden des 20. Jahrhunderts, eine zweite Hegel-Renaissance: und diesmal von Motiven, mit einem auf ,Hegel‘ sich berufenden Antinaturalismus dem immer weiteren Übergreifen naturwissenschaftlich-szientifischer Erklärungsprogramme in den expandierenden Wissenschaften von menschlicher Mentalität und mind zu wehren und 68 Das war im Grunde das Klischee aus dem Geist des 19. Jahrhunderts: das seitens der Wissenschaften im 19. Jahrhundert zum Zweck ihres Emanzipations- und dann Machtkampfs lancierte Bild, das hier weithin unreflektiert wiederauflebte. Bei aller differenzierten Auseinandersetzung und Forschung blieb diese eine vermeinte Gewissheit fast durchweg unangetastet. Das ist nicht zuletzt eine Hypothek dessen, was die heftige, aber relativ kurze Koalition von ,lebensphilosophischem‘ Denken und Hegelianismus nicht zum Problem gemacht hatte, vielmehr was durch sie erst recht sich verfestigt hat. – Gleichwohl bleibt bemerkenswert, wie wenig durchweg die historische Tatsache in Bezug auf das Verhältnis zu den Wissenschaften zur Kenntnis genommen wurde, dass unter der Philosophie der klassischen Ära viele der Denker absolut auf der Höhe ihrer Zeit gewesen waren (im inhaltlichen Wissen wie in den Methoden und Theorien). In eminentem Maße gilt das für Kant und Schelling – Fichte weniger – und Hegel: Und prima facie ist nicht einzusehen, weshalb dies nicht ebenso sich verhalten würde, hätten sie in der Epoche der Wissenschaften ihrer Kritiker gelebt.

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der einseitigen Definition des Verständnisses von ,Wissen‘ durch objektivistisch genommene ,Gesetze‘, materielle Kausalitäten oder zuletzt eine physikalistische letzte Erkenntnisnorm.69 Diese zweite Wiederentdeckung ist namentlich eine neue ,hegelianische‘ Tendenz der Debatten der allerorts bestimmenden Analytischen Philosophie, ein auferstandener offener Hegel-Bezug innerhalb der Analytischen Philosophie; und sie erfolgt gemeinhin in der Perspektive von Fragestellungen eines dezidiert pragmatistischen Denkens.70 – Dieser momentane in unerwarteter Weise wieder mit positivem Vorzeichen genannte ,Hegel‘ bringt da indes definitiv den Sog, mit dem Faktum, dass es erkennbar wieder eine positive Aktualisierung der hegelschen Philosophie gibt, nicht mehr selbstreflexiv zu fragen, was diese Präsenz ist: welchen ,Hegel‘ man da hat. Hegel scheint wieder ,Der unwiderlegte Weltphilosoph‘.71 Bis dahin bestand ein Bewusstsein von hegelschem Denken und seiner denkgeschichtlichen Bedeutung stets in dem Typologischen, wozu es sich anbot bzw. wozu es gemacht wurde: in typologischen Merkmalen seiner Konzeption (Vernunft, ,Geist‘, ,System‘, Idealismus, ,Dialektik‘, ,Versöhnung‘/,Aufhebung‘ usw.) eine Folie für eigene Selbstverständigungen zu haben,72 jeweils vor allem negativ einen Gegensatz des Sich-Abstoßens; sowie ihn gegebenenfalls als einen Steinbruch einzelner verwendbarer Gedankenstücke präsent zu halten. Es waren 69 Dass dies Neue nahezu in ein Vakuum stieß, erklärt auch – und rechtfertigt in gewisser Weise –, dass es in weiten Bereichen eine recht freie Anknüpfung an Hegel ist (vermittelt oft darüber, Hegel mit Aristoteles zu verschränken). Zuweilen ist es auch ein ,Freistil‘-Hegel: Diese neuerliche Hegel-Renaissance hat sich die Erlaubnis erwirkt, alles Mögliche an eigenen Theoremen zu präsentieren, bei dem man sich wirklich fragt, wie viel von behauptetem ,Hegel‘ – einer beanspruchten analytischen ,Rekonstruktion‘ hegelscher Gedanken und Argumente – darin überhaupt ist. 70 Genannt seien nur John McDowell und Robert Brandom, die in konzeptionell-theoretischer Hinsicht momentan die Leitgestalten dieser Wiederentdeckung Hegels sind. – Zu kritischen Betrachtungen hierzu vgl. Vittorio Hösle: Was kann man von Hegels objektiv-idealistischer Theorie des Begriffs noch lernen, das über Sellars’, McDowells und Brandoms Anknüpfungen hinausgeht?, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 30 (2005), 139–158; Robert B. Pippin: Brandom’s Hegel, in: European Journal of Philosophy 13/3 (2006), 381–408. 71 So der Titel des – damals ohne große Resonanz gebliebenen – Buches von Carl Ludwig Michelet (Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph, Berlin 1870). 72 Eine große Linie darunter, über deren Zusammenhänge mit dem in diesem Aufsatz thematisierten Geschehen sicher noch eigens weiter geforscht werden müsste, ist das, wie ,Hegel‘ immer wieder zum Anstoß für einen kritischen Marxismus wurde, z. B. auch die Bedeutung Hegels innerhalb der Kritischen Theorie. – Etwas Anderes ist dagegen der parteimarxistische ,Hegel‘. Diesen schematischen Lehrbuch-,Hegelianismus‘, als zu verinnerlichender Quelle von Marx, hatte der alte Fr. Engels dem Denken der sozialistischen Bewegung, und auch gegen deren aufkeimenden ethischen Kantianismus, verordnet. Vgl. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1988. Auch ders.: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft [Anti-Dühring], Leipzig 1878; ders.: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Paris 1880; ders.: Dialektik der Natur, Moskau 1925.

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stets Konstellationen einer Polarisierung, hauptsächlich negativ gegen Hegel. – Die erste Hegel-Renaissance hatte dabei statt in der Konstellation einer unseligen Blockade zwischen neuem Idealismus, namentlich in dessen reflektierter Gestalt als ,Neukantianismus‘, und entstandenen ,lebensphilosophischen‘ Bedürfnissen wie Denkperspektiven, welches beides am anderen nicht das philosophische Potential, sondern allein das Abzulehnende wahrnehmen wollte. Unter diesen Gegebenheiten, weil er sich davon nicht losmachen konnte, konnte der aus den ,lebensphilosophischen‘ Strömungen hervorgewachsene damalige erneuerte Hegelianismus bei weitem nicht das hohe logische Niveau – und vor allem das Wissenschaftsbewusstsein und überhaupt die Fragestellungen – des bestehenden ,Neukantianismus‘ erreichen, d. h. in sich aufnehmen, mit hinübernehmen. Wie immer sensibel für die neuen im Gedanken des ,Lebens‘ versammelten Bedürfnisse, schon in methodologisch-konzeptioneller Hinsicht war sein philosophischer Idealismus ein Rückschritt: Rückschritt an Reflektiertheit und Argumentativität. Die einhundert Jahre zuvor so fruchtbare Entwicklung von Kant zu Hegel – und Ausdifferenzierung der auf einander bezogenen Konzeptionen – hat sich nicht wiederholt. Mit diesem ,lebensphilosophisch‘ vereinnahmten Hegel vielmehr stand das Potential der Epoche der klassischen Philosophie wie hinter einer Zeitmauer. Und auch bei der zweiten, der heutigen Wiederentdeckung lässt sich absehen, dass man hier mit Hegel, namentlich dem enthaltenen Idealismus des Hegel’schen Konzepts von ,Geist‘, gegen diesen Hegelianismus argumentieren könnte, ja müsste; dies insbesondere gegen manche Voraussetzungen der aus der Tradition der Analytischen Philosophie oder des philosophischen Pragmatismus heraus gezeichneten Problem-Szenarien.73 – Dabei gäbe es eine neue Konstellation für die Rolle philosophischer Reflexion angesichts der ausdifferenzierend als eigengegründete Systeme bzw. Praktiken des Erkennens und Wissens sich verselbständigenden Wissenschaften: neue gute Konstellation für das, was gerade hegelscher Idealismus im Zeitalter der Wissenschaft sein könnte. Denn, die Seite der Wissenschaften – und das Verständnis des Wissenschaftlichen, innerhalb der (theoretischen) Wissenschaftsreflexion wie auch im allgemeinen gesellschaftlichen Verständnis und den Erwartungen – ist anders geworden. Die Wirklichkeit der Wissenschaften hat sich gerade in Richtung auf den Idealismus hin verändert: Viele der avanciertesten und insofern Leitwissenschaften verstehen sich nicht mehr in einem direkten Empirismus, sondern haben ein hohes Theorie- und Modell-Bewusstsein entwickelt. Das empiristische Paradigma als solches, mit dem die Wissenschaften im 19. Jahrhundert zur neuen Deutungsmacht der Welt und ihrer selbst aufgestiegen waren, hat sich seit 73 Das muss hier eine Andeutung bleiben. Es auszuführen wäre ein noch einmal weiterer ganz eigener Aufsatz. – S. auch Anm. 69.

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Quine und Davidson und Th. Kuhn selbst aufgelöst. In der Wissenschaftsreflexion hat sich zunehmend ein allgemeines konstruktivistisches Verständnis herausgebildet; kaum eine heutige Konzeption hat nicht (irgendwo) ,konstruktivistische‘ Züge, und die konstruktivistische Grundperspektive arbeitet einer Richtung auf eine neue Aktualität idealistischer Argumentationen zu. Zugleich andererseits ist das, was mit dem philosophieseitigen kritischen Seinsvorbehalt des ,Lebens‘, stellvertretend in diesem Gedanken versammelt, offengehalten war – und womit die ,lebensphilosophischen‘ Strömungen sowie der ,lebensphilosophisch‘ interpretierte ,Hegel‘ der ersten Hegel-Renaissance den im Neukantianismus exemplifizierten Idealismus verdrängt hatten –, immer weiter in die Theorien der Wissenschaften eingegangen, deren jeweilige sachspezifische Kategorialität und Theorie- wie Erkenntnisweise. ,Leben‘ hat sein (von irgend einer Philosophie in Obhut und Sachwaltung zu haltendes) kritisches Potential gegenüber der Wirklichkeit der Wissenschaften erheblich verloren. Die Wissenschaften sind immer weniger die – d. h. von jenem alten Typus der ,rationalistischen‘ Neuzeit –, gegen die dieser Gedanke seine beansprucht fundamentale Berechtigung hatte.74 (3) Folgen der klassischen idealistischen Philosophie und aktuelle Präsenz? Auch an dem, was nicht zu Folgen der Erbschaft dieses Denkens geworden ist und zu einem Bewusstsein von möglicher Aktualität, lässt sich lernen. Der ,Neuhegelianismus‘ war nicht nur ein Unfall. Dass aus dem entstandenen idealistischen Aufbruch des ,Neukantianismus‘ keine positive Linie zu einer entsprechend potenten neuen Aneignung Hegels hervorgegangen ist, bleibt ohne den kontrafaktischen Blick blind, und eingeschrieben ins Denken in einer prekären Tradition von Beurteilungen wie Erwartungen. Bis heute steht die Aura des ,Lebens‘-Denkens: und lässt es nicht ganz reflektieren, was dieser irisierende Gedanke – und die von ihm ins Denken gebrachten Oppositionen – eben auch verursacht hat.75 Andererseits hat Hegel selbst daran sicher auch seinen Anteil. Bei aller Sensibilität gegenüber Begriffen, Denkweisen und Theorie-Formen, mit denen die Zeit geistig schwanger geht, und kritischer ,logischer‘ Analyse ihrer betreffenden Denkpotentiale, Wirklichkeitsmodelle wie Grenzen – die bereits in seiner Epoche sich abzeichnende 74 Zugespitzt gesagt: Man braucht dieses ,Lebensphilosophische‘ nicht mehr. Jedenfalls nicht gegenüber den Wissenschaften. – Bezeichnenderweise haben auch viele der großen Wissenschaftsdebatten des 19. Jahrhunderts, aus denen heraus das ,Lebens‘-Denken seine philosophische Aura und Prätentionen bezogen hatte, mehr oder weniger ihre Brisanz verloren: die Ignorabimus-Debatte, der Materialismusstreit, Vitalismus, die Diskussionen um Historismus und um Psychologismus usw. 75 Zu dagegen heutigen perspektivischen Potentialen vgl. Hermeneutik des Lebens. Potentiale des Lebensbegriffs in der Krise der Moderne, hg. v. Ralf Elm/Kristian Köchy/Manfred Meyer, Freiburg/München 1999.

Hegelscher Idealismus im Zeitalter der Wissenschaft

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Fokussierung auf das Konzept des ,Lebens‘76 hat er unterschätzt. Er hat wohl nicht genügend zum Thema erhoben, was in diesem Bereich an sich entfesselnder Macht verborgen liegt, logisch wie methodologisch wie in den dahinterstehenden Bedürfnissen, und was differenziert geklärt werden müsste.77 So aber war er selber, die von ihm hinterlassene Formulierung seiner Philosophie, nicht immun gegen jene dann eingetretenen ,lebensphilosophischen‘ Vereinnahmungen. Das Ergebnis lässt sich gleichwohl auch umdrehen. Denn eine Erfahrung, die bisher stets jede Auseinandersetzung mit Hegel gemacht hat, steht uns in Bezug auf das Verhältnis seines Idealismus zu den Wissenschaften offenbar noch bevor: Hegel hat einen noch allemal überrascht. Für diese Erfahrung sollte man sich offen halten. Dafür aber bedarf es des Bewusstseins, welche Folgen und mögliche Präsenz eben nicht schon eingetreten sind. Und warum dies ausgeblieben ist. Ansonsten aber gilt für die erste Hegel-Renaissance am frühen 20. Jahrhundert und eventuell auch für die gegenwärtige neuerliche HegelRenaissance analytischer und pragmatistischer Provenienz: Rettet Hegel vor seinen Freunden!

76 Etwa bei Jacobi und in der Romantik. 77 Was in den ,lebensphilosophischen‘ Strömungen zum Austrag, ja Ausbruch kommt, ist eben nicht nur die von Hegel in Bezug auf die Gegentheorien seiner Zeit thematisierte „Unmittelbarkeit“. – Zur systematischen Bedeutung der Thematisierung des „Lebens“ in Hegels Theorie vgl. Annette Sell: Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G. W. F. Hegel, Freiburg 2013.

Fernando Su#rez Müller

Letztbegründung und Intersubjektivität in der klassischen deutschen Philosophie

Einleitung Karl-Otto Apels bisher letztes Buch trägt den Titel Paradigmen der Ersten Philosophie (2011). Darin vertieft der Philosoph eine These, die er bereits vor 30 Jahren in Transformation der Philosophie (1973) verteidigte. Deskriptiv heißt die These: Es gibt einen Übergang in der Philosophie, der das Paradigma der Subjektivität zugunsten des Paradigmas der Intersubjektivität verlässt. Was das genau heißt, möchte ich kurz rekapitulieren. Normativ gewendet heißt die These: Es soll einen Übergang in der Philosophie geben, der das Paradigma der Subjektivität zugunsten des Paradigmas der Intersubjektivität verlässt. Apel denkt im Sinne eines Paradigmenwechsels, also in Termen von Substitution. Er bewegt sich dabei in einer Tradition, die bereits von Ludwig Feuerbach initiiert wurde. In seiner Kritik der hegelschen Philosophie (1839) entwickelte Feuerbach bereits die Idee einer Distanzierung von der Bewusstseinsphilosophie, indem er die Du-Beziehung zentral stellte. Feuerbach griff dabei implizit Gedanken Fichtes zur Begründung der Intersubjektivität auf. Dieser entwickelte die Idee der Du-Beziehung in seiner zweiten Einleitung zur Wissenschaftslehre (1797), also in der unmittelbaren Nachfolge seiner Grundlage des Naturrechts (1796), in einer Periode, in der Fichte besonders bemüht war, das Problem der Intersubjektivität zu verstehen. Apels Vorstellung eines Paradigmenwechsels als Substitution von Subjektivität durch Intersubjektivität ist also eigentlich so alt wie die nachhegelsche Philosophie. Das parallele und zugleich entgegengesetzte Programm einer Integration der zwei Paradigmen ist bekanntlich von Vittorio Hösle entwickelt und auch zum Teil bereits realisiert worden. Diese Realisierung findet hauptsächlich in zwei Büchern statt: in Hegels System (1988) und in Krise der Gegenwart (1990). Wir werden sehen, dass diese Integration ganz im Sinne des Deutschen Idealismus ist, dessen Hauptvertreter schon wichtige Schritte in diese Richtung gemacht haben.

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Fernando Suárez Müller

Die These, die ich hier verteidigen möchte, ist, dass Hösle gute Gründe hat, das Programm Apels nur teilweise zu realisieren, dass ihm aber zugleich eine innige Verbindung zwischen Letztbegründung und Intersubjektivität – was doch das Anliegen Apels war – nicht gelingt. Um meine These zu unterstützen, ist ein Umweg nötig, in dem ich das Verhältnis von klassischen Modellen der Transzendentalphilosophie zur Intersubjektivität explorieren möchte. Diese Modelle leisten bereits im Ansatz, was in Apels transzendentaler Reflexion der Intersubjektivität enthalten ist. Sie versuchen bereits, eine Verbindung zwischen Letztbegründung und Intersubjektivität zustande zu bringen und kommen dabei auch teilweise weiter voran als Apel und Hösle. Ich möchte zuerst die Forderung des Paradigmenwechsels Apels und ihre Verbindung zur prima philosophia untersuchen (1), um dann in groben Zügen die Thematisierung der Intersubjektivität im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie zu rekapitulieren. Ich werde kurz auf Immanuel Kants Verbindung von Sittlichkeit und Intersubjektivität eingehen (2), um dann etwas ausführlicher Johann Gottlieb Fichtes transzendentale Verbindung von Subjektivität und Intersubjektivität in seiner Rechtsphilosophie zu behandeln (3). Im System des transzendentalen Idealismus Friedrich Wilhelm Joseph Schellings findet, im Rahmen eines transzendentalen Arguments für die praktische Philosophie, der Versuch statt, die Intersubjektivität mit der Idee des Absoluten zu verbinden (4). Es ist diese „Übersetzung ins Absolute“, die bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der theoretischen Philosophie wiederaufgenommen wird, obwohl dieser Ansatz alsdann unterentwickelt bleibt (5). Erst mit Edmund Husserl tut sich in der berühmten fünften Meditation über die monadologische Intersubjektivität wieder eine im Rahmen der transzendentalen Philosophie vielversprechende Verbindung zwischen Letztbegründung und Intersubjektivität auf, die allerdings, Fichte-ähnlich, keine „Übersetzung ins Absolute“ leistet (6). Der Überblick der klassischen Modelle der transzendentalen Intersubjektivität dient einerseits dazu, die Leistung Hösles hervorzuheben, zugleich aber auch versuchsweise das Potential des Denkens Hösles aufzudecken (7). Im Grunde will mein Beitrag die Idee einer von der deutschen Tradition inspirierten intersubjektiven Monadologie vorlegen, die eine innige Integration der Prinzipien der Subjektivität und Intersubjektivität leistet.

1.

Apels Forderung einer neuen Ersten Philosophie

In Paradigmen der Ersten Philosophie bringt Apel es auf den Punkt: Es gibt in der Moderne zwei miteinander ringende Paradigmen der Ersten Philosophie, also der Metaphysik. Dabei ist Paradigma im Kuhn’schen Sinne einer historischen Denkordnung zu verstehen. Es handelt sich nach Apel um sich historisch ent-

Letztbegründung und Intersubjektivität

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wickelnde Denkrahmen, wobei die eine Begriffsgestalt die andere ablöst und in den Raum des Antiquierten stellt. Der historische Wandel setzt nach Apel im 20. Jahrhundert mit dem Linguistic Turn der Philosophie ein, zugleich mit der Heidegger’schen Kehre. Mit Ausnahme seines letzten Aufsatzes über das ,Apriori der Kommunikationsgemeinschaft‘ (1967) ging es in Transformation der Philosophie (1973) um die Beschreibung der paradigmatischen Transformation unter dem Einfluss moderner Semiotik und Hermeneutik. Im oben erwähnten Aufsatz zeichnet sich Apels eigener Beitrag zum neuen Paradigma der Intersubjektivität ab. Anders als viele Philosophen des 20. Jahrhunderts hält Apel dabei am transzendentalen Denken fest. Er bringt auf diese Weise die Thesen von Charles Sanders Pierce und von Hans-Georg Gadamer mit der klassischen Landschaft des Deutschen Idealismus in Verbindung, auch wenn das im Rahmen einer Abwendung vom traditionellen Projekt des Idealismus geschieht. Apels These heißt: „das Apriori der umgangssprachlichen Verständigung [ist] im Kontext der Lebenswelt in einem präzisierbaren Sinn die nichthintergehbare Bedingung der Möglichkeit und intersubjektiven Gültigkeit jeder denkbaren philosophischen oder wissenschaftlichen Theoriebildung“.1

Diese These markiert einen wichtigen Fortschritt im Bereich der Ethik des 20. Jahrhunderts. Im Rahmen der Ethik heißt die These Apels konkret: „Die Verständigung in der Umgangssprache ist nur insofern nichthintergehbar, als in ihr – und nur in ihr – das normative Ideal der Verständigung realisiert werden kann und deshalb auch immer schon antizipiert werden muss.“2 Bereits früh wird diese transzendentale These in Jürgen Habermas’ ,Wahrheitstheorien‘ (1973) eine Soziologisierung erfahren. In Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1983) wird der transzendentale Anspruch für die Ethik sogar gänzlich neutralisiert. Apels Rede vom „Nichthintergehbaren“, also seine Letztbegründungsthese, hat viel Staub aufgewirbelt. Die Diskussion um die Letztbegründung kann sich ins Uferlose verlieren; der inhaltliche Kern, worum es Apel geht, ist jedoch ein normatives Ideal – das Festigkeit, Universalität, epistemologische Wahrheit und im Grunde auch ontologische Realität beansprucht. Ich möchte bei diesem „normativen Ideal“ stehen bleiben. Dieses Ideal ist nach Apel nichts anders als die transzendentale Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft. Zu ihr kommt man, indem man die Kommunikation zwischen Subjekten hervorhebt und sich von dem trennt, was Apel „die ,methodisch solipsistisch‘ angesetzten ,Einheit des Gegenstandsbewusstseins und des Selbstbewusstseins‘“ nennt.3 Das transzendentale Erbe der 1 Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1973, Bd. 2, 389. 2 K.-O. Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2, 390. 3 K.-O. Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2, 411.

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deutschen Tradition wird hier deutlich transformiert, denn nicht mehr die „Einheit des Selbstbewusstseins“ ist für Apel das Sprungbrett ins Transzendentale, sondern die Analyse der lebensweltlichen Kommunikation, also der im gesellschaftlichen Umfeld eingebundenen Intersubjektivität. Zum neuen Reich des Transzendentalen gehört nun die ideale Kommunikationsgemeinschaft, die gewisse Normen als nicht hintergehbar und universell hervorhebt: die Symmetrie, also die Gleichheit, die Reziprozität und wechselseitige Anerkennung der Sprechenden als Dialogpartner, die Solidarität, also die Kooperation und Hilfsbereitschaft im Namen gegenseitiger Verständigung, auch die Toleranz der Standpunkte im Rahmen des Dialogs, die Verpflichtung zum Frieden, zur Gewaltlosigkeit und zur Freiheit des Denkens usw. Man kann diese transzendentalen Prinzipien die Ideale des Dialogs nennen. Es ist klar, dass diese Werte, die Bestandteil einer idealen Kommunikationsgemeinschaft sind, nicht nur für die Ethik, sondern auch für die Politik (für die Begründung des demokratischen Prinzips) und für die Gestaltung des Sozialen von Bedeutung sind. Zu dieser transzendentalen Erkenntnis kommt man, indem man den Paradigmenwechsel in der Philosophie mitvollzieht. Das transzendentale Denken hat seinen Anfang nicht mehr im Selbstbewusstsein; der für das Transzendentale einzig noch fruchtbare Bereich ist die soziale Interaktion. Eben deshalb nennt Apel seinen Ansatz transzendental-pragmatisch, denn er ist nicht von der empirischen Lebenswelt der kommunizierenden Akteure zu trennen. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft ist bei Apel von Anfang an als normative Dimension gedacht, die für Ethik, Politik und Sozialtheorie inhaltlich bedeutsam ist. Die Eigenart des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft ist der Umstand, dass es sich nicht „um eine rein idealistische Voraussetzung im Sinne eines Bewusstseinsapriori handelt“. Ebenso wenig ist das Apriori als materialistisches „Apriori“ zu verstehen. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft bezeichnet vielmehr „das Prinzip einer Dialektik (diesseits) von Idealismus und Materialismus“.4 Apel trennt das Transzendentale von einer idealistischen Position, weil das Ideal des Dialogs seines Erachtens immer nur kontextuell existiert. Das Ideal leuchtet nur dann auf, wenn und solange in der Lebenswelt ein reeller Dialog stattfindet. Die Sterne des Transzendentalen leuchten also immer nur kurz über der Praxis der Kommunizierenden auf. Ontologisch betrachtet wird der Bereich des Transzendentalen bei Apel von vornherein okkasionalisiert. Die idealen Normen existieren zwar, aber nur so lange die Subjekte in einem Dialog einbegriffen sind. So kann Frieden ein wichtiger transzendentaler Wert des Dialogs sein, aber nur dann als Ideal wirklich existieren, solange eine kommunikative Handlung aktualisiert ist. Das normative Apriori, das in der kommunikativen 4 K.-O. Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2, 429.

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Situation als Ideal Existenz erlangt, verdampft jedoch im Falle einer in einem handgreiflichen Konflikt endenden Sprachbeziehung. Es ist aber Apels Anspruch, den kategorischen Imperativ neu zu denken, und zwar mit Hilfe einer Zwei-Stufen-Ethik.5 Er möchte so die Ethik über die Grenzen einer lediglich prozeduralen Ethik hinausführen, und ihr so, in Anlehnung an eine materiale Wertethik oder eine substantielle Sittlichkeit, mit einem ontologischen Anspruch verbinden: Aus dem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft ist ein Reich konkreter Zwecke zu rekonstruieren – was sich als progressive Realisierung der idealen Welt des Dialogs verstehen lässt,6 und zwar in expliziter Anlehnung an Hegels Verwirklichung der Vernunft: „Eben deshalb können wir heute in einem Diskurs […] immer schon voraussetzen, dass die kontrafaktisch antizipierte ideale Kommunikationsgemeinschaft in einem gewissen Ausmaße schon verwirklicht ist. (Vielleicht darf man Hegels Rede, dass das ,Vernünftige wirklich‘ ist und ,das Wirkliche vernünftig‘, in diesem Sinne verstehen.)“7

Dieser ontologische Anspruch stimmt mit seinem Verständnis des Apriori im Sinne eines ontologischen Universalienrealismus überein, denn Apel folgt Peirce in seiner Abwendung vom Apriori als nominalistische Fiktion.8 Der ontologische Anspruch Apels bleibt trotzdem schwach, denn ebenso gut rechnet er das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft zu einem prozeduralen Gerüst, das er mit Kants regulativen Ideen gleichsetzt. Der ontologische Universalismus, der Apel vor Augen steht, kann allerdings nur okkasionalistisch gedacht werden, und zwar im dem Sinne, dass die ideale Kommunikationsgemeinschaft nur dann existiert, wenn ein Dialog stattfindet. Wegen dieses okkasionellen Verständnisses des Apriori kann die ideale Kommunikationsgemeinschaft auch leicht als rein psychologische Erwartung gedeutet werden (wie es zunehmend bei Habermas der Fall ist), was einem Psychologismus gleich käme. Rückblickend erwies sich das Apriori bei Apel lediglich als okkasionelle Fulguration, als kurzfristige Emergenz eines Ideals, das zwar von einer psychologischen Erwartung zu unterscheiden ist, weil es objektive Bedingung und Form des Dialogs ist, das aber nur Objektivität beanspruchen kann, solange der Dialog anhält. Diese kurzfristige Objektivität des Idealen läuft, wie gesagt, parallel zum Moment der realen Kommunikation – und

5 Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/M. 1988, 211. 6 K.-O. Apel: Diskurs und Verantwortung, 198f. 7 K.-O. Apel: Diskurs und Verantwortung, 266. 8 Karl-Otto Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie. Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, Frankfurt/M. 2011, 189f.

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eben dies nennt Apel die kontrafaktische Geltung der idealen Kommunikationsgemeinschaft.9 Es ist somit bei Apel nicht viel vom klassischen Transzendentalbegriff übrig geblieben. Habermas spricht, unter dem Einfluss von Richard Rorty, von einer Detranszendentalisierung der Vernunft (2001). Trotz des Protestes Apels gegen diese Bezeichnung ist klar, dass sich die Detranszendentalisierung bereits in Apels schwachem Transzendentalismus ankündigt. Eine schwache Version des Transzendentalismus ist von Apel von Anfang an beabsichtigt, denn er konzipiert das neue Paradigma der Intersubjektivität als postmetaphysisch. Ein idealistischer Transzendentalismus im Sinne der deutschen Tradition stößt nach Apel nicht zum „postmetaphysischen Paradigma der ersten Philosophie“ vor.10 Mit der alten Substanzmetaphysik habe sich auch das transzendentale Denken der deutschen Klassik in der Zeit nach Hegel ausgeschöpft. Und auch jene Fortsetzung der Transzendentalphilosophie, die Husserl eröffnete, verstrickte sich im methodischen Solipsismus, der für die Bewusstseinsphilosophie bezeichnend war.11 Wahrheitsfindung sei nicht vom sprachlichen Umfeld zu trennen.12 Husserls Fehlversuch, die Transzendentalphilosophie zu rehabilitieren, bestätigt nach Apel, dass die Bewusstseinsphilosophie ausgedient hat. Erste Philosophie ist seines Erachtens nur noch als „Transzendentalphilosophie der Sprache“ zu denken.13 Doch was soll hier Erste Philosophie heißen? Kann eine im Okkasionalismus verstrickte Transzendentalpragmatik postmetaphysisch auf dem Thron der prima philosophia steigen? Wahrheit ist zwar intersubjektiv zu erforschen, ist deshalb selbst noch nicht intersubjektiv. Versteht man das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft nicht nur im Sinne einer Struktur von ethischen Prinzipien, sondern auch im Sinne einer unbegrenzten Forschergemeinschaft wie Peirce es tat, so ist diese Gemeinschaft eine anschauende und lernende, nicht eine die Wahrheit selbst begründende. Wie kann eine lernende Gemeinschaft, die im Verhältnis zur Wahrheit sekundär bleibt, die Basis einer Ersten Philosophie sein? Kommt diese unbegrenzte Forschergemeinschaft nicht immer zu spät? Wenn Erste Philosophie die Suche nach den ersten Prinzipien ist, also die Suche nach dem höchsten Prinzip, dann kommt die „unbegrenzte Forschergemeinschaft“ selbst gewiss nicht als erstes in Frage, denn sie ist immer etwas Lernendes oder Entdeckendes – es muss ihr so manches vorausgehen. Man könnte die unbegrenzte Forschergemeinschaft allerdings auch so denken, dass sie zwar nicht Prinzip einer ersten Philosophie ist, sondern nur das 9 10 11 12 13

K.-O. Apel: Diskurs und Verantwortung, 102. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 165. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 167. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 168. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 169.

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Auffangbecken eines ersten Prinzips: Was das Prinzip einer ersten Philosophie auch sein möge, es wird erst in seiner Geltung durch eine unbegrenzte Forschergemeinschaft erkannt werden müssen. Es zeigte sich vorhin bereits, dass Apel mit Peirce einen Universalienrealismus vertritt. Interpretiert man die unbegrenzte Forschergemeinschaft entlang dieser Linie, dann können ihre Handlungen nicht nominalistisch im Sinne des sozialen Konstruktivismus verstanden werden, sondern ihre Aktivität wäre realistisch im Sinne einer zeit- und raumübersteigenden, ontologisch existierenden unbegrenzten Gemeinschaft zu interpretieren: Damit liefe die Transzendentalpragmatik der alten Verstandesmetaphysik entgegen. Zu einer nichthintergehbaren Kommunikationsgemeinschaft müsste man nicht nur den Inbegriff der oben erwähnten Prinzipien des Dialogs, die den „Maßstab der Normenbegründung“ ausmachen,14 rechnen, sondern auch die Vorstellung einer unbegrenzten Monadengemeinschaft. Die Ideale des Dialogs samt dieser Gemeinschaft von Vernunftwesen konstituiert den Kern der Ersten Philosophie Apels. Beide Aspekte des Apel’schen Apriori der Kommunikationsgemeinschaft – also einerseits die Ideale des Dialogs und andererseits die unbegrenzte Monadengemeinschaft – sind auch für das Verständnis von Apels Selbsteinholungsprinzip wichtig.15 Einerseits dürfen die Prinzipien der Philosophie nicht die Maßstäbe der Normenbegründung (also die Ideale des Dialogs) leugnen; andererseits dürfen die Prinzipen der Philosophie nicht die Möglichkeit einer Monadengemeinschaft als Auffangbecken alles Wissens ausschließen. Apels Selbsteinholungsprinzip besagt, dass beide Möglichkeiten bei jedem argumentativen Schritt immer wieder gesichert sein müssen. Im Apelschen Programm der prima philosophia wird die Rekonstruktion oder Deduktion des transzendentalen Apriori im Laufe der Zeit immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Der sinnkritische Realismus Peirces wird im Denken Apels immer stärker – und in diesem ist für transzendentale Deduktionen gar kein Platz.16 Apel bekennt sich zwar zum „Cartesianischen“ (eigentlich deutschidealistischen und auch husserlschen) Projekt einer Letztbegründung der Erkenntnis,17 doch er vertritt gleichzeitig die Wittgenstein’sche Position, die jeden methodischen Zweifel / la Descartes dazu zwingt, seiner Verwobenheit in der Sprache Rechnung zu tragen.18 Vom Selbsteinholungsprinzip her gedacht, erklärt Apel den methodischen Zweifel, der zum Reflexionsprinzips des „Ich Denke“ und des „Selbstbewusstseins“ führt, wie Wittgenstein sagen würde, für „sinnlos“, denn ein solcher Zweifel zerstöre „das gesamte Sprachspiel“, dessen 14 15 16 17 18

K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 277. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 177. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 264. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 196. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 198.

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sich der Philosoph bedient. Die Philosophie verstricke sich auf diesem Wege in einen heillosen performativen Widerspruch.19 Die Erste Philosophie kann nach Apel deshalb nie mit dem Satz des Denkens anfangen. Das Argument Apels setzt allerdings voraus, dass eine Sprache Voraussetzung des Denkens ist, und dass diese Sprache von einer empirischen Gemeinschaft getragen werden muss.20 Ein Cartesianer könnte hier entgegnen, dass diese Behauptung nicht selbstverständlich ist, denn es sei gar nicht nötig, eine konkrete Sprache vorauszusetzen. Indem Apel die Existenz eines lebensweltlichen Sprachspiels als Anfangspunkt der Philosophie macht, übersieht er, dass er unter „Sprachspiel“ nicht diese oder jene Sprache (Deutsch, Englisch, Russisch usw.) meinen kann, sondern überhaupt nur anerkennen kann, dass es Sprachlichkeit gibt. Es sei lediglich die „binäre Differenz zwischen wahren und falschen Aussagen“ anzuerkennen, also die Tatsache, dass es überhaupt einen argumentativen Diskurs mitsamt Diskurspartnern gibt.21 Der radikale Cartesianer kann diese Diskursgemeinschaft von der zufälligen Basis der lebensweltlichen Existenz trennen und im transzendentalen Bereich der allgemeinen Vernunft ansiedeln. Im Grunde sind in den Gedanken Apels Sprache und Intersubjektivität bereits dermaßen umformuliert, dass sie als Formen des Gedankens überhaupt definiert werden können. Der radikale Cartesianer wäre durchaus imstande, anzuerkennen, dass das Denken von Grund aus sprachlich strukturiert ist, jedoch nicht deshalb, weil es an eine empirische Lebenswelt gebunden ist, sondern weil Denken an und für sich immer schon diskursiv ist. Ich kann an die Welt um mich, auch an der konkreten Sprache, in der ich denke, immer grundsätzlich zweifeln. Das Prinzip der Intersubjektivität taugt keineswegs dazu, das Bewusstseinsparadigma zu ersetzen, sondern es erweist sich vielmehr als innere Form des Selbstbewusstseins. Die Möglichkeit, dass das Denken überhaupt, also ganz und gar Raum und Zeit übersteigend, intersubjektiv zu verstehen ist, ist Apel keineswegs klar, sonst würde er Descartes und Husserl nicht vorhalten, nur über die konkrete Sprache zu ihrem Zweifel gelangen zu können.22 Apel abstrahiert ständig von der Möglichkeit, Sprache als Form des Gedankens überhaupt zu definieren. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der Deutsche Idealismus nicht nur das transzendentale Prinzip der Intersubjektivität bereits gedacht hat, sondern es auch mit der skizzierten Position des Cartesianers theoretisch zu vermitteln versucht hat. Es wird sich zeigen, dass die Position des intersubjektiven Cartesianers nicht performativ widersprüchlich ist, solange sie Intersubjektivität als 19 20 21 22

K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 199f. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 207. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 207, 212. K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 212f.

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Form des Absoluten setzt. Es wird sich alsdann zeigen, dass der Deutsche Idealismus jedoch nicht zu einem radikalen Transzendentalismus der Intersubjektivität vorgestoßen ist, weil er dieses Prinzip hauptsächlich nur auf der Ebene der praktischen Philosophie gedacht und ihre theoretische Eingebundenheit zwar erörtert, aber nicht weiterentwickelt hat. In dieser Hinsicht markiert der Ansatz Husserls eine grundlegende Transformation, denn er bietet die Möglichkeit, Denken von Grund auf intersubjektiv zu fassen. Aus dieser Perspektive erscheint Apels Transzendentalpragmatik als Rückführung in die praktische Philosophie, Husserls Versuch, Intersubjektivität als grundlegendes Prinzip der Philosophie zu verstehen, nicht gewachsen zu sein. Doch verbleibt Husserl auf der Ebene des subjektiven Idealismus, die sich nur durch die von Hösle vorgeschlagene Verbindung von Intersubjektivität und Absolutem vom Solipsismus befreien kann.

2.

Kants Reich der Zwecke als Ort der transzendentalen Intersubjektivität

Kant entwickelt die transzendentale Idee synthetischer Sätze a priori und hebt die für Wahrnehmung und Wissenschaft konstitutive Rolle der endlichen Subjektivität hervor. Er ist sich der Nichthintergehbarkeit des reinen Ich zwar bewusst, aber verbindet mit der transzendentalen Subjektivität nicht die Idee eines allgemeinen Begründungsmoments. Dementsprechend entwickelt sich seine Philosophie nicht als deduktives System, das in einem ersten Prinzip seinen Ausgang nimmt. Diesen Anspruch entwickelt bekanntlich erst Karl Leonhard Reinhold. Das Prinzip der Subjektivität bei Kant kann somit als nichthintergehbar hervortreten, ohne Sprungbrett zu einer Systembegründung zu sein. Es handelt sich bei Kant im Grunde um eine Letztbegründung ohne weiterführende Systembegründung, denn das Ich ist bei ihm ein erstes Prinzip, das kein Prinzip eines Systems ist. Erst bei Fichte wird das Ich zum Anfangsmoment eines Systems, das heißt zur Grundlage seiner systematisch konzipierten Wissenschaftslehre. Und erst in der praktischen Philosophie findet bei Kant eine enge Verbindung des Prinzips der Subjektivität und der Intersubjektivität statt. Von einer expliziten Deduktion der Intersubjektivität aus der Subjektivität ist hier jedoch nicht die Rede. Erst bei Fichte wird der Andere transzendental aus dem Subjekt bewiesen. Trotzdem ist bei Kant eine Verbindung der reinen Sphäre der Intersubjektivität mit dem Prinzip des Ich vorhanden. Apel hat auf diese Verbindung

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aufmerksam gemacht, aber er interpretiert sie irrigerweise als Kants Abwendung vom Prinzip des Ich.23 In Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist es die Vorstellung eines Reichs der Zwecke, welche die Verbindung zwischen transzendentalem Ich und einer reinen Dimension der Intersubjektivität ausmacht. Die praktische Vernunft ist intrinsisch immer schon mit einer „Gemeinschaft reiner Vernunftwesen“ verbunden – Kants religionsphilosophische Vorstellungen werden an diese Idee einer reinen Vernunftgemeinschaft anschließen, denn auch Gott, das „Oberhaupt im Reiche der Zwecke“, gehört zu dieser Gemeinschaft.24 Zum transzendentalen Reich der Zwecke gehören allgemein moralische Gesetze, aber diese sind immer schon auf eine Gemeinschaft von Vernunftwesen bezogen. Die Vernunftwesen sind, ebenso wie die Gesetze selbst, Zwecke an sich. In der Grundlegung heißt es: „Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens […] führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke. Ich verstehe unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird […] ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag), in systematischer Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke gedacht werden können“.25

Zum Reich der Zwecke gehören also sowohl die Gesetze als auch die Vernunftwesen. Es hat allerdings keinen Sinn, die rein transzendentale Gemeinschaft von der Vorstellung der Subjektivität zu trennen, wie Apel vorschlägt, denn das Reich der Zwecke ist Bestandteil der Vernunft. Und es hat nur dann Sinn, diese Vernunftgemeinschaft mit einer idealen Sprachgemeinschaft zu verbinden, was Apel ebenso vorschlägt,26 wenn die Existenz dieser Sprachgemeinschaft nicht vom Dasein einer empirischen Sprachgemeinschaft abhängig gemacht wird. Apels ideale Kommunikationsgemeinschaft lässt sich nicht von der empirischen Kommunikation trennen. Bei Kant ist das Reich der Zwecke nicht von der empirischen Situation abhängig. Während die ideale Kommunikationsgemeinschaft bei Apel ein flüchtiges Epiphänomen der realen Lebenswelt ist, gehört die Vernunftgemeinschaft bei Kant zum reinen (praktischen) Denken selbst. Anders als Apel denkt Kant die Intersubjektivität somit als Moment oder Bestandteil des Prinzips der Subjektivität. 23 K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 274. 24 Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Werke (in zehn Bänden), hg. W. Weischedel, Darmstadt 1975, Bd. 6, A 76. Im Folgenden zitiert mit Werke mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen; ders.: Kritik der praktischen Vernunft, Werke 6, A 183; ders.: Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, Werke 7, A 130f. 25 I. Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke 6, A 75. 26 K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 274.

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In Kants praktischer Vernunft liegt bereits das Muster einer intersubjektiven Erneuerung des absoluten Idealismus vor, das sich später bei Fichte, Schelling und Hegel abzeichnet. Die Subjektivität, die Kant allerdings noch immer endlich denkt, trägt das Reich der Vernunftwesen immer schon in sich. Es geht Kant dabei keineswegs darum, das Prinzip der Bewusstseins- und Reflexionsphilosophie durch das Prinzip der Gemeinschaft zu ersetzen. Kant setzt, wie der Deutsche Idealismus insgesamt, auf Integration und nicht auf Substitution der Prinzipien der Subjektivität und Intersubjektivität. Vermutlich hat diese transzendentale Verschränkung von Subjektivität und Intersubjektivität, die in der Ethik Kants als unvermeidbar erscheint, Fichte dazu veranlasst, eine transzendentale Deduktion der Intersubjektivität in der Grundlage des Naturrechts (1796) zu entwickeln. Während Kant an ein Reich möglicher Vernunftwesen denkt und so die Vernunftgemeinschaft transzendental im Geiste des endlichen Subjekts situiert, macht Fichte aus der transzendentalen Subjektivität das Begründungsprinzip der Intersubjektivität. Zugleich wird das transzendentale Prinzip der Intersubjektivität bei Fichte als phänomenologischer Erscheinungsgrund, das heißt als Realisierung der sozialen Welt, gedacht. Kant verharrt mit seiner idealen Vernunftgemeinschaft im Geiste des Ich; Fichte dagegen geht aus dem Geiste des Ich heraus zur realen Kommunikationsgemeinschaft. Aber er denkt die transzendentale Subjektivität, wie Kant, noch immer vom endlichen Ich aus. Obwohl das Ich in der Wissenschaftslehre zu einem allgemeinen Prinzip gemacht wird, hebt Fichte das Ich in der Rechtsphilosophie immer wieder von seiner endlichen Seite hervor. Die transzendentale Subjektivität erscheint somit immer als ein in-seiner-Welt-seiendes Ich. Wir werden sehen, dass auch Fichte die Subjektivität nicht durch Intersubjektivität substituieren, sondern beide integrieren wird. Anders als Kant wird er die ideale Gemeinschaft als Form der realen interpretieren. Die reale Gemeinschaft wird alsdann sowohl innerhalb als auch außerhalb der transzendentalen Subjektivität situiert.

3.

Fichtes transzendentale Deduktion der Intersubjektivität

In Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) eröffnet Fichte das Programm des Deutschen Idealismus. In dieser Schrift wird die Idee eines Systems von schrittweisen Deduktionen aus dem nichthintergehbaren Prinzip der transzendentalen Subjektivität entworfen. Damit ist vor allem auch die Grundlage des absoluten Idealismus Schellings und Hegels gelegt – beide erheben das transzendentale Prinzip ins Absolute und trennen sich vom subjektiven Standpunkt Fichtes. Hegels Enzyklopädie kann als direkte Fortsetzung des Projekts

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der Wissenschaftslehre verstanden werden. Fichtes Prinzip der Subjektivität spielt also eine zentrale Rolle in der klassischen deutschen Philosophie. Das gilt auch für sein Konzept der transzendentalen Intersubjektivität. Anders als bei Schelling und Hegel erhebt sich Fichtes Version der transzendentalen Intersubjektivität nicht ins Absolute. Fichte entwickelt die Intersubjektivität aus dem Prinzip der Subjektivität, das er in Form eines endlichen Ich denkt. Was er ableitet, ist die Existenz der realen Welt des Sozialen, aber daraus resultiert auch die Möglichkeit, das Soziale als apriorisches Vernunftreich zu konzipieren. Erst in der Staatslehre von 1813, die den Untertitel Über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche trägt, wird er aus der Idee des Vernunftreiches den idealen Bezugspunkt der sozialen Welt herleiten (FW27 IV, 419). Ähnlich wie Apel ist Fichte bemüht, die Lebenswelt, die Welt des Sozialen, als Trägerin eines idealen Bereichs der Kommunikation offen zu legen. Doch anders als bei Apel, der das Ideale von der Existenz der realen Kommunikationsgemeinschaft abhängig macht, ist die Herangehensweise Fichtes idealistisch: Die reale Kommunikationsgemeinschaft wird aus dem Bereich des Ideellen entwickelt. Apel hat die Bedeutung Fichtes in Sachen intersubjektive Transzendentalphilosophie vollkommen verkannt. Für Apel ist Fichte der Verderber des kantischen Ansatzes – ein Philosoph, der sich ständig in logischen Zirkeln bewegt. An Fichte lobt er jedoch die Tatsache, dass das Ich nicht mehr als Substanz, wie noch bei Kant beschrieben wird, sondern als Prozess, das heißt als Tathandlung.28 In Fichte sieht Apel den Übergang zum modernen Pragmatismus. Doch an ihm bemängelt er die fehlende transzendentale Berücksichtigung der Sphäre der Intersubjektivität.29 Dabei übersieht er, dass Fichtes Rechtsphilosophie zum ersten Mal eine transzendentale Deduktion des Prinzips der Intersubjektivität vorgelegt hat. In Fichte könnte man vielmehr den idealistischen Grund der Apel’schen Transzendentalpragmatik wahrnehmen. Im ,Zweiten Lehrsatz‘ der Grundlage des Naturrechts legt Fichte einen Beweis der Intersubjektivität vor, der als Basis der Rechts- und Soziallehre dienen soll. Die Philosophie des Rechts ist nach Fichte in der Wissenschaftslehre gegründet, deren letztes Prinzip nicht einfach die abstrakte Vernunft ist, sondern das freie Ich, denn „die Vernunft [ist] überhaupt durch die Ichheit charakterisiert“ (FW III, 1). Wie auch später Hegel mit seiner Vorstellung des Kampfs um Anerkennung geht es Fichte darum, die Welt des Sozialen, die soziale Entwicklung, ins Licht der Freiheit zu setzen. Das Wesen des Ich ist Handeln und Handeln ist Ausdruck der Freiheit. Die Natur, die Welt der Objekte, ist das Produkt der 27 Johann Gottlieb Fichte: Fichtes Werke, 11 Bde., hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971 [1834–1846]. Im Folgenden zitiert als FW mit Angabe des Bandes in römischen Zahlen. 28 K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 290. 29 K.-O. Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie, 291.

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Freiheit des Ich (FW III, 3). Fichtes transzendentales Ich ist zwar allgemein, aber als Ich wird es als endliche Subjektivität gedacht, was daraus ersichtlich wird, dass das Ich seine Umgebung über „Tathandlungen“ schafft. Fichte identifiziert deshalb nicht selten die Tätigkeit des transzendentalen Subjekts mit der des Menschen (FW III, 5). Die Freiheit gehört wesenhaft zur Vernunft, doch das seine Umgebung schaffende Ich setzt auch „andere freie Wesen“ außer sich: „Ich schreibe mir selbst nicht alle Freiheit zu […], weil ich auch noch andere freie Wesen setzen […] muss“ (FW III, 8). Damit ist bereits das Thema des Rechts erörtert. Die Existenz der Fremden ist Anlass zur Beschränkung meiner Freiheit, also zur Feststellung von Grenzen und Gesetzen des Handelns. Fichte interpretiert die freien Wesen nicht als bewusstseinsimmanent, was doch eine erhebliche Schwierigkeit seines Ansatzes ans Licht bringt, denn im subjektiven Idealismus lässt sich eine solche Deutung schwerlich vermeiden. Die reale Welt, auch die soziale, ist Tathandlung des Subjekts und lässt sich ohne diese gar nicht denken. Die freien Wesen gehen im Ich unter. Zu einem Lösungsvorschlag kommt Fichte erst zwei Jahre später in seinem System der Sittlichkeit (1798). Festzuhalten ist zuerst, dass Fichte anders als Kant die transzendentale Dimension der Intersubjektivität nicht hieratisch als ein Reich der Zwecke auffasst, sondern als lebendige Gemeinschaft, in der die Relationalität der freien Iche im Vordergrund steht: Ohne die Idee einer „gegenseitigen Wechselwirkung“ ist Gemeinschaft, so betont Fichte, nicht zu denken (FW III, 9). Die Realisierung der Freiheit wird Fichte an die Idee einer wechselseitigen Anerkennung dieser Freiheit binden. Fichte fordert einen expliziten Beweis der Intersubjektivität. Aus dem letztbegründeten Prinzip der Wissenschaftslehre soll also nach Fichte ein weiteres Prinzip abgeleitet werden, das auf transzendentale Weise die Existenz der Gemeinschaft beweist. Der Anlass ist der Bereich des Rechts, den er vom Bereich der Sittlichkeit trennt. Fichte konzipiert Sittlichkeit als individuellen Umgang mit dem Gewissen (FW IV, 156). Er folgt darin explizit Kant, der das Sittengesetz im Prinzip der Subjektivität und in der unbedingten Pflicht begründete (FW IV, 3). Die Trennung von Sittenlehre und Rechtslehre überzeugt schon deshalb nicht, weil Fichte die Intersubjektivitätslehre der Grundlage in seiner Sittenlehre erneut aufnehmen muss. Zwar gilt ihm subjektive Selbstbestimmung als höchste Aufgabe des Sittengesetzes, doch diese setzt Bestimmungen von fremden Willen voraus (FW IV, 150). Während es in der Grundlage heißt, das Subjekt sei ein soziales Wesen aus freiem Entschluss und keineswegs aus sittlicher Pflicht (FW III, 14), wird Fichte in der Sittenlehre eine prästabilierte Harmonie der Willen vorlegen, da er zur Schlussfolgerung gelangt, dass man nur in Gemeinschaft frei und sittlich sein kann (FW IV, 226). Fichte kommt auf diese Weise auf die Idee einer Metaphysik der Gemeinschaft, die ewig frei und eigentlich nicht mehr aus dem Gesichtspunkt des Ich zu verstehen ist (FW IV, 228). Wenn Sittlichkeit auf

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die Bestimmung eines gemeinsamen Willens zielt, dann sind auch Staat und Verfassung, die eine „absolute Einstimmigkeit“ zum Ausdruck bringen, Begriffe der Sittlichkeit (FW III, 6). Dann erübrigt sich auch eine scharfe Trennung zwischen Rechts- und Sittenlehre. Beide sind verbunden, indem sie eine intersubjektive Dimension voraussetzen. Im System der Rechtslehre aus dem Jahr 1812 wird Fichte den Unterschied zwischen Rechts- und Sittenlehre immer noch hervorheben, denn Recht braucht man nur so lange Menschen nicht sittlich handeln. Aber das Rechtsgesetz scheint hier bereits im höheren Plan der Sittlichkeit dialektisch einbegriffen zu sein (FW X, 502). In dieser späteren Schrift identifiziert Fichte die transzendentale Subjektivität zwar noch mit dem Ich, aber dieses ist nicht mehr individuell gemeint, sondern nimmt bereits die Form eines Absoluten an, das in sich eine Mannigfaltigkeit von Ichen einschließt (FW X, 500). Ein Jahr später (1813) konzipiert Fichte in Nachfolge dieser Rechtslehre eine Staatslehre, in der der Staat die historische Spiegelung des Absoluten ist. Die Geschichte wird als Rückkehr zu einem Urstaat, zum Vernunftreich, interpretiert. Auch das Göttliche erscheint als intrinsisch intersubjektiv : „die ganze Freiheitsgemeine in allen ihren Individuen ist schlechthin in der absoluten Form der göttlichen Erscheinung“ (FW IV, 476). Diese spät entwickelten Gedanken, die das Prinzip der Intersubjektivität eindeutig als Form des Absoluten verstehen, greifen stillschweigend auf Ideen zurück, die Schelling bereits in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) vorgeführt hatte. Im ersten Kapitel der Grundlage bestimmt Fichte das endliche Vernunftwesen als Tätigkeit. Das Ich setzt sich eine Welt, ein Objekt außer sich (FW III, 24). Erst durch die Wechselwirkung mit diesem Objekt wird das Ich „selbst“ (FW III, 22). Das Ich initiiert als Agens eine kausale Kette einander verbundenen Zeitpunkte. Das Ich erkennt sich als Agens und als Zweckmäßigkeit (FW III, 36). Dadurch aber vermag das Ich in der Welt auch fremdverursachte zweckmäßige Wirkungen zu erkennen. Das Ich beobachtet aber nur Wirkungen; dass dahinter tatsächlich Agentia stecken, ist eine Konstruktion seiner Urteilskraft (FW III, 37). Fichtes Beweis der Intersubjektivität beschränkt sich im Weiteren wesentlich darauf, darzustellen, wie diese subjektive Urteilskraft in Richtung Setzung des Anderen gezündet wird. Das Ich soll zuerst verstehen, dass die kausale Kette, die es beobachtet, ihren Anfang nicht in der Natur nimmt, sondern in einer fremden Vernunft. Nach Fichte ist Vernunft immer bestrebt, sich erkennbar zu machen. Fichte drückt es so aus: „Die Ursache der Einwirkung auf uns hat gar keinen Zweck, wenn sie nicht zuvörderst den hat, dass wir sie als solche erkennen sollen“ (FW III, 38). Damit wird Vernunft im Grunde als immer schon kommunikativ aufgefasst, wobei Sich-erkennbar-machen und Anerkennung verbunden sind, denn wenn sich das Subjekt zu erkennen gibt, verlangt es auch Anerkennung als Ich. Zu-

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gleich wächst das anerkennende Subjekt über sich hinaus: Es gewinnt eine andere Weise des Selbstbewusstseins und sieht sich im Bild des Anderen, und zwar als Mich – dabei greift Fichte George Herbert Mead voraus (FW III, 46). Wichtig ist, dass Fichte den Anerkennungsprozess nicht primär, wie später Hegel, als Kampf versteht, sondern ursprünglich als Kommunikation, als Lernprozess, als Prozess des Begriffs oder, wie er sagt, als „Geben und Empfangen von Erkenntnissen“ auffasst (FW III, 40). Die Ursprünglichkeit der Kommunikation steht für Fichte nicht nur aus einem transzendentalen Gesichtspunkt, sondern auch aus einem empirischen fest: „Es ist wohl kein Mensch, der bei der ersten Erblickung eines Menschen, ohne weiteres, die Flucht nehme […] oder Anstalt mache ihn zu tödten und zu verspeisen, wie ein Wild; der nicht vielmehr sogleich auf wechselseitige Mitteilung rechnete“ (FW III, 81). Kommunikative Prozesse sind für Fichte deshalb fundamental, weil sie eine Steigerung der Freiheit ermöglichen. Der Prozess der Kommunikation setzt damit ein, dass das Subjekt sich einen Leib „als bildsame Materie“ setzt (FW III, 86). Die Konstitution des eigenen Leibes ist für Fichte bereits eine kommunikative Handlung. Die Expressivität drückt sich alsdann in der Leibartikulation der Glieder aus (FW III, 61). Das Subjekt reagiert als Leib expressiv auf die Welt der Dinge und der fremden Iche und zwar, ähnlich wie bei Herder, durch innerliche Nachahmung von Eindrücken und Tönen mit dem Mund als „Organ der Mitteilung“ (FW III, 66, 71, 84). Dies alles gehört allerdings bereits zum Bereich der Anthropologie. Als Grundlage der Rechtslehre macht die intersubjektive Relationalität die Selbstbeschränkung des Subjekts nötig. Dies setzt eine Theorie wechselseitiger Anerkennung voraus: „Das Verhältnis freier Wesen zu einander ist daher das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich anerkennen“ (FW III, 44). Das System des Rechts versteht sich aus der Möglichkeit, dieses kommunikative Anerkennungsverhältnis zu zerstören. Das Recht dient zur Sicherung der ursprünglichen Gemeinsamkeit. Fichte formuliert in seiner Rechtslehre sogar einen kategorischen Imperativ der gemeinsamen Anerkennung: „So gewiss ich ihn nun anerkenne […], so gewiss ist er […] gebunden […] mich kategorisch anzuerkennen und zwar gemeingültig“ (FW III, 47). Dieser Imperativ der Gemeinsamkeit setzt einen freien Willen zur Sozialität voraus. Gerecht kann eine Handlung nur dann heißen, wenn man dem Anderen „wirklich gemäß handle“ und ihn als freies Vernunftwesen behandle (FW III, 45). Fundament des Rechts ist die Anerkennung der Existenz eines Prinzips der Sittlichkeit im Fremden. Fichte wird diese wechselseitige Anerkennung in späteren Kapiteln der Grundlage im Sinne einer vertragstheoretischen Deklaration transformieren (FW III, 130), aber er vertritt dabei immer einen schwachen Atomismus, denn es ist bereits ausgemacht, dass das Ich Freiheit nur als Ge-

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meinsamkeit erfahren kann. Für Fichte sind Subjekte nicht nur Zwecke an sich, sondern auch Ursachen an sich, also Selbstursachen: Jedes Subjekt ist im Grunde eine außerraumzeitliche Monade, die seinem Wesen nach das Recht hat, als Ursache und nicht als Objekt oder Bewirktes behandelt zu werden (FW III, 113). Die transzendentale Intersubjektivität ist jedoch nur durch das Setzen oder Konstituieren des Fremden im transzendentalen Ich möglich. Alles bleibt so im Feld des solus ipse. Einerseits heißt es bei Fichte: Der Andere wird nicht vom Subjekt konstituiert, sondern konstituiert sich selbst als Agens einer Wirkung. Der Mensch ist überdies nicht bloß Selbsttätigkeit, sondern Zusammenarbeit: Er kommt zu sich durch Andere, wie Erziehung und Bildung bestätigen (FW IV, 245). Der Mechanismus, der die Intersubjektivität ermöglicht, ist die Kommunikation, oder wie Fichte sagt: die „freie Wechselwirkung durch Begriffe“ und „das Geben und Empfangen von Erkenntnissen“ (FW III, 40). Im System der Sittenlehre verbindet Fichte diese Sphäre der wechselseitigen Mitteilungen auch mit einem inneren Bedürfnis nach Übereinstimmung (FW IV, 245). Die kommunikative Bindung mindestens zweier Wesen wird so zur Grundfigur der Rechts- und Sittenlehre (FW III, 41; FW IV, 249). Andererseits heißt es, dass das transzendentale Ich die Welt setzt, und damit auch die Wirkungskette eines fremden Agens. Das Ich wird somit Grund des Anderen; der Fremde ist zwar letzter Grund (ein selbständiges Agens), aber er existiert anscheinend nur im Subjekt eines Ich: „Das Subjekt hat sich jetzt gesetzt, als ein solches, das den letzten Grund von etwas, das in ihm ist, in sich selbst enthalte“ (FW III, 41). Auf diese Weise bleibt die Realität des Anderen eine Konstruktion des subjektiven Ich und darum verfängt Fichte sich im Problem des Solipsismus. Dieses Problem lässt sich, wie ich noch zeigen werde, nur über die Idee des Absoluten lösen. Einen ersten Schritt in diese Richtung macht Fichte im System der Sittlichkeit, wo er die Idee einer prästabilierten Harmonie der Intersubjektivität konzipiert. Erst Schelling wird das Prinzip der Intersubjektivität explizit zur Form des Absoluten erheben, wie wir gleich sehen werden. Fichte hat allenfalls richtig erkannt, dass der Standpunkt des transzendentalen Ich auch zum Problem des unendlichen Regresses der Subjektsetzung oder Subjektspiegelung führt. Das Problem des Regresses ergibt sich aus folgendem Gedankengang: das Subjekt hat ein Wesen außer sich gesetzt, das aber in ihm vorkommt; umgekehrt setzt dieses Wesen, das es in sich setzt, gleichfalls ein Wesen außer sich, das wiederum in ihm vorkommt (FW III, 41). Die Vernunftwesen werden somit gegenseitig in einem unendlichen Prozess im Geiste der Anderen konstituiert. Der Eine befindet sich im Anderen; der Andere im Einen usw. usf. Der ganze Regress findet im transzendentalen Ich statt, aber zugleich sind fremde Iche nicht wahrhaft Teil dieses Ich. Eine Lösung für dieses Problem der unendlichen Subjektsetzung entwirft Fichte, wie gesagt, in seinem System der Sittenlehre in Form einer prästabilierten Harmonie der intersubjektiven Bezie-

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hungen. Jedes Ich hat seine eigene Natur und ist „vor aller Zeit und außer aller Zeit“ von „absoluten Schranken“ begrenzt: „Unsere ganze, sowohl innere als äußere Welt […], ist dadurch auf alle Ewigkeit hinaus für uns prästabiliert“ (FW IV, 101). Das heißt, dass die Handlungen der Iche, die im transzendentalen Ich begriffen sind, prästabiliert sind. Auch alle anderen haben ihre eigene Natur, die allesamt Grenzpunkte meines Handelns markieren: „Die freien Handlungen anderer sollen in mir ursprünglich als Grenzpunkte meiner Individualität liegen, sollen sonach […] von Ewigkeit her prädestiniert sein“ (FW IV, 226). Es ergibt sich dann, dass die endliche Subjektivität in Wahrheit immer schon in einem höheren Plan einbegriffen ist. Fichte stößt damit auf die Grenze seines eigenen subjektiv-transzendentalen Ansatzes und weist implizit auf eine Dimension des Absoluten hin, die die prästabilierte Harmonie zustande gebracht hat (FW IV, 100, 133). Damit entsteht allerdings auch das Problem der Freiheit. Wenn alle Beziehungen prästabiliert sind, wie ist dann noch Freiheit zu denken? Fichte ist hier nicht sehr konsistent. Seines Erachtens sind die besonderen Handlungen der Subjekte nicht prästabiliert: „Das bloß subjektive, die Selbstbestimmung, ist nicht prästabiliert, darum sind wir freihandelnd“ (FW IV, 101). Prästabiliert ist nur die Welt als ein „objektives in uns“, also nur die Natur oder das Wesen der Dinge, der Anderen und des eigenen Ich. Für mich sind meine Handlungen nicht prädestiniert, auch wenn meine Natur feststeht. Fichte meint daraus schließen zu können, dass „Prädestination und Freiheit […] vollkommen vereint“ sind (FW IV, 228). Die Lösung befriedigt deshalb nicht, weil die Handlungen anderer selbst Objektives in uns sind, und somit ebenso prädestiniert sind, wie die Natur der Dinge – und so auch meine Handlungen im Geiste eines Anderen. Wichtig ist, dass Fichte einen klaren Schritt macht, Intersubjektivität in den Blickwinkel des Absoluten zu rücken. Seine Lösung zum Problem der unendlichen Subjektspiegelung kündigt auch eine Lösung für das Problem des Solipsismus an, denn dieses ergibt sich nur aus der Perspektive des endlich gefassten Ich und verliert seinen Inhalt aus der Perspektive des Absoluten. Durch die Lösung dieser wichtigen Probleme taucht das Problem der metaphysischen Freiheit auf. In der späteren Staatslehre (1813) wird Fichte dazu neigen, Freiheit nur dem absoluten Willen Gottes zuzuschreiben (FW IV, 387).

4.

Schellings Intersubjektivität als Form des Absoluten

Das Problem der Intersubjektivität und der prästabilierten Harmonie greift der junge Schelling in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800), das noch stark unter Fichtes Einfluss steht, wieder auf. Obwohl Schellings Ansatzpunkt objektiv idealistisch ist, also nicht mit der endlichen Subjektivität einen

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Anfang nimmt, sondern mit der Idee des Absoluten, wird die Vorstellung der Intersubjektivität als Form des Absoluten zwar eingeführt, aber nur gestreift. Nur in Philosophie und Religion (1804) wird er diese Idee weiter explorieren, sei es auch auf mythopoetische Weise. In System des transzendentalen Idealismus erkennt Schelling, dass das Problem der Intersubjektivität nur durch die Annahme einer höheren Perspektive zu lösen ist. Auch wenn sich das System noch nicht vollkommen vom Ich Fichtes befreit hat – die darin entwickelte Naturphilosophie steht noch im Zeichen der produktiven Anschauung, die in der endlichen Subjektivität ihren Grund hat (SW30 III, 399–450) –, ist klar, dass das Prinzip des Idealismus die Identität des Objektiven und Subjektiven impliziert (SW III, 362). Damit ist eine absolute Synthesis der Pole gemeint (SW III, 389). Im Kapitel zur praktischen Philosophie, in dem das Problem der Intersubjektivität explizit erörtert wird, steht die prästabilierte Harmonie im Zentrum, aber die Relationalität, die für Intersubjektivität kennzeichnend ist, wird noch immer aus der Perspektive des Ich betrachtet. So wird Intersubjektivität zwar als Form des Absoluten anerkannt, doch nur als Form des Ich weiterentwickelt. Bereits in den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) wurde das Thema der Intersubjektivität aus der Perspektive des Ich entwickelt, was teilweise im System übernommen wird: „Ich muss praktisch dazu genötigt sein, Wesen, die mir gleich seien, außer mir anzuerkennen […]. Nur von Wesen außer mir, die sich mit mir im Leben auf gleichen Fuß setzen, zwischen welchen und mir Empfangen und Geben, Leiden und Tun völlig wechselseitig ist, erkenne ich an, dass sie geistiger Art sind“ (SW II, 52f.).

Obwohl Intersubjektivität bei Schelling hauptsächlich Thema der praktischen Philosophie ist, entwickelt er im theoretischen Teil die Idee einer ,Deduktion der Mitglieder der absoluten Synthesis‘. Hier setzt die Perspektive deutlich beim Absoluten an. So ist nach Schelling im Selbstbewusstsein Gottes „eine Unendlichkeit von Handlungen“ gegeben (SW III, 398), welche zu durchschauen Gegenstand der Philosophie ist. Gemeint ist eine Metaphysik der Intersubjektivität, die die Wechselseitigkeit historischer Handlungen begründet. Zu durchschauen wäre diese Sphäre nach Schelling insofern sie die Möglichkeitsgrundlage alles menschlichen Geschehens ist. Mögliche Welten, die nicht in die historische Realität eingegangen sind, sind nach Schelling zwar denkbar, aber für die Philosophie grundsätzlich unfassbar und irrelevant: „Die Philosophie kann also nur diejenigen Handlungen, die in der Geschichte des Selbstbewusstseins Epoche machen […] aufstellen“ (SW III, 398). Schelling hätte hier bereits die Idee der prästabilierten Harmonie aufgreifen können, aber dazu kommt es erst im Kapitel 30 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke in XIV Bänden, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen.

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über die praktische Philosophie, wo sich das Problem der Intersubjektivität aus der Perspektive der Iche ergibt. Das Ich erkennt sich „als begrenzt durch die objektive Welt“ (SW III, 525). Aus dieser Perspektive entsteht sodann folgendes Problem: „wir sehen nicht ein, wie auf die Intelligenz irgend eine Einwirkung von außen überhaupt geschehe, also auch nicht, wie die Einwirkung einer anderen Intelligenz auf sie möglich sei“ (SW III, 540). Schelling ist hier also das Problem des Solipsismus bewusst, denn er sieht, dass die Perspektive der transzendentalen Subjektivität nicht ausschließen kann, dass die Subjekte je eine ganz verschiedene Welt anschauen (SW III, 543). Zur Lösung weist Schelling mit Fichte auf die Idee der prästabilierten Harmonie hin: „Aber wie lässt sich denn nun jenes indirekte Verhältnis, oder eine solche vorbestimmte Harmonie zwischen verschiedenen Intelligenzen verstehen?“ (SW III, 540). Die prästabilierte Harmonie der Intersubjektivität ist nichts anderes als ein „gemeinschaftliches Urbild der Vorstellungen“, auf deren Boden „alle Wechselwirkung zwischen Intelligenzen geschieht“ (SW III, 544). Erst dieses metaphysische Substrat garantiert die Übereinstimmung der Welterfahrungen. Entschiedener als Fichte gibt Schelling also zu, dass die prästabilierte Harmonie die Gesamtheit aller Handlungen und Willensentscheidungen umfasst, und Schelling zögert nicht, hieraus zu schließen, dass das Leben vollkommen prädeterminiert ist: „eben diese Richtung meiner Tätigkeit ist etwas, was durch die Synthesis meiner Individualität schon gesetzt und prädeterminiert ist“ (SW III, 546). Von Freiheit kann man nach Schelling nur dann sprechen, wenn das Selbstbewusstsein sein Wollen als Ausdruck dieser tiefen Notwendigkeit erkennt: „Das Wollen […] ist die Handlung, wodurch das Anschauen selbst vollständig ins Bewusstsein gesetzt wird“ (SW III, 557). Freiheit ist also der Akt des Erkennens und Anerkennens eines Notwendigkeitszusammenhangs der Handlung. Natürlich ist auch dieser Akt des Erkennens selbst prädeterminiert, denn alles ist im Absoluten prästabiliert. Die Welt ist Produkt eines Geistes „der in allen dichtet [und] dessen bloße Bruchstücke […] die einzelnen Schauspieler sind“. Freiheit ist nur als diejenige Situation zu denken, in der wir trotzdem „Mitdichter des Ganzen“ und „Selbsterfinder der besonderen Rolle [sind], die wir spielen“ (SW III, 602). Wie aber diese intersubjektive Mitbestimmung im Plan des Absoluten zu denken ist, darüber gewinnen wir bei Schelling leider keine Klarheit. In Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) bietet sich die Möglichkeit, diesem Verhältnis zwischen dem Absoluten und den Subjekten theoretisch näher zu kommen. Schelling hat hier den Standpunkt des Ich vollkommen überwunden, denn als das höchste Prinzip gilt ihm von vorne herein die allgemeine Vernunft, die als einzige als Absolutes gedacht werden kann: „Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist alles […]. Es gibt keine Philosophie, als vom

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Standpunkt des Absoluten […]: die Vernunft ist das Absolute“ (SW IV, 115). Einerseits ist das Absolute unzertrennbar, eine kompakte Einheit ohne quantitative Differenz. Andererseits ist es Identität einer Differenz. Zum einen ist das Absolute Totalität und Indifferenz, also A=A; zum anderen ist es aber Identität „unter der Form aller Potenzen“, also A=B und B=A (SW IV, 135). Es ergibt sich, dass Subjekte potentialiter im absoluten Sein enthalten sind. Schelling wird dabei nicht geneigt sein, dieses Sein als logische Struktur im Sinne Hegels zu fassen, aber das wahre Sein sind die im Absoluten gesammelten Ideen, die alles prädeterminieren (SW IV, 389f.). Leider differenziert Schelling hier nicht hinreichend zwischen Ideen und Potenzen – die Potenzen wären eher als aktive Entitäten aufzufassen, die als „Mitdichter des Ganzen“ in Betracht kämen (SW III, 602), aber dann müssten diese eindeutig als Subjekte verstanden werden, und nicht als Naturkräfte. Ganz in diese Richtung einer subjektiven Interpretation der Potenzen gehen Schellings mythopoetische Äußerungen in Philosophie und Religion. Hier wird die Idee einer Metaphysik der Gemeinschaft aufgestellt, sei es in Form religiöser Visionen, die es aber nahe legen, die erwähnten Potenzen tatsächlich als Subjekte zu verstehen: „Die Ideen, die Geister, mussten von ihrem Centro abfallen, sich in der Natur […] einführen, damit sie nachher […] in die Indifferenz zurückkehren“ (SW VI, 57). Die „Sinnenwelt ist nur in der Anschauung der Geister“ (SW VI, 63). Die Natur ist nicht die Anschauung eines Ich, sondern einer Vielfalt Subjekte, die über diese Anschauung zueinander finden. Die hier zugrundeliegende philosophische Vorstellung, so erklärt Schelling in Propädeutik der Philosophie (1804), ist die Leibniz’sche einer absoluten Substanz, die in Monaden zerfällt (SW VI, 126). Und in System der gesamten Philosophie (1804) erklärt er, dass von Monaden in eigentlichem Sinne nur gesprochen werden kann, wenn die Naturseelen zueinander finden und sich gegenseitig helfen, zu wahren Monaden zu werden: „indem so jede Naturursache sich in dem ihr entsprechenden Leib als einer eigenen Welt anschaut, zuletzt aber alle Naturseelen in Eine zusammenfließen, entstehen erst die wahren Monaden“ (SW VI, 371). Der spätere Schelling wird einer Position in der Philosophie vorgreifen, die als Spekulation des Seins angedeutet werden kann, und über Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche im Werk Martin Heideggers ihre letzte Vergegenwärtigung hat. Ab dem Weltalter (1811) wird der absolute Idealismus zugunsten einer Position verlassen, die hinter der Vernunft – gewissermaßen hinter Gott – noch einen vorrationalen Grund der Natur offen zu legen beansprucht (WA31 I, 43f.). Ursprung des All ist das Sein, das sich zuerst als Wille – Vielfalt und 31 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813 (Sämmtliche Werke. Nachlaßband), hg. v. Manfred Schröter, München 1979. Im Folgenden zitiert als WA mit Angabe des Drucks in römischen Zahlen.

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Chaos – und erst später als Vernunft entwickelt (WA I, 67). In seiner Philosophie der Mythologie (1842) wird Schelling die Vernunft mit der Gestalt des dreimalgrößten Gottes des Diskursiven, Hermes Trismegistos, identifizieren (SW XII, 415). Aber Hermes ist ein späterer Gott. Er ist in dem ursprünglichen Willen zur Existenz, der durch die Vielfalt von Potenzen als Kontraktion des Seins vor aller Zeit zustande kommt (WA I, 93). Die kosmischen Potenzen entstehen also aus Naturvorgängen im Sein (SW XI, 249). In der späten Philosophie Schellings ist das Absolute zwar Ursprung der Intersubjektivität, aber in seiner tiefen Natur ist es selbst nicht ursprünglich intersubjektiv, sondern lediglich ein zusammengeballtes Sein, ein vorbegriffliches und irrationales Naturgeschehen.

5.

Hegels Intersubjektivität als Bestandteil der theoretischen Philosophie

Neben Schelling hat auch Hegel die transzendentale Subjektivität Fichtes ins Absolute überhöht. Aber bei Hegel spielen Überlegungen zur prästabilierten Harmonie der Intersubjektivität in der Bestimmung des Absoluten keine nennenswerte Rolle. Und doch sind es die Überlegungen Fichtes zur Intersubjektivität, die Anlass geben sollten, die Perspektive des Ich zugunsten des Absoluten zu wechseln, weil das fremde Ich stärker als jede Naturgegebenheit eine echte Grenze des subjektiven Idealismus markiert. Man kann mit Fichte die Natur als Vorstellung und Scheingebilde des Ich verstehen, aber das außer mir seiende Subjekt widersetzt sich jeder Vereinnahmung im Ich. Es drängt sich also gerade aus dem Problem der Intersubjektivität eine Verschiebung des Verständnisses des Transzendentalen zugunsten des Absoluten auf. Das Problem der Intersubjektivität konstituiert eigentlich das beste Argument gegen den subjektiven Idealismus und für den absoluten Idealismus. Wer die Eigenheit der Fremdsubjekte respektieren möchte, dem bleibt nichts anderes übrig als eine absolute Subjektivität anzunehmen, die alle endlichen Iche in sich sammelt und deren Handlungen koordiniert. Doch weder Schellings noch Hegels Aufbruch zum absoluten Idealismus ist primär von solchen Überlegungen zur prästabilisierten Harmonie der Intersubjektivität motiviert – in ,Deduktion der Mitglieder der absoluten Synthesis‘ mag das eine Rolle gespielt haben, denn hier macht Schelling zögerlich auf die Bedeutung des Problems der Intersubjektivität für die theoretische Philosophie aufmerksam, aber im Grunde taucht das Problem der Intersubjektivität bei Fichte und Schelling erst in der praktischen Philosophie auf. Hegel entwickelt das Prinzip der Intersubjektivität hauptsächlich an zwei Stellen seiner theoretischen Philosophie. Er knüpft die Intersubjektivität jedoch nicht an das Problem der unendlichen Spiegelungen oder an das des Solipsismus

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an, weil er von vornherein den Standpunkt des Absoluten einnimmt. Die Stellen sind das Herr-Knecht-Verhältnis in der Phänomenologie des Geistes (1807) und die Deduktion der vielen Fürsichseine in der Wissenschaft der Logik (1812). Aus beiden Stellen wird deutlich, dass das Absolute zwar eine innere intersubjektive Struktur hat, aber das führt bei Hegel nicht zur spezifischen Herausarbeitung von intersubjektiven Kategorien, die für den ganzen Systementwurf von Bedeutung sein könnten. Intersubjektivität ist für Hegel ein Moment des Absoluten, aber nicht seine innigste Urform. Es ist die Vernunft als ein in sich geschlossener Denkprozess. So hat bei Hegel alles Werden seine dialektische Rationalität, aber diese Rationalität gestaltet sich nicht primär als kommunikativer Prozess. In Hegels Logik findet sich, im Kapitel über das Fürsichsein und die viele Eins, die Stelle, an der eine für die theoretische Philosophie bedeutsame Vermittlung der Prinzipien der Subjektivität und Intersubjektivität hätte weiterentwickelt werden können (TWA32 5, 174–209). Hegel denkt das Absolute hauptsächlich als quantitative Differenz der vielen: „Indem das Fürsichsein als Eins, als für sich Seiendes […] fixiert ist, ist seine negative Beziehung auf sich zugleich Beziehung auf ein Seiendes; und da sie ebenso sehr negativ ist, bleibt das, worauf es sich bezieht, als […] ein Anderes bestimmt; als wesentlich Beziehung auf sich selbst ist das Andere […] gleichfalls Eins. Das Eins ist somit Werden zu vielen Eins“ (TWA 5, 187).

Diese Bemerkungen Hegels bleiben genauso allgemein, wie jene Schellings zu den Potenzen. An dieser Stelle hätte Hegel jedoch die Seinsdimension miteinander kommunizierender Subjekte vertiefen können. Er hätte die fundamentalen Kategorien der Intersubjektivität einführen können, also Andersheit, Kommunikation, Mitteilung, Ausdruck, Anspruch, Sprache, Deutung, Verstehen, Verständnis, Widerrede, Widerspruch, Dialog, Diskussion, Einverständnis, Kooperation, Wechselseitigkeit, Anerkennung, Liebe usw. Diese Kategorien hätten seiner Lehre vom Sein eine ganz neue Dimension gegeben. Hegel hätte hier sogar die Kommunikation, in Anlehnung an Fichte, als normative Dimension entwickeln können. Doch bei Hegel kommt es nicht einmal zur Entwicklung der Kategorie der Gemeinschaft, denn mit dem Begriff der vielen Eins ist zwar eine Quantität gegeben, diese besagt nichts über die Relationalität der Elemente. Die Eins sind Fürsichseine, die sich durch „Qualität, Anderssein, Grenze, Realität, Ansichsein, Sollen“ unterscheiden (TWA 5, 182), doch das erfasst nicht die Wechselseitigkeit, die sie zur Gemeinschaft schmiedet. Zwar findet man die Formel von Schelling (und Leibniz), dass ein allgemeines Fürsichsein die viele 32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970. Im Folgenden zitiert als TWA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.

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Eins umfasst (TWA 5, 195), aber ohne Relation gibt es keine Gemeinschaft. Über die Feststellung des Quantitativen hinaus, kommt es nicht zur Bestimmung, was die Fürsichseine füreinander sind. Fichte kam noch zur Feststellung, dass Subjekte miteinander kommunizierende Instanzen sind. Hegels Darstellung der seinslogischen Begründung der Intersubjektivität befriedigt also deshalb nicht, weil die viele Eins lediglich Quantität ohne echte intersubjektive Wechselbeziehung sind – Relationalität wird lediglich physisch gedacht im Sinne von Repulsions- und Attraktionsbewegungen. Damit reduziert Hegel im Grunde die Leibniz’sche Monadologie, die er hier zu inkorporieren versucht, zu einer monadologia physica im Sinne Kants (TWA 8, 203ff.). Weder in der Lehre vom Wesen noch in der Lehre vom Begriff findet sich eine der Seinslogik entsprechende Aufnahme von Intersubjektivität. In der Lehre vom Wesen drängt sich allerdings eine Aufnahme der Intersubjektivität im Kapitel über die Wirklichkeit geradezu auf, denn hier wären Kausalität und Wechselwirkung nicht nur physisch zu denken: Agenskausalität und kommunikative Wechselbeziehungen wären einzubeziehen (TWA 8, 279ff.). Auch fehlt in der Lehre vom Begriff im Kapitel über die Idee eine Einbettung der Intersubjektivität (TWA 8, 367ff.). Das wäre hier im Sinne einer Philosophengemeinschaft zu denken, die nach Erkenntnis strebt und die Erreichung der absoluten Idee anvisiert (TWA 8, 388ff.). In Fichtes Grundlage des Naturrechts war die Gemeinschaft noch die Trägerin des Begriffes. Es hieß: „Durch den gegebenen Begriff ist eine Gemeinschaft bestimmt“ (FW III, 48). Diese Gemeinschaft entwickelt bei Fichte sogar die allgemeine Logik. In der Grundlage steht von vornherein fest, dass die „Vereinigung der Begriffe“ – und somit jedes System der Wissenschaft – das Produkt einer intersubjektiven Tätigkeit ist. Eben deshalb ist freie Kommunikation der Gedanken für Fichte das höchste Gut einer Gesellschaft. Diese Bedeutung der Kommunikation und des freien Wortes als Weg zur Erkenntnis hätte in Hegels Lehre vom Begriff durchaus aufgenommen werden müssen. Hegels transzendentale Deduktionen haben also die Entwicklung von intersubjektiven Kategorien, die als Basis einer, wie Hösle sagt, von „Intersubjektivität imprägnierten“ Realphilosophie dienen könnten,33 nicht gefördert. Wie kommt es zu einer solchen Vernachlässigung intersubjektiver Kategorien? In der Logik ist es zu dieser Fehlentwicklung gekommen, weil sich Hegel in einer Situation befand, Intersubjektivität mit spezifischen Themen der Realphilosophie zu verbinden: a) Das Problem der Intersubjektivität war bei Fichte und Schelling hauptsächlich nur innerhalb der praktischen Philosophie von Interesse; b) Das theoretische Gewicht der Intersubjektivität bei Schelling wurde mit naturphilosophischen Überlegungen verbunden; c) Bei Fichte warf die In33 Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2 Bde., Hamburg 1988, 122.

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tersubjektivität das Problem der sozialen Anerkennung auf, das eigentlich zur praktischen Philosophie gehört. Es fällt auf, dass Schelling aus Fichtes Grundlage des Naturrechts die Vorstellung einer prästabilierten Harmonie der Intersubjektivität herausnimmt, während Hegel Interesse für das Problem der Anerkennung zeigt. Das Problem der Anerkennung im Herr-Knecht-Verhältnis ist seit Marx der wohl einflussreichste Bezugspunkt der Philosophie Hegels. Bei Fichte erscheint die Anerkennung nicht primär im Zusammenhang eines Kampfes, sondern im Zusammenhang kommunikativer Beziehungen. Der Andere strebt nach Anerkennung seiner Autonomie bereits in den ersten Formen der Kommunikation. Noch vor allem Kampf ist die kommunikative Handlung bereits Ausdruck einer tiefempfundenen Autonomie, die eine Grenze jeder Vereinnahmung markiert. Die Kommunikation ist für Fichte ein Sich-zu-erkennen-geben, aber gleichzeitig auch die Antizipation einer möglichen Nicht-Anerkennung. Kommunikation und Expression sind Mittel, mit welchen die Subjekte Anderen klar machen, nicht bloß Ding zu sein. Der kommunikative Akt will jeder Verdinglichung und jedem Kampf voraus sein. Die Phänomenologie erörtert das Thema der Anerkennung als Moment des Selbstbewusstseins. Damit erweist sich Intersubjektivität auch als wesentliches Moment in der Entwicklung des Absoluten. Obwohl man die Herr-Knecht-Relation auch als Vorstufe der hegelschen Rechtsphilosophie lesen kann (die im Kapitel über den wahren Geist ansetzt), ist sie zuallererst mit der Entstehung des Selbstbewusstseins verbunden. Einerseits beschreibt die Phänomenologie die Entwicklung des absoluten Geistes (TWA 3, 23). Andererseits liest sich die Entwicklung der Herr-Knecht-Relation als soziales Ereignis. So liest sich jedenfalls der Satz: „Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch, dass es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes“ (TWA 3, 145). Das Fürsichsein begegnet den Anderen als Negation seiner selbst und erfasst sich somit als Grenze und als begrenzt. Was das Selbstbewusstsein nach Hegel ausmacht, ist die Begierde, im Fremden sich selbst zu finden. Diese Begierde wird nur durch die Begegnung eines anderen Selbstbewusstseins befriedigt (TWA 3, 144). Hegel beschreibt das Selbstbewusstsein aus einer sozialen Perspektive, die sich allerdings als innere Entwicklung des Absoluten verstehen lässt. Das Absolute entwickelt in sich die Begierde des Anderen. Eine solche Lektüre des Themas der Anerkennung wäre in Übereinstimmung mit der in der Logik dargestellten Entfaltung der vielen Eins aus dem Fürsichsein. Aber anders als in der Logik kommt es im Zusammenhang der Phänomenologie, ähnlich wie bei Fichte, zu einer Deduktion der Personalpronomina Ich und Wir : „Was für das Bewusstsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist […], nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewusstseine; die Einheit derselben ist: Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (TWA 3, 145).

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Die Wechselseitigkeit steckt bereits in der Daseinsform der Selbstbewusstseine, die Ich und Wir werden in Anbetracht der Anderen. Der Prozess der Anerkennung selbst wird aus der Perspektive der Tathandlung eines Ich beschrieben, die, wie bei Fichte, den Anderen produziert: „Diese Bewegung des Selbstbewusstseins […] ist auf diese Weise vorgestellt worden als das Tun des Einen; aber dieses Tun des Einen hat selbst die doppelte Bedeutung, ebenso wohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein; denn das Andere ist ebenso selbstständig in sich beschlossen, und es ist nichts in ihm, was nicht durch es selbst ist“ (TWA 3, 146).

Statt hier das Problem der unendlich einander spiegelnden Subjekte zu thematisieren, steuert Hegel direkt auf das Problem der Anerkennung zu. Das Problem der Subjektspiegelungen kann Hegel außer Betracht lassen, weil er seine Beschreibung vom Standpunkt des Absoluten startet. Hegel thematisiert die Anerkennung aber sofort als eine Kampfsituation, als ein „Spiel der Kräfte“. Eine tiefere Basis im kommunikativen Handeln, wie bei Fichte, findet man hier nicht: „In dieser Bewegung sehen wir sich den Prozess wiederholen, der sich als Spiel der Kräfte darstellte, aber im Bewusstsein. Was in jenem für uns war, ist hier für die Extreme selbst. Die Mitte ist das Selbstbewusstsein, welches sich in die Extreme zersetzt“ (TWA 3, 147). Das Selbstbewusstsein realisiert sich, wenn die Extreme sich in der Mitte treffen, wenn sie sich also gegenseitig als Gleiche anerkennen. Das Spiel der Angleichung ist die Dynamik des Absoluten selbst. Die Herr-Knecht-Beziehung ist wohl so zu verstehen, dass der Startpunkt die Ungleichheit beider Extreme ist. In dieser Situation ist das Andere das zum Nichts werdende: jeder geht auf den Tod des Anderen. So entsteht ein Kampf ums Leben (TWA 3, 149). Mit diesem Agonismus kann man Naturphänomene wie Repulsion und Attraktion verstehen und auch die Verhältnisse in der biologischen Natur erklären, ebenso wie eine kämpferische Sozialpolitik legitimieren, aber diese Perspektive übersieht die kommunikative Situation, die für Fichte das ursprüngliche Element der Anerkennung war. Der Kampf kann deshalb von Hegel nicht als misslungene oder verfehlte Kommunikation verstanden werden, und die Mitte nicht als Gleichheit kommunizierender Subjekte. Bei Fichte war Ausdruck, Mitteilung, das Sich-Kundtun des Bewusstseins Hauptsache. Hegel betrachtet die Anerkennung eher als biologische Grunderfahrung des Kampfes um die Existenz. Damit schließt er zwar mehr an unsere Sorgen um die Bewahrung des Status eines Gleichen an; ebenso wie an unser Bedürfnis, Teil einer umfassenden Gemeinschaft zu sein. Keiner will Sklave sein, sondern Gleicher in einer Gemeinschaft, die mehr ist als Gesellschaft und die jeden in einen partizipativen Prozess einbindet. Die Ideen zur Herr-Knecht-Beziehung hat es Hegel also ermöglicht, eine radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu formulieren, die

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die Kapitalismuskritik des Marxismus ankündigt (TWA 7, 393ff.). Doch Fichte sah bereits, dass diese soziale Kritik letzten Endes nur im Namen einer kommunikativen Vernunft geschehen konnte. Die Beschreibung des Absoluten als kommunikative Gemeinschaft schlug auch in der Logik fehl. Dieses Verfehlen der Kommunikation und des Dialogs als innere Form des Absoluten ist umso erstaunlicher als die Methode des Geistes für Hegel doch die Dialektik ist. Noch Schelling hatte betont, dass Dialektik eine „innere Unterredungskunst“ ist, die „eine Scheidung oder Verdoppelung zwischen Fragendes und Antwortendes“ voraussetzt (WA I, 5). Für Hegel ist Dialektik nur Dreiertakt, nur formale Struktur des Denkens, nur logische Struktur, aber nicht die Dynamik des Absoluten als innerer Dialog.

6.

Husserls Begründung der monadologischen Intersubjektivität

Das 19. Jahrhundert entwickelte eine Philosophie der Intersubjektivität ohne Letztbegründung. Der moderne Realismus der Intersubjektivität ist die philosophische Soziologie oder soziale Philosophie, so wie sie von Auguste Comte zuerst konzipiert wurde. Der Umgang mit der Intersubjektivität ist dementsprechend dogmatisch: Man nimmt die Existenz der andere Fürsichseine einfach als gegeben an, und rekonstruiert kritisch die Gesetzlichkeit der sozialen Beziehungen. Das wichtigste Beispiel dieses Realismus gilt als Kontinuierung des Denkens Hegels: der Marxismus. Für den Marxismus ist die Herr-Knecht-Beziehung prägend. Doch hier regiert dogmatischer Realismus und keine transzendentale Philosophie. Erst ein Jahrhundert nachdem Schelling und Hegel die Intersubjektivität im Absoluten angesiedelt hatten, gelang es Husserl die Transzendentalphilosophie wieder mit der These einer Letztbegründung der Intersubjektivität zu verbinden. Er stellte die Problematik der Intersubjektivität von vorne herein in den Bereich der theoretischen Philosophie, doch er kam nur zögerlich zur Idee eines das Ich transzendierenden Absoluten. Das transzendentale Subjekt wird bei Husserl von Anfang an als letztbegründetes Ich gedacht. Zwar ist dieses Ich nicht das psychische und ontische Mich, Husserls transzendentales Ego wird im Sinne des subjektiven Idealismus gedacht, wie bei Fichte. Das Ego muss erst die Welt und die fremden Subjekte in sich konstituieren. Husserls epoch8 ist, wie er selbst sagt, eine „Reduktion auf meine transzendentale Eigensphäre oder mein transzendental konkretes Ichselbst durch Abstraktion von allem“ (Hua34 1, 125). Eben deshalb scheint mir der 34 Edmund Husserl: Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke, Haag 1950ff. Im Folgenden zitiert als Hua mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.

Letztbegründung und Intersubjektivität

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Vorwurf berechtigt, Husserl überwinde in seiner fünften Meditation den Solipsismus nicht, auch wenn das ausdrücklich seine Absicht war. Das sollte uns nicht davon abhalten, die fünfte Meditation als den faszinierendsten philosophischen Text des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Die Philosophie des 21. Jahrhunderts müsste sich auf diese Seiten beziehen. Es gelang Husserl zwar nicht den Solipsismus zu überwinden, aber nicht, weil er im totalisierenden Denken stecken blieb, sondern weil er die Subjektivität noch zu sehr als Endlichkeit dachte, nicht genug totalisierte, und dementsprechend den Fremden nur im Ego ansiedeln konnte. Nach Husserl kann das fremde Ego nicht lediglich als Vorstellung im Ich gedacht werden (Hua 1, 121). Husserls und Fichtes Leistung ist zuerst einmal die Tatsache, begriffen zu haben, dass die Intersubjektivität eines Beweises bedarf. Doch das alter ego kann bei ihnen nur als existent gedacht werden, insofern es im Blickfeld des Ich erscheint. Anders als bei Fichte wird die Begründung der Intersubjektivität bei Husserl jedoch dadurch bereichert, dass, in der Nachfolge Max Schelers, eine Theorie der Einfühlung eingeführt wird. Im Zusammenhang der Intersubjektivität entwickelt Husserl außerdem einen mehrstufigen Weltbegriff, der ihm als Basis eines neuen Naturbegriffs dient. Was die Einfühlung angeht, kann man Husserls Beschreibung der Konstitution des Anderen als Vertiefung von Fichtes Idee des Sich-zu-erkennen-gebens des Fremden verstehen. Damit setzt Husserl eine Theorie der Anerkennung fort, die die kommunikative Grundposition der Subjekte hervorhebt – und tiefer liegt als Hegels konfliktbeladener Herr-Knecht-Begriff. Das fremde Subjekt kann bei Husserl nur als Spiegelung des Ich erkannt werden: „[E]s konstituiert sich ein ego nicht als Ich-selbst, sondern als sich in meinem Ich, meiner Monade spiegelndes“ (Hua 1, 125). Weil das Subjekt zur Spiegelung gewissermaßen programmiert ist, ist die erste Tätigkeit des Ich die Bestimmung des Umfeldes. Es konstituiert sich selbst zuerst als ein je-meiniger Leib (Hua 1, 128). Aus dem Erlebnisstrom sind nur einige Erlebnisreihen „eigenwesentlich zu mir selbst“ einzustufen (Hua 1, 133). Doch als Leib spiegelt sich das Ich alsbald analogisierend im weiteren Umfeld und erkennt ihm ähnliche Gestalten, die ihm als „Mit da“ vorstellig werden (Hua 1, 139f.). Das scheint nach Husserl nur aufgrund eines tieferen „apodiktischen Formgesetzes“ (Hua 1, 133), also einer a priori gültigen Idee, die die bestimmten Erlebnisreihen zusammenbindet, erklärbar zu sein. Dieser erste Akt der Leibkonstitution ist bereits eine erste Form von Kommunikation, denn die einseitige Exploration des Ich im Umfeld setzt ein Formgesetz voraus, das es ermöglicht, einen fremden Leib zu erkennen. Der Fremde erscheint als Leib im Sinne eines „Mit-da“ (Hua 1, 139), aber das eigentliche Selbst ist nicht da. Diesen Prozess der Analogisierung nennt Husserl Paarung und jede „Paarung“ ist im Grunde eine graduelle „Verschmelzung“ (Hua 1, 141, 147). Nur

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durch Paarung kann der Fremde erfahren werden (Hua 1, 143). Ähnlich wie Fichte, erblickt auch Husserl im Erkennen des fremden Leibes bereits eine primitive Form von Kommunikation. Bei Fichte geht es darum, dass der Fremde, die Absicht entwickelt, sich zu erkennen zu geben, denn jedes Ich strebt nach Anerkennung seines freien Inneren. Das freie Wesen, das zur intelligiblen Welt und nicht zur raumzeitlichen Exteriorität gehört, gibt sich mittels des Leibes als Agenskausalität zu erkennen. Die Darstellung Husserls ist ganz ähnlich, denn auch hier bringt das Ego „die wechselnden Gehalte des anderen Ego zu einer bestimmten Kenntnis“ (Hua 1, 148). Der Leib erscheint als solcher, weil er kommunikativer Ausdruck des Inneren ist: „Der erfahrene fremde Leib bekundet sich fortgesetzt wirklich als Leib nur in seinem wechselnden, aber immerfort zusammenstimmenden Gebaren“ (Hua 1, 144). Damit setzt sich der Fremde als Offenheit, als bewährbare Zugänglichkeit. Bis hier stimmen Husserl und Fichte weithin überein. Über Fichte hinaus geht Husserl jedoch in den Paragrafen 56–59 der Cartesianischen Meditationen, wo er die Vorstellung einer transzendentalen Intersubjektivität als Monadengemeinschaft entwickelt. Was sich über den Leib bekundet ist eine Monade, die allerdings kein Mensch zu sein braucht. Husserl setzt dabei eine Stufentheorie der Intersubjektivität voraus. Zum Raum „möglicher Wechselgemeinschaft“ gehört auch die animalische Welt. Es handelt sich hier aber um eine Stufe der „offenen Monadengemeinschaft“, die nicht die kommunikative Fähigkeiten aufweist, die Menschen haben (Hua 1, 158). Anders als Fichte färbt Husserl Intersubjektivität also nicht unbedingt anthropozentrisch ein. Er definiert die Monade als eine „sich vollziehende Selbstobjektivierung“, doch das Feld der Wechselbeziehungen zwischen Monaden besteht aus verschiedenen Stufen, die „Wesensnotwendigkeiten sind“ (Hua 1, 159). Eine Brücke, die sich meines Erachtens zwischen Husserl (über Scheler und Alfred Schütz) und der modernen Theorie des kommunikativen Handelns von Apel und Habermas schlagen lässt, basiert auf diesen Gedanken zur Monadologie. Husserls Gedanken machen die Wiederentdeckung einer idealistischen Theorie des kommunikativen Handelns möglich, die bereits in Fichte ihre Basis hat. Der kommunikative Akt setzt in dieser idealistischen Fassung viel früher ein als bei Apel und Habermas, denn die transzendentale Konstitution des Leibes ist hier bereits ein erster Akt der Kommunikation. Was sich zu erkennen gibt, sind die jenseitigen Monaden. Anders als bei Apel und Habermas hat diese idealistische Theorie des kommunikativen Handelns also ihre Basis jenseits der realen Lebenswelt. Husserls Theorie der Intersubjektivität markiert im Vergleich zu Fichte allerdings eine Überwindung des Anthropozentrismus, der noch bei Apel und Habermas vollkommen herrscht, denn bei ihnen geht die Wechselgemeinschaft der Tierwelt ganz verloren. Es muss allerdings gesagt werden, dass Husserl seine Gedanken zur mehrstufigen Intersubjektivität nicht vertieft. Er konzen-

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triert sich auf die Stufen der menschlichen Sozialität und Kultur – und lässt die Stufe des Animalischen unentwickelt. Es ist aber eindeutig, dass Husserls monadologische Intersubjektivität als eine Stufenordnung kommunikativer Fähigkeiten präsentiert wird. Ähnlich wie Fichte kommt Husserl auf das Problem des Solipsismus. Wie Fichte muss er eingestehen, dass es mehrere transzendentale Subjekte gibt, die ihre eigene Wirklichkeit konstituieren. Fichte sagte: Damit nicht jedes Subjekt für sich seine eigene Wirklichkeit habe, sollten die Welt und ihr Geschehen prästabiliert sein, sonst gäbe es keine Kommunikation. Es sollte bereits eine Vorlage der Welt in allen Subjekten existieren. Husserl kommt in der fünften Meditation zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch er gelangt zur Schlussfolgerung, dass die objektive Welt nicht bloß Resultat eines einzigen transzendentalen Ego sein kann, sondern intersubjektiv konstituiert wird: „Die transzendentale Intersubjektivität hat […] eine intersubjektive Eigenheitssphäre, in der sie die objektive Welt intersubjektiv konstituiert“ (Hua 1, 137). Hier macht sich eine Verbindung mit der sozialen Theorie von Gabriel Tarde bemerkbar, der die Natur auf ähnliche Weise wie Husserl als Produkt einer intersubjektiven Monadologie versteht. Eine objektive Welt scheint es nach Husserl allerdings nur geben zu können, wenn es bereits eine vorkonstitutive Realität gibt, die den Subjekten als Vorlage innewohnt. Das Überlappen der Welterfahrungen der Iche wäre somit aus einem der Tätigkeit der Subjekte vorausgehenden Rahmen zu erklären, der sich als „wesensmäßige Struktur“ aufzwingt (Hua 1, 125). Es wirkt in den Monaden eine a priori Idee, ein „apodiktisches Formgesetz“ (Hua 1, 133), das die wesensmäßige „Harmonie der Monaden“ ermöglicht (Hua 1, 138). Unabhängig von Fichte gelangt also auch Husserl zum Resultat einer prästabilierten Harmonie der Intersubjektivität. Die vorgelagerte Struktur lässt sich nach Husserl phänomenologisch als noetisch-noematische Sinnstruktur beschreiben. Überhaupt ist das der Sinn der Phänomenologie Husserls. Ziel seiner Phänomenologie ist die Beschreibung, wie er sagt, der „konkreten Logik des Seins“ (Hua 1, 181). Diese Logik kommt in Form von Wesensnotwendigkeiten im Ich zum Vorschein. Sogar die ganze Stufenstruktur der Wirklichkeit ist Ausdruck dieser inneren Notwendigkeit: „Es zeigt sich […], dass die allgemeine faktische Struktur der gegebenen objektiven Welt, ihr Aufbau als bloße Natur, als Animalität, als Menschlichkeit, Sozialität verschiedener Stufen und Kultur, in sehr weitem Sinne […] eine Wesensnotwendigkeit ist“ (Hua 1, 164). Das erste Stockwerk dieser Logik des Seins (Ontologie) Husserls ist, wie gesagt, die transzendentale Psychologie, die aus dem transzendentalen Ego die primordinale Welt rekonstruiert und die Wesensnotwendigkeit von Kategorien wie Kausalität, Substantialität und Raumzeitlichkeit feststellt – Husserl nennt diese kategoriale Grundlage transzendentale Ästhetik (Hua 1, 173). Die erste

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Rekonstruktion dieser Sphäre macht auch die Intersubjektivität und Kommunikation der Monaden verständlich, die sich mehrstufig beschreiben lässt. Alles deutet darauf hin, dass Husserls phänomenologische Rekonstruktionen den Zweck haben, das Apriori der Welt zu beschreiben (Hua 1, 165). Die Methode Husserls bleibt dem transzendentalen Ego verhaftet. Es ist aber Husserls Ziel, über das Ich hinauszukommen, da sie eine Rekonstruktion des universalen Systems sein will; die Phänomenologie will die „Entfaltung des […] universalen Logos alles erdenklichen Seins“ erfassen (Hua 1, 181). Solange sich die Phänomenologie auf Intentionalitätsanalysen beschränkt, wird sie dieser Absicht nicht gerecht werden, denn dazu wäre es nötig, die Ebene der Ich-Bezogenheit zu verlassen und die Ontologie aus einem höheren und absoluten Standpunkt zu entfalten – aus einem Standpunkt, der die Möglichkeit der Harmonie der Monaden verständlich macht. Das Programm der Phänomenologie, das mit der Wesensschau, also mit der Rekonstruktion der Strukturen der Intentionalität im Ich, ansetzt, ist nur mit Husserls Zielsetzung einer transzendentalen Ontologie zu verbinden, wenn sie als Rekonstruktion der absoluten Vernunft repräsentiert wird, die in sich sowohl logisch als auch intersubjektiv strukturiert ist. Auch wenn Husserl nicht wirklich über die Position Fichtes hinauskommt, erleichtert er den Schritt vom Intersubjektiven zum Absoluten. Husserl kam nicht über den Standpunkt Fichtes hinaus, weil er die Subjektivität hauptsächlich im Rahmen der Intentionalität betrachtete und sie nicht primär als Begriff und als Mitteilung auffasste, was seine monadologische Intersubjektivität geradezu nahelegt. Fasst man Intentionalität als Form des Begriffs, so kann sie als Element der Kommunikation im Absoluten erscheinen. Anknüpfungen in diese Richtung fehlen bei Husserl keineswegs, denn am Schluss der Cartesianischen Meditationen stellt er die Forderung, eine konkrete „Wissenschaftslehre“ als „Wissenschaftsuniversum aus absoluter Begründung“ zu gestalten (Hua 1, 181). Husserl fügt sich damit also ganz eindeutig in die transzendentale Tradition der deutschen Philosophie ein.

7.

Hösles Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität

Schelling und Hegel hatten die Intersubjektivität als Form des Absoluten bestimmt, doch sahen wir, dass Schelling diese Idee vor allem in mythopoetischer Sprache weiterentwickelte, während es Hegel nicht wirklich gelang, in der Logik, also im Zusammenhang einer transzendentalen Deduktion, die Kategorien der Intersubjektivität einzuweben. Husserl nimmt den Faden der Transzendentalphilosophie wieder auf, schreitet aber im Grunde zurück auf die Position Fichtes. Doch er beschränkt die Begründung der Intersubjektivität nicht auf den Bereich

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der praktischen Philosophie und weist ihr von vornherein einen Bereich in der theoretischen Philosophie zu. Der spätere Versuch Apels, die Transzendentalphilosophie als Transzendentalpragmatik zu retten, ist im Vergleich zu dem, was in der klassischen deutschen Philosophie erreicht wurde, nicht radikal genug und leidet darunter, den Wechsel zum Paradigma der Intersubjektivität bloß im Sinne einer Substitution zu verstehen. Die skizzierte Auseinandersetzung mit der klassisch-deutschen Philosophie hat allerdings gezeigt, dass es darum gehen sollte, die Intersubjektivität im Absoluten anzusiedeln. Dazu fordert uns vor allem auch der Geist der modernen Philosophie auf, der seit dem Ende des Deutschen Idealismus das Soziale und die Sprache zu Hauptmomenten des Denkens gemacht hat. Denn was ist eine Philosophie der Sprache und des Sozialen wert, die der wichtigen Frage nach dem Grund der Intersubjektivität aus dem Weg geht? Hösle hat erkannt, dass die Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität die Lebensfähigkeit einer zeitgemäßen Form der Transzendentalphilosophie ausmacht.35 Parallel dazu lässt sich sagen, dass die moderne Sozial- und Sprachphilosophie grundlos bliebe, solange diese Vermittlung nicht gelingt. Hösles eigener Vermittlungsversuch stand bisher im Zeichen einer Verteidigung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis a priori und letztbegründeter Sätze gegen Einwände des kritischen Rationalismus.36 Wer die Möglichkeit der Letztbegründung leugnet, muss selbst, so betont er zurecht, synthetische Sätze a priori voraussetzen, denn ihre Negation ist weder mit empirischen noch mit analytischen Sätzen möglich.37 Hösle kommt zur Feststellung, dass es „mehrere letztbegründete Sätze“ gibt, die einander „korrigieren und präzisieren“ und die eben deshalb in einen Ordnungszusammenhang gebracht werden müssen.38 Zur Ausgestaltung dieses Ordnungszusammenhangs und zur Bestimmung der höchsten Sätze kommt es bei Hösle noch nicht. Es ist noch nicht ganz klar, wie die Verbindung zwischen dem letzten Satz und der Intersubjektivität aussieht. Die eigentliche Vermittlung der Prinzipien der Subjektivität und Intersubjektivität ist also bisher nur in groben Zügen skizziert worden. Als Startpunkt eigenen sich jedenfalls keine situationellen Sätze, aus deren Negation sich pragmatische Widersprüche ergeben, wie etwa ich existiere oder ich denke. Diese sind zwar unleugbar, aber sie sind allzu stark auf einem lebensweltlichen Punkt situiert. Franz von Kutschera hat bereits gezeigt, dass sich solche unbezweifelbaren Sätze nicht als Basis der Philosophie eignen.39 Der In35 V. Hösle: Hegels System, 10. 36 Vittorio Hösle Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik, München 1990, 156. 37 V. Hösle Die Krise der Gegenwart, 154. 38 V. Hösle Die Krise der Gegenwart, 174, 223f. 39 Franz von Kutschera: Die falsche Objektivität, Berlin/New York 1993, 136.

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halt des Satzes sollte aus keiner möglichen Perspektive negiert werden können. Der Anfangssatz darf also nicht hypothetisch an einen empirischen Inhalt gebunden sein, sondern sollte universal und kategorisch sein, wie etwa der Satz ,es gibt Existenz‘. Die Voraussetzung, dass nur kategorische Inhalte den Anfangspunkt der Philosophie konstituieren können, ist übrigens eine systemtheoretische Aussage, die nicht von einer reflexiven Selbstbegründung unabhängig ist, denn solche systemtheoretischen Voraussetzungen sind nicht willkürlich und treten bei anhaltender Skepsis notwendigerweise immer hervor. Die Skepsis, die kontinuierliche Negation, zwingt uns die Suche kategorischer Inhalte geradezu auf. Es lässt sich rekonstruieren, welchen Satz Hösle nun obenan setzt, denn er sagt, dass sein objektiver Idealismus vom Prinzip der objektiven Vernunft ausgeht.40 Daraus ergibt sich, dass der höchste Satz wohl ,Es gibt Vernunft‘ sein muss. Gleichzeitig erkennt Hösle die Leistung Apels an, die Idee der Letztbegründung mit dem Prinzip der Intersubjektivität verbunden zu haben. Er meint, der Hauptmangel der klassischen Systeme des Deutschen Idealismus sei es, die Intersubjektivität nicht hinreichend ins Visier bekommen zu haben.41 Das Unbedingte wurde als selbstreflexive Struktur aufgefasst, und in Auseinandersetzung mit Kant und Reinhold von Fichte als Selbstbewusstsein bestimmt. ,Es gibt Vernunft‘ ist, so lässt sich rekonstruieren, auch als ,Es gibt Selbstbewusstsein‘ zu verstehen. Bei Fichte erschien das Selbstbewusstsein zunächst als transzendentales Ich, was zum transzendentalen subjektiven Idealismus führte. Im Werk Schellings und Hegels fand sodann der Schritt zum absoluten Idealismus statt. Immer blieb das zugrundeliegende Modell die reflexive Figur des Selbstbewusstseins. Diese Figur diente als Basis zum Verständnis vom Verhältnis zur Natur, von der Subjekt-Objekt-Einheit. Es gibt bei den Idealisten, wie wir gesehen haben, auch deutliche Ansätze einer Theorie der Intersubjektivität. Bei Schelling und Hegel ließ sich die Vernetzung der vielen Fürsichseine, jenseits des Problems der unendlichen Spiegelungen und des Solipsismus, als Vielfalt im Absoluten denken. Doch nach Hösle lässt sich erst heute die Intersubjektivität als Form des Absoluten klar bestimmen: „Das Absolute kann nur dann absolut sein, wenn es eine reflexive, sich selbst begründende Struktur ist. Dies führt leicht dazu, es als eine absolute Subjektivität zu deuten; so wird es etwa in Hegels Wissenschaft der Logik gefasst. Das Absolute kann aber nur dann absolut sein, wenn es nichts außerhalb seiner hat. Es muss daher diejenigen apriorischen Kategorien, die etwa der Natur zugrunde liegen, mitdenken […]. Es ist daher eine Subjekt-Objekt-Einheit […]. Andererseits ist der Gegenstand dieses Denkens ebendeswegen nicht der höchstmögliche. Das ist er nur, […] wenn die Sub40 V. Hösle Die Krise der Gegenwart, 208. 41 V. Hösle Die Krise der Gegenwart, 213.

Letztbegründung und Intersubjektivität

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jekt-Objekt-Relation durch die Subjekt-Subjekt-Relation als den höchsten Punkt ersetzt wird.“42

Zwar wurde die Intersubjektivität, wie wir gesehen haben, bereits von Schelling und Hegel als Form des Absoluten interpretiert: Hösle hat richtig gesehen, dass die moderne Philosophie der Intersubjektivität nicht ohne eine solche Lösung auskommt. Im Grunde heißt das, dass das Selbstbewusstsein als Beziehung eines Subjekts zu sich selbst nicht der einzige Inhalt des höchsten Satzes der Philosophie sein kann. Die selbstreflexive Struktur sei auch in intersubjektiven symmetrischen und transitiven Beziehungen, wie etwa die Liebe, zu finden.43 Schon das erste Prinzip müsste Intersubjektivität enthalten ohne bereits wahrhafte Subjektdifferenzierung zu sein: „Subjektivität und Intersubjektivität sind im Medium der Idealität, in dem es noch nicht zu realer Differenz kommen kann, in ganz eigentümlicher Weise ineinander verschränkt.“44 Das lässt sich meines Erachtens nur so verstehen, dass Intersubjektivität bereits mit dem Prinzip des Selbstbewusstseins identisch sein müsste. Aber wie?

Abschließende Bemerkungen Die Weiterführung dieser Gedanken zur Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität steht noch aus. Es müsste noch geklärt werden, wie Intersubjektivität konkret als Form des Selbstbewusstseins zu denken wäre. Die transzendentale Deduktion, die Hösle initiiert hat, sollte fortgesetzt werden, indem die Errungenschaften der Bewusstseinsphilosophie und der Sozial- und Sprachphilosophie der Moderne einbezogen werden. Die Krise der Gegenwart stellt uns vor das Tor eines möglichen Systems, das zur Entfaltung kommen könnte, wenn: a) die Bestimmung des ersten Ansatzes der Philosophie weiter präzisiert wird, b) die Bestimmung des inneren Triebwerks des Systems der Philosophie spezifiziert wird, c) die Zündungsweise dieses Triebwerks geklärt wird, d) die notwendige a priori innere Koppelung des Prinzips der Subjektivität mit dem der Intersubjektivität definitiv festgelegt wird. In Anlehnung an Husserls Cartesianischen Meditationen lässt sich meines Erachtens aus dem radikal skeptischen Zweifel eine intersubjektive Monadologie rekonstruieren. Der radikale Zweifel führt uns a) zum unbezweifelbaren Satz ,Es gibt Denken‘. Das Denken ist jedoch Reflexion und dies innerer Dialog. Wir erhalten somit b) den Satz ,Es gibt Denken als inneren Dialog‘, der das innere Triebwerk eines möglichen Systems ausmacht. Dieser Dialog ist nicht als si42 V. Hösle Die Krise der Gegenwart, 218f. 43 V. Hösle Die Krise der Gegenwart, 219. 44 V. Hösle Die Krise der Gegenwart, 230.

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tuationeller Prozess zu denken, sondern als universale Form und als Eigenschaft alles Denkens. Die Zündung des Dialogs, die ursprüngliche Dialektik, setzt c) eine monadologische Gemeinschaft, eine Vielfalt interagierende Subjekte, voraus. Mit dieser wesensmäßigen Identifikation von Denken und Dialog ist d) das Prinzip der absoluten Subjektivität mit dem der absoluten Intersubjektivität endgültig verbunden. Denken ist Dialog: So hieß es bereits bei Platon.

Christian Thein

Synthesis a priori und gesellschaftliche Synthesis. Transformationen der idealistischen Semantik in der Kritischen Theorie

Einleitung Der Beitrag intendiert, systematische Fragen und Antworten an Grundtheoreme der Klassischen Deutschen Philosophie, die übergreifend in der Kritischen Theorie thematisiert werden, zu rekonstruieren. Hierbei geht es im weitesten Sinne um eine Neubestimmung des Verhältnisses von philosophischen und gesellschaftstheoretischen Begriffen. Ausgangs- und Bezugspunkt der nachfolgenden Rekonstruktion dieser sozialphilosophischen Transformationen der idealistischen Semantik bildet die folgende Textstelle aus den Drei Studien zu Hegel von Theodor W. Adorno: „Das Kantische Moment der Spontaneität, das in der synthetischen Einheit der Apperzeption mit der konstitutiven Identität geradezu in eins gesetzt ist – Kants Begriff des Ich denke war die Formel für die Indifferenz erzeugender Spontaneität und logischer Identität –, wird bei Hegel total und in solcher Totalität Prinzip des Seins nicht weniger als des Denkens. Indem aber von Hegel Erzeugen und Tun nicht mehr bloß als subjektive Leistung dem Stoff gegenübergestellt, sondern in den bestimmten Objekten, in der gegenständlichen Wirklichkeit aufgesucht sind, rückt Hegel dicht an das Geheimnis, das hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt und sie hinaushebt über die bloß willkürliche Hypostasis des abstrakten Begriffs. Das ist jedoch nichts anderes als die gesellschaftliche Arbeit.“1

Das Zitat beinhaltet komprimiert Adornos Lesart der semantischen Entwicklung von Subjektivität und Synthesis zwischen Kant und Hegel. Zudem vollzieht er mit und über Hegel hinaus den Versuch einer gesellschaftstheoretischen Wendung der idealistischen Semantik, die als Motiv grundlegend bleibt für die 1 Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997, Bd. 5, 247–382, hier : 265. Im Folgenden zitiert als GS mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.

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Folgegeschichte der Kritischen Theorie. Zur Erörterung der im Zitat komprimiert vorgetragenen These wird im Folgenden zunächst die Herausbildung des idealistischen Subjektbegriffs bei Kant und Fichte (1) sowie die angedeutete Kritik an jener Verfahrensweise und ihrem Resultat (2) rekonstruiert. Die in der Textstelle angesprochene besondere Weise der wirklichkeitsvermittelten Vollzugstätigkeit des Begriffs in Hegels Philosophie soll anschließend aus Adornos Blickwinkel herausgearbeitet werden (3). Daran anknüpfend ist nach der Beziehung von idealistischer Synthesis einerseits und gesellschaftlicher Synthesis andererseits zu fragen. Hierbei wird ein interpretativer Erklärungsversuch der im letzten Satz formulierten und zunächst hypothetisch anmutenden These über den gesellschaftlichen Gehalt von philosophischen Begriffen unternommen (4). Von Adornos Versuch einer reflexiven Bestimmung des Verhältnisses von Denkformen und gesellschaftlichen Formen ausgehend, werden konzeptuelle Grundentscheidungen der sich im Zugriff deutlich unterscheidenden sozialtheoretischen Fassung der Synthesis-Thematik bei Jürgen Habermas erörtert (5).

1.

Das Selbstbewusstsein als Einheitsprinzip der Synthesis von Welt

Die Frage nach dem Einheitsprinzip, das die Synthesis der in sich mannigfaltig strukturierten Welt ermöglicht und vollzieht, kann als motivgebend für die Systemausbildungen der klassischen deutschen Philosophie angesehen werden. Kant führt in der Kritik der reinen Vernunft dieses Prinzip auf den tiefsten Punkt der Subjektivität – das Selbstbewusstsein – zurück. In der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe steht zunächst die Frage nach der kategorialen Grundstruktur des Verstandes, die das gegenstandsbezogene Urteilen ermöglicht und zugleich aus den Urteilsformen hergeleitet wird, im Vordergrund: „Derselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zustande brachte, bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objekte gehen.“2

Der Verstand vollzieht seine Urteile immer schon kategorial fundiert und gegenstandsbezogen. Über diese Feststellung hinaus eröffnet sich die Frage nach der Ermöglichungsbedingung des einheitlichen Urteilsvollzuges im Zeitverlauf. 2 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, B 105.

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Kants Kernthese lautet, dass die in sich geschlossene epistemische Funktionsweise der reinen Verstandesbegriffe überhaupt nur möglich ist, auf dem „Grunde der synthetischen Einheit a priori“.3 Den Gehalt einer solchen synthetischen Einheit a priori gilt es mit Blick auf die semantische Engführung und Konstellation der Termini näher zu bestimmen. Der Terminus Synthesis steht grundsätzlich für die Verbindung einer Vielheit zu einer Einheit. Epistemologisch zielt der Begriff auf den Prozess der Zusammenführung von Mannigfaltigkeit zu einem einheitlichen Begriff von dieser. Im Urteilen operationalisiert sich dieser Prozess der Synthese der subjektiven Erkenntnisformen mit der Mannigfaltigkeit der Welt durch die synthetischen Urteile a priori, in denen Subjekt und Prädikat erfahrungserweiternd verbunden werden.4 Da Synthesis bei Kant als spezifisches Merkmal der gemeinten Einheit ausgewiesen wird, beruht und gründet sie auf und in einem Einheitsprinzip. Diese höchste Einheitsform des menschlichen Erkenntnisvermögens fundiert nach den maßgeblichen Ausführungen in der Kritik der reinen Vernunft sämtliche Formen des kategorialen Urteilens. Sie ist zugleich in der Grundstruktur des logischen Gebrauchs des Verstandes aufzusuchen. Dieser logische Grund des Urteilens findet sich ausformuliert in dem analytischen Satz von dem „Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss“.5 Dieses die Vorstellungsmannigfaltigkeit begleitende Ich denke ist selbst weder anschaulich gegeben noch begrifflich-kategorial bestimmbar. Es handelt sich um ein Abstraktionsprodukt von dem Bezug der einzelnen Denkakte auf die mannigfaltigen Vorstellungen. Das Ich denke ist zugleich die gesuchte letzte Bedingung des Vollzuges von Erkenntnissynthesen überhaupt. Für sich selbst bleibt von ihm nur dessen Selbsttätigkeit, die Spontaneität aussagbar.6 Diese Spontaneität kann jedoch nicht aus der analytischen Einheit des Selbstbewusstseins erklärt werden. Stattdessen konstituiert sie sich durch den Bezug auf die Vielheit von Vorstellungen. Die Einheit des Bewusstseins ist demnach wiederum „nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich“.7 Kant verwendet nachfolgend die Terminologie von der synthetischen Einheit der Apperzeption zur Bezeichnung der immanent vorstellungsbezogenen Selbstbewusstseinsstruktur. Diese transzendentale Subjektivität ist einer zentralen Anmerkung zufolge der höchste Punkt der Philosophie und der Logik.8 In der ersten Auflage der Kritik 3 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 104. 4 Vgl. Rüdiger Bubner: Was heißt Synthesis?, in: ders.: Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt/M. 1992, 94–110, hier: 95ff. 5 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 132. 6 Vgl. Robert B. Pippin: Kant on the Spontaneity of Mind, in: ders.: Idealism as Modernism. Hegelian Variations, Cambridge 1997, 29–55, hier : 39f. 7 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 133. 8 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 134.

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der reinen Vernunft spricht Kant entsprechend von dem vorstellungsbezogenen Selbstbewusstsein als dem „schlechthin ersten und synthetischen Grundsatz unseres Denkens überhaupt“.9 Dieser gibt den synthetischen Urteilen a priori ihre allgemeine und notwendige Form vor : „Das oberste Principium aller synthetischen Urteile ist also: ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung.“10 In Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre erfährt dieses kantische Theorem eine nochmalige Radikalisierung. Die Wissenschaftslehre verfolgt das Ziel einer Begründung aller Wissensformen aus ersten Prinzipien.11 Im ersten unbedingten und sich selbst begründenden Grundsatz allen Wissens fallen nach Fichtes Fundamentalanspruch Form und Inhalt zusammen, da sich die Struktur aus dem Gehalt des Satzes ergeben muss. Die wechselseitige Bestimmung ergibt sich notwendig aus der unmittelbaren Selbstevidenz und Voraussetzungslosigkeit des Grundsatzes. Er begründet sich demzufolge selbst, und alle Folgesätze setzen ihn immer schon voraus. Methodisch gelangt Fichte zur Darstellung des Inhalts des ersten Grundsatzes – das absolute Ich – über die Analyse seiner Form auf den Wegen einer „abstrahierenden Reflexion“.12 Ausgangspunkt ist der formale Identitätssatz A=A, der aufgrund seiner Form für das Bewusstsein von unmittelbarer Gewissheit ist und zugleich auf einer Abstraktion von einem Inhalt beruht. Der Kopula kommt in der Darstellungsform des Gleichheitszeichens zunächst eine rein logische Funktion zu. Auch durch eine Übersetzung des Satzes A=A in ein Bedingungsverhältnis bleibt dieses von rein logischer Art, denn „wenn A sei, so sei A“.13 Über die Existenz von A wird in diesem Satz keine Aussage getroffen, da dessen Gehalt nicht zur Diskussion steht, lediglich dessen Form. Die Kopula bringt nur die Selbigkeit und Identität der beiden Relatstellen zum Ausdruck. Weder Subjekt noch Prädikat können eine Antwort auf die Frage geben, ob denn überhaupt A sei oder nicht. Jedoch geht aus der Gewissheit des Identitäts- und Bedingungsverhältnisses hervor, dass ein „notwendiger Zusammenhang […] schlechthin und ohne allen Grund“ zwischen den Relatstellen gesetzt ist, den Fichte durch ein X kennzeichnet.14 Das Ich wiederum ist die einzig mögliche Instanz, die diesen notwendigen Zusammenhang der logischen Form des Urteils herstellen kann, da alles Handeln in der 9 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 117. 10 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 197. 11 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: ders.: Fichtes Werke, 11 Bde., hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, Bd. I, 82–328, hier: 91. Im Folgenden zitiert als FW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 12 J.G. Fichte: Grundlage, FW I, 91f. 13 J.G. Fichte: Grundlage, FW I, 92. 14 J.G. Fichte: Grundlage, FW I, 93.

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Vollzugsform des Urteilens auf dieses zurückgehen muss. Der erste Grundsatz hat nach Fichtes Grundlegung die Form Ich=Ich. Fichte geht mit diesem Ansatz einer unmittelbaren Engführung von Form und Gehalt des ersten Prinzips der Philosophie über die Begründungstheorie synthetischer Urteile a priori bei Kant hinaus. In der Kritik der reinen Vernunft ist das transzendentale Selbstbewusstsein nicht mehr selbst einer Begründung zugängig und bleibt unbestimmt.15 Nach Fichte ist die Möglichkeit des Übergangs der Relatstellen überhaupt erst „im Ich und durch das Ich gesetzt“.16 Das Ich ist das Setzende und der Ort des Gesetztseins. Der notwendige Zusammenhang kann sich nur aus einer aktiven und spontanen Verknüpfungsleistung ergeben, die Fichte mit diesem Begriff des Setzens bezeichnet. Während die kantische Spontaneität auf den Vorstellungsbezug verwiesen bleibt, ist der Setzungsakt des Ich in Fichtes Worten eine reine Tathandlung, die nicht auf ein anderes Moment außer ihr angewiesen ist. Fichte entgeht mit dieser „ursprünglichen Einsicht“ den Problemstellungen der reflexionsphilosophisch modellierten synthetischen Selbstbezüglichkeitsstruktur.17 Es handelt sich um eine Vollzugsform, die den Zusammenhang des Denkens und jeglichen inhaltlich bestimmten Bewusstseinsakt begründet. Fichte führt hierzu die Terminologie von dem absoluten Subjekt ein, die stilbildend für Schelling und Hegel wird.18

2.

Adornos Kritik der idealistischen Abstraktion

Im Ausgangszitat rekurriert Adorno zunächst auf die kantische Bestimmung der transzendentalen Subjektivität, in der die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins zugleich das Identitätsbewusstsein stiftet. Die logische Identität des Bewusstseins begründet den kategorialen Bezug auf die Vorstellungen unter Abstraktion von deren konkreten Inhalten. Deshalb spricht Adorno von der „Indifferenz erzeugender Spontaneität“. Der Verstand konstituiert die Form der Vorstellungen durch seine kategoriale Struktur im Zusammenspiel mit den Anschauungsformen Raum und Zeit. Der Stoff der Vorstellungen wiederum stammt aus einer vom Selbstbewusstsein unabhängigen Quelle – der Welt an sich. Kants Philosophie beruht auf dualistischen Grundannahmen, die sowohl das Verhältnis von Subjektivität und Welt betreffen als auch die Konstitution des Subjekts selbst. Adorno kritisiert die innerhalb der kantischen Grundannahmen 15 16 17 18

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 404. J.G. Fichte: Grundlage, FW I, 93. Vgl. Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt/M. 1967. J.G. Fichte: Grundlage, FW I, 119.

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nicht zu leistende Vermittlung der streng unterschiedenen Sphären des Intelligiblen und des Empirischen. So werde auf transzendentalphilosophischen Wegen ein reiner Subjektbegriff gewonnen, der den Erscheinungen über die synthetischen Urteile die apriorischen Formen vorgibt.19 Der Dualismus von Form und Materie bleibt hierbei problematisch: „Die synthetischen Urteile a priori sind aber von einem tiefen Widerspruch durchfurcht. Wären sie im strengen Kantischen Sinn a priori, dann hätten sie keinerlei Inhalt, wären Formen in der Tat, rein logische Sätze, Tautologien, in denen Erkenntnis sich selbst nichts Neues, nichts anderes hinzufügte. Sind sie jedoch synthetisch, also im Ernst Erkenntnisse, nicht bloße Selbstverdoppelungen des Subjekts, dann bedürfen sie jener Inhalte, die Kant als zufällig und bloß empirisch aus ihrer Sphäre verbannen wollte. Wie danach Form und Inhalt überhaupt zueinander passen; wie es zu jener Erkenntnis kommt, deren Gültigkeit Kant doch rechtfertigen wollte, wird angesichts des radikalen Bruchs zum Rätsel.“20

Kant unterscheidet auf der Grundlage der dualistischen Grundannahmen strikt zwischen der Bewusstseinseinheit und deren materialen Inhalten. Die Transzendentalphilosophie versteht sich als von genetischen Fragestellungen abstrahierende Geltungstheorie über die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von objektiv gültiger Erfahrung.21 Diese von den genetischen Zusammenhängen der Entstehung von Erfahrung und Erkenntnis absehende Zuspitzung führt Adorno zufolge zu einer Abstraktion des Subjektbegriffs von allen empirischen und historischen Vermittlungen. Hiermit ist gemeint, dass die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins als Abstraktionsprodukt von allen empirischen Momenten der Subjektivität wie auch der gegenständlichen Wirklichkeit dieser in einem zweiten Schritt gegenübergestellt wird. Da dieser abstrakte und hypostasierte Subjektbegriff wiederum von Kant zum Ausgangspunkt der philosophischen Explikation der Erkenntnisvermögen erhoben wird, bleibt das Problem der Vermittlung von Form und Inhalt, von Subjekt und Welt ungelöst.22 Gegen diese Formalisierung und Hypostasierung von Subjektivität insistiert Adorno darauf, dass die Erkenntnisformen und -vermögen immer schon durch Empirie, Welt und Gesellschaft vermittelt sind. Ebenso sei die im Subjekt vollzogene Unterscheidung und Hierarchisierung von intelligiblen und sinnlichen Anteilen problematisch. So setze die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins als dem höchsten Punkt der kantischen Philosophie „psychologischfaktische Bewusstseinsinhalte nicht nur genetisch, sondern ihrer eigenen Möglichkeit nach voraus“.23 Der Bedeutungsgehalt des reinen apriorischen Ich bleibt 19 20 21 22 23

T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 7–412, hier : 140ff. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 306. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 1. T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 142. T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 288.

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verwiesen auf das empirische Ich: „Ohne alle Relation zu einem empirischen Bewußtsein, dem des lebendigen Ichs, wäre kein transzendentales, kein rein geistiges.“24 Kant verkehre jedoch durch das transzendentalphilosophische Unternehmen und dessen geltungstheoretische Intention das Bedingungsverhältnis: „Daß das Konstituens das transzendentale, das Konstitutum das empirische Subjekt sein soll, räumt den Widerspruch nicht weg, denn anders als zur Bewußtseinseinheit individuiert, also als Moment des empirischen ist kein transzendentales.“25 Adorno hebt einen gewichtigen Unterschied im Resultat des methodischen Verfahrens der Abstraktion zwischen Kant und Fichte hervor. Der Dualismus zwischen Subjektivität und Welt, den Kant trotz der Konstituierung der Erscheinungswelt durch die apriorischen Formen aufrecht erhält, bezeuge die für Adornos Idealismuskritik so maßgebliche – weil durch das Denken nicht auflösbare – „Irreduktibilität des Faktischen auf den Geist“.26 Adorno kritisiert zwar die dualistischen Gegensätze, möchte jedoch gegen die identitätsphilosophische Verfahrensweise an der Idee einer vermittelten Differenz von Subjekt und Welt festhalten. In der Abfolge der idealistischen Denksysteme wird mit Fichte die über ein Abstraktionsverfahren gewonnene Unterscheidung von reiner Subjektivität und Empirie in eine Her- und Ableitung des Nicht-Ich aus dem absoluten Subjekt überführt. Alles, was nicht Ich ist, wird von dem absolut gesetzten Subjektprinzip nicht nur bedingt, sondern auch gesetzt. Adornos Einwand gegen das in der Wissenschaftslehre explizit als „abstrahierende Reflexion“ ausgewiesene Verfahren findet sich komprimiert in der These wieder, Fichte habe „die Unterscheidung des transzendentalen und empirischen Subjekts rücksichtslos über Kant hinausgetrieben und um der Unversöhnlichkeit beider willen versucht, das Prinzip des Ichs der Faktizität zu entwinden und dadurch den Idealismus in jener Absolutheit zu rechtfertigen, die dann zum Medium des Hegelschen Systems wird.“27

Der bei Kant antizipierte aber misslungene Vermittlungsversuch von Subjektivität und Welt werde in der Wissenschaftslehre durch die Absolutsetzung des Subjektprinzips in die falsche Richtung überwunden. Die Problematik resultiere aus einer Verselbstständigung des abstrahierenden Verfahrens. Zur Kritik steht nach Adorno nicht die theoretische Abstraktion, sondern deren Resultat. In der idealistischen Philosophie werde das absolute Subjekt nicht nur zur Bedingung der Bestimmung des faktischen Seins erhoben, sondern darüber hinaus auch zu dessen Ursprung. Auch bei Hegel findet sich dieses Motiv, wenn auch in einer 24 25 26 27

T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 186. T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 239. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 261. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 263.

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terminologisch und ontologisch transformierten Konstellation.28 Adorno intendiert hingegen, die Vermittlungen zwischen philosophischen Ideen und gegenständlicher Wirklichkeit materialistisch von unten statt idealistisch von oben in den Blick zu nehmen, um auf diesem Wege einen gehaltvollen Begriff von Subjektivität zu gewinnen: „Das Resultat von Abstraktion ist nie gegen das, wovon es abgezogen ward, absolut zu verselbstständigen; weil das Abstraktum auf das unter ihm Befasste anwendbar bleiben, weil Rückkehr möglich sein soll, ist in ihm immer zugleich auch in gewissem Sinne die Qualität dessen, wovon abstrahiert wird, aufbewahrt, wäre es auch in oberster Allgemeinheit. Setzt daher die Bildung des Begriffs Transzendentalsubjekt oder absoluter Geist sich ganz hinweg über individuelles Bewusstsein schlechthin als raumzeitliches, woran er gewonnen ward, so läßt jener Begriff selber sich nicht mehr einlösen.“29

Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen bildet somit die Frage nach der gegenständlichen, also empirischen und gesellschaftlichen Vermittlung von Bewusstsein, die über eine Verhältnisbestimmung von Denkformen und gesellschaftlicher Synthesis verläuft. Diese soll zur Offenlegung des Geheimnisses beitragen, das „hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt“. Die zur Explikation dieser Beziehung führende Brücke bildet Adornos zweiseitige Rezeption des Hegelschen Idealismus.

3.

Vermittlung von Geist und Wirklichkeit bei Hegel und Adorno

Bezogen auf die Vermittlungslogik der hegelschen Philosophie kann die angeführte Kritik des idealistischen Abstraktionsverfahrens eine nur eingeschränkte Gültigkeit für sich behaupten. Adornos Rezeption der Grundgedanken Hegels ist bewusst ambivalent.30 So verweist er zum einen darauf, dass das Prinzip der synthetischen Einheit durch den in den Begriffen des absoluten Idealismus sich darstellenden Systemanspruch hindurch total wird, es also zu einer Überformung von Welt an sich durch das synthetisierende Prinzip kommt. Zum anderen jedoch entwickelt Hegel die Formen des Geistes immer in ihrer Vermittlung mit dem konkreten Material der Welt. Mit dem ersteren Aspekt weitet Hegel das kantische Programm über die Grenzen der Subjektivität hinaus aus, denn Kant behält die Unterscheidung zwischen einer subjektiv geformten Welt der Erscheinungen und der von dieser Formung unabhängigen Welt an sich be-

28 T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 142ff. und 176; ders: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 261f. 29 T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 263. 30 T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 251f. und 296ff.

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kanntlich aufrecht.31 Der zweite Aspekt des Hegel’schen Philosophierens wiederum verweist positiv auf die bei Hegel im Vergleich mit Kant und Fichte viel stärkere Materialgebundenheit von Reflexivität. Die Idealität des Geistes vermittelt und materialisiert sich in den Objekten der Welt.32 Nach der Einleitung in die Phänomenologie des Geistes vollzieht sich das begriffliche Denken seinen Gegenständen gegenüber weniger aktiv und setzend denn aufnehmend – Adorno spricht von der „Lehre von der spontanen Rezeptivität“.33 Das Erkennen ist in Hegels Philosophie nicht als ein Werkzeug der Weltaneignung zu verstehen, sondern es findet immer schon durch die begriffliche Verarbeitung des objektiven Sachgehalts hindurch statt.34 Der menschliche Anspruch auf Selbstprüfung von Wissensansprüchen ist nicht angewiesen auf externe Konzepte oder Ideale, da nach Hegels epistemologischem Ermessen in jedem Bewusstsein immer schon „Begriff und Gegenstand, der Maßstab und das zu Prüfende“ vorzufinden sind.35 Nach Adorno stellt sich Hegels Philosophie durch diesen auf konkrete empirische Erfahrung abzielenden Erkenntnisbegriff „der bloßen Erkenntnistheorie entgegen, indem sie erweist, daß die Formen, die jener zufolge Erkenntnis konstituieren, ebenso vom Inhalt der Erkenntnis abhängen wie umgekehrt.“36 Bezogen auf das einleitend angeführte Kernzitat bleibt festzuhalten, dass Adorno Hegel eine Stärkung des Vermittlungsgedankens von Subjektivität und Objektivität gegenüber Kant und Fichte zuspricht: Mit der „äußersten Anstrengung des Begriffs“ wende sich Hegel den inhaltlichen Sachgehalten der Objekte des Denkens zu.37 Trotz dieser erfahrungsbasierten und tendenziell gegen die Paradigmen der metaphysischen Tradition gerichteten Grundhaltung sei Hegels Philosophie bestimmt durch eine Priorität des Subjekt- und Geistprinzips: „Hegels inhaltliches Philosophieren hatte zum Fundament und Resultat den Primat des Subjekts.“38 In den Drei Studien zu Hegel heißt es lapidar : „Das Hegelsche Subjekt-Objekt ist Subjekt.“39 Die kantische Idee der synthetischen Einheit a priori als Bedingung der Möglichkeit von allgemeingültiger 31 32 33 34

35 36 37 38 39

T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 261. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 253ff. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 256. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (bzw. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste), Hamburg 1968ff., Bd. 9, 53ff. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 59. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 305. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 256. T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 19. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 261.

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Erkenntnis wird von Hegel aus den Subjektstrukturen herausgenommen und als ontologisches Strukturmodell von der Welt exponiert. Dieser Gedanke, der maßgeblich für die Titulierung der hegelschen Philosophie als eines absoluten Idealismus geworden ist, findet seinen Ausdruck in Begriffen wie Idee, Absolutes, Geist und Totalität. Ohne auf die logischen und semantischen Unterscheidungen dieser Termini im Rahmen des hegelschen Systems weiter einzugehen, stehen sie nach Adornos Interpretation sowohl für die wechselseitige Vermittlung als auch die Überformung aller empirischen Momente durch ein ganzheitliches Prinzip. Zum einen habe die „schrankenlose Expansion des Subjekts zum absoluten Geist“ zwar positiv eine Aufwertung der Sachhaltigkeit aller objektiven Gegenständlichkeit zur Konsequenz,40 zum anderen führe jedoch die Idee der universalen und immanenten Vermittlung dazu, dass „noch jene Momente, an denen die Erkenntnis ihr Letztes, Irreduktibles zu besitzen wähnt, ihrerseits immer auch Produkte von Abstraktion, damit von Geist sind.“41 Gegen Hegel möchte Adorno erkenntniskritisch ein Kantisches Moment im Rahmen des dialektischen Denkens aufbewahren, das die Grenzen der Vermittlungsakte gegenüber den besonderen Gegenständen des Denkens reflektiert. Hierzu überführt er die hegelschen Termini wiederum in die epistemologische Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt. Die wechselseitige Vermittlung der Erkenntnispole verläuft ihm zufolge asymmetrisch, denn es „fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes“.42 So wird Objekt ausschließlich durch ein Subjekt gedacht, ohne mit dem Gedanken identisch zu sein: „Vermittelt ist auch Objekt, nur nicht dem eigenen Begriff nach so durchaus auf Subjekt verwiesen wie Subjekt auf Objekt.“43 Adorno schlägt entsprechend eine Korrektur der idealistischen Subjekt- bzw. Geistzentrierung vor, die er unter dem Paradigma von einem „Vorrang des Objekts“ terminologisch expliziert: „Vorrang des Objekts bedeutet die fortschreitende qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend.“44 Es handelt sich der Intention nach um ein epistemologisches Korrektiv gegenüber den im Idealismus vollzogenen Hypostasierungen durch die im ersten Schritt abstrahierende und im zweiten Schritt deduzierende Verfahrensweise. Die Begriffe des Nicht-Identischen und der Nicht-Identität, die Adorno in der Negativen Dialektik prononciert, führen diese Überlegungen fort.45 Nicht-Identität steht in Adornos Philosophie als erkenntnistheoretischer 40 41 42 43 44 45

T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 254. T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 298. T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 184. T.W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt, GS 10.2, 741–758, hier : 747. T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 185. Vgl. Christian Thein: Subjekt und Synthesis. Eine kritische Studie zum Idealismus und seiner Rezeption bei Adorno, Habermas und Brandom, Würzburg 2013, hier : 380ff.

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Begriff für die dynamische Beziehung der nicht aufeinander reduzierbaren Erkenntnispole. Die Gegenstände des Denkens fallen nicht mit diesem zusammen und werden deshalb als das „Nicht-Identische“ umschrieben. Sie sind nach Adorno somit „keineswegs Denkprodukt; vielmehr das Nicht-Identische durch die Identität hindurch.“46 Diese erkenntniskritischen Reflexionen auf das epistemologische Verhältnis von Subjekt und Objekt stehen in Beziehung zu und sind zugleich zu unterscheiden von der Frage nach dem philosophischen Umgang mit Hegels Theorie der universalen Vermittlung. Adorno sieht den absoluten Idealismus sowohl erkenntnis- als auch metaphysikkritisch als problematisch an. Zugleich verweist er auf die Auslegungsmöglichkeiten von Hegels Philosophie. Ihr „Erfahrungsgehalt“47 bestehe letztlich darin, durch philosophische Deutung den sozialen Gehalt der von Hegel exponierten idealistischen Semantik offenzulegen. Diese These führt auf die Frage nach der Bestimmung des Verhältnisses von Denkformen und gesellschaftlichen Kategorien.

4.

Idealistische und gesellschaftliche Synthesis

Mit der immanent kritischen Herausarbeitung der Zweiseitigkeit der Philosophie Hegels intendiert Adorno nicht eine abstrakt negierende Ablehnung des idealistischen Überbaus des Theorems. Stattdessen versucht er, ein deutendes Verhältnis gegenüber Hegels Philosophie zu gewinnen. In den Drei Studien zu Hegel skizziert Adorno diesen spezifischen Zugriff: „Insistente Befassung mit Hegel lehrt, daß man in seiner Philosophie – wie wohl in jeder großen – nicht auswählen kann, was einem passt und verwerfen, was einen ärgert. Diese düstere Nötigung, kein Ideal des Kompletten erzeugt den Ernst und die Substantialität von Hegels systematischem Anspruch. Seine Wahrheit steckt im Skandalon, nicht im Plausiblen. Hegel retten – und nicht Erneuerung, bloß Rettung ziemt ihm gegenüber – heißt daher, seiner Philosophie dort sich zu stellen, wo sie am wehsten tut; dort, wo ihre Unwahrheit offenbar ist, die Wahrheit ihr zu entreißen.“48

Die Kritik an der idealistischen Überformung der Welt in Begriffen des absoluten Idealismus soll in eine Konfrontation der philosophischen Semantik mit der gesellschaftlichen Struktur überführt werden. Adorno sieht es als ein legitimes Verfahren an, neben der Aufarbeitung der theorieimmanenten Aporien den sozialen Gehalt der philosophischen Semantik zu deuten und aufzudecken. Nur auf diesen Wegen könne zum einen der Wahrheitsgehalt einer Philosophie, 46 T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 189f. 47 T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 295ff. 48 T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 320.

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deren metaphysische Grundbegriffe fragwürdig geworden sind, „gerettet“ werden. Zum anderen entstehe so die Möglichkeit, die Beziehung zwischen philosophischen und gesellschaftskritischen Fragen explikativ zu deuten: „In gesellschaftliche Kategorien ist philosophisch überzugehen allein durch Dechiffrierung des Wahrheitsgehalts der philosophischen.“49 In der einleitend angeführten Textstelle führt er entsprechend an, mit dem universalen Vermittlungsgedanken rücke Hegel dicht an das „Geheimnis“ der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins an, das sich nur über einen Rekurs auf den Begriff der „gesellschaftlichen Arbeit“ entschlüsseln lasse. Zur Erläuterung dieser These bezieht sich Adorno auf die Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie von Marx: gesellschaftliche und abstrakte Arbeit, Warenform, Tauschwert, gesellschaftliches und sachliches Verhältnis.50 Diese sozioökonomische Terminologie führt er mit Hegels Bestimmungen der konkreten Allgemeinheit, die auf den durchgängig bestimmten Zusammenhang aller Einzelmomente in einer Totalität verweist, eng: „Diese Allgemeinheit vielmehr ist der zugleich genaue und, um der idealistischen Generalthesis willen, sich selbst verborgene Ausdruck des gesellschaftlichen Wesens der Arbeit, die zur Arbeit überhaupt erst als ein Für anderes, mit anderen Kommensurables; als ein Hinausgehen über die Zufälligkeit des je einzelnen Subjekts wird. […] Der Rückverweis des erzeugenden Moments des Geistes auf ein allgemeines Subjekt anstatt auf die individuelle je arbeitende Einzelperson definiert Arbeit als organisierte, gesellschaftliche; ihre eigene ,Rationalität‘, die Ordnung der Funktionen, ist ein gesellschaftliches Verhältnis.“51

Adorno stellt zunächst eine Verbindung her zwischen den abstrakten Subjektbegriffen der klassischen deutschen Philosophie und dem auf die marktwirtschaftlich organisierte Vergesellschaftungsform zielenden Arbeitsbegriff von Marx. Die beiden von Kant zu Hegel eruierten und typisierten idealistischen Verfahrensweisen – Abstraktion von empirischen Besonderheiten sowie Primat der universalen Vermittlung – werden von Adorno demnach als philosophischer Ausdruck der spezifischen Form der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gedeutet: „Der Gesellschaft kommt eben das zu, was Hegel dem Geist gegenüber allen isolierten Einzelmomenten der Empirie reserviert. Diese sind durch die Gesellschaft vermittelt, konstituiert wie nur je einem Idealisten die Dinge durch den Geist, und zwar vor

49 T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 198. 50 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: ders./Friedrich Engels: MarxEngels-Werke, Bd. 23, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1972, 49ff. 51 T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 265f.

Synthesis a priori und gesellschaftliche Synthesis

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jeglichem partikularem Einfluß von Gesellschaft auf die Phänomene; sie erscheint in diesen wie bei Hegel das Wesen. Gesellschaft ist so wesentlich Begriff wie der Geist.“52

Adornos These setzt mit Marx voraus, dass es sich bei der gegenwärtigen Form der Vergesellschaftung um ein System handelt, dessen Struktur sich gegenüber den Individuen verselbstständigt. Hierbei nehmen die Arbeitsprozesse als Fundament des sich universal vollziehenden Warentauschs eine abstrakte Form an, um die vergleichende Austauschbarkeit der produzierten Güter zu gewährleisten. Konstitutive Merkmale der gesellschaftlichen Synthesis sind mit Marx abstrakte Arbeit und der universale Tausch, die sich wechselseitig bedingen und die Handlungsdispositionen der Subjekte nach den herrschenden ökonomischen Maßgaben bestimmen.53 Entfremdung und Verdinglichung gründen in Weisen der Bewusstseinsverkehrung, die durch jene in ihrer Abstraktion durch die handelnden Individuen nicht überschaubaren Prozesse hervorgerufen werden. Gesellschaftliche Synthesis vollzieht sich dieser kritischen Modellierung zufolge im Modus einer äußerlich erzwungenen Vereinheitlichung von nichtreflexiven Bewusstseins- und Handlungsformen. Diese realen ökonomischen Vorgänge, die nach Marx die sozialen Verhältnisse zwischen Individuen vorbestimmen, spiegeln sich Adorno zufolge in den abstrakten Begriffen der idealistischen Philosophie. Trotz der angesprochenen Übernahme von Kategorien aus der Kritik der politischen Ökonomie in die eigene Philosophie geht es Adorno weniger um eine differenzierte Rekonstruktion der von Marx detailliert ausgearbeiteten begrifflichen und sachlichen Dimensionen der ökonomischen Zusammenhänge, sondern um eine Reflexion des Verhältnisses von idealistischem Systemgedanken und gesellschaftlicher Form. Seine Bemühungen knüpfen an Thesen an, die Alfred Sohn-Rethel in den 1930er Jahren ausformuliert hat. Ausgehend von der Einsicht in die geschichtliche Zeitbedingtheit der Formen von Gesellschaft kann nach Sohn-Rethel die abstrahierende Begriffsbildung nur aus der gesellschaftlichen Bestimmtheit des Bewusstseins verstanden werden: „Eine Bewusstseinsbildung aus dem gesellschaftlichen Sein setzt einen Abstraktionsprozeß voraus, der Teil des gesellschaftlichen Seins ist.“54 Er fordert, den Ursprungsort der idealistischen Denkformen in den Warentauschprozessen zu situieren. In ihnen mache sich die sich im Tausch konstituierende Realabstraktion zum einen ökonomisch und zum anderen kognitiv geltend. Dieser Abstraktionsvorgang verschließt sich jedoch den Reflexionen der Handelnden – er bleibt also unbewusst. Das Wesen der Realabstraktion leitet Sohn-Rethel aus der gesellschaftli52 T.W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, 267. 53 Vgl. C. Thein: Subjekt und Synthesis, 256ff. 54 Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt/M. 1972, 38.

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chen Institutionalisierung der Geldformen her, die einen ahistorischen Charakter annimmt. Diese Einschätzung führt ihn zu der kontroversen These, dass „die gesellschaftliche Synthesis, durch welche Warenproduktion möglich ist, dasjenige tatsächlich enthält, was Kant in einer geschichtlich zeitlosen Synthesis a priori geistiger Art zu finden geglaubt hat, ja mehr noch: es findet sich die Form- und die Ursprungserklärung in einem der reinen Verstandestätigkeit.“55

Das Verhältnis von Denk- und Realabstraktion wird von Sohn-Rethel materialistisch deduktiv bestimmt: Die Idee von den apriorischen Denkformen leitet sich her aus der abstrakten Form der gesellschaftlichen Synthesis in Gemeinschaften, die durch die Universalität des Warentauschs bestimmt sind. Die Thesen von Sohn-Rethel beeinflussen Adornos Rezeption des Idealismus und der Ökonomiekritik von Marx. Während er in den Drei Studien zu Hegel noch die gesellschaftliche Arbeit als das synthetisierende Moment des sozialen Funktionszusammenhanges in den Mittelpunkt der materialistischen Deutung des idealistischen Subjektbegriffs rückt, so thematisiert er in der Negativen Dialektik die „Urverwandtschaft“ zwischen dem Tauschprinzip und den idealistischen Denkformen: „Der von der Philosophie verklärte und einzig dem erkennenden Subjekt zugeschriebene Abstraktionsvorgang spielt sich in der tatsächlichen Tauschgesellschaft ab“.56 Insbesondere das Identifikations- und Totalitätsprinzip der hegelschen Philosophie hat ihm zufolge am Tausch sein gesellschaftliches Modell. Adorno verweist auf strukturelle Gemeinsamkeiten und deutet Zusammenhänge zwischen Denkprinzipien und Vergesellschaftungsformen an, ohne die deduktive These von Sohn-Rethel zu übernehmen. Stattdessen überführt er die Thematik in die Perspektive einer philosophischen Deutung: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch.“57

Bezogen auf die Klassische Deutsche Philosophie verfolgt Adorno somit das Programm einer Aufdeckung des gesellschaftlichen Gehalts der abstrakten Termini und abstrahierenden Verfahrensweisen. Zugleich insistiert er darauf, diese Kritik durch den Verweis auf die immanente Aporetik der Philosopheme selbst zu führen, um so dem „Vorwurf des Soziologismus“ zu entgehen, und verteidigt ausdrücklich diese Art der Philosophiekritik: „Der reale Lebenspro55 A. Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit, 90. 56 T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 180. 57 T.W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, 149.

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zess der Gesellschaft ist kein in die Philosophie soziologisch, durch Zuordnung Eingeschmuggeltes, sondern der Kern des logischen Gehaltes selbst.“58 Adornos Philosophie ist zugleich philosophiekritisch. Mit Hegel geht es ihm darum, das Philosophieren als einen theoretischen Akt auszuweisen, der sich insbesondere in den Begriffen der Klassischen Deutschen Philosophie ausdrücken lässt. Fluchtpunkt seiner philosophischen Reflexionen bleibt jedoch das Verhältnis der Philosophie zur Gesellschaft, zur Kunst und den Fragen des guten Lebens. Philosophie zielt inhaltlich auf das, was nicht selbst philosophischer Begriff ist. Adornos deutender und selbstbewusster Zugang zur philosophischen Tradition beeinflusst Jürgen Habermas in jungen Jahren am Frankfurter Institut. Im Folgenden wird dessen Weg zu einer neuen semantischen Bestimmung der idealistischen Terminologie im Rahmen der Ausbuchstabierung der Kategorie der Intersubjektivität dargestellt.

5.

Intersubjektivitätstheorie der gesellschaftlichen Synthesis

Wie auch Adorno greift Jürgen Habermas zur Bestimmung des Gehalts der gesellschaftlichen Synthesis auf die zwischen Kant, Hegel und Marx entwickelte Terminologie zurück. Jedoch deutet sich bereits Ende der 1960er Jahre ein Bruch mit jener die Reflexionen von Marx bis Adorno bestimmenden Engführung der Idealismusrezeption mit den ökonomischen Prinzipien der Vergesellschaftung an. Maßgeblich für die Ausdifferenzierung dessen, was unter gesellschaftlicher Synthesis verstanden werden kann, ist Habermas’ Kritik an der Einseitigkeit des „Produktionsparadigmas“ von Marx.59 Marx begreife – so Habermas in Erkenntnis und Interesse – die gegenständliche Tätigkeit des Menschen epistemologisch in Anknüpfung an Kant als eine transzendentale Leistung, die jedoch nicht in den apriorischen Synthesen des Verstandes und seiner Kategorien, sondern in den realen Arbeitsvorgängen fundiert ist. Das Subjekt der gegenständlichen Konstitution von Welt ist dieser Auffassung zufolge „nicht ein transzendentales Bewusstsein überhaupt, sondern die konkrete Menschengattung, die unter natürlichen Bedingungen ihr Leben reproduziert“.60 Habermas rekurriert jedoch nicht auf den von Marx gemeinten semantischen Gehalt von abstrakter Arbeit als terminologische Bestimmung für die gesamtgesellschaftliche Inbezugsetzung – nach Marx der Terminus für die gesamtgesellschaftliche Inbezugsetzung und Vergleichung aller konkreten Arbeiten und dadurch Mög58 T.W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, GS 5, 7–245, hier : 34. 59 Vgl. Ingo Elbe: Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas, in: Habermas und der historische Materialismus, hg. v. Smail Rapic, Freiburg/München 2014, 123–151. 60 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1971, 38.

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lichkeitsbedingung für den universalen Warentausch.61 Er fasst stattdessen Arbeit als anthropologische Grundkonstante für den menschlichen Stoffwechselaustausch mit der Natur. Die Vielzahl der konkreten Arbeitsvollzüge sind durch ihre Vermittlung hindurch konstitutiv für den Reproduktionsprozess der Gattung. Durch den Rückbezug auf den Arbeitsbegriff komme es zu einer materialistischen Wende gegenüber den erkenntnistheoretischen Paradigmen der idealistischen Philosophie: „Synthesis im materialistischen Sinne unterscheidet sich von dem in der idealistischen Philosophie durch Kant, Fichte und Hegel entwickelten Begriff zunächst dadurch, dass sie keinen logischen Zusammenhang herstellt. Sie ist nicht die Leistung eines transzendentalen Bewusstseins, nicht das Setzen eines absoluten Ich oder gar die Bewegung eines absoluten Geistes, sondern die gleichermaßen empirische wie transzendentale Leistung eines sich historisch erzeugenden Gattungssubjektes.“62

Darüber hinaus verstehe Marx die Arbeit nicht nur als den materiellen Ermöglichungsgrund für die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, sondern spricht dieser auch eine fundamentale erkenntnistheoretische Rolle bei der Objektivierung von Erfahrung zu. Habermas übernimmt die Idee einer über die Handlungspraxis zu gewinnenden Antwort auf die epistemologischen Fragestellungen in der frühen Monographie Erkenntnis und Interesse von 1968 und wird sie in der folgenden Phase seines philosophischen Schaffens sprachpragmatisch transformieren. Denn trotz dieser gegen den Idealismus vollzogenen Einsicht in die handlungsbezogene Basis von Erkenntnis neige Marx zu einer Reduktion von gesellschaftlicher Synthesis auf das Produktionsparadigma, durch die der Reproduktionsprozess der Gattung nur unvollständig beschrieben werde: „Hätte Marx Interaktion mit Arbeit nicht unter dem Titel der gesellschaftlichen Praxis zusammengeworfen, hätte er stattdessen den materialistischen Begriff der Synthesis auf die Leistungen instrumentalen und die Verknüpfungen kommunikativen Handelns gleichermaßen bezogen, dann wäre die Idee einer Wissenschaft vom Menschen nicht durch die Identifikation mit Naturwissenschaft verdunkelt worden.“63

Habermas deutet an dieser Stelle bereits die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung und Unterscheidung der Sphären gesellschaftlicher Synthesis durch eine Neubestimmung ihres kategorial-begrifflichen Grundrahmens an. Die Mängel des reduktionistischen Ansatzes von Marx, der Vergesellschaftung grundsätzlich auf Arbeitsprozesse reduziere, sollen durch eine Aufarbeitung von Überlegungen zu den Medien Sprache, Arbeit und Interaktion in den Jenaer Schriften 61 Vgl. Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003, 345ff. 62 J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, 43. 63 J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, 85.

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Hegels vor der Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes geleistet werden. Hegels grundlegende Einsicht bestehe nach den Bemerkungen zu Hegels Jenenser ,Philosophie des Geistes‘ darin, dass Sprache, Arbeit und Interaktion das Verhältnis von Subjekt und Objekt auf ihre je verschiedene Weise vorgängig konstituieren und vermitteln.64 Es handele sich demzufolge um ein synchrones, also zeitgleiches und additives Konstitutionsverhältnis von drei „gleichwertigen Mustern dialektischer Beziehungen“.65 Von Relevanz ist, dass vermöge dieser Medien die Dialektik von Subjekt und Objekt sowie Ich und Anderem nicht mehr im Ausgang von einer monologischen und selbstbezüglich gefassten Bewusstseinsstruktur thematisch wird, sondern sich erst „aus der Erfahrung der Interaktion […] auf der Basis wechselseitiger Anerkennung“ bildet.66 Der Sprache spricht Habermas schon in diesen frühen Aufsatz eine konstitutive Rolle für die Welterschließung zu. Sie übernimmt die symbolische Repräsentation von Objekten und sorgt als synthetisierendes Moment der Mannigfaltigkeit zugleich für ein reflexives Vermittlungsverhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität. Der Arbeit hingegen komme eine rein instrumentelle Bedeutung in der Weltvermittlung zu, die Verdinglichung und Entfremdung impliziert. Beide Kategorien werden jedoch in diesen frühen und sich an Hegel orientierenden Darstellungen noch nicht genuin intersubjektivitätstheoretisch gefasst. Antizipiert wird jedoch ihre Einbettung in übergreifende interaktive Zusammenhänge, die im Falle der Arbeit strategischen und im Falle des symbolvermittelnden Sprachgebrauchs kommunikativen Charakters sein können. Während Habermas für das Verhältnis von Sprache und Interaktion eine wechselseitige Abhängigkeit konstatiert, führt er gegen Marx erneut die NichtRückführbarkeit von Interaktion auf Arbeit et vice versa an.67 Über die von Habermas in Erkenntnis und Interesse vertretene Kritik am Produktionsparadigma der Ökonomiekritik deutet sich bereits der Dualismus von Synthesis durch Sprache und Synthesis durch Arbeit an, der für den Aufbau der Gesellschaftstheorie in der Theorie des kommunikativen Handelns68 maßgeblich wird. Die Lebenswelt wird dort als Hintergrund und Ort von kommunikativen Handlungsformen beschrieben, in denen sich Subjekte verständigungsorientiert aufeinander beziehen.69 Synthesis durch Sprache findet demzufolge in der Lebenswelt durch kooperativ vollzogene Deutungsprozesse, die sich auf die Gegenstände der subjektiven, sozialen und objektiven Welt beziehen. 64 Jürgen Habermas: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ,Philosophie des Geistes‘, in: ders.: Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘, Frankfurt/M. 1973, 9–47, 9ff. 65 J. Habermas: Arbeit und Interaktion, 9. 66 J. Habermas: Arbeit und Interaktion, 13. 67 J. Habermas: Arbeit und Interaktion, 32f. 68 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1995. 69 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 182ff.

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Die Grundform von Intersubjektivität zielt demnach auf die Verständigung von Sprecher und Hörer über etwas in der Welt.70 Interaktionen nach diesem Muster führen reflexiv zur Erneuerung kulturellen Wissens, zur handlungskoordinierenden sozialen Integration sowie zur Ausbildung von sozialen Identitäten. In modernen Gesellschaften tritt an die Seite des lebensweltlichen Rationalisierungsprozesses durch symbolische Strukturen die Sozial- und Systemintegration durch die Subsysteme Staat und Ökonomie, die über die Medien Macht und Geld rein funktional steuern. Auf dieser Seite der gesellschaftlichen Synthesis, in der die instrumentellen Arbeitsprozesse zu verorten sind, beruht die Handlungskoordination primär auf strategisch induzierter Steuerung nach Effizienzkriterien.71 Die Entkoppelung von Lebenswelt und System droht – so die gesellschaftskritische Implikation der Theorie des kommunikativen Handelns – in eine „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die strategischen Imperative des Systems umzuschlagen, wenn diese sich von den Zusammenhängen der kommunikativen Alltagspraxis entfernen.72 Nach der sprachpragmatisch und soziologisch fundierten gesellschaftstheoretischen Wende nimmt Habermas den in den frühen philosophischen Schriften gelegten Faden einer Transformation idealistischer Semantiken wieder auf, um die gesellschaftstheoretische Konzeption grundbegrifflich zu fundieren. Paradigmatisch für Habermas’ ausgereifte Reflexion des eigenen Verhältnisses zur Terminologie der Klassischen Deutschen Philosophie nach der Ausbuchstabierung seiner Intersubjektivitätstheorie ist der Aufsatz Wege der Detranszendentalisierung – Von Kant zu Hegel und zurück, in dem es zu einer Wiederaufnahme der Thematik der Rolle von Arbeit, Sprache und Interaktion für die Vermittlung von Subjektivität und Objektivität kommt.73 Mit Blick auf die philosophische Folgegeschichte der idealistischen Denkbewegung geht es ihm um den Nachweis, dass der junge Hegel maßgeblich die postidealistische Entwicklung einer schrittweisen „Detranszendentalisierung des erkennenden Subjekts“ angestoßen habe.74 Hierzu führt er verschiedene Problemstellungen an, die im Rahmen des subjektzentrierten Mentalismus und insbesondere in Kants transzendentalphilosophischer Zuspitzung dieses Theorems keine Auflösung erfahren. Wie schon Adorno führt er Schwierigkeiten an, die hinsichtlich der Vermittlungsund Selbstbezüglichkeitsfragen entstehen, wenn Kant Subjektivität über den 70 Jürgen Habermas: Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1989, 63–104, hier: 68ff. 71 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handeln, Bd. 2, 229ff. 72 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handeln, Bd. 2, 232f. 73 Jürgen Habermas: Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders.: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 2004, 186–229, hier: 201ff. 74 J. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung, 186ff.

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semantischen Gehalt des Begriffs der „transzendentalen Apperzeption“ modelliert.75 Die epistemologische Grundfrage der Transzendentalkritik, wie eine an sich nichtbegriffliche Welt, die dem erkennenden Subjekt gegenübertritt, in dessen Formen des kategorialen Urteilens überführt werden kann, wird von Hegel auf ihre Grundannahmen hin befragt: „In den Jenaer Vorlesungen zur Philosophie des Geistes ist das hauptsächliche Angriffsziel die mentalistische Vorstellung einer selbstgenügsamen, sich nach außen abgrenzenden Subjektivität. Von dieser Konzeption leiten sich die Dualismen zwischen innen und außen, privat und öffentlich, unmittelbar und vermittelt, evident und ungewiß her. Hegel schiebt diese Gegensätze beiseite und befreit die Operationen eines schon von Kant als wesentlich praktisch begriffenen Erkenntnissubjekts aus der Abgeschlossenheit des narzißtisch in sich gekehrten Ich. Das Subjekt hat sich immer schon in Prozesse der Begegnung und des Austauschs verstrickt, findet sich selbst immer schon in Kontexten vor. […] Es operiert als ein in den Weltzusammenhang eingelassenes Element.“76

Während Adorno die insbesondere in der Phänomenologie des Geistes dargestellte Neubestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Gegenstand bei Hegel in den Fokus rückt, interessiert sich Habermas für die Kontextualisierung von Subjektivität in die empirischen Vermittlungszusammenhänge. Die systematische Lösung zur Überwindung der Dualismen von Innen- und Außenwelt besteht ihm zufolge mit Hegel darin, Subjektivität als gegründet in jene „Prozesse der Begegnung und des Austauschs“ zu begreifen. Medien dieser Vermittlung sind anknüpfend an die frühen Schriften Arbeit, Sprache und Interaktion. Diese sorgen hierbei für die ursprüngliche Verklammerung von Subjektivität und Objektivität in theoretischer und praktischer Hinsicht. Durch die kognitive Funktion der begrifflichen Welterschließung im Medium der Sprache bewegt sich die kognitive Seite von Bewusstsein „von vornherein in dem sprachlich erschlossenen Horizont möglicher Erfahrungen“.77 Zu der Konstitution einer objektiven symbolischen Welt durch die sprachlichen Bedeutungen gesellt sich im Medium der Arbeit die praktisch-technische Seite der Weltintervention nach Zwecksetzungen. Die Vermittlung zwischen Subjekt und Welt durch Sprache und Arbeit ist jedoch nicht als eine äußerliche Konstitution im transzendentalen Sinne zu verstehen, sondern findet auf immanent dialektischen Wegen statt. Der junge Hegel überwindet Habermas zufolge den kantischen Dualismus, denn es gibt weder eine Welt außerhalb ihrer symbolischen Vermittlung noch einen Arbeitsvollzug, der nicht auf eine der Wirklichkeit immer schon mitlaufend begegnenden performativen Einstellung des Han75 J. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung, 190f. 76 J. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung, 194f. 77 J. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung, 202.

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delnden beruht. Dieses Unterlaufen von mentalistischen Vorstellungen über die Subjekt-Objekt-Beziehung wird nur möglich, weil Hegel Sprache und Arbeit in einen vergesellschafteten Kontext stellt, nämlich den der Sprachgemeinschaft einerseits und der Arbeitsteilung andererseits.78 Habermas liest in den jüngeren Veröffentlichungen die Einführung der die Weltbezüge des Subjekts vorgängig strukturierenden Medien Sprache, Arbeit und Interaktion aus der Perspektive der Intersubjektivitätstheorie: „Der in einer Gemeinschaft verkörperte Geist ist in dem Maße ,objektiv‘, wie er von Mitgliedern, die von denselben Traditionen zehren und an denselben Praktiken teilnehmen, ,intersubjektiv‘ geteilt wird.“79 Beziehen wir Habermas’ Rezeptionsthese auf das Ausgangszitat von Adorno, so rückt ihm zufolge Hegel gerade deshalb an das Geheimnis der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins heran, weil er die intersubjektive Dimension von Geist als konstitutiv für die normativen und kognitiven Dimensionen der Welterschließung eingeführt habe. Habermas interpretiert den Hegelschen Begriff des objektiven Geistes in Kategorien der Intersubjektivität. Diese stellt als Form den grundlegenden Zusammenhang dar, der Subjektbildung und Welterschließung ermöglicht. Es besteht demzufolge eine innere Verschränkung von Intersubjektivität und Gegenstandsbezug im vorgängig durch Sprache oder Arbeit strukturierten Raum. Im kommunikativen Handeln, dem Originalmodus von Sprache,80 wird diese Struktur mit sprachlicher Interaktion so enggeführt, dass die Verständigungsorientierung in der sozialen Lebenswelt sämtliche instrumentellen oder strategischen Handlungsoptionen überformt. Habermas systematisiert und verknüpft somit zwei Themen, die er aus Hegels frühen Schriften nach eigenständiger Interpretation gewinnt: Zum einen die Vorgängigkeit der durch Arbeit und Sprache in einem allgemeingültig-kategorialen Sinne immer schon vermittelten Synthesis von Subjekt und Objekt, die selbst in objektiv-gesellschaftliche Kontexte eingebunden sind. Zum anderen die Thematik der das Bewusstsein des Einzelnen als dem Prinzip der Subjektivität auch erkenntnistheoretisch erst konstituierenden Form von Intersubjektivität. Somit rückt die Struktur des von Hegel gewonnenen Vermittlungsgedankens als Form der intersubjektiven Rationalität in den Blickpunkt der Rezeption. Die sozialphilosophische Kategorie der Intersubjektivität soll die Reflexivität von gesellschaftlichen Prozessen transparent machen. Die Komplexität der Vermittlungsstruktur zeigt sich im Rekurs auf die allgemeingültigen synthetischen Formen, die sich jeweils in verschiedener Hinsicht konkretisieren. Innerhalb des durch die Medien Arbeit

78 J. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung, 204. 79 J. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung, 204. 80 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 386f.

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und Sprache vorstrukturierten Raumes vollziehen sich die Referenzen, Intentionalitäten und Interaktionen der Subjekte. Habermas behält demnach das Motiv der Ausformulierung der Struktur der gesellschaftlichen Synthesis bei, verändert jedoch radikal den Blickwinkel: Der kommunikative Sprachgebrauch wird thematisch unter Abwendung vom klassischen epistemologischen Paradigma der Explikation von Denk- und Erkenntnisformen. Es ist somit nicht mehr das Verhältnis von Denkform und gesellschaftlicher Form, das einer dialektischen Konfrontation unterzogen wird, sondern der soziologische Blick auf die Formen der sozialen Integration und Handlungskoordinierung bedient sich einzelner Theoreme der klassischen deutschen Philosophie sowie der Sprachphilosophie zu ihrer Ausbuchstabierung. Hierbei unterscheidet Habermas – und dies ist neben der kategorialen Verschiebung der wesentliche methodische Unterschied zu Adorno – zwischen empirisch brauchbaren und nicht-brauchbaren Theoremen. So liefert sich der in Begriffen des Absoluten artikulierende reife Hegel Habermas zufolge unmissverständlich der nachmetaphysischen Kritik aus. Gegen den Vernunftanspruch Hegels konstatiert Habermas, es sei nicht möglich, „aus dem Horizont unserer Sprache und unserer diskursiven Praktiken auszubrechen, um die fallible Unparteilichkeit und die dezentrierte Wir-Perspektive einer erweiterungsfähigen Argumentationsgemeinschaft durch den Standpunkt eines absoluten, vom Ende her zurückblickenden, totalisierend-abschließenden Wissens zu ersetzen. Sicher können wir die Grenzen unserer epistemischen Kontexte von innen immer weiter hinausschieben; aber es gibt keinen Kontext aller Kontexte, den wir überschauen können. Nichts berechtigt uns zu der Erwartung, das letzte Wort zu behalten.“81

Ob Habermas mit dieser Prognose zur Zukunft einer sich in die Folgegeschichte der Klassischen Deutschen Philosophie einordnenden Philosophie Recht behält, darüber wird die dezentrierte und entgrenzte Forschergemeinschaft befinden.

81 J. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung, 219.

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Jacques Derrida im Ausgang von Schellings Denken „Si j’ai choisi de vous parler de Schelling, c’est aussi pour une autre raison, que je n’oserai pas dire contingente.“1 Jacques Derrida

Es gibt Dichter, die in einem sehr engen Verhältnis zur Philosophie stehen, sei es, dass sie sich für Philosophie und Philosophen interessieren, sei es, dass ihr poetisches Werk selbst philosophische Momente aufzeigt. Einer dieser Dichter ist der Dichter unserer Zeit – Peter Handke –, der in einem seiner frühen Werke das Folgende schreibt: „Die Mordgeschichte beginnt, wie alle Geschichten als die Fortsetzung einer anderen Geschichte. Die Personen und Dinge, die beschrieben werden, sind schon bekannt aus der anderen Geschichte, die nicht geschrieben, sondern stillschweigend vorausgesetzt ist. Wie jede Geschichte gibt sich auch die Mordgeschichte als die Fortsetzung einer nichtvorhandenen Geschichte.“2

Eben diese nichtvorhandene Geschichte, die es zu geben scheint und doch nicht gibt, gilt es – allerdings im Sinne der Philosophie – aufs Neue zu überdenken. Die Protagonisten dieser Geschichte sind zwei Dichter unter den Philosophen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein zu haben scheinen: Schelling und Derrida; erst der zweite Blick verrät, dass Derrida stets eine geistige Begegnung oder Verwandtschaft mit Schelling gesucht und gefordert hat. Es ist äußerst schwierig, die zahlreichen Begegnungen ausfindig zu machen, denn Derridas Brückenbau zwischen seinem und dem Denken Schellings ist geradezu unsichtbar, er ist bewusst oder unbewusst kaschiert; in den meisten Fällen verläuft er über Umwege. Schelling und Derrida sind schwierige Autoren und dennoch sind sie lesenswert. Um sie besser verstehen zu können, muss der Leser ihnen ein Stück weit entgegenkommen, denn bei beiden Denkern haben wir es mit einer Sprache zu tun, die von Grund auf übersetzungsbedürftig scheint. Daher sind wir ge1 Jacques Derrida: Du droit / la philosophie, Paris 1990, 374. 2 Peter Handke: Der Hausierer, Frankfurt/M. 1992, 7.

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zwungen in Bereiche vorzudringen, die uns sprachlich nicht mehr zugänglich sind; das Unsagbare scheint das eigentliche Thema beider Autoren zu sein. Beide verweilen gerne „in diesem vorweltlichen Nebel des Nichtwissens“,3 aus dem sie nicht nur ihre philosophische Energie beziehen, sondern auch an poetischer und prophetischer Wirkmacht gewinnen: Handkes nicht vorhandene Geschichte, die die Voraussetzung einer jeden Geschichte ist, muss für Schelling, aber auch für Derrida erst noch geschrieben werden. Wenn wir uns also einige grundlegende Intuitionen dieser Autoren klar machen wollen, dann müssen wir uns in ein geradezu vorweltliches Milieu versetzen, in der existierende, propositionale Strukturen nicht greifbar sind, weil ein solches Milieu diese Strukturen erst freigibt. Die Beschreibung dessen, wie der Übergang von einer strukturlosen Vorwelt oder Nichtwelt in eine intentional zugängliche Welt, der Aufstieg aus der Tiefe des Seins gelingt, hat Schelling, aber auch Derrida in immer neuen Anläufen unternommen. In diesem Sinne ist die Beschäftigung mit beiden Autoren eine Art Archäologie des Seins und Denkens, eine Suche nach dem verlorengegangen Ort beziehungsweise Nicht-Ort, den beide Denker in Wirklichkeit suchen: das Regellose oder Aporetische, das dem Denken oder der Vernunft nicht nur vorausgeht, sondern sie auch stets begleitet. Dass dabei die Vernunft auf geradezu wackligen Beinen steht, ihre Existenz sogar teilweise in Frage gestellt wird, ist etwas, das sowohl Schelling als auch Derrida in ihrer Schriften immer wieder andeuten.

1.

Die semantische Unterwelt

In einem seiner oft zitierten Fragmente notiert Heraklit, der wohl dunkelste Denker der abendländischen Philosophie, folgenden Satz: „b %man, ox t¹ lamtei˜ºm 1sti t¹ 1m Dekvoi˜r, oute k´cei oute jq¼ptei !kk± sgla¸mei.“4

Das entscheidende Element dieses Satzes, dessen griechisches Original !kk± sgla¸mei lautet, ist: er gibt ein Zeichen (be-deutet). Ferner scheint das Wort Delphi für unsere Zwecke auch von zentraler Bedeutung zu sein. So ist hier also zweierlei zu bemerken: zunächst ist Delphi die Stadt in Phokis am Parnass mit dem berühmten Orakel, der Höhle als Tempel, mit den prophetischen Verkündigungen des Apollon. Ferner ist dieses Wort – und dessen war sich Heraklit wohl bewusst – verwandt mit dem Wort dekv|r, welches im Griechischen auch mit 3 Wolfram Hogrebe: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings Weltalter, Frankfurt/M. 1989, 87. 4 Heraklit: Fragmente, hg. v. Bruno Snell, Berlin 2011, B 93. Deutsche Übersetzung: „Der Herr, dessen Orakel zu Delphi ist, spricht nicht aus, noch verbirgt er, sondern gibt ein Zeichen (bedeutet).“ Diesen Hinweis verdanke ich Markus Gabriel.

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Mutterleib oder Gebärmutter übersetzt werden kann. Delphi wird hier somit auch als Mittelpunkt, ja als Nabel der Welt gedacht. Er hinterlässt „die unvermeidliche Abtrennung der Nabelschnur […], die einige Lebewesen mit der Mutter verbindet.“5 Die Höhle der Weissagung, so könnte man hier folglich sagen, ist die Mutter : die Tiefe unseres Denkens. Ferner ist in diesem Zusammenhang das Folgende zu ergänzen: das griechische Wort sgla¸meim, das zunächst: be-deuten bedeutet, wurde hier mit „ein Zeichen oder ein Signal geben“ übersetzt. Aber auch in einem reflexiven Sinne kann dieses Wort verstanden werden, wenn sgla¸meim mit „sich zeigen“ übersetzt wird: es zeigt sich. Etwa so, wie Wittgenstein im Tractatus erklärt: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“6 Dieses Unaussprechliche oder Mystische wollen wir besser verstehen, ohne es jedoch allzu sehr mit Wittgenstein zu mystifizieren. Denn das Unaussprechliche im Sinne Heraklits spricht und verbirgt nicht, weil es etwa mystischer Natur wäre, sondern vielmehr, weil es gemäß den Sinnsprüchen der Weisheit – wie etwa cm_hi seaut|m, Kenn dich selbst! – in den delphinischen Tempel eingemeißelt wurde: es ist Schrift. Auf diese Weise bekam das Unaussprechliche eine gleichsam unhörbare Stimme und wurde zugleich unpersönlich. Kein Mensch hätte es gewagt, das Eingemeißelte, die Schrift, auszusprechen. Diese Schrift ist daher ganz im Sinne Derridas immer schon Vor-Schrift in einem doppelten Sinne – Ur-Schrift und Gesetz. Sie ist also das, was jeder Schrift immer schon vorausgeht – ganz und gar ursprünglich; und indem sie einer Sache vorausgeht, gibt sie etwas vor. Doch das, was sie vorgibt, ist sie nicht selbst, da sie immer nur das ist, was einer Sache vorangeht. Sobald etwas, was auch immer es sein mag, ist, ist sie das, was diesem vorangeht. Die entscheidenden Fragen, die sich Derrida in diesem Zusammenhang stellt, lauten daher : „OF l’8criture commence-t-elle? Quand l’8criture commence-t-elle? OF et quand la trace, 8criture en g8n8ral, racine commune de la parole et de l’8criture, se r8tr8cit-elle en ,8criture‘ au sens courant? OF et quand passe-t-on d’une 8criture / l’autre, de l’8criture en g8n8ral / l’8criture au sens 8troit, de la trace / la graphie, puis d’un systHme graphique / un autre, et, dans le champ d’un code graphique, d’un discours graphique / un autre, etc.? OF et quand commence…? Question d’origine.“7 5 Maria Zambrano: Der Mensch und das Göttliche, Wien 2005, 278. 6 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1963, 6.522. 7 Jacques Derrida: De la Grammatologie, Paris 1967, 109. Deutsche Übersetzung v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler: Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/M. 1983, 130: „Wo beginnt die Schrift? Wann beginnt die Schrift? Wo und wann verengt sich die Spur – die Schrift im allgemeinen, die dem gesprochenen Wort und der Schrift gemeinsame Wurzel – zur ,Schrift‘ im geläufigen Sinne? Wo und wann vollzieht sich der Übergang von einer Schrift zur anderen, von der Schrift im allgemeinen zur Schrift im engeren Sinn, von der Spur zur Graphie, dann von einem graphischen System zu einem anderen und, im Bereich eines gra-

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Auf ähnliche, jedoch nicht gleiche Weise beschäftigt sich auch Schelling mit demjenigen, was einer Sache stets vorangeht, wenn er ganz im Sinne Heraklits in der Freiheitsschrift schreibt: „Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht; das Samenkorn muss in die Erde versenkt werden und in der Finsternis sterben, damit die schönere Lichtgestalt sich erhebe und am Sonnenstrahl sich entfalte. Der Mensch wird im Mutterleibe gebildet; und aus dem Dunkeln des Verstandlosen (aus Gefühl, Sehnsucht, der herrlichen Mutter der Erkenntnis) erwachsen erst die lichten Gedanken.“8

Die Geburt aus dem dunklen Mutterleibe – die Öffnung des Orakels zu Delphi scheint von einer Willkür besessen zu sein, die etwas zu setzen sucht, nämlich den Anfang des Denkens. Und dieser Anfang ereignet sich willkürlich.9 So konnte man vor dem Denken nicht wissen, was es bedeutet zu denken. Daher besteht auch nicht mehr die Möglichkeit, sich für oder gegen das Denken zu entscheiden. Wer denkt, befindet sich immer schon im Denken. Man kann denkend nicht aus dem Denken heraustreten, um diesem zuvorzukommen. Daher kommt das Denken des Denkens auch immer schon zu spät. In dieser schellingschen Unergründlichkeit des Denkens, die durchaus mit Derridas Suche nach der ursprünglichen Schrift gleichzusetzen ist, manifestiert sich gleichsam die eigentliche Vorgehensweise der Philosophie. So ist für beide Denker – Schelling und Derrida – die Suche nach dem verloren gegangenen Denken das zentrale Projekt der Metaphysik. Dabei ist die Verlusterfahrung des Denkens nicht etwas, das im eigentlichen Sinne der Philosophie voranginge: sie selbst ist ihre eigene Voraussetzung. So äußert sich die Philosophie in erster Instanz als Suche nach dem uns abhanden gekommenen Denken, dem Unergründlichen, doch zugleich ist sie die eigentliche Zerstörung, die Erniedrigung und Verdrängung dieses Denkens oder der Schrift.10 phischen Codes, von einem graphischen Diskurs zu einem anderen, usw.? Wo und wann beginnt…? Ursprungsfrage.“ 8 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861, Bd. VII, 331–416, hier : 360. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 9 Vgl. F.W.J. Schelling: Weltalter-Fragmente III, SW VIII, 220: Er ist etwas, wie Schelling in seinen Weltalter-Fragmenten schlussfolgert, das nur „im Gedräng zwischen der Nothwendigkeit und der Unmöglichkeit zu seyn, durch eine blindlings die Einheit brechende Gewalt geschehen kann.“ 10 Derridas Kritik an der abendländischen Philosophie beinhaltet drei essentielle Punkte. Vgl. J. Derrida: Grammatologie, 12f. : „1. le concept de l’8criture dans un monde oF la phon8tisation de l’8criture doit dissimuler sa propre histoire en se produisant; 2. l’histoire de la m8taphysique qui, malgr8 toutes les diff8rences et non seulement de Platon / Hegel (en passant mÞme par Leibniz) mais aussi, hors de ses limites apparentes, des pr8socratiques / Heidegger, a toujours assign8 au logos l’origine de la v8rit8 en g8n8ral: l’histoire de la v8rit8, de la

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Indem die Philosophie nach dem Denken fragt und das Denken sucht, hat sie es schon vernichtet. Jedoch gehört das ambivalente Verhältnis zwischen Suche und Verlust des Denkens vordergründig nicht zum Wesen der Philosophie, vielmehr ist es etwas rein Menschliches. Denn der Mensch ist in seinem Wesen, ja in seinem Dasein in der Welt vollständig philosophisch. Dies muss er auch sein. Denn Menschsein bedeutet nicht nur in der Welt zu sein, sich im Denken zu befinden, sondern zugleich auch die Welt und das Denken zu überschreiten. Sobald wir die gegebenen Verhältnisse hinterfragen, sind wir bereits über die Grenzen des Wissens und Denkens hinaus. Dennoch befinden wir uns immer schon in der Welt, wenn wir nach der Welt fragen. Folglich ist die Welt die notwendige Voraussetzung unseres Fragens nach der Welt und nach uns selbst. Schellings immer schon verspätete, nachträgliche Frage nach den Voraussetzungen des Denkens – dem Weltgeheimnis – bildet den Ausgangspunkt seines Denkens. Mit Wolfram Hogrebe wollen wir es als „semantische Unterwelt“11 bezeichnen. Trotz ihrer paradoxen, nicht-sprachlichen Verfassung haben wir eine unabdingbare Intuition der semantischen Vorwelt, ja eine ungefähre Ahnung dessen, was sie bedeuten könnte, ohne jedoch tatsächlich zu wissen, was sie eigentlich ist. Dieser Ahnung folgend müssen wir uns mit Schelling in Sphären des Denkens begeben, die sich prinzipiell gegen jede Form des Wissens und alle möglichen Sinndimensionen wehren, indem sie selbst Sinnstrukturen erzeugen: den Abgrund unseres Denkens. Diesen Abgrund, die Tiefe des Denkens, begreift Schelling in seiner Freiheitsschrift als „das Regellose“, das im wahren Sinne des Wortes noch „im Grunde“ liegt und so den Anschein erweckt, als könne es jederzeit unsere strukturierte alltägliche Welt, der es vorangeht, aus dem Gleichgewicht bringen; „und nirgends scheint es“, so Schelling, „als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche“; es ist vielmehr so, „als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden.“12 v8rit8 de la v8rit8, / la diff8rence prHs d’une diversion m8taphorique dont il nous faudra rendre compte, l’abaissement de l’8criture et son refoulement hors de la parole ,pleine‘; 3. le concept de la science ou de la scientificit8 de la science – ce que l’on a toujours d8termin8 comme logique“. Deutsche Übersetzung, 11f.: „1. den Begriff der Schrift in einer Welt, in der die Phonetisierung der Schrift mit ihrem Entstehen ihre eigene Geschichte verbergen muss; 2. die Geschichte der Metaphysik von Platon (über Leibniz) bis Hegel und, jenseits ihrer scheinbaren Grenzen, von den Vorsokratikern bis Heidegger. Eine Geschichte, die trotz aller Differenzen den Ursprung der Wahrheit im allgemeinen von jeher dem Logos zugewiesen hat. Die Geschichte der Wahrheit, der Wahrheit der Wahrheit ist auf die verschwindende, aber entscheidende Differenz einer metaphorischen Ablenkung, immer schon Erniedrigung der Schrift gewesen, Verdrängung der Schrift aus dem ,erfüllten‘ gesprochenen Wort; 3. den Begriff der Wissenschaft oder der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft – also dessen, was seit je als Logik bestimmt wurde.“ 11 Zum Thema Semantische Unterwelt vgl. Wolfram Hogrebe: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (SystHme orphique de I8na), Frankfurt/M. 1992, 21–61. 12 F.W.J. Schelling: Freiheitsschrift, SW VII, 359f.

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Auf diese Weise garantiert uns das Regellose eine Welt, eine gewisse Ordnung, in der wir denken und sprechen können. Das will heißen: Sinnverhältnisse können nur fortbestehen, wenn sich eine Differenz von Welt und dem, was der Welt vorangeht: von Ordnung und Störung formiert. Diese Differenz hält die Sinnverhältnisse und somit die Welt als Welt am Leben. So kann jede Ordnung nur bestehen, ja überhaupt zu Stande kommen, wenn es einen Faktor X gibt, der die Ordnung stört. Jede Störung lebt andererseits von der Ordnung, die die Störung behebt. Erst das Regellose als Störung erlaubt überhaupt das Verstehen einer Ordnung. Oder mit Schelling gesprochen: „die lichten Gedanken“ können erst aus dem „Verstandlosen“ erwachsen, das heißt Welt und Sprache gehen aus einem uns unbekannten dunklen Grund hervor.13 Das „Regellose“ geht als das uns Unzugängliche, ja das jeder Regel Widersprechende, jedem Gesetz voran, indem es die Bedingungen der Möglichkeit von Regel und Gesetz und somit von Welt und Sprache liefert. Doch wann immer die Rede von der Bedingung der Möglichkeit ist, fügt Schelling sogleich die Bedingung der Unmöglichkeit hinzu. Wo auch immer die Möglichkeit einer Unterscheidung gegeben ist, ist auch immer schon deren Unmöglichkeit mitgegeben. Jede Regel ist auf diese Weise auch immer schon das Regellose: „Was wir Verstand nennen, wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn.“14 Was nun für Schelling die unergreifliche Regellosigkeit, die Möglichkeit, ja Unmöglichkeit jeder Regelung ist, ist für Derrida die Aporizität, oder auch: die Spur, die Schrift und die diff8rance.

2.

Das Regellose und das Aporetische

In seinen Schriften der neunziger Jahre, wie zum Beispiel Gesetzeskraft oder Falschgeld, wendet sich Derrida den vorsprachlichen Aporien zu. Diese versteht er als begriffliche Gegensätze, die jedoch nicht aufgehoben, gar aufgelöst werden, sondern eine reine Denkerfahrung darstellen, indem sie bewusst Grenzen, Unterbrechungen oder Störungen aufzeigen. Am Beispiel der Gabe zeigt Derrida, worin die Aporizität – das Regellose im Sinne Schellings –, im eigentlichen Sinne besteht. Die Gabe als Gabe kann es nach Derrida nur geben, wenn es keine Gegengabe gibt, ja keine Schuld gegenüber dem Gebenden besteht.15 „Pour qu’il y ait don, il faut qu’il n’y ait pas de r8ci13 F.W.J. Schelling: Freiheitsschrift, SW VII, 360f. 14 F.W.J. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 470. 15 Vgl. Jacques Derrida: Donner Le Temps 1. La fausse Monnaie, Paris 1991, 24. Deutsche Übersetzung v. Andreas Knop und Michael Wenzel: Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben I, München 1991, 22f.: Die Gabe duldet „keine Reziprozität […], keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld.“

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procit8, de retour, d’8change, de contre-don ni de dette.“16 Wenn aber die Gabe in einem Tauschverhältnis steht, dann kann die Gabe nicht als Gabe verstanden werden. Es muss hinzugefügt werden, dass die Gabe ihren Charakter als Gabe dann nicht erst im Nachhinein verliert, sondern schon in dem Augenblick, in dem die Gabe als Gabe sich zeigt und identifiziert wird. Auf diese Weise wird die Gabe zu einer, wie Derrida schreibt, Non-Chose,17 zu einem Un-Ding. Derrida zufolge bedeutet dies folgendes: „A la limite, le don comme don devrait ne pas appara%tre comme don: ni au donataire, ni au donateur. Il ne peut Þtre don comme don qu’en n’8tant pas pr8sent comme don. Ni / 1’,un‘ ni / 1,autre‘. Si l’autre le perÅoit, s’il le garde comme don, le don s’annule. Mais celui qui donne ne doit pas le voir ou le savoir non plus“.18

Die Gabe ist nicht mehr, sobald der Andere in irgendeiner Weise rezipiert, ja selbst dann nicht, wenn er sie ablehnt. Derrida führt seinen Gedanken wie folgt aus: „Il n’y a plus de don dHs que l’autre reÅoit – et mÞme s’il refuse le don qu’il a perÅu ou reconnu comme don. DHs qu’il garde au don la signification de don, il la perd, il n’y a plus don. Par cons8quent, s’il n’y a pas de don, il n’y a pas de don, mais s’il y a don gard8 ou regard8 comme don par l’autre, il n’y a pas de don non plus, en tout cas, le don n’existe pas et ne se pr8sente pas. S’il se pr8sente, il ne se pr8sente plus.“19

Der Widerspruch des Gabenverhältnisses soll zeigen, dass jedes Leben, ja jedes Projekt die Möglichkeit des Scheiterns mit sich bringt. Gerade das ScheiternKönnen begründet das Gelingen-Können eines Projekts. Sowohl Schelling als auch Derrida sind Denker der Endlichkeit im Rahmen einer vorsprachlichen Unendlichkeit. So bezeugt das Aporetische nach diesen beiden Philosophen, „dass in den Existenz- und Gelingensbedingungen jedes Systems […] etwas angelegt ist“,20 das sozusagen in Konflikt mit dem System selbst steht, indem es 16 J. Derrida: Fausse Monnaie, 24. Deutsche Übersetzung, 22f. 17 J. Derrida: Fausse Monnaie, 61. Deutsche Übersetzung, 61. Vgl. zu Derridas Gabe: Uwe Dreisholtkamp: Die Gabe der Gabe und das Versprechen, in: Einsätze des Denkens, hg. v. Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfeld, Frankfurt/M. 1997, 287–307. 18 J. Derrida: Fausse Monnaie, 26f. Deutsche Übersetzung, 25: „Die Gabe als Gabe dürfte nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist. Weder dem ,einen‘ noch dem ,anderen‘. Wenn der andere sie wahrnimmt, sie als Gabe gewahrt und bewahrt, wird die Gabe annulliert. Aber auch der, der gibt, darf davon nichts merken oder wissen“. 19 J. Derrida: Fausse Monnaie, 27f. Deutsche Übersetzung, 26: „Sobald er die Gabenbedeutung an der Gabe gewahrt oder bewahrt, verliert er sie, und es gibt keine Gabe mehr. Folglich gibt es keine Gabe mehr, wenn es keine Gabe gibt, aber eine Gabe gibt es auch dann nicht, wenn es eine Gabe gibt, die von einem anderen als Gabe gewahrt oder bewahrt wird; in jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.“ 20 Sybille Krämer : Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2001, 239.

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die immanenten Grenzen dieses Systems (die Rationalität) überschreitet und damit auflöst. Und genau durch diese Überschreitung, ja durch diese Auflösung, bleibt prinzipiell ein Rest übrig und dieser hinterlässt Spuren. Die Spur wird ein Rest, der nicht verlöscht, der sich nicht ausstreicht, selbst wenn er durch ein Anderes verdrängt wird. Gerade so widerfährt einem die Spur in der Welt, weil eine vollkommene Durchsichtigkeit der Welt als Welt in der Welt nicht gelingt. Die Spur zeigt sich, man verfolgt sie, aber sie verweist immer schon auf eine andere Spur und so ad infinitum. Die Spur, so könnte man hier erneut auf Schellings Freiheitsschrift verweisen, „ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit größter Anstrengung nicht in Verstand lösen lässt“.21 Doch wie genau muss man sich diesen Rest vorstellen? Was ist der Rest? Es ist sicherlich nicht richtig, den Rest selbst, der das Unterscheiden und Bestimmen überhaupt möglich macht, als ein Unterschiedenes oder Bestimmbares zu verstehen. Vielmehr ist der Rest eine konstante Figur, die für die prinzipielle Unmöglichkeit oder Unvollständigkeit einer Sache steht, für die Nicht-Identität von etwas mit sich selbst; er hindert etwas, was auch immer es sein mag, daran, das zu sein, was es ist. Schellings Figur des uneinholbaren Restes führt Derrida so in letzter Instanz zur trace originaire beziehungsweise archi-trace: zur Ur-Spur.22 Die Frage nach der Ur-Spur offenbart sich bei Derrida, wie unter anderem 21 F.W.J. Schelling: Freiheitsschrift, SW VII, 360. 22 Vgl. Jean-Luc Nancy : Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Zürich/Berlin 2003, 81–88. Nancy sieht die Beziehung zwischen Schelling und Derrida insbesondere im Akt des Zurückziehens gegeben, „der die Öffnung der Welt macht“ (J.-L. Nancy : Erschaffung der Welt, 81). Im Moment des Zurückziehens findet die Leerung statt. Die Leerung ist so gerade die Öffnung der Leere: „Die Öffnung ist weder die Grundlage noch der Ursprung. Die Öffnung ist auch nicht eine Art primordiales Auffangbecken oder eine Ausgedehntheit für die Dinge der Welt. Die Öffnung der Welt ist das, was sich entlang dieser Dinge und zwischen ihnen öffnet, das, was sie in der Fülle ihrer Singularitäten voneinander trennt und was sie in ihrer Koexistenz einander annähert. Die Öffnung oder das ,Nichts‘ webt das Zusammenerscheinen [comparution] der Existierenden, ohne sie auf irgendeine andere Einheit des Ursprungs oder des Grundes zu beziehen“ (J.-L. Nancy : Erschaffung der Welt, 81f.). Derridas Begriff der diff8rance ist so gerade der Ausdruck dieses Nichts, „der Nichtigkeit der ontologischen Differenz“ (J.-L. Nancy : Erschaffung der Welt, 84). Vgl. ferner J. Derrida: Grammatologie, 90: „DHs lors, pour arracher le concept de trace au sch8ma classique qui le ferait d8river d’une pr8sence ou d’une non-trace originaire et qui en ferait d8river d’une pr8sence ou d’une non-trace originaire et qui en ferait une marque empirique, il faut bien parler de trace originaire ou d’archi-trace. Et pourtant nous savons que ce concept d8truit son nom et que, si tout commence par la trace, il n’y a surtout pas de trace originaire.“ Deutsche Übersetzung, 108: „Folglich muss man, um den Begriff der Spur dem klassischen Schema zu entreißen, welches ihn aus einer Präsenz oder einer ursprünglichen Nicht-Spur ableitete und ihn zu einem empirischen Datum abstempelte, von einer ursprünglichen Nicht-Spur oder Ur-Spur sprechen. Und doch ist uns bewusst, dass dieser Begriff seinen eigenen Namen zerstört und dass es, selbst wenn alles mit der Spur beginnt, eine ursprüngliche nicht geben kann.“

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auch in seinen Marges de la Philosophie23 zu lesen ist, als eine Frage nach dem sich selbst aufhebenden Ursprung, der Schöpfung und der Ur-teilung ganz im Sinne Hölderlins. So ist das Erscheinen der Spur für Derrida bereits das Verschwinden des Ursprungs. Genau genommen ist der Ursprung nicht einmal verschwunden; er entsteht sozusagen im Kontext eines Nicht-Ursprungs, in einer Rückwärtsbewegung, im Verfolgen der Spur.24 Es gibt eine Spur, doch lässt sich nicht genau sagen, wovon sie eine Spur bildet. Sie hat keinen Anfang noch Ursprung (archÞ): beides ist uns mit der Anwesenheit der Spur abhanden gekommen. Folglich deutet Derridas Spur-Metapher nicht mehr auf einen Ursprung, sondern vielmehr auf andere Spuren-Vorkommnisse, die den Ursprung als solchen ersetzen; der Ursprung wird so zum Ursprung des Ursprungs, wie Derrida erklärt: „Or ici l’appara%tre et le fonctionnement de la diff8rence supposent une synthHse originaire qu’aucune simplicit8 absolue ne pr8cHde. Telle serait donc la trace originaire. Sans une r8tention dans l’unit8 minimale de l’exp8rience temporelle, sans une trace retenant l’autre comme autre dans le mÞme, aucune diff8rence ne ferait son œuvre et aucun sens n’appara%trait. Il ne s’agit donc pas ici d’une diff8rence constitu8e mais, avant toute d8termination de contenu, du mouvement pur qui produit la diff8rence. La trace (pure) est la diff8rance.“25

Die Spur ist nicht statisch, sondern ein Prozess des Unterscheidens und Aufschiebens, sie ist eben Differenz auf Deutsch, auf Französisch hingegen ist sie diff8rance. Das französische Wort diff8rance wird bewusst nicht mit dem zu 23 Jacques Derrida: Marges de la Philosophie, Paris 1972, 337–345. Deutsche Übersetzung v. Peter Engelmann: Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, 291–324). Auch Lacan hat sich in seinen Seminaren dem Problem des Ursprungs gewidmet: Vgl. Jacques Lacan: Le S8minaire livre XIX. ou pire, 1971–1972, hg. v. Jacques-Alain Miller, Paris 2011, 53: „L’inexistence n’est pas le n8ant.“ Die Abwesenheit des Ursprungs bestätigt für Lacan die notwendige Existenz des Nichtexistierenden, das er vom Nichts unterscheidet. 24 J. Derrida: Grammatologie, 90: „La trace n’est pas seulement la disparition de l’origine, elle veut dire ici – dans le discours que nous tenons et selon le parcours que nous suivons – que l’origine n’a mÞme pas disparu, qu’elle n’a jamais 8t8 constitu8e qu’en retour par une nonorigine, la trace, qui devient ainsi l’origine de l’origine. Deutsche Übersetzung, 108f.: „Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier – innerhalb des Diskurses, den wir einhalten, und den Parcours, dem wir folgen –, dass der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, dass die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs wird.“ 25 J. Derrida: Grammatologie, 91f. Deutsche Übersetzung, 109: „An dieser Stelle setzen das Erscheinen und die Tätigkeit der Differenz eine ursprüngliche Synthese voraus, der keine absolute Einfältigkeit vorangeht. Sie wäre also die ursprüngliche Spur. Ohne in der minimalen Einheit der zeitlichen Erfahrung festgehalten zu werden, ohne eine Spur, die das Andere als Anderes im Gleichen festhält, könnte keine Differenz ihre Arbeit verrichten und kein Sinn in Erscheinung treten. Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt. Die (reine) Spur ist die Differenz.“

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erwartenden e (diff8rence ,unterschied‘), sondern mit a geschrieben, und weist damit auf das a der Partizip-Präsens-Bildung diff8rant. Entscheidend ist hier zunächst, dass das Partizip nun das Verb diff8rer ,verschieben‘, ,aufschieben‘ (und eben nicht diff8rencier ,unterscheiden‘) ins Zentrum des Blicks rückt. Darüber hinaus betont das dem Partizip entlehnte a den prozessualen Charakter, die unaufhörliche Bewegung der Spur. Ferner fällt auf, dass das unterschiedene a der diff8rance sich nicht hören lässt, denn es klingt in seinem akustischen Wesen der diff8rence mit e gleich. Den Unterschied zwischen der diff8rance und diff8rence macht lediglich die Schrift; man kann den Unterschied zwar nicht hören, aber lesen. Denn die diff8rance ist Schrift, sie ist das Wort, das wie Schelling erklärt, im Grund liegt und dessen Aussprechen, wie Derrida hinzufügt, aus Prinzip nicht gelingen will. Jeder Versuch diese Schrift zu versprachlichen – das geschriebene Wort auszusprechen – führt zwar zum Anfang, zum Ursprung, doch zugleich führt er von ihm weg. Und eben darin liegt die Erfahrung des Unmöglichen: jede Annäherung an den Ursprung ist somit immer schon die Distanzierung vom Ursprung – von der Schrift. Die Schrift ist für Derrida das einzige Kriterium der Wahrheit. Und es ist genau diese Schrift, mit der Derrida Hegels Dialektik der Sinnlichen Gewissheit umschreibt. So antworten wir mit Hegel auf die Frage: „was ist das Jetzt?“ beispielsweise „das Jetzt ist die Nacht.“ Das Überprüfen der Wahrheit dieser sinnlichen Gewissheit erfolgt allein durch die Schrift: „Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren“, so Hegel. Schreiben wir nun diese Wahrheit auf, so machen wir, wenn wir sie am nächsten Mittag betrachten, die Erfahrung, dass sie, wie Hegel sagt, „schal geworden ist“.26 Die Schrift wird so zum Kriterium der Wahrheit, das aber prinzipiell nicht zu erfüllen ist. Die Erfahrung, die Derrida mit Hegel hier macht, ist daher die Erfahrung der Macht des Negativen, sie ist die Erfahrung der Negativität, in letzter Instanz ist sie die Erfahrung des Nichtigen, das die Schrift selbst in sich aufzubewahren scheint. Doch dieser Bund,27 den Derrida hier zunächst mit Hegel eingeht, offenbart 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 3, 84. Im Folgenden zitiert als TWA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 27 Insbesondere in seinen Marges de la philosophie betont Derrida ausdrücklich seine Verbundenheit zur hegelschen Dialektik. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt/M. 1983, 336–355; J. Derrida: Marges, 15: „Naturellement, je tiens que le mot ,diff8rance‘ peut servir aussi / d’autres usages: d’abord parce qu’il marque non seulement l’activit8 de la diff8rence ,originaire‘ mais aussi le d8tour temporisateur du ,diff8rer‘; surtout parce que, malgr8 les rapports d’affinit8 trHs profonde que la diff8rance ainsi 8crite entretient avec le discours h8g8lien, tel qu’il doit Þtre lu, elle peut en un certain point non pas rompre avec lui, ce qui n’a aucune sorte de sens ni de chance, mais en op8rer une sorte de d8placement / la fois infime et radical dont j’essaie ailleurs d’indiquer

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sich zugleich als radikale Abkehr, die sich im Zusammenhang mit der Problematik der Gewalt und der Metaphysik (violence et m8taphysique) zeigt. Die wahre Gewalt offenbart sich für Derrida in der Idee des Friedens – in der id8e de la paix28 –, ja in der Versöhnung derer, die miteinander Krieg führen; dieser Krieg ist dabei nicht nur der Ursprung des philosophischen Diskurses, sondern auch seine Ordnung, sein Motor : „Le discours ne peut donc, s’il est originairement violent, que se faire violence, se nier pour s’affirmer, faire la guerre / la guerre qui l’institue sans pouvoir jamais, en tant que discours, se r8appropier cette n8gativit8. Sans devoir se la r8appropier, car s’il le faisait, l’horizon de la paix dispara%trait dans la nuit (pire violence comme pr8-violence). Cette guerre seconde, comme aveu, est la moindre guerre possible, la seule faÅon de r8primer la pire violence, celle du silence primitif et pr8-logique, d’une nuit inimaginable qui ne serait mÞme pas le contraire du jour, d’une violence absolue qui ne serait mÞme pas le contraire de la non-violence: le rien ou le non-sens purs.“29

Paradoxerweise scheint die Gewalt an sich nur dann zu verschwinden, wenn die anfängliche und treibende Gewalt bleibt, wenn das, was sich widerspricht, nicht vereint, gerade nicht gelöst wird. Der philosophische Diskurs, wie Derrida stets betont, ist von seinen Anfängen her, von seinem Ursprung aus von Gewalt geprägt; seine Arbeitsweise besteht darin, noch mehr Gewalt zu generieren. Darin allein – in der Gewalt – realisiert sich für Derrida die Idee des Friedens, die insbesondere Hegel zu unterbinden suchte. l’espace mais dont il me serait difficile de parler trHs vite ici.“ Deutsche Übersetzung, 43: „Natürlich glaube ich, dass das Wort ,diff8rance‘ auch anders gebraucht werden kann: zunächst weil es nicht nur die Aktivität der ,originären‘ Differenzen markiert, sondern auch den temporisierenden Umweg des ,diff8rer‘; vor allem weil es trotz der tiefgreifenden Beziehungen zwischen der so geschriebenen diff8rance und dem Hegelschen Diskurs, wie er gelesen werden muss, in einem gewissen Punkt mit diesem etwa nicht brechen, da dies weder sinnvoll noch möglich wäre, sondern an ihm eine Verschiebung zu vollziehen vermag, die zugleich winzig klein und radikal ist und von deren Raum ich in der Kürze hier nicht sprechen kann, den ich aber an anderer Stelle zu bestimmen suche.“ 28 Jacques Derrida: Violence et m8taphysique. Essai sur la pens8e d’Emmanuel Levinas, in: ders.: L’8criture el la diff8rence, Paris 1967, 191. Deutsche Übersetzung v. Rodolphe Gasch8: Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, 198). 29 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 190f. Deutsche Übersetzung, 197 : „Weil der Diskurs von Anfang an gewaltsam ist, kann er folglich nur sich Gewalt antun, sich vereinen, um sich zu behaupten, dem Krieg, der ihn instituiert, den Krieg zu erklären, ohne aber jemals als Diskurs diese Negativität sich aneignen zu können. Ohne sie sich aneignen zu dürfen, denn täte er das, dann verschwände der Horizont des Friedens in der Nacht (die schlimmste Gewalt als die Vor-Gewalt). Dieser zweite Krieg als Anerkennung ist die geringstmögliche Gewalt, die einzige Möglichkeit, die schlimmste Gewalt im Zaume zu halten: die des primitiven und prälogischen Schweigens, einer unvorstellbaren Nacht, die nicht einmal das Gegenteil des Tages ist, einer absoluten Gewalt, die nicht einmal das Gegenteil der Gewaltlosigkeit ist: das reine Nichts oder reine Unsinn.“

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Vernunft und Metaphysik

Das Problem des Anfangs oder Ursprungs ist nicht nur dem Deutschen Idealismus eigen. Im Kontext der transzendental-ontologischen Gewalt widmet sich auch Derrida der Frage nach dem Ursprung, der sich als ein Anfang der Sinndimensionen und des Diskurses im Bereich des Endlichen offenbart, das heißt als ein Aufbruch von Sprache und Phänomenalität. Wenn die Transzendentalphilosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen fragt, dann fragt sie zugleich auch nach der Unmöglichkeit ihrer Voraussetzungen, das heißt nach dem reinen Nichts, dem Unsinn, genau genommen nach dem Nihilismus. Die Gewalt der Gewalttätigen richtet sich gerade gegen dieses Nichts, gegen die Andersheit, ja gerade gegen das, was für gewöhnlich unter dem Begriff der NichtIdentität verstanden wird. In der Geschichte der abendländischen Philosophie scheint nicht nur für Derrida, sondern für die gesamte französische Philosophie des 20. Jahrhunderts, wohl kein anderer Philosoph so gewalttätig agiert zu haben wie Hegel; kaum ein anderer Philosoph hat die Nicht-Identität, die Andersheit, ja jede Form der Äußerlichkeit derart gewaltsam in sein philosophisches Denken mit einbezogen wie Hegel. So kommt für Derrida Hegels Gewalt bereits in seiner allumfassenden Weltformel von der Identität der Identität und Nicht-Identität30 zum Ausdruck. Diese Identität verkörpert für Derrida, der in diesem Zusammenhang stets Levinas für seine Zwecke instrumentalisiert, eine Identität der Gewalt, indem sie eine fundamentale Differenz erzeugt, eine Konjunktion und Opposition zwischen dem Ich und dem Anderen. Diese Differenz ist für Derrida in ihrer Arbeitsweise jedoch vollständig vernunftimmanent, ja geradezu totalisierend, da sie mit aller Macht behauptet, das Ich sei das Andere, das Andere sei wiederum das Ich. Hegel denke eine Andersheit, die so keine wahre Andersheit mehr ist, ja seine Andersheit geradezu verliere. Denn die Beziehung, die das Ich zum Anderen unterhält, wird wiederum vom Ich selbst in sich aufgenommen. Das Andere bin immer schon ich selbst, es ist genau genommen mein eigenes Selbst, indem das Bewusstsein diese Erfahrung des Anderen macht, wie wir sie aus der Phänomenologie des Geistes als Wissenschaft von der Erfahrung und vom Bewusstsein kennen. Und genau in diesem Zusammenhang scheint Derrida bereits in seiner Auseinandersetzung mit Levinas in L’8criture et la diff8rence – mit Kant einen Pakt gegen Hegel zu schließen, indem er sich auf Schelling beruft. Denn diesem unterstellt er, das kantische Ding-an-sich – „alt8rit8 absolue“ („absolute Andersheit“)31 – radikalisiert zu haben. Die Radikalisierung äußert sich für Derrida 30 G.W.F. Hegel: Phänomenologie, TWA 3, 96. 31 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 156. Deutsche Übersetzung, 162.

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in Schellings Verständnis des Empirismus. Schelling, stellt Derrida hier fest, sei sehr weit in die richtige Richtung gegangen, als er den Empirismus gegen die Hegel’sche Vernunftimmanenz, gegen seine vollständige Totalisierung des Geistes und Logos namhaft gemacht habe. In der Geschichte der Philosophie sei Schelling der Einzige, der sein Denken in die Nähe eines richtig verstandenen Empirismus gerückt habe, ja der es verstanden habe zwischen dem Empirismus und der Metaphysik zu vermitteln: „Mais peut-on parler d’une exp8rience de l’autre ou de la diff8rence? Le concept d’exp8rience n’a-t-il pas toujours 8t8 d8termin8 par la m8taphysique de la pr8sence? L’exp8rience n’est-t-elle pas toujours rencontre d’une pr8sence irr8ductible, perception d’une ph8nom8nalit8? Cette complicit8 entre l’empirisme et la m8taphysique n’a rien de surprenant. En les critiquant ou plutit en les ,limitant‘ d’un seul et mÞme geste, Kant et Husserl avaient bien reconnu leur solidarit8. Il faudrait la m8diter de plus prHs. Dans cette m8ditation, Schelling 8tait all8 trHs loin.“32

Die Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen Empirismus und Metaphysik offenbart sich für Derrida vor dem Hintergrund des hegelschen Totalitätsbegriffs, der eine radikale Immanenz vorlege, die alle Fluchtwege versperre. Der Idee des historisch-immanenten Ganzen, das, wie Hegel glaubt, das Wahre sei, setzt Derrida (mit Schelling) daher ein „dehors absolu“, ein absolutes Außen, „ext8riorit8 qui d8borde infiniment la monade de l’ego cogito“,33 entgegen. Denn wenn das Denken keinen Ort außerhalb seiner selbst hat, wird es zu einem Gefangenen seiner selbst. Und gerade dies scheint Schelling bereits in seinen Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie vorwegzunehmen, wenn er schreibt: „Das Ich denke, Ich bin, ist, seit Cartesius, der Grundirrthum aller Erkenntniß; das Denken ist nicht mein Denken, und das Seyn nicht mein Seyn“.34 Schellings und damit auch Derridas ontologische Wende besteht darin, dem Cartesianismus, den beide in Hegels Philosophie zu finden glauben, eine höhere Form des Denkens entgegenzuhalten, die versucht die (cartesische) Lücke zwi32 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 252. Deutsche Übersetzung, 232: „Kann man aber von einer Erfahrung des Andern oder der Differenz reden? Wurde der Begriff der Erfahrung nicht stets durch die Metaphysik der Präsenz bestimmt? Ist die Erfahrung nicht immer Begegnung eines irreduzibel Anwesenden, Wahrnehmung einer Phänomenalität? Die Komplizität von Empirismus und Metaphysik ist nicht überraschend. Indem sie sie kritisierten oder vielmehr in ein und derselben Geste ,begrenzten‘, hatten Kant und Husserl sehr wohl ihre Solidarität erkannt. Ihr wäre nachzusinnen. Schelling ist in dieser Meditation sehr weit gegangen.“ 33 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 156 Deutsche Übersetzung, 162: „eine Äußerlichkeit, die die Monade des ego cogito unendlich übersteigt“. Vgl. in diesem Kontext auch: Richard Rorty : Is Derrida a Transcendental Philosopher?, in: ders.: Essays on Heidegger and Others, Vol. 2, Cambridge/Mass. 1991, 22–38. 34 F.W.J. Schelling: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, SW VII, 148. Vgl. auch Arnold Gehlen: Descartes im Urteil Schellings, in: ders.: Theorie der Willensfreiheit und frühere philosophische Schriften, Neuwied–Berlin 1965, 299–303.

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schen einer Innen- und Außenwelt, zwischen Geist und Welt zu überbrücken. Die ontologische Wende scheint dabei sprachphilosophischer Natur zu sein, die Schelling schon in der Einleitung zur Freiheitsschrift vorbereitet hat. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Schelling vor allem mit der Erörterung des allgemeinen Missverständnisses des Identitätsgesetzes: „Der Grund solcher Missdeutungen, welche auch andere im reichen Maß erfahren haben, liegt in dem allgemeinen Missverständnis der Identität oder des Sinns der Copula im Urteil.“35 Schellings Hauptaugenmerk liegt hierbei auf dem Sinn der Copula und des Seins (ist) im Urteil, das heißt die Untersuchung des sprachphilosophischen Verhältnisses von Subjekt und Prädikat hat einen ontologischen Charakter. Was genau versteht Schelling nun unter dem Identitätsurteil? Worin besteht das Verhältnis zwischen Sprache und Ontologie? So bestreitet Schelling, dass in irgendeinem Satz der Identität, „die Identität des Subjekts mit dem Prädikat“ zum Ausdruck gebracht werde, das heißt dass „eine Einerleiheit oder auch nur ein unvermittelter Zusammenhang dieser beiden ausgesagt werde.“ Dies demonstriert er am folgenden Beispiel: „dieser Körper ist blau.“ Ein solcher Satz hat für Schelling „nicht den Sinn […], der Körper sei in dem und durch das, worin und wodurch er Körper ist, auch blau.“ Vielmehr bedeutet ein solcher Satz: „dasselbe, was dieser Körper ist, sei, obgleich nicht in dem nämlichen Betracht, auch blau.“36 Das heißt, es gibt einen Körper, und dasjenige, das identisch ist mit diesem Körper, ist auch identisch mit demjenigen, das blau ist. Schelling verleiht hier dem konventionellen Identitätsbegriff eine ganz neue Bedeutung, indem er die Copula des Satzes, „ist“, in einem völlig neuen Zusammenhang betrachtet: nicht mehr das Subjekt (Körper) bildet das bestimmende Element des Satzes, dem alles zugrunde liegt, sondern die Copula (das Band, „ist“), durch die der singuläre Terminus „dieser Körper“ und die Farbempfindung „blau“ prädiziert werden. Auf diese Weise ist die Copula das Subjekt und das Prädikat des Satzes in gleicher Weise; sie verdoppelt sich selbst, wird sowohl zum Subjekt als auch zum Prädikat des Satzes, indem sie sich im Einen wie im Anderen wiederfindet, aber nicht zugleich. Die Copula wird somit zum Wesen eines Urteils, ja einer fundamentalen Ur-Teilung erhoben; dabei handelt es sich um eine ursprüngliche Teilung, die in ihrer Arbeitsweise dasjenige aufeinander bezieht, was sie getrennt hat und dasjenige wiederum trennt, was aufeinander bezogen ist. Und es ist genau diese von Schelling bestimmte Funktion einer differierenden Copula, an der sich Derrida immer wieder orientiert, aber nur selten beim Namen genannt hat.37 Doch was genau ist die Copula 35 F.W.J. Schelling: Freiheitsschrift, SW VII, 342. 36 F.W.J. Schelling: Freiheitsschrift, SW VII, 342. 37 So äußert sich Derrida etwa in seinen Randgängen der Philosophie (Marges de la philosophie) im Kontext seiner Benveniste-Lektüre zum Supplement der Copula, 246: „Qu’en est-il du

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im Urteil? In jedem Urteil zeigt sich etwas, was auch immer es sei, als etwas und als etwas anderes, in einem sprachphilosophischen Sinne als Subjekt und als Prädikat; jedes Urteil beruht folglich auf einer Gegensätzlichkeit, die aus der Copula, dem Sein, herausbricht und zugleich von ihr vereint wird. Die Copula wird auf diese Weise zu einem Vereinigungspunkt aller Diversität, einer Einheit von Verschiedenem; doch genau diese Vereinigung, in ihrer Vollständigkeit, halten Derrida und Schelling für unmöglich: der Kreis (auch immer schon Hegels Kreis) der Vereinigung schließt sich aus Prinzip nicht. Was übrig bleibt, ist wieder einmal, wie Derrida in Glas – seiner fundamentalen Auseinandersetzung mit Hegel – schreibt, ein Rest: „Le reste est indicible, ou presque: non par approximation empirique mais / la rigueur ind8cidable.“38 Die vollständige Ausarbeitung einer Philosophie des Rests, die sich in jedem Schritt gegen Hegel richtet, lässt sich Derrida zufolge auf Schelling zurückführen, auf seine Philosophie der Offenbarung, in der Schelling zwischen der negativen und positiven Philosophie unterscheidet. Schelling zufolge berücksichtige Hegel nur die negative Philosophie39 – eine reine Vernunftwissenschaft, die immer schon ihr eigentliches Woher bekannt gibt, nämlich sich selbst. Das Negative hat sich selbst zur Voraussetzung. „Während die negative Philosophie“, so Schelling, „ein abgeschlossenes System ist, ist die positive kein System in diesem Sinne.“40 Eine negative Philosophie bedarf jedoch immer schon einer positiven, denn was der Anfang allen Denkens ist, ist noch nicht das Denken selbst; es ist das, was dem Denken vorausgeht. So ist aber das Ende der einen Philosophie nicht der Anfang der anderen. Der Anfang, den die positive Philosophie setzt, entgeht aber immer schon der nemot? Puis de cette opposition du lexical (s8mantique, 8tymologique) et du grammatical qui domine ainsi ces discours sans Þtre interrog8 pour elle-mÞme? OF et comment s’est-elle constitu8e? Pourquoi le est donne-t-il encore sa forme / toutes ces questions? Qu’en est-t-il du rapport entre la v8rit8, le sens (de l’Þtre) et la troisiHme personne du singulier de l’indicatif pr8sent du verbe ,Þtre‘? Qu’est-ce que rester ou ne pas rester? Que reste-t-il en un supp8ment de copule?“ Deutsche Übersetzung, 227: „Was hat es mit dem Wort auf sich? Und was ist weiteres mit dieser Opposition vom Lexikalischem (Semantischem, Etymologischem) und Grammatischem, die diese Diskurse, ohne selbst in Frage gestellt zu werden, so beherrscht? Wo und wie hat sie sich konstituiert? Warum legt immer noch das ist seine Form all diesen Fragen auf ? Was hat es mit der Beziehung zwischen der Wahrheit, dem Sinn (von Sein) und der dritten Person Singular im Indikativ Präsens des Verbs ,sein‘ auf sich? Was heißt übrigbleiben oder nicht übrigbleiben? Was bleibt übrig in einem Supplement der Kopula?“ 38 Jacques Derrida: Glas, Paris 1974, 8. Deutsche Übersetzung v. Hans-Dieter Gondek: Jacques Derrida: Glas, München 2006, 6: „unsagbar, oder beinahe: nicht durch empirische Annäherung, sondern äußerstenfalls ununterscheidbar“. 39 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik, TWA 6, 24: „Das Werden im Wesen, seine reflektierende Bewegung, ist daher die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück.“ 40 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42. Paulus-Nachschrift, hg. und eingeleitet v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1993, 147.

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gativen beziehungsweise der Vernunftimmanenz. Daher hebt Schelling auch den Anfang der positiven Philosophie als das unvordenkliche Sein hervor: das Regellose, das frei von Relation ist. Folglich überrascht es nicht, dass Derrida – indem er sich auf Schelling beruft – die Notwendigkeit der Vermittlung zwischen dem Empirismus und der Metaphysik betont. Dies liegt auch nahe, zumal da die Vernunftimmanenz einzig und allein durch die Erfahrung überschritten wird, wie Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung erklärt: „Die positive Philosophie ist apriorischer Empirismus. Die Erfahrung, der sie zugeht, ist die gesamte Erfahrung. Die positive Erfahrung ist nichts weiter als der stets fortgehende, stets erwachsende Beweis; so wie die Wirklichkeit nie geschlossen ist, so auch der Beweis nicht. Diese ganze Philosophie (und darum philosophia, weil sie ein Streben nach Weisheit), ist eine immer nur fortgehende Erkenntnis, und nur für die Fortdenkenwollenden ein Beweis.“41

Der Empirismus, den Schelling hier denkt, ist nichts anderes als die Radikalisierung jeder Form von Äußerlichkeit, von all dem, was wir nicht kennen, was uns nicht bekannt ist, ja was wir selbst in letzter Instanz nicht sind. Die positive Erfahrung, von der Schelling hier spricht und die sich wesentlich von der negativen unterscheidet, beschreibt die Erfahrung eines Außen oder unendlichen Anderen, und ist darum selbst Metaphysik oder Philosophie, im wahren Sinne des Wortes: Philosophie also, die sich und ihrem Namen treu bleibt, indem sie sich eben nicht zur Sophia erhebt, sondern lediglich als reines Streben, ja als eine unendliche Sehnsucht der Endlichkeit nach Weisheit gibt. Doch dieser Empirismus, der uns stets in Bereiche führt, die uns fremd sind, uns mit Gedanken in Berührung bringt, die wir noch nicht gedacht haben, für die uns die Möglichkeit einer Begründung oder Rechtfertigung fehlt, ist zugleich immer schon Non-Philosophie,42 Nicht-Philosophie, wie Derrida hier hervorhebt. Wenn wir philosophieren, befinden wir uns auch immer schon außerhalb der Philosophie, im Bereich des Nicht-Philosophischen, das heißt wir sind weder außerhalb noch innerhalb der Philosophie und somit notorische Grenzgänger. Wir sind Grenzgänger, weil wir uns zwischen zwei Formen des Denkens bewegen. So unterscheidet Derrida hier zwischen einem Denken, das er als „griechischen Logos als Ganzen“ („le logos grec“) beschreibt, zu dem selbstverständlich auch Hegel gehört, und einem Denken, das „Erfahrung des unendlich Anderen“ („cette exp8rience de l’infiniment autre“) oder „Judaismus“ („juda"sme“) ist.43 Diese Unterscheidung beruht auf Levinas Idee einer Bewegung ohne Wiederkehr, die Levinas wie nun folgt, erklärt: 41 F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung (Paulus-Nachschrift), 147. 42 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 226. Deutsche Übersetzung, 232. 43 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 226. Deutsche Übersetzung, 233.

Jacques Derrida im Ausgang von Schellings Denken

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„Von Aristoteles bis Leibniz über die Scholastiker ist der Gott der Philosophen ein der Vernunft entsprechender Gott, ein verstandener Gott, der die Autonomie des Bewusstseins nicht zu trüben vermöchte; durch alle Abenteuer hindurch findet sich das Bewusstsein als es selbst wieder, es kehrt zu sich zurück wie Odysseus, der bei allen seinen Fahrten nur auf seine Geburtsinsel zugeht. […] Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verlässt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.“44

Mit Levinas denkt Derrida die Frage nach dem Ursprung als „eine Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt.“45 Odysseus kehrt also nicht nach Hause! Dieser abrahamitische Aufbruch in die Ferne, ohne die Möglichkeit einer Wiederkehr, ist ein Gang in das noch unbekannte Nichts, in ein Ungewisses, ja ins Offene. Und gerade diese Offenheit garantiert uns, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, dass die Dinge niemals vollständig zum Abschluss kommen. Genau darin – in der Offenheit des Daseins – gründet unsere Freiheit, und das heißt: die Freiheit des Denkens, die Möglichkeit des immer schon Anders-Denken-Könnens: wer etwas denkt oder tut, kann dies immer schon – toujours d8j/ – anders denken oder anders tun. Diese Offenheit bildet für Derrida die unausgesprochene, doch eingeschriebene Bedingung dafür, sich mit der Endlichkeit zurechtzufinden, sie nicht als Abgeschlossenes oder Zu-EndeGebrachtes verstehen zu müssen. Daher ist für Derrida, wie auch für Schelling,46 jeder Anfang lediglich ein Anfang und jedes Ende immer nur ein Ende. Doch Derrida weiß natürlich – vielleicht im Gegensatz zu Levinas –, dass die abrahamitische Bewegung ohne Wiederkehr – der Judaismus – ohne den in sich geschlossenen Kreis des griechischen Logos nicht zu denken ist; ferner dass ein Hegel ohne einen Schelling nicht möglich wäre. Man muss die alten und gegenwärtigen Schriften gelesen haben, um sie zurückweisen zu können; ja man muss das vergangene und vorhandene Denken erfahren haben, um überhaupt einen neuen Gedanken entwickeln zu können. Doch zugleich – und darauf legt Derrida großen Wert – ist es dieses Neue, das das Vergangene zum Vergangenen macht, ja der Antihegelianismus, der den Hegelianismus zu seiner eigentlichen Existenz führt. Was also denken wir? Wer aber sind wir? „Sommes-nous des Grecs? Sommes-nous des Juifs? Mais qui, nous? Sommes-nous d’abord des Juifs

44 Emmanuel L8vinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Soziaphilosophie, übersetzt, hg. und eingeleitet v. Wolfang Nikolaus Krewani, Freiburg 2007, 211 und 215f. 45 E. L8vinas, Die Spur des Anderen, 215f. 46 Zu Schellings Sehnsuchtsstruktur vgl. hier insbesondere: Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, 143.

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Cem Kömürcü

ou d’abord des Grecs?“47 Wir können es nicht wissen. Doch was wir Derrida zufolge wissen können ist, dass wir „im Unterschied [des] Jüdischen und Griechischen [leben], der vielleicht die Einheit dessen ist, was man Geschichte nennt. Wir leben in und aus der Differenz“ – in der „Hypokrisie“, wie Derrida schreibt: „Sommes-nous des Juifs? Sommes-nous des Grecs? Nous vivons dans la diff8rence entre le Juif et le Grec, qui est peut-Þtre l’unit8 de ce qu’on appelle l’histoire. Nous vivons dans et de la diff8rence, c’est-/-dire dans l’hypocrisie“.48

Diese Hypokrisie, die wir in alltäglichen Situationen als Heuchelei, ja als Tartüfferie / la MoliHre wahrnehmen, ist nichts anderes als ein permanenter Rollentausch – eine konstante Verstellung. Was genau getauscht oder verstellt wird, sind zwei Formen des Denkens, ja zwei Weisen des Seins – diese Hypokrisie ist, so Derrida, „l’accouplement historique du juda"sme et de l’hellenisme“.49 Und genau an diesem Punkt nimmt Derrida erneut Bezug auf den für ihn wohl unumgänglichen Autor, Hegel, den er so sehr schätzt, dass er ihn radikal ablehnt. Doch Derridas Bezugnahme auf Hegel – dessen Ausführungen zur Identität, Differenz und zum Ganzen er stets mit sich führt – vollzieht sich wie so oft in der Andersheit. Diese Andersheit zeigt sich für Derrida – dieses Mal in der Dichtung – in dem Werk desjenigen Literaten, der dem Denken Hegels wohl am nächsten steht: James Joyce. Das Werk, auf das Derrida sich bezieht, ist Ulysses. Der entscheidende Satz, der es Derrida darin angetan hat, lautet: Judengriechisch ist griechenjüdisch. Gegensätze berühren einander.“50 (,jewgreek is greekjew. Extremes meet.‘) Und in diesem Satz ist es erneut die Copula, die Derrida am meisten beschäftigt: „Quelle est la l8gitimit8, quel est le sens de la copule dans cette proposition du plus hegelien, peut-Þtre des romanciers modernes […] ?“51 Erinnern uns diese Fragen nicht gerade an Schellings Erörterung des allgemeinen Missverständnisses des Identitätsurteils, der Ur-Teilung, in der Freiheitschrift und in den Weltalter-Fragmenten, dessen „Grund“, wie Schelling schreibt, im „Sinn […] der Copula im Urteil [liegt]“?52 Was ist also der Sinn des Satzes „Judengriechisch ist griechenjüdisch“? Ein solcher Satz könnte für 47 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 227. Deutsche Übersetzung, 234: „Sind wir Juden? Sind wird Griechen? […] Sind wir […] zunächst Juden oder zunächst Griechen?“ 48 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 227. Deutsche Übersetzung, 234. 49 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 228 Deutsche Übersetzung, 235: „die geschichtliche Paarung des Judaismus und Hellenismus“. 50 James Joyce: Ulysses, Bd. II, München 1969, 544. 51 J. Derrida: Violence et m8taphysique, 228. Deutsche Übersetzung, 235: „Welche ist die Berechtigung […]?“, fragt Derrida, ja „ […] welches ist der Sinn der Kopula in diesem Satz […]?“ 52 F.W.J. Schelling: Freiheitsschrift, SW VII, 342.

Jacques Derrida im Ausgang von Schellings Denken

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Schelling unmöglich den Sinn haben, dass das „Judengriechisch“ Eins, ja völlig gleich sei mit dem „Griechenjüdisch“. Vielmehr bedeutet ein solcher Satz, dass es etwas gibt, was auch immer dieses Etwas sein mag, das einerseits „judengriechisch“, anderseits wiederum „griechenjüdisch“ ist. Zwar schreiben wir der Kopula einen verbindenden, ja zusammenführenden Charakter zu, doch ihre eigentliche Funktion ist die Teilung. Sie teilt sich, indem sie sich verdoppelt – ein Zweifaches wird. Doch dieses Zweifache ist niemals zugleich, sondern vielmehr in gleicher Weise: mal das Eine, ein anderes Mal das Andere. Darum handelt es sich hierbei um einen Unterschied, der im eigentlichen Sinne keiner ist. Und dies ist eben nichts anderes als diff8rance, eine Art Unterscheidung, die nicht unterscheidet, sondern vielmehr aufschiebt und verschiebt; Schelling würde in diesem Zusammenhang von der Indifferenz sprechen, die sicherlich keine blinde Egalität bedeutet. Mit Indifferenz ist die Tatsache gemeint, dass etwas sich immer schon, wie Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen schreibt, in der Differenz befindet.53 Der Versuch, diese Lücke der Differenz zu schließen, scheitert daher aus Prinzip: eine Art Ganzes erschließt sich leider nicht. Vielmehr hinterlassen diese Versuche, wie wir wissen, Spuren, über die der Dichter unserer Zeit, der sicherlich in der Tradition der Philosophen Schelling und Derrida steht, schreibt: „Unsere Spuren – wären Sie aufgezeichnet: was für ein Bild würden sie wohl geben? – Gern hätte ich es gesehen. Ja, gern würde ich es sehen.“54

53 F.W.J. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 424: „Nun kann aber alles nur in seinem Gegenteil offenbar werden, also Identität in Nicht-Identität, in Differenz, in Unterscheidbarkeit der Prinzipien. […] Man hat diesen Übergang von Identität zu Differenz sehr oft als ein Aufheben der Identität angesehen; dies ist aber gar nicht der Fall, wie ich gleich zeigen werde. Es ist vielmehr nur eine Doublierung des Wesens, also eine Steigerung der Einheit.“ 54 Peter Handke: Spuren der Verirrten, Frankfurt/M. 2006, 87.

Stefan Bird-Pollan

McDowell’s Two Readings of Kant

McDowell’s Kantianism It is fair, I think, to say that McDowell has an ambivalent relation to Kant. On the one hand, he frames both Mind and World and the Woodbridge Lectures in Kantian terms, arguing that Kant makes possible the correct understanding of the mind-world relation. At the same time, his work is also strongly critical of the Kant that is prevalent in the contemporary debates, especially of Kant’s transcendental account. McDowell understands his own project as moving toward a Hegelian turn, a turn which seeks to reestablish a more fully symmetrical relation between mind and world. McDowell has been criticized by both Kantians and Hegelians for being insufficiently Kantian or insufficiently Hegelian. While most criticisms of McDowell have come from those who reject his analysis of Kant as insufficiently Kantian, some, like Robert Pippin, have argued that McDowell is still too Kantian. McDowell has done quite a bit to clarify his position in various responses and especially, to my mind, in his debate with Pippin. The problem with McDowell’s response to critics on both the Hegelian side and the Kantian side seem to me to be that McDowell has engaged with these critiques at the wrong level, that is, the epistemological framework within which the debate is couched has obscured the ways in which McDowell is and is not a Kantian or a Hegelian.1

1 That there is significant confusion with regard to McDowell’s project is made evident, for instance, in Zöller’s critique of what he sees as McDowell’s focus on epistemology. Günter Zöller : Of empty thoughts and blind intuitions Kant’s answer to McDowell, in: Trans/Form/ Ażo 33, Vol. 1, Mari&la 2010, 65–96. Williams, on the other hand, seems unwilling to allow McDowell to retreat from the question of epistemology. See Michael Williams: Exorcism and Enchantment, in: The Philosophical Quarterly 46, No. 182, Januar 1996, 99–109. Pippin continually seeks to draw McDowell back into questions of epistemology when he writes, for

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Stefan Bird-Pollan

In this paper I propose to look at McDowell’s two readings of Kant. I briefly examine his critique of Kant’s epistemological project in the first Critique with regard to the vexing relation between sensibility and intuition. McDowell clearly thinks that Kant is wrong to separate experience into appearance and things in themselves. McDowell’s proposal to employ the Kantian notion of spontaneity and receptivity in order to resolve the tension between mind and world constitutes his second reading of Kant. I argue, that it is only in this second account’s diagnostic project that McDowell’s true Kantianism comes to the fore, namely as an analysis of human finitude. I elaborate the notion of human finitude through the two concepts of immanence and dynamism which I find equally present in McDowell and in Kant’s account of the relation between practical reason and the understanding or between action and knowledge. Situating McDowell’s project in this Kantian will make it possible to see why McDowell is not more eager to abandon Kant for Hegel, something which it is McDowell’s own stated ambition to do. Or, to put it differently, why McDowell’s Hegelianism must rely on Kant. In part I of this paper I’ll give a brief outline of McDowell’s Kant critique and outline his solution. McDowell’s solution to the problem he sees in Kant’s transcendental story through the introduction of second nature allows me to introduce the two concepts of immanence and dynamism. Part II will discuss the relation between what I take to be the two sides of McDowell’s account, the theoretical and the diagnostic. I argue that the diagnostic account is also based on the two concepts of immanence and dynamism in the sense that the anxiety that results from the unstable, that is immanent and dynamic relation between mind and world, can partially be allayed by recognizing the fact that our relation between mind and world is just unstable in essentially this way. I call this insight which McDowell’s thesis of the partial reenchantment of nature is the recognition of, finitude. In part III I propose a third reading of Kant, my own, to the effect that the central relation between mind and world operative in Kant is that between practical reason and speculative reason. This relation is conceived by Kant as immanent and dynamic and is based on the thought that mind’s relation to nature is unstable in just the way McDowell diagnoses it.

instance, in Robert Pippin: Postscript: On McDowell’s Response to “Leaving Nature Behind”, in: The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005.

McDowell’s Two Readings of Kant

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Part I: The Problem and the Solution: McDowell on Kant In this section I look at McDowell’s first reading of Kant, his Kantkritik, in order to show that McDowell is concerned to move our understanding of Kant away from the concerns of epistemology and hence skepticism toward a more fundamental account of the relation between mind and world as dynamic and immanent. Hegel and McDowell have both charged Kant with imposing a transcendental story about things in themselves where there ought to be simply talk of the tension between mind and world. In order to take stock of the sort of response that is needed to parry this criticism and to prepare for McDowell’s own second reading of Kant, it is worth looking at the contents of this critique in a little detail. While Hegel accuses Kant of having too limited a notion of the idea of reason, McDowell faults Kant for introducing a transcendental story about the thing in itself where none is needed, effectively creating a more extended notion of reason than is needed. These two criticisms come to the same in the sense that they both accuse Kant of failing to conceptualize the relation between subject and nature as fully reciprocal or symmetrical. However, both criticisms ultimately also open up a perspective which allows us to see Kant’s project in a favorable light in the sense that both criticisms invite a reading of Kant which emphasizes the dynamic relation between reason and nature, as expressed in Hegel’s dialectic and McDowell’s concept of second nature. Moreover, as I’ll suggest below, both criticisms are ultimately concerned to move Kant away form a narrow understanding of the empirical and toward a unified conception of reason’s relation to nature. This latter suggestion will be of particular importance for the last part of this paper. Let us now briefly look at McDowell’s critique of Kant which McDowell conceives of as pushing Kant in the direction of Hegelian absolute idealism glossed as the rejection of “the idea that the conceptual realm has an outer boundary” given by the empirical.2 McDowell, like Hegel, accuses Kant of rejecting his own best insight into the necessary relation between mind and world by interposing a transcendental story about the necessary separation between appearances and things in themselves. McDowell writes: “In the transcendental perspective, receptivity figures as a susceptibility to the impact of a supersensible reality, a reality that is supposed to be independent of our conceptual activity in a stronger sense than any that fits the ordinary empirical world.”3 That is, Kant has insufficient trust in the authority of mind to make sense of ordinary

2 John McDowell: Mind and World, Cambridge/Mass. 1996, 44. 3 J. McDowell: Mind and World, 41.

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experience. This lack of faith leads Kant to backstop the outer bounds of experience by an independent force under which reason is subsumed. Read against the background of Kant’s Transcendental Analytic, McDowell’s critique is that Kant transcendental story about things in themselves, which provide the transcendental anchor to appearances, effectively splits the authority of reason into two, leaving reason, which does not have the authority to make determinate judgments and trucks only in ideas, subservient to the results of the understanding’s applications of concepts to intuitions. For McDowell, this critique of Kant is a critique of the more general tendency of modern philosophy to embrace the myth of the given. To fall into the myth of the given is to think that the space of reason, that which allows us to justify the use of concepts, extends more widely than the space of concepts itself, hence is able to furnish a justification for our use of concepts by providing a determinate point which can guarantee that our concept use is justified. The problem with this picture is that the justification for the application of concepts to nature thereby itself becomes internal to the space of reason, and hence cannot function as an outer boundary, warrant or point of friction, for thought to be limited by. Seeing this point, as Davidson did, forces us to embrace the idea that reason is sui generis, but only as a coherentism which makes no contact with nature. The key point for McDowell is that in both the empiricist picture and the coherentist picture there is a dualism at work which separates mind from world, either unintentionally as in empiricism or fully intentionally, as in coherentism. For McDowell, Kant’s descent into the myth of the given is due to his lack of a dynamic conception of the relation between reason and nature, one in which the space of nature and the space of reason can be understood as coextensive rather than of different scopes. McDowell writes: “Since he [Kant] does not contemplate a naturalism of second nature, and since bald naturalism has no appeal for him, he cannot find a place in nature for this required real connection between concepts and intuitions. And in this predicament, he can find no option but to place the connection outside nature, in the transcendental framework.”4

In other words, lacking a dynamic conception of the relation between mind and world, Kant is forced to place the true connection between mind and world in the realm of things in themselves, a realm which functions as the backstop to our empirical judgments not in an empirical sense but in the sense that at least our concepts are legitimate, even if our applications of them are not always so. McDowell’s point then is that if we can get to a dynamic understanding of the relation between mind and nature, we can account for the relation between mind

4 J. McDowell: Mind and World, 98.

McDowell’s Two Readings of Kant

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and world as itself sufficient to trust our experiences in the way we already do in a common sense conception of experience.

Part II: McDowell’s Solution: Dynamism and Immanence McDowell’s proposal for the problem of the traditional dualism found in modern western philosophy from Kant to Davidson and Quine is a dynamic picture in which mind and world constitute each other through a dialectic of second nature. In this part I sketch McDowell’s response to the dualism of mind and world as idea that receptivity and spontaneity are to be thought as the two elements in the very same dynamic function of mind. While this idea of a dynamic second nature has received significant attention in recent debates, I will pay attention to the other element needed for his proposed resolution to the problem, namely the immanent standpoint which is articulated only sparsely by McDowell. In the final part of this section I argue that the immanent perspective implied by the dynamic is of deep significance not only to McDowell’s theoretical account but also to his idea that philosophy requires an exorcism of the problem of dualism rather than a solution to the problem.

(1)

McDowell’s Proposal: the Second Reading of Kant

In its most basic form, McDowell’s resolution of the dualism between mind and world is simply to say, in an alternate reading of Kant, that mind and world cannot be thought without each other in the sense that the function of each is fully drawn on in experience. Mind and world are two sides of the same coin. McDowell writes: “The original Kantian thought was that empirical knowledge results from a co-operation between receptivity and spontaneity. (Here ‘spontaneity’ can be simply a label for the involvement of conceptual capacities.) We can dismount from the seesaw [between empiricism and coherentism] if we can achieve a firm grip on this thought: receptivity does not make an even notionally separable contribution to the co-operation. The relevant conceptual capacities are drawn on in receptivity. (It is important that that is not the only context in which they are operative.)”5

The point McDowell insists on here is that neither mind nor world inhabit a separate sphere from the other in the sense that mind could be understood to be the exploration of world or world could be understood to be the limit of mind. 5 J. McDowell: Mind and World, 9.

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McDowell thus proposes a dynamic monism in the Hegelian sense in which, as I’ve quotes McDowell as saying, there is no “outer boundary” to the conceptual. It is important to appreciate that McDowell’s claim is a transcendental claim, that is, there cannot be a sense in which world exceeds mind nor is there a way in which mind can exceed world for in both of those cases the relation between the two would break down since it would involve an overstepping of the justificatory capacity of the one with regard to the other. This will be central to the concept of immanence. At the same time, however, and this is the point I’d like to stress, the transcendental claim has an ordinary empirical sense in which mind and world appear to be contingently related in the simple sense that I find myself here experiencing a certain color or picture or what have you. But the transcendental point McDowell insists on is that ordinary experience is possible only because of the transcendental conditions in the sense that Kant too claims that transcendental idealism guarantees empirical realism. Transcendental idealism and empirical realism imply each other from the inside out, as it were, in the sense that transcendental idealism is the explanation (not the justification) for my capacity to have the experiences which I happen to have. Transcendental idealism, however, tethered to empirical realism or simply experience, says nothing about what my experiences can or cannot be. McDowell’s point can then be taken to express the thought that empirical realism is only possible if we construe transcendental idealism in dynamic and immanent terms, that is, in terms bearing the exact same structure as ordinary empirical experience. This is what Kant failed to see and what Hegel did see. I’d now like to explicate these two terms a little more throughlyespecially as they are related to what I’d like to show is McDowell’s diagnostic project.

(2)

Dynamism and Immanence

What I’ve sketched as McDowell’s resolution to the dualism of mind and world depends on two elements, the dynamic relation between the two and the thought that we are already in world in the most radical sense of being in medias res of our experience. I shall call this latter point the immanent perspective, the thought that we have an immanent relation to experience. World does not in any way stand above and beyond us – we are already world. The connection between the immanent and the dynamic perspective is put thus by McDowell: “If we restrict ourselves to the standpoint of experience itself, what we find in Kant is precisely the picture I have been recommending: a picture in which reality is not located outside a boundary that encloses the conceptual sphere. […] The fact that

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experience involves receptivity ensures the required constraint from outside thinking and judging. But since the deliverances of receptivity already draw on capacities that belong to spontaneity, we can coherently suppose that the constraint is rational; that is how the picture avoids the pitfall of the Given.”6

McDowell here starts from the immanent perspective, the perspective of being already in the midst of experience. The point is that we can credit experience with authority because we are already experiencing nature from the get-go. That is, for McDowell, it is the skeptic who must tell us why we shouldn’t believe in ordinary experience and not the ordinary subject of experience who has to prove to the skeptic that experience is possible. This immanent perspective, however, requires a dynamic perspective in order to make sense of the thought that nature continues to reveal itself to us in new ways, or, to put it more exactly in McDowell’s terms, that our conceptual scheme appears to continue to change. It is presumably the idea that the world for us keeps changing that allows skepticism gets a grip on us. And while it is indeed true that our world continues to change, skepticism is wrong to suppose that this change is the result of a gap between mind and nature which might or might not be closed. Change, McDowell argues, is internal to the unity of the space of reason and the space of reason itself. This change in the conceptual realm is understood by McDowell according to the idea of second nature, that is, the idea that nature is made sense of, conceptualized, in a way which maintains the basic function of mind as being receptive. The central point here, however, is that the dynamic concept giving aspect of mind cannot in any way move beyond the immanent experience of the way we already stand in nature, hence cannot give a priori answers to empirical questions.

(3)

McDowell’s diagnosis

In what follows I claim that the notion of immanence is a more important concept for McDowell than is generally recognized since it not only does important work in McDowell’s theoretical project, but is also central to McDowell’s argument that modern philosophy requires a cure rather than a solution. Let me put the point by taking up once again the perspective McDowell is concerned to move us away from, characterized throughout Mind and World as the sideways-on view or the view from outside nature. To put it simply, McDowell’s claim is that the sideways-on view, which both coherentism and empiricism take up, is not a position available to humans. This is because, as we’ve seen, 6 J. McDowell: Mind and World, 41.

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the sideways-on view would be a view which can tell us a priori, that is, from outside, the perspective of our involvement in experience, that a certain judgment is true or false. In doing so, the sideways-on view would have to see things as they truly are, that is, as they are independently of our experience of them. The point of McDowell’s argument against both coherentism and empiricism, however, has been to show that since it cannot be that the space of nature is more extensive than the space of reason, our concept use cannot be secured or justified by such an external constraint from outside the world. This picture must be contrasted with what I’ve been calling the immanent view, a view which McDowell sometimes characterizes as the head-on view, the view from within experience in which, since the realm of nature and the realm of reason are coextensive, appearance and reality are one. From the head on view, it makes no sense to ask about the difference between appearance and reality because there is only the one perspective. For McDowell, seeing the theoretical force of the argument he has been making also involves a shift in our conception of ourselves as experiencers. This shift moves us from thinking that we can justify our concept with reference to an independent reality, to a perspective in which our concept use ceases to be justifiable but remains authoritative for us nonetheless. Justification ceases to be possible because it would require a sideways-on view in which both what is in experience and what is outside of experience could be measured against each other and what is outside could function as a standard of experience. With this possibility off the table, all we have is just the force with which experience imposes itself on us. McDowell characterizes this new perspective as therapeutic: “I have tried to make it plausible that the anxieties I aim to exorcize issue from the no doubt only inchoate – that the structure of the logical space of reasons is sui generis, as compared with the logical framework in which natural-scientific understanding is achieved.”7 Further : “We can disown an obligation to try to answer the characteristic questions of modern philosophy, without needing to deny, as bald naturalism does, that a real insight is operative in seeming to be faced with that obligation.”8 The exorcism McDowell proposes is supposed to acknowledge the force of our modern anxiety about the nature of experience, while freeing us from the thought that we need a solution to the problem which would do away with our anxiety by revealing to us that there is, in fact, a stable natural order which exists independently of our concept use, as bald naturalism claims. McDowell thus proposes that we learn to live with our anxieties, that is, with the instability of the 7 J. McDowell: Mind and World, XXII. 8 J. McDowell: Mind and World, XXIII.

McDowell’s Two Readings of Kant

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relation between mind and world which stems from the immanent and dynamic position of mind in nature.

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Immanence, Anxiety and Re-enchantment

The thought that our modern anxiety about experience is intelligible without requiring the sort of answer proposed by bald naturalism deepens the significance of what I have been calling the immanent perspective. In what follows, I show that the ideas of immanence and anxiety are intertwined in a central way in McDowell’s work. That is, the philosophical analysis of the structure of experience has an analogue in the therapeutic perspective advocated by McDowell. The immanent perspective, as I’ve already said, is the perspective from within experience. It is the perspective then, from within a unified and continuing receptivity to and a spontaneous judgment on nature. This perspective is one of continued development or continued dynamic refiguration of one’s conceptual scheme. Anxiety is simply the expression of the fact of the difference between what we think we know and the challenge to this knowledge (both theoretical and practical) that we are exposed to at every term. Anxiety is also the expression of the desire to overcome or bring and end to this tension. What McDowell is advocating, then, is for us to take up what I’d like to call the meta-perspective of reflection in which we recognize that the continued replacement of one part of our conceptual scheme with another in a Neurathian way simply is the structure of the mind-world relation. There is nothing to be done about it except to remain vigilant that the “relevant conceptual capacities [that] are drawn on in receptivity” are not reified and hence placed beyond receptivity.9 McDowell’s analysis of anxiety can also help us understand a point which has been widely misunderstood, the claim that the view he offers constitutes a partial re-enchantment of nature through the concept of second nature. The point can be put using the two terms I have been working with: immanence and dynamism. If immanence, the idea that we live in the midst of a constantly changing world, is what generates anxiety, then the thought that the activity second nature which stabilizes our conceptual scheme can be seen to constitute a partial re-enchantment of nature. That is, if the perceived lack of stability with regard to our position in the world generates anxiety, then the experience of successfully garnering stability in 9 J. McDowell: Mind and World, 9. For a development of this thought in another register, see my Working Through the Negative; Adorno’s Reading of Hegel, in: Creolizing Hegel, ed. by Michael Monahan, Lanham, MD 2017 (in press).

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that world can be construed as re-enchantment of nature. Re-enchantment of nature is the positive correlate to the negative thought that we are condemned to a lack of fit, in experience, between reason and nature. Re-enchantment and anxiety are thus meta-attitudes about our concrete position in nature. And just as it is possible to diagnose anxiety without seeking to overcome it completely, so too enchanting nature, that is, seeking meaning in nature, is possible without thinking that complete intelligibility of nature could be achieved.

Conclusion of Part II In this part of the paper I’ve argued that two terms immanence and dynamism are centrally involved in the theoretical solution offered by McDowell to the problem of the dualism between mind and nature are also centrally operative in the diagnostic part of McDowell’s project. The diagnostic project consists in exorcizing the thought that the worry about the relation between mind and world, as generated by the scientific revolution, requires an answer which would do away with the ground of that question itself. Instead McDowell suggests we find our way to a moderate anxiety which I associated with the idea of the constant flux of experience. I argued that the positive side of McDowell’s recommendation comes in the thought that our ability to imbue the world with meaning constitutes a partial re-enchantment of reason. It only constitutes a partial re-enchantment, however, because we must recognize that the problems raised by the scientific revolution are real ones, just ones to be situated at the empirical level rather than at the transcendental level.

Part III: The Finitude of the Subject between Mind and Nature In this concluding part of the paper I argue that the two elements of dynamism and immanence which I’ve proposed are operative in McDowell’s theory of the subject are themselves versions of what I’d like to call a theory of finitude. I further argue that the conception of finitude at work in McDowell’s thinking is analogous to the basic relation between practical and theoretical reason as operative in Kant. Finally, I briefly contrast the Kantian theory of finitude with Hegel’s absolute idealism and claim that McDowell has good reason to be hesitant about abandoning Kant.

McDowell’s Two Readings of Kant

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Finitude and the relation of human toward reason

I now suggest that the two elements basic to McDowell’s picture, dynamism and immanence, are the expression of human finitude. I mean this in the simple sense that immanence, the human subject’s (passively) finding itself within a certain context, is a limitation that it can only overcome by making itself other than it is, by giving itself (actively) a new position. That new position, however, turns again into an immanent position as soon as it is achieved and the whole process start anew. What I am thus identifying with finitude is the ineluctability of being caught up in this process of self-overcoming. Finitude is then fundamentally understood as the thought that there is structurally no hope of achieving a final reconciliation between mind and nature and that the anxiety and partial re-enchantment of nature themselves expressions of the suffering and successes of experience itself. What I mean finitude to indicate here then, is that humans are structurally unable to overcome their condition as being condemned to immanence and simultaneously the selfovercoming of that immanence.

(2)

Kant Contrasted with Hegel with Regard to Finitude

In order to get a little clearer about the idea of finitude I’ve suggested lies at the heart of McDowell’s diagnosis, it is worth contrasting the idea of finitude – an idea I will in the next section identify as Kantian – with Hegel’s project of achieving Absolute Knowledge. In this brief contrast I will not be concerned to say anything about whether Hegel achieves what he appears to be looking for but rather concentrate on getting at a possible contrast between the perspectives on experience offered by Hegel and Kant, that is, to show Hegel as having at least the aspiration to reject finitude as I have sketched it above. Hegel writes, in the final chapter of the greater Logic, that: “the absolute idea itself has only this for its content, namely that the form determination is its own completed totality, the pure content. Now the determinateness of the idea and the entire course traversed by this determinateness has constituted the subject matter of the science of logic, and out of this course the absolute idea has come forth for itself; thus to be for itself, however, has shown itself to amount to this, namely that determinateness does not have the shape of a content, but that it is simply as form, and that accordingly the idea is the absolutely universal idea. What is left to be considered here, therefore, is thus not a content as such, but the universal character of its form – that is, method.”10 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: The Science of Logic, transl. by George di Giovanni, Cam-

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Stefan Bird-Pollan

Whatever else Hegel seems to be expressing in these two sentences, he certainly appears to be saying that it is the business of the Logic to have, by traversing all of its determinations, overcome the division between content and form and to have unified these in the “absolutely universal idea”. That universal idea, then, must in some sense be the reconciliation between form and content in such a way that the tension between form and content, spontaneity and receptivity, is resolved. Hegel’s thinking of the absolute idea is then a rejection of the perspective of finitude as I have developed it in McDowell.

(3)

Kant’s conception of Finitude: the relation between practical reason and the understanding

In this section I’d like to suggest why McDowell’s position, as construed through the perspective of finitude, is ultimately closer to Kant than to Hegel. In order to move McDowell back toward Kant I will first suggest that Kant’s thinking is primarily concerned with the relation between knowledge and action, that is, between the understanding and practical reason and that this relation constitutes the primary locus of what can be understood as finitude in Kant. Focusing on this element in Kant allows me to claim that Kant, like McDowell, is primarily concerned with a thinking of human finitude rather than with a Hegel’s absolute idealism which seeks to overcome finitude. (a)

Kant’s Account of Reason

If we approach Kant from the perspective of reason rather than from the perspective of sensibility, that is, in the opposite order of the way Kant presents his thinking in the first Critique, we can gain valuable insight into his thinking from the top down, from the perspective of reason. This perspective is of particular significance here since McDowell’s own picture is one which concerns the workings of reason per se on nature per se, rather than as mediated by the faculties of the understanding and sensibility. Thus, looking at Kant from the standpoint of reason corresponds roughly to the perspective from McDowell himself is working. The first thing to point out here is that Kant conceives of reason as unified not just in its aspirations, i. e. to furnish a unified conception of all there is, but also in its origin in one mental power. This point is expressed in Kant’s claim that bridge 2010, 736 (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke, ed. by Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968ff., Bd. 12, 237).

McDowell’s Two Readings of Kant

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“reason’s cognition can be referred to the object of that cognition in two ways: either in order merely to determine the object and its concept (which must be supplied from elsewhere), or in order to make it actual as well. The first is reason’s theoretical, the second its practical cognition.”11

Given both the immanent and the dynamic conception of reason which I have argued for, we must understand reason in its generic sense as the activity of making sense of its nature. We have also seen just now, however, that Kant conceives of reason’s generic sense-making activity as coming in two forms. I’d like now to suggest that these two form of cognition, of reason’s activity, are essentially parallel to the immanent and dynamic perspectives I’ve been developing in McDowell’s account. Given McDowell’s general Kantian orientation, this should not be that much of a stretch. It is fair to say, I think, that Kant conceives of knowledge as coming to us in a way that we cannot choose, that is, as reaching us there where we are, in the middle of things. Knowledge, or at least that which is turned into knowledge by the operation of our spontaneity on our receptivity, constitutes us immanently or receptively. Action, on the other hand, constitutes the basic response to our immanence through the operation of practical reason which transforms the way the world is to us into the way we would like the world to be or spontaneously. (Not all at once, of course.) (b)

Kant’s account of the Subject

This view can be deepened by looking at Kant’s view of human subjectivity as expressed in the dual function of receptivity and spontaneity. Taking spontaneity as practical reason and receptivity as knowledge, we can see that Kant conceives the subject most fundamentally as an interplay between these two uses of reason, unified as they are at the generic level. A clue to Kant’s conception of human nature is given by his differentiation between human nature and what, presumably, might be the nature of god: “An understanding wherein through self-consciousness alone everything manifold would at the same time be given would be an understanding that intuits. Our understanding can only think, and must seek intuition in the senses.”12 God’s relation to nature here conceived is immediate and transcendent at once, hence not simply receptive but also as spontaneous. Form and content, as in Hegel’s absolute idea, are here conceived as one. For god, we can say, there is no anxiety. Humans, by contrast, simply receive what is given them by the senses and 11 Immanuel Kant: Critique of Pure Reason, transl. by Werner S. Pluhar, Indianapolis 1996, B IXf. 12 I. Kant: Critique of Pure Reason, B 135.

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Stefan Bird-Pollan

must think, that is, conceptualize what is received. For humans, then receptivity and spontaneity are different capacities while for god they are one. This differentiation suggests that, for Kant, conceives human subjectivity as the sorts of perspective which is constituted by the fact of the difference between knowing and acting. The difference between knowledge and action is thus our most fundamental constitution. We are the way we are, in other words, because we are part nature part god, as Kant puts it in a typical formulation from the Opus Postumum: “God, the world, and that which thinks both in real relation to each other : the subject as rational world-being”.13 Let me elaborate this a little more by focusing on Kant’s conception of the duality of human nature. Kant typically casts human subjectivity as divided in some way between the two realms of morality and nature, between the noumenal and the phenomenal, between freedom and causality or, to use Sellar’s and McDowell’s terms, between the space of reason and the space of nature. This dichotomy is typically adduced to show that Kant is a dualist of some sort. The picture I’m trying to get on the table, however, through the idea of immanence and dynamism, is a picture of another sort, one in which the human subject is not divided into two already existing realms but rather one in which the human subject just is the fact of being in an immanent and dynamic relation to nature. In a certain sense, and this is my point, for Kant the explanation of subjectivity stops here. Subjectivity is conceptualized as immanent and dynamic because it is related to nature in the way of immanence and dynamism. So we are back to McDowell’s point, admittedly phrased differently, that the space of reason is coextensive with the space of nature which is, to put it one more way, the same thought as saying that reason has no outer boundary.

Conclusion I’ve presented three readings of Kant in this paper. The first was McDowell’s critique of Kant as unnecessarily burdening his account of spontaneity and receptivity with a transcendental story. The second reading was McDowell’s own corrected reading of Kant in which the transcendental story falls away and we are left with an account of spontaneity and receptivity as the core constitution of the mind’s relation to nature. I followed this account from its theoretical function as a critique of both coherentism and empiricism to its diagnostic function as 13 Immanuel Kant: Opus Postumum, in: The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, transl. by Eckart Förster, Cambridge 1993 (= Immanuel Kant: Opus Postumum (Convolut I–VI), in: Kant’s gesammelte Schriften, ed. by Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. 21, 27).

McDowell’s Two Readings of Kant

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helping to alleviate modern anxieties about the relation between mind and world. Finding in this account the twin concepts of immanence and dynamism I argued that McDowell’s thinking is a thinking of finitude, that is, of the ineluctable tension between mind and world. Finally, I presented a third reading of Kant in which Kant is understood to be chiefly concerned with just the sort of immanent and dynamic relation I have claimed lies at the heart of McDowell’s account, namely the tension between knowledge and action. This tension, I then argued, constitutes subjectivity at its most basic level. Having assimilated McDowell to this reading of Kantian there is nothing left but to suggest that McDowell’s project is actually fundamentally Kantian, only that the implications of McDowell’s Kantianism have not yet, by McDowell, been properly located in Kant.

Personenregister

Adorno, Theodor W. 299f., 303–313, 316–319 Apel, Karl-Otto 265–274, 276, 292, 295f. Arendt, Hannah 132 Aristoteles 44, 155f., 337 Balthasar, Hans Urs von 106 Beer, Heinrich 91 Bohr, Niels 142 Bois, Burghardt William Edward Du 114, 125f., 128–130 Bonaparte, Napoleon 89, 118, 120 Brandom, Robert 10 Büchsel, Friedrich 218 Bultmann, Rudolf 138f., 141 Burckhardt, Jacob 108 Butler, Judith 10 Cassirer, Ernst 108f., 251 Comay, Rebecca 118 Comte, Auguste 290 Conz, Carl Philipp 32 Cruse, Holk 183 Davidson, Donald 262, 344f. Derrida, Jacques 321f., 324, 326–339 Descartes, Ren8 271f., 333 Diez, Immanuel Carl 26, 32 Dilthey, Wilhelm 131f., 246–251 Douglass, Frederick 128f. Eberhard, Johann August Eichmann, Adolf 133

19

Euklid 236 Falkenburg, Brigitte 215 Feuerbach, Ludwig 77f., 265 Fichte, Johann Gottlieb 10, 15–17, 19, 27f., 31, 34–36, 57, 84, 88f., 114, 118–123, 129, 183, 185–189, 191, 193, 197–215, 217–230, 232, 265f., 273, 275–283, 285–294, 296, 300, 302f., 305, 307, 314 Flatt, Johann Friedrich 26–39 Foucault, Michel 251 Freud, Sigmund 183, 251 Fritz, Alfred 227f. Gadamer, Hans-Georg 267 Geyer, Christian 183, 212 Gilbert, Margaret 128 Goethe, Johann Wolfgang von Gogarten, Friedrich 218

88, 103

Habermas, Jürgen 267, 269f., 292, 300, 313–319 Handke, Peter 321f. Hartung, Gottfried Lebrecht 209 Hebbel, Friedrich 93, 96, 109 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 10, 15f., 23f., 26, 31–36, 38–41, 43f., 47, 49–66, 68–70, 74f., 77–92, 94–98, 100, 105f., 109, 114, 117–120, 122, 123, 125, 128f., 134, 155–159, 161–166, 186, 211, 226, 232, 234–236, 239f., 243, 248, 253–263, 265f., 269f., 275f., 279, 284–291, 294,

358 296f, 299f., 305, 305–319, 324f., 330–333, 335–338, 342f., 346, 350–353 Heidegger, Martin 38, 41, 166, 175f., 180, 251, 267, 284 Heine, Heinrich 77–79, 85–92 Heraklit 322–324 Herder, Johann Gottfried 114, 116–120, 122, 125, 128f., 279 Hirsch, Emanuel 218 Hitler, Adolf 134f. Höffe, Otfried 212, 214 Hogrebe, Wolfram 325 Hölderlin, Friedrich 26, 31–34, 107, 186, 329 Honneth, Axel 125 Hösle, Vittorio 141, 152, 265f., 273, 287, 294–297 Hume, David 17f., 124, 169f. Husserl, Edmund 175, 266, 270, 272f., 290–294, 297, 333 Jacobi, Friedrich Heinrich 106, 232 Jellinek, Georg 111 Jenisch, Daniel 20 Jonas, Hans 13, 131f., 134–142, 144, 153 Joyce, James 338 Kant, Immanuel 9f., 15–41, 44–49, 57, 84, 88f., 95–97, 99, 114–117, 129, 157, 163f., 167–176, 179–181, 183, 185–199, 202–212, 214f., 218, 220, 224, 226, 229–232, 234, 236–239, 253, 255, 257–259, 261, 266, 269, 273–277, 287, 296, 299–307, 310, 312–314, 316f., 332f., 341–346, 350–355 Kierkegaard, Søren 235, 243f., 250 Kopernikus, Nikolaus 170–172 Korsgaard, Christine 10 Kraus, Karl 12 Kuhn, Thomas 262, 266 Kutschera, Franz von 295 Lask, Emil 218 Lazarus, Moritz 114, 125–129 Leibniz, Gottfried Wilhelm 89, 284, 286f., 337

Personenregister

Levinas, Emmanuel 167–169, 175–181, 332, 336f. Locke, John 124, 167 Luhmann, Niklas 115f. Luk#cs, Georg 135 Lütgert, Wilhelm 223, 227 Luther, Martin 84, 86–88, 102–105 Mann, Thomas 217 Marquard, Odo 93 Marx, Karl 77f., 92, 114, 122f., 288, 310–315 Maximilian II., König von Bayern 153 McDowell, John 10, 341–355 Mead, George Herbert 279 Medicus, Fritz 217–224, 226–228 Meyerbeer, Giacomo 91 Michelet, Jules 113 Mickiewicz, Adam 113 Mill, John Stuart 124 Montesquieu, Charles de 116 Niethammer, Friedrich Immanuel 26, 29 Nietzsche, Friedrich 38, 41, 101, 111, 284 Nozick, Robert 124, 130 Ovid

184

Paulus von Tarsus 99f. Pierce, Charles Sanders 267 Pippin, Robert B. 341 Plitt, Gustav Leopold 28 Popper, Karl Raimung 124, 134 Prinz, Wolfgang 183 Quine, Willard Van Orman

262, 345

Rapp, Gottlob Christian 32–34, 37f. Rawls, John 124, 130 Reinhold, Karl Leonhard 15–17, 19–33, 37f., 273, 296 Ricœur, Paul 251 Riehl, Alois 220 Rorty, Richard 270 Rosenkranz, Karl 93 Rosenzweig, Franz 155, 159, 161–166

359

Personenregister

Roth, Gerhard

183

Scheler, Max 291f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 10, 16, 23, 28, 31, 34f., 37f., 46–49, 57, 84, 88, 93–109, 131f., 134, 134, 136, 141, 143, 145, 151–153, 217–219, 227–230, 232, 266, 275f., 278, 280–288, 290, 294, 296f., 303, 321f., 324–328, 330, 332–339 Schlatter, Adolf 227 Schlegel, Friedrich 88 Schleiermacher, Daniel Friedrich Ernst 82f., 89 Schopenhauer, Arthur 38, 183–186, 232, 284 Schultz, Johann 20, 27f. Schütz, Alfred 292 Schwägerl, Christian 183 Sellars, Wilfrid 354

Simmel, Georg 126, 128f., 250 Singer, Wolf 183 Sohn-Rethel, Alfred 311f. Spinoza, Baruch de 87f., 94, 183f., 186 Steinthal, Heymann 126 Süsskind, Friedrich Gottlieb 32 Theunissen, Michael 83, 140 Tillich, Paul 217–220, 223–229 Tilliette, Xavier 94 Treitschke, Heinrich Gotthardt von 114, 118, 122f., 125–128 Troeltsch, Ernst 221 Wagner, Falk 71 Washington, Booker T. 129 Wittgenstein, Ludwig 38, 166, 271, 323 Zˇizˇek, Slavoj

10