Die Individualität der Dinge: Kultur-, wissenschafts- und technikphilosophische Perspektiven auf die Bestimmung eines Unbestimmbaren [1. Aufl.] 9783839409510

Personen bezeichnen wir durch Eigennamen, Dinge durch Klassenbegriffe. Unser Leben gestalten wir jedoch mit Einzeldingen

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German Pages 362 Year 2015

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INHALT
Einleitung
1 Die Begriffe Kontingenz und Individualität
1.1 Individualität und Kontingenz bei Leibniz
1.1.1 Das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren
1.1.2 Wesentliche und kontingente Eigenschaften
1.1.3 Individuum und Spezies
1.1.4 Substanz und Körper
1.1.5 Geschlossener und offener Begriff von Individualität
1.2 Kontingenz
1.2.1 Kontingenz als das Mögliche, das nicht notwendig ist
1.2.2 Kontingenz und die Kantschen Modalkategorien
1.2.3 Kontingenz und Handlung bei Aristoteles und Arendt
1.2.4 Kontingenz und Sinn – Luhmanns Kritik des Dingschemas
1.2.5 Kontingenz als Leitbegriff der Moderne
1.2.6 Gibt es Kontingenz in der Naturwissenschaft?
1.2.7 Kontingenz und Geschichte
1.2.8 Kontingent ist, was nur erzählt werden kann
1.3 Individualität
1.3.1 Individualität bei Ereignissen, Dingen und Personen
1.3.2 Ein- und Abgrenzungen: Individualität und Unteilbarkeit, Verschiedenheit, Teilhabe, Identität, Nichtprädizierbarkeit
1.3.3 Individualität als ‚noninstantiability‘ – Unvertretbarkeit oder Beispiellosigkeit?
1.3.4 Semantik von ‚Beispiel sein‘ und ‚Beispiel haben‘
1.3.5 Probe aufs Exempel – Individuation als kommunikativer Akt
1.3.6 Einwände
1.3.7 Individualität als unbestimmbare Bestimmtheit
1.4 Sprachliche Bezugnahme auf Individuen
1.4.1 Eigennamen
1.4.2 Indexikale Terme
1.4.3 Definite Beschreibungen
1.4.4 Strawson zur Rolle des logischen Subjekts
1.5 Individuum und Typ – Identifizieren und Wiedererkennen
1.5.1 ‚Beispiel‘ oder ‚Angehöriger‘? – klassifikatorischer und genetischer Artbegriff
1.5.2 Technische Typen und typische Merkmale
1.5.3 Direktes und indirektes Identifizieren
1.5.4 Transtemporale Identität und Wiedererkennen
1.5.5 Tugendhats Kritik an Strawson
1.5.6 Die Besonderheit von Personen als Individuen
1.5.7 Negativität und ontologische Neutralität der Individualität
2 Phänomenologie des Dinges
2.1 Phänomenologische Bestimmungen des Dinges
2.1.1 Über verschiedene Arten, Dinge verschwinden zu lassen
2.1.2 Husserls Analyse der Dinggegebenheit
2.1.3 Die Frage nach dem Ding bei Heidegger
2.2 Das Ding in der Wahrnehmung
2.2.1 Die Bipolarität der Tastphänomene
2.2.2 Konstanten der Dingwahrnehmung
2.2.2 Der Leib als Stifter der ‚Selbstheit‘ der Dinge
2.2.4 Ding-Identität und Blick
2.2.5 Das Fleisch der Dinge. Chiasmus von Sehen und Berühren
2.2.6 Dingwahrnehmung und Individualität
2.3 Dinge und Geschichten
2.3.1 Schapps Philosophie der Geschichten
2.3.2 Das ‚Wozuding‘
2.3.3 Wozu und Woher – Klassen als Herkunftsbeziehungen?
2.3.4 Verstrickung in Geschichten bei Schapp, Arendt und Cavarero
2.3.5 Dinge in Geschichten und Geschichten über Dinge
2.3.6 Die Spur als Bindeglied zwischen Ding und Geschichte
2.3.7 Dinge in narrativen Kontexten
2.4 Besitz und Eigentum als ein Grundverhältnis zu Dingen
2.4.1 Besitz und Eigentum
2.4.2 Sachenrecht
2.4.3 Gibt es ein Naturrecht an Privateigentum? Okkupationstheorie, Arbeitstheorie, Hegels Rechtsphilosophie
2.4.4 Individueller Besitz als konstitutives Merkmal der sozialen Person
2.5 Ding und Bild im Stillleben
2.5.1 Stillleben: Bilder von Dingen
2.5.2 Gibt es ikonographische und ikonologische Sinnebenen beim Stillleben?
2.5.3 Die Entdeckung der ‚Natur‘ der Dinge
2.5.4 Diderot über Wahrheit und Natur in Chardins Bildern
2.5.5 Prousts Blick auf Chardins Bilder
2.5.6 Die Wiederaufnahme des Stilllebens durch Cézanne
2.5.7 Verfremdung und Verwandlung im Bild
2.5.8 Die Bildsprache Cézannes
2.6 Das Ende der Dinge?
2.6.1 Odradek oder: Ist das Ding noch zu retten?
2.6.2 Ein neuer Typ von Dingen
2.6.3 Individualität und Lebensdauer von Artefakten
2.6.4 Wechselwirkung zwischen dinglicher und personaler Individualität
3 Individuelles Ding und Körper in der Physik
3.1 Körper und Masse in der klassischen Physik
3.1.1 Notwendigkeit und Kontingenz in der Physik
3.1.2 Starre Körper und kontingente Eigenschaften
3.1.3 Ist ein Messprozess ein Individuationsvorgang?
3.1.4 Vom starren Körper zum Massenpunkt
3.1.5 Wird ein Massenpunkt durch seine Bahnkurve individuiert?
3.2 Teilchenidentität in der statistischen Mechanik
3.2.1 Atomtheorie
3.2.2 Wahrscheinlichkeit und Kontingenz
3.2.3 Das Gibbssche Paradoxon
3.2.4 Sind nomologische Objekte Dinge?
3.3 Teilchenidentität und Quantentheorie
3.3.1 Individualität und Unbestimmtheit in der Quantentheorie
3.3.2 Identität und Ununterscheidbarkeit bei Schrödinger und Reichenbach
3.3.3 Fortgang der Ununterscheidbarkeitsdebatte
3.3.4 Van Fraassens modale Interpretation
3.3.5 Antinomie von kontingenter Bestimmtheit und prädikativer Bestimmbarkeit
4 Dinglichkeit und Technik
4.1 Technisches Gerät und technisches Handeln
4.1.1 Methodische Vorbemerkungen
4.1.2 Geräte und Regeln, Mechanismen und Algorithmen
4.1.3 Unzulänglichkeit rein zweckorientierter Handlungsbegriffe
4.1.4 Antinomien und Unbestimmtheiten im Handlungsbegriff
4.2 Technische Geräte als Dinge
4.2.1 Gerät als funktionales Modell
4.2.2 Gerät als individuelles Ding im Gebrauch
4.2.3 Gerät und System
4.3 Sind die Produkte der Nanotechnologie Dinge?
4.3.1 Tiefe technischer Strukturen
4.3.2 Das Schwinden der Dinge in der Mikro- und Nanotechnik
4.3.3 Entdinglichung und Verdinglichung
4.4 Technik und Kontingenz
4.4.1 Medialität, Komplexität und Kontingenz
4.4.2 Technik als Quelle von Kontingenzerfahrungen
Literaturverzeichnis
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Die Individualität der Dinge: Kultur-, wissenschafts- und technikphilosophische Perspektiven auf die Bestimmung eines Unbestimmbaren [1. Aufl.]
 9783839409510

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Heinwig Lang Die Individualität der Dinge

Edition panta rei |

2008-06-09 14-30-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01aa180916809592|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 951.p 180916809600

Editorial In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besonderer Weise herausgefordert, Veränderungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu artikulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Weltbezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handelns aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, Anderssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sache. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Scheiterns derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begreifen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen begrifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Beschränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Unterschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Wissenschaftlicher Beirat: Christoph Halbig (Jena), Christoph Hubig (Stuttgart), Angelica Nuzzo (New York), Volker Schürmann (Leipzig), Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig), Michael Weingarten (Marburg), Jörg Zimmer (Girona/Spanien).

Heinwig Lang (Dr. Ing.) arbeitete als Entwicklungsleiter in der nachrichtentechnischen Industrie mit den Schwerpunkten Optik, Bildverarbeitung, Farbentheorie. Nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben promovierte er sich mit der vorliegenden Arbeit in Philosophie.

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) T00_02 seite 2 - 951.p 180916809648

Heinwig Lang

Die Individualität der Dinge Kultur-, wissenschafts- und technikphilosophische Perspektiven auf die Bestimmung eines Unbestimmbaren

2008-06-09 14-30-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01aa180916809592|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Heinwig Lang Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-951-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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I N H AL T

Einleitung

9

1 Di e B e g r i f f e K o n t i n g e n z u n d I n d i v i d u a l i t ä t 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5

Individualität und Kontingenz bei Leibniz Das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren Wesentliche und kontingente Eigenschaften Individuum und Spezies Substanz und Körper Geschlossener und offener Begriff von Individualität

21 21 23 26 30 33

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8

Kontingenz Kontingenz als das Mögliche, das nicht notwendig ist Kontingenz und die Kantschen Modalkategorien Kontingenz und Handlung bei Aristoteles und Arendt Kontingenz und Sinn – Luhmanns Kritik des Dingschemas Kontingenz als Leitbegriff der Moderne Gibt es Kontingenz in der Naturwissenschaft? Kontingenz und Geschichte Kontingent ist, was nur erzählt werden kann

37 37 38 41 46 50 52 59 65

1.3 Individualität 1.3.1 Individualität bei Ereignissen, Dingen und Personen 1.3.2 Ein- und Abgrenzungen: Individualität und Unteilbarkeit, Verschiedenheit, Teilhabe, Identität, Nichtprädizierbarkeit 1.3.3 Individualität als ‚noninstantiability‘ – Unvertretbarkeit oder Beispiellosigkeit? 1.3.4 Semantik von ‚Beispiel sein‘ und ‚Beispiel haben‘ 1.3.5 Probe aufs Exempel – Individuation als kommunikativer Akt 1.3.6 Einwände 1.3.7 Individualität als unbestimmbare Bestimmtheit

67 67 70 80 84 88 91 93

1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4

Sprachliche Bezugnahme auf Individuen Eigennamen Indexikale Terme Definite Beschreibungen Strawson zur Rolle des logischen Subjekts

1.5

Individuum und Typ – Identifizieren und Wiedererkennen ‚Beispiel‘ oder ‚Angehöriger‘? – klassifikatorischer und genetischer Artbegriff Technische Typen und typische Merkmale Direktes und indirektes Identifizieren Transtemporale Identität und Wiedererkennen Tugendhats Kritik an Strawson Die Besonderheit von Personen als Individuen Negativität und ontologische Neutralität der Individualität

1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6 1.5.7

97 98 101 103 103

107 107 112 114 117 119 123 126

2 Ph ä n o me n o l og i e d e s Di n g e s 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

Phänomenologische Bestimmungen des Dinges Über verschiedene Arten, Dinge verschwinden zu lassen Husserls Analyse der Dinggegebenheit Die Frage nach dem Ding bei Heidegger

133 134 139 145

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2 2.2.4 2.2.5 2.2.6

Das Ding in der Wahrnehmung Die Bipolarität der Tastphänomene Konstanten der Dingwahrnehmung Der Leib als Stifter der ‚Selbstheit‘ der Dinge Ding-Identität und Blick Das Fleisch der Dinge. Chiasmus von Sehen und Berühren Dingwahrnehmung und Individualität

151 152 155 157 159 161 164

2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4

Dinge und Geschichten Schapps Philosophie der Geschichten Das ‚Wozuding‘ Wozu und Woher – Klassen als Herkunftsbeziehungen? Verstrickung in Geschichten bei Schapp, Arendt und Cavarero 2.3.5 Dinge in Geschichten und Geschichten über Dinge 2.3.6 Die Spur als Bindeglied zwischen Ding und Geschichte 2.3.7 Dinge in narrativen Kontexten

167 167 170 172 175 177 180 183

Besitz und Eigentum als ein Grundverhältnis zu Dingen Besitz und Eigentum Sachenrecht Gibt es ein Naturrecht an Privateigentum? Okkupationstheorie, Arbeitstheorie, Hegels Rechtsphilosophie 2.4.4 Individueller Besitz als konstitutives Merkmal der sozialen Person

185 185 187

2.5 Ding und Bild im Stillleben 2.5.1 Stillleben: Bilder von Dingen 2.5.2 Gibt es ikonographische und ikonologische Sinnebenen beim Stillleben? 2.5.3 Die Entdeckung der ‚Natur‘ der Dinge 2.5.4 Diderot über Wahrheit und Natur in Chardins Bildern 2.5.5 Prousts Blick auf Chardins Bilder 2.5.6 Die Wiederaufnahme des Stilllebens durch Cézanne 2.5.7 Verfremdung und Verwandlung im Bild 2.5.8 Die Bildsprache Cézannes

209 209

2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3

2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4

Das Ende der Dinge? Odradek oder: Ist das Ding noch zu retten? Ein neuer Typ von Dingen Individualität und Lebensdauer von Artefakten Wechselwirkung zwischen dinglicher und personaler Individualität

193 204

212 216 218 223 226 229 232 235 235 238 242 245

3 Individuelles Ding und Körper in der Physik 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5

Körper und Masse in der klassischen Physik Notwendigkeit und Kontingenz in der Physik Starre Körper und kontingente Eigenschaften Ist ein Messprozess ein Individuationsvorgang? Vom starren Körper zum Massenpunkt Wird ein Massenpunkt durch seine Bahnkurve individuiert?

251 252 254 256 259 262

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4

Teilchenidentität in der statistischen Mechanik Atomtheorie Wahrscheinlichkeit und Kontingenz Das Gibbssche Paradoxon Sind nomologische Objekte Dinge?

265 265 269 272 275

3.3 Teilchenidentität und Quantentheorie 3.3.1 Individualität und Unbestimmtheit in der Quantentheorie 3.3.2 Identität und Ununterscheidbarkeit bei Schrödinger und Reichenbach 3.3.3 Fortgang der Ununterscheidbarkeitsdebatte 3.3.4 Van Fraassens modale Interpretation 3.3.5 Antinomie von kontingenter Bestimmtheit und prädikativer Bestimmbarkeit

281 281 283 287 293 295

4 Di n g l i c h ke i t u n d T e c h n i k 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4

Technisches Gerät und technisches Handeln Methodische Vorbemerkungen Geräte und Regeln, Mechanismen und Algorithmen Unzulänglichkeit rein zweckorientierter Handlungsbegriffe Antinomien und Unbestimmtheiten im Handlungsbegriff

301 301 303 306 309

4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3

Technische Geräte als Dinge Gerät als funktionales Modell Gerät als individuelles Ding im Gebrauch Gerät und System

313 313 319 322

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3

Sind die Produkte der Nanotechnologie Dinge? Tiefe technischer Strukturen Das Schwinden der Dinge in der Mikro- und Nanotechnik Entdinglichung und Verdinglichung

327 327 331 336

4.4 Technik und Kontingenz 4.4.1 Medialität, Komplexität und Kontingenz 4.4.2 Technik als Quelle von Kontingenzerfahrungen

339 339 343

Literaturverzeichnis

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Einleitung Individualität und Unbestimmbarkeit, Kontingenz und Bestimmtheit Individualität schreiben wir vor allem und uneingeschränkt Personen zu. Von Dingen sprechen wir nicht generell als Individuen, aber wir tun es bei vielen Gelegenheiten, und immer dann, wenn wir ein bestimmtes, eben ‚dieses‘ oder ‚dasselbe‘ meinen. Meine Bohrmaschine oder meine Brille behandle ich als Individuen, ich vertausche sie nicht ohne weiteres mit einem anderen Exemplar gleicher Art. Bei einem Nagel dagegen ist es mir gleichgültig, welchen ich als nächsten aus der Packung nehme und in das Regal schlage. Sind also Brillen und Bohrmaschinen Individuen, Nägel aber nicht? Wenn ich jedoch den Nagel krumm schlage und mich abmühe, ihn wieder herauszuziehen, wird er für mich sehr wohl zum Individuum! Aber wie steht es mit einem automatisch gefertigten elektronischen Bauteil, das von einer Bestückungsmaschine auf eine Leiterplatte gesetzt wird, die in meinem Mobiltelefon sitzt und mit diesem von mir irgendwann entsorgt wird? Auch bei Tieren und Pflanzen gibt es einen gleitenden Übergang zwischen den Fällen, in denen wir selbstverständlich einzelne als Individuum behandeln (den eigenen Hund und den Baum im Vorgarten) und den Fällen, wo wir dies nicht tun (das Gras auf der Wiese oder die Ameisen im Bau). Und immer wieder gibt es Situationen, in denen wir Gegenstände als Individuen behandeln, obwohl wir ihnen normalerweise nicht diesen Status zugestehen. Nur Menschen müssen wir immer als Individuen behandeln. Das ist eine ethische Forderung. Natürlich fassen wir manchmal auch Menschen unter Allgemeinbegriffen wie Verkehrsteilnehmer oder Kinder zusammenfassen, aber Einzelnen oder Gruppen von ihnen Individualität abzuerkennen ist nicht nur falsch, sondern unmenschlich und ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Aus diesen Gründen wird in dieser Arbeit Individualität nicht als Klasse durch Merkmale bestimmt, die ein Gegenstand besitzen muss, um ein Individuum zu sein. Statt dessen werden die Bedingungen untersucht, unter denen wir Dinge als Individuen behandeln. Nur so kann man der Tatsache gerecht werden, dass bestimmte Gegenstände uns nur gelegentlich als Individuen erscheinen. Zudem scheint mir dies die beste Möglichkeit zu sein, besser zu begreifen, was wir unter Individualität überhaupt verstehen. Und schließlich bietet die Untersuchung unserer dinglichen Umgebung und unseres Umgangs mit ihr auch eine Gelegenheit, ein Stück Selbstaufklärung anhand einer Kulturgeschichte des Dinges zu leisten. 9

DIE INDIVIDUALITÄT DER DINGE

Aber rechtfertigen diese Gesichtspunkte heute die Wiederaufnahme der philosophischen Reflexion, die ihren Höhepunkt zweifellos in der Vergangenheit, etwa in den Diskussionen der scholastischen Philosophie des Mittelalters hatte? Tatsächlich steckt in dem altehrwürdigen Begriff der Individualität von Anfang an eine Widerständigkeit gegen begriffliche Vereinnahmung und gegen zweckrationale Verfügbarkeit, die ihn für die Auseinandersetzungen über die Tragweite wissenschaftlicher Welterklärung und über den totalen Anspruch technischer Rationalität unentbehrlich macht. Aristoteles hat das, was wir heute Individualität nennen, in seiner Kategorienschrift als erste Substanz beschrieben und allen anderen Kategorien gegenübergestellt. Sie wird dort als das bestimmt, was nicht über etwas aussagbar, nicht prädizierbar ist. Moderner ausgedrückt: sie ist kein Allgemeinbegriff, sie kann keine Klasse oder Art bilden. Man kann über Individuen Aussagen machen, sie unter Begriffe bringen und sie Klassen oder Arten zuordnen, aber man kann das, was ein Individuum ausmacht, nicht von etwas anderem aussagen. Thomas Manns Hund mit dem Namen Bauschan war Rüde, ein Hühnerhund, hatte ein rostbraunes Fell und so kann man noch vieles über ihn aussagen und ihm Eigenschaften zuschreiben, etwa Vierbeiner oder Wirbeltier zu sein. Aber es gibt oder gab keinen Gegenstand, von dem ausgesagt werden kann, dass er ‚ein Hund Bauschan‘ sei. Er selbst war vielmehr der Hund, über den Thomas Mann die Erzählung Herr und Hund geschrieben hat. Das ist seine Identität, aber keine Eigenschaft. In der Philosophie des Mittelalters standen Individualität und ihr Gegenpol Allgemeinheit oder Universalität im Zentrum des sogenannten Universalienstreits. Darin vertraten die Realisten die platonische Auffassung, dass den Allgemeinbegriffen oder Universalien eine ontologische Priorität zukomme. Die Nominalisten dagegen behaupteten, alles Existierende sei individuell, während die Universalien nur Namen seien. Aus Gründen, die im ersten Kapitel erörtert werden, hat am Beginn der Neuzeit die Individualität ihre Stellung als erste Kategorie in der Philosophie eingebüßt. Leibniz war der letzte große Philosoph, bei dem sie noch eine zentrale Rolle spielte, deshalb geht diese Arbeit auch von seinem Versuch einer neuen Bestimmung von Individualität aus. Danach wurde Individualität immer stärker an den Begriff der Person gebunden und verlor den Status einer Kategorie für alles Seiende. Nichtsdestoweniger beziehen wir uns jedoch nach wie vor täglich auf Tiere, auf Dinge oder auch auf Ereignisse als Individuen, wenn wir von diesem Hund, von meinem Auto oder vom Einsturz der Twin-Towers am 11.9.2001 sprechen. Wir individuieren notwendigerweise Gegenstände, wenn wir sie unmittelbar in unser Handeln einbeziehen oder uns indirekt, d.h. mit anderen Personen kommunizierend, auf sie bezie10

EINLEITUNG

hen. Unser lebensweltlicher Umgang mit den Dingen und Ereignissen unserer Umgebung – mit den Personen sowieso – vollzieht sich im Modus der Individualität. Individuation ermöglicht gleichzeitig eine Kennzeichnung, die wir benötigen, um uns wiederholt auf denselben Gegenstand, eben auf mein Auto oder den Hund meines Nachbarn, beziehen zu können. Diese Art der Identifizierung eines Individuums erfolgt nicht durch Klassifizierungen, wie sie eine wissenschaftliche Beschreibung liefert. Sie stützt sich vielmehr auf kontingente Merkmale, die nicht im Wesen der Sache liegen, sondern in der Situation, in dem, was mit diesem Individuum geschieht bzw. geschehen ist und was auch anders sein könnte – mit anderen Worten: auf seine Geschichte. Der Hund Bauschan wird durch die Tatsache identifiziert, dass er 1919 Thomas Mann gehörte und durch die Geschichten, die dieser über ihn erzählte. Mit dieser Besonderheit der individuellen Bestimmtheit, auf kontingenten Merkmalen zu beruhen, hängt eine Eigenart des Individuellen zusammen, die seit der Antike bis in die Neuzeit immer wieder in Sätzen wie ‚de individuis non est scientia‘ oder ‚individuum est ineffabile‘ ausgedrückt wurde und die man als die ‚deskriptive Unerschöpflichkeit‘ des Individuums charakterisieren kann. Dahinter steckt die Einsicht, dass durch allgemeine Beschreibungen, durch Klassifizierungen oder Messungen von Eigenschaften das Individuum selbst nicht erreichbar ist. Damit bleibt es auch für wissenschaftliche Beschreibungen, die sich auf begriffliche Klassifizierungen beschränken, unbestimmbar. Unbestimmbarkeit, Offenheit in Bezug auf Alternativen und Möglichkeiten, und damit Nichtwissen tauchen unvermeidlich überall auf, wo das Einzelne als unvertretbar Besonderes, eben als Individuum auftritt. Die Notwendigkeit, nichtreduzierbare Unbestimmtheit zu akzeptieren und mit Nichtwissen umzugehen, ist für die moderne Wissensgesellschaft sowohl ein Problem als auch eine Herausforderung, und sie spielt im Prozess ihrer Selbstreflexion eine wichtige Rolle. Gerhard Gamm hat das Auftauchen solcher Unbestimmtheiten in verschiedenen Wissensbereichen untersucht und dargelegt, dass sie als Offenheit, als Möglichkeitsund Freiheitsräume verstanden werden müssen und auf diese Weise eine Positivierung erfahren.1 Es ist bemerkenswert, dass das Auftauchen unauflösbarer Unbestimmtheiten im Kernbereich verschiedener Wissenschaften oft auf das Vorhandensein unreduzierbarer Individualität bzw. auf Probleme der

1

Gerhard Gamm, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne. Frankfurt Suhrkamp 1994, sowie ders., Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Frankfurt Suhrkamp (stw) 2000. 11

DIE INDIVIDUALITÄT DER DINGE

Identität ihrer Objekte hindeutet.2 Beispielhaft dafür ist das Eindringen nicht reduzierbarer statistischer Gesetze in die Physik, zuerst in die Thermodynamik und dann in die Atom- und Quantenphysik. Seit der Begründung der statistischen Thermodynamik am Ende des 19. Jahrhunderts weiß man, dass man die Moleküle eines Gases nicht als individuelle Körper auffassen darf, was zu der bis heute anhaltenden Diskussion über die Identität der Mikroteilchen führte. Und in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts sprach Niels Bohr davon, dass sich bei dem radioaktiven Zerfall eines Atomkerns oder bei der spontanen Emission eines Photons ein bisher unbekannter Zug von Individualität bei atomaren Prozessen zeige bei gleichzeitigem Fehlen einer kausalen Verknüpfung (s. Kap. 3.3). Ein weiteres Beispiel liefert die aktuelle Diskussion um die Neurophysiologie. Dabei geht es unter anderem um die Frage, ob und wie mentale Zustände auf vollständig definierte neuronale Zustände reduziert werden können. Mentale Zustände (Bewusstseinszustände) sind immer individuell und unwiederholbar, denn sie sind in einen individuellen Bewusstseinsstrom eingebunden und das Wissen darüber kennzeichnet Bewusstsein. Auch ein ‚Déjà-vu-Erlebnis‘ unterscheidet sich durch das Bewusstsein des ‚déjà‘ von allem vorgegangenen Erleben. Die vollständige wissenschaftliche Beschreibung eines physiologischen Zustands bestünde jedoch in der Angabe der Bedingungen, unter denen dieser Zustand wieder eintritt. Gerade das, was seine Einzigartigkeit ausmacht, entzieht sich damit einer wissenschaftlichen klassifizierenden Beschreibung.3 Die Aufklärung des antagonistischen Verhältnisses zwischen situativer Bestimmtheit und begrifflicher Unbestimmbarkeit des Individuums ist eigentliches Hauptziel der Arbeit. Dabei erweist sich das Individuelle als Grenze restloser wissenschaftlich-begrifflicher Aufklärung sowie totaler zweckrationaler Verfügbarkeit. Diese Verhältnisse lassen sich an Dingen sehr viel einfacher darstellen als etwa an Personen oder Ereig2

3

12

Es gibt kaum Literatur, die sich mit dem Problem der Individualität im Zusammenhang mit oder aus der Sicht der Naturwissenschaften befasst. Als Ausnahmen seien für die Physik genannt Peter Pesic, Seeing Double. Shared Identities in Physics, Philosophy, and Literature. Cambridge MIT Press 2002, für die Neurologie die Untersuchung eines Psychotherapeuten und eines Neurologen: Francois Ansermet und Pierre Magistretti, Die Individualität des Gehirns. Frankfurt Suhrkamp 2005. Ich habe versucht, am Beispiel der Farbwahrnehmung diesen Zusammenhang darzustellen. Siehe: Heinwig Lang, „Sind Farben neuronale Zustände? Die Rolle der Psychophysik für das Verständnis von Wahrnehmungsprozessen.“ In Jan C. Schmidt, Lars Schuster (Hg.), Der entthronte Mensch? Paderborn mentis 2003 S. 163-193.

EINLEITUNG

nissen. Ereignisse lassen sich nur schwer eingrenzen, und bei Personen ist Individualität überlagert von anderen Bestimmungen wie etwa Identität, Leben, Selbstbewusstsein oder auch Menschenwürde, die eine spezifische Kennzeichnung der Individualität erschweren. Das bedeutet aber nicht, dass personale und dingliche Individualität grundsätzlich verschieden sind in dem Sinne, dass sich die hier erarbeiteten Kriterien nicht auf beide anwenden ließen. Auf ihr Verhältnis, das allerdings nicht im Zentrum dieser Untersuchung steht, geht der Abschnitt 1.5.6 ein. Zudem wird die Untersuchung zeigen, dass sich die Individualitäten von Personen, Dingen und Ereignissen durchgängig aufeinander beziehen und sich gegenseitig bedingen.

Dinge und Gegenstände Ding ist – im Gegensatz zu Individuum – eine ontologische Gattung, durch die wir Gegenstände, oder allgemein Seiendes, das uns in der Welt begegnet, klassifizieren. Andere Gattungen sind z.B. Personen oder Ereignisse. Als Dinge bezeichnen wir sehr verschiedene Gegenstände, und manchmal benützen wir dieses Wort auch als Platzhalter für ‚alles Mögliche‘, etwa wenn wir sagen, dass wir über verschiedene Dinge gesprochen haben. Wir sehen von dieser Platzhalterfunktion im Folgenden einmal ab und behalten diese dem Begriff Gegenstand vor, der ja tatsächlich all das bezeichnen kann, worüber wir überhaupt reden können. Fragen wir dann, welche Art von Gegenständen wir als Dinge bezeichnen, so ergibt sich immer noch ein ungemein breites Spektrum. Wir verstehen darunter im allgemeinen konkrete Gegenstände bzw. materielle Körper. Lebende Wesen bezeichnen wir allerdings nicht als Dinge, und wir schränken den Umfang des Begriffs meist auch auf einen bestimmten Größenbereich ein. So rechnen wir weder Himmelskörper, Teile der Landschaft wie Seen oder Berge zu den Dingen, noch unsichtbare Gegenstände wie Atome oder Elementarteilchen. Die meisten Artefakte können wir wohl unwidersprochen zu den Dingen zählen, also von Menschen hergestellte Gegenstände wie technische Geräte, Kunstgegenstände oder Gebrauchsartikel. Bauwerke liegen dagegen am Rande des Dingbereichs, denn ortsfeste Gegenstände wie Gebäude oder Straßen bezeichnen wir meist nicht als Dinge. Natürliche Gegenstände wie etwa Früchte oder Steine rechnen wir dagegen zu den Dingen. Obwohl der Begriff des Dinges sich weder von seinem Umfang her (extensional) scharf eingrenzen lässt, noch von seinem Sinn her (intensional) exakt bestimmbar ist, besteht das alltägliche Umfeld, in dem wir uns betätigen, neben Personen zum großen Teil aus Dingen, von den Möbeln, Büchern und Geräten in der Wohnung bis zur Kleidung. Und 13

DIE INDIVIDUALITÄT DER DINGE

auch draußen begegnen uns Dinge, z.B. Autos auf den Straßen oder Waren in den Geschäften. Es sind die Gegenstände, die uns nicht nur ‚entgegenstehen‘, sondern die in unsere Handlungen einbezogen sind. Wir leben mit und zwischen Dingen, sie sind nicht nur einfach vorhanden, sondern sind uns – wie Heidegger treffend formuliert – ‚zuhanden‘. „Es ist klar: Die Dinge meiner Umgebung sind meine Bedingung.“4 Dinge sind Zeugen der Geschichte, der privaten Lebensgeschichten wie der kollektiven Kulturgeschichte.5 Was wir vage als ‚Lebensgefühl‘ benennen, ist wesentlich durch unsere dingliche Umgebung bestimmt. Sie kann uns ein Gefühl der Verlässlichkeit oder der Unsicherheit vermitteln. Das Spektrum der Dinge hat sich in Laufe der letzten hundert Jahre gewaltig erweitert und teilweise radikal verändert. In der Physik erscheinen Dinge als Körper mit teilweise exotischen Eigenschaften, die Technik produziert ständig neue Artefakte und Geräte. Sind physikalische Körper und technische Geräte Individuen? Physik und Technik liefern in den sogenannten nomologischen Objekten und im technischen Modell Gegenentwürfe zum Individuum: Mikroteilchen, die vollständig bestimmte Eigenschaften haben und Systemmodelle, deren raison d´ètre vollständige Verfügbarkeit ist. Beide haben keine kontingenten Merkmale, sind geschichtslos und deshalb keine Individuen. Sobald aber das Modell sich im Gerät konkretisiert und beim Gebrauch in Handlungszusammenhänge eintaucht, verliert es seine totale Verfügbarkeit und erhält eine Geschichte. In der Freiheit des Gebrauchs ebenso wie in der Unvorhersehbarkeit der Funktionsstörungen, der Pannen, erfahren wir an ihm unmittelbar die Unerschöpflichkeit, die Offenheit und Unbestimmbarkeit der individuellen Dinge. Die ständige und weitgehend erfolgreiche Bemühung der Techniker, die Artefakte zuverlässiger und damit verfügbarer zu machen, führen folgerichtig dazu, dass moderne Produkte zunehmend immun werden gegen kontingente Veränderungen. Das erschwert ihre Individuation. Die neuen Dinge verändern unsere dingliche Umgebung, sie verunsichern und entfremden unser Verhältnis zu ihr. Andererseits werden sie vor allem von der jüngeren Generation begierig nachgefragt und schnell

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Vilém Flusser, Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen. München Hanser 1993 S. 9. Untersuchungen zu diesem kulturhistorischen Aspekt von Dingen finden sich z.B. in Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Herausgegeben vom Werkbund-Archiv Berlin. Gießen Anabas 1984 und in Karl Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München Beck 2003.

EINLEITUNG

in ihren Lebensstil integriert. Dieses ambivalente und prekäre Verhältnis haben Autoren wie Jean Baudrillard und Vilém Flusser analysiert. Wenn Flusser dabei vom Untergang der Dinge spricht,6 so scheint mir dies allerdings übereilt und unangemessen zu sein. Zuzustimmen ist allerdings dem Fazit: „Die bürgerliche Dingmoral, Erzeugung, Speicherung und Verbrauch von Dingen, weicht einer neuen.“7 Es hat mit diesem Wandel der Dingmoral, mit der Unsicherheit im Umgang mit den neuen Produkten zu tun, dass der Dingbegriff in der Vergangenheit in der Philosophie mehr Aufmerksamkeit erfahren hat, als dies heute der Fall ist. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich besonders die Phänomenologie diesem Thema zugewendet. Den Anfang machten Edmund Husserls Untersuchungen, und sowohl bei Martin Heidegger als auch bei Maurice Merleau-Ponty und bei Wilhelm Schapp erfuhr die ‚Frage nach dem Ding‘ (Heidegger) jeweils große Aufmerksamkeit. Wenn man sich heute der Frage nach den Individuationsbedingungen von Dingen wieder zuwendet, dann ist es allerdings erforderlich, die Ergebnisse einer solchen Untersuchung gerade auch an den Objekten zu erproben, die am Rande des Bereichs der Gegenstände liegen, die wir normalerweise und zweifelsfrei als Dinge bezeichnen. Dort finden sich nicht nur die Produkte technischer Massenfertigung, sondern auch die Partikel des Mikrokosmos, die durch die Quantentheorie beschrieben werden. Und schließlich gehören dazu die Gebilde, die die Nanotechnik heute schon herstellt bzw. die sie nach Meinung der Propagandisten der Nanotechnologie in Zukunft aus atomaren Bausteinen zusammensetzen will. Diese eher randständigen Dinge und die Frage nach ihrer Individualität werden jeweils in größeren Zusammenhängen behandelt, und zwar einmal im Rahmen der Diskussion des Körperbegriffs in der Physik und zum anderen durch die Untersuchung der Rolle der Geräte in der modernen Technologie. Auch wenn die neuen Artefakte den gewohnten Vorstellungen von Dingen nicht mehr entsprechen, wäre es nicht hilfreich, einen neuen Dingbegriff definieren zu wollen. Auch früher hat es keine verbindliche Definition dessen gegeben, was wir alles als Ding bezeichnen. Wichtig scheint mir jedoch eine Klärung der Situationen, in denen wir Dinge unserer Lebenswelt, Objekte der Wissenschaft oder technische Produkte als Individuen bezeichnen und behandeln, d.h. wann wir ihnen eine Identität zuschreiben, durch die sie als dasselbe Ding wiedererkennbar sind. Die Gesamtheit dieser Bedingungen konstituiert eine Dingkultur, 6 7

Flusser, a.a.O. S. 82. Ebd. 15

DIE INDIVIDUALITÄT DER DINGE

die unsere materielle Existenz sowohl als individuelle Personen sowie als Gesellschaft kennzeichnet, und die sich mit dieser verändert.

Methode und Übersicht Die Arbeit versucht, die beschriebenen Probleme mit Hilfe eines interdisziplinären Ansatzes und dementsprechend durch verschiedene, jeweils angemessene Methoden zu behandeln. Sie gliedert sich in vier Teile, von denen der erste der Klärung der grundlegenden Begriffe Kontingenz und Individualität gewidmet ist. Hier wird im Wesentlichen begriffs- und sprachanalytisch argumentiert. Dabei ist jedoch nicht systematische Geschlossenheit, sondern die Orientierung am Sprachgebrauch leitend. Das bedeutet nicht, dass die Alltagssprache unkritisch zum begrifflichen Kriterium gemacht wird, sondern dass sich der Sinn eines Begriffes pragmatisch durch seinen Gebrauch in Kommunikationsund Handlungszusammenhängen ergeben muss. Das erste Kapitel stellt als Exposition des Themas Leibniz’ Theorie der individuellen Substanz dar und die von ihm zuerst untersuchte Beziehung zwischen Individualität und Kontingenz. Kontingenz ist ein mit der Aristotelischen Handlungstheorie und der Kantischen Kategorienlehre verbundener Modalbegriff, der im zwanzigsten Jahrhundert in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu einem Schlüsselbegriff der Selbstreflexion der Moderne wurde. Er ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Im dritten Kapitel wird dann der Begriff der Individualität vor allem in Auseinandersetzung mit der Untersuchung des amerikanischen Philosophen Jorge J.E. Gracia und seines Begriffs der ‚noninstantiability‘ (Unvertretbarkeit) entwickelt. Er liefert nicht nur ein analytisches Kriterium für Individualität, sondern auch ein pragmatisches Hilfsmittel zur Beschreibung von Individuationsprozessen, die als kommunikative Akte verstanden werden. Im vierten Kapitel wird untersucht, wie man sich sprachlich auf Individuen bezieht, und im fünften Kapitel wird die Frage der Identifikation von Individuen und das Verhältnis von Identität und Individualität behandelt. Dabei ergibt sich ein enger Zusammenhang zwischen Identität und Geschichtlichkeit. Wenn die Individualität von Dingen als ein Modus des Umgangs mit ihnen verstanden wird, dann bildet ein phänomenologischer Zugang eine wesentliche Ergänzung zur rein begrifflich verfahrenden Analyse. Der zweite Teil behandelt deshalb verschiedene Aspekte unserer Beziehungen zur Dingwelt, wobei die phänomenologischen Untersuchungen durch sachenrechtliche und kunsthistorische Überlegungen ergänzt werden. Das erste Kapitel stellt die phänomenologischen Analysen des Dingbegriffs von Husserl und von Heidegger dar. Das zweite Kapitel ist 16

EINLEITUNG

der Phänomenologie der Wahrnehmung bei Katz und vor allem bei Merleau-Ponty gewidmet, der der Dingwahrnehmung eine zentrale Rolle zuweist. Im dritten Kapitel steht die Philosophie der Geschichten des Phänomenologen Wilhelm Schapp im Mittelpunkt. Seine Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Dingen und Personen einerseits und Geschichtlichkeit andererseits sind für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung. Da sie jedoch von einem traditionellen und vormodernen Artefakt-Begriff ausgehen, müssen sie in verschiedener Hinsicht ergänzt und modifiziert werden. Im vierten Kapitel wird die wichtigste institutionalisierte Relation zwischen Personen und Dingen behandelt, nämlich Besitz und Eigentum. Dabei wird die gegenseitige Bedingtheit von personaler und dinglicher Individualität besonders deutlich. Dass unser Blick auf die Dinge selbst Gegenstand geschichtlicher Veränderung ist, zeigt sich in der Malerei an der Entwicklung des Stilllebens. Das fünfte Kapitel verfolgt deshalb an den Bildern von Chardin und Cézanne diese Veränderungen. Im sechsten Kapitel stehen die Veränderungen zur Diskussion, denen die Dingwelt heute durch die Flut hochtechnisierter Artefakte ausgesetzt ist. In der Physik treten die materiellen Dinge, von denen hier die Rede ist, als Körper auf. Sind die Körper der Physik Individuen? Diese Frage wird im dritten Teil mit den Methoden der Wissenschaftstheorie untersucht. Im ersten Kapitel wird gezeigt, dass bei Messungen und Experimenten notwendigerweise Individuationsprozesse stattfinden, die aber keinen expliziten Niederschlag in den physikalischen Theorien finden. Messungen werden vielmehr immer als Klassifikationsprozesse verstanden. Mit dem Einzug der Statistik und damit des Begriffs der Wahrscheinlichkeit in die Physik ändert sich die Situation. Das Gibbsschen Paradoxon macht deutlich, dass man den molekularen Partikeln eines Gases keine dauerhafte Identität zuschreiben kann und dass dies auf das Verhalten von Partikel-Ensembles Einfluss hat. Das ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Das dritte Kapitel behandelt die in der Quantentheorie geführte Debatte um die Ununterscheidbarkeit der Mikroteilchen. Im vierten Teil steht die Rolle der Individualität bei technischen Artefakten zur Diskussion. Im ersten Kapitel wird technisches Handeln bestimmt mit Hilfe eines Handlungsbegriffes, der nicht rein zweckorientiert und subjektzentriert ist, sondern der die Differenz von Absicht und Folgen als konstitutives und intersubjektives Moment enthält. Das zweite Kapitel behandelt das technische Gerät unter drei Gesichtspunkten: Unter dem Aspekt der Funktion erscheint es als Typ oder Modell, im Gebrauch wird es zum Individuum und erhält eine Geschichte, und durch seine Abhängigkeit von Infrastrukturen wie Energieversorgung und Service erscheint es als Knoten in einem medialen soziotechnischen 17

DIE INDIVIDUALITÄT DER DINGE

Netz. Die Veränderung technischer Artefakte durch die Miniaturisierung und der Status nanotechnischer Produkte stehen im dritten Kapitel zur Debatte. Im vierten Kapitel schließlich geht es um die mit der Individualität technischer Produkte notwendigerweise verbundene Kontingenz. Sie wird in der Technik-Literatur heute primär als Risiko wahrgenommen, und die Funktion technischer Systeme wird deshalb vor allem im Abbau von Kontingenz gesehen. Tatsächlich wird jedoch Technik heute über die reine Funktionalität hinaus zur Erweiterung der individuellen Handlungsmöglichkeiten und als Quelle von Kontingenzerlebnissen genutzt. Das schlägt sich in der Gestaltung und im Design moderner technischer Produkte nieder.

Danksagungen In erster Linie möchte ich Gerhard Gamm danken, der die Entstehung der Arbeit begleitet hat und in dessen Seminaren am Philosophischen Institut der Technischen Universität Darmstadt ich Gelegenheit hatte, die verschiedenen Aspekte des Themas zur Diskussion zu stellen. Für viele Anregungen in ausführlichen Diskussionen über die hier vertretenen Thesen bedanke ich mich bei Alfred Nordmann, Eva Schürmann und Petra Gehring. Einzelne Kapitel haben Astrid Schwarz und Mechthild Haas gelesen und mir dabei sehr hilfreiche Hinweise gegeben. Bettina Gieseler hat das ganze Manuskript gelesen und durch ihre Kommentare viel zu seiner Lesbarkeit beigetragen. Besonderen Dank schulde ich meinem leider verstorbenen Freund Karl Wälke, mit dem ich viele Gespräche über die Rolle der Individualität in den Naturwissenschaften geführt habe. Er hat mich auch auf bestimmte Veröffentlichungen zu diesem Thema aufmerksam gemacht, die mich zu dieser Arbeit angeregt haben.

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1 D IE B EGRIFFE K ONTINGENZ UND I NDIVIDU ALITÄT

1.1 I N D I V I D U AL I T ÄT

UND

KONTINGENZ

BEI

LEIBNIZ

Leibniz hat den Begriff der Individualität, der seinen Ursprung bei Aristoteles hat und in der mittelalterlichen Philosophie eine große Rolle spielte, als ‚individuelle Substanz‘ oder ‚Monade‘ am Beginn der Neuzeit noch einmal in den Mittelpunkt des philosophischen Denkens gestellt und neu definiert. Bei dieser Definition spielt die Kontingenz als wesentliches Merkmal von Individualität eine wichtige Rolle. Die Exposition dieser für die vorliegende Arbeit zentralen Begriffe und ihres Zusammenhangs ist Ziel dieses einleitenden Kapitels. Gerade das Leibnizsche Verständnis von Kontingenz hat, wie sich später zeigen wird, wesentlich dazu beigetragen, dass der Begriff der Individualität aus dem Katalog der zentralen Themen der Philosophie für lange Zeit verschwunden ist. Er wurde mehr oder weniger vom Begriff des Subjekts aufgesogen. Individualität, sofern sie nicht fest mit dem Begriff der Person bzw. des Ich verbunden ist, tritt in der vom Paradigma der exakten Wissenschaften beherrschten Moderne in den Hintergrund der philosophischen Bemühungen. Der Versuch, diese Verdrängung zu verstehen, ist das zweite Ziel dieses Kapitels.

1.1.1 Das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren Mit Leibniz wird das sogenannte „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ (principium identitatis indiscernibilium, im Folgenden kurz PII genannt) in Verbindung gebracht, und er hat es in der Tat an verschiedenen Stellen seiner Schriften formuliert. Es besagt, dass alle Dinge untereinander verschieden sind oder, so die Formulierung der

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1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Monadologie, „es gibt niemals in der Natur zwei Seiende, die einander vollkommen gleich wären.“1. Die Unterschiede können sehr klein sein, aber vollkommene Gleichheit bedeutet notwendig Identität, d.h. Selbigkeit. Er erzählt zur Illustration dieses Prinzips die folgende Geschichte: „Ich erinnere mich, dass eine hohe Fürstin von feiner Geistigkeit eines Tages bei einem Spaziergang in ihrem Garten sagte, sie glaube nicht, dass es zwei vollkommen gleiche Blätter gäbe. Ein geistvoller Edelmann, der an dem Spaziergang teilnahm, glaubte, es werde leicht sein, solche zu finden; obwohl er aber angestrengt danach suchte, musste er sich durch seine Augen davon überzeugen, dass man immer einen Unterschied daran bemerken konnte.“2

Hier wird nicht von Individualität, sondern von Gleichheit und Verschiedenheit gesprochen. Die vollständige Formulierung des Prinzips in der Monadologie lautet: „Jede Monade muss sogar von jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Seiende, die einander vollkommen gleich wären und bei denen es nicht möglich wäre, einen inneren oder auf einer inneren Bestimmung (denominatio intrinseca) beruhenden Unterschied zu finden.“3

Für die ‚Seienden‘, von denen die Verschiedenheit im zweiten Satz behauptet wird, stand, so merkt der Herausgeber der Monadologie an, im Entwurf ursprünglich ‚Dinge‘ (choses). Dieser Ausdruck wurde später durch ‚Individuen‘ (individus) und schließlich durch ‚Seiende‘ (êtres) ersetzt. Vollkommene Gleichheit ist also nicht nur bei Monaden ausgeschlossen, sondern bei allem Seienden. Und Seiendes ist der weiteste Begriff, der Dinge und Individuen bzw. Monaden umfasst, wie in § 8 der Monadologie zu lesen ist. Gleichheit kann es damit nur zwischen abstrakten Begriffen geben4, nicht aber zwischen Seiendem. Allerdings ist für Leibniz Gleichheit noch nicht dadurch gegeben, dass man keinen Unterschied bemerken kann. Im Specimen Dynamicum spricht Leibniz von dem Gesetz der Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie (MON). In ders., Philosophische Schriften. Bd.I. Kleine Schriften zur Metaphysik Frankfurt Suhrkamp 1996. 9, S. 443. 2 Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I (NAB1). In ders.: Philosophische Schriften Bd. 3.1. Frankfurt Suhrkamp 1996 II.Buch XXVII, § 3 S. 395. 3 Leibniz, MON 9, S. 443. 4 „Und die vollkommene Gleichheit hat deshalb ihren Platz nur in nicht-vollen und abstrakten Begriffen,.“ Gottfried Wilhelm Leibniz, Der ‚vollkommene Begriff‘ der Substanz. In Ders., Fragmente zur Logik. Berlin Akademie-Verlag 1960 S. 441. 1

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1.1 INDIVIDUALITÄT UND KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

Kontinuität (lex continuitatis), das sprunghafte Veränderungen ausschließt. Nach diesem Gesetz ist Gleichheit ein „Fall von verschwindender Ungleichheit“,5 und es gibt demnach auch keinen kleinstmöglichen Unterschied. Leibniz folgert daraus, „dass es Atome nicht geben kann“ bzw. „dass es keine Elemente der Körper gibt“.6 Ich werde auf diese für den Leibnizschen Individualitätsbegriff wichtige Konsequenz noch zurückkommen. Die Gültigkeit des PII begründet Leibniz damit, dass es zwischen ununterscheidbaren Dingen „keinerlei Auswahl und folglich keinerlei Wählen oder Wollen“ gibt.7 Ein bloßer Wille ohne irgendeinen Beweggrund ist aber in sich widersprüchlich und steht im Widerspruch zur Vollkommenheit Gottes. Deshalb ist es mit der Weisheit Gottes unvereinbar, dass er etwas Derartiges geschaffen haben sollte.8 Für die Unterscheidbarkeit zweier Seienden reicht die Ortsverschiedenheit allein nicht aus. Ort und Zeit können für Leibniz schon deshalb nicht Grundlage der Identität eines Seienden sein, weil sie nur relative Ordnungsprinzipien sind, aber selbst kein eigenes Sein unabhängig von Körpern haben.9 Es gibt vielmehr „einen inneren oder auf einer inneren Bestimmung beruhenden Unterschied“10 zwischen den verschiedenen Seienden. Die innere Bestimmung bezieht sich auf die Monaden, auf deren Bestimmung als Individuen nun einzugehen ist.

1.1.2 Wesentliche und kontingente Eigenschaften Träger von Individualität sind bei Leibniz die Monaden. So werden sie allerdings erst in den späten Schriften genannt, vor allem in der Monadologie von 1714. In der Metaphysischen Abhandlung von 1686 bezeichnet er sie als „individuelle Substanzen“, in den Neuen Abhandlungen als „Individuen“ oder als „Seelen“ und in der Theodizee nach Aristoteles gelegentlich als „Entelechien“ oder – im Anschluss an die scho-

Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen Dynamicum (SPD). Hamburg Meiner 1982. II (4) S. 49. 6 Ebd. II (3) S. 45. 7 Samuel Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz von 1715/1716. Hamburg Meiner 1990. 4.Brief, S.42. 8 Ebd. 9 „Obgleich uns derart Zeit und Ort (d.h. die Beziehungen auf die Außenwelt) dazu dienen, die Dinge zu unterscheiden, welche wir nicht gut aus sich heraus unterscheiden können, so bleiben die Dinge doch in sich unterscheidbar. Der genaue Begriff der Identität und der Verschiedenheit besteht also nicht in Zeit und Ort, ...“ Leibniz, NAB1 II.Buch.XXVII, §1, S. 391. 10 Leibniz, MON 9 S. 443. 5

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1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

lastische Tradition – als „substanzielle Formen“. Ihre Charakterisierung bleibt aber in allen Schriften im Wesentlichen dieselbe.11 Am bündigsten werden sie in der Monadologie definiert. Danach sind Monaden einfache Substanzen, und eine Substanz ist für Leibniz, was aus sich selbst heraus existiert, d.h. unabhängig von anderen Geschöpfen ist.12 In der Monadologie heißt es: „Die Monaden haben keine Fenster, durch die irgend etwas in sie hinein- oder aus ihnen heraustreten könnte.“13 Obwohl die Monaden einfach sind und damit keine Teile und keine Gestalt haben, enthalten sie unendlich viele Eigenschaften und Bestimmungen, durch die sie sich von anderen Monaden unterscheiden.14 Sie haben weder einen Anfang noch ein Ende, sind aber in steter Veränderung begriffen. Wegen der Fensterlosigkeit müssen nun „die Veränderungen der Monaden aus einem inneren Prinzip hervorgehen, weil ein äußerer Grund in ihr Inneres nicht einströmen könnte.“15 Trotzdem enthält jede Monade „Beziehungen, die alle anderen [Monaden H.L.] zum Ausdruck bringen“, und sie ist damit „ein unaufhörlicher lebendiger Spiegel des Universums.“16 Schon in der Metaphysischen Abhandlung wird erklärt, dass die Aristotelische Definition der individuellen Substanz als etwas, das keinem anderen zugeschrieben werden kann, „nur nominal“ sei und nicht ausreiche. Vielmehr bestehe die Natur einer individuellen Substanz darin, einen „erfüllten Begriff“ zu haben, der es ermöglicht, aus ihm alle Prädikate dieses Subjekts zu verstehen und abzuleiten.17 Die Einfachheit der Individuen steht nicht in Widerspruch zu ihrer begrifflichen Unendlichkeit. Die Individualität schließt die Unendlichkeit in sich ein, nämlich die Unendlichkeit ihrer Bestimmungen.18

11 Darstellungen des Leibnizschen Substanzbegriffs finden sich z.B. in Joachim Christian Horn, Monade und Begriff. Der Weg von Leibniz zu Hegel. Hamburg Meiner 1982 und in Ernst Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen. Darmstadt Wiss. Buchges.1962. 12 „ ...das, was man allein als unabhängig von etwas anderem existierend begreifen kann, ist eine Substanz.“ Gottfried Wilhelm Leibniz, Unterhaltung zwischen Philarete und Ariste. In Ders., Philosophische Schriften. Bd.I. Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt Suhrkamp 1996 S. 331. 13 Leibniz, MON 7 S. 441. 14 Ebd. 8 S. 441. 15 Ebd. 11 S. 443. 16 Ebd. 56 S. 465. 17 Gottfried Wilhelm Leibniz, Metaphysische Abhandlung (MAB). In ders., Philosophische Schriften. Bd.I. Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt Suhrkamp 1996 8, S. 75. 18 Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand II (NAB2). In ders, Philosophische Schriften Bd. 3.2. Frankfurt Suhrkamp 1996 III.Buch III § 6 S. 43. 24

1.1 INDIVIDUALITÄT UND KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

Die Ableitungen der Prädikate (zu denen auch alle Zustände oder Perzeptionen bzw. Handlungen dieser individuellen Substanz gehören) aus deren Definition können nach zwei Gesetzen erfolgen: dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom zureichenden Grund. Die Prädikate, die der Substanz deshalb zukommen, weil das Gegenteil im Widerspruch zur Definition stünde, nennt Leibniz wesentlich, die anderen zufällig oder kontingent. Die Zuordnung der wesentlichen Merkmale fußt auf notwendigen Wahrheiten (verités éternelles oder verités de raison), die logisch aus dem Begriff der Sache folgen. Ihr Beweis führt nach endlich vielen Schritten auf einen identischen Satz. Die Zuschreibung kontingenter Prädikate kann sich dagegen nur auf sogenannte Tatsachenwahrheiten (verités de faits) gründen. Kontingenz bedeutet nicht Regellosigkeit im Sinne völliger Unbestimmtheit. Kontingente Wahrheiten beziehen sich auf Tatsachen, deren Gegenteil nicht unmöglich ist, und die ebenfalls Gründe und Ursachen haben, so und nicht anders zu sein. Ihr Gegenteil widerspricht jedoch nicht dem Begriff, die kontingente Wahrheit ist nur „ex hypothesi“ notwendig, sie hat mit der Existenz der Dinge zu tun und „nimmt auf den freien Willen Gottes oder der Geschöpfe Bezug“.19 Die Beispiele für die notwendigen Wahrheiten entnimmt Leibniz vor allem der Geometrie, aber auch die Ausgedehntheit der Körper folgt für ihn aus deren Begriff. Als Beispiele für kontingente Wahrheiten führt Leibniz dagegen Handlungen historischer Persönlichkeiten (Caesar bzw. Alexander) an.20 Caesars Taten bilden eine Kette von Ereignissen, die für uns logisch nicht aus seiner Natur ableitbar sind, auch wenn sie kausal verknüpft sind. Es scheint uns aber denkbar und möglich, dass die Geschichte anders verlaufen wäre. Obwohl es uns nicht möglich ist, alle Taten Caesars aus seinem Begriff, d.h. seinen inneren Bestimmungen, abzuleiten, folgen sie doch mit Notwendigkeit aus seiner Natur. Aber diese Natur ist für uns nicht begrifflich fixierbar, sie kann uns nur ex hypothesi als Grund für sein Handeln dienen.21 Eine interessante Frage wäre, ob es Substanzen im Rahmen des Leibnizschen Systems geben könnte, die sich nur durch ihre kontingenten Eigenschaften, nicht aber in ihren wesentlichen Eigenschaften unter-

19 Leibniz, MAB 14 S. 93. 20 Ebd. 8 S. 75 und 13 S.87. 21 „... nur dem das Unendliche auf einmal begreifenden Gott ist es vorbehalten, zu erkennen, wie das eine im anderen ist, und den vollendeten Grund a priori einzusehen, was bei den Geschöpfen durch die Erfahrung a posteriori ersetzt wird.“ Gottfried Wilhelm Leibniz, Notwendigkeit und Zufälligkeit (NOZ). In Ders., Fragmente zur Logik. Berlin Akademie-Verlag 1960 S. 427. 25

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

scheiden. Es wären sozusagen „Zwillinge“, die sich zwar durch ihr Schicksal, nicht jedoch durch ihr Wesen unterscheiden. Gäbe es solche Substanzen, so wären Atome denkbar. Aber das Leibnizsche PII schließt dies im Grunde aus, denn diese Atome wären dann Substanzen, die sich nur durch die Lage im Raum und ihren Bewegungszustand unterscheiden würden, was Leibniz explizit ausschließt.22 Für Menschen ist der Unterschied zwischen Notwendigkeit und Kontingenz also durch die Art der Beweise gekennzeichnet, die es für die betreffenden Wahrheiten gibt. Für erstere gibt es rein logische Beweise, während letztere nur aus der Annahme der Existenz bestimmter Dinge oder Tatsachen – allerdings daraus mit Notwendigkeit – folgen. Die Existenz dieser Dinge oder Tatsachen, auf denen sie beruhen, geht aber auf einen Entschluss des freien Willens Gottes zurück. Der Unterschied ist deshalb für Leibniz auch ein ontologischer. Er ist fundamental für sein Verständnis von Freiheit und für seine Theodizee. Er schafft die Voraussetzung dafür, dass Gott unter den vielen Möglichkeiten jeweils die beste auswählen und verwirklichen kann.

1.1.3 Individuum und Spezies Nicht einfach zu beantworten ist die Frage, ob für Leibniz die Unterschiede zwischen Individuen von der gleichen Art sind wie die zwischen Arten. Wenn das der Fall wäre, würde jedes Individuum gleichzeitig die „unterste Art“ repräsentieren, der es angehört. Diese Frage ist deshalb von großer Bedeutung, weil der erkenntnistheoretischen Status der Individualität von der Antwort auf diese Frage abhängt. In der traditionellen Metaphysik sind Gattung und Art durch allgemeine Begriffe bestimmt, während das Individuum sich nicht vollständig durch Allgemeinbegriffe beschreiben lässt. Da die Instrumente der Wissenschaften ausschließlich universelle Begriffe sind, ist sie nach dieser Auffassung nicht in der Lage, das Wesen der Individualität zu erfassen. Das Individuum ist zwar Träger von Eigenschaften, die es zum Exemplar von Gattungen und Arten machen, aber es ist selbst mehr als ein Bündel von Eigenschaften, es hat eine Identität, dem diese Eigenschaften zugehören. Die Formulierungen der Metaphysischen Abhandlung lassen eigentlich keinen Zweifel daran, dass für Leibniz „Begriff und Individuum zusammenfallen“, wie Enno Rudolph in einer Arbeit 1989 formuliert.23 Leibniz spricht dort von dem individuellen Begriff („notion individu-

22 S. Anm. 9. 23 Carl Friedrich von Weizsäcker, Enno Rudolph, Zeit und Logik bei Leibniz. Stuttgart Klett-Cotta 1989 S. 113. 26

1.1 INDIVIDUALITÄT UND KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

elle“) oder der „haecceitas“ Alexanders des Großen, und anschließend bestätigt er ausdrücklich, dass von allen Substanzen gelte, „was der Heilige Thomas in diesem Punkt von den Engeln oder Intelligenzen versichert, (quod ibi omne individuum sit species infima – dass bei ihnen jedes Individuum eine unterste Art sei.)“24 Nur für eine göttliche Intelligenz, nicht aber für die menschliche Erkenntnis existiert dieser vollständige Begriff des Individuums, der es im Prinzip „unendlich determinierbar“25 macht, und aus dem sich neben seinen Eigenschaften auch seine Geschichte deduktiv ableiten lassen müsste. In den Neuen Abhandlungen sind die Formulierungen dagegen nicht so eindeutig. Im Zusammenhang mit der Frage, ob die menschliche Seele anfänglich eine tabula rasa sei, heißt es über den Unterschied zwischen den Seelen, er sei „nicht von der Art […], die man spezifisch nennt.“26 Das würde bedeuten, dass Individuen keine untersten Arten mit nur jeweils einem Exemplar bilden. Aber auch dort wird von diesen Unterschieden als „innerlichen Bestimmungen“ gesprochen. An einer späteren Stelle tritt Leibniz der von Philalethes in den Neuen Abhandlungen formulierten Auffassung Lockes entgegen, dass das Wesen, das eine Art bestimmt, sich nur auf die Art beziehe, aber dass den Individuen selbst nichts wesentlich sei.27 Diese könnten sich nämlich so verändern, dass jedes wesentliche Merkmal dadurch verloren geht. Leibniz hält dem entgegen, dass die Individuen sehr wohl wesentliche (innere) Merkmale besitzen, die sie dauerhaft einer Art zuordnen. Gleichzeitig räumt er ein, dass es Arten oder Spezies gebe, die den Individuen zufällig sind und denen sie nur temporär angehören. „Es gibt eine gewisse Zweideutigkeit in dem Begriff Art oder Seiendes von verschiedener Art, [...] In mathematische Strenge bewirkt der geringste Unterschied, der zwei Dinge nicht ganz und gar ähnlich sein lässt, dass sie von verschiedener Art sind.“28 Da wir die inneren Bestimmungen eines Individuums nie vollständig kennen, wohl aber immer neue Unterschiede zwischen ihnen bemerken, können wir „niemals die letzten logischen Arten finden, [...] und niemals sind zwei wirkliche und vollständige Individuen derselben Art vollkommen gleich.“29 Das Verhältnis Individuum/Spezies erhält damit bei Leibniz eine eigenartige Ambivalenz. Einerseits ist das Individuum vollständig durch innere Bestimmungen festgelegt und wäre damit auch seine eigene un24 25 26 27 28 29

Leibniz, MAB 8, S.75 bzw. 9 S. 77. Weizsäcker, Rudolph, a.a.O. Leibniz, NAB1 II.Buch I §2 S. 101. Leibniz, NAB2 III. Buch, VI § 3 S. 84. Ebd. III. Buch, VI § 14 S. 93 Hervorhebungen im Original. Ebd. III. Buch, VI § 8 S. 85. 27

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

terste Art. Andererseits handelt es sich um unendlich viele Bestimmungen, die teilweise wesentlich und teilweise kontingent sind. Kontingente Wahrheiten beziehen sich aber auf Tatsachen, z.B. historische Sachverhalte. Sie sind nicht notwendig, aber gewiss insofern, als sie verursacht sind durch zeitlich vorangehende Zustände des selben Individuums, d.h. durch seine Geschichte. Sei stehen also mit seiner Natur in einem kausalen, nicht in einem logischen Zusammenhang. Aus kontingenten Handlungen eines Individuums kann aber keine spezifische Differenz abgeleitet werden, wie sie für die Existenz einer eigenen Art erforderlich ist, die erlaubt, zu entscheiden, ob ein Individuum dieser Art angehört oder nicht. Ob ein Individuum eine bestimmte Handlung begehen wird oder nicht, kann nur Gott wissen. Mindestens für den menschlichen Verstand bleibt deshalb immer eine unüberbrückbare Kluft zwischen Art und Individuum bestehen. Diese Kluft ist aber nicht eine zwischen den gegensätzlichen Erkenntniskategorien Begriff und Individuum. Leibniz ontologisiert sowohl den Begriff als auch die Individualität und macht statt dessen den Unterschied zwischen endlicher und unendlicher Erkenntnis. Der hauptsächliche Unterschied besteht nicht zwischen Begriff und Individualität, sondern, wie schon am Ende des vorangehenden Abschnitts betont, zwischen den Tatsachen bzw. Wahrheiten, deren Gegenteil unmöglich bzw. möglich ist, also zwischen logischen und kontingenten Wahrheiten. Letztere sind nur potentiell, d.h. durch eine unendliche Reihe von Schritten aus dem Begriff zu deduzieren bzw. auf ihn zurückzuführen. Als Paradigma für die potentiell unbegrenzte Rückführbarkeit der kontingenten Wahrheiten auf den vollständigen Begriff des Individuums gilt Leibniz die Mathematik des Infinitesimalen, die es erlaubt, Probleme des Unendlichen mit beliebig hoher Näherung zu lösen: „Nur das ist von Wichtigkeit, dass wir bei irrationalen Proportionen nichtsdestoweniger Beweise aufstellen können, indem wir zeigen, der Fehler sei kleiner als ein beliebig angebbarer; doch ist bei den zufälligen Wahrheiten dem geschaffenen Geiste nicht einmal dies gewährt.“ Die Analysis des Unendlichen habe ihm ein Licht angezündet und ihn zu der Einsicht geführt, „wie das Prädikat im Subjekt sein könnte und der Satz trotzdem nicht notwendig würde.“30 Schließlich gibt es noch einen Grund, weshalb die Kluft zwischen Art und Individuum für uns offen bleibt. Es gibt nach Leibniz zwei verschiedene Möglichkeiten, eine Art zu bestimmen. Die eine ist die logisch-begriffliche Definition, und die zugehörigen Individuen werden der Art intensional zugeordnet. Dazu gehören die mathematischen Defi30 Leibniz, NOZ S..427/428. 28

1.1 INDIVIDUALITÄT UND KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

nitionen, und die Zuordnung der Individuen erfolgt dort logisch auf Grund des Satzes vom Widerspruch. Solche Zuordnungen gehören also zu den unbezweifelbaren „vérités de raison“. Bei den „physischen Arten“31 dagegen muss man sich an äußere Phänomene als Merkmale halten, die nicht immer mit den inneren übereinstimmen müssen und über die man sich täuschen kann. Die Phänomene sind zwar nach Leibniz selbst Realitäten, und damit sind die von uns wahrgenommenen Unterschiede auch in der Natur als Unterschiede vorhanden, aber es kann in der Natur bessere und feinere Unterschiede geben als die, die wir unseren Klassifikationen zugrundelegen. Die so definierten Arten sind nur vermutungsweise wahr und müssen als vorläufig gelten.32 Solche vorläufigen Definitionen ermöglichen also im Grunde nur eine extensionale Zuordnung, weil sie sich auf keine reale innere Bestimmung beziehen. Dieser Aspekt der Kluft zwischen Art und Individuum ist epistemisch und kann mit dem Fortschreiten der Wissenschaft kontinuierlich verkleinert, wenn auch niemals vollständig aufgehoben werden. Trotz der Fensterlosigkeit der Monaden existiert für Leibniz keine prinzipielle epistemologische Schranke, die eine Erkenntnis der Welt, d.h. anderer Monaden verhindert. Das folgt einerseits daraus, dass sich in jeder Monade die ganze Welt spiegelt, und andererseits aus der prästabilierten Harmonie, die die Authentizität dieser Spiegelungen garantiert. Man kann die Haltung von Leibniz zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Spezies, d.h. zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, als Versuch einer Synthese zwischen Nominalismus und Realismus interpretieren. Zweifellos steht bei ihm am Anfang die Aussage über die ontologische Priorität des Individuellen, da Substanz nur in der Form der individuellen Substanz vorkommt. Doch das ganze Leibnizsche Werk von der Metaphysischen Abhandlung bis zur Monadologie ist geprägt von der Anstrengung, die individuelle Substanz als begrifflich bestimmt zu denken. Individualität kann zwar für Leibniz nicht ohne Kontingenz gedacht werden. Kontingenz ist aber nicht äußerlich und zufällig, sie muss wegen der Fensterlosigkeit und Selbständigkeit der Monaden als Ausfluss der inneren Bestimmung des Individuums gelten und ist dadurch mit seinem Begriff verbunden. Die Synthese zwischen Individuum und Begriff – ohne das Individuum zum rein numerisch Einzelnen zu reduzieren und ohne den Begriff zu subjektivieren und ihm seine Universalität zu nehmen – stellt deshalb

31 Leibniz, NAB2 III. Buch, VI § 14 S. 95. 32 Ebd. III. Buch, VI § 14 S. 103. 29

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

gleichzeitig den Versuch dar, Metaphysik und Wissenschaft zu vereinigen. Historisch hat sich davon vor allem die Tendenz durchgesetzt, auch die Individualität vollständig unter den Begriff zu stellen, d.h. jede Besonderheit tendenziell in ein System von Allgemeinbegriffen aufzulösen. Man kann das Bemühen, auch das Einmalige, Unvorhergesehene der Regel zu unterwerfen und dadurch vorhersehbar zu machen, durchaus mit Toulmin als das Forschungsprogramm der modernen Naturwissenschaft bezeichnen.33

1.1.4 Substanz und Körper Substanzen sind jedoch nicht allein begrifflich definiert, sie haben ein lebendiges Zentrum, eine Identität. Leibniz nennt sie „beseelte Punkte“, „substantielle Atome“.34 Er beschreibt sie folgendermaßen: „Man könnte sie metaphysische Punkte nennen: sie haben etwas Lebendiges, eine Art Perzeption, und die mathematischen Punkte sind ihre Gesichtspunkte, um das Universum auszudrücken.“ Ihre wahre Einheit ist durch eine Seele oder Form oder Entelechie gegeben, „die dem entspricht, was man in uns das Ich nennt.“35 Der Begriff des Körpers und die Gesetze der Mechanik sind für Leibniz nicht auf den Begriff der Ausdehnung reduzierbar und damit auch nicht durch Größe, Gestalt und Bewegung, also rein geometrische Größen, vollständig zu beschreiben. Dieser Gedanke taucht schon in der Metaphysischen Abhandlung auf.36 Vielmehr ist dafür noch der Begriff der Kraft erforderlich, der von den geometrischen Größen unabhängig ist. In dem kurzen Aufsatz Über den Begriff der Substanz heißt es, „dass der Begriff der Kräfte oder des Vermögens (virtus, den die Deutschen Kraft, die Franzosen la force nennen), für dessen Erklärung ich im besonderen die Wissenschaft der Dynamik bestimmt habe, sehr viel Licht

33 Stephen Toulmin, Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft. Frankfurt Suhrkamp 1981 S. 54 ff. 34 Gottfried Wilhelm Leibniz, Neues System der Natur und des Verkehrs der Substanzen (NSN). In ders., Philosophische Schriften. Bd.I. Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt Suhrkamp 1996. S. 205. 35 Ebd. S. 215. 36 „Und obgleich alle besonderen Naturerscheinungen von denen, die sie verstehen, mathematisch oder mechanisch erklärt werden können, scheint es mehr und mehr, dass nichts desto weniger die allgemeinen Prinzipien der körperlichen Natur und sogar der Mechanik eher metaphysisch als geometrisch sind und als Gründe der Erscheinungen eher irgendwelchen Formen oder unteilbaren Naturen zugehören als der körperlichen Masse oder Ausdehnung“ Leibniz, MAB 18 S. 111. 30

1.1 INDIVIDUALITÄT UND KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

zur Erkenntnis des wahren Begriffs der Substanz beiträgt.“37 Da die mechanische Kraft nicht aus den geometrischen Eigenschaften der Körper erklärt werden kann, muss ihr Grund ein metaphysischer sein und von den „metaphysischen Punkten“, den Substanzen ausgehen.38 Der zentrale Begriff der Dynamik, die Kraft, wird damit auf die Entelechien oder lebendigen Kräfte der individuellen Substanzen zurückgeführt. Die physikalischen Wirkungen dieser Kräfte, die wir z.B. beim Stoß beobachten, sind in Wirklichkeit die summarische Wirkung unzähliger individueller Entelechien. Leibniz versteht unter lebendiger Kraft in seiner Dynamik das, was heute in der Physik als kinetische Energie bezeichnet wird. Tote Kraft nennt er die potentielle Energie, die z.B. in einer gespannten Feder oder Schleuder enthalten ist.39 In der Mechanik ist die lebendige Kraft eine quantitative Größe, die bei elastischen Wechselwirkungen von Körpern erhalten bleibt. Auch dieses Erhaltungsgesetz muss für ihn einen metaphysischen Grund haben, und zwar besteht dieser in der Unzerstörbarkeit der lebendigen Substanzen.40 Es ist nicht einfach, genau den Umfang dessen abzugrenzen, was Leibniz als Substanzen bezeichnet. Lebewesen, Tiere, Menschen, aber auch Pflanzen sind individuelle Substanzen. Körper selbst sind für Leibniz keine Substanzen, aber alle Substanzen haben Körper. Materie ist ein Aggregat von Körpern von Substanzen. Körperliche Dinge, besonders Artefakte wie Maschinen, sind dagegen keine Substanzen. Leibniz stellt die von Menschen gemachten Maschinen den sogenannten natürlichen, von der göttlichen Weisheit erzeugten Maschinen gegenüber. Zwischen beiden besteht eine unendliche Differenz. „Die natürliche Maschine bleibt auch in ihren kleinsten Teilen Maschine.“41 Auch in der Monadologie wird die unendliche Überlegenheit eines organischen Körpers eines Lebewesens, das auch als natürlicher Automat bezeichnet wird, über einen künstlichen Automaten damit begründet, dass das Lebewesen eine Struktur unendlicher Tiefe, letzterer aber nur eine Struktur endlicher Tiefe hat.42 Diese Definition des Begriffs der künstlichen Ma37 Gottfried Wilhelm Leibniz, Über die Verbesserung der ersten Philosophie und den Begriff der Substanz (VPS). In ders., Philosophische Schriften. Bd.I. Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt Suhrkamp 1996 S. 199. 38 Leibniz, VPS KS S. 201. 39 Leibniz, SPD (6) S. 13. 40 Ebd. (11) S. 23-25. 41 Leibniz, NSN S. 215. 42 „... eine durch die Kunst des Menschen geschaffene Maschine [ist] nicht in jedem ihrer Teile Maschine ... Zum Beispiel: der Zahn eines Messingrades hat Teile oder Bruchstücke, die für uns nichts Künstliches mehr sind und nichts an sich haben, was im Hinblick auf den Gebrauch, zu dem das 31

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

schine ist auch heute noch brauchbar und wird im 4. Teil wieder aufgenommen werden (s.u. Abschn. 4.3.1). Man kann den technischen Fortschritt durch Miniaturisierung unter diesem Aspekt sehen als Versuch, die Tiefe technischer Strukturen immer weiter zu steigern und im Falle der Nanotechnik bis in die Dimension der molekularen Strukturen hinein auszudehnen. Das Paradigma der Monade ist also nicht die (künstliche) Maschine, sondern das beseelte Lebewesen. Die Einheit der Substanz wird mit dem verglichen, „was man in uns das Ich nennt.“43 Diese Einheit verleiht der individuellen Substanz ihre Identität. Die Individualität des Menschen zeichnet sich durch sein Selbstbewusstsein und seine moralische Identität aus. Doch Selbstbewusstsein, ein reflektierendes und sich erinnerndes Ich sind nicht notwendige Attribute jeder individuellen Substanz – wohl aber Erinnerung in Form einer individuellen Geschichte. Umgekehrt ist Bewusstsein und damit auch Selbstbewusstsein und moralische Identität immer gebunden an die „wirkliche und physische Identität“ einer individuellen Substanz.44 Einfachere Monaden wie Tiere oder Pflanzen besitzen ein reales und physisches Ich und damit eine Individualität, aber kein Selbstbewusstsein und damit keine moralische Identität. Jedes Individuum hat trotz seiner Einfachheit eine unendliche Struktur sowohl nach innen durch seine Bestimmungen, wie auch nach außen, indem es das Weltganze spiegelt. Cassirer weist in seinem Leibniz-Buch mehrfach auf Leibniz’ Auffassung hin, dass wir die Intuition einer beseelten Substanz vor allem durch die Erfahrung des Bewusstseins des eigenen Selbst haben.45 In dieser Erfahrung erschließt sich für uns die innere Natur der Substanz. Die individuellen Substanzen erfüllen die Welt vollständig, es gibt keine toten, rein materiellen Bereiche in ihr. Auch nach unten, zu den einfachsten Organismen, gibt es dabei keine Grenze. Ein Grund dafür ist, dass in der damals sich entwickelnden Biologie eine Grenze zwischen einfachsten Lebewesen und toter Materie völlig im Dunkeln lag. Zum anderen schloss Leibniz explizit eine solche untere Grenze aus. Er war sich mit Pascal über die unendliche strukturelle Tiefe der Welt ei-

Messingrad bestimmt war, die Maschine auszeichnet. Die Maschinen der Natur aber, das heißt die lebendigen Körper, sind noch im kleinsten ihrer Teile bis ins Unendliche Maschinen.“ Leibniz, MON 64 S. 469. 43 Leibniz, NAB1 II.Buch XXVII § 9 S. 409. 44 Ebd. 45 Ernst Cassirer, a.a.O. S. 394. Cassirer lässt diesem Hinweis ein LeibnizZitat folgen: „Die innere Erfahrung, das Bewusstsein von jenem Ich, das die körperlichen Dinge vorstellt, widerlegt die Lehren des Materialismus: denn die Vorstellung ist aus Gestalt und Bewegung nicht ableitbar.“ 32

1.1 INDIVIDUALITÄT UND KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

nig,46 nach der es nichts Kleinstes gibt, sondern die Unterteilung der Materie sich ins Unendliche fortsetzt. Dass Leibniz deshalb die Existenz von Atomen als den letzten unteilbaren Elementen der Materie ablehnt, wurde bereits erwähnt. Was wir als ausgedehnte und unstrukturierte Materie, als Stoff wahrnehmen, ist für ihn eine Ansammlung von Körpern von Substanzen, die aber so fein sind, dass sie nicht einzeln wahrnehmbar sind. Er vergleicht die Materie mit einem Garten voller Pflanzen oder einem See voller Fische, wobei jedes Glied eines dieser Organismen wieder einen solchen Garten bzw. Teich von Lebewesen bildet.47 Toten Dingen kann Leibniz auch deshalb keine Individualität zusprechen, weil sie nicht Träger von Kontingenz, so wie er sie versteht, d.h. von Geschichtlichkeit, sein können. Sie können wohl wesentliche Bestimmungen haben und sich verändern, aber sie können ihr Entwicklungsgesetz nicht in sich tragen und damit auch kein Subjekt von Geschichtlichkeit sein. Sie verändern und verhalten sich nach rein äußerlichen Gesetzen, nicht auf Grund ihres Wesens.

1.1.5 Geschlossener und offener Begriff von Individualität Leibniz’ individuelle Substanz schlägt eine Brücke zwischen Metaphysik und Wissenschaft. Metaphysisch wird das Individuum beschrieben als eine selbständige und abgeschlossene Einheit, die eine Identität in Form einer lebendigen Kraft besitzt. Seine Entwicklung wird vollständig durch sein inneres Gesetz bestimmt, das wissenschaftlicher Erkenntnis teils durch logisch-analytische, teils durch empirische Methoden mindestens approximativ zugänglich ist. Die Abgeschlossenheit des Individuums ist eine Konsequenz der Forderung nach der rationalen Geschlossenheit des Leibnizschen Systems. Im Kontext dieser Arbeit ist wichtig, dass Leibniz den Zusammenhang von Identität und Kontingenz als konstitutiv hervorhebt. Dadurch wird Geschichtlichkeit als wesentliches Merkmal von Individualität anerkannt. Nur die Kontingenz eröffnet für die Individualität den Raum des Möglichen, der über den Bereich des Notwendigen hinausreicht und Spontaneität und Freiheit ermöglicht. Und umgekehrt bildet Möglich46 In dem Aufsatz „Unendlichkeit“ (Philosophische Schriften. Bd.I. Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt Suhrkamp 1996 S. 373 ff) zitiert Leibniz zustimmend den Passus aus Pascals Pensées, (Nr. 84) in dem die Unendlichkeit im Kleinen als (selbstähnliche) Schachtelstruktur geschildert wird, so dass im winzigsten Tropfen wiederum Welten mit Sonnen und Planeten zu finden sind. 47 Leibniz, MON 66-68 S. 471. 33

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

keit, das Bestehen von widerspruchsfreien Alternativen zum Wirklichen, die Voraussetzung für Individualität und für individuelles Handeln. Damit hat Leibniz den Individuen die zentrale Rolle in seinem System zugewiesen. Gleichzeitig hat Leibniz mit dem Begriff der Individualität Züge verbunden, die sein Fortleben in den neuzeitlichen Wissenschaften, insbesondere in den Naturwissenschaften, verhindert haben. Hier ist einmal die Fensterlosigkeit der Monaden zu nennen, die nur im Zusammenhang mit der Idee der prästabilierten Harmonie eine funktionierende Welt vorstellbar, wenn auch keineswegs plausibel macht. Mit der Fensterlosigkeit verbunden ist auch die zeitliche Unendlichkeit der individuellen Substanzen. Auch sie hat sich in dieser Form als unhaltbar erwiesen. Es gehört zu unserer Vorstellung von Geschichtlichkeit, dass alles, was eine Geschichte hat, eine Geschichte in der Zeit und damit einen Anfang und ein Ende hat. Dass diese Vorstellung bei der Anwendung auf die Welt als Ganzes oder den Kosmos zu Paradoxien führt, zeigt gerade, wie wesentlich der Gedanke der zeitlichen Endlichkeit aller einzelnen Objekte innerhalb dieser Welt ist. Der zweite und meines Erachtens noch wichtigere Hinderungsgrund für das Fortleben des Leibnizschen Individualitätsbegriffs liegt jedoch in seinem Begriff der Kontingenz selbst. In Abschnitt 1.1.2 wurde gezeigt, dass Leibniz kontingente Prozesse nicht als regellos versteht, sondern als Erscheinungen von Regeln, die unserem Intellekt unzugänglich sind oder sich uns allenfalls a posteriori erschließen. Aus der von ihm entwickelten infinitesimalen Methode hat er die Gewissheit bezogen, dass sich auch Sachverhalte, die sich der Analyse durch finite rationale Methoden entziehen, durch Folgen von konvergierenden Prozessen bis auf verschwindend kleine Restabweichungen analysieren lassen. Und er hat aus der Annahme der Konvergenz der Bestimmungsmethoden auf die gesetzesartige Bestimmtheit der Prozesse selbst geschlossen. Dieser Glaube an die potentiell unbegrenzten Möglichkeiten der mathematischnaturwissenschaftlichen Methoden hat dazu geführt, dass sich – wenigstens aus ihrer Perspektive – die Grenze zwischen historischen und physikalischen Prozessen und damit auch zwischen Individualität und Allgemeinheit verwischt hat. Diese Differenz wurde reduziert auf eine Frage des Standpunkts oder der Sprache. Die Übersetzbarkeit der Beschreibungen von historischen, psychischen, mentalen Prozessen in rein physikalische Sprache galt als ein theoretisch erreichbares, wenn auch nicht in jedem Falle sinnvolles Ziel naturwissenschaftlichen Forschens. Die Vorstellung einer kontingenten Individualität, die prinzipiell nicht auf Allgemeinbegriffe reduzierbar sein sollte, erschien als fortschrittsfeindlicher Irrationalismus. 34

1.1 INDIVIDUALITÄT UND KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

Leibniz hat den (letzten und verzweifelten) Versuch gemacht, in einer ungeheuren intellektuellen Begriffsanstrengung Allgemeinheit und Individualität in seinem System zu verknüpfen und damit Mathematik und Naturwissenschaft auf der einen Seite mit Geschichte und Psychologie auf der anderen Seite zu verbinden. Diese Verbindung erwies sich jedoch als nicht tragfähig und brach im 18. Jahrhundert endgültig auseinander. Für Individualität gab und gibt es in den Naturwissenschaften keinen begrifflichen Ort mehr. Es ist die Aufgabe der folgenden Kapitel, an Stelle dieses geschlossenen einen ‚offenen‘ Begriff des Individuums zu entwickeln. Individualität muss zwar wie bei Leibniz Kontingenz und Geschichtlichkeit als wesentliche Merkmale besitzen. Diese dürfen aber nicht als Ausdruck einer von der übrigen Welt unabhängigen Eigengesetzlichkeit gedacht werden. Individualität wird sich vielmehr als ein Kennzeichen der Elemente einer intersubjektiv vermittelten und kommunikativ geteilten Welt erweisen.

35

1.2 K O N T I N G E N Z

1.2.1 Kontingenz als das Mögliche, das nicht notwendig ist Leibniz hat, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, den Begriff der Kontingenz mit dem des Individuums verbunden. Im Folgenden soll Kontingenz vorerst unabhängig von den Begriffen Individualität und Dinglichkeit näher umschrieben werden. Es wird sich später zeigen, dass Kontingenz in der Tat ein wesentliches Moment von Individualität bildet, und zwar im Sinne von Geschichtlichkeit. Anders als Leibniz verstehen wir Kontingenz heute nicht mehr als Spur einer verborgenen begrifflichen Bestimmtheit, sondern als nicht reduzierbare Unbestimmtheit. Kontingent ist, was auch anders sein könnte, was offen ist, was Alternativen hat. „Kontingenz bedeutet die Beurteilung der Wirklichkeit vom Standpunkt der Notwendigkeit und der Möglichkeit her.“1 Sie bezeichnet das, was weder notwendig noch unmöglich ist, also das Gegebene im Hinblick auf mögliches Anderssein. Das Mögliche umfasst sowohl das Seiende (das Wirkliche muss auch möglich sein) als auch das Notwendige. Aber nicht alles Wirkliche ist notwendig. Als das Mögliche, das nicht notwendig ist, umfasst das Kontingente somit sowohl Wirkliches, das nicht notwendig (so ist, wie es) ist, als auch Unwirkliches, das möglich wäre. Kontingenz wird dementsprechend vor allem

1

Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“. In: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart Reclam 1981 S. 47. 37

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Ereignissen und Sachverhalten zugeschrieben, und zwar dann, wenn sie nicht der Notwendigkeit unterliegen. In der Philosophie werden oft kontingente von notwendigen Eigenschaften unterschieden. Eine notwendige Eigenschaft eines Gegenstands ist eine, die in seinem Begriff enthalten ist. Kontingente Eigenschaften sind dagegen solche, die der Gegenstand haben kann oder auch nicht, die er z.B. zu bestimmten Zeiten hat, zu anderen nicht. Zum Bereich der Kontingenz gehören also insbesondere die Veränderungen, die ein bestimmter Gegenstand erfährt, und damit seine Geschichte. Allerdings besteht hier eine Unsicherheit der Abgrenzung: Dass ein Mensch irgendwann jung ist, gehört notwendig zum Menschsein. Beim Alter dagegen ist das fraglich, denn nicht alle Menschen werden alt. Aber alle haben im Prinzip die Möglichkeit, alt zu werden – es sei denn, sie haben von Geburt an eine Krankheit, die ihnen diese Möglichkeit raubt. Diese Überlegungen zeigen: Was notwendig und was möglich bzw. unmöglich ist, lässt sich nur im Rahmen bestimmter Voraussetzungen oder Erwartungshorizonte beurteilen. Sind die Voraussetzungen selbst kontingent, so ist auch der Unterschied zwischen Kontingenz und Notwendigkeit kontingent. Das wird später noch genauer begründet. Kontingenz hat zwei Aspekte: Einmal bedeutet sie Zufälligkeit, Unvorhersehbarkeit und Undurchschaubarkeit, und damit hat sie einen bedrohlichen Charakter. Zum anderen bedeutet sie möglichen Handlungsspielraum und damit eine Chance, die Wirklichkeit im eigenen Sinne zu beeinflussen. Den Zusammenhang und die Interdependenz beider Aspekte beschreibt Blumenberg folgendermaßen: „Das Bewusstsein von der Kontingenz der Wirklichkeit ist nun aber die Fundierung einer technischen Einstellung gegenüber dem Vorgegebenen: wenn die gegebene Welt nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem unendlichen Spielraum des Möglichen ist, wenn die Sphäre der natürlichen Fakten keine höhere Rechtfertigung und Sanktion mehr ausstrahlt, dann wird die Faktizität der Welt zum bohrenden Antrieb, nicht nur das Wirkliche vom Möglichen her zu beurteilen und zu kritisieren, sondern auch durch Realisierung des Möglichen, durch Ausschöpfung des Spielraums der Erfindung und Konstruktion das nur Faktische aufzufüllen zu einer in sich konsistenten, aus Notwendigkeit zu rechtfertigenden Kulturwelt.“2

1.2.2 Kontingenz und die Kantschen Modalkategorien Kontingenz ist als das Mögliche, aber nicht Notwendige ein modallogischer Begriff. Er gehört in den Kreis der Kantschen Kategoriengruppe 2 38

Blumenberg a.a.O. S. 47.

1.2 KONTINGENZ

der Modalität. Diese wird gebildet durch das Tripel Möglichkeit/Unmöglichkeit, Dasein/Nichtsein (m.a.W. Wirklichkeit) und Notwendigkeit/Zufälligkeit. Nach Kant sind dies nicht eigentlich Gegenstandskategorien, sondern sie haben „das Besondere an sich: dass sie den Begriff, dem sie als Prädikat beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken.“3 So kann mir ein Riss in einer Jeanshose als ein kontingentes Merkmal erscheinen, weil ich ihn für die zufällige Spur einer Unachtsamkeit halte. Es kann es aber ein beabsichtigter Designer-Effekt und damit ein nicht kontingentes Merkmal sein. Der Bezug auf das Erkenntnisvermögen ist in der Tat das für alle drei Kategorienpaare kennzeichnende Element, denn sie beschreiben sozusagen die Berührungsflächen zwischen dem Sein als Erfahrenem, Bewusstem und Begriffenem einerseits und als Erkenntnis, Bewusstsein, Wissen, aber auch Handeln andererseits. Während das Wirkliche gemeinhin als das verstanden wird, was auch ohne unsere Erkenntnis so wäre, wie es ist, gilt das für das Mögliche keineswegs, denn als nicht Wirkliches kann das Mögliche nur im Bewusstsein existieren, z.B. als vorgestelltes Ergebnis einer beabsichtigten Handlung. Nichtsein ist bezogen auf die Operation der Negation, die im bzw. mit Hilfe von Bewusstsein stattfindet, denn wenn ‚etwas‘ nicht ist, dann kann das nur von einem ‚etwas‘ in einem Bewusstsein gesagt werden. Ferner kann ein konkretes Ereignis oder eine Handlung als Vernichtung oder Zerstörung nur bezeichnet werden, wenn noch ein Bewusstsein davon vorhanden ist, dass etwas vernichtet oder zerstört wurde. Und auch der Unterschied zwischen Notwendigkeit und Zufall ist dadurch gegeben, dass wir im einen Falle eine Erklärung mit Hilfe von Regeln oder Gesetzmäßigkeiten kennen, die ihrerseits wiederum nur im Bewusstsein, d.h. als Wissen existieren, im anderen nicht. Wie Kant den Zusammenhang der drei genannten Kategorien mit der Erkenntnis im einzelnen versteht, ist in den drei ‚Postulaten des empirischen Denkens überhaupt‘ formuliert. Danach ist möglich, was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinstimmt (1. Post.). Wirklich ist, was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt (2. Post.). Das Notwendige schließlich ist das, dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist (3.Post.).4 Da das Kontingente sowohl Mögliches als auch Wirkliches umfasst, aber nur das Wirkliche, das nicht notwendig ist, umfasst es die

3 4

Immanuel Kant, Kritik der reine Vernunft, A219, B266. Ebd. A 218, B 265/266. 39

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Erfahrungsinhalte, deren Zusammenhang mit anderen Erfahrungsinhalten nicht nach allgemeinen Bedingungen bestimmt werden kann. Konkret heißt das, dass wir die Notwendigkeit des Kontingenten nicht einsehen können, weil wir die Ursachen für sein Eintreten nicht bestimmen können. Das gilt natürlich vor allem in den Fällen hoher Komplexität. Damit ergibt sich für das Kontingente die paradoxe Formulierung, dass es, sofern es wirklich ist, in seiner Faktizität bestimmt ist, aber sein Eintreten unbestimmbar ist. Diese Paradoxie wohnt vor allem dem Begriff der Wahrscheinlichkeit inne (s.u. Abschn. 3.2.2), als die Kontingenz in den exakten Wissenschaften auftritt. Im Gegensatz zu Kant ist sich die moderne Erkenntnistheorie spätestens seit den Untersuchungen von Quine darüber einig, dass es keine klare Trennung zwischen Erkenntnissen a priori und a posteriori bzw. zwischen analytischen und synthetischen Wahrheiten gibt.5 Damit lässt sich auch zwischen den Bedingungen der Erfahrung und deren Inhalten keine scharfe Grenze mehr ziehen. Das hat zur Folge, dass die Entscheidung darüber, was notwendig und was kontingent (bzw. komplex) ist, selbst kontingent ist. Auf diese Unbestimmtheit der Grenzen der Kontingenz wurde am Ende des vorigen Abschnitts bereits hingewiesen. So ist etwa die Frage, wann ein System so komplex ist, dass wir sein Verhalten als kontingent bezeichnen müssen, von der Art seiner Beschreibung und von den Aussagen abhängig, die wir darüber machen wollen. Die Berechnung der Bahnen zweier Projektile etwa (z.B. einer Rakete und einer auf sie gerichteten Abwehrrakete) stellt theoretisch ein relativ einfach lösbares ballistisches Problem dar. Die Frage dagegen, ob die Abwehrrakete ihr Ziel trifft oder nicht, kann sich als praktisch unbestimmbar und damit kontingent erweisen.6 Das hängt einmal mit der Komplexität der Abhängigkeit der Bahnen etwa von Luftbewegungen oder Eigenbewegungen der Projektile zusammen, zum anderen damit, dass durch die Klassifizierung als Treffer bzw. Fehlschuss das Ereignis als eine durch eine Absicht gekennzeichneten Handlung beschrieben wird und damit der Möglichkeit des Erfolgs bzw. Scheiterns unterliegt.

5

6

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Willard Van Orman Quine: „Zwei Dogmen des Empirismus“. In ders., Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays. Frankfurt Ullstein 1979 S. 27-50. Harry Collins, Trevor Pinch, The Golem at Large. Cambridge Un. Press 1998. S. 7 ff. Im ersten Kapitel ihres Buches zeigen die beiden Autoren, dass keine Einigung zwischen Experten über die Frage erreichbar ist, wie viele der im ersten Golfkrieg vom Irak aus gestarteten Skud-Raketen durch die von Seiten der Alliierten abgefeuerten Patriot-Abwehrraketen getroffen oder vernichtet oder auch nur von ihrem Ziel abgelenkt wurden.

1.2 KONTINGENZ

1.2.3 Kontingenz und Handlung bei Aristoteles und Arendt Als Handelnder tritt der Mensch aus der gleichförmigen Welt des Alltags heraus, wo jeder jedem ähnlich ist, als Handelnder unterscheidet er sich von den anderen und wird Individuum.7

Die Beziehung zwischen Kontingenz und Handlung wird schon bei Aristoteles thematisiert. Er bestimmt das Kontingente (Akzidens, Zufall, Fügung) als das, wovon das Vorhandensein ausgesagt werden kann, aber nicht seine Notwendigkeit oder Regelhaftigkeit. „Akzidens heißt das, das an etwas vorhanden ist und der Wahrheit gemäß von ihm ausgesagt werden kann, jedoch nicht mit Notwendigkeit und nicht in der Regel: zum Beispiel, wenn jemand für eine Pflanze ein Loch gräbt und einen Schatz findet.“8 Auf Kontingenz trifft man sowohl bei natürlichen Ereignissen (Zufällen), als auch im Bereich menschlichen Handelns (Fügung). Sie hat den Charakter des Unvorhersehbaren, Überraschenden, die Regel Störenden, von dem es keine Wissenschaft geben kann. Denn Wissenschaft kann es nach Aristoteles nur von dem geben, was immer ist oder was zumeist ist.9 Das bedeutet nicht, dass es vom Zufälligen keine Gründe geben würde, aber die Gründe sind unbestimmt oder „ungeordnet und unbegrenzt“,10 sie lassen sich nicht in eine durchgängige Ursachenkette einfügen. Die Ursachen des Zufälligen intervenieren, sie stören eine regelmäßige Kette von Ereignissen (das, was zumeist geschieht), ohne aber dadurch die Gültigkeit der Regel zu verletzen. Deshalb hat für Aristoteles das Regelhafte und Notwendige immer die Priorität, und die spontanen Ursachen des Zufälligen können niemals letzte Ursachen „an sich“ sein, also etwa des Himmels oder des Weltalls.11 Die Meinung mancher, auch bei Zufall und Fügung läge ein „echter Grund“ vor, „der sich dem menschlichen Verstand entziehe, da er einen göttlichen und übernatürlichen Charakter habe“, erwähnt Aristoteles, ohne sich ihr anzuschließen.12 Zufall im Bereich menschlichen Handelns nennt Aristoteles Fügung. Sie liegt vor, wo man z.B. sagt, jemand habe Glück gehabt.13 Fügungen beziehen sich auf Ergebnisse möglichen Handelns, wenn etwa ein 7 8 9 10 11 12 13

Milan Kundera, Die Kunst des Romans. München Hanser 1987 S. 31. Aristoteles, Metaphysik V. Buch (ǻ), 1025a 14. Ebd. XI.Buch (K) 1065a 4-6. Ebd. XI.Buch (K) 1065a 25. Ebd. XI.Buch (K) 1065b 4 und Physik Buch II Kap. 6 198a 10. Aristoteles, Physik Buch II Kap. 4 196b 6. Ebd. Buch II Kap. 6 197b 1. 41

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Zweck durch Zufall erreicht wird. Umgekehrt kann es sich fügen, dass ein beabsichtigter Zweck durch die dafür vorgenommene Handlung nicht erreicht wird, wir nennen eine solche Handlung dann „zwecklos“.14 Von Kontingenz (Fügung) spricht Aristoteles bei Handlungen also nur, sofern bei ihnen das Ergebnis mit dem beabsichtigten Zweck nicht übereinstimmt. Eine Handlung, die ihren beabsichtigten Zweck erreicht, entspricht der Regel. Das Kontingente ist also nach diesen Bestimmungen immer die Regelverletzung, egal ob es um einen natürlichen Prozess oder eine Handlung geht. Die Regel bzw. der Grund ist im Falle der Handlung eben ihr Zweck im Sinne der causa finalis. Dass für Aristoteles Kontingenz einerseits als Fügung im Bereich menschlichen Handelns, andererseits aber auch als blinder Zufall in Naturprozessen anzutreffen ist, kann deshalb nicht verwundern, weil Aristoteles auch den Naturprozessen (das sind Qualitätsänderungen, Abund Zunahme, Entstehen und Vergehen sowie Ortsveränderungen) ein Ziel (Entelechie) zuschreibt. Ein Prozess ist für ihn die „Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem Gegenstand.“15 Im Regelfall erreicht der Prozess sein inhärentes Ziel, aber bei einer Störung kann seine Verwirklichung auch verfehlt werden. Dadurch kann auch ein Naturprozess ‚scheitern‘ und zufällige, kontingente Tatsachen schaffen. Naturprozesse und Handlungen unterliegen bei Aristoteles grundsätzlich demselben Beschreibungsschema, das durch eine Polarität zwischen einem Ziel (Möglichkeitsmoment) und dem tatsächlichen Verlauf bestimmt ist. Regelmäßigkeit herrscht dort, wo beides in Einklang steht, Kontingenz tritt im Falle einer Nichterfüllung des Ziels auf. Dennoch spielt Kontingenz für Aristoteles im Bereich des menschlichen Handelns eine größere Rolle als im Bereich natürlicher Prozesse. Vom Handeln kann es nämlich deshalb keine wahre Wissenschaft geben, weil es dabei um Einzelnes, Partikuläres geht, Wissenschaft aber mit dem Allgemeinen, Unveränderlichen zu tun hat.16 Wissenschaft in diesem strengen Sinne findet ihren Gegenstand vor allem in der Astronomie, und zwar speziell im translunaren Bereich der Planeten- und Fixsternbahnen, wo (zur Zeit des Aristoteles) keinerlei Regelverstöße bekannt waren. Im sublunaren Bereich dagegen verlaufen Naturprozesse nur „zumeist“ regelhaft (s.Anm.9), und im Bezug auf menschliches Handeln sind die allgemeinen Sätze gerade am leersten, während die partikulären Sätze einen größeren Wahrheitsgehalt haben, wie Aristoteles an der eben angeführten Stelle der Nikomachischen Ethik bemerkt. Insofern spielt hier das Unvorhersagbare eine so große Rolle. Die Kategorie 14 Aristoteles, Physik, Buch II Kap. 6 197b 25. 15 Ebd. Buch III Kap. 1 201a 10. 16 Aristoteles, Nikomachische Ethik Buch II, Kap. 7 1107a 28. 42

1.2 KONTINGENZ

des Möglichen, das sei noch einmal betont, ist aber für Aristoteles nicht prinzipiell an menschliches Handeln gebunden. Sie stellt vielmehr den Möglichkeitsraum bzw. Handlungsspielraum erst zur Verfügung, innerhalb dessen Handlungsalternativen denkbar und tatsächlich realisierbar sind. Insofern beschreibt Kontingenz die Freiheitsräume für handelndes Eingreifen in natürliche Vorgänge und die Möglichkeit, dadurch auch Naturzustände zu verändern. Diese Interpretation unterscheidet sich prinzipiell von der Art, wie die neuzeitliche Naturwissenschaft Prozesse beschreibt, nämlich als bestimmt durch Gesetze, die keinerlei Ausnahmen zulassen. Erst mit dem Anspruch der modernen Naturwissenschaft, alle Vorgänge, einschließlich der physiologischen Prozesse im Menschen selbst, durch strikte Naturgesetze als bestimmt zu betrachten und Kontingenz aus dem Bereich der Natur völlig zu verbannen, ergibt sich die Antinomie zwischen naturgesetzlich bedingtem Determinismus und menschlicher Freiheit. Für die Aristotelische Philosophie gibt es diese Antinomie nicht. Sogenannte Zufälle oder unvorhergesehene Naturereignisse verdanken nach moderner Auffassung ihren Zufallscharakter nur der mangelnden Kenntnis der für die betreffenden Prozesse relevanten Naturgesetze. Es ist das erklärte Ziel der Naturwissenschaft, solche Unvorhersagbarkeit einmaliger Ereignisse zu eliminieren und damit in den Bereich des durch Regeln bestimmten und damit prognostizierbaren Geschehens einzugliedern (s.u. 1.2.6). Auf zwei Aspekte soll abschließend noch hingewiesen werden, die sich aus der aristotelischen Prozesstheorie speziell für das technische Handeln ergeben und die im letzten Teil dieser Arbeit eine Rolle spielen werden. Das Verhältnis von Entelechie und Prozess ist bei Aristoteles kein äußerliches im Sinne einer instrumentellen Zweck-Mittel-Relation. Die Entelechie gehört zum Wesen des Prozesses, ist diesem inhärent. Diese Vorstellung ist uns heute insofern fremd, als wir Absichten, Zwecke oder Ziele nicht den Prozessen, sondern nur handelnden oder erkennenden Subjekten zuordnen. Dass das Zweck-Mittel-Schema aber auch für die Deutung menschlichen Handelns zu kurz greift, darauf wurde von verschiedenen Autoren vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Weberschen Modell der Zweckrationalität hingewiesen. Eine Zusammenfassung dieser Kritik findet sich bei Joas, der die von Vertretern des Pragmatismus, vor allem von Dewey formulierten Ansätze weiter führt. Er beanstandet, dass Absicht und Zweck, die als der Handlung vorgängig und von ihr unabhängig gedacht werden, getrennt werden vom Handlungsvollzug, der nur das Mittel zur Erreichung des Zwecks

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sein soll.17 Eine solche Auffassung übersieht vor allem das Moment der Kreativität und Spontaneität, das der Handlung selbst immanent ist und verkannt wird, wenn man in ihr nur den instrumentellen Aspekt sieht. Dass dieses Moment auch für technisches Handeln konstitutiv ist, wird im letzten Teil dieser Arbeit thematisiert. Hannah Arendt stellt in ihrer Handlungstheorie einen Aspekt in den Vordergrund, der im Zusammenhang dieser Arbeit besonders wichtig ist und ebenfalls im Weberschen Schema der Zweckrationalität nicht berücksichtigt ist. Im Handeln und im Sprechen (das für Arendt wesentlicher Bestandteil menschlichen Handelns ist) enthüllt sich die individuelle Person. „Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein.“18 Die Frage nach dem Wer einer Person entzieht sich dem Versuch einer sprachlichen Definition, die nur Eigenschaften beschreiben kann, die diese Person mit anderen teilt. Nur handelnd kann sich die Person von anderen unterscheiden. Ihr individuelles Wesen enthüllt sich letztlich in ihrer Lebensgeschichte. „Das ursprüngliche Produkt des Handelns ist nicht die Realisierung vorgefasster Ziele und Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen. Das, was von seinem Handeln schließlich in der Welt verbleibt, sind nicht die Impulse, die ihn selbst in Bewegung setzten, sondern die Geschichten, die er verursachte; [....]“ 19

Ich werde auf den Zusammenhang zwischen Kontingenz, Handlung und Geschichten noch mehrfach zurückkommen (Abschn. 1.2.7 und Kap. 2.3). Ebenfalls im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Webers Konzeption der Zweckrationalität weist Heidrun Hesse darauf hin, dass es schon für Aristoteles ein Handeln gibt, das nicht nur Mittel zu einem äußerlichen Zweck darstellt.20 Während mit Poiesis im allgemeinen das instrumentelle Handeln, etwa das Herstellen, bezeichnet wird, ist Praxis ein Tun, das seinen Zweck in sich selbst trägt. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass dieses Handeln zwecklos oder intentionslos ist. Kontin17 Hans Joas, Die Kreativität des Handelns. Frankfurt Suhrkamp 1992. insb. S. 218 ff. 18 Hannah Arendt, Vita activa oder Vor tätigen Leben. München Piper 1997 S. 214. 19 Ebd. S. 226 f. 20 Heidrun Hesse, Ordnung und Kontingenz. Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus. Freiburg Alber 1999. 44

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gent ist solches Handeln, sofern dabei nicht beabsichtigte Wirkungen auftreten. Selbst eine erfolgreiche Handlung wird in der Regel Nebeneffekte bewirken, die nichts mit der Absicht des Handelnden zu tun haben, aber Tatsachen schaffen, die kontingente Folgen dieser Handlung sind. Diese Disparität zwischen Absichten einerseits und den tatsächlichen Folgen einer Handlung andererseits führt nach Hesse zu einer „untilgbaren Unbestimmtheit technischen Handlungswissens“,21 das auch für naturwissenschaftlich begründetes Handlungswissen prinzipiell eingeräumt werden muss. Auch Arendt weist auf die irreduzible Unbestimmbarkeit der Handlungsfolgen hin: „Der Grund, warum wir unfähig sind, das Resultat und das Ende einer Handlung mit Sicherheit im voraus zu bestimmen, ist einfach der, dass ein Getanes kein Ende hat. Der durch eine einzige Tat entfesselte Prozess kann buchstäblich in seinen Folgen durch die Jahrhunderte und Jahrtausende dauern, bis die Menschheit selbst ein Ende gefunden hat. ... [Man hat immer] gewusst, dass kein Mensch, wenn er handelt, wirklich weiß, was er tut; ... dass sogar der eigentliche Sinn dessen, was er selbst tut, sich nicht ihm, dem Täter, sondern nur dem rückwärts gerichteten Blick dessen, der schließlich die Geschichte erzählt, offenbaren wird, also dem, der gerade nicht handelt.“22

Die schwierigen ethischen, juristischen und politischen Probleme, die sich aus der Frage ergeben, ob und welche unbeabsichtigten Handlungsfolgen dem Handelnden zuzuschreiben sind, stehen hier nicht zur Diskussion. Im allgemeinen sind die Handelnden nicht bereit, sich diese Folgen als Handlungen zuzurechnen, vor allem wenn dadurch Nachteile für andere und für sie selbst entstehen. Die Gesellschaft dagegen hat immer darauf bestanden, dass in einem gewissen, meist nicht wirklich scharf zu umreißenden Bereich der Handelnde auch für die nicht beabsichtigten Folgen seines Handelns verantwortlich bzw. haftbar ist. Diese untilgbare Unbestimmtheit hat dazu geführt, dass heute die Grenze zwischen Kontingenz und Notwendigkeit anders gezogen wird. Während für Aristoteles im Bereich menschlichen Handelns Kontingenz nur im Falle der Abweichung des Resultats von der Absicht gegeben ist, betrachtet man heute generell Handlungen, sofern sie Resultate von freien Entscheidungen sind, mit ihren Folgen als kontingent, da die ihr vorausgehenden Entscheidungen möglicherweise auch anders hätten ausfallen können. Das entspricht der modernen Verwendung des Begriffes von Kontingenz, der oft zur Kennzeichnung des (von Menschen) 21 Ebd. S. 58 ff. 22 Arendt, a.a.O. S. 297 f. 45

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Gemachten im Gegensatz zu dem (natürlich) Entstandenen gebraucht wird. Dass es für eine Entscheidung Gründe gibt, macht die entsprechende Handlung noch nicht zu einem notwendigen Ereignis. Damit verliert der Begriff Kontingenz weitgehend die Bedeutung der Zufälligkeit, die er bei Aristoteles hat, und nähert sich in seinem Umfang dem Begriff der Willkür. Diese Bedeutungsverschiebung reflektiert die Tatsache, dass wir heute Finalität nicht mehr zu den Ursachen eines Prozesses zählen und für die Notwendigkeit eines Prozesses nur noch Wirkursachen gelten lassen. Inwieweit eine Handlung geeignet ist, ihren Zweck zu erreichen oder nicht, kennzeichnet nicht ihre Kontingenz, sondern ihren Sinn. Die Frage, inwieweit Kontingenz außerhalb des Bereichs menschlichen Handlungen anwendbar ist, steht in Abschnitt 1.2.6 zur Diskussion.

1.2.4 Kontingenz und Sinn – Luhmanns Kritik des Dingschemas Für Luhmann spielt Kontingenz eine zentrale Rolle bei der Beschreibung sozialer Systeme. Sie ist grundlegend für das Verständnis anderer wichtiger Begriffe wie Kommunikation, Handlung oder Sinn. Sie wird im Zusammenhang mit diesen Begriffen in den ersten vier Kapiteln der Sozialen Systeme eingeführt und behandelt, noch bevor im fünften Kapitel Luhmann endgültig das „zentrale Paradigma“ der Systemtheorie, die Beziehung „System und Umwelt“ zu einer Theorie sozialer Systeme entfaltet. Aus diesem Grunde scheint mir der Versuch gerechtfertigt zu sein, Luhmanns Ausführungen zu den Beziehungen zwischen Kontingenz einerseits und Kommunikation, Handlung und Sinn andererseits für meine Arbeit wenigstens teilweise fruchtbar zu machen, auch ohne ihre Einbindung in die spezielle Theorie der sozialen Systeme ausdrücklich nachzuvollziehen und mit zu übernehmen. Dies gilt vor allem für den mit Kontingenz und Handlung eng verbundenen Begriff des Sinnes und der damit verbundenen Kritik am sogenannten Dingschema. Gleich auf den ersten Seiten des ersten Kapitels taucht Kontingenz auf als ‚notwendige‘ Selbsterfahrung einer Theorie, die Anspruch auf Universalität erhebt. Eine solche Theorie muss auf den Anspruch der Alleingeltung und ausschließlichen Richtigkeit ihrer Ergebnisse spätestens dann verzichten, wenn sie sich – irgendwann, aber notwendigerweise – als Gegenstand dieser universalen Theorie selbst entdeckt. Diese Selbstreferenz zieht notwendigerweise eine ‚strukturelle Kontingenz‘ der Methoden einer solchen Theorie nach sich, die deshalb immer wie-

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1.2 KONTINGENZ

der durch die erreichten Ergebnisse reflektiert und gerechtfertigt werden müssen.23 Ferner stößt man auf Kontingenz im Zusammenhang mit dem Begriff der Komplexität. Darauf wurde bereits im vorletzten Abschnitt hingewiesen. Komplexität ist nach Luhmann immer dann gegeben, wenn man es mit einer Menge von Elementen zu tun hat, deren innere Komplexität nicht durchschaubar und damit nicht verfügbar ist, so dass auch ihre Verknüpfungskapazität untereinander nur beschränkt einsehbar ist. Komplexität reproduziert sich damit auf jeder höheren Ebene eines aus solchen Elementen bestehenden Systems und wird selbstreferentiell, da die Elemente eines Systems immer nur durch ihre Wechselwirkung mit anderen Elementen analysierbar sind. Solche Komplexität zwingt zur Selektion, und „Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko.“24 Selektion ist bei Luhmann nicht von einem Subjekt her gedachte Handlung, sondern generell „ein subjektloser Vorgang, eine Operation, die durch Etablierung einer Differenz ausgelöst wird.“25 Ein Beispiel für subjektlose Selektion liefert die Darwinschen Evolutionstheorie. Im Bereich psychischer und sozialer Systeme bedeutet Selektion Handlung, und damit ist auch der Anschluss an das seit Aristoteles übliche Verständnis von Kontingenz als Möglichkeit von Handlung wieder hergestellt. Als dritter Begriff im Bereich der Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten taucht der des Sinnes auf, der das Thema des zweiten Kapitels der Sozialen Systeme bildet. Die Frage nach dem Sinn einer Handlung kann oft durch die Angabe eines Zwecks beantwortet werden, und man spricht dann von einer teleologischen Erklärung. Andererseits kann ein Ereignis wie etwa eine Naturkatastrophe, dem wir keinen Bezug zu einem Handelnden zuschreiben können, zwar eine Ursache aber keinen Sinn haben. Selbst wenn sie etwa durch menschliches Handeln mitverursacht wurde, schreiben wir ihr keinen Sinn zu, da sie nicht in den Absichten der Handlungen lag, die dieses Ereignis mitverursacht haben. Auch die Frage nach dem Sinn einer Vorrichtung oder eines Gegenstands ist eine Frage nach seinem bzw. ihrem Zweck, d.h. nach seiner Rolle in Handlungszusammenhängen. Sie wird meist beantwortet durch die Angabe der Möglichkeiten der Anwendungen. Für Luhmann erscheint deshalb Sinn in Form eines „Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Han-

23 Niklas Luhmann, Soziale Systeme (SOS). 2.Aufl. Frankfurt Suhrkamp 1988 S. 34. 24 Ebd. S. 47. 25 Ebd. S. 57. 47

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delns.“26 Sinn erfordert also Kontingenz, d.h. Möglichkeiten, die unter dem Aspekt von Erwartungshorizonten, von Verweisungen auf weitere Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten, auf deren Anschlussfähigkeit und Aktualisierbarkeit erlebt werden. Die Genese von Sinn stellt somit einen Selektionsvorgang dar, der Information erfordert und damit im allgemeinen Komplexität reduzieren, aber auch erhöhen kann. Sinn ist allerdings nicht stabil, er kann durch Neuordnung der Möglichkeitshorizonte und Anschlussmöglichkeiten jeweils neu generiert werden. Vor allem verweist Sinn immer auf weiteren Sinn. Wie Komplexität ist auch Sinn durch Selbstreferenz gekennzeichnet. „Die zirkuläre Geschlossenheit dieser Verweisungen erscheint in ihrer Einheit als Letzthorizont alles Sinnes: die Welt.“27 Sinn bedeutet Aufbau von Ordnung durch Verknüpfung bzw. Dekomposition von Differenzen. Je nach der Richtung dieser Verknüpfungen gibt es verschiedene Sinndimensionen (bzw. Weltdimensionen), die Luhmann als Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension untergliedert. Sie sind jeweils gekennzeichnet durch bestimmte, die betreffende Dimension charakterisierende Unterscheidungen. Die Sachdimension differenziert nach dem Schema „dies“ und „anderes“, die Zeitdimension differenziert nach „vorher“ und „nachher“, die Sozialdimension nach „ego“ und „alter“. Diese Differenzierungen werden jeweils als Doppelhorizonte aufgefasst, und Luhmann verbindet mit der Diskussion dieser drei Weltdimensionen eine Kritik bestimmter konventioneller simplifizierender Schemata. Im Rahmen meines Themas ist vor allem die Kritik am „Dingschema“ von Bedeutung, das sich in der Sachdimension als generelles Ordnungsschema etabliert hat. Es wird teilweise durch die Struktur der Sprache erzwungen, die Aussagen in das Schema Subjekt/ Prädikat presst. „Bis weit in die Neuzeit hinein war die Welt mit Hilfe eines Dingschemas begriffen worden. ... Entsprechend fungierte als Leitdifferenz die Unterscheidung von res corporales/res incorporales. Sie ermöglichte die Totalisierung des Schemas. So konnten Seele und Intellekt, Vergängliches und Unvergängliches einbezogen werden. Mit dem Begriff der Idee konnte man das Dingschema copieren für Verwendung in mentalen Operationen. Die Welt selbst wurde als universitas rerum gesehen [...]“28 Das Dingschema stellt aber eine drastisch vereinfachte Version der Sachdimension dar. Zwar erlaubt es Sinn in Form von Reduktion von Komplexität, indem Dingen Identitäten zugeschrieben werden, die sich auch bei wechselnden Eigenschaften durchhalten 26 Luhmann, SOS S. 93. 27 Ebd. S. 105. 28 Ebd. S. 98. 48

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können. Vertuscht wird dabei nach Luhmanns Meinung, dass es auch hier einen Doppelhorizont zu berücksichtigen gilt.29 Er verweist dabei auf Bateson, der auf die Rolle der Sprache hinweist, die es nahe legt, Dingen bestimmte Qualitäten und Attribute zuzuordnen. Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass die „Dinge“ als real und getrennt von „anderen Dingen“ „produziert werden“ durch ihre Beziehungen untereinander und zum Sprecher.30 Ich werde auf die Rolle dieser Doppelhorizonte für den Begriff des Dinges noch mehrfach in diesem Teil und vor allem in den Kapiteln des folgenden Teils II zurückkommen. Für die Zeitdimension ist wichtig, dass einerseits die Differenzierung in das Vorher und Nachher Zeitmessung möglich macht, dass aber gleichzeitig die Gegenwart keineswegs als Zeitpunkt, sondern als Zeitspanne aufgefasst werden muss, in der das „Irreversibelwerden einer Veränderung sich ereignet.“31 In der Sinndimension wird Geschichte konstituiert, die aber nicht als pure Reihe vor Ereignissen verstanden werden darf, sondern gerade als Loslösung von der einfachen zeitlichen Sequenz, indem von der Gegenwart aus Zugriffe auf Vergangenheit und Zukunft in Form von Anschlüssen und Erwartungen ermöglicht werden. „Geschichte ist demnach immer: gegenwärtige Vergangenheit bzw. gegenwärtige Zukunft; immer: Abstandnahme von der reinen Sequenz; [...]“32 Für die Sozialdimension ist neben der Differenz von Ego und Alter die Differenz Konsens/Dissens grundlegend. Auch hier findet man ein simplifizierendes Schema, nämlich das der Moral. Vor allem ist spannt Sozialdimension den Raum auf, innerhalb dessen sich doppelte Kontingenz ereignet, in der „sich Perspektiven in Perspektiven [spiegeln]: Ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß ...; ich rechne Dir Dein Handeln zu, wohl wissend, dass Du mir zurechnest, dass ich Dir Dein Handeln zurechne.“33 Dabei „ist durch die Komplexität solcher Situationen ausgeschlossen, dass sich die Beteiligten wechselseitig voll verstehen“.34 mit anderen Worten, zur Voraussetzung von doppelter Kontingenz „gehören hochkomplexe sinnbenutzende Systeme, die füreinander nicht durchsichtig und nicht kalkulierbar sind.“35 Sie begegnen sich als „black bo-

29 Luhmann, SOS S. 115. 30 Gregory Bateson, Geist und Natur. 4.Aufl. Frankfurt Suhrkamp 1982. S. 81. 31 Luhmann, SOS S. 117. 32 Ebd. S. 118. 33 Ebd. S. 132. 34 Ebd. S. 155. 35 Luhmann, SOS S. 156. 49

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xes“, die sich im Verhältnis zueinander einerseits als indeterminiert erfahren und gleichzeitig Determinierbarkeit unterstellen müssen. Doppelte Kontingenz ist die Grundfigur, von der her jede soziale Interaktion zu interpretieren ist. Sie beinhaltet eine nicht reduzierbare Unbestimmtheit und Undurchsichtigkeit der interagierenden black boxes füreinander und gleichzeitig die Unterstellung, dass sie sich dennoch determiniert verhalten und dass sich über ihr Verhalten durch Beobachtung Erfahrung sammeln lässt. Auf die Darstellung der Beziehungen zwischen Sinn und Kontingenz bei Luhmann bin ich deshalb ausführlicher eingegangen, weil sich nur vor dem Hintergrund dieses Verhältnisses der schon mehrfach angesprochene Zusammenhang zwischen Kontingenz und Geschichtlichkeit wirklich verstehen lässt. Geschichtlichkeit bedeutet nicht die bloße Abfolge einer Sequenz von Ereignissen, sondern die Einbettung dieser Ereignisse in einen Horizont von Möglichkeiten, ihre Klassifikation (Sachdimension), die Zuschreibung zu (individuellen oder kollektiven) Akteuren (Sozialdimension) oder Hinweise auf ihren Innovationscharakter (Zeitdimension). Sinn und Kontingenz bedingen sich gegenseitig sowohl in aktualen Handlungszusammenhängen als in Geschichte(n) und Erzählungen. Im einen Falle existieren mögliche Handlungsalternativen und damit Freiheitsräume nur durch die Selektion sinnvoller Handlungen, jeweils bezogen auf die konkrete Situation und die verfolgten Absichten, Ziele und Neigungen, und im zweiten Falle durch den Aufweis von situationsübergreifenden Interessen oder Tendenzen. Kontingenz im Sinne des Möglichen, aber nicht Notwendigen setzt also Anschlussmöglichkeiten und damit Sinn voraus, und andererseits ist die Kategorie Sinn dort nicht anwendbar, wo das Geschehen als nicht kontingent, also notwendig und durch universelle Gesetze bestimmt beschrieben wird. In Abschnitt 1.2.6 wird deshalb die Frage gestellt, ob Kontingenz im Bereich der Naturwissenschaften eine Rolle spielen kann. Und der Abschnitt 1.2.7 wird schließlich auf das Zusammenspiel von Kontingenz und Sinn in der Erzählung hinweisen.

1.2.5 Kontingenz als Leitbegriff der Moderne Schließlich soll noch eine scheinbar ganz andere Luhmannsche Definition von Kontingenz erwähnt werden. In einem Aufsatz mit dem Titel „Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft“ wird Kontingenz aus dem Begriff der Beobachtung abgeleitet. Als Beobachtung wird sehr formal „jede Art von Operation“ bezeichnet, „die eine Unterscheidung vollzieht, um deren eine (und nicht deren andere) Seite zu

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bezeichnen.“36 Dieser sehr weit gefasste Begriff von Beobachten als Unterscheiden umfasst also, wie Luhmann ausdrücklich anmerkt, auch Operationen wie Handeln, Kommunizieren und Erleben. Kontingenz ist nun vor allem verbunden mit „Beobachtungen zweiter Ordnung“, das sind „Beobachtungen von Beobachtungen“. Dabei kann es sich „um Beobachtungen anderer Beobachter handeln oder auch um Beobachtungen derselben oder anderer Beobachter zu einem anderen Zeitpunkt.“37 „Beobachten zweiter Art lässt – und das ist ein weiteres Beispiel für Komplexitätssteigerung – die Wahl offen, ob man bestimmte Bezeichnungen dem beobachteten Beobachter zurechnet und ihn dadurch charakterisiert oder sie als Merkmale dessen ansieht, was er beobachtet. Beide Zurechnungen, Beobachterzurechnung und Gegenstandzurechnung, bleiben möglich; ihre Ergebnisse können deshalb als kontingent aufgefasst werden.“38

Wieweit korrespondiert diese Interpretation mit dem in den vorigen Abschnitten durch die doppelte Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit gegebenen Begriff von Kontingenz? Am deutlichsten wird eine Übereinstimmung beider Erklärungen wohl, wenn man sich die beobachtete Beobachtung als eine Handlung – oder als Beobachtung einer Handlung – vorstellt. Handelt es sich um in der Vergangenheit liegende Handlungen, die beobachtet werden, so bewegen wir uns in der Zeitdimension und haben es mit Geschichten im weitesten Sinne zu tun. Geschichten erzählen Handlungen als Geschehenes, immer vermittelt durch eine Kette von Beobachtungen in Form von Berichten, Dokumenten, Erzählungen, die wiederum je nachdem unter dem Aspekt der Gegenstandzurechnung oder – quellenkritisch – unter dem Aspekt der Beobachterzurechnung betrachtet werden können. Im ersten Falle wird die Kontingenz den historischen Ereignissen zugeschrieben (es hätte sich auch Anderes ereignen können), im zweiten Falle den Beobachtungen (es war in Wirklichkeit vielleicht ganz anders). Es liegt auf der Hand, dass sich das Problem der Wahrheit von Beobachtungen erst in einer solchen Situation mehrstufiger Beobachtung stellt, jedoch nur, wenn man Beobachtung nicht im Sinne eines passiven Aufnehmens, sondern aktiver Unterscheidung bzw. Selektion versteht. Luhmann bezeichnet die Zunahme der Beobachterzurechnung als charakteristisch für die moderne Welt. Als Beispiel dafür nennt er etwa 36 Niklas Luhmann, „Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft“ (KEG). In ders., Beobachtungen der Moderne. Opladen, Westdeutscher Verlag 1992 S. 98 sowie ders.: SOS S. 63 u. S. 110. 37 Ebd. S.100. 38 Ebd. S. 101. 51

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die Rolle der Publikationen im modernen Wissenschaftsbetrieb, die der direkten Beobachtung der Phänomene eine zweite Ebene der Beobachtung überlagert, in der z.B. Methoden diskutiert werden und der Stand der Forschung anhand anderer Publikationen berücksichtigt wird. Als weitere Beispiele führt er die Autonomisierung der modernen Kunst an, die Rolle der öffentlichen Meinung in der politischen Theorie, die Mechanismen des Markts im modernen Wirtschaftssystem sowie die Positivierung des Rechts. Zunahme von Kontingenz im Sinne einer Erweiterung von Möglichkeitshorizonten wird immer wieder als Kennzeichen der Moderne diagnostiziert. Stellvertretend seien hier die Autoren Makropoulos39 und Koselleck40 genannt. Beide Autoren verstehen unter Kontingenz vor allem das Bewusstsein der Machbarkeit und Verfügbarkeit in Bezug auf Geschichte und auf die Gestaltung politischer, rechtlicher und ethisch-moralischer Verhältnisse. In der Erkenntnistheorie entspricht dem ein AntiEssentialismus, wie er etwa von Rorty vertreten wird, der vor allem pragmatische Positionen übernimmt und der bestreitet, dass es in der Wissenschaft überhaupt kontextfreie Rechtfertigung und damit auch allgemein begründbare Wahrheiten gebe.41 Diese Analysen stehen jedoch nicht in direktem Bezug zu dem Thema dieser Arbeit. Nur für den Bereich der Naturwissenschaft soll die Frage der Reduktion bzw. Zunahme von Kontingenz diskutiert werden, da sie für die beiden letzten Teile dieser Arbeit relevant ist.

1.2.6 Gibt es Kontingenz in der Naturwissenschaft? Seit Aristoteles gilt die Wissenschaft als der Bereich, in dem universelle, kontingenzfreie Erkenntnis zu finden ist. Insbesondere die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert nährte die Hoffnung auf einen kontingenzfreien, d.h. unmittelbaren Zugang zur Welt. Sie stellte sich als Gegenentwurf dar zu einer im Zuge zunehmen39 Michael Makropoulos, „Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts“. In Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hg), Kontingenz. (Poetik und Hermeneutik 17) München 1998 S. 55-79. 40 Reinhart Koselleck, „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“. Sowie „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“. Beide in ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt Suhrkamp 1979. 41 Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. 4.Aufl. Frankfurt Suhrkamp 1997, sowie ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität. 5.Aufl. Frankfurt Suhrkamp 1999, sowie ders., Hoffnung statt Erkenntnis: eine Einführung in die pragmatische Philosophie. Wien Passagen-Verlag 1994. 52

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der Säkularisierung als kontingent erfahrenen Welt der Geschichte und der Politik. Sie fasst den Zugang zu ihren Gegenständen, ihre Methode des Fragens nach dem Wie (Funktion) statt nach dem Was (Wesen) als ‚intentio recta‘ auf, die sich radikal unterscheidet von der ‚intentio obliqua‘, die immer den Fragenden und die Bedingungen des Fragens und die Möglichkeit von anderen Antworten im Auge hat. Sie bestand und besteht darauf, dass sie ihre Methodenfragen immer nur an der Sache selbst klärt und nicht durch Rückgang (Reflexion) auf das ‚Beobachten des Beobachtens‘. Wo Handlungsstrukturen und damit Geschichtlichkeit keine Rolle spielen und der Akt des Beobachtens auch nicht methodisch reflektiert wird, kann es nach dem bisher gesagten keine Kontingenz geben. Notwendigerweise geht damit der Verzicht auf teleologische Erklärungsmuster einher. Natürliche Vorgänge dürfen wissenschaftlich nicht durch Unterstellung von Zielen oder Zwecken, sondern nur durch Wirkursachen erklärt werden. Das Faktische wird mit dem Notwendigen gleichgesetzt und die Möglichkeit verliert ihr Existenzrecht im Reich der Natur. Im Rahmen eines solchen Determinismus geht auch die Möglichkeit verloren, innerhalb der Naturwissenschaft von Sinn zu sprechen. Komplexität wird hier also nicht durch Sinn reduziert wie in den ‚verstehenden‘ Geistes- oder Kulturwissenschaften, sondern durch den radikalen Versuch, Kontingenz zu eliminieren und durch Regelhaftigkeit zu ersetzen. Dass Regelhaftigkeit jedoch nicht ein an sich gegebenes Merkmal der Natur ist, sondern konstruiert werden muss, ist eine Erkenntnis, die von vielen neueren Wissenschaftstheoretikern vertreten wird. Zu ihnen gehören z.B. Ian Hacking42, Nancy Cartwright43 sowie Bruno Latour44. Kontingenzfreie Bereiche, in denen Regeln und Gesetzen uneingeschränkte Gültigkeit zukommt, müssen nach dieser Auffassung erst hergestellt werden. Latour bezeichnet die Abtrennung der kontingenzfreien Räume (der Natur) von den kontingenten Bereichen (der Kultur) als Arbeit der ‚Reinigung‘, die erst geleistet werden musste und muss, damit moderne Naturwissenschaft möglich ist.45 Diese operative Seite von Naturwissenschaft wurde zugunsten der beschreibenden, theorieorientierten 42 Ian Hacking, Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science. Cambridge Un. Press 1983 Dt.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart Reclam 1996. 43 Nancy Cartwright, The Dappled World. A Study of the Boundaries of Science. Cambridge Un. Press 1999. 44 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt Suhrkamp 2000. 45 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt Fischer 1998 S. 44 ff. 53

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Seite von der klassischen Wissenschaftstheorie lange vernachlässigt. Hacking nennt die beiden Seiten „Darstellen und Eingreifen“ („representing and intervening“). Zu letzterem gehört das Experimentieren, und das Kapitel über das Experiment beginnt mit dem Satz: „Die Wissenschaftsphilosophen reden ständig von Theorien und Darstellungen der Realität, doch über Experimente, technische Verfahren oder den Gebrauch des Wissens zur Veränderung der Welt sagen sie so gut wie gar nichts.“46 Besonders aufschlussreich ist Cartwrights Konzept der „nomologischen Maschine“. „Das ist ein (ausreichend) festes Arrangement von Komponenten, oder Faktoren mit (ausreichend) stabilen Möglichkeiten, das in der richtigen Art von (ausreichend) stabiler Umgebung bei wiederholtem Betrieb das regelmäßige Verhalten veranlasst, das wir in unseren wissenschaftlichen Gesetzen darstellen.“47 Die nomologische Maschine stellt also ein reales oder fiktives Modell dar, das durch seine Konstruktion dafür sorgt, dass nur ein bestimmtes, durch ein oder mehrere Gesetze festgelegtes Verhalten beliebig wiederholt werden kann. Es handelt sich also dabei um ein im Grunde technisches Modell, das durch ein (Gedanken)-Experiment, ein Messgerät oder ein technisches Gerät mit einer bestimmten Funktion realisiert sein kann, als solches jedoch durch seinen technisch konstruktiven Charakter Produkt einer kontingenten Handlung ist. Um seinen (ausreichend!) stabilen Betrieb zu gewährleisten, ist – wie Cartwright immer wieder betont – eine sorgfältige Abschirmung des Modells gegen störende Einflüsse aus der Umgebung erforderlich. Bei technischen Geräten wird dies durch Gehäuse und elektrische Abschirmung geleistet. Zwar gibt es auch in der Natur (beinahe) streng regelhafte Systeme, z.B. das Planetensystem. Um jedoch die Gravitation auf der Erde, d.h. die Fallgesetze, in einem ausreichend stabilen Modell studieren zu können, musste Galilei die schiefe Ebene mit den rollenden Kugeln als nomologische Maschine entwickeln. Dieses Modell macht zweierlei deutlich. Einmal wird in der Naturwissenschaft und in der Technik durch die nomologischen Maschinen – und praktisch heißt das, in den Experimenten und Geräten – Kontingenz nicht eliminiert, sondern marginalisiert. Durch absichtsvolles, d.h. kontingentes Handeln des Wissenschaftlers bzw. Technikers wird ein geschützter kontingenzfreier Raum hergestellt. Zum anderen wird das Zufällige und Unvorhersehbare unbeeinflusster Naturprozesse als Komplexität interpretiert, die durch das Ineinandergreifen vieler Regeln entsteht. An die Stelle der grundsätzlichen Unbestimmbarkeit von 46 Hacking, a.a.O. S. 249. 47 Cartwright, a.a.O. S. 50 Übersetzg. H. L. 54

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Kontingenz (s.o. Abschn. 1.2.2) tritt eine durch den Stand der Beobachtungs- und der Informationsverarbeitungsmittel bedingte Noch-nichtBestimmtheit. Diese Gedanken werden in den Teilen 3 und 4 dieser Arbeit wieder aufgenommen und weitergeführt. Die antimetaphysische Philosophie des Positivismus bzw. Neopositivismus weist der Kontingenz allerdings eine ganz andere Rolle in der Wissenschaft zu. Für sie stehen nicht Naturgesetze und Regelhaftigkeit in deren Mittelpunkt, sondern die sinnlich erfahrbaren Tatsachen. Thesenhaft knapp formuliert dies Wittgenstein in seinem Traktatus: „Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft ....“ (4.11).48 Ein Satz ist aber die Beschreibung eines Sachverhaltes (4.023), und das Bestehen eines Sachverhaltes ist eine Tatsache bzw. etwas, was der Fall ist (2). Was der Fall ist, ist aber kontingent, denn es kann auch „nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben.“ (1.21). In diesen Formulierungen äußert sich die Kritik des Positivismus an dem, was der klassischen Naturwissenschaft als ihr höchstes Ziel galt: das Auffinden von universellen Gesetzen, die die empirisch ermittelten Tatsachen verknüpfen und als notwendige Folgen anderer Tatsachen erklären. Mit dem erkenntniskritischen Rückzug auf die empirisch gesicherten Tatsachen einerseits und deren logischen Bildern, den Sätzen andererseits (4.01 – 4.04), gibt der Positivismus weitgehend den Anspruch der klassischen Naturwissenschaft auf, die Natur als das Reich der Notwendigkeit und damit die Wissenschaft als Quelle eines sicheren, kontingenzfreien Wissens zu begreifen.49 Gleichzeitig mit dem Neopositivismus taucht das Problem der Kontingenz in der Naturwissenschaft selbst immer häufiger auf. Das geschah und geschieht einmal in den Fällen, in denen das Resultat einer Beobachtung nicht mehr als vom Beobachter bzw. vom Beobachtungsvorgang unabhängig gedacht werden kann. Das zeigte sich bei der Rolle, die relativ zueinander bewegte Beobachter mit Uhren bei der Kritik des Begriffs der Gleichzeitigkeit im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie spielten. In der Diskussion um die Interpretation der Quantentheorie ist dieses Problem am deutlichsten sichtbar geworden. Weitere Anlässe für das Auftauchen von Kontingenz stellen die Fälle dar, wo die Komplexität eines Vorgangs sich nicht mehr als eine lineare Überlagerung von verschiedenen Regeln beschreiben lässt und damit grundsätzlich unvorhersehbar wird. So muss im Rahmen der sogenannten ‚Chaostheo48 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logicö-philosophicus. Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1. Frankfurt Suhrkamp 1984. 49 „Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.“ Ebd. 6.371. 55

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

rie‘, allgemeiner der Theorie nichtlinearer und irreversibler Prozesse, die Physik davon ausgehen, dass bestimmte Prozesse in bestimmten Verzweigungspunkten diskontinuierlich und damit unberechenbar werden können, ohne damit akausal zu sein.50 Schließlich stößt man auf den Begriff der Kontingenz als das, was auch anders sein könnte, dann, wenn Natur selbst als Produkt einer geschichtlichen Entwicklung verstanden wird. So gibt es von Seiten der Wissenschaftstheorie Überlegungen, die die Entwicklung der modernen Wissenschaft durch eine Zunahme von Kontingenz kennzeichnen. Eine solche Auffassung vertritt Erhard Scheibe in einem Artikel mit dem Titel Die Zunahme des Kontingenten in der Wissenschaft, 51 wobei er sich nahezu ausschließlich auf die Physik bezieht. Gleich zu Beginn stellt Scheibe allerdings fest: „Der Ausdruck ‚kontingent‘ weist epistemische Konnotationen auf, und so wird sich die Rede von der Zunahme der Kontingenzen nicht auf einen Naturvorgang selbst beziehen, sondern nur auf den Zuwachs der Kontingenzen in der Natur, die als solche erkannt werden. Es handelt sich also nicht um ein Prinzip der Naturwissenschaft, sondern um eines der Wissenschaftsgeschichte, [...]“52 Auch hier wird Natur selbst ausdrücklich als der Gegenstand gekennzeichnet, der an sich kontingenzfrei ist und nur als erkannte Natur der Kategorie Modalität – und damit einer Kontingenz – unterliegen kann. 53 Scheibes These besagt, dass sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte immer wieder herausgestellt hat, dass die Strukturen, die als fundamental und invariant angesehen wurden, sich als zeitlich veränderliche Varianten bestimmter noch fundamentalerer Ordnungen erwiesen haben. Beispiele dafür gibt es in den Naturwissenschaften immer dort, 50 Hansjürgen Staudinger, „Singularität und Kontingenz“. Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main Bd. XXI Nr. 3. Wiesbaden Steiner 1985. 51 Erhard Scheibe, „Die Zunahme des Kontingenten in der Wissenschaft“. Neue Hefte für Philosophie Bd. 24/25 D (1985) S. 1-13. 52 Das Zitat fährt fort: „und eine tastende Formulierung könnte lauten: Versuche die Entwicklung der Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, dass ein typischer Entwicklungsschritt immer wieder in der Einsicht besteht, dass etwas, was bisher für gesetzesmäßig gehalten wurde, tatsächlich ein kontingenter Umstand ist – wogegen das umgekehrte nie der Fall ist.“ Scheibe a.a.O. S. 1. 53 Dass auch Chemie und Biologie (incl. des Darwinismus) im 18. und 19. Jahrhundert auf einem ahistorischen nomologischen Naturbegriff beruhen, der den konstanten Rahmen für gesetzmäßige zeitliche Veränderungen liefert, zeigt Alfred Nordmann, „Blinded to History. Science and the Constancy of Nature”. In Martin Carrier, Gerald Massey, Laura Ruetsche (Hg), Science at Century’s End. Philosophical Questions on the Progress and Limits of Science. Pittsburgh und Konstanz Universitätsverlag 2000 S. 150-178. 56

1.2 KONTINGENZ

wo Natur als Ergebnis einer Evolution gesehen wird. In der Kosmologie haben sich die Himmelssphären der antiken Astronomie als die Planetenbahnen eines geschichtlich entstandenen Sonnensystems entpuppt und auch die Fixsterne sind für uns heute Objekte mit einer bestimmten Entwicklung. In der Elementarteilchenphysik erwiesen sich die ursprünglich als unveränderlich und unteilbar gedachten Atome als aus Neutronen, Protonen und Elektronen zusammengesetzt, und diese müssen wieder als aus noch fundamentaleren Bausteinen wie Quarks und Gluonen bestehend gedacht werden. In der Biologie ist der Begriff der Art ein Beispiel für diese Entwicklung. Die Art wurde von Linné als ein durch eine Reihe von spezifischen Eigenschaften bestimmter unveränderlicher Prototyp gedacht. Die Darwinsche Abstammungslehre fasst sie jedoch als eine ‚Population‘ auf, die veränderlich ist und eine kontingente Geschichte hat (s. Abschn. 1.5.1). Es ist verständlich, dass die Diskussionen über die Rolle des Zufalls in der Evolution des Lebens über die Grenzen der Wissenschaft hinaus große Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.54 Denn Kontingenz bedeutet dort, dass das Ergebnis der Evolution, die Formen der heute lebenden Tier- und Pflanzenarten einschließlich des Menschen, auch ein ganz anderes hätte sein können und im Falle einer Wiederholung der Evolution auch ein anderes wäre. Eine ähnliche Verschiebung von gesetzesartigen zu kontingenten Aussagen lässt sich auch an der Entwicklung physikalischer Gesetze aufweisen. Die Bahn eines frei beweglichen Körpers ohne Berücksichtigung der Luftreibung nahe der Erdoberfläche wird durch das Galileische Fallgesetz beschrieben bzw. erklärt. Das Explanans besteht dabei aus zwei Aussagen, der kontingenten Anfangsbedingung (Anfangsgeschwindigkeit und Ort) sowie dem Fallgesetz. Dieses Gesetz enthält als Konstante die Erdbeschleunigung, die im Rahmen der Galileischen (vorNewtonschen) Physik einen allgemeinen und nicht-kontingenten Status hat, d.h. nicht auch anders sein könnte. Im Rahmen der Newtonschen Gravitationstheorie kann man das Galileische Fallgesetz selbst erklären bzw. ableiten, wobei es vom Explanans zum Explanandum wird. Explanans wird nun das Gravitationsgesetz sowie die Erdmasse als kontingente Bedingung für die Schwereverhältnisse an der Erdoberfläche, und die Erdbeschleunigung ist damit eine kontingente Größe. In der klassischen Newtonschen Physik gilt dann die Gravitationskonstante als universelle Konstante. In neueren astrophysikalischen Theorien wird das 54 Man denke an die Diskussionen, die das Buch von Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit (München Piper 1971) ausgelöst hat. Eine Zusammenfassung dieser Diskussion findet sich in Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Bd III Stuttgart Kröner 8.Aufl. 1987 S. 172-256. 57

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Gravitationsgesetz seinerseits durch das ‚Machsche Prinzip‘ erklärt. Dieses Prinzip unterstellt einen möglichen Zusammenhang zwischen fundamentalen Eigenschaften der Materie wie Gravitation und Trägheit einerseits und der Verteilung der Materie im Universum andererseits.55 Danach hängt z.B. die Gravitationskonstante ab von der mittleren Massendichte im Kosmos sowie von der sogenannten Hubble-Konstante H, die die Expansionsgeschwindigkeit des Kosmos kennzeichnet. Letztere ändert jedoch ihre Größe in Abhängigkeit vom Alter des Universums! In allen Beispielen entpuppen sich als universell betrachtete Elemente (Planetensystem, Elementarteilchen, Artbegriff und Gravitationskonstante) durch eine Erweiterung des Erkenntnishorizontes nachträglich als kontingent. Dabei ist Geschichtlichkeit das entscheidende Kriterium. Im Falle des Planetensystems ist es die Erkenntnis über dessen physikalische Entstehung, beim Begriff des Elementarteilchens die Einsicht in die Veränderlichkeit von Molekülen und Atomen, im Falle des Artbegriffs die Erkenntnis der Evolution als eines geschichtlichen Prozesses und schließlich beim Gravitationsgesetz die Einsicht, dass selbst die als unverändert angenommenen Naturkonstanten ihre Werte mit der Entwicklung des Kosmos verändern könnten. Für Scheibe ist also Veränderung bzw. Veränderlichkeit allein schon Kriterium für Kontingenz. Man könnte hier einwenden, dass Veränderungen ja auch gesetzesartig und damit notwendig sein können. Hier ist jedoch die spezifische Struktur (natur)wissenschaftlicher Erklärungen zu berücksichtigen, die z.B. durch das sogenannte ‚Hempel-OppenheimSchema (HO-Schema)‘ beschrieben werden. Danach gilt ein Ereignis dann als erklärt, wenn es logisch aus einer Reihe von Aussagen folgt, die teilweise einen universellen Charakter haben (Gesetze), teilweise aber einen kontingenten Charakter haben (Anfangsbedingungen) und damit im Prinzip auch anders sein könnten. Solche kontingenten Bedingungen gelten nun in den Naturwissenschaften als wenigstens im Prinzip manipulierbar, d.h. als offen für technische Eingriffe. Damit sind aber auch die so erklärten Prozesse ‚willkürlich‘ und damit – wenn auch nicht tatsächlich, aber wenigstens prinzipiell – beeinflussbar. Tatsächlich haben solche Eingriffe in Bereiche, die früher als für den Menschen unzugänglich galten, ja auch stattgefunden. Beispiele sind die Raumfahrt, die den interplanetarischen Raum verändert, die Erzeugung von Atomkernen, die in der Natur nicht vorkommen (Transurane), und die Beeinflussung von Arten durch Züchtung bzw. deren Reduzierung durch Zivilisationsprozesse. Zunahme von Kontingenz bedeutet in den Naturwissenschaf-

55 Bernulf Kanitscheider, Kosmologie. Stuttgart Reclam 1984 S. 170. 58

1.2 KONTINGENZ

ten also letztlich, wie im vorangehenden Abschnitt festgestellt, eine Zunahme des Bereichs der Machbarkeit. In der Kosmologie ist, darauf sei abschließend hingewiesen, der Fall eingetreten, von dem Luhmannn gleich bei der Einführung des Begriffs der Kontingenz spricht (s.o. Abschn. 1.2.4): Der Anspruch auf Universalität führt bei einer Theorie notwendig dann zu Kontingenz, wenn sie sich als Teilsystem dieses übergreifenden Theoriensystems wiederfindet. Diese Situation tritt in der modernen Kosmologie immer wieder auf. Ein Beispiel ist das eben erwähnte Machsche Prinzip, das in seiner ursprünglichen Fassung, von der Einstein bei der allgemeinen Relativitätstheorie ausging, die geometrische Struktur von Raum und Zeit von der Verteilung der Materie im Weltall abhängig macht. Das führt zu der Frage, ob man den physikalischen Gesetzen überhaupt eine Allgemeinheit im strengen Sinne zuschreiben kann. Allgemeinheit in der Physik bedeutet ja, wie schon am HO-Schema erläutert, dass man wenigstens im Prinzip bei der Erklärung eines Vorgangs zeitlos geltende Gesetze von kontingenten Anfangsbedingungen trennen kann. Wenn die Gesetze – wie etwa das Gravitationsgesetz – selbst von Zeit und Ort im Universum abhängen, ist eine solche scharfe Trennung zwischen allgemeinen und kontingenten Bestandteilen im Explanans nicht mehr möglich. Damit entfällt auch die prinzipielle Möglichkeit einer experimentellen Prüfung der Gesetze durch Reproduktion gleichartiger Ereignisse.56 Ein anderes Beispiel liefert die Diskussion um das sogenannte ‚anthropische Prinzip‘, das in seiner schwachen Form besagt: „Weil es in dieser Welt Beobachter gibt, muss das Universum durch Gesetze regiert sein und Anfangsbedingungen besitzen, welche die Existenz dieser Beobachter zulassen.“57 Auch hier tritt ein kontingentes Element auf in der expliziten Forderung nach der Verträglichkeit der Gesetze mit der Existenz von Beobachtern, die solche Gesetze erkennen können.

1.2.7 Kontingenz und Geschichte Zum Abschluss soll noch einmal das Verhältnis von Kontingenz und Geschichte näher beleuchtet werden. Dazu sind noch zwei Aspekte von Kontingenz von Bedeutung, die bisher noch nicht berücksichtigt worden sind. Zum einen ist Kontingenz ebenso wie Sinn keine rein theoretische Kategorie, sondern auch eine der Erfahrung. Und zum anderen hat die Kontingenzerfahrung, wenn über sie gesprochen wird, die Form der Erzählung. Man kann Kontingenz geradezu als das kennzeichnen, was nur 56 Kanitscheider, a.a.O. S. 356 ff, S. 396 ff. 57 Ebd. S. 274. 59

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erzählt werden kann. Erzählung ist dabei gemeint in der weitesten Bedeutung: als mündliches Berichten, Erzählen einer Geschichte, die schriftliche Erzählung oder ihre mimetische Darstellung im Theater. Im Gegensatz dazu wird das Allgemeine als das von Zeit und Ort Unabhängige nicht wie Geschehenes erzählt, sondern erklärt.58 Umgekehrt ist eine Geschichte erst dann eine gute Geschichte, wenn sie etwas Überraschendes, Unvorhergesehenes oder Erstaunliches erzählt.59 Auch hier ist wieder daran zu erinnern, dass Kontingenz nicht als pure Zufälligkeit verstanden wird, sondern als das, was auch anders sein könnte, und zwar sowohl im Bereich der Gesellschaft als auch in der Natur. Das Bestehen einer Absicht beseitigt den kontingenten Charakter einer Handlung ebenso wenig wie die Existenz einer Ursache im Falle eines natürlichen Ereignisses. Nur die Notwendigkeit (z.B. der Nachweis von hinreichenden Ursachen und damit das Fehlen möglicher Alternativen) steht im Gegensatz zur Kontingenz. Die Erfahrung von Kontingenz ist ambivalent, denn sie bedeutet, dass das Schlimme, das wir fürchten und vermeiden wollen, möglicherweise doch eintritt, aber auch, dass das Gute, das wir erhoffen und erstreben, möglicherweise tatsächlich erreicht wird: Sie ist sowohl Herausforderung als auch Bedrohung, Abenteuer und Schicksal, Freiheit und Risiko. Die Erfahrung von Kontingenz ist die Voraussetzung von Hoffnung ebenso wie von Furcht. Vor allem ist sie „Erleben von Handlung“,60 und zwar des eigenen wie des fremden Handelns, sowohl im Alltag als auch in Grenzsituationen. Handlung als Umgang mit Kontingenz bedeutet nicht, sich nach bestimmten vorgegebenen Regeln verhalten, sondern die Regeln des eigenen Handelns selbst zu bestimmten, zu selektieren, und andere Regeln nicht zu befolgen. Und das Erleben von Handlung schließt Freiheit, aber auch Gelingen und Misslingen ein. Die Unberechenbarkeit von beidem wird – so Luhmann – mit „Freiheitskonzessionen“ aufgefangen und sogar sublimiert. Handlung ist die

58 „Geschichten müssen erzählt werden. Sie sind nicht prognostizierbar wie naturgesetzliche Abläufe oder wie geplante Handlungen, die zu Geschichten erst dann werden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt.“ Odo Marquard, „Narrare necesse est“. In ders., Philosophie des Stattdessen. Stuttgart Reclam 2000 S. 60. 59 „It seems probable that if we were never bewildered there would never be a story to tell about us; we should partake of the superior nature of the allknowing immortals whose annals are dreadfully dull so long as flurried humans are not, for the positive relief of bored Olympians, mixed up with them.“ Henry James, The Art of the Novel, New York 1970 S. 64f zitiert nach Martha C. Nussbaum, „Flawed Crystals.“ In diess., Love’s Knowledge. Oxford University Press 1990 S. 142. 60 Luhmann, SOS S. 159. 60

1.2 KONTINGENZ

Sinneinheit, die Kontingenzerfahrungen strukturiert. Die Erfahrung von Freiheit ist andererseits gebunden an die Erfahrung von Kontingenz, denn sie besteht eben darin, das tun zu können, was nicht notwenig ist und was nicht erwartet wird. Wo Kontingenz verschwindet, fällt das Mögliche mit dem Notwendigen zusammen und das Erlebnis von Freiheit, aber auch von Sinn, ist allenfalls Selbsttäuschung. Kontingenzerfahrung, strukturiert und gedeutet als Handlungserfahrung, kondensiert sich in Geschichte, Geschichte aber existiert ausschließlich in der Form der Erzählung. Die Erzählung ist, wenn man sie aus der Perspektive des Hörers bzw. Lesers betrachtet, ein Beispiel für die Luhmannsche Definition von Kontingenz als Beobachtung zweiter Art. Es ist offensichtlich, dass im Hören/Lesen von Erzählungen generell diese Situation gegeben ist, da der Hörer/Leser das Beobachten des Erzählers beobachtet. Auf die vielfältigen Potenzierungen dieser Situation durch die u.U. mehrfach verschachtelten Rahmen bei Erzählungen sei nur hingewiesen. Auch hier bieten sich die beiden Möglichkeiten der Gegenstandszurechnung oder der Beobachterzurechnung, und moderne und postmoderne Literatur kann man sicher in Übereinstimmung mit Luhmanns These dadurch kennzeichnen, dass sie hauptsächlich die Beobachterzurechnung zu ihrem Thema macht. Karlheinz Stierle strukturiert die Erzählung durch die „dreigliedrige Textkonstitutionsrelation von Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. Diese Relation bestimmt sich inhaltlich in dreifacher Hinsicht: 1. als Fundierungsrelation: das Geschehen fundiert die Geschichte, die Geschichte fundiert den Text der Geschichte; 2. als ‚hermeneutische‘ Relation: die Geschichte interpretiert das Geschehen, der Text der Geschichte interpretiert die Geschichte; 3. als Dekodierungsrelation: der Text der Geschichte macht die Geschichte sichtbar, die Geschichte macht das Geschehen sichtbar.“61 Diese Relationen sind lose Kopplungen, d.h. sie können in jeder narrativen Situation die drei Ebenen anders verbinden. „Das Geschehen ist in der Geschichte nicht gegeben, wohl aber als eigene Dimension impliziert.“ Die Geschichte erhält dadurch ein „Komplement von Unbestimmtheitsstellen“. Sinn hat nur die Geschichte, nicht das Geschehen. Insbesondere hat Geschichte Sinn als „Aneignungshandlung von Geschehen“. Sie ist im Hinblick auf das Geschehen eine „Reduktion“, d.h. in der Terminologie Luhmanns Selektion und damit Beobachtung. Sie legt durch das Geschehen eine ideelle Linie, die die „narrative Basisrelation der Geschichte konstituiert.“ Auch die Relation der Geschichte zum Text kann nicht einfach als „unvermit61 Karlheinz Stierle, Text als Handlung. UTB Taschenbuch. München Fink 1975 S. 49-55. 61

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telte sprachliche Manifestation“ verstanden werden, sondern lässt Spielräume offen für subjektive Varianten. Ricoeur benützt zur Darstellung der Zeitlichkeit der Erzählung den Begriff der Mimesis.62 Mimesis wird im allgemeinen mit ‚Nachahmung‘ übersetzt. Sie bezeichnet ebenfalls eine lose Kopplung zwischen der Nachahmung und dem Nachgeahmten und verweist als Vergegenwärtigung eines räumlich und zeitlich Abwesenden implizit auf eine mögliche Differenz, ein ‚Anders-sein-können‘. Sie taucht nach Ricoeur in der Erzählung in drei Ebenen auf. Einmal bildet sie eine Ebene des Vorverständnisses der Kategorien und Symbole, durch die wir Handlungen beschreiben und verstehen (Handlungssemantik). Zu ihr gehören Begriffe wie Handelnder, Ziel, Absicht, Mittel, Umstand, Erfolg usw., aber auch symbolische Gesten und ethisch-moralische Kategorien. Schließlich gehören auch zeitliche Strukturen dazu, die für den Aufbau eines Beschreibungskontextes erforderlich sind. Die zweite Ebene bildet die eigentliche Fabelkonstruktion, das ‚Als ob‘, mit der die Erzählung zur abgerundeten Totalität wird. Sie ist ein Vermögen der Einbildungskraft (Kant). Durch sie erhält die Erzählung ihr Thema, ihre Pointe, ihre „Handlung“ und damit ihren Sinn. Sie bestimmt auch den Anfang und vor allem das Ende der Erzählung und macht ein Mitvollziehen der erzählten Geschichte erst möglich. Diese Ebene bezeichnet Ricoeur deshalb auch als „Handlungsmimesis“. Die dritte Ebene schließlich hat den Zuhörer bzw. Leser der Erzählung im Blick, sie kann durch die Begriffe Kommunikation und Referenz gekennzeichnet werden. Es ist die Ebene, die sich – nach Ricoeur – einer rein sprachlichen Analyse entzieht und in der es um die Vermittlung von Erfahrungen geht und um die Frage nach Fiktion oder Wahrheit. Im Prozess des Hörens oder Lesens findet eine Verschmelzung der Horizonte der Texte mit dem Horizont des Hörers/Lesers statt, die zu einer Wechselwirkung zwischen dem Gelesenen und dem schon Erfahrenen bzw. Gewussten führt. Diese Verschmelzung ist möglich, weil das Erzählte als etwas in doppelter Hinsicht Mögliches erfahren wird, nämlich einmal als offen in Bezug auf seinen Ausgang, und zudem als etwas, was auch mir, dem Leser, eventuell zustoßen könnte. Beiden Analysen gemeinsam ist die Annahme einer mittleren Ebene der Binnenbeziehungen zwischen den Elementen des Geschehens (der ersten Ebene), die zu einer Handlung und damit zu einer sinnvollen Geschichte verknüpft werden, sowie einer dritten Ebene, der des Textes oder allgemeiner der Erzählung, in der die Verknüpfungen der Ge62 Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung. Bd.1: Zeit und historische Erzählung. München Fink 1988 S. 87-131. 62

1.2 KONTINGENZ

schichte mit ihrem Außen, mit dem Autor/Erzähler bzw. mit dem Leser/Hörer, liegen. In dieser dritten Ebene findet die Verschmelzung der Horizonte der Geschichten zum Welt-Horizont beim Erzähler sowie beim Hörer statt. Die Ebenen erweisen sich als verbunden durch ein komplexes Netz von kontingenten Relationen zwischen Geschehen, Geschichte und Text der Erzählung oder, um es auf der Ebene von Personen auszudrücken, zwischen Handelnden (Erlebenden) in der Geschichte, Erzähler und Hörer. Diese Rollen sind nicht starr fixiert: der Erzähler ist als Sprecher Handelnder und der Hörer/Leser wird im Mitvollzug der Erzählung zum Erlebenden. Diese mehrfache Horizontverschmelzung schafft den Raum, in dem sich die Erzählung über die Grenzen von Realität und Fiktion hinweg bewegt. Sie macht es möglich, dass wir uns im Hören oder Lesen von Geschichten Welt aneignen, deren Muster dann Teile unserer Handlungsdispositionen bilden. In der Kommunikationsform der Erzählung wird das Erlebnis von Kontingenz vermittelbar. Das macht es auch verständlich, dass das Erzählen und Hören von Geschichten sich in allen Kulturen als ein Grundbedürfnis des Menschen findet. Seit alters ist die Seereise mit dem Risiko des Schiffbruchs das Paradigma der Erfahrung von Bedrohung und Ausgesetztsein, aber auch der Errettung, und Blumenberg bezeichnet diesen Erzähl-Topos als „Daseinsmetapher“.63 Die Odyssee ist das klassische Beispiel einer Geschichte der Erfahrung von Kontingenz und der verlustreichen, aber letztlich erfolgreichen Auseinandersetzung mit ihr. In der Auseinandersetzung mit der kontingenten Welt konstituiert sich das Subjekt. Odysseus ist als Person identisch mit seiner Geschichte. Jemandem erklären, wer Odysseus ist, heißt, seine Geschichte erzählen. Das ist der Sinn von Wilhelm Schapps These, „dass wir den letztmöglichen Zugang zu dem Menschen über Geschichten von ihm haben.“64 Das Wissen, das wir über Personen haben, stammt zum großen Teil aus Erzählungen der Personen selbst oder anderer („das ist der, der ...“ bzw. „die, die ...“). Als Geschichte der Konstitution von Subjektivität durch Aufklärung wird die Odyssee bekanntlich von Horkheimer und Adorno gelesen. „Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen. Er überlässt sich ihnen immer wieder aufs neue, probiert es als unbelehrbarer Lernender, ja zuweilen als töricht Neugieriger, wie ein Mime unersättlich seine Rollen ausprobiert. ... Das ist das Geheimnis im Prozess zwischen Epos und Mythos: das Selbst 63 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt Suhrkamp 1979. 64 Wilhelm Schapp, IGV S. 103. 63

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macht nicht den starren Gegensatz zum Abenteurer aus, sondern formt in seiner Starrheit sich erst durch diesen Gegensatz, Einheit bloß in der Mannigfaltigkeit dessen, was jede Einheit verneint.“ 65

Die List des Odysseus besteht nicht in dem Versuch, Kontingenz zu eliminieren durch Systematik, durch eingeübte Techniken und genormte Handlungsmuster. Vielmehr beantwortet er sie durch kontingentes Verhalten. Willkür wird von Odysseus durch die Finte unterlaufen, der Gewalt wird die Täuschung entgegengesetzt. Erst die Fähigkeit, reflektierend und flexibel auf die widerfahrene Kontingenz zu reagieren, macht die Persönlichkeit, den Charakter aus. Voraussetzung für die Behauptung der eigenen Identität ist im Extremfall ihre Verleugnung, wie sie Odysseus Polyphem gegenüber praktiziert. Nur als Niemand kann er sich und den Rest seiner Gefährten retten. Um so prahlerischer muss er anschließend wieder seine Identität dem Polyphem vom Schiff aus enthüllen, wodurch er wiederum seine Rettung gefährdet. Es ist die Figur der doppelten Kontingenz, die Odysseus hier allerdings einseitig zu seinem Vorteil ausnützen kann, weil Polyphem das Verhalten seines Gegners nicht unter dem Aspekt der Kontingenz, sondern nur unter dem der Identität einschätzen kann. Für die Autoren verkörpert Odysseus das Moment der Aufklärung. Er verlässt die Welt des Mythos, in dem er die eigene Individualität gerade durch die Auflösung jeder starren Identifizierung durchhält. „Aus dem Formalismus der mythischen Namen und Satzungen, die gleichgültig wie Natur über Menschen und Geschichte gebieten wollen, tritt der Nominalismus hervor, der Prototyp bürgerlichen Denkens.“ Odysseus „bekennt sich zu sich selbst, indem er sich als Niemand verleugnet, er rettet sein Leben, indem er sich verschwinden macht.“66 Dies geschieht vor allem durch die Lösung der mythischen Identität zwischen Wort und Sache, zwischen Namen und Person. „In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe. Er nennt sich Niemand, weil Polyphem kein Selbst ist, und die Verwirrung von Name und Sache verwehrt es dem betrogenen Barbaren, der Schlinge sich zu entziehen. [...] Denn indem Odysseus dem Namen die Intention einlegt, hat er ihn dem magischen Bereich entzogen. Seine Selbstbehauptung aber ist wie in der ganzen Epopöe, wie in aller Zivilisation, Selbstverleugnung.“67

65 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt Fischer 1969 S. 53-54. 66 Ebd. S. 68. 67 Ebd. S. 75. 64

1.2 KONTINGENZ

Individualität kann sich also nur im Umfeld einer kontingenten Welt ausbilden. Diese Erkenntnis paraphrasiert die Leibnizsche Aussage, von der das erste Kapitel handelte, dass nämlich Kontingenz ein Merkmal von Individualität sei.

1.2.8 Kontingent ist, was nur erzählt werden kann Überblickt man die in den vorangehenden Abschnitten angeführten Bedeutungen des Begriffs Kontingenz, so scheint es schwierig zu sein, eine knappe Charakterisierung zu liefern, die alle genannten Aspekte berücksichtigt. Am ehesten scheint diese Forderung noch durch die im letzten Abschnitt gegebene Kennzeichnung erfüllt zu werden, nach der kontingent ist, was man nur erzählen kann. Diese Definition stellt eine Abgrenzung dar gegenüber solchen Ereignissen oder Attributen, die erklärbar sind in dem Sinne, dass man hinreichende Ursachen angeben kann, die ihr Eintreten bzw. ihr Bestehen als notwendig erscheinen lassen. Und damit ist das, was nur erzählt werden kann, eben auch das, was möglicherweise auch hätte anders sein können und also nicht notwendig ist (1.2.1-2). Was nicht notwendig ist, ist auch nicht vorhersagbar und damit unbestimmbar. Anders als Leibniz und ein aufklärerischer Fortschrittsoptimismus nahe legten, teilt der Bereich der Kontingenz nicht das Schicksal der einstigen weißen Flecken auf den Landkarten, sich stetig zu verkleinern und schließlich zu verschwinden. Zwar ist es das Bestreben der klassischen Naturwissenschaften, alles Geschehen als die Folge von hinreichenden Ursachen zu verstehen und damit einerseits als notwendig und andererseits als vorhersagbar zu erklären. Allerdings hat sich gezeigt, dass im Laufe dieser Entwicklung immer wieder neue Kontingenzfelder aufgetaucht sind. Denn mit neuem Wissen wird immer auch neues Nichtwissen produziert. So werden durch methodenkritische Reflexionen bei Paradigmenwechseln oft Wissensbereiche, die als ‚exakt‘ oder sogar als apriorisch galten, als kontingent erklärt. Beispiele dafür wurden in Abschn.1.2.6 genannt. Schließlich ist auf Luhmanns Einsicht hinzuweisen, dass immer dann, wenn eine Theorie auftaucht mit dem Anspruch, umfassend und universell zu sein, sich die Frage nach dem Standort stellt, von dem aus die Theorie formuliert ist (1.2.4). Damit ist wieder der Beobachter im Spiel, dessen nichtreduzierbare Präsenz immer ein Indiz für Kontingenz ist. Und schließlich machen diese Überlegungen deutlich, dass die Grenzen zwischen Notwendigkeit, Möglichkeit und Kontingenz nicht unverrückbar sind, sondern vom historischen oder gar persönlichen Standpunkt abhängen und damit selbst kontingent sind. 65

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Die drei wesentlichen Kennzeichen von Kontingenz, der modale Aspekt (1.2.1-2), ihr durch den Bezug zu Beobachtung und zu Beobachtern gegebener reflexiver Zug (1.2.5) und die narrative Form, in der sich Kontingenz sprachlich darstellt (1.2.7), sind also eng miteinander verknüpft. Die Beziehungen zwischen Kontingenz und Handlung (1.2.3) sind komplexer. Nicht alles, was kontingent ist, ist ‚gemacht‘. Es kann Zufall sein. Als Zufall bezeichnen wir es, wenn es zwar notwendige, aber keine hinreichenden Ursachen hat und also nicht vorhersehbar oder vorhersagbar ist. Aber nur Kontingentes können wir als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Folge einer Handlung interpretieren und ihm so einen Sinn geben. Kontingenz ist also Voraussetzung einerseits für die Möglichkeit von Spontaneität und freiem Handeln und andererseits für die Möglichkeit von Sinn (1.2.4). Das folgende Kapitel wendet sich ganz dem Begriff der Individualität zu, und zwar im Besonderen, wenn auch nicht ausschließenden Sinne der dinglichen Individualität. Es wird sich ergeben, dass Kontingenz und Geschichtlichkeit das Band bilden, das dingliche und personale Individuen verbindet und dadurch sichtbar macht. In Geschichten werden Einzeldinge auf Personen bezogen und Personen werden in Kontexten aus Dingen und Ereignissen erst greifbar.

66

1.3 I N D I V I D U AL I T ÄT

1.3.1 Individualität bei Ereignissen, Dingen und Personen Ziel dieses Kapitels ist die Aufstellung eines Kriteriums für Individualität sowie eine Klärung des Vorgangs der Individuation. Die Ausführungen des vorangehenden Kapitels haben Kontingenz als wesentliches Merkmal von Individualität ausgewiesen. Daraus folgt, dass Individualität nicht nur begriffslogisch definiert werden kann. Das wird sich in diesem Kapitel so äußern, dass das vorgeschlagene Kriterium negativ ist, d.h. Individualität durch das Fehlen bestimmter Merkmale kennzeichnet. Dagegen kann die Individuation als Akt durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet werden. Die folgenden Überlegungen haben, dem Thema der Arbeit entsprechend, vor allem dingliche Individualität im Auge, was aber nicht bedeutet, dass sie keine Bedeutung für die Individualität bei Personen, Ereignissen oder Orten hätten. Es wird sich zeigen, dass dingliche Individualität immer auf die Individualität von Personen und von Ereignissen verweist, was ebenso umgekehrt gilt. Bei der begrifflichen Bestimmung von Individualität beziehe ich mich vor allem auf zwei Monographien zu diesem Thema von Strawson1 und von Gracia2. Strawson bezeichnet seine Methode als ‚deskriptive 1

2

Peter F. Strawson, Individuals. London Methuen 1959. dt.: Einzelding und logisches Subjekt (ELS), Stuttgart Reclam 1972. Strawsons Begriff ‚individual‘ umfasst sowohl Dinge als auch Personen. Da sein Individualitätsbegriff sich mit dem hier verwendeten nicht genau deckt, verwende ich bevorzugt den Begriff ‚Einzelding‘, wenn ich mich auf Strawson beziehe. Jorge J.E. Gracia, Individuality. An Essay on the Foundations of Metaphysics (IND). New York, State University of New York Press 1988. 67

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Metaphysik‘, die teilweise durchaus phänomenologische Züge trägt, und die er einer ‚revisionären Metaphysik‘ gegenüberstellt. Als typische Vertreter der ersteren nennt er Aristoteles und Kant, während er Descartes, Leibniz und Berkeley der letzteren zurechnet.3 Ziel der deskriptiven Metaphysik ist es, „die allgemeinsten Grundzüge unserer begrifflichen Strukturen freizulegen“, während die revisionäre Metaphysik nach neuen und besseren Strukturen sucht.4 Die Methode der deskriptiven Metaphysik ist in erster Linie die „Untersuchung des tatsächlichen Wortgebrauchs“. Dies allein reicht allerdings nicht aus, da die gesuchten Strukturen „nicht an der Oberfläche der Sprache“5 zu erkennen sind, sondern darunter verborgen liegen. Gracia nennt seine Untersuchung im Untertitel ‚An Essay on the Foundations of Metaphysics‘ und er verfährt vor allem begriffsanalytisch. Er geht aus von der in der mittelalterlichen Philosophie von Boethius bis Suarez geführten und in der aristotelischen Tradition stehenden Diskussion des Begriffs Individualität. Dieser Begriff bildet – zusammen mit seinem Gegenbegriff Allgemeinheit (Universalität) – das zentrale Thema des sogenannten Universalienstreits. In dieser Auseinandersetzung stehen sich die Realisten, die für die Realität der Allgemeinbegriffe (Universalien) eintreten, und die Nominalisten gegenüber, die Allgemeinbegriffe lediglich für Bezeichnungen (Namen) halten und nur den Einzeldingen (Individuen) Realität zubilligen. Die im Laufe dieser Auseinandersetzungen entwickelten Definitionen konfrontiert Gracia mit der in der analytischen Philosophie seit etwa 1950 vor allem durch Ayer, Goodman, Quine und Strawson6 neu angestoßenen Diskussion über den Individualitätsbegriff. Vollständig ausgeblendet bleibt in beiden Arbeiten dabei die Subjektphilosophie von Kant bis Nietzsche. Aber auch die zentrale Rolle, die dieser Begriff in der Philosophie Leibniz’ spielt, bleibt außerhalb des Horizonts dieser Untersuchungen. Individualität wird sowohl umgangssprachlich als auch in der Philosophie vor allem mit Personen in Zusammenhang gebracht. Aber auch Dinge behandeln wir oft als unersetzlich und individuell, und Ereignisse sind einmalig und deshalb ebenfalls individuell. Gleichwohl klassifizieren wir sprachlich Personen, Dinge sowie Ereignisse als Zuschauer, Mobiltelefone oder Geburtstage. Was bedeutet es, einem Zuschauer, einem Mobiltelefon oder einem Geburtstag Individualität zuzuschreiben? Wenn man Individualität nicht einfach vage als ‚Element der

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Strawson, ELS S.9. Ebd. S.9. Ebd. S.10. Einzelnachweise bei Gracia, IND

1.3 INDIVIDUALITÄT

Welt‘7 postulieren will, dann erfordert das Reden über individuelle Dinge eine Rechtfertigung und Klärung. Mir geht es dabei aber nicht in erster Linie wie Gracia um eine scharfe Grenzziehung zwischen den Extensionen und Intensionen der Begriffe Individualität und Universalität oder um eine Definition des ontologischen Status von Individuen. Da ich mich vor allem mit der Individualität von (materiellen) Dingen, insbesondere Artefakten, befassen will, soll dieses Kapitel klären, unter welchen Voraussetzungen und Umständen wir Dingen Individualität zuschreiben. In Abwandlung des Goodmanschen Vorschlags für die Philosophie der Kunst8 will ich die Frage ‚Was ist ein Individuum?‘ ersetzen durch die Frage ‚Wann ist etwas ein Individuum?‘, die mir ergiebiger erscheint. Das Kriterium, das dieser Art zu fragen entspricht, ist also kein ontologisches, sondern ein pragmatisches. Es liefert deshalb auch keine scharf umrissene Klasse von Gegenständen, die Individuen sind, und es erlaubt nicht, etwa körperlichen Einzeldingen automatisch Individualität zuzuschreiben. Es führt jedoch am Ende dieses Kapitels zu einem Verständnis des Aktes der Individuation, durch den ein Gegenstand zum Individuum wird. Gracia behandelt in den sechs Kapiteln des Buches sechs verschiedene Aspekte von Individualität: ihre Intension, ihre Extension, ihren ontologischen Status, das Prinzip der Individuation, die Unterscheidbarkeit von Individuen und den sprachlichen Bezug auf Individuen. Ich werde mich im Folgenden vor allem mit den Ergebnissen des ersten und des letzten Kapitels seiner Untersuchung auseinandersetzen. Im ersten Kapitel über die Intension des Begriffs versucht Gracia zu zeigen, dass sich der Sinn von Individualität nicht mit dem Sinn der Begriffe Unteilbarkeit (indivisibility), Unterscheidbarkeit (distinction), Teilhabe (division), Identität oder Unprädizierbarkeit (impredicability) deckt. Alle diese Begriffe sind in der Geschichte der Philosophie schon herangezogen worden, um den Begriff Individualität zu erläutern. Am Ende dieses Kapitels formuliert Gracia seinen eigenen Vorschlag, Individualität zu definieren als ‚noninstantiability‘. Bevor dieser Begriff erläutert wird, will ich auf das Verhältnis der fünf genannten Begriffe zu dem der Individualität eingehen, da diese Verhältnisse im Folgenden verschiedentlich thematisiert werden.

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Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt. München Beck 2000. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung. Frankfurt Suhrkamp 1984 S. 76. 69

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1.3.2 Ein- und Abgrenzungen Bei diesem Abgrenzungsversuch werde ich wie Gracia von einem intuitiven Verständnis dessen ausgehen, was wir als Individuum bezeichnen und was nicht. Allerdings werden meine Resultate sich teilweise von denen Gracias unterscheiden, weil sein Verständnis von Individualität weiter ist. Ich will mich auf den genannten Kernbereich beziehen, zu dem vor allem Dinge und Personen, Ereignisse und Orte gehören. Gracia will Individualität dagegen auch bestimmten Eigenschaften oder Merkmalen (features) zuschreiben. Er versucht deshalb zu zeigen, dass die angegebenen Begriffe alle nicht geeignet sind, notwendige und hinreichende Kriterien für Individualität zu liefern, die auch in allen Grenzfällen anwendbar sind.

1.3.2.1 Individualität und Unteilbarkeit Die Etymologie des lateinischen Wortes ‚individuum‘ legt es nahe, Unteilbarkeit als ein Kriterium für Individualität zu betrachten. Allerdings kann Unteilbarkeit schlechthin keinesfalls eine Eigenschaft aller Individuen sein, denn natürlich kommt es vor, dass ein bestimmter individueller Tisch zersägt wird oder ein Mensch bei einem Unfall in Stücke zerrissen wird. Die Vertreter dieses Kriteriums haben unter Unteilbarkeit (indivisibility) vielmehr verstanden, dass ein Individuum nicht in Teile der gleichen Art wie das Original geteilt werden könne.9 Auch gegen diese Definition von Individualität sind Gegenbeispiele genannt worden. Sie beruhen auf zwei Typen: auf homogenen Substanzen und Ansammlungen. Eine bestimmte Menge Wasser kann in zwei bestimmte Mengen Wasser aufgeteilt werden, und ein Steinhaufen kann in zwei Haufen Steine geteilt werden. Da man einer bestimmten Menge Wasser oder einem bestimmten Steinhaufen u.U. Individualität zusprechen kann, ist es schwierig, diese Gegenbeispiele zu entkräften. Aber auch bei der biologischen Reproduktion, z.B. bei der Teilung einzelliger Organismen oder bei der ungeschlechtlichen Teilung bestimmter mehrzelliger Organismen, entstehen neue Organismen gleicher Art. Wenn man diesen Prozess wie üblich Teilung nennt und den betreffenden Organismen Individualität zubilligt, handelt es sich hierbei ebenfalls um Gegenbeispiele. Nun kann man natürlich sagen, dass die bei Teilung eines Steinhaufens entstehenden Haufen nicht mehr mit dem ungeteilten Haufen identisch sind. Beim Teilen wird der individuelle Haufen ebenso zerstört wie der Tisch beim Zersägen. Andererseits kann ein Individuum Teile verlie9 70

Gracia, IND S. 30.

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ren, ohne dadurch seine Identität einzubüßen. Ob mit einer geeigneten Interpretation von Teilbarkeit eine generelle Unteilbarkeit des (einzelnen) Individuums vereinbar ist, ist schwer zu entscheiden. Auf die (nach Gracias Meinung letztlich missglückten) Versuche, das Kriterium durch weitere Einschränkung und Präzisierung des Begriffs der ‚Teilbarkeit in gleichartige Teile‘ zu retten, soll hier deshalb nicht eingegangen werden. In einer jüngst erschienenen umfangreichen Untersuchung versucht Friedemann Buddensiek, Individualität vom Begriff der Einheit aus zu verstehen. Seine These besagt: „Ein Individuum, das ein materieller Gegenstand ist, ist ein Funktionsgefüge. [...] Die Einheit des Individuums besteht in der synchronen und diachronen Kohärenz dieses Gefüges.“10 Es zeigt sich im Laufe dieser Untersuchung sehr bald, dass sich ein solches Kriterium vor allem bei der Anwendung auf (lebende) Organismen bewährt. Bei leblosen Gegenständen stößt man dagegen auf eine Vagheit, die mit dem sog. Sorites-Problem (Haufen- bzw. Kettenschluss) zusammenhängt, wonach nicht definiert werden kann, wie viele Teile man von einem Gegenstand entfernen (oder ihm zufügen) kann, ohne dass er ein anderer wird.11 Diese Vagheit lässt sich bei Organismen als Flexibilität interpretieren, da aufgrund der Selbstorganisation eine Selbständigkeit gegenüber anderen Gegenständen besteht, die die Einheit konstituiert.12 Leblosen Dingen kann man eine Selbständigkeit und damit Einheit in dieser Weise nicht zuschreiben. Da wir aber Dinge in vielen Fällen als Individuen behandeln, ist dieser Ansatz zur Charakterisierung dinglicher Individualität nicht geeignet, und tatsächlich beschränkt Buddensiek seine Untersuchung auf Organismen.

1.3.2.2 Individualität und Verschiedenheit Ein weiterer Begriff, der als Kriterium für Individualität vor allem in der modernen philosophischen Literatur eine Rolle spielt, ist der Unterschied oder die Verschiedenheit (distinction). Nach dieser Auffassung ist es eine Erfahrungstatsache, dass sich Individuen voneinander unterscheiden. Danach wäre die Verschiedenheit (vor allem von anderen Individuen) eine notwendige Bedingung für Individualität. Allerdings unterscheiden sich nicht nur Individuen, sondern auch Begriffe wie etwa verschiedene Arten, und damit kann Verschiedenheit schlechthin keine hinreichende Bedingung für Individualität sein. Es wird deshalb oft unterschieden zwischen individuellem und spezifischem Unterschied. Der 10 Friedemann Buddensiek, Die Einheit des Individuums. Eine Studie zur Ontologie der Einzeldinge. Berlin de Gruyter 2006 S. 7 f. 11 Ebd. S. 59 f. 12 Ebd. S. 118 f. 71

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nicht-spezifische Unterschied wird mitunter (so z.B. bei Leibniz) auch als numerischer Unterschied bezeichnet. Ein solcher ist z.B. eine räumliche Verschiedenheit (zu einer bestimmten Zeit). Die Tatsache, dass sich zwei Dinge zu einer bestimmten Zeit an unterschiedlichen Orten aufhalten, reicht jedoch nicht hin, sie als zwei verschiedenen Individuen zu bezeichnen. Gegenbeispiele sind mikroskopische Partikel wie die Bosonen (z.B. Photonen oder Helium-Kerne), denen, wie in Teil 3 näher ausgeführt wird, wesentliche Merkmale von Individualität fehlen. Vertauscht man in Gedanken zwei Bosonen, die sich an verschiedenen Orten befinden, so ändert dieser Austausch nichts am Zustand der Welt, es geht keinerlei Wirkung von ihm aus und er ist damit auch nicht nachweisbar. Wenn also Verschiedenheit als ein hinreichendes Kriterium brauchbar sein soll und raumzeitliche Unterschiede nicht hinreichend sind, muss man andere nichtspezifische Unterschiede benennen können. Man benötigt also ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen individuellen und spezifischen Unterschieden, das natürlich, um einen Zirkelschluss zu vermeiden, selbst unabhängig vom Begriff des Individuellen sein muss. Eine solche Unterscheidung ist im Sinne einer Klassifizierung nicht möglich. Der Grund dafür ist, dass Unterschiede zwischen Dingen meistens in Form von Eigenschaften und damit mit Hilfe von Allgemeinbegriffen gedacht werden. Was damit konkret gemeint ist, soll an einem einfachen Beispiel erläutert werden. Ich kann z.B. meine Jacke von einer desselben Schnitts und derselben Farbe durch einen bestimmten Fleck oder den Tascheninhalt unterscheiden. Solche Unterschiede sind kontingent und deshalb individuell, weil sich das unterscheidende Merkmal auf die Geschichte des Individuums beziehen. Individuelle oder kontingente Unterschiede lassen sich deshalb nicht klassifizieren. Zudem können sich die Eigenschaften eines Individuum im Laufe seiner Geschichte ändern. Unterscheidbarkeit taugt also nicht als Kriterium für Individualität, weil der Begriff einerseits zu weit ist und andererseits nicht ohne Zirkel (d.h. ohne Verwendung des Begriffs individuell oder kontingent) so eingeschränkt werden kann, dass er genau die Unterschiede zwischen Individuen bezeichnet. Gracia nennt als ein weiteres Argument gegen das Kriterium der Verschiedenheit die Möglichkeit der Existenz eines Universums, das nur aus einem einzigen Individuum besteht.13 Die Beweiskraft oder Relevanz eines solchen Gedankenexperiments erscheint mir fraglich trotz der Versicherung Gracias, es genüge für die Rolle als Gegenbeispiel schon die Widerspruchsfreiheit der Annahme. Interessanter ist ein damit zu13 Gracia, IND S. 35. 72

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sammenhängendes Argument. Individualität soll nach Gracia ein inneres Kennzeichen (intrinsic feature) des Individuums sein.14 Nun ist klar, dass Verschiedenheit eine äußerliche Relation (extrinsic relation) zwischen Objekten. ist und auf keine Weise als nichtrelationale Eigenschaft interpretiert werden kann. Andererseits kann Individualität nach der von mir vertretenen Auffassung nicht als rein intrinsisches Merkmal gedacht werden, wenn man Kontingenz, d.h. Geschichtlichkeit als ein Merkmal von Individualität betrachtet. Denn Geschichtlichkeit bedeutet immer Bezug auf andere Individuen (z.B. Ereignisse, Orte, Personen). Folgt man dieser Auffassung, so ist eine Welt, die nur aus einem einzigen Individuum besteht, nicht nur unvorstellbar, sondern überhaupt keine ‚Welt‘, und ein weltloses Individuum ohne Bezug auf andere ist undenkbar.

1.3.2.3 Individualität und Teilhabe Der dritte Kandidat, dessen Eignung zur Kennzeichnung von Individualität Gracia analysiert, ist der Begriff ‚division‘.15 Er taucht in diesem Zusammenhang in zwei Bedeutungen auf: als Teilung und als Teilhabe. Im ersten Sinne wird Individualität als das verstanden, was eine Spezies in verschiedene Individuen teilt. Im zweiten Sinne wird das Individuum gekennzeichnet als Teil einer Gruppe, nämlich der Gruppe von Individuen, die die Art oder Gattung bilden, der es zugehört. Ein Individuum wäre nach diesem Kriterium das, was einerseits die Art in einzelne Exemplare teilt und andererseits als ein solches an der Art oder Gattung teilhat. Hier kann man einwenden, dass es sehr wohl denkbar ist, dass eine Art nur aus einem einzigen Individuum besteht, also dieses Individuum seine Art nicht teilt (einige Scholastiker haben die Engel für Individuen gehalten, wobei jeder für sich eine eigene Art repräsentiert). Auch die Leibnizsche individuelle Substanz kann jeweils als eigene Art aufgefasst werden (Abschn. 1.1.3). Andererseits wird eine Gattung durch ihre Arten und die Art durch eventuelle Unterarten geteilt, so dass also auch Allgemeinbegriffe andere Allgemeinbegriffe teilen bzw. an ihnen teilhaben können. Teilung oder Teilhabe (im Sinne von Teil sein) kann also weder als notwendige noch als hinreichende Bedingung für Individualität gelten.

14 Gracia, IND S. 36. 15 Ebd. S. 37 f. 73

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1.3.2.4 Individualität und Identität Schwieriger ist die Klärung der Beziehungen zwischen den Begriffen Individualität und Identität bzw. Selbigkeit. Beide Begriffe sind eng verwandt und werden deshalb oft vermischt bzw. verwechselt. Gracia gibt den interessanten Hinweis, dass für mittelalterliche Autoren ‚identitas‘ nicht primär ein Merkmal eines Gegenstands, sondern die Fähigkeit eines Beobachters war, einen bestimmten Gegenstand als denselben zu „identifizieren“.16 Der Begriff hatte dort also eine erkenntnistheoretische Bedeutung und bezeichnete das Vermögen, etwas als dasselbe wieder zu erkennen. Eine solche epistemische Konnotation, verbunden mit dem Bezug auf den Beobachter, macht den Begriff Identität in Gracias Augen untauglich als Kriterium für Individualität, da er diese als inneres Merkmal des Individuums versteht. Mir erscheint jedoch das Verständnis von Identität als das, was das Erkennen und Wiedererkennen eines Individuums ermöglicht, gerade wesentlich zu sein. Allerdings nicht in einem rein epistemischen, sondern eher transzendentalen Sinne, als die Möglichkeit dieses Erkennens und Erkanntwerdens. Identität kann deshalb weder rein intrinsisch noch rein extrinsisch sein. Allerdings stehen die jeweiligen Kriterien für Individualität und Identität in einem komplexen Wechselverhältnis, von dem noch mehrfach die Rede sein wird (s.u. Abschn. 1.5.3 u. 1.5.4). Einige Überlegungen zu diesem Begriff, der sowohl in der Philosophie als auch im Alltagsdiskurs eine so prominente Rolle spielt, sind deshalb unerlässlich. Der Gebrauch der Begriffe ‚Identität‘, ‚identifizieren‘, ‚identisch sein‘, ist nicht völlig konsistent. ‚Identisch sein‘ ist gleichbedeutend mit ‚dasselbe sein‘ und es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, das man diese Relation nur auf eine Sache in Bezug auf sich selbst anwenden darf.17 Manchmal wird der Terminus ‚identisch sein‘ allerdings auch einfach anstelle von ‚gleich sein‘ benützt, und entsprechend wird er dann formal durch ein Gleichheitszeichen ausgedrückt. Im Falle von Elementarteilchen etwa spricht man oft von identischen Teilchen und meint damit Ununterscheidbarkeit, was wiederum paradoxerweise gerade bedeutet, dass man ihnen keine Identität zugesteht. Man spricht auch von gleichen oder identischen Mengen oder Begriffen, wenn sie denselben Umfang haben, wie im Falle der gleichseitigen und der 16 Gracia, IND S.39. 17 „Identität [...], zweistellige Beziehung zwischen Gegenständen beliebiger Bereiche, die dadurch ausgezeichnet ist, dass jeder Gegenstand allein zu sich selbst in dieser Beziehung steht.“ Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg Jürgen Mittelstraß. Stuttgart Metzler 2004. Stichwort Identität. 74

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gleichwinkligen Dreiecke. Allerdings sind deren Intensionen verschieden. Deshalb sollen zuerst die Begriffe Identität und Gleichheit gegeneinander abgegrenzt werden. Gleichheit hat eine operative Bedeutung insofern, als man in Handlungskontexten etwas durch etwas Gleiches ersetzen kann. So kann man in einer mathematischen Gleichung eine Größe durch eine gleich große ersetzen, und bei einer Reparatur wird ein defektes Teil durch ein gleiches funktionsfähiges ersetzt. Das Ersatzteil ist aber natürlich nicht identisch mit dem ausgetauschten Teil. Aristoteles beschränkt in den Kategorien die Anwendung von Gleichheit bzw. Ungleichheit auf die Kategorie der Quantität.18 Qualitäten können für ihn nur ähnlich, aber nicht gleich sein. Dies ist einsichtig, denn wir haben im Grunde für die Qualitäten (Farben, Töne, Gerüche, aber auch Form oder Geschwindigkeit) kein unmittelbares Kriterium in den betreffenden Sinnen, das uns ein Urteil über exakte Gleichheit oder Ungleichheit zweier Qualitäten erlaubt. Dieses Urteil ist uns heute auf dem Umweg über eine Messung möglich, da wir im Wesentlichen alle Qualitäten durch Messverfahren quantifiziert haben. Deshalb können wir heute von gleichen Farben oder Tönen ebenso wie von gleichen Längen oder Geschwindigkeiten sprechen. Allerdings nennen wir z.B. zwei Töne gleich, wenn sie gleiche Tonhöhe haben, auch wenn sie von verschiedenen Instrumenten erzeugt werden und deshalb verschiedene Klangfarben haben. Gleichheit bedeutet also meist nicht Ununterscheidbarkeit, vielmehr spielen die Unterschiede in dem betreffenden Kontext keine Rolle. Entsprechend reden wir von gleichen Dingen dann, wenn diese gleiche spezifische Eigenschaften haben, d.h. vom selben Typ sind. Das gilt besonders für Artefakte (er hat die gleiche Jacke oder das gleiche Auto), aber auch von nichtmenschlichen Organismen, die derselben Art angehören (die gleichen Blumen, der gleiche Hund). Auf Menschen wird der Begriff der Gleichheit vor allem in einem normativen, nicht in einem faktischen Sinn angewandt, d.h. wir sprechen davon, dass die Menschen z.B. gleich sind in Bezug auf ihre Rechte (vor dem Gesetz, vor Gott). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gleichheit neben der operativen bzw. quantitativen Bedeutung in der Mathematik und generell in der Wissenschaftssprache sich umgangssprachlich auf Eigenschaften bzw. bei Dingen auf gleiche Merkmale bezieht, nicht jedoch Ununterscheidbarkeit bedeutet. In all diesen Fällen sprechen wir nicht (oder höchstens bei sehr nachlässiger Formulierung) von Identität. Der Bedeutung von Identität nähert man sich am besten bei Betrachtung des umgangssprachlichen 18 Aristoteles, Kategorien Kap.6 6a. 75

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Gebrauchs des Verbs ‚identifizieren‘. Dabei geht es etwa darum, die Identität einer Person festzustellen, z.B. indem man den Verursacher einer Tat (etwa einen Dieb) als dieselbe Person ermittelt, die den Namen X und das Geburtsdatum Y und den Wohnort Z hat. Oder man sagt dann, dass der Dieb identisch ist mit der Person, die in der Nacht vorher einen Einbruch im Nachbarhaus begangen hat. Ebenso kann man einen Gegenstand identifizieren, etwa eine Tatwaffe. In diesem Falle wird besonders deutlich, dass Identität mit Gleichheit nichts zu tun hat, denn es mag viele völlig gleichartige Waffen geben, die alle nicht mit der Tatwaffe identisch sind. Allerdings muss es auch bestimmte (kontingente) Unterschiede geben, an denen sich die Identität der Tatwaffe festmachen lässt, wie z.B. Fingerabdrücke, genetische Spuren oder einfach ihr Fundort. In Bezug auf diese Merkmale unterscheidet sich diese Waffe von den anderen gleichen Typs. ‚Identifizieren‘ bedeutet also keinesfalls Klassifizieren, d.h. Zuordnung zu einem Begriff, sondern Zuordnung zu einem Individuum – so jedenfalls soll Identität hier ausschließlich verwendet werden. Das Feststellen der Identität einer Sache oder Person impliziert also immer die Unterscheidbarkeit gegenüber anderen, Identität und Differenz bedingen sich damit gegenseitig. Darauf macht Hegel in seiner Logik19 aufmerksam, und Heidegger verdeutlicht diesen Sachverhalt in dem Aufsatz Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik: „Allein das Selbe ist nicht das Gleiche. Im Gleichen verschwindet die Verschiedenheit. Im Selben erscheint die Verschiedenheit.“20 Adorno dagegen subsumiert die logische Gleichheit unter den Begriff Identität, merkt jedoch dazu an, dass Identität in der Philosophie mehrsinnig verwendet werde. Er unterscheidet vier Designationen dieses Begriffs in der Philosophie: „die Einheit persönlichen Bewusstseins“, „das in allen vernunftbegabten Wesen gesetzlich Gleiche [...], Denken als logische Allgemeinheit“, „die Sichselbstgleichheit eines jeglichen Denkgegenstandes“ und schließlich „dass Subjekt und Objekt, wie immer auch vermittelt, zusammenfallen.“21 Nur die dritte Bedeutung kommt dem nahe, was hier unter dinglicher Identität verstanden wird. Dass Adorno sie jedoch als 19 „So ist es die leere Identität, an welcher diejenigen festhangen bleiben, welche [...] immer vorzubringen pflegen, die Identität sei nicht die Verschiedenheit, sondern die Identität und die Verschiedenheit seien verschieden. Sie sehen nicht, dass sie schon hierin selbst sagen, dass die Identität ein Verschiedenes ist.“ G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd.6, Wissenschaft der Logik II. Frankfurt Suhrkamp 1969 S. 41. 20 Martin Heidegger, „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“. In ders., Identität und Differenz. 6.Aufl. Neske Pfullingen 1978 S. 35. 21 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Frankfurt Suhrkamp 1966 Anmerkung S. 143. 76

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Sichselbstgleicheit beschreibt, zeigt, dass er sie im Grunde nicht scharf von der zweiten Bedeutung, der Gleichheit, trennt. Folgerichtig spricht Adorno vom „unersättliche Identitätsprinzip“, das er „der Unterdrückung des Widersprechenden“ und damit „der Gewalttat des Gleichmachens“ bezichtigt.22 Inwieweit ein Begriff von Identität, der sich gegen Gleichheit abgrenzt und gerade die Differenz als konstitutiv mit einbezieht, diesen Vorwurf verdient, kann hier nicht in der erforderlichen Ausführlichkeit diskutiert werden. Obwohl auch die Umgangssprache hier nicht immer konsequent ist, kann man doch sagen, dass das Gegenteil von das- (bzw. die-, der-) ‚selbe‘ eben nicht ‚verschieden‘ ist, sondern das (die, der) ‚andere‘‚ während ‚verschieden‘ das Gegenteil von ‚gleich‘ ist. Für den Begriff Identität ist die Differenz ‚dasselbe – das andere‘ konstitutiv, für den Begriff Gleichheit die Differenz ‚gleich – verschieden‘. Gleichheit bezieht sich auf (gleiche) Merkmale, nicht aber Identität (dieselbe Person kann als Kind ganz andere Merkmale gehabt haben). Dass sich Selbigkeit nicht auf allgemeine Merkmale bezieht, zeigt übrigens schon die Tatsache, dass man es nur als Pronomen unflektiert (‚selbst‘) oder mit dem bestimmten Artikel (‚dasselbe‘, ‚dieselbe‘, ‚derselbe‘) im Sinne von Selbigkeit benützen kann, nicht aber als Adjektiv (wie das im Falle von ‚gleich‘ und ‚verschieden‘ möglich ist). Versteht man Identität als Selbigkeit, dann ist Individualität von Dingen und Personen eine notwendige Voraussetzung dafür, dass man ihnen Identität zuschreiben kann. Allerdings ist Individuation nicht automatisch mit Identität verbunden, wie sich in Teil 3 zeigen wird. Deshalb ist Identität nicht als Kriterium für Individualität geeignet. Zudem verwenden wir Identität oft im Sinne von Selbigkeit über die Zeit (transtemporale Identität), eine Dimension, die dem Begriff der Individualität fehlt. Allerdings ist der Bezug auf die Dauer kein notwendiges Merkmal von Identität oder Selbigkeit. Auch bei Ereignissen und Zeitpunkten („verschiedene Quellen beziehen sich auf dasselbe Ereignis“ oder „wir sind am selben Tag geboren“) sprechen wir von Identität im Sinne von Selbigkeit.

1.3.2.5 Individualität und Nichtprädizierbarkeit Schließlich steht noch die These zur Diskussion, Individualität bedeute Nichtprädizierbarkeit. Etwas prädizieren bedeutet, dass man es über etwas (anderes oder sich selbst) aussagt, und prädizierbar ist etwas, das (als Prädikat) über etwas ausgesagt werden kann. Prädizierbar sind etwa 22 Ebd. S. 144. 77

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‚alt‘ und ‚Bundeskanzler‘, denn sie sind über bestimmte Menschen aussagbar. Dass ein Individuum nicht prädizierbar ist, bedeutet, dass, wenn in einem Satz der Form ‚X ist Y‘ für Y ein Individuum eingesetzt wird, dieser Satz nicht als eine Aussage über X, sondern nur als eine Identität verstanden werden kann. Wenn man für Y ‚Gerhard Schröder‘ einsetzt und für X ‚der deutsche Bundeskanzler‘, so bedeutet ‚X ist Y‘ dass der deutsche Bundeskanzler und Gerhard Schröder identisch sind. Setzt man dagegen für Y ein ‚Mitglied der deutschen Regierung‘ so besagt der Satz ‚X ist Y‘ nicht, dass ‚der deutsche Bundeskanzler‘ identisch ist mit ‚Mitglied der deutschen Regierung‘, sondern dass der deutsche Bundeskanzler ein Mitglied der Regierung ist, also als Bundeskanzler die Eigenschaft hat, Regierungsmitglied zu sein. Der deutsche Bundeskanzler kann aber nicht die Eigenschaft haben, Gerhard Schröder zu sein. Grammatisch bedeutet dies, dass Individuen in Sätzen nur als Subjekte oder Objekte, nicht aber als Attribute vorkommen dürfen. Auf Ausnahmen wie ‚diese Geige ist eine Stradivari‘ komme ich am Ende dieses Abschnitts zu sprechen. Die Auffassung, Nichtprädizierbarkeit sei das entscheidende Charakteristikum von Individualität, geht zurück auf Aristoteles, der Substanz, vor allem die sogenannte erste Substanz, als das bezeichnet, was nicht von einem Subjekt ausgesagt werden kann.23 Leibniz erkennt diese Definition an, hält sie aber für unzureichend, da sie rein nominal sei.24 Und Strawson zeigt in seiner schon genannten Monographie Individuals, dass Individuen zwar den Status von „paradigmatischen logischen Subjekten“ haben, die nicht als Prädikate auftreten können, dass sich die rein grammatische Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat aber nicht als strenges Kriterium für Individualität eignet.25 Gracia lehnt die Definition von Individualität als Nichtprädizierbarkeit ab. Für ihn gibt es individuelle Eigenschaften oder besser Merkmale (features), wie z.B. eine bestimmte Haarfarbe, die individuell sind. Die Rede von individuellen Merkmalen sollte jedoch nicht mit der Annahme 23 „Substanz aber ist die hauptsächlich und an erster Stelle und vorzüglich genannte, die weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist, z.B. der individuelle Mensch oder das individuelle Pferd.“ Aristoteles, Kategorien. Kap. 5, 2a. 24 „Es ist wohl wahr, dass man, wenn mehrere Prädikate ein und demselben Subjekte zugeschrieben werden, und wenn dieses Subjekt wiederum keinem anderen mehr zugeschrieben wird, dies eine individuelle Substanz nennt; das ist aber nicht ausreichend, und eine solche Erklärung ist nur nominal.“ Leibniz, MAB § 8 S. 75. 25 Strawson, ELS Kap. 8. Auf Strawsons Kriterium für ‚logisches Subjekt‘, womit ein Einzelding in einen Satz eingeführt wird, komme ich unten in Abschnitt 1.4.4 zurück. 78

1.3 INDIVIDUALITÄT

gleichgesetzt werden, dass ein solches Merkmal ein Individuum sei bzw. als Merkmal Individualität besitze. Die entscheidende Frage scheint mir dabei zu sein, ob sich eine solche ‚individuelle Eigenschaft‘ oder das entsprechende ‚individuelle Merkmal‘ von dem Träger, an dem sie bzw. es auftritt, ablösbar ist. Wenn dies nicht der Fall ist, dann ist nicht einzusehen, warum dieses Merkmal eine Individualität haben soll, die sich von der des Individuums selbst unterscheidet. Wenn es aber von seinem Träger ablösbar ist, muss es, da es ein Merkmal ist, an anderen Trägern auftreten können. Dann ist es aber eben kein Individuum, sondern ein Universale, also im Falle der Haarfarbe die Farbe, die der Haarfarbe einer bestimmten Person gleicht. Auch die individuelle Stimme und der individuelle Gang einer Person X verlieren ihre Individualität in dem Moment, wo sie vollkommen imitiert werden (können). Dann handelt es sich um die ‚Art‘, wie X zu sprechen oder zu gehen, und sie ist damit zu einem allgemeinen Habitus geworden. Hier liegt im Übrigen auch der Grund dafür, dass das Imitieren oder Nachahmen (Nachäffen) bestimmter Merkmale einer Person meist als komisch, oft auch als herabwürdigend angesehen wird. Die Person wird dadurch sozusagen trivialisiert, das betreffende Merkmal wird von der Person abgelöst. Die Komik hat mit der Entzauberung der Einzigartigkeit z.B. einer Autorität und der damit verbundenen entlastenden Wirkung zu tun, das Herabwürdigende damit, dass das betreffende Merkmal als ‚Gehabe‘ verdächtigt wird. Wenn wir also sprachlich bestimmte Merkmale ‚individuieren‘, bedeutet dies in der Regel, dass wir ein Individuum, das dieses Merkmal besitzt, dadurch charakterisieren, aber nicht, dass dieses Merkmal ein Individuum ist. Wenn Individualität als Nichtprädizierbarkeit definiert wird, dann muss sie auch von allen Eigenschaften oder Merkmalen des betreffenden Individuums verschieden sein. Das bedeutet aber nicht, dass es einen ‚nackten‘ Träger dieser Eigenschaften geben muss. Dass man aus der logischen Trennung zwischen Subjekt und Prädikat nicht schließen darf, dass Substanzen und Attribute jeweils für sich existieren könnten, hat schon Leibniz betont.26 Ein nackter, von seinen Eigenschaften unabhängiger Träger ist nicht vorstellbar, und ebenso wenig ist das Individuum oder die Substanz nur ein Bündel ihrer Eigenschaften. Bündel von Eigenschaften bilden Universalien, aber keine Individuen, da deren Eigenschaften wechseln können. Wenn wir also von Gracias Auffassung abweichend Eigenschaften oder Merkmalen den Status der Individualität generell absprechen, so scheint Nichtprädizierbarkeit als logisches, nicht aber als grammatisches 26 Leibniz, NAB1, 2. Buch Kap. XXIII, §2 S. 363 f. 79

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Kriterium sehr wohl brauchbar zu sein. Es ist zwar in der Regel so, dass Individuen in Sätzen als Subjekte oder Objekte auftreten, aber Ausnahmen wie ‚viktorianische Moral‘ oder ‚das Gemälde ist ein echter Rembrandt‘ schaffen Probleme, da die Eigennamen der Königin Viktoria von England bzw. des Males Rembrandt an solchen Stellen nicht auftreten dürften (s.u. Abschn. 1.4.4).

1.3.2.6 Zusammenfassung Als Ergebnis der fünf Versuche, Individualität durch andere Begriffe zu charakterisieren, hat sich ergeben, dass Identität und Nichtprädizierbarkeit am ehesten geeignet sind, Individualität zu charakterisieren. Dennoch sind sie nicht ohne weiteres als zuverlässige Kriterien zu gebrauchen. Der Begriff der Identität ist enger als der der Individualität, und bei Nichtprädizierbarkeit ist es die Geschmeidigkeit sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten, die eine durchgängige Parallelisierung zwischen Individuen und grammatischen Subjekten einerseits und Universalien und Satzteilen in der allgemeinen Form von Prädikaten andererseits unmöglich macht. Will man diese Begriffe so eingrenzen und präzisieren, dass sie als Kriterien für Individualität brauchbar sind, so gelingt dies nur durch Benützung eben des Begriffes Individualität, und man gerät in einen Zirkel. Dies gilt in noch viel stärkerem Maße für die Begriffe Teilhabe, Unteilbarkeit und Verschiedenheit. Sie beschreiben zwar Merkmale von Individualität, aber ‚Unteilbarkeit‘ ist in seiner Bedeutung zu vage und ‚Verschiedenheit‘ hat einen zu großen Umfang um zwischen Individuen und Universalien klar trennen zu können. Auch hier ist eine Eingrenzung nur unter Verwendung des Begriffs Individualität möglich. Schließlich hat sich in den vorangehenden Überlegungen auch gezeigt, dass man zwar von individuellen Merkmalen sprechen kann, dass es aber nicht sinnvoll erscheint, ihnen unabhängig von ihrem Träger eine Individualität zuzugestehen, wie Gracia das tut. In dem Moment, in dem ein solches Merkmal auch an anderen Trägern auftritt und ihnen als Prädikat zugeschrieben werden kann, verliert es eben seinen individuellen Charakter.

1.3.3 Individualität als ‚noninstantiability‘ – Unvertretbarkeit oder Beispiellosigkeit? Nach der Ablehnung der Begriffe Unteilbarkeit, Unterscheidbarkeit, Teilhabe, Identität und Nichtprädizierbarkeit als Kriterien für Individualität präsentiert Gracia seinen eigenen Vorschlag. Dieser besteht darin, 80

1.3 INDIVIDUALITÄT

Individualität zu verstehen als ‚nonistantiability‘. Individuen sind ‚noninstantiable instances‘, sie können charakterisiert werden durch „the impossibility that they be instantiated“.27 Der Begriff ‚instance‘, von dem ‚noninstantiability‘ abgeleitet ist, wird in den meisten Anwendungen mit ‚Beispiel‘ übersetzt (‚for instance‘ = ‚zum Beispiel‘). Er hat aber auch die Bedeutung von ‚Exemplar‘ oder ‚Repräsentant‘ im Sinne eines Vertreters einer bestimmten Art oder Gattung. ‚To instantiate‘ bedeutet demnach, eine bestimmte Art oder einen allgemeinen Begriff zu vertreten, ein Beispiel oder Vertreter dafür zu sein. So ist etwa Aristoteles ein Beispiel (instance) für Philosoph, er vertritt (he instantiates) die Gattung ‚Philosoph‘. Die Gattung ‚Philosoph‘ ist repräsentierbar (‚instantiable‘) durch Beispiele wie ‚Aristoteles‘ oder ‚Kant‘. ‚Instantiability‘ ist also die Möglichkeit, einen allgemeinen Begriff oder eine Klasse durch Beispiele zu repräsentieren. ‚Noninstantiability‘ bedeutet demnach die Unmöglichkeit, durch Beispiele repräsentiert zu werden. Zu sagen, Individualität bedeute ‚noninstantiability‘, ist also gleichbedeutend mit der Aussage, dass Individuen nicht durch Beispiele repräsentiert bzw. nicht vertreten werden können. Es fällt schwer, für den Terminus ‚noninstantiability‘ einen adäquaten deutschen Begriff zu finden, der schwerfällige Umschreibungen vermeidet. Im Englischen sind zwar ‚instance‘ und das Adjektiv ‚instant‘ in der Umgangssprache geläufig, nicht jedoch das Verb ‚to instantiate‘ sowie das Adjektiv ‚instantiable‘ und erst recht nicht die substantivierten Formen ‚instantiability‘ oder ‚noninstantiability‘. Die deutschen Termini ‚Unvertretbarkeit‘ oder ‚Nichtvertretbarkeit‘ sind mögliche Übersetzungen. Für sie spricht, dass die juristischen Termini ‚unvertretbare‘ bzw. ‚vertretbare‘ Sache im Sachenrecht genau den Unterschied zwischen individuellen Sachen (etwa ein Grundstück oder ein Fahrrad) und einer bestimmten Menge von Stoff (100 l Wein) oder Geld (1000 EURO) bezeichnen (s. Abschn. 2.3.2). Zum anderen ergeben sich bequem die anderen Wortformen ‚Vertreter, ‚vertreten‘ und ‚vertretbar‘, Umgangssprachlich bezieht man den Terminus Vertreter allerdings vor allem auf Personen, die eben nicht nur eine Art oder Gattung, sondern auch eine andere Person in Bezug auf bestimmte Interessen vertreten können. Als Fremdwort käme auch ‚exemplifizieren‘ für ‚to instantiate‘ in Frage, aber ‚noninstantiability‘ bzw. ‚noninstantiable instance‘ wären dann mit den Wortungetümen ‚Nichtexemplifizierbarkeit‘ bzw. ‚nichtexemplifizierbares Exemplar‘ zu übersetzen.

27 Gracia, IND S. 45. 81

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Die andere mögliche Übersetzung für ‚instance‘ ist ‚Beispiel‘. Allerdings ist man im Deutschen mit der Tatsache konfrontiert, dass Beispiel umgangssprachlich oft in der Bedeutung ‚Vorbild‘ oder ‚Paradigma‘ verwendet wird und nicht nur für den besonderen Fall, der einen Allgemeinbegriff verkörpert. Zieht man die Wörterbücher der Philosophie bzw. Wissenschaftstheorie zu Rate, so wird dort jedoch Beispiel im letzteren Sinne an erster Stelle genannt.28 Bei Kant findet sich in der Metaphysik der Sitten (Anmerkung zu § 52) folgende Erklärung: „Beispiel, ein deutsches Wort, was man gemeiniglich für Exempel als ihm gleichgeltend braucht, ist mit diesem nicht von einerlei Bedeutung. Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind ganz verschiedene Begriffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, und bloß theoretische Darstellung eines Begriffs.“ Beispiel soll im Folgenden also ausschließlich in dieser Bedeutung verwendet werden. Gegenüber dem Begriff ‚Vertreter‘ hat Beispiel auch den Vorteil, dass durch seine zweite Silbe eine erklärende, didaktische oder deiktische Funktion konnotiert ist. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass das die Silbe ‚spiel‘ in Beispiel etymologisch nichts mit Spielen zu tun hat, sondern von dem germanischen Wortstamm ‚spel‘ für Sprechen (engl. ‚to spell‘) herrührt, der auch in dem deutschen ‚Kirchspiel‘ oder im englischen ‚gospel (= go(d)spel) erhalten ist.29 Leider gibt es keine heute gebräuchliche von Beispiel abgeleitete Verbform, die als Übersetzung für ‚to instantiate‘ gelten

28 „Beispiel: besonderer Fall und damit Darstellung eines Allgemeinen, ursprünglich unterschieden von Exempel, das sich ausdrücklich auf die ‚beispielhafte‘ (exemplarische), nämlich vorbildhafte Erfüllung einer praktischen Regel (Handlungsanweisung) bezieht, wie sie z.B. in Fabeln literarisch gestaltet und im didaktischen Prinzip vom exemplarischen Lehren und Lernen diskutiert und angewendet wird. B[eispiel] bezieht sich dann gegenüber dem Exempel auf den Einzelfall eines bloß theoretischen Begriffs. Wird auch im theoretischen Kontext ausdrücklich ein ‚vorbildliches‘ B[eispiel] von einem beliebigen B[eispiel] unterschieden, (...) spricht man von einem Paradigma. ...“ Jürgen Mittelstraß (Hg.) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart Metzler 1980 Stichwort Beispiel. 29 „Beispiel: (gr. Parádigma, lat. Exemplum) mhd bispel, das Hinzuerzählte, die Beirede, die eine Moral veranschaulicht; in der Wissenschaft ein Einzelfall, durch dessen Darstellung etwas allgemeines fasslich wird.“ Johannes Hoffmeister (Hg), Wörterbuch der philosophischen Begriffe Hamburg Meiner 1955 Stichwort Beispiel. 82

1.3 INDIVIDUALITÄT

könnte, wenn man von dem von Hegel noch benützten, aber sonst sehr ungebräuchlichen ‚beiherspielen‘ absieht. Die beiden Begriffe ‚Vertreter‘ und ‚Beispiel‘ haben durchaus verschiedene Akzente, die aber beide von dem englischen ‚instance‘ abgedeckt werden. ‚Beispiel‘ kennzeichnet – von der eben präzisierten Intension her – einen Gegenstand, insofern er unter einen Begriff fällt, er ist Beispiel für diesen Begriff, z. B. eine biologische Art. Er muss dazu sämtliche für diesen Begriff wesentlichen (d.h. spezifischen) Kennzeichen (Eigenschaften) haben. Darüber hinaus hat er aber im Allgemeinen weitere Eigenschaften, die ihn als Beispiel für andere Begriffe kennzeichnen. So ist ein Schimmel Beispiel für Pferd. Seine Eigenschaft, ein weißes Fell zu haben, hat nichts mit seiner Zugehörigkeit zur Tierart Pferd zu tun, macht ihn aber zusammen mit den anderen Pferdeeigenschaften zu einem Beispiel für den Begriff Schimmel. Über diese spezifischen Eigenschaften hinaus, die einen Gegenstand zum Beispiel für verschiedene Begriffe machen, hat ein Individuum, wie in den beiden ersten Kapiteln bereits erwähnt, noch akzidentielle oder kontingente Eigenschaften (z.B. sein Alter), die seine Zugehörigkeit zu einem Begriff nicht berühren. Allerdings ist die Trennung zwischen beiden Arten von Eigenschaften, wie ebenfalls im vorangehenden Kapitel klar wurde, nicht immer scharf. Der Begriff des Vertreters bzw. der Vertretbarkeit hat dagegen eine funktionale oder handlungsorientierte Konnotation. Wenn man von der Vertretung von Personen absieht, ist eine vertretbare Sache eine solche, die von einer anderen, äquivalenten Sache vertreten werden kann, so dass es z.B. keinen Unterschied macht, welche der beiden ich besitze oder benütze. Der Begriff der vertretbaren Sachen im Recht – Stoff oder Geld – wurde bereits erwähnt. Vertretbarkeit in diesem rechtlichen Sinne heißt aber nicht immer, dass der Gegenstand kein Individuum ist. Euro-Münzen oder Briefmarken sind normalerweise vertretbar, u.U. nicht aber für den Numismatiker oder Philatelisten. Ein nummerierter gültiger 100-Euro-Schein ist vertretbar, aber durch seine Nummer individuiert. Der pragmatische Charakter des Kriteriums der Unvertretbarkeit hat eine Reihe von Konsequenzen, die Gracia nicht realisiert, da er dieses Kriterium rein analytisch als ontologisches Unterscheidungsmerkmal behandelt. Ob ein Gegenstand vertretbar ist oder nicht, hängt von der Situation ab, in der von dem Gegenstand die Rede ist. Wenn ich sage, „Ich will diesen Nagel einschlagen und brauche einen Hammer“, dann ist der Hammer durch jeden beliebigen anderen vertretbar. Wird mir dann ein Hammer gereicht und ich sage „Wo kommt denn der her, das ist nicht mein Hammer“, dann erkläre ich damit, dass dieser Hammer 83

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

meinen Hammer nicht vertreten kann. Damit habe ich meinen Hammer als Individuum angesprochen. Die Tatsache, dass mein Hammer ein Individuum ist, liegt jedoch nicht in einem sichtbaren Merkmal, das ihn von allen anderen unterscheidet. Ebenso wenig sind in einer Kieselsteinhalde alle Steine schon deshalb Individuen, weil sie alle verschieden sind. Leibniz’ Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren sagt, dass keine zwei von ihnen völlig gleich sein können, aber ein Individuum wird ein Kieselstein erst, wenn er in einem bestimmten Kontext unvertretbar ist – etwa wenn ich ihn wegen seiner besonderen Form oder Farbe an mich genommen und in die Tasche gesteckt habe. Individuum ist also ein Gegenstand nicht an sich, sondern in bestimmten Situationen. Er kann, wie sich noch zeigen wird, ein Individuum werden bzw. aufhören, eines zu sein. Allerdings ist ein Gegenstand, von dem man als von einem ‚bestimmter‘ Gegenstand spricht, dadurch immer ein Individuum, denn er wird eben durch diese Redeweise in diesem Kontext unvertretbar. Ich kann also zwar aus einer Menge einen Gegenstand herausheben und damit individuieren, nicht aber umgekehrt ohne weiteres ihn wieder entindividualisieren bzw. anonymisieren. Dazu müsste ich ihn nachhaltig aus dem Handlungs- oder Kommunikationskontext eliminieren, in dem er sich als Individuum befand.

1.3.4 Semantik von ‚Beispiel sein‘ und ‚Beispiel haben‘ Was allen Dingen gemeinsam und was gleichermaßen im Teile wie im Ganzen ist, bildet nicht das Wesen eines Einzeldinges.30

Eine Überlegung zum Begriff ‚Beispiel‘ und seiner semantischen Funktion möge diesen Abschnitt über die Bedeutung von ‚noninstantiability‘ ergänzen. ‚Beispiel für etwas sein‘ ist keine Eigenschaft einer Sache. Wenn ein Gegenstand oder ein Begriff als Beispiel benützt wird, wird er in eine Relation zu etwas anderem gesetzt, für das er als Beispiel dient. Der Allgemeinbegriff Hund kann als Beispiel für Haustier oder für Säugetier oder für Lebewesen oder für Unterwürfigkeit dienen. Dackel und Schäferhund sind Beispiele für Hund, und der individuelle Schäferhund Charly des Nachbarn ist ein Beispiel für Schäferhund, aber auch für Hund, Wirbeltier, Lebewesen, und für alle die Eigenschaften, die auf dieses Individuum zutreffen. Es gibt eigentlich nichts, was nicht in irgendeiner Form – z.B. als Körper, Begriff oder Wort als Beispiel für irgendetwas anderes dienen könnte. Was nicht Beispiel sein kann, dürfte

30 Baruch Spinoza, Die Ethik. Stuttgart Kröner 1982. 2.Teil Lehrsatz 37. 84

1.3 INDIVIDUALITÄT

streng genommen keiner Art oder Gattung angehören und – was noch weniger vorstellbarer ist – keine Eigenschaften haben. Das bedeutet, dass jede Sache mit bestimmten anderen Sachen in die Relation treten kann, ein Beispiel für sie zu sein. Das, wofür etwas ein Beispiel ist, ‚hat‘ ein Beispiel oder mehrere Beispiele. Eine Frage, die sich im Zusammenhang mit der Definition ‚noninstantiability‘ oder ‚Beispiellosigkeit‘ stellt, ist die nach dem Sinn von ‚Beispiel‘. Wozu brauchen wir überhaupt Beispiele, wie verwenden wir sie, und welche Konsequenz hat ihr Fehlen für den Begriff Individualität? Rein formal ist der Umfang eines Begriffs gleich der Menge seiner Beispiele. Didaktisch werden Begriffe im Allgemeinen zuerst durch Beispiele (Paradigmata: ‚das was dabei gezeigt wird‘) erläutert und erst dann durch Angabe der Definition genau umrissen. Die Definition bestimmt die Intension eines Begriffs (seinen Sinn) und ermöglicht es, zu entscheiden, ob eine bestimmte Sache unter den Begriff fällt oder nicht, d.h. ein Beispiel für den Begriff ist oder nicht. Die Definition eines Begriffs beruht andererseits wiederum auf Begriffen, die ihrerseits definiert oder durch Beispiele erklärt werden müssen. Und noch in einem zweiten Sinne sind Beispiele konstitutiv für die Bildung von Begriffen: Konsens über einen Begriff ist genau dann erreicht, wenn die Diskursteilnehmer sich über die unter den Begriff fallenden Beispiele einig sind. Das Beispiel bildet also eine entscheidende Nahtstelle zwischen Universalität und Individualität. Was bedeutet es nun, von einem Individuum zu sagen, es sei ein beispielloses Beispiel (noninstantiable instance)? Dass die Formulierung ‚beispielloses Beispiel‘ nicht sinnlos oder selbstwidersprüchlich ist, ist nicht selbstverständlich. Voraussetzung dafür ist, dass ‚Beispiel sein‘ eine unsymmetrische Relation ist zwischen etwas und dem, für das es Beispiel ist. Für Eigenschaften ergeben Bildungen wie ‚rotloses Rot‘ oder ‚schwerelose Schwere‘ unsinnige Begriffe. Für symmetrische Relationen wie ‚Partner sein‘ oder ‚Bruder sein‘ ergibt sich ein Widerspruch (partnerloser Partner oder bruderloser Bruder). Für unsymmetrische Relationen wie Diener oder Chef oder Vertreter ergeben sich jedoch sinnvolle Zusammensetzungen (dienerloser Diener, chefloser Chef, vertreterloser Vertreter). Die Relation ‚Beispiel sein‘ ist nicht symmetrisch, weder im speziellen noch in einem allgemeinen Sinn. Weder ist, wenn B ein Beispiel für A ist, A auch ein Beispiel für B, noch gilt, wenn B ein Beispiel für A ist, dass es auch ein C geben muss, das für B ein Beispiel ist. Tatsächlich kann A nicht Beispiel für B sein, wenn B Beispiel für A ist (Haustier ist nicht ein Beispiel für Hund). Wenn aber A Beispiel für B und B Beispiel für C ist, dann ist auch A ein Beispiel für C (da Hund ein Beispiel für 85

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Säugetier und Säugetier ein Beispiel für Wirbeltier ist, ist auch Hund ein Beispiel für Wirbeltier). Für die Relation ‚Beispiel sein‘ gilt also die Transitivität – ebenso wie z.B. für die Relation ‚kleiner als‘ im Bereich der ganzen Zahlen. Wenn nun alles, was es überhaupt gibt, Beispiel sein kann, und ‚Beispiel sein‘ eine transitive und nicht symmetrische Relation ist, so kann man fragen, ob innerhalb dieser Gesamtmenge Elemente existieren, für die es keine Beispiele gibt. Wenn man Gracias Definition annimmt, gilt das für die Individuen. Sie spielen damit die Rolle der ‚Anfangselemente‘ in Bezug auf die Relation ‚Beispiel sein‘. Sie ‚haben‘ keine Beispiele, obwohl sie solche sind. Das ist übrigens genau die Rolle, die Aristoteles den Individuen (den ‚ersten Substanzen‘) unter den Substanzen zuweist – Anfangselemente in der Reihe der Wesenheiten zu sein.31 Aus diesen Überlegungen folgt auch, dass ein Gegenstand, der als Beispiel für etwas dient, immer reicher an Bestimmungen ist als der Begriff, für den er Beispiel ist. Entweder das Beispiel ist ein Allgemeinbegriff, dann enthält er neben den Bestimmungen des Begriffs, für den er Beispiel ist, weitere, die ihn von den anderen Gegenständen unterscheiden, die unter diesen Begriff fallen. Oder es ist ein Individuum, dann enthält es kontingente Bestimmungen, die dem Begriff fehlen, auf den es zeigt. Etwas als Beispiel benützen heißt also, von bestimmten Eigenschaften oder Bestimmungen abzusehen, sie zu negieren. Kein Beispiel zu haben ist also eine Kennzeichnung, die auf einer doppelten Negation beruht. Sie besagt: Es gibt nichts, was reicher ist an Bestimmungen als ein Individuum und gleichzeitig – unter Absehung von einer Reihe von Bestimmungen – alle Bestimmungen dieses Individuums enthalten könnte und somit ein Beispiel für es wäre. Die Nennung eines Beispiels ist für die Erklärung der Intension eines Begriffs natürlich nie ausreichend, und für eine eindeutige Erklärung reichen auch mehrere Beispiele nicht aus. Vor allem ist es auch nur dann sinnvoll, ein Beispiel für einen Allgemeinbegriff zu nennen, wenn aus dem Kontext ersichtlich ist, welche Eigenschaften dieses Beispiels den zu erläuternden Begriff kennzeichnen. Wenn ich auf der Straße auf eine mir bekannte Person zeige und zu meinem Begleiter sage, ‚das ist zum Beispiel eine Logopädin‘, dann ist das für den betreffenden, der mich nach dem Sinn dieses Ausdrucks gefragt hat, nicht hilfreich, weil er an ihr kein spezifisches Merkmal der Berufsart ‚Logopädin‘ wahrnehmen kann. Ganz anders verhält es sich, wenn ich ihm einen Polizisten zeige, denn Polizisten kann man an ihrer Kleidung erkennen. Trotzdem ist in

31 Aristoteles, Kategorien, Kap. 5, 2a-4a. 86

1.3 INDIVIDUALITÄT

dem hier gemeinten Sinn auch jede Logopädin ein Beispiel für die Berufsart Logopädin. Die Nennung mehrerer Beispiele verringert natürlich die Unsicherheit des ‚gemeinten‘ Begriffs. Wenn ich z.B. nur Albert Einstein als Beispiel nenne, kann das eine Erläuterung für die Begriffe Physiker oder Genie oder Emigrant sein, wenn ich dazu als zweites Beispiel Goethe nenne, kommt von diesen dreien nur noch Genie in Frage, aber es würde auch der Begriff ‚bedeutender Deutscher‘ dazu passen. Allerdings werden Beispiele auch genannt, um Begriffe zu erläutern, deren Intension nicht in Form einer eindeutigen Definition gegeben ist. Es kann sich wie im Falle des Genies um einen Begriff handeln, dessen Extension vage ist und zu dem Künstler, Wissenschaftler, aber auch Falschspieler oder Hacker gerechnet werden können. Für solche Fälle, in denen die Beispiele keinen gemeinsamen Durchschnitt von Merkmalen haben, die den Begriff eindeutig definieren, hat Wittgenstein den Begriff der ‚Familienähnlichkeit‘ eingeführt.32 Dass ein Individuum zwar Beispiel oder Vertreter für verschiedene Gattungen oder Klassen sein kann, jedoch selbst nicht durch ein Beispiel vertretbar ist, könnte folgenden Gedanken nahe legen. Danach wären Individuen die Anfangselemente oder Spitzen von Begriffspyramiden und bestimmt durch die Menge aller Eigenschaften, die den Gattungen oder Klassen zukommen, für die es Beispiel sein kann. Im Verhältnis zu diesen Klassen hätte es die umfangreichste Intension (die meisten Bestimmungen) und die kleinste Extension (den kleinsten Umfang), es enthält nur sich selbst als einziges Element. Die Individuen wären durch die Menge der Eigenschaften bestimmt, die nur auf diesen einen Gegenstand zutreffen und würden sozusagen die Klassen bilden, die nur ein Element besitzen. Diese Überlegung ist jedoch aus folgenden Gründen falsch: 1. Klassifizierende Eigenschaften sind ihrem Wesen nach spezifisch, d.h. sie kennzeichnen das, was verschiedenen Gegenständen gemeinsam ist bzw. worin sie sich gleichen. Jede endliche Menge solcher Eigenschaften könnte auf einen zweiten Gegenstand zutreffen – oder die Herstellung einer Kopie erlauben, die vom Original dann ununterscheidbar wäre. Individuen sind aber unterscheidbar, und schon Leibniz hat gezeigt, dass man zwischen zwei Gegenständen immer irgend einen Unterschied finden kann (und notfalls durch eine Markierung herstellen kann). Zudem unterscheiden sie sich durch kontingente Merkmale, die mit ihrer Geschichte zusammenhängen.

32 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 67 Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1. Frankfurt Suhrkamp 1984. 87

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

2. Gegenstände unterliegen zeitlichen Veränderungen. Das gilt vor allem für Organismen, die während ihrer Entwicklung ihre Gestalt drastisch verändern können, aber auch für Dinge. Eine Raupe wird zum Schmetterling, ein steckbrieflich Gesuchter kann Bart und Frisur wechseln und ein Fluchtauto kann umgespritzt werden. In allen drei Fällen bleibt das Individuum dasselbe, aber es bleibt nicht gleich. Man spricht in diesem Zusammenhang von der ‚deskriptiven Unerschöpflichkeit‘ eines Individuums.33 Es ist für eine deskriptive Beschreibung unerreichbar. Das gilt auch für wissenschaftliche Beschreibungsmethoden und wurde durch die Formeln ‚individuum est ineffabile‘ oder ‚de individuis non est scientia‘ ausgedrückt. (Eine Ausnahme bilden die sogenannten nomologischen Partikel, z.B. die Elementarteilchen, auf die ich in Teil 3 zurückkomme.)

1.3.5 Probe aufs Exempel – Individuation als kommunikativer Akt Die Frage nach der Anwendbarkeit des Kriteriums ‚noninstantiability‘ soll an einem Beispiel untersucht werden. Da hier vor allem individuelle Dinge interessieren, nehme ich ein Artefakt als Beispiel, etwa eine Brille. Wenn ich einfach eine beliebige Brille meine, dann gibt es dafür natürlich sehr viele Beispiele bzw. Vertreter, und in diesem Sinne ist ‚eine Brille‘ kein Individuum. Nehme ich aber ‚meine Lesebrille‘, so kennzeichne ich damit ein Individuum. Wenn ich diese Lesebrille im Kaufhaus von einem Ständer mit der Kennzeichnung ‚+2 dptr‘ nehme, dann nehme ich sie als ein Beispiel für eine Brille bestimmten Typs mit dieser Brechkraft, und es gibt davon eine ganze Reihe, die für mich gleichartig und gleichwertig sind. Vielleicht hängt an diesem Regal nur eine dieser Art, dann kann ich dort kein weiteres Beispiel für sie finden, das sie vertritt. Ich weiß aber, dass sie keine Einzelanfertigung darstellt und kann davon ausgehen, dass es anderswo Exemplare derselben Art gibt, die sich für mich nicht – weder in ihrer Erscheinung noch in ihrer Funktion – von der vor mir liegenden unterscheiden. Es gibt für mich für diese Brille eine Reihe von gleichwertigen Vertretern (‚Exemplaren‘), ich kann eine davon nehmen und sie meiner Begleiterin zeigen und dazu sagen, „Diese Brille will ich kaufen“, ohne damit sagen zu wollen, dass ich unbedingt dieses Exemplar kaufe, sondern ein Exemplar dieses Typs. Mit der Formulierung „diese Brille“ meine ich in diesem Falle also kein Individuum, sondern den Typ! Den Status der Individualität 33 Geert Keil, „Über die deskriptive Unerschöpflichkeit der Einzeldinge.“ In Geert Keil u. Udo Tietz (Hg), Phänomenologie und Sprachanalyse. Paderborn mentis 2006. 88

1.3 INDIVIDUALITÄT

spreche ich ihr in dieser Situation nicht zu. Sie unterscheidet sich in dieser Situation durch spezifische Merkmale wie Design oder Brechkraft von anderen Typen. Habe ich die Brille gekauft und ist sie mein Eigentum, dann hat sich in verschiedener Hinsicht etwas geändert. Wenn ich jetzt sage, „Diese Brille gehört mir“, dann meine ich damit nicht nur, dass mir eine Brille mit diesen spezifischen Eigenschaften gehört, sondern dass mir dieses individuelle Exemplar gehört. Sie ist damit nicht mehr ohne Weiteres durch eine gleichen Typs vertretbar. Ich ‚mache‘ jetzt einen Unterschied, wo ich vorher keinen gemacht habe. Dieser Unterschied tritt nicht plötzlich an der Brille als Unterscheidungsmerkmal auf, sondern er besteht ausschließlich darin, dass sie nun in meinem Besitz ist und von mir und meiner Umgebung als meine Brille – unabhängig von ihren spezifischen Eigenschaften – anerkannt wird. Sie hat eine ‚Identität‘ und steht in einer besonderen Beziehung zu mir als Person, wodurch sie Teil meiner Lebenswelt und Lebensgeschichte wird. Es ist, mit anderen Worten, eine kontingente und keine spezifische Differenz. Nun kann man natürlich davon ausgehen, dass ich allein durch die Berührung, beim Entfernen des Aufklebers oder beim Einstecken ins Etui oder in die Tasche die Gläser mit meinen Fingerabdrücken markiert habe, und dass durch das Aufsetzen, d.h. durch die Berührung mit meiner Kopfhaut und meinen Haaren an den Bügeln genetische Spuren von mir nachweisbar sind. Gründliche Reinigung kann diese Spuren (s.u. Abschn.2.3.6) vielleicht beseitigen, aber dadurch bleiben andere Spuren an der Brille, wie z.B. mikroskopische Kratzer, die nach längerem Gebrauch bekanntlich leider durchaus makroskopisch sichtbar werden. Damit ist die Brille auch physikalisch unterscheidbar. Ich werde sie sogar, wenn ein Familienmitglied eine Brille mit ähnlichem Gestell trägt, markieren, um sie als meine Brille zu kennzeichnen und von anderen unterscheidbar zu machen. Wenn sie kaputt oder verloren geht, ist meine Brille weg und ich muss sie durch eine andere (u.U. von der gleicher Art) ersetzen, die aber dann ‚meine neue Brille‘ ist, die ich von der alten unterscheide, falls diese wieder auftaucht. Aber die genannten physischen Veränderungen an der Brille sind Folgen der Inbesitznahme und erst von dieser her bzw. auf diese hin interpretierbar. Was hier als ein typischer Individuationsvorgang beschrieben wurde, ist eine Handlung. Der für die Individuation maßgebende Aspekt dieser Handlung lässt sich angemessen in der Terminologie der Habermasschen Handlungstheorie beschreiben.34 Dabei ist der Kauf der Brille eine 34 Jürgen Habermas, „Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt“. In: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt Suhrkamp 1988. 89

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

strategische Handlung mit dem Zweck, mich in den Besitz dieser Brille zu bringen. Ihr vorgängig ist jedoch eine kommunikative Handlung, die den eigentlichen Individuationsvorgang bildet, und die darin besteht, dass zwischen dem Verkäufer und mir ein Konsens über den Gegenstand hergestellt wird. Dieses Einverständnis vollzieht sich als Sprechakt mit den illokutionären Zielen der Verständigung über den Gegenstand und der Anerkennung meiner Kaufabsicht und damit meines Anspruchs auf den Gegenstand.35 Die Individuation ist also primär ein reflexiver Prozess gegenseitiger Verständigung und Anerkennung. Es kommt dabei ausschließlich auf den illokutionären, nicht auf einen externen perlokutionären Erfolg an.36 Genaugenommen ist die Individuation bereits mit der erfolgten Verständigung vollzogen, da die Zurückweisung meines Anspruchs – etwa durch den Hinweis des Verkäufers, diese Brille sei ein Ausstellungsstück und unverkäuflich – die Individuation nicht verhindert oder rückgängig macht. Die Individuation ist also nicht durch das Vorhandensein oder plötzliche Auftreten bestimmter physischer oder spezifischer Merkmale zu beschreiben, sondern durch die Konstitution bestimmter situativer Bezüge zu anderen individuellen Dingen und – letztlich – zu Personen. Durch den kommunikativen Akt wird die Einbindung des Gegenstands in diese Bezüge manifest. Ich habe solche Bezüge auch als kontingente Merkmale des betreffenden Gegenstands bezeichnet, die aber im Gegensatz zu seinen spezifischen Merkmalen an ihm selbst nicht physisch vorhanden und bestimmbar sind. Die Handlung, durch die ein solcher Bezug entsteht, kann die Inbesitznahme des Gegenstands sein – Kauf wie im Beispiel, aber auch Ausleihe oder Diebstahl –, die manuelle Herstellung, der Gebrauch, eine Beschädigung oder einfach das Zeigen auf einen Gegenstand. Durch Akte dieser Art können am Gegenstand jedoch auch Spuren entstehen, die seine Identität physisch kenntlich machen. Allerdings garantiert das Vorhandensein einer physischen Spur noch nicht die Individualität. Wenn ein Gegenstand entsorgt wird, fällt er aus solchen Bezügen heraus, taucht in einem anonymen Haufen von Schrott oder Müll unter und verliert damit den Status eines Individuums. Die physische Existenz oder Integrität eines Gegenstands ist im Allgemeinen nicht identisch mit seiner Existenz als Individuum. Auch Naturdinge, etwa ein Kiesel in einem Steinbruch oder ein Eichenblatt auf dem Waldboden sind als solche keine Individuen.

35 Ebd. S. 66. 36 Ebd. S. 67 u. S. 70-71. 90

1.3 INDIVIDUALITÄT

1.3.6 Einwände Gegen diese Darstellung gibt es zwei naheliegende Einwände. Einmal könnte man bestreiten, dass man derselben Brille zu verschiedenen Zeitpunkten den Status der Individualität einmal ab- und einmal zusprechen kann. Sie hat schließlich, könnte man sagen, wenn sie in meinem Besitz ist, noch immer dieselbe Identität wie vorher, als sie am Ständer hing. Also muss sie auch schon zu diesem Zeitpunkt, und damit überhaupt seit dem Zeitpunkt ihrer Herstellung, ein Individuum gewesen sein. Ich kann mir vorstellen, sie hätte eine versteckte Fabrikationsnummer oder eine winzige Besonderheit, die sie von anderen Exemplaren dieser Serie unterscheidet und damit ihre Individualität im Sinne des Graciaschen Kriteriums sicherstellt. Zum anderen könnte man den kommunikativen Charakter der Individuation bestreiten. Habe ich nicht, wenn ich auf einem Spaziergang einen Stein aufhebe und in die Tasche stecke, damit den Stein individuiert? Auch die Herstellung von Dingen kann – etwa als Hobby – ohne unmittelbar damit verbundene Kommunikation betrieben werden. Beide Einwände gehen von der Erfahrung aus, dass uns viele Dinge und Personen generell als Individuen begegnen, ohne dass wir sie erst durch einen Individuationsprozess dazu machen müssen. Auf diese Erfahrung ist die intuitive ontologische Auffassung von Individualität gegründet, nach der ein Gegenstand an sich individuell ist oder nicht. Der von mir verfolgte pragmatische, handlungs- und kommunikationsorientierte Ansatz steht mit der genannten Erfahrung jedoch nicht in Widerspruch. Wenn wir etwa Personen und Orte kennen lernen, so erfahren wir dabei normalerweise ihre Namen, und Dinge, die wir wahrnehmen, sind meist mit Personen oder Orten verbunden. Sie treten damit bereits zusammen mit einer Identität in Form von Namen oder Geschichten in unseren Gesichtskreis. Diese gehen auf Ereignisse wie Namensgebungen (Taufen), Herstellung oder Inbesitznahme z.B. durch Kauf zurück. Solche Ereignisse sind aber Formen von Individuationsakten, und der bei diesen Akten erzielte Konsens begründet die soziale Verbindlichkeit dieser Identitäten. Eine Person, einen Ort oder auch ein Ding kennen lernen bedeutet deshalb, dass wir diese verbindlich zugeschriebenen Identitäten in Form von Namen, Geschichten oder Eigentumsverhältnissen zur Kenntnis nehmen. Mit Artefakten, die seriell hergestellt sind und uns als Waren begegnen, ist keine Identität im geschilderten Sinne verbunden, sondern eine des Typs (s.u. Abschn. 1.5.2). Für die Frage der Individualität der Brille ist die Art und Weise entscheidend, wie ich sie vor und nach dem Kauf behandelt habe. Vorher war sie für mich ein Typ und durch andere 91

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

gleichartige Brillen vollständig in der Erscheinung und Funktion vertretbar. Ich habe nicht wirklich das Exemplar gemeint, das am Ständer hing, sondern „so eine“, die aber durch diese eine repräsentiert wurde und selbst durch die anderen derselben Art repräsentiert wird. Falls ich nach dem Kauf einen Schaden an ihr entdecke, den ich auf eine falsche Behandlung bei der Herstellung oder beim Transport oder durch andere Kunden zurückführe, dann stelle ich Bezüge her, die es mir erlauben, der Brille auch eine individuelle Geschichte vor meinem Kauf zuzuschreiben. Diese Zuschreibung erfolgt jedoch post festum, sie stellt eine Identifikation dar, durch die der Geschichte meiner Brille eine andere Geschichte angefügt wird und durch die sie eine andere oder erweiterte Identität erhält (s.u. Abschn. 1.5.3 u. 1.5.4). Auch im Falle einer kommunikationsfreien Inbesitznahme oder Herstellung eines Gegenstandes kann man von Individuation nur dann sprechen, wenn dieser Gegenstand in irgend einer Weise in kommunikative Bezüge eingebunden wird. Das muss nicht ein expliziter Akt bei dem Fund des Steins sein, sondern kann durch die gedankliche Einbeziehung in sprachliche, begriffliche oder lebensweltliche Zusammenhänge erfolgen. Man könnte hier natürlich eine potentielle Individualität postulieren, die aktualisiert wird, sobald man über den Gegenstand kommuniziert. Keine Individuation stellt dagegen etwa der vollautomatische Herstellungsprozess eines technischen Teils dar (s.u. Abschn. 1.5.2). Ein solches Teil wird gegebenenfalls beim Verkauf oder Einbau individuiert. Ein Gegenstand ist also genau so lange kein Individuum, wie er als ein ersetzbares oder vertretbares Exemplar wahrgenommen und behandelt wird. Er wird Individuum, wenn sein Austausch gegen ein ‚gleiches‘ Exemplar derselben Art und/oder Funktion ‚etwas ausmacht‘. Da ein Tausch und vor allem seine Akzeptanz oder Ablehnung wie die Individuation selbst ein kommunikativer Akt ist, der einen sozialen Kontext voraussetzt, ist auch die Zuschreibung von Individualität keine subjektive Projektion. Der soziale Aspekt von Individualität drückt sich auch darin aus, dass gewisse Vorgänge, die die Individualität von Dingen oder Personen betreffen wie z.B. Eigentumsveränderungen oder Taufen durch gesellschaftliche Normen und Konventionen geregelt sind (s.u. Kap. 2.4). Das Graciasche Kriterium erlaubt also zu entscheiden, wann ein Gegenstand ein Individuum ist. Allerdings ist es – in der von mir vertretenen Auffassung und im Gegensatz zu Gracias Interpretation – kein ontologisches Kriterium, das Gegenstände einer Klasse von Individuen zuzuordnen erlaubt. Individualität ist kein klassifizierendes Merkmal eines Gegenstandes und lässt sich auch nicht auf klassifizierende Merkmale oder Eigenschaften von Gegenständen zurückführen. Es lässt sich, wie in den vo92

1.3 INDIVIDUALITÄT

rangehenden Abschnitten gezeigt wurde, überhaupt nicht am Gegenstand selbst festmachen. Wo ein solcher Versuch gemacht wird, führt dies, wie in 1.3.2.1 anhand der Monographie von Buddensiek ausgeführt wurde, immer zu einer Einschränkung der Klasse von Gegenständen, die Individuen sind oder sein können. Nach dem hier vertretenen Standpunkt, der sich vor allem am Sprachgebrauch orientiert, gibt es eine solche Einschränkung nicht. Es wird sich in Kapitel 1.5 zeigen, dass selbst Typen und Arten individuiert werden können. Ausschlaggebend für die Individualität eines Gegenstands ist, dass er in einem Kommunikationsnetz bzw. Handlungskontext durch seine Bezüge zu anderen Individuen – letzten Endes immer auch zu Personen – verortet ist.

1.3.7 Individualität als unbestimmbare Bestimmtheit Anders als dieser [Duns Scotus H.L.] versteht Thomas die Singularität nicht als die vollständige Bestimmung des Seins, sondern als ein Ausfransen oder Unbestimmtwerden seiner Grenzen: eine paradoxe Individuation durch Unbestimmtheit.37

Die vorangehenden Abschnitte lassen sich in folgenden Sätzen zusammenfassen: 1. Individualität ist nicht intrinsische Eigenschaft oder Kennzeichen eines Gegenstandes an sich, sondern dieser wird Individuum in bestimmten Kontexten durch einen kommunikativen Akt. Dieses Ergebnis entspricht dem am Beginn dieses Kapitels formulierten Vorschlag, nicht danach zu fragen, was ein Individuum ist, sondern wann etwas ein Individuum ist. 2. Weder für Individualität noch für die Nicht-Individualität oder Allgemeinheit lässt sich eine Extension oder ein Begriffsumfang angeben. Entsprechend lässt sich von keinem Gegenstand sagen, dass er entweder immer ein Individuum oder immer ein Allgemeinbegriff ist. Wenn wir trotzdem sagen, dass z.B. Personen, Tiere oder Artefakte Individuen sind, so bedeutet dies, dass sie in den sozialen Kontexten, in denen wir mit ihnen zu tun haben, immer schon als solche behandelt werden. Dass eine Person immer ein Individuum ‚ist‘, ist eine normative und keine ontologische Aussage. 37 Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft. Berlin Merve Verlag 2003 S. 54 Hervorhebung im Original. 93

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

3. Das Graciasche Kriterium der ‚noninstantiability‘ liefert in den untersuchten Fällen eine brauchbare Probe dafür, wann wir es mit einem individuellen Gegenstand zu tun haben. Das ist dann der Fall, wenn in diesem Kontext eine Vertretung bzw. ein Austausch eines Gegenstandes durch einen anderen einen Unterschied macht, auch wenn dieser Vertreter dem Gegenstand noch so ähnlich ist und die gleichen Funktionen erfüllt. 4. Die kontingenten Bestimmungen, die einen Gegenstand als Individuum kennzeichnen, sind nicht Verfeinerungen oder Ergänzungen seiner begrifflichen Bestimmungen. Seine Individuation kann völlig unabhängig und auch ohne Kenntnis von seinen spezifischen Eigenschaften bzw. unter Missachtung seiner Funktionen erfolgen. 5. Die kontingenten individuierenden Bestimmungen bestehen in Beziehungen zu anderen Individuen, zu individuellen Ereignisse, Orten, Dingen, und – letzten Endes immer – zu Personen. Diese Beziehungen sind nicht invariant gegen den Austausch von Individuen. Bei Universalien gibt es keine solchen Bindungen an Individuen, sie sind invariant gegen den Austausch ihrer individuellen Beispiele. Die Einsicht, dass Individualität nicht den begrifflichen Bestimmungen sozusagen aufgesetzt wird, sondern völlig unabhängig von ihnen ist, wurde im vorigen Abschnitt am Beispiel der Brille, die durch Inbesitznahme individuiert wird, durchgespielt. Es gibt dafür jedoch sehr viel drastischere Beispiele, etwa wenn Kinder Gegenstände wie Geräte oder Möbel zu Spielzeug umfunktionieren oder wenn Künstler wie Marcel Duchamp oder Surrealisten und Dadaisten wie Kurt Schwitters ‚readymades‘ oder ‚objets trouvés‘ zu Kunstobjekten machen. Aber es handelt sich dabei auch um einen ganz alltäglichen Vorgang. Mit der Individuation wird das Ding von seiner begrifflichen Bestimmung und Funktion sozusagen abgekoppelt und es werden neue Möglichkeitshorizonte eröffnet. Oft geschieht das gerade dann, wenn ein Ding kaputt geht, d.h. wenn es seine ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllt. Ich kann ein Hemd als Putzlappen oder als Verband benützen. Eine solche Umdefinition oder Umwidmung erfolgt nicht am Begriff, sondern im Gebrauch am individuellen Ding. Die beiden Punkte (3) und (4) ergeben deshalb zusammengefasst noch eine schärfere Trennung von begrifflicher Bestimmung und Individualität: 6. Die Individuation erfolgt nicht nur unabhängig von den begrifflichen und funktionalen Bestimmungen des Gegenstands, sondern sie setzt die 94

1.3 INDIVIDUALITÄT

Möglichkeit ihrer Negation voraus. Auch dieses Charakteristikum wird durch den Terminus ‚noninstantiability‘ gut zur Geltung gebracht: Unvertretbarkeit bedeutet also auch die Irrelevanz der begrifflichen Bestimmtheit für den Status der Individualität. Das individuelle Ding ist offen für neue Dispositionen. Durch die Individuierung eines Gegenstandes wird eine Differenz erzeugt, die ihn gegen alle anderen Gegenstände abgrenzt und durch die ihm eine Identität verliehen wird (s.u. Abschn. 1.5.4) Im kommunikativen Akt der Individuation wird der Gegenstand zwar eindeutig bestimmt und identifizierbar – allerdings immer auf den kontingenten Kontext seiner Individuation bezogen. Im folgenden zweiten Teil wird dafür die Formulierung gebraucht, dass das Individuum eine Geschichte hat und durch sie bestimmt ist. Geht man dagegen davon aus, dass die begrifflichen Bestimmungen eines Sachverhalts oder einer Sache immer durch Beispiele erläutert werden können, dann gibt es dort, wo Beispiele fehlen, auch keine begriffliche Bestimmung. Das ist der Sinn der Aussage, dass Individuen ‚noninstantiable instances‘ oder ‚beispiellose Beispiele‘ sind, und die in der Maxime ‚individuum est ineffabile‘ Ausdruck findet. Je allgemeiner und damit weiter ein Begriff ist, d.h. je ärmer an Bestimmungen seine Definition bzw. Intension ist, desto mehr Beispiele hat er, desto größer ist seine Extension. Je spezieller der Begriff wird, desto mehr Bestimmungen enthält er und desto geringer ist seine Extension und die Zahl seiner Beispiele. Für Leibniz, der die kontingenten Bestimmungen des Individuums begrifflich interpretiert (Abschn. 1.1.2), bildet das Individuum in dieser Reihe den Endpunkt: es hat kein Beispiel und keinen Umfang und entsprechend muss sein Begriff unendlich sein. Nach der hier vertretenen Auffassung, nach der begriffliche und kontingente Bestimmungen sich nicht ergänzen, sondern quasi quer zueinander liegen, ergibt sich das Paradoxon, dass das Individuum begrifflich unbestimmbar ist, aber durch den kontingenten Kontext faktisch eindeutig bestimmt wird. Aus diesem Grunde kann man das Individuum als das ‚unbestimmbare Bestimmte‘ bezeichnen. Seine Bestimmtheit äußert sich darin, dass wir uns in unserem Umgang mit Dingen und Personen unaufhörlich auf Individuen beziehen und uns über ihre Identität normalerweise mühelos verständigen. Wie man sich sprachlich auf Individuen bezieht, soll im folgenden Kapitel erörtert werden.

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1.4 S P R AC H L I C H E B E Z U G N AH M E

AU F I N D I V I D U E N

Es gibt verschiedene sprachliche Mittel, um deutlich zu machen, dass in einem Sprechakt von einem Individuum und von welchem Individuum die Rede ist. Gracia nennt im letzten Kapitel seines Buches drei Arten der Bezugnahme auf Individuen: Eigennamen, indexikale Terme und definite Beschreibungen. Definit wird eine Beschreibung genannt, wenn sie nur auf ein Individuum zutrifft, im Gegensatz zur indefiniten Beschreibung, die auf viele Exemplare oder jedenfalls auf kein bestimmtes, sondern auf einen Typ zutrifft. Strawson hat in seiner ebenfalls schon mehrfach genannten Monographie als weitere Methode die der Relation zu anderen Individuen untersucht, die im Folgenden als vierte Bezugsart behandelt wird. Natürlich gibt es auch nichtsprachliche Arten der Bezugnahme auf Individuen, z.B. durch Gesten. Von ihr wird im Zusammenhang mit den indexikalen Termen die Rede sein. Sprachliche Bezugnahme auf Individuen muss nicht bedeuten, dass ein Gesprächspartner oder Leser in die Lage gebracht wird, dass er das Individuum, von dem die Rede ist, in einer Wahrnehmungssituation erkennen und von allen anderen unterscheiden kann. Wenn ich etwa jemandem von meinem Auto erzähle, so weiß mein Gesprächspartner, was gemeint ist, auch wenn er nicht weiß, wie es aussieht Mit der Identifikation und dem Wiedererkennen von Individuen befasst sich das nächste Kapitel.

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1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

1.4.1 Eigennamen Ich heiße Sosias, und wollt ich’s leugnen, So wär ich nicht mehr ich.1

In den verschiedenen Theorien über Eigennamen geht es vor allem um die Frage, ob Eigennamen nur eine Bedeutung haben im Sinne einer Bezugnahme, oder ob sie auch „Sinn“ (in Freges Gebrauch dieses Begriffs2) haben, also eine Intension. Falls sie einen Sinn haben, muss es für den Namen auch eine Beschreibung geben. Die ‚Referenztheorie‘ der Eigennamen behauptet, dass Namen nur eine Referenz, aber keinen Sinn haben. Nach John Stuart Mill, der diese Theorie vertreten hat, denotieren Eigennamen, aber sie konnotieren nicht. Ihre Aufgabe ist es nach Wittgenstein, ein Individuum zu kennzeichnen, aber nicht, es zu beschreiben.3 Eine Beschreibung dagegen kann nur einen Typ, aber kein Individuum kennzeichnen, wenn sie nur aus Universalien besteht. Zudem kann sie, wenn sich das Individuum verändert, unzutreffend werden – man denke nur an die Veränderungen, die ein Mensch von der Geburt an durchmacht. Der Name wird durch diese Veränderungen nicht ungültig. Enthält die Beschreibung auch Orts- und Zeitangaben, so wird sie zu einer definiten Beschreibung, auf die ich weiter unten eingehe. Nun muss die Referenztheorie natürlich nicht unbedingt behaupten, dass man durch Beschreibungen keinesfalls ein Individuum eindeutig kennzeichnen könne, sondern nur, dass für den Gebrauch von Eigennamen Beschreibungen nicht erforderlich sind oder, anders ausgedrückt, dass sie ohne Beschreibungen erfolgreich ‚funktionieren‘, d.h. dass eine erfolgreiche Referenz auf den Namensträger möglich ist. Allerdings sind auch Namen keineswegs geeignet, kontextunabhängige Referenzen auf Gegenstände zu ermöglichen. Fast alle Namen werden mehrfach gebraucht, selbst geographische Namen wie Kinzig oder Frankfurt kommen mehrfach vor. Das gilt selbst für die Kombination von Vor- und Zunamen bei Personen. Die Anbindung an kontingente Kontexte ist also auch für den erfolgreichen, d.h. eindeutigen Gebrauch von Namen unerlässlich. Probleme ergeben sich für die Referenztheorie in Fällen, wo Identitätsaussagen gemacht werden, in denen nur Namen vorkommen, oder 1 2 3

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Molière, Amphitryon. 1.Akt, 2. Szene. In Molière, Werke. Wiesbaden Insel 1954. Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung.“ In ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen Vandenhoeck 1994 S. 40. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus .3.202-3.23 Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1. Frankfurt Suhrkamp 1984.

1.4 SPRACHLICHE BEZUGNAHME

in den Fällen, wo kein realer Referent existiert wie im Falle von fiktiven Figuren (Don Quixote, Werther, Lara Croft). Wenn etwa gesagt wird, das Pseudonym Novalis steht für Friedrich von Hardenberg oder das Pseudonym Bruno Traven für Ret Marut, so wären das nach der strikten Auffassung der Referenztheorie leere Aussagen der Form A = A. Das widerspricht aber unserer Intuition, dass diese Aussagen durchaus informativ sein können. Das ist der Fall, wenn wir vorher nicht wussten, dass z.B. Ret Marut, der in München die Zeitschrift Der Ziegelbrenner herausgab, sich während der Räterepublik politisch exponierte und anschließend nach Mexiko floh, dieselbe Person ist wie der Autor der Bücher Der Schatz der Sierra Madre und Das Totenschiff. Ebenso wäre die Aussage „Faust hat Gretchen verführt“ bedeutungslos, da Faust und Gretchen keine realen Referenten haben. Die ‚deskriptivistische Theorie‘ der Namen versucht, solche Probleme zu vermeiden, indem sie behauptet, dass Namen nicht nur eine Bedeutung, also eine Referenz, sondern einen Sinn haben, der z.B. durch eine Beschreibung formuliert werden kann. Als erster Vertreter dieser Theorie wird meist Gottlob Frege genannt. Frege hat allerdings einen sehr weiten Begriff von Eigennamen. Er bezeichnet damit alle Ausdrücke, die einen Gegenstand bedeuten (‚bedeuten‘ im dem Fregeschen Sinne, wonach die Bedeutung der Gegenstand ist, auf den der Name deutet)4. Danach ist z.B. auch der Ausdruck „Schnittpunkt zweier bestimmter Geraden“ ein Eigenname, und seine Bedeutung ist eben der betreffende Schnittpunkt. Der mit dem Namen verbundene Sinn ist für Frege das, „worin die Art des Gegebenseins enthalten ist“.5 In dem Beispiel ist das die Tatsache, dass der betreffende Punkt als Schnittpunkt zweier bestimmter Geraden gegeben ist. Es gibt also nach dieser Theorie durchaus Namen, die zwar einen Sinn, aber keine Bedeutung haben, wie der Schnittpunkt zweier paralleler Geraden, aber auch fiktive literarische Figuren. Ein weiterer Vertreter einer deskriptivistischen Theorie der Eigennamen ist John R. Searle. Er vertritt den Standpunkt, dass Eigennamen zwar nicht zur Beschreibung von Gegenständen benützt werden, sondern zur Bezugnahme auf sie, dass sie aber „logisch mit Charakterisierungen des Gegenstands verbunden sind, auf den sie sich beziehen.“6 Sie können durch die zugehörige Beschreibung ersetzt werden, wenn es darum 4

5 6

„Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen;...“ Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In Frege, a.a.O. S. 44. Ebd. S. 41. John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge University Press 1969 S. 170. 99

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

geht, die Identifizierung eines Namens mit seinem Gegenstand zu vollziehen oder mitzuteilen.7 So kann man den Namen Wolfgang Amadeus Mozart ersetzen durch die Beschreibung ‚Komponist der Zauberflöte‘ und den Namen Katja Lang durch ‚meine Tochter‘ (da ich nur eine habe). Diese Theorie ist mit unserer Intuition in Einklang. In der sprachlichen Praxis erläutern wir die Bedeutung von Namen oft durch Beschreibungen, wenn der Bezug zwischen Namen und Gegenstand zweifelhaft ist. Schließlich gibt es noch die ‚Kausaltheorie‘ der Namen, wie sie von Kripke vertreten wird.8 Nach ihr denotieren Namen, und zwar als ‚starre Designatoren‘, die auch bei Veränderungen des Referenten bzw. bei neuen Erkenntnissen über sie, also bei veränderten Beschreibungen, ihre Referenz behalten. Hergestellt wird die Referenz durch einen tatsächlichen oder fiktiven Taufakt, durch den der Name dem Gegenstand erstmalig zugeschrieben wird. Die durch die Taufe hergestellte Verbindung zwischen Gegenstand bzw. Person und Namen ist kontingent, d.h. willkürlich, und sie kann durch keine Beschreibung mit allgemeinen Begriffen ersetzt werden. Wenn wir einen Namen nennen, den wir von anderen – eventuell auch durch eine Beschreibung – erfahren haben, dann führt eine Kausalkette über eine Reihe von Sprechern, die die Kenntnis des Namens weitergegeben haben, zu diesem Taufakt. Die Referenz wird durch das Bestehen einer solchen Kausalkette vom Sprecher zum Taufakt sozusagen extern hergestellt. Searle kritisiert an der Kausaltheorie, wie sie von Kripke vertreten wird, dass es nicht plausibel sei, die Referenz allein an eine externe Kausalkette zu binden, sondern dass mit der Nennung eines Namens ein ‚intentionaler Gehalt‘ verbunden ist und transportiert wird, der in der Absicht des jeweiligen Sprechers besteht, über denselben Gegenstand wie der vorige Sprecher zu reden. Dieser intentionale Gehalt muss nicht in einer verbalen oder verbalisierbaren Beschreibung bestehen, sondern könnte sich einfach in der Fähigkeit des Namensnenners manifestieren, den Träger des Namens identifizieren zu können.9 Er existiert im Kopf des Sprechers, und dementsprechend haben wir es hier mit einer internen und nicht mit einer externen Referenz zu tun. Searles Kritik am Begriff einer Kausalkette scheint mir gerechtfertigt zu sein. Eine Taufe ist ein kommunikativer Akt, durch den eine Person, ein Ort oder Gegenstand (Schiffstaufe) mit einer Identität ausstattet und damit auch individuiert wird (s.o. Abschn. 1.3.5). Eine Identität zu 7 8 9

Ebd. S.165. Saul Kripke, Name und Notwendigkeit. Frankfurt Suhrkamp 1981. John R. Searle, Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Frankfurt Suhrkamp 1987. S. 303.

100

1.4 SPRACHLICHE BEZUGNAHME

haben bedeutet, mit kontingenten Merkmalen z.B. in Form von Geschichten verbunden zu sein. Die Referenz eines Namens zu kennen, bedeutet weder, eine allgemeine Beschreibung des Namensträgers zu kennen, noch sich auf einen Taufakt zu beziehen, sondern solche kontingenten Merkmale oder Geschichten zu kennen, die aber nicht primär im Kopf existieren, wie Searle meint, sondern im kommunikativen Medium. Und sie werden nicht kausal, sondern durch Kommunikation weitergegeben. Der Taufakt ist sozusagen der Geburtsakt des Individuums, der diesem mit dem Namen die Fähigkeit verleiht, Träger einer Identität und damit einer individuellen Geschichte zu werden (s.u. Kap. 2.2). Zudem erhält trotz der im Taufakt gestifteten Designation in vielen Fällen ein Name nur im Kontext einer Situation einen eindeutigen Bezug. Man denke nur an den Fall, wenn zwei Personen mit gleichem Namen sich anreden: Der Bezug wird dann eindeutig durch die Person des Sprechers. Zusammenfassend kann man Gracia sicher Recht geben, wenn er in einer recht plausibel erscheinenden Weise allen drei Theorien verschiedene Erklärungsfunktionen zuweist: Danach erklärt die Kausaltheorie die Entstehung der Verbindung zwischen Namen und Referent, die Referenztheorie erklärt, wie wir uns normalerweise durch Namen auf Individuen beziehen und die deskriptivistische Theorie zeigt, wie wir Namen kennen lernen bzw. anderen erklären können, nämlich durch Beschreibungen.

1.4.2 Indexikale Terme Als indexikale Terme (oder einfach als ‚Indexikale‘) bezeichnet man Ausdrücke wie ‚hier‘, ‚jetzt‘, ‚ich‘, ‚er, sie, es‘‚ ‚dieser, diese, dieses‘. Sie werden noch einmal untergliedert in die reinen Indexikale wie ‚hier‘, ‚jetzt‘, ‚ich‘, und in die demonstrativen Indexikale, zu denen etwa ‚dieser‘ gehört und die noch eine Zusatzinformation wie etwa eine Zeigegeste benötigen, um verstanden zu werden. Auch Indexikale werden benützt, um Individuen (bzw. individuelle Ereignisse im Falle von ‚jetzt‘) zu kennzeichnen. Anders als bei Namen besteht aber keine feste Bindung zwischen einem solchen Term und dem Individuum, vielmehr ist der Bezug von der jeweiligen Situation abhängig. Der Term ‚ich‘ bezieht sich immer auf den Sprecher, ‚dieses‘ bezieht sich auf einen Gegenstand in der Nähe des Sprechers, auf den dieser hinweist. Es kann aber auch ein Gegenstand in einer Erzählung sein, auf den der Erzähler oder eine in der Erzählung auftretende Person hinweist. Wie der Name ‚indexikal‘ (gr. įİȓțȞȣµȚ = zeigen) andeutet, ist die Funktion dieser Wörter eine ähnliche wie die einer Geste des Zeigens, und oft sind in ei101

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

ner Sprechsituation Wörter wie ‚dieses‘ oder ‚er‘ von einer Geste begleitet oder können durch eine solche ersetzt werden. Der indexikale Term ist überhaupt die philosophiegeschichtlich prominenteste Art, ein Individuum zu kennzeichnen. Aristoteles hat die ersten Substanzen durch das ‚ IJȩįİ IJȚ‘ (‚dieses hier‘) als etwas gekennzeichnet, auf das man deuten kann.10 Aus dem lateinischen Ausdruck ‚haec‘ (femininum von ‚hic, haec, hoc‘ für dieser, diese, dieses) wurde von Duns Scotus um 1300 der Begriff ‚haecceitas‘ (‚Diesheit‘) gebildet, der im Gegensatz zur ‚quidditas‘ (‚Washeit‘ oder Wesen) die Individualität oder Einzigartigkeit einer Sache kennzeichnet. Zudem haben die Demonstrative wie ‚dieser‘ oder ‚jener‘ in Verbindung mit einem Nomen die Funktion von ‚Individuatoren‘, d.h. man kann durch solche zusammengesetzten Terme ausdrücken, dass nicht die Art, sondern ein bestimmtes Individuum gemeint ist. Selbstverständlich funktioniert der indexikale Term nur im Kontext einer Situation, wie sie etwa durch einen Sprechakt oder auch durch einen bestimmten Text gegeben ist. Er besteht nicht – wie manche Darstellungen aus der analytische Philosophie zu suggerieren scheinen – in einer Beziehung zwischen dem Sprecher oder gar dem Term auf der einen und dem Gegenstand, auf den er zeigt, auf der anderen Seite. Vielmehr stellt er eine Beziehung her zwischen einem Sprecher, der damit auf etwas zeigt, und dem Hörer oder Leser, dem es gezeigt wird. Der gelungene Bezug besteht in der erfolgten Verständigung über den gezeigten Gegenstand im illokutionären kommunikativen Akt (Abschn. 1.3.5). Indexikalen Terme fungieren allerdings nicht immer als Individuatoren im absoluten Sinne. Was man durch ein ‚dieses‘ kennzeichnet, wird damit nicht automatisch zum Individuum. Beispiele für den nicht individuierenden Gebrauch des Demonstrativpronomens wurden bereits in 1.3.5 genannt. Man kann es auch in Zusammenhang mit Eigenschaften oder Abstrakta verwenden. So kann man etwa sagen: „Dieses Rot gefällt mir nicht“, oder: „Diesen Gedanken hatte ich auch schon.“

10 „Auch dieser Begriff des IJȩįİ IJȚ ist fundamental für das gesamte abendländische Denken, – deswegen, weil alle Verweise auf die Faktizität, das Diesda, das was im Begriff nicht auflöslich ist und wofür doch ein begrifflicher Name gesucht wird, in diesem Wort IJȩįİ IJȚ liegen. IJȩįİ IJȚ ist ja eigentlich – und das ist sehr interessant für die Komplexion dieses Denkens – überhaupt kein Begriff sondern eine Geste; IJȩįİ IJȚ heißt soviel wie ‚Dies‘, es deutet auf etwas hin.“ Theodor W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme. Frankfurt Suhrkamp 1998 S. 57. 102

1.4 SPRACHLICHE BEZUGNAHME

1.4.3 Definite Beschreibungen Beschreibungen, die nur Universalien wie Gattungsbegriffe und Eigenschaften enthalten, sind indefinit, da sie sich auf alle Gegenstände beziehen, auf die sie zutreffen. Auf ein Einzelding kann sich eine Beschreibung nur dann beziehen, wenn explizit oder implizit – z.B. durch den Kontext eines Gesprächs oder einer Erzählung – die möglichen Referenten so eingeschränkt sind, dass nur noch ein Exemplar in Frage kommt. Eine solche Einschränkung kann durch die Angabe eines bestimmten Zeitraums oder eines begrenzten räumlichen Bereichs erfolgen, innerhalb dessen diese Beschreibung nur auf ein Individuum zutrifft. In diesem Falle spricht man von definiten Beschreibungen. Wenn ich etwa von meinem Nachbarn mit den langen weißen Haaren spreche, ist diese Beschreibung durch den Zeitpunkt, in dem ich diese bußerung mache, und durch meinen derzeitigen Wohnort implizit ein Rahmen gegeben, durch den die Beschreibung definit wird – falls ich zur Zeit nur einen Nachbarn mit langen weißen Haaren habe. Unabhängig von diesem Kontext ist diese Beschreibung weder eindeutig – es gibt zu anderen Zeiten und an anderen Orten Männer mit langen weißen Haaren – noch zutreffend – der Betreffende hatte wahrscheinlich früher andersfarbige oder kurze Haare. Eine indefinite wird also dadurch zu einer definiten Beschreibung, dass man sie durch situative, also kontingente Elemente ergänzt, die dann ein Individuum kennzeichnen. Diese kontingenten Elemente können entweder explizit oder implizit gegeben sein.

1.4.4 Strawson zur Rolle des logischen Subjekts Im zweiten Teil seiner Monographie untersucht Strawson, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, wenn in einem Text oder einer Rede ein Ausdruck sich auf ein Einzelding bezieht. Er sieht den grundlegenden Unterschied zwischen der Einführung eines Subjekt-Ausdrucks, der ein Einzelding bezeichnet, und der eines Prädikats, das universellen Charakter hat, darin, dass im ersten Falle ein bestimmtes „empirisches Faktum“11 genannt werden muss, nicht aber im zweiten Falle. Dieses empirische Faktum kann z.B. eine wirkliche Person, ein wirklicher Gegenstand, ein bestimmter Ort oder eine historische Tatsache sein, die – 11 „Der Subjekt-Ausdruck, der ein Einzelding einführt, setzt ein bestimmtes empirisches Faktum voraus; für den Prädikat-Ausdruck, der ein Universale einführt, gilt dies nicht.“ Strawson, ELS S.305 Der in der deutschen Übersetzung mit ‚Einzelding‘ wiedergegebenen Ausdruck ‚individual‘ bedeutet hier nicht ein beliebiges, sondern ein ganz bestimmtes, individuelles Einzelding. 103

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

wenn der Satz oder die Rede verständlich sein soll – den Teilnehmern bzw. Hörern bekannt sein oder mindestens als Tatsachen anerkannt werden müssen. Für das Verständnis von Prädikat-Ausdrücken ist nach Strawson eine solche Voraussetzung nicht erforderlich. Durch den Verweis auf eine Tatsache erhält der Subjekt-Ausdruck eine Vollständigkeit, die Prädikat-Ausdrücken fehlt.12 Der Brauchbarkeit dieser Kennzeichnung von Verweisen auf Einzeldinge als Kriterium sind jedoch Grenzen gesetzt. Nicht jeder Bezug auf ein empirisches Faktum kennzeichnet ein Einzelding in einem Text. Natürlich bezieht sich in dem Satz ‚Dieses Bild ist ein echter Rembrandt‘ das Subjekt ‚dieses Bild‘ durch das Indexikal auf ein ganz bestimmtes Bild, aber gleichzeitig bezieht sich das Prädikat ‚ein Rembrandt sein‘ bzw. ‚von Rembrandt gemalt sein‘ auf die historische Tatsache, dass ein bestimmter Rembrandt Bilder gemalt hat. Auch das Prädikat verweist in diesem Falle auf eine empirische Tatsache, die zu seinem Verständnis wichtig ist. Dasselbe gilt im Falle des Ausdrucks ‚viktorianische Moral‘. Strawson bemerkt zu solchen Beispielen, dass sie kein Einzelding prädizieren,13 und dass zudem einem Prädikat-Ausdruck‚ von Rembrandt gemalt sein‘ nicht die Vollständigkeit zukomme,14 wie sie dem Hinweis auf das als Subjekt fungierende Einzelding ‚dieses Bild‘ (in Abhängigkeit von der Sprechsituation) zu eigen ist. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Prädikaten um Zuschreibungen von ‚typischen‘ Merkmalen, wobei der ‚Typ‘ seinerseits durch ein Individuum gekennzeichnet ist und das Merkmal dadurch auf eine kontingente Tatsache verweist. Auf die Zwischenstellung solcher typischen Merkmale zwischen universellen Eigenschaften und kontingenten Merkmalen komme ich in Abschn. 1.5.2 zurück. Ein weiteres Problem, das diese Theorie mit allen Theorien teilt, die sich auf Referenz auf empirische Dinge oder Tatsachen stützt, bereiten fiktive Einzeldinge. Sowohl Strawsons Charakterisierung als auch die Referenztheorie der Eigennamen funktionieren nur im Falle realer Referenten. Daraus folgt, dass alle Bezüge auf fiktive Gestalten und Dinge im Rahmen dieser Theorien bedeutungslos sind. Das ist jedoch sehr unbefriedigend. Es ist doch erstaunlich, dass die Sprache selbst keinen Unterschied macht zwischen Aussagen oder Geschichten, die sich auf reale, und solchen, die sich auf fiktive Gestalten oder Ereignisse beziehen. Die Frage nach 12 „Ein Subjekt-Ausdruck ist ein solcher, der aus eigener Kraft in gewissem Sinn eine Tatsache präsentiert und insofern vollständig ist. Ein PrädikatAusdruck ist ein solcher, der keine Tatsache aus eigener Kraft präsentiert und insoweit unvollständig ist.“ Strawson, ELS S. 241. 13 Ebd. S. 223. 14 Ebd. S. 243. 104

1.4 SPRACHLICHE BEZUGNAHME

Wahrheit bzw. realer Existenz und Fiktion ist außersprachlich. Es erscheint mir deshalb bedenklich, einen Begriff wie Individuum bzw. Individualität an die Bedingung der Realität des Bezugs zu binden. Bindet man stattdessen Individualität an kontingente Merkmale, so verweisen diese auf einen Kontext, der sowohl ein realer Handlungsbezug als auch ein rein sprachlicher Kontext sein kann. Oft werden Kontexte in unbestimmter Form nur angedeutet, wie etwa durch den Satzanfang „Ich kenne jemanden, der ... „ oder durch den klassische Märchenanfang „Es war einmal ...“. So eingeleitete Geschichten erzählen von individuellen Gestalten oder Dingen, deren Realität dabei völlig offen bleiben kann. Ob Figuren wie Odysseus oder Siegfried oder Objekte wie das trojanische Pferd oder der heilige Gral einen Bezug zu realen historischen Personen bzw. Dingen haben, hat keinen Einfluss auf ihre Individualität. Man kann Strawsons Kennzeichnung im Übrigen auch als Verweis auf andere Individuen verstehen. Dies können Ereignisse, Personen, Zeiten, Orte, oder eben andere Einzeldinge sein. Denn empirische Tatsachen lassen sich nur mit Hilfe eines Bezugsrahmens eindeutig beschreiben, der sich seinerseits auf Entitäten der genannten Art beziehen muss. Schon im ersten Teil seiner Untersuchung hat Strawson darauf hingewiesen, dass Individuen indirekt durch Bezug auf andere Individuen (d.h. nicht demonstrativ durch Zeigen) identifiziert werden können (s.u. Abschn. 1.5.3). Und diese allgemeine Erkenntnis gilt natürlich auch für die sprachliche Identifikation. Es wird sich im zweiten Teil zeigen, dass diese gegenseitige Vernetzung der Verweise auf Individuen sich letztlich immer in Geschichten konstituiert. Damit hat sich das Vorhandensein eines kontingenten Elementes bei allen vier besprochenen Weisen, sich sprachlich auf Individuen zu beziehen, als wesentlich für ihre Funktion erwiesen. Im Falle von Namen ist es einerseits der Akt der Taufe als die Stiftung einer willkürlichen Verbindung zwischen Namen und Gegenstand, andererseits der situative Kontext, der den Namensbezug erst eindeutig macht. Beim indexikalen Term ist es der Bezug auf eine gegebene Situation bzw. auf die Geste des Zeigens, und auch bei der definiten Beschreibung macht erst die Referenz auf eine Situation die Beschreibung eindeutig. Auch die Verknüpfung mit einer empirischen Tatsache bzw. mit anderen Individuen bedeutet natürlich die Einführung eines kontingenten Elementes.

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1.5 I N D I V I D U U M U N D T Y P – IDENTIFIZIEREN UND WIEDERERKENNEN

Im letzten Kapitel dieses begrifflichen Teils wird das bisher entwickelte Kriterium der Individualität in einigen Grenzbereichen erprobt, und zwar einmal am Beispiel des genetischen und damit quasi individuierten Artbegriffs der neueren Biologie, und andererseits für den Fall von automatisch produzierten Artefakten, die zwar Einzeldinge sind, aber sozusagen unterhalb der Schwelle der Individuation bleiben. Diese Beispiele zeigen, wie flexibel wir mit Kategorien wie Individualität und Allgemeinheit oder Typ umgehen müssen, um eine immer komplexer werdende Welt angemessen beschreiben zu können. Gleichzeitig haben sich die bisher entwickelten begrifflichen Instrumente zur Kennzeichnung von Individualität an diesen Grenzfällen zu bewähren. Insbesondere ist noch das Verhältnis von Individualität und Identität zu präzisieren, da dieses Verhältnis implizit ein Thema des folgenden phänomenologischen Teils sein wird.

1.5.1 ‚Beispiel‘ oder ‚Angehöriger‘? – Klassifikatorischer und genetischer Artbegriff Für die folgenden Überlegungen ist es nützlich, auf die Unterschiede zwischen den folgenden Begriffspaaren hinzuweisen:

• •

Allgemeinbegriffe (wie etwa Art, Gattung, Eigenschaft) und ihre Beispiele, Mengen und ihre Elemente, sowie 107

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT



Gemeinschaften (z.B. Populationen, Familien) und ihre Angehörigen (Mitglieder).

Ich kann den Hund meines Nachbarn als Beispiel für den Allgemeinbegriff Hund betrachten, wobei er durch spezifische Eigenschaften als Hund von Tieren anderer Arten derselben Gattung unterschieden ist. Ich kann ihn als ein Element der Menge der Hunde betrachten, deren Besitzer in meiner Straße wohnen. Und ich kann ihn schließlich als Angehörigen einer bestimmten Hundefamilie betrachten, die aus seinen Eltern und deren Nachkommen besteht. Im ersten Falle ist er Beispiel der Art ‚Hund‘ auf Grund bestimmter Eigenschaften, im zweiten Falle ist er ein Element einer bestimmten Menge von Hunden, die ich willkürlich zu einer Menge zusammengefasst habe, und im dritten Falle ist er Mitglied oder Angehöriger einer Familie auf Grund der Verwandtschaftsbeziehungen zu den anderen Familienmitgliedern. Begriffe unterscheiden sich von Mengen und Gemeinschaften dadurch, dass sie eine Intension haben, d.h. eine Gruppe von Merkmalen, die ihren Beispielen gemeinsam sind. Biologische Arten bilden – jedenfalls historisch gesehen – das klassische Paradigma des Speziesbegriffs. Man kann sie jedoch auch zu den Gemeinschaften rechnen, da sie sich intraspezifisch reproduzieren. Die Frage bildet den Hintergrund einer Auseinandersetzung unter Biologen und Philosophen um den Begriff der biologischen Spezies. Die Biologie, vor allem die Evolutionsbiologie, versteht den Begriff der Art heute nicht mehr wie zur Zeit Linnés typologisch oder klassifikatorisch, sondern genetisch. Klassifikatorisch bedeutet, dass die Art durch eine Reihe von charakteristischen Merkmalen definiert ist, durch die sich die Exemplare dieser Art von Exemplaren anderer Arten derselben übergeordneten Gattung unterscheiden (differentia specifica, genus proximus). Ein solcher klassifikatorischer Artbegriff ist, wie Ernst Mayr in seiner Neuen Philosophie der Biologie betont, statisch und essentialistisch1. Im Zuge der Anerkennung der Evolution verlor die biologische Art (Spezies) ihren statischen Charakter. Sie wird heute als Reproduktionsgemeinschaft definiert.2 So verstanden ist eine Spezies eine Gruppe oder Population von Individuen, die sich untereinander fortpflanzen. 1 2

Ernst Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie. München Piper 1991 S. 206 u. S. 235. „Die Angehörigen einer Spezies bilden eine Reproduktionsgemeinschaft. Die Individuen einer Spezies von Tieren erkennen einander als potentielle Partner und suchen einander zum Zwecke der Reproduktion. [...] Die Spezies ist schließlich eine genetische Einheit, die aus einem großen Genpool mit wechselseitigen Beziehungen besteht. [...] Diese [...] Eigenschaften

108

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

Die Ablehnung der begriffslogisch definierten Essenz bzw. eines Wesens bedeutet nach Mayr nicht, dass die Existenz von gemeinsamen Merkmalen geleugnet wird, sondern sie richtet sich gegen die Vorstellung eines zeitlich unveränderlichen, starren Wesens. Der von Mayr vertretene Anti-Essentialismus ist kein Nominalismus, denn er ist mit einem Naturalismus in Bezug auf die biologischen Taxa (Arten, Gattungen) verbunden. Er betrachtet diese nicht als konventionelle Schemata, die die realen Individuen zusammenfassen, sondern als durch naturgegebene Diskontinuitäten bestimmte „Realitäten der Natur“.3 In diesem Anti-Essentialismus haben Allgemeinbegriffe keinen ontologischen Status. 4 Versteht man die biologische Art als Reproduktionsgemeinschaft, so wird dadurch die Spezies selbst in gewisser Weise individualisiert. Sie besitzt nämlich eine Reihe von kontingenten Merkmalen. So ist sie – im Gegensatz zu einem Allgemeinbegriff wie etwa Dreieck – räumlich eingrenzbar durch die geografische Verbreitung ihrer Angehörigen. Ferner hat sie eine Geschichte, da sie aus anderen Arten entsteht, sich verändert und irgendwann verschwindet. Und schließlich hat sie, wie Mayr betont, eine innere Organisation wie ein individueller Organismus.5 Mayr verwirft aus terminologischen Gründen den Begriff Individuum als Bezeichnung für die biologische Spezies und verwendet den Begriff Population. Wenn wir eine Population oder eine biologische Spezies als Individuum auffassen können, wie steht es dann mit ihrer noninstantiability? Ist nicht jedes Mitglied der Reproduktionsgemeinschaft ein ‚instance‘ oder ein Beispiel für diese individuelle ‚Spezies‘? Offenbar gibt es nur drei Möglichkeiten:

3 4

5

erheben die Spezies über die typologische Interpretation einer ‚Klasse von Objekten‘“. Ebd. S. 235. Ebd. S. 202. „Das herausragende Merkmal einer Essenz ist ihre Beständigkeit, ihre Unveränderlichkeit. Im Gegensatz dazu können die Eigenschaften, die einer biologischen Gruppe gemeinsam sind, variabel sein und die Fähigkeit zu evolutionärer Veränderung besitzen. Was für ein Taxon typisch ist, kann sich im Lauf der Evolution verändern und ist dann eben nicht mehr typisch. [...] Wenn Spezies eine solche Essenz hätten, wäre eine allmähliche Evolution unmöglich. Die Tatsache ihrer Evolution zeigt, dass sie eben keine solche Essenz haben. Und weil sie keine Essenz haben, bilden sie keine Klassen.“ Ebd. S. 241. Ebd. S. 235. 109

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

• • •

Man muss das Kriterium der noninstantiability aufgeben oder mindestens seine Allgemeinheit einschränken. Damit wird es aber im Grunde wertlos. Man zeigt, dass die Angehörigen einer biologischen Spezies keine ‚instances‘ oder Beispiele für diese sind und die biologische Art also kein Allgemeinbegriff sein kann. Man verweigert rein genetisch definierten Arten den Status der Individualität.

Tatsächlich handelt es sich bei dem klassifikatorischen bzw. genetischen Speziesbegriff um zwei völlig verschiedene Auffassungen. Wenn ich jemandem, der nicht weiß, wie ein Hase aussieht, einen Feldhasen zeige mit den Worten: „Das ist (zum Beispiel) ein Hase“, dann beziehe ich mich auf eine klassifikatorische Spezies. Denn durch Beispiele wird der Betreffende die äußere Erscheinung als Erkennungsmerkmal für Hasen sich einprägen, und erlernt wird dadurch ein klassifikatorischer Artbegriff. Durch Beispiele wird sich in der Vorstellung des Betreffenden ein Erscheinungsbild, ein Phänotyp herausbilden, dessen Merkmale dann die betreffende Spezies kennzeichnen. Alle spezifischen Merkmale des Typs sind vollständig an jedem Exemplar vorhanden. Das Kriterium für den genetischen Speziesbegriff bezieht sich dagegen nicht auf den Phänotyp, sondern auf das Verhalten bei der Fortpflanzung. Dieses Verhalten erschließt sich aber nicht beim Zeigen auf Beispiele, sondern durch systematische Versuche bzw. Beobachtungen von mehreren Exemplaren. Ein Exemplar einer biologischen Spezies kann nicht als ‚Beispiel‘ für diese Spezies im Sinne einer Fortpflanzungsgemeinschaft gelten, weil am einzelnen Exemplar dieses Kriterium gerade nicht sichtbar gemacht oder beobachtet werden kann. Ist die genetische Spezies also durch ein Pärchen vertretbar (‚instantiable‘), wovon bekanntlich Noah beim erfolgreichen Versuch der Arterhaltung ausgegangen ist? Tatsächlich stellt die als individuelle Population verstandene biologische Art selbst ein Beispiel für den Begriff ‚biologische Art‘ dar. Deshalb können einzelne Exemplare dieser Art (oder Pärchen oder andere Untergruppen) zwar einzelne Merkmale, nicht aber diese Population mit ihren kontingenten Merkmalen wie Anzahl, Verbreitung und Geschichte, sowie individueller Variabilität, auf der ja die Evolution wesentlich beruht, vertreten. Ein Beispiel für diese Population müsste mindestens die Struktur einer Population haben, also ihrerseits aus Einzelexemplaren bestehen. In diesem Sinne ist also eine bestimmte biologische Art qua Population nicht vertretbar und die Zuschreibung einer Individualität auch hier mit dem Kriterium der ‚noninstantiability‘ vereinbar. 110

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

Der klassifikatorische Speziesbegriff ist offenbar unvereinbar mit dem genetischen Speziesbegriff, wenn man den klassifikatorischen phänotypisch versteht, wie es ja in der klassischen Taxonomie der Fall ist. Zwischen den Merkmalen, die die klassifikatorisch bestimmte Art definieren – anatomisches und morphologisches Erscheinungsbild ihrer Angehörigen – und denen, die die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies definieren – gemeinsame Fortpflanzung und Variabilität der Einzelexemplare – besteht auch kein unmittelbar logischer Zusammenhang. Für die Individualität des einzelnen Exemplars ist es allerdings völlig unerheblich, ob man die Art phänotypisch oder genetisch definiert. Nur seine Eignung als Beispiel für die Art wird davon berührt. Andererseits ist leicht einzusehen, dass beide Speziesbegriffe nicht unabhängig voneinander sind. Zum einen ist der moderne genetische Speziesbegriff historisch aus dem klassifikatorischen entstanden. Zum anderen ist für die Arbeit des Biologen, etwa bei der Bestimmung einer Pflanze oder eines Fossils, eine klassifikatorische Beschreibung auch heute unerlässlich. Dabei ist natürlich die tatsächliche Verwandtschaftsbeziehung wiederum das Kriterium, nach der die typischen Merkmale ausgewählt werden. In der modernen Biologie gibt es zudem die Tendenz, die Zugehörigkeit zu einer Spezies durch die Übereinstimmungen im Bereich des genetischen Materials zu definieren. Wenn man wie Mayr vom gemeinsamen Genpool spricht, so bedeutet dies noch keinen Rückgang zu einem klassifikatorischen Artbegriff. Definiert man aber bestimmte genetische Merkmale als für eine Art bestimmend, so ist das tatsächlich wieder eine klassifikatorische Definition, denn die genetische Ausstattung ist am einzelnen Exemplar nachweisbar. Es gibt noch einen weiteren Zusammenhang zwischen beiden Speziesbegriffen. Bis weit in die Neuzeit herein wurden die organischen Wesen als Geschöpfe Gottes betrachtet, die „ein jedes nach seiner Art“, geschaffen worden waren mit dem Auftrag „seid fruchtbar und mehret euch“ (1.Buch Moses 1,22-23). Mit dem Prinzip, dass aus Gleichem nur Gleiches entstehen kann, hatte man eine plausible Erklärung für den Zusammenhang zwischen gemeinsamer Vermehrung und morphologischer bhnlichkeit. bhnlichkeit wurde als Folge der gemeinsamen (intraspezifischen) Fortpflanzung verstanden und garantierte die Stabilität der Art. Der eigentliche Ursprung der Art ist nach dieser Auffassung der ‚göttliche Bauplan‘. Für diesen ‚creationistischen‘ Artbegriff (der im modernen amerikanischen Creationismus als Idee des ‚Intelligent Design‘ fortlebt) trifft mehr noch als für den klassischen klassifikatorischen Artbegriff die Charakterisierung als essentialistisch zu, da hier ein ‚Wesen‘ der Art außerhalb ihrer einzelnen Individuen postuliert wird, nämlich eben der göttliche Bauplan, der bei der Schöpfung realisiert wurde. 111

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

1.5.2 Technische Typen und typische Merkmale Dieser creationistische Artbegriff liefert ein Modell für das Verständnis des Typ- oder Modellbegriffs bei Artefakten. Die Exemplare eines Typs eines seriell gefertigten Artefakts – z.B. einen VW Golf GTI des Baujahrs XY – kann man einmal nach klassifikatorischen Merkmalen einer ‚Art‘ zuordnen, aber ebenso auf Grund ihrer Produktion als Serie, also ihres gemeinsamen Ursprungs. Beide Intensionen beziehen sich auf dieselbe Extension. Der Zusammenhang wird konkret repräsentiert in den technischen Unterlagen, nach denen dieses Gerät produziert wurde. Sie enthalten die Beschreibung des Phänotyps dieses Modells und stellen gleichzeitig die kontingente Ursache ihrer Entstehung dar. Deshalb wird ein technischer Typ umgangssprachlich oft als Individuum behandelt. Wir sprechen von ‚diesem Modell‘, seiner Entstehung und Geschichte und von seinem Ende. Und oft ist diese Geschichte mit der bestimmter Personen (Konstrukteur, Unternehmer) verbunden. Bestimmte technische Artefakte treten heute auf Grund der weitgehend automatisierten Produktionsprozesse nur als Exemplare eines Typs und nicht als Individuen auf, etwa wenn sie als Halbzeuge in Fertigungsprozesse eingehen. Dazu gehören z.B. elektronische Bauelemente, die automatisch hergestellt, transportiert, eventuell geprüft und von Bestückungsautomaten in Platinen eingesetzt werden, die schließlich in ein Gerät eingebaut werden. Solange sie unabhängige Teile sind, treten sie nur als Stückgut in den Prozessen auf. Sie bleiben untereinander vollständig vertretbar. Erst wenn etwa ein solches Bauteil auf einer Platine als Quelle einer Fehlfunktion lokalisiert wird, kann es zum Individuum werden. Mit der Frage der Individualität bei technischen Artefakten wird sich der vierte Teil noch ausführlich befassen. Andererseits besitzt ein technischer Typ als Gerät immer auch Merkmale, die nicht durch seine technische Funktion bestimmt sind, aber ‚typisch‘ sind für seine Entstehungszeit, u.U. auch für seinen Entstehungsort, den Hersteller oder den Designer. Solche typischen Merkmale sind Zeugnisse kontingenter Zusammenhänge, die sich nur über diese Zusammenhänge erschließen. Typische Merkmale werden auch klassifizierend benützt. Dazu gehören Erscheinungen wie Mode oder Stile, und zwar sowohl Epochen- wie Personalstile in der Kunst oder im Design von Gebrauchsgegenständen. Die typischen Merkmale bilden einen Übergang zwischen den spezifischen Merkmalen, also meist physischen Eigenschaften des einzelnen Gegenstands selbst, und den kontingenten Merkmalen, die sich nur über seine Geschichte erschließen. Sie sind zwar am Gegenstand selbst vorhanden, aber nur im Vergleich mit anderen Gegenständen desselben Stils erkennbar und deutbar als ‚typisch für 112

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

...‘. Ihre Kenntnis erfordert Erfahrung und Kompetenz. Deshalb sind Stilmerkmale einerseits bis zu einem gewissen Grade kopierbar, aber für den Kenner wiederum als Kopien erkennbar. Letztes Kriterium für die richtige stilistische Einordnung eines Gegenstandes bildet die kontingente Geschichte seiner Entstehung, die ihm Authentizität (z.B. Echtheit im Falle eines Kunstwerks) verleiht. Typische oder stilistische Merkmale haben eine große Bedeutung für die Wertschätzung von Gegenständen und dadurch indirekt für den sozialen Geltungsanspruch ihrer Besitzer. Die Funktion solcher Objekte für die Besitzer, einen bestimmten Lebensstil zu repräsentieren und Distinktionsgewinne zu erzielen, hat der Soziologe Bourdieu6 ausführlich untersucht. Die Typzugehörigkeit bestimmt die Wertschätzung eines Gegenstands oft weit mehr als die allgemeinen Klassifikationsmerkmale, also z.B. seine Funktion, aber auch als seine Individualität. Einen Rembrandt besitzt man nicht, um ihn übers Sofa zu hängen. Aber auch die besondere Qualität eines Rembrandt-Bildes, sein Sujet, seine individuelle künstlerische ‚Aussage‘, verschwindet oft hinter dem Nimbus des Künstlernamens – obwohl natürlich der Nimbus erst durch die Wertschätzung der individuellen Produkte erzeugt wird. Auch bei Personen gibt es ein prekäres Zusammenspiel zwischen kontingenten und typischen Merkmalen. Personen werden primär nach kontingenten Merkmalen klassifiziert, z.B. nach Herkunft (Familie, Region, Nation), Beruf, Religion oder Klassenzugehörigkeit. Dabei besteht eine starke Tendenz, solchen kontingenten Merkmalen bestimmte ‚typische‘ Merkmale zuzuordnen, die an Personen selbst erkannt werden und durch die sie entsprechend klassifiziert werden können. Das reicht von der Familienähnlichkeit über typische Erscheinungsbilder bestimmter Berufe oder Nationalitäten bis zur Zuordnung von Charaktereigenschaften zum Geburtsdatum in der Astrologie. Tatsächlich lassen sich Angehörige bestimmter Volksgruppen an der Sprache oder die soziale Herkunft an gewissen Verhaltensmustern erkennen – allerdings nur mit Hilfe bestimmter Sprach- oder Menschenkenntnisse und mit dem Risiko des Irrtums, denn auch hier besteht die Möglichkeit, solche Verhaltensoder Sprechweisen zu erwerben oder zu simulieren. Bis in die Wissenschaft hinein (Physiognomie) wird dabei immer wieder versucht, Kontingenz zu reduzieren, indem man das Individuelle auf einen Typus reduziert, um sich dadurch die Auseinandersetzung mit dem Einzelnen, d.h. mit seiner individuellen Geschichte, zu ersparen.

6

Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt Suhrkamp 2003. 113

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

1.5.3 Direktes und indirektes Identifizieren Nicht nur Personen, auch bestimmten Tieren, Artefakten, die wir einzeln in Gebrauch nehmen, sowie Orten und Ereignissen begegnen wir von vorn herein als Individuen, sie sind schon individuiert und besitzen eine Identität. Gegenstände sind ja keineswegs von Natur aus allgemein bestimmt als Exemplare von Begriffen, die dann im Gebrauch durch den Menschen individuiert werden. Es ist wohl eher so, dass wir im Laufe der Sozialisation den individuellen Umgang mit Personen und Dingen früher lernen als ihre Klassifikation unter Begriffsschemata. Denn schon Kinder sind sehr früh empfindlich gegen den Austausch von Personen und Dingen in ihrer Umgebung. Wenn aber Individualität kein Merkmal am Gegenstand ist, wie können sich Sprecher darauf einigen, dass sie dasselbe Individuum meinen? Der sprachliche Aspekt dieser Frage war Thema des vorangehenden Kapitels. Wie stellt man ferner fest, dass ein Individuum zu verschiedenen Zeiten dasselbe ist, wie erkennt man es wieder? Diese beiden Fragen der Identifikation und des Wiedererkennens sollen hier noch einmal aufgegriffen werden. Mit ihnen befasst sich Strawson im ersten Teil seiner schon mehrfach erwähnten Arbeit.7 Es geschieht sehr häufig, dass eine Identifikation eines Einzeldings von der Identifikation eines anderen abhängig gemacht wird, so etwa wenn wir vom Auto des Herrn Meier sprechen. Deshalb unterscheidet Strawson zunächst zwischen einer durch einen Kontext bedingten indirekten Identifikation und einer direkten oder demonstrativen Identifikation. Ein Fall von direkter oder demonstrativer Identifikation liegt dann vor, wenn sich das zu identifizierende Einzelding innerhalb des dem Sprecher und Hörer gemeinsamen Wahrnehmungsbereichs befindet. Dann kann die Identifikation durch eine Geste oder durch einen indexikalen Term (oder durch beides) erfolgen (s.o. 1.4.2). Wenn sich das zu identifizierende Einzelding nicht im gemeinsamen Wahrnehmungsbereich von Sprecher und Hörer befindet, ist eine demonstrative Identifikation nicht möglich. Dann kann man im Falle von Personen z.B. auf Eigennamen zurückgreifen. Wenn die Identifikation per Eigennamen funktionieren soll, müssen sowohl der Sprecher als auch der Hörer den Namen mit dem zugehörigen Namensträger durch einen Identifikationsakt in Verbindung gebracht haben. Damit werden wieder situative Elemente eingeführt, die Bezugspunkte identifizieren, die dem Hörer und Sprecher gleichermaßen bekannt sind. Gegenstände 7

Er bezieht sich im ersten Kapitel auf Körper und Orte, im dritten Kapitel auf Personen. Im zweiten Kapitel untersucht er Geräusche als Beispiele von randständigen Einzeldingen. Strawson, ELS.

114

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

werden durch Beziehungen zu anderen Individuen identifiziert. Das kann durch Orts- und Zeitangaben erfolgen, aber auch durch die Nennung eines Besitzers (Herrn Meiers Auto). Strawson spricht hier vom Bezugsrahmen, der aber nicht immer ein rein raumzeitlicher sein muss. Es handelt sich bei Dingen häufig um Besitzrelationen, bei Personen um Verwandtschaftsbeziehungen, in die jedes zu identifizierende Einzelding eingeordnet wird.8 Damit muss und kann sich nach Strawson jede erfolgreiche Identifikation mindestens theoretisch letztlich auf solche Rahmen – und damit indirekt auf die aktuelle Situation – beziehen lassen. Individuierende Tatsachen, die von einem Bezugsrahmen völlig unabhängig sind, spielen praktisch keine Rolle, denn sie ermöglichen keine wirkliche Identifikation. Bei einer Beschreibung etwa von der Art „der größte Mann, der je gelebt hat“9 bleibt es völlig unentscheidbar, ob sie auf einen bestimmten Gegenstand zutrifft oder nicht. Identifikationen werden also wie Individuationen durch kommunikative Akte zwischen wechselweise sprechenden und hörenden Akteuren vollzogen (oder zwischen Schreibenden und Lesern), indem ein Konsens gesucht und – bei gelungener Identifikation – bestätigt und gegenseitig anerkannt wird (s.o. Abschn. 1.3.5). Im Unterschied zum Individuationsakt geht jedoch die Identifikation schon von der Individualität des zu identifizierenden Gegenstandes aus. Je umfangreicher und je differenzierter solche intersubjektiv akzeptierten Bezugsrahmen sind, desto leichter gelingt die Identifikation neuer, noch unbekannter Gegenstände. Die Rede von Bezugsrahmen ist jedoch nicht völlig angemessen. Die Verbindungen zwischen den Individuen, die solche Rahmen bilden, sind nicht starre Relationen, wie die zwischen Begriffen. Es sind vielmehr kontingente Verknüpfungen im Rahmen von Geschichten, in denen die Individuen oder Einzeldinge aktive und passive Rollen spielen. Wenn ich einen Schirm im Auto eines Freundes als meinen identifiziere oder wenn ein Attentäter auf einem Videobild identifiziert wird, dann wird an eine Geschichte angeknüpft, sie wird erweitert oder ergänzt oder es entsteht eine neue Geschichte. Das identifizierte Ding, das Ereignis oder die Person wird in einen narrativen Kontext eingebettet, wobei dieser Kontext immer die oder den Erzähler sowie die Hörer mit umfasst. Narrative Kontexte gehen über gemeinsame Bezugsrahmen hinaus, weil sie nicht nur Relationen zwischen Individuen, sondern auch Sinn vermitteln (s.o. Abschn. 1.2.7). Wenn sich kein gemeinsamer realer Bezugsrahmen herstellen lässt, handelt es sich nach Strawson nur um eine Identifikation im Rahmen 8 9

Strawson, ELS S. 27. Ebd. S. 32. 115

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

‚einer‘ Geschichte, nicht ‚der‘ Geschichte. Er gibt ein einfaches Beispiel dafür: „An einem Brunnen stand ein Mann mit einem Jungen. Der Mann trank.“10 Der im zweiten Satz genannte Mann ist durch den ersten Satz identifizierbar. Den weitaus überwiegenden Anteil der Personen, Ereignisse, Orte und Gegenstände, von denen wir wissen, haben wir mindestens bei der ersten Kenntnisnahme nur indirekt identifiziert, und zwar durch eine Geschichte. Wichtig ist dabei die Verschmelzung der Horizonte der neuen Geschichten mit denen der schon bekannten. Diese Horizontverschmelzung kann z.B. an der Person des Erzählers stattfinden oder an einem geographischen Ort, aber auch an einem bestimmten Buch, das ich gelesen habe. Selbst rein kontextbedingte indirekte Identifikationen lassen sich so durch die Identität des Erzählers auf einen realen Rahmen beziehen.11 Ebenso werden fiktive Rahmen literarischer Erzählungen an den realen Rahmen angebunden, etwa durch einen realen Erzähler oder ein reales Buch. Erzähle ich eine solche Geschichte weiter, dann werde ich solche Nahtstellen ebenfalls meinen Hörern vermitteln, wenn ich Wert darauf lege, dass sie die Personen und Gegenstände dieser Geschichte identifizieren. Geschichten lassen sich nicht trennscharf in reale und fiktive einteilen, jede fiktive Geschichte enthält Elemente der Realität und umgekehrt. Hayden White hat in einer Reihe von Beiträgen zur Theorie der Geschichtswissenschaft darauf hingewiesen, dass die narrativen Strukturen von dieser Unterscheidung unabhängig sind.12

10 Strawson, ELS S. 20, 21. 11 Ebd. S. 30. Im Gegensatz zu Strawson, der sich hier nicht ganz bestimmt äußert, bin ich der Meinung, dass die Realität dieser Erzählung für die Identifizierbarkeit keine Rolle spielt. Der Mann ist für mich als derjenige identifiziert, der in der Erzählung von X mit einem Jungen am Brunnen steht. 12 „Es gibt viele Geschichtsdarstellungen, die als Romane gelten könnten, und viele Romane, die als Geschichtswerke gelten könnten, betrachtet man sie rein formal (oder, so sollte ich sagen, formalistisch). Rein als sprachliche Kunstwerke gesehen sind Geschichtswerke und Romane nicht voneinander unterscheidbar.“ Hayden White, „Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen.“ In ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart, Klett-Cotta 1986 S.145. 116

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

1.5.4 Transtemporale Identität und Wiedererkennen Das Identifizieren eines Individuums bedeutet also, es mit anderen Individuen zu verknüpfen, und zwar durch narrative Strukturen bzw. durch Einordnung in einen aus Individuen gebildeten Bezugsrahmen. Ein identifiziertes Individuum erhält eine transtemporale Identität, und das bedeutet, dass es als dasselbe Individuum wiedererkannt werden kann und muss. Das Wiedererkennen von Gegenständen oder Personen setzt also voraus, dass der Erkennende diese Gegenstände schon kennt, d.h. dass sie in seiner Geschichte schon eine Rolle gespielt haben oder noch spielen, und der Prozess des Wiedererkennens besteht in der Verknüpfung der Erscheinung dieses Gegenstandes mit dem Teil der eigenen Geschichte, in der er einer Rolle gespielt hat. Das Wiedererkennen ist eine Fähigkeit, die für die Orientierung in der Welt elementar ist. Räumliche Orientierung beruht auf dem Wiedererkennen von Orten. Personen erkennen wir oft auch nach langer Zeit wieder, während der sie sich in vieler Hinsicht geändert haben. Und es ist eine alltägliche Situation, dass wir einen gesuchten Gegenstand finden, indem wir ihn als den gesuchten wiedererkennen. Das einfachste Erklärungsmodell ist sicher das Wiedererkennen eines Dinges auf Grund bestimmter erinnerter Eigenschaften oder Merkmale. Das funktioniert in vielen Fällen, wenn keine Gegenstände mit gleichen oder ähnlichen Merkmalen in der Nähe sind. In vielen Situationen ist die Kombination von bekannten Merkmalen und vermutetem Ort ein ziemlich sicherer Hinweis darauf, dass man es mit demselben Ding zu tun hat, das man dort vorher abgelegt oder abgestellt hat. Umgekehrt erkennt man an sich bekannte Dinge (oder auch Personen) oft nicht (gleich) wieder, wenn man ihnen an unvermuteten Orten oder zu ungewöhnlichen Zeiten begegnet. In diesen Fällen gelingt es nicht oder nicht sofort, den Bezug zu den Situationen der eigenen Geschichte herzustellen, in denen man mit diesen Gegenständen zu tun hatte. Dazu ist allerdings zweierlei anzumerken. Einmal handelt es sich beim Wiedererkennen auf Grund oder mit Hilfe eines Ortes um eine indirekte Identifikation, denn ich habe das Ding durch seine Beziehung zu einem Ort identifiziert, und auch Orte sind Individuen. Ich muss dazu den Ort selbst wiedererkennen. Orte werden aber, wie auch Strawson bemerkt, letztlich durch Dinge, die sich dort befinden, vor allem durch zeitlich relativ stabile Arrangements von Dingen identifiziert (Häuser, Bäume, Straßen etc.). Damit gibt es eine gegenseitige Abhängigkeit des Wiedererkennens von Orten und Dingen in dem Sinne, dass das Wiedererkennen von Dingen auf dem Wiedererkennen von Orten und das Wiedererkennen von Orten auf dem Wiedererkennen von Dingen 117

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

beruhen.13 Diese Zirkelhaftigkeit drückt auf einer anderen Ebene die bereits im vorangehenden Abschnitt konstatierte Tatsache aus, dass Individuen immer in bezug auf andere Individuen identifiziert werden. Zum anderen ist klar, dass wir, wenn wir einen Gegenstand wiedererkennen, immer davon ausgehen müssen, dass er in der Zwischenzeit, in der wir ihn nicht beobachtet haben, nicht mit einem anderen, aber völlig gleichartigen Gegenstand vertauscht wurde. Diese durch die physikalisch und physiologisch bedingte Unmöglichkeit, einen Gegenstand (incl. sich selbst) unausgesetzt zu beobachten, genährten Zweifel haben die Menschen schon immer tief beunruhigt, wie z.B. viele Geschichten über Wechselbälger zeigen. Philosophisch entspricht dem die Skepsis, die bezweifelt, dass ein Gegenstand über längere Zeiträume so etwas wie eine kontinuierliche Identität besitzen kann. Strawson zeigt sehr überzeugend, dass diese Skepsis, wenn sie wirklich radikal ist, zum Selbstwiderspruch führt.14 Wenn man nämlich prüfen will, ob ein Gegenstand zu einem Zeitpunkt derselbe ist wie ein bestimmter Gegenstand zu einem früheren Zeitpunkt, dann muss man die Gegenstände zu beiden Zeitpunkten identifizieren können. Eine solche Identifizierung, d.h. die Herstellung von Beziehungen zu anderen Individuen, muss aber in einem gemeinsamen Horizont bzw. Bezugsrahmen erfolgen. Ein solcher Bezugsrahmen wird jedoch gerade durch Individuen gebildet, die eine zeitlich kontinuierliche Identität haben – wie etwa mein eigenes Ich. Wenn die Bezugsrahmen zu den beiden Zeitpunkten keine Verbindung hätten, wäre die Frage, ob der betreffende Gegenstand zu den beiden Zeitpunkten derselbe ist oder nicht, nicht nur unentscheidbar, sondern gar nicht formulierbar, denn auch die beiden Zeitpunkte könnte man dann nicht aufeinander beziehen. Skepsis in Bezug auf die Möglichkeit einer temporalen Ding-Identität entzieht sich also selbst den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen erst ein solcher Zweifel an der numerischen Identität sinnvoll ist. Auch hier ergibt sich also ein Zirkel insofern, als die Gründe für die Annahme einer zeitlichen Kontinuität der Identität eines Individuums in der zeitlichen Kontinuität der Identitäten anderer, mit ihm in Verbindung stehender Individuen zu suchen sind. Die transtemporale Identität, die ein Wiedererkennen ermöglicht, ist also mindestens theoretisch gewährleistet durch die Existenz von raumzeitlichen Bezugsrahmen, die ihrerseits durch Individuen wie Orte und Ereignisse fixiert sowie durch die eigene geschichtliche Identität gestützt sind. Diese Überlegung soll aber nicht im Sinne des Nachweises eines 13 Strawson, ELS S. 46. 14 Ebd. S. 43. 118

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

essentialistischen Identitätsbegriffs verstanden werden. Sie benennt vielmehr die Bedingungen für die Möglichkeit, Individuen als identische wiederzuerkennen, wobei diese Möglichkeit darin besteht, kontingente – d.h. situative, narrative und historische – Verknüpfungen mit anderen Individuen herzustellen. Bei Dingen ist der Anschluss an die gemeinsame Geschichte zum Beispiel durch das Erkennen von Spuren möglich, d.h. anhand physischer Veränderungen am Gegenstand, die im Laufe der gemeinsamen Geschichte stattgefunden haben. Spuren sind keine wesentlichen, sondern neu entstandene kontingente Merkmale des betreffenden Gegenstands. Beispiele sind Gebrauchsspuren wie Flecken, Beulen oder bestimmte Veränderungen von Oberflächen, die ebenfalls schwer zu spezifizieren sind. Spuren in einem weiteren Sinne werden auch an Gegenständen angebracht, um sie wiedererkennen zu können. Dazu gehören Fabrikationsnummern, Namensschilder oder sonstige Kennzeichnungen. Beim Wiedererkennen von Gegenständen benützt man meist alle der bisher aufgeführten Kriterien – Fundort, allgemeine und kontingente Merkmale –, ohne sie im einzelnen wirklich benennen zu können. Typisch ist, dass sehr oft ein Gegenstand trotz des Vorhandenseins eines oder mehrerer charakteristischer Merkmale als ‚der falsche‘ erkannt wird, wobei man oft gar nicht genau die Merkmale (Spuren) angeben kann, durch die sich dieser Gegenstand von dem ‚richtigen‘ unterscheidet. Besonders eklatant wird das durch die Tatsache illustriert, dass ein sicheres Erkennen von Personen. auf Grund eines Steckbriefs oder eines Phantombilds praktisch unmöglich ist.

1.5.5 Tugendhats Kritik an Strawson In seinen Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie unterzieht Tugendhat die Strawsonschen Ausführungen zur Identifikation von Einzeldingen,15 die den Ausgangspunkt für die Überlegungen in den beiden vorangehenden Abschnitten bilden, einer ausführlichen und umfassenden Kritik.16 Er führt diese Kritik durch im Rahmen einer sehr weit ausholenden Analyse der sprachlichen Operationen, die er als Spezifikation bzw. Identifikation bezeichnet, wobei er Identifikation als eine sozusagen verschärfte Spezifikation versteht, die einen einzelnen Gegenstand eindeutig kennzeichnet. Als Ziel einer solchen Identifikation gilt Tugendhat ein Zustand, in dem die Frage „welcher Ge15 Tugendhats Kritik bezieht sich vor allem auf das 1.Kapitel des 1.Teils von Strawson, ELS. 16 Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Frankfurt Suhrkamp 1976 22. – 26. Vorlesung. 119

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genstand ist damit gemeint“ nicht mehr gestellt werden muss oder kann. Dieses Ziel werde aber durch Strawsons Lösungsansatz nicht erreicht. Für das Verständnis von Tugendhats Kritik und der folgenden Stellungnahme dazu sei daran erinnert, dass Tugendhat die Bezeichnung ‚identifizieren‘ in einem Sinne verwenden, der nicht seinem vorherrschenden Gebrauch entspricht. Wenn man etwas identifiziert, dann wird darunter normalerweise die Herstellung einer Beziehung zwischen einem gegebenen Gegenstand (z.B. einer Waffe oder einer Leiche) zu einer Geschichte (zu einem Verbrechen oder zu einer bestimmten Person, z.B. ihren Lebensdaten) verstanden. Tugendhat versteht Identifikation dagegen als sprachliche Kennzeichnung, die das Erkennen oder Heraussondern eines bestimmten Gegenstands „aus allen anderen“ ermöglicht.17 Ich verstehe unter der sprachlichen Bezugnahme auf ein Individuum, wie zu Beginn von Kap.1.4 ausgeführt, einen sprachlichen Ausdruck, der es einem Hörer oder einem Leser ermöglicht, zu verstehen, dass von einem Individuum und von welchem die Rede ist. Das bedeutet nicht immer, dass man das betreffende Ding oder die Person in einer Wahrnehmungssituation erkennen muss, sondern nur, dass man es oder sie in einen bestimmten Kontext einordnen kann. So verwendet auch Strawson den Begriff der Identifikation, wie er gleich zu Beginn an einem sehr einfachen Beispiel einer indirekten Identifikation im Rahmen einer kurzen Geschichte erläutert (s.o. Abschn.1.5.3). Zum einen bestreitet Tugendhat die konstitutive Rolle, die Strawson der Sprecher/Hörer Konstellation für die Identifikation beimisst. Strawson spreche selbst an anderer Stelle davon, der Hörer oder generell jeder könne und müsse für sich identifizierend über Gegenstände nachdenken. Tatsächlich rede Strawson also von zwei verschiedenen Arten der Identifikation, wobei die Operation des Aussonderns („pick out“ oder „single out“) des Individuums aus einem Ensemble der grundlegende Prozess und unabhängig von der Kommunikationssituation sei. Tugendhat bezeichnet diesen Prozess als Spezifizierung.18 Zum anderen lehnt er Strawsons Unterscheidungen zwischen direkter und indirekter Identifikation bzw. im Falle indirekter Identifikation zwischen raumzeitlichen und nicht-raumzeitlichen Relationen zu bereits Identifiziertem ab. Direkte oder demonstrative Identifikation etwa durch ‚hier‘ oder ‚jetzt‘ setze, wenn sie wirklich gelingen solle, die raumzeitliche Einordnung des ‚hier‘ und ‚jetzt‘ in ein objektives Bezugssystem voraus.19 Die von Strawson im Falle der indirekten Identifikation ins Auge gefassten kausalen, verwandtschaftlichen oder institutionellen Bezüge (der Komponist 17 Tugendhat a.a.O. S. 369. 18 Ebd. S. 394 f. 19 Ebd. S. 400. 120

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der Eroica, der Vater von Peter, der Hund meines Nachbarn, der Chef von Thomas) versucht Tugendhat in einem weit ausholenden Argumentationsgang auf raumzeitliche Relationen zurückzuführen. Dazu unterscheidet Tugendhat zuerst vier Arten des Identifizierens: Demonstrative Ausdrücke (Indexikale), raumzeitliche Relationen, Relationen zu anderem bereits Identifiziertem, und schließlich einzigartige Eigenschaften (z.B. „der höchste Berg“). Den ersten beiden Arten gemeinsam ist nach Tugendhat, dass sie auf Wahrnehmungssituationen verweisen, im ersten Falle auf eine tatsächlich bestehende, im zweiten Falle der raumzeitlichen Relation auf eine mögliche Situation, in der der Gegenstand wahrgenommen werden könnte. Den beiden anderen Arten sprachlicher Identifikation ist gemeinsam, dass sie sich auf Erkennungsmerkmale beziehen, die dritte auf relationale und die vierte (einzigartige Eigenschaften) auf absolute. Die Nennung von Merkmalen, so Tugendhat, erfordere aber, wenn diese verifiziert werden sollen, wiederum eine absolute raumzeitliche Lokalisierung.20 Damit hat er alle vier genannten Identifizierungsarten letztlich auf eine raumzeitliche Einordnung zurückgeführt und damit auf konkrete oder mögliche Wahrnehmungssituationen, in denen geprüft werden könnte, ob und auf welchen Gegenstand das oder die betreffenden Merkmale zutreffen.21 Tugendhat weist also gerade die Elemente in Strawsons Ausführungen zurück, die für die hier vertretene Auffassung besonders wichtig sind: die Rolle der kommunikativen Situation beim Bezug auf Individuen und die Möglichkeit der Identifikation durch Herstellen von nicht nur raumzeitlichen, sondern allgemein kontingenten Relationen zu anderen Individuen. Deshalb ist es erforderlich, mindestens auf diese beiden Punkte noch einmal einzugehen. Dass man sich für sich selbst auch ohne Kommunikation auf Einzelnes beziehen kann, geht schon daraus hervor, dass Individualität sich nicht nur in sprachlichen, sondern allgemein in Handlungskontexten konstituiert. Darauf wurde schon in 1.3.6 hingewiesen. Wir kennen sowohl Personen als auch Einzeldinge oder Orte, auf die wir uns in unserem Tun laufend beziehen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass, wenn wir uns im Gespräch oder schriftlich auf Individuen beziehen, ein Bezug zu einer Situation oder zu anderen Individuen hergestellt werden muss, damit der Hörer bzw. Leser versteht, von welchem Individuum die Rede ist. Bei der direkten Identifikation ist diese Situation die aktuelle, in der sich Sprecher und Hörer befinden, bei indirekter Identifikation muss sie dem Leser vertraut sein – z.B. als bekannte historische Si20 Tugendhat a.a.O. S. 404. 21 Ebd. S. 414, 417 ff. 121

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

tuation oder als eine, die aus dem Kontext des Gesprächs bzw. des betreffenden Textes bekannt ist. Sie muss aber nicht den Charakter einer Wahrnehmungssituation haben. Gerade bei indirekten Identifikationen ist der Bezug auf die Situation oder auf andere Individuen ein kontingenter (kausal, verwandtschaftlich, institutionell), der am Individuum gar nicht direkt wahrnehmbar ist. Tugendhats Hinweis darauf, dass eine direkte demonstrative Identifikation nur dann wirklich identifiziert, wenn die gegebene Situation in ein objektives raumzeitliches System eingeordnet werden kann, ist durchaus triftig. Sein Beispiel ist die Person, die mit verbundenen Augen auf den Mt. Everest geführt wird und dort die Auskunft erhält, das sei der höchste Berg, und die dennoch erst wirklich weiß, welches der höchste Berg ist, wenn sie seine geographische Lage kennt. Sehr viel realistischere Beispiele liefern Entführer, die ihre Opfer mit verbundenen Augen in ihr Versteck verschleppen, damit sie dessen Ort nicht aus dem Weg dorthin erschließen können. Dieses Beispiel macht deutlich, dass absolute Ortsbestimmungen unbekannter Orte oft aus dem Weg von einem bekannten Ort dorthin bestimmt werden (verirrt hat man sich, wenn man den eigenen Weg nicht mehr rekonstruieren kann). Zudem ist eine objektive raumzeitliche Einordnung für mich nur dann von Wert, wenn ich mich selbst zu dem objektiven System, auf das Bezug genommen wird, in eine Relation bringen kann. Längen- und Breitengrade sind für mich nur dann zur Identifikation eines Ortes nützlich, wenn ich diesen Ort mit ihrer Hilfe auf einer Karte finden kann und wenn ich auch meine eigene Position dort finden kann. Man kann aus dieser wechselseitigen Abhängigkeit zwischen subjektiven situativen und objektiven Bezügen auch den umgekehrten Schluss ziehen, dass nämlich auch eine objektive raumzeitliche Verortung nur dann verständlich ist, wenn sich die eigene Situation dazu in Beziehung setzen lässt. Tugendhats Charakterisierung der sprachlichen Identifikation eines Einzeldings mit Hilfe absoluter raumzeitlicher Einordnung und durch Rekurs auf reale oder fiktive Wahrnehmungssituationen ist also mit den hier entwickelten Gedanken zur identifizierenden Bezugnahme auf Individuen nicht vereinbar. Ursache dieser Differenz ist, dass Tugendhat die Aufgabe der sprachlichen Identifikation darin sieht, dass der Hörer in einer Wahrnehmungssituation den betreffenden Gegenstand von allen anderen unterscheiden und auswählen kann, während ich unter identifizierender Bezugnahme verstehe, dass mein Gesprächspartner oder Leser weiß, von wem oder von welchem Gegenstand ich rede. Wenn ich mich hier auf Ernst Tugendhat als den Autor eines zitierten Buches beziehe, dann kann ein Leser Herrn Tugendhat bei einer möglichen Begegnung auf der Straße – wenn er ihn nicht schon persönlich kennt – genau so 122

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

wenig erkennen wie ich, und wir wissen dennoch beide, wer gemeint ist. Selbst ohne Nennung des Namens kann die Bezeichnung ‚Autor des Buches Egozentrizität und Mystik‘ diese Person als Individuum kennzeichnen, da sie damit in einem Netz von anderen Individuen, von Büchern, Autoren und Lesern verortet ist, in dem auch der Leser dieses Textes und ich selbst einen bestimmten Platz haben.

1.5.6 Die Besonderheit von Personen als Individuen Bisher wurde die Individualität von Personen und von Dingen durch dieselben Kriterien gekennzeichnet: Unvertretbarkeit, Eingebundenheit in einen intersubjektiven Kontext von Handlung und Kommunikation, Geschichtlichkeit. Bedeutet dies, dass es keinen Unterschied zwischen personaler und dinglicher Individualität gibt? Dagegen spricht eine starke Intuition, nach der wir Personen den Status der Individualität unbedingt zugestehen müssen, während wir Dinge, wie sich das ja auch in den vorangehenden Kapiteln gezeigt hat, nur dann als Individuen behandeln, wenn sie in den Kreis unseres Handelns und Kommunizierens eintreten. Für eine scharfe qualitative Trennung zwischen personaler und dinglicher Identität argumentiert z.B. Martine Nida-Rümelin in ihrer Untersuchung über die transtemporale Identität bewusstseinsfähiger Wesen22 (womit in erster Linie Personen gemeint sind). Ich will anhand der Diskussion einiger ihrer Argumente meine eigene Position verdeutlichen. Dabei wird sich zeigen, dass die von mir vorgeschlagenen nichtessentialistischen Kriterien für Individualität und Identität zu sehr bedeutsamen Unterschieden zwischen individuellen Personen und Dingen führen. Darüber hinaus ergeben sich aus diesem Ansatz Verbindungen zu den sozialwissenschaftlichen, normativen und ethischen Aspekten von personaler Individualität bzw. Identität. Ein Merkmal der transtemporalen Identitäten von Dingen (also von nicht bewusstseinfähigen Wesen) ist es nach Nida-Rümelin z.B., dass sie unterbestimmt und unpräzise sein können, während die von Personen immer bestimmt und präzise sind.23 Das bedeutet, dass wir uns bei Dingen in Zweifelsfällen über ihre Identität konventionell bzw. willkürlich einigen können – ihre Beispiele dafür sind vom Typ ‚Schiff des Theseus‘ (s.u. Abschn. 2.3.5). Bei Personen sei eine konventionelle Entscheidung über die Identität nicht „ohne epistemisches Risiko“ – d.h. ohne Risiko des Irrtums – möglich.24 Ferner behauptet die Autorin, dass 22 Martine Nida-Rümelin, Der Blick von Innen. Zur transtemporalen Identität bewusstseinsfähiger Wesen. Frankfurt Suhrkamp 2006. 23 Ebd. S. 106, S. 110. 24 Nida-Rümelin, a.a.O. S. 206. 123

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

für die Frage der Identität einer Person A zu einem früheren Zeitpunkt mit der Person B zu einem späteren Zeitpunkt nur intrinsische Beziehungen zwischen A und B relevant seien, während bei Dingen auch extrinsische Beziehungen für die Identitätsfrage eine Rolle spielen könnten.25 Bestehen diese qualitativen Differenzen wirklich? Zuerst ist daran zu erinnern, dass Identität nicht mit Individualität begrifflich gleichzusetzen ist. Unter 1.3.2.4 wurde darauf hingewiesen, dass der Begriff der Individualität weiter ist als der der Identität, Identität dagegen reicher ist an Bestimmungen. Individualität ist Voraussetzung für Identität, und ein Individuum hat eine (transtemporale) Identität, wenn es eine Geschichte hat. Das gilt sowohl für Personen wie für Dinge. Wenn es einen qualitativen Unterschied zwischen personaler und dinglicher Identität gibt, muss es aber auch Unterschiede zwischen personaler und dinglicher Individualität geben. Zum anderen muss man sich vorsehen, dass nicht Bestimmungen, die zum Begriff der Person, des Subjekts oder des Bewusstseins gehören, mit in die wesentlich weiteren Begriffe Individualität und Identität hineingezogen werden. Person, Subjekt und Bewusstsein setzen Individualität und Identität voraus und enthalten deren Bestimmungen, das gilt jedoch nicht umgekehrt. So sind nach Sturma Personen „in Raum und Zeit existierende Individuen, die sich zu sich selbst und den Kontexten ihrer Existenz als Subjekte verhalten können“.26 Reflexivität und Subjektivität sind nach dieser Definition also Kennzeichen einer Person, die zur Individualität hinzukommen müssen. Das heißt aber nicht, dass der Begriff der Individualität völlig unabhängig ist von dem der Person. Unvertretbare Individuen – Personen und Dinge – sind nur denkbar in kommunikativen Kontexten, die von Personen gebildet werden. Individuelle Dinge und Personen dürfen also nicht als unabhängige Unterarten einer Klasse der Individuen verstanden werden. Mir scheint nun, dass weder die von Nida-Rümelin für die personale Identität reklamierte Bestimmtheit bzw. Präzision durchgängig gegeben ist, noch dass eine rein konventionelle oder gar willkürliche Zuschreibung von dinglicher Identität dem tatsächlichen Gebrauch dieses Begriffs entspricht. Auch bei Dingen erfordert die Frage nach der Identität in der Regel eine präzise Antwort, man denke nur an die Identifizierung einer Tatwaffe oder an den Nachweis der Echtheit eines Kunstwerks. Unentscheidbare bzw. nur konventionell entscheidbare Fälle wie das Schiff des Theseus und die von Nida-Rümelin angegebenen verwandten Beispiele bilden Grenzfälle. Grenzfälle gibt es aber auch bei personaler 25 Ebd. S. 120, S. 124. 26 Dieter Sturma, Philosophie der Person, Paderborn mentis 1997 S. 345. 124

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

Identität, so etwa bei der Frage nach der Identität eines Toten, bei der Frage des Hirntodes, andererseits beim Fötus, beim Embryo, bei der befruchteten Zelle. Hier haben besonders die Möglichkeiten der modernen Medizin Situationen geschaffen, für die die Fragen der Fortdauer der Person, aber damit auch die Frage der Identität und der Individualität in Ethikkommissionen konventionell beantwortet werden müssen. Es ist wohl einer heute unumstrittenen Erkenntnis dieser Auseinandersetzungen, dass solche Fragen nicht durch wissenschaftlich-klassifizierende Definitionen lösbar sind. Auch die von Nida-Rümelin geforderte ausschließliche Intrinsität personaler Identität lässt sich nicht mit einem Identitätsbegriff vereinen, der sich im Wesentlichen auf die kontingenten Merkmale des Individuums, also seine Geschichte stützt. Menschen sind in gewissen Phasen ihrer Existenz – als Kleinkinder, im Falle mentaler Störungen, als Sterbende – auf die Fürsorge von Mitmenschen angewiesen, die während dieser Phasen für die Respektierung der Individualität und die Wahrung der Identität der betreffenden Personen verantwortlich sind. Ihre Geschichte und damit Identität ist zu einem beträchtlichen Teil nicht nur ein Ausfluss ihrer eigenen Existenz, sondern das Ergebnis des Zusammenwirkens ihrer Existenz mit ihrer Umgebung (Abschn. 1.2.3). Auch die Klärung der Identität einer Person erfolgt nicht allein und nicht primär nach intrinsischen, sondern nach extrinsischen Kriterien (Ausweis, Klärung des Tathergangs bei der Aufklärung von Verbrechen). Inwiefern leistet nun dem hier gewählten Ansatz eine Differenzierung zwischen personalen und dinglichen Individuen? Es sind vor allem zwei Gesichtspunkte, Normativität und Reflexivität, die solche Unterscheidungen zwingend begründen: 1. Normativität. Personen sind gegenüber anderen Individuen dadurch ausgezeichnet, dass sie immer (von der Geburt bis zu ihrem Tod) in die menschliche Kommunikationsgemeinschaft eingebunden sind. Man kann diese Tatsache auch durch die Rede vom Menschen als ‚zoon politikon‘ oder durch die Aussage ausdrücken, die (zweite) Natur des Menschen sei die Kultur. Als Mensch geboren zu werden bedeutet, in eine Kultur hineingeboren und in einer menschlichen Gesellschaft als Individuum anerkannt und sozialisiert zu werden. Aus dieser Gemeinschaft herauszufallen oder von ihr ausgeschlossen zu werden (wie es früher durch Verbannung oder durch das Aussetzen von Kindern oder Greisen – meist in Ausnahmesituationen – praktiziert wurde) bedeutet den gesellschaftlichen und oft auch den physischen Tod. Auch in dieser Hinsicht ist Individualität nicht ein naturgegebenes Kennzeichen der menschlichen Spezies, sondern eine in der menschlichen Kultur veran125

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

kerte Norm gegenseitiger Anerkennung. Versuche, einzelne Menschen oder ganze Gruppen aus dieser Gemeinschaft der anerkannten Individuen auszuschließen, z.B. als Sklaven, als Parias, durch rassistische Diskriminierung, gelten uns heute als Verletzungen der menschlichen Würde. 2. Reflexivität. Eine Person kann im Gegensatz zu nichtpersonalen Individuen ihre Verortung als Individuum im menschlichen Kommunikations- und Handlungskontext mindestens teilweise selbst bestimmen bzw. beeinflussen. Sie verhält sich zu sich selbst und zu den Kontexten ihrer Existenz als handelndes Subjekt. Das steht nicht im Widerspruch zu der immer wieder betonten Differenz zwischen der intersubjektiven Geschichte einer Person und ihrer subjektiven Selbstwahrnehmung oder stilisierung. In der Auseinandersetzung mit dieser Differenz, in dem lebenslangen Versuch in gegenseitigen Anerkennungsprozessen die intersubjektive mit der subjektiven Version der eigenen Geschichte zu versöhnen, steckt die Dramatik einer gelingenden oder misslingenden Selbstverwirklichung. Als Person Individuum zu sein, also in eine Kommunikationsgemeinschaft eingebunden zu sein und handelnd an ihr teilzunehmen, heißt sich selbst und den anderen Teilnehmern Selbstbewusstsein und Subjektivität, aber auch freies und selbstbestimmtes Handeln zuzugestehen. Als Ding in eine solche Gemeinschaft eingebunden zu sein, bedeutet dagegen, ein situativ bestimmtes, im Handlungs- und Kommunikationskontext unvertretbares passives Objekt zu sein. Beide Argumente zusammen begründen einen praktischen Vorrang der personalen Individualität. Als handelnde und kommunizierende Subjekte sind andererseits Personen auf individuelle Dinge angewiesen. Deshalb erfordert sowohl dingliche wie personale Individualität immer das vollständige Dreieck aus personalem Selbst, dem oder den Anderen sowie die Einbettung in einen dinglichen Rahmen, der sich seinerseits wieder auf individuelle Orte und Ereignisse bezieht.

1.5.7 Negativität und ontologische Neutralität der Individualität Ausgehend von der Frage, wann bzw. unter welchen Umständen Gegenstände Individuen sind und geleitet von dem Kriterium der Beispiellosigkeit bzw. Unvertretbarkeit (noninstantiability) wurde in den letzten drei Kapiteln eine Bestimmung der Individualität herausgearbeitet, die sich in verschiedener Hinsicht von den Vorstellungen unterscheidet, die 126

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

in der bisherigen ontologischen Literatur angetroffen werden. Sie erscheint mir jedoch flexibler als diese zu sein und viele Aspekte dinglicher Individualität besser zu beschreiben. Sie erlaubt auch eine angemessenere Behandlung der Probleme, die sich mit diesem Begriff in Bereichen der Naturwissenschaft und Technik ergeben und die den Gegenstand der beiden letzten Teile dieser Arbeit bilden. Am Ende dieses ersten Teils soll deshalb noch einmal auf einige Besonderheiten der hier entwickelten Vorstellung von Individualität hingewiesen werden. In Kapitel 1.3 ergab die begriffliche Analyse des Kriteriums der Unvertretbarkeit bzw. noninstantiability deren enge Verbindung mit Kontingenz in Form von Handlungs- und Kommunikationssituationen. Individuation bzw. Identifikation, durch die ein Individuum bestimmt wird, kann mit dem aus der Habermasschen Theorie kommunikativen Handelns übernommenen Begriff des kommunikativen Aktes beschrieben werden. Solche kommunikativen Akte sind durch Verständigungs- und Anerkennungsprozesse gekennzeichnet. Man kann den Individuationsakt abstrakt als Triangulation beschreiben, bei dem von (mindestens) zwei Akteuren ein Drittes bestimmt wird, sozusagen eine ‚dritte Person‘, die aber eben auch sachlich sein kann. Auch die sprachliche Analyse der verschiedenen Weisen der Bezugnahme auf Individuen in Kap. 1.4 zeigte, dass nicht nur indexikale Ausdrücke und definite Beschreibungen, sondern auch eine Namensnennung nur in den kommunikativen Situationen zur Identifikation eines Einzeldings führt, in denen ein Einverständnis über die potentiellen Namensträger herrscht (z.B. ob mit Bismarck ein Schiff oder ein Politiker gemeint sein kann). Die pragmatischen Analysen des Identifizierens und des Wiedererkennens in diesem Kapitel machten deutlich, dass wir uns dabei auf Netze aus individuellen Orten, Ereignissen und Personen beziehen, die als Bezugssysteme für weitere Identifikationen dienen. Identifizieren bedeutet die Herstellung von Beziehungen zwischen einem Individuum und anderen, bereits identifizierten Individuen. Diese Beziehungen haben weitgehend den Status von Geschichten (s.o. Abschn. 1.2.7) und bilden narrative Kontexte, die das Thema des dritten Kapitels des folgenden zweiten Teiles bilden. Die Netze bilden zirkuläre und reflexive Strukturen, denn sie bestehen aus wechselseitigen Verweisungen, wobei die Akteure selbst als Knoten in diesen Netzen integriert sind. Die durch die Netze aus identifizierten Individuen gebildeten Bezugssysteme sind zwar nicht für alle Akteure bzw. Personen die gleichen, aber große Teilbereiche sind intersubjektiv und deshalb verbindlich. Sie stellen ein Wissen dar, und zwar ein nicht formalisierbares Orientierungswissen, das für die lebensweltliche Orientierung sowie für den 127

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

Erwerb und die Eingliederung neuen Tatsachenwissens unerlässlich ist (Horizontverschmelzung). Die durch den kommunikativen Charakter der Indivuations- und Identifikationsakte erzeugte Verständigung und wechselseitige Anerkennung gewährleistet eine Verbindlichkeit der Zuschreibung von Individualität in bestimmten Bereichen, z.B. bei Personen (1.5.6). Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in jedem Verwaltungsakt Menschen eben nicht als Individuen, sondern als Mieter oder Eigentümer oder Verkehrsteilnehmer behandelt werden. Aber auch Sachen wie Artefakte oder Immobilien, die Eigentum einer Person sind, sind als solche grundsätzlich individuell und unvertretbar. Andererseits werden die Münzen der geltenden Währung im Geldverkehr nicht als Individuen, sondern als vollständig vertretbar behandelt. Von Numismatikern und Sammlern können sie dagegen sehr wohl als Individuen behandelt werden. Dass Identität oder Selbstheit gerade durch Beziehung und Abgrenzung zu anderen Individuen konstituiert und bestimmt wird, bringt eine irreduzible, im Begriff des Individuums verankerte Paradoxie zum Ausdruck. Sie besteht darin, dass die Identität, die ein Individuum zu einem Selbst – oder vorsichtiger und für Dinge angemessener formuliert, zu einem Selben – macht, gerade kein innerer, mit dem Gegenstand untrennbar verknüpfter Wesenskern ist, sondern ein Netz von Bezügen, das die Identität selbst dann tragen kann, wenn die körperliche Existenz unterbrochen ist. So ist die neu aufgebaute Frauenkirche in Dresden ‚die‘ Frauenkirche, die sie auch früher war, nicht etwa weil sie – wenigstens teilweise – aus denselben Steinen aufgebaut wurde wie die alte und dieser in allen Details gleicht. Vielmehr ist sie die Frauenkirche, weil ihre Identität in vielen individuellen Erinnerungen sowie im kollektiven Gedächtnis der Menschen dieser Region ihre Zerstörung überstanden hat, konkret in den Bildern, Photographien, Aufrissen und Baubeschreibungen, die auch ihren detailgetreuen Wiederaufbau ermöglich haben. Leibniz kleidet diese Paradoxie in die Vorstellung der prästabilierten Harmonie, die es ermöglicht, dass sich in der ‚fensterlosen‘ Monade, die in keinerlei Austausch mit dem Rest der Welt steht, dennoch das Universum mit allen anderen Monaden spiegelt. Und schon bei Nikolaus von Kues findet man eine verwandte Denkfigur in der Schrift Vom Nichtanderen. Im Rahmen seiner negativen Theologie bildet er den Begriff des Nichtanderen (non aliud), als „Definition, die alles bestimmt“ und damit „nichts anderes als der bestimmte Gegenstand“ ist.27 Diese Worte „meinen nichts anderes als eben das Identische selbst“.28 Sie drü27 Nikolaus von Kues, Vom Nichtanderen. Hamburg Meiner 1987 S. 3. 28 Ebd. S. 10. 128

1.5 IDENTIFIZIEREN UND W IEDERERKENNEN

cken für ihn sowohl ein Erkenntnis- als auch ein Seinsprinzip aus.29 Die doppelte Negation als sprachlogisches Mittel, Selbstheit oder Indentität zu charakterisieren, findet sich auch im Kriterium der Nichtvertretbarkeit oder noninstantiability, denn auch hier wird jedes ‚andere‘ als Vertreter oder Beispiel ausgeschlossen. Der Verzicht auf die Forderung nach einer fest umrissenen Extension und nach Intrinsität von Individualität bewahrt zudem vor der Gleichsetzung von Individualität und Existenz. Wer fordert, dass alle materiellen Gegenstände Individuen sind, verbindet damit meist auch die Forderung, dass alles Wirkliche individuell ist. Schon für Locke ist mit dem principium individuationis schlicht die Existenz gemeint.30 Leibniz formuliert in seinen Lockes Werk kommentierenden Neuen Abhandlungen genau an dieser Stelle sein principium identitatis indiscernibilium. Die Auffassung der Individualität als Merkmal von Wirklichkeit wird auch noch von Ontologen des 20. Jahrhunderts vertreten. Das gilt sowohl für Nicolai Hartmann,31 wo die Individualität auf die ‚reale Sphäre‘ beschränkt ist, als auch für Günther Jacoby,32 wo sie die ‚konkreten Bestände‘ kennzeichnet. Modernere Ontologien verfahren hier vorsichtiger, indem sie innerhalb des Bereichs der Individuen geeignete Differenzierungen vornehmen.33 Die Frage der Existenz stellt sich allerdings immer, wenn man Individualität als ontologische Kategorie auffasst. Wenn man dagegen Individuation als eine Einbettung in Kontexte von Handlungen und Geschichten und in Beziehungen zu anderen Individuen versteht, wie dies hier geschieht, so ergibt sich damit nicht automatisch der Zwang einer Zuordnung zu oder Abgrenzung von ontologischen Kategorien wie Existenz oder Wirklichkeit. Auch wenn reale Gegenstände sich immer individuieren lassen, kann dies nicht als eine Deckungsgleichheit beider Begriffe verstanden werden. Das Kriterium der

29 Ebd. S. 7 ff. 30 „Aus dem, was gesagt worden ist, läßt sich leicht das principium individuationis, nach dem so viel gefragt wird, entdecken. Es ist offenbar die Existenz selbst, die jedem Wesen, welcher Art es auch sei, seine besondere Zeit und seinen besonderen Ort zuweist; beides kann es mit keinem anderen Wesen derselben Art gemeinsam haben.“ John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg Meiner 1981. Buch II, Kap. 27 S. 412. 31 Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriss der allgemeinen Kategorienlehre. 2.Aufl. Meisenheim Westkulturverlag 1949 S. 371. 32 Günther Jacoby, Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit., 2.Aufl. Tübingen Niemeyer 1993 1.Bd. S. 490. 33 So etwa Uwe Meixner, Einführung in die Ontologie. Darmstadt Wiss. Buchges. 2004 S. 60-67. 129

1 DIE BEGRIFFE KONTINGENZ UND INDIVIDUALITÄT

noninstantiability ist in dieser Hinsicht offen, wie Gracia bemerkt.34 Individualität ist neutral in Bezug auf Existenz.

34 „To exist and to be noninstantiable are two different things, even if everything that exists, actually or possibly, is noninstantiable and vice versa.“ Gracia, IND S. 178. 130

2 P HÄNOMENOLOGIE

DES

D INGES

2.1 P H ÄN O M E N O L O G I S C H E B E S T I M M U N G E N DES DINGES

Das unscheinbare Ding entzieht sich dem 1 Denken am hartnäckigsten.

Das Ding hat in der Philosophie erst relativ spät als Thema Beachtung gefunden. Lange Zeit hat es dort unter der Kategorie ‚Gegenstand‘ oder ‚Objekt‘ ein wenig beachtetes Dasein in unverbindlicher Allgemeinheit gefristet. Wenn gelegentlich ein konkretes Ding in einem philosophischen Kontext auftauchte, so war es meist ein Tisch.2 Obwohl Tische offenbar wichtige Dinge für Philosophen sind, werden sie meist nur erwähnt, um jedes Mal auf andere Weise dekonstruiert zu werden. Einige prominente Beispiele für solche Dekonstruktionen oder Transformationen werden in dieser Einleitung wenigstens erwähnt, sozusagen als Folie für das Verständnis der Bemühungen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, den Dingen endlich auch philosophisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Als Thema spezieller Untersuchungen wird das individuelle Ding erst am Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Phänomenologie gewürdigt. An erster Stelle sind hier die entsprechenden Untersuchungen von Husserl zu nennen, sowie die einschlägigen Ausführungen Heideggers in Sein und Zeit, Die Frage nach dem Ding und Der Ursprung 1 2

Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (UKU). Stuttgart Reclam 1960 S. 27. Jens Soentgen, „Das Ding in der Philosophie der Neuzeit.“ Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken. 32, (2002-2003) S. 357-376. 133

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

des Kunstwerks. Sie werden in diesem einleitenden Kapitel – wenn auch nur relativ knapp – referiert. Die folgenden Kapitel dieses Teils behandeln konkrete Aspekte des Umgangs mit Dingen unter dem Gesichtspunkt ihrer Individualität. Sie werden thematisiert anhand der Untersuchungen Merleau-Pontys zur Phänomenologie der Dingwahrnehmung sowie anhand von Schapps Philosophie der Geschichten. Anschließend werden Besitz und Eigentum als die wichtigsten institutionalisierten Beziehungen zu Dingen behandelt. Ein charakteristischer Wandel unserer Sicht auf die Dinge spiegelt sich in der Entwicklung der Stilllebenmalerei. Auf neuere phänomenologische Befunde, die eine oft diagnostizierte Tendenz des Verschwindens individueller Dinge mit der Zunahme der Technisierung unserer Lebenswelt thematisieren, geht das sechste Kapitel ein.

2.1.1 Über verschiedene Arten, Dinge verschwinden zu lassen An einer entscheidenden Wende der Philosophie der Neuzeit, nämlich in René Descartes Meditationen, tritt ein Ding auf, ein gewöhnliches Stück Wachs, das sogleich einer radikalen Reduktion unterzogen wird. Es wird eingeführt mit der ganzen Fülle seiner sinnlichen Qualitäten: „Vor kurzem erst hat man es aus der Wachsscheibe gewonnen, noch verlor es nicht ganz den Geschmack des Honigs, noch blieb ein wenig zurück von dem Dufte der Blumen, aus denen es gesammelt worden; seine Farbe, Gestalt, Größe liegen offen zutage, es ist hart, auch kalt, man kann es leicht anfassen, und schlägt man mit dem Knöchel darauf, so gibt es einen Ton von sich, kurz – es hat alles was erforderlich scheint, um irgendeinen Körper aufs deutlichste sichtbar zu machen.“ 3

Die Erfahrung, dass sich diese Qualitäten verändern, wenn man das Stück Wachs am Feuer erwärmt, veranlasst Descartes in der anschließenden Reflexion zu der Frage: „Bleibt es denn noch dasselbe Wachs?“ Die Antwort lautet: „Man muss zugestehen – es bleibt, keiner leugnet es, niemand ist darüber anderer Meinung!“ und er fügt noch bekräftigend hinzu: „alles, was unter den Geschmack, den Geruch, das Gesicht, das Gefühl oder das Gehör fiel, ist ja jetzt geändert, und doch es bleibt – das Wachs.“ Diese Formulierung legt zunächst den Schluss nahe, in diesem Bleibenden etwas wie seine individuelle Substanzialität zu sehen. Aber Descartes ist bekanntlich weit davon entfernt, diesen Schluss zu ziehen. 3

René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg Meiner 1994 2. Meditation S. 23.

134

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

Vielmehr wird die sinnliche Erkenntnis des Wachsstücks überhaupt als zweifelhaft entlarvt. Die einzig bleibende Erkenntnis ist, dass trotz aller Veränderungen dieses Wachs ein Körper bleibt, „ein Körper, der sich kurz zuvor in diesen Weisen meinem Blick darbot, jetzt in anderen ... – nichts anderes, als etwas Ausgedehntes, Biegsames und Veränderliches.“4 Descartes schließt aus der Veränderlichkeit der Eigenschaften dieses Wachsstücks also nicht ohne weiteres auf die Existenz eines allen Veränderungen zugrundeliegenden substanziellen Kerns. Sein Zweifel geht tiefer und betrifft auch die Sache selbst. Das Einzige, was diesem Zweifel Stand hält, ist das Subjekt dieses zweifelnden Denkens. Vom Objekt bleibt nur die abstrakteste Eigenschaft, durch die ein Körper im Denken erfasst werden kann, die Ausdehnung. Sie kann geometrisch ohne Rekurs auf sinnliche Erfahrung beschrieben werden. Diese Erkenntnis stammt nach Descartes aus der Vernunft. Dadurch wird für ihn nicht die Existenz des Wachsstücks, sondern die des eigenen denkenden Ichs zur Gewissheit. Diese Stelle ist eine der Gründungserzählungen der Subjektphilosophie, aber gleichzeitig die einer radikalen Reduktion des materiellen Dinges auf einen mathematischen Begriff, und sie blieb als solche paradigmatisch für die wissenschaftliche Auffassung vom materiellen Körper. Daran hat auch Leibniz’ Einspruch und sein Versuch, die substanziellen Formen der mittelalterlichen Philosophie zu retten, im Grunde nichts geändert. Sein Substanzbegriff war die dynamische „lebendige Kraft“, die sich im Laufe der Entwicklung der Physik zum Begriff der Energie entwickelte. Bei Leibniz beseelte sie die individuellen Substanzen (Monaden), zu denen die materiellen Körper nicht gehören (s.o. Abschn. 1.1.4). Allerdings hat die Mechanik auch schon im 17. Jahrhundert sich nicht vollständig auf die Mathematik reduzieren lassen und musste neben der Undurchdringlichkeit der Materie wieder einen Substanzbegriff, nämlich den der Masse, als Quantität der Materie einführen. Als zweites Beispiel der Dekonstruktion sei eine ganz andere Art der Verwandlung genannt, die Karl Marx in dem Abschnitt Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis im ersten Band des Kapitals beschreibt: „Eine Ware erscheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchsge-

4

Ebd. 135

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

genstand ist, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, dass sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise ändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding.“5

Der Warencharakter eines Dings ergibt sich nach Marx nicht aus seinem Gebrauchswert, sondern aus dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit und aus dem Austausch der dadurch erzeugten individuellen Arbeitsprodukte. „Erst innerhalb ihres Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiedenen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit.“6 Als Waren sind sie nicht nur vertretbar durch Exemplare derselben Art, sondern sie sind austauschbar gegen ganz andere Dinge desselben Warenwerts, oder noch allgemeiner, gegen die allgemeine bquivalentform der Ware, gegen Geld. Alles, was im juristischen Sinne eine Sache und damit geeignet ist, Eigentum zu sein, ordnet sich auf dieser Wertskala ein und ist am Markt gegen Geld oder andere Produkte gleichen Wertes tauschbar. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts unternimmt der Physiker und Positivist Ernst Mach einen noch radikaleren Angriff auf die Integrität des Dinges. Für ihn zerfällt es in ein Bündel von Empfindungselementen. Die Annahme eines Kerns, der nur die Funktion des Trägers dieser Elemente hat, ist für ihn nur Gewohnheit und widerspricht seinem Prinzip der Denkökonomie. „Bei der Häufigkeit analoger Vorkommnisse gewöhnt man sich endlich, alle Eigenschaften der Körper als von bleibenden Kernen ausgehende, durch Vermittlung des Leibes dem Ich beigebrachte ‚Wirkungen‘, die wir E m p f i n d u n g e n nennen, anzusehen. Hierdurch verlieren aber diese Kerne den gesamten sinnlichen Inhalt, werden zu bloßen Gedankensymbolen. [...] die Annahme jener Kerne, sowie einer Wechselwirkung derselben, aus welcher erst die Empfindungen hervorgehen würden, erweist sich als gänzlich müßig und überflüssig.“7 „Nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern E l e m e n t e n k o m p l e x e (Empfindungskomplexe) bilden die Körper.“8 5 6 7

8

Karl Marx, Das Kapital. Erster Band. Berlin Dietz 1965 S. 85. Ebd. S. 87. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Psychischen zum Physischen. 9. Aufl. 1922 Nachdruck Darmstadt Wiss. Buchges. 1991 S. 9 f Hervorhebungen im Original. Ebd. S. 23 Hervorhebungen im Original.

136

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

An die Stelle substanzieller Körper treten funktionale Beziehungen zwischen den Komplexen in Form von Gesetzen: „Es wird dann vorteilhafter, dieselben einzelnen Eigenschaften als bald diesem, bald jenem Komplex (Körper) angehörig anzusehen, und an die Stelle der n i c h t beständigen Körper das beständige G e s e t z treten zu lassen, welches den Wechsel der Eigenschaften und ihrer Verknüpfungen überdauert.“9

Wie bei Descartes droht der durch das Verschwinden der Dinge hervorgerufene Strudel auch das Subjekt selbst zu erfassen. Bei Descartes wird es gerade durch den Zweifel an der Außenwelt in seiner Autonomie bestätigt. Bei Mach wird es in den Prozess der Auflösung alles Substanziellen mit hineingerissen. „Das Ich ist unrettbar.“10 Es fungiert nur noch als Verknüpfungspunkt im Netz der Empfindungskomplexe: „Dieselben Elemente hängen in vielen Verknüpfungspunkten, den Ich, zusammen. Diese Verknüpfungspunkte sind aber nichts Beständiges. Sie entstehen, vergehen und modifizieren sich fortwährend.“11 Und Mach zitiert zustimmend Lichtenberg: „E s d e n k t , sollte man sagen, so wie man sagt: es b l i t z t . Zu sagen c o g i t o , ist schon zuviel, sobald man es durch I c h d e n k e übersetzt. Das Ich anzunehmen ist praktisches Bedürfnis.“12 In der Physik des 20. Jahrhunderts vollzieht sich wieder eine Wandlung der Vorstellung vom körperlichen Ding, die Eddington beispielhaft an einem Tisch beschreibt, der sich diesmal auf geheimnisvolle Art verdoppelt. Tisch Nr.1 ist der, den der „gesunde Menschenverstand“ erfasst, Tisch Nr.2 ist das, was die Wissenschaft darunter versteht: “Mein wissenschaftlicher Tisch besteht zum großen Teil aus Leere. Spärlich eingestreut in diese Leere sind elektrische Ladungen, die mit großer Geschwindigkeit hin und her sausen; spärlich, denn ihr Gesamtvolumen beträgt weniger als den billionsten Teil von dem Volumen des ganzen Tisches. Trotz dieser merkwürdigen Zusammensetzung ergibt es sich nun, dass auch Tisch Nr.2 als Tisch vollkommen seine Pflicht erfüllt. Er trägt mein Schreibpapier genau so zur Zufriedenheit wie Tisch Nr.1, denn wenn ich das Papier auf ihn lege, so stoßen die kleinen elektrischen Partikelchen in ihrer ungestümen Hast unaufhörlich gegen die Unterseite des Blattes, so dass es wie bei einem Federballspiel dauernd ungefähr auf gleicher Höhe gehalten wird. Wenn ich mich auf meinen wissenschaftlichen Tisch stütze, werde ich nicht hindurchfallen: oder um mich exakt auszudrücken: die Wahrscheinlichkeit, dass mein wissen-

9 10 11 12

Ebd. S. 293 f Hervorhebungen im Original. Mach a.a.O. S. 20. Ebd. S. 294. Ebd. S. 23 Hervorhebungen im Original. 137

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

schaftlicher Ellbogen durch meinen wissenschaftlichen Tisch hindurchdringt, ist so außerordentlich gering, dass sie praktisch vernachlässigt werden kann.“13

Für Eddington sind die beiden Tische zwei verschiedene Arten, über denselben Tisch zu reden, aber er lässt letztlich keinen Zweifel daran, dass Tisch Nr.1 ein „ererbtes Vorurteil“ ist: „Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass die moderne Physik mit ihren empfindlichen Prüfmethoden und ihrer unbarmherzigen Logik mir versichert, dass mein zweiter, wissenschaftlicher Tisch der einzige ist, der wirklich da ist, wo immer dieses ‚da‘ auch sein mag. Aber ebenso selbstverständlich ist es, dass es der modernen Physik trotzdem niemals gelingen wird, den ersten Tisch zu verbannen – jenes merkwürdige Gemisch von Außenwelt, Einbildungskraft und ererbten Vorurteilen, das sichtbar und greifbar vor mir steht.“14

Die Beharrlichkeit und Verlässlichkeit der Dinge ist eine wesentliche Voraussetzung für die Orientierung in der Welt. Die in den genannten Beispielen sichtbare Tendenz des Verschwindens der individuellen Dinge ist seit dem Beginn der Neuzeit immer wieder konstatiert und zum Thema kulturkritischer Betrachtungen gemacht worden. Sie ist ein Aspekt der für die Moderne konstatierten Entfremdung des Menschen in und von seiner Welt. Konkret lässt sich diese Entwicklung festmachen an der steigenden Zirkulationsgeschwindigkeit der Dinge in den Medien der Produktion und der Warenflüsse, des Designs und der Mode. Der Wandel von der bedarfsorientierten zur konsumorientierten Wirtschaft und die Globalisierung haben diese Tendenz jeweils beschleunigt. Die Phänomenologie hat sich dieser Tendenz – das verrät schon ihr Motto‚ ‚zu den Sachen selbst‘ zu kommen – entgegengestellt, indem sie es unternimmt, den Dingen ihre sinnlichen Qualitäten zurückzugeben und sie in der Lebenswelt und damit den Menschen dort wieder heimisch zu machen. Sie errang dadurch eine Position, die es ihr schon relativ früh erlaubte, wissenschaftsskeptische und technikkritische Analysen zu formulieren. Beispiele dafür sind Die Krisis der europäischen Wissenschaften von Husserl und Heideggers Die Technik und die Kehre, in denen auch die mit der Technisierung zunehmende Entfremdung der Menschen von ihrer dinglichen Umwelt thematisiert werden. Allerdings scheint in manchen phänomenologischen Texten hier und da ein restaurativer Geist zu wehen, der die Dinge retten will, indem er ihnen wieder ihren alten Platz und die verlorene Würde im Rahmen ei13 Arthur Eddington, Das Weltbild der Physik. Braunschweig Vieweg 1931 S. 2. 14 Ebd. S. 4. 138

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

ner heilen Lebenswelt zurückgibt.15 Aber keine Phänomenologie kann einen status quo ante wieder herstellen und die Dinge retten, indem sie deren historisch und gesellschaftlich bedingte Transformationen übersieht. Sie sind Folgen und Vorzeichen gesellschaftlicher Prozesse, die das Beziehungsfeld zwischen Menschen und Dingen verändern. Das Unheimliche an den als Verfallsphänomene inkriminierten Metamorphosen und Schwundformen der Dinge ist, dass sie nicht nur nicht wieder verschwunden sind, sondern dass sie sich heute sehr lebendig als schwer klassifizierbare ‚Hybride‘ (Latour) oder gespenstische ‚Cyborgs‘ in unserer Lebenswelt tummeln. Es ist uns heute selbstverständlich, dass wir auch die Dinge unserer Lebenswelt als Quantitäten in Bezug auf ihr Volumen oder ihr Gewicht behandeln, und sie sind nicht nur bei ihrem Erwerb, sondern auch noch im Gebrauch potentiell Waren, die einen Tauschwert haben, der z.B. bei einem Versicherungsfall oder bei Versteigerung im Internet jederzeit realisiert wird. In grafischen Computersimulationen werden tatsächlich virtuelle Dinge als Bündel von visuellen Elementkomplexen generiert, und schließlich erzeugt die Nanotechnik heute schon monomolekulare Oberflächen mit völlig neuen Eigenschaften und verspricht die Produktion von ‚Dingen‘, die aus Atomen und Molekülen synthetisiert sind wie Eddingtons Tisch Nr.2.

2.1.2 Husserls Analyse der Dinggegebenheit Der Text, auf den sich die folgenden Ausführungen vor allem beziehen, ist das posthum erschienene zweite Buch der Ideen einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, das den Untertitel trägt Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution.16 Sein erster Abschnitt trägt die Überschrift Die Konstitution der materiellen Natur, und darin bilden die Paragraphen 12 bis 17 das zweite Kapitel mit dem Titel Die ontischen Sinnesschichten des anschaulichen Dinges als solchen. Es gibt zwar noch weitere Texte Husserls, der sich mit der Konstitution des materiellen Dinges befassen, wie etwa seine Vorlesung Ding und Raum (Husserliana Bd. XVI). Die Ausführungen im zweiten Buch der Ideen können jedoch als die endgültige Behandlung dieses Themas innerhalb seines (veröffentlichten) Werkes gelten. Mit dieser 15 „Zur Rhetorik von ‚Lebenswelt‘ gehört auch, dass sie suggeriert, es sei auf dem Grunde doch noch – und wieder erreichbar – die eine Welt, die man nur leben müsse, um in ihr zu leben.“ Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart, Reclam 1981 S. 4. 16 Edmund Husserl, Ideen einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (IPP) in Gesammelte Werke (Husserliana) Bd. IV. Haag Nijhoff 1952. 139

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Einschätzung stütze ich mich vor allem auf die Monographie von Bernhard Rang über Husserls Phänomenologie der materiellen Natur.17 Rangs Arbeit behandelt die Entwicklung der Husserlschen Ideen zur Konstitution des materiellen Dinges und ihren Zusammenhang mit den wissenschaftstheoretischen bzw. naturphilosophischen Anschauungen seiner Zeit in umfassender Weise, und ich kann im Folgenden immer wieder auf seine Ausführungen verweisen. Edmund Husserl hat seine phänomenologische Methode in enger Anlehnung an die Methoden der Naturwissenschaften seiner Zeit, besonders der Mathematik, der Physik und der Physiologie entwickelt. Rang macht darauf aufmerksam, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl die Physik als auch die Physiologie einen Wandel von mechanistischen bzw. physikalistischen zu mehr phänomenologischen Betrachtungsweisen vollzog, wobei Helmholtz (als Physiker wie Physiologe) für erstere, der Physiker Mach und der Physiologe Hering für die letztere stehen können. Seine Untersuchung zeigt, dass Husserl selbst noch in mancher Hinsicht den älteren, Helmholtzschen Anschauungen verhaftet war.18 Materielle Natur bestimmt sich bei Husserl – in Abgrenzung gegenüber der animalischen Natur – durch eine naturwissenschaftliche Einstellung gegenüber der Natur überhaupt. Diese bewusst zu vollziehende Einstellung ist eine „doxisch-theoretische“, die alle wertenden und praktischen Aspekte ausklammert (Epoche). Erst in dieser Einstellung erschließt sich die Natur als eine „Sphäre bloßer Sachen“.19 „Im gewöhnlichen Leben haben wir es gar nicht mit Naturobjekten zu tun. Was wir Dinge nennen, das sind Gemälde, Statuen, Gärten, Häuser, Tische, Kleider, Werkzeuge usw. All das sind Wertobjekte verschiedener Art, Gebrauchsobjekte, praktische Objekte. Es sind keine naturwissenschaftlichen Objekte.“20 Zunächst wird materielle Natur durch Körperlichkeit bestimmt, d.h. durch räumliche und zeitliche Ausdehnung, durch Beweglichkeit, Ort und Lage. In der sinnlichen Wahrnehmung erscheint der Körper durch visuelle und taktile Schemata oder Dingschemata, d.h. er zeigt sich dem betreffenden Sinn jeweils nur von bestimmten Seiten, während andere verdeckt sind, wobei sich das Verhältnis von Verdeckung und Aufdeckung nach einer Regel, eben dem Schema, vollzieht. Dieses Dingschema bildet die Einheit der Dingerfahrung: „Der Körper ist eine Einheit der Erfahrung, und es liegt im Sinne 17 Bernhard Rang, Husserls Phänomenologie der materiellen Natur (PMN). Frankfurt/M. Klostermann 1990. 18 Rang, PMN S. 5. 19 Husserl, IPP S. 24 f. 20 Ebd. S. 27. 140

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

dieser Einheit, Index zu sein für eine Mannigfaltigkeit möglicher Erfahrungen, in denen der Körper immer neu zu Gesicht kommen kann.“21 Die eigentliche Realität oder Materialität, die ein Ding von einem sinnlichen Phantom unterscheidet, erschließt sich jedoch nicht durch seine Schemata, sondern durch seine Abhängigkeit von Umständen. Erscheinung und Verhalten des Dinges sind kausal verknüpft mit Umständen. So ist seine Farbe abhängig von der Beleuchtung, seine Bewegung abhängig von einem Anstoß, wobei gleiche Umstände zu gleichen Veränderungen am Ding führen. In dieser funktionalen Beziehung zwischen Ding und Umständen liegt seine Substantialität. „Realität oder, was hier dasselbe ist, Substantialität und Kausalität gehören untrennbar zusammen. Ein Ding kennen, heißt daher: erfahrungsgemäß wissen, wie es sich bei Druck und Stoß, im Biegen und Brechen, in Erhitzung und Abkühlung benimmt, d.h. im Zusammenhang seiner Kausalität verhält“.22 In einem Zusatz bemerkt Husserl, dass nur feste Körper als Normalfälle materieller Dinge gelten können mit einer sich durch die Bewegungen und qualitativen Veränderungen durchhaltenden Identität. Bei materiellen Medien wie Luft oder bei flüssigen Körpern ist das nicht gegeben, und sogar durchsichtige feste Körper stellen für Husserl bereits eine Abweichung vom Normalfall dar.23 Es deutet sich hier eine die weitere Diskussion durchziehende Schwierigkeit an, nämlich die Frage, wie die Identität eines Dinges durch seine Veränderungen hindurch gegeben ist. Nach Rang versteht Husserl Identität als „Gleichheit in bestimmter Hinsicht“.24 Das Kriterium für die Identität eines Gegenstandes ist die Deckungsgleichheit der intentionalen Akte, die diesen Gegenstand repräsentieren.25 Für das Verständnis dieses Kriteriums ist der Zusammenhang des Gegenstandsbegriffs mit dem Begriff der Intention wichtig. Es geht dabei einerseits um die Identität eines in der Anschauung gegebenen Gegenstandes mit dem Gegenstand, soweit er gemeint ist (Gleichheit von erfüllendem und intendierendem Sinn), sowie andererseits um die Identität des Gegenstands in verschiedenen Wahrnehmungsakten. Da Gleichheit der sich auf ein materielles Ding beziehenden intentionalen Akte immer nur für partielle Aspekte möglich ist, besteht weiterhin das Problem, wie eine Identität des Dinges im Wechsel der Bedingungen gewährleistet sein kann. Dieses Problem versucht Husserl durch verschiedene Strategien zu lösen. Die eine besteht in einer rigiden normativen Trennung zwischen 21 22 23 24 25

Ebd. S. 40. Ebd. S. 45. Ebd. S. 53. Rang, PMN S. 133. Ebd. S. 134. 141

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

„normalen“ und „anormalen“ Umständen oder Erfahrungsbedingungen. Die ersteren Bedingungen sind mit den „optimalen“ bzw. „ortho-ästhetischen“26 Erscheinungen der Dinge verbunden, sie bilden „d i e e i n e n o r m a l k o n s t i t u i e r t e W e l t a l s d i e w a h r e W e l t , als ‚Norm‘ der Wahrheit, und es gibt m a n n i g f a l t i g e S c h e i n e , Abweichungen der Gegebenheitsweise, die durch Erfahrung der psychophysischen Konditionalität ihre ‚Erklärung‘ finden.“27 Eine entscheidende Bedeutung für die Trennung beider Erscheinungsweisen kommt dabei dem Leib zu, der seinerseits bei allen Veränderungen auf Grund seiner Verflechtung in das System wechselnder kausaler Umstände in einer typischen Identität verbleibt.28 „Das Ding ist, was es ist, im Dingzusammenhang und ‚mit Beziehung‘ auf das erfahrende Subjekt, aber es ist doch dasselbe in allen Zustands- und Erscheinungsänderungen, die es infolge der wechselnden Umstände erleidet, und als dasselbe hat es einen Bestand an ‚bleibenden‘ Eigenschaften.“ Hier kommt Husserl auf die alte Trennung zwischen primären und sekundären Qualitäten zurück, indem er die ersteren als die „bleibenden“ und dem Ding „selbst zukommenden“ interpretiert. Sie sind geometrischer und physikalischer Natur und bestimmen das „physikalische Ding“, das im anschaulichen „Sinnending“ sich bekundet.29 In einer zweiten Argumentationsreihe wird mit Hilfe des Begriffes der Intersubjektivität eine objektive Bestimmung der Identität angestrebt und zwar als Bedingung der Möglichkeit der Existenz identischer Dinge für verschiedene Subjekte. Auch hier geht Husserl vom Leib aus: „Jedes Ding meiner Erfahrung gehört zu meiner ‚Umgebung‘, und das sagt zunächst, m e i n L e i b ist auch dabei, und als Leib.“ Dass er als Leib dabei ist, heißt, dass damit ein Bewusstsein vorhanden ist von anderen „verstehbaren Leibern“, für die der eigene Leib seinerseits verstehbar ist und die eine gegenseitige Einsicht in die für die verschiedenen Subjekte verschiedenen Erscheinungsweisen möglich machen. „Man merkt, dass d i e L e i b e s a u f f a s s u n g e i n e b e s o n d e r e R o l l e f ü r d i e I n t e r s u b j e k t i v i t ä t spielt, in der alle Dinge ‚objektiv‘ aufgefasst wer26 Husserl, IPP S. 66. 27 Ebd. S. 73 f (Sperrungen im Orig.). Auf Ausführungen wie diese bezieht sich Rang, wenn er bei Husserl eine mindestens teilweise Verhaftung an die ältere physikalistisch orientierte Helmholtzsche Wahrnehmungstheorie konstatiert. Er zeigt in ausführlichen Analysen, dass die zeitgenössischen Untersuchungen von Ewald Hering und David Katz über die Erscheinungsweisen der Farben und die Farbkonstanz in dieser Hinsicht konsequenter sind als Husserls Ansatz. Rang, PMN. S. 299 ff u. S. 388 ff. 28 Husserl, IPP S. 68. 29 Ebd. S. 76 ff. 142

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

den, als Dinge in der einen o b j e k t i v e n Z e i t , in einem o b j e k t i v e n R a u m , der einen objektiven Welt. (Jedenfalls fordert die Aufweisung jedweder aufgefassten Objektivität eine Beziehung auf die Auffassung einer Mehrheit sich verständigender Subjekte.)“30

Die sich verständigenden Subjekte bilden die Voraussetzung für die von wechselnden Erscheinungen unabhängige Konstitution des physikalischen Dings im Denken: „... die reale Möglichkeit und Wirklichkeit mit verschiedenen Sinnesvermögen begabter Subjekte und die Erkenntnis der bei jedem Individuum vorhandenen Abhängigkeit der Sinnesqualitäten von physiologischen Prozessen [führt] dahin, eben diese Abhängigkeit als eine neue Dimension von Relativitäten in Betracht zu ziehen und das rein physikalische Ding durch Denken zu konstruieren [....]. Das physikalische Ding ist intersubjektiv gemeinsam in der Art, dass es für alle mit uns in möglichem Verkehr stehenden Individuen gilt. Die objektive Bestimmung bestimmt das Ding durch das, was ihm zukommt und zukommen muss, wenn es mir oder irgend einem mit mir in Verkehr stehenden soll erscheinen und jedem der kommunikativen Gemeinschaft Angehörigen soll als dasselbe gelten können – auch mir bei allen möglichen Abwandlungen meiner Sinnlichkeit.“31

Damit ist für Husserl das Ding bestimmt als ein „intersubjektiv-identisches und eine solches, das gar keinen sinnlich-anschaulichen Inhalt hat, der intersubjektiv gegeben sein könnte: vielmehr nur ein leeres identisches Etwas als Korrelat der nach erfahrungslogischen Regeln möglichen und durch sie begründeten Identifizierung des in den wechselnden, inhaltsverschiedenen ‚Erscheinungen‘ Erscheinenden der im intersubjektiven Zusammenhang stehenden Subjekte mit ihren entsprechenden Akten des Erscheinens und erfahrungslogischen Denkens.“32 Diese Zitate machen deutlich, dass es Husserl um die intersubjektive Konstitution eines objektiven und wissenschaftlich tragfähigen Begriffes vom Ding geht, der sich dann im Wesentlichen als der des physikalischen Körpers erweist. Dass dieses Ergebnis damals nicht trivial war, zeigt der Vergleich mit den im vorangehenden Abschnitt erwähnten Tendenzen bei Mach oder Eddington, den Begriff des konventionellen Dings mit eigener Identität wissenschaftskritisch aufzulösen. In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, dass Husserl diesem eigentlich nur geometrisch – durch Gestalt und Ort – bestimmbaren Körper, aus

30 Ebd. S. 81 Sperrungen im Original. 31 Ebd. S. 86 f. 32 Ebd. S. 88. 143

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

dem die qualitative Füllung durch die sekundären Qualitäten herausgefallen ist, dennoch eine eigene Identität zuschreibt. Allerdings ist diese Identität nur transzendental, als Bedingung der Möglichkeit objektiver Dinglichkeit gegeben, und zwar als mögliches Ergebnis intersubjektiver Verständigung. Wenn Identität nur an Gestalt und Ort festgemacht werden kann, muss sie allerdings eine rein numerische bleiben. Praktisch kann Identität an festen Körpern durch die von Husserl beschriebenen Deckungsoperationen natürlich nicht realisiert werden. Wie schon im ersten Teil gezeigt wurde, kann Identität nicht auf Gleichheit zurückgeführt werden. Husserls Intention war es also durchaus, das Ding vor den aus verschiedenen Richtungen drohenden Auflösungstendenzen zu retten. Er musste allerdings, um zu einem wissenschaftlich tragfähigen Begriff zu kommen, den Weg, den der physikalische Körperbegriff während seiner Entwicklung zurückgelegt hatte, einschließlich der dabei notwendigen Reduktionsschritte noch einmal nachvollziehen. Manches von dem, was dabei beiseite geräumt werden musste bzw. nicht mehr im Begriff des physikalischen Dings explizit auftaucht, wie etwa die sinnlichen Schemata, ihre Abhängigkeiten von Umständen, oder die Rolle des Leibes für die Intersubjektivität, wird in späteren Analysen wieder in etwas anderer Form auftauchen. Spätere phänomenologische Analysen verfahren hier anders, indem sie das, was auf dem Weg zum physikalischen Objekt weggeräumt oder reduziert werden musste, einklagen und auf die Verarmung des physikalischen Körperbegriffs hinweisen. Sie nehmen bewusst keine (natur)wissenschaftliche Einstellung bei ihren Untersuchungen ein und vermeiden die von Husserl immer wieder praktizierte Methode der Ausklammerung (Epoche). Damit wird den Naturwissenschaften die Legitimation bestritten, verbindlich und endgültig über das Wesen der Dinge zu urteilen. In seinem letzten veröffentlichten Werk, der Krisis der europäischen Wissenschaften, hat Husserl diese Wende auch selbst vollzogen und den „Verlust der Lebensbedeutsamkeit“ der Wissenschaften als „Ausdruck der radikalen Lebenskrisis des europäischen Menschentums“ diagnostiziert.33

33 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg Meiner 1982 (2.Aufl.) I, § 2. 144

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

2.1.3 Die Frage nach dem Ding bei Heidegger Heidegger macht das Ding an drei Stellen seines Werks ausführlich zum Thema. Das ist einmal der § 15 von Sein und Zeit,34 der den Titel trägt Das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden. An zweiter Stelle ist die aus einer Freiburger Vorlesung von 1935/36 hervorgegangene Schrift Die Frage nach dem Ding35 zu nennen. Sie enthält in einem einleitenden ersten Teil mit dem Titel Verschiedene Weisen, nach dem Ding zu fragen eine Analyse der alltäglichen Dingerfahrung, die sich noch jeder wissenschaftlichen Festlegung enthält. Der zweite Hauptteil des Buches widmet sich dann unter dem Titel Kants Weise, nach dem Ding zu fragen der Dingfrage bei Kant, die am Leitfaden der Kritik der reinen Vernunft abgehandelt wird. Schließlich findet sich in der aus Vorträgen von 1935 und 1936 hervorgegangenen Schrift Der Ursprung des Kunstwerks36 ein Kapitel Das Ding und das Werk, in dem das ‚bloße‘ Ding gegen die Begriffe Zeug und Werk abgegrenzt wird. Im Gegensatz zu Husserl vollzieht Heidegger keine Ausklammerung oder Epoche, wenn er in Sein und Zeit sich den Dingen zuwendet, die uns im Umgang in der Welt vor allem als innerweltlich Seiendes begegnen. Das Interesse an den Dingen ist in diesem Umgang kein wissenschaftlich theoretisches, sondern „das hantierende, gebrauchende Besorgen, das seine eigene ‚Erkenntnis‘ hat.“37 Die Dinge sind in diesem Umgang auch immer schon wertbehaftet. Der phänomenologische Zugang wird hier eher dadurch verdeckt, dass das alltägliche Dasein sich immer in dieser Weise des Besorgens bewegt und der Blick darauf durch die unmittelbare Nähe sowie durch andere konventionelle Auslegungstendenzen abgelenkt wird. In diesem besorgenden Umgang erscheinen die Dinge als ‚Zeug‘, und die anschließende Untersuchung gilt zunächst dieser Zeughaftigkeit. Dazu gehört einmal, dass Zeug nie einfach ‚ist‘, sondern gebraucht wird. Es gehört zu einem Zeugganzen, etwa als Schreibzeug oder Werkzeug. Als solches verweist es von etwas auf etwas, es hat ein ‚Um-zu‘. Heidegger nennt die Seinsart von Zeug ‚Zuhandenheit‘. Sie erschließt sich nicht im bloßen Hinsehen, sondern im gebrauchend-hantierenden Umgang, der aber keineswegs blind ist, sondern umsichtig. Diese Umsicht 34 Martin Heidegger, Sein und Zeit (SUZ). Tübingen Niemeyer 1963 10. Aufl. S. 66 ff. 35 Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding (FDI). Tübingen Niemeyer 3. Aufl. 1987. 36 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (UKU). Stuttgart Reclam 1960. 37 Heidegger, SUZ S. 67. 145

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

ist nicht zu verstehen als theoriegeleitetes Handeln, sondern das Handeln selbst hat darin seine eigene Sichtart.38 Die Zuhandenheit besteht gerade darin, dass das zuhandene Zeug in einer Zurückgezogenheit verharrt und nur in einem Verweisungszusammenhang, in seiner Verwendung, beim Herstellen von etwas in den Blick kommt. In dem herzustellenden Werk liegt „in einfachen handwerklichen Zuständen [...] zugleich die Verweisung auf den Träger und Benutzer.“ Heidegger fügt jedoch gleich hinzu: „In der Herstellung von Dutzendware fehlt diese konstitutive Verweisung keineswegs; sie ist nur unbestimmt, zeigt auf Beliebige[s], den Durchschnitt.“39 Als Zuhandenheit bezeichnet Heidegger die „ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist“.40 Dieses ‚An-sichsein‘ bedeutet nicht, dass die Welt aus Zuhandenem besteht. Denn gerade in der Zurückgezogenheit des Zuhandenen, seinem Nichtheraustreten aus der Unauffälligkeit, besteht die phänomenale Struktur seines Ansich-seins. Erst im Falle einer Unverwendbarkeit etwa durch Ungeeignetheit oder Beschädigung kann Zuhandenes auffallen, und als Fehlendes oder im Weg Liegendes drängt es sich auf als ein nur Vorhandenes. Deshalb kann Vorhandenheit keineswegs als fundierende Voraussetzung von Zuhandenheit gelten. Der Text Die Frage nach dem Ding ist für diese Arbeit von besonderer Bedeutung, weil dort die ‚Einzelnheit‘ des Dinges als ein wesentliches Merkmal behandelt wird. Die Frage nach der ‚Dingheit‘ des Dinges wird auch hier gleich zu Beginn als verschieden von der Art von Fragen gekennzeichnet, wie sie die Wissenschaft stellt und behandelt, wenn sie nach speziellen Dingen fragt und diese beschreibt. Die Wissenschaft überspringt die Frage, was ein Ding zum Ding macht. Da man diese Frage nicht behandeln kann, indem man über bestimmte Dinge spricht, ist es eine Frage nach dem „Unbedingten“.41 Sie kann das, was die Wissenschaften über Dinge sagt, weder ersetzen noch verbessern. Die Erörterung beginnt mit der Feststellung, dass wir immer auf einzelne Dinge treffen. Das steht im Gegensatz zur Methode der Wissenschaft, die sich für das Typische interessiert und in jedem Ding das Exemplar einer Art oder Gattung sieht. Des Besondere, das eventuell an einem Exemplar auftritt, wird von ihr typisiert und durch allgemeine Regeln beschrieben. Die Wissenschaft „überspringt“ gerade dieses „je dieses“, das jedes Ding auszeichnet.42 Mit der Behauptung, dass jedes 38 39 40 41 42

Ebd. S. 69. Ebd. S. 70/71. Ebd. S. 71. Heidegger, FDI S. 7. Ebd. S. 12.

146

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

Ding unvertretbar ein je dieses und kein anderes ist, stellt sich die Frage, ob es nicht doch gleiche Dinge gibt, die ununterscheidbar sind. Es ist die Frage, die Leibniz mit seinem Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren verneint hat. Heidegger entscheidet diese Frage nicht, zeigt aber, dass zwei Dinge immer verschieden sind, sofern zu ihrer Bestimmung gehört, dass sie zu einer bestimmten Zeit einen Ort und darüber hinaus eine bestimmte Zeitdauer haben. Damit ist die Frage nach dem Ding mit der Frage nach Raum und Zeit verbunden. Sind Ort und Zeit Bestimmungen des Dinges selbst oder nur äußere Rahmen, in denen sich die Dinge bewegen? Im Ding lässt sich weder Raum noch Zeit finden, die Teilung erzeugt nur neue Dinge, die ihrerseits ihren Ort und ihre Zeit haben. Auch die zwischen Newton und Leibniz kontroverse Frage nach der Natur des Raumes und der Zeit (die vor allem in dem Briefwechsel zwischen Leibniz und Clark diskutiert wird) lässt sich auf diese Weise nicht entscheiden. Heidegger wendet sich dann Fragen zu, die mit der sprachlichen Benennung von Dingen zusammenhängen. An erster Stelle stößt man hier auf die Demonstrativa, die ein Zeigen oder Hinweisen ausdrücken auf etwas, das im näheren (‚dieses‘) oder wenigsten nicht zu fernen Umkreis (‚jenes‘) da ist. Auch hier lässt sich das ‚dieses‘ nicht am Ding selbst festmachen, es trifft dieses nur, sofern es Gegenstand einer Hinweisung ist. Die Einzelnheit ist hier eher beim redenden Subjekt. Und im Übrigen trifft das ‚dieses‘ das Ding nur in der ganz bestimmten Situation, in der es ausgesprochen wird. Wie bei allen indexikalen Termen ist die Bedeutung von ‚dieses‘ nicht fest, sondern nur in einer bestimmten Situation an diesen Gegenstand gebunden. Ferner ist das Ding Träger von verschiedenen Eigenschaften, die wechseln können. Sprachlich bildet sich dies in Aussagen oder Sätzen ab, in denen Subjekten Prädikate zugeordnet werden. Wie kommt es zu dieser Parallelität? „Hat der Mensch den Bau des Satzes am Bau der Dinge abgelesen, oder hat er den Bau des Satzes in die Dinge hineinverlegt?“ Und wenn letzteres der Fall sein sollte: „Wie kommt der Satz, die Aussage dazu, den Maßstab und das Vorbild dafür abzugeben, wie die Dinge in ihrer Dingheit bestimmt sein sollen? Weil der Satz, die Aussage, Setzen und Sagen Handlungen des Menschen sind, ergäbe sich, dass nicht der Mensch sich nach den Dingen richtet, sondern die Dinge nach dem Menschen und nach dem menschlichen Subjekt, als welches man gewöhnlich das ‚Ich‘ begreift.“43 Schon bei den Griechen war die Frage kontrovers, einerseits ist Wahrheit Übereinstimmung oder, so Heidegger, Angemessenheit an die Dinge, andererseits kannten sie 43 Heidegger, FDI S. 35. 147

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

den Satz des Protagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Aristoteles hat die Kategorien bestimmt als die Arten, in denen wir Aussagen über Dinge machen können. Im Mittelalter galt das Ding als Erschaffenes, seine Eigenschaften wurden ihm beim Schöpfungsakt verliehen und der Schöpfergott war das Unbedingte, d.h. die Voraussetzung und Quelle jeder Bedingtheit. Im Idealismus spielte diese Rolle das ‚Ich‘, dem das Ding als Gegenstand gegenüber stand.44 Und schließlich wird das Ding im Rahmen der neuzeitlichen Wissenschaft zum stofflichen, nur noch durch Raum-ZeitKoordinaten bestimmten Massenpunkt oder zu einer Zusammensetzung aus solchen Massenpunkten. Damit erweist sich die Frage „Was ist ein Ding?“ schließlich als eine geschichtliche Frage, wobei sich die Geschichtlichkeit nicht nur auf die Antwort, sondern schon auf die Art des Fragens bezieht.45 Im Hauptteil des Textes wendet sich Heidegger dem Abschnitt in der Geschichte dieser Frage zu, der durch Kants Kritik der Vernunft gekennzeichnet ist. Auch Kant sieht das Ding ausschließlich als Gegenstand der mathematisch-physikalischen Wissenschaften. In dieser Hinsicht lässt es sich durch die beiden Aussagen kennzeichnen: 1. Das Ding ist Naturding. 2. Das Ding ist der Gegenstand möglicher Erfahrung.46 In seiner Bestimmung als Naturding wird aber gerade die Frage nach der Rolle der Dingheit der Dinge in unserer unmittelbaren Umgebung wieder übersprungen, denn Natur ist alles, was Gegenstand möglicher wissenschaftlicher Erfahrung ist. Es fällt auf, dass in den beiden genannten Texten die Behandlung der Frage nach dem Ding sehr unterschiedliche Wege geht. Bei näherem Hinsehen sind die Ausgangspositionen tatsächlich ganz verschieden. In Sein und Zeit geht die Analyse von der Weise des Besorgens aus, in der sich das alltägliche Dasein befindet. Dort ist die Rede von „den Dingen“ eigentlich schon verfehlt, weil dabei der vorphänomenale Boden des Besorgens schon übersprungen ist. In der Seinsart der Zuhandenheit tritt das einzelne Ding gar nicht in den Blick, sondern es ist als Zeug in eine Verweisungsganzheit eingebettet. Erst durch seine Unbrauchbarkeit oder sein Fehlen wird man auf seine Vorhandenheit – oder Nichtvorhandenheit – aufmerksam. Fragt man dagegen wie in Die Frage nach dem Ding von Anfang an danach, was ein Ding sei, dann tritt es ganz unabhängig von seinem Zeugcharakter als ein Einzelnes in den Blick. Es ist dann durch ein ‚Was‘ und nicht, wie im Falle des Zeugs, durch ein ‚Wozu‘ zu

44 Heidegger, FDI S. 36. 45 Ebd. S. 39. 46 Ebd. S. 100. 148

2.1 PHÄNOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN

charakterisieren, d.h. durch Eigenschaften und nicht durch Zwecke oder Funktionen. Im dritten Text, Der Ursprung des Kunstwerks, macht Heidegger drei Ansätze, um die Frage nach dem Ding zu beantworten. Einmal wird es gekennzeichnet als Träger seiner Merkmale (Substanz und Akzidentien).47 Zum anderen ist es die Einheit der Mannigfaltigkeit des in den Sinnen Gegebenen.48 Die erste Bestimmung ist eine aus dem Denken, die zweite aus der sinnlichen Wahrnehmung. Während die erste uns das Ding sozusagen vom Leibe und auf Distanz hält, rückt die zweite es uns zu sehr auf den Leib. Die dritte Bestimmung schließlich kennzeichnet das Ding als Synthese aus Stoff und Form. Sowohl Naturdinge als auch Gebrauchsdinge sind geformter Stoff.49 Zudem spielt die grundlegende Differenz zwischen Stoff und Form seit jeher eine zentrale Rolle in der Kunsttheorie und bsthetik. Diese Bestimmung verweist auf Herstellung des Dinges, nämlich auf den Prozess der Formung des Stoffes, und rückt es damit als Erzeugnis wieder in den Bereich des Zeugs. Im Bereich der Kunst ist der geformte Stoff das Kunstwerk. Wenn man das Ding als geformten Stoff bestimmt, tut man ihm allerdings insofern Gewalt an, als man es von vornherein als ein Erzeugnis oder als Geschaffenes auffasst, zu dem dann, weil es ja aus einem Grund geschaffen ist, noch gehört, dass es zu etwas dient. Die Dienlichkeit gehört als kennzeichnendes Merkmal zur Zeughaftigkeit des Dings. Allerdings ist das Ding als bloßes Ding gerade nicht nur oder noch nicht Zeug. „Das bloße Ding ist eine Art von Zeug, obzwar das seines Zeugseins entkleidete Zeug. Das Dingsein besteht in dem, was dann noch übrigbleibt. Aber dieser Rest ist in seinem Seinscharakter nicht eigens bestimmt. Es bleibt fraglich, ob auf dem Weg des Abzugs alles Zeughaften das Dinghafte des Dinges jemals zum Vorschein kommt.“50 Das Ding entzieht sich dem Denken hartnäckig, es bleibt als bloßes Ding unbestimmbar und ist allenfalls durch negative Beschreibungen näherungsweise zu charakterisieren. Nur im Kunstwerk gelingt das „Sichins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden.“51 Die Frage nach dem Ding bleibt damit weiter offen. Sie wurde von Heidegger jedoch in ein Spektrum von möglichen Behandlungsweisen aufgefächert und zudem als eine geschichtliche Frage erwiesen. Ein Zugang ist der über den Begriff, der das Ding als Träger von Merkmalen auffasst und damit in Analogie setzt zur Struktur sprachlicher Aussagen. 47 48 49 50 51

Heidegger, UKU S. 17. Ebd. S. 18. Ebd. S. 20. Ebd. S. 25. Ebd. S. 33. 149

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Dieser Weg wurde im ersten Teil dieser Arbeit verfolgt. Das Ding als Einheit der Mannigfaltigkeit des sinnlich Gegebenen ist Gegenstand der Phänomenologie der Wahrnehmung von Merleau-Ponty und Thema des folgenden zweiten Kapitels. Die dritte Bestimmung durch das ‚Wozu‘ als Zeug wird im dritten Kapitel im Zusammenhang mit Schapps Ausführungen über das ‚Wozu-Ding‘ im Rahmen seiner Philosophie der Geschichten noch einmal aufgegriffen.

150

2.2 D AS D I N G

IN DER

W AH R N E H M U N G

Wie viele Seiten hat ein jedes Ding? So viele, wie wir Blicke für sie haben, sagte der Großvater.1

In Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung kommt dem Ding eine zentrale Rolle zu. „Unser Wahrnehmungsfeld bildet sich aus ‚Dingen‘ und aus ‚Zwischenräumen zwischen Dingen‘.“2 Das Ding bildet sich nicht als Synthese eines Komplexes von Wahrnehmungen im Bewusstsein, vielmehr „trifft die Wahrnehmung unmittelbar das Ding“.3 Es ist schon in der Wahrnehmung als Ganzes gegeben. Wahrnehmung ist kein passives Empfangen von Reizen durch verschiedene Sinneskanäle, sondern Tätigkeit des Leibes, der „ein synergisches System ist, dessen sämtliche Funktionen übernommen und verbunden sind in der umfassenden Bewegung des Zur-Welt-seins“.4 Bei der Untersuchung der Dingwahrnehmung stößt Merleau-Ponty auf eine Reihe von Ergebnissen, die bestimmten, im ersten, begrifflichen Teil herausgearbeiteten Merkmalen der Dingindividualität entsprechen. So spricht er von der letztlichen Unerreichbarkeit der Selbstheit eines Dinges,5 aber auch davon, dass die Selbstheit der Dinge der eigenen

1 2 3 4 5

Ulla Hahn, Das verborgene Wort, Stuttgart Dt. Verlagsanstalt 1998 S. 11. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (PWA). Berlin de Gruyter 1966 S. 35. Ebd. S. 35. Ebd. S. 273. „Gewiss ist diese Selbstheit nie erreicht, ...“ Ebd. S. 273. 151

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Leiblichkeit geschuldet ist,6 und dass die Dinge ausschließlich in einem Horizont von anderen Dingen erscheinen, der ihre jeweilige Identität gewährleistet.7

2.2.1 Die Bipolarität der Tastphänomene Mit diesen Thesen bezieht sich Merleau-Ponty unter anderen Vorarbeiten auf die beiden Monographien von David Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben von 1911 und Der Aufbau der Tastwelt von 1925. Vor allem die letztere von beiden enthält eine ganze Reihe von vorausweisenden Gedanken zu den Beziehungen zwischen Sehen und Tasten sowie „erkenntnispsychologische“ Reflexionen zum Tastsinn, die für Merleau-Ponty sehr fruchtbar geworden sind. Besonders die von Katz in den Tastphänomenen analysierte Bipolarität oder Reflexivität wird in Merleau-Pontys nachgelassenem Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare unter dem Begriff des ‚Chiasmus‘ aufgenommen und weiterentwickelt (s.u. 2.1.5). Einige der Katzschen Ergebnisse sollen deshalb referiert werden, bevor die Gedanken Merleau-Pontys ausführlicher dargestellt werden. Das erste Kapitel von Der Aufbau der Tastwelt trägt den Titel Kritische und methodische Vorbemerkungen und formuliert eine Kritik an der von ihm atomistisch genannten Betrachtungsweise der Sinnesphysiologie, die nicht in der Lage sei, komplexe Tastphänomene angemessen zu beschreiben. Unter atomistischer Betrachtungsweise versteht Katz die Konzentration auf die Untersuchung isolierter Elemente des Hautsinns, der sogenannten Sinnespunkte. Er führt diese Tendenz auf den methodischen Einfluss der Sinnesphysiologie auf die Sinnespsychologie zurück und plädiert mit Hering für eine strikte Trennung beider Methoden. Die komplexen Tastphänomene wie etwa das Ertasten von Formen oder von Oberflächenqualitäten, die zu den Hauptleistungen des Tastsinns gehören, lassen sich aus den „elementaren“ Tasterlebnissen, die bei Reizung einzelner Druckpunkte auftreten, aber nicht synthetisieren. Katz bemerkt: „Es ist nun hier mit Nachdruck festzustellen, dass all die hier berührten Erlebnisse Kunstprodukte des Bewusstseins sind. So wie das Infunktionsetzen eines einzelnen Sinnesorgans, z.B. eines Druckpunktes, isoliert von den übrigen, auf künstlichem Wege erfolgt, so ist auch der im Anschluss daran sich ergebende Bewusstseinszustand nicht ein Gewächs des natürlichen Bewusstseins, son6 7

siehe unten Abschn. 2.1.2. „Der Horizont also ist es, der im Forschen des Blickes die Identität des Gegenstandes gewährleistet, ...“ Merleau-Ponty, PWA S. 92.

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2.2 DAS DING IN DER W AHRNEHMUNG

dern ein Produkt, zu dessen Produktion das Bewusstsein auf recht umständlichem Wege gezwungen werden muss.“8

Die so erzeugten Einzelempfindungen sind nicht geeignet, aus ihnen komplexe Tasteindrücke wie etwa Klebrigkeit oder Feuchtigkeit zu erklären.9 Das zweite Thema des ersten Kapitels bildet die Charakterisierung einiger grundlegender Unterschiede zwischen Sehsinn und Tastsinn bzw. zwischen Farbphänomenen und Tastphänomenen. Der Sehsinn wird gemeinhin als Fernsinn, der Tastsinn als Nahsinn bezeichnet. Das ist natürlich insofern sinnvoll, als wir Objekte (wie z.B. Sterne) sehen können, die wir auf Grund ihrer großen Entfernung nicht berühren können. Der Gegensatz zwischen beiden Sinnen erschöpft sich aber nicht in ihrer unterschiedlichen Reichweite. Visuelle Phänomene werden von uns immer objektiviert, sie werden auf den Außenraum bezogen. Tastphänomene haben dagegen einen „bipolaren“ Charakter, d.h. sie haben eine subjektive, auf den eigenen Leib bezogene, sowie eine objektive, auf das berührte Objekt bezogenen Komponente.10 Welche Komponente bei einem Tasterlebnis dominiert, hängt dabei von der Einstellung ab. Man kann bei einer Berührung vor allem auf die Beschaffenheit des berührten Objekts achten, aber man kann auch auf die Qualität der durch die Berührung ausgelösten Tastempfindung achten. Jede körperliche Tätigkeit ist notwendigerweise mit Berührungen und damit mit Tasterlebnissen verbunden, auf die man aber bei Routinehandlungen nicht achtet. Ganz ausblenden lassen sie sich jedoch nie, und auch bei starker Konzentration auf die betasteten Gegenstände ist der „subjektive“, empfindende Aspekt immer latent vorhanden. Er drängt sich vor allem bei unangenehmen, ekelerregenden oder schmerzlichen Tasterlebnissen sehr schnell ins Bewusstsein. Ein subjektiver Aspekt ist zwar auch beim Sehen in bestimmten Situationen spürbar, etwa im Falle der Blendung durch zu große Helligkeit, aber er spielt beim normalen Seherlebnis keine unmittelbare Rolle. Damit hängt zusammen, dass man visuelle Phänomene wie etwa Farben streng genommen nicht als Empfindungen bezeichnen kann, weil man, wie schon Hering bemerkt hat, mit Empfindung etwas bezeichnet, was David Katz, Der Aufbau der Tastwelt (ATA). Leipzig 1925, Nachdr. Darmstadt Wiss. Buchges. 1969 S. 11. 9 „Aber der Versuch einer summativen Ableitung der zuletzt geschilderten Eindrücke [feucht, klebrig, ölig H.L.] aus den namhaft gemachten Einzelempfindungen halten wir ebenso wenig für statthaft wie etwa die Ableitung des Beleuchtungseindrucks aus der Summe der Erregungen der Netzhautelemente.“ Ebd. S. 11. 10 Ebd. S. 19.

8

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2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

am eigenen Leibe gespürt wird. Das findet aber eben bei Farben nicht statt, wohl aber gilt es für die „subjektive Komponente“ der Tastphänomene. Das dritte Kapitel des ersten Abschnitts ist der Bewegung als gestaltendem Faktor der Tastphänomene gewidmet. Auch hier wendet sich Katz gegen eine atomistische Methode der experimentellen Psychologie, und zwar speziell gegen die „zeitatomistische Tendenz“. Eine ganze Reihe von Tastqualitäten wie Rauheit/Glätte, Härte/Weichheit entstehen erst bei einer relativen Bewegung zwischen der getasteten Oberfläche und dem Tastorgan, meist deutlicher bei der Bewegung des letzteren über die Oberfläche. Eine Berührung ohne relative Bewegung ergibt sehr viel weniger Information als eine bewegte. Auch die Wahrnehmungsschwellen für sukzessive Reize sind niedriger als die bei simultaner Reizung zweier Druckpunkte. Die Relativbewegung spielt allerdings bei der dadurch gewonnenen Tastvorstellung keine Rolle mehr, d.h. die Vorstellungen von Rauheit und Glätte werden zwar nur bei aktiver Bewegung der Fingerspitze über die Oberfläche wahrgenommen, aber sie enthalten als Vorstellungen kein Bewegungsmoment mehr. Im vierten und letzten Abschnitt behandelt Katz sprachpsychologische und erkenntnispsychologische Aspekte des Tastsinns. Er weist auf die dominierende Rolle hin, die Wörter aus dem Bereich des Tastens wie ‚greifen‘ oder ‚fassen‘ mit ihren Ableitungen und in verschiedenen Zusammensetzungen bei der Bezeichnung intellektueller Tätigkeiten spielen. Katz schließt daraus auf einen „Primat, den der Tastsinn in erkenntnistheoretischer Hinsicht gegenüber allen anderen Sinnen besitzt.“ Er begründet diesen Primat des Tastsinns damit, dass „seine Erkenntnisse den tragfähigsten Realitätscharakter haben.“11 Dies ist jedenfalls eine Auffassung, die in vielen Alltagserfahrungen, Sprichwörtern und Geschichten zum Ausdruck kommt. Es sei nur an die Redensart erinnert, dass man sich kneifen muss, um festzustellen ob man etwas träumt oder wirklich erlebt, oder an die Geschichte vom ungläubigen Thomas. Auch die grundlegenden Begriffe der Physik wie Undurchdringlichkeit, Widerstand und Kraft wurzeln nach Katz im Tastsinn.12 In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass bis ins 18.Jahrhundert be11 An diese Stelle heißt es weiter: „Der Tastsinn hat eine weitaus größere Bedeutung für die Entwicklung des Glaubens an die Realität der Außenwelt als die anderen Sinne. Nichts überzeugt uns so sehr von ihrer Existenz wie auch von der Realität unseres eigenen Leibes wie die, manchmal von Schmerz nuancierten, Zusammenstösse, die zwischen dem Leib und seiner Umgebung erfolgen. Das Getastete ist das eigentlich Wirkliche, das zu Wahrnehmungen führt; das Spiegelbild, die Fata Morgana wendet sich an das Auge, ihnen entspricht keine Realität.“ Katz, ATA S. 253. 12 Ebd. S. 258. 154

2.2 DAS DING IN DER W AHRNEHMUNG

kanntlich eine physikalische Wirkung zwischen Körpern nur in Form des Stoßes, d.h. bei unmittelbarer Berührung (Nahwirkung) als möglich angesehen wurde. Weil Newton seine Gravitationstheorie als Fernwirkungstheorie formulieren musste, galt sie ihm selbst als vorläufige Hypothese. Man könnte ferner ergänzen, dass die sogenannten primären Qualitäten, die vor allem seit Galilei und Locke den Gegenständen selbst zugeschrieben werden, nämlich Größe, Gestalt, Bewegung, Masse diejenigen sind, die dem Tastsinn zugänglich sind (wenn auch teilweise zusätzlich dem Gesichtssinn). Dagegen sind Farben, Töne, Gerüche, die sogenannten sekundären Qualitäten, diejenigen, die nicht ertastet werden können. Nach Locke existieren sie nicht im Gegenstand, sondern nur im Sinnesorgan. Eine Ausnahme bildet allerdings die Wärme, die ebenfalls durch Berührung wahrgenommen, aber von Locke den sekundären Qualitäten zugerechnet wird. Obwohl also bei Katz vom Ding als Gegenstand der Wahrnehmung nicht die Rede ist (für ihn geht es beim Tastsinn vor allem um Eigenschaften von Stoffen und Oberflächen), so bilden doch seine Argumente gegen die atomistische Anschauung, die Betonung der reflexiven Momente beim Tastsinn sowie der konstitutiven Rolle der Bewegung bei der Genese von Tastphänomenen wichtige Elemente der Dingwahrnehmung, die von Merleau-Ponty aufgenommen und weiterentwickelt werden.

2.2.2 Konstanten der Dingwahrnehmung Merleau-Ponty macht im zweiten Teil seiner Phänomenologie der Wahrnehmung das Ding zum Thema. Er trägt den Titel: Die wahrgenommene Welt. Der erste Teil ist dem Leib gewidmet, und im zweiten Teil gehen dem Kapitel über Das Ding und die natürliche Welt noch die beiden Kapitel Das Empfinden und Der Raum voraus, während das Kapitel Die Anderen und die menschliche Welt diesen Teil abschließt. Das Kapitel über das Ding wird eingeleitet mit einem Abschnitt über die Wahrnehmungskonstanten, wie Größenkonstanz, Farbkonstanz oder die Konstanz der Tasterfahrungen. In dem Kapitel über den Raum wird über die Größenkonstanz bzw. die scheinbare Größe von Gegenständen in unterschiedlichen Entfernungen gesagt: „Gleichwohl, ist nicht ein Mensch auf zweihundert Schritte Abstand kleiner als auf fünf Schritte? Er wird es erst, wenn ich ihn aus dem Wahrnehmungskontext isoliere und die scheinbare Größe messe. Sonst ist er weder kleiner, noch übrigens gleichgroß: er ist diesseits von Gleich und Ungleich, er ist derselbe Mensch, aus größerem

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2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Abstand gesehen.“13. Seine scheinbare Größe erhält das wahrgenommene Ding also erst durch eine Messung, die z.B. das Schließen eines Auges und einen Vergleich mit einem Maßstab in bestimmter Entfernung erfordert. Dabei wird eine künstliche Sehsituation erzeugt. In ihr wird das Wahrgenommene statt auf den Kontext, in dem es normalerweise erscheint, auf einen fremden Kontext (Maßstab) bezogen. Beide Kontexte, in denen der Gegenstand gesehen wird, sind wesentlich durch den eigenen Leib bestimmt. Auch Bewegung „vermag nur Wahrnehmung von Bewegung zu sein und diese als solche zu erkennen, wenn sie sie in ihrer Bewegungsbedeutung und mit sämtlichen für diese konstitutiven Momenten erfasst, insbesondere dem der Identität des Beweglichen.“14 Das Bewegte ist ein Identisches in den Bewegungsphasen, und es ist darüber hinaus der Unterscheidung zwischen Bewegung und Ruhe vorgängig. Die Identität dieses Bewegten „fließt direkt aus dem Erlebnis“.15 Die Farbkonstanz wird von Merleau-Ponty ebenfalls als eine Erscheinung begriffen, die durch die Relation zwischen wahrgenommenem Gegenstand und seinem Kontext – in diesem Falle vor allem durch die Beleuchtung gegeben – bestimmt wird. Die Beleuchtung schafft ein bestimmtes farbliches Milieu, in dem die einzelnen Gegenstandsfarben situiert sind. Sie sind niemals „einfach nur Farbe, sondern immer Farbe eines bestimmten Gegenstandes; das Blau eines Teppichs wäre nicht dieses Blau, wäre es kein wolliges Blau.“16 Er fasst die Interpretation der Phänomene der Farbkonstanz zusammen in der These: „konstante Farben finde ich vor, insofern meine Wahrnehmung von ihr selbst her einer Welt und Dingen sich öffnet.“17 Bei der Behandlung der Konstanz der Tasterfahrungen bezieht sich Merleau-Ponty vor allem auf die erwähnte Monographie von Katz und vergleicht die Unabhängigkeit der Tasterfahrungen – wie z.B. Rauhigkeit – von der tastenden Bewegung mit der Unabhängigkeit der Farbwahrnehmung von der Beleuchtung. Der Kontext der Wahrnehmung ist beim Sehen die Beleuchtung, beim Tasten die Bewegung des Leibes. Nicht Konstanz im Sinne einer Gleichheit in der Wahrnehmung wird im Konstanzphänomen gewährleistet, sondern die Identität des Wahrnehmungsobjekts. Bei den Konstanzphänomenen geht es also nicht um die Konstanz von bestimmten Dingeigenschaften wie Größe, Farbe oder Rauhigkeit, sondern um die sich durchhaltende Identität des wahrgenommenen Din13 14 15 16 17

Merleau-Ponty, PWA S. 304 Hervorhebung im Original. Ebd. S. 316. Ebd. S. 317. Ebd. S. 362. Ebd. S. 363.

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2.2 DAS DING IN DER W AHRNEHMUNG

ges in seinen Erscheinungen bei sich ändernden Kontexten. Der Kontext ist dabei wesentlich bestimmt durch die Situiertheit des eigenen Leibes, d.h. letztlich wieder durch die Relation zwischen den Dingen und dem wahrnehmenden Leib.

2.2.3 Der Leib als Stifter der ‚Selbstheit‘ der Dinge Nach diesen Vorüberlegungen zu den Wahrnehmungskonstanten zieht Merleau-Ponty den Schluss: „Die sensorischen ‚Eigenschaften‘ eines Dinges konstituieren [...] in eins und zusammengenommen ein selbes Ding“ [Hervorhebung H.L.], dessen Einheit durch die Einheit des handelnden Leibes gestiftet ist.18 In der Bezogenheit der Dinge auf den Leib und aufeinander zeichnet sich jedes Ding durch ein „Apriori“ oder einen „Sinn“ aus, der ihm inne wohnt „wie die Seele dem Leib“. Es ist niemals nur „Ding an sich“.19 In der Erfahrung des Dinges als Koexistenz mit dem Phänomen, als „Paarung unseres Leibes mit den Dingen“ sieht Merleau-Ponty die Erfahrung der „Realität schlechthin“,20 das Ding ist die „absolute Fülle, die meine ungeteilte Existenz vor sich her projiziert“, und nicht nur ein leeres Substrat bzw. ein Träger von Eigenschaften.21 Die Vorurteile des objektiven Denkens haben nach Merleau-Ponty diese Aspekte der Wahrnehmung verdeckt und alle die Phänomene, die eine Union bzw. „Kommunion“ zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen bezeugen, zum Verschwinden gebracht. Dadurch werden alle reflexiven Verbindungen im Wahrnehmungsprozess durchschnitten und es bleibt nur die Idee des Objekts als An-sich und des Subjekts als reines Bewusstsein sowie die bloßen Sinnesqualitäten bestehen. Unter diesen dominieren vornehmlich die visuellen, da „ihnen ein Anschein von Autonomie eignet, sie minder unmittelbar mit dem Leib verknüpft sind“. Dinge sind aber – ebenso wie die Sinnesqualitäten 18 Das Zitat hat folgende Fortsetzung: „... so wie mein Blick, mein Gefühl und meine sämtlichen anderen Sinne in eins und gemeinsam die Vermögen ein und desselben, in seinem einheitlichen Handeln integrierten Leibes bilden.“ Merleau-Ponty, PWA S. 368. 19 „Nie ist ein Ding von einem es Wahrnehmenden zu trennen, nie kann es wirklich ganz an sich sein, denn all seine Artikulationen sind eben die unserer eigenen Existenz; es ist gesetzt als Ziel unseres Blickes und unserer sinnlichen Erforschung seiner, worin wir es mit Menschlichem bekleiden. Insofern ist jede Wahrnehmung Kommunikation oder Kommunion, Aufnahme und Vollendung einer fremden Intention in uns, oder umgekehrt äußere Vollendung unserer Wahrnehmungsvermögen, und also gleich einer Paarung unseres Leibes mit den Dingen.“ Ebd. S. 370. 20 Ebd. 21 Ebd. S. 369. 157

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

– immer Konkretionen eine Milieus, und „jede explizite Wahrnehmung eines Dinges [lebt] von der vorgängigen Kommunikation mit einer bestimmten Atmosphäre.“22 Kennzeichen der „Realität“ ist neben der „Paarung des Leibes mit den Dingen“ eben diese wechselseitige Verweisung zwischen allen seinen sinnlichen Aspekten. „Das Ding ist jene Seinsart, in welcher die vollständige Definition eines Attributs die des ganzen Subjekts erfordert, und bei der folglich der Sinn sich nicht unterscheidet von der totalen Erscheinung.“23 Darin unterscheidet sich das Ding vom Bild, in dem, da es mit Absicht hergestellt ist, „der Sinn seiner Existenz vorangeht und sich lediglich in das zu seiner Kommunikation erforderliche Minimum an Materie einhüllt.“24 Die totale Erscheinung, in der alle sinnlichen Attribute eines Dinges in einem Moment zusammengefasst sind, bildet für uns dessen „vertrautes Gesicht, dessen Ausdruck unmittelbar verständlich ist.“25 Dieses Gesicht ist gleichzeitig Zeichen einer Verschlossenheit oder Abgeschlossenheit des Dings, es ist nicht einfach Produkt der Wahrnehmung, es präsentiert sich uns als ein „Ding an sich“, d.h. es „ignoriert uns und ruht in sich“.26 Obwohl es Teil unseres Erlebens ist, transzendiert es unser Leben. Die Metapher vom ‚Gesicht des Dings‘ weist auf eine Ambivalenz hin: das Ding erscheint uns als erschlossen und verschlossen, als (wieder)-erkennbar und unhintergehbar, als vertraut und gleichzeitig unergründlich. Und ein Gesicht zu haben bedeutet auch, eine Identität zu haben. Auf den Aspekt der „Selbstheit“ oder Identität der Dinge geht Merleau-Ponty bereits an früheren Stellen der Phänomenologie der Wahrnehmung ein, und zwar einmal im Zusammenhang mit dem Verstehen von Gesten, und zum anderen bei der Behandlung der Kommunikation zwischen den Sinnen. Es gibt auch bei den Gesten eine Unmittelbarkeit des Verstehens des Anderen und seiner Intentionen, die sich in seinen Gebärden ausdrücken, ähnlich wie bei der Erfahrung der Dingwahrnehmung. In beiden Fällen handelt es sch um eine leibliche Kommunikation, und das Erkennen der Identität eines Dinges ist wie das Verstehen einer Gebärde dem Erleben der eigenen Leibhaftigkeit geschuldet. „Dabei ist die durch die perzeptive Erfahrung hindurch sich erhaltende Identität des Dinges nur ein anderer Aspekt der Identität meines eigenen Leibes, die 22 23 24 25 26

Merleau-Ponty, PWA S. 371. Ebd. S. 373. Ebd. S. 374. Ebd. S. 373. Ebd. S. 372.

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2.2 DAS DING IN DER W AHRNEHMUNG

sich durch dessen Erkundungsbewegung hindurch erhält, und somit von gleicher Art wie diese: wie das Körperschema ist auch der Kamin ein System von bquivalenzen, das nicht in der Kenntnis eines Gesetzes, sondern in der Erfahrung einer leibhaften Gegenwart gründet. Mit meinem Leib lasse ich mich auf die Dinge ein, sie koexistieren mit mir als inkarniertem Subjekt: dieses mein Leben unter den Dingen hat nichts mit der Konstruktion der Gegenstände der Wissenschaft gemein. In gleicher Weise verstehe ich auch die Gebärden des Anderen nicht auf Grund eines Aktes intellektueller Interpretation [...]. Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen, so wie ich auch durch meinen Leib die ‚Dinge‘ wahrnehme.“ 27

Bereits in Abschnitt 1.4.2 wurde auf den Zusammenhang zwischen Individuum und Geste hingewiesen, den Aristoteles gestiftet hat, indem er das unmittelbar einzeln Gegebene, die erste Substanz (ȪʌȠțĮȚµİȞȠȞ), als „IJȩįİ IJȚ“, also als „dies da“ bezeichnet . Das ist aber kein Begriff, sondern eine Geste, die Geste des Zeigens. Was sich nicht definieren lässt, das kann man eben nur durch Zeigen kenntlich machen.

2.2.4 Ding-Identität und Blick Die Identität des Dings ist weder in der Wahrnehmung den einzelnen Sinnen einfach gegeben, noch ist es eine Synthese aus den verschiedenen sinnlichen Daten. Es konstituiert und erhält sich in den Erkundungsbewegungen des Leibes, wie z.B. im Blick und in der Berührung. Wir sehen nichts, wenn wir nicht blicken. Das Ziel des Blicks, das Etwas, das wir anblicken, ist das, was das Sehen zum Blicken macht. Aber im einzelnen Blick haben wir immer nur einen Anblick, der unser Interesse weckt und uns motiviert, es durch Erkundungsbewegungen aus anderen Winkeln zu erblicken oder zu ertasten. Deshalb ist Selbstheit nichts in sich Abgeschlossenes: „Gewiss ist diese Selbstheit nie erreicht: Ein jeder Aspekt des Dinges, der in unsere Wahrnehmung fällt, bleibt eine Einladung, noch über ihn hinaus wahrzunehmen, und ein bloßer momentaner ‚Anhaltspunkt‘ im Prozess des Wahrnehmens. Wäre je das Ding selbst erreicht, so wäre es ohne jedes Geheimnis vor uns ausgebreitet. Was die ‚Realität‘ des Dinges ausmacht, ist eben dasselbe, das es unserem Besitz entzieht. Das An-sich-sein des Dinges, seine unabweisliche Gegenwart wie die beständige Abwesenheit, in der es sich verschanzt, sind zwei voneinander unablösbare Aspekte der Transzendenz, die der Intellektualismus beide verkennt.“28

27 Ebd. S. 219-220. 28 Merleau-Ponty, PWA S. 273. 159

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Diese Transzendenz jeder Dingwahrnehmung, die Unerschöpflichkeit seiner möglichen Wahrnehmungen, aber auch die Möglichkeit seiner Verborgenheit oder Abwesenheit einschließt, bildet die Voraussetzung dafür, dem Ding eine Selbstheit oder Identität zuschreiben zu können. Ein Gegenstand erscheint immer vor einem Horizont, in einer Umgebung von anderen Dingen. Richte ich meinen Blick und damit meine Aufmerksamkeit auf ihn, so fallen alle anderen Gegenstände seiner Umgebung in die Rolle des Horizonts, vor dem er erscheint. Gleichzeitig verdeckt der angeblickte Gegenstand ein Stück Horizont und zeigt sich diesem Horizont, den umgebenden Gegenständen, in verschiedenen, mir momentan nicht zugänglichen Ansichten und Perspektiven. Durch Erkundungsbewegungen meines Blicks, meines Kopfes oder des ganzen Körpers kann ich mir sowohl neue Ansichten des Gegenstands verschaffen, als auch sein Verschwinden hinter anderen Gegenständen und sein Wiederauftauchen erfahren. Ebenso zeigt ein sich bewegender Gegenstand (z.B. ein vorbeifahrendes Auto) mir oft mehrere Gesichter, bevor er hinter meinem Blick-Horizont verschwindet und für mich unsichtbar wird. Sichtbarkeit sprechen wir den Dingen, mit denen wir umgehen, in dem Sinne zu, dass sie, wenn sie in geeigneter Entfernung und Beleuchtung und nicht durch andere Gegenstände verdeckt sind, gesehen werden können. Sichtbarkeit bedeutet also „Gesehen-werden-können“ durch wen und von wem auch immer, also potentiell durch jedes Ding in seiner Umgebung. Und damit wird auch jeder Gegenstand des Blicks ein potentielles Wahrnehmungszentrum, von dem aus die Umgebung in einer bestimmten Weise sichtbar ist. In diesem Sinne spricht MerleauPonty davon, dass man in einem Ding „heimisch“ werden und die Welt von ihm aus sehen kann. Gleichzeitig kann das Ding vom ganzen Horizont aus gesehen werden, und „so ist jedes Ding der Spiegel aller anderen“: „Der Horizont also ist es, der im Forschen des Blickes die Identität des Gegenstandes gewährleistet ... Sehen heißt ein Feld von sich zeigendem Seiendem betreten, und keines vermöchte sich zu zeigen, könnte es nicht auch sich hinter anderem oder in meinem Rücken verbergen. Mit anderen Worten: einen Gegenstand anblicken, heißt in ihm heimisch werden und von ihm aus alle anderen Dinge nach ihnen ihm zugewandten Seiten erblicken. Doch insofern ich also auch sie sehe, bleiben auch sie möglicher Verbleib meines Blickes, und virtuell auch schon bei ihnen mich aufhaltend, erfasse ich auch bereits den zentralen Gegenstand meines augenblicklichen Hinblicks unter verschiedenen Gesichtswinkeln. So ist jedes Ding der Spiegel aller anderen.“29

29 Merleau-Ponty, PWA S. 92. 160

2.2 DAS DING IN DER W AHRNEHMUNG

Dadurch wird dem Blick eine Reflexivität zugeschrieben, denn er wendet sich zurück und der Blickende fühlt sich vom Erblickten selbst erblickt. Eine instinktive Unterstellung dieser Reflexivität mag man darin erkennen, dass Kinder beim Versteckspiel, wenn sie nicht gesehen werden wollen, oft selbst die Augen schließen – sozusagen um mit der Welt sich selbst unsichtbar zu machen. Der Aspekt der Reflexivität der Wahrnehmung wird im Spätwerk Merleau-Pontys zum zentralen Thema, wie der nächste Abschnitt zeigen wird. Mein Sehen eines Gegenstandes wiederholt oder vervielfältigt sich sozusagen in einem wechselseitigen Sich-sehen der im Blick mit erfassten Gegenstände, von denen jeder nach Merleau-Pontys Worten „das ist, was alle anderen von ihm sehen“.30 Damit ist der Gegenstand in der Wahrnehmung nicht einfach von seinem Gesehen-werden (oder Wahrgenommen-werden) her bestimmt, sondern auch von seiner Umgebung her. Was er ist, ist er wesentlich durch seine Umgebung. Dies gilt, so fährt Merleau-Ponty fort, nicht nur von der räumlichen, sondern auch von der zeitlichen Umgebung. Vergangenheit und Zukunft bilden den zeitlichen Horizont für einen wahrgenommenen Gegenstand. Wir sehen einem Ding, etwa einem Haus, meist an, ob es alt oder neu oder renoviert ist, oder ob es zerfällt. Im bewegten Gegenstand sehen wir ein Stück seiner zurückgelegten und seiner möglichen zukünftigen Bahn mit. Auch in zeitlicher Hinsicht ist das Ding also nicht als Momentbild erfasst, jeder Wahrnehmungsakt hat vielmehr eine zeitliche Perspektive mit Erwartungshorizonten in Bezug auf Zukunft und Vergangenheit.

2.2.5 Das Fleisch der Dinge. Chiasmus von Sehen und Berühren Während in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung die Behandlung der visuellen gegenüber der durch die anderen Sinne vermittelten Wahrnehmung durchaus ein Übergewicht hat, betont er in seinem posthum erschienenen Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare31 vor allem die Verflechtung von visueller und taktiler Erfahrung. Dabei verweist er auf die Symmetrie von Sehen und Gesehenwerden einerseits und von Berühren und Berührtwerden bzw. Sichberühren andererseits, aber auch auf die Verschränkung beider Sinnesphänomene im abtastenden Sehen und sehenden Berühren. Diesem von ihm so genannten „Chiasmus“, der Überkreuzung der verschiedenen Sinne und der aktiven und

30 Ebd. S. 93. 31 Maurice Merleau Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare (SUU). München Fink 1986. 161

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

passiven Wahrnehmung, weist er eine maßgebliche Rolle zu bei der Konstitution des Gegenstands. In dem Kapitel „Die Verflechtung – Der Chiasmus“ wird die durch die Reflexivität der sinnlichen Wahrnehmung gestiftete Verwandtschaft zwischen Leib und Ding in immer neuen Wendungen und Metaphern beschworen. Die Leitmetapher dafür ist das Fleisch, und sie taucht gleich zu Beginn auf, wenn von den mit dem Blick abgetasteten Dingen die Rede ist, „die wir niemals ‚ganz nackt‘ zu sehen vermöchten, weil der Blick selbst sie umhüllt und sie mit seinem Fleisch bekleidet.“ Die erotisch konnotierten Metaphern, die schon in der Phänomenologie der Wahrnehmung wiederholt auftauchten (Paarung des Leibes mit den Dingen, Abschn. 2.2.3), herrschen in diesem Kapitel vor und verleihen diesem Text etwas inständig Beschwörendes. Die Schlüsselerfahrung, die der Idee von der Reflexivität der Sinneserfahrung und der daraus abgeleiteten Leiblichkeit bzw. Fleischlichkeit der Dinge zugrunde liegt, wird bereits in dem Husserl gewidmeten Essay „Der Philosoph und sein Schatten“ referiert: Es ist die Berührung einer Hand durch die andere und die damit verbundene Umkehrung des Verhältnisses zwischen Berührendem und Berührtem.32 Durch dieses berührende Berührtwerden begibt sich der Leib sozusagen unter die Dinge, und das Berühren spielt sich „inmitten der Welt und wie zwischen den Dingen“ ab.33 Dadurch vereinigt sich der Leib mit den Dingen, er „vermählt“ sich mit ihnen. Ein Akt des Berührens spielt sich in drei sich überschneidenden Erfahrungsdimensionen ab: einmal als Ertasten des Glatten oder Rauen, das ist die Dimension der Qualia, zum anderen das Berühren von Dingen in einer räumlichen und körperlichen Dimension, und schließlich drittens als Berühren des Berührens, die Dimension der Reflexivität.34 Diese Dreidimensionalität oder Dreistufigkeit ist nun für MerleauPonty nicht – wie für Katz – eine Eigenart des Tastsinns, sondern ein Grundzug aller Wahrnehmung. So findet sich auch eine Reflexivität zwischen Gehör und Lauterzeugung35 sowie zwischen Sehen und

32 „Wenn meine rechte Hand meine linke berührt, empfinde ich sie als eine ‚physische Sache‘, aber im selben Augenblick tritt, wenn ich will, ein außerordentliches Ereignis ein: auch meine linke Hand beginnt meine rechte zu empfinden, sie wird Leib, sie empfindet. ... das Verhältnis kehrt sich um, die berührte Hand wird zur berührenden, und ich muss sagen, dass das Berühren sich hier im ganzen Körper verbreitet und dass der Körper ‚empfindendes Ding‘, ‚subjektives Objekt‘ ist.“ Merleau-Ponty, SUU S. 52. Weggelassen sind zwei Fußnoten, die auf Husserl verweisen. 33 Ebd. S. 176. 34 Ebd. 35 Ebd. S. 189. 162

2.2 DAS DING IN DER W AHRNEHMUNG

Gesehenwerden bzw. Sichsehen.36 Diese Reflexivität des Blicks, das Sichsehen des Leibes oder das Sehen eines auf einen selbst gerichteten Blicks bildet die dritte Stufe. Die erste Stufe bildet das Sehen der Qualitäten, vornehmlich der Farben, die zweite das blickende Abtasten der Räumlichkeit der Dinge. Berühren und Sehen sind zudem nicht einfach parallele sinnliche Vermögen, sondern es findet eine Verflechtung zwischen Tasten und Sehen statt. Jedes Sichtbare ist „aus dem Berührbaren geschnitzt“ und es „gibt eine doppelte Eintragung des Sichtbaren in das Berührbare und des Berührbaren in das Sichtbare“,37 wobei beide sich teilweise überdecken, aber nicht deckungsgleich sind. Sichtbares und Berührbares gehören der gleichen Welt an, weil der Leib selbst sieht und berührt. Der Blick tastet die Dinge ab und vermählt sich mit ihnen, er fragt sie ab wie die berührenden Hände, wobei der Fragende und das Befragte bei der Berührung näher beieinander sind als beim Sehen. Unser Leib ist, wie Merleau-Ponty mehrfach formuliert, „zweiblättrig“: er ist einerseits Ding unter Dingen und andererseits sieht und berührt er sie. Dadurch wird die Welt für ihn „universelles Fleisch“.38 Dieses Fleisch ist nicht Materie, es ist weder materiell noch geistig, es ist ein Prinzip der Reflexivität alles Seienden. Die Sichtbarkeit oder Berührbarkeit des eigenen Leibes hat sich als Selbstbezug enthüllt, und deshalb können wir auf Grund unserer Leibhaftigkeit gar nicht anders, als allem Sichtbaren und Berührbaren prinzipiell einen solchen Selbstbezug zu unterstellen. Wir erfahren diese Reflexivität im Umgang mit den Anderen etwa beim Händedruck oder beim Blick, und weshalb sollten wir sie da nicht auch beim Umgang mit den Dingen diesen unterstellen? Wir fühlen uns unter Sichtbarem selbst sichtbar, wie von fremden Augen gesehen. Ein weiterer Aspekt dieser Reflexivität ist die Tiefe: fleischliches Sein ist Sein der Tiefen.39 Ein Leib sein heißt, eine verborgene Tiefe und verschiedene Gesichter oder Seiten zu haben, die diese Tiefe verbergen und sie gleichzeitig bekunden. Sichtbarkeit und Berührbarkeit bedeuten Anwesenheit eines Abwesenden, die Unverfügbarkeit des Wahrgenommenen im Wahrnehmungsprozess.

36 Die Reflexivität des Visuellen drückt sich in ambivalenten Begriffen wie französisch ‚vision‘ oder deutsch ‚Gesicht‘ aus. Gesicht ist das Vermögen zu sehen, aber auch das Aussehen, vor allem das eines Sehenden. 37 Merleau-Ponty, SUU S. 177. 38 Ebd. S. 180/181. 39 Ebd. S. 179. 163

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

2.2.6 Dingwahrnehmung und Individualität Merleau-Pontys emphatische Diktion in der Phänomenologie der Wahrnehmung, besonders aber in seinem Spätwerk, ist nur ein Aspekt seiner geradezu empathischen Annäherung an die Dinge. Diese Empathie ist für ihn eine Konsequenz unserer Leiblichkeit, die uns den eigenen Leib als ein körperliches Ding unter Dingen erfahrbar macht. Dinge teilen mit unserem Leib die Sichtbarkeit und Berührbarkeit, aber auch die partielle Unsichtbarkeit und die Unerschöpflichkeit ihrer Aspekte. Diese Erfahrung ermöglicht es uns, auch dem fremden Ding Individualität, Identität und – in seiner Diktion – eine Selbstheit zuzuerkennen. Dieser leiblichunmittelbare Zugang zum Ding selbst ist in der Wahrnehmung gegeben vor jedem klassifizierenden Erkennen des Dinges. Selbst unvertraute Dinge sind schon bei ihrem Auftreten in meinem Horizont verortet und damit bestimmt. Auch in unvertrauten Umgebungen, etwa bei einem Spaziergang durch einen Wald, tauchen die Dinge – Bäume oder Felsen – schon bezogen auf meinen Weg und mich selbst auf, als links vorne oder rechts hinter dem Felsvorsprung, und ich bewege mich zwischen oder unter ihnen. Sie treten also als Dinge bereits mit den Merkmalen in die Wahrnehmung ein, die sie zur Individualisierung prädestinieren. Ob das graue Etwas im Wald ein abgedeckter Holzstapel oder ein Fels ist, mag noch ungewiss sein, zuerst ist es ein ‚Das-da‘ oder ein ‚Das-dort‘, auf das ich mich gestisch oder verbal durch ein Indexikal oder eine definite Beschreibung beziehen kann, noch bevor ich sein ‚Was‘ klassifiziert habe. Allerdings werden die Dinge allein durch ihre Wahrnehmung noch nicht individuiert. Sie bleiben als wahrgenommene Dinge erst einmal im Horizont, wie die Bäume links und rechts meines Weges als Wald einen Horizont bilden. Aus ihm heben sich zwar einzelne im Vorübergehen ab, die aber im Weitergehen auch wieder in den Horizont zurücksinken und mit dessen Wechsel aus der Wahrnehmung verschwinden. Ich kann zwar an einzelnen Bäumen Markierungen bemerken, durch die sie in einem forstwirtschaftlichen Kontext individuiert und zum Fällen bestimmt worden sind, aber dieser Kontext ist mir fremd. Erst wenn ich mit einer mich begleitenden Person über einen Baum spreche oder wenn ich mir von ihm einen Ast abbreche, habe ich ihn für mich wenigsten für einen kurzen Zeitraum zum Individuum gemacht. Merleau-Pontys Ausführungen machen deutlich, dass das Ding mir durchaus als potentielles Selbst in der Wahrnehmung entgegentritt, aber nicht in dem Sinne eines reinen, abstrakten An-sich, sondern bezogen schon auf mein eigenes leibliches Selbst. Es geht in diesem Bezug aber nicht auf, es wird nie ganz erreicht (s.o. 2.2.4), es transzendiert durch 164

2.2 DAS DING IN DER W AHRNEHMUNG

seine Fülle und Unhintergehbarkeit jede prädikative Bestimmbarkeit. In dieser Potentialität, der Möglichkeit des Anders-sein-, des Andersscheinen- und Abwesend-sein-könnens taucht wieder die Kontingenz auf, die schon im ersten Teil als unabdingbare Voraussetzung einer individuellen Bestimmtheit erkannt wurde. In die Wahrnehmung tritt das Ding als ein Unverwechselbares ein, ob es ein unvertretbares Individuum wird, entscheidet sich erst in einer Ebene des Handelns und Kommunizierens. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass die Grenze zwischen reinem Wahrnehmen auf der einen und Handeln bzw. Kommunizieren darüber auf der anderen Seite nicht scharf gezogen werden kann; schon das Reden über eine Wahrnehmung verwischt diese Grenze.

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2.3 D I N G E

UND

GESCHICHTEN

Für uns ist die Geschichte der letzte in sich verständliche Teil eines mit ihm auftauchenden ungeschlossenen Ganzen, welcher die Frage nach Verstehbarkeit mit sich führt.1

2.3.1 Schapps Philosophie der Geschichten. Der Inhalt dieses Kapitels schließt thematisch an Abschnitt 1.2.7 an. Dort wurde der Zusammenhang zwischen Kontingenz als das, was möglicherweise, aber nicht notwendigerweise geschieht oder geschehen ist, und der Geschichte bzw. den Geschichten behandelt. Eine ergiebige Quelle kontingenter Ereignisse und Tatsachen stellt das von Menschen (oder auch von Göttern) willkürlich Gemachte dar. Die Verbindung eines Geschehens mit den gelungenen oder misslungenen Absichten von handelnden Personen wird durch das Erzählen von Geschichten geleistet und ist nach Luhmann Sinnstiftung durch Komplexitätsreduktion. Die sprachliche Großform der Erzählung hat im philosophischen Diskurs bis heute keine wichtige Rolle gespielt. Im Rahmen des ‚linguistic turn‘, den die Philosophie – wie andere Kulturwissenschaften mit ihr – im Laufe des 20. Jahrhunderts vollzogen hat, rückte zuerst der Satz als kleinstes sinntragendes Element der Sprache in den Fokus des Interesses der analytischen Philosophie. Ein prominentes Zeugnis dafür ist 1

Schapp, In Geschichten verstrickt (IGV). 2.Aufl. Wiesbaden Heymann 1976 S. 146. 167

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Wittgensteins Traktatus. In seiner Spätphilosophie hat Wittgenstein diesen Horizont durch Einführung des Sprachspiels erweitert, das die Sprache mit dem Handeln verbindet und in die ‚Lebensformen‘ des Menschen einbettet. Nur im Kontext eines Sprachspiels ist ein Satz sinnvoll. In der Sprechakttheorie schließlich wurde das Sprechen selbst als eine Form des Handelns verstanden und beschrieben. Die Erzählung stand dagegen in der Literatur- und Geschichtswissenschaft im Zentrum des Interesses. Wie die Sprachspiele stellen Erzählungen Kontexte her, in denen Sätze einen Sinn gewinnen. Und sie haben mit Sprachspielen auch ihre enge Beziehung zu Handlungen gemeinsam. Im Gegensatz zum Sprachspiel, das selbst Sprachhandlung ist, beschreibt die Erzählung vollzogene (manchmal auch beabsichtigte) Handlungen, d.h. Geschichten. Sprachspiele kann man nicht von den Personen trennen und von der Situation, in der sie stattfinden, und ebenso wenig gibt es Erzählungen ohne Erzähler bzw. Autoren auf der einen und Hörer bzw. Leser auf der anderen Seite. Harald Weinrich hat in einer Untersuchung über den Tempusgebrauch in verschiedenen Sprachen2 zwischen zwei Textkategorien unterschieden, die er durch die Bezeichnungen ‚besprochene‘ und ‚erzählte‘ Welt charakterisiert. Wittgensteins Sprachspiel gehören der besprochenen Welt an. Auch wissenschaftliche Beschreibungen und Erklärungen gehören in diese Kategorie. Solche Texte unterscheiden sich durch bestimmte Merkmale von Texten, die zur Kategorie der Erzählungen gehören. Diese Merkmale sind von Sprache zu Sprache verschieden, aber in jeder Sprache hat ein Sprecher die Möglichkeit, durch bestimmte Signale einen Text z.B. als Erzählung zu charakterisieren. Im Deutschen ist ein solches Signal die Verwendung des Imperfekts. In diesem Kapitel wird nach der Rolle gefragt, die Geschichten für die Individualität von Dingen spielen. Es hat sich bereits im Abschnitt 1.4.4 bei der Frage der Bezugnahme auf Einzeldinge und in 1.5.4 bei der Behandlung des Problems des Wiedererkennens ergeben, dass Einzeldinge vor allem im Rahmen von Geschichten und unter dem Aspekt von Geschichtlichkeit greifbar werden. Dabei ist Geschichte sowohl im Sinne von Historie als auch von Geschichten gemeint, und ‚eine Geschichte haben‘ soll einfach bedeuten, dass man oder jemand über dieses Ding eine Geschichte erzählen könnte. Diese Geschichte muss keineswegs immer bekannt sein. Oft erlaubt die Rekonstruktion dessen, was mit diesem Ding geschehen ist, gleichzeitig die Rekonstruktion von sehr viel 2

Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6.Aufl. München Beck 2001. Zwei entsprechende Kategorien ‚Discours‘ und ‚Histoire‘ hat der französische Linguist Emile Benveniste in seinem 1966 erschienenen Werk Problèmes de linguistique générale eingeführt.

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2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

weitläufigeren Geschichten. Beispiele dafür sind die Aufklärung von Kriminalfällen mit Hilfe von Indizien und neue Erkenntnisse in der Geschichtsforschung durch archäologische Funde. Beide Beispiele zeigen, dass es bei der Geschichte eines individuellen Dinges nicht nur um diesen Gegenstand geht, sondern immer auch um die Geschichten von Personen, die mit ihm verbunden sind oder waren. Die ersten Abschnitte dieses Kapitels behandeln die Beziehungen zwischen Individuum und Geschichten anhand der Arbeiten des Phänomenologen Wilhelm Schapp. 1953 erschien sein Buch In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, dessen erster Abschnitt den Titel trägt Das Wozuding in der Außenwelt und seine Wahrnehmung. Es handelt sich dabei um eine Phänomenologie der Dinge, für die das von Schapp so genannte Wozuding das Paradigma bildet. Im zweiten Abschnitt Verstricktsein in Geschichten und in Geschichte geht es um die Beziehung von Personen zu ihrer Geschichte und zur Geschichte generell. In zwei weiteren Büchern hat Schapp seine Ideen fortentwickelt. In der 1959 erschienenen Philosophie der Geschichten3 wendet er sie in verschiedenen Bereichen der Philosophie und der Geisteswissenschaften an, und in der 1965 erschienene Metaphysik der Naturwissenschaften4 versucht er, Begriffe und Vorstellungen der neueren Physik mit dem Werkzeug seiner Phänomenologie der Geschichten zu hinterfragen. Ich werde mich im Folgenden auf die erstgenannte Publikation von 1953 In Geschichten verstrickt beziehen. Schapps origineller und heute relativ wenig beachteter Ansatz ist allerdings bezogen auf einen konservativ-romantisierend verengten Dingbegriff und lässt zudem eine Reihe von Fragen und Gesichtspunkten offen. In den folgenden Abschnitten wird deshalb versucht, seinen Ansatz zu erweitern, und zwar mit Hilfe von Ausführungen von Hannah Arendt zum Thema Individualität und Geschichten, die ihrerseits in neuerer Zeit von Adriana Cavarero weitergeführt wurden. Von daher lässt sich ein neuer Zugang zum Verhältnis von Dingen und Geschichten und zu einem flexibleren Begriff des individuellen Dings finden, der selbst als ein geschichtlicher begriffen werden muss. Dieser Aspekt wird vor allem in den beiden letzten Kapiteln dieses Teils zum Thema.

3 4

Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten. 2.Aufl. Frankfurt Klostermann 1981. Wilhelm Schapp, Wissen in Geschichten. Metaphysik der Naturwissenschaft Den Haag, Nijhof 1965. 169

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

2.3.2 Das ‚Wozuding‘ Als Wozuding bezeichnet Schapp „das vom Menschen geschaffene starre feste Ding“. Das ist etwa „die Tasse, der Tisch, der Stuhl, das Haus, der Dom, eine Straße, ein Schienenweg“.5 Ein Wozuding ist also im Prinzip immer ein Artefakt, kann allerdings auch ein natürlicher Gegenstand sein, der als Werkzeug dient wie z.B. ein Zweig oder ein Stein, die als Peitsche bzw. Hammer benützt werden.6 Das sind jedoch Grenzfälle. Ebenso bleiben Pflanzen und Tiere ausgegrenzt, obwohl gezähmte Tiere und Nutzpflanzen nach Schapp ebenfalls im Grenzbereich liegen. Ein Wozuding hat eine Bestimmung, eben sein ‚Wozu‘, und darin unterscheidet es sich von einem ‚natürlichen Ding‘. Dieses ‚Wozu‘ wird von Schapp nicht abstrakt als Zweck gedacht, sondern als das, wozu es gemacht ist. Es ist eine genetische Eigenschaft, die der Hersteller dem Ding verliehen hat. Wozudinge sind von der Entstehung bis zu ihrem Ende in die Handlungskreise von Personen eingebunden und deshalb besonders geschichtenträchtig. Wozudinge haben eigene Bestimmtheiten, die bei natürlichen Dingen in dieser Form nicht vorkommen. Dazu gehört, dass sie ein Alter haben, das durch den Zeitpunkt ihrer Herstellung bestimmt wird. Ferner schreibt man ihnen verschiedene Arten von Zuständen zu, wie z.B. fertig oder unfertig, schmutzig, verwahrlost, modern, neu usw. Viele haben eine Lage (aufrecht, umgefallen, auf dem Kopf) und/oder eine Orientierung (Vorder- und Hinterseite). Oft gehören Wozudinge zusammen wie Tasse und Untertasse oder sie bilden Teile eines Ganzen, wie die Räder eines Fahrrads.7 Schließlich ist für Wozudinge charakteristisch, dass sie ein ‚Auswas‘ haben, d.h. dass sie auf einen bestimmten Stoff hinweisen, aus dem sie hergestellt sind.8 Während jedes Wozuding ein Individuum ist, bewegt man sich bei der Rede von Stoffen im Bereich der allgemeinen Begriffe. Das ‚Auswas‘ eines Wozudings ist allerdings nicht identisch mit dem (naturwissenschaftlichen) Begriff Stoff, aus dem auch natürliche Dinge ‚bestehen‘, so wie man etwa sagt, dass die Luft im Wesentlichen aus Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxyd besteht. Der Zusammenhang zwischen dem Wozuding und seinem ‚Auswas‘ ist durch den Herstellungsprozess und damit vom Hersteller bestimmt. Es ist, anders als ein natürlicher Gegenstand, aus etwas gemacht. Der Zusammenhang mit seinem ‚Auswas‘ ist also nicht natürlich, sondern kontingent. „Wozu5 6 7 8

Schapp, IGV S. 11. Ebd. S. 13. Ebd. S.14. Ebd. S. 15.

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2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

dinge derselben Art können aus den verschiedensten Stoffen gemacht sein.“9 Die Bestimmtheiten oder Charaktere der Wozudinge verweisen auf eine Vergangenheit, ein Alter und eine Geschichte, die einen Horizont bilden, zu dem auch ihre Herstellung, ihre ‚Geburt‘, sowie mit der Herstellung verbundene Menschen gehören. In die Herstellung des Wozudings gehen die Pläne, Absichten und Betätigungen des bzw. der Hersteller ein. Schapp spricht auch anstelle des Horizonts vom Sinnzusammenhang, in dem uns das Wozuding entgegentritt.10 Teil dieses Sinnzusammenhangs ist die menschliche Tätigkeit als Arbeit an den Dingen. Sie ist eine Arbeit am Stoff. Die Vorgänge des „Hämmerns, Hackens, Sägens“, bei denen andere Wozudinge, nämlich Werkzeuge, benützt werden, verweisen wiederum auf den tätigen Leib.11 Schapp versteht das dabei entstehende Wozuding nicht als Derivat des Stoffes, aus dem es hergestellt ist, sondern es ist als Werk das Primäre, von dem her sowohl der Stoff seine Bestimmung als Stoff bekommt, als auch die Werkzeuge erst ihren Sinn, ihr jeweiliges Wozu erhalten. Stoff hat nach Schapp den Charakter „geeignet für die Herstellung von Wozudingen“.12 Der tätige Leib bildet in der Tätigkeit mit dem bearbeiteten Stoff, mit dem Erdboden, auf dem er steht und mit dem Werkzeug, das er benützt, einen Kreis, der das Produkt, das herzustellende Wozuding ermöglicht, das seinerseits nur von diesem Prozess her zu verstehen ist. „Niemand würde einfallen zu sägen, zu bohren, zu hämmern, wenn es nicht um die Schaffung von Wozudingen ginge.“13 Zwischen Tätigsein und Wahrnehmen gibt es keine scharfe Grenze: „Nach unserer Meinung gehört aber das Tasten in die Reihe des Tätigseins.“14 Er betont die Rolle der Bewegung zwischen tastendem Organ und getastetem Ding und kommt damit den Auffassungen von Katz und Merleau-Ponty sehr nahe (Abschn. 2.2.1 u. 2.2.5). Auch in der Tastwahrnehmung gibt es einen Kreis, der vom tastenden Leib zum ertasteten starren Wozuding und von da über dem Boden, auf den beide bezo9 10 11 12 13 14

Ebd. S. 15. Ebd. S. 17 f. Ebd. S. 22. Ebd. S. 31. Ebd. S. 23. Die Fortsetzung des Zitats lautet: „Man könnte das Tasten vielleicht als eine Abkürzung [...] der [...] Tätigkeiten, die wir beschrieben haben, auffassen. [...] Wir tasten nicht Oberflächen von einem Ding, sondern wir ertasten das Ding mit seinem Stoff. Das Tasten beruht auch nicht bloß aus einem bloßen Handauflegen auf das Ding, sondern es enthält in sich ein Drücken, wenn auch in vorsichtiger Weise, ein Gleiten, ein Greifen, ein Anfassen.“ Ebd. S. 24. 171

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

gen sind, wieder zurück zum Leib führt. Diese reflexive Struktur vermutet er auch bei der visuellen Wahrnehmung.15 Es gibt eine Größenkonstanz der Wozudinge, die sich in der Art ausdrückt, wie wir den Wozudingen die Eigenschaften „groß“ und „klein“ zuschreiben. Eine Tasse kann weder beliebig klein noch beliebig groß werden, ohne aufzuhören, eine Tasse zu sein. Die Größe eines Wozudings erscheint ferner unabhängig von der Entfernung konstant, worauf auch Merleau-Ponty hinweist (Abschn.2.2.2). Schapp ergänzt, dass dies nur gilt, solange wir das Wozuding erkennen. Ein großes Haus bleibt groß, auch wenn wir uns von ihm entfernen. Es kann uns aber als etwas Kleines erscheinen, wenn wir es aus der Ferne noch nicht als Haus erkannt haben und es z.B. für ein Stück Fels halten. Im letzten Kapitel des ersten Teils kommt Schapp noch einmal auf die Wahrnehmung zurück. Er setzt sich von physiologischen Wahrnehmungstheorien ab. Wir nehmen Qualitäten nicht getrennt nach Sinneskanälen, sondern immer an Dingen oder Stoffen wahr, wir „könnten ... sagen, dass wir nicht Töne hören, sondern Wagen oder Automobile, und dass wir eigentlich nicht Farbflächen sehen, sondern Häuser und Bäume.“16 Das Ding baut sich nicht aus seinen einzelnen Qualitäten auf, sondern es taucht als Ganzes mit seiner Geschichte in seinem Horizont auf.17 So ergibt sich, „dass die Frage nach dem, was Wahrnehmung eigentlich ist, sich verwandelt in die Frage nach dem, was Geschichten eigentlich sind.“18 Damit spricht Schapp noch einmal die Schwierigkeit an, die schon am Ende des vorhergehenden Kapitels aufgetaucht war, und die in der Unmöglichkeit einer scharfen Trennung zwischen Wahrnehmung, Handlung und Kommunikation besteht.

2.3.3 Wozu und Woher – Klassen als Herkunftsbeziehungen? Der Dingraum, in dem uns die Wozudinge erscheinen, ist nicht identisch mit dem geometrischen Raum, und es bedarf besonderer Aufmerksam15 „Es scheint sich hier [bei der visuellen Wahrnehmung H.L.] um ein reines Anschauen zu handeln, um ein reines Gegenüber und Abgesetztsein des Dinges, ohne dass sich eine Parallele oder ein Rest von dem Kreis, wie wir ihn beim Sägen, Bohren, Hämmern feststellen, auffinden lässt. Wenn man aber genauer zusieht, so kann man doch den Eindruck haben, als wenn sich ein Rest von jener Verbindung, von jenem Kreis erhalten habe.“ Schapp, IGV S. 30. 16 Ebd. S. 75. 17 „Das Wozuding kann gar nicht anders auftauchen als in seiner Gechichte.“ Ebd. S. 80. 18 Ebd. S. 82. 172

2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

keit und Übung, wenn man den „eisernen Ring“, den naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Vorstellungen um den modernen Menschen legen, durchbrechen will.19 Die Dinge strukturieren den Raum, und an den Oberflächen der starren Wozudinge finden wir die Vorbilder für die geometrischen Begriffe Fläche, Ebene, Linie, Figur, Punkt. „Es scheint demnach so, als ob man von einem Raum, den ein Körper einnimmt, immer nur sprechen kann in einem starren System von festen Körpern. Dies starre System von festen Körpern scheint mir nun mit der Welt identisch zu sein, die wir im vorigen Kapitel über Wozudinge und Leib zu fassen versucht haben.“20 Mit anderen Worten: Raum gibt es nur innerhalb der Welt, und diese Welt ist im Wesentlichen durch die starre Verbindung starrer Körper strukturiert. Die Rolle von festen Körpern für die Konstitution von räumlichen Bezugssystemen wird hier ganz ähnlich gesehen wie von Strawson (Abschn. 1.5.3, 1.5.4) Die kennzeichnende Differenz zwischen einem Wozuding und einem natürlichen Gegenstand ist, dass ersteres als Artefakt erkennbar ist. Sein Wozu ist ihm durch die Herstellung als kontingentes Merkmal eingeprägt, nicht durch Typ- oder einer Klassenzugehörigkeit vermittelt.21 Auch industriell hergestellte Wozudinge sind vom Moment ihrer Fertigung an Einzeldinge: „Jedem einzelnen Automobil ist seine Geschichte eingegraben.“22 Nur über diese Geschichte kommt man nach Schapp zu einem Begriff wie Serie. Und der Begriff Gattung ist seinerseits nur fassbar über die Geschichte der Serien, die irgendwann aus einem Prototyp hervorgegangen sind. „Niemals stoßen wir aber auf eine Gattung Automobil im traditionellen Sinn. Alles, was man über Gattung ausdrücken will, kann man sehr viel schärfer, wenn auch umständlicher ausdrücken, wenn man auf die Zusammenhänge zurückgeht.“23 Schapp lässt Allgemeinbegriffe wie Art und Gattung nur im Sinne von ‚Verwandtschaften‘ zwischen Individuen, d.h. genetisch und nicht typologisch gelten. Die Möglichkeit, die biologische Spezies als Population oder technische Typen als Serien aufzufassen und damit zu individuieren, war bereits Gegenstand der Abschnitte 1.5.1 und 1.5.2. Das bedeutet aber nicht, dass typologische oder funktionale Klassifikationen überflüssig oder sekundär wären, wie Schapp es nahe legt. Gerade bei organischen Spezies führt erst der Weg über typologische Ordnungen und über die anatomische und physiologische Analyse von spezifischen Organen und deren 19 20 21 22 23

Ebd. S. 41. Ebd. S. 51.. Ebd. S. 60. Ebd. S. 56. Ebd. S. 60. 173

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Funktionen zu Erkenntnissen über genetische Beziehungen zwischen Arten und damit zu ihren Geschichten. Schapp überlastet seinen Begriff des Wozudings, wenn er in ihm als individuellem und kontingentem Einzelding quasi den Urquell aller seiner allgemeinen Bestimmungen sehen will. Sein extrem nominalistisches Verständnis von Allgemeinbegriffen führt ihn zu einer Art umgekehrtem Reduktionismus, der allgemeinen Aussagen und damit weiten Bereichen der Wissenschaft jede Legitimation bestreitet. 24 Tatsächlich herrscht im Begriff des Wozudings selbst ein unaufgelöster und uneingestandener Widerstreit zwischen universeller und individueller Bestimmung. Schon der Terminus verrät die Verwandtschaft mit dem Heideggerschen Begriff des Zeugs. Zweck und Funktion, die im Zeug wie im Wozu des Dings angesprochen sind, können aber einem Ding nicht zugesprochen werden, ohne es gleichzeitig zu einem vertretbaren und ersetzbaren Exemplar eines Zeugtyps oder Geräts zu machen. Sie klassifizieren und verstellen dadurch gerade den Blick auf seine Individualität, wie sich in Kapitel 1.3 gezeigt hat. Die Frage der Dingheit ist damit nach Heidegger bereits übersprungen (Abschn. 2.1.3). Zudem gilt die von Schapp unterstellte Bindung des Wozu an die Entstehungsgeschichte bei modernen Artefakten nicht für das Einzelding, sondern für den Typ, und diese Geschichte ist uns bei den Produkten der modernen Technik nicht mehr zugänglich. Ein automatisch gefertigtes Ding hat keine individuelle Herstellungsgeschichte und wird durch den Gebrauch individuiert, nicht durch seine Herstellung oder Funktion (Abschn. 4.2.2).

24 Der Angriff auf den „allgemeinen Gegenstand“ und den „allgemeinen Satz“ bildet den Inhalt der Kapitel 8 und 9 von Schapps Schrift. „Unser Angriff auf den allgemeinen Gegenstand erfolgt aus zwei Richtungen. Wir greifen sowohl den Ausdruck Gegenstand an wie den Ausdruck allgemein.“ Schapp, IGV S. 69. Dieser Angriff richtet sich auf die systematischen Wissenschaften schlechthin, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre Sätze allgemein sind. „Wenn wir auf der Suche nach dem allgemeinen Gegenstand nichts antreffen, was einem solchen Gebilde entsprechen könnte, so werden wir auch nichts finden, was den sogenannten allgemeinen Sätzen entspricht. Aus diesen allgemeinen Sätzen bestehen aber die systematischen Wissenschaften, wie etwa die Naturwissenschaften und die Geometrie oder die Mathematik; sogar die Rechtswissenschaft erweckt jedenfalls den Anschein, als ob sie mit allgemeinen Sätzen arbeite.“ Schapp, IGV S.69. Welche Konsequenzen ein so extremer Nominalismus für die Geltung der systematischen Wissenschaften hat, bleibt in diesem Text offen. Ausführlich geht Schapp auf diese Fragen in seiner Metaphysik der Naturwissenschaft ein, deren Thesen aber hier nicht zur Diskussion stehen. 174

2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

2.3.4 Verstrickung in Geschichten bei Schapp, Arendt und Cavarero Der zweite Teils von Schapps Buch von 1953 ist den Geschichten gewidmet. Sie bilden für Schapp die Elemente, aus denen Menschen, Tiere und Dinge erst heraustreten, und Verstrickung ist seine Metapher für die Rolle, die Personen in Geschichten spielen. Geschichten können nicht objektiviert werden, „weil etwas Geschichte nur insoweit ist, als ich in die Geschichte verstrickt bin.“25 Verstrickt ist man in eine Geschichte nicht nur, wenn man in ihr eine Rolle spielt, sondern auch, wenn man sie erzählt, und selbst das Hören fügt die Geschichte in den Horizont ein, vor dem die eigene Geschichte sich entfaltet und auf den sie sich bezieht. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine wahre oder eine erfundene Geschichte handelt. Das Erzählen und Hören von Geschichten ist kein außerhalb der Geschichten sich vollziehender Umgang mit ihnen, sondern selbst ein Teil einer Geschichte. Das Verstricktsein in Geschichten ist deshalb grundsätzlich nicht hintergehbar. Die erzählte Geschichte hat die paradoxe Eigenschaft, dass man von ihr sagen kann, „sie hat einen Anfang, wie auch: sie hat keinen Anfang, und entsprechend kann man sagen, sie hat ein Ende und sie hat kein Ende.“26 Jeder Anfang einer Geschichte verweist auf eine Vorgeschichte und jedes Ende ist nur ein vorläufiges. Geschichten erscheinen in einem Horizont von anderen Geschichten, in denen sie durch vielfältige Bezüge verwurzelt sind und die in ihrer Gesamtheit den Weltlauf oder die Geschichte bilden.27 In Geschichten verstrickt zu sein bedeutet also, in die Welt verstrickt zu sein. Hören wir den Anfang einer Geschichte, haben wir meist eine bestimmte Erwartung an ihren Verlauf, die sich meist nicht erfüllt, da die Geschichte tatsächlich anders verläuft. Unvorhersehbarkeit, d.h. Kontingenz, ist somit ein wesentliches Merkmal von Geschichten. Das Erzählen und Hören von Geschichten ist „irgendwie eingebettet in ein rätselhaftes Bekanntsein von Geschichten. Nur dem Erzähler bekannte Geschichten können erzählt werden. Mit dem Erzählen werden sie dem Hörer bekannt. Dies Bekanntsein der Geschichten lenkt wieder hin auf Bekanntsein von Menschen, die in die Geschichten verstrickt sind, wenn wir uns daran erinnern, dass jede Geschichte für einen Menschen steht.“28 Geschichten bilden „den letztmöglichen Zugang zu dem Menschen“, was Schapp in den Satz zusammenfasst: „Die Geschichte 25 26 27 28

Schapp, IGV S. 85. Ebd. S. 88. Ebd. S. 94. Ebd. S. 101. 175

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

steht für den Mann“.29 Bekanntsein mit einer Person bedeutet nicht nur, sie von Angesicht zu Angesicht zu kennen, sondern dass wir Geschichten von ihr kennen und sie Geschichten von uns kennt. Geschichte kann auch Entblößung des oder der darin verstrickten Menschen bedeuten, und Geschichten lassen sich weder aus dem Leben eines Menschen ausradieren noch kann man sie nachträglich einfügen.30 Das gilt auch für die eigene Geschichte, die wir genau wie unseren Leib weder ganz von außen noch ganz von innen betrachten können.31 Zu einer verwandten Auffassung der Rolle von Geschichten kommt Hannah Arendt in dem Kapitel über das Handeln in Vita Activa. Auch sie geht von der Feststellung aus, dass eine Antwort auf die Frage, wer einer ist, durch Beschreibungen mit Hilfe von Eigenschaften nicht gelingt, da er diese mit anderen teilt und nicht seiner Einmaligkeit verdankt.32 Die Geschichte unterscheidet sich von der Beschreibung vor allem dadurch, dass sie Subjekte als Handelnde identifiziert. Ohne die durch das Wort hergestellte Verbindung zwischen Person und Handlung wäre letztere lediglich eine gegenstandsgebundene Leistung.33 Im Zusammenhang mit der Darstellung des Arendtschen Handlungsbegriffs wurde in Abschn. 1.2.3 festgestellt, dass dieser durch die Differenz zwischen Absicht und Folgen gekennzeichnet ist. Das, was vom Handeln einer Person „schließlich in der Welt verbleibt, sind nicht die Impulse, die ihn in Bewegung setzten, sondern die Geschichten, die er verursachte.”34 Die Geschichte ist zwar in doppelter Hinsicht an Personen gebunden, nämlich einerseits an die, von denen sie handelt und andererseits an die, die sie erzählen. Gleichzeitig löst sie sich aber von diesen Personen, da die, von denen sie handeln, keinen direkten Einfluss auf sie haben, und die Erzähler sich von ihrem Inhalt distanzieren und oft auch anonym bleiben. Arendts Beispiel dafür ist Sokrates. Von ihm besitzen wir keine Zeile, aber weil wir seine Geschichte kennen, wissen wir besser, wer er ist, als dies bei den meisten griechischen Philosophen der Fall ist, deren Schriften wir kennen.35 Adriana Cavarero hat die Arendtschen Gedanken fortgeführt und auf die enge Beziehung zwischen der Identität einer Person und ihrer Geschichte hingewiesen. Diese Beziehung hat in ihren Augen den Charak29 Schapp, IGV S. 103. 30 Ebd. S. 116, 126. 31 „Wir sehen sie immer nur so, wie der Kopf seinen Körper sieht, den Körper, zu dem er selbst gehört.“ Ebd. S. 127. 32 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München Piper 1981. S. 222. 33 Ebd. S. 221. 34 Ebd. S. 227. 35 Ebd. S. 232. 176

2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

ter eines Begehrens (desire).36 Sie spricht von einem „erzählbaren Selbst“ (narratable self), in dem das „transzendentale Subjekt und das flüchtige Objekt aller autobiographischen Bemühungen des Gedächtnisses“ zusammenfallen.37 Dieses Selbst hat das Bedürfnis, sich in seiner Geschichte wiederzuerkennen. Durch das Vertrautsein mit dieser Geschichte erhält es Vertrauen in sich und seine Identität. Gleichzeitig ist die Einheit von Selbst und Geschichte prekär: Die Geschichte wird von anderen erzählt, und das Gedächtnis kann die eigene Geschichte nur mit Hilfe dessen rekonstruieren, was es von anderen übernimmt. Arendt hat – so Cavarero – gezeigt, dass das Selbst „expressiv und relational“ ist, und insofern „auf symptomatische Weise externalistisch, als es dem Blick bzw. der Erzählung eines anderen vertrauen muss.“38 Cavareros eindringliches Beispiel ist die Episode in der Odyssee, als Odysseus sich als unbekannter Schiffbrüchiger, ein Niemand, am Hof des Phäakenkönigs Alkinoos befindet.39 Als der Sänger Demodokos die Geschichte von Odysseus‘ Taten vor Troja öffentlich vorträgt, bricht er in Tränen aus. Erst danach gibt er sich als dieser Odysseus zu erkennen: Er weiß nun, dass er auch bei den Phäaken nicht ein Niemand ist (als der er sich in der Not Polyphem gegenüber bezeichnet hat), sondern ein Jemand mit bestimmter und bekannter Identität. Seine Überlegenheit im vorangegangenen Wettkampf hat ihn zwar als Helden, aber nicht als Person ausgewiesen.

2.3.5 Dinge in Geschichten und Geschichten über Dinge Personen brauchen ihre Geschichten, sie sind auf sie angewiesen, wenn sie sich ihrer eigenen Identität sowie der Identität anderer versichern wollen. Dieses vitale Interesse, das Cavarero als Begehren beschreibt, sorgt für die enge Verbindung von Person und Geschichte. Ein Verlust der Geschichte, ihr Vergessen oder ihre gewaltsame Auslöschung, kommt einem Verlust bzw. einer Zerstörung der Identität der Person gleich (Abschn. 1.5.6). Was aber verbindet ein Ding mit seiner Geschichte bzw. eine Geschichte mit einem Ding? Trotz der Fülle phänomenologischer Charakterisierungen von Dingen auf der einen und Personen und Geschichten auf der anderen Seite gelingt es Schapp nicht, das Wechselverhältnis der beiden wirklich zu klären. Der erste Teil von 36 „Between identity and narration – and this is our thesis, [...] – there is a tenacious relation of desire“. Adriana Cavarero, Relating Narratives. Storytelling and Selfhood. London Routledge 2000. S. 32. 37 Ebd. S. 34. 38 Ebd. S. 41. 39 Ebd. S. 17 f. 177

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

In Geschichten verstrickt über Wozudinge bleibt merkwürdig unverbunden mit dem zweiten Teil über Geschichten. Nach Arendt handeln Geschichten primär von Personen, weil es das Wesen von Geschichten ist, Subjekte von Handlungen zu identifizieren. Gleichzeitig bilden diese Geschichten ein „Gewebe menschlicher Bezüge“ ab, das „an eine objektiv-gegenständliche Dingwelt gebunden“ ist.40 In Geschichten werden Personen mit Ereignissen, Orten und Dingen verbunden, ohne die auch die Personen nicht fassbar wären. Das erzählbare Selbst erhält in der Geschichte seine Einzigartigkeit durch die Verbindung mit individuellen Ereignissen, Orten und Dingen. Natürlich existiert nur für ein personales Selbst die reflexive Beziehung zwischen Identität und Geschichte, durch die es gleichzeitig Gegenstand und Erzähler seiner Geschichte sein kann. Dennoch erhalten auch Dinge in und durch Geschichten eine Individualität und Selbigkeit durch die Personen, mit denen sie verwoben sind. Die Geschichten, die Dingidentität stiften, handeln also immer vom Umgang von Personen mit dem Ding, aber nicht nur im Sinne seiner instrumentellen Funktion oder seiner Herstellung, sondern durch seine Einbettung in das interpersonelle Umfeld, in die persönliche Daseinsgestaltung und in einmalige Handlungskontexte der betreffenden Personen. Das soll an einem literarischen Beispiel genauer dargestellt werden. Achtet man darauf, wie Dinge in Erzählungen auftreten, so wird man zuerst feststellen, dass sie meistens nicht als individuelle Einzeldinge vorkommen, sondern als Vertreter von Gattungen, als Kleid, Haus, Möbel, Schlüssel, Hammer, Auto usw. Sie fungieren als Mittel, mit deren Hilfe die Handelnden der Geschichten ihren Lebensalltag gestalten, ihre Absichten verwirklichen oder auch damit scheitern. Das gilt auch für die Fälle, in denen diese Dinge genauer spezifiziert oder beschrieben werden als zerschlissene Jeans, als Biedermeier-Anrichte oder als roter BMW-Sportwagen. Solche detaillierten Beschreibungen von Dingen dienen meist dazu, Situationen oder Atmosphären darzustellen oder Personen durch typische Gegenstände zu charakterisieren. In diesen Fällen haben die geschilderten Dinge eine beschreibende und typisierende Funktion. Georg Lukacs hat in einer Untersuchung41 darauf hingewiesen und kritisiert, dass beschreibende Passagen in der realistischen Epik des 19. Jahrhunderts zunehmend Bedeutung gewannen. Man kann das als Indiz dafür interpretieren, dass sich Autoren wie Flaubert oder Zola bei der Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse im Interesse von Objek40 Arendt, a.a.O. S. 225. 41 Georg Lukacs, „Erzählen oder beschreiben? Zur Diskussion über den Naturalismus und Formalismus.“ In ders., Probleme des Realismus I. Werke Bd.4 Frankfurt Luchterhand 1971 S. 197-242. 178

2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

tivität und Authentizität möglichst eng an wissenschaftliche Beschreibungsmethoden anlehnten. Anders verhält es sich im Falle einer Detektivgeschichte, bei der Indizien für die Aufklärung einer Tat eine Rolle spielen. Dabei geht es darum, die Identität (Unvertretbarkeit) eines Dinges zu klären, etwa die Identität der beim Opfer gefundenen Waffe mit der vom Verdächtigen vorher gekauften Waffe zu zeigen. Ein klassisches und frühes Beispiel für die Aufklärung einer Tat mit Hilfe von Indizien bietet Der zerbrochene Krug von Heinrich von Kleist. Ein Krug der Klägerin, Frau Marthe, wurde im Zimmer ihrer Tochter Eve zerbrochen, und die Ermittlung des Schuldigen führt im Gerichtssaal zur Aufdeckung einer Vorgeschichte, die den Richter Adam selbst als Täter entlarvt und ihn um Amt und Würde bringt. Der Krug wird am Beginn der Gerichtsverhandlung von der Besitzerin, Frau Marthe, ausführlich beschrieben. Sie schildert zuerst die Darstellung der Übergabe der niederländischen Provinzen an den spanischen König Philipp, die auf dem unversehrten Krug zu sehen war. Anschließend zählt sie die Reihe seiner Vorbesitzer auf und berichtet schließlich – immer wieder unterbrochen vom Richter, der diese Geschichten als unerheblich für die Rechtsfindung erachtet – dass der Krug eine Feuersbrunst und einen Sturz aus dem Fenster unversehrt überstanden hat. Dabei ist bemerkenswert, dass seine Funktion als Trinkgefäß im Grunde für seine Wertschätzung durch Frau Marthe keine Rolle spielt. Was ihn für sie so unersetzlich macht, sind die Geschichten, die er einmal in Form der Illustration der offenbar geschichtskundigen Frau Marthe erzählte und die er zum anderen durch seine eigene Vorgeschichte repräsentierte. Während der Krug in diesem Lustspiel nicht im eigentlichen Sinne Indiz bei der Aufklärung der Tat ist, spielt diese Rolle die Perücke des Dorfrichters Adam, die im Spalier an Frau Marthes Haus hängend gefunden wurde. Dieser selbst identifiziert die Perücke als seine eigene. Sie und die Spuren im Schnee verraten den nächtlichen Besuch des Dorfrichters in ihrem Hause und überführen ihn letzten Endes als Täter. Voraussetzung für die wichtige Rolle, die Krug und Perücke in der Geschichte spielen, ist offenbar, dass sie selbst eine Geschichte haben, die mit den Personen der Handlung verbunden ist. Der Krug ist nicht nur Trinkgefäß, sondern stellt für seine Besitzerin ein Bindeglied zwischen ihrer Geschichte und der nationalen Geschichte der Niederlande dar, und die Perücke als Symbol der Würde des Gerichts, repräsentiert durch den Richter in seiner Amtstracht, ist als Eigentum des Richters Adam eng mit seiner Person verbunden. Die Geschichten dieser Dinge sind Geschichten ihrer kontingenten Verbindung mit Personen, und es gibt in der erzählenden Literatur vor 179

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

allem des 19. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele, in denen diese Verbindungen erzähltechnisch genutzt werden. Sie reichen von E.T.A. Hofmanns Der goldene Topf über Conrad Ferdinand Meyers Amulett, Adalbert Stifters Das alte Siegel, Prosper Mérimées La vase étrusque, Nicolai Gogols Der Mantel bis zu Henry James‘ umfangreichem Roman The Golden Bowl. Solche Verbindungen zu Personen und deren Geschichten begründen auch die Wertschätzung von religiösen und historischen Reliquien, die in Kirchen, Museen und Sammlungen aufbewahrt werden. Eine Zeugenrolle spielen Dinge auch in der Archäologie. Auch dort geht es darum, mit ihrer Hilfe eine Vorgeschichte zu rekonstruieren. Die erste, oft schwer zu entscheidende Frage ist, ob es sich überhaupt um ein Artefakt handelt. Dass ein Steinsplitter eine steinzeitliche Pfeilspitze war, erfordert den Nachweis einer Bearbeitung durch Menschen. Ein solcher Fund, eine Pfeilspitze oder eine antike Vase, wird durch die Ausgrabung und die wissenschaftliche Erfassung individuiert. Dabei ist klar, dass derselbe Gegenstand vor langer Zeit bereits eine Geschichte hatte. Allerdings ist ein Anschluss an diese frühere Geschichte im Falle solcher Funde in der Regel nicht mehr möglich, es sei denn, es lasse sich z.B. durch eine Aufschrift eine Verbindung zu einer bekannten Person dieser Zeit herstellen. In Einzelfällen ist, wie beim sogenannten Schatz des Priamus, der Versuch gemacht worden, Fundgegenstände mit einzelnen aus der Literatur jener Zeit bekannten Gegenständen zu identifizieren. Bemerkenswert ist, mit welcher Faszination und Leidenschaft solche Probleme der Authentizität und Identifizierbarkeit von historischen Gegenständen oder – im religiösen Bereich – von Reliquien in der Öffentlichkeit verhandelt werden. Dass ein Interesse an authentischen Zeugnissen historischer Ereignisse schon in der Antike bestand, zeigt die Diskussion um die Echtheit des Schiffes des Theseus.42

42 Die Geschichte von Theseus’ Überwindung des Minotaurus wird berichtet von Plutarch, Vita Thesei, 23, in Große Griechen und Römer. Zürich Artemis 1954 S 60. Dort heißt es: „Das Schiff, auf dem Theseus mit den jungen Menschen ausfuhr und glücklich heimkehrte, den Dreißigruderer, haben die Athener bis zu den Zeiten des Demetrios von Phaleron aufbewahrt, indem sie immer das alte Holz entfernten und neues, festes einzogen und einbauten derart, dass das Schiff den Philosophen als Beispiel für das viel umstrittene Problem des Wachstums diente, indem die einen sagten, es bleibe dasselbe, die anderen das verneinten.“ In der neueren Philosophie wurde das Problem diskutiert von Hobbes, Die Lehre vom Körper. 180

2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

2.3.6 Die Spur als Bindeglied zwischen Ding und Geschichte Was ist es am Ding selbst, das es mit einer Geschichte verbindet? Was auf eine Geschichte verweist, ist notwendigerweise ein kontingentes Merkmal. Ein solches Merkmal wird als Spur bezeichnet. Spuren können Merkmale an Dingen sein, aber auch ein Gegenstand selbst kann durch sein Vorhandensein zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort dort eine Spur erzeugen und hinterlassen. Beispiele dafür sind Fußspuren, Fingerabdrücke, genetische Spuren, Bahnspuren, die mikroskopische Teilchen in Nebel- oder Blasenkammern hinterlassen – aber auch Erinnerungsspuren im Gedächtnis von Personen. Solche Spuren weisen auf individuelle Ereignisse und erlauben in bestimmten Fällen (Fingerabdrücke, genetische Spuren), die Identität der Person zu bestimmen, die die Spur hinterlassen hat. Eine Spur ist ein physisches Merkmal und setzt damit einen Körper voraus, an dem sie sich manifestiert. Was keinen veränderbaren Körper hat, der Spuren aufnehmen kann, kann auch keine eigene Geschichte haben.43 Aber so wenig wie es eine Gegenstandsklasse ‚Individuen‘ gibt, gibt es eine Merkmalsklasse ‚Spuren‘. Dass ein Merkmal eine Spur ist, lässt sich nur im Rahmen möglicher Geschichten deuten, ist also selbst kontingent. Man erkennt die Spur als eine Störung, eine Abweichung vom ‚normalen‘ oder erwarteten Zustand, die als Folge eines bestimmten Geschehens oder einer Handlung deutbar ist. Solche Deutung muss ‚natürliche‘ Veränderung wie altersbedingte Korrosion unterscheiden von willkürlichen Veränderungen durch Bemalung, Bearbeitung oder Beschädigung. Spuren können sichtbar oder unsichtbar und nur mittels empfindlicher wissenschaftlicher Methoden erkennbar sein, wie Fingerabdrücke, genetische oder chemische Spuren an Gegenständen oder Veränderungen in Organismen auf Grund von Gift oder Gewalteinwirkung. Und in manchen Fällen kommt es darauf an, eine falsche Spur zu erkennen, wenn etwa bei der Fälschung eines Kunstgegenstands Alterungsspuren vorgetäuscht werden. Als kontingente Merkmale sind Spuren streng genommen irreversibel. Das bedeutet nicht, dass sie nicht zerstört werden können, sondern dass der status quo ante nicht mehr hergestellt werden kann. Das hat damit zu tun, dass die Veränderungen, durch die Spuren entstehen, physikalisch als irreversible Prozesse zu beschreiben sind. Das gilt für ‚natürliche‘ Alterungsprozesse, aber auch weitgehend für willkürliche Ver43 Gegenstände ohne variable Eigenschaften sind die nomologischen Objekte der Physik, zu denen z.B. die Elementarteilchen gehören, s. u. Abschn. 3.2.4 sowie Kap. 3.3. 181

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

änderungen. Man kann Spuren tilgen durch Reinigen oder Überschreiben und dadurch unkenntlich machen, erzeugt dabei aber neue Spuren. Die Spuren sind Narben, die Ereignisse am Gegenstand hinterlassen haben und an der die Geschichten festgemacht werden können. Der Ort der Spuren am Gegenstand selbst ist meist seine Oberfläche, an ihr findet die Wechselwirkung mit der Umgebung statt und sie stellt sein physisches Gedächtnis dar. Bei Berührungen hinterlassen andere Gegenstände Eindrücke oder Materialreste als Spuren. Ereignisse, die an einem Gegenstand spurlos vorbeigehen, können zwar zu seiner Geschichte gehören – aber dieser Gegenstand kann dann nicht durch diese Geschichte identifiziert werden. Solche ‚glatten‘ Gegenstände, die keinerlei Spuren zeigen, sind schwer zu identifizieren, sie strahlen Anonymität aus. Moderne Produkte sind oft so konstruiert, dass sie – z.B. durch Versiegelung von Oberflächen – möglichst keine Gebrauchsspuren annehmen und damit nicht sichtbar altern (s.u. Kap. 2.6). Einerseits stellen Spuren Störungen einer Ordnung dar, andererseits ermöglichen sie Ordnung und Orientierung.44 Wir erkennen Gegenstände an ihren Spuren, z.B. unser eigenes Auto, noch bevor wir das Nummernschild sehen. Wir können uns in einer Schneelandschaft an den eigenen Spuren orientieren, und oft gegangene Spuren werden zu Wegen. Die Spuren, die wir beim Weggehen aus der eigenen Wohnung hinterlassen, finden wir beim Zurückkommen wieder vor, während uns fremde Spuren dort sehr beunruhigen. Vertrautheit mit unserer Umgebung bedeutet, dass wir in ihr die Spuren der eigenen Handlungen und des Wirkens uns bekannter Menschen wiederfinden. Geschichten und vor allem die Geschichte wird entlang der erhaltenen Spuren erzählt, seien es Gräber, Reste von Bauwerken oder Bildund Schriftdokumente. Die Spuren bilden die Stützpunkte, auf denen die Geschichte aufruht. Die Dinge spielen dabei einerseits die Rolle von Spuren, die auf Ereignisse und Personen hinweisen, andererseits gewinnen sie in diesen Geschichten selbst ihre Individualität und Identität in Form einer Geschichte. Dinge sind also in doppelter Hinsicht mit Geschichten verbunden: als Träger von Spuren haben sie eigene Geschichten, die sie als Individuen ausweisen, und gleichzeitig stellen sie Spuren von Personen oder Ereignissen dar. Ihre eigene Geschichte ist gleichzeitig die Geschichte von Ereignissen und Personen, so wie die Geschichte eines Kunstgegenstands Teil der Geschichten seiner Vorbesitzer und des Künstlers ist. Eben so wie ein Individuum zu sein bedeutet, eine Ge44 Sybille Krämer, „Immanenz und Transzendenz der Spur: Über das epistemologische Doppelleben der Spur“. In diess., Werner Kogge, Gernot Grube, Spur, Spurenlesen als Orientierungstechnik. Frankfurt Suhrkamp 2007. 182

2.3 DINGE UND GESCHICHTEN

schichte zu haben, heißt es auch, Spuren zu haben und Spuren zu hinterlassen, die auf andere Individuen hindeuten. Dass individuelle Dinge auch wesentliche Bedingungen der Identität von Personen sind, wird das folgende Kapitel zeigen.

2.3.7 Dinge in narrativen Kontexten Geschichten lassen sich kennzeichnen als narrative Kontexte, in denen Personen mit Ereignissen und Dingen verbunden werden. Diese Verbindungen bilden nicht nur Binnenstrukturen innerhalb einer Geschichte, sondern sie erstrecken sich auch auf die Erzähler bzw. Verfasser sowie die Hörer bzw. Leser der Geschichte, so dass dadurch ein Netz zwischen der Erzählsituation und davon räumlich und zeitlich getrennten Personen, Gegenständen und Ereignissen aufgespannt wird. Ricoeur beschreibt solche Strukturen als Mimesis (Abschn. 1.2.4), die sich dadurch von Beschreibungen unterscheiden, dass Ereignisse und Personen nicht nur in einen kausalen, sondern in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden. Ereignisse darin erscheinen als Anlässe für das Handeln von Personen, sowie als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Handlungsfolgen. Dinge werden in Geschichten durch ihre Verbindungen mit Personen oder Ereignissen individuiert bzw. identifiziert, und umgekehrt können Dinge in narrativen Kontexten Personen, Ereignisse und andere Dinge identifizieren. Die Prozesse der Individuation bzw. Identifikation, die im ersten Teil als kommunikative Akte gedeutet wurden, können auch als Herstellung von narrativen Kontexten bzw. von Bezügen auf solche verstanden werden. Ausnahmen bilden die Fälle direkter Individuation oder Identifikation, die durch eine deiktische Geste innerhalb der kommunikativen Situation selbst erfolgen. Schon die Nennung eines Namens verweist nach Kripke (Abschn. 1.4.1) auf einen Taufakt und damit auf eine Geschichte. Jede indirekte Identifikation durch Herstellung von Bezügen zu andere Individuen oder zu Bezugssystemen aus anderen Individuen (Abschn. 1.5.3 und 1.5.4) wurde schon an den genannten Stellen als Einbettung in Geschichten charakterisiert. Die Kontexte, auf die man sich dabei bezieht, können solche der Herstellung, des Erwerbs, der Entdeckung oder des Gebrauchs durch bestimmte Personen sein. Sie sind bei Artefakten jedoch weder allein durch die Herstellung bestimmt noch durch ihre Funktion. Schapps These, dass wir auch bei Dingen, wenn wir sie als einzelne fassen wollen, immer auf Geschichten stoßen, ist also grundsätzlich zuzustimmen, auch wenn diese Geschichten nicht in jedem Falle explizit bekannt sind. Das Wiedererkennen eines Dinges heißt allerdings immer, 183

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

eine Geschichte explizit zu machen. Der Zusammenhang zwischen Geschichte und Ding ist durchaus komplex und prekär. Dass Geschichtsverlust immer auch Identitätsverlust bedeutet, ist eine unbestrittene und beinahe schon triviale Wahrheit. Häufig geht der Zusammenhang dadurch verloren, dass ein Ding zerstört wird oder verschwindet, seine Geschichte aber weiter lebt und sich manchmal an andere Dinge heftet. Andererseits kann ein Gegenstand etwa durch Entsorgung aus dem Gesichtskreis von Personen verschwinden und damit zwar weiter existieren, aber seine Geschichte und damit seine Identität verlieren. Diese Tatsachen legen es nahe, Individualität und Identität nicht notwendig mit der realen Existenz ihrer Referenten zu verknüpfen, worauf in Abschn. 1.5.5 schon hingewiesen wurde. Eine Geschichte wird nicht dadurch sinnlos, dass die Dinge und Personen, auf die sie sich bezieht, nicht (mehr) existieren. Andererseits garantiert die intersubjektive Vernetzung dieser narrativen Kontexte und ihre Verknüpfung mit den Akteuren der Kommunikation die Stabilität und Verbindlichkeit der Zuschreibung von Identität. Dadurch erhalten die Identitäten der Dinge und Personen ihre intersubjektive Geltung und eine Gültigkeit über lange Zeiträume hinweg. Die Bindung an Geschichten und Geschichtlichkeit bedeutet also keineswegs eine Subjektivierung von Identität und Individualität.

184

2.4 B E S I T Z U N D E I G E N T U M AL S E I N G R U N D V E R H ÄL T N I S Z U D I N G E N

Das Besitzen meint nie etwas Werkzeughaftes, das einen auf das Gebiet der Anwendung verweist, sondern meint das Objekt von seiner Funktion enthoben und im Verhältnis zum Subjekt.1

2.4.1 Besitz und Eigentum Die wichtigste Beziehung zwischen Dingen und Personen ist das Besitzbzw. Eigentumsverhältnis. Die Begriffe Besitz und Eigentum werden umgangssprachlich oft synonym behandelt, sind aber rechtlich verschieden. Besitz einer Sache bedeutet, über sie die tatsächliche Gewalt zu haben und stellt damit die ‚äußerliche‘ und erkennbare Beziehung zwischen Person und Sache dar. Eigentum ist ein rechtliches Verhältnis und sichert dem Eigentümer das Recht auf freie Verfügung über die Sache und auf deren Herausgabe, falls sie nicht in seinem Besitz ist. Besitz und Eigentum einer Person werden vom Gesetz gegenüber Eingriffen von anderen Personen geschützt, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Beides kann sowohl auf eine Person (Privatbesitz bzw. Privateigentum) als auch auf Gruppen bezogen sein (Gemeinbesitz bzw. Gemeineigentum).

1

Jean Baudrillard, Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt campus 2.Aufl. 2001 S. 110. 185

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Das als Eigentum bzw. Besitz bezeichnete Verhältnis zwischen Gegenständen und Personen wurde natürlich nicht von der Rechtsprechung geschaffen, sondern existierte und existiert in allen Gesellschaften.2 Es ist in der Rechtsgeschichte umstritten, ob die persönliche ‚Habe‘, die Männern und Frauen in einer nicht sesshaften Gesellschaft von Jägern und Sammlern angehört, als Eigentum bezeichnet werden kann.3 Dagegen spricht, dass es in diesen Gesellschaften keine festen Regeln über Veräußerung oder Vererbung dieser Dinge gibt, wie sie für das Eigentum unabdingbar sind. Unstreitig ist jedoch, dass auch in solchen Gesellschaften die individuellen Gegenstände der persönlichen Habe einer bestimmten Person fest zugeordnet sind, und deshalb sprechen eine Reihe von Autoren auch hier von Eigentum, wenn auch in einem sehr weiten Sinne. Es gibt unter diesen Bedingungen noch keine klare Differenz zwischen Besitz und Eigentum, und damit bleibt das Eigentum in diesem weiten Sinne noch ein äußerliches, d.h. sichtbares Verhältnis und ist identisch mit dem Besitz der tatsächlichen Gewalt über die Sache. Ein entwickelter, rechtlich relevanter Begriff von Eigentum ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass er der Sache eine Beziehung zu einer Person zuschreibt, auch wenn die Sache sich nicht in der Gewalt dieser Person befindet und von jemand anderem besessen wird. In bürgerlichen Gesellschaften ist privates Eigentum das zentrale Ordnungselement der sozialen und ökonomischen Struktur, das als unabdingbare Voraussetzung individueller Freiheit angesehen wird. Seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist der Schutz des persönlichen Eigentums deshalb ein wesentliches Merkmal moderner bürgerlicher Verfassungen. Aber auch in vorstaatlichen Gesellschaften ohne kodifiziertes Recht gibt es individuellen Besitz und persönliches Eigentum,4 und es spielt im täglichen Umgang zwischen Menschen auch dort eine Rolle, wo es – etwa innerhalb der Familie oder beim Spiel unter Kindern – von der Rechtsprechung noch gar nicht erfasst wird. Schon in diesen rechtsfreien Räumen können Eigentum und Besitz auseinander treten, wenn sich eine Person einer Sache bemächtigt, die im Besitz einer anderen Person war und diese die Sache vom neuen Besitzer als ein ihr gehöriges ‚Eigentum‘ zurückfordert. Körperliche Dinge der verschiedensten Art können Eigentum von irgend jemand sein. Von Artefakten etwa nehmen wir generell an, dass sie jemandem gehören oder – im Falle von ‚Schrott‘ – wenigstens jemand 2 3 4

Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften. Frankfurt Suhrkamp 1985 S. 95. Zu dieser Diskussion siehe Ebd. S. 95 ff. Ebd.

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2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

gehört haben. Allerdings gibt es nicht nur Eigentum an beweglichen und toten Dingen, sondern auch an Grund und Boden, an Tieren, und in vielen Gesellschaften gab es früher Eigentum an Menschen. Da Dinge, Orte, Tiere und Menschen Individuen sind, stellt sich die Frage, ob die Eigenschaft eines Gegenstands, Eigentum sein zu können, etwas mit seiner Individualität zu tun hat. Könnte man etwa sagen, dass nur individuelle Gegenstände Eigentum von jemand sein können, oder dass alle individuellen Gegenstände Eigentum sein können? In dieser allgemeinen Form muss man diese Fragen verneinen, denn es gibt einerseits Eigentum an nicht-individuellen Gegenständen, wie z.B. Geld oder Bankguthaben oder Patenten, und andererseits gibt es Klassen von Individuen wie etwa Personen, die heute ausdrücklich durch Gesetze davon ausgenommen sind, Eigentum von irgend jemand sein zu können. Trotzdem wird in den folgenden Abschnitten die These vertreten, dass Eigentum und Besitz von Dingen etwas mit deren Individualität zu tun hat. Im ersten Abschnitt will ich auf die rechtlichen Aspekte des Eigentums an Dingen, das Sachenrecht, eingehen. Im zweiten Abschnitt folgt eine Diskussion naturrechtlicher Positionen zum Privateigentum und der letzte Abschnitt enthält einige Überlegungen zur Bedeutung des persönlichen Besitzes für die soziale Rolle und die Identität einer Person.

2.4.2 Sachenrecht Besitz und Eigentum an Sachen wird im deutschen Recht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)5 geregelt, dessen dritter Teil den Titel Sachenrecht trägt. Ich werde mich in diesem Abschnitt nur auf das deutsche Recht beziehen, weil es von anderen Rechtssystemen in der begrifflichen Differenzierung zwischen Besitz und Eigentum teilweise beträchtlich abweicht. Der Begriff der Sache wird allerdings im § 90 im ersten Teil (Allgemeiner Teil) erläutert: „Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände.“ Das sind also vor allem Gegenstände, die räumlich lokalisierbar und eingrenzbar sind. Dazu gehören einerseits Grund und Boden in festgelegten Grenzen sowie Gebäude darauf, andererseits feste Körper und Flüssigkeiten oder Gase, wenn sie sich in Behältern befinden. Im folgenden § 90a heißt es, dass Tiere keine Sachen sind und durch besondere Gesetze geschützt sind. Allerdings, so heißt es dort weiter, sind für sie die für Sachen gültigen Vorschriften anzuwen-

5

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Schönfelder, Deutsche Gesetze, München Beck 2005. 187

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

den, „soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“ Im Strafrecht werden Tiere dagegen als Sachen behandelt. Die Sachen werden eingeteilt in unbewegliche (Immobilien, Grundstücke) und bewegliche Sachen (Mobiliareigentum), das in der juristischen Terminologie auch als ‚Fahrnis‘ bezeichnet wird. Eine für diese Untersuchung bedeutsame Differenzierung der beweglichen Sachen bringt § 91: „Vertretbare Sachen im Sinne des Gesetzes sind bewegliche Sachen, die im Verkehr nach Zahl, Maß oder Gewicht bestimmt zu werden pflegen.“ Dazu gehören Geld, Wertpapiere oder auch neu hergestellte Produkte einer Serienfertigung. Im Falle eines Rechts auf solche Sachen kommt es nicht auf deren Individualität, sondern nur auf die Anzahl der Exemplare oder auf die Menge an. Ferner gibt es noch teilbare Sachen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass bei ihrer Teilung keine Wertminderung eintritt, wie es z.B. bei einem großen Grundstück im Allgemeinen der Fall ist. Aber auch vertretbare Sachen sind natürlich generell teilbar, wenn sie in der entsprechenden Menge vorliegen. Und schließlich definiert der § 92 noch: „(1) Verbrauchbare Sachen im Sinne des Gesetzes sind bewegliche Sachen, deren bestimmungsgemäßer Gebrauch in dem Verbrauch oder in der Veräußerung besteht.“ Sachen im Sinne dieser Definitionen sind also alle räumlich eingrenzbar. Um als Sachen gelten zu können, müssen Stoffe oder Mengen abgegrenzt und damit individuiert sein. In einem Lehrbuch des Sachenrechts ist zu lesen: „Die dem BGB zugrundeliegende Sachvorstellung ist letztlich nur vom Eigentumsgedanken her erklärbar. Objekt des Sachenrechts ist nämlich nur derjenige Gegenstand, dessen Gebrauch grundsätzlich unter Ausschließung anderer denkbar ist. Das Zugehörigkeitsmoment spiegelt sich im Sachbegriff wieder: ‚Sachen haben wir nur dort vor uns, wo ein Mensch sagen kann oder sagen könnte: dies ist mein und nur mein, dies ist zu meinem persönlichen Gebrauch vorbehalten‘.“6 Insbesondere stellt der Besitz die sichtbare Seite der Zugehörigkeit eine Sache zu einer Person dar. Er muss nicht durch einen Rechtsvorgang zustande kommen, sondern wird „durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache erworben.“7 Auch der Dieb ist (unrechtmäßiger) Besitzer der gestohlenen Uhr. Während Besitz im Gesetz als Sachgewalt erklärt wird, fehlt eine direkte Definition von Eigentum. In der Rechtswissenschaft wird Eigentum durch die Begriffe der Zugehörigkeit und der unmittelbaren

6 7

Hermann Eichler, Institutionen des Sachenrechts. Berlin Duncker und Humblot 1954 Bd.1 S. 60. Bürgerliches Gesetzbuch BGB § 854.

188

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

rechtlichen Herrschaft über die Sache erläutert.8 Besitz bezeichnet die tatsächliche Herrschaft über eine Sache, Eigentum die rechtmäßige Zugehörigkeit. Zugehörigkeit bedeutet die enge und ausschließende Beziehung der Sache zu der Person, der sie zu eigen ist. „Nach der allgemeinen Anschauung bedeutet Eigentum, dass jemandem ein Gegenstand ‚eigen‘ ist. Das Wort ‚eigen‘ bringt zum Ausdruck, dass etwas mit einer Person derart eng verknüpft ist, dass es ihr angehört.“9 Das Sachenrecht wird auch als dingliches Recht bezeichnet. Für das dingliche Recht gelten bestimmte Grundsätze, z.B. ‚Spezialität‘ und ‚Publizität‘. Spezialität „bedeutet, dass dingliche Rechte nur an bestimmten einzelnen Sachen möglich sind, sich also auf sie beziehen müssen.“10 Eine Sache muss also individuell bestimmt sein, wenn ein Recht an ihr in Anspruch genommen werden soll oder wenn sie rechtskräftig veräußert oder erworben werden soll. ‚Publizität‘ besagt, dass die dinglichen Rechte sichtbar sein oder kundbar gemacht werden müssen. Dazu heißt es in dem Lehrbuch des Sachenrechts von Fritz Baur: „Schon nach der Gestaltung der tatsächlichen Lebensverhältnisse sind Sachenrechte vielfach nach außen sichtbar: Der Eigentümer eines Kraftwagens wird ihn häufig selbst fahren, ihn also ‚besitzen‘; wer auf einem Grundstück ein Haus errichtet, wird meist Eigentümer dieses Grundstücks sein. Man kann also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vom Besitz – als tatsächlicher Innehabung – auf das Eigentum schließen. Auf dieser Lebenserfahrung baut das Gesetz auf, variiert und typisiert sie allerdings: Der Besitz ist Publizitätsmittel nur bei beweglichen Sachen, bei Grundstücken tritt an seine Stelle eine amtliche Aufzeichnung der Grundstücke, das Grundbuch.“11 Die Publizität hat nach Baur einmal die Funktion der ‚Übertragungswirkung‘, nach der bei Rechtsgeschäften im Sachenrecht im Falle von beweglichen Sachen eine Übergabe der Sache, im Falle eines Grundstücks die Eintragung der bnderung im Grundbuch stattfinden muss. Bei der Übergabe einer beweglichen Sache ist es nach § 929 BGB erforderlich, dass „der Eigentümer die Sache dem Erwerber übergibt und beide darüber einig sind, dass das Eigentum übergehen soll.“ Ferner hat die Publizität eine ‚Vermutungswirkung‘, nach der im Besitzer einer Sache bzw. in der im Grundbuch eingetragenen Person auch der Eigentümer vermutet werden kann (§ 1006 BGB). Je enger der räumliche Kontakt einer Person zu einer Sache ist, desto stärker ist im Allgemeinen die 8 Eichler, a.a.O. S. 138 f. 9 Ebd. S. 139. 10 Fritz Baur, Lehrbuch des Sachenrechts. 13. Aufl. München Beck 1985 S. 31. 11 Ebd. S. 29. 189

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Vermutungswirkung. Von der Kleidung nehmen wir selbstverständlich an, dass sie Eigentum ihres Besitzers, d.h. Trägers ist, beim Auto ist es schon nicht mehr so selbstverständlich, und beim Besitzer einer Wohnung ist die Frage völlig offen. Spezialität und Publizität verweisen also auf eine lebensweltliche Basis, in der bestimmte Beziehungen zwischen individuellen Sachen und Personen manifest und sichtbar sind und auf die sich Rechte beziehen und in die sie eingreifen können. Es ist interessant, dass in der Vermutungswirkung eine grundsätzliche Unbestimmtheit in der Frage nach dem Eigentum an einer Sache sichtbar wird. Dieser Unbestimmtheit soll die Forderung der Spezialität entgegenwirken, und in der Praxis geschieht dies durch Einrichtungen wie Grundbuch, Kraftfahrzeugbrief, Kaufverträge oder Zertifikate mit Fabrikationsnummern der erworbenen Geräte. Dennoch kann im Einzelfall die Feststellung der Eigentumsfrage tatsächlich letzten Endes auf die Vermutung angewiesen sein und eine solche Annahme wird vom Gesetz ausdrücklich gerechtfertigt, wenn sie in gutem Glauben erfolgte (§ 932 BGB). Die Frage nach dem wahren Eigentümer einer Sache ist deshalb so wichtig, weil nur das Eigentum einen absoluten gesetzlichen Schutz genießt. Zwar ist auch der Besitz bis zu einem gewissen Grad geschützt, indem sie dem Besitzer bei einem Entzug der Sache durch verbotene Eigenmacht das Recht auf Selbsthilfe (§ 859 BGB) und einen Anspruch auf seinen Besitz (§ 861 BGB) einräumt, der allerdings nach einem Jahr erlischt, wenn keine Klage eingereicht wird. Besitz wird auch vererbt, aber andererseits erlischt der Besitz an einer Sache, wenn der Besitzer die tatsächliche Gewalt über sie aufgibt oder dauerhaft verliert (§ 856 BGB). Im Besitz spiegelt sich also unabhängig von der rechtlichen Lage die tatsächliche Herrschaft über die Sachen wieder. Über eine Sache wirklich frei verfügen kann jedoch nur der Eigentümer, und nur der Eigentümer hat das Recht, jeden anderen von der Verfügung über sein Eigentum auszuschließen. Die Formulierung des zentralen, das Eigentum betreffenden § 903 des BGB lautet: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen. Der Eigentümer eines Tieres hat bei der Ausübung seiner Befugnisse die besonderen Vorschriften zum Schutz der Tiere zu beachten.“

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2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

Die Institution des Eigentums ist bekanntlich auch durch das Grundgesetz (GG)12 garantiert und geschützt, dessen Artikel 14 lautet: (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

Bei der Eigentumsgarantie geht es also primär um eine Bestandsgarantie und nicht um eine Wertgarantie des Eigentums. Geschützt ist tatsächlich die konkrete individuelle Sache, nicht deren Wert. Nur in dem Falle, wo die konkrete Sache z.B. durch fremde Schuld beschädigt oder im Interesse der Allgemeinheit enteignet wird, tritt an die Stelle der Bestandsgarantie die Wertgarantie, d.h. der Eigentümer muss für die enteignete Sache unter Berücksichtigung ihres Wertes entschädigt werden. Bemerkenswert an der Formulierung des § 903 des BGB ist, dass sie über den Umgang des Eigentümers mit seinem Eigentum gerade keine Vorschriften macht, sondern diesem zugesteht, dass er damit „nach Belieben verfahren“ kann. Die darin aufgestellte Norm betrifft also nicht die Sache, sondern ausschließlich das Verhältnis Eigentümer/Nichteigentümer, indem letzterem jede Einwirkung auf fremdes Eigentum untersagt wird. Die Norm kann sich schon deshalb gar nicht auf die das Eigentum bildenden Sachen beziehen, weil diese ja im Gebrauch bzw. Verbrauch jederzeit verschwinden oder sich verändern können. Der Eigentümer kann sein Eigentum nach Belieben gebrauchen, verbrauchen, verändern, bearbeiten oder veräußern. Ferner unterliegt es Veränderungen, die teils durch willkürliche oder unwillkürliche Einwirkungen von Personen, teils durch natürliche Prozesse wie Fäulnis, Korrosion etc entstehen. Nur beim Eigentum an Tieren besteht ein Schutz dieses besonderen Eigentums durch das Tierschutzgesetz. Dass in der Praxis natürlich einem beliebigen Umgang mit dem Eigentum an einem Haus tatsächlich eine Vielzahl von Gesetzen und von Rechten Dritter entgegenstehen, erfährt jeder Hausbesitzer, wenn er einen Umbau vornehmen will. Dennoch ist die primäre Absicht des Ge12 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in Sartorius, Verfassungs- und Verwaltungsgesetze. München Beck 2005. 191

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

setzgebers, dem Eigentümer einen möglichst großen Freiraum für den Umgang mit seinem Eigentum zur Verfügung zu stellen. Trotz der Bezeichnungen „Sachenrecht“ oder „dingliches Recht“ handelt es sich also, wie immer wieder von Rechtswissenschaftlern betont wird, beim sogenannten Schutz des Eigentums nicht um die Regelung eines Verhältnisses zwischen Personen und Sachen, sondern ausschließlich um ein Verhältnis zwischen Personen. „Da das Recht als Gesellschaftsordnung das Verhalten von Menschen in ihrer – unmittelbaren oder mittelbaren – Beziehung zu anderen Menschen regelt, kann auch das Eigentum rechtlich nur in einem bestimmten Verhältnis eines Menschen zu anderen Menschen bestehen, nämlich in deren Pflicht, jenen in seiner Verfügung über eine bestimmte Sache nicht zu hindern und diese Verfügung auch sonstwie nicht zu beeinträchtigen. Was man als ausschließliche Herrschaft einer Person über eine Sache bezeichnet, ist der durch die Rechtsordnung statuierte Ausschluss aller anderen von der Verfügung über die Sache.“13 Offenbar ist diese Freiheit im Umgang mit dem Eigentum eine Vorbedingung dafür, das eigene Leben überhaupt selbst gestalten zu können. Das Eigentum schafft für den Menschen einen individuellen Raum, in dem er sich frei von Einwirkungen Dritter entfalten kann. Es gibt ihm die rechtliche Legitimation und Sicherheit für den Besitz an den Dingen, die er für sein Leben braucht – verbraucht in Form von Nahrung und Kleidung und gebraucht in Form von Wohnung, Möbeln, Werkzeugen, Geräten. Zudem bilden die Gegenstände seines Eigentums eine geschützte Sphäre der Intimität oder Privatheit, die wir als integralen Bestandteil seiner Person empfinden. Auf diesen Aspekt von Eigentum bzw. Besitz komme ich in Abschnitt 2.4.4 zurück. Eigentum stellt also rechtlich ein System sozialer Regeln zwischen Personen in Bezug auf eine Sache dar. Das Publizitätsprinzip fordert, dass der Bezug auf die Sache sich im öffentlichen Raum darstellt, und zwar im Wesentlichen durch den Besitz, also die Herrschaft über die Sache. Strukturell hat demnach der rechtliche Begriff des Eigentums die13 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.Aufl. Wien Deuticke 1960. S.15/136. Kelsen unterstellt der Rede vom Eigentum als einer Herrschaft über Sachen sogar eine verschleiernde Funktion: „Wenn man trotzdem an der traditionellen Definition des Eigentums als ausschließlicher Herrschaft einer Person über eine Sache festhält und dabei die rechtlich wesentliche Beziehung ignoriert, so offenbar darum, weil die Bestimmung des Eigentums als Verhältnis zwischen Person und Sache dessen sozialökonomisch entscheidende Funktion verhüllt: eine Funktion, die – sofern es sich um Eigentum an Produktionsmitteln handelt – von der sozialistischen Theorie – ob mit Recht oder Unrecht, bleibe hier dahingestellt – als ‚Ausbeutung‘ bezeichnet wird, ... “ ebd. S. 136. 192

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

selbe Form wie der Begriff der Individualität, nämlich die einer Triangulation (Abschn. 1.5.7): Personen stellen einen Konsens her in Bezug auf eine Sache. Bezüglich der Frage nach dem besonderen Wesen der Beziehung zwischen Sache und Eigentümer lässt uns die Rechtswissenschaft allerdings im Stich. Das liegt daran, dass die moderne, vom Positivismus geprägte Rechtswissenschaft Fragen nach der inhaltlichen Begründung oder Legitimation bestimmter Grundrechte ablehnt, sofern diese über die Frage nach der Legitimität des Rechtsschöpfungsverfahrens hinausgehen. In der Tradition des Naturrechtsdenkens werden solche Fragen jedoch sehr wohl behandelt. Und hier hat die Frage nach der Wurzel eines Rechts auf Eigentum – Privat- oder Gemeineigentum – von jeher eine große Rolle gespielt. Darauf geht der folgende Abschnitt ein.

2.4.3 Gibt es ein Naturrecht an Privateigentum? Im Gegensatz zum Rechtspositivismus stellt das Naturrecht explizit die Frage, welche Rolle das Eigentum für das Zusammenleben der Menschen spielen kann und soll und wie diese Rolle begründet werden kann. Es geht dabei nicht um das Wie und auch nicht um das Was des Eigentums, sondern im Wesentlichen um das Warum. Warum haben wir Privateigentum und wozu ist es erforderlich? Die Frage hat sowohl einen Entstehungs- als auch einen Begründungs- bzw. Rechtfertigungsaspekt. Beide Aspekte sind in den meisten Eigentumstheorien nicht wirklich voneinander getrennt. Der Rechtfertigungsaspekt betrifft natürlich vor allem das Problem der gerechten Verteilung und die Frage nach den Schranken privaten Eigentums, also die Frage nach dem Ausgleich der Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft. Hier soll dagegen das Augenmerk mehr auf die Frage gerichtet werden, was diese Theorien über das Verhältnis zwischen der Person und ihrem Eigentum aussagen und welche Funktion dieses Verhältnis für den Einzelnen und für die Gemeinschaft hat. Ich stütze mich in diesem Abschnitt vor allem auf die Arbeit von Manfred Brocker14 über die Geschichte der naturrechtlichen Eigentumstheorien. Brockers Thema ist der Übergang von den älteren Okkupationstheorie des Eigentums, die vom Mittelalter bis ins beginnende 18. Jahrhundert in verschiedenen Varianten den Naturrechts-Diskurs beherrschte, zu der von Locke erstmals formulierten und bis heute einflussreichen Arbeitstheorie des Eigentums. Vor allem die Arbeitstheorie

14 Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie. (AUE) Darmstadt, Wiss. Buchges. 1992. 193

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

liefert wichtige Gesichtspunkte zu der Frage nach dem besonderen Verhältnis zwischen der Person und ihrem Eigentum und damit auch Hinweise zu einem begrifflichen Zusammenhang zwischen Eigentum und Individualität.

2.4.3.1 Die Okkupationstheorie Für die Okkupationstheorie ist das Eigentum durch einen Akt der „physischen Bemächtigung und Aneignung (occupatio) ursprünglich herrenloser Güter begründet.“15 Schon bei Cicero findet sich die Vorstellung, dass die ursprüngliche Form des Eigentums das Gemeineigentum war, und dass die Entstehung von Privateigentum Resultat einer zivilisatorischen Entwicklung ist und sich mit den rechtlichen Regeln des Eigentumserwerbs herausgebildet hat.16 Diese Auffassung beherrschte in unterschiedlichen Ausformungen das Mittelalter und die frühe Neuzeit. Für die Kirchenväter war die Gütergemeinschaft, wie sie in den Klöstern beispielhaft vorgelebt werden sollte, die einzige gerechte Form des Gebrauchs der irdischen Güter, während Privateigentum eine Folge des Sündenfalls und damit mit dem Makel des Unrechts behaftet war. Bei Thomas von Aquin erfährt das Privateigentum erstmals eine gewisse Aufwertung und Rechtfertigung. Auch für ihn ist zwar unbestreitbar, dass für den Menschen im Zustand der Unschuld die Gütergemeinschaft gelte, während für den durch den Sündenfall ‚gefallenen‘ Menschen aus verschiedenen Gründen das Privateigentum unumgänglich sei. Die Gründe, die für Thomas das Privateigentum legitimieren, liegen letztlich in der Unvollkommenheit des Menschen. Nur privates Eigentum wird von den Menschen mit der erforderlichen Sorgfalt behandelt, und nur mit Hilfe des Privateigentums und der damit gegebenen gesellschaftlichen Institutionen ist ein geregelter und friedlicher Umgang der Menschen untereinander möglich. Privateigentum ist deshalb nach Thomas für das Zusammenleben der Menschen eine notwendige Einrichtung. Gleichzeitig verbindet sich damit jedoch eine starke soziale Bindung des Eigentums: der Reiche hat die Pflicht, seinen Überfluss an Bedürftige zu verteilen.17 Dieser positiven Bewertung des Privateigentums wurde von Seiten der franziskanisch orientierten Theologen naturgemäß widersprochen. Sie sprachen dem Privateigentum jede theologische Legitimation ab und sahen darin nur das Resultat einer weltlichen Setzung, die willkürlich durch Fürsten erfunden war. Für sie galt das besitzlose Leben in Armut 15 Brocker, AUE S. 34. 16 Ebd. S. 31. 17 Ebd. S. 41-45. 194

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

als das einzig gottgefällige Leben.18 In umgekehrter Richtung argumentierte dagegen der Protestantismus: Die Tatsache, dass der Dekalog Morden, Ehebrechen und Stehlen in je eigenen Geboten verbietet und darüber hinaus im 10. Gebot das Begehren fremden Eigentums verbietet, war für die protestantischen Theologen der Beweis dafür, dass Privateigentum der göttlichen Rechtsordnung entspreche. Dieses Argument war sowohl bei der Ablehnung der klösterlichen Lebensform als auch bei der Verfolgung der sich bald herausbildenden protestantischen Sekten mit kommunistischer Gütergemeinschaft (z.B. der Wiedertäufer) von großer Bedeutung. Hugo Grotius hat mit seinem 1646 erschienenen Werk De jure belli et pacis libri tres die erste nicht auf theologische, sondern auf Vernunftprinzipien bauende Theorie des Naturrechts formuliert. Grotius geht aus von einer ursprünglichen Übereignung (translatio) oder Schenkung (donatio) der irdischen Güter durch Gott an die Menschen, die es diesen erlaubt, sich ihrer zu bedienen. Diese Schenkung begründet eine primordiale Gütergemeinschaft, in der jeder Einzelne bewegliche sowie unbewegliche Sachen (also Grund und Boden) nach eigenen Bedürfnissen gebrauchen kann. Nach dem Gebrauch erlischt jedoch der Anspruch auf sie und sie stehen wieder anderen zu deren Gebrauch bzw. Verbrauch zur Verfügung. Im Laufe des Zivilisationsprozesses (durch die Entstehung von „mancherlei Künsten“ und durch die „Verfeinerung der Lebensart“) stellte es sich jedoch als vorteilhaft heraus, die ursprünglich gemeinsam genutzten Gegenstände einzelnen als persönliches Eigentum zuzuordnen. Privateigentum stellte sich demnach nicht als eine naturgegebene oder geschichtlich unumgängliche Einrichtung, sondern als eine vom Menschen gewollte Antwort auf die – ebenfalls von ihm gewollten – Veränderungen seiner Lebensbedingungen dar.19 In der weiteren Entwicklung dieser Theorie durch Pufendorf und Hobbes wurde vor allem die Bewertung der Idee einer ursprünglichen und gottgewollten Gütergemeinschaft Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, die in enger Beziehung zu den sozialen und politischen Veränderungen vor allem in England standen. Diese Entwicklung ist in der zitierten Arbeit von Brocker ausführlich dargestellt. Gemeinsam ist diesen Vorstellungen, dass ein ‚Naturzustand‘ des Menschen ohne Privateigentum einem durch Konvention entstandenen ‚zivilisierten Zustand‘ gegenübergestellt wird, in dem Privateigentum existiert. Wenn in den verschiedenen Ausprägungen der Okkupationstheorien Gemeineigentum vorkommt, dann wird dies oft als von Gott oder der Natur dem Men18 Ebd. S. 46. 19 Ebd. S. 66 ff. 195

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

schen ursprünglich bestimmte Form des Umgangs mit den für sein Leben erforderlichen Gütern verstanden. Von Hobbes allerdings wird der Naturzustand negativ als ein gnadenloser Krieg aller gegen alle um die Güter der Natur gezeichnet, in dem alle das gleiche Recht haben, alles an sich zu nehmen unabhängig davon, ob es herrenlos oder schon in fremdem Besitz ist. Das Privateigentum wird dagegen – bis auf die Ausnahme des protestantischen Naturrechts – als eine durch den Menschen in die Welt gebrachte Einrichtung interpretiert. Sie wird entweder durch vertragliche Übereinkünfte unter den Menschen geschaffen oder durch die Autorität des Staates (Hobbes’ Leviathan) eingesetzt und garantiert.

2.4.3.2 Die Arbeitstheorie Eine ganz neue Begründung der Entstehung und des Rechts auf Privateigentum liefert die sogenannte Arbeitstheorie des Eigentums, die John Locke in seinem Second Treatise of Government 1690 erstmals formulierte.20 Auch bei Locke gibt es einen Naturzustand des Menschen, in dem dieser unter anderen Menschen in einer Gütergemeinschaft lebt, der ihm aber nicht als paradiesischer oder gottgewollter Idealzustand gilt. Es ist vielmehr der Zustand des unkultivierten Wilden, der sich das göttliche Gebot entzieht, sich die Erde anzueignen und untertan zu machen. Aber es gibt ein Naturrecht an Privateigentum, das sich der Mensch durch seine Arbeit aneignen muss. Lockes Konzept des Menschen als soziales Wesen unterscheidet sich radikal von dem von Hobbes. Für ihn ist der Mensch im Naturzustand nicht wie bei Hobbes ein asoziales Wesen, sondern er besitzt die Freiheit, „über seine Person und seinen Besitz zu verfügen.“21 Freiheit im Naturzustand bedeutet nicht Willkür und Gesetzlosigkeit. „Untersteht ein Mensch dem Naturgesetz? Was macht ihn frei unter diesem Gesetz? Was gab ihm die Erlaubnis, innerhalb der Grenzen dieses Gesetzes nach dem eigenen Willen frei über sein Eigentum zu verfügen? Meine Antwort: Sein Zustand der Reife, in dem er, wie man annehmen darf, in der Lage ist, jenes Gesetz zu verstehen, um seine Handlungen innerhalb seiner Grenzen 22 zu halten.“

Wer diese Grenzen missachtet, indem er etwa „versucht, einen anderen Menschen in seine absolute Gewalt zu bringen, versetzt sich diesem Menschen gegenüber in den Kriegszustand, denn sein Handeln muss als 20 Brocker, AUE S.137 ff. 21 John Locke, Über die Regierung (UDR), Stuttgart Reclam 1974, § 6 S. 6. 22 Ebd. § 59 S. 44. 196

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

die Erklärung eines Anschlags auf sein Leben aufgefasst werden.“23. Naturzustand und Kriegszustand bilden für Locke im Gegensatz zu Hobbes äußerste Gegensätze. „Das Zusammenleben der Menschen nach ihrer Vernunft, ohne einen gemeinsamen Oberherrn auf Erden mit der Macht, ihnen Recht zu sprechen, bedeutet den reinen Naturzustand. Gewalt aber, oder die erklärte Absicht, gegen die Person eines anderen Gewalt zu gebrauchen, bedeutet, wo es keinen gemeinsamen Oberherrn gibt auf Erden, den man um Hilfe anrufen könnte, den Kriegs24 zustand.“

Was die Menschen dazu bewegt, politische Ordnungen in Form von Staaten zu bilden, ist das Bedürfnis nach Sicherheit für ihre Person und ihren Besitz, also ihre Freiheit, die im Naturzustand durch Übergriffe anderer Menschen gefährdet ist, „da der größere Teil von ihnen sich nicht streng an Billigkeit und Gerechtigkeit hält“. Deshalb ist der Mensch „bereit, sich zu einer Gesellschaft mit anderen zu verbinden, ... zur gegenseitigen Erhaltung ihres Lebens, ihrer Freiheiten und Güter, was ich ganz allgemein Eigentum nenne“.25 Die Trias „Leben, Freiheiten und Güter“ (life, liberties, estates) fasst Locke unter der Bezeichnung Eigentum („property“) zusammen. Die drei Rechtsgüter Leben, Freiheit und Besitz bedingen sich also nach Locke gegenseitig, Besitz ist ohne die Freiheit, damit nach eigenem Ermessen zu verfahren, gar nicht denkbar, und Freiheit ohne Besitz ist abstrakt. Sie bilden die Basis eines Lebens in der menschlichen Gesellschaft.26 Schon der Diebstahl wird von Locke deshalb als Anschlag gegen die Freiheit eines Menschen und damit als Versuch verstanden, ihn in seine Gewalt zu bringen, und rechtfertigt die Tötung des Diebes.27 Was gibt nun einem einzelnen Menschen das Recht, einen bestimmten Gegenstand als sein persönliches Eigentum zu beanspruchen, wenn Gott doch die Erde den Menschen gemeinsam gegeben hat? Locke beantwortet diese Frage ohne dafür Verträge der Menschen untereinan-

23 24 25 26

Ebd. § 17 S. 15. Ebd. § 19 S. 16. Ebd. § 123 S. 96. Dieser sehr weite Begriff von Eigentum macht auch verständlich, dass Jefferson in dem Franklinschen und von Locke inspirierten Entwurf der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung den Begriff ‚property‘ ersetzt hat durch ‚pursuit of happiness‘. S. Udo Margedant, Matthias Zimmer, Eigentum und Freiheit, Eigentumstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Idstein Schulz-Kirchner 1993, S. 86 Anm. 27 Locke, UDR § 18 S. 16. 197

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

der vorauszusetzen. Er geht davon aus, dass der Mensch ein Eigentum an der eigenen Person habe: „Wenn die Erde und alle niederen Lebewesen wohl allen Menschen gemeinsam eignen, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Über seine Person hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände, so können wir sagen, sind im eigentlichen Sinne sein. Was immer er also jenem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und hat ihm etwas hinzugefügt, was sein eigen ist – es folglich zu seinem Ei28 gentum gemacht.“

Schon die Tätigkeit des Aufsammelns von Früchten entfernt diese aus dem Naturzustand und begründet damit das Eigentum an ihnen, und ebenso gehört das Wild dem Indianer, der es gejagt hat. Vor allem aber erwirbt man Eigentum an Grund und Boden durch seine Kultivierung. Die Entstehung von Privatbesitz folgt damit notwendig aus den Bedingungen menschlichen Lebens, die darin bestehen, vorgefundenes Material zu bearbeiten.29 Allerdings entsteht dieses ursprüngliche Recht auf Eigentum nur an den Dingen und dem Boden, den man wirklich bearbeitet bzw. gebraucht oder verbraucht. Ungenutztes Ackerland oder Früchte, die nicht verbraucht werden und dadurch verderben, können nicht als Eigentum beansprucht werden. Diese „Eigentumsregel, nach der jeder so viel haben sollte, wie er nutzen kann“,30 garantiert jedem ein Leben ohne Not und würde nach Locke auch heute noch gelten, wenn es nicht die Erfindung des Geldes gegeben hätte. Diese Erfindung ermöglichte es, durch Arbeit auch Eigentum über den persönlichen Bedarf und möglichen Verbrauch hinaus zu schaffen und durch Tausch bzw. Verkauf und Kauf gegen andere Güter einzutauschen. Das führte zu einer Steigerung der Bequemlichkeit des Lebens, indem die natürlichen Reichtümer eines Landes durch die Arbeit veredelt wurden. Wo dies nicht geschieht, wohnt, nährt und kleidet sich ein König schlechter als ein Tagelöhner in England, wie Locke bemerkt.31 Ich will an dieser Stelle nicht auf die ethischen und sozialen Probleme und die Widersprüche eingehen, die sich aus dieser Auffassung offensichtlich ergeben. Sie sind bei Brocker ausführlich dargestellt.32 Auch die hier sich abzeichnende Arbeitswerttheorie, nach der es „die Arbeit

28 29 30 31 32

Ebd. § 27 S. 22. Ebd. § 35 S. 27. Ebd. § 36 S. 29. Ebd. § 41 S. 33. Brocker, AUE. S. 265 ff.

198

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

[ist], die den unterschiedlichen Wert der Dinge ausmacht“,33 liegt außerhalb des Themas dieser Arbeit. Entscheidend ist, dass Locke in der menschlichen Arbeit die eigentliche und ursprüngliche Legitimation des Privateigentums an individuellen Gegenständen sieht. Dieses Recht ist damit weder auf eine göttliche Ermächtigung noch auf eine Vereinbarung unter den Menschen gegründet, sondern es wird vom Menschen geschaffen durch seine Tätigkeit an den betreffenden Gegenständen und durch die Bearbeitung des Bodens. Es ist Naturrecht, denn es ist nicht in einer Konvention, etwa einem Vertrag, begründet, und es stellt eine ausschließliche Bindung des Gegenstandes an den Eigentümer her. Im Prozess der Arbeit wird dem Gegenstand vom Bearbeiter etwas zugemischt oder zugefügt, das ihn aus dem gemeinsamen oder allgemeinen Besitz heraushebt und in die Individualsphäre des Bearbeiters einbezieht. Die private Aneignung einer Sache durch Bearbeitung ist damit auch als ein Prozess der Individuation zu verstehen. Durch die Bearbeitung wird die Sache an den Bearbeiter gebunden, individuell geprägt und unvertretbar. Die Gegenstände der Natur bilden für den Menschen nur das allgemeine Material, sie sind vertretbarer Stoff, der durch menschliche Tätigkeit vereinzelt und zum Artefakt veredelt wird. Diesen Status behält das Artefakt nach Locke allerdings nur so lange, wie es durch den Gebrauch Teil der Sphäre des Menschen bleibt, die diesem seine freie Entfaltung ermöglicht. Als Besitz bildet es neben dem Leben und der Freiheit die dritte Komponente der ‚property‘ des Menschen und erhält eine Würde, die absoluten Schutz vor dem Eingriff anderer rechtfertigt und fordert. Die der Lockeschen Theorie innewohnenden Unklarheiten und Widersprüche liegen auf der Hand.34 Erwähnt sei nur die Tatsache der Arbeitsteilung, auf die schon Locke hinweist.35 Die Frage, wessen Eigentum ein Brot ist das der Bäcker aus dem Mehl gebacken ist, das der Müller aus dem vom Bauern geernteten Korn gemahlen hat, wird von Locke nicht beantwortet, nicht einmal gestellt. Ferner wird durch die Einführung des Geldes der Lockesche Rechtsanspruch auf Privateigentum durch Arbeit faktisch unterminiert. Dadurch kann jeder in den Besitz von Gütern gelangen nicht auf Grund seiner Arbeit, sondern seines Geldvermögens. Vor allem wird in dem Moment, in dem der Geldwert durch die Nachfrage und nicht allein durch die investierte Arbeit bestimmt wird, die tatsächliche Bindung von Eigentum an eigene Arbeit aufgelöst und damit auch die Schranke beseitigt, die etwa dem Privateigentum an Boden durch die Pflicht, ihn selbst zu bearbeiten, gesetzt war. 33 Locke, UDR §40 S. 32. 34 Siehe dazu Brocker, AUE Kap. 6 S. 354 ff. 35 Locke, UDR § 43 S. 34. 199

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Auf Grund solcher Probleme wird die Arbeitstheorie des Eigentums heute nicht mehr in dem Sinne vertreten, dass Eigentum grundsätzlich durch Arbeit hergestellt und im Einzelfall sowie insgesamt legitimiert wird. Zwar erwirbt nach § 950 BGB das Eigentum an einer beweglichen Sache, wer diese durch Bearbeiten eines oder mehrerer Stoffe herstellt, wenn der Wert dieser Verarbeitung nicht wesentlich geringer als der Wert des Stoffes ist. Dieses Gesetz ist jedoch nicht als genereller Grund für den Erwerb von Eigentum gedacht.36 Vertragliche Abmachungen z.B. zwischen dem Stofflieferanten und dem Hersteller gehen dieser Bestimmung immer vor. Und tatsächlich spielt dieses Gesetz in unserer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft keineswegs die Rolle, die es nach der Lockesche Arbeitstheorie spielen müsste. Dass die Herstellung eines Dinges dieses nicht generell zum Eigentum des Herstellers macht, bedeutet jedoch nicht, dass damit auch die Herstellung nichts mit der Individualität des Artefakts zu tun hat. Dass die manuelle Herstellung ein Ding individuiert, ist selbstverständlich. Es erhält dadurch, wie Schapp in seiner Charakterisierung des Wozudings immer wieder betont hat, seine individuelle Entstehungsgeschichte, die sich z.B. in Bearbeitungsspuren manifestiert. (Abschn. 2.4.2) Bei modernen Produktionsprozessen geht diese Beziehung des Herstellers zum individuellen Produkt verloren (Kap. 2.6 und Teil 4). Die Vorstellung von dem Ding, das durch die menschliche Bearbeitung Individualität und Würde erhält, ist eine geschichtliche Erscheinung. Die emphatische Bedeutung, die der manuellen Arbeit dabei zugeschrieben wird und die auch hinter der Lockeschen Arbeitstheorie steckt, ist ebenfalls das Merkmal einer geschichtlich fixierbaren, im Wesentlichen frühbürgerlichen Auffassung, die, wenn sie sich wie bei Schapp noch im späten 20. Jahrhundert äußert, eine romantische Verklärung darstellt.

2.4.3.3 Besitz als Sphäre der Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie Die Arbeitstheorie wurde, wie Brocker ausführt, im 18. und 19. Jahrhundert die herrschende Auffassung in der Philosophie des Rechts. Dies gilt auch für die deutsche Philosophie im Zeitalter der Klassik und Romantik, also z.B. für Fichte, Hegel und Schopenhauer – nicht allerdings für Kant, der sich nach anfänglicher Beschäftigung mit der Eigentumstheorie für die endgültige Ausarbeitung der Metaphysik der Sitten wieder der Okkupationstheorie zuwandte. Nach Brockers Ansicht stellte er sich damit gegen das herrschende Paradigma und dementsprechend hat36 Baur, a.a.O. S. 481 ff. 200

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

ten seine Ideen in dieser Hinsicht keinen Einfluss auf die nachfolgende Generation der Philosophen des Idealismus. Dass Kant – trotz anfänglicher Hinneigung zur Arbeitstheorie – in der endgültigen Fassung der Metaphysik der Sitten die Okkupationstheorie des Eigentums vertritt, hat seinen Grund in den oben erwähnten Widersprüchen der Lockeschen Theorie. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft kann die ungleiche Verteilung des Privateigentums eben nicht mehr durch ungleiche Arbeitsleistung gerechtfertigt werden.37 Für Kant besteht der Rechtsgrund für das Eigentum an Boden in einer ursprünglichen Besitzergreifung, für deren Rechtmäßigkeit aber die zeitliche Priorität entscheidend ist. Eine nachträgliche Aneignung, wie sie etwa der Kolonialismus betrieb, missbilligte er ausdrücklich.38 Auf Kants Okkupationstheorie will ich jedoch nicht eingehen, vor allem weil sie sich explizit nur mit dem Grundbesitz befasst. Zwei Grundgedanken der Eigentumstheorie, die oben aus den Lockeschen Formulierungen abgeleitet wurden, mögen jedoch noch durch Hegels Rechtsphilosophie beleuchtet werden. Es handelt sich einmal um das Verhältnis von Eigentum und Freiheit und zum anderen um den Zusammenhang zwischen Besitzergreifung und Individuation. Brocker nimmt Hegel sozusagen als Kronzeugen für das Vorherrschen der Arbeitstheorie in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts in Anspruch. Das scheint mir nicht ganz gerechtfertigt zu sein, da der Begriff der Arbeit explizit in den dem Eigentum gewidmeten Abschnitten seiner Rechtsphilosophie kaum auftaucht. Für ihn ist die das Eigentum begründende „Besitznahme ... teils die unmittelbare körperliche Ergreifung, teils die Formierung, teils die bloße Bezeichnung.“39 Auch der Begriff der Formierung bedeutet bei Hegel nicht Arbeit im Sinne einer aufgebrachten Leistung. „Durch die Formierung erhält die Bestimmung, dass etwas das Meinige ist, eine für sich bestehende bußerlichkeit und hört auf, auf meine Gegenwart in diesem Raum und in dieser Zeit und auf die Gegenwart meines Willens beschränkt zu sein.“40 In dem Zusatz zu diesem Paragraphen fährt er fort: „Das Formieren ist insofern die der Idee angemessenste Besitznahme, weil sie das Subjektive und Objektive in sich vereinigt,…“ und erst bei der Aufzählung von Beispielen für das Formieren des Organischen taucht der Begriff der Ar37 Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant Baden-Baden Nomos 1994, S. 64 f. 38 Ebd. S. 61 f. 39 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (GPR), Werke in zwanzig Bänden Bd.7 Frankfurt Suhrkamp 1970 § 54 S. 119. 40 Ebd. § 56 S. 121. 201

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

beit auf: „Bearbeitung der Erde, Kultur der Pflanzen, Bezähmen, Füttern und Hegen der Tiere.“ Formieren bedeutet zweifellos in der Regel bearbeiten, aber dennoch liegt bei Hegel die Betonung nicht wie bei Locke auf der erbrachten Leistung, sondern auf einem Willensakt der Besitznahme. Zuzustimmen ist jedoch Brocker unbedingt, wenn er schreibt: „Dem neuzeitlichen ‚Lob der Arbeit‘ korreliert bei Hegel so eine idealistisch‚romantische‘ Verklammerung von ‚Freiheit‘ und ‚Eigentum‘, wie sie in dieser Form bei dem Begründer ... der Arbeitstheorie, bei John Locke, selbst nicht zu finden war. In seiner Theorie, die als die philosophisch wohl anspruchsvollste Rechtslehre der Neuzeit betrachtet werden muss, fand die individualistische Begründung des Eigentums ihren emphatischen Höhepunkt.“41 Der Gedanke der Verknüpfung von Eigentum und Freiheit wird schon in dem Paragraphen formuliert, der den Abschnitt über das Eigentum einleitet: „Die Person muss sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein.“ Eigentum ist vergegenständlichter Wille und „erste Realität meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache“ 42 Das wird folgendermaßen erläutert: „Dass Ich etwas in meiner selbst äußeren Gewalt habe, macht den Besitz aus, sowie die besondere Seite, dass Ich etwas aus natürlichem Bedürfnisse, Triebe und der Willkür zu dem Meinigen mache, das besondere Interesse des Besitzes ist. Die Seite aber, dass Ich als freier Wille mir im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille bin, macht das Wahrhafte und Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigentums aus. [Zusatz:] Eigentum zu haben, erscheint in Rücksicht auf das Bedürfnis, in dem dieses zum Ersten gemacht wird, als Mittel; die wahrhafte Stellung aber ist, dass vom Standpunkt der Freiheit aus das Eigentum als das erste Dasein derselben, wesentlicher Zweck für sich ist.“ 43 Freiheit ist also auch bei Hegel auf Eigentum (und nicht nur auf Besitz) angewiesen, die Person kann sich nur durch das Eigentum verwirklichen.44 Eigentum ist das Mittel, „in dem Freie als Personen über Sachen als Eigentum miteinander verbunden sind.“45 Dies bedeutet nach Joachim Ritter nicht, dass Eigentum nur Basis ist, über die hinaus man 41 42 43 44

Brocker, AUE S. 314. Hegel, GPR § 41 und Zusatz S. 102. Ebd. § 45 S. 107. In den Randbemerkungen zu § 46 findet sich der Satz: „Meine Wirklichkeit ist Privateigentum.“ Ebd. S. 109. 45 Joachim Ritter, „Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts §§ 34 bis 81“. In Manfred Riedel (Hg), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd. 2 Frankfurt Suhrkamp 1974. S. 156. 202

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

erst zu Moralität, Familie, Gesellschaft und Staat komme. Eine solche Interpretation übersieht, „dass auch alle substantiellen geistig-sittlichen Ordnungen der Freiheit mit dem Eigentum des bürgerlichen Rechts zur Existenz kommen. Damit wird die abstrakte, im Privatrecht gesetzte äußere Sphäre des Eigentums von Hegel als die Bedingung der Möglichkeit für die Verwirklichung der Freiheit im ganzen Umfange ihrer religiösen, politischen, sittlichen Substanz verstanden.“46 Auch für Hegel ist schon, ganz analog zur heutigen Rechtswissenschaft, Sachenrecht tatsächlich persönliches Recht, das Verhältnisse zwischen Personen und nicht zwischen Personen und Sachen zum Gegenstand hat (s.o. Abschn. 2.4.2). Gleichzeitig vollzieht sich damit eine Versachlichung der Beziehungen zwischen Personen, da diese sich im Wesentlichen über das Eigentum vermitteln. Darin liegt für Hegel, wie Joachim Ritter betont, das allgemeine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Eine solche Versachlichung wiederum stellt „dem Einzelnen als Persönlichkeit frei, zum Subjekt in allem zu werden, was den Reichtum wie die Tiefe des nun von keiner Versachlichung berührten persönlichen, sittlich geistigen Seins ausmacht.“47 Der zweite Gedanke, der bei Hegel sehr klar ausgesprochen wird, ist der Vorgang der Individuation, der an dem Gegenstand durch das Besitzergreifen vollzogen wird und bei dem die Natur zur Sache wird. Die Sache ist als Eigentum verwirklichter Wille: „Da mir im Eigentum mein Wille als persönlicher, somit als Wille des Einzelnen objektiv wird, so erhält es den Charakter von Privateigentum, ..“48. In dem folgenden Zusatz wird ausgeführt, dass der alleinige Gebrauch von Naturdingen, etwa in einer Gütergemeinschaft, nicht zu Privateigentum führen kann, weil damit keine Partikularisierung verbunden ist: „Die Benutzung elementarischer Gegenstände ist, ihrer Natur nach, nicht fähig, zu Privatbesitz partikularisiert zu werden.“ Erst die Besitznahme als Eigentum erzeugt die Vereinzelung oder Individuation der Naturdinge: „Das Besitzergreifen als äußerliches Tun, wodurch das allgemeine Zueignungsrecht der Naturdinge verwirklicht wird, tritt in die Bedingungen der physischen Stärke, der List, der Geschicklichkeit, der Vermittlung überhaupt, wodurch man körperlicherweise etwas habhaft wird. Nach der qualitativen Verschiedenheit der Naturdinge hat deren Bemächtigung und Besitznahme einen unendlich vielfachen Sinn und eine ebenso unendliche Beschränkung und Zufälligkeit. Ohnehin ist die Gattung und das Elementarische, als solches, nicht Gegenstand der persönlichen Einzelnheit; um dies zu werden und ergriffen 46 Ebd. S. 157. 47 Ritter a.a.O. S. 165. 48 Hegel, GPR § 46 S. 107 f. 203

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

werden zu können, muss es erst vereinzelt werden (ein Atemzug der Luft, ein Schluck Wassers). An der Unmöglichkeit, eine äußerliche Gattung als solche und das Elementarische in Besitz nehmen zu können, ist nicht die äußerliche physische Unmöglichkeit als das letzte zu betrachten, sondern dass die Person als Wille sich als Einzelnheit bestimmt und als Person zugleich unmittelbare Einzelnheit ist, hiermit sich auch als solche zum bußerlichen als zu Einzeln49 heiten verhält.“

Besitzergreifen erzeugt Vereinzelung bzw. Individuation, indem es durch willkürlichen körperlichen Eingriff in die nur gattungsmäßig bestimmten Naturdinge Einzelnes bestimmt, und zwar durch das dadurch geschaffene Verhältnis zur Person. Dieses Besitzergreifen ist aber nichts anderes als vergegenständlichter Wille und ‚Dasein der Freiheit‘. Individualität der Sache und der Person sind damit reflexiv aufeinander verwiesen. Wird ein Naturding als Eigentum bezeichnet, dann wird es zu etwas anderem. Durch das Bezeichnen, das für Hegel eine Form der Inbesitznahme ist, tut der Mensch seine Herrschaft über das Ding kund.50 Und diese Kundgabe ist eine doppelte, sie bezeichnet sowohl die einzelne Sache als auch den Eigentümer. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Eigentum schon bei Locke, besonders ausgeprägt aber bei Hegel als Voraussetzung für persönliche Freiheit, ja als deren Medium gesehen wird. Für Locke umfasst der Begriff ‚property‘ Leben, Freiheit und Eigentum, und für Hegel ist Eigentum das ‚erste Dasein der Freiheit‘. Die Aneignung der Naturgegenstände durch Arbeit bei Locke und durch die Besitznahme bei Hegel führt darüber hinaus zur Vereinzelung oder Individuation der Sachen als Produkte der Arbeit (Locke) bzw. Objekte des Willens (Hegel).

2.4.4 Individueller Besitz als konstituierendes Merkmal der sozialen Person In diesem Abschnitt wird der Zusammenhang zwischen Person und Eigentum an individuellen Dingen von der anderen Seite her thematisiert, nämlich durch die Frage nach den Folgen, die eine Wegnahme oder der Verzicht auf individuelle Habe für die betreffende Person hat. Das mögen zwei längere Zitate aus Asyle von Erving Goffman51 zeigen, in denen er die Situation von Menschen in den von ihm so genannten totalen Institutionen untersucht. Ihr totaler Charakter besteht darin, dass die 49 Ebd. § 52 S. 116. 50 Hegel, GPR Zusatz zu § 58 S. 127. 51 Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen (ASY). Frankfurt Suhrkamp 1972. 204

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

Freizügigkeit der Lebensgestaltung der Insassen und ihr sozialer Verkehr untereinander und mit der Außenwelt drastisch eingeschränkt sind. Beispiele dafür sind psychiatrische Anstalten, Gefängnisse, Lager, aber auch Klöster oder – bis zu einem gewissen Grad – das Militär. Zu den Merkmalen totaler Institutionen gehört, dass ihre Insassen weitgehend auf persönliches Eigentum – wie z.B. individuelle Kleidung – verzichten müssen oder mindestens dessen Gebrauch während ihres Aufenthalts in der Einrichtung untersagt ist. Goffman gibt folgende Beispiele. „Die Aufnahmeprozedur kann als ein Ent- und Bekleiden gekennzeichnet werden, wobei der Mittelpunkt psychische Nacktheit ist. Selbstverständlich gehört zum Entkleiden auch die Wegnahme des Eigentums, denn die Menschen pflegen ihre persönlich Habe emotionell zu besetzen. Das vielleicht wichtigste dieser Besitztümer ist alles andere als physischer Natur, nämlich der volle Eigenname; wie auch immer jemand danach gerufen wird – der Verlust des Namens kann eine erhebliche Verstümmelung des Selbst darstellen. Sobald dem Insassen seine persönliche Habe genommen ist, muss zumindest einiges durch die Anstalt ersetzt werden; dies erfolgt jedoch in standardisierter Form, die betreffenden Gegenstände wie die Art der Verteilung sind uniform. Diese Ersatzgegenstände sind deutlich als der Anstalt gehörend gekennzeichnet, und in manchen Fällen werden sie in regelmäßigen Abständen eingefordert, so als sollten sie von allen Spuren einer Identifikation gereinigt werden. Bei Objekten, die sich verbrauchen – z.B. Bleistiften – wird von den Insassen mitunter verlangt, die Reste vor einer Neuausgabe abzuliefern. Diese Enteignung der persönlichen Habe wird in ihrer Wirkung dadurch verstärkt, dass den Insassen keine eigenen Schränke zugeteilt werden und dass die angesammelten Habseligkeiten von Zeit zu Zeit durchsucht und beschlagnahmt werden. Religiöse Ordensgemeinschaften wissen die Folgen, die eine solche Trennung vom Besitz für das Selbst hat, zu schätzen. Manchmal wird von den Insassen verlangt, ihre Zellen jedes Jahr zu wechseln, damit sie keine Bindungen an sie eingehen. Die Regeln des Heiligen Benedikt sagen dies deutlich: Als Bett genüge ihnen eine Matratze, eine Wolldecke, ein Bezug und ein Kopfkissen. Diese Betten müssen vom Abt häufig kontrolliert werden, ob sich private Besitztümer darin befinden. Wenn entdeckt wird, dass jemand etwas hat, das er nicht vom Abt erhielt, soll er strengstens bestraft werden. Und damit das Laster des privaten Eigentums völlig ausgerottet werde, soll der Abt alle notwendigen Dinge verteilen: das sind Kutte, Tunika, Socken, Schuhe, Gürtel, Messer, Feder, Nadel, Taschentuch und Schreibblock; damit keiner vorgebe, er litte Not. Und der Abt soll stets die Stelle in der Apostelgeschichte im Sinn behalten: Und jeder erhielt das seine, dessen er bedurfte. (Die Regel des Heiligen Benedikt, 55. Hauptstück) Eine Garnitur persönlicher Sachen hat eine besondere Bedeutung für das Selbst des Individuums. Der Einzelne nimmt normalerweise an, dass ihm eine 205

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

gewisse Kontrolle darüber zusteht, in welcher Gestalt er vor anderen erscheinen will. Zu diesem Zweck benötigt er sowohl kosmetische Artikel sowie Kleidung, als auch bestimmte Geräte, um jene zu verwenden, in Ordnung zu halten und zu reparieren, sowie einen zugänglichen, gesicherten Platz zur Aufbewahrung dieser Vorräte und Werkzeuge – kurz, der einzelne braucht eine Art ‚Identitäts-Ausrüstung‘, zur Aufrechterhaltung seiner persönlichen Fassade. Auch müssen ihm Verschönerungsspezialisten, wie Frisöre und Schneider, zugänglich sein. Bei der Aufnahme in eine totale Institution wird das Individuum meist seiner üblichen Erscheinung sowie der Ausrüstungen und der Dienstleistungen zu deren Aufrechterhaltung beraubt, wodurch es eine persönliche Entstellung erleidet. Kleidungsstücke, Kämme, Nadel und Faden, Kosmetika, Handtücher, Seife Rasierzeug, eine Badegelegenheit – all dies kann ihm weggenommen oder verweigert werden; einiges davon wird manchmal auch an einem unzugänglichen Ort aufbewahrt, um zurückgegeben zu werden, wenn es die Anstalt verlässt. Die Regeln des St. Benedikt besagen: Dort im Oratorium sollen ihm sogleich die Kleider, in denen er gekommen ist, abgenommen werden und er soll mit dem Gewand des Klosters bekleidet werden. Jene Gewänder, die ihm genommen wurden, sollen in der Kleiderkammer verwahrt werden, damit er, sollte der Teufel ihn je versuchen, das Kloster zu verlassen, des klösterlichen Habits entkleidet und von dannen gejagt werden kann. (Die Regel des Heiligen Benedikt, 58. Hauptstück) [...] Die Anstaltssachen, die anstelle der weggenommenen Habseligkeiten ausgegeben werden, [sind] normalerweise wahllos zugeteilt, schlecht sitzend, häufig abgetragen und einheitlich für große Gruppen von Insassen.“ 52

Goffman interpretiert diese Entblößung der Insassen von persönlichem Besitz als Rituale der Erniedrigung, die es dem Betroffenen unmöglich machen sollen, die Rollen, die er in seinem bürgerlichen Dasein gespielt hat, weiterzuführen bzw. neue, individuelle Rollen für sich zu entwickeln: „Der Neuling kommt mit einem bestimmten Bild von sich selbst in die Anstalt, welches durch bestimmte stabile soziale Bedingungen seiner heimischen Umgebung ermöglicht wurde. Beim Eintreten wird er sofort der Hilfe beraubt, die diese Bedingungen ihm boten. In der exakten Sprache einer unserer ältesten totalen Institutionen durchläuft er eine Reihe von Erniedrigungen, Degradierungen, Demütigungen und Entwürdigungen seines Ich. Sein Ich wird systematisch, wenn auch häufig unbeabsichtigt, gedemütigt. [...] Die Prozesse, durch die das Ich eines Menschen gedemütigt wird, sind in totalen Institutionen ziemlich gleich. Die Analyse dieser Prozesse kann uns

52 Goffman, ASY S. 29-30 Hervorhebungen im Original. 206

2.4 BESITZ UND EIGENTUM AN DINGEN

helfen, die Bedingungen zu erkennen, die gewöhnliche Institutionen garantieren müssen, wenn ihre Angehörigen ihr bürgerliches Selbst behalten sollen. Die Schranke, die totale Institutionen zwischen dem Insassen und der weiteren Welt errichten, bezeichnet die erste Beschränkung des Selbst. Im bürgerlichen Leben garantiert die planmäßige Reihenfolge der Rollen eines Individuums, die sowohl im Lebenskreis als auch in der Wiederholung des täglichen Kreislaufs stattfindet, dass keine der Rollen, die es spielt, seine Leistungen und seine Bindungen in einer anderen Rolle beeinträchtigt. Die Zugehörigkeit zu totalen Institutionen unterbricht automatisch die Rollenplanung, denn die Trennung des Insassen von der weiteren Welt dauert rund um 53 die Uhr und kann jahrelang dauern. Daher tritt ein Rollenverlust ein.“

Die Gegenstände des persönlichen Gebrauchs wie Kleidung, Toilettenartikel, Schreibzeug oder Bücher gehören nach Goffman zu einer ‚Identitäts-Ausrüstung‘, die für die Ausbildung einer individuellen Rolle unerlässlich sind. Das Vorhandensein einer solchen Identitäts-Ausrüstung in Form der persönlichen Habe ist ein interkulturelles Phänomen, das sich in allen menschlichen Gesellschaften findet. Ihr Entzug bedeutet einmal den Verlust der Freiheit, die Rolle, die man in der Gesellschaft spielen will, selbst zu bestimmen, zum anderen den Verlust oder mindestens einen Eingriff in die persönliche Identität, in dem deren materielle Basis verloren geht. Dieser Verlust besteht wohlgemerkt nicht nur in der Wegnahme der individuellen Dinge des persönlichen Gebrauchs, sondern in ihrem Ersatz durch standardisierte, kaum individuierbare Gegenstände. Uniform, Sträflingskleidung und Mönchskutte haben gleichermaßen die Funktion, die Person als Individuum verschwinden zu lassen und ihre persönliche Geschichte auszulöschen. Aber nicht nur die Gegenstände der intimsten persönlichen Habe gehören zur Identitäts-Ausrüstung. Es gibt eine transkulturell beobachtbare Tendenz, allen Gegenständen des privaten Besitzes einen individuellen Stempel aufzudrücken, der nicht nur den Zweck hat, diesen Gegenstand als eigenen Besitz kenntlich zu machen, sondern der umgekehrt den Besitzer aus der Menge anderer Besitzer heraus heben soll. Diese Tendenz ergänzt und konterkariert den ebenfalls überall und zu allen Zeiten verbreiteten Hang zur Konformität, zu Moden und Trends. Strenge Uniformität, wie sie in den dargestellten totalen Institutionen praktiziert wird, ist immer entweder eine Zwangsmaßnahme oder Folge eines bewussten Verzichts auf individuelle Persönlichkeitsentfaltung. Das Bedürfnis, eigene Individualität durch individuelle Modifizierung der Dinge des persönlichen Besitzes zu dokumentieren, beginnt bei der Kleidung und setzt sich über die Wohnungseinsrichtung bis zum Auto fort, das ein beliebtes 53 Ebd. Hervorhebungen im Original. 207

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Mittel der Selbstdarstellung ist. Auf Grund der fortschreitenden Typisierung und Funktionalisierung ist der Druck, sich auch durch den eigenen Besitz von den Mitmenschen zu unterscheiden, besonders groß. Das Eigentum bzw. der Besitz einer Sache stiftet eine Beziehung zu ihrem Besitzer, die unabhängig ist von ihrer Funktion, und diese Beziehung ist eine zwischen einer individuellen Person und einem individuellen Ding. Darauf weist Baudrillard hin, wenn er in dem diesem Kapitel vorangestellten Motto formuliert, Besitz meine nichts Werkzeughaftes, sondern das Objekt in seinem individuellen Bezug auf das Subjekt. Dieser Bezug, so hat sich in diesem Kapitel ergeben, steht in engem Zusammenhang mit dem Status der Individualität der Dinge des Besitzes sowie der besitzenden Personen.







Durch die Aneignung, den Erwerb oder die Herstellung eines Dinges wird dieses, wie Hegel sich ausdrückt, vereinzelt und individuiert. Besitz ist nach Hegel äußere Realität der Freiheit oder einfach Dasein der Freiheit und damit ein erstes Moment der Konstitution der individuellen Person. Ferner weist der Bezug zwischen Personen und ihrem Eigentum dieselbe Dreiecksstruktur auf, die sich im ersten Teil als Grundmuster dinglicher Individualität ergeben hat: Ebenso wie das Ding durch einen kommunikativen Akt zwischen Personen individuiert wird, besteht rechtlich das Eigentum an einer Sache in einer durch gesetzlich geschützten Übereinkunft zwischen Personen, die dem Eigentümer alleinige Verfügung über die betreffende Sache einräumt. Eigentum an Dingen ist für die Identität der sozialen Person dadurch konstitutiv, dass sie dieser die Möglichkeit gibt, sich durch individuell ausgewählte Gegenstände eine „Identitätsausrüstung“ zu schaffen, die sie von den Anderen unterscheidet, mit der sie sich identifiziert und durch die sie für andere identifizierbar wird. Wird sie von dieser Identitätsausrüstung freiwillig oder unfreiwillig entblößt, so reißen die Verbindungen zu ihrer gewohnten Umgebung ab, sie fällt sozusagen aus ihrer bisherigen Geschichte heraus und büßt ihre bisherige Identität mindestens teilweise ein.

208

2.5 D I N G

UND

BILD

IM

STILLLEBEN

Chardin ist da überhaupt der Vermittler gewesen; schon seine Früchte denken nicht mehr an die Tafel, liegen auf Küchentischen herum und geben nichts darauf, schön gegessen zu sein. Bei Cézanne hört ihre Essbarkeit überhaupt auf, so sehr dinghaft wirklich werden sie, so einfach unvertilgbar in ihrer eigensinnigen Vorhandenheit.1

2.5.1 Stillleben: Bilder von Dingen In diesem Kapitel fällt der Blick nicht direkt auf das Ding, sondern über den Spiegel seines Bildes in der Malerei. „Das Bild ist, wie das Ding, etwas, das zu sehen, nicht zu definieren ist, doch freilich, wenn es gleichsam eine kleine Welt ist, die in der anderen sich öffnet, so eignet ihm doch nicht die gleiche Solidität. Wir fühlen, dass es mit Absicht hergestellt ist, dass in ihm der Sinn seiner Existenz vorausgeht und sich lediglich in das zu seiner Kommunikation erforderliche Minimum an Materie einhüllt. Dahingegen ist es das Wunder der realen Welt, dass in ihr der Sinn mit der Existenz gänzlich zusammenfällt und in ihr sich ein für allemal begründet“.2 Dass sich, wie Merleau-Ponty formuliert, im Bild der Sinn von der Existenz des Gegenstands losgelöst und sich seinerseits vergegenständlicht hat, bietet die Möglichkeit der Beobachtung 1 2

Rainer Maria Rilke, Briefe über Cézanne. Frankfurt insel taschenbuch 1983 S. 29. Merleau-Ponty, PWA S. 374. 209

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

zweiter Ordnung (Abschn. 1.2.5). Wir sehen im Bild den Blick des Malers auf die Gegenstände. Aus dieser Situation werden in diesem Kapitel eine Reihe von Erkenntnissen über die Einstellung zu den Dingen abgeleitet. Sie werden anhand von bußerungen von Diderot und Proust über die Stillleben von Jean-Baptiste Siméon Chardin und anhand eines Aufsatze von Merleau-Ponty zu den Bildern Paul Cézannes dargestellt. Eine erste Erkenntnis ist, dass überhaupt erst in einem bestimmten historischen Moment Dinge als selbständige Bildgegenstände in der europäischen Malerei auftauchen. Es ist der Beginn des bürgerlichen Zeitalters, wie es besonders in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts sichtbar wird. Ein zweites Resultat dieses Kapitels wird sein, dass die Stilllebenmalerei die Dinge in einen Zusammenhang mit der bürgerlichen Lebensart stellt. Die künstlichen Arrangements, in denen sie dargestellt sind, können als Spuren von Situationen und als Zeugnisse von Lebensformen gelesen werden. Dadurch erhalten die Dinge Sinn und Wert sowie eine Authentizität, indem sie sich als individuelle Zeugen solcher Situationen präsentieren. Schließlich lässt sich im Spiegel der Stilllebenmalerei an der Schwelle zur Moderne ein tiefgreifender Wandel in der Einstellung zu den Dingen erkennen. Die Landschaft, das Stillleben und das Genrebild haben sich im Laufe des 16. und endgültig im 17. Jahrhundert als eigenständige Bildgattungen entwickelt und erlebten in Holland ihre ersten Höhepunkte. Holland war im 17. Jahrhundert der historische Ort, wo sich die Malerei von religiösen und feudalen Bindungen löste und zu einer bürgerlichen Kunst wurde. Die holländischen Maler produzierten für einen Kunstmarkt, der durch Angebot und Nachfrage bestimmt war und bei dem die Käufer derselben sozialen Schicht, eben dem Bürgertum angehörten, wie die Maler selbst. Gegenstand der Landschaftsmalerei war nicht die Ideallandschaft, wie sie in den Hintergründen religiöser Darstellungen zu sehen war, sondern die Landschaft vor den Toren der eigenen Stadt, die Objekte der Stillleben waren die Gegenstände des Gebrauchs und Verbrauchs, und im Genrebild kommen die Situationen des bürgerlichen Lebens zur Darstellung, wie sie sich in der Küche, im Salon, auf der Straße, in der Kneipe und im Bordell abspielten. Das Stillleben als Bildgattung lässt sich am einfachsten als ein Arrangement von Dingen charakterisieren. Meist sind die Dinge auf einem Tisch angeordnet, manchmal hängen sie an einer Wand und haben dann oft den Charakter des Trompe l’oeil. Es können Blumen sein, aber auch Früchte, Küchengeräte, Bücher mit Kerzen und einem Totenschädel, Musikinstrumente, Speisen, Pflanzen, tote Tiere (Wildbret, Fische und Schalentiere: nature morte!). Lebendige Tiere wie ein Hund, eine Katze kommen nur gelegentlich am Rande vor, Menschen fast nie. Aber alles, 210

2.5 DING UND BILD IM STILLLEBEN

was im Stillleben vorkommt, ist auf den Umkreis menschlichen Daseins bezogen: die Gegenstände stehen in einem thematischen (nicht systematischen) Zusammenhang (Küchenstillleben, Blumenstillleben, Jagdstillleben etc). Sie erscheinen weder für sich noch in ihrer natürlichen Umgebung, sondern sind entsprechend ihrer Verwendung arrangiert: die Gläser sind gefüllt, die Früchte liegen in Schalen oder auf dem Tisch, die Blumen stehen in Vasen und die toten Tiere sind Beute von Jagd oder Fischfang. Die Anordnung ist willkürlich geschaffen – und zwar offensichtlich vom Maler in einer Absicht, die einerseits von dekorativen Gesichtspunkten geleitet ist, aber gleichwohl eine gewisse durch den Gebrauch erzeugte Zufälligkeit suggeriert, etwa durch ein aufgeschlagenes Buch oder durch einen unabgeräumten Frühstückstisch. Dürers Grasstück bzw. sein Hase sind deshalb nach diesen Kriterien auch keine Stillleben. Wie die Bildgattungen Genre und Landschaft hat sich auch das Stillleben aus mittelalterlichen Altar- und Andachtsbildern entwickelt, indem in den Bildzusammenhang integrierte Motivgruppen im Laufe der Zeit sich aus diesem Zusammenhang lösten und zu eigenen Bildmotiven wurden. Die Landschaften, die die Hintergründe der Altarbilder bildeten, wurden immer differenzierter und realistischer, ebenso wie die Figurengruppen, die Szenen aus dem Leben der heiligen Familie oder von Heiligen darstellten, immer lebendiger und mehr und mehr zum Spiegel zeitgenössischer Umgangsformen wurden. Und entsprechend tauchten in diesen Bildern Teppiche, Blumen oder Krüge auf, die mit großer Sorgfalt für die stofflichen Oberflächenqualitäten und offenbar nach der Natur gemalt sind.3 Nicht selten findet man solche menschenleeren Arrangements von Blumen und Geräten auch in Zwickeln oder auf der Rückseite von Altartafeln, die bei geschlossenem Altar sichtbar sind. Natürlich waren diese Darstellungen in den religiösen Sinnzusammenhang des Altars eingebettet und wiesen als Lilien z.B. auf die Verkündigung Mariae oder als Krug auf die Geburt Christi. Aber schon innerhalb dieses religiösen Rahmens beginnen sie, ein malerisches Eigenleben zu führen.4 Die Emanzipation dieser Motivgruppen zu selbständigen, vom 3

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So erscheint auf zwei verschiedenen Altären des Meisters von Flémalle (1.Hälfte 15. Jahrh.) ein- und derselbe Majolika-Krug in verschiedenen Ansichten, er ist also offenbar nach der Natur gemalt. Eberhard König, Christiane Schön, Stilleben. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren. Bd. 5. Berlin Reimer 1996. Lizenzausgabe Darmstadt Wiss. Buchges. 2003 S. 49. „Ein vergeistigtes Zusammensehen von ‚Bedeutungen‘, ein immer verschachtelteres Ablesen einerseits rettet den Auftrag bildlicher Fiktionen [der Heiligkeit], die andererseits mehr und mehr der voraussetzungslosen Sichtbarkeit unterworfen werden. Meister Zufall als Arrangeur alltäglicher 211

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religiösen Bezug gelösten Bildinhalten vollzieht sich ab der Renaissance vereinzelt in Italien und den Niederlanden und ist vollendet im 17. Jahrhundert in Holland. Dort geht mit der Herausbildung dieser Bildgattungen auch eine Spezialisierung der Maler einher. Bis auf wenige Ausnahmen – die bedeutendste ist Rembrandt – spezialisieren sich die Künstler auf eine der Bildgattungen Landschaft, Genre, Stillleben oder Porträt. Diese Entwicklung wurde offensichtlich durch den Druck des sich sprunghaft entwickelnden Marktes für diese Bilder ausgelöst und gefördert.

2.5.2 Gibt es ikonographische und ikonologische Sinnebenen beim Stillleben? Das Stillleben löst heute bei vielen Betrachtern eine gewisse Ratlosigkeit aus, die mit der offensichtlichen Unbedeutendheit der Sujets zusammenhängt. Was soll sich der Museumsbesucher vor einem barocken Küchen- oder Jagdstillleben oder vor einer Ansammlung von Krügen, Töpfen und Kannen in Bildern von Chardin, Cézanne oder auch Morandi denken? Der ‚gebildete‘ Betrachter kennt zwei Auswege aus dieser Ratlosigkeit. Der eine besteht darin, in diesen Bildern die Darstellung eines symbolischen Gehalts zu sehen, wobei dieser Gehalt auf die Freuden des sinnlichen Genusses (bei raffiniert gedeckten Tafeln oder einfachen rustikalen Speisen) oder auf die Künste (bei Musikalien- oder Bücher-Stillleben), in den allermeisten Fällen aber auf die Vergänglichkeit schlechthin (abgeschnittene Blumen, tote Tiere, Totenschädel, Kerzen als Vanitasmotive) verweisen soll. Der zweite Ausweg operiert nicht inhaltlich, sondern formal und besteht in dem Hinweis auf die Kunst oder Virtuosität des Malers. Diese Auffassung kann sich auf bußerungen von Künstlern berufen von Dürer („Aber dabey ist zu melden, das ein verstendiger geübter Künstner in grober bewrischer Gestalt sein grossen gwalt und kunst mer erzeygen kan, etwan in geringen dingen, dann mancher in seinem grossen werck.“) bis zu Liebermann ( „... dass die gutgemalte Rübe besser sei als die schlechtgemalte Madonna“). Dieser zitiert den genannten Satz als „bereits zum eisernen Bestand der modernen bsthetik“ gehörig und korrigiert ihn dahingehend, dass die gutgemalte Rübe auch ebenso gut sei wie die gutgemalte Madonna.5 Beide Auswege sind jedoch in Wirklichkeit Sackgassen. Während das Aufspüren von symbolischen Bezügen bei den frühen Stillleben

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Motive, als Garant unprogrammierter Beobachterperspektive hat die Rangordnung der geistigen Schaubühne weitgehend verdrängt.“ Claus Grimm, Stilleben, Stuttgart Belser 2001 Bd.1 S. 25. Zitate aus König, Schön, a.a.O. S. 69.

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noch ein anregendes Ratespiel für Konversation bei gemeinsamem Museumsbesuch abgibt, versagt es schon vor den klassischen Stillleben eines Willem Kalf oder de Heem aus dem 17. Jahrhundert, von späteren Beispielen ganz zu schweigen. Was davon übrigbleibt, ist allerdings der allgegenwärtige Sinnbezug auf menschliche, spezifisch bürgerlich geprägte Lebensformen von den Tischsitten bis zu künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten. Der zweite Ausweg, der Rekurs auf die Machart, auf die Kunst des Malers, trägt weiter, denn er steht in Einklang mit einer vor allem seit dem 20. Jahrhundert allgemein verbreiteten Einstellung jeder Art von Kunst gegenüber. Nach ihr bildet die Machart, der Stil, das wesentliche Kriterium, nicht der dargestellte Inhalt, die Geschichte in der Erzählung oder das Sujet im Gemälde. Allerdings führt auch diese Betrachtungsweise letzten Endes wieder zu der Frage, warum die Künstler gerade die Darstellung dieser Gegenstände zu einer eigenen Bildgattung entwickelt haben und nicht etwa die von Werkzeugen, Modeartikeln, Möbeln, Häusern oder naturbelassenen Pflanzen und Tieren. Die Frage nach dem ‚Sinn‘ dieser Bilder lässt sich wohl am besten diskutieren anhand der Panofskyschen Unterscheidung verschiedenen Sinnebenen eines Bildes, die er als vorikonographisch, ikonographisch und ikonologisch bezeichnet.6 Den vorikonographischen Sinn bildet das „primäre oder natürliche Sujet“, das sich auf das „tatsachenhafte und ausdruckshafte“ Erkennen der graphischen und farblichen Strukturen als Personen oder Dinge bezieht. Das „sekundäre oder konventionale Sujet“ verweist als ikonographischer Sinn auf die Erkenntnis des Dargestellten als z.B. einer bestimmten biblischen Szene. Schließlich stellt der ikonologische Sinn nach Panofsky die „eigentliche Bedeutung“ oder den „Gehalt“ dar und bezieht sich auf die Symbolik des Dargestellten, die sich nur durch Kenntnis zeitgenössischer Vorstellungen erschließen lässt. Die beiden ersten Ebenen müssen durch Analysen erschlossen werden, im Falle der Ikonographie auch unter Einbeziehung literarischer Quellen. Bei der ikonologischen Deutung geht es dagegen um Interpretation, die synthetisch und intuitiv verfährt. Sie kann jedoch nicht rein subjektiv bleiben, sondern muss als kritisches Korrektiv die Einsichten benützen, „wie unter wechselnden Bedingungen die allgemeinen und wesentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes durch bestimmte Themen und Vorstellungen ausgedrückt wurden. Dies meint etwas, was man eine Ge-

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Erwin Panofsky, „Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“. In ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln DuMont 1975 S. 38-40. 213

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schichte kultureller Symbole – oder ‚Symbol‘ im Sinne Ernst Cassirers – ganz allgemein nennen könnte.“7 Nun sind diese Sinnkriterien vor allem an figürlichen Darstellungen entwickelt worden, und Panofsky schließt Landschafts- und Genremalerei sowie Stillleben ausdrücklich als für die ikonologische Interpretation ungeeignet aus. Imdahl hat trotzdem versucht, diese Begriffe auf ein holländisches Landschaftsbild anzuwenden (Die Mühle von Wijk von Jakob van Ruisdael).8 Er interpretiert den Porträtcharakter des Bildes als den ikonographischen Inhalt und die Symbolhaftigkeit der Mühle (Flügel als Kreuz, Umwandlung des Korns in Mehl als Eucharistie) als den ikonologischen Sinn. Wenn der ikonographische Sinn aber darin besteht, dass eine ganz bestimmte Mühle mit ihrer Umgebung in dem Bild dargestellt ist, dann verliert das Sujet seine Allgemeinheit. Als Beispiel für die Kreuzesgestalt ist die Mühle vertretbar durch jede andere, nicht aber als wiedererkennbares Individuum. Es ist die Frage, ob beim Betrachter – und Ruisdael musste damit rechnen, dass seine Kunden diese Mühle kannten – das Erlebnis des Wiedererkennens dieser Mühle nicht die ikonologische Sinnebene einfach verdrängte. Dass Panofsky selbst die drei Bildgattungen, die für die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts so charakteristisch sind, aus dem ikonologischen Erklärungsschema ausnimmt, ist sehr bezeichnend. Er spricht von ihnen als Kunstwerken, „in denen der ganze Bereich des sekundären oder konventionalen Sujets ausgeschaltet und ein unmittelbarer Übergang von Motiven zum Gehalt bewirkt ist.“9 Man kann den holländischen Realismus geradezu so beschreiben, dass durch den Fortfall oder auch Zusammenfall sekundärer (literarischer) und konventionaler (symbolischer) Ebenen der Blick auf eine Wirklichkeit frei wird, die ihre Bedeutung nur in sich selbst trägt.10 Allerdings verschwinden diese Sinn-

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Ebd. S. 48. Max Imdahl, „Ikonik“. In Gottfried Boehm (Hg), Was ist ein Bild? München Fink 1994. 9 Panofsky, a.a.O. S. 43. 10 Panofsky hat in seinem in seinem 1953 erschienenen Werk Early Netherlandish Painting noch den Begriff eines „concealed or disguised symbolism“ eingeführt, der auch für die schon durchaus realisitische Wiedergabe von Landschaften und Geräten in diesen niederländischen Bildern des 15. und 16. Jahrhunderts einen sozusagen verhüllten Symbolismus unterstellt. Dieses Interpretationsmodell hat „in dem restaurativen und nostalgischen Klima der frühen Fünfzigerjahre“ eine große Rolle gespielt und sollte sich „als eine wahre methodische Pandora-Büchse erweisen“, wie Willibald Sauerländer in einem der Panofsky-Rezeption gewidmenten Aufsatz schrieb (Willibald Sauerländer, „Barbari ad portas“ in Bruno Reudenbach, Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, 214

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ebenen nicht auf einen Schlag und nicht völlig, und es gibt auch bei Jakob van Ruisdael neben den Porträtlandschaften einen Typus Landschaften wie den Judenfriedhof, dem man durchaus eine ikonologische Sinnebene zuschreiben kann, ebenso wie es auch im 17. Jahrhundert noch Stillleben mit deutlichen Vanitasmotiven gibt. Bei den Meisterwerken der Gattung von Willem Kalf, Pieter Claesz. oder Willem Claesz. Heda treten solche ikonologischen Bezüge allerdings weitgehend zurück. Ikonographische Bezüge zum bürgerlichen Lebensstil bzw. Lebensgefühl lassen sich dagegen durchaus herstellen. Sie drücken sich etwa in der Darstellung besonders wertvoller und kunstvoll gearbeiteter Gefäße, erlesener Gerichte und exotischer Früchte aus, die sinnlichen Genuß, Üppigkeit und Lebensfreude vermitteln. Die Bezeichnung der Bildgattung als ‚Stillleben‘ im Deutschen (mit wortverwandten Bezeichnungen in anderen germanischen Sprachen) bzw. ‚nature morte‘ im Französischen (und entsprechenden Bildungen in den anderen romanischen Sprachen) gibt einen weiteren Hinweis. Beide Bezeichnungen haben die Form des Oxymorons, da sie aus widersprüchlichen Begriffen zusammengesetzt sind. Erst die Kenntnis der Herkunft dieser Begriffe erschließt ihren Sinn. Das holländische Wort ‚stilleven‘ taucht ab der Mitte des 17. Jahrhunderts als Bezeichnung für die Bildgattung auf, ins Deutsche wird der Begriff erst rund hundert Jahre später übernommen.11 Der erste Begriff steht dabei für die ‚stillen‘ Gegenstände, die als Sujet für diese Bilder dienen. Der zweite Begriff, ‚Leben‘, bezieht sich dagegen nicht auf die dargestellten Gegenstände, sondern auf die Tatsache, dass sie ‚nach dem Leben‘ gemalt sind. „Nicht in der künstlerischen Erfindung, der inventio, sondern im Abmalen nach dem Leben liegt der Sinn des Begriffs Stillleben. Dessen Hauptwort charakterisiert die Einstellung des Künstlers zum Motiv, während das Adjektiv still jene Art von Gegenständen eingrenzt, die nach dem Leben porträtiert werden: Sie sind unbeweglich, aber im Lebensraum des Malers real vorhanden.“12 Auch in der französischen Bezeichnung weist ‚nature‘ auf die Malweise nach der Natur, die ‚imitation naturelle‘, während das Adjektiv ‚morte‘ sich auf die Art der gemalten Gegenstände bezieht.13 Diese Erkenntnisse über die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung der Gattungsbezeichnungen sind deshalb aufschlussreich, weil damit klar wird, dass es schon zur Zeit der Entstehung dieser Bezeichnungen in diesen Bildern nicht um die Inszenierung von Symbolen und verBerlin Akademie Verlag 1994). Für die Stilllebenmalerei des 18. Jahrhunderts kann dieser Begriff deshalb nicht in Anspruch genommen werden. 11 König, Schön a.a.O. S. 23 ff. 12 Ebd. S. 24. 13 Ebd. S. 27. 215

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borgenen Bedeutungen ging, sondern um die möglichst ‚lebendige‘ Wiedergabe der physischen Erscheinung der ‚stillen‘ bzw. ‚toten‘ Dinge. Damit ist aber einer durchgängig ikonologischen Interpretation dieser Bilder der Boden entzogen.

2.5.3 Die Entdeckung der ‚Natur‘ der Dinge Es ist offensichtlich, dass der Stillleben-Maler der ‚natürlichen‘ Wiedergabe seiner Gegenstände mehr Zeit und Geduld widmen konnte als die Maler von Landschaften bzw. von Genreszenen. Schon Landschaften können ihr Aussehen relativ schnell ändern, und zudem wurde die Freilichtmalerei technisch erst im 19. Jahrhundert möglich, als industriell hergestellte und sofort verwendbare Malerfarben verfügbar wurden. Für Lebewesen gilt das in noch stärkerem Maße, da sie nicht beliebig lange als ‚stille‘ Modelle zur Verfügung stehen. Aber selbst das Welken der Blumen, das Faulen der Früchte und die Verwesung der toten Tiere während der Arbeit des Künstlers an dem Bild konnte zum Problem werden, wie eine von Chardin überlieferte Anekdote bezeugt. Und der Blumenmaler Jan Bruegel d.b. schreibt an einen Auftraggeber: „ [...] glauben Sie mir, dass dies eine sehr schwierige Aufgabe ist: es ist verdrießlich, alles nach der Natur zu malen, so dass ich lieber zwei Landschaftsbilder malen würde. Die Blumen dieses Jahres sind verblüht. Dieses Bild müsste man im Frühjahr beginnen, Mitte Februar bis zum Monat August [...].“14 Das Malen ‚nach der Natur‘ wird erst ab der Renaissance, ab etwa 1500, zum Programm und bringt eine neue Einstellung zum Objekt mit sich, die Panofsky folgendermaßen beschreibt: „Die Kunstanschauung der Renaissance charakterisiert sich [...] der mittelalterlichen gegenüber dadurch, dass sie das Objekt gewissermaßen aus der innersten Vorstellungswelt des Subjekts herausnimmt und ihm eine Stelle in einer festgegründeten ‚Außenwelt‘ zuweist, dass sie (wie in der Praxis der ‚Perspektive‘) zwischen Subjekt und Objekt eine Distanz legt, die zugleich das Objekt vergegenständlicht und das Subjekt verpersönlicht“15 Erst in diesem Außenraum kann der Künstler den Gegenstand als etwas Selbständiges und damit Individuelles wahrnehmen und ihm einen Ort geben, der durch den Raum, das Licht und die ihn umgebenden Gegenstände sichtbar wird. In einem Handbuch über das Erlernen der Malerei zitiert Lovis Corinth aus einem Brief seines Malerkollegen Hans von

14 König, Schön, a.a.O. S. 113. 15 Erwin Panofsky, „Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie.“ Zitiert nach König, Schön, a.a.O S. 43. 216

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Marées an eine Schülerin: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie dabei niemals einen Gegenstand für sich betrachten, sondern stets beobachten, wie sich derselbe zu seiner Umgebung verhält. Sei es nun in seiner Begrenzung, d.h. Form, oder auch in der Farbe.“16 Die Stilllebenmaler des 17. Jahrhunderts schaffen mit Vorliebe teils überbordende Jagd-, Früchte- und Blumenstillleben von großer malerischer Akkuratesse in den Fellen, im Gefieder, in den Schalen und Blütenblättern, teils Mahlzeitstillleben mit Brot, Käse, Fisch, Nüssen, Karaffen und Weingläsern, oder sie stellen Arrangements von aufgeschnittenen Südfrüchten dar, zusammen mit kostbaren Metall- und Kristallgefäßen. Im letzteren Falle handelt es sich oft um die Darstellung sogenannter Schau-Bankette, die bei gastlichen Gelegenheiten aufgebaut wurden und das Kostbarste an Geräten, Geschirr und exotischen Speisen zur Schau stellten, was der betreffende Haushalt bieten konnte. Andererseits gibt es auch sogenannte Essenstafeln, die Tonkrüge und Gläser mit Bier, Teller mit Brot, Fisch und Zwiebeln auf einfachen Holztischen darstellen. Gemeinsam ist allen diesen Darstellungen, dass die Objekte mit einer staunenswerten Maltechnik wiedergegeben sind, was die Behandlung der Oberflächen und ihrer optischen und taktilen Qualitäten, der Lichtführung und Beleuchtung mit all den daraus resultierenden Glanzerscheinungen, Reflexen und Schatten oder der Transparenz von Gläsern und Flüssigkeiten betrifft. Durch ihre Frische, ihren Schimmer, ihre Reflexe und Spiegelbilder prunken sie ganz unverhohlen mit der virtuosen Technik der Künstler. Gleichzeitig verraten sie eine Wertschätzung und eine ästhetische Freude an diesen Dingen, vor allem aber ein leidenschaftliches Interesse der Maler an ihrer optischen Erscheinung. Man kann von einer Erforschung der Bedingungen der Erscheinung von Gegenständen mit dem Pinsel sprechen, die die gleichzeitige wissenschaftliche Erforschung der Gesetze der Optik ergänzt und teilweise korrigiert. Unscheinbareren Bildinhalten begegnen wir, wenn wir Meisterwerke der Stilllebenmalerei späterer Zeit betrachten. Jean-Siméon Chardin (1699 – 1779) hat vor allem Stillleben und Genrebilder gemalt sowie wenige Porträts von sich und seiner Frau. Er war lange Jahre Sekretär der französischen Akademie der schönen Künste und wurde von zeitgenössischen Kunstkennern wie Diderot hoch geschätzt. Gegenüber der Raffinesse der Sujets und ihrer Anordnung in den Bildern des 17. Jahrhunderts bildet die betonte Anspruchslosigkeit und Privatheit von Chardins Arrangements einen auffälligen Kontrast. In seinen Bildern finden wir einen toten blutigen Rochen, oder einen an den Hinterläufen aufge16 König, Schön, a.a.O. S. 207 217

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

hängten Hasen, aus dessen Schnauze einige Blutstropfen auf die darunter liegende Tischplatte gefallen sind, zusammen mit einem Kupferkessel, zwei Kastanien und einer Quitte. Ein anderes Bild zeigt einen umgestürzten Kupferkessel, einen Mörser, ein Tongefäß und zwei Zwiebeln mit einem Küchenmesser auf einer Tischplatte. Nichts ist diesem großen Stilllebenmaler zu banal, im Gegenteil, die Küche mit ihren einfachen Geräten, Früchten und Rohstoffen ist sein Lieblings-Szenario. Noch einmal gut 100 Jahre später hat Paul Cézanne (1839 – 1906) die Requisiten seiner Stillleben noch weiter auf drapierte Tücher mit Schalen, Krügen, Tellern, Gläsern, mit Früchten und Blumen reduziert. Chardins Gegenstände präsentieren sich nicht, sie drängen sich nicht nach der Bewunderung des Betrachters, sie weichen eher zurück und bilden nur die Akzente eines Ensembles. Der ikonographische Sinn ist hier verdichtet in die Aura von Authentizität und Intimität, die sich in der Individualität und Präsenz der dargestellten Gegenstände ausdrückt. Die ikonologische Sinnebene ist dagegen vollständig eingezogen – über ihre individuelle Präsenz hinaus wollen die Arrangements nichts „bedeuten“. Sie verkörpern nach Diderot „Natur und Wahrheit“ und erzählen – so formuliert Proust – von der Freundschaft zwischen Menschen und Dingen.

2.5.4 Diderot über Wahrheit und Natur in Chardins Bildern Diderot hat zwischen 1759 und 1771 die in den alle zwei Jahren stattfindenden Salons der königlichen Akademie ausgestellten Bilder Chardins immer wieder besprochen und vor allem ihre „Natur“ und ihre „Wahrheit“ gerühmt. Schon 1759 tauchen diese Begriffe bei der Besprechung seiner Genrebilder und Jagd-Stillleben auf17 und 1761 konstatiert er angesichts des Tischgebets und verschiedener Stillleben wieder „äußerste Wahrheit“. Er attestiert dem Maler hohe Bildung und die Beherrschung der Theorie der Malkunst, seinen Bildern prophezeit er Nachruhm.18 Diese Hochschätzung des Malers ist insofern beachtlich, als das Genrebild und das Stillleben damals die (allgemein sowie von der

17 „C’est toujours la nature et la verité …“ Die Besprechungen Diderots werden zitiert nach Marianne Roland Michel, Chardin. Paris Edition Hazan 1999 S. 264-266. 18 „Ce Chardin est homme d’esprit; il entend la théorie de son art; il peint d’une manière qui lui est propre, et ses tableaux seront un jour recherchés.“ 1761 wiederholt er: „ Chardin est homme d’esprit, et personne peut-être ne parle mieux que lui de la peinture.“ 1763: „C’est la nature même; les objets sont hors de la toile et d’une verité a tromper les yeux.“ Roland Michel a.a.O. 218

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Akademie) am niedrigsten eingestuften Sujets waren und weit unterhalb religiöser und historischer Motive rangierten. Was bedeutet es, wenn Diderot an Chardins Bildern ihre Natur rühmt? Diderot hatte einen aufklärerisch-kritischen, aber keineswegs mechanistisch-reduktionistischen Naturbegriff. In seinen Gedanken zur Interpretation der Natur macht er gleich in der kurzen Einleitung klar, „dass die Natur nicht Gott ist, dass ein Mensch keine Maschine ist, dass eine Hypothese keine Tatsache ist.“19 Die Natur ist für ihn nicht das Gesetzmäßige, sie schafft unaufhörlich Neues, Unvorhersehbares. Er misstraut Linnés schematische Nomenklatur alles Lebendigen20 und ist überzeugt, dass die Erscheinungen der Natur eine Kette bilden, die nirgends Sprünge aufweist. Darin folgt er ausdrücklich Leibniz, und er folgt ihm auch in der Annahme des principium identitatis indiscernibilium (Abschn. 1.1.1), nach dem die Natur sich nirgends wiederholt. Er fragt sogar, ob „es in der Natur vielleicht niemals zwei Grashalme von unbedingt gleichem Grün gegeben hat und geben wird.“21 Ein rationales philosophisches System aus Hypothesen kann die Natur niemals einholen – Hypothesen sind keine Tatsachen. Experiment und Beobachtung haben gegenüber der „rationalen Philosophie“ die Priorität.22 Das Typische und Allgemeine ist Produkt der Vernunft, Natur ist dagegen immer einzigartig. Höchstes Ziel der Kunst muss dementsprechend die Nachahmung der Natur sein: „Die Erzeugnisse der Kunst werden unbedeutend, unvollkommen und mangelhaft sein, solange man sich nicht eine genauere Nachahmung der Natur vornimmt.“23 Natur bezeichnet hier also nicht das, was frei von kulturellem und zivilisatorischem Eingriff ist, sondern das, was die Dinge selbst, ihre eigenstes und besonderes Selbstsein ausmacht. Unter „Natur“ und „Wahrheit“ in Chardins Bildern versteht Diderot also die Genauigkeit und Authentizität, mit der die Dinge und Szenen in ihrer jeweiligen Besonderheit wiedergegeben sind. „Wahr“ sind die Bilder, sofern sie nicht das Typische, sondern das Singuläre ihrer „Natur“ zur Anschauung bringen. An keiner Stelle erwähnt Diderot symbolische Bezüge oder eindeutige pädagogische Absichten, die mit den Bildern transportiert werden sollten. Da Diderot Chardin und seine Ansichten über Kunst offensichtlich gut gekannt hat und ein sehr kompetenter Kommentator der zeitgenössischen Kunstszene war, kann man davon 19 Denis Diderot, „Gedanken zur Interpretation der Natur“. In Ders., Über die Natur. Frankfurt Fischer 1989. S. 9. 20 Ebd. S. 48. 21 Ebd. S. 59. 22 Ebd. S. 22. 23 Ebd. S. 38. 219

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ausgehen, dass solche Bezüge weder in der Absicht des Malers lagen noch beim informierten Betrachter solcher Bilder unterstellt wurden. Auch in den späteren Jahren bilden die Begriffe Natur, Wahrheit, Harmonie den Grundakkord von Diderots Besprechungen. 1765 finden wir die Bemerkung, dass es keine undankbaren Objekte in der Natur gibt, dass es nur darauf ankomme, wie sie wiedergegeben werden.24 In der Kritik von 1769 berichtet Diderot eine bezeichnende Anekdote über Chardin als Zeugnis für seine strenge Selbstkritik: Ein Jagd-Stillleben blieb unvollendet, weil die Hasen, nach denen er arbeitete – und er arbeitete sehr lange an einem Bild – , verdarben und man keinen Ersatz beschaffen konnte. Entweder waren sie zu braun oder zu hell. Diese Anekdote scheint mir einen entscheidenden Hinweis auf die Intention des Malers zu geben: Eine Echtheit, die seiner strengen Selbstkritik standhielt, konnte Chardin nur durch die Darstellung individueller Objekte erreichen, und er hat in seinen Stillleben individuelle Gegenstände gemalt. Es wird berichtet, dass er immer die Originale beim Malen brauchte. Wir finden immer wieder den silbernen Becher, bestimmte Krüge und Porzellanschüsseln, Kupferkessel, einen grün bezogenen Spieltisch, und vor allem den großen kupfernen Wasserspender mit Messinghahn,25 der in verschiedenen Genrebildern zu sehen und zudem Gegenstand eines Bildes von 1734 ist (Bild 1). Er steht auf einem groben dreibeinigen Holzuntersatz und kann keinerlei besondere Schönheit für sich beanspruchen. Auf dem genannten Bild ist er zusammen mit einer an die Wand gelehnten Schöpfkelle, einem dunkelgrünen Krug und einem gefüllten Wassereimer dargestellt. Die funktionale Zusammengehörigkeit dieser Gegenstände spiegelt sich in dem relativ schmalen Farbspektrum, das sich zwischen blassem Ocker von Wand und Fußboden, dem Braunrot des Kupfers und dem dunklen Olivton des Kruges und der Wasserfläche bewegt. Aber schon die Schöpfkelle enthält das gesamte Farbspektrum: Das Licht, das auf die Gegenstände fällt und von ihnen reflektiert wird, schafft ein Band zwischen den Dingen und erzeugt eine Atmosphäre von Harmonie und Authentizität. Die Authentizität und Wahrheit des Dargestellten wird also nicht durch minutiösen Realismus im Detail geschaffen – im Gegenteil: Die dargestellten Gegenstände grenzen sich nicht durch scharfe Konturen ab,

24 „C’est-là qu’on voit qu’il n’y a guère d’objets ingrats dans la nature, et que le point est de les rendre.“ Roland Michel a.a.O. S. 265. 25 „Chardin peint sur le modèle […] grâce surtout aux tableaux, il serait aisé de reconstituer dans ses moindres détails l’intérieur de la famille Chardin.“ Pierre Rosenberg, Chardin. Skira Genève 1991 S. 47. 220

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Bild 1. Jean Siméon Chardin: Kupferner Wasserspender (um 1734)

„sie wirken auf irritierende Weise unscharf.“26 1763 spricht Diderot von der Magie Chardins, durch die die Gegenstände für den Betrachter entstehen, wenn er sie aus einem bestimmten Abstand betrachtet, während in der Nähe alles zerfließt.27 Aber sie werden verbunden von einem Netz 26 Sybille Ebert-Schifferer, Die Geschichte des Stilllebens. München Hirmer 1998. S. 250 Die Autorin bemerkt dazu noch: „Statt dessen schafft Chardin eine Art Farbaura um den einzelnen Gegenstand, die auf magische Weise noch die Leerstellen seiner Bilder beseelt. Die Erkenntnis, dass die Farbe eines Gegenstandes sich durch diejenige des benachbarten Objekts verändert, [...] führt neben der Aufgabe der Lokalfarbigkeit schließlich auch zu Chardins Neuerung einer nahezu pointillistischen Technik, die das allmähliche Eindringen einer Farbe in die andere ermöglicht und zugleich den Gegenstand aus der Nähe auflöst.“ 27 „O Chardin! Ce n’est pas du blanc, du rouge, du noir que tu broies sur ta palette; c’est la substance même des objets, c’est l’air et la lumière que tu 221

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von Bezügen innerhalb des Bildes, von Reflexen, Schatten, Spiegelungen und Farbverwandtschaften, die allem eine Stimmigkeit verleihen. Sie sind an „ihrem Platz“, sind dort heimisch und vermitteln Nähe und strahlen auf den Betrachter Stille, Ruhe und Harmonie aus.28 Sie können dies, weil sie in Chardins Bildern für sich und unter sich bleiben, sie werden nicht dem Betrachter präsentiert, sie gehen ganz in ihrer ‚natürlichen‘ Umgebung auf. Gerade dieses Fürsichsein ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass sie für uns im Bild authentisch, d.h. als das, was sie sind, erscheinen. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Glanz und Schimmer der Oberflächen der Gegenstände nicht allein durch die Beleuchtung und die Lage der Gegenstände, sondern ganz wesentlich durch den Blick, die Richtung unseres Blicks auf diese Gegenstände, bestimmt ist. Wenn also Chardin diesen Glanz, die Reflexe, Schatten und Spiegelungen, diese Kommunikationen und Bezüge zwischen den Dingen in seinen Bildern so stimmig darstellt, dann malt er damit nichts anderes als seinen und damit unseren Blick mit in das Bild hinein. In dem Moment, in dem sich unser Blick auf das Bild richtet, ist er dadurch schon in diesen Dingraum einbezogen und dort „heimisch“, wie sich Merleau-Ponty ausdrückt (Abschn. 2.2.4). Wir können die von Chardin immer wieder gemalten Dinge wiedererkennen und eignen uns im Blick auf das Bild seinen Blick auf die Dinge an. Dadurch teilt sich uns seine Vertrautheit und seine Wertschätzung den Dingen gegenüber mit. Wir sind in den Kreis ihrer Sichtbarkeit einbezogen und fühlen uns von ihnen angesehen. Die Wechselwirkung zwischen Ding und Blick, die Merleau-Ponty als für die Dingidentität konstitutiv erkannte, ist auch im Falle des Bildes wirksam. Allerdings hat die von Diderot gerühmte Natur der Bilder, ihre Authentizität, einen Preis: Sie hebt tendenziell das Bild selbst auf, das lediglich ein Fenster bildet, das unseren Blick auf die Dinge selbst lenkt.

prends à la pointe de ton pinceau et que tu attaches sur la toile. [..] On n’entend rien à cette magie. Ce sont des couches épaisses de couleurs appliquées les unes sur les autres et dont l’effet transpire de dessous en dessus. D’autres fois, on dirait que c’est une vapeur qu’on a soufflée sur la toile; ailleurs, une écume légère qu’on y a jetée. [..] Approchez vous, tout se brouille, s’aplatit et disparaît; éloignez-vous, tout se crée et se reproduit.“ Roland Michel, a.a.O. S. 264. 28 „[..] point de confusion, point de symmétrie non plus, point de papillotage; l’oeil est toujours recréé, parce qu’il y a calme et repos. On s’arrӋte devant un Chardin comme d’instinct, comme un voyageur fatigué de sa route va s’asseoir sans presque s’en appercevoir, dans l’endroit qui lui offre un siège de verdure, du silence, des eaux, de l’ombre et du frais.“ Roland Michel a.a.O. S. 266. 222

2.5 DING UND BILD IM STILLLEBEN

2.5.5 Prousts Blick auf Chardins Bilder Marcel Proust spricht in seinem Aufsatz Chardin und Rembrandt von 1895 einen fiktiven jungen Mann an, der deprimiert und angeekelt ist von der Trivialität des Alltags. Er führt ihn im Louvre vor die Bilder Chardins, um ihn durch die ästhetische Erfahrung der in den Bildern transformierten Wirklichkeit von seinem ‚ennui‘ vor der Wirklichkeit selbst zu heilen. Wie vollzieht sich nun die Verwandlung der Banalität einer Szene in die Köstlichkeit des Bilds? „Wenn sie sehen, dass er [der Maler] Ihnen [den Dingen] die Geheimnisse anvertraut, die er von ihnen erfahren hat, werden sie sich nicht mehr verbergen und sie Ihnen selbst anvertrauen. Das Stillleben [nature morte!] vor allem wird ein sprechendes Leben werden. Wie die lebenden werden die toten Dinge Ihnen immer etwas Neues zu sagen haben, einen Reiz aufleuchten lassen, ein Geheimnis enthüllen; das Alltagsleben wird sie bezaubern, wenn Sie einige Tage lang seiner Malerei wie einer Belehrung gelauscht haben; und wenn Sie das Leben seiner Malerei begreifen, werden Sie die Schönheit des Lebens gewonnen haben.“29

Chardins Bilder zeigen uns die Wirklichkeit „unendlich differenziert, reich und sanft“.30 Von den Gegenständen und Lebewesen in seinen Genrebildern heißt es: „Sie haben die Gegenstände und Früchte gesehen, lebendig wie Personen, und Gesichter von Personen mit einer Haut, einem Flaum und einer Farbe, wie man sie bei Früchten bemerken und betrachten kann. Chardin geht noch weiter, indem er Gegenstände und Personen in jenen Stuben vereint, die mehr als ein Gegenstand und vielleicht auch mehr als eine Person sind: deren Lebensraum, das Gesetz ihrer Affinitäten, oder ihrer Kontraste, der schwebende und verhaltene Duft ihres Zaubers, stummer und doch indiskreter Vertrauter ihrer Seele, das Heiligtum ihrer Vergangenheit. Wie zwischen Lebewesen und Dingen, die seit langem in Einfachheit zusammenleben, die einander nötig haben und ein dunkles Gefühl von Freude empfinden zusammenzusein, so ist hier alles Freundschaft. [...] Freundschaft zwischen den Farben [...] – zwischen diesem Tischtuch und dem Licht, – zwischen dem Licht und diesem ganzen Zimmer, [...] – zwischen den Lebewesen und den Dingen – zwischen der Vergangenheit und dem Leben – zwischen Hell und Dunkel.“31

29 Marcel Proust, „Chardin und Rembrandt“. Marcel Proust, Werke I Bd. 3. Essays, Chroniken und andere Schriften, Frankfurt Suhrkamp 1992 S. 92. 30 Ebd. S. 96. 31 Proust a.a.O. S. 99 f. 223

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Woran wird in Chardins Bildern sichtbar, was Proust das Gesetz der Affinitäten zwischen Dingen und Personen oder als Atmosphäre von Freundschaft zwischen ihnen nennt? Um dies an den Chardinschen Stillleben nachvollziehbar zu machen, ist ein Blick auf einige seiner Genrebilder angebracht. Wir sehen in diesen Bildern oft einzelne junge Menschen, die im Spiel mit einem Kreisel oder Ball vertieft oder beim Zeichnen sind, auch Frauen bei einer Hausarbeit. Ihre Haltung ist nicht dem Betrachter zugewandt, sie präsentieren sich nicht, sondern sie gehen selbstvergessen in ihrer Tätigkeit auf und wirken dabei gleichzeitig konzentriert und gelassen. Oder wir beobachten Erwachsene oder Heranwachsende im Umgang mit Kindern, beim Spiel oder bei Unterweisungen. Auch hier sind die Personen auf ihr Gegenüber konzentriert, und ihre Gestik ist frei von Rollenklischees. Andreas Gruschke32 hat die pädagogischen Situationen unter dem sehr treffenden Titel Bestimmte Unbestimmtheit als offene Situationen gekennzeichnet, die nicht in eindeutigen Rollenschemata aufgehen. Das ist bemerkenswert, wenn man berücksichtigt, dass Chardins Bilder im spätfeudalen, absolutistischen, vom Hof beherrschten Frankreich entstanden sind. In den Bildern seiner Zeitgenossen Boucher, Greuze oder Fragonard stellt sich diese höfische Welt des Rokoko dar. Dort präsentieren sich die Personen in den Bildern, sie setzen sich durch ihre Gestik und Kleidung in Szene, die Konversation spiegelt die gesellschaftliche Hierarchie. Chardins häusliche Welt ist davon radikal verschieden. Seine Personen sind einer Beschäftigung, der Arbeit oder dem Spiel zugewandt. Das Bild stellt mit seinen Binnenbezügen eine (im eigentlichen Wortsinne) private Welt dar, die in sich abgeschlossen und aus der das öffentliche Allgemeine ausgegrenzt ist. Das äußert sich auch darin, dass in seinen Bildern – ganz im Gegensatz zu den holländischen Genrebildern des 17. Jahrhunderts – keine Fenster oder geöffneten Türen mit Blick nach draußen (allenfalls in einen anderen Innenraum) zu sehen sind. Das gibt den Bildern eine besondere Intimität und unaufdringliche Authentizität. Zwei Bemerkungen, die sich vor allem auf die Genrebilder beziehen, sind nötig, um das Gesagte zu präzisieren und um Missverständnisse zu vermeiden. Zum einen erlaubt gerade die Absichtslosigkeit dieser Darstellungen, aus ihnen sehr viel über das Selbstverständnis des Bürgertums seiner Zeit abzulesen. So gibt der Ernst und die Konzentration, mit denen die Jugendlichen und Kinder in den Bildern ausgestattet sind, Zeugnis von einem neuen Verständnis der Welt der Kindheit – einer 32 Andreas Gruschke. Bestimmte Unbestimmtheit. Chardins pädagogische Lektionen.Wetzlar Büchse der Pandora Verlag 1999 224

2.5 DING UND BILD IM STILLLEBEN

„ernsten, heiteren und konzentrierten Kindheit“ wie sie uns auch bei Rousseau begegnet33 – und von einer neuen Einstellung zu Erziehung und Bildung. Zum anderen hat der große Erfolg der Bilder, in denen das Publikum sich und seine Lebensart offenbar wiedererkannte, zu einer Flut von Reproduktionen in Form von Stichen geführt, die sehr große Verbreitung fanden. Diese Stiche wurden oft mit gereimten Texten versehen, die „die Vorlagen banalisieren, indem sie die Besonderheit des Modells verflachen“ und in denen „Prototypen an die Stelle der Modelle treten“.34 Den für das breitere Publikum bestimmten Reproduktionen wurde also eine ikonologische Sinnebene nachträglich eingezogen – auf Kosten der Authentizität. Wie stark das Bedürfnis des Publikums der Zeit nach didaktischen und moralischen Botschaften in Bildern war, beweist die große Verbreitung Hogarthscher Stiche um diese Zeit. Dass Chardins Bilder solche eindeutigen und banalen Botschaften nicht enthalten, zeigen die erwähnten Analysen von A. Gruschke überzeugend.35 Privatheit und Ruhe strahlen auch die Stillleben aus. Nur in den ganz frühen Stillleben wie das mit dem geöffneten und blutigen Rochen und mit der über die Austern laufenden Katze verrät das Arrangement eine gewisse inszenierte Dramatik. In den späteren Bildern bleiben die Dinge unter sich. Die Frucht ruht in der Schale, in die sie gelegt wurde und die auf den Küchentisch neben das Glas und neben den Krug gestellt wurde, und das Arrangement bildet für den Betrachter allenfalls die Spur eines menschlichen Umgangs, ähnlich dem von archäologischen Fundstücken in einer frisch geöffneten Grabkammer. Am genauesten hat dies vielleicht Cézanne beschrieben, der in einem von Gasquet wiedergegebenen Gespräch sich über Chardins Kunst folgendermaßen geäußert hat: „Diese Gläser, diese Teller, sie sprechen miteinander, sie tauschen unentwegt Vertraulichkeiten aus. [...] Die Gegenstände durchdringen sich gegenseitig. – Sie hören nicht auf zu leben, verstehen Sie? Sie breiten sich unmerklich um sich aus, durch ihren eigenen Widerschein, wie durch unsere Blicke und durch unsere Worte. Chardin hat das zuerst geahnt, er hat die Atmosphäre der Dinge farbig abgestuft. [...] Er vernachlässigte nichts. So hat er auch diese Begeg-

33 „Ce monde de l’enfance, une enfance sérieuse, sereine et concentrée, n’est-ce pas un peu celui sur lequel Jean-Jacque Rousseau sera l’un des premiers à se pencher?“ Rosenberg, a.a.O. S.57 34 „Ces textes passe-partout, [...] banalisent les sujet en amoindrissant la spécifité du modèle crée par Chardin. [...] Dans ces textes, les modèles ont laissé place à des prototypes; . “ Roland Michel, a.a.O. S. 240. 35 Gruschke, a.a.O. 225

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

nung der kleinsten Teilchen in der Umgebung der Dinge, diese Lebenspartikel, welche die Dinge einhüllen, erfasst.“36

2.5.6 Die Wiederaufnahme des Stilllebens durch Cézanne In den rund hundert Jahren zwischen Chardins Tod 1779 und der Entstehung von Cézannes Stillleben ab etwa 1870 spielt diese Bildgattung keine große Rolle in der europäischen Malerei. Für die Maler von Barbizon und die Impressionisten ist die Landschaft das zentrale Motiv. Bei Delacroix, Courbet und Manet tauchen Stillleben nur vereinzelt auf, oft mit deutlicher Bezugnahme auf Chardin. Erst bei Cézanne tritt dieser Bildtyp wieder gleichwertig neben Landschaft und Porträt. bhnliches gilt für die deutsche Malerei, und es ist bezeichnend, dass das Stillleben hier um dieselbe Zeit in dem durch das Ethos des “Rein-Malerischen“ geprägten Kreis um Leibl wieder Bedeutung gewinnt, z.B. bei Otto Scholderer und vor allem bei Carl Schuch, der in seinen Stillleben ab 1870 einen Weg einschlägt, der mit dem Cézannes vergleichbar ist. Cézanne begann zu malen in der Blütezeit des Impressionismus, und er war mit impressionistischen Malern befreundet, so mit Claude Monet und besonders mit Camille Pissarro. Auch diese Maler hatten als Ziel die möglichst getreue Wiedergabe von Natur. Sie wollten sie möglichst unmittelbar so darstellen, wie sie sie sahen, und ihrem Malstil lag eine bestimmte Theorie der Wahrnehmung zugrunde. Diese Theorie besagt, dass wir letzten Endes immer Licht, das heißt Farben sehen. Der Impressionist will keine Gegenstände malen, sondern Impressionen durch Farbflecken oder –punkte erzeugen. Dahinter steckt die Theorie von der Farbzerlegung in die Spektralfarben und deren additiver Mischung, also Newtons Farbenlehre. Verloren geht dabei das Ding als selbständiges Bildelement. Es gibt keine Konturen in diesen Bildern, nur das Spiel des Lichts. Alles wird in Lichtflecke, später in Lichtpunkte aufgelöst. Dadurch verlieren die Gegenstände im Bild ihre Dinghaftigkeit und Schwere und werden in vibrierende Farbinseln aufgelöst.37 Cézanne wendet sich von der Doktrin des Impressionismus ab und wieder dem Gegenstand zu. Ein Indiz dafür ist die wichtige Rolle, die das Stillleben in seinem Oeuvre spielt. Der schwierige Weg von der Im36 Zititert nach Bode Vischer, „Beobachtungen zu Chardins Einfluß auf die Stillebenmalerei von Manet, Courbet und Cézanne.“ In Katharina Schmidt (Hg), Cézanne Picasso Braque Der Beginn des kubistischen Stillebens Ostfildern-Ruit Hatje 1998 S. 117-135 dort S. 130 f. 37 „Gleichzeitig jedoch brachte dieses Malen der Atmosphäre und die Zerlegung der Farbtöne den Gegenstand und seine eigentümliche Schwere zum Verschwinden.“ Maurice Merleau-Ponty, „Der Zweifel Cézannes“ (DZC). In ders.: Sinn und Nicht-Sinn München, Fink 2000 S. 15. 226

2.5 DING UND BILD IM STILLLEBEN

pression zurück zum Gegenstand und gleichzeitig vorwärts zu einer völlig neuen malerischen Sicht bedeutete für Cézanne lebenslanges Studium der Natur und unaufhörliches Probieren in seinen Bildern. Er arbeitete meist lange an ihnen, sie wurden oft nicht fertig, und er war selten ganz zufrieden mit dem Ergebnis. Bis kurz vor seinem Tod sprach er davon, dass er Fortschritte mache, das Ziel aber noch lange nicht erreicht habe.38 Über das Verhältnis seiner Malerei zu der der Klassiker sagt er: „Sie machten Bilder, und wir versuchen uns an einem Stück Natur.“39 Mit diesem paradoxen Anspruch, in seinen Bildern die Dinge bzw. die Natur selbst zu geben, hat sich Cézanne in unauflösliche Selbstzweifel gestürzt. Das ist das Thema von Merleau-Pontys Aufsatz Der Zweifel Cézannes. Cézannes Abwendung vom Impressionismus und Hinwendung zum Gegenstand lässt sich an einer Reihe von Merkmalen seiner Malerei festmachen. Einmal enthält seine Palette andere Farben als die der Impressionisten, etwa warme Erdtöne und Schwarz, die bei den Impressionisten verpönt waren.40 Zum anderen fehlt seinen Bildern genau das, was schon den Bildern Chardins das impressionistische Flair gab: Das Spiel des Lichts auf den Oberflächen, die Reflexe und Schatten, die Atmosphäre, die die Gegenstände einhüllt und verbindet. Die Farben seiner Oberflächen wirken nicht als Reflexe der Beleuchtung, sondern leuchten aus eigener Kraft.41 Auf Grund der in unserem Sehorgan entstehenden Farbeindrücke ordnen wir die Flächen „in Licht, Halb- und Viertelton“, schreibt er an Bernard. „Das Licht existiert also nicht für den Maler.“42 Aber seine Malerei ist keine Rückkehr zum Realismus. Er zielt zwar auf die Realität, aber nicht mit den Mitteln einer realistischen Abbildung der

38 „Ich arbeite hartnäckig, ich sehe das Gelobte Land vor mir. Wird es mir ergehen wie dem großen Führer der Hebräer, oder werde ich es betreten können? [...] Ich habe Ihre Blumen [ein Stillleben], mit denen ich nicht recht zufrieden bin, aufgeben müssen.“ Brief an Vollard v. 9.1.1903, zitiert aus Paul Cézanne, Briefe (BRI). Hg. John Rewald, Diogenes Verlag Zürich 1962. 39 Merleau-Ponty, DZC S. 16. 40 „Der Gebrauch der warmen Farben und des Schwarz zeigt, dass Cézanne den Gegenstand darstellen, ihn hinter der Atmosphäre wiederfinden will.“ Ebd. S. 15. 41 „Der Gegenstand wird nicht mehr von Reflexen überlagert, verliert sich nicht mehr in seinen Beziehungen zur Luft und anderen Gegenständen, sondern wirkt wie dumpf von innen heraus beleuchtet, das Licht strömt von ihm aus, und daraus resultiert ein Eindruck von Festigkeit und Materialität.“ Ebd. S.15. 42 Brief an Emile Bernard vom 23.12.1904 Cézanne, BRI. 227

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Gegenstände,43 und das machte natürlich seine Schwierigkeiten aus. Typisch dafür ist seine differenzierte Behandlung der Kontur.44 Sie taucht vereinzelt in seinen Bildern auf, aber den Cloisonnismus (das verstärkende Nachziehen der Umrisse), wie er etwa von seinen Zeitgenossen Emile Bernard und Paul Gauguin praktiziert wird, lehnt er ab.45 Ihre Anwendung ist in jedem Fall Ergebnis einer genauen Analyse der Vorlage. Ein weiteres Beispiel für seinen freien Umgang mit realistischen Prinzipien der Bildgestaltung bildet die Perspektive. Merleau-Ponty spricht bei seinen Bildern von der „erlebten Perspektive“.46 In den Bildern erscheinen z.B. nahe Objekte nicht so groß, wie sie es nach der geometrischen Perspektive sollten, und ein Kreis erscheint bei schräger Aufsicht nicht als vollkommene Ellipse. Oft scheint die Perspektive sich zu ändern, wenn der Blick über das Bild wandert, oder man hat den Eindruck, die Gegenstände müssten mitsamt den drapierten Tüchern, auf denen sie angeordnet sind, vom Tisch rutschen (z.B. im Stillleben mit Ingwertopf, Zuckerdose und Äpfeln von 1893/94 Bild 2). Das Repertoire der in den Stillleben auftretenden Gegenstände ist bei Cézanne noch stärker eingeschränkt als bei Chardin: Früchte, Krüge, Schalen, Körbe, Blumen in einer Vase, ein drapiertes Tuch, der Tisch. Dieselben Requisiten tauchen – ebenso wie der Berg Sainte-Victoire in seinen Landschaften – immer wieder in seinen Stillleben auf. Trotzdem wirken die Dinge in seinen Bildern völlig anders als bei Chardin. Im Bild und durch das Bild sehen wir nicht mehr das individuelle Ding in einer bestimmten einmaligen Atmosphäre, sondern wir sehen das gemalte Ding, nicht ein Ding jenseits des Bildes. Es ist bekannt, dass Cézanne, weil er sehr lange an einem Bild malte, als Vorlage für seine 43 „Genau das nennt Bernard den Selbstmord Cézannes: Er zielt auf die Realität und versagt sich die Mittel, sie zu erreichen.“ Merleau-Ponty, DZC S.16. 44 „Überhaupt keine Kontur zu markieren hieße den Gegenständen ihre Identität rauben [..] Deshalb folgt Cézanne dem sich wölbenden Rand des Gegenstands mit einer Farbmodulation und markiert mit blauen Strichen mehrere Konturen. Dem zwischen ihnen hin und her pendelnden Blick bietet sich dann eine Kontur in statu nascendi dar, so wie es in der Wahrnehmung geschieht.“ Merleau-Ponty, DZC S. 19. 45 „[...] die Farbeindrücke, die das Licht geben, [sind] bei mir die Ursache von Abstraktionen, die mir weder erlauben, meine Leinwand ganz zu bedecken, noch die Abgrenzung der Objekte zu verfolgen, wenn die Berührungsstellen fein und zart sind; [...] Andererseits fallen die Flächen übereinander, woraus der Neoimpressionismus entstanden ist, der die Konturen mit einem schwarzen Strich umzieht, ein Fehler, der mit aller Kraft bekämpft werden muss. Doch gibt uns die Natur, wenn wir sie zu Rate ziehen, die Mittel, dieses Ziel zu erreichen.“ Brief an Emile Bernard v. 23.10.1905 Cézanne, BRI S. 295/296. 46 Merleau-Ponty, DZC S. 18. 228

2.5 DING UND BILD IM STILLLEBEN

Blumen-Stillleben künstliche Blumen verwendet hat. Das zeigt, dass es ihm im Gegensatz zu Chardin nicht auf die individuelle echte Blume ankam, sondern dass die Blumen erst in seinem Bild wirkliches Leben gewinnen mussten. Seine Gegenstände kommunizieren auch nicht wie bei Chardin durch Reflexe, Spiegelungen und Schatten miteinander und sind nicht in eine gemeinsame Licht-Atmosphäre eingebunden. Sie sind vielmehr durch ein gemeinsames Vokabular von Farben, aus dem das ganze Bild aufgebaut ist, aufeinander bezogen.

Bild 2. Paul Cézanne: Stillleben mit Ingwertopf, Zuckerdose und Äpfeln (1893/94)

2.5.7 Verfremdung und Verwandlung im Bild Die Rückkehr zum Ding, die sich laut Merleau-Ponty in Cézannes Malerei vollzieht, bedeutet also keinen Rückgang zu einer Darstellung individueller Gegenstände in ihren natürlichen Konstellationen wie bei Chardin. Cézannes Bilder sind keine Fenster, sie sind vielmehr selbst der Ort, an dem sich seine Gegenstände befinden. Seine Krüge und Früchte sind nirgends als dort, wo er sie gemalt hat. Wenn wir bei Chardin im Nachgang zu Panofsky und Imdahl die ikonographische Sinnebene durch die 229

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Identität der dargestellten Gegenstände repräsentiert sahen, so müssen wir bei Cézanne feststellen, dass nicht nur die ikonologische, sondern auch die ikonographische Sinnebene verschwunden bzw. ins Bild eingezogen ist. Das Bild selbst ist das Ding, das es darstellt, es steht nicht mehr für etwas außerhalb seiner selbst. Unter diesem Aspekt markiert Cézanne den Beginn eines Prozesses, im Laufe dessen der Gegenstandsbezug in der Malerei sich mehr und mehr auflöst, wie sich dies bei den Malern der Nabis-Gruppe, bei den Fauves und den Kubisten vollzieht, deren Vertreter wie Denis, Picasso oder Braque sich ausdrücklich auf Cézanne beziehen.47 Diese Entwicklung in der Malerei wird gerne etwas unscharf als eine Auflösung des Gegenstands bezeichnet, als Verfall oder gar als sein Verschwinden. Es scheint mir aber doch wichtig zu sein, darauf zu bestehen, dass wir es dabei erst einmal mit einer Auflösung des Bildes des Gegenstands zu tun haben, und zwar im Sinne der Auflösung einer als selbstverständlich geltenden bhnlichkeitsbeziehung zwischen Bild und Gegenstand. Cézannes Rückkehr zu den Dingen muss als ihre Neuschöpfung im Malprozess aufgefasst werden. Dazu verfremdet Cézanne den Gegenstand, indem er ihn aus der Vertrautheit des menschlichen Umgangs herausrückt, so dass er seine Konventionalität und – durch die beschriebene Mehrdeutigkeit der Perspektive – seinen eindeutigen Ort im Raum verliert. In Merleau-Pontys Formulierung streift Cézanne den Gegenständen die Hülle der Vertrautheit ab und enthüllt ihre im Grunde unmenschliche Natur,48 eine Natur im „Urzustand“. Sein Blick dringt in eine Schicht „primordialer“ Erfahrung, in der die Begriffe, mit denen wir die Dinge sehend und denkend in ihre gewohnten Bezüge einordnen, noch ungeformt und ungeschieden sind und erst entstehen.49 Er muss, mit anderen Worten, in seiner Malerei die Dinge verwandeln und auf

47 Gottfried Böhm, „Die Sprache der Dinge. Cézannes Stillleben“ (SDC) in Katharina Schmidt (Hg), Cézanne Picasso Braque Der Beginn des kubistischen Stilllebens Verlag Gerd Hatje, Ostfildern-Ruit 1998. Siehe die Besprechung von Maurice Denis’ Bild Hommage an Cézanne von 1900 auf S. 36/37. 48 „[...] die meiste Zeit über sehen wir alle diese Dinge nur unter dem Blickwinkel der menschlichen Tätigkeiten, [...]. Cézannes Malerei bricht mit dieser Gewohnheit und enthüllt den Boden einer unmenschlichen Natur, auf dem der Mensch sich einrichtet. ... ringsum erstarrte, zögernde Gegenstände, wie am Anfang der Welt. Es ist eine Welt ohne Vertraulichkeit, in der man sich unwohl fühlt, und die sich gegen alle menschlichen Gefühlsäußerungen sperrt.“ Merleau-Ponty, DZC S. 21. 49 „Cézanne geht eben auf die primordiale Erfahrung zurück, aus der diese Begriffe und Vorstellungen stammen und wo sie noch untrennbar verbunden sind.“ Ebd. S. 20. 230

2.5 DING UND BILD IM STILLLEBEN

eine Weise darstellen, wie sie noch nie gesehen wurden.50 Das ist der Sinn seiner oben zitierten Formulierung, dass er nicht Bilder malt, sondern sich an der Natur versucht. Der Versuch, in die Natur einzudringen, erfordert sowohl differenziertes Sehen wie wissenschaftliches Denken, Auge und Verstand, aber vor allem die untrennbare Einheit beider Zugangsweisen.51 Sein stundenlanges und unermüdliches Studium des Motivs war der Versuch, alle seine Aspekte zu erfassen in einer Totalität, die dann im Akt des Malens sichtbar werden sollte. Alle Bemühung des Malers sollte sich auf „das wahre und großartige Studium ... der Mannigfaltigkeit des Naturbilds“ richten, schreibt er an Bernard52, aber er warnt vor jeder Art von literarischer Einstellung und ungreifbarer Spekulation, durch die man sich vom Naturstudium entfernt. Aufgabe des Malers ist es, „das Abbild dessen zu geben, was wir sehen, und dabei alles zu vergessen, was vor uns dagewesen ist.“53. Er vertieft sich in sein Motiv, etwa eine Landschaft, in all ihre geometrischen, geologischen Strukturen, in ihre „Totalität und absolute Fülle“.54 Er „schaute nur noch, bis ihm die Augen, wie Madame Cézanne sagte, aus dem Kopf heraustraten. Er ließ die Landschaft in sich ‚aufkeimen‘ ... Die Landschaft, sagt er, denkt sich in mir, ich bin ihr Bewusstsein.“55 Diese im Grunde unmenschliche Aufgabe stürzte Cézanne in unaufhörliche Selbstzweifel. „Die Schwierigkeiten Cézannes“ – so MerleauPonty – „sind die des ersten Wortes. Er hielt sich für unvermögend, weil er nicht allmächtig war, weil er nicht Gott war und doch die Welt malen, sie gänzlich in einen Anblick verwandeln wollte, sichtbar machen wollte, wie sie uns unmittelbar berührt.“56 Seine Malerei stellt damit, wie Gottfried Boehm sich ausdrückt, den Versuch einer „Rettung der

50 „[...] er [der Künstler] spricht, wie der erste Mensch gesprochen hat, und malt, als hätte man noch nie gemalt.“ Ebd. S. 24/25. 51 „Ein Gesicht ‚wie einen Gegenstand‘ malen bedeutet nicht, dass man alles Gedankliche darin tilgt. ‚Ich verlange, dass der Maler es interpretiert,‘ sagt Cézanne, ‚der Maler ist kein Idiot.‘“ Ebd. S. 20. 52 Cézanne, BRI S. 282. 53 Ebd. S. 295. 54 „Er war der Ansicht, dass man malen lernen könne, dass das geometrische Studium der Flächen und Formen notwendig sei. Er informierte sich über die geologische Struktur der Landschaften. [...] Für alle Pinselstriche, die nach und nach ein Bild hervorbringen, gibt es nur ein einziges Motiv, die Landschaft in ihrer Totalität und absoluten Fülle – und genau das nannte Cézanne das ‚Motiv‘.“ Merleau-Ponty. DZC S. 20. 55 Merleau-Ponty, DZC S. 22. 56 Ebd. S. 25 Hervorhebungen im Original. 231

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Phänomene“ dar.57 Die Rettung vollzieht sich bei Cézanne als Anverwandlung des Gegenstands in die Sprache seiner Malerei.

2.5.8 Die Bildsprache Cézannes Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, musste Cézanne eine neue malerische Sprache erfinden, die diese primordiale Welt sichtbar macht. Seine Malerei muss als Prozess der Transformation, der Übersetzung verstanden werden, bei dem nach Gottfried Boehm malerische bquivalente geschaffen werden, die nicht Abbilder der Dinge sind, sondern autonome Elemente, Worte einer Sprache in einer Schrift oder Textur, in der das Bild formuliert ist. „Die Sprache der Dinge: das ist die Malerei“.58 Aber es ist nicht die vertraute Sprache des menschlichen Umgangs mit den Dingen, sondern die einer tieferen Seinsschicht, die nur einem Blick zugänglich ist, der sich von Wahrnehmungsklischees frei gemacht hat. Auch Chardins Bilder sprechen aus dieser Tiefe, aber sie vertrauen noch auf die Fähigkeit des Betrachters, durch die oberflächlichen Sehgewohnheiten hindurch die Dinge in ihrer individuellen Einmaligkeit und Würde wahrnehmen zu können. Cézanne misstraut dieser Fähigkeit und schafft eine Bildsprache, die diese Sehgewohnheiten nicht bedient und deshalb zuerst fremd erscheint. Man muss die Schrift dieser Bilder lesen lernen,59 und erst im Prozess des lesenden Sehens erschließt sich das Bild. Die Elemente dieser Schrift, die die Textur der Bilder bilden, sind sichtbare Bestandteile von Cézannes Malerei. Diderot bezeichnet es als die Magie Chardins, wie in seinen Bildern die Gegenstände erst in einem bestimmten Betrachtungsabstand erkennbar werden und aus der Nähe in einem geheimnisvollen Nebel verschwimmen. Die Textur seiner Bilder bleibt bei normaler Betrachtung unsichtbar und ein Geheimnis. Bei Cézanne ist die Textur als integraler Teil des Bildes sichtbar in Form von Farbflecken, die das Bild aufbauen und seine Einheit herstellen. 60 Man findet in seinen späten Bildern bei genauerem Hinsehen fast in jeder Flä57 Böhm, SDC S. 51. 58 Ebd. S. 51. 59 „Es gehört zur produktiven Logik Cézannes, die sichtbare Welt in malerische bquivalente zu übersetzen. bquivalente aber sind keine Abbilder, vielmehr Entsprechungen anderer Art. [...] Es liegt nahe, die sich entwickelnde Textur seiner Malerei eine ‚Sprache‘ zu nennen.“ Ebd. S. 42. 60 „Cézanne bindet das Dargestellte an das Substrat der Flecken und Linien, aus denen es hervortritt. Was in seinen Bildern erscheint, ist nicht, es wird zu dem, was es ist, im Prozess des Sehens.“ Gottfried Böhm, „Paul Cézanne und die Moderne“ in Cézanne und die Moderne. Hg. Fondation Beyeler. Ostfildern-Ruit Hatje 1999 S. 19. 232

2.5 DING UND BILD IM STILLLEBEN

che Spuren aller im Bild vorkommenden Farben, unabhängig von der „Lokalfarbe“ des dargestellten Gegenstands, wie in einem Text die Buchstaben unabhängig von der Bedeutung verteilt sind. Diese einheitliche Textur schafft die Bezüge zwischen den Bildteilen und die farbliche Harmonie seiner Bilder. Sie ist eine Eigenschaft des Bildes und nicht der dargestellten Gegenstände. Die Sichtbarkeit dieser Textur verhindert, dass der Blick sofort in das Bild hineingleitet. Er wird erst einmal festgehalten am Raster dieser Farbflecken, die sich erst allmählich zum Bild, zu einem Raum und zu Gegenständen ordnen lassen. Der Blick des Betrachters muss eine Synthese nachvollziehen, die der Maler vorher beim Malprozess als „Konstruktion nach der Natur“ vollzogen hat.61 Das wird besonders deutlich an den unvollendeten Bildern, in denen einzelne Farbinseln noch ohne Zusammenhang mit den Gegenständen auf der Fläche stehen, und an den vollendeten Bildern (besonders den Aquarellen), in denen weiße, von Farben unbedeckte Flächen stehen geblieben sind. Es gehört zum besonderen Kennzeichen der Cézanneschen Bildsprache, dass diese weißen Flächen für den Blick einen besonderen ästhetischen Anreiz bieten. Besonders die Aquarelle mit ihren oft nur angedeuteten Farbtupfern machen eindrucksvoll deutlich, wie stark die synthetisierende Kraft dieser wenigen Bildelemente ist, die dem imaginierenden Blick genug Stoff bieten, um das Bild „aufkeimen“ zu lassen. Wie lässt sich diese radikale Veränderung im Gegenstandsbezug in der Malerei erklären? Sicher nicht durch zwei unterschiedliche Personalstile. Es gab Zeitgenossen von Chardin wie Nicolas Desportes und von Cézanne wie Carl Schuch, die jeweils durchaus eigene Personalstile haben und an deren Bildern man entsprechende Veränderungen in Bezug auf ihr Verhältnis zum Gegenstand konstatieren kann. Andererseits unterscheiden sich die Teekannen, Schalen, Gläser und Krüge sowie die Früchte und Blumen, die in den Stillleben des 17., 18., 19., ja noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein bei Braque, Picasso oder Morandi auftauchen, nicht grundlegend. Auch an der physischen Beschaffenheit der Gegenstände selbst liegt es also nicht. Chardins Magie und seine Wahrheit beruht nach Diderot in der Fähigkeit dieses Malers, die Natur der Dinge zur Erscheinung zu bringen. Die Gleichheit der Erscheinung, die bis zum trompe l’oeil geht, erzeugt ihre Authentizität und beschwört die Gegenwart des Dargestellten im Bild. Die raison d’être der Bilder ist es, sich als Differenz zwischen Dar61 „Die Skizzen, die Bilder, wenn ich welche machen würde, wären nur Konstruktionen nach der Natur, ausgehend von den Mitteln, den Empfindungen und Entwicklungen, die das Modell suggeriert, doch ich sage immer dasselbe.“ Brief an den Sohn vom 13.10.1906 Cézanne, BRI S. 311. 233

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

stellung und Dargestelltem zum Verschwinden zu bringen und dadurch den abwesenden Gegenstand zu vergegenwärtigen. Das entsprach auch der Rolle, die Chardin als Stilllebenmaler in der zeitgenössischen Rangordnung einnahm, und die er als Sekretär der Akademie offenbar auch akzeptiert hat. Der Rang des Malers wurde durch die Dignität der dargestellten Sujets bestimmt. Und Chardins Sujets waren keine religiösen oder historischen Geschichten, auch keine Porträts, sondern Dinge, die im wahrsten Sinne keine Bedeutung hatten. Sie bedeuteten nur sich selbst und in der Authentizität dieses Selbstseins bestand ihre einzige Bedeutung und Würde. Es liegt in der inneren Dynamik dieser paradoxen Selbstverleugnung, dass es gerade die Vollkommenheit dieses Verschwinden des Bildes als Medium der Vergegenwärtigung war, die die Bewunderung der Betrachter auslöste. In dialektischer Umkehrung rückte damit wieder das Medium, die Kunst des Malers, in den Fokus der ästhetischen Aufmerksamkeit. Und dieser Wandel in der Rezeption lenkte wiederum von dem Dargestellten ab und ließ dieses als Sekundäres, ja Gleichgültiges erscheinen. In diesem Zusammenhang muss Cézannes Rückkehr zum Gegenstand verstanden werden. Seine Bilder leben nicht mehr von der Negation einer Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem, sondern von der Emanzipation der Darstellung vom Dargestellten, um dem dargestellten Gegenstand wieder Würde zu verleihen. Kriterium für die Wahrheit des Bildes ist dabei nicht die Übereinstimmung mit der Erscheinung des Gegenstands, sondern die Authentizität seiner Neuformulierung in der Bildsprache des Malers. Die Magie des Malers besteht in der Schöpfung einer Sprache, die die Dinge verwandelt und die dennoch lesbar ist. Diese Sprache wird als Textur der Bilder unübersehbar und verweist auf den Gegenstand, indem sie den Betrachter nötigt, ihn auf eine neue Art zu sehen. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich und auch nicht nötig, die Veränderungen im Erscheinungsbild der Dinge im Stillleben ins 20. Jahrhundert hinein zu verfolgen.62 Statt dessen richtet sich der Blick im folgenden Kapitel wieder auf die Dinge selbst und die Veränderungen, die sie in der jüngeren Vergangenheit erfahren haben.

62 Siehe z.B. den Band von Schmidt (Hg), Cézanne, Picasso, Braque a.a.O. 234

2.6 D AS E N D E

DER

DINGE?

2.6.1 Odradek oder: Ist das Ding noch zu retten? Die Vorstellung vom Ding als Träger einer sich durchhaltenden Identität, die beim Artefakt durch die Kongruenz von Herstellung, Funktion und Gebrauch erzeugt wird, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts auf verschiedene Weise im Zuge wissenschaftlicher Welterklärung dekonstruiert (Abschn. 2.1.1). Es erscheint für den kapitalistischen Zirkulationsprozess als Ware, für die Wissenschaft als Anhäufung von Molekülen und für den Positivismus des Philosophen Mach als substanzloses Bündel von Empfindungen. Die Bemühungen der Phänomenologie, die Dingheit der Dinge mit dem dekonstruktiven Zugriff einer verallgemeinernden und analysierenden Wissenschaft zu harmonisieren (Husserl, Abschn. 2.1.2) bzw. sie ihr gegenüber zu behaupten (Heidegger, Abschn. 2.1.3), erscheint vor diesem Hintergrund als Versuch einer „Rettung der Phänomene“. Diese Funktion haben Kommentatoren auch der Malerei Cézannes unterstellt (Abschn. 2.5.7). Spuren einer solchen Sorge um die Verlässlichkeit der Dinge finden sich auch in der Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, etwa in der Lyrik. So unterschiedliche Autoren wie Bertolt Brecht und Rainer Maria Rilke beschwören in Gedichten die alten und gebrauchten Dinge. In dem Gedicht Von allen Werken heißt es bei Brecht1:

1

Bertolt Brecht, Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt Suhrkamp 1981 S. 386. 235

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

„Von allen Werken die liebsten Sind mir die gebrauchten. Die Kupfergefäße mit den Beulen und den abgeplatteten Rändern Die Messer und Gabeln, deren Holzgriffe Abgegriffen sind von vielen Händen: Solche Formen Schienen mir die edelsten. ... Eingegangen in den Gebrauch der vielen Oftmals verändert, verbessern sie ihre Gestalt und werden köstlich Weil oftmals gekostet. ... sie bedürfen aber Noch unseres Verständnisses. Andererseits Haben sie schon gedient, ja, sind schon überwunden. Dies alles Beglückt mich.“

Rilke gilt als Hauptvertreter der lyrischen Gattung des sogenannten ‚Dinggedichts‘,2 dessen Themen Brunnen oder Treppen, ein Karussell, eine Statue oder ein Ball sein können. In seinem späten Hauptwerk, den Duineser Elegien, spricht Rilke wortmächtig von den Dingen und von dem Auftrag an den Menschen, sie durch Verwandlung zu retten. In der Neunten Duineser Elegie heißt es dazu:3 „Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. Sag ihm die Dinge. ... ... – Und diese, vom Hingang lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich, traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu. Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln In – o unendlich – in uns! Wer wir an Ende auch seien. ... „

Brecht spricht von der Bedürftigkeit der Dinge in Bezug auf unser Verständnis, und bei Rilke ist die Rettung der vom Hingang lebenden Dinge gleichzeitig die Quelle eigenen „überzähligen Daseins“, wie es am Ende 2

3

Kurt Oppert, „Das Dinggedicht. Eine Kunstform bei Mörike, Meyer und Rilke“. Dt. Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (1926), S. 747-783. Oppert hat die Bezeichnung Dinggedicht eingeführt. Beispiele aus dem 19. Jahrhundert sind Eduard Mörikes Auf eine Lampe und Conrad Ferdinand Meyers Der römische Brunnen. Rainer Maria Rilke, Werke Bd.I. insel taschenbuch 1101 Frankfurt Insel 1987 S. 719.

236

2.6 DAS ENDE DER DINGE?

dieser Elegie heißt. Man kann diese Verse sowohl als Kommentar zu seinen eigenen früheren Dinggedichten wie auch zu den Bildern Cézannes und anderer Maler der klassischen Moderne lesen, was durch seine vielfachen bußerungen zu Cézanne und zur bildenden Kunst seiner Zeit gerechtfertigt ist. Die Lektüre beider Gedichte erzeugt im heutigen Leser die Sorge, dass wir dieser Art von Dingen, die „von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet“, „köstlich, weil oftmals gekostet“, und die „neben der Hand und im Blick“ als „ein Unsriges“ leben, verlustig gehen könnten und auf die durch sie geschenkte „Beglückung“ verzichten müssen. Von einer ganz anderen Sorge ist in Franz Kafkas kurzer Erzählung Die Sorge des Hausvaters die Rede.4 Sie handelt von einem Wesen, das aus einer Zwirnspule, zwei damit verbundenen Stäbchen und einigen Zwirnresten besteht. Es scheint aus Holz zu sein, aber das ist unsicher. Dieser Beschreibung nach scheint es ein Ding zu sein, aber es kann „wie auf zwei Beinen aufrecht stehen“, geistert im Haus herum, hat einen Namen, hat Sprache und ein Lachen, „wie man es ohne Lungen hervorbringen kann“. Fragt man nach seinem Namen, sagt „er“: „Odradek“, nach dem Wohnsitz gefragt, antwortet er höchstens „Unbestimmter Wohnsitz“. Der Name Odradek, das wird gleich zu Beginn mitgeteilt, ist unbestimmten Ursprungs und es lässt sich ihm kein Sinn zuschreiben. Er scheint auch nicht zerbrochen zu sein und früher „irgendeine zweckmäßige Form gehabt zu haben“. „[D]as Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres lässt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.“ Dass Odradek eine völlig bestimmte Identität hat, ist schon durch seinen Namen und seine Fähigkeit, diesen zu nennen, gewährleistet. Aber ansonsten ist er begrifflich völlig unbestimmbar. Es lässt sich nicht einmal entscheiden, ob er ein Ding ist oder ein Lebewesen, er ist geschichtslos und wird nur als das Wesen bestimmt, das Odradek heißt. Und in dieser Unbestimmbarkeit liegt offenbar der Grund für die Sorge des Hausvaters. „Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, dass er auch mich noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.“

4

Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen. Fischer Taschenbuch. Frankfurt Fischer 1970 S. 139. 237

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Als etwas, was weder bestimmbare Eigenschaften oder Zwecke, ja nicht einmal eine Geschichte hat, die man über ihn erzählen könnte, ist Odradek ein paradoxes Unding. Er lebt im Haus, im menschlichen Umkreis, und ist doch nicht in diesen Umkreis integrierbar, er entzieht sich und lässt sich nicht fangen. Seine eigensinnige Identität und aufdringliche, aber unberechenbare Präsenz stellt einen bedrohlichen und hartnäckigen Protest gegen die Verfügbarkeit der Dinge dar, die wir für unser Leben verbrauchen und verwerten und über deren Anfang und Ende wir bestimmen. Was Odradek ist und wofür er steht, lässt sich am besten verstehen, wenn man versucht, sozusagen seinen begrifflichen Antipoden zu konstruieren. Es wäre das anonyme und gesichtslose, funktionale und völlig verfügbare technische Artefakt. Odradek ist offen, seine Gestalt ist sichtbar und dennoch rätselhaft. Und obwohl das moderne technische Artefakt verschlossen und versiegelt ist, birgt es keinerlei Geheimnis. Odradek ist der Gegenpol zum ebenfalls geschichtslosen, aber restlos mit seiner Funktion identischen Massenprodukt, das sich widerstandslos in den Kreislauf von industrieller Produktion und Entsorgung einfügt.

2.6.2 Ein neuer Typ von Dingen Kafkas Erzählung zeugt wie Cézannes Malerei von einem Zweifel an der selbstverständlichen Gegebenheit der individuellen Dinge. Offensichtlich hat das Ding, das sich für Brecht im Gebrauch veredelt hat und das nach Rilke „von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet als ein Unsriges lebt“, seine Rolle als typischer Repräsentant des Dings schlechthin verloren. Bei den Dingen des täglichen Gebrauchs, von Tisch und Stuhl bis zu den Koch- und Essgeräten, Kleidung, Toilettenartikeln, Werkzeugen, Schreibgeräten fand und findet noch eine Umschichtung statt. Die Dinge alten Schlages werden mehr und mehr verdrängt durch das Erscheinen neuer Typen von Dingen, die Vilém Flusser einerseits als Apparate, andererseits als ‚dummes Zeug‘ oder ‚Undinge‘ bezeichnet.5 Besonders das Auftauchen von Apparaten hat in allen Bereichen – privaten wie öffentlichen und kommerziellen – die alten Dinge in den Hintergrund gedrängt und damit auch unser Verhältnis zu den Dingen radikal verändert. Einige der sichtbaren Veränderungen, die diese neuen Dinge mit sich bringen, seien im Folgenden genannt.

5

Vilém Flusser, Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen. München Hanser 1993.

238

2.6 DAS ENDE DER DINGE?

1. An erster Stelle muss man feststellen, dass sie uns meist nicht mehr von „Geschlecht zu Geschlecht“ begleiten, ja noch nicht einmal ein Leben lang, sondern höchstens Jahre, manche auch nur Monate oder Tage. Das liegt vor allem an dem Zwang, unter dem ein Besitzer dieses Dinges in unserer Gesellschaft steht, es rechtzeitig zu ersetzen. Einerseits gibt es sehr bald bessere Typen dieser Sache, die modischer, ergonomischer, leistungsfähiger, haltbarer (!) sind. Zum anderen ändern sich gesetzliche oder technische Normen, durch die alte Geräte unbrauchbar werden. Und schließlich ist nach einer gewissen Zeit im Falle eines Schadens das Gerät nicht mehr reparierbar, weil die Ersatzteile nicht mehr verfügbar sind. Die Möglichkeit, ein defektes Gerät selbst wieder in Stand zu setzen, ist heute kaum noch gegeben. Das ist durch die moderne Bauweise bedingt, die die Funktionen verbirgt und miniaturisiert. Im Schadensfall wird Reparatur mehr und mehr ersetzt durch Austausch, selbst das Wort wird durch den Begriff Service verdrängt. Es liegt in der Konsequenz dieser Entwicklung, dass bei größeren Geräten in vielen Fällen an die Stelle des Kaufs das Leasing tritt, bei dem mit der Benutzung gleichzeitig der Service mit erworben wird. Damit wird die Bindung des Dings an die betreffende Person erheblich abgeschwächt, denn Eigentum schafft ein stärkeres Band zwischen Sache und Eigentümer als temporärer Besitz. Gleichzeitig bleibt die Sache stärker eingebunden in anonyme Netze ökonomischer und technischer Natur durch Leasingraten, Versicherungen und Service. All dies führt dazu, dass die Verweilzeit der Dinge in unserem persönlichen Umkreis kürzer geworden ist und tendenziell weiter abnimmt. 2. Die Dinge werden daran gehindert, Spuren ihres Gebrauchs zu zeigen. Sie altern nicht mehr. Sie verlieren dadurch ihr individuelles Gesicht und repräsentieren nur noch den Typ. Auf Grund ihrer Herstellung und der Materialien (Kunststoff statt Holz, Stahl und Aluminium statt Kupfer oder Messing) und der verschiedenen Methoden der Oberflächen-Versiegelung kann sich das Aussehen eines Autos, Kochtopfes oder Kleidungsstücks bei sachgerechter Pflege, über die wir beim Kauf ausführlich informiert werden, über ihre ganze Lebensdauer unverändert erhalten. Schließlich soll durch die äußerliche Unversehrtheit auch der Tauschwert des Gegenstandes möglichst auf hohem Niveau gehalten werden, um ihn bei einer Neuanschaffung noch günstig in Zahlung geben oder wiederverkaufen zu können. 3. An dritter Stelle ist eine Entkopplung oder Entfremdung zwischen Hand und Ding zu nennen. Einmal vergrößert sich der Abstand zwischen Hand und Ding dadurch, dass die Dinge heute nicht mehr von 239

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Hand oder handwerklich hergestellt werden. Der Entwurf der Dinge erfolgt am Computer, die materielle Produktion durch Automaten. Besonders auffällig ist die Entkopplung zwischen Hand und Ding aber in seinem Gebrauch. Apparate erledigen heute die Aufgaben, die früher durch entsprechende Werkzeuge von Hand ausgeführt wurden, effektiver, schneller, wobei sie die Hand mehr und mehr vom Tun entlasten. Das alte Rasiermesser – bestehend aus Griff und nachschleifbarer Schneide – wurde von Hand geführt und erforderte Geschicklichkeit, die erst schmerzvoll erlernt wurden musste. Der Handrasierapparat hatte einen sehr viel primitiveren Griff, denn sein Gebrauch erforderte weniger Geschicklichkeit und die Verletzungsgefahr war durch die Einfassung der austauschbare Klinge geringer. Der elektrische Rasierapparat schließlich besteht äußerlich nur noch aus einem als ‚Handschmeichler‘ geformten Griff, der gleichzeitig als Gehäuse die Mechanik und die Schneiden verbirgt. Die dafür erforderlichen Handlungen beschränken sich auf das Betätigen des Schalters und das Führen des Apparates über den Bart. bhnliche Beobachtungen lassen sich an der Entwicklungsgeschichte vieler Apparate machen. Gemeinsam ist ihnen eine Tendenz zur ‚Entlastung‘ der Hand zugunsten der Finger oder gar Fingerspitzen. Mit den Geräten wird nicht mehr ‚gehandelt‘, sie werden nur noch ein- und ausgeschaltet, d.h. ‚befingert‘ und folglich nicht mehr ‚begriffen‘. Die Beispiele dafür sind zahllos: vom Anzünden der Lampe zum Einschalten der Beleuchtung, vom Feuermachen zum Einschalten des Herdes, vom Schreiben mit der (vorher zurechtgeschnittenen und zwischendurch ins Tintenfass eingetauchten) Feder, die vom nachfüllbaren Füllfederhalter und schließlich vom Wegwerfprodukt Kugelschreiber ersetzt wurde, zum ‚Tippen‘ auf der Tastatur der Schreibmaschine und schließlich des Computers. Selbst dort gibt es die Tendenz, Funktionen von der differenzierenden Anschlag erfordernden Tastatur auf die Maus zu übertragen. Auch die Schalter haben sich von Dreh- und Kippschaltern, zu Druckknöpfen (buttons) und berührungssensitiven Flächen entwickelt. 4. Damit einher geht ein Verlust der Sichtbarkeit der Funktion. Die Gestalt der Dinge spiegelt nicht mehr ihren Zweck wieder, sondern ist durch ein Design bestimmt, das sich nach ästhetischen, ergonomischen und produktionstechnischen Gesichtspunkten richtet. Dadurch werden sich die Dinge einerseits immer ähnlicher (Fernbedienung, Mobiltelefon und Rasierapparat unterscheiden sich kaum mehr in ihrer äußerlichen Gestalt) und untypischer. Wo früher die Technik, das Getriebe noch sichtbar war oder mindestens durch Öffnen des Gehäuses noch sichtbar gemacht werden konnte, sind heute die Funktionselemente in einem Plastikgehäuse verkapselt, das oft gar nicht mehr ohne Beschädigung 240

2.6 DAS ENDE DER DINGE?

geöffnet werden kann. Und auch die Entwicklung der technischen Bauelemente in den letzten Jahrzehnten kann man als einen stetigen Verlust an charakteristischer Gestalt beschreiben. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man in ein Radiogerät der Fünfzigerjahre hineinsieht. Nirgends kommt diese Tendenz überzeugender zur Darstellung als bei Betrachtung der Entwicklung (Miniaturisierung) der Elektronik von der Elektronenröhre zum IC-Chip. 5. Eine weitere Veränderung besteht in einer Tendenz zur Multifunktionalität und Programmierbarkeit. Die Waschmaschine wäscht nicht nur, sondern sie hat zahllose verschiedene und verschieden kombinierbare Waschprogramme. Paradigma dieser Entwicklung ist der Computer. Es ist unmöglich, einen bestimmten Zweck dieses Geräts anzugeben, und es gibt gleichzeitig kaum einen Bereich menschlicher Aktivität mehr, wo man auf ihn verzichten könnte. Noch nie hat die Menschheit sich von einem Gerätetyp so abhängig gemacht. 6. Für die Apparate ist ferner charakteristisch, dass sie – im Gegensatz zu alten Dingen – vielfach vernetzt sind. Auch ein konventionelles Ding wie das erwähnte Rasiermesser ist nicht völlig autark. Seine Herstellung war von einem Netz technischen Wissens sowie von der Bereitstellung der erforderlichen Materialien – Stahl und Holz – abhängig. Und in seinem Gebrauch war es von der Existenz der Scherenschleifer abhängig, die es ab und zu wieder schärften. In seiner Anwendung dagegen war es nur auf die Hand angewiesen, die es führte. Der elektrische Rasierapparat ist dagegen bei jeder Anwendung vom Stromnetz und/oder vom Vorhandensein aufladbarer Batterien abhängig. Von dieser Vernetzung wird im letzten Teil der Arbeit noch ausführlich die Rede sein. 7. Schließlich geht es nach Flusser heute gar nicht mehr so sehr darum, Dinge zu besitzen, sondern Information. Informationen sind keine Dinge, Flusser nennt sie Undinge. Sie sind nicht greifbar, sind aber an dem, was wir materiell besitzen bzw. uns aneignen, das Entscheidende. Dementsprechend werden Dinge (hardware) immer billiger, Information (software) dagegen immer teurer. „Die materielle Unterlage der neuartigen Informationen ist existentiell verächtlich.“6 Wenn die Information fest mit einem Träger verbunden ist, wird sie schnell obsolet, da sie entweder als Information oder als Code veraltet und nicht mehr mit aktuellen technischen Geräten dekodierbar ist. Der Umfang solcher 6

Flusser, a.a.O. S. 81 f. 241

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

unbrauchbaren Dinge („unnützes Zeug“) schwillt unaufhörlich an und wird zu Müll. Ein Blick auf unsere alten Bestände an Langspielplatten, Magnetbändern, Super-8-Filmen, Dias und alten Computer-Disketten macht das anschaulich. Die Nutzungsdauer der Datenträger hat sich in der Geschichte unaufhörlich verkürzt, von der Keilschrifttafel über Pergament, Papier zur CD und bei den Bildspeichern von Fotoplatte und Film bis zur DVD – trotz der technisch gegebenen physischen Langlebigkeit moderner Datenträger.

2.6.3 Individualität und Lebensdauer von Artefakten Die geschilderten Veränderungen im Status der Dinge unserer Umgebung – kurze Verweildauer, Alterslosigkeit, Entkopplung von der Hand, Unsichtbarkeit der Funktion bei gleichzeitiger Multifunktionalität, Vernetzung und ihre schnelle Verwandlung in Müll – sind alle dazu angetan, die Ausbildung einer Identität zu erschweren. Kurze Verweildauer und Unempfindlichkeit gegen bleibende Spuren unterbinden eine Verknüpfung von Dingen mit Geschichten. Die Ablösung des ‚handelnden‘ Umgangs mit ihnen durch Knopfdruck, Berührung oder Fernbedienung und der umstandslose Ersatz im Schadensfall behindert die Entstehung einer engen Bindung zwischen Person und Gegenstand, besonders, wenn dieser nicht mehr Eigentum, sondern nur gemietet ist. All das macht den Gegenstand leichter ersetzbar und damit vertretbar. Jean Baudrillard hat diese bnderungen im Erscheinungsbild von Gebrauchsgegenständen beschrieben. Er macht auf die Doppelrolle aufmerksam, die z.B. Haushaltsgegenstände spielen – einerseits als Geräte mit einer bestimmten Funktion und andererseits als Gegenstände des Besitzes oder als Träger bestimmter affektiver Werte, die zusammen so etwas wie ein ‚Heim‘ bilden,7 und er hat auf die Wandlung dieser Rollen im Laufe der Zeit hingewiesen. Das alte Ding besitzt eine „Authentizität“, die sich z.B. darauf gründet, dass sie im Besitz einer berühmten, einflussreichen, oder aber einer geliebten Person war. Auch die Art der Herstellung kann Authentizität verleihen. „Das Reizvolle an einem handwerklichen Erzeugnis liegt darin, dass es von einer Hand herrührt, deren Fertigkeit es geprägt hat. Darin liegt die Faszination alles Geschaffenen (das deshalb einmalig und unwiederholbar ist; denn der Ausdruck der Kreation lässt sich nicht binden).“8 Das Beispiel eines restaurierten alten Gebäudes zeigt: „Der Mensch wird in der funktionellen Umwelt nicht heimisch, er benötigt ein Zeichen, einen Splitter vom 7 8

Jean Baudrillard, Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. 2.Aufl. Frankfurt campus 2001. Ebd. S. 99.

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2.6 DAS ENDE DER DINGE?

echten Kreuz, der die Kirche heiligt, einen Talisman, ein Stück unbedingter Echtheit aus dem Innersten der Realität des Lebens, um eine Rechtfertigung zu haben.“9 Das neue Ding ist dagegen funktioneller Gegenstand und „hat keine Wesenheit“10; es macht dementsprechend oft einen dürftigen Eindruck. Dadurch, dass der Gegenstand auf seine Funktion reduziert wird, wird er zwar – z.B. von symbolischen Bezügen – befreit, aber er verliert auch seine Fähigkeit, den Raum – etwa einen Wohnraum – zu strukturieren.11 Ein Beispiel dafür bildet die Entwicklung vom klassischen Telefon zum Mobiltelefon (Bild 3). Im Gegensatz zu letzterem hat das alte Telefon auf Grund seiner materiellen Netzanbindung durch das Kabel einen festen Standort an der Wand oder auf einer Unterlage. Es braucht einen Platz in der Wohnung, wo man sitzen und länger sprechen kann, möglichst ungestört und eventuell ungehört von anderen Mitbewohnern. Damit greift es konstruktiv oder – bei ungeeigneter Platzierung – unter Umständen auch destruktiv in die Lebensverhältnisse der Benutzer ein. Schließlich betont Baudrillard die Unterschiede in der Beziehung zu einem Gebrauchsgegenstand einerseits hinsichtlich seiner Funktion und andererseits als Gegenstand des Besitzes. „Wenn man den Kühlschrank benützt, um etwas aufs Eis zu legen, ist er eine praktische Zweckdienlichkeit: Er ist kein Gegenstand, sondern eine Vorrichtung. In dieser Hinsicht ‚besitzt‘ man ihn nicht. Das Besitzen meint nie etwas Werkzeughaftes, das einen auf das Gebiet der Anwendung verweist, sondern meint das Objekt von seiner Funktion enthoben und im Verhältnis zum Subjekt.“12 Natürlich sind auch die modernen Artefakte in ihrem Gebrauch Individuen, denn auch im kurzfristigen Umgang mit ihnen werden sie von uns individuiert – ebenso wie ein Naturding, der Stein, den wir vom Weg auflesen und anschließend wieder wegwerfen, kurzfristig individuiert wird. Man kann in diesem Zusammenhang von einer ‚Renaturierung‘ von Artefakten sprechen. Sie werden nicht mehr durch ihre Herstellung automatisch und dauerhaft individuiert, wie Schapp nahe legt (Abschn. 2.3.2). Das galt für handwerklich hergestellte Produkte, nicht aber für industriell produzierte Massenware. Eine Schraube kann für die kurze Zeit Individuum sein, in denen sie in die Hand genommen und in ein Ikea-Regal gedreht wird. In dieser Zeit wird sie vom Regal-Erbauer als Ding behandelt und ist „mit seinem Leib gepaart“ (Abschn. 2.2.3).

9 10 11 12

Ebd. S. 102. Ebd. S. 104. Ebd. S. 26. Ebd. S. 110. 243

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Bild 3. Telefone 1928, 1989, 1900 und Mobiltelefon 2004 Vorher ist sie ein ersetzbarer Artikel und danach ein Teil eines anderen Dinges. Sie kann Jahre später wieder zum Individuum werden, wenn sie beim Zerlegen des Regals herausgedreht und anschließend weggeworfen wird. Aber man kann nicht einmal sagen, dass es sich dabei um dasselbe Individuum handelt, wenn es keine Geschichte gibt, die beide verbindet und identifiziert (und die hier eben für eine Schraube konstruiert wurde). Individualität ist, so zeigt sich auch hier, kein Merkmal des Dings an sich, sondern des Umgangs mit ihm, sie gehört nicht zum Wesen eines Dinges, sondern zu seinem Kontext.

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2.6 DAS ENDE DER DINGE?

2.6.4 Wechselwirkung zwischen dinglicher und personaler Individualität Wie uns die Einheit des Objekts überhaupt so zustande kommt, dass wir die Art, wie wir unser „Ich“ fühlen, in das Objekt hineintragen, es nach unserem Bilde formen, in dem die Vielheit der Bestimmungen zu der Einheit des „Ich“ zusammenwächst – so wirkt, im psychologischpraktischen Sinne, die Einheit des Objekts, das wir schaffen, und ihr Mangel auf die entsprechende Formung unserer Persönlichkeit.13

Unter den geschilderten Bedingungen erscheint die Individualität eines Artefakts nicht mehr als Vertrautheit und Verlässlichkeit, sondern als Fremdheit und Undurchschaubarkeit, die sich als Unberechenbarkeit äußert, als Tücke des Objekts, das seinen Dienst versagt, ohne dass wir den Grund dafür begreifen können. Individualität steht damit für Unzuverlässigkeit und Risiko, ist negativ bestimmt als Mangel an Voraus-Bestimmbarkeit und als Abweichung vom Soll. Ein altes zerbrochenes Ding konnte vielleicht geklebt, im alten Radio konnte eine Röhre ausgetauscht werden und beide konnten noch jahrelang ihren Dienst tun. Heute schlägt Brauchbarkeit meist übergangslos in Unbrauchbarkeit um, das Zeug wird zu Schrott, der entsorgt werden muss. Aus der Ding-Individualität als erzählbarer Geschichtlichkeit wird blinde und bedrohliche Kontingenz. Mit dem Typ der Dinge, die den Besitz eines Menschen und damit seine Umgebung ausmachen, verändert sich auch dessen Erscheinungsbild und Weltverhältnis.14 Konkret stellt sich am Ende der in diesem zweiten Teil gegebenen phänomenologischen Analysen die Frage, ob angesichts der festgestellten historischen Transformationen, denen die Artefakte unterworfen waren und noch sind, die im ersten Teil gegebenen begrifflichen Umschreibungen von Ding-Individualität noch anwendbar und relevant sind. Damit eng verkoppelt ist die Frage, die hier allerdings nicht im Mittelpunkt stehen kann, auf welche Weise sich diese Veränderungen auf das Weltverhältnis der Menschen und damit auf die personale Individualität auswirken. 13 Georg Simmel, „Persönliche und sachliche Kultur.“ In ders., Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Gesamtausgabe Bd.5. Frankfurt Suhrkamp 1992 S. 565. 14 Auf diese Zusammenhänge hat der Soziologe Bourdieu hingewiesen, z.B. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt Suhrkamp 2003. 245

2 PHÄNOMENOLOGIE DES DINGES

Tatsächlich sind diese Fragen durch die Ausführungen der ersten beiden Teile implizit schon beantwortet. Da Individualität und Identität hier nicht als ontologische Kategorien oder als Wesensfragen, sondern als Kontexte und Netze kommunikativer Verständigungsprozesse aufgefasst und behandelt werden, können diese Begriffe gar nicht unabhängig von kulturellen und zivilisatorischen Bedingungen beschrieben werden. So erhält der für die Beschreibung von Individualität im ersten Teil gewählte zentrale Begriff der Unvertretbarkeit bzw. non-instantiability im Zeitalter der Technisierung andere Akzente als vordem. Früher war mit Unvertretbarkeit und Unersetzlichkeit das auf der Erfahrung aus dem Umgang mit den Dingen beruhende Vertrauen in deren Zuverlässigkeit verbunden, das zu einer Wertschätzung solcher im Umgang bewährten Dinge führte. Heute müssen wir mit Dingen umgehen, die wir nicht durchschauen und mit denen wir keine Erfahrung haben und nur begrenzt erwerben können. Vertrauen können wir ihnen nur blind entgegen bringen in Form eines generellen Vertrauens in die Technik, in das Image des Herstellers oder in den gewissenhaften Service. Aber nach wie vor bleibt der Gegenstand im konkreten Handlungskontext immer unvertretbar, denn es ist dieses Auto oder Flugzeug, in dem wir sitzen, oder dieser Computer, an dem wir arbeiten, und der Ausgang unserer momentanen Handlung ist unwiderruflich mit diesem individuellen Exemplar verknüpft. Und es sind diese konkreten Handlungs- und Kommunikationskontexte, in denen uns auch die technischen Artefakte immer als Individuen mit ihrer Kontingenz und Geschichtlichkeit entgegen treten. Kontingenz äußert sich in Form von Risiko, während Geschichtlichkeit und damit Identität in vielen Fällen sozusagen latent und unsichtbar bleibt. Dass das eigene Auto seine Geschichte und Identität besitzt, sichtbar in Form mannigfacher Spuren und offiziell dokumentiert im Kraftfahrzeugbrief, ist unbestreitbar. Im Falle eines Mobiltelefons ist dies weniger offensichtlich. Es ist weitgehend resistent gegen sichtbare Spuren, diese sind als Fingerabdrücke allenfalls mit wissenschaftlichen Methoden lesbar. Seine Geschichte in Form von gespeicherten Rufnummern und Nachrichten ist meist nur dem Besitzer über ein Passwort zugänglich. Aber gerade diese sehr rudimentäre Geschichte macht diesen Gegenstand für den Besitzer unvertretbar durch ein anderes Mobiltelefon. Die beiden Beispiele machen deutlich, wie stark moderne technische Artefakte als Individuen in die Gestaltung personaler Identität, in die Formung einer persönlichen Lebensgeschichte eingreifen. Räumlichen Bewegungen und kommunikative Kontakte, beides wesentliche Elemente einer Lebensgeschichte, sind heute weitgehend bestimmt durch den Gebrauch des Autos und des Telefons. Einerseits gewährleisten sie, indem wir sie 246

2.6 DAS ENDE DER DINGE?

als individuelle Geräte, als je meinige, benützen, die Selbstbestimmung, Intimität und damit Identität der eigenen Person. Andererseits gefährden sie durch ihre Anonymität und Vernetzung Selbstbestimmung und unverwechselbare Individualität.15 Der Verlust der Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Dingen hat viele Gründe. Einige wurden in diesem Kapitel benannt. Die Verbindungen zwischen den Dingen neuen Typs und ihren Geschichten sind brüchiger geworden, und damit ist der Status dinglicher Individualität insgesamt prekärer geworden. Vertretbarkeit bezüglich seiner Funktion ist eine Grundforderung an ein modernes technisches Artefakt, davon wird noch ausführlich im vierten Teil die Rede sein. Wenn die Unvertretbarkeit sozusagen nur im Moment unserer handelnden Interaktion mit dem Artefakt gegeben ist, dann werden die Geschichten zu Episoden. Wo aber Geschichten nicht mehr „funktionieren“, lässt sich die Kontingenz nicht mehr in narrativen Kontexten – im Hegelschen Sinne – „aufheben“. Die Kontingenz und Unbestimmbarkeit des Dinges, die in der Geschichte durch die Stiftung von Verbindungen zu anderen Dingen und Personen aufgefangen wird und dadurch ihren Sinn (1.2.4) erhält, wird ohne das Netz von Geschichten zum sinnlosen und bedrohlichen Zufall.

15 Unvertretbarkeit erweist sich hier als ein im Grunde symmetrisches Verhältnis, denn die Dinge, die für mich unvertretbar sind, machen mich im Hinblick auf sie unvertretbar. Als Eigentümer eines Autos bin ich auch für einen zeitweiligen fremden Fahrer etwa als Halter des Kraftfahrzeugbriefes und der Versicherung unvertretbar. Entsprechendes gilt auch für den Telefonanschluss. 247

3 I NDIVIDUELLES D ING IN DER P HYSIK

UND

K ÖRPER

3.1 K Ö R P E R DER

M AS S E I N K L AS S I S C H E N P H Y S I K UND

Was in den ersten beiden Teilen dieser Arbeit als Einzelding bezeichnet wurde, erscheint in der Physik als Körper. In diesem dritten Teil soll deshalb untersucht werden, ob bzw. wann Körper in der Physik als individuelle Dinge in Erscheinung treten. Diese Frage spielt in der klassischen Mechanik kaum eine Rolle, da den makroskopischen Körpern, die ihre wesentlichen Objekte bilden, intuitiv eine Individualität unterstellt wird. Das hat mehrere Gründe. Einmal besitzen diese Körper kontingente Eigenschaften (Abschn. 3.1.2), durch die sie in allen praktischen Fällen von anderen Körpern unterscheidbar sind. Man kann sie ferner durch bestimmte Kennzeichen markieren. Individuelle Dinge unserer Lebenswelt lassen sich demnach als physikalische Körper behandeln. Körper gelten in der Physik als die substanziellen Entitäten, die sich bei Bewegungen identisch erhalten. Auf Grund der Bewegungsgesetze kann man ihnen Bahnkurven zuordnen, die ihren Ort über endliche Zeitintervalle hinweg lückenlos beschreiben. Schließlich kann man aus den Bahnkurven die Geschichte dieser Körper über bestimmte Zeiträume hinweg rekonstruieren und sogar mit einer gewissen Sicherheit voraussagen bzw. berechnen. Auf Grund einer solchen Geschichte kann man ihnen Identität und damit Individualität zusprechen. Allerdings erfolgt die Individuation von Körpern, wie im ersten Kapitel gezeigt werden soll, immer außerhalb des theoretischen Rahmens der Physik. Diese Selbstverständlichkeit ging mit der Ausdehnung des Körperbegriffs auf mikroskopische Teilchen wie Atome, Moleküle und auf Elementarteilchen wie Elektronen und Photonen verloren. Mit ihnen trat ein 251

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

neuer Typ von Gegenständen in das Blickfeld der Physik, die sogenannten nomologischen Objekte.1 Sie haben invariante spezifische Eigenschaften, z.B. bestimmte Masse und elektrische Ladung, nur ihre kinetischen Eigenschaften wie Ort und Geschwindigkeit sind variabel. Da die nomologischen Objekte eines Typs alle die gleichen intrinsischen Eigenschaften besitzen, kann man sie nicht markieren, sondern nur durch ihre kinetischen Eigenschaften unterscheiden. Die Frage der Identität solcher Partikel tauchte zuerst im Rahmen der statistischen Mechanik auf. Das ist Thema des zweiten Kapitels. Die Quantenmechanik hat es generell mit nomologischen Objekten zu tun, aber wegen der Heisenbergschen Unschärferelationen kann man ihnen auch keine exakt bestimmbaren Bahnkurven mehr zuordnen. Damit hängt eine Reihe von Problemen zusammen, die in den Diskussionen um die Interpretation der Quantenphysik eine Rolle spielten und noch spielen. Ich werde mich im dritten Kapitel speziell mit der seit den Anfängen der Quantenmechanik anhaltenden Diskussion um die sogenannte Identität der Quantenpartikel befassen. In den philosophischen Diskussionen der Ergebnisse der Quantenphysik wird häufig die Frage nach der Individualität dieser Partikel mit der nach ihrer Realität verquickt. Und es ist eine intuitive, wenn auch unausgesprochene Annahme vieler Realisten, dass reale Objekte individuell sein müssen, und dass die Individualität ein intrinsisches Merkmal eines Gegenstandes ist. Die im ersten Teil dieser Arbeit herausgearbeitete Auffassung versteht dagegen Individualität nicht als intrinsisches Merkmal und als neutral in Bezug auf die Realität. Es wird sich zeigen, dass durch die Entflechtung der Fragen nach Realität und Individualität einige der Probleme sich besser verstehen und auflösen lassen.

3.1.1 Notwendigkeit und Kontingenz in der Physik Die Physik beschreibt als exakte Naturwissenschaft das Verhalten der Körper mit Hilfe universeller Eigenschaften und allgemeingültiger Gesetze. Im Gegensatz dazu ist etwa die Geschichtswissenschaft, deren Gegenstand vor allem menschliches Handeln ist, auf narrative, berichtende Darstellung verwiesen und wird deshalb dem Bereich des Kontingenten zugerechnet. Im Abschn. 1.2.6 über die Bedeutung der Kontingenz für die Naturwissenschaften zeigte sich jedoch, dass diese schematische Zuordnung bei näherem Hinsehen problematisch ist. Die moderne Naturwissenschaft hat sich durch einen Paradigmenwechsel herausge1

Guiliano Toraldo di Francia, „A World of Individual Objects?“ In Elena Castellani (Hg.), Interpreting Bodies. Classical and Quantum Objects in Modern Physics. (IBQ) Princeton Un. Press 1998 S. 26.

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3.1 KÖRPER UND MASSE

bildet, der es mit sich brachte, dass die Frage nach dem Wesen oder dem Was der Dinge ersetzt wurde durch die Frage nach dem Wie. So wurde der Versuch, das Wesen der Bewegung zu beschreiben, ersetzt durch die Untersuchung der Formen der Bewegungen und der Bedingungen, durch die sie ausgelöst und beeinflusst werden. Die paradigmatische Methode solcher Untersuchungen ist das Experiment. Das Experiment ist eine Handlung, die gelingen oder misslingen kann, und die zentrale Rolle, die es in de Physik spielt, beweist, dass diese methodisch durchaus im Bereich des Kontingenten operiert. Durch Abtrennung des experimentellen bzw. historischen Entdeckungs- vom Begründungszusammenhang wird den Gesetzen der Physik jedoch universelle Geltung verschafft. Die kontingenzfreien Bereiche, in denen das Geschehen mit gesetzmäßiger Notwendigkeit abläuft, sind Näherungen und nur ausnahmsweise gegeben (z.B. in der klassischen Astronomie) und müssen im Allgemeinen in experimentellen und technischen Arrangements künstlich geschaffen werden. Auch in der klassische Definition einer wissenschaftlichen Erklärung von Hempel-Oppenheim wird eine begriffliche Trennung vollzogen zwischen den kontingent gewählten oder hergestellten Anfangsbedingungen und dem dann regelgesteuert mit Notwendigkeit ablaufenden Geschehen. Cartwright weist darauf hin, dass die durch die Gesetze geforderte Regelmäßigkeit bzw. Reproduzierbarkeit nur ‚ceteris paribus‘ wirklich beobachtet werden kann.2 Das bedeutet, dass in einer Situation, in der man die Wirkung eines Gesetzes beobachten will, alle die Einflüsse bzw. Kräfte, die das Geschehen sonst noch beeinflussen könnten, vernachlässigbar sein müssen. So fordert die im Coulombschen Gesetz beschriebene abstoßende Kraft zwischen zwei elektrischen Ladungen gleichen Vorzeichens, dass die beiden Körper sich auf einer geraden Linie voneinander entfernen. Da die Körper auch Massen besitzen, wird die Wirkung der Gravitation diese Bewegung störend beeinflussen und verändern – ganz abgesehen von möglichen zusätzlichen Störungen durch den Einfluss anderer Wechselwirkungen mit der Umgebung. Cartwright hat den Begriff der ‚nomologischen Maschine‘ eingeführt (Abschn. 1.2.6). Sie beschreibt damit ein technisches Arrangement, das hergestellt werden muss, wenn man die den physikalischen Gesetzen entsprechenden regelförmigen Abläufe störungsfrei beobachten will. Im Hempel-Oppenheim Schema bzw. in der nomologischen Maschine wird die Kontingenz in die Anfangsbedingungen bzw. in die Konstruktion des Arrangements und damit in einen Bereich verlegt, der 2

Nancy Cartwright, How the Laws of Physics Lie. Oxford Un. Press 1983 S. 46 f sowie diess., The Dappled World. A Study of the Boundaries of Science. Cambridge Un. Press 1999 S. 28 f u. S. 137. 253

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

außerhalb des von der Physik beschriebenen und prognostizierbaren Geschehens liegt. Deshalb bleibt Kontingenz dem theoretisierenden Physiker im Allgemeinen verborgen, da er seine Aussagen immer auf nomologische Maschinen bezieht bzw. das ‚ceteris paribus‘ voraussetzt. Reale technische sowie natürliche Prozesse erfüllen diese Voraussetzungen nie vollkommen, ihnen haftet auf Grund der nicht vollständig kontrollierbaren Wechselwirkungen mit der Umgebung ein nicht aufklärbaren Rest von Unbestimmtheit, von Komplexität und damit von Kontingenz an. Zusätzlich bilden die mit allen realen Vorgängen untrennbar verbundenen irreversiblen Prozesse (Wärmeentwicklung, Korrosion) selbst Quellen von Kontingenz. Für den praktizierenden Physiker, den Techniker, der Physik in Experimenten, technischen Geräten oder Messgeräten anwendet, stellt deshalb Kontingenz ein Hauptproblem dar, da er sie nicht vollständig eliminieren kann. Er muss versuchen, das theoretische Konzept der ‚nomologischen Maschine‘ konstruktiv möglichst vollkommen in Geräte und experimentelle Anordnungen umzusetzen. Die Genauigkeit, mit der ihm diese Approximation gelingt, bestimmt die Qualität und den Erfolg seiner Arbeit. Dieser zentrale Aspekt von Technik ist Thema des letzten Teils dieser Untersuchung.

3.1.2 Starre Körper und kontingente Eigenschaften Unter Körper versteht man in der Physik ein räumlich begrenztes, von Materie erfülltes Volumen.3 Die Körper, die für die Formulierung der Bewegungsgesetze in der Mechanik paradigmatisch sind, sind die sogenannten ‚starren Körper‘, die aus fester Materie bestehen, deren Teile relativ zueinander eine feste Lage haben und die damit eine feste geometrische Form besitzen. Ihre Starrheit ist allerdings relativ, bei starker Krafteinwirkung verformen sie sich entweder elastisch (reversibel) oder unelastisch (irreversibel) oder zerbrechen. Auch bei Erhöhung der Temperatur verlieren sie ihre Starrheit. Im Folgenden sind, wenn von Körpern die Rede ist, immer starre Körper gemeint. Körper haben chemische, physikalische und geometrische Eigenschaften. Die chemischen betreffen ihre stoffliche Zusammensetzung, die physikalischen Gewicht bzw. Masse, Härte (Widerstand gegen irreversible Verformung), Elastizität (Widerstand gegen reversible Verformung), optische Dichte bzw. Transparenz, Farbe (Reflexionsvermögen), Temperatur, elektrische Landung bzw. magnetisches Moment. Zu den 3

„Körper, als Gegenstand physikalischer Betrachtungen ein von massebehafteten Teilchen fest, flüssig oder gasförmig ausgefüllter begrenzter (dreidimensionaler) Raumbereich. ...“ Fachlexikon ABC Physik, Zürich, Deutsch 1974.

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3.1 KÖRPER UND MASSE

geometrischen Eigenschaften gehören Größe (Volumen) und Gestalt. Wenn man chemische und physikalische Eigenschaften einem Körper als ganzem zuschreibt, setzt man natürlich voraus, dass er homogen ist, d.h. dass diese Eigenschaften allen Teilen des Körpers in gleichem Maße zukommen. Schließlich haben starre Körper kinematische Bestimmungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben sind durch Ort, Orientierung, Geschwindigkeit und Drehmoment. Kann man einen Körper anhand seiner Eigenschaften individuieren? Dazu braucht man kontingente Eigenschaften. Die Frage, welche der genannten Eigenschaften kontingent sind und welche nicht, lässt sich keineswegs eindeutig beantworten. Die stoffliche Beschaffenheit – aus Holz, aus Aluminium etc. – ist ein spezifisches Merkmal. Allerdings kann man die Stoffarten selbst (ähnlich wie die organischen Spezies und andere ‚natural kinds‘, s. Abschn. 1.5.1) einerseits als typologisch, andererseits als genetisch und damit als kontingent ansehen.4 Bei organischen Materialien liegt dies auf der Hand, aber auch die Gesteinsarten sind im Rahmen der Erdgeschichte, die Elemente im Rahmen der Entwicklung des Kosmos entstanden. Durch die chemische Beschaffenheit sind auch die physikalischen Eigenschaften des Körpers wie Dichte, elektrische und thermische Leitfähigkeit, Härte und Farbe weitgehend bestimmt. In Bezug auf den einzelnen Körper können diese Eigenschaften im Allgemeinen nicht als kontingent gelten, denn sie lassen sich meist nicht mit einer individuellen Geschichte dieses Körpers verbinden. Allerdings sind es gerade diese Eigenschaften, die physikalisch als Stoffeigenschaften interessieren und für die unzählige Messverfahren entwickelt worden sind. Anders verhält es sich mit den geometrischen Eigenschaften Größe und Form. Dinge des Gebrauchs werden häufig an Besonderheiten der Form erkannt, vor allem wenn es sich um Spuren handelt, z.B. Kratzer oder Beulen, die im Laufe des Gebrauchs entstanden sind. Physikalisch sind Spuren nicht von anderen Merkmalen unterscheidbar. Ob etwas die Spur eines Ereignisses oder einer Geschichte ist, wird erst durch die Interpretation eines physikalischen Befunds entschieden, die sich auf außerphysikalische Gesichtspunkte stützt (Abschn. 2.3.6). Bei starren Körpern sind es vor allem ihre Oberflächen, die Spuren aufnehmen und mehr oder weniger langfristig speichern. Es sind zahlreiche hochempfindliche Methoden der Analyse und der Klassifikation 4

In der angelsächsischen Literatur werden biologische Spezies sowie Stoffe häufig unter den Begriff ‚natural kinds‘ zusammengefasst, vor allem seit Quines Essay mit demselben Titel. Willard Van Orman Quine, „Natural Kinds“. In ders. Ontological Relativity and Other Essays. New York Columbia Un. Press 1977. 255

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

von Spuren entwickelt worden – optische, spektralanalytische, chemische, biologische, gentechnische – die sowohl in der Kriminalistik als auch in der Kunstgeschichte oder Archäologie oder bei der Aufklärung von Katastrophen oder Unfällen angewandt werden. In allen diesen Fällen wird die Geschichte eines Körpers mit Hilfe seiner Eigenschaften erschlossen. Und natürlich werden im Zuge dieser Untersuchungen die untersuchten Gegenstände individuiert und identifiziert. In vielen Fällen, etwa bei der Aufklärung von Straftaten oder von Fälschungen in der Kunstgeschichte, ist es ganz entscheidend, die Geschichte eines ganz bestimmten individuellen Gegenstandes zu klären. Allerdings ist die Unvertretbarkeit, die Identität des untersuchten Gegenstands nur im historischen, kunstgeschichtlichen, geologischen oder kriminologischen, nicht im physikalischen Zusammenhang wichtig. Für die physikalische (bzw. chemische oder molekularbiologische) Analysemethode ist er eine vertretbare Messprobe. Ebenfalls kontingente Bestimmungen sind die Lage, der Ort und die Geschwindigkeit eines Körpers. Tatsächlich identifizieren wir im Alltag häufig Dinge dadurch, dass wir sie dort wiederfinden, wo wir sie hingelegt haben. Physikalisch sind Ort und Geschwindigkeit nur relativ zu einem Koordinatensystem bestimmbar. Ob die physikalische Bestimmung von Ort und Geschwindigkeit eine Individuation darstellt, wird in Abschn. 3.1.5 untersucht.

3.1.3 Ist ein Messprozess ein Individuationsvorgang? Ein konkreter makroskopischer Körper ist nicht vollständig durch seine physikalischen Eigenschaften bestimmbar. Das liegt an der begrenzten Messgenauigkeit, an der Abhängigkeit bestimmter Eigenschaften von der Umgebung und schließlich an ihrer möglichen zeitlichen Veränderung. Generell ist ein solcher Körper durch jede Beschreibung unterbestimmt, denn es lassen sich am realen Körper immer Merkmale finden, die in dieser Beschreibung nicht vorkommen. In der Phänomenologie spricht man in diesem Zusammenhang von der Fülle5 oder von der deskriptiven Unerschöpflichkeit6 der Gegenstände (Abschn. 1.3.4), und im Leibnizschen Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren hat diese Überzeugung ihren philosophischen Ausdruck gefunden (Abschn. 1.1.1).

5 6

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg Meiner 1982. S. 34. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn Bouvier 1990.

256

3.1 KÖRPER UND MASSE

Dass diese Unerschöpflichkeit des Gegenstandes nicht automatisch zur Individuation oder Identifikation führt, wurde im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt. Individuation wurde dort handlungstheoretisch bestimmt als kommunikativer Akt. Auch Experimente und Messprozesse sind kommunikative Handlungen. Der Vorgang der physikalischen Messung soll deshalb unter diesem Aspekt genauer betrachtet werden. Ein Messvorgang besteht im Prinzip immer in einem Vergleich der Eigenschaften gleicher Art (Länge, Masse, Temperatur, Farbe, elektrischer Strom) an zwei verschiedenen Objekten. Das eine Objekt ist der zu messende Körper, das andere ist die Verkörperung der Maßeinheit bzw. ein bestimmtes Vielfaches oder ein Teil davon. Bei der Messung einer Länge ist die Verkörperung der Maßeinheit ein Maßstab, auf dem verschiedene Vielfache bzw. Teile der Maßeinheit Meter abgegriffen und zum Vergleich mit dem Messobjekt herangezogen werden können. Auf einer Balkenwaage werden Massen bestimmt durch Vergleich ihrer Gewichte mit denen von geeichten Vergleichsmassen, und auch Farben werden letzten Endes durch einen visuellen Vergleich der zu bestimmenden Farbe mit einer aus vorgegebenen Grundfarben nachgemischten gemessen. Moderne Messgeräte führen Vergleiche nicht mehr explizit durch, sondern die zu messenden Größen werden durch physikalische Wirkungen in andere Größen transformiert, die ihrerseits in analoge oder digitale Anzeigen umgesetzt werden. Die Kalibrierung dieser Anzeigen erfolgt durch einen Vergleich mit Messstandards, die ihrerseits mit den internationalen Standards abgeglichen sind. Die Messung einer Eigenschaft setzt also voraus, dass man sie mit derselben Eigenschaft eines anderen Körpers vergleichen kann. Nun hat schon Aristoteles in seiner Kategorienschrift betont, dass Gleichheit nur im Bereich der Quantität möglich ist, nicht aber bei Qualitäten, wo es nur bhnlichkeiten gibt7 (s.o. Abschn. 1.3.2.4). Tatsächlich haben wir keine ‚natürlichen‘ und verlässlichen Kriterien zur Beurteilung der Gleichheit etwa der Wärme oder der Farbe von Körpern. Wir können mit Hilfe unserer Sinnesorgane zwar die bhnlichkeit zweier Farben oder Temperaturen feststellen, nicht aber deren Gleichheit. Vor allem zwei Strategien haben es ermöglicht, dieses Dilemma zu beheben. Die eine Strategie war die Messung der von einer Eigenschaft verursachten quantitativen Wirkung. Von gleichen Wirkungen wird dabei unter gleichen Bedingungen auf gleiche Ursachen geschlossen. So werden Temperaturänderungen durch Längen- oder Volumenänderungen eines Körpers gemessen, Massen durch ihr Gewicht im Gravitationsfeld der Erde, Gewichte durch Auslenkung einer Feder, und elektrischer 7

Aristoteles Kategorien Kap. 6 6a. 257

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

Strom erzeugt in einem Leiter Wärme, die wiederum durch dessen Ausdehnung gemessen werden kann. Die zweite Strategie bestand in der Reduktion der sekundären auf primäre Qualitäten, die einer Messung leichter zugänglich sind. Die Einteilung der Eigenschaften von Dingen in sogenannte primäre und sekundäre geht vor allem auf Locke zurück. Zu den primären Eigenschaften gehören vor allem die geometrischen und kinetischen Eigenschaften,8 die dem Körper selbst zugerechnet wurden und die auch allen seinen Teilen zukommen. Die sekundären Eigenschaften wie Farbe, Geschmack, Geruch, Klang und Wärme wurden als Wirkungen von primären Qualitäten auf andere Körper, z.B. auf die Sinnesorgane eines Beobachters erklärt9. Die Zurückführung der sekundären Qualitäten auf Wirkungen von primären war ein Forschungsprogramm von Physik und Physiologie, das am Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen war. So konnte etwa Wärme durch die statistischen Bewegungen kleinster Materieteilchen erklärt werden. Schall und Licht wurden durch Luftdruck- bzw. elektromagnetische Wellen erklärt und als solche messbar. Allerdings konnten nicht alle sekundären Qualitäten vollständig reduziert werden.10 Die Messung einer Eigenschaft, so kann man diese Überlegungen zusammenfassen, resultiert in einem Gleichheitsurteil, durch das man den Träger der Eigenschaft der Klasse der Gegenstände zuordnet, deren spezifisches Merkmal die bestimmte Quantität der betreffenden Eigenschaft ist. Messungen führen also zu klassifikatorischen und nicht zu identifizierenden Urteilen (s.o. 1.3.2.4). Das Messergebnis macht den gemessenen Körper zu einem Beispiel (instance) für die gemessene Eigenschaft, konstituiert aber gerade keine Unvertretbarkeit oder noninstantiability. Der Messprozess ist dagegen ein kommunikativer Prozess unter Wissenschaftlern, den man mit den Methoden der Wissenssoziologie analysieren kann.11 Dokumente einer solchen Kommunikation sind z.B. Messprotokolle. Sieht man sich die Angaben an, die ein vollständiges Protokoll einer Messung an einem bestimmten Körper enthält, so findet man dort die Kennzeichnung des gemessenen Körpers, die Art der geLocke, John, Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg Meiner 1984 2. Buch Kap.VIII § 10 S. 147. 9 Ebd. § 10 S. 148. 10 Heinwig Lang, „Wieviel Physik braucht die Farbmetrik? Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Farbmetrik“. Die Farbe 45 (1999) S. 2543 11 So etwa bei Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt Suhrkamp 2000 S. 36 ff oder bei Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Frankfurt Suhrkamp 1984 S. 210 ff.

8

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3.1 KÖRPER UND MASSE

messenen Eigenschaft (z.B. Temperatur), die gewählte Einheit (z.B. Grad Celsius), mit der verglichen wird und als Messergebnis die bestimmte Maßzahl. Schließlich muss ein vollständiges Messprotokoll noch Ort und Zeit der Messung festhalten nebst den Namen der Personen, die die Messung durchgeführt haben.12 Die Angabe von Ort und Zeit sowie der beteiligten Personen kennzeichnet die protokollierte Messung als individuelles Ereignis. Aber auch die Kennzeichnung der Substanz, an der gemessen wird, ist nicht einfach eine Substanz zweiter Art, also z.B. ein Stoff wie etwa Kupfer. Wenn dessen elektrische Leitfähigkeit bestimmt werden soll, muss dies anhand einer Substanz erster Art erfolgen, einer individuellen Messprobe, die gekennzeichnet, dokumentiert und oft auch aufbewahrt wird. Dass die gewählte Probe die Stoffart wirklich repräsentiert und das Messergebnis auf diese verallgemeinert werden kann (d.h. das ‚ceteris paribus‘ angewandt werden kann), muss in einem getrennten Diskurs gerechtfertigt werden. Die allgemeinen Eigenschaften müssen an individuellen Beispielen bestimmt werden und können erst dann verallgemeinert werden. Dabei wird die Messprobe durch ihre Auswahl für die Messung individuiert, ihre Individualität ist Voraussetzung für die Messung. Der Messprozess ist als Ganzes ein kommunikativer Akt, und sein Resultat ist eine Prädikation. Erst durch die Interpretation der Probe als Beispiel für eine übergeordnete Substanz (Kupfer oder Wasser der Ostsee) erhält das Messergebnis allgemeine Verbindlichkeit.

3.1.4 Vom starren Körper zum Massenpunkt Die Entwicklungsgeschichte der klassischen Mechanik von Galilei über Descartes, Kepler, Huygens bis Newton ist vor allem die Geschichte der erfolgreichen Lösung des Problems, die Bewegungsgesetze für starre Körper unter Verwendung möglichst weniger Eigenschaften dieser Körper abzuleiten. Descartes früher Ansatz, als physikalisch allein maßgebende Eigenschaft der Körper die Ausdehnung anzusehen, scheiterte. Die Aufstellung der Bewegungsgesetze durch Newton war erst möglich, nachdem der Begriff der trägen Masse nach Vorüberlegungen von Galilei und Kepler zur Verfügung stand. Über die bis in die Antike und in die mittelalterliche Naturphilosophie und Theologie zurückreichenden Wurzeln dieses Begriffs kann man sich in Max Jammers klassischer 12 Man kann dabei die erstaunliche Feststellung machen, dass sich die Protokolldaten auf sechs der zehn Aristotelischen Kategorien beziehen: Substanz (gemessener Körper), Qualität (z.B. Temperatur), Relation (gewählte Einheit, z.B. Grad Celsius, auf die der Messwert bezogen wird), Quantität (die bestimmte Maßzahl), dazu Ort und Zeit der Messung. 259

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

Monographie Der Begriff der Masse in der Physik informieren.13 In der klassischen Physik wurde dann die Masse zum Inbegriff von Materie und löste die frühere Gleichsetzung von Materie mit Ausdehnung ab. Sehr deutlich erkennt man diesen Rollenwechsel von der Ausdehnung zur Masse als substantiellem Attribut von Materie in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Dort wird im ersten Hauptstück (Phoronomie) die Materie als Beweglichkeit im Raum definiert. Im zweiten Hauptstück (Dynamik) ist das Thema die Raumerfüllung der Materie, die als Ausdruck einer Kraft erklärt wird.14 Insbesondere wird der Begriff der Undurchdringlichkeit dynamisch relativiert, indem Materie durch äußere Kräfte zusammengedrückt wird und dadurch ihr Volumen bzw. ihre Dichte ändert.15 Im 3. Hauptstück (Mechanik) wird dann schließlich die Masse als Quantität der Materie eingeführt. Kepler fasste die Trägheit der Materie noch als einen Widerstand gegen jede Ortsveränderung auf,16 in den Newtonschen Bewegungsgleichungen ist die träge Masse endgültig das Merkmal der Materie, das einer Bewegungsänderung, d.h. der Beschleunigung, Widerstand leistet (2. Newtonsches Gesetz). Bei Abwesenheit einer äußeren Kraft bewegt sich der Körper gleichförmig geradlinig oder verharrt in Ruhe (1. Newtonsches Gesetz, Inertial- bzw. Trägheitsprinzip). Damit ist die Trägheit als die vom Körper selbst erzeugte Gegenkraft erkannt, die der auf den Körper wirkenden äußeren Kraft Widerstand leistet und sie kompensiert (3. Newtonsches Gesetz). Die äußere Kraft ist im Newtonschen Bewegungsgesetz der Beitrag der Umgebung zur Bewegungsursache,17 während die Masse den Beitrag des Körpers selbst bildet. Diese Bewegungsgesetze gelten zwar generell für alle Körper bzw. Massen, werden aber in den Lehrbüchern der Physik vereinfachend auf sogenannte Massenpunkte bezogen. Wörtlich sagt diese Formulierung, dass es sich dabei um eine ausdehnungslose Konzentration einer endlichen Masse in einem Raumpunkt handelt. Eine sorgfältigere begriffliche Darstellung, wie sie von Günther Ludwig gegeben wird, beschreibt diesen sogenannten Massenpunkt jedoch als einen „wenig ausgedehnten 13 Max Jammer, Der Begriff der Masse in der Physik. Darmstadt, Wiss. Buchges. 1964. 14 „Die Materie erfüllet ihre Räume durch repulsive Kräfte aller ihrer Teile, d.i. durch eine ihr eigene Ausdehnungskraft, die einen bestimmten Grad hat, [...].“ Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2. Hauptst. Lehrsatz 2, S. 50. 15 Ebd. 2. Hauptst. Erklärung 4 u. Anmerkung 1 u. 2, S. 53 f 16 Ebd. S. 56 f 17 Günther Ludwig, Einführung in die Grundlagen der Theoretischen Physik. Bd. 1: Raum, Zeit, Mechanik 2. Aufl. Braunschweig Vieweg 1978 S. 145. 260

3.1 KÖRPER UND MASSE

Gegenstand“, wobei wenig ausgedehnt bedeutet, dass seine Ausdehnung gering ist gegenüber den Abständen zu anderen Gegenständen.18 Durch das Konzept des Massenpunktes wird es möglich, Gestalt und Orientierung des Körpers bei der Formulierung der Bewegungsgesetze unberücksichtigt zu lassen und die Bewegung auf eine reine Ortsveränderung des Massenschwerpunktes im dreidimensionalen Raum zu reduzieren. Rotationsbewegungen und Gestaltveränderungen, die in der Bewegungslehre des Aristoteles noch eine große Rolle gespielt hatten, wurden dadurch erst einmal ausgeschlossen. Sie werden in den Bereich der Anwendungen der Bewegungsgesetze verwiesen, z.B. in die Gastheorie, die Strömungslehre und in die Festkörperphysik. Dort werden die ausgedehnten Körper als Ansammlungen von Massenpunkten interpretiert und behandelt, die je nach dem physikalischen Aggregatzustand in unterschiedlicher Weise miteinander verknüpft sind. Die Bildung des Begriffs des Massenpunktes stellt eine extreme Reduktion des Körperbegriffs dar, da als seine einzigen Bestimmungen die Masse sowie Ort und Geschwindigkeit (Impuls) übrig bleiben. Die physikalischen Körper, die in ihrem Verhalten im Experiment den Massenpunkten am nächsten kommen, sind Kugeln aus schweren Stoffen wie Stein oder Metall. Sie haben die höchste Symmetrie und nur eine Größe, den Durchmesser, der sie vom idealen punktförmigen Massenpunkt unterscheidet. Gleichzeitig kann man ihre Bewegungen durch die Luft oder rollend auf einer Ebene als weitgehend reibungsfrei behandeln. Galilei benützte sie zur Untersuchung der Fallgesetze mit Hilfe der schiefen Ebene und Huygens verwendetet sie an einer Schnur oder Stange aufhängt als Pendel für die Untersuchung von Schwingungen. Schließlich behandelte Kepler auch die Planeten bei den Berechnungen ihrer Bahnen als Massenpunkte, da auch dort die Voraussetzung erfüllt ist, dass ihre Durchmesser klein gegenüber ihren Abständen voneinander und vor allem gegenüber dem Abstand von der Sonne sind. Die Bewegungen von Massenpunkten werden durch ihre Bahnkurven (Trajektorien) beschrieben. Diese Beschreibung erfordert ein Inertialsystem, ein raum-zeitliches Koordinatensystem, in dem das Trägheitsgesetz gilt, d.h. in dem ein kräftefreier Körper sich gleichmäßig bewegt oder in Ruhe ist. Mathematisch ist eine Bahnkurve gegeben durch eine stetige Abhängigkeit der Ortskoordinaten von der Zeit innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts. Sie lässt sich in der klassischen Physik nach 18 „Wenig ausgedehnte Gegenstände soll vielmehr heißen, dass die Ausdehnung klein gegenüber den sonst zwischen den Gegenständen gemessenen Abständen ist. So kann auch ein Planet in bezug auf die Abstände zur Sonne und zu anderen Planeten als wenig ausgedehnt bezeichnet werden.“ Ebd. S. 137. 261

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dem Newtonschen Bewegungsgesetz berechnen. Kennt man die raumzeitliche Verteilung der Kraft sowie Ort und Geschwindigkeit eines Massenpunktes zu einem bestimmten Zeitpunkt (die Anfangsbedingungen), so kann man seine Bahnkurve für spätere (oder auch frühere) Zeitpunkte berechnen. Da Masse, Ort und Geschwindigkeit, aus denen die Bahnkurve eines Körpers bestimmt wird, physikalisch nur mit begrenzter Genauigkeit gemessen werden können, gibt es zu jeder physikalisch bestimmten oder bestimmbaren Bahn jedoch eine unendliche Zahl von mathematisch unterscheidbaren Bahnkurven, die die physikalische Bewegung dieses Massenpunktes im betrachteten Zeitraum ‚richtig‘ (d.h. im Rahmen der Messgenauigkeit) beschreiben.

3.1.5 Wird ein Massenpunkt durch seine Bahnkurve individuiert? In der physikalischen Literatur wird häufig davon gesprochen, dass im Rahmen der klassischen Physik ein Körper durch seine Bahnkurve individuiert wird, die durch ihre zeitliche Lückenlosigkeit und Stetigkeit seine Identität durch die Zeit gewährleistet.19 Eine genauere Analyse muss jedoch davon ausgehen, dass die Bahnkurve eines Massenpunktes ein mathematisches Bild oder Modell der Bewegung eines realen physikalischen Körpers darstellt. Die Annahme der Identität eines bewegten Körpers im Verlauf dieser Bewegung besteht in der Annahme, dass sich der Köper in den Zeitpunkten zwischen den Messungen auch dort befindet, wo er – unter Berücksichtigung der Messungenauigkeiten – nach Maßgabe seiner Bahnkurve anzutreffen sein sollte. Günter Ludwig zeigt, dass in dieser Identitätsannahme eine ganze Reihe von Voraussetzungen stecken. „Unser bisher eingeführtes mathematisches Bild der Bahnen ... könnte nur dann mit der Erfahrung in Widerspruch geraten [...], wenn man realiter denselben Massenpunkt zur selben Zeit [...] an verschiedenen Orten [...] (außerhalb der Ungenauigkeitsgrenzen!) antreffen würde, was aber bisher in keinem Fall vorgekommen ist, so dass man es fast als ‚selbstverständlich‘ empfindet, dass niemals ein Massenpunkt zur selben Zeit an verschiedenen Stellen sein kann. Hierbei haben wir vorausgesetzt, dass wir vor Beginn der Physik schon wissen, wie wir ein und denselben Massenpunkt wiedererkennen können. Die19 „Sie [die klassischen Teilchen, (H.L.)] haben eine lückenlose, durch das Kraftgesetz vollständig determinierte Raum-Zeit-Bahn, anhand deren sie individuiert sind.“ Brigitte Falkenburg, Teilchenmetaphysik. Zur Realitätsauffassung in Wissenschaftsphilosophie und Mikrophysik. 2.Aufl. Heidelberg Spektrum 1995 S. 213. 262

3.1 KÖRPER UND MASSE

ses Problem ist nicht trivial, sondern es setzt eine ganze Reihe vorphysikalischer Erfahrungen voraus. Ja, es ist auch keineswegs so, dass bei allen Vorgängen (man denke etwa an chemische Prozesse) die ‚Identität‘ eines Stoffelements festgehalten werden kann; [...] Nur also, wenn sich die Identität eines Massenpunktes festhalten lässt, ist die hier zu entwickelnde Theorie der Bewegung von Massenpunkten anwendbar. [...] Die Identität wird aber nicht immer nur dadurch festgehalten, dass sich ein Massenpunkt langsam und sichtbar weiterbewegt, da ja in vielen physikalisch interessanten Fällen die sichtbare, fast ‚ununterbrochene‘ Beobachtung nicht möglich ist. Man muss dann andere Hilfsmittel benützen, wie z.B. Zeichen irgendwelcher Art, durch die sich die einzelnen Massenpunkte unterscheiden, oder aber oft die einfache Tatsache, dass keine anderen Massenpunkte ‚in der Nähe‘ sind.“20

Die Identität eines physikalischen Körpers kann also nicht aus der Existenz einer Bahnkurve gefolgert werden. Sie muss im Gegenteil als „vorphysikalische Erfahrung“ der klassischen Mechanik zugrundegelegt werden, damit man einem wiedererkennbaren individuellen Körper eine Bahn zuschreiben kann. Der Schluss des Zitats deutet allerdings an, dass in der wissenschaftlichen (wie in der alltäglichen) Praxis dennoch in vielen Fällen von einer regelmäßigen Bahnkurve auf die Identität des sich darauf bewegenden Körpers geschlossen wird. Ein klassisches Beispiel für Identitätszuschreibung mit Hilfe von Bahnkurven bilden die Kometen. Ihr Auftauchen am Himmel in bestimmten zeitlichen Abständen stellt jeweils ein historisches Ereignis dar. Aus den Messungen der Positionen eines solchen Objekts während einer Phase seiner Sichtbarkeit ermitteln die Astronomen eine Bahnkurve, die in die Zukunft bzw. Vergangenheit extrapoliert wird und dann erlaubt, eine oder mehrere historisch bezeugte Beobachtungen eines Kometen in der Vergangenheit als Erscheinungen desselben Kometen zu interpretieren. In diesem Falle kann von einem Wiedererkennen keine Rede sein, denn der Zeitabschnitt zwischen den Erscheinungen des Kometen kann sehr viel länger als ein Menschenleben sein, und die historischen Quellen erlauben meist nicht ein Wiedererkennen auf Grund der Gestalt oder anderer (z.B. mit modernen Instrumenten feststellbarer) Merkmale. Trotzdem schenken wir in diesen Fällen den Astronomen Glauben, wenn sie uns versichern, es handele sich um denselben Himmelkörper. Schon die Regelmäßigkeit ihres Erscheinens dient in vielen Fällen als Rechtfertigung für die Identifikation von Objekten der Beobach-

20 Ludwig, a.a.O. S. 139/140 Hervorhebungen im Original. 263

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tung.21 Bestimmte Himmelskörper können zwar heute mit Hilfe moderner Teleskope an ihrer Gestalt wiedererkannt werden, aber tatsächlich wurden die Planeten schon lange vorher auf Grund der Regelmäßigkeit ihrer Bewegungen identifiziert und mit Namen versehen. Fixsterne werden anhand ihrer zu anderen Himmelskörpern relativ fixen Lage identifiziert. Unsichtbarkeit während des Tages (bzw. während der Nacht im Falle der Sonne) galt nie als ein triftiges Argument gegen die Identität eines Himmelskörpers. Diese Überlegungen lassen sich so zusammenfassen: Individuiert wird ein Körper durch das individuelle Ereignis seiner Beobachtung oder Messung. Eine Bahnkurve allein stellt noch keine Individuation dar, sie gibt nur die Möglichkeit zur Prognose der Beobachtbarkeit und damit Identifikation eines schon individuierten Gegenstands. Beobachtung, Experiment und Messung, die grundlegenden Methoden der Physik, spielen sich im kontingenten Bereich ab, in der Terminologie Latours (Abschn. 1.2.6) auf der Seite der Gesellschaft, nicht der Natur. Die physikalischen Beschreibungen beziehen sich dagegen auf eine kontingenzfreie Natur. Insofern kann man sagen, dass sich die Methoden der Physik nicht in ihren Ergebnissen spiegeln. Das bedeutet nicht, dass die Physik nicht ihre Methoden reflektieren würde. Das tut sie bei jedem Paradigmenwechsel sehr gründlich. Aber die Kontingenzfreiheit ihrer Resultate ist erkauft mit deren Blindheit gegen die kontingenten Entdeckungskontexte und damit gegen ihre Geschichte. Deshalb kann Individualität, die an Kommunikation und Geschichtlichkeit geknüpft ist, im Begriffsrahmen der klassischen Physik nicht vorkommen. Dennoch lassen sich die Bewegungen individueller Körper in diesem Rahmen darstellen.

21 Strawson weist darauf hin, das wir auch wiederholt auftretende Geräusche als ‚dasselbe Geräusch‘ individuieren und damit identifizieren. Strawson, ELS S. 89 f. 264

3.2 T E I L C H E N I D E N T I T ÄT I N D E R S T AT I S T I S C H E N M E C H AN I K

3.2.1 Atomtheorie Im Rahmen der klassischen Mechanik warf die Frage nach der Individualität von Körpern, wie wir gesehen haben, keine großen Probleme auf. Physikalische Eigenschaften können Stoffen und einzelnen Körpern zugeschrieben werden, und die durch die Bewegungsgesetze errechneten Bahnkurven lassen sich – unter Berücksichtigung der jeweiligen ceterisparibus-Bedingungen (Abschn. 3.1.2) – auf individuelle starre Körper anwenden. Diese Unabhängigkeit der physikalischen Beschreibung von der Frage der Individualität ihrer Gegenstände ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren, als die atomare Struktur der Materie explizit in die Begründungszusammenhänge physikalischer Gesetze einbezogen wurde. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen:

• •

Können auch die atomaren Bausteine der Materie als Individuen mit eigener Identität angesehen werden? Wie können, falls diese Frage verneint wird, aus nichtindividuellen Bausteinen zusammengesetzte makroskopische Körper als Individuen verstanden werden?

Ich werde mich in diesem und dem folgenden Kapitel ausschließlich mit der ersten Frage befassen. Die Art ihrer Beantwortung legt auch eine Antwort auf die zweite Frage nahe. Darauf werde ich am Ende des dritten Kapitels zurückkommen.

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3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

Bei der Entstehung der antiken Atomtheorien hat das Problem der Individualität noch keine Rolle gespielt, weil dieser Begriff damals in seiner modernen Bedeutung noch nicht existierte. In der neueren Literatur über die Motive für die Bildung der Atomtheorie durch Leukipp und Demokrit herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass diese Theorie eine Antwort zu geben versuchte auf die Probleme, die die Lehre der Eleaten Parmenides, Melissos und Zenon aufgeworfen hatte.1 Diese Philosophen befassten sich mit den Widersprüchen und Paradoxien, die sich bei der Erklärung von Veränderung und Vielheit ergaben. Nach der Lehre der Eleaten kann es keine Leere geben, da Nichtseiendes nicht existieren kann, und daraus folgt für sie wiederum, dass es auch keine Bewegung und keine Vielheit geben kann.2 Ebenso kann es keine Teilung geben, denn wo geteilt wird, entsteht Leere. Das Seiende ist vielmehr nach eleatischer Vorstellung ein unbewegtes und unteilbares Eines. Was uns die Sinne vermitteln, nämlich eine vielfältige und bewegte Welt, kann also nach der Ansicht der eleatischen Philosophie keine Wirklichkeit, sondern nur Schein sein. Schein kann aber nicht Ausgangspunkt für wahre Erklärungen der Wirklichkeit liefern, solche Erklärungen sind nur Meinung (įȠȟĮ). Von der Erfahrung in und mit dieser Welt führt demnach kein Weg zur Wahrheit. Im Gegensatz dazu geht Demokrit davon aus, dass die Sinneseindrücke zwar scheinhaft sind, dass man aber dennoch bei der Erklärung der Welt von der Wahrnehmung auszugehen hat.3 Gleichzeitig hält er jedoch einige der Argumente der Eleaten in Bezug auf die Natur des Seienden für triftig. Er versucht deshalb, von der Wahrnehmung ausgehend die Scheinhaftigkeit der Sinneseindrücke mit Hilfe von Prinzipien und Hypothesen zu erklären, die auch der strengen eleatischen Kritik standhalten. Eine solche Hypothese stellt die Annahme von Atomen dar, die unwandelbar, ewig und unteilbar sind. Sie bilden nach Demokrit die Elemente, aus denen die Welt aufgebaut ist. Außerdem gibt es für Demokrit allerdings die Leere, in der sich die Atome bewegen. Denn, so argumentiert er mit den Eleaten, Bewegung und Leere bedingen sich gegenseitig, und da er im Gegensatz zu diesen die Bewegung für wirklich hält, muss es auch die Leere geben. 1 2

3

Rudolf Löbl, Demokrits Atomphysik. Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft 1987 S. 65 ff. „Einige der Alten meinten nämlich, dass das Seiende notwendigerweise eines sei und unbeweglich; denn das Leere sei kein Seiendes, ein Bewegtwerden sei aber dann wohl nicht möglich, wenn kein abgetrenntes Leeres vorhanden ist. Ebenso wenig könne es Vieles geben, wenn es das nicht gibt, was trennt.“ Aristoteles, Über Entstehen und Vergehen. 324 b 34, zit. nach Löbl, a.a.O. S. 67. Ebd. S. 82.

266

3.2 TEILCHENIDENTITÄT IN DER STATISTISCHEN MECHANIK

Der Beweis für die Atomtheorie, d.h. für die Existenz von unteilbaren Körpern, den Demokrit gegeben hat und der durch Aristoteles überliefert ist,4 beruht darauf, zu zeigen, dass die Annahme der unbegrenzten Teilbarkeit der Körper zu einem Widerspruch führt. Wenn ein Körper geteilt wird, so wird argumentiert, so muss dort, wo er geteilt wird, schon ein Zwischenraum existieren. Unbegrenzte Teilbarkeit bedeutet dann, dass überall im Körper Zwischenraum existiert und der Körper nirgends ein räumliches Kontinuum wirklich ausfüllt. Dann kann er aber nur aus Punkten, d.h. aus etwas Größenlosem, bestehen. Aus größenlosen Punkten kann aber kein ausgedehnter Körper einer bestimmten Größe gebildet sein. Aus diesem Grunde kann also ein teilbarer Körper nur aus Körpern zusammengesetzt sein, die selbst unteilbar sind. Die Atome des Demokrit sind materiell homogen, sie unterscheiden sich nur durch Größe und Gestalt, sie sind in dauernder Bewegung, aber selbst unveränderlich und ewig. Diese geometrischen und kinematischen Eigenschaften der Atome sollen nach Demokrit alle Qualitäten der Körperwelt, wie unsere Sinne sie uns vermitteln, erklären und als scheinhaft erkennen lassen. Dies bezeugt das berühmte Fragment: „Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und den leeren Raum.“5 Wir finden hier also bereits das Schema der Differenz zwischen primären und sekundären Eigenschaften, wie es im 17. Jahrhundert wieder auftaucht (s.o. Abschn. 3.1.4), wobei nur den ersteren eine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit zugestanden wird. Die Atome sind aber nicht nur die letzten unteilbaren Elemente der Wirklichkeit, sie sind auch die ersten Bausteine dieser Wirklichkeit, aus denen sich alle Körper zusammensetzen (dass Demokrit offenbar auch Atome für unkörperliche Gegenstände wie Feuer oder Geist annahm, sei hier nur erwähnt6). Damit reduzieren sich Unterschiede zwischen Stoffen und deren Eigenschaften auf Differenzen zwischen den Gestalten und Bewegungen der Atome, Größen- und Gestaltunterschiede zwischen Körpern auf Differenzen zwischen der Anzahl und Anordnung der Atome. Ich habe am Beginn dieses Abschnitts festgestellt, dass für die antiken Atomisten die Frage der Individualität noch keine Rolle gespielt hat und die damit verbundenen Probleme wie Identität oder Selbigkeit noch nicht thematisiert wurden. Andererseits ist die Erfahrung der Wiedererkennbarkeit von Personen und Gegenständen und ihre – wenn auch begrenzte und fragile – zeitliche Beständigkeit eine elementare Erfahrung 4 5 6

Aristoteles, Über Entstehen und Vergehen. 316 a 14 – 316 b 18, siehe Löbl, a.a.O. S. 74 ff. Wilhelm Capelle (Hg), Die Vorsokratiker. Stuttgart Kröner 1968 S. 399. Ebd. S. 422. 267

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

des Alltags und die Voraussetzung jeder Lebensbewältigung. Ihr gegenüber steht die ebenfalls allgegenwärtige Erfahrung von unaufhaltsamer Veränderung, von Tod und Vernichtung, denen Personen und Dinge unweigerlich unterworfen sind und die jede Kontinuität bedrohen. Die eleatische Leugnung von Veränderung und Bewegung ist unter diesem Gesichtspunkt als Versuch der metaphysischen Rettung der Beständigkeit und damit der wichtigsten Daseinsbedingung zu sehen. Demokrits Atomtheorie will einerseits den eklatanten Widerspruch der eleatischen Lehre zur Erfahrung beheben und dennoch die Rettung der Beständigkeit leisten. Beständig sind für die Atomisten die Atome. Als ewige und unveränderliche Bestandteile der Materie sind sie die eigentlichen unzerstörbaren Wesen, und als solche wurden sie von den Atomisten bis ins 19. Jahrhundert verstanden.7 Sie garantieren die Unzerstörbarkeit der Materie, allerdings auf Kosten der Individualität oder Einzigartigkeit der makroskopischen Dinge, denn diese sind nur wechselnde Arrangements aus Atomen. Diese radikal reduktionistische Form der Atomtheorie Demokrits wurde in der Antike aufgenommen von Epikur und Lukrez, jedoch wegen ihres materialistischen Charakters durch das Mittelalter hindurch meist nicht offen vertreten. An ihre Stelle trat die auf Aristoteles zurückgehende Lehre von den minima naturalia als nicht mehr weiter teilbaren Einheiten, die von den arabischen Kommentatoren ausführlich behandelt und in der Renaissance vor allem von Scaliger vertreten wurde.8 Erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Atomtheorie Demokrits durch Gassendi wieder behandelt – mit Modifikationen, die ihr den Geruch des atheistischen Materialismus nehmen sollten, wie z.B. durch die Annahme der Entstehung der Atome durch den Schöpfungsakt. Von da ab wurde sie von vielen Naturforschern, u.a. von Newton, für hypothetische Erklärungen benützt. Leibniz hat die Existenz von gleichartigen Atomen dagegen ausgeschlossen (Abschn. 1.1.2), da sie in seine aus voneinander unterschiedenen Individuen aufgebaute Welt nicht passten und eine nur durch Anzahl sowie durch geometrische und räumliche Unterschiede bestimmte sogenannte numerische Individualität ihm nicht genügte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge der Entwicklung der Chemie sowie der kinetischen Gastheorie und Thermodynamik aus der Annahme von Atomen Regeln und Gesetze abgeleitet und empirisch 7

8

Darauf weisen Reichenbach und Schrödinger hin. Hans Reichenbach, „The Genidentity of Quantum Particles“. Erwin Schrödinger, „What is an Elementary Particle?“ Beide in Castellani, IBQ S. 64 bzw. S. 204. A. van Melsen, Das Atom – gestern und heute. Die Geschichte des Atombegriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Freiburg Alber 1957 S. 73 ff, S. 87 ff, S. 104 ff.

268

3.2 TEILCHENIDENTITÄT IN DER STATISTISCHEN MECHANIK

bestätigt, die ohne die Annahme diskreter Bausteine der Materie nicht erklärbar waren. Dazu gehörte das Gesetz der konstanten und multiplen Proportionen bei chemischen Verbindungen, das mit dem Namen von Dalton verbunden ist. Nachdem Avogadro 1811 die These aufgestellt hatte, dass gleiche Raumteile verschiedener Gase bei gleichem Druck und gleicher Temperatur die gleich Anzahl von Partikeln enthalten, begann auch die Suche nach dieser Zahl, die eine erste Brücke zwischen makroskopischen und mikroskopischen Größen bildete. Sie wurde Avogadrosche bzw. Loschmidtsche Zahl genannt (nach Joseph Loschmidt, der 1865 als erster ihre Größe näherungsweise bestimmte). Aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelangen genauere Bestimmungen nach verschiedenen Methoden, die zum gleichen Ergebnis führten. Zusammen mit den Bestimmungen der Massen von Atomen und Elektronen oder der elektrischer Elementarladung waren damit endgültig quantitative Beziehungen zwischen Makro- und Mikrowelt hergestellt, und die Atomtheorie verlor ihren rein hypothetischen Charakter. Erst nach diesen Erfolgen verstummten auch die Kritiker wie Ernst Mach oder Wilhelm Ostwald, die diese Theorie zwar als heuristisch nützliche Hypothese gelten ließen, aber eine wirkliche Existenz von Atomen bestritten hatten. Eine explizite Verknüpfung der Eigenschaften und des Verhaltens makroskopischer Körper mit den Bewegungen ihrer atomaren Bausteine gelang im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der statistischen Mechanik und Thermodynamik mit Hilfe der Methoden der Statistik.

3.2.2 Wahrscheinlichkeit und Kontingenz Mit dem Einzug der Statistik in die Physik ist die Kategorie der Möglichkeit und damit die Kontingenz endgültig ins Zentrum der neueren Physik eingedrungen. Bekanntlich wurde das Thema der Quantifizierung von Wahrscheinlichkeitsaussagen im 17. Jahrhundert aus dem Bereich der Glücksspiele in die Mathematik hineingetragen. „Ein Problem über Glücksspiele, einem asketischen Jansenisten von einem Weltmann gestellt, war der Ursprung der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ formulierte der Mathematiker Poisson 1837 in seinem Buch über Wahrscheinlichkeitsrechnung mit dem Titel: „Recherches sur la probabilité des jugements en matière criminelle et en matière civile, précédée des règles générales du calcul des probabilités.“ Dieser Titel fasst zusammen, um was es bei der Wahrscheinlichkeitstheorie geht: um quantitative Aussagen über die Sicherheit von Urteilen, also über Wissen und Nichtwissen, und um ihre praktischen Anwendungen. Auch hier wurde mit der Verwissenschaftlichung des Begriffs Wahrscheinlichkeit versucht, ihn von seinen kontingenten, d.h. epistemischen Schlacken zu befreien und zu 269

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

objektivieren. In der Mathematik erfolgte dies durch seine Axiomatisierung, in der Physik durch den Versuch, ihn auf relative Häufigkeiten zurückzuführen. Die Wahrscheinlichkeitstheorie hatte deshalb von Anfang an einen ambivalenten oder, wie Hacking9 formuliert, ‚dualen‘ Charakter. Es handelt sich bei der Wahrscheinlichkeit einerseits um ein Maß für die Gewissheit oder Glaubwürdigkeit von Urteilen und Voraussagen über einzelne Ereignisse, andererseits um ein Maß für die relative Häufigkeit des Auftretens bestimmter Ereignisklassen. Der letztere Aspekt liefert die Möglichkeit einer approximativen empirischen Kontrolle der Ergebnisse der Wahrscheinlichkeitstheorie10, und die Theorie liefert die Prognosen solcher Häufigkeiten, etwa des Auftretens bestimmter Folgen von Augenzahlen beim Würfeln. Die Verbindung beider Aspekte beim Planen von Handlungen, wie sie etwa im Spiel, beim Wetten oder beim Abschließen von Lebensversicherungen stattfindet, ist in der Lebenspraxis selbstverständlich. Theoretisch stellt sie jedoch ein Problem dar, da es weder gelingt, die Erwartbarkeit des Eintretens eines einzelnen Ereignisses aus seiner Häufigkeit bei mehreren Wiederholungen logisch abzuleiten, noch umgekehrt aus der Gewissheit oder Ungewissheit eines bestimmten Ergebnisses die Häufigkeit seines Auftretens zu begründen. Deshalb ist es schwierig, Wahrscheinlichkeit als objektive Größe zu definieren wie andere physikalischen Größen. Diese sind letzten Endes durch die Methode ihrer Messung festgelegt. Wahrscheinlichkeit als Erwartung kann man jedoch nicht objektiv messen, einer Messung zugänglich sind nur Häufigkeiten bei endlich vielen Wiederholungen, die aber erst im Grenzfall von unendlich vielen Wiederholungen die Wahrscheinlichkeit liefern. Autoren, die wie etwa Karl R. Popper in seiner Logik der Forschung oder Hans Reichenbach in seiner Wahrscheinlichkeitslehre (beide 1935 erschienenen) auf einer objektiven Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsaussagen bestehen, definieren diese als Häufigkeit, d.h. genauer als „generelle Implikation zwischen Aussagen über die Klassenzugehörigkeit von Elementen gewisser gegebenen Folgen“.11 Ian Hacking, The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction, and Statistical Inference. Cambridge Un. Press 1975 S. 11 ff. 10 Eine strenge Verifizierung von Wahrscheinlichkeitsaussagen ist wegen des Grenzwertcharakters der numerischen Wahrscheinlichkeit ebenso wenig möglich wie eine Falsifikation. S. Karl R. Popper, Logik der Forschung. Tübingen Mohr 1969 S. 145, S. 155. 11 Hans Reichenbach, Wahrscheinlichkeitslehre. Eine Untersuchung über die logischen und mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Gesammelte Werke in 9 Bänden. Bd. 7 Braunschweig Vieweg 1994 S. 43. 9

270

3.2 TEILCHENIDENTITÄT IN DER STATISTISCHEN MECHANIK

Dabei handelt es sich immer um zwei Klassen, die sogenannte „Bezugsklasse“ und die „Merkmalsklasse“.12 Diese Häufigkeitsinterpretation der Wahrscheinlichkeit reicht nach Reichenbach auch aus, alle umgangssprachlichen Bedeutungen dieses Begriffs zu erklären, z.B. die der Zuschreibung einer Wahrscheinlichkeit zu einem Einzelereignis. Reichenbach bezeichnet eine solche Angabe nicht als Aussage über das Ereignis, sondern als „Setzung“13, und zwar im dem Sinne einer Wette. Bei einer hohen Wahrscheinlichkeit setzt man auf das Eintreten des betreffenden Ergebnisses, man richtet sein Handeln so ein, wie es diesem Ergebnis entspricht, obwohl man sich seines Eintretens nicht wirklich sicher sein kann. Die Erklärung der subjektiven Erwartung bzw. partiellen Gewissheit über den Ausgang eines Ereignisses durch das Verhalten, das sich in einer Wette oder anderen Entscheidungen äußert, ist eine generelle Strategie für die Interpretation der Bedeutung eines Wahrscheinlichkeitswertes für den Einzelfall.14 Mit dem Rekurs auf das Handeln bzw. auf den Beobachter des Ereignisses, der einen Unterschied setzt, ist man natürlich wieder im Bereich der Kontingenz angelangt (s.o. Kap. 1.2 insbes. Abschn. 1.2.5).15 Sklar zeigt in seiner Monographie Physics and Chance, dass auch der Begriff der Zufälligkeit sich nicht streng objektiv, d.h. ohne die Verwendung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit, definieren lässt. Da Zufälligkeit aber Voraussetzung für die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, ist damit auch eine zirkelfreie Interpretation von Wahrscheinlichkeit unmöglich.16 In der Mathematik der Wahrscheinlichkeitstheorie hat man das Problem der Interpretation des Begriffs der Wahrscheinlichkeit durch die Axiomatisierung beseitigt, die 1933 von Kolmogoroff in Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung zuerst durchgeführt wurde. In der Physik sowie in der Philosophie bestehen die Probleme jedoch weiter. Wie zentral und fundamental der Begriff der Wahrscheinlichkeit für das physikalische Wissen ist, wird offenbar, wenn man sich klar macht, 12 Ebd. S. 44. 13 Ebd. S. 380 ff. 14 Lawrence Sklar, Physics and Chance. Philosophical Issues in the Foundations of Statistical Mechanics. Cambridge Un. Press 1993 S. 110 15 Der mit der Wahrscheinlichkeit bzw. Entropie eng verbundene Zweite Hauptsatz der Thermodynamik führt bekanntlich zu den irreversiblen Prozessen, die so etwas wie Geschichtlichkeit in die Physik einführen. Diesem Aspekt und seiner möglichen Beziehung zum Thema Individualität kann ich hier leider nicht nachgehen. 16 „Once again this makes it implausible that we can define probability in non-probabilistic terms using the notion of objectively random sequences.“ Sklar, a.a.O. S. 109. 271

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

dass jede empirische Aussage in der Physik auf Messungen zurückgeht, von denen jede mit einem endlichen Fehler behaftet ist. Sofern dies kein im Messverfahren begründeter systematischer Fehler ist, kann mit statistischen Methoden aus einer Reihe von wiederholten Messungen ein wahrscheinlichster Wert für die zu messende Größe (Mittelwert) und ein mittlerer Fehler bestimmt werden. Entsprechend ist die Gewissheit (Wahrscheinlichkeit) der Korrektheit des Messwertes immer kleiner als 1. Die Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Statistik auf die Auswertung von Messungen wurde von Carl Friedrich Gauß eingeführt und gehört seither zu den Grundlagen der Messtheorie. Auch darin zeigt sich ein untilgbarer Rest von Nichtwissen, der zwar im normalen Gang des Wissenschaftsbetriebs mit verwaltet wird und damit unter Kontrolle bleibt, aber doch an den Wendepunkten zur modernen Physik immer wieder hervorgetreten ist und für Krisen vor allem in der Interpretation der Ergebnisse geführt hat und noch führt.

3.2.3 Das Gibbssche Paradoxon Die statistische Mechanik führt die Eigenschaften von makroskopischen Körpern oder Systemen auf das Verhalten von mikroskopischen atomaren und molekularen Elementen dieses Systems zurück. Sie ermöglicht es, ohne das Verhaltens der einzelnen mikroskopischen Elemente zu kennen, deren kollektiven Effekt als Mittelwert einer sehr großen Zahl von Einzeleffekten zu berechnen. Ein in einem Volumen eingeschlossenes Gas wird z.B. als zusammengesetzt aus frei im Raum beweglichen Molekülen vorgestellt, die sich unabhängig voneinander bewegen und untereinander und mit den Wänden des Volumens elastisch zusammenstoßen. Die Beträge ihrer Geschwindigkeiten sind um einen Mittelwert verteilt, der mit der absoluten Temperatur des Gases zusammenhängt. Die statistische Mechanik erlaubt es, von diesem sogenannten ‚Stoßansatz‘ ausgehend, etwa den Druck des eingeschlossenen Gases zu berechnen als die Summe der durch die Stöße der Gasmoleküle auf die Wände ausgeübten Kräfte, und sie ermöglicht darüber hinaus die Ableitung der Zustandsgleichungen eines idealen Gases. Ideal ist das Gas dann, wenn zwischen den Molekülen außer den elastischen Stößen – bei denen die Moleküle keine Energie durch bnderung innerer angeregter Zustände aufnehmen oder abgeben – keine Wechselwirkung stattfindet. Das Verhalten realer Gase wird dadurch nur näherungsweise beschrieben. Die Zustandsgleichungen eines idealen Gases beschreiben dieses System im Gleichgewicht, d.h. in einem Zustand, in dem sich die makroskopischen Größen wie Druck oder Temperatur nicht oder nur sehr langsam ändern. Neben der Berechnung eines physikalischen Sys272

3.2 TEILCHENIDENTITÄT IN DER STATISTISCHEN MECHANIK

tems im Gleichgewicht ermöglicht die statistische Mechanik aber auch Aussagen über die zeitliche Entwicklung eines Systems, das nicht im Gleichgewicht ist. Für solche Systeme gilt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Er besagt, dass in einem abgeschlossenen System die Entropie niemals abnehmen kann. In der Sprache der statistischen Mechanik heißt das, dass die Wahrscheinlichkeit des Zustands nur zunehmen, ohne Zufuhr von Energie aber niemals abnehmen kann. Wenn also ein Gas in einem Kasten mit Zwischenwand in der einen Hälfte des Volumens eingeschlossen ist, so wird es sich nach dem Entfernen der Zwischenwand sofort auf das gesamte Volumen ausdehnen. Die Wahrscheinlichkeit, alle Gasmoleküle in einer Hälfte des Volumens anzutreffen, ist dann extrem unwahrscheinlich. Der wahrscheinlichste Zustand ist der, bei dem alle Gasmoleküle gleichmäßig im gesamten Volumen verteilt sind. Die Entropie des Gases ist in diesem Zustand am größten. Aus demselben Grunde werden sich zwei verschiedene Gase, die sich in den Teilvolumina des Kastens mit Trennwand befinden, nach deren Entfernung sofort vermischen, da jedes Gas unabhängig vom anderen den wahrscheinlichsten Zustand annimmt. Berechnet man die Wahrscheinlichkeiten und daraus die Entropie für ein System von zwei verschiedenen Teilchenarten (Moleküle der beiden Gase), so ergibt sich für den Fall der Vermischung beider ebenfalls eine Zunahme der Entropie. Paradoxerweise ergab sich bei den Berechnungen jedoch auch für den Fall eine Entropiezunahme, bei dem die beiden getrennten Volumina gleiche Gase enthalten. In diesem Falle verändert das Herausziehen der Trennwand den makroskopischen Zustand überhaupt nicht, denn beide Teilvolumina sind vorher wie nachher gleichmäßig von ein und demselben Gas erfüllt. Die Moleküle, die vorher in einem Teilvolumen eingeschlossen waren, sind zwar jetzt im Gesamtraum verteilt, da aber in beiden Teilvolumina gleichartige Moleküle waren, hat sich an der Gesamtverteilung nichts geändert. Auf diese Paradoxie stieß der amerikanische Physiker Josiah Willard Gibbs, als er im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die statistische Thermodynamik entwickelte. Er löste das Problem durch eine andere Art der Zählung der möglichen Zustände eines Schwarms von Molekülen in einem zweigeteilten Volumen.17 Nehmen wir ein Gas mit nur zwei Molekülen an und berechnen die Wahrscheinlichkeiten, wie sich beide Moleküle M1 und M2 auf die zwei Volumina A und B verteilen. Klassisch gerechnet gibt es vier Möglichkeiten:

17 Peter D. Pešiü, „The principle of identicality and the foundations of quantum theory. I. The Gibbs Paradox.“ American Journal of Physics 59 (1991) S. 971-979 273

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

• • • •

Fall 1) Fall 2) Fall 3) Fall 4)

M1 und M2 befinden sich in A M1 befindet sich in A, M2 in B M1 befindet sich in B, M2 in A M1 und M2 befinden sich in B

Da die Wahrscheinlichkeit sich als Verhältnis der Anzahlen der tatsächlichen Fälle zu der der möglichen Fälle errechnet, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich beide Moleküle gleichzeitig entweder in A oder in B befinden, jeweils ¼, die Wahrscheinlichkeit der Gleichverteilung auf A und B beträgt 2*1/4 = ½, ist also größer. Wenn die Moleküle aber ununterscheidbar sind, dann müssen die Fälle 2 und 3 als ein und derselbe Fall gelten und es gibt nur drei mögliche Fälle:

• • •

Fall 1) beide Moleküle befinden sich in Volumen A Fall 2) die Moleküle befinden sich in verschiedenen Volumina Fall 3) beide Moleküle befinden sich in Volumen B

Hier wurden nur solche Fälle als verschiedene Zustände gezählt, bei denen durch eine Vertauschung der Teilchen kein anderer Zustand entsteht. In dem einfachen Falle von nur zwei Molekülen ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit für die Gleichverteilung von 1/3. Sie ist damit genau so groß wie die, beide zusammen in einem Teilvolumen zu finden und damit kleiner als im Fall unterscheidbarer Teilchen. Bei mehreren Teilchen wird dieser Unterschied noch sehr viel ausgeprägter. Bei der zweiten Art der Zählung der möglichen Zustände verschwindet das Gibbssche Paradoxon, da vor und nach dem Herausziehen der Zwischenwand bei gleichen Gasen die ununterscheidbaren Atome gleichmäßig verteilt sind. Um das Verhalten von makroskopischen Körpern (z.B. eines Gases) mit Hilfe der Annahme von Atomen bzw. Molekülen richtig erklären zu können, muss man also der Ununterscheidbarkeit der Atome bzw. Moleküle Rechnung tragen. Das erfolgt dadurch, dass man nur solche Zustände als mögliche Zustände zählt, die sich durch die Verteilung ihrer Elemente, nicht aber durch den Austausch einzelner Elemente unterscheiden. Diese Art von Statistik, die als BoseEinstein-Statistik bezeichnet wird, ist anzuwenden, wenn es um Quantenobjekte wie Atome und Moleküle oder um Photonen geht. Die Statistik der klassischen, unterscheidbaren Teilchen wird als Boltzmann-Statistik bezeichnet. Für Elementarteilchen wie Elektronen oder Protonen und Neutronen, die die Bausteine der Atome bilden, gilt wieder eine andere, die sogenannte Fermi-Dirac-Statistik, auf die ich im nächsten Kapitel zurückkommen werde.

274

3.2 TEILCHENIDENTITÄT IN DER STATISTISCHEN MECHANIK

3.2.4 Sind nomologische Objekte Dinge? Was im vorangehenden Abschnitt wie eine geringfügige Modifikation der Art der Zählung der Moleküle in einem geschlossenen Gasvolumen aussieht, stellt sich tatsächlich als ein grundlegender strukturellen Unterschied zwischen den atomaren Teilchen der Mikrowelt und den Körpern der Makrowelt heraus. Makroskopische Körper besitzen kontingente Eigenschaften, die Werte aus einem kontinuierlichen Wertebereich annehmen können (Abschn. 3.1.3). Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, zwei Körper mit exakt den gleichen Eigenschaften vorzufinden, verschwindend gering, und ihre Unterscheidbarkeit durch eine Messung ist bei genügend hoher Messgenauigkeit mindestens theoretisch immer gewährleistet.18 Für sie kann also die ausnahmslose Geltung des Leibnizschen Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren angenommen werden. Im Gegensatz dazu sind die Elementarteilchen wie Photonen und Elektronen, aber auch Atome und Moleküle, wenn sie sich im gleichen Zustand (z.B. im sogenannten Grundzustand) befinden, nomologische Objekte (s.o. Abschn. 3.1.1), deren intrinsische Eigenschaften (wie etwa Masse oder elektrische Ladung) einen festen Wert besitzen und die deshalb grundsätzlich nicht auf Grund der Messung solcher Eigenschaften unterschieden werden können. In der Quantenphysik, die sich mit solchen ununterscheidbaren Teilchen befasst, ist es üblich, in diesen Fällen von ‚identischen‘ Teilchen oder Partikeln zu sprechen. Da der Begriff ‚identisch‘ in Teil 1 dieser Arbeit ausdrücklich als nur auf ein und dasselbe Objekt anwendbar erklärt und von der Gleichheit als einer Relation zwischen mehreren Objekten strikt unterschieden wurde, ist hier noch eine terminologische Klärung erforderlich. Da es misslich ist, eine in einem Bereich eingeführte Terminologie zu ändern, will ich dem Vorschlag von R.C, Hilborn und C.L. Yuca folgen und in diesem Falle immer von ‚physikalischer Identität‘ sprechen. Die beiden Autoren definieren physikalische Identität als Übereinstimmung in allen intrinsischen Eigenschaften

18 Diese Betrachtung ist natürlich in verschiedener Hinsicht simplifiziert. Einmal könnte man einwenden, dass aufgrund der atomaren Zusammensetzung ein Körper eines bestimmten Stoffes immer nur eine Masse haben kann, die ein ganzzahliges Vielfaches der betreffenden Molekülmasse beträgt. Wegen der bei makroskopischen Körpern unvermeidlichen Einschlüsse und Anlagerungen von Fremdmolekülen ist die Vielfalt der möglichen Massewerte jedoch wesentlich dichter. Vor allem aber gibt es auf Grund der Schwankung solcher Anlagerungen an der Oberfläche bei Druck- und Temperaturschwankungen eine praktische Unbestimmtheit in dem Wert der Masse dieses Körpers, die die Messgenauigkeit begrenzt. 275

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

zweier Objekte.19 Als intrinsisch gelten Eigenschaften wie Masse und elektrische Ladung, bei Quantenobjekten auch ihr Gesamtspin oder ihre Parität. Nomologische Körper sind also physikalisch identisch. Diese Partikel können sich aber in dynamischen Eigenschaften wie Ort, Impuls (Geschwindigkeit) oder – bei Quantenobjekten – in ihrer Spin-Orientierung unterscheiden, und diese extrinsischen dynamischen Eigenschaften ändern sich auch zeitlich – im Gegensatz zu ihren intrinsischen Eigenschaften. Unter Ununterscheidbarkeit (indistinguishability) verstehen die beiden genannten Autoren dagegen Übereinstimmung in allen Eigenschaften. Physikalisch identische Teilchen sind also nur unterscheidbar, wenn sie sich in verschiedenen dynamischen Zuständen befinden. Trotzdem kann man einem Ensemble von ununterscheidbaren Teilchen eine Anzahl zuordnen; sie sind zählbar, wenn auch nicht nummerierbar (sie besitzen Kardinalität, aber nicht Ordinalität). Schließlich definieren die Autoren noch einen dritten Begriff (indiscernibility), den ich hier Verwechselbarkeit nennen will. Die Differenz zur Ununterscheidbarkeit besteht für sie darin, dass Verwechselbarkeit epistemologisch definiert ist und bedeutet, dass die beiden Objekte zwar verschieden sein können, ihr Unterschied aber nicht wahrnehmbar ist. Hilborn und Yuca schließen den Begriff für ihre weitere Diskussion als irrelevant aus. Das erscheint mir gerechtfertigt, sofern man sich wie die Autoren auf den begrifflichen Apparat der Quantenmechanik beschränkt, nicht jedoch, wenn man auch die phänomenologische Interpretation der klassischen Physik berücksichtigt. Entsprechend dieser Terminologie sind Körper mit kontingenten Eigenschaften sowohl durch diese Eigenschaften unterscheidbar als auch auf Grund der Tatsache, dass man ihnen raum-zeitliche Bahnen zuordnen kann. Ihre Unterscheidbarkeit ermöglicht es auch, sie zu individuieren bzw. zu identifizieren. Die Frage ist, in welchen Fällen dies bei nomologischen Körpern allein mit Hilfe ihrer dynamischen Eigenschaften möglich ist. Für klassische Körper postulieren die beiden Autoren die Unterscheidbarkeit auch im Falle nomologischer Objekte, da man ihnen auf Grund ihrer dynamischen Eigenschaften immer eine Geschichte zuschreiben könne.20 Ich will auf diese Frage etwas ausführlicher eingehen. Von klassischen nomologischen Partikeln soll hier insofern die Rede sein, als zwar ihre ‚physikalische Identität‘ im definierten Sinne 19 Robert C. Hilborn, Candice L. Yuca: „Identical Particles in Quantum Mechanics Revisited.“ Brit. J. Philosophy of Science 53 (2002) S.355-389. 20 „In classical physics, particles – even those that share all other properties – can always be distinguished by their dynamic (space-time) histories.“ Hilborn, Yuca, a.a.O. S. 363. 276

3.2 TEILCHENIDENTITÄT IN DER STATISTISCHEN MECHANIK

angenommen wird, aber von spezifisch quantenmechanischen Argumenten wie dem Paulischen Ausschließungsprinzip oder der Welle-Teilchen-Komplementarität kein Gebrauch gemacht werden soll. Kann man in einem Ensemble aus solchen Teichen, etwa in einem bestimmten Gasvolumen bei bestimmten Druck und bestimmter Temperatur, die Partikel auf Grund ihrer Bahnen unterscheiden? Dies scheint mir aus folgenden Gründen nicht möglich zu sein. Eine Zuschreibung zu einer Bahn ist, wie in Abschn. 3.1.6 argumentiert wurde, nur dann möglich, wenn das Teilchen auf der Bahn wiedergefunden werden kann, die aus einer früheren Orts- und Geschwindigkeitsmessung berechnet wurde. Da eine ununterbrochene Beobachtung nicht möglich ist, kann die Identität dieses auf der Bahn angetroffenen Teilchens mit dem vorher gemessenen nur dann als sicher gelten, wenn keine anderen Teilchen in der Nähe sind bzw. sich die Positionen der Teilchen zueinander nur langsam ändern. Diese Voraussetzungen gelten in unserem Falle aber nur für Bahnstrecken, die wesentlich kürzer sind als die sogenannte freie Weglänge der Partikel in dem Gasvolumen. Das ist der Mittelwert der Strecken, die sie zwischen zwei Stößen frei fliegen. Sie beträgt bei Gasen wie Luft, Sauerstoff oder Wasserstoff bei Normaldruck und 0oC etwa 10-7 Meter oder ein Zehntausendstel Millimeter.21 Erst bei einer Reduktion des Drucks um den Faktor 106 erhält man freie Weglängen in der Größenordnung von Zentimetern. Da die mittlere Geschwindigkeit eines Wasserstoffatoms bei 0oC etwa 1700 Meter/Sekunde beträgt, ergibt sich für die mittlere Zeit zwischen zwei Stößen im Gas unter Normaldruck die unvorstellbar kurze Zeit von etwa 10-10 Sekunden. Dazu kommt, dass für die Orts- und Geschwindigkeitsmessung auch im Bereich der klassischen Mechanik eine „Unschärferelation“ gilt in dem Sinne, dass die Wechselwirkung zwischen dem Messdetektor und dem Messobjekt während der Messung zu einer Unsicherheit des Ergebnisses führt, die nur dann zu vernachlässigen ist, wenn die Wirkung des vom Detektor auf das Messobjekt übertragenen Impulses sehr viel geringer ist als der zu messende Impuls. Wenn das Messobjekt aber atomare Dimensionen hat, kann die Wirkung eines ebenfalls aus solchen atomaren Elementen zusammengesetzten Detektors nicht mehr vernachlässigt werden. Durch eine Messung kann man demnach ein solches Teilchen zwar momentan individuieren, ob man ihm aber eine Identität zuordnen kann, die ein Wiederfinden zu einem späteren Zeitpunkt erlauben würde, hängt von der Dichte und Geschwindigkeit der Teilchen ab. Für die an der 21 Fachlexikon ABC Physik, Zürich Verlag Harri Deutsch 1974. Stichwort: kinetische Theorie S. 762. 277

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

Erdoberfläche herrschenden Temperatur- und Druckverhältnisse kann von einer Identifizierbarkeit solcher Teilchen innerhalb eines ausgedehnten Körpers nicht die Rede sein (für Flüssigkeiten oder starre Körper lassen sich ähnliche Überlegungen anstellen wie für Gase). Wir müssen also hier wenn nicht eine prinzipielle Ununterscheidbarkeit, so doch eine Verwechselbarkeit annehmen, die unter den vorausgesetzten Normalbedingungen durch Messungen nicht zu beheben ist. Diese unaufhebbare Verwechselbarkeit der Teilchen im Ensemble bedeutet aber, dass die einzelnen als vollständig vertretbar – instantiable – anzusehen sind und damit nicht als Individuen gelten können. Als solche können sie dagegen gelten unter Bedingungen, die mit der Zuschreibung einer Bahn verträglich sind, so dass auch ein Wiederfinden des Teilchens durch eine wiederholte Messung möglich wird. Solche Bedingungen lassen sich physikalisch herstellen z.B. durch Isolation solcher Partikel im Vakuum oder durch Visualisierung ihrer Spuren in Photoplatten, Nebeloder Blasenkammern. Dort werden innerhalb gewisser Zeiträume die Partikel als Einzelteilchen für Messungen oder Manipulationen zugänglich oder hinterlassen Spuren, die es erlauben, ihnen während dieser Zeit eine Bahn und damit eine Geschichte und kurzfristige Identität zuzuordnen. Für ein Ensemble nomologischer Partikel, die sich in einem Zustand befinden, in dem sich keine Einzelpartikel identifizieren lassen – wie es ein Gasvolumen bei Normalbedingungen darstellt – ist es deshalb keine adäquate Beschreibung, wenn man sagt, dass es aus Teilchen mit bestimmten Orten und Geschwindigkeiten besteht, deren Werte eine bestimmte Verteilung haben. Angemessener ist es, das Gasvolumen durch einen Zustand zu beschreiben, der durch eine bestimmte Anzahl von Molekülen und durch eine bestimmte Verteilung ihrer Orte und Geschwindigkeiten (bzw. kinetischen Energien) gekennzeichnet ist. Der Unterschied der beiden Beschreibungen besteht darin, dass im ersten Fall die Teilchen als Träger der (extrinsischen) Eigenschaften Ort und Geschwindigkeit gedacht werden, deren Mittelwerte den Zustand des Gasvolumens bestimmen. Im zweiten Fall ist die Gasmenge selbst bzw. das Teilchenensemble als Ganzes Träger von Eigenschaften, z.B. der, eine bestimmte Anzahl von Molekülen zu enthalten mit einer bestimmten Geschwindigkeitsverteilung. Bei dieser zweiten Beschreibungsart ist sofort einsichtig, dass sich zwei solche aus gleichen Teilchen bestehenden Ensembles (Gasvolumina) durch die Zahl (oder die Art) ihrer Teilchen unterscheiden können, nicht aber dadurch, dass bestimmte Teilchen (derselben Art) sich im einen oder anderen Ensemble befinden. Im folgenden Kapitel wird sich zeigen, dass auch in der Quantentheorie diese beiden Beschreibungsarten existieren. Dort nennt man Ensemble-Zu278

3.2 TEILCHENIDENTITÄT IN DER STATISTISCHEN MECHANIK

stände verschränkt, wenn die Zustandseigenschaften nicht mehr als Summe der Zustände der einzelnen Partikel aufgefasst werden können. Nomologische Objekte stellen damit sozusagen die Antithese zu den individuellen Dingen dar: Während die individuellen Dinge begrifflich unbestimmbar sind auf Grund der Unerschöpflichkeit ihrer Differenzierbarkeit gegenüber anderen Individuen (Abschn. 1.3.7), aber durch ihre kontingenten Geschichten bestimmt werden können, sind die nomologischen Objekte durch ihre wenigen und konstanten instrinsischen Eigenschaften begrifflich vollkommen bestimmt, aber einzelne Exemplare der jeweiligen Spezies bleiben unbestimmt, da sie sich weder durch ihre statischen noch durch ihre dynamischen Eigenschaften von anderen Exemplaren dauerhaft unterscheiden lassen. Faktische Bestimmtheit durch kontingente, geschichtliche Merkmale, wie sie bei individuellen Dingen möglich ist, ist offenbar notwendig verknüpft mit begrifflicher Unbestimmbarkeit, da die Zuordnung einer Geschichte die begriffliche Offenheit und Veränderbarkeit des Gegenstandes erfordert. Umgekehrt hat eine vollkommene begriffliche Bestimmtheit, wie sie bei nomologischen Objekten gegeben ist, eine faktische Unbestimmbarkeit zur Folge, da die Fakten am unveränderlichen Gegenstand keine Spuren hinterlassen können und er dadurch keine wiedererkennbare Identität erlangen kann.

279

3.3 T E I L C H E N I D E N T I T ÄT

UND

Q U AN T E N T H E O R I E

3.3.1 Individualität und Unbestimmtheit in der Quantentheorie In der Quantentheorie erfährt der Begriff des Körpers eine einschneidende Wandlung. Die Körper der Quantentheorie sind nomologische Partikel mit bestimmten und unveränderlichen intrinsischen Eigenschaften wie Masse, elektrische Landung und Spin. Aber auch hinsichtlich ihrer dynamischen Variablen unterscheiden sie sich von den Körpern bzw. Massenpunkten der klassischen Physik. Während ein Massenpunkt durch definierte Werte seines Ortes und Impulses bestimmt ist, die im sogenannten Phasenraum einen Punkt bilden, können den Partikeln der Quantenmechanik nur Zellen endlicher Größe in diesem Phasenraum zugeordnet werden, deren Volumen durch die Größe des Planckschen Wirkungsquantums begrenzt ist. Ein Ausdruck dieser Tatsache sind die Heisenbergschen Unschärferelationen, nach denen das Produkt der Unschärfen von komplementären Größen wie Ort und Impuls eine durch das Wirkungsquantum gegebene Grenze nicht unterschreiten kann. Dies spiegelt wiederum die Dualität von Wellen- und Korpuskeleigenschaften der quantentheoretischen Objekte wieder, ein Aspekt der von Niels Bohr als grundlegend für die Quantenphysik bezeichneten Komplementarität. Eine offensichtliche Konsequenz der Unschärferelationen ist die Unmöglichkeit, einzelnen dieser Partikel über längere Zeiträume bestimmte Bahnkurven zuzuordnen. Die damit verbundenen und für die Anschauung paradox erscheinenden Effekte – wie die Interferenzfähigkeit dieser Korpuskeln oder die Existenz von sogenannten verschränkten Zuständen, die sich in den EPR-Experimenten zeigen, die auf Vorschläge von 281

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

Einstein, Podolski und Rosen zurückgehen – sind in der Literatur häufig beschrieben und interpretiert worden und sollen deshalb hier nicht im einzelnen behandelt werden. Diese Effekte sind Ausdruck einer unauflöslichen Unbestimmtheit, die es unmöglich macht, ihnen eine zeitlich durchgängige Identität als Einzelpartikel zuzuschreiben. Die Unbestimmtheit quantenphysikalischer Partikel hat jedoch nicht die Unmöglichkeit einer Individuation zur Folge. In Abschn. 3.1.4 wurde ausgeführt, dass ein Messprozess als individuelles Ereignis mit einer Individuation des Messobjekts verbunden ist, die durch die Interaktion zwischen Experimentator, Messgerät und Messobjekt zustande kommt. Auch in der Quantentheorie müssen das Messgerät und der Messprozess selbst im Rahmen der klassischen Physik beschrieben werden. Das ist eine zentrale und heute weitgehend akzeptierte Aussage der sogenannten Kopenhagener Deutung der Quantentheorie.1 Damit stellt sich die Frage, inwieweit mit diesem Messprozess eine Individuation des Messobjekts verbunden ist, auf eine ganz neue Weise. Niels Bohr hat den Ausdruck Individualität ab Mitte der Zwanzigerjahre auf spontane und unvorhersagbare Vorgänge im atomaren Bereich angewendet, etwa auf die spontane Emission eines Lichtquants durch ein Atom. In dem Vortrag Licht und Leben von 1932 heißt es: „Es hat sich nämlich gezeigt, dass jede Energieübertragung durch Licht auf individuelle Prozesse zurückzuführen ist, bei denen jeweils ein sogenanntes Lichtquant ausgetauscht wird.“2 1938 schreibt er in dem Vortrag über Biologie und Atomphysik: „Das Vorhandensein des elementaren Wirkungsquantums ist in der Tat der Ausdruck eines bisher unbekannten Zuges von Individualität bei physikalischen Vorgängen, der den klassischen Gesetzen der Mechanik und Elektrodynamik fremd ist.“3 Im selben Vortrag heißt es weiter unten, „... dass die Annahme der Individualität atomarer Prozesse gleichzeitig einen prinzipiellen Verzicht auf die kausale Verknüpfung zwischen physikalischen Vorgängen in sich [birgt], welche von alters her die unumstrittene Grundlage der Naturbeschreibung gewesen ist.“4 Es handelt sich hierbei um die Individualität 1 2

3

4

Bernulf Kanitscheider, Philosophie und moderne Physik. Darmstadt Wiss. Buchges. 1979 S. 240 ff. Niels Bohr, Atomphysik und menschliche Erkenntnis I, Braunschweig Vieweg 1964 , S. 4. Ebd. S. 17 Von Weizsäcker sieht, an Bohr anknüpfend, in der Individualität, zusammen mit Korrespondenz und Komplementarität die zentralen quantenmechanischen Begriffe. Individualität eines Prozesses bedeutet bei Bohr, dass dieser – auch gedanklich - nicht mehr in Teilprozesse zerlegbar und damit aus diesen nicht mehr bestimmbar ist. Carl Friedrich von Weizsäcker, Aufbau der Physik, München Hanser 1985, S. 295-299. Ebd. S. 18.

282

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE

von Ereignissen. Und es sind Ereignisse von der Art, die in einem Messgerät registriert werden können. Sie hinterlassen visuelle oder akustische Spuren auf Fotoplatten, in Nebel- oder Blasenkammern und in Geiger-Zählern. Wir begegnen hier also Ereignissen, die bestimmt sind durch ihr Auftauchen im Rahmen einer Beobachtung oder Messung, aber spontanen Charakter haben und kontingent sind im Sinne einer fundamentalen Unvorhersagbarkeit des Zeitpunktes ihres Auftretens. Dieses kann nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwartet werden. Die Beobachtung oder Registrierung eines solchen Ereignisses, führt auch zur Individuation der daran beteiligten einzelnen Partikel, denn sie sind als an ‚diesem‘ Ereignis beteiligte bestimmt. Individualität bezieht sich immer auf andere Individualität, in diesem Falle auf die des Ereignisses, dessen Individualität wieder in der Individualität des Mess- oder Beobachtungsprozesses und der daran beteiligten Individuen gründet. Da es jedoch nur in Ausnahmefällen möglich ist, mit diesem so individuierten Partikel andere, nachfolgende Ereignisse in Verbindung zu bringen, ist es auch nur ausnahmsweise möglich, ihm eine Geschichte und damit Identität zuzuschreiben. Solche Ausnahmen bilden z.B. hochenergetische Teilchen, die auf ihrer Bahn durch ein Gas oder eine Flüssigkeit eine große Zahl von Molekülen ionisieren, die ihrerseits Kondensationskeime bilden und auf diese Weise eine sichtbare Spur aus Blasen oder Nebeltröpfchen bilden. Elementarteilchen wie die Neutrinos, die extrem selten mit anderen Partikeln in Wechselwirkung treten und deren Existenz lange Zeit eine Hypothese blieb, treten entsprechend selten als Individuen in Erscheinung. Aber direkte Beweise für ihre Existenz lieferten auch hier erst Beobachtungen individueller Ereignisse, an denen Neutrinos mit Sicherheit beteiligt sind.

3.3.2 Identität und Ununterscheidbarkeit bei Schrödinger und Reichenbach Von den ersten Formulierungen der Quantentheorie an bis heute gibt es in der wissenschaftstheoretischen Literatur eine Debatte um die Problematik und Bedeutung der Ununterscheidbarkeit der Partikel, deren Verhalten von der Quantentheorie beschrieben wird. Sie bildet eine Facette der Diskussion um die Interpretation der Quantentheorie insgesamt, die ebenfalls noch nicht beendet ist. Dabei ist charakteristisch, dass der Formalismus der Quantentheorie im Wesentlichen abgeschlossen ist und sich hinreichend bei der Lösung physikalischer Probleme bewährt hat, während die Interpretation dieses Formalismus nach wie vor kontrovers ist. 283

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

In einem populären Vortrag mit dem Titel What is an Elementary Particle? hat Erwin Schrödinger 1950 festgestellt: „ [...] das Elementarteilchen ist kein Individuum; es kann nicht identifiziert werden, es hat keine ‚Selbstheit‘. Diese Tatsache ist jedem Physiker bekannt, aber in Übersichtsartikeln, die auch für Nichtspezialisten lesbar sind, erfährt sie wenig Aufmerksamkeit.“5 Nach Schrödingers Ansicht ist die Vorstellung von der Individualität eines Stücks Materie sehr alt und vermutlich schon bei Tieren vorhanden, wenn sie z.B. bestimmte Gegenstände suchen. Sie beruht nicht auf unmittelbarer sinnlicher Erfahrung, sondern ersetzt diese, wenn wir einen bekannten Gegenstand wiedererkennen. Kenntnis und Erinnerungsbild treten an die Stelle von sinnlicher Wahrnehmung und verdrängen diese, je bekannter uns ein Gegenstand ist. Dadurch werden die Lücken seiner sinnlichen Präsenz in unserer Wahrnehmung überbrückt und er existiert in unserem Bewusstsein als ‚derselbe‘. Diese Vorstellung von Individualität – so argumentiert Schrödinger – wurde von den Atomisten bis ins 19. Jahrhundert auch auf die Atome übertragen. Mit den Arbeiten von Heisenberg und de Broglie musste diese Vorstellung jedoch aufgegeben werden. Dies drückt sich in den die klassische Boltzmann-Statistik ersetzenden Quantentstatistiken aus, die die Ununterscheidbarkeit der Quantenobjekte berücksichtigen. Schrödinger erläutert ihre Besonderheiten anhand einer Analogie.6 Wenn drei Schüler (1,2,3) eine Auszeichnung verdient haben, aber nur zwei Preise zur Verfügung stehen, gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese an die drei Schüler zu vergeben, wobei mindestens einer von ihnen immer leer ausgeht. Die Zahl der möglichen Verteilungen hängt aber auch von der Art der Preise ab:





5

6

Die Preise seien zwei Gedenkmünzen mit Porträts von Newton (N) und Shakespeare (S). Sie können auf neun verschiedene Arten verteilt werden: N1 S1, N1 S2, N1 S3, N2 S1, N2 S2, N2 S3, N3 S1, N3 S2, N3 S3. Die Preise sind zwei gleichwertige und gleichartige Münzen (S, S). Sie können auf sechs verschiedene Arten verteilt werden: S1 S1, S2 S2, S3 S3, S1 S2, S1 S3, S2 S3

„[...] the elementary particle is not an individual; it cannot be identified, it lacks ‚sameness‘. The fact is known to every physicist, but is rarely given any prominence in surveys readable by non-specialists.“ Erwin Schrödinger, „What is an Elementary Particle?“ In Castellani IBQ S. 197-210. Ebd. S. 206.

284

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE



Die Preise sind zwei freie Plätze (P, P) in der Fußballmannschaft der Schule. In diesem Falle gibt es nur drei mögliche Verteilungen: P1 P2, P1 P3, P2 P3.

Für die Objekte der Statistik, die Teilchen, stehen hier die Preise, die im ersten Falle unterscheidbar sind (Boltzmann-Statistik), im zweiten Falle ununterscheidbar (Bose-Einstein-Statistik). Im dritten Falle sind sie ebenfalls ununterscheidbar, können aber darüber hinaus nur einfach besetzt werden, d.h. ein Schüler kann zwar zwei Münzen erhalten, aber nicht zwei Plätze in der Mannschaft besetzen (Fermi-Dirac-Statistik). Für den Fall einer Verteilung von Teilchen auf mehrere Volumina oder Energieniveaus in einem Atom erlaubt die Fermi-Dirac-Statistik keine Mehrfach-Besetzung. Dieses sogenannte Paulische Ausschließungsprinzip gilt für einen bestimmten Typ von Quantenobjekten, nämlich für die Partikel mit halbzahligem Spin, zu denen u.a. Elektronen, Protonen und Neutronen gehören und die auf Grund ihrer statistischen Eigenschaften als Fermionen bezeichnet werden. Bosonen nennt man die Partikel, die der Bose-Einstein-Statistik gehorchen. Es war bereits am Ende von Abschn. 3.2.4 davon die Rede, dass man im Falle ununterscheidbarer Teilchen besser von Zuständen redet, in denen sie sich befinden, als von Eigenschaften, die sie einzeln besitzen. Die Zustände sind dabei durch die Umstände gegeben (z.B. Gasbehälter oder Atomhülle). Der Unterschied zwischen Bose-Einstein- und FermiDirac-Statistik besteht darin, dass im ersten Falle ein Zustand mehrfach, im letzteren Falle nur einmal besetzt sein kann. Gegen Ende seines Vortrags wendet sich Schrödinger noch der Frage zu, welche Bedingungen es sind, unter denen man Quantenobjekte noch als einzelne beobachten und damit ‚bedingt‘ individuieren kann. In solchen Fällen spricht er von einem eingeschränkten Individualitätsbegriff (restricted notion of individuality).7 Das lässt sich dann rechtfertigen, wenn die Besetzungsdichte im jeweiligen System niedrig ist. Vereinfachend gesprochen heißt dies, dass man die Spuren einzelner Teilchen dann wenigstens über einen bestimmten Zeitraum hinweg verfolgen kann, wenn kein oder wenige andere Teilchen in der Nähe sind. Bei dichter Besetzung aller zur Verfügung stehender Zustände, wie sie in einem Gas bei hohem Druck oder bei Elektronen in einem Metall vorliegt, ist es unangemessen, von Einzelpartikeln zu sprechen, das System muss vielmehr als Ganzes mit Begriffen des Kontinuums beschrieben werden. Das ist immer dann der Fall, wenn die zur Teilchendarstellung komplementäre Wellendarstellung der Materie die passendere ist. Schrödinger weist darauf hin, dass 7

Ebd. S. 207. 285

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

der de Brogliesche Wellenaspekt der Quantenobjekte jedoch auch im Falle von quasi freien Teilchen immer präsent bleibt, wie sich z.B. in den Interferenzexperimenten am Doppelspalt zeigt. Auch Reichenbach hat sich in einem posthum 1956 erschienenen Text ausführlich mit der Frage der Individualität der Elementarteilchen befasst.8 Er verwendet den Begriff der ‚Genidentität‘. Er bezeichnet damit eine Vorstellung, nach der die Identität eines Körpers durch die kausale Verkettung von individuellen Ereignissen gegeben ist, durch die der Körper jeweils neu generiert wird. Als Gewähr für die ‚materiale Genidentität‘ makroskopischer Körper gelten bei Reichenbach die Kontinuität ihrer Veränderungen, das räumliche Ausschließungsprinzip (ein Körper kann zu einer Zeit nur an einer Stelle sein), sowie schließlich die Tatsache, dass eine Vertauschung zweier Körper eine wahrnehmbare Veränderung darstellt. Allerdings ist nach Reichenbach die Genidentität eines Körpers oft nur eine funktionale und keine materiale. So ersetzen Organismen durch den Stoffwechsel laufend ihre materiellen Bestandteile. Die klassische Metapher für funktionale Identität ist das Schiff des Theseus, dessen Bestandteile im Laufe der Geschichte alle ausgetauscht worden sind, so dass eine materiale Identität mit dem Original nicht mehr besteht.9 Nach Reichenbach besitzen Größen wie z.B. die Energie eine funktionale Identität, die etwa bei einem Stoß von einem Körper zu einem anderen übergehen kann.10 Die Atomtheorie beruht nun nach Reichenbach ursprünglich auf der Vorstellung, dass hinter der als funktional erkannten Genidentität der Körper des Makrokosmos eine materiale Genidentität der Atome im Mikrokosmos steht. Im Rahmen der Quantentheorie steht nun die Genidentität der Quantenpartikel zur Diskussion. Die drei genannten Kriterien für eine makroskopische Identität sind in der Quantentheorie z.B. wegen der Unbestimmtheitsrelationen nicht anwendbar. Das dritte Kriterium der Nachprüfbarkeit der Vertauschbarkeit von Partikeln markiert genau die Differenz zwischen klassischer Boltzmann-Statistik und den für die Quantenpartikel gültigen Bose-Einstein- und Fermi-Dirac-Statistiken. Dort sind nicht die Teilchen selbst, sondern die möglichen Zustände oder Partitionen und ihre Besetzungen die entscheidenden Größen. Im Phasenraum eines Gases aus Bosonen sind die Zellen, in denen sich Partikel aufhalten können, durch das Plancksche Wirkungsquantum in ihrer absoluten Größe begrenzt.11 Der Zustand des Gases wird durch 8

Hans Reichenbach, „Genidentity of Quantum Particles.“ In Castellani IBQ S. 61-72. 9 S. Abschn. 2.3.5. 10 Reichenbach, a.a.O. S. 64. 11 Ebd. S. 66. 286

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE

die Besetzungszahlen dieser Zellen beschrieben, nicht durch die Verteilung der einzelnen Teilchen. Der Effekt dieser Bose-Einstein-Verteilung lässt sich auch so beschreiben, dass die ihr unterworfenen Partikel eine Tendenz zur Zusammenballung haben, so als wirke unter ihnen eine Anziehungskraft. So ist im Beispiel von Abschn. 3.2.3 die Wahrscheinlichkeit für den Aufenthalt zweier Teilchen im gleichen Teilvolumen im Falle der Bose-Einstein-Verteilung größer als im Falle der Boltzmann-Verteilung. Im Falle der Fermi-Dirac-Statistik, die z.B. das Verhalten von Elektronen in einem elektrisch leitenden Körper beschreibt, führt das Paulische Ausschließungsprinzip zu einem genau inversen Verhalten, nämlich einer scheinbaren Abstoßung der Partikel. Umgekehrt muss man aus der Gültigkeit der Bose-Einstein- bzw. Fermi-Dirac-Statistiken, die sich in Fällen quantenmechanisch zu beschreibender Phänomene (z.B. der Superfluidität von Helium oder des Verhaltens von Elektronen in einem Metall) empirisch bewährt haben, auf die Ununterscheidbarkeit der Partikel schließen. Reichenbach macht darauf aufmerksam, dass man eine kausale Anomalie in Kauf nehmen müsste, wollte man auf der Identität der Partikel bestehen. Die Anomalie bestünde in der Annahme einer durch keine physikalische Kraft erklärbaren Tendenz zur gegenseitigen Anziehung (Bose-Einstein) bzw. Abstoßung (Fermi-Dirac) der Partikel in gleichen oder in benachbarten Zuständen. Reichenbachs Fazit ist deshalb, dass man den Teilchen der Quantentheorie keine materiale Genidentität zugestehen kann, wenn man ohne kausale Anomalien auskommen will. Da auch bei makroskopischen Körpern sich die materiale Genidentität in vielen Fällen als Illusion erweist, bezeichnet Reichenbach sie als „Idealisierung des Verhaltens bestimmter makroskopischer Objekte, der starren Körper, deren Verhalten jedoch nur näherungsweise der Idealisierung entspricht.“12

3.3.3 Fortgang der Ununterscheidbarkeitsdebatte Die Ununterscheidbarkeit quantenmechanischer Partikel ist bis heute Thema zahlreicher wissenschaftstheoretischer Untersuchungen. Die Begriffe, die in dieser Debatte eine Rolle spielen – neben Ununterscheidbarkeit sind das vor allem Identität und Individualität – werden jedoch nicht einheitlich gebraucht und immer wieder anders und neu definiert. Identität wird – entgegen der hier betonten Unterscheidung – generell als Gleichheit von Eigenschaften verstanden – teils unter Ausschluss dyna12 „idealization of the behavior of certain macroscopic objects, the solid bodies, which behavior, however, corresponds only approximately to the idealization.“ Ebd. S. 72. 287

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

mischer Eigenschaften, teils mit deren Einschluss. In diesem Zusammenhang tauchen auch Begriffe wie relative oder partielle Identität auf,13 sowie ‚transzendentale Individualität‘ oder ‚Haecceitas‘. Reichenbachs Begriff der Genidentität war schon im vorangehenden Abschnitt Thema. Unter Individualität wird manchmal eine Eigenschaft verstanden, manchmal der Träger von Eigenschaften. Um die Referenz dieser Arbeiten sprachlich nicht zu schwerfällig zu machen, werde ich in diesem und dem folgenden Abschnitt die Redeweise der Autoren übernehmen und von ‚identischen‘ Partikeln in dem oben in Abschn. 3.2.4 erklärten Sinne von ‚physikalisch identisch‘ sprechen. Unter transzendentaler Individualität (TI) verstehen Redhead und Teller etwas, das die Attribute des Individuums transzendiert.14 Sie ist also keine Eigenschaft unter anderen, sondern das, wodurch das Individuum seine Identität erhält. Diese transzendentale Individualität erfüllt zwei Aufgaben: Einmal kennzeichnet sie die Fähigkeit, ein Etikett, eine Markierung oder einen Index (label) zu tragen, an dem das Individuum erkannt werden kann. Zum anderen fungiert die TI als Trägerin von Eigenschaften.15 Durch diese Funktion können diesem Individuum Prädikate verliehen werden und sie wird deshalb von den Autoren als ‚Property Transcendental Individuality (PTI) bezeichnet. Im Gegensatz dazu betrifft die ‚Label Transcendental Individuality‘ (LTI) die Indizierung, die für die quantenmechanische Behandlung entscheidend ist. Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass in der Quantenmechanik Ununterscheidbarkeit als ein operationaler Begriff verstanden wird. Die gängige Auffassung versteht die operational ununterscheidbaren Partikel der Quantenmechanik gleichwohl als prinzipiell markierbar, indem z.B. die Zustandsfunktionen, die einzelne Partikel beschreiben, diesen durch Indizes zugeordnet werden. Die operationale Ununterscheidbarkeit besteht dann darin, dass Zustandsbeschreibungen von Partikelensembles, die sich nur durch die Markierungen der Partikel in sonst gleichen Zuständen – d.h. nur durch die Indizes, ihre LTI – unterscheiden, tatsächlich als ein und derselbe Zustand zu betrachten sind. Auch der von Teller in einer späteren Arbeit vorgeschlagene Begriff der Haecceität (haecceity)16 soll als ein „minimalistischer“ Begriff von

13 David Lewis, „Many, but Almost One“. In: Castellani IBQ S. 30-48. 14 Michael Redhead, Paul Teller, „Particle Labels and the theory of Indistinguishable Particles in Quantum Mechanics“. British Journal of Philosophy of Science. 43 (1992) S. 201-218. 15 Ebd. S. 203. 16 Paul Teller, „Quantum Mechanics and Haecceities“. In: Castellani IBQ S. 114-141. 288

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE

Individualität17 verstanden werden, der dreierlei gewährleisten soll: eine strikte Identifizierbarkeit (strict identity) der Teilchen durch eine „putativen“ Unterscheidbarkeit, die Fähigkeit, ihnen dauerhafte Namen oder Markierungen zuordnen zu können (labeling), und kontrafaktische Vertauschbarkeit (counterfactual switching) in dem Sinne, dass eine Vertauschung solcher Partikel eine Bedeutung hat. Es sind nach Teller mindestens diese drei Züge, die wir mit der Vorstellung individueller Teilchen notwendig, aber meist unbewusst verbinden. Und die Tatsachen der Quantenstatistik zwingen uns, diese mit den Partikeln verbundenen Charakteristika und damit auch jede noch so eingeschränkte Vorstellung von Individualität aufzugeben.18 Dieselbe Tatsache wird formal in der Quantentheorie noch auf andere Weise beschrieben. Die Partikel treten selbst in der Theorie nicht explizit als Träger ihrer dynamischen Eigenschaften auf, sondern dort kommen nur Zustandsfunktionen vor. Diese sind selbst nicht beobachtbar, aber aus ihnen kann man durch die Anwendung von Operatoren Observable berechnen, also mögliche Messwerte wie etwa Ort und Impuls der Partikel, aber auch deren Anzahl in einem Ensemble. Zustandsfunktionen, die Mehrteilchensysteme beschreiben, können zwar aus den Zustandsfunktionen der Einzelteilchen aufgebaut werden, sie müssen jedoch bestimmte Bedingungen erfüllen, um tatsächlich vorkommende Ensembles von Partikeln zu beschreiben. Speziell aus der Ununterscheidbarkeit folgt die Forderung nach Permutations-Invarianz. Darunter versteht man, dass die Werte der Observablen, die sich mit einer solchen Zustandsfunktion ergeben, unabhängig sein müssen von allen möglichen Vertauschungen (Permutationen) der Partikelnummern in der Zustandsfunktion des Ensembles. Diese Forderung wird in der Literatur im allgemeinen als ‚Ununterscheidbarkeits-Postulat‘ (Indistinguishablilty postulate IP) bezeichnet. Es zeigt sich nun, dass nur symmetrische Zustandsfunktionen die Permutations-Invarianz bzw. das Ununterscheidbarkeits-Postulat erfüllen, genauer gesagt, die zu einer von drei Arten von symmetrischen Funktionen gehören:

• • •

einfach symmetrische, die bei Indexvertauschung gleich bleiben antisymmetrische, die bei Indexvertauschung ihr Vorzeichen ändern Funktionen mit komplexeren Symmetrien.

17 Ebd. S. 121. 18 Teller, a.a.O. S. 135. 289

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

Der erste Fall symmetrischer Zustandsfunktionen führt zur Bose-Einstein-Statistik, die die sogenannten Bosonen beschreibt, zu denen die Atome und Moleküle sowie die Photonen gehören. Die antisymmetrischen Zustandsfunktionen führen zur Fermi-Dirac-Statistik, die die Fermionen, wie z.B. Elektronen, Protonen und Neutronen beschreibt. Die dritte Möglichkeit ergibt theoretisch mit dem IP vereinbare sogenannte ‚Parapartikel‘ von komplexerer Symmetrie, die aber bisher nicht gefunden wurden. Unsymmetrische Zustände sind dagegen mit dem PI nicht verträglich. Im Falle zweier Teilchen in zwei Zuständen wären die unsymmetrischen Gesamtzustände zu beschreiben als ‚Teilchen 1 in Zustand 1 und Teilchen 2 in Zustand 2‘ oder ‚Teilchen 1 in Zustand 2 und Teilchen 2 in Zustand 1‘, der symmetrische Gesamtzustand wäre dagegen ‚je ein Teilchen in Zustand 1 und in Zustand 2‘. Individualität im Sinne der Indizierbarkeit (LTI) wäre für die Objekte der Quantenmechanik demnach mit einer schwachen Interpretation des Ununterscheidbarkeits-Postulats IP nur dann vereinbar, wenn man annähme, dass die unsymmetrischen Zustände, die eine Unterscheidung der Partikel zulassen, dem Experiment nicht zugänglich sind oder einfach physikalisch nicht vorkommen.19 Wenn man das IP im strikten Sinne der Nichtexistenz oder Unmöglichkeit unsymmetrischer Zustände interpretiert, steht es im Widerspruch zur LTI. Der Formalismus der Quantentheorie, wie er in der sogenannten Schrödinger-Darstellung mit den durch Indizes auf Einzelpartikel bezogenen Zustandsfunktionen zum Ausdruck kommt, ist also unterbestimmt. Deshalb müssen durch Zusatzforderungen wie Permutations-Invarianz oder Paulisches Ausschließungs-Prinzip bestimmte in dem Formalismus mögliche Zustandsbeschreibungen als nicht existierend ausgeschlossen werden. Eine Darstellung, in der Partikelindizes gar nicht auftauchen, wäre demnach vorzuziehen. Tatsächlich gibt es eine solche Darstellung, den sogenannten Fock-Zustandsraum, in dem nur Partikelanzahlen, aber keine Indizes vorkommen. Dass die konventionelle Darstellung durch die Verwendung von Indizes im Grunde die LTI der Partikel erst unterstellt, um sie später als unhaltbar zu eliminieren, hat, wie die Autoren ausführen, rein historische Gründe und liegt an der Intuition unserer gängigen Vorstellungen von individuierbaren Dingen. Einen großen Raum nimmt die Frage der Gültigkeit des Leibnizschen Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren (principle of the identity of indiscernibles, PII) für die Objekte der Quantentheorie in der Literatur ein (s. Abschn. 1.1.1). Dieses Prinzip besagt, dass, wenn die Gegenstände a und b in allen ihren Eigenschaften übereinstimmen, sie 19 Redhead, Teller, a.a.O. S. 208. 290

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE

identisch sind, d.h. a = b. Auch hier wird Identität nicht klar von Gleichheit unterschieden, so dass dieses Prinzip zur Tautologie wird, wenn man unter Identität die Übereinstimmung in allen Eigenschaften versteht. Man kann es dann als einen Satz der Logik auffassen. Hilborn und Yuca machen in ihrer Arbeit noch auf folgenden Zirkelschluss aufmerksam: Wenn man die Gegenstände mit a und b bezeichnet, d.h. sie verschieden benennt oder indiziert, und ihnen einzelne Eigenschaften zuordnet, die sich später als gleich erweisen, dann werden sie de facto von Anfang an unterschieden und man hat vorausgesetzt, was zu beweisen wäre.20 Eine starke Form des PII besagt, dass schon die Übereinstimmung in den intrinsischen Eigenschaften alleine ausreicht, um die Identität zu gewährleisten. In diesem starken Sinne ist das Prinzip natürlich mit der Existenz nomologischer Partikel, die in allen intrinsischen Eigenschaften übereinstimmen, nicht vereinbar. Nur die Trajektorien ermöglichen dann ihre Unterscheidung und bilden eine ‚Ersatz-LTI‘,21 durch die ihnen eine kontingente Geschichte zugeschrieben und dadurch eine Individuation ermöglicht wird. Allerdings wurde oben in Abschn. 3.2.4 gezeigt, dass man auch bei klassischen nomologischen Teilchen von bestimmbaren Trajektorien nur in Ausnahmesituationen sprechen kann. In der Quantenmechanik gibt es jedoch auf Grund der Unschärferelation keine bestimmten Trajektorien. Wenn man ihnen trotzdem eine LTI als intrinsische Eigenschaft unterstellt,22 dann erweist sich das PII als falsch für Bosonen und Fermionen, d.h. generell für die Partikel der Quantenmechanik. Auch Hilborn und Yuca sind der Meinung, dass der Versuch, das Leibnizsche PII im Bereich der Quantentheorie zu retten, weder durch die Zuschreibung individueller Geschichten in Form von Trajektorien noch durch die Einführung einer geheimnisvollen transzendentalen Individualität (TI) Erfolg hat.23 Durch die Forderung der PermutationsInvarianz wird den im Formalismus auftretenden Partikel-Indizes jede physikalische Bedeutung abgesprochen. Da auch eine Identifikation wegen des Fehlens bestimmter Trajektorien in der Quantenmechanik ausgeschlossen ist, besteht keine Möglichkeit, die Partikel eines Ensembles zu individuieren. Die Autoren stellen jedoch die weitergehende Frage, ob die Permutations-Invarianz überhaupt als eine Symmetrieeigenschaft des Einzelpartikels aufgefasst werden kann. Beobachtbar ist sie nur am 20 Hilborn, Yuca, a.a.O. S. 369 sowie Kanitscheider, a.a.O. S. 234 f. 21 Redhead, Teller, a.a.O. S. 211. 22 „That entities should have LTI is a metaphysical thesis with all the obscurity and implausibility of metaphysical theses.“ Ebd. S. 211. 23 Hilborn, Yuca, a.a.O. S. 371 f. 291

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Ensemble aus mindestens zwei Partikeln, nicht am einzelnen Partikel. Dasselbe gilt für das Paulische Ausschließungsprinzip. Statistische Eigenschaften sind deshalb grundsätzlich verschieden von den übrigen Eigenschaften wie Masse, elektrische Ladung oder Spin, die auch an den Einzelteilchen durch ihre Wechselwirkungen mit Teilchen anderer Art messbar sind. Das statistische Verhalten wird nur an Teilchensystemen manifest und wird deshalb von den Autoren als holistische Eigenschaft bezeichnet. Konsequenterweise, so folgern die Autoren, darf man Aussagen wie ‚ein Elektron ist ein Fermion‘ oder ‚ein Atom ist ein Boson‘ nur als abkürzende Redeweise und nicht als Attribution einer Eigenschaft an das einzelne Teilchen verstehen. Allerdings haben sich diese statistischen Eigenschaften bisher ausnahmslos als korreliert mit dem Wert des Spins der Teilchen erwiesen, der seinerseits am Einzelteichen gemessen werden kann. Partikel mit halbzahligem Spin wie Elektronen, Protonen und Neutronen gehorchen der Fermi-Dirac-Statistik, Photonen und Atome mit ganzzahligem Gesamtspin der Bose-Einstein-Statistik. Eine theoretische Begründung dieser Korrelation gibt es bis heute nicht, und es ist eine viel diskutierte Frage, ob Ausnahmen von dieser Spin-StatistikKorrelation denkbar sind.24 Schließlich sei noch auf eine Arbeit von Massimi hingewiesen, in der ein von Hermann Weyl unterstellter Zusammenhang zwischen dem Leibnizschen PII und dem Paulischen Ausschließungsprinzip und die sich daraus ergebende Diskussion behandelt wird.25 Wenn sich verschiedene Fermionen, z.B. Elektronen, nur in unterschiedlichen Zuständen aufhalten können und niemals im gleichen, so ist nach Weyl damit eine Unterscheidungsmöglichkeit gegeben und sie erfüllen das Leibnizsche Prinzip. Diesem Argument wurde von Margenau widersprochen, indem er zeigte, dass sich zwei Elektronen in einem Atom zwar in verschiedenen Zuständen befinden (in der Sprache des Bohrschen Atommodells auf verschiedenen Bahnen bewegen), aber die berechenbaren Erwartungswerte für ihre Positionen und alle anderen Observablen übereinstimmen, sie also empirisch nicht unterscheidbar sind und das PII für sie damit nicht gilt. Massimi widerspricht beiden Argumenten, indem sie darauf hinweist, dass sich die beiden Elektronen in einem sogenannten ‚verschränkten‘ (entangled) Zustand befinden, in dem sie nicht separierbar sind und man ihnen auch keine individuellen dynamischen Eigen-

24 Hilborn, Yuca, a.a.O. S. 357. 25 Michela Massimi, „Exclusion Principle and the Identity of Indiscernibles: A Response to Margenau’s Argument“. British Journal of Philosophy of Sceince 52 (2001), S. 303-330. 292

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE

schaften zuschreiben kann. Damit ist aber das PII weder wahr noch falsch, sondern in solchen Situationen nicht anwendbar.

3.3.4 Van Fraassens modale Interpretation Im Rahmen seiner modalen Interpretation der Quantentheorie hat sich van Fraassen ausführlich mit dem Problem der ‚identischen Partikel‘ auseinandergesetzt.26 Er bezeichnet seine Position als konstruktiven Empirismus, für den das Ziel der Wissenschaft nicht Wahrheit als solche ist, sondern nur ‚empirische Angemessenheit‘ (empirical adequacy), d.h. Wahrheit in Bezug auf die beobachtbaren Phänomene.27 Die Unbestimmtheit der Quantentheorie wird in der modalen Interpretation nicht als subjektives Nichtwissen objektiv bestehender Tatsachen interpretiert, sondern als eine Offenheit der Wirklichkeit im Hinblick auf Möglichkeit. Logisch verhalten sich Notwendigkeit und Möglichkeit zueinander wie die Quantoren ‚alle‘ und ‚einige‘, d.h. letztere sind Negationen der ersteren, aber nicht umgekehrt. Aus der Notwendigkeit einer Tatsache folgt ihre Existenz, aber aus ihrer Existenz folgt nicht ihre Notwendigkeit, sondern ihre Möglichkeit. Möglich ist andererseits das, was zur Wirklichkeit nicht im Widerspruch steht. Genauer gesagt: Eine mögliche Bahn eines Körpers ist eine, die die wirkliche Bahn des Körpers während der Vergangenheit enthält und sie konsistent in die Zukunft fortsetzt.28 Das Maß der Möglichkeit ist die Wahrscheinlichkeit. In den letzten Kapiteln seines Buches behandelt van Fraassen das „Problem der identischen Partikel“.29 Durch die sogenannte zweite Quantisierung gelangt man von einer Darstellung des Mehrteilchensystems, in der Teilchen durch Indizes gekennzeichnet sind, zu einer Darstellung, in der keine Teilchenindizes mehr vorkommen, sondern nur noch Besetzungszahlen einzelner Zustände. Das ist die sogenannte Fock-Darstellung, von der im vorangehenden Abschnitt schon die Rede war. Man spricht bei dieser Umformulierung der elementaren Quantentheorie durch die zweite Quantisierung auch von einem Übergang zu einer (nicht-relativistischen) Quantenfeldtheorie. Wie van Fraassen zeigt, kann man den Weg auch von der Fock-Darstellung wieder zurück gehen zu einer Darstellung mit Indizes, wie sie der elementaren Quantentheorie entspricht.30 Indizes und damit Unterscheidbarkeit der Teilchen erweisen 26 Bas C. van Fraassen, Quantum Mechanics: An Empricist View. Oxford Clarendon 1991 S. 375-482. 27 Ebd. S. 4. 28 Ebd. S. 50. 29 Ebd. S. 375 ff. 30 Ebd. S. 450. 293

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sich also auch hier als offenbar entbehrlich, sie beeinflussen die empirisch beobachtbaren Werte nicht. Van Fraassen zieht daraus den Schluss, dass „Individuum, Individualität, Individuation sowie qualitative und numerische Identität ein traditionelles Bündel von Gegenständen der Philosophie bilden“, die uns wie gewisse metaphysische Substanzbegriffe noch immer „verhexen“, obwohl sie „schon vor Jahrhunderten in der Philosophie überwunden worden sind.“31 Für diese Begriffe besteht ebenso wenig wie für die Gültigkeit des Leibnizschen PII eine logische Notwendigkeit, sie spielten lediglich eine wichtige Rolle in einem bestimmten philosophiegeschichtlichen Kontext. Ein ‚Verlust der Identität‘ ist deshalb für van Fraassen kein neues Kennzeichen der Quantenwelt und auch kein Grund für die Bevorzugung einer bestimmten Statistik. Den Hauptteil des letzten Kapitels widmet der Autor deshalb einer von der Physik völlig unabhängigen Untersuchung, inwieweit wissenschaftliche Beschreibungen, in denen Individuen vorkommen, durch solche Beschreibungen ersetzt werden können, die ohne Individuen auskommen. Ausführlich durchgeführt wird dies durch eine semantische Untersuchung, denn „fast jedes Rätsel in der Metaphysik entspricht einem Problem in der Sprachphilosophie.“32 Dazu geht er aus vom Modell eines semantischen Universalismus, der dadurch gekennzeichnet ist, dass alle Tatsachen durch allgemeine Sätze beschrieben werden können. Unter Tatsachen versteht van Fraassen keine kontingenten Tatsachen, sondern Ereignisse, die in einem allgemeinen Koordinatensystem physikalisch beschrieben werden können. Er fügt dem jedoch gleich hinzu, dass es keine angemessene Beschreibung unserer Sprache wäre, wollte man dies als ihre einzige Funktion bezeichnen. Dennoch sollte der semantische Universalismus insofern vollständig sein, als er eben für die Beschreibung dieser Art von Tatsachen ausreicht und damit den ganzen Korpus der Physik, die aus solchen allgemeinen Sätzen besteht, enthält. Unvollständig ist eine so eingeschränkte Sprache insofern, als sie es nicht erlauben würde, Wissenschaft auf die Gegenstände in der Welt anzuwenden. Der Grund ist, dass der semantische Universalismus keine indexikalen Ausdrücke kennt und ihm damit Elemente fehlen, die handelnde Personen zu ihrer Orientie31 „The notions of individual, individuality, individuation, and qualitative and numerical identity form a traditional subject cluster in philosophy. If I am right, we are still bedevilled by certain metaphysical concepts of substance which were actually already surpassed in philosophy centuries ago.“ van Fraassen, a.a.O. S. 460. 32 „almost every puzzle in metaphysics corresponds to a problem in language philosophy.“ Ebd. S. 465. 294

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE

rung und Kommunikation benötigen. Das ‚know how‘ das jeder Benutzer einer Sprache bezüglich des Umgangs mit Indexikalen hat, ist nicht auf das ‚know that‘ der Tatsachenbeschreibungen reduzierbar.33 Ein Ich kann sich wegen des Fehlens indexikaler Ausdrücke in diesem semantischen Universalismus nicht verorten. Eine Welt besteht in diesem Modell aus Einzeldingen und Zellen, denen die Einzeldinge zugeordnet sind. Die Zellen kann man sich als Prädikate dieser universellen Semantik oder als Kombinationen aus ihnen vorstellen. Verschiedene mögliche Welten bestehen in verschiedenen Zuordnungen der Einzeldinge zu den Zellen. Schließlich werden noch globale Strukturen in das Universum verschiedener Welten eingeführt, die als Zugangsrelationen bezeichnet werden, die Übergänge zwischen möglichen Welten beschreiben. Gefordert wird auch hier wieder die Permutations-Invarianz aller Welten gegenüber der Vertauschung von Einzeldingen, die sich in gleichen Zellen befinden (qualitativ gleich sind). Der umfangreiche formalisierte Argumentationsgang kann hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Das Ergebnis der Analyse dieses Modells ist, dass jede Welt eines solchen Universums, also jede Zuordnung der Einzeldinge zu den Zellen, einfach ersetzt werden kann durch eine Menge von Besetzungszahlen für die Zellen. Dabei bleiben die modalen Verhältnisse vollständig erhalten. Alle Informationen in der ursprünglichen Weltbeschreibung, die in der Zuordnung individueller Einzeldinge zu den Zellen enthalten sind, bleiben also erhalten, wenn man diese Beschreibung ersetzt durch eine, die ohne Individuen-Indizes auskommt und nur mit den Besetzungszahlen operiert.

3.3.5 Antinomie von kontingenter Bestimmtheit und prädikativer Bestimmbarkeit Dieses Ergebnis kann im Grunde nicht verwundern. Ein Bezug auf ein Individuum ist unmöglich in einer Sprache, die nur allgemeine prädikative Funktionen hat. Individuation findet im Bereich kommunikativer Akte statt, deren sprachliche bquivalente van Fraassen durch die Ausklammerung indexikaler Funktionen aus dem Instrumentarium seines semantischen Universalismus ausgeschlossen hat. Sein Ergebnis steht mit dem Ergebnis des ersten Kapitels dieses Teils in Übereinstimmung. Eine Physik, die nicht auf konkrete Situationen angewandt wird und den Messprozess nicht als handelnden Eingriff eines Experimentators, sondern nur als Bestätigung des aus der physikalischen Beschreibung 33 Ebd. S. 466. 295

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

folgenden Observablenwertes versteht, kann tatsächlich in einer universalistischen Semantik formuliert werden. In ihr ist jedoch kein Platz für einen Bezug auf Individuen. Das Ergebnis steht auch im Einklang mit der Erkenntnis des Kapitels 3.2, dass die Forderung nach PermutationsInvarianz eine Konsequenz des Gibbsschen Paradoxons und damit nicht erst eine Forderung der Quantentheorie ist. Dieses Paradoxon war vielmehr ein Index für die Krise der klassischen Physik, die letzten Endes zur Entwicklung der Quantenmechanik führte. Permutations-Invarianz bedeutet nichts anderes als die Forderung nach vollständiger Vertretbarkeit oder ‚instantiability‘ der Partikel untereinander. Damit ist nach dem im ersten Teil entwickelten Verständnis von Individualität aber gerade ausgeschlossen, dass diese Gegenstände als Individuen mit eigener Identität gelten können. Das heißt nicht, dass einzelne Partikel in bestimmten Experimenten nicht zeitweilig individuiert werden könnten. Schrödinger hat in seiner in Abschn. 3.3.2 zitierten Rede von einer eingeschränkten Individualität gesprochen, die dann möglich ist, wenn die Besetzungszahlen sehr niedrig sind, d.h. nur wenige Zustände überhaupt besetzt sind und damit, anschaulich gesprochen, keine anderen Partikel ‚in der Nähe‘ sind. Dann kann man die Spur eines einzelnen Teilchens verfolgen anhand seiner Wechselwirkungen mit anderen Einzelteilchen oder makroskopischen Körpern (wie z.B. Messgeräten). Es handelt sich dabei – genau genommen – um Spuren von individuellen Ereignissen. Von Individualität kann also auch in der Physik nur dort gesprochen werden, wo handelnd oder beobachtend selektiert wird. Die Annahme einer Identität in Form von intrinsischen Eigenschaften hat sich also auch gerade bei Quantenobjekten als unhaltbar erwiesen. Die ‚physikalische Identität‘ von Quantenpartikeln – und generell von nomologischen Objekten – bestätigt den im ersten Teil entwickelten Zusammenhang zwischen Identität und kommunikativen Akten. Individuationsprozesse finden in der klassischen Physik wie auch in der Quantenmechanik immer im kontingenten Beobachtungs- oder Handlungsbereich der Experimente und Messungen statt, die in den Formalismus der physikalischer Prozessbeschreibungen nicht eingehen. Der Unterschied besteht darin, dass die Prozessbeschreibungen im Falle der klassischen Physik – z.B. gegeben als Bahnkurven von Massenpunkten – als Beschreibungen der Bewegungen makroskopischer individueller Dinge interpretierbar sind. Die Beschreibungen der Quantenphysik beziehen sich jedoch auf Zustandsfunktionen, die nicht mehr als Bahnbeschreibungen individueller Dinge interpretiert werden können. Die Zustandsfunktionen sind eindeutig und determiniert, aber holistisch in dem Sinne, dass sie durch die Gesamtsituation bestimmt sind. Wenn 296

3.3 TEILCHENIDENTITÄT UND QUANTENTHEORIE

sie ein Teilchenensemble beschreiben, beschreiben sie dessen Bewegung als Ganzes innerhalb festgelegter Grenzen und nicht als Summe von unabhängigen einzelnen Bahnen. Wenn man solche Zustandsfunktionen dennoch als Beschreibungen der Bewegung von individuellen einzelnen Objekten interpretiert, ergeben sich die bekannten Paradoxien. Dazu gehören Verschränktheit und Nichtlokalität, die bei der Interpretation der Einstein-Podolski-Rosen-Experimente eine Rolle spielen, oder die Interferenzeffekte im Falle der Doppelspaltexperimente. Die quantenmechanische Theorie funktioniert widerspruchsfrei, ihre Übersetzung in eine Sprache, die die Welt als eine Ansammlung von Individuen – Dingen und Personen – beschreibt, führt dagegen zu Paradoxien. Hier ist auch der Ort, um auf die in Abschnitt 3.2.1 gestellte zweite Frage zurückzukommen. Wenn die elementaren Bausteine der Materie selbst keine Individuen sind, wie können dann die aus ihnen zusammengesetzten makroskopischen Körper Individualität und Identität besitzen? Es liegt auf der Hand, dass diese Frage nur dann ein wirkliches Problem darstellt, wenn man Individualität als intrinsisches Merkmal substantieller Körper interpretiert. Dann wäre es unerklärlich, woher ein bestimmtes, additiv zusammengesetztes Arrangement von ‚physikalisch identischen‘ Partikeln eine völlig neue innere Eigenschaft, nämlich eine Identität haben sollte, die den einzelnen Bausteinen fehlt. Man müsste dann zu strapazierten Begriffen wie Supervenienz oder Emergenz Zuflucht nehmen, die oft eher eine Bezeichnung für das Fehlen einer Erklärung als eine solche darstellen. Fasst man aber Individualität als das Ergebnis eines Individuationsprozesses auf und Identität als die Möglichkeit, ein individuiertes Objekt über einen längeren Zeitraum in seiner Bewegung und bei eventuellen Veränderungen zu verfolgen oder zu kennzeichnen, so ist klar, dass dies keine Objekteigenschaften sind, die sich aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile herleiten. Ohne auf die Argumente im Einzelnen einzugehen34, seien hier nur zwei Gesichtspunkte genannt: 1. Makroskopische Körper können quantenmechanisch nicht als reine Addition ihrer atomaren bzw. molekularen Bestandteile beschrieben werden. Das zeigte sich schon bei Gasen, wo diese Vorstellung noch am weitesten trägt, gilt aber überhaupt nicht für Festkörper. Die Quantenobjekte sind in solchen Systemen verschränkt, d.h. sie können nicht mehr unabhängig von den anderen Bestandteilen des Systems durch unabhängige Wellenfunktionen beschrieben werden. Die Wellenfunktion des Gesamtsystems ist aber sehr komplex und hat – außer bei sehr nied34 Sieh dazu auch das letzte Kapitel von Teil IV. 297

3 DING UND KÖRPER IN DER PHYSIK

rigen absoluten Temperaturen – sehr viele mögliche Freiheitsgrade bzw. Zustände, in denen sich das System aufhalten kann. Diese verschiedenen Zustände können auch als verschiedene Eigenschaften (wie z.B. Temperaturen) interpretiert werden, deren Abfolge die Geschichte des makroskopíschen Körpers darstellt und die auch die Möglichkeit bieten, das System in seinen Veränderungen zu verfolgen und wiederzuerkennen, d.h. ihm eine Identität zuzuschreiben. 2. Dies gilt auch für Systeme aus nur wenigen oder sogar einzelnen Molekülen, mit denen sich die Nanotechnik vornehmlich beschäftigt. Je größer ein solches Objekt und je komplexer seine Zusammensetzung ist, desto mehr mögliche Zustände hat es und desto eher bietet es die Möglichkeit, Spuren aufzunehmen, eine verfolgbare Geschichte zu haben und damit identifizierbar zu sein. Auch hier ist die physikalische Wirklichkeit nicht durch die Existenz zweier kategorial verschiedener Klassen von materiellen Objekten zu beschreiben, von denen die einen nomologisch und nicht individuierbar, die anderen mit kontingenten Eigenschaften versehen und individuierbar sind. Vielmehr haben wir es eher mit einem Spektrum von materiellen Objekten zu tun, wobei die Möglichkeit der Individuation und Identifikation vom experimentellen Arrangement abhängen, in das diese Objekte eingebettet sind und in dem sie beobachtet werden. Die schon am Ende des vorangehenden Kapitels konstatierte Antinomie zwischen begrifflicher Bestimmbarkeit und individueller Bestimmtheit liegt also nicht einfach in der Natur oder dem Wesen der Gegenstände, sondern im beschreibenden, experimentierenden oder messenden Zugriff auf sie. Die Art des möglichen Zugriffs ist bestimmt durch die gesamte Situation, physikalisch gesprochen durch den Typ des Experiments. Quantenmechanisch drückt sich diese holistische Abhängigkeit der angemessenen Objektbeschreibung (Welle oder Teilchen) vom experimentellen bzw. messtechnischen Arrangement in der Komplementarität von Wellen- und Teilchenbild aus.

298

4 D INGLICHKEIT

UND

T ECHNIK

4.1 T E C H N I S C H E S G E R ÄT U N D T E C H N I S C H E S H AN D E L N

Eine zu neunzig Prozent funktionierende Lichterkette wegzuwerfen verletzte sein Gefühl für die Verhältnismäßigkeit und Ökonomie der Dinge. Ja, es verletzte sein Selbstwertgefühl, weil er ein Individuum des Individuenzeitalters war, und seine Lichterkette war genauso individuell wie er. Egal, wie wenig sie gekostet hatte, sie wegzuwerfen hieß, ihren Wert und, noch einen Schritt weitergedacht, den Wert des Individuums an sich zu leugnen: etwas eigenmächtig als Müll zu definieren, obwohl man genau wusste, dass es keiner war. Die moderne Welt erwartete eine solche Definition, und Albert verweigerte sie ihr.1

4.1.1 Methodische Vorbemerkungen Es gilt heute als verfehlt, das Phänomen Technik, die Dynamik technischer Entwicklung und die beherrschende Rolle, die Technik in unserer Welt spielt, vom materiellen Produkt, also vom technischen Gerät her verstehen zu wollen. Längst stellt sich uns Technik nicht mehr in Form von isolierten Geräten dar, die uns im Haushalt, in der Arbeitswelt oder im öffentlichen Raum begegnen. Vielmehr sind wir auf technische Systeme angewiesen, die unser Handeln in bestimmte Schemata zwingen, 1

Jonathan Franzen, Die Korrekturen. Hamburg Rowohlt 2003 S. 636. 301

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

und auf technische Medien, die unsere Kommunikation und unseren Zugang zu Informationen strukturieren. Die technischen Systeme und Kommunikationsmedien sind zu einem umfassenden Medium vernetzt, das auf alle unsere vitalen und geistigen Aktivitäten kanalisierend einwirkt. Ohne Strom kann man weder kochen noch telefonieren, ohne Computer funktioniert weder die Kasse im Supermarkt noch die Ausleihe in der Bibliothek und ohne Internet-Anschluss muss ich zur Bank gehen, um meine Rechnungen zu bezahlen. Wenn hier trotzdem das technische Gerät als Ausgangspunkt der Überlegungen zum Thema Technik und Individualität gewählt wird, so zum einen, weil Geräte Dinge sind, um deren Individualität es hier geht. Zum anderen aber deshalb, weil auch heute noch unsere Interaktion mit dem Medium Technik durch Geräte vermittelt wird, die allerdings in vielen Fällen nur als Terminal oder Interface die Verbindung zu den Systemen herstellen. Die folgenden Überlegungen zum dinglichen Aspekt von technischen Geräten werden im Gegensatz zu einer rein funktionalen Definition gerade deren fragile Abhängigkeit von technischen und sozialen Netzwerken und ihre Funktion als Knoten in solchen Netzen deutlich machen. Genaugenommen ist jedes, auch das einfachste technische Gerät sowohl bei der Herstellung als auch beim Gebrauch auf gesellschaftliche und technische Netze angewiesen. Darauf macht Ropohl in seiner Darstellung der Systemtheorie der Technik aufmerksam: „Die Artefakte, in denen sich die Technik manifestiert, sind nichts weiter als Komponenten individueller und kollektiver Handlungszusammenhänge; in der Herstellung erweisen sie sich als Ziele, in der Nutzung als Mittel personalen und sozialen Handelns.“2 Damit ist ein weiteres konservatives Element der folgenden Darstellung benannt, nämlich die Bindung von Technik an den Handlungsbegriff. Auch dieser Ansatz gilt als nicht mehr angemessen, weil man mit einem Handlungsbegriff, der sich nur am Mittel-Zweck-Verhältnis orientiert, die durch die neuen Technologien entstandenen Probleme nicht überzeugend analysieren kann. So bewirkt etwa die globale Vernetzung der Systeme eine neuartige Unverfügbarkeit von Technik, indem diese nicht nur als Mittel dient, sondern die Bedingungen definiert, unter denen Handeln überhaupt möglich ist. Ich will versuchen, diesen Aspekten durch einen neuen Ansatz gerecht zu werden. Das soll durch den in Abschn. 1.2.3 eingeführten, von Hannah Arendt entwickelten Handlungsbegriff geleistet werden.3 Danach sind Handlungen gekennzeichnet 2 3

Günter Ropohl, Eine Systemtheorie der Technik. München Hanser 1979 S. 106. Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München Piper 1994. Im 4. Kapitel (Das Herstellen) verwendet Arendt einen rein zweck-

302

4.1 TECHNISCHES GERÄT UND TECHNISCHES HANDELN

durch eine „untilgbare Unbestimmtheit“, die aus der Differenz zwischen Absicht und Folgen herrührt und die sich im Umgang mit technischen Geräten, wie zu zeigen sein wird, vor allem in der Differenz zwischen Funktion und Gebrauch manifestiert.

4.1.2 Geräte und Regeln, Mechanismen und Algorithmen Der Ausdruck Gerät ist begrifflich nicht scharf abgrenzbar; im Konversationslexikon wird es beschrieben als „ein meist aus mehreren Bauelementen bestehender (beweglicher) Gegenstand, mit dessen Hilfe etwas bearbeitet, hergestellt, bewirkt (bzw. getätigt) oder verrichtet werden kann.“4 Er umfasst verschiedene Gattungen von Geräten wie Elektrogeräte, Haushaltsgeräte oder Messgeräte, wird aber auch als allgemeiner Sammelbegriff für technische Gebilde wie Apparate oder Maschinen sowie Werkzeuge verwendet. Es besteht eine Tendenz, die Begriffe Gerät, Apparat und Maschine zu normieren, wobei Gerät als signalumsetzendes, Apparat als stoffumsetzendes und Maschine als energieumsetzendes technisches Gebilde gekennzeichnet wäre. Ich werde den Begriff Gerät in einer relativ weiten Bedeutung verwenden. Im Bereich der Dinge gehören die Geräte zu den Artefakten, schließen aber viele Arten von Artefakten wie etwa Kunstgegenstände, Kleidung, Möbel oder Immobilien nicht ein. Sie bilden zwar Schnittmengen mit dem Begriff des ‚Wozudinges‘ von Schapp (Abschn. 2.3.2) oder dem juristischen Begriff der Sache (Abschn. 2.4.2), haben aber größeren Umfang. Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, den Umfang des Begriff des technischen Gerätes genau festzulegen; die folgenden Überlegungen beziehen sich jedoch vor allem auf solche technischen Geräte, die heute selbstverständliche Begleiter unseres Alltags sind wie Auto, Telefon (Handy), Fernsehgerät oder Computer, aber auch Messgeräte oder Maschinen, mit denen man je nach Beruf zu tun hat, sowie Großgeräte wie Busse oder Flugzeuge, die im öffentlichen Verkehr eingesetzt werden. In allen Fällen sind es also Dinge, mit denen wir mehr oder weniger regelmäßig in Berührung kommen. Die zitierte Begriffsdefinition zeigt, dass technische Geräte durch ihre Funktion eingebunden sind in Handlungskontexte. Will man etwas über technische Geräte wissen, so muss man etwas über das Bearbeiten,

4

orientierten Handlungsbegriff, den sie erst im 5. Kapitel (Das Handeln) im Hinblick auf die Differenz von Absicht und Handlungsfolgen erweitert. Meine Anwendung dieses erweiterten Begriffes bei der Analyse technischen Handelns ist also nicht unbedingt in Arendts Sinn. Mayers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Mannheim 1974, Stichwort Gerät. 303

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Herstellen, Bewirken oder Verrichten wissen, von dem in der obigen Definition die Rede ist. Es sind dies Tätigkeiten, die in der Regel nicht um ihrer selbst willen, sondern zur Erreichung bestimmter Zwecke ausgeübt werden. Und das „mit Hilfe dessen“ in der Definition drückt aus, dass diese Geräte als Mittel zur Erreichung der Zwecke dienen. Allerdings müssen technische Mittel nicht immer die Form von Geräten haben. Auch bestimmte manuelle oder intellektuelle Fertigkeiten werden als Techniken bezeichnet (Technik des Bergsteigens, des Multiplizierens etc.). Ihre Beherrschung erlaubt es, Handlungsziele schneller und zuverlässiger zu erreichen. Diese Techniken haben mit technischen Geräten gemeinsam, dass sie allgemein anwendbar sind. Ihre Anwendung ist nicht voraussetzungslos; Techniken müssen teilweise mühsam und langwierig eingeübt werden, und die Bedienung der Geräte muss ebenfalls erlernt werden, aber in beiden Fällen handelt es sich um Mittel, die, wenn sie eingeübt sind, von jedermann angewendet werden können. Fertigkeiten bestehen in der Beherrschung von Regeln, deren Einhaltung das Erreichen des angestrebten Zieles ermöglicht, ohne dass die einzelnen Handlungsschritte jeweils reflektiert werden müssen. Die Regel besteht ihrerseits in einer Standardisierung einer Handlung, die in Einzelschritte zerlegt wird, deren Abfolge dann in Form eines Handlungsprogramms oder Algorithmus beschrieben werden kann. Die wesentlichen vier Merkmale eines Algorithmus sind:5









5

Elementarität: Die einzelnen Operationsschritte, in die der Prozess zerlegt wird, sind elementar und werden routinemäßig abgearbeitet. So wird die Multiplikation mehrstelliger Zahlen in eine Reihe von Multiplikationen und Additionen einstelliger Zahlen zerlegt. Determiniertheit: Die Reihenfolge der Schritte ist durch den Algorithmus festgelegt. Sie wird nach einem festen Schema abgearbeitet. Ein Verständnis der speziellen Aufgabe oder der Regel selbst ist nicht mehr erforderlich. Allgemeinheit: Für die Anwendung des Algorithmus muss die Aufgabe generalisiert werden. Sowohl das Ziel als auch die Ausgangssituation müssen bestimmte gleichartige Merkmale erfüllen, damit die Elemente des Algorithmus greifen können. Inhaltliche und individuelle Aspekte der Aufgabe bleiben dabei unberücksichtigt. Endlichkeit: Ein Algorithmus ist konservativ und endlich, d.h. er besteht aus einer endlichen Reihe standardisierter Prozessschritte, die bei jeder Anwendung durchgeführt werden und sich wiederholen. Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriss. Darmstadt Wiss. Buchges. 1988 S. 159 f.

304

4.1 TECHNISCHES GERÄT UND TECHNISCHES HANDELN

Zwar kann in bestimmten Fällen die Regel zu keinem definiten Ende führen und potentiell unendlich weiter ausführbar sein (wie im Falle einer Division zueinander teilerfremden Zahlen), aber neue, nicht im Regelwerk vorgesehene Schritte sind ausgeschlossen. Auf Grund dieser Merkmale regelhaften Handelns kann dieses einerseits auf verschiedene Handelnde verteilt werden (Arbeitsteilung) und andererseits in technischen Geräten und Maschinen vergegenständlicht werden. Auch die Funktionsweise technischer Geräte beruht auf der Zerlegung einer Handlung in einzelne Prozessschritte, wobei diese ganz vom Handelnden abgetrennt und durch physikalische Prozesse im Gerät repräsentiert werden. Bettina Heintz hat darauf hingewiesen, dass die Konstruktion von Maschinen und Geräten, in denen Handlungsabläufe als Mechanismen vergegenständlicht sind, die Standardisierung menschlichen Handelns voraussetzt.6 Sie hat diese Überlegungen am Beispiel des Computers durchgeführt, sie gelten jedoch auch für andere technische Geräte, die komplexe Prozesse ausführen. Allerdings erfordert die Bedienung bzw. Steuerung des Gerätes wiederum die Anwendung bestimmter Regeln, die jedoch einfacher und leichter erlernbar sind – oder jedenfalls sein sollten. Die Anwendung von Techniken – sei es als Handlungsregeln oder instrumentell durch Einsatz von technischen Geräten – hat die Funktion, das Handeln von kontingenten Merkmalen zu befreien und dadurch zu entlasten. Die Entlastung kann bestehen in der Steigerung der Effizienz, d.h. Steigerung der Wirkung und/oder Verminderung des körperlichen oder intellektuellen Aufwands sowie in der Steigerung der Zuverlässigkeit, mit der das Handlungsziel erreicht wird. Entlastung gilt deshalb seit jeher als ein Grundmerkmal von Technik. Sie ist – zusammen mit dem der Vergegenständlichung – ein Schlüsselbegriff in der Technikphilosophie Arnold Gehlens.7 Entlastung bildet bei ihm eine „wesentliche Kategorie der Anthropologie“ mit dem Status eines Gesetzes („Entlastungsgesetz“).8 6

7

8

„Ohne die tiefgreifende Umstrukturierung von Handlungsfeldern unter der Maxime der Regel-haftigkeit und Berechenbarkeit wäre nicht ein breites Spektrum menschlichen Handelns soweit normiert worden, dass seine maschinelle Imitation problemlos möglich wurde.“ Bettina Heintz, Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers. Frankfurt Campus 1993 S. 299. Arnold Gehlen, „Der Mensch und die Technik“. In ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg Rowohlt 1957 S. 17 ff. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 7. Aufl. Frankfurt, Athenäum 1962 S. 62 ff. 305

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

4.1.3 Unzulänglichkeit rein zweckorientierter Handlungsbegriffe Algorithmen haben einen normativen Charakter, sie sind Regeln und sollen eingehalten werden. Abweichungen von der Regel gefährden den Erfolg. Je genauer die Regel befolgt wird, desto sicherer ist der Erfolg, aber desto geringer ist der Spielraum für den Ausführenden. Nun ist allerdings ein Zweck immer mit einer bestimmten individuellen Situation verbunden und durch sie bestimmt. Die Anwendbarkeit von Regeln bezieht sich dagegen auf Klassen von Situationen. Deshalb kann auch die starre Befolgung der Regel nicht unter allen Umständen den Erfolg garantieren. Wenn die Umstände, unter denen Regeln angewendet werden, sich ändern, ist es erforderlich, die Regel flexibel zu handhaben. Deshalb haben Regeln oft Ausnahmen, wobei etwa bei Rechen- oder Sprachregeln die Ausnahmen ihrerseits wieder als Regeln formuliert werden können, während es bei anderen Regeln nicht möglich ist, die Ausnahmen in das Regelwerk einzubeziehen. Auch regelhaftes Handeln bleibt immer Handeln und deshalb haftet ihm ein Rest von Spontaneität und Unberechenbarkeit an. Dadurch bewegt es sich in der unaufhebbaren Differenz von beabsichtigten Zwecken und unbeabsichtigten Folgen. In Abschnitt 1.2.3 wurde dieser von Hannah Arendt entwickelte Handlungsbegriff im Zusammenhang mit dem Begriff der Kontingenz eingeführt. Dementsprechend lässt sich regelgeleitetes Handeln – und damit Technik insgesamt – als Methode zur Vermeidung von Kontingenz verstehen, und zwar im ursprünglich Aristotelischen Sinne als Reduktion der Differenz zwischen Absicht und unbeabsichtigten Folgen. Aus der Erfahrung der Unmöglichkeit einer vollständigen Aufhebung dieser Differenz resultiert eine unaufhebbare Unbestimmbarkeit der Folgen jeden Handelns und damit verbunden eine Unbestimmtheit im technischen Handlungswissen. Es wird sich in den folgenden Abschnitten erweisen, dass sich diese Unbestimmtheiten trotz aller Bemühungen auch in der vergegenständlichten Technik, in den Geräten und Systemen, nicht eliminieren lassen und zu den bekannten Problemen führen, die mit den Stichworten Restrisiko und Folgenabschätzung angedeutet sind. Die philosophische Reflexion über Technik und Technologie ging lange Zeit von einem funktionalistischen Handlungsbegriff aus, der die Differenz von Absicht und Folgen nicht berücksichtigt. Ein solcher Begriff sieht im Handeln nur die Verwirklichung bestimmter Ziele und in der Technik das Mittel zur Optimierung ihrer Umsetzung bei gleichzeitiger Entlastung der Handelnden. So bezeichnet Ropohl in seiner Systemtheorie der Technik als Handlung die „zielgemäße Transformation 306

4.1 TECHNISCHES GERÄT UND TECHNISCHES HANDELN

einer Ausgangssituation in eine Endsituation“.9 Er kritisiert Habermas’ Trennung zwischen zweckgerichteter Handlung und sozialer Interaktion (kommunikative Handlung) und wirft ihm vor, damit dem Zwei-Kulturen-Modell verhaftet zu sein. Für Ropohl gilt die „Grundthese, ... dass technisches Handeln immer auch soziales Handeln impliziert“.10 Aber diese Formulierung zeigt gerade, dass soziales Handeln wie Handeln überhaupt von Ropohl nur als eine Komponente des technischen Handelns verstanden wird. Ferner definiert Ropohl ein abstraktes Handlungssystem als eine Instanz, die die Umgebung und damit auch sich selbst verändert, „entweder aufgrund vorgegebener oder aufgrund selbst gesetzter Ziele, wobei die ‚Internalisierung‘ externer Ziele durchaus möglich ist.“11 Die Handlungssysteme werden dann strukturiert durch Subsysteme wie Zielsetzungssystem, Informationssystem und Ausführungssystem, die jeweils wieder eine Feinstruktur besitzen. Dadurch wird es möglich, auch Rückkopplungsmechanismen in dieses Modell einzubauen.12 Auch Gehlen hatte in sein Konzept des Handlungskreises schon das Element der Rückkopplung eingebaut. Nach dieser Vorstellung werden Soll-Ist-Vergleiche im Laufe der Handlung durchgeführt, und bei jeder erreichten Veränderung wird das Handeln neu auf das Ziel hin optimiert. Rückkopplung berücksichtigt aber keineswegs unbeabsichtigte Handlungsfolgen. Sie evaluiert lediglich den Prozessfortschritt in Bezug auf seinen Abstand vom vorgegebenen Prozessziel und versucht durch geeignete Prozesssteuerung diese Distanz möglichst zu minimieren. Das Rückkopplungsprinzip ist dagegen blind für etwaige durch den Prozess ausgelöste Veränderungen anderer Qualität, die auf das Erreichen des Zwecks keinen direkten Einfluss haben. Aber gerade die unbeabsichtigten und oft irreversiblen Nebenwirkungen technischer Prozesse spielen heute als Technikfolgen eine große Rolle. Hätte sich die Technikphilosophie bzw. die allgemeine Technologie von Anfang an auf einen Handlungsbegriff bezogen, der die Differenz von Absicht und Folgen als konstitutives Element des Handelns berücksichtigt, so hätte sie Risikoabschätzung von vornherein als ein jeder Technik immanentes Problem sehen können und wäre von dieser Problematik nicht so unvorbereitet getroffen worden.13 9 10 11 12 13

Ropohl, a.a.O. S. 109, S. 122. Ebd. S. 108. Ebd. S. 115. Ebd. S. 131 ff, S. 137. So stellt Ulrich Beck fest, dass in der Definition von Risiken das „Rationalitätsmonopol der Wissenschaften“ erst gebrochen werden müsse und dass die „Entstehung des Risikobewusstseins in der hochindustriellen 307

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Der rein zweckorientierte Handlungsbegriff reicht jedoch auch noch aus anderen Gründen nicht aus, um technisches Handeln zu charakterisieren. Er ist einerseits zu weit, da er z.B. auch politisches Handeln umfasst. Das könnte man nur vermeiden, wenn man unter Veränderung eine rein materielle Veränderung versteht. Andererseits ist er aber zu eng, da er nicht den Gebrauch von technischen Geräten und Systemen bei Handlungen abdeckt, die selbst nicht Veränderung zum Ziele haben (Beispiel: Telefonieren). Begrenzt man jedoch technisches Handeln nur auf den Aspekt des Herstellens und Machens, dann bleibt es auf die Tätigkeit des Ingenieurs beschränkt und schließt gerade den Gebrauch von Technik aus, der unser Handeln in der technisierten Welt kennzeichnet. Schließlich lässt sich ein nur auf zielorientierter Veränderung beruhender Handlungsbegriff leichter auf nicht bewusst handelnde Agenten anwenden, also auf technische Systeme. So kann Ropohls abstraktes Handlungssystem einerseits in menschlichen Handlungssystemen und andererseits in Sachsystemen realisiert sein. Auf den Zusammenhang zwischen dem Typ des gewählten Handlungsbegriffs und der Möglichkeit, auch technischen Systemen Handlungsträgerschaft zuzuschreiben, haben Werner Rammert und Ingo Schulz-Schäffer hingewiesen.14 Sie unterscheiden drei Aspekte, durch die Handlungsbegriffe gekennzeichnet werden können. Auf der allgemeinsten Ebene bedeutet Handeln das Bewirken von Veränderungen (Kausalität). Darüber hinaus kann man bei einer Handlung fragen, ob der Akteur in jeder Phase der Handlung auch anders hätte handeln können (Kontingenz), und schließlich geht es in der dritten, voraussetzungsreichsten Ebene darum, ob der Akteur in der Lage ist, für sein Handeln eine Begründung anzugeben (Intentionalität). Der hier in Ansatz gebrachte Arendtsche Handlungsbegriff würde eine vierte Ebene erfordern, in der als Kriterium gilt, ob wir den Akteur als Urheber der Folgen seines Handelns für diese verantwortlich machen (Verantwortung). Die Autoren zeigen, dass Zuschreibung von Handlungsträgerschaft an technische Systeme sowohl von der Komplexität des Systems als auch von dem zugrundegelegten Handlungsmodell abhängt. Eine generelle Zuschreibung von Akteursqualitäten an Technik ist nur mit einem sehr eingeschränkten, auf kau-

Zivilisation [...] wahrlich kein Ruhmesblatt in der Geschichte der (Natur)Wissenschaften“ sei. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine anderen Moderne. Frankfurt Suhrkamp 1986. S. 38 bzw. S. 93. 14 Werner Rammert, Ingo Schulz-Schäffer, „Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt.“ In Werner Rammert, Ingo Schulz-Schäffer (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik. Frankfurt, Campus 2002 S. 11 ff. 308

4.1 TECHNISCHES GERÄT UND TECHNISCHES HANDELN

saler Veränderung beruhenden Handlungsbegriff verträglich.15 Schon bei einem Systemverhalten, das uns kontingent erscheint, d.h. auf Grund uns verborgener innerer Zustände nicht mehr vorhersehbar ist, sind wir schnell geneigt, dieses Verhalten mit einem intentionalen (‚mentalistischen‘) Vokabular zu beschreiben, auch wenn wir nicht unbedingt bereit sind, eine Handlungsträgerschaft zu unterstellen. Diese Tendenz ist ein Aspekt der Individuation technischer Geräte im Zuge ihres Gebrauchs und ist unabhängig vom technischen Bildungsstand (Abschn. 4.2.2).

4.1.4 Antinomien und Unbestimmtheiten im Handlungsbegriff Es gibt in der technikorientierten Literatur eine Tendenz, den Handlungsbegriff auf einer möglichst niedrigen Ebene anzusiedeln. Dies entspricht der jeder Technik immanenten Tendenz, Handlungen wie Prozesse in Regeln zu formalisieren, mithin von handelnden Subjekten unabhängig und der Mechanisierung zugänglich zu machen. Davon war bereits im vorangehenden Abschnitt die Rede. Hans Blumenberg hat dieses Element in seinem Essay Lebenswelt und Technisierung auch als ein methodisches Merkmal der modernen Naturwissenschaft verstanden. „Historisch ist es heute unzweifelhaft geworden, dass in dem spezifischen Ansatz naturwissenschaftlicher Fragestellungen am Beginn der Neuzeit bereits ein technisches Element enthalten ist. Naturwissenschaftliche Hypothesen waren und sind ihrem Anspruch nach Anweisungen zur Herstellung der Phänomene, die sie erklären wollen, [...]“.16 In Anlehnung an Husserl stellt er fest: „Und Formalisierung ist nichts anderes als die handlichste, dienstbarste Art solcher Funktionalisierung des einmal Geleisteten; aber sie ist eben auch potentiell schon Technisierung, denn was formalisiert werden kann – das heißt, was seine Anwendbarkeit unabhängig von der Einsichtigkeit des Vollzugs gewinnt – , das ist auch im Grunde schon mechanisiert, auch wenn die realen Mechanismen [...] nicht bereitgestanden haben. Alle Methodik will unreflektierte Wiederholbarkeit schaffen [...]. Aus dieser Antinomie zwischen Philo15 „Eine Betrachtungsweise etwa, die davon ausgeht, dass jegliche Technik Akteursqualitäten besitzen kann, ist sinnvoll vertretbar nur vor dem Hintergrund eines ‚schwachen‘ Handlungsbegriffs, der auf den Aspekt des Bewirkens von Veränderungen eingeschränkt ist und sowohl die Frage des Anders-handeln-Könnens wie auch die der Intentionalität des Handelns ausklammert.“ Ebd. S. 28. 16 Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung“.In ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart Reclam 1981 S. 28 Hervorhebungen im Original. 309

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

sophie und Wissenschaft ist nicht herauszukommen: das Erkenntnisideal der Philosophie widersetzt sich der Methodisierung, die Wissenschaft als der unendliche Anspruch eines endlichen Wissens erzwingt sie.“17.

Die Formalisierung bedeutet gleichzeitig die „Abstoßung anschaulicher Elemente“, die sich in einer Tendenz zur Verdeckung realisiert, indem z.B. durch das Gehäuse „das Technische als solches unsichtbar“ gemacht wird.18 Die von Blumenberg konstatierte Antinomie zwischen reflektierender Philosophie und methodisierender Wissenschaft ist weder der Philosophie noch der Wissenschaft selbst fremd. Darauf weist Blumenberg selbst hin: „Das Ergebnis dieser Darstellung ist, dass die Technisierung ein Vorgang ist, der sich an dem theoretischen Substrat selbst abspielt.“19 Das gilt auch für die Philosophie selbst, sofern sie sich als methodische Wissenschaft versteht, etwa in Teilbereichen der Logik oder der analytischen Philosophie. Am Beginn der Neuzeit war der Traum Descartes‘, die Wahrheitsfindung durch Regeln abzusichern und die Ergebnisse für jeden ohne immer wiederholten Rückgang auf einen radikalen Neuansatz von Zweifel und Reflexion verfügbar zu machen. Andererseits bedeutet schon Platons Ablehnung der Sophistik „die Ausschließung der Technik aus der geistigen Legitimität der europäischen Tradition [...]. Denn die Sophistik hatte die Idee eines formalen Könnens, einer unspezifischen geistigen Potenz ausgebildet, also das Sichauf-eine-Sache-Verstehen abgelöst von dem Die-Sache-Verstehen [...].“20 Auch der Betrieb und Fortschritt der Naturwissenschaften ist angewiesen auf die – durch sie selbst ermöglichten – Techniken, z.B. in Form von Rechentechniken, Messinstrumenten oder Versuchs- und Rechenanlagen. Die Anwendung solcher Techniken und Instrumente macht einen Fortschritt in den Naturwissenschaften (im Sinne der Objektivierung ihrer Ergebnisse und der Verdinglichung ihres Wissens) erst möglich. Andererseits ist Fortschritt im Sinne von Innovation verbunden mit dem Außer-Kraft-Setzen von Regeln und der damit verbundenen unreflektierten Selbstverständlichkeit, wie es bei der Aufgabe des ParallelenPostulats bei der Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien oder der Massenkonstanz bei der Entwicklung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik geschah.

17 18 19 20

Blumenberg a.a.O. S. 41/42 Hervorhebungen im Original. Ebd. S. 37. Ebd. S. 31. Ebd. S. 45. Hervorhebungen im Original.

310

4.1 TECHNISCHES GERÄT UND TECHNISCHES HANDELN

Tatsächlich lässt sich heute wissenschaftliches Handeln nicht mehr streng nach den antagonistischen Gesichtspunkten technisch bzw. innovativ aufteilen und klassifizieren. Die Grenzen zwischen ‚reinen‘ und ‚angewandten‘ Wissenschaften, die noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sicher gezogen werden konnten, bestehen heute nicht mehr. Das hat auch damit zu tun, dass heute wissenschaftliches Denken weitgehend als Tätigkeit einer instrumentellen Vernunft verstanden, aber auch kritisiert wird. Auch beim technischen Handeln finden wir diesen Doppelaspekt, der sich einerseits als Herstellen im Sinne des Erfindens oder Entwickelns, andererseits als Gebrauch von technischen Mitteln für einen Zweck darstellt. Es wurde bereits im vorangehenden Abschnitt darauf hingewiesen, dass ein Handlungsbegriff, der das Bewirken von bnderungen in den Vordergrund stellt, vor allem den ersten Aspekt abdeckt, ein Begriff, der die Intentionalität betont, dagegen eher den Aspekt des Gebrauchs von fertigen Mitteln beschreibt. Nur beim zweiten Aspekt rückt der Gesichtspunkt der Methodik, der unreflektierten Wiederholbarkeit, wirklich in den Mittelpunkt. Es ist bezeichnend, dass zyklische und damit beliebig wiederholbare Vorgänge in materiellen technischen Geräten und Systemen eine große Rolle spielen. Beispiele sind vor allem das Rad als ein Grundelement der mechanischen Technik, aber auch Kreisprozesse, wie sie in Maschinen (thermodynamischer Kreisprozess bei der Dampfmaschine) und Motoren verwirklicht sind oder in elektrischen Stromkreisen. Einerseits haben diese – scheinbar – beliebig reproduzierbaren Prozesse die Funktion einer Verdeckung, indem sie nämlich deren irreversiblen Momente wie Energieverbrauch durch Reibung und Widerstand, Materialermüdung und -verschleiß verbergen. Andererseits sind gerade diese Prozesse Zeugnisse der innovativen Kraft technischer Reflexion, denn sie sind Beispiele vorbildloser Schöpfungen, die nicht auf der Imitation vorgefundener Natur beruhen. Am Beginn der Neuzeit hat Nikolaus von Kues mit dem Hinweis auf vorbildlose technische Formen, wie sie etwa ein geschnitzter Holzlöffel darstellt, die Würde und Gottähnlichkeit des schöpferischen Menschen begründet. Die Herstellung eines technischen Produkts erfolgt zwar nach Regeln, diese sind aber nicht hinreichend für seine Erfindung. Insofern bewegt sich technisches Handeln immer zwischen Entdecken und Verdecken. Technik und Kontingenz stehen deshalb in einem dialektischen Verhältnis: Einerseits zielt technisches Handeln auf die Vermeidung von Kontingenz; andererseits setzt es als ars inveniendi, als Kunst, Mögliches zu verwirklichen, die Kontingenz dieser Wirklichkeit voraus.

311

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Das Bewusstsein von der Kontingenz der Wirklichkeit ist nun aber die Fundierung einer technischen Einstellung gegenüber dem Vorgegebenen: wenn die gegebene Welt nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem unendlichen Spielraum des Möglichen ist, wenn die Sphäre der natürlichen Fakten keine höhere Rechtfertigung und Funktion mehr ausstrahlt, dann wird die Faktizität der Welt zum bohrenden Antrieb, nicht nur das Wirkliche vom Möglichen her zu beurteilen und zu kritisieren, sondern auch durch Realisierung des Möglichen, durch Ausschöpfung des Spielraums der Erfindung und Konstruktion das nur Faktische aufzufüllen zu einer in sich konsistenten, aus Notwendigkeit zu rechtfertigenden Kulturwelt. Wenn wir also Kontingenz als Stimulans der Bewusstwerdung der demiurgischen Potenz des Menschen ansehen müssen, dann wird verständlich, wie das technische Pathos der Neuzeit in Korrespondenz zu einer äußersten Steigerung des Kontingenzbewusstseins im späten Mittelalter erwachsen konnte.21

Man kann ergänzend hinzufügen, dass das technische Pathos der Neuzeit selbst wiederum das Kontingenzbewusstsein gesteigert hat, weil Innovation immer mit hochgespannten Erwartungen, aber auch mit Risiko und Unsicherheit verbunden ist. Mit den seit Beginn der Neuzeit von der Technisierung veranlassten Innovationsschüben waren jeweils einerseits Heilserwartungen und andererseits bngste und dadurch bedingt gesellschaftliche Krisen und Destabilisierungen verbunden. Das gilt für die (erste) industrielle Revolution wie für die durch Automation und Technisierung der Kommunikation ausgelösten Umwälzungen. Gamm spricht in diesem Zusammenhang von einer „transzendentalen Unbestimmtheit“ technischen Handelns und Wissens, die durch die „Leere der vorbildlosen Produktivität“ erzeugt wird,22 die die Menschen unaufhörlich mit neuen Möglichkeiten konfrontiert. Damit wird die Grenze zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit verwischt, die gleichzeitig die Grenze zwischen Wissen bzw. gesicherter Prognose einerseits und Wahrscheinlichkeit bzw. Glauben, Hoffnung und Furcht andererseits bezeichnet. Eine „immanente Unbestimmtheit“ wird in der Technik erzeugt durch die Differenz von Funktion und Gebrauch,23 die sich durch die nicht beabsichtigten und unvorhersehbaren Folgen manifestiert. Es wird sich im folgenden Kapitel zeigen, dass diese Unbestimmtheit nicht nur technischem Handeln eigen ist, sondern mit den Artefakten und Systemen selbst untrennbar verbunden ist.

21 Blumenberg, a.a.O. S. 47. 22 Gerhard Gamm, „Technik als Medium. Grundlinien einer Philosophie der Technik“. In ders.: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Frankfurt, Suhrkamp 2000 S. 278. 23 Ebd. 312

4.2 T E C H N I S C H E G E R ÄT E

AL S

DINGE

Die Umwelt des Menschen ist die Dingwelt, die Homo faber ihm errichtet, und ihre Aufgabe, sterblichen Wesen eine Heimat zu bieten, kann sie nur in dem Maße erfüllen, als ihre Beständigkeit der ewig-wechselnden Bewegtheit menschlicher Existenz standhält und sie jeweils überdauert, d.h. insofern sie nicht nur die reine Funktionalität der für den Konsum produzierten Güter, sondern auch die bloße Nützlichkeit von Gebrauchsgütern transzendiert.1

Technische Geräte werden in diesem Kapitel in dreierlei Hinsicht charakterisiert:

• • •

Sie erfüllen Funktionen, durch die sie sich zum Erreichen bestimmter Zwecke eignen (Fortbewegung, Kochen, Kommunikation etc). Sie sind individuelle Dinge mit einer Geschichte (sie gehören Personen, werden defekt und evtl. repariert, gehen verloren oder werden verschrottet). Sie sind eingebunden in technische Netze (Stromversorgung, Wartung und Service, Kommunikationsnetze).

4.2.1 Gerät als funktionales Modell Technische Geräte wurden im vorangehenden Kapitel bestimmt als vergegenständlichte Handlungsregeln, die das Handeln entlasten und von Kontingenz und Unsicherheit befreien sollen. Ermöglicht wurden sie 1

Arendt, a.a.O. S. 211. 313

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

durch die Entwicklung der Physik seit dem Beginn der Neuzeit, indem zuerst die mechanischen, später nahezu jede Art physikalischer Gesetze in ihrer Konstruktion zur Anwendung kamen. Das war und ist nur möglich, weil naturwissenschaftliche und speziell physikalische Erkenntnis selbst die Struktur von Handlungswissen besitzt. Ein Phänomen physikalisch zu erklären bedeutet, es technisch erzeugen und reproduzieren zu können. Davon war schon in Teil 3 mehrfach die Rede. Technik ist deshalb nicht nur Folge oder Anwendung von Wissenschaft, sondern bildet, z.B. in Form von Messinstrumenten und Versuchsanlagen, deren Bedingung. Unter diesem Gesichtspunkt sollen in diesem Abschnitt technische Geräte als Verdinglichungen von Handlungswissen betrachtet werden. Davis Baird2 nennt das in Geräten vergegenständlichte Handlungswissen „Dingwissen“ und kennzeichnet es – im Gegensatz zu propositionalem Wissen, das man Lehrbüchern findet – durch fünf Merkmale:3

• • • • •

Loslösung: in den Geräten hat sich das naturwissenschaftliche und technologische Wissen von seinem Entdeckungs- sowie von seinem Begründungszusammenhang gelöst. Effektivität: dieses Wissen steht zum Erreichen geeigneter Zwecke zur Verfügung. Langlebigkeit: auf dieses Wissen kann zu beliebiger Zeit zugegriffen werden. Verbindung: es stellt eine Verbindung zwischen der Welt und uns her. Objektivität: die ‚Stimme der Welt‘ hat in dieser Verbindung eine Priorität.

Die Loslösung des Wissens vom Begründungszusammenhang war schon bei der Regel konstatiert worden und ist im Falle des Gerätes auch mit einer Abkopplung von der Person verbunden. Der Zweck wird vom Gerät erreicht, die Person bedient allenfalls das Gerät. Die Steigerung der Effektivität und die über längere Zeit stetige Verfügbarkeit sind Merkmale, die zur Entlastungsfunktion des Gerätes beitragen. Die beiden letzten Punkte sind vom Autor speziell im Hinblick auf wissenschaftliche Geräte, z.B. Messinstrumente, formuliert worden, sie deuten jedoch auf zwei sehr wesentliche generelle Merkmale des Gebrauchs von Geräten hin. Diese stellen zwar eine Verbindung zur Welt her, aber sie tun dies, indem sie eine Kluft überbrücken, die durch sie selbst geschaffen wurde. Sie schieben sich zwischen Mensch und Welt und stellen eine 2 3

Davis Baird, Thing Knowledge. A Philosophy of Scientific Instruments. Berkeley, University of California Press 2004. Bairds Begriffe sind: detachment, efficacy, longevity, connection, objectivity. Ebd. S. 120.

314

4.2 TECHNISCHE GERÄTE ALS DINGE

Verbindung her, wo vorher Berührung war. Gleichzeitig ist diese Verbindung nur für einen bestimmten Code durchlässig, nämlich den einer vom Gerät definierten Objektivität. Diese fünf Merkmale, in denen sich übrigens die in Abschn. 4.1.2 genannten Charakteristika der Algorithmen wiederfinden, bestimmen auch die Gestalt und strukturelle Organisation technischer Geräte. Die Loslösung drückt sich unter anderem darin aus, dass Geräte, soweit es ihre Funktion zulässt, nicht ortsfest, sondern transportabel sind, und zur Effektivität gehört, dass sie handlich sind. Zur Langlebigkeit trägt z.B. ein stabiles Gehäuse aus geeignetem Material bei. Die Verbindung wird durch Bedien- und Wirkelemente hergestellt. Durch die Wirkelemente (Output) übt das Gerät die durch seine Funktion definierte Wirkung auf die Umgebung aus. Dazu gehören die Räder beim Fahrzeug, der Bohrer bei der Bohrmaschine und die Antenne beim Mobiltelefon. Andererseits ermöglichen Bedienelemente (Input) wie Griffe, Schalter, Tastaturen oder das Lenkrad im Auto die Interaktion zwischen dem Gerät und dem Benutzer. Ferner gibt es bei modernen Geräten Verbindungselemente zu technischen Netzen, z.B. Kabel zur Stromversorgung, Einfüllstutzen für Brennstoff, Antennen oder Kommunikationskabel, aber auch Kanäle zur Entsorgung von Emissionen. Die Funktionselemente, die den Betrieb des Gerätes ermöglichen und die Verbindung zwischen Bedienelementen (Input) und Wirkelementen (Output) herstellen, sind entweder mechanischer Art (z.B. Getriebe) oder elektronisch (Leiterplatten, ICs). Die Objektivität besteht darin, dass die Art von Verbindungen und Interaktionen zwischen Gerät einerseits und Welt bzw. dem Nutzer andererseits durch das Gerät bestimmt und nicht – oder nur begrenzt – aufgabenspezifisch sind. Die Funktion bezieht sich auf einen Typ von Aufgaben oder Zwecken, nicht aber auf die spezifische Situation, in der sich die Aufgabe stellt. Die Funktion eines technischen Gerätes ist genau genommen keine Eigenschaft, sondern eine Disposition, Zwecke zu erfüllen. Die Funktion existiert als Möglichkeit, die nur unter Bedingungen realisiert wird, die dieser Funktion selbst fremd sind, wenn nämlich das Gerät benützt wird. Die Funktion moderner technischer Systeme ist zwar vielfach auf Geräte und Großanlagen angewiesen, die praktisch von ihrer Installation an ununterbrochen in Betrieb sind, aber dennoch ist auch deren Abschaltbarkeit etwa im Falle von Störungen eine unabdingbare Voraussetzung ihrer reibungslosen Funktion. Beispiele großen Maßstabs dafür bilden die Kraftwerke, deren gesteuerte An- und Abschaltbarkeit die Voraussetzung für großräumige und kontinuierliche Energieversorgung ist. Nur die Disponierbarkeit des Gerätes gewährleistet seine Rolle als Mittel zur Realisierung eines Zwecks.

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4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Es ist in diesem Zusammenhang nützlich, bei der Beschreibung technischer Geräte begrifflich vier Ebenen zu unterscheiden, die sich allerdings vielfach überschneiden:









4

Eine rein morphologische Beschreibung anhand von Eigenschaften wie Gestalt, stoffliche Beschaffenheit, Farbe, Geräuschentwicklung usw. ist für den Gebrauch insofern relevant, als etwa ästhetische Qualitäten die Akzeptanz des Gerätes und damit seine Nutzung beeinflussen. Seine Funktion ist davon aber nicht direkt betroffen. Eine Beschreibung, wie sie in den technischen Unterlagen eines Gerätes zu finden ist, bezieht sich vor allem auf die Herstellung des Gerätes und erlaubt – bei gegebenem technischem Know-How – seinen Nachbau. Sie dient als Grundlage der Herstellung und wendet sich an den Konstrukteur oder an den Service-Ingenieur, nicht an den Nutzer. Auch in dieser Hinsicht stellt das Gerät vergegenständlichtes Handlungswissen in Form von Herstellungswissen dar, das aber nicht identisch ist mit dem Handlungswissen, das sich auf die Funktion bezieht. Unter dem Gesichtspunkt der Herstellung stellt das Gerät selbst einen Zweck und kein Mittel dar, und gleichzeitig repräsentiert es ein Exemplar eines bestimmten Bautyps. Als solches kann es auch gelten, wenn es seine Funktion nicht mehr ausübt oder noch nie ausgeübt hat, etwa wenn es als außer Gebrauch genommenes oder rekonstruiertes Modell seines Typs im Museum steht.4 Die Funktion des Gerätes ist Gegenstand einer Funktionsbeschreibung und der Bedienungsanleitung. Sie wendet sich einerseits an den Benutzer, andererseits aber auch an den, der wissen will, wie das Gerät funktioniert. In dieser Ebene findet sich das Handlungswissen, das in seinem Gebrauch als Mittel ausgenützt wird. Die Funktion ist das, was das Gerät ersetzbar (instantiabel) und gleichzeitig zu dem macht, was es ist (z.B. ein Telefon). Ein morphologisch noch so genauer Nachbau eines Gerätes garantiert nicht seine Funktion, dazu muss man vielmehr bei der Reproduktion wissen, ‚worauf es ankommt‘. Schließlich finden sich Geräte als individuelle Dinge in unserer Umgebung und werden im Gebrauch – der sich nicht auf den durch die Funktion intendierten Gebrauch beschränken muss – in individuelle Handlungskontexte eingebunden. Dadurch erhalten sie kontingente

Es scheint mir ein Defizit der genannten Untersuchung von Baird zu sein, dass er die beiden Typen von Thing-Knowledge, nämlich Herstellungsund Funktionswissen, nicht trennt, obwohl er die Probleme benennt, die dadurch entstehen, dass Hersteller bzw. Nutzer jeweils nur über einen der beiden Wissenstypen verfügen.

316

4.2 TECHNISCHE GERÄTE ALS DINGE

Eigenschaften sowie eine eigene Geschichte und Identität. Mit diesem Aspekt wird sich der folgende Abschnitt befassen. Geräte gleichen Typs, also mit gleichen Herstellungsunterlagen, die meist aus gleichen Produktionsprozessen und -anlagen stammen, bilden sozusagen die natürlichen Arten unter den technischen Geräten.5 Geräte gleicher Funktion bilden dagegen klassifikatorisch keine Arten, man denke nur an Busse und Straßenbahnen oder Flugzeuge und Hubschrauber. Ebenso wenig bilden Tiere mit gleichen Fähigkeiten Arten (Wale und Fische, Vögel und Fledermäuse). Fähigkeiten wie Funktionen sind Dispositionen, die den Exemplaren einer Art gemeinsam zukommen. Ferner haben Exemplare gleichen Typs auch – bis auf ‚unwesentliche‘ Eigenschaften wie Farbe – gleiche morphologischen Merkmale. Deshalb kann man auf Grund gleicher morphologischer Merkmale bei technischen Geräten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf den gleichen Typ schließen. Die Funktion erschließt sich jedoch nicht ohne erhebliches Systemwissen aus der Kenntnis des Herstellungswissens oder gar aus der morphologischen Beschreibung. Sie ist kein intrinsisches Merkmal des Gerätes. Diese Trennung der verschiedenen Aspekte verdinglichten Wissens hat mit zunehmender Entwicklung der Technik, mit Elektronisierung, Digitalisierung und Miniaturisierung zugenommen. Früher konnte man vielen Geräten ihre Funktion ansehen, heute ist dies oft auch Technikern nicht mehr möglich – von trivialen Fällen abgesehen, wie etwa beim Schluss aus dem Vorhandensein von Rädern auf die Funktion Transport. Technische Geräte sind heute weitgehend black boxes, die ihre Funktion verbergen. Die Gründe für diese Tendenz sind einmal die Miniaturisierung, zum anderen Gesichtspunkte der Sicherheit, der Zuverlässigkeit und der Isolierung, die insgesamt Störungsfreiheit gewährleisten sollen. Da Bedienelemente wie z.B. Tasten unspezifisch sind und aus ergonomischen Gründen nicht miniaturisiert werden können, wird die Gestalt der Geräte immer unspezifischer. Sucht man nach einem Modell, das die Wirkungsweise des verdinglichten Handlungswissens in Geräten geeignet beschreiben kann, so bietet sich dafür die in Abschn. 3.1.2 eingeführte nomologische Maschine an. Cartwright hat die Eigenart naturwissenschaftlichen Wissens, Vorgänge unter bestimmten Bedingungen vorherzusagen und zu reproduzieren, dargestellt als die Möglichkeit zur Konstruktion nomologischer Maschinen. Das sind Anordnungen, in denen regelhaftes Verhalten dadurch verifiziert wird, dass die dort ausgelösten Vorgänge gegen alle Kräfte, 5

Ich verstehe Typ hier rein klassifikatorisch, nicht genetisch (s.Abschn. 1.5.1). 317

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

die den vorherberechneten Ablauf stören würden, abgeschirmt werden. Ein technischer Gerätetyp stellt eine nomologische Maschine dar. Das Gerät kann wiederholt in den gleichen Anfangszustand gebracht werden, von dem aus von außen (durch Einschalten) reproduzierbare Vorgänge ausgelöst werden, die sorgfältig gegen andere, unkontrollierte Einflüsse von außen abgeschirmt sind. Als Modell mit reproduzierbaren und vorhersagbaren Zuständen, das von seiner Geschichte unabhängig ist, ist ein solches Gerät eine triviale Maschine im Sinne von Foerster.6 Wiederholbarkeit des Gebrauchs, d.h. Reproduktion der Funktion sowie des Gerätes selbst, werden beim realen Gerät durch bestimmte technische Prinzipien gewährleistet, zu denen die möglichst weitgehende Einkapselung möglichst vieler Elemente – außer den Bedien- und Wirkelementen – gehört, sowie der Aufbau des Gerätes aus standardisierten Bauelementen und mit Hilfe standardisierter Produktionsmethoden. Es gehört aber auch die Anbindung der Geräte an technische Systeme dazu wie etwa Versorgungs- und Service-Netze, wovon ausführlicher im übernächsten Abschnitt die Rede sein wird. Diese Anbindung ist nötig, um die irreversiblen Teilprozesse in den realen Geräten zu kompensieren (z.B. Reibungsverluste durch Energiezufuhr auszugleichen) sowie irreversibel beschädigte Komponenten zu ersetzen. Die Möglichkeit der Funktion (das ‚Funktionieren‘) eines realen Gerätes ist also dadurch bedingt, dass es die Modelleigenschaft einer trivialen Maschine besitzt. Das ist eine normative Forderung, denn sie besagt, dass das Gerät dem Modell gleich und in seiner Funktion vollständig vertretbar sein soll durch ein anderes gleichen Typs. Das einzelne individuelle Gerät ist durch die Typbeschreibung, die in den Unterlagen festgelegt ist, unterbestimmt, da es als Einzelding zusätzliche kontingente Merkmale hat. Es kann als körperliches Ding Spuren aufnehmen. Im ersten Teil wurde das individuelle Ding als ein unbestimmbares Bestimmtes beschrieben (Abschn. 1.3.7); der technische Typ kann mit denselben Argumenten als besti mmbares U nbesti mmt es bezeichnet werden, denn seine allgemeinen Bestimmungen sind in seinem Bauplan vollständig festgeschrieben, während seine Faktizität und damit seine Identität unbestimmt bleibt. In dieser Hinsicht sind technische Geräte als Modelle bzw. nomologische Maschinen genau wie nomologische Partikel (Abschn. 3.2.4) gewissermaßen Antithesen zum Dingbegriff. Ganz wie der natürlichen Spezies haftet übrigens auch dem technischen Typ eine begriffliche Ambivalenz an: Bezogen auf seine Funktion und seine technische Beschreibung bildet er einen allgemeinen klassifi6

Heinz von Foerster, Wissen und Gewissen. Frankfurt Suhrkamp 1993 insb. S. 245 ff.

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4.2 TECHNISCHE GERÄTE ALS DINGE

katorischen Begriff, dem keine kontingenten Merkmale zukommen. Andererseits ist er als technisches Produkt etwas Gemachtes, das eine Vorgeschichte, eine Entstehungsgeschichte, eine bestimmte Verbreitung und auch ein Ende hat. Auch hier ist die Grenze zwischen Kontingenz und Allgemeinheit vom Standpunkt des Beobachters abhängig und damit kontingent, wie schon in Kap. 1.2 betont wurde.

4.2.2 Gerät als individuelles Ding im Gebrauch Als Typ hat das Gerät eine Funktion, als Individuum wird es gebraucht. Im Gebrauch wird das Gerät individuiert, es wird in Handlungskontexte eingebunden und erhält seine Geschichte und damit eine Identität.7 Der Differenz zwischen Typ und individuellem Gerät entspricht die Differenz zwischen Funktion und Gebrauch. Diese Entsprechung ist keine Analogie, sondern es handelt sich im Grunde um ein und dieselbe Differenz, denn die Funktion konkretisiert sich im Gebrauch des einzelnen Exemplars. Wenn man real existierende Technik allein durch Modelle und Typen und deren Funktionen beschreibt, begeht man einen naturalistischen Fehlschluss, denn man unterstellt dadurch einem Sein ein Sollen. Die Funktion kann ein Gerät nur dann erfüllen, wenn es benützt wird. Der Gebrauch ist aber durch die Funktion nicht vollständig bestimmt. Gebrauch im weiten Sinne umfasst alles, was mit dem Gerät geschieht, also auch den Nichtgebrauch, Missbrauch, d.h. den Gebrauch für Zwecke, die nicht seiner Funktion entsprechen, und schließlich seinen Verbrauch, d.h. die Veränderungen, die sich im Laufe des Gebrauchs am Gerät vollziehen. Diese Veränderungen können gegebenenfalls seine Funktion beeinträchtigen oder unmöglich machen. Allerdings beendet der Verlust der Funktion nicht die Existenz des Gerätes – es kann u.U. repariert werden oder einfach noch herumstehen. Erst, wenn es aus dem Umkreis des Handelns verschwindet, ist auch seine Existenz als Individuum beendet. Die Individualität ist also gleichzeitig Folge und Voraussetzung des Gebrauchs. Mit der Differenz zwischen Funktion und Gebrauch ist die von Gamm konstatierte immanente Unbestimmtheit von Technik verbunden (Abschn. 4.1.4). Ihre Quelle ist zum einen die im Umgang mit Geräten nicht eliminierbare Diskrepanz zwischen Handlungsabsicht und Handlungsfolgen, von der ebenfalls in Abschn. 4.1.3 schon die Rede war. Zum anderen rührt diese Differenz von den kontingenten (d.h. nicht auf 7

In Zeiten vor- und frühindustrieller Produktion war die Herstellung selbst der Verdinglichungsprozess und damit auch der Ort der Individuation. (so bei Hannah Arendt, a.a.O. S. 164). Heute tritt das technische Produkt oft erst im Gebrauch wirklich aus seinem Typcharakter heraus. 319

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

die Funktion bezogenen und daher zufälligen) Eigenschaften des Gerätes selbst her. Dies lässt sich verdeutlichen durch die Unterscheidung zwischen logischen und physischen Zuständen eines Gerätes, die Putnam getroffen hat.8 Nur die ersteren repräsentieren – zusammen mit ihren Verknüpfungen – die Funktion des Gerätes. Im Falle mechanischer Rechenmaschinen werden logische Zustände z.B. durch die Stellung von Zahnrädern, im Falle elektronischer Computer durch elektrische Zustände in bestimmten Schaltkreisen repräsentiert. In der Waschmaschine sind es die Zustände, in denen Wasser ein- oder ausgepumpt, geheizt oder geschleudert wird. Die ungestörte Abfolge der logischen Zustände gewährleistet die Funktion des Gerätes. Natürlich unterscheiden sich diese logischen Zustände auch physikalisch, z.B. dadurch, dass in bestimmten Leiterbahnen ein Strom fließt oder nicht. Diese Zustände liefern jedoch keine vollständige physische Beschreibung des Gerätes. Es gibt andere physikalische Zustände, die unabhängig von den logischen Zuständen sind – und sein müssen, wenn die Funktion nicht beeinträchtigt werden und die Trivialität der Maschine gewährleistet sein soll. Dazu gehören z.B. die Temperatur beim Computer, der Verkalkungsgrad in der Waschmaschine oder die Elastizität bzw. Sprödigkeit ihrer Zuleitungen. Die Irrelevanz dieser physikalischen Zustände für die logischen Zustände ist jedoch nur innerhalb gewisser Grenzen gegeben. Bei zu hohen Temperaturen werden sowohl die Leiterplatten als auch die mechanischen Laufwerke im Rechner nicht mehr ‚funktionieren‘, und dasselbe gilt für die Waschmaschine bei zu starker Verkalkung oder bei rissigen Zuleitungen. Die Folge werden Störungen in der Funktion oder – oft noch nachteiliger – unbeabsichtigte Folgen beim Betrieb sein. Für die störungsfreie Funktion eines Gerätes ist es also unerlässlich, dass die logischen Zustände von keinen anderen physikalischen Zuständen beeinflusst werden. Interferenzen zwischen beiden Zustandsarten können aber bei jeder Art von Veränderungen im Gerät – z.B. durch Korrosion, Materialermüdung, Feuchtigkeit etc. auftreten und müssen unbedingt vermieden werden. Technischer Fortschritt in Richtung höherer Zuverlässigkeit und Sicherheit ist wesentlich als das Bestreben zu verstehen, solche Interferenzen zu vermeiden. Um eine solche Strategie 8

Hilary Putnam, „Minds and Machines“, in Mind, Language and Reality. Philosophical Papers Vol. 2. Cambridge University Press 1975 S. 372. Putnam führt in diesem Essay zuerst den Unterschied zwischen ‚mental states‘ und ‚logical states‘ ein, um dadurch ‚minds‘ und ‚machines‘, wie z.B. die Turing-Maschine zu charakterisieren. Im Anschluss daran spricht er von den ‚logical states‘ und den ‚physical states‘ der Maschinen, von denen nur die ersteren für ihre Funktion relevant sind.

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4.2 TECHNISCHE GERÄTE ALS DINGE

entwickeln zu können, müssen die Ursachen solcher Interferenzen bekannt sein. Aber gerade hierin liegt die Schwierigkeit: Diese Ursachen sind eng verbunden mit den kontingenten Merkmalen der Geräte und deshalb von Gerät zu Gerät verschieden und von ihrer Geschichte bzw. der Vorgeschichte von Materialien oder Komponenten des Gerätes abhängig. Ob ein Zuleitungsschlauch einer Waschmaschine rissig wird, hängt von der Häufigkeit des Gebrauchs, von der Wasserqualität am Ort des Gebrauchs, aber auch vom Material, von der Herkunft und Herstellung des Schlauches ab. Damit wird aus der trivialen Maschine mit vorhersehbarem Verhalten eine nicht triviale Maschine, deren Zustände sich nicht mehr zuverlässig nach der Regel des programmierten Algorithmus wiederholen bzw. den Inputs der Bedienelemente gehorchen, sondern, wie von Foerster sich ausdrückt, auch anderen Stimmen gegenüber gehorsam sind. „Man könnte vielleicht sagen, sie gehorchen ihrer eigenen Stimme.“9 Es sind die Stimmen aus ihrer eigenen Geschichte. Diese Kontingenz und die damit verbundene immanente Unbestimmtheit im Gebrauch versucht man zu reduzieren, indem man einerseits die Bedingungen des Gebrauchs möglichst standardisiert und andererseits bei der Herstellung der Geräte die Entstehung kontingenter Eigenschaften zu vermeiden bzw. in den Ausgangsstoffen oder -komponenten schon vorhandene Kontingenz möglichst zu tilgen versucht. Für die Produktion von Geräten bedeutet dies, dass die Herstellungstiefe immer größer werden muss. Natürliche Stoffe wie Holz oder Leder, die Spuren ihrer Vorgeschichte bewahren, werden durch synthetisch hergestellte und homogenisierte Stoffe wie Glas, Metall oder Kunststoff ersetzt. Dadurch werden Spuren aus der Vorgeschichte solcher Materialien gelöscht und ihre Entstehung erschwert. Auch die Verkapselung der Geräte durch Gehäuse soll die Funktionselemente vor Gebrauchsspuren schützen. Die Funktion des Gerätes erfordert Vertretbarkeit (instantiability); um zu funktionieren muss es jedoch gebraucht werden. Dazu muss es als ein Ding identifizierbar sein, und deshalb wird ihm in vielen Fällen eine Identität eingeprägt – etwa durch eine Fabrikationsnummer, ein polizeiliches Kennzeichen oder durch einen einprogrammierten Code. Diese eingeprägte Identität hat allerdings – das dürfte eine allgemeine Erfahrung sein – vor allem für die Verwaltungssysteme identifizierende Funktion, nur begrenzt und aushilfsweise für den Benutzer. Wir finden unser Auto auf einem Parkplatz zwar mit Hilfe der Farbe, des Typs und des Kennzeichens leichter, aber wir identifizieren es als das eigene Auto endgültig an individuellen kontingenten Merkmalen wie Aufklebern, Beulen, Gegenständen auf Ablagen oder Sitzen. 9

von Foerster, a.a.O. S. 147. 321

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Zusammenfassend kann man sagen, dass Funktionalität und Individualität antagonistische Aspekte technischer Artefakte sind. Durch die Aufhebung der (am Ende des vorangehenden Abschnitts konstatierten) Unbestimmtheit des Funktionsmodells durch die Produktion eines realen und im Gebrauch individualisierten Gerätes wird notwendigerweise auch die vollständige Bestimmbarkeit seines Verhaltens aufgehoben. Individualität ist auf Grund der damit unaufhebbar verbundenen Kontingenz ein Risikofaktor. Umgekehrt führt der Versuch, risikofreie und zuverlässige Funktionalität technisch zu verwirklichen, ebenso unweigerlich zur Entindividualisierung bzw. Entdinglichung technischer Artefakte. Dies lässt sich an der Entwicklungsgeschichte des Designs technischer Geräte sehr eindringlich vor Augen führen (Kap. 2.6).

4.2.3 Gerät und System Technische Geräte sind zwar individuelle Dinge, die sich zur Verwirklichung von Zwecken gebrauchen lassen, ihre Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit verdanken sie jedoch der Tatsache, dass sie Komponenten in technischen Systemen sind. In vielen Fällen sind die Geräte heute nur oder auch Verbindungselemente, die dem Benutzer den Zugang zu technischen Systemen erlauben, die bestimmte Funktionen ausführen. Diese Systeme

• • • •

ermöglichen ihre Produktion schaffen Infrastrukturen als Voraussetzungen für ihren Betrieb ermöglichen Wartung, Reparatur und Ersatz bei Störungen regeln die Entsorgung nach dem Ende ihres Gebrauchs.

Alle diese Systeme dienen letzten Endes der Reduktion der Kontingenz, die sich im Laufe des Gebrauchs in den Geräten ansammelt und ihre Funktion gefährdet. Produktion: Ziel der technischen Produktion ist es, Unterschiede der Herstellung möglichst zu minimieren, um die Fertigungstoleranzen möglichst klein zu halten. Dadurch wird nicht in erster Linie die Lebensdauer maximiert, sondern ein Zeitraum für den Gebrauch benennbar, in dem Störungen unterhalb einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bleiben (Garantiezeit). Durch Service-Maßnahmen kann man dann nach vorgegebenen Betriebsdauern die sensiblen Komponenten austauschen und so die Störungsstatistik beherrschen. Dieses Ziel wird z.B. durch die Verwendung von Bauelementen und Stoffen mit möglichst geringen Toleranzen erreicht. Technische Produktion ist auf ein System von verfügbaren Stoffen und Bauelementen mit standardisierten physikalischen Eigenschaften angewiesen. Generell ist das Ziel der Entwicklung mo322

4.2 TECHNISCHE GERÄTE ALS DINGE

derner Fertigungsmethoden – von der einfachen Arbeitsteilung über die Fließbandarbeit bis zur Automatisierung – die Reduktion von Kontingenz. Da menschliches Handeln eine Quelle von Kontingenz ist, ist es konsequent, dieses möglichst weitgehend aus dem Herstellungsprozess zu eliminieren. Da die Einrichtung solcher Produktionsverfahren und –anlagen ihrerseits menschliches Handeln erfordert, sind die Einfallstore für das Eindringen von Kontingenz nicht beseitigt, sondern weiter hinaus geschoben. Für die Systeme ergeben sich dadurch zwei sich widerstrebende Konsequenzen. Einmal entwickeln sie aus dem Streben nach Kontingenzreduktion heraus eine Tendenz zur Schließung.10 Das bedeutet, dass die in der Produktion angewandten Anlagen ihrerseits in weitgehend algorithmisierten bzw. automatisierten Prozessen hergestellt werden, so dass sich ein geschlossenen System bildet, das mit den erzeugten Produkten auch die eigenen Komponenten und damit weitgehend sich selbst reproduziert. Andererseits erzwingt die Forderung nach der Verfügbarkeit des Systems bestimmte Öffnungen für den handelnden Zugriff des Menschen. Diese Öffnungen werden zwar möglichst minimiert und verdeckt, bleiben aber für die Installation der Anlagen, ihre Steuerung und Kontrolle weiterhin unerlässlich. Die Kontroll- und Steuerungsfunktionen werden von gesellschaftlichen Organisationen wahrgenommen, die damit zu Teilen dieses Systems werden. Technische Systeme greifen tief in gesellschaftliche Strukturen ein und es gibt keine scharfe Grenze zwischen beiden. Technische Systeme sind deshalb immer soziotechnische Systeme. Infrastruktur: Technik hat bis zu ihrer heutigen rasanten Entwicklung eine sehr lange Anlaufzeit gebraucht, in der der Fortschritt extrem langsam war. Ein Grund dafür war, dass mit den modernen Geräten eine Infrastruktur geschaffen werden musste, ohne die diese Geräte nutzlos sind. Eisenbahnen brauchen Gleisanlagen, Bahnhöfe, Lokführer und Bahnwärter, Autos brauchen Asphaltstraßen, ein Tankstellennetz, Servicewerkstätten, aber auch Fahrschulen, Verkehrsregeln und Fahrprüfungen mit den entsprechenden rechtlichen Regelungen, Kraftfahrzeugversicherungen und Verkehrsfunk. Und ein Mobiltelefon versagt den Dienst, wo das Mobilfunknetz nicht hinreicht oder wenn die Akkus nicht nachgeladen werden können. Schließlich braucht fast jede Art von moderner Technik Stromversorgung und Kommunikationsnetze. Außerhalb der Reichweite dieser Netze werden Geräte schnell nutzlos. Auch die 10 Ein Merkmal dieser Schließungstendenz ist auch, dass im technischen Prozess Zwecke laufend zu Mitteln werden und umgekehrt. Auf diese Umkehrungen der Zweck-Mittel-Relationen wird in der Literatur immer wieder hingewiesen, z.B. bei Arendt, a.a.O. S. 171. 323

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Weltraumfahrt ist kein Gegenbeispiel, denn sie ist nur in dem Bereich des Weltraums sinnvoll und möglich, der von der Erde aus durch Kommunikationssysteme erreichbar ist. Raumfahrt ist auch deshalb so aufwendig, weil das, was auf der Erde die Systeme leisten und liefen, also Energieversorgung, Ersatzteile, Messinstrumente, Werkzeug und zugehöriges Know-How, als Hard- und Software mit in den Weltraum transportiert werden muss. Zu dem Stichwort Infrastruktur rechne ich auch die Fälle, in denen die Funktion selbst gar nicht im Gerät selbst, sondern in dem System ausgeführt wird, zu dem das Gerät den Zugang ermöglicht. Das trifft vor allem für Kommunikationssysteme zu, wobei dem Benutzer oft – wie im Falle des Computers – verborgen bleibt, welche Funktionen im Gerät selbst und welche in dem Netz ausgeführt werden, an das es angeschlossen ist. Es ist offensichtlich, dass die Infrastrukturen eng mit der GeräteProduktion zusammenhängen. Sie müssen ihrerseits produziert werden und erfordern Produktions- sowie Wartungssysteme. Da diese Systeme räumliche und großflächige Netze bilden, ist ihr Einfluss auf die äußere Gestalt unserer Lebensräume besonders groß. Wie sensibel die modernen Großgeräte auf eine Störung der Infrastruktur reagieren können, hat der Pariser Concorde-Unfall vom 25.Juli 2000 gezeigt: ein Stück Metall auf der Startbahn hat letzten Endes die Explosion und den Absturz der Maschine ausgelöst. Wartung: Die mit der Individualität verbundene Unbestimmbarkeit eines Gerätes äußert sich als mögliches Fehlverhalten, d.h. als Risiko. Die Wahrscheinlichkeit dafür nimmt mit dem Alter bzw. dem Gebrauch des Gerätes zu. Dem Ziel, diese Zunahme möglichst gering zu halten, dienen die Servicesysteme und Einrichtungen zur regelmäßigen Wartung und Überwachung. Während früher der Service überwiegend in der Behebung von aufgetretenen Störungen bestand, wird heute versucht, diese möglichst durch Prophylaxe zu verhindern (z.B. durch Methoden wie Total Quality Management oder regelmäßige Inspektionen). Das gilt vor allem für die Geräte und Systeme, deren Störungen ein hohes Gefährdungspotential haben wie Verkehrs- und Versorgungssysteme. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen können aber nicht nur auf die Geräte selbst beschränkt werden, sondern sie müssen auch die Infrastruktur umfassen. Es ist vor allem dieses System der technischen Wartung durch periodischen Austausch von Komponenten und ganzen Geräten, der das Altern und damit die Verdinglichung technischer Artefakte verhindert (s.o. Abschn. 2.6.2 u. 2.6.3). Durch diese Maßnahmen soll erreicht werden, dass die Geräte möglichst während ihrer gesamten Gebrauchsphase ihre Funktion störungsfrei erfüllen und vertretbare Exemplare ihres Typs 324

4.2 TECHNISCHE GERÄTE ALS DINGE

bleiben. Reparaturen im klassischen Sinne ohne den Austausch der defekten Teile sind heute auf Grund der Komplexität und Miniaturisierung gar nicht mehr möglich und böten zudem eine neue Quelle von Unsicherheit und Kontingenz. Diese Strategie hat eine wichtige Konsequenz: Technische Unfälle werden heute immer seltener sog. ‚technischen Störungen‘ zugeschrieben, sondern die Ursachenforschung tendiert dazu, menschliches Fehlverhalten zu diagnostizieren. Geht man von der (ungerechtfertigten) Annahme aus, dass in einer perfektionierten Technik Kontingenz in Geräten und in automatisierten Prozessen vermieden werden kann, bleiben als Störungsquellen nur noch die Stellen, wo menschliches Handeln beim Herstellungsprozess, in Service und Überwachung und letzten Endes im Gebrauch in die Prozesse eingreift. Entsorgung: Es war bereits in Abschn. 1.2.6 davon die Rede, dass Kontingenz in den Naturwissenschaften marginalisiert wird, und das bedeutet, dass sie nicht verschwindet, sondern aus dem präparierten Bereich der nomologischen Maschine und ihres unmittelbaren Umfeldes in einen Außenbereich abgedrängt wird. Entsprechend verfuhr die Technik im Umgang mit dem von ihr produzierten Unrat. Erst als der Industriemüll die Lebensqualität in den hochindustrialisierten und dicht besiedelten Regionen zu ersticken drohte und der teilweise praktizierte sogenannte Müll-Tourismus, d.h. der Transport von Müll in schwach besiedelte oder wenig umweltbewusste Regionen, auf Widerstand stieß bzw. zu teuer wurde, fing man an, die Entsorgung als einen integralen Teilaspekt von Technik zu verstehen. Aber auch die Recycling-Techniken sind keine Prozesse, durch die Kontingenz vollständig abgebaut werden kann. Besonders drastisch zeigt sich dies in der Frage der Entsorgung von Atommüll oder neuerdings in der zunehmenden Vermüllung des erdnahen Weltraums. Die Ränder, über die der Technik-Unrat hinausgeschoben wird, rücken lediglich zeitlich und räumlich weiter hinaus, nicht ohne dadurch die Horizonte merklich zu verdunkeln. Auch hier sorgt schon die offizielle Wortwahl dafür, dass durch die Illusion eines sich vollständig reproduzierenden und regenerierenden Kreisprozesses der Blick auf die irreversiblen Vorgänge und ihre stofflichen Schlacken und Emissionen verdeckt wird. Das soll natürlich nicht heißen, dass die Bemühungen, die verbrauchten Technikprodukte in Entsorgungssystemen aufzufangen, nutzlos wären. Sie sind ein notwendiger und integraler Bestandteil moderner soziotechnischer Systeme, ohne die heute die technische Zivilisation nicht lebensfähig wäre. Aber sie haben wie alle technischen Probleme die Eigenart, dass jede Lösung neue Probleme schafft, die sich unweigerlich zu einem späteren Zeitpunkt stellen.

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4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Alle vier aufgeführten Systemtypen haben die Aufgabe, Kontingenz, die durch den Betrieb von Technik – in ihrer Funktion als Mittel der Kontingenzreduktion – entsteht, aufzufangen, zu kanalisieren und, soweit möglich, abzubauen. Die Quelle dieser Kontingenz ist zum einen der Gebrauch selbst, der zur Abnutzung und generell zu einer Veränderung der Geräte gegenüber dem Funktionsmodell führt, zum anderen sind es aber auch vom Gebrauch unabhängige Prozesse wie Korrosion von Materialien, die Veränderungen und damit Störungen im Betrieb verursachen. Ziel der Systeme ist mit anderen Worten, die Verfügbarkeit von Technik jederzeit zu gewährleisten. Dabei ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dass die Systeme selbst nicht mehr vollständig verfügbar sind. Über den Gebrauch eines Gerätes kann der Benutzer willkürlich verfügen. Versorgungs- und Wartungssysteme müssen aber den Geräten zur Verfügung stehen, sind also selbst für ihre Betreiber nicht mehr verfügbar. Da die Systeme untereinander und mit gesellschaftlichen Strukturen vernetzt sind, zieht also die Verfügbarkeit von Technik als Mittel die Unverfügbarkeit technischer Systeme nach sich und übt damit auch einen Zwang auf die damit verkoppelten gesellschaftlichen Systeme aus. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass schon Newton in der Zunahme von Kontingenz ein Problem für den Kosmos sah und deshalb ein regelmäßiges Eingreifen Gottes in den Kosmos für erforderlich hielt.11 Leibniz äußerte dazu ironisch: „Herr Newton und seine Anhänger haben zudem eine sehr sonderbare Ansicht von Gottes Werk. Nach ihm muss Gott von Zeit zu Zeit seine Uhr aufziehen. Andernfalls bliebe sie stehen. Er hat nicht genug Einsicht gehabt, um ihr eine immerwährende Bewegung zu geben. Nach ihrer Ansicht ist diese Maschine Gottes sogar derart unvollkommen, dass er sie von Zeit zu Zeit durch einen außergewöhnlichen Eingriff reinigen und sogar flicken muss, wie ein Uhrmacher sein Werk; [...].“.12 Das macht deutlich, wie stark technisches Denken die Naturauffassung am Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters bestimmte, wobei hier Newton die Analogie weiter trieb als Leibniz, der auf dem Unterschied zwischen unvollkommenen menschlichen und vollkommenen göttlichen Maschinen bestand.13 11 Newton schreibt in der lateinischen Ausgabe seiner Optik von 1706: „Angesichts der Tatsache, dass die Mannigfaltigkeit der Bewegungen, die wir in der Welt finden, immer abnimmt, ergibt sich die Notwendigkeit, sie mittels aktiver Prinzipien oder des Befehls eines Willens zu erhalten und zu ersetzen.“ Zitiert nach Gideon Freudenthal, Atom und Individuum im Zeitalter Newtons. Frankfurt Suhrkamp 1982 S. 80. 12 Leibniz an Prinzessin Caroline von Wales (erster Brief an Clarke) in Samuel Clarke, Der Briefwechsel mit G.W.Leibniz von 1715/1716 Hamburg Meiner 1990 S. 10. 13 Leibniz, MON §64, S. 469 sowie Abschn. 4.3.1. 326

4.3 S I N D D I E P R O D U K T E D E R N AN O T E C H N O L O G I E D I N G E ?

4.3.1 Tiefe technischer Strukturen There’s plenty of room at the bottom1

Die Überlegungen des vorangehenden Kapitels wurden von zwei sich entsprechenden Leitdifferenzen bestimmt: der zwischen technischem Typ und individuellem Gerät, sowie der zwischen Funktion und Gebrauch. Diese beiden Differenzen werden nun durch eine dritte Differenz ergänzt, nämlich durch die zwischen technischen (typischen und funktionsbedingten) und kontingenten (individuellen) Strukturen im konkreten Gerät.2 Die ‚Dinglichkeit‘ der Artefakte und damit ihre Individuationsfähigkeit setzt das Bestehen dieser Differenz voraus. Die seit Jahrzehnten voranschreitende Miniaturisierung technischer Strukturen vermindert diese Differenz stetig, und sollten die von einigen Visionären der Nanotechnologie konzipierten Nanomaschinen realisiert werden, würde sie in diesen Gebilden völlig verschwinden.

1 2

Titel eines Vortrags, den Richard P. Feynman 1959 vor der American Physical Society gehalten hat. Dass hier technische und kontingente Merkmale einander gegenüber gestellt werden, kann natürlich irritieren insofern, als das Technische als Gemachtes gemeinhin als kontingent gilt. Wie jedoch am Ende von Abschn. 4.2.1 bemerkt wurde, wird hier der technische Typ als allgemeiner, vollständig bestimmter Begriff verstanden, der durch Strukturen bestimmt ist, die hier als technische von den kontingenten Strukuren des Einzelgerätes unterschieden werden. 327

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Die Funktion eines Gerätes wird bestimmt durch seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gerätetyp (4.2.2). Die Typbeschreibung enthält die für die Funktion notwendigen Merkmale. Gleichzeitig stellt der Typ eine nomologische Maschine (1.2.6, 3.1.2) dar, ein von den physikalischen Parametern der Außenwelt weitgehend unabhängiges Gebilde, in dem ein durch die Konstruktion bestimmtes physikalisches Geschehen störungsfrei und beliebig reproduzierbar abläuft. Mit den nomologischen Objekten der Mikrophysik (3.1.1, 3.2.4) haben die nomologischen Maschinen gemeinsam, dass sie scharf definierte physikalische Eigenschaften besitzen, die keinen quasi-kontinuierlichen Veränderungen unterliegen. Diese definierten physikalischen Eigenschaften, die die technischen Funktionen ermöglichen, sind durch technische Strukturen realisiert, die in den technischen Unterlagen genau beschrieben sind. In mechanischen Geräten sind dies Räder, Achsen, Lager, Zahnräder, Führungen usw., in elektrischen bzw. elektronischen Geräten Leitungen, Widerstände, elektrische und elektronische Bauteile, integrierte Schaltkreise und ihre Verbindungen. Die physikalischen Eigenschaften dieser mechanischen oder elektronischen Bauteile sind ihrerseits wieder durch technische Unterlagen beschrieben. Charakteristisch für diese technischen Strukturen ist nun, dass ihre Tiefe begrenzt ist, und dass sie in Stoffen realisiert sind, die eigene, technikfremde Strukturen aufweisen. Leibniz hat in seiner Monadologie an der bereits in Abschn. 1.1.4 zitierten Stelle eine Beschreibung der strukturellen Differenz zwischen von Menschen geschaffenen und natürlichen ‚Maschinen‘ (d.h. Organismen) gegeben, die den Kern des Unterschieds zwischen technischen und kontingenten Strukturen genau trifft. Er sieht die „unendliche Überlegenheit“ der natürlichen Organismen gegenüber künstlichen Maschinen darin, dass „eine durch die Kunst des Menschen geschaffene Maschine nicht in jedem ihrer Teile Maschine ist. Zum Beispiel: der Zahn eines Messingrades hat Teile oder Bruchstücke, die für uns nichts Künstliches mehr sind und nichts an sich haben, was im Hinblick auf den Gebrauch, zu dem das Messingrad bestimmt war, die Maschine auszeichnet. Die Maschinen der Natur aber, das heißt die lebendigen Körper, sind noch im kleinsten ihrer Teile bis ins Unendliche Maschinen.“3 Die technischen Strukturen der geschaffenen Maschinen sind nach dieser Auffassung gewissermaßen Oberflächenstrukturen, die sich einer in Bezug auf die Funktion kontingenten Struktur der Materie überlagern bzw. ihr unterschiedlich tief eingeprägt werden. Das Zahnrad könnte statt aus Messing auch aus Eisen oder Kunststoff sein, das hat auf seine Funktion keine unmittelbare Auswirkung. Der Stoff bildet den Körper, 3

Leibniz, MON 64, S. 469.

328

4.3 SIND DIE PRODUKTE DER NANOTECHNOLOGIE DINGE?

in den die technischen Strukturen eingeschrieben sind. Auf die Rolle der Stoffe werde ich noch zurückkommen. Dieser Leibnizschen Trennung zwischen den natürlichen oder – vorsichtiger formuliert – physischen Strukturen und den ihnen eingeprägten technischen Strukturen in einem realen Artefakt entspricht die von Putnam eingeführte und in 4.2.2 erwähnte Unterscheidung zwischen seinen logischen und den physischen Zuständen.4 Nur die technischen Strukturen und die in ihnen möglichen logischen Zustände sind für die Funktion eines Gerätes relevant. Kontingente Veränderungen in diesem Bereich haben unweigerlich Störungen oder den Ausfall der Funktion zur Folge. Im Bereich der kontingenten Strukturen bzw. Zustände sind bnderungen funktionsneutral, sofern sie keine Auswirkungen auf die technischen Strukturen und Zustände haben. Kontingente bnderungen können sich, ohne die Funktion zu stören, im Raum unterhalb der technischen Strukturen materiell manifestieren. Solche Veränderungen treten z.B. in Form von sichtbaren Gebrauchs- und Alterungsspuren (Schmutz, Kratzer, Risse) in Erscheinung. Im Gerätekörper stellt der Bereich kontingenter physischer Strukturen also einen Raum für Redundanz zur Verfügung, in dem kontingente Veränderungen gefahrlos aufgefangen werden können. Aber auch die in den technischen Strukturen durch Reibung und Leitungswiderstände produzierten Verlustleistungen können an die kontingenten Strukturen der Bauelemente selbst und an die Lager, Sockel oder Gehäuse abgegeben und von dort ohne Gefährdung der technischen Funktionen an die Umgebung abgeleitet werden. Und schließlich gehören zum Bereich kontingenter Strukturen auch die Bedienelemente, Schalter, Griffe, Gehäuse, durch die die Geräte im Gebrauch verfügbar und handhabbar werden. An der Eindringtiefe technischer Strukturen in die Substrate lässt sich der technische Fortschritt messen. Zur Zeit von Leibniz lagen die feinsten Dimensionen technischer Strukturen (z.B. Zahnräder) bei Größen von etwa 1 Millimeter, durch die Miniaturisierung sind die Dimensionen elektrischer und mechanischer Strukturen heute etwa um den Faktor 1000 auf 1 Mikrometer geschrumpft. Für Leibniz, der eine atomare Theorie der Materie ablehnte, war dort, im Mikrokosmos, noch beliebig viel Raum vorhanden. Für unser Verständnis ist dieser Raum jedoch durch die atomare Struktur der Materie begrenzt, und zwar – wenn man die Grenzen des für technische Strukturen nutzbaren Bereichs mit der Größenordnung der atomaren Strukturen gleichsetzt - bei etwa 1 Nanometer (ein Millionstel Millimeter bzw. ein Tausendstel Mikrometer). Es ist das erklärte Ziel moderner Technologien, insbesondere der 4

Siehe 4.2.2. 329

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Nanotechnologie, ihre Strukturen immer tiefer in die Materie einzuschreiben, um auch diesen „room at the bottom“ für die technischen Strukturen zu nutzen. Es liegt auf der Hand, dass damit der freie Raum für funktionsneutrale kontingente Veränderungen aufgebraucht wird und die in makroskopischen Geräten vorhandene Redundanz zu verschwinden droht. Bevor ich mich den Besonderheiten der Nanotechnik und den zu erwartenden Konsequenzen dieser Entwicklung zuwende, sind jedoch noch einige Bemerkungen zur Bedeutung der kontingenten Materialstrukturen erforderlich. Dass das Zahnrad im Leibnizschen Beispiel aus Messing und nicht aus Holz ist, zeigt, dass sich die technischen von den kontingenten Strukturen nicht scharf trennen lassen, denn Messing ist ein technisch geformter Stoff. Die physikalischen Eigenschaften der Substrate, denen die technischen Strukturen eingeprägt werden, sind für die Funktionalität relevant. Für bestimmte Bauteile sind z.B. Festigkeit bzw. Elastizität oder elektrische Leitfähigkeit notwendig. Ferner sind natürliche Stoffe im Allgemeinen inhomogen und besitzen Strukturen, die die technischen Funktionen nicht stützen, sondern u.U. mit ihnen interferieren. Sie enthalten Kontingenz in Form von Spuren ihrer Vorgeschichte. Auf die Bedeutung der Homogenisierung von Stoffen wurde bereits in Abschn. 4.2.3 hingewiesen. Bei der Herstellung von integrierten Schaltkreisen hat die Fabrikation von Substraten aus Silizium-Einkristallen, Wafer genannt, diese Homogenisierungsfunktion. Sie müssen bis in die Größenordnung von wenigen Nanometern frei von Störungen und Inhomogenitäten sein. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die diesen Substraten durch Fotolithographie und btz- oder Aufdampfverfahren ein- und aufgeprägten elektrischen Schaltkreise mit Leiterbahnbreiten in der Größenordnung von Mikrometern einwandfrei funktionieren. Solche ‚Homogenisierungstechniken‘ schaffen erst die Voraussetzungen für die Miniaturisierung. Mit Hilfe der beschriebenen Technologien lassen sich auf und in solchen Substraten nicht nur elektronische, sondern auch elektromechanische Systeme realisieren, sogenannte MEMS (microelectro-mechanical systems), die bewegliche Teile (z.B. Rotoren in der Größe von Mikrometern) enthalten können.5 Sie werden heute aus Kunststoffen realisiert und als miniaturisierte Sensoren (als Beschleunigungssensoren für die Auslösung von Airbags) oder als Aktoren (z.B. Ventile) eingesetzt. Mit der Homogenisierung der Stoffe wird gleichzeitig deren Robustheit und Widerstandsfähigkeit gegen kontingente Veränderungen ange5

Sergey Edward Lyshevsky, Nano- and Micro-Electromechanical Systems. Fundamentals of Nano and Microengineering. CRC Press Boca Raton 2004.

330

4.3 SIND DIE PRODUKTE DER NANOTECHNOLOGIE DINGE?

strebt. Metalle sind härter, haltbarer und unempfindlicher gegen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen als Holz, und Kunststoffe sind unempfindlicher gegen Korrosion als Metalle. Verstärkt wird diese Resistenz gegen Veränderungen durch geeignete Oberflächenbehandlung. Diese Maßnahmen führen insgesamt zu den für die modernen technischen Artefakte typischen Merkmalen, die in Abschn. 2.6.2 beschrieben wurden: Sie erscheinen alterslos, da ihre Oberflächen kaum Spuren annehmen, und sie sind äußerlich unspezifisch, da ihre Funktionselemente miniaturisiert und damit unsichtbar sind. Die perfekte Gestaltung und Versiegelung der Oberflächen macht zudem Fertigungsspuren, Fugen oder Verbindungselemente unsichtbar. Veränderungen am und im Gerät machen sich dem Nutzer nur durch Störungen oder durch Totalausfall der Funktion bemerkbar, deren Ursachen im Verborgenen bleiben. Da Reparatur oft nicht möglich ist, bleibt nur der Ersatz des ganzen Gerätes durch ein neues. Alle diese Eigentümlichkeiten6 verhindern zwar nicht eine kurzfristige, transitorische Individuation, wie sie für den Gebrauch unerlässlich ist, aber sie erschweren die Entstehung einer transtemporalen Identität, durch die das Artefakt zum wiedererkennbaren individuellen Ding wird.

4.3.2 Das Schwinden der Dinge in der Mikro- und Nanotechnik Die Miniaturisierung hat in mehrfacher Hinsicht ein Verschwinden von Dingen aus unserem Gesichtsfeld bewirkt. Nicht nur, dass uns die Dinge, die wir im Innern eines Gerätes früher sehen konnten, nicht mehr zugänglich sind, sie sind auch gar nicht mehr da. Wenn wir früher in einem geöffneten Radiochassis Röhren, Widerstände, Kondensatoren und Spulen, verbunden durch Leitungen, sahen, so finden wir, wenn wir heute ein Gehäuse doch einmal öffnen, nur Leiterplatten mit unspezifisch aussehenden aufgelöteten Kunststoffchips mit vielen Metallbeinchen. Die durch die Miniaturisierung ermöglichte Integration vieler Funktionen in einem Gerät hat ebenfalls zum Verschwinden vieler Dinge geführt, die früher in jedem Haushalt zu finden waren, wie Belichtungsmesser, Schreibmaschine, Plattenspieler und Diaprojektor mit Leinwand. Ihre Funktionen sind heute in der Digitalkamera, im Computer, Audio-Compact-Gerät, Ipod und Fernseher bzw. Beamer integriert.

6

Nicht alle diese Eigentümlichkeiten sind allein der Miniaturisierung geschuldet. Es gibt auch andere, z.B. marktwirtschaftliche Kräfte, die diese Entwicklung begünstigen. 331

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Die Miniaturisierung, die im Laufe der letzten Jahrzehnte bis zu der heutigen Mikrotechnik geführt hat, bestand in einer schrittweisen Verkleinerung von elektrischen und auch mechanischen Bauteilen bei gleichzeitiger Integration zu immer komplexeren Systemen. Auf diese Weise entstanden die nur wenige Millimeter großen Integrierten Schaltkreise (IC), die viele Tausende von Transistoren, Dioden und die sie verbindenden Leitungen enthalten, Früher hatten diese Einzelelemente die Größe von mehreren Millimetern oder – im Zeitalter der Elektronenröhre – von Zentimetern. ICs machten moderne Computer oder multifunktionale Kommunikationsgeräte wie die neuesten Mobiltelefone erst möglich. Diese Entwicklung zu kleineren Halbleiterstrukturen erfolgte in den letzten 50 Jahren mit einer erstaunlich konstanten Rate, wobei die Packungsdichte sich circa alle 18 Monate verdoppelte (sog. Mooresches Gesetz).7 Die eigentliche Nanotechnik beginnt erst bei Dimensionen, die um den Faktor 100 bis 1000 unter denen der Mikrotechnik liegen. Nun ist aus physikalischen Gründen eine Miniaturisierung durch fortgesetzte Verkleinerung der gleichen Strukturen bis in die Nano-Dimensionen nicht möglich.8 Da man sich dort in der Größenordnung der Atome bzw. ihrer Abstände bewegt, gibt es dort keine homogenen Substrate mehr. Die Funktionen müssen in diesem Bereich durch diskrete Strukturen realisiert werden, die die atomaren Bausteine der Stoffe als Funktionselemente verwenden, und zudem kommen dort die Gesetze der Quantenmechanik ins Spiel. Eine Nanotechnik wird sich also in mehrfacher Hinsicht von der bisherigen Makro- bzw. Mikrotechnik unterscheiden. Es ist heute schwierig, vorauszusagen, von welcher Art die Produkte einer zukünftigen Nanotechnik sein werden. Das liegt einerseits daran, dass diese Technologie sich in einer schnellen Entwicklung befindet, andererseits aber an der Aktivität einer Reihe von Visionären und Propagandisten dieser Technologie, die die Produktion von Maschinen und Robotern im Nanobereich in Aussicht stellen, die ihrerseits von sogenannten nanotechnischen Assemblern Atom für Atom zusammengesetzt werden sollen. Die Realisierbarkeit solcher ‚Molekularfabriken‘, wie sie von Eric Drexler vorgeschlagen wurden, wird von vorsichtigeren Wissenschaftlern allerdings in Zweifel gezogen.9 Dennoch werden bereits heute nanotechnische Verfahren und Substanzen z.B. bei der Herstellung von Oberflächen mit bestimmten Eigenschaften angewendet, und es werden nanotechnische Elemente entwickelt, von denen man sich einen baldigen Einsatz verspricht. Dazu gehören die sogenannten ‚nano7 8 9

Uwe Hartmann, Nanotechnologie. Elsevier München 2006, S. 19 ff. Ebd. S. 34 ff. Ebd. S. 122 f.

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4.3 SIND DIE PRODUKTE DER NANOTECHNOLOGIE DINGE?

dots‘, die als Schalter oder Speicherelemente verwendet werden können. Das sind Atomansammlungen von wenigen Nanometern Durchmessern, die auf bestimmten Substraten gebildet werden und immer noch Hunderte oder Tausende von Atomen enthalten. Monomolekulare Gebilde sind dagegen die Fullerene, aus 60 oder mehr Kohlenstoffatomen bestehende hochsymmetrische kugelförmige Moleküle, und die sogenannten Nanoröhrchen (nanotubes),10 ebenfalls aus Kohlenstoffatomen gebildete röhrenartige Moleküle, die inzwischen in Längen bis zu einigen Zentimetern hergestellt werden können. Ihre elektrischen Eigenschaften hängen von der Herstellungsmethode ab und ihre Festigkeit übertrifft die von konventionellen Fasern aus mehrmolekularen Substanzen bei weitem. Fullerene und Nanoröhren gelten heute als vielversprechende Bausteine der sich entwickelnden Nanotechnik. Wichtige Hilfsmittel für das Eindringen in die Nanowelt sind die Rastersondenmikroskope (z.B. das Rastertunnelmikroskop, scanning tunneling microscope, STM), die eine Visualisierung sowie gewisse Manipulationen von Nanoobjekten ermöglichen. Dabei wird mit einer extrem feinen Spitze (Sonde) die Oberfläche eines Substrats rasterförmig abgetastet, d.h. die Sonde wird in einem Abstand von der Größenordnung der Atomabstände über die Oberfläche geführt und elektrische oder andere Wechselwirkungen zwischen Sonde und Substrat werden registriert und bildlich dargestellt. Auf diese Weise konnten tatsächlich einzelne Atome sichtbar gemacht und auch auf einer Oberfläche verschoben werden. Die mit Hilfe dieser Rastersondenmikroskope produzierten ‚Bilder‘ von einzelnen Atomen erzeugen bei Laien die Illusion, bei den Atomen handele es sich um dinghafte Objekte, die man mit geeigneten Werkzeugen wie kleine Steinchen platzieren und aneinanderfügen könne. Tatsächlich sind dies keine Abbildungen, sondern eher Profile oder Karten von winzigen Bereichen, denen durch aufwendige Bildverarbeitungsmethoden, Farben und Schattierungen das Aussehen von Bildern verliehen wird.11 Auch die Herstellung nanotechnischer Objekte erfordert neue, unkonventionelle Methoden. Während in den klassischen Produktionstechniken die technischen Strukturen von der Oberfläche her in die Substrate eingearbeitet wurden (top-down), wird für die Realisierung der Nanostrukturen ein Aufbau von der atomaren Basis her durch sogenannte Bottom-up-Prozesse gefordet. Bottom-up-Prozesse sind in der 10 Ebd. S. 76. 11 Jens Soentgen, „Atome Sehen, Atome Hören“. In Alfred Nordmann, Joachim Schummer, Astrid Schwarz (Hg), Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische, gesellschaftliche Perspektiven. Berlin Akademische Verlagsgesellschaft 2006. 333

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Chemie bei der Synthese komplexer Verbindungen aus einfacheren Molekülen seit langem im Einsatz. Allerdings sind die Anfangs- und Endprodukte chemischer Reaktionen im allgemeinen Stoffe und nicht Einzelobjekte. Bottom-up-Technologien im strengen Sinne eines Aufbaus von Objekten ‚Atom für Atom‘ etwa mit Hilfe hypothetischer Nano-Assembler sind allerdings nach der Meinung vieler Physiker vorerst nicht und vielleicht sogar gar nicht realisierbar. Die Schwierigkeiten bei der kontrollierten Manipulation mikroskopischer Partikel nehmen mit ihrer Kleinheit zu und werden im atomaren Größenbereich extrem. In erster Linie rührt das von der Brownschen Bewegung her, der mit steigender Temperatur zunehmenden chaotischen Zitterbewegung aller Partikel, die durch Zusammenstöße mit den Molekülen der umgebenden Gase oder Flüssigkeiten ausgelöst werden. Dazu kommt das Phänomen der ‚stiction‘, einer Kombination aus Haftung und Reibung, das Partikel am Substrat oder am Manipulator selbst festkleben lässt. Einer der Entdecker des Fullerens, Richard Smalley, hat diese Schwierigkeiten metaphorisch als die der ‚thick fingers‘ und der ‚sticky fingers‘ bezeichnet.12 Der erste Ausdruck steht für das Problem, dass man beim Manipulieren von atomaren Bausteinen immer mit Werkzeugen (Fingern) arbeiten muss, die sehr viel gröber sind als das zu bearbeitende Partikel, so dass die Ungenauigkeit der Manipulationen immer wesentlich größer bleibt als die Ausdehnung der Partikel selbst. Die sticky fingers weisen auf die erwähnten Eigenschaft der ‚stiction‘ hin, durch die Partikel unkontrollierbar am Substrat oder am Manipulator festkleben. Abgesehen davon würde eine Zusammensetzung von Produkten aus einzelnen Atomen oder Molekülen, selbst wenn die Produkte sehr klein und die Prozesse sehr schnell wären, astronomisch lange Zeiten in Anspruch nehmen. Aus diesen Gründen setzt man heute bei der Produktion von NanoStrukturen auf Methoden, wie man sie in der Biologie beim Aufbau organischer Strukturen beobachtet oder bei der Züchtung von Kristallen anwendet. Die Stichworte für diese Art von Prozessen sind Züchtung, Replikation und Wachstum. Dabei wird nicht versucht, den Substraten die Strukturen von außen einzuprägen oder sie nach einem technischen Plan aus Elementen zusammenzusetzen, sondern die komplexen Symmetrien der molekularen Bausteine selbst als Konstruktionsprinzipien zu benützen. So wächst ein Kristall durch Anlagerungen von gleichartigen freien Atomen oder Ionen, die nach einer durch die Organisation ihrer Atomhülle gegebenen Ordnung ein regelmäßiges Raumgitter bilden. Vorbilder für die Replikation und das Wachstum von Strukturen sind 12 Richard Smalley, „Chemie. Liebe und dicke Finger“ Spektrum der Wissenschaft Spezial: Nanotechnologie. 2001 S. 66-67. 334

4.3 SIND DIE PRODUKTE DER NANOTECHNOLOGIE DINGE?

biologische Prozesse, wie sie etwa bei der Kopie von DNS-Molekülsträngen oder bei der Vermehrung von Viren in der Natur vorkommen. Die Ergebnisse solcher Erzeugungsweisen wären ‚living machines‘ oder ‚soft machines‘, wie sie von den Propagandisten der Nanotechnologie gerne euphemistisch genannt werden.13 Dabei handelt es sich also nicht mehr um Herstellungsmethoden im Sinne eines technischen ‚Machens‘, sondern um selbstlaufende Prozesse, die wie chemische Prozesse allenfalls von außen durch die Schaffung bestimmter Bedingungen angestoßen und wieder gestoppt werden können. Es liegt auf der Hand, dass sich dabei wie in der Chemie das Problem der Kontrolle dieser Prozesse und der Verhinderung einer unerwünschten oder schädlichen Verbreitung der Produkte in verschärfter Form stellt. Jedenfalls werden derartige Verfahren, wenn sie sich durchsetzen, die Grenze zwischen Technik und Natur verwischen. Die dabei entstehenden Gebilde können jedenfalls nicht mehr als Geräte im Sinne der am Beginn von Abschnitt 4.1.2 gegebenen Charakterisierung verstanden werden. Sie sind weitgehend anonymisiert und dem direkten Zugriff des Nutzers entzogen. Die Prozesse ihrer Erzeugung, Anwendung und der eventuellen Entsorgung vollziehen sich sozusagen hinter unserem Rücken. Funktion und Gebrauch sind nicht mehr zu trennen, sie können nicht mehr einfach ein- und ausgeschaltet werden, denn sie lassen sich nicht in Form eines Gerätes verdinglichen. Ihr Vorhandensein in einer bestimmten Umgebung schließt automatisch ihre Funktion, ihre Wirksamkeit ein. Natürlich werden auch nanotechnische Elemente in Geräten integriert. Schenkt man jedoch den Visionen bestimmter Wissenschaftler Glauben, so wird es auch Produkte geben, die sich als molekulare Maschinen, Assembler oder Roboter, frei in bestimmten Medien bewegen und dort ihre Wirksamkeit entfalten. Einzelne Exemplare desselben Typs wären ununterscheidbar, da sie keinen Platz für kontingente Eigenschaften oder Gebrauchsspuren böten. Man könnte ihnen daher keine Identität zuerkennen, die sie unter ihresgleichen als Individuen wiedererkennbar macht. Sie würden nicht nur theoretisch als Modell, sondern auch faktisch den atomaren Bausteine der Materie ähnlich, die als nomologische Objekte dem Gesetze der Quantenphysik unterliegen. Tatsächlich konnte durch Interferenz-Experimente mit Fullerenen gezeigt werden, dass auch für große Moleküle die Unschärferelationen gelten14, 13 Richard A.L. Jones, Soft Machines. Nanotechnology and Life. Oxford Univ. Press 2004 S. 113 ff. 14 Olaf Nairz, Markus Arndt, Anton Zeilinger, „Quantum interference experiments with large molecules“. American Journal of Physics, 71, (2003) S. 319-325. 335

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

d.h. dass man ihnen in bestimmten Situationen keine individuelle Bahnkurve zuordnen kann. Allerdings zeigen sie dieses Verhalten nur unter ganz bestimmten Bedingungen wie z.B. bei sehr tiefer Temperatur. Bei höheren Temperaturen nehmen die Wechselwirkungen mit der Umgebung zu und sie verhalten sich wie klassische Teilchen.

4.3.3 Entdinglichung und Verdinglichung Wir stoßen in der Nanotechnik also auf einen merkwürdigen Zwischenbereich, in dem man es mit Gebilden zu tun hat, die weder identifizierbare Dinge noch nomologische Objekte sind. Sie verhalten sich unter bestimmten Bedingungen, wie etwa bei den erwähnten Inerferenz-Experimenten, wie letztere, also wie Quantenobjekte. Ermöglicht man dagegen z.B. durch erhöhte Temperatur eine Wechselwirkung mit der Umgebung, so dass sie durch Absorption und Emission von Photonen auf ihrer Bahn verfolgt werden können, dann erhalten sie für einen bestimmten Zeitraum so etwas wie eine eigene Geschichte und Identität. Dieses Resultat ist allerdings nicht überraschend, denn es bestätigt auch für diesen Bereich, dass Individualität keine ontologische Klasse bildet, in die ein Objekt fällt oder nicht fällt, sondern dass sie ein Merkmal des Kontextes ist, mit dem das Objekt in Wechselwirkung steht. Ja, es stellt sich heraus, dass nicht einmal der Unterschied zwischen nomologischen Objekten und klassischen Partikeln in dieser Hinsicht fundamental ist. Auch nomologische Partikel können in einem Wechselwirkungskontext mit anderen Partikeln als einzelne beobachtet werden (Abschn. 3.3.1). Dieser Kontext ist nicht einfach ein System von Körpern, in dem physikalische Wechselwirkungen stattfinden, sondern er muss ein Kontext der Beobachtung, der Messung, des Experiments, der Manipulation durch den Experimentator sein. Er muss, mit anderen Worten, eine Verbindung herstellen zwischen dem Objekt und einem Agenten oder Beobachter, denn nur so kommt die für eine Individuation erforderliche Kontingenz ins Spiel. Allerdings ist die Wechselwirkung zwischen Beobachter bzw. Handelndem und seinem Objekt in der Nanotechnik wesentlich komplexer als in der konventionellen Technik. Sie ist durch eine lange Kette von Instanzen vermittelt in Form von extremen Randbedingungen (z.B. Reinraumbedingungen im Labor, tiefe Temperaturen und Vakuum am Untersuchungsobjekt), hochkomplexen Geräten wie Rastersondenmikroskope und bildgebenden Verfahren mit aufwendiger Software. Zudem ist dieser Kontext in vielen Fällen kein ‚Echtzeit-Zusammenhang‘, sondern er ergibt sich aus einer nachträglichen Rekonstruktion aus den Daten, die bei einer Messung angefallen sind und mit Hilfe einer speziellen Software aufbereitet werden. Die Identifikation des 336

4.3 SIND DIE PRODUKTE DER NANOTECHNOLOGIE DINGE?

Objekts ist also auch hier kein Erkennen oder gar Wahrnehmen eines Gegebenen, sondern ein Prozess der Individuation, des Herausschälens eines Gegenstandes aus einem komplexen Gefüge von Wechselwirkungen, von Handlungen, individuellen Geräten und Ereignissen. Das unterscheidet sich jedoch prinzipiell nicht von der Identifikation eines alltäglichen Gegenstandes (Abschn. 1.5.3). Smalleys Rede von den dicken bzw. klebrigen Fingern, die eine Bottom-up-Konstruktion von atomaren Werkzeugen und Maschinen verhindern, ist also nicht nur eine geistreiche Metapher. Wo absichtsvoll und zielgerichtet technische Strukturen aufgebaut werden sollen, dort muss menschliches Eingreifen und Handeln, wenn auch vielfach vermittelt, möglich sein. Die Drexlerschen Visionen von ‚Molekularfabriken‘, die ohne Top-down-Zugriff auf der atomaren und molekularen Ebene Produkte erzeugen und ein in sich geschlossenen und sich selbst reproduzierenden Systems bilden, suggerieren, sie seien gegen das Eindringen von Kontingenz geschützt. Zwar sind in der Natur solche sich selbst reproduzierende Systeme durchaus verwirklicht, wenn auch in den Organismen keineswegs ohne äußere Steuerung und auch nicht frei von Kontingenz, d.h. von Reproduktionsfehlern. Wie solche von handelnder Kontrolle losgelösten Prozesse aber technisch verfügbar bleiben sollen, ist schwer vorstellbar. Die möglichen Gefahren, die von derartigen Produkten ausgehen könnten, werden heute vielfach diskutiert, können aber hier nicht thematisiert werden. Bei vielen heute schon verbreiteten Produkten sind die komplexen Kontexte, die bei ihrer Herstellung und ihrem Einsatz wirksam sind, für den Wissenschaftler, der im Labor an solchen Produkten arbeitet, noch überschaubar und damit existent. Für den Verbraucher besteht dieser Kontext jedoch nicht mehr, das Produkt ist für ihn nicht mehr greifbar. Alfred Nordmann hat für diese Techniken die Begriffe ‚naturalisierte Technologie‘15 bzw. ‚noumenale Technologie‘16 geprägt. Er hat an den Beispielen der genetisch veränderten Nahrungsmittel, der Umgebungsintelligenz (ambient intelligence) sowie der nanotechnischen Produkte gezeigt, wie die Elemente dieser Technologien sich sowohl der Wahrnehmung als auch der Einsicht in ihre Wirkung entziehen. Formales Kriterium für solche naturalisierte oder noumenale Technologie ist

15 Alfred Nordmann, „Technology Naturalized: A Challenge to Design for the Human Scale“. In Pieter E. Vermaas, Peter Kroes, Andrew Light, Steven A. Moore (Hg), Philosophy and Design: From Engineering to Architecture. Dordrecht Springer 2008 S. 173-184. 16 Alfred Nordmann, „Noumenal Technology, Reflections on the Incredible Tininess of Nano“ in Joachim Schummer, Thomas Baird (Hg), Nanotechnology Challenges: Implications for Philosophy, Ethics and Society. Singapore World Scientific Publishing, 2006 S. 49-72. 337

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

für Nordmann gerade die Tatsache, dass ihre Wirkeinheiten, wenn man sich diese als ‚black boxes‘ vorstellt, verschwinden. Sie wirken zwar in unsere Lebenswelt hinein, von uns aus führen aber keine Brücken zu ihnen in Form von sinnlicher Wahrnehmbarkeit, Begreifbarkeit und damit Verfügbarkeit.17 Noumenal sind die Produkte im Sinne Kants, da sie unserer Anschauung und dadurch unserem Zugriff entzogen sind, sie sind für uns keine Dinge mehr, sie existieren nur noch ‚an sich‘. Technik muss, wenn sie für uns verfügbar bleiben soll, dinglich sein. Technisches und instrumentelles Handeln ist an Dinge, an Schalter, Griffe, Tastaturen, Geräte gebunden. Auch die miniaturisierten Bauelemente der Elektronik sind in Geräten integriert und damit verdinglicht. Entdinglichung bedeutet notwendigerweise Verlust an Verfügbarkeit, Steuerbarkeit und Kontrolle. Auch eine zukünftige Nanotechnik muss der Entdinglichung ihrer Objekte durch Verdinglichung entgegenwirken, um verfügbar zu bleiben. Der Begriff Verdinglichung hat in der Philosophie keinen guten Ruf, er steht seit Hegel und Marx in der klassischen Sozialtheorie für die Entfremdung menschlicher Beziehungen, besonders der menschlichen Arbeit. Dort ist Verdinglichung verbunden mit Ausbeutung und Unfreiheit. In dem hier diskutierten Zusammenhang soll Verdinglichung Verfügbarkeit und selbstbestimmtes Handeln ermöglichen. Die Überlegungen des zweiten Teils zur Phänomenologie der Dinge haben gezeigt, dass Dinge unverzichtbare Elemente einer selbstbestimmten Lebensgestaltung sind. Technische Geräte verdanken ihrem Dingcharakter die Trennung zwischen Funktion und Gebrauch (4.2.2), und das wiederum erlaubt ihre Verfügbarkeit, d.h. ihre gezielte und kontrollierte Integration in persönliche und soziale Lebensgestaltung. Nur die Kontingenz im Gebrauch ermöglicht die Einbeziehung von Technik nach Bedarf in den individuellen Lebensvollzug. Kontingenz bedeutet schließlich in der Technik keineswegs nur Risiko, sondern die Erweiterung der Möglichkeiten aktiver Lebensgestaltung. Und das ist ein wichtiges Motiv für die Nachfrage nach neuen Technologien und Geräten. Das wird Thema des folgenden Kapitels sein.

17 Nordmann, „Technology Naturalized“, a.a.O. S. 9. 338

4.4 T E C H N I K

UND

KONTINGENZ

Der neue Mensch ist kein Handelnder mehr, sondern ein Spieler, ‚homo ludens‘, nicht ‚homo faber‘. Das Leben ist ihm nicht mehr ein Drama, sondern ein Schauspiel. Es hat keine Handlung mehr, sondern es besteht aus Sensationen. Der neue Mensch will nicht tun und haben, sondern er will erleben.1

4.4.1 Medialität, Komplexität und Kontingenz Technikanalysen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (z.B. von Friedrich Georg Jünger, Oswald Spengler) haben den Systemcharakter der Technik frühzeitig diagnostiziert, ihn aber gleichzeitig dämonisiert. Aus der generellen Umkehrbarkeit von Mittel-Zweck-Relationen in technischen Zusammenhängen haben sie den Systemen eine Tendenz unterstellt, durch ihre zunehmende Vernetzung zu Selbstzwecken zu werden, denen sich die damit verkoppelten sozialen und politischen Systeme und damit die Individuen notgedrungen anpassen müssen. Nach dem zweiten Weltkrieg und dem Schock durch die atomare Vernichtung japanischer Städte schlug die Faszination durch eine dämonisierte Technik in Entsetzen und Schrecken um. Günter Anders zeigte unter dem Stichwort der „Antiquiertheit des Menschen“,2 wie sich die Schere zwischen Handlungsabsicht und Folgen im Falle moderner Waffensysteme 1 2

Vilém Flusser, Dinge und Undinge a.a.O. S. 84. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1 u. 2 München Beck 1956 bzw. 1980. 339

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

auf eine Weise öffnet, die es einem Agenten unmöglich macht, sich die Folgen seiner Handlung, die in ein System von Regelbefolgungen eingebettet ist, auch nur annähernd vorzustellen und mit seiner Handlung in Beziehung zu setzen. Dadurch verliert das Handeln als souveränes und verantwortliches Tun seinen Sinn und reduziert sich auf die Funktion der Auslösung anonymer technischer Prozesse. Dieses durch die Erfahrung der beiden Weltkriege und der fortdauernden atomaren Bedrohung geprägte Technikbild hat auch in literarischen und filmischen Utopien bzw. Dystopien beklemmenden Ausdruck gefunden. Meistens war damit auch die Vorstellung verbunden, Technik bilde ein den politisch herrschenden Klassen verfügbares Machtinstrument, mit dem politische Gegner innenpolitisch unterdrückt und außenpolitisch bedroht werden können. Als Garant dieser Machtfunktion von Technik galt die quantitative und qualitative Überlegenheit der eigenen technischen Mittel und Möglichkeiten gegenüber denen des jeweiligen Gegners, die durch unablässig forcierte technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung sichergestellt werden musste. Diese Prognosen wurden jedoch, wie sich im weiteren Verlauf des 20.Jahrhunderts zeigte, durch die historische Entwicklung nicht bestätigt.3 Zwar haben sich gesellschaftliche Strukturen und Lebensformen in vielfacher Weise technischen Systemen angepasst, und die Bedrohungen bestehen unvermindert weiter. Dennoch lässt sich die Logik dieser Veränderungen nicht allein aus der Logik technischer Prozesse verstehen. Sie muss eher als die Dynamik einer technischen Zivilisation gesehen werden, in der Technik nicht nur neue Bedingungen, sondern auch neue Möglichkeiten für die Formen menschlicher Vergesellschaftung und Selbstverwirklichung liefert. Davon wird im folgenden Abschnitt noch die Rede sein. Vor allem hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgestellt, dass eine effiziente Entwicklung moderner Technologien auf Grund der Komplexität und Vernetzung der Systeme nicht mehr zentral geplant werden kann und totalitäre gesellschaftliche Systeme irgendwann durch ihre inhärente Starrheit die technische Entwicklung hemmen. Es ist eine bemerkenswerte Fähigkeit und Leistung der marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften, das Netz der für eine moderne Technik erforderlichen Systeme schnell genug zu entwickeln, zu unter3

„Die Prognose, dass sich das technische Kollektiv à la longue in ein Gefängnis umwandle, wird, trotz ihrer Nähe zu Foucault, durch die Fakten nicht gestützt.“ Stefan Breuer, „‚Nicht der Anfang, das Ende trägt die Last.‘ F.G. Jünger und die Perfektion der Technik“. In ders., Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation. Hamburg Junius 1992 S. 112.

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4.4 TECHNIK UND KONTINGENZ

halten und gegebenenfalls zu modifizieren. Umgekehrt ist sicher eine der Ursachen für das Scheitern planwirtschaftlich organisierter Gesellschaften, dass sie nicht mehr in der Lage waren, die technischen Infrastrukturen und Institutionen aufzubauen und zu unterhalten. Die Versuche, komplexe Techniken wie Weltraumtechnik oder Militärtechnik von gesellschaftlichen und politischen Prozessen abgekoppelt rein instrumentell zu steuern, haben sich mit der Zeit als zunehmend ineffizient und letztlich als unausführbar erwiesen. Es ist totalitären Gesellschaftssystemen im letzten Jahrhundert zwar mehrfach gelungen, innovative Technik in Krisensituationen (Revolution, Krieg) zu entwickeln und sehr effektiv einzusetzen, jedoch nur durch die Weitergabe des politischen Drucks von außen nach innen. In Zeiten politischer Normalität sind dagegen die Impulse für die Entwicklung einer Ziviltechnik langfristig offenbar nicht durch eine zentral gesteuerte Planwirtschaft zu erbringen. Die Vernetzung und Differenzierung der technischen Systeme erzwingt die Öffnung gesellschaftlicher Strukturen und die allgemeine Verfügbarkeit von Informations- und Kommunikationssystemen, die mit zentralistisch gesteuerten politischen und sozialen Strukturen unvereinbar sind. Die Komplexität der Systeme und Netze macht sie unberechenbar und unsteuerbar, und ihre Entwicklung wird nur dadurch ermöglicht, dass sie mit den gesellschaftlichen Strukturen verwachsen und die systemimmanenten Regulierungsmechanismen, in denen technischwissenschaftliche, soziale und politische Impulse zusammenwirken, für ihren Bestand und ihr Wachstum sorgen. Zudem hat sich gezeigt, dass nur in offenen Gesellschaften die ökologischen Folgen technischen Wachstums überhaupt öffentlich wahrgenommen und diskutiert werden können, bevor sie zu Katastrophen führen. Diese Überlegungen sollen deutlicher machen, was mit dem Begriff der Unverfügbarkeit technischer Systeme gemeint ist und welche gesellschaftlichen Implikationen damit verbunden sind. Diese Unverfügbarkeit hat dazu geführt, dass man heute Technik nicht mehr als System, sondern als Medium zu beschreiben versucht. Im Gegensatz zum System, dem man gegenübertritt und mit dem man interagiert, bewegt man sich im Medium und agiert in ihm. Ein System besitzt eine Umwelt, mit dem es durch Inputs und Outputs im Austausch steht. Das Medium hat keine definierte Grenze und damit kein Außen, und alles, was im Medium geschieht, bezieht sich reflexiv auf dieses. Konkret bedeutet dies, dass in der technisierten Welt die Lebensformen in allen Bereichen – Arbeit, Wohnen, Verkehr, Kommunikation – so von Technik durchwirkt sind, dass wir buchstäblich nichts mehr tun können, wenn die Geräte etwa durch einen Stromausfall unbrauchbar sind. Es steht nicht mehr im Ermessen des handelnden Subjekts, ob es zur Erreichung eines Zwecks 341

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

sich bestimmter technischer Mittel bedient oder nicht, sondern weite Bereiche menschlichen Handelns sind technisiert, d.h. nur noch als technische Prozesse ausführbar. Dieser totalen Abhängigkeit des einzelnen Handelnden steht eine globale Vernetzung gegenüber, die dieses Individuum unabhängig von seinem Standort mit der ganzen Welt verknüpft und ihm jeden Ort und jede Information zugänglich macht. Allerdings greifen die Netze nur dort, wo die ökonomische Basis gegeben ist, und gleichzeitig zerstören sie außerhalb dieses Bereichs noch bestehende technik-unabhängige Netze. Medialisierung kann unter zwei Aspekten gesehen werden. Einmal besteht sie in der globalen Integration von Systemen. Dadurch wird Technik selbstreferentiell, d.h. Technik bezieht sich immer auf Technik, indem z.B. technische Geräte sowohl hinsichtlich ihrer Herstellung, ihres Gebrauchs als auch ihrer Entsorgung auf technische Systeme verwiesen sind und diese wiederum von der Funktion von Geräten abhängen. Die globale Vernetzung der Versorgungssysteme gewährleistet, dass ein lokaler Engpass ausgeglichen werden kann, ohne dass die Verbraucher es überhaupt bemerken. Andererseits können lokale Einbrüche auch Instabilitäten erzeugen, die nationale und kontinentale Netze destabilisieren. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb des Mediums, von dem aus das System als Ganzes überschaubar ist oder Teile völlig isoliert betrachtet werden können. Der zweite Aspekt der Medialisierung betrifft die Interaktion der Individuen mit dem Netz. Auf dieser Ebene erfährt der Nutzer eines Gerätes dieses nicht als unabhängiges Ding, sondern als Interface, durch dessen Gebrauch er mit Systemen interagiert, die ihrerseits wieder mit anderen ‚global players‘ in Interaktion stehen. Der Nutzer im Medium kann dessen Reaktion auf seine Aktion nicht mehr mit Sicherheit voraussagen, und er hat oft keine Möglichkeit, unbeabsichtigte Folgen seines Eingreifens zu ihren Ursachen zurückzuverfolgen. Er befindet sich gegenüber dem Medium in einer Situation doppelter Kontingenz, ähnlich der, die Luhmann als Grundsituation menschlicher Kommunikation beschreibt. Er weiß nicht genau, wie das System auf seine Aktion reagiert, und das System kann nicht angemessen reagieren, wenn die Aktion sich nicht innerhalb des Rahmens eines Codes bewegt, den der Nutzer im einzelnen nicht kennt. Solche Situationen erleben wir heute täglich im Umgang mit Computern und Automaten, sie sind aber auch Technikern nicht fremd, die sich mit komplexen Systemen befassen. Statt Kontingenz zu beseitigen und eindeutig zu reagieren, konfrontiert Technik uns heute mit Kontingenz und Unsicherheit. Gleichzeitig verschafft die Technik jedoch dem Handeln neue Möglichkeitsräume, die sich mit der technischen Entwicklung unaufhörlich erweitern. So hat 342

4.4 TECHNIK UND KONTINGENZ

Christoph Hubig die Medialität der Technik als Kontingenz aufgefasst im Sinne von Möglichkeit, als ‚Möglichkeit der Möglichkeiten‘.4

4.4.2 Technik als Quelle von Kontingenzerfahrung Die technologische Rationalität enthält auch ein Element des Spielerischen, das durch den repressiven Gebrauch der Technik gefesselt und verzerrt wird: das Spielen mit den Dingen (und ihren Möglichkeiten), mit ihrer Kombination, Ordnung, Gestalt und so fort. Stünde diese Aktivität nicht länger unter dem Druck der Naturnotwendigkeit, so hätte sie kein anderes Ziel als die Zunahme im Bewusstsein und Genuss der Freiheit. Die technische Produktivität könnte dann in der Tat das genaue Gegenteil der Spezialisierung sein und sich auf das Heraufkommen jenes ‚allseitigen Individuums‘ beziehen, das in der Marxschen Theorie eine so große Rolle spielt.5

In den drei ersten Kapiteln dieses vierten Teils erschien Technik als der Versuch, unsere Lebenswelt von Kontingenz zu befreien, der nur durch störungsfreie Funktionalität erfolgreich sein kann. Der vorangehende Abschnitt hat gezeigt, dass die Komplexität technischer Netze ihrerseits in zweifacher Hinsicht eine Quelle von Kontingenz bildet: Zum einen als Raum neuer Möglichkeiten, zum anderen in Form von Unbestimmbarkeit und unkalkulierbaren Risiken. Nach Ulrich Beck, der die hochtechnisierte Gesellschaft als Risikogesellschaft charakterisiert hat, wird in dieser Bedrohung die Technik selbstreflexiv, indem sie selbst zu einem der Probleme wird, das sie lösen will. Dieses Thema ist unter dem Stichwort ‚Technik-Folgenabschätzung‘ ausführlich behandelt worden. Dieses letzte Kapitel befasst sich mit dem erstgenannten Aspekt von Kontingenz im Umgang mit der Technik, der bisher weniger beachtet wurde, aber für die Einstellung vieler Menschen zur Technik eine wichtige Rolle spielt. Diese Einstellung ist heute fast immer ambivalent. Sie ist einerseits durch Gefühle von Bedrohung und Befremdung, andererseits von Faszination und Erwartung gekennzeichnet. Ich will im Folgenden für die These argumentieren, dass Technik heute als wichtige, 4 5

Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität. Bielefeld transcript 2006, S.155 ff u. S. 165 ff. Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus. Schriften Bd.6, Frankfurt Suhrkamp 1989 S. 238 f. 343

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vielleicht sogar wichtigste Quelle für neue Möglichkeiten von Kontingenzerfahrungen dient, und dass man nur so die immer noch weitgehend positive Resonanz auf neue technische Produkte und neue Technologien verstehen kann. Das soll an einigen Beobachtungen plausibel gemacht werden. Dabei ist jedoch eine bnderung der Beobachtungsrichtung erforderlich: Technik wird nicht im Hinblick auf Funktionalität, sondern vom technisch Handelnden aus betrachtet. Vom Standpunkt der Funktionalität aus gesehen, bedient der Benutzer das Gerät, im Gebrauch dient das Gerät dem Nutzer. 1. Bedienung und Nutzung: Der Gebrauch des Gerätes beginnt mit dem Ein- bzw. Ausschalten, was bei modernen Geräten schon reichlich Kontingenzerfahrung vermitteln kann. Kinder (und nicht nur sie) sind deshalb von Schaltern und den durch sie ausgelösten Wirkungen fasziniert. Jedes neue Modell eines Gerätes muss heute über neue Funktionen (sog. ‚features‘) verfügen, und das erfordert einen Lernprozess für deren Nutzung. Dabei erfährt sich der Benutzer als Handelnder und Erlebender, dem das Gerät neue Wirkungsmöglichkeiten verfügbar macht. Solche Phasen des Ausprobierens können sich bei modernen Geräten wie Auto oder Computer über die gesamte Nutzungsdauer erstrecken. Ihr Ende ist für viele Nutzer durch die Ausschöpfung aller Möglichkeiten bestimmt und liefert den Grund für die Anschaffung eines neuen Modells. Besonders reizvoll ist dabei, die Grenzen der Leistungsfähigkeit eines Gerätes zu testen – mit dem Risiko, es oder u.U. sich selbst zu schädigen. Dass es sich dabei um Kontingenzerfahrung im Sinne der Luhmannschen Beobachtung zweiter Art handelt, ergibt sich daraus, dass es bei dieser Erkundung von Grenzen auch um die Beurteilung der Konstruktion, des ‚Designs‘ bzw. der Konstrukteure und Designer geht. 2. Frustrationstoleranz und Risikobereitschaft: Benutzer von technischen Systemen sind im Allgemeinen eher bereit, Unbequemlichkeit und Risiken in Kauf zu nehmen, wenn sie sich dabei als Handelnde erfahren, als wenn sie nur passive Nutzer sind. Das ist ein meist unterschätztes Argument in der Diskussion um die Frage öffentlicher Verkehr versus Individualverkehr. Das Auto wird gegenüber der Bahn oft wegen der größere Freiheit in der Wahl von Zeit und Reiseroute bevorzugt. Auch die Akzeptanz von Frustrationen im Umgang mit dem eigenen Fahrzeug ist meist größer als im Umgang mit öffentlichen Systemen. 3. Überschuss an Möglichkeiten: Die heute verbreiteten Computer (PC) besitzen eine Reihe von Merkmalen, die sie von älteren technischen Geräten unterscheiden. Dazu gehört, dass die Möglichkeiten des Gerätes 344

4.4 TECHNIK UND KONTINGENZ

die Funktionen, die es im Durchschnitt erfüllt, um ein Vielfaches übersteigen. Die Benutzer der Computer kennen, beherrschen und benutzen nur einen Bruchteil der Möglichkeiten des Gerätes. bhnliches kann man an Autos der gehobenen Klasse beobachten: Sie werden mit technischen Möglichkeiten ausgestattet, die im normalen Straßenverkehr nie ausgenützt werden können. Der hohe Aufwand wird hier nicht durch einen vorgegebenen Zweck bestimmt, er soll vielmehr beim Nutzer das Gefühl erzeugen, das Gerät könne jeden Zweck erfüllen. 4. Multifunktionalität: Damit hängt auch die für viele moderne Geräte typische Multifunktionalität zusammen, die beim modernen Computer besonders ausgeprägt ist. Er übernimmt die Funktionen von ganz unterschiedlichen älteren Geräten (Schreibmaschine, Rechenmaschine, Zeichengerät, Notizbuch, Faxgerät, Kopiergerät, Fernsehgerät, Steuergerät für technische Anlagen wie Telefon oder. Heizung) und bietet zusätzlich neue Möglichkeiten (Informationsspeicherung, Kommunikation, Internet-Zugang). Schließlich wird der Computer häufig überhaupt nicht als Mittel für einen bestimmten Zwecks, sondern als Unterhaltungsgerät benützt, um Filme oder TV-Programme anzuschauen, um Computerspiele zu spielen, oder einfach ‚Dinge auszuprobieren‘ (der Hacker ist der Avantgardist der Nutzung des Computers zur Kontingenzproduktion). Der Computer dient dabei als Quelle von Kontingenz, d.h. von Möglichkeiten, und das macht ihn so anziehend und unentbehrlich. Da man am Computer zudem andere technische Geräte oder Systeme simulieren und testen kann, sind seine Anwendungsmöglichkeiten tatsächlich unbegrenzt. Multifunktionalität gibt es aber auch bei anderen neuen Geräten, man denke nur an Mobiltelefon oder Ipod. 5. Intransparenz: Wir sind im Umgang mit dem Computer in einer Situation der Beobachtung zweiter Art (Luhmannsche Kontingenz-Definition, s. Abschn. 1.2.5), indem wir mit unserem eigenen Nichtwissen konfrontiert sind. Dieses Nichtwissen bezieht sich auf ein Wissen von sogenannten Experten, Computerfachleuten, Softwareentwicklern, Personen, die konfigurieren, programmieren, formatieren können, die sich ‚damit auskennen‘. Aber auch sie kennen sich nur mit bestimmten Teilaspekten aus und brauchen für andere Probleme ihrerseits Experten. Viele Probleme werden vom Nutzer am Computer nicht durch direkte Informationsbeschaffung aus Bedienungsanleitung, technischen Unterlagen oder von Spezialisten gelöst, sondern durch Ausprobieren. Und dieses Herumprobieren verschafft wiederum Kontingenzerfahrungen.

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6. Funktions- und Zuverlässigkeitstests: Die anhaltende Attraktivität des Ingenieursberufs mit den modernen Varianten des Software-Engineering verdankt sich vor allem den damit verbundenen positiven Kontingenzerfahrungen. Der Ingenieur ist der Macher, der anders als der inkompetente Techniknutzer sein eigenes Wissen als Beobachter zweiter Art im Gerät vergegenständlicht sieht. Das Wissen, das der Ingenieur von den physikalischen Gesetzen und von den Bauelementen hat, die er bei der Entwicklung eines Gerätes verwendet und integriert, reicht – dessen ist er sich sehr wohl bewusst – nicht aus, um die Zuverlässigkeit der Gesamtfunktion zu gewährleisten. Er vertraut letztlich nicht nur auf die Zuverlässigkeit der Naturgesetze als Kriterium für die störungsfreie Funktion seines Produkts, sondern auf die Erprobung von Prototypen durch Tests unter Worst-Case-Bedingungen. Erst im Test erweist sich, ob ein Produkt sich unter den durch die Anwendung gegebenen Bedingungen erwartungsgemäß verhält. Er stellt somit eine entscheidende Entwicklungsphase dar. Funktions- und Zuverlässigkeitstests spielen deshalb für die Arbeit jedes Hard- und Software-Ingenieurs, für sein Selbstverständnis und für die emotionale Bindung an seine Tätigkeit eine zentrale Rolle. Sie verschaffen ihm die Kontingenzerlebnisse (des Erfolgs bzw. Misslingens), die für ihn letztlich Sinn oder Sinnlosigkeit seines Handelns bestimmen. 7. Tests als paradigmatische Ereignisse: Die Geschichte der Technik wird weitgehend als eine Geschichte gelungener und misslungener Tests erzählt. Als Beispiel sei nur die Geschichte der Flugtechnik erwähnt. Von den frühen und mythischen Versuchen des Dädalus und Ikarus (Erfolg und Misserfolg), des Schneiders von Ulm über die Gebrüder Wright bis zu den ersten Überschall-Testflügen und Satellitenstarts strukturieren die Tests die Geschichte der „Eroberung des Himmels“ (so die gängige Metapher und der Titel eines Buches über die Anfänge der Fliegerei). Dasselbe gilt für die Geschichte des Autos. Berufe wie der des Testpiloten oder des Formel-1-Fahrers werden heute zwar nicht mehr heroisiert, genießen aber wegen des persönlichen Risikos immer noch hohes Prestige. 8. Test als Selbstzweck: Moderne Großtechnologie wie die Atomwaffentechnik oder auch die Weltraumfahrt setzt sich – aus unterschiedlichen Gründen – oft sogar mehr den gelungenen Test als Ziel und nicht so sehr die Anwendung. Die geschichtliche Wirkung etwa der atomaren Rüstungstechnik ging und geht – glücklicherweise – seit dem Ende des zweiten Weltkriegs vor allem von den durchgeführten Tests aus, deren beabsichtigte Wirkung eingestandenermaßen die ist, ihre Anwendung zu 346

4.4 TECHNIK UND KONTINGENZ

verhindern. Das pure Vorhandensein dieser Waffen schafft ein ungeheueres Potential an Kontingenz, und zwar an Bedrohung und Risiko für die potentiellen Opfer und an (scheinbarer) Sicherheit vor Aggression für die Besitzer, so dass niemand ihren Einsatz wirklich wünschen kann. Die Weltraumtechnik ist ihrerseits primär darauf ausgerichtet, den Raum menschlicher Wirkungsmöglichkeiten zu erweitern. Vor allem in der ersten, noch nicht so stark kommerziell ausgerichteten Phase der Raumfahrt ging es vor allem um das ‚Unternehmen‘ Raumfahrt, um die Ausdehnung des menschlichen Aktionsraumes. 9. Innovationszwang: Technische Entwicklung steht unter Innovationszwang. Das ist heute ihre raison d’être mehr noch als reine Zweckdienlichkeit. Bei neuen Systemen und Geräten der Unterhaltungs- und Kommunikationsindustrie fordert der Markt unaufhörlich neue ‚features‘ und Qualitätsvorteile, wodurch die Gebrauchsdauer und damit auch die Lebensdauer einzelner Typen immer kürzer wird. Das führt oft dazu, dass die Entwicklungszeiten schrumpfen und die Geräte nicht so zuverlässig sind wie Geräte, die sich lange Zeit im Markt bewährt haben. Aber auch bewährte Standards (etwa technische Normen der Telekommunikation) werden als entwicklungshemmend und damit als Markthindernisse empfunden und außer Kraft gesetzt oder umgangen. Auch dadurch wird Kontingenz geschaffen, einerseits in Form von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit, andererseits durch neue Herausforderungen. 10. Spiele und Simulationen: Auch Spiele bieten die Möglichkeit der Kontingenzerfahrung bei eingeschränktem und kalkulierbarem Risiko. Technisches Spielzeug hat eine Geschichte, die wohl so alt ist, wie die Technik selbst. Sie reicht vom einfachen Baukasten bis zu Lego- und Playmobil-Bausätzen, vom Blechauto mit Federmotor über Modelleisenbahnen zu ferngelenkten Fahr- und Flugzeugmodellen. Völlig neue technische Spiele bietet der Computer mit seinen Möglichkeiten der Simulation. Als Spielgerät tritt er dem Nutzer in einer Situation doppelter Kontingenz als Gegenspieler mit einer undurchschaubaren Strategie gegenüber. Gemeinsam ist allen Spielen das, was ihre Wirkung und Faszination ausmacht, die Vermittlung des Erlebens eigener Tätigkeit. Die dargestellten Beobachtungen zeigen, dass Technik nicht nur als Instrument zur Ausführung fest umrissener Zwecke verstanden werden darf, das unsere Lebenswelt von Kontingenz und Risiko befreit und ihr damit gleichzeitig Erlebnisqualität und somit Lebensqualität systematisch entzieht. Vielmehr wird Technik heute als eine der Hauptquellen des Erlebens von Kontingenz und von Freiheit genutzt und verstanden. 347

4 DINGLICHKEIT UND TECHNIK

Dieser Aspekt von Technik ist keineswegs nur ein Nebeneffekt, in dem das Mittel zum Zweck wird. Vielmehr steht bei vielen technischen Errungenschaften der Gesichtspunkt, neue Handlungsräume und Möglichkeiten zu eröffnen, gleichberechtigt neben dem Gesichtspunkt einer Steigerung der Effizienz. Der Ort, an dem der Nutzer seine Kontingenzerfahrungen macht, ist gegeben durch die Interaktion des Handelnden mit dem individuellen Gerät – durch das Fahren im eigenen Auto, das Testen eines neuen Gerätes, das Abrufen von Informationen aus dem Internet am Computer, aber auch durch das Besteigen eines Flugzeuges oder, falls man die Mittel dafür besitzt, einer Weltraumstation. Der Erfolg der Handlung und gegebenenfalls die eigene Sicherheit des Handelnden sind mit diesem individuellen Gerät verknüpft. Kontingenzerfahrungen durch technisches Handeln sind damit an eine verdinglichte Technik gebunden, wobei allerdings die dinglichen Geräte ihrerseits mit technischen Systemen vernetzt sind. Das Reizwort, das heute individuelle Kontingenzerfahrung in technischen Systemen verheißt, lautet Interaktivität. Durch sie werden dem ‚user‘ über ein Interface-Gerät auch Eingriffe in komplexe und globale Zusammenhänge ermöglicht, wenn auch oft nur in Form von Simulation und Virtualität. Das utopische und spielerische Moment von Technik, wie es Marcuse in dem Motto dieses Abschnitts beschwört, besteht in dem Versprechen, Kontingenzerfahrung bei Vermeidung von Risiko zu bieten, wie es auf ihre Weise auch die Erzählung leistet. Allerdings war und ist ihre Verheißung, dies nicht wie in der Erzählung nur in Form der Fiktion und des emotionalen Nachvollzugs zu ermöglichen, sondern durch zeitliche Aktualität, wie es die Nachrichtenmedien anbieten, durch Interaktivität wie im Falle von Simulation und Virtualität und schließlich auch durch leibliche Präsenz, wie es die modernen privaten und öffentlichen Verkehrs- und Reisetechniken ermöglichen. Die Technik bewegt sich dabei auf dem schmalen Grat, der durch die beiden gegensätzlichen Forderungen nach Kontingenzerzeugung (Präsenz, Abenteuer) bei gleichzeitiger Risikovermeidung (Sicherheit und Funktionalität), gefunden werden muss.

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Bildnachweise Bild 1: Jean Siméon Chardin, Kupferner Wasserspender (um 1734). Aus Marianne Roland Michel, Chardin. Paris Éditions Hazan 1994. Bild 2: Paul Cézanne, Stillleben mit Ingwertopf, Zuckerdose und Äpfeln (1893/94). Aus Götz Adriani, Cézanne Gemälde. Köln Du Mont 1993. Bild 3: Telefone 1900, 1928, 1989 und Mobiltelefon 2004. Aus Christel Jörges, „Telefon und Telefonieren“ in Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. von Kai Buchholz und Klaus Wolbert Darmstadt Häusser.media Verlag 2004

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Edition panta rei Joachim Schickel Der Logos des Spiegels Struktur und Sinn einer spekulativen Metapher (herausgegeben von Hans Heinz Holz) Dezember 2008, ca. 290 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-295-5

Nicole C. Karafyllis Die Phänomenologie des Wachstums Eine Philosophie des produktiven Lebens zwischen Natur und Technik Juli 2008, ca. 720 Seiten, kart., ca. 54,80 €, ISBN: 978-3-89942-722-6

Heinwig Lang Die Individualität der Dinge Kultur-, wissenschaftsund technikphilosophische Perspektiven auf die Bestimmung eines Unbestimmbaren Juli 2008, 362 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-951-0

Andreas Luckner Heidegger und das Denken der Technik Februar 2008, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-840-7

Christoph Hubig Die Kunst des Möglichen II Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik Band 2: Ethik der Technik als provisorische Moral 2007, 266 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-531-4

Christoph Asmuth (Hg.) Transzendentalphilosophie und Person Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung 2007, 532 Seiten, kart., 39,90 €, ISBN: 978-3-89942-691-5

Fabian Scholtes Umweltherrschaft und Freiheit Naturbewertung im Anschluss an Amartya K. Sen 2007, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-737-0

Nikos Psarros Facetten des Menschlichen Reflexionen zum Wesen des Humanen und der Person 2007, 194 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-613-7

Christoph Hubig Die Kunst des Möglichen I Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik Band 1: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität 2006, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-431-7

Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Unbestimmtheitssignaturen der Technik Eine neue Deutung der technisierten Welt 2005, 362 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-351-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240