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German Pages 597 [600] Year 1970
Rolf Hachmann Die Goten und Skandinavien
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Volker
Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Neue Folge Herausgegeben von
Hermann Kunisch Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 34 (158)
Walter de Gruyter & Co vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp.
Berlin 1970
Die Goten und Skandinavien von Rolf Hadimann
Walter de Gruyter & Co vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.
Berlin 1970
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
A r d i i v - N r . 43 30 70 8 © Copyright 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Gösdien'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J . Trübner — Veit & C o m p . — P r i n t e d in G e r m a n y . Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Drude: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin 44
Joachim Werner zum 23.12.1969
Inhalt Vorwort
XI
I. Einleitung
1
II. Probleme der historischen Quellen 1. Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie 15 2. Jordanes — Cassiodorius — Ablabius 35 3. Ablabius und der Autor der Westgotengeschichte 59 4. Zu den Quellen des Ablabius 81 5. Die westgotische Scandza-Tradition 109 6. Die ältesten Nachrichten der Antike über die Wohnsitze der Goten 135 III. Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 1. Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20 Jahrhunderts 145 2. Die Vor- und Frühgeschichtsforschung und die Entwicklung des Bildes von der Entstehung der germanischen Sprachen 182 3. Spuren der Gedankengänge Kossinnas in der neueren Frühmittelalterforschung 212 IV. Probleme der archäologischen Quellen 1. Der bisherige Beitrag der Archäologie zur Herkunft der Goten 2. Die Archäologie und die festländischen Gotensitze 3. Zum Problem des archäologischen Nachweises von Bevölkerungsveränderungen: „Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt 4. Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt 5. Zur Siedlungsgeschichte Skandinaviens in den Jahrhunderten um Christi Geburt 6. Die Entstehung der Masowischen Gruppe und der Ursprung der Goten
221 239 279 328 389 432
V. Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme 451
X
Inhalt
VI. Anhang 1. Jordanes' Anteil an seiner Gotengeschichte 2. Cassiodors Anteil an des Jordanes Gotengeschidite 3. Des Ablabius Anteil an des Jordanes Gotengeschichte . . . . 4. Frühe antike Nachrichten über die Goten 5. Cassiodori Senatoris Variae IX 25 und X 22 6. Liste der Grabfunde der vorrömischen Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit in Masowien und Südmasuren . . . .
475 479 487 498 499 505
a) Eisenzeitlidie Grabhügel „baltischen" Charakters aus Masowien und Südmasuren 505 b) Gräberfelder der Masowischen Gruppe der jüngeren v o r römischen Eisenzeit und der älteren Kaiserzeit 507
VII. Literaturverzeichnis 1. Quellenschriften 2. Geschichte und Kulturgeschichte 3. Germanistik und Alt-Philologie 4. Naturwissenschaften 5. Vor- und Frühgeschichte VIII. Abbildungsnachweise I X . Historisch-philologisches Namenregister X . Archäologisches Namenregister
517 520 530 533 539 565 569 579
Vorwort „Wir sollten vielerörterte, aber nicht zentrale Fragenkreise, . . . , nur dann von neuem aufgreifen, wenn andere und weitere Probleme, vor die der Fortgang der Forschung uns stellt, es fordern, oder neue Erkenntnisse, Hilfsmittel oder Methoden oder wertvoller neuer Stoff ein Weiterkommen versprechen. Was nützen uns all die einzelnen Korrekturen und Konjekturen, deren meiste viel zu unsicher sind, als daß wir auf ihnen fortbauen können, und keine neuen Wege zu öffnen helfen?" Diese treffenden Sätze Hans Kuhns 1 , geschrieben, als die Drucklegung dieses Bandes bereits begonnen hatte, erscheinen dem Verf. wie ein Prüfstein, an dem sidi seine Arbeit wird bewähren müssen. Neuer wertvoller Stoff, neue Hilfsmittel und Methoden und neue Erkenntnisse; das ist sein Postulat. Man wird sehen, ob sich seine Forderung, die so sehr berechtigt erscheint, bestätigt; andernfalls wäre wieder einmal ein Buch vergebens geschrieben. Am 10. Februar 1949 hielt Hermann Bollnow im „Hamburger Vorgeschichtsverein" einen Vortrag über „Germanische Stammessagen unter besonderer Berücksichtigung der Kimbern- und Sachsenfrage". Der Verf. hörte ihn, und dabei oder bald danach wurde wohl der Gedanke geboren, der dann schließlich zu diesem Buch geführt hat. Der Vortrag war im wesentlichen eine Wiederholung von Bollnows Göttinger Antrittsvorlesung — den Interessen des Hamburger Hörerkreises angepaßt". Ein kurzes Gespräch schloß sich an den Vortrag an. Damit war ein Problem gestellt: Eine neuartige, ganz überraschende Interpretation der germanischen Stammessagen aus dem Mund eines Historikers; welche Konsequenzen mußten sich daraus für den Archäologen ergeben? Dieser Gedanke begleitete den Verf. durch die Jahre zwischen 1949 und etwa 1959 in Erwartung der Veröffentlichung von Bollnows neuen Thesen. Im Nachlaß des Frühverstorbenen* fand sich das Manuskript der Göttinger Antrittsvorlesung. Angesichts der Möglichkeit, den so gut wie 1
2
3
H. Kuhn, Besprechung v. N . Wagner, Getica, u. J. Svennung, Jordanes u. Scandia, in: Zeitsdir. f. dt. Altertum u. dt. Literatur 97 (1968) 158. H . Bollnow t . Die Herkunftssagen der germanischen Stämme als Gesdiiditsquelle, in: Balt. Stud. N . F. 54 (1968) 14—25. O. Kunkel, Hermann Bollnow (1906—1952), in: Balt. Stud. N . F. 49 (1962/ 63) 7—11.
XII
Vorwort
druckfertigen Text mit einem archäologischen Kommentar versehen lassen zu können, stellte Frau E. Bollnow 1964 dem Verf. das Manuskript zur Einsicht zur Verfügung. Bei der Arbeit schwoll der „archäologische Anhang" dann unversehens an. Neue historische Quellen „tauchten auf". Es ergaben sich neue Gesichtspunkte. Neue Überlegungen folgten. Unerwartet standen die germanischen „Stammessagen" bald wieder in einem anderen Licht. Aus dem geplanten archäologischen Kommentar wurde nach und nach ein selbständiges Buch mit Ergebnissen, die den Gedanken Bollnows nun in mancher Hinsicht entgegenstehen. Das eine ist aber sicher, und es muß gesagt werden: der Gedanke, dieses Buch zu schreiben, wurde durch den ideenreichen wissenschaftlichen Essay Bollnows ausgelöst. Das Werden des Buches begleiteten hingegen andere mit neuen Anregungen. Dankbar gedenke ich hier der zahlreichen abendlichen Diskussionen mit Thomas Finkenstaedt. Seine schnell hingeworfenen Hinweise führten weiter. Fragen, die in fremde Fachgebiete führten, wurden beantwortet. Einwände klärten den eigenen Standpunkt ab. Zustimmung gab Mut zur Weiterarbeit. Kritik gab Anlaß zu Änderungen im Text. Mit steter Bewunderung denke ich an das kraftvolle Temperament der Argumente Otto Höflers. Seine Anregungen sprudelten. Seine Einwände schienen oft zu erdrücken, aber sie haben doch oft schließlich erst auf den richtigen Wege geführt und gewiß manchen blassen Irrtum noch gerade rechtzeitig verhindert. Sein intuitives Denken sah Zusammenhänge und seine universellen Kenntnisse bewiesen sie, wo Verf. ursprünglich zu deren Dekomposition geneigt war. Weiter waren da die bedachtsamen Erörterungen von Einzelproblemen der Nordistik gemeinsam mit Heinrich Beck, etliche wertvolle Hinweise auf neuere Literatur und gelegentliche enthusiastische Zustimmung von Seiten Friedrich Prinz*. Besonders schätzenswert war die Hilfe Hans Otto Kröners, der als Kenner des späten Lateins Cassiodors Varien X 22 und IX 25 neu übersetzte (vgl. unten S. 501 ff. u. 504 f.). Viele Gedanken fanden erst ihre klare Formulierung in Gesprächen und Diskussionen in vielen Seminarsitzungen im Institut für Vor- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie der Universität des Saarlandes. Manches wurde erst unter dem Zwang einer fünfsemestrigen Vorlesung über die Geschichte der Germanen, insbesondere die der Goten in den Semestern 1965/66, 1966, 1967, 1967/68 und 1968 gründlich durchdacht. Dennoch wäre die Arbeit ohne andere selbstlose Helfer niemals voll gelungen. Frauke Stein half beim Sammeln und Sichten des polnischen Fundstoffes. Sie las das gesamte Manuskript, und sie fand etliche sachliche
Vorwort
XIII
Fehler und manche Denkinkonsequenzen, die dann noch ausgemerzt •werden konnten. Sie stellte das Schrifttumsverzeichnis zusammen und überprüfte in mühsamer und zäher Arbeit alle Zitate; eine Sysiphos-Arbeit! Joachim Reichstein half in germanistischen Fragen und bei Problemen der skandinavischen Siedlungsgeschichte. Klaus Hirschfeld überprüfte alle griechischen und lateinischen Namen und Zitate. Die Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Saarbrücken beschafften unendliche Mengen von Literatur im auswärtigen Leihverkehr, Schrifttum, das oft unerreichbar zu sein schien, aber dann fast ausnahmslos zur Verfügung gestellt werden konnte. Die Reinschrift des Manuskripts fertigten Frau Asta Schemm, Frau Meta Hachmann und Frau Ingeborg Hachmann an. Alle Zeichnungen — Karten wie Abbildungen — wurden nach den verschiedensten Vorlagen durch Walter Ventzke gezeichnet. Frau Asta Sdiemm und Rudolf Poppa lasen die Fahnen- und die Umbruchkorrekturen. Rudolf Poppa stellte gemeinsam mit dem Verf. das Register her. Das Manuskript wurde im März 1969 abgeschlossen, doch wurde neue Literatur systematisch nur bis zum Ende des Jahres 1968 berücksichtigt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellte die Mittel für den Druck zur Verfügung. Die „Gesellschaft der Freunde der Universität des Saarlandes" und die Universität des Saarlandes förderten die redaktionellen Arbeiten durch Zuschüsse.
I. Einleitung „Die Wahrheit mag für G o t t nur eine sein, für den Menschen hat sie viele Seiten. Daher kommt es, daß das Durchdenken einer Anzahl widerstreitender Meinungen nacheinander über dieselbe historische Erscheinung nicht nur einen Zeitvertreib darstellen muß, nodi auch lediglich zu entmutigenden Folgerungen über die Unglaubwürdigkeit der Geschichtsschreibung zu führen braucht. Man kann in allen ihren Betrachtungsweisen ein Stück Wahrheit finden, audi wenn sie einander diametral gegenüberzustehen scheinen. Jede Deutung oder Vorstellung bleibt für sich allein unbefriedigend; aber wird sie auch zugunsten einer anderen aufgegeben, so ist sie deshalb doch nicht ohne Wert gewesen. Etwas davon bleibt bei den Kritikern hängen. D i e Nachfolger sind gewöhnlich ein Stückchen reicher geworden. Man kann die Geschichtsschreibung auffassen als eine Diskussion ohne Ende." Pieter Geyl, 1946 „ M a n k a n n die Geschichtsschreibung auffassen als eine Diskussion ohne E n d e . " D i e Geschichte der G o t e n , eine Diskussion ohne E n d e — so k ö n n t e m a n w o h l auch sagen! U n v e r s e h e n s ist das T h e m a G o t e n w i e d e r aktuell g e w o r d e n , h a t die Diskussion w i e d e r begonnen. R . W e n s k u s sieht die Geschichte der G o t e n im Zusammenhang
mit
dem
Werden
der
frühmittelalterlichen
gentes1.
J . S v e n n u n g b e h a n d e l t erneut die S k a n d i n a v i e n betreffenden K a p i t e l v o n J o r d a n e s G e t i c a 2 . N . W a g n e r legt z u s a m m e n g e f a ß t Einzelstudien z u den G e t i c a v o r 3 . O . H ö f l e r w i r d im R a h m e n seiner Forschungen über das germanische S a k r a l k ö n i g t u m a u f die G o t e n z u r ü c k k o m m e n 4 . I n diesem Buch sollen die G o t e n u n d S k a n d i n a v i e n als „ E x e m p e l historisch-philologisch1
2
3
4
1
R . Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (1961) 4 6 2 — 4 8 5 . J . Svennung, Scadinavia und Scandia. Lateinisch-nordische Namensstudien ( 1 9 6 7 ) ; ders., Jordanes und Scandia. Kritisch-exegetische Studien (1967). N . Wagner, Getica. Untersuchungen zum Leben des Jordanes und zur frühen Geschichte der Goten (1967). O . H ö f l e r gestattete dem Verfasser freundlichst Einblick in den T e x t des K a pitels „Die Amaler als Ansen", seines Germanischen Sakralkönigtums 2, das bereits geraume Zeit im Manuskript fertig vorliegt. H a d i m a n n , Gocen und Skandinavien
Einleitung
2
archäologischer Forschung" betrachtet werden. Tatsächlich, eine Diskussion ohne Ende — wenn sie erst einmal wieder richtig entbrannt sein wird. Zunächst sind alle neu erschienenen Arbeiten noch vornehmlich Monologe. R. Wenskus spricht als Historiker, speziell Mediävist, J. Svennung als Altphilologe, N. Wagner als Altgermanist und O. Höfler wird, Germanistik und Nordistik gleichermaßen überblickend, das Wort ergreifen. Es ist die Konsequenz des Zufalls, daß zwischendurch der Archäologe zu Wort kommt. Auch er führt nur einen Monolog. Seine Arbeit war im Entstehen, als die Wenkus' erschien. So war es möglich, viel von ihr zu profitieren; aber auch Widerspruch meldete sich5. Sie war so gut wie abgeschlossen, als die Arbeiten Svennungs und Wagners erschienen. Meist konnte nur noch in Fußnoten zu ihnen zustimmend oder kritisch Stellung genommen werden. Viel Arbeit hätte sich ersparen lassen, wenn Svennungs Beiträge zum „Goticismus" früher erschienen wären'. Sie brachten wertvolle Ergänzungen, ja eigentlich erst die Abrundung des Kapitels über den Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. unten S. 164 ff.). Wirklich tiefgreifende Änderungen im Manuskript haben nur Gespräche mit O. Höfler zur Folge gehabt. Vorstellungen vom historischen und kulturgeschichtlichen Wert der Amalergenealogie (Jordanes Getica X I V 79—81) erfuhren dadurch einen starken Wandel, der die Endergebnisse dieser Arbeit allerdings nicht unmittelbar berührt. Die Diskussion — noch nicht eigentlich wieder begonnen — wird weitergehen. „Die Geschichte ist unendlich. Sie ist unerfaßbar. Wir machen immer erneute Anstrengungen, aber was wir erreichen, ist nie mehr als u n s e r e V o r s t e l l u n g von der vergangenen Wirklichkeit. . . . Jede Vorstellung wird irgendetwas enthalten, das sich mit der historischen Wahrheit auf eine beinahe unerforschliche Weise vermischt, das sie zwar nicht unwahr zu machen braucht, aber das sie doch verformt zu etwas anderem als der einfachen Wahrheit" 7 . Das ist deprimierend und dennoch tröstlich: Es wird zwar immer irgendwie ein relatives Urteil sein, das der Historiker fällt, aber dennoch — ein Stück der angestrebten absoluten Wahrheit muß zwar nicht, k a n n aber durchaus in seinem Werk enthalten sein. Man weiß wohl niemals richtig, wie groß der Anteil solcher Wahrheit an der eigenen Arbeit wirklich ist — mutmaßlich oft geringer als nach der eigenen Uberzeugung —, aber sie ist immer in irgendeiner Form vorhanden. 5
6 7
R. Hadimann, Besprechung von R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961), in: Hist. Zeitschr. 198 (1964) 663—674. J. Svennung, Zur Geschichte des Goticismus (1967). P. Geyl, Die Diskussion ohne Ende. Auseinandersetzungen mit Historikern (1958) 1.
Einleitung
3
Der Weg, den die Gedanken zurücklegten, die ihren Niederschlag schließlich in diesem Buch fanden, ist lang (vgl. oben S. IX). An ihrem Anfang stand H . Bollnow 8 : Ein Vortrag und ein sehr kurzes Gespräch im Jahre 1949 hinterließen mehr als eine gewisse Unruhe; sie schienen neue Lösungen zu verheißen. Bollnow untersuchte die Herkunftsangaben in den sogen, germanischen Stammessagen 8 *. Er kam dabei zu dem Ergebnis, daß nicht nur die Angaben über kleinasiatische und biblische Herkunft germanischer Stämme, die schon seit dem Humanismus als Fabelei erkannt waren, verworfen werden müßten, sondern daß die Angaben von der Herkunft vieler germanischer Stämme aus dem Norden, aus Skandinavien, durchaus gleichwertig, also ganz falsch wären. Die Herkunft germanischer Stämme aus Scandza — Scadirtavia, ein Topos spätantik-frühmittelalterlicher Geschichtsschreibung, das schien das einleuchtende Ergebnis zu sein. Das mußte ein neues, völlig verändertes Bild von der frühen Geschichte der Germanen ergeben. Die Gedanken, die Bollnow knapp skizziert und ohne eigentlichen wissenschaftlichen Beweis — auch ohne wissenschaftlichen Apparat — gelassen hatte, weiter zu verfolgen, die Beweise zu suchen und die geschichtlichen Konsequenzen zu ziehen, das erschien reizvoll. So begannen die Vorarbeiten zu diesem Buch. Die Lösung der noch offenen Fragen schien anfangs einfach und im Grunde schon vorweg klar. Aber dann zeigte sich bald die Komplexität der Problematik. Der Archäologe mußte vieles — ja, fast alles — anders sehen als der Historiker Bollnow. Nicht genug damit; der Historiker Wenskus sah alles anders als der Historiker Bollnow. Wenskus benutzte das Beispiel der Goten, „um die Vorgänge bei der Bildung eines ostgermanischen Stammes deutlich zu machen" 9 . Er glaubte, auf solche Weise vorgehen zu dürfen, weil bei den Goten die einheimische Wandersage erhalten sei, weil sie Wahrheit enthalte und weil sich auf diese Weise Möglichkeiten ergäben, Vergleiche „mit den Überlieferungen der Stämme im Westen" vorzunehmen. M a n c h e s deute darauf hin, meinte er, daß in der gotischen Wandersage ein historischer Kern enthalten sei. Die von den Goten im Weichselraum um Christi Geburt angetroffenen politisch-ethnischen Verhältnisse entsprächen nämlich durchaus dem, was man über dieses Gebiet aus zeitgenössischen Quellen wisse. Die Behauptung des Jordanes, die Goten seien aus Scandza ausgewandert, sei f ü r seine Zeit ganz untypisch. Es gäbe keine Gründe, die einen Chronisten des 6. Jahrhunderts dazu veranlaßt haben könnten, ent8 8a
9
1»
Vgl. O. Kunkel, Baltisdie Studien N . F. 49 (1962—63) 7—11. N u n m e h r veröffentlicht: H . Bollnow f , Die Herkunftssagen der germanischen Stämme als Geschichtsquelle, in: Baltisdie Studien N . F. 54 (1968) 14—25. R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961) 462 ff.
4
Einleitung
gegen den historischen Tatsachen die Abkunft eines Stammes aus Skandinavien zu behaupten. Daher beruhe die Behauptung des Jordanes „mit recht großer Sicherheit auf Uberlieferungen, die einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen" 10 . Wenskus meinte weiterhin, es gäbe Hinweise dafür, daß Leute aus Gotland bei der Bildung des Stammes der Goten beteiligt gewesen sein müßten 11 . Auf Gotland sei der Ausgangspunkt des gotischen Königshauses und damit der der ethnischen Überlieferung zu suchen. Der Umkreis des Zuzuges, der zu der Stammesbildung im Weichselland wesentlich beigetragen habe, reiche allerdings weiter, mindestens bis nach Västergötland 12 . Sicher sei „an der unteren Weichsel eine einheimische Bevölkerung überlagert worden" 13 . Das gotische Königtum scheine durch die Landnahme an der Weichsel erheblich gestärkt worden zu sein. „Dadurch erhielt es eine Stabilität, die dem Gotenstamm durch ungemein weitgehende Umschichtungen hindurch die Kontinuität der historischen Tradition und damit der ethnischen Existenz sicherte"14. Die vorsichtige Formulierung der Ereignisse zwischen der Landnahme an der Weichsel und dem Weiterzug an das Schwarze Meer, die sich bei Jordanes finde, verrate — meinte Wenskus —, daß „Cassiodor oder Jordanes keine oder widersprechende Königsreihen vorlagen. Man wird aus dem Verhalten der Chronisten schließen dürfen, daß ihnen nicht daran lag, eine lückenlose Reihe von Königen zu konstruieren, was für die Beurteilung anderer Stellen wichtig ist" 15 . Wie immer in solchen Fällen, sei übrigens ein beträchtlicher Teil des Stammes an der unteren Weichsel zurückgeblieben16. Aus ihm hätten sich dann u. a. die Gepiden gebildet. Wie in der gotischen so glaubte Wenskus auch in der langobardischen Wandersage echte Überlieferung von ethnosoziologischer Typik unterscheiden zu können 17 . Die Rechtsgleichungen zwischen skandinavischem und langobardischem Recht seien zwar nicht ausreichend, um die Heimat der Langobarden mit Sicherheit auf Gotland anzusetzen, doch genügten sie seiner Ansicht nach immerhin — und in Verbindung mit ihnen die nordischen Beziehungen im Namengut — als Indizien und als Hinweis auf das Vorhandensein von echter Überlieferung in der Wandersage. „Audi in den Angaben über die Form, in der sich die Auswanderung vollzog", seien glaubhafte Züge festzustellen18. 10 11 12 13 14 15 16 17 18
R. Wenskus, a. a. O. 464. R. Wenskus, a. a. O. 464 ff. R. Wenskus, a. a. O. 466. R. Wenskus, a. a. O. 467. R. Wenskus, a. a. O. 468. R. Wenskus, a. a. O. 468. R. Wenskus, a. a. O. 469. R. Wenskus, a. a. O. 485 ff. bes. 487. R. Wenskus, a. a. O. 486.
Einleitung
5
In beiden Fällen — dem der Goten- und dem der Langobardenüberlieferung — kam Wenskus auf eine spezifische Weise zu seiner Annahme, es müsse ein historischer Kern in den sagenhaften Berichten vorhanden sein: „Um diesen bloßlegen zu können, ist es notwendig, einmal alle jene Elemente auszusondern, die wir . . . als typische Form des ethnischen Selbstverständnisses erkannt haben und die gewöhnlich im Gegensatz zu den ,objektiv' feststellbaren Tatsachen stehen" 19 . Als solche Formen des ethnischen Selbstverständnisses faßte Wenskus u. a. die Vorstellung auf, die Goten seien als geschlossener Stammeskörper in ihre neuen Sitze eingewandert. Ähnlich wertete er die Nachricht, sie seien mit drei Schiffen übers Meer gekommen. Der Nachweis des Vorhandenseins ethnosoziologischer Typik in den Herkunftsberichten germanischer Stämme, wie ihn Wenskus zu führen versuchte, ist neu; er enthält mancherlei, was überzeugt. Ebenso neu ist sein Versuch, die verschiedenen Aspekte des Stammesbegriffs herauszustellen 20 und die Variabilität der Stammesstrukturen zu betonen 21 ; hier scheint sich die Bedeutung seiner Arbeit ganz besonders klar zu zeigen. Konventionell bleibt die Behandlung der historischen Quellen und damit auch die Beurteilung des historischen Werts der „Herkunftssagen". Unbefriedigend ist für den Archäologen insbesondere die Verwendung von archäologischen Quellen und von deren Auswertung — auch wenn diese von Archäologen stammt. Hier stellen sich zwei methodische Probleme — nicht neu, keineswegs erstmals —, über die man aber nun nicht mehr einfach hinweggehen darf. Ein Blick zurück auf die ältere Geschichtsforschung des 20. und die alte des 19. Jahrhunderts verhilft für das erste Problem zu einer vorläufigen Klärung: Eine gewisse Tendenz, sich über die kühle und „phantasielose" Arbeitsweise der Historiker des 19. Jahrhunderts zu erheben, ist in der neueren Geschichtsforschung schon seit der Jahrhundertwende bemerkbar, und diese ist nach und nach immer deutlicher geworden. Diese Tendenz hatte eine — vielleicht ursprünglich nicht beabsichtigte — Nebenwirkung: Die durch die deutsche historische Schule begründete und insbesondere von J . G. Droysen 22 — auch von E. Bernheim 23 — so ein19 20 21 22
23
R. Wenskus, a. a. O. 463. R . Wenskus, a. a. O. 14 ff. R . Wenskus, a. a. O. 429 ff. J . G. Droysen, Grundriß der Historik (1868, 2 1875, 3 1 8 8 2 ) ; als Manuskript erstmals 1858, dann erneut 1862 gedruckt; ders., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (1936, unv. Neuaufl. 1943 u. 1958). E . Bernheim, Lehrbuch d. historischen Methode (1889, 2 1894, 3 - 4 1903, 5 -«1908). — Von der dritten Auflage an veränderter Titel: Lehrbuch d. Hist. Methode u. d. Gesdiichtsphilosophie.
6
Einleitung
dringlich dargestellte quellenkundliche Systematik war nach und nach so selbstverständlich geworden, daß man sie immer öfter anzuwenden vergaß, ohne es recht zu merken. Oder wollte man die methodischen Probleme gar nicht mehr so sehen? Wie umfangreich das Schrifttum der „klassischen" Zeit deutscher Historiographie gerade zur Gotengeschichte24 und auch das zur Langobardengeschichte25 ist, wird erst bei diesem Rückblick 24
J. K . F. Manso, Geschichte d. ostgot. Reichs i. Italien (1824); J. Aschbach, Geschichte d. Westgoten (1827); H . v. Sybel, D e fontibus libri Jordanis de origine actuque G e t a r u m (Diss. Berlin 1838); ders., Die Entstehung d. dt. Königtums (1844, 2 1881); C. Schirren, De ratione quae inter J o r d a n e m et Cassiodorium intercedat commentatio (Diss. D o r p a t 1858); dazu Besprechung v. A. v. Gutschmid, in: Jahrbücher f. class. Philologie 8 (1862) 124—151 ( = Kleine Schriften 5 [1894] 293—336); A. Helfferidi, Entstehung u. Geschichte d. Westgotenrechts (1858); R . Köpke, Die Anfänge d. Königthums b. d. Gothen (1859); R . Pallmann, Die Geschichte d. Völkerwanderung v. d. Gotenbekehrung b. z. T o d Alarichs, 2 Bde. (1863—64); J. Grimm, Über Jornandes u. d. Geten, in: Kleine Schriften 3 (1866) 171—235; A. Thorbecke, Cassiodorus Senator (1872); A. Franz, Cassiodorus Senator (1872); F. D a h n , Lex Visigothorum. Westgotische Studien (1874); H . Kohl, Zehn Jahre ostgotischer Geschichte v. Tode Theoderichs d. Gr. b. z. Erhebung Witigis (1877); H . Usener, Anecdoton Holderi. Ein Beitrag z. Geschichte Roms i. ostgotischer Zeit (1877); Th. Mommsen, Jordanis R o m a n a et Getica, i n : Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882); dazu Besprechung v. C. Schirren, i n : Deutsche Litteraturzeitung 3 (1882) Sp. 1420—1424; Besprechung v. W. A . [ r n d t ] , in: Literarisches Centralblatt f. Deutschland 1883, Sp. 1060—1063; Besprechung von L. E r h a r d t , in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 2 (1886) 669—708; G. K a u f mann, Kritische Untersuchungen d. Quellen z. Geschichte Ulfilas, in: Zeitschr. f. dt. Altertum 27 (1883) 193—261; T h . Mommsen, Ostgotische Studien, in: N . Archiv f. ältere dt. Geschichtskunde 14 (1889) 225—249. 453—544; 15 (1890) 181—186; B. R a p p a p o r t , Die Einfälle d. Goten ins römische Reich bis auf Constantin (1899). — Neueres Schrifttum: C. Vetter, Die Ostgoten u. Theoderidi (1938); W. Ensslin, Theoderich d. G r o ß e (1947, 2 1959); P. Scardigli, Lingua e Storia dei Goti (1964); C. A. Mastrelli, Süll' Origine e sul N o m e dei Visigoti, in: Archivio Glottologico Italiano 49, 2 (1964) 127—142.
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L. Bethmann, Die Geschichtsschreibung d. Langobarden, in: Archiv d. Gesellschaft f. ältere dt. Geschichtskunde 10 (1851) 335—414; S. Abel, D e r U n t e r gang d. Langobardenreichs i. Italien (1858); Fr. Bluhme, Die gens Langobardorum u. ihre H e r k u n f t (1868); F. D a h n , Des Paulus Diaconus Leben u. Schriften (1876); R . Jacobi, Die Quellen d. Langobardengeschichte d. P a u lus Diaconus (1877); L. Bethmann, G. Waitz u. O . Holder-Egger, Scriptores Rerum Langobardicarum et Italiacarum saec. V I — I X , in: Mon. Germ. Hist. (1878); Th. Mommsen, Die Quellen d. Langobardengeschichte d. Paulus D i a conus, in: N . Archiv d. Gesellschaft f. ältere dt. Geschichtskunde 5 (1880) 53—103; L. Schmidt, Zur Geschichte d. Langobarden (1885); L. Schmidt, P a u lus Diaconus u. d. Origo gentis Langobardorum, in: N . Archiv d. Gesellschaft f. ältere dt. Geschichtskunde 13 (1888) 391—394; G. Waitz, Zur Frage n. d. Quellen d. Historia Langobardorum, in: N . Archiv d. Gesellschaft f. ältere dt.
Einleitung
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klar. War diese Literatur zu positivistisch eingestellt und deswegen für die, welche den Positivismus „überwunden" zu haben glaubten, etwa anrüchig geworden 2 '? Was hat das 19. Jahrhundert aber wirklich geleistet? War das für die Gotengeschichte wenig? Schon früh wurde verschiedentlich der Versuch gemacht, in der Gotengeschichte des Jordanes die verschiedenen Bearbeitungsschichten zu trennen und die Anteile der einzelnen Autoren gegeneinander abzusetzen. Zugegeben, keiner dieser Versuche hatte durchschlagenden Erfolg; die, welche vor Th. Mommsens Textedition unternommen wurden, nicht zuletzt deswegen, weil zu ihrer Zeit eine verläßliche Textausgabe noch fehlte 2 '; die Edition Mommsens selbst28, weil sie sich vornehmlich auf die Herstellung eines reinen Textes richtete und es bei einer Anzahl von Hinweisen auf die Struktur der Quellen beließ. Diese Verweise sind zwar meist treffend und erbrachten älteren Arbeiten gegenüber ganz beträchtliche Fortschritte, doch lag es von vornherein nicht in Mommsens Absicht, die Genesis des Textes bis in alle Einzelheiten und abschließend zu klären. Hier wäre der richtige Ansatz gewesen, um einen besseren Stand quellenkritischer Durcharbeitung zu erreichen, der gegenwärtig zweifellos ebenso möglich ist, wie er zur Zeit Mommsens schon möglich gewesen wäre. Inzwischen hat man leider ganz übersehen, daß Mommsen nur e d i e r e n wollte. In der Frage der Quellenkritik standen Bollnow und Wenskus gleich; keiner von beiden hat sich auf direktem Wege um die Glaubwürdigkeit der Quellen bemüht. Wie stand es aber mit dem Einbeziehen archäologischer Quellen? Bollnow hatte — wohl bewußt — darauf verzichtet; Wenskus hingegen hatte auf fast alle archäologische Literatur zum Thema ausgegriffen. Wie war sein Vorgehen? Zu Folgerungen und Ergebnissen kam er nicht in erster Linie auf Grund von eingehenden Quellenanalysen, sondern mehr durch gegenseitiges Abwägen von Meinungen über die Quellen Geschichtskunde 5 (1880) 4 1 5 — 4 2 4 ; E. Bernheini, Über d. Origo gentis Langobardorum, in: N. Archiv d. Gesellschaft f. ältere dt. Geschiditskunde 21 (1896) 375—399; C. Blasel, Die Wanderzüge d. Langobarden (1909). 26
In Wenskus' Schriftenverzeichnis findet man diese Literatur nur zum Teil zitiert; man hat nicht den Eindruck, daß er ihren Wert besonders hoch einschätzt.
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C. A . Closs, Jordanis de Getarum sive Gothorum origine et rebus gestis ( 1 8 6 1 ) ; A . Holder, Jordanis de origine actibusque Getarum (1882). — Zur Geschichte der f ü r die Mon. Germ. Hist. vorgesehenen textkritisdien Ausgabe vgl. A . von Gutschmidt, in: Literarisches Centraiblatt 12 (1861) 6 1 2 — 6 1 4 ( = Kleine Schriften 5 [1894] 288—292).
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Th. Mommsen, Jordanis Romana et Getica, in: Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882).
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bzw. deren Aussagewert. Dabei kümmerte er sich oft wenig um die Art und Weise und die Qualität der Beweisführung seiner Gewährsleute. Er betonte — um nur ein paar Beispiele zu nennen —, daß B. Nerman — also ein Vorgeschichtsforscher — gegen die Herkunft der Goten von der Insel Gotland eingewandt habe, Könige habe es hier niemals gegeben 2 '. Wenskus fragte nicht nach detaillierten Beweisen Nermans für dessen Behauptung — die dieser natürlich nicht dem archäologischen Fundgut entnehmen konnte, sondern aus den Sagas und Ortsnamenvergleichen 30 —; offenbar genügte ihm das Zeugnis eines angesehenen Gelehrten. Im übrigen folgerte er aber sofort, daß das Fehlen von Königen auf Gotland „gerade umgekehrt als Hinweis für eine gotländische Heimat des Traditionskerns [der Goten] benutzt werden" könnte 31 . „Den auf der Insel verbliebenen Goten fehlte allem Anschein nach die Möglichkeit, im eigenen Lande ein neues Königtum zu errichten,.. ." 32 . „Möglicherweise ließ die Königssippe die gotländische Heimat nun ohne König zurück" 33 . Wenskus räumte ein, die von O. Höfler unterstützte These C. Marstranders, die Bewohner Gotlands hätten bis ins 6. Jahrhundert gotisch gesprochen, brauche „nicht in vollem Umfange" zuzutreffen 34 , ohne darauf einzugehen, warum. Sprachliche Übereinstimmungen, die E. Schwarz vergeblich zu entwerten versuchte — H . Brinkmann nannte er als Zeugen dafür — deuten nach Wenskus deswegen darauf, den Ausgangspunkt des gotischen Königshauses auf Gotland zu suchen35. Er betonte weiter, „daß die Traditionskerne der Eroberer- und Wandervölker sich selten im Landnahmegebiet archäologisch erfassen lassen" 38 und zitierte als Zeugen dafür M. Jahn, R. von Uslar und H. J. Eggers 37 , sowie O. Menghin, G. Kossinna und K. Bittel 38 , obwohl keiner dieser Gelehrten den Begriff „Traditionskern" kannte, als er das schrieb, worauf Wenskus Bezug nahm. Er wies — um ein anderes Beispiel zu nennen — weiter darauf hin, E. C. G. Graf Oxenstierna scheine es doch wohl gelungen zu sein, den „Umkreis des Zuzuges" zu erfassen, „der bei der Stam29 30
31 32 33 34 35 38 37 38
R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 323 u. 465 f. Vgl. B. Nerman, Die Herkunft u. frühesten Auswanderungen d. Germanen (1924) 49. R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 323 u. 465 f. R. Wenskus, a. a. O. 323. R. R. R. R.
Wenskus, Wenskus, Wenskus, Wenskus,
a.a.O. a. a. O. a. a. O. a. a. O.
411. 466. 466. 466.
R. Wenskus, a. a. O. 138 Anm. 108. R. Wenskus, a. a. O. 390 f.
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mesbildung [der Goten] im Weichselland beteiligt war" 3 9 . Zugleich anerkannte er aber auch die Berechtigung von Kritik an der Arbeitsweise Oxenstiernas. Wenskus sprach weiter von der „Verreiterung" der Goten, zitierte F. Altheim als Zeugen, daß nunmehr [wohl im 4. Jahrhundert] Kettenhemd und Schuppenpanzer die Bewaffnung ergänzt hätten 40 . Dabei war das Kettenhemd im germanischen Raum schon vor Christi Geburt ebenso bekannt wie der berittene Krieger 41 . E r nannte G. MüllerKuales als Zeugen, daß die Goten im Reiche des Hermanarich wesentlich eine berittene Herrenschicht bildeten 42 , was dieser gewiß nicht den archäologischen Quellen, sondern nur einer etwas phantasievollen Ausdeutung des Jordanes entnommen gehabt haben kann 43 und stattete schließlich auch sein zweites Beispiel einer „Stammesbildung während der Wanderung" — die der Langobarden — mit Zitaten von Meinungen von Prähistorikern aus, ohne das Fundament von deren Ansichten eingehend zu analysieren 44 . Dem Archäologen muß diese Art des Vorgehens ganz besonders auffallen, denn er kann allzu oft ziemlich genau übersehen, auf welchem Wege und auf welche Weise man in der Vergangenheit in der Vorgeschichtsforschung zur Meinungsbildung gekommen ist. D a stand Richtiges neben evident Falschem, und da wurden nun „Beweise" aus der vorgeschichtlichen Literatur übernommen, wo sie sich gerade eben finden ließen. Die Frage nach dem Quellenwert der archäologischen Quelle wurde rücksichts39 40 41
42 43
44
R . Wenskus, a. a. O. 467. R . Wenskus, a. a. O. 469. Vgl. M. Jahn, Die Bewaffnung d. Germanen i. d. älteren Eisenzeit etwa v. 700 v. Chr. b. 200 n. Chr. (1916) 208 ff.; J . Kostrzewski. Die ostgerm. Kultur d. Spätlatenezeit 1 (1919) 139; G. Rosenberg, Hjortspringfundet, in: Nordiske Fortidsminder III, 1 (1937) 47 f. R . Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 471 Anm. 256. G. Müller-Kuales, Die Goten, in: H . Reinerth [ H r g . ] , Vorgeschichte d. dt. Stämme 3. Ostgermanen u. Nordgermanen (1940) 1166 ist eine stark verkürzte Inhaltsangabe der Gotengeschichte des Jordanes. Es heißt dort: „Die Goten bildeten eine Herrenschicht, die nicht dicht, sondern verstreut saß." — S. 1167 betont Müller-Kuales: „Sachgemäße [archäologische] Untersuchungen sind in Südrußland nur wenige gemacht worden." Irrtümlich zählt er M. Eberts Funde von Maritzyn zum gotischen Fundgut (vgl. M. Ebert, Ausgrabungen auf dem Gute Maritzyn, Gouvernement Cherson, in: Prähist. Zeitschrift 5 [1913] 1—80). R . Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) zitiert S. 487 W . D. Asmus' Ansicht, die Jastorf-Kultur Osthannovers sei bereits langobardisdi und alsbald R . von Uslar als Zeugen dafür, daß diese Annahme ganz unsicher erscheine und nennt S. 488 Anm. 385 F. Kuchenbudi, G. Körner, W . Wegewitz und R. von Uslar, S. 490 H . Jankuhn, S. 491 E . Beninger, J . Poulik, H . Preidel u. H . Mitscha-Märheim mit teilweise höchst widersprüchlichen Ansichten, denen er nicht auf den Grund ging.
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los zurückgestellt gegenüber der nach der Brauchbarkeit und Nützlichkeit der Quelleninterpretation. Und noch eines mußte auffallen: Den philologischen Quellen widerfuhr bei Wenskus dasselbe Schicksal wie den archäologischen. Aber ein Blick auf die germanistische Literatur zeigte, daß dort dasselbe Verfahren schon längst absolut üblich war. Sprachgeschichtliche Thesen werden seit langem mit archäologischen Scheinbeweisen untermauert. Und in der Archäologie war es schließlich im Prinzip nicht anders; die historische oder philologische Quelle bzw. deren Auswertung brachte manch einen bequemen „Beweis" für willkommene Deutungen archäologischer Befunde. Wie anders hätte man aber verfahren sollen? Die Schwierigkeit der Situation wurde beim Prüfen der Zeugnisse der verschiedenen Wissenschaften und bei der Betrachtung von deren Verwendung in den Nachbarwissenschaften erst richtig klar. Welcher Historiker kennt denn noch die Methoden der Archäologie in ihrer vollen Breite und versteht es, die mit deren Hilfe erzielten Ergebnisse nicht nur kritisch zu beurteilen, sondern auch sinnvoll zu verwenden? Umgekehrt, welcher Archäologe beherrscht alle Methoden des Historikers, übersieht den Forschungsstand in den Geschichtswissenschaften in seinem ganzen Umfange und hat ein sicheres Urteil über die Ergebnisse der Geschichtsforschung mindestens im Nachbarbereich der Archäologie? Welcher Historiker und welcher Archäologe übersehen zudem mit sicherem, kritischem Blick alles das, was die Germanistik für die Frühgeschichte der Germanen beigetragen hat oder beizutragen vermöchte, und welcher Germanist ist nicht nur im eigenen Fachgebiet, sondern auch in dem des Historikers oder dem des Archäologen soweit zu Hause, daß er selbständig urteilen kann. Die Einheit dieser Wissenschaften — längst im vorigen Jahrhundert verloren — müßte wiederhergestellt werden, kann aber — so scheint es jedenfalls — nicht wiedergewonnen werden. Zudem: die Sicherheit der Methoden — in der Epoche des Positivismus mühevoll errungen — ist längst verlorengegangen. Kann sie wiedererlangt werden? Die Situation erscheint in der T a t fast ausweglos, und es sieht manchmal aus, als könne sie nur noch verzweifelter werden. Wissenschaftliche Selbstgerechtigkeit und unbewußte Selbsttäuschung spiegeln eine scheinbare Sicherheit vor, und der Weg des Spezialisten und der der fortgesetzten Differenzierung der Fächer in Spezialwissenschaften sind kein Ausweg, sondern eine Sackgasse. Aber sollte es nicht doch noch einen Ausweg geben in dieser ausweglosen Situation? An die Stelle der enzyklopädischen bzw. universalhistorisch orientierten Betrachtung müßte — wenigstens zeitweise — die exemplarische Untersuchung gestellt werden. Wenn es heute kaum noch möglich
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zu sein scheint, den Gesamtkomplex der frühgermanischen Geschichte zu überblicken, zu analysieren und daraus ein umfassendes Gesamtbild zu entwerfen, so bleibt immer noch der Weg, ein einzelnes Problem von zentraler Bedeutung zu untersuchen. Wenn es sich als fast unmöglich erweist, die Genesis aller germanischen Stämme und deren frühe Geschichte zu überblicken, dann schließt das nicht die Möglichkeit aus, unter Verwendung archäologischer, literarischer und philologischer Quellen wenigstens den Ursprung und die frühe Geschichte e i n e s germanischen Stammes zu untersuchen, gewissermaßen als Exempel für andere Gruppen. Es mag vergleichsweise belanglos sein, w e r solchen Versuch unternimmt, der Historiker, der Archäologe oder der Philologe. Natürlich steht der Gelehrte eines jeden dieser Fachgebiete einer besonderen für sein Fach bezeichnenden Ausgangssituation gegenüber und selbst, wenn es sich um ein und dieselbe Themenstellung handelt, stellen sich die Einzelprobleme verschieden dar, je nachdem, ob der Historiker, der Archäologe oder der Philologe sie betrachtet. Sie treten in verschiedener Reihenfolge auf. Der Fachwissenschaftler kann — je nachdem, woher er kommt — auf verschiedene Weise an sie herantreten. Dementsprechend können die vorgeschlagenen Lösungen unterschiedliche Akzente haben. Eines dürfte jedoch ziemlich sicher sein: Der Grad der Schwierigkeit, ein derartiges Exempel zu behandeln, und die Aussichten, zu einer brauchbaren Lösung zu kommen, sind unabhängig von dem Fachgebiet, von dem der Ausgang genommen wird. Die Schwierigkeiten sind für den Historiker, den Philologen und den Archäologen im Prinzip gleich groß. Eines allerdings muß klar sein: Jede „gemischte" Argumentation muß selbst bei exemplarischem Vorgehen zu einem im ganzen unbrauchbaren Ergebnis führen! Der Archäologe muß wissen, daß er seine Quellen nur mit den ihnen adäquaten Methoden bearbeiten darf. Er muß ferner wissen, daß bei der Auswertung archäologischer Quellen nur „archäologische" Argumente gelten dürfen. Wehe dem Archäologen, der vorschnell nach der Geschichtsforschung oder nach der Germanistik schielt und dort seine Beweise finden möchte. Aber ebenso muß der Historiker wissen, daß seine Quellen, will er sie auswerten, ihre eigenen Methoden verlangen. Wehe dem Historiker, der mangels geeigneter historischer „Beweise" nach der Archäologie greift und sich dort seine Argumente sucht. Er ist verloren, und es muß ihm ganz ebenso ergehen, wenn er in den Bereich der Germanistik ausgreift. Genauso schließlich muß der Philologe wissen, daß seine Quellen ihre spezifischen Methoden beanspruchen. Wehe dem Germanisten, der sich seine Beweise beim Archäologen oder beim Historiker holen möchte, wo sie nie sein können.
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Wie Wenskus richtig erkannt hat, präsentiert sich für jeden, der sich mit dem Ursprung und der frühesten Geschichte der Germanen oder auch eines einzelnen germanischen Stammes zu beschäftigen beabsichtigt, der Stamm der Goten als das mit Abstand geeignetste Exempel. Allerdings — Wenskus' Begründung kann man nicht anerkennen. Er wählte die Goten hauptsächlich deswegen, „weil hier die einheimische Wandersage erhalten ist" 45 . Das müßte erst noch genauer überprüft werden, und erst post festum wird sich zeigen, ob eine solche Begründung berechtigt ist. Besser ist eine andere Begründung, auf deren Richtigkeit man sich von vornherein verlassen kann: Die Goten sind d i e germanische Stammesgruppe, deren „Geschichte" am frühesten niedergeschrieben wurde. Das gibt diesen Aufzeichnungen ihren besonderen Wert: Der bzw. die Verfasser der Gotengeschichte müssen den Ereignissen, von denen sie berichten, näher gestanden haben als die Autoren anderer Stammesgeschichten. Von diesen kann die Gotengeschichte deswegen weder direkt noch indirekt abhängig sein. Am Anfang der Getica des Jordanes steht die Nachricht von der Herkunft der Goten aus Scandza. Sie wird danach noch mehrfach wiederholt. Daß Scandza mit Skandinavien identisch sei, wurde noch niemals in Frage gestellt. Die ältere römische Ethnographie kannte die Goten hingegen nur auf dem Festlande. Lediglich Ptolemaios wußte von den Tofitai auf den skandinavischen Inseln, und erst Prokopios nannte Tou-toi als Bewohner von ©otiXi], einer „Insel", deren Identität mit Skandinavien nicht zu bezweifeln ist. Die verschiedenen Namensformen in einen sicheren Zusammenhang zu bringen, macht noch heute Schwierigkeiten. Was steht aber hinter den Namen? Ist alles e i n Stamm oder sind geringfügige Namensunterschiede schon für Stammesunterschiede signifikant? Was ist ein Stamm, und wie läßt sich schließlich alles in einen sinnvollen historischen Zusammenhang einfügen? Alles bleibt vage! Nur die Tatsache, daß irgendwann Goten im Norden siedelten, ist sicher. Ins helle Licht der Geschichte traten Goten erst Jahrhunderte später und an anderer Stelle. Die Zwischenzeit bleibt dunkel. Aber waren es dieselben Goten bzw. die Nachfahren der anderen, die am Schwarzen Meer auftauchten? Audi die Goten nördlich des Pontus geben genügend Rätsel auf. Wo sind die Goten im Norden archäologisch nachweisbar, im Weichselmündungsgebiet? Und welches sind ihre archäologischen Hinterlassenschaften in Südrußland und auf dem Balkan? Erst in Italien und in Spa45
R . Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 462.
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nien selbst werden sie besser faßbar 4 '. Von wo aus sollte man das Problem der frühgotischen Geschichte aufrollen, von Italien, von Südrußland oder von Norden her? Jeder Weg für sich hätte seine Vorteile. Der letztgenannte wohl vor allem den, daß er in Zeiten und Räume führt, deren archäologisches Fundgut verhältnismäßig gut bekannt ist. Für den Archäologen ist es deswegen leicht, sich für ihn zu entscheiden. Er wählt ihn und untersucht das Problem der Goten und Skandinavien. Er nimmt dabei allerdings die nicht geringe Mühe auf sich, die auf den Norden bezogenen Nachrichten über die Goten — insbesondere die des Jordanes in seinen Getica — auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchen zu müssen. Er nimmt das Wagnis auf sich, sich ein Urteil von der Brauchbarkeit historischer Anhaltspunkte über die Herkunft zu bilden, zu prüfen, was die Philologie von der Heimat der Goten sagt, und kann danach erst zu dem Gebiet kommen, in dem er sich zu Hause fühlt. Die Warnung vor einer „gemischten" Argumentation fordert methodisch ein bestimmtes Vorgehen. Das muß sich auch in der Darstellung abzeichnen. Dies Buch hat gewissermaßen vier Teile. Drei davon stehen voneinander weitgehend — wenn auch nicht vollständig — isoliert, m ü s s e n so stehen; ein historischer, ein philologischer und ein archäologischer Teil. Die Teile behandeln naturgemäß die drei Problembereiche in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Sichtlich stehen rein sprachwissenschaftliche Fragen ganz im Hintergrund der Betrachtungen. Das schließt nicht aus, daß sie sich für den Leser — sofern er Germanist ist — unwillkürlich in den Vordergrund drängen könnten 47 . Ein vierter Teil ist mit jedem der drei ande-
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Vgl. N . Äberg, Die Goten u. Langobarden in Italien ( 1 9 2 3 ) ; V. Viale, Recenti ritrovamenti archeologici a Vercelli e nel Vercellese. II tesoro di Desana, in: Bolletino Storico-Bibliografico Subalpino 43 (1941) 1 4 4 — 1 6 6 ; S. Fuchs, Kunst d. Ostgotenzeit ( 1 9 4 4 ) ; M. Degani, II tesoro romano barbarico di Reggio Emilia con un commento lingüístico e storico culturale di C. A. Mastrelli e una prefazione di J . Werner ( 1 9 5 9 ) ; G. Annibaldi u. J . Werner, Ostgotische Grabfunde aus Acquasanta, Prov. Ascoli Piceno (Marche), in: Germania 41 (1963) 3 5 6 — 3 7 3 ; N . Äberg, Die Franken u. Westgoten i. d. Völkerwanderungszeit (1922); H . Zeiss, Die Grabfunde a. d. spanischen Westgotenreich ( 1 9 3 4 ) ; A. Molinero Perez, L a Necrópolis Visigoda de Duraton (Segovia). Excavaciones del Plan Nacional de 1942 y 1943 ( 1 9 4 8 ) ; A. Götze, Gotische Schnallen (1907); G. Müller-Kuales, Die Goten, in: H . Reinerth [ H r g . ] , Vorgeschichte d. dt. Stämme 3 (1940) 1149—1274.
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Rein philologisch-linguistische Probleme stehen außerhalb der Thematik des Buches. Es handelt sich nur darum, aus sprachlichen Anhaltspunkten Aufschluß über die Herkunft der Sprache der Goten zu erlangen. Der philologische Teil des Buches beschränkt sich daher im wesentlichen auf einen Überblick über die Forschungsgeschichte, der die verhängnisvolle Verflechtung von Germanistik und Archäologie zeigt.
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ren Teile verbunden, vergleichsweise sogar eng. Er stellt als Versuch einer Synthese von Geschichte, Philologie und Archäologie eine Art von methodischem Überbau über diese drei Teile dar. Erst hier ist es dem Fachwissenschaftler gestattet, zum Nachbarfach zu blicken; nicht nur gestattet, er ist dazu verpflichtet. Hier d a r f er nicht nur die Teilergebnisse gemeinsam interpretieren; hier s o l l er es!
IL Probleme der historischen Quellen „Alle Quellen, wie gut oder schlecht sie sein mögen, sind Auffassungen von Geschehnissen, mag die Auffassung den Geschehnissen unmittelbar gegenüber entstanden, mag sie aus einer Menge solcher unmittelbaren und ersten Auffassungen zusammengefaßt sein, mag ein Späterer aus den mündlichen Erzählungen der zweiten, dritten Generation oder nach Jahrhunderten ein Schriftsteller aus den schriftlichen Quellen, die er zur Hand hatte, eine Auffassung sich gebildet und niedergeschrieben haben. Da es sich hier überall um dasselbe, um Auffassungen von Geschehnissen handelt, so ist die Frage der Kritik hier wesentlich immer wieder: wie richtig, d. h. den Geschehnissen entsprechend, die Auffassung in dem gegebenen Fall ist oder sein kann." Johann Gustav Droysen, 1881.
1. Der Scandza-Topos
der frühmittelalterlichen
Historiographie
Des Jordanes1 Buch De origine actibusque Getarum nimmt wegen seines Alters für das Problem der germanischen Stammessagen und insbesondere für ein Urteil über die Nachricht, die Goten und andere germanische Stämme seien aus dem fernen skandinavischen Norden eingewandert, eine Schlüsselstellung ein. Mit Hilfe seines Werks ist es möglich, manche wichtigen Einzelheiten verständlicher zu machen, die zwar im einzelnen schon lange bekannt, bisher jedoch entweder kaum beachtet oder selten im Zusammenhang gesehen worden sind. In einzelnen Fällen ermöglicht seine Gotengeschichte es sogar, zu neuen Einsichten zu gelangen. Die Nachwirkungen seines Werks, die dadurch zustande kamen, daß sein Buch oder Auszüge daraus durch die Hände vieler Abschreiber und Kompilatoren gingen, spiegeln eine Bedeutung dieses Mannes vor, die er 1
Th. Mommsen sdirieb Jordanes, obwohl nur die Form Jordanis belegt ist, denn Jordanes ist die grammatisch richtige Form; vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) V. Dazu: Wattenbach-Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 1. W. Levison, Die Vorzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d. Karolinger (1952) 75 f. — Für andere Personen desselben Namens sind die Formen Jordanes, Jordannes und Jordanus belegt. Vgl. M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- u. Völkernamen (1911) 148.
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Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
in Wirklichkeit niemals besaß. Ohne eigenen Beitrag wuchs sein Ansehen in der Nachwelt, und ohne sein Zutun prägte sich ein Geschichtsmodell, das sich weitverzweigt fortenwickelte. Er, der doch selbst nur ein armseliger Abschreiber und Epitomator war 2 , wurde unversehens zum sapientissimus und sagacissimus
chronographus3.
Des Jordanes Niederschrift vom Ursprung und den Taten der Goten war das ganze Mittelalter hindurch bekannt, wie sich Bibliotheksverzeidinissen entnehmen läßt 4 , und sie ist nicht selten benutzt und ausgeschrieben worden 5 . Die Grundlage seiner Arbeit, die „Zwölf Bücher gotischer Geschichte", die Cassiodor vielleicht noch im Auftrage des Theoderich wahrscheinlich zwischen 5 2 6 und 533 6 verfaßte, gingen vermutlich sdion bald, nachdem sie Jordanes ausgeliehen und ausgeschrieben hatte, endgültig verloren. In keinem der mittelalterlichen Bibliothekskataloge werden sie erwähnt. Wahrscheinlich waren sie anders als die übrigen Werke des Cassiodor nur in wenigen Abschriften — oder gar keiner — verbreitet, jedenfalls auch dort nicht mehrfach vorhanden und nicht einmal leicht er-
2
Vgl. Th. von Grienberger, Die Vorfahren d. Jordanis, in: Germania. Vierteljahrsschr. f. dt. Alterthumskunde 34 (1889) 406—409; J . Friedrich, Über die kontroversen Fragen im Leben d. gotischen Geschichtsschreibers Jordanes, in: Sitzungsber. d. philos.-philol. u. hist. Klasse d. K. B. Akademie d. Wissenschaften zu München 1907 (1908) 379—442; A. Kappelmacher, Artikel „Jordanes", in: Pauly-Wissowa-Kroll, Realenzyklopädie I X , 2 (1916) Sp. 1908 bis 1929. — Gegen die Annahme, Jordanes sei Gote gewesen, neuerdings: Fr. Altheim, Gesch. d. Hunnen 5 (1962) 25 ff. mit gewagten Namensetymologien. — Vgl. nunmehr auch zur Frage der Herkunft des Jordanes N. Wagner, Getica. Untersuchungen z. Leben d. Jordanes u. z. frühen Gesch. d. Goten (1967) 4 ff.
3
Vgl. Ravennatis Anonymi Cosmographia ed. M. Pinder und G. Parthey (1860) 221 u. 422.
* Vgl. M. Manitius, Gesch. d. lat. Literatur d. Mittelalters I, in: I. von Müllers Handbuch d. Klass. Altertumswissenschaft I X , 2 (1911) 214; ders. ausführlicher in: Neues Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschichtskunde 32 (1907) 651 f. 5
Knappe Übersicht über die mittelalterlichen Autoren, die des Jordanes Schriften benutzten, bei: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) X L I V f . u. Anm. 85; J. Svennung, Zur Geschichte d. Goticismus (1967) 26 ff.
6
Dies der Ansatz Mommsens, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) X L I . — Die Vollendung des Werks zu Lebzeiten des Athalarich, der 533 starb, ergibt sich aus Cassiodor Variae I X 25. — Es spricht vieles dafür, daß fast alles erst niedergeschrieben wurde, als Theoderich bereits gestorben und sein Enkel Athalarich zur Regierung gekommen war, denn mehrfach zielt die Darstellung des Cassiodor auf die Sicherung der Nachfolge Theoderidis und auf Festigung der Herrschaft des Athalarich.
Probleme der historischen Quellen
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hältlidi, w o Jordanes schrieb7, so daß dieser das Werk — offensichtlich nodi das Original — beim Verwalter des Cassiodor ausleihen mußte (Jordanes Getica 2). Vollständig verloren ging auch die Gotengeschichte eines Ablabius, den Jordanes mehrfach nannte und den schon Cassiodor fleißig ausgeschrieben haben muß (vgl. unten S. 39 ff.). Der descriptor egregius einer verissima historia Gotborum gentis (Jordanes Getica I V 28), wie er bei Jordanes genannt wird, geriet nur deswegen nicht in völlige Vergessenheit, weil dieser seinen Namen in der Gotengesdiidite des Cassiodor gefunden haben muß und ihn seinerseits zitierte (Jordanes Getica I V 28, X I V 82, X X I I I 117 und X X I X 151) 8 . Das Buch des Jordanes — kurz vor oder im Jahre 551 niedergeschrieben* — war offenbar zunächst nur in Italien bekannt. Gregor von Tours, 7
Der Ort, wo Jordanes seine Gotengesdiidite niederschrieb, dürfte auch in Zukunft kontrovers bleiben. Vgl. die gegensätzlichen Zusammenfassungen der verschiedenen Standpunkte bei W. Martens, Jordanis Gotengesdiidite, in: Die Geschichtsschreiber d. dt. Vorzeit 5 (»1913) VI—VII; Wattenbach—Levison, Deutschlands Gesdiichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit u. Karolinger 1. W. Levison, Die Vorzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d. Karolinger (1952) 79—81; N . Wagner, Getica (1967) 48 ff. versucht den Nachweis, Jordanes müsse sein Werk in Konstantinopel geschrieben haben. Zur denkbaren Zeit der Abfassung der Getica und der Romana müsse sich Cassiodor in Konstantinopel aufgehalten haben. Nur von diesem selbst könne Jordanes dessen Gotengeschichte erhalten haben, die er in seinem Reisegepäck mitgeführt habe. Diese Deduktion hängt an einem seidenen Faden: Ist zwingend anzunehmen, daß Cassiodor, als er sich nach Konstantinopel begab, seine Gotengeschichte mitführte? Sollte nicht etwa Jordanes gerade den Verwalter des Cassiodor in Vivarium um dessen Gotengesdiidite gebeten haben, weil Cassiodor selbst abwesend war? — Der ganze Problemkomplex der Volkszugehörigkeit des Jordanes, des Schauplatzes von Jordanes' Leben, der Abfassungszeit seiner Werke, seines Standes zur Zeit der Abfassung und des Orts der Niederschrift der Getica von N. Wagner, Getica (1967) 3—57 nochmals an Hand aller wichtigen einschlägigen Literatur ausführlich erörtert. 8 Der Jordanes Getica X X I X 151 genannte Favius (so im Text Mommsens; sechs Handschriften haben fauius, drei andere hingegen fabius) wohl doch mit Ablabius identisch und ein Abschreibfehler vielleicht schon des Jordanes. (Vgl. ausführlicher unten S. 70.) * Bald nach der Gotengesdiidite konnte Jordanes sein Buch De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum einem gewissen Vigilius übersenden. Das war im 24. Regierungsjahr des Justinian (also 551 n. Chr. Geb.), wie Jordanes selbst sagt (Jordanes Romana 4). Wie lange vorher die Getica schon fertig vorlagen, das ergibt sich annähernd aus Jordanes' Vorwort, worin er angibt, er habe die adbreviatio chronicorum, die er gerade unter den Händen hatte, unterbrochen, um zunächst die Getica zu schreiben (Jordanes Getica 1). Diese adbreviatio aber ist mit dem Werk De summa temporum ... identisch! Daß das Buch im wesentlichen im Jahre 551 — allenfalls teilweise 550 — verfaßt wurde, ergibt sidi auch aus der Erwähnung der Pest der Jahre 541 bis 2
H a d i m a n n , Gocen und Skandinavien
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Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
dessen Geschichtswerk zwischen 573 und 594 entstand, wußte von ihm jedenfalls nichts. Allerdings bestand für ihn auch kaum ein Anlaß, eine Geschichte der Goten — von wem immer sie verfaßt sein mochte — zur Kenntnis zu nehmen, denn weder berührte die Gotengeschichte das Objekt seiner Interessen, noch interessierte ihn in wesentlichem Umfange die Urgeschichte der Franken10, für deren Konzeption er allenfalls Anregungen bei Jordanes hätte finden können11. Auch Gregors Zeitgenosse Isidor von Sevilla wußte von Jordanes und seiner Gotengeschichte nichts, wie seine kurze Historia Gothorum, Vandalorum, Sueborum erkennen läßt. In Italien hingegen müssen die Getica alsbald eine gewisse, wenn auch vielleicht zunächst verhältnismäßig begrenzte Verbreitung gefunden haben. Ein geringes Interesse an der Geschichte der Goten muß auch nach dem Ende ihrer Herrsdiaft noch immer vorhanden gewesen sein. Warum allerdings das Werk des Jordanes und nicht das ausführlichere — und wahrscheinlich auch genauere — des Cassiodor verbreitet wurde, das läßt sich nur dadurch erklären, daß des letzteren Budi s e h r bald verloren ging. Sicher ist, daß des Jordanes Geschichtswerk bald nach 800 vom unbekannten Kosmographen von Ravenna 12 benutzt wurde. Zwar sind für die Zwischenzeit unmittelbare Belege für eine Bekanntschaft mit seinem Buch nicht zu erbringen, doch zeigt eben seine Benutzung durch den Kosmographen, daß es vorher bekannt gewesen sein m u ß ; sei es bei in
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43, die bei der Abfassung von Jordanes Getica neun Jahre vergangen war. Vgl. dazu: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XII u. XIV f.; E. Stein, Histoire du Bas-Empire 2. De la disparition de l'Empire d'Occident ä la mort de Justinien (476—565) (1949) 841; vgl. ferner N. Wagner, Getica (1967) 20 ff. bes. 24 f. Die Nadiridit von der Herkunft der Franken aus Pannonien (tradunt enim multi, eosdem de Pannonia fuisse degressus [Gregor Hist. II 9]) ist ganz beiläufig erwähnt und hat innerhalb seines Berichts kein besonderes Gewidit. Daß v i e l e von der Herkunft der Franken aus Pannonien berichteten, ist kaum wörtlich zu nehmen. Die Quelle dafür läßt sich nicht ermitteln. Um einen Auszug aus Renatus Profuturus Frigeridus oder aus Sulpicius Alexander, die Gregor unmittelbar vorher ausführlich zitiert, kann es sich nicht handeln, wie der Wortlaut der vorhergehenden Zeilen deutlich erkennen läßt. Deutlich zeigt Gregor Hist. III 31, daß ihm die Getica des Jordanes nicht vorlagen, denn er schildert hier die Gesdiichte der Amalasuintha und des Theodahad nach einer sehr schlechten Quelle völlig anders als jener (Jordanes Getica LIX). Die Frage, ob bereits der Kosmograph den Jordanes benutzte oder ob nachträglich im 9. Jahrhundert Auszüge aus Jordanes in dessen Werk eingefügt wurden, wie nach dem Vorgange von Mommsen noch M. Manitius, Gesch. d. lat. Literatur d. Mittelalters 1 (1911) 214 meinte, klärte der Aufsatz von J. Schnetz, Jordanis beim Geographen von Ravenna, in: Philologus N. F. 35 (1926) 86—100.
Probleme der historischen Quellen
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Italien ansässigen Germanen, sei es bei den einheimischen Romanen1®. Wenn der Kosmograph Jordanes zudem als Geschichtsschreiber mit den höchsten Prädikaten versah, so spricht das eher dafür, daß dessen Name und Werk zur Zeit des Kosmographen in gelehrten Kreisen durchaus bekannt war und sich einer gewissen Wertschätzung erfreute, als daß der Kosmograph ihn durch besonderes Lob als sonst unbekannten Zeugen für seine Angaben aufzuwerten versuchte. Die Vermutung, schon Secundus Tridentinus habe für seine Succincta de Langobardorum gentis historia, die vor 612 entstand, entweder Cassiodor oder Jordanes ausgeschrieben, hat Th. Mommsen zunächst zwar behauptet, dann aber als unbeweisbar zurückgenommen 14 . Anscheinend gehörte des Secundus Werk nicht zur Kategorie der Volksgeschichten, die bis in die Urzeit zurückzureichen pflegten. Es düfte eher annalistisch angelegt gewesen sein und kaum wesentlich über seine eigene Lebenszeit zurückgereicht haben15. Wahrscheinlich gab die Kodifizierung des Langobardenrechts unter König Rothari den Anstoß dazu, daß sich die Langobarden eingehender mit ihrer Geschichte zu beschäftigen begannen. Dabei mußte unwillkürlich ein Interesse an in Italien bereits vorhandenem historischem Schrifttum aufkommen, und das kann — ja, es muß — das Interesse an der Geschichte der Ostgoten geweckt haben. Das mag den Anlaß dafür abgegeben haben, daß man nach Berichten über sie suchte und dabei auf das Werk des Jordanes stieß, das sich offenbar als einziges erhalten hatte. In dieser Zeit muß der unbekannte Autor der Origo gentis Langobardorum sein kleines Werk verfaßt haben (vgl. unten S. 27). Daß er den einleitenden Satz: est insula qui dicitur Scadanan ... in partibus aqttilonis, ubi multae gentes habitant16 dem Bericht des Jordanes nachgebildet habe, nahm Bollnow als sicher an, ohne indes dafür einen wirklich bündigen Beweis erbringen zu können. Wörtliche Übereinstimmung mit Jordanes findet sich nicht. Der knappen Ausdrucksweise des Verfassers der Origo hätte es wohl entsprochen, wenn er die ausführlichere Schilderung des Jordanes zu einem 13
Zur Datierung des Kosmographen und seines Werks vgl. H. Löwe, Die Herkunft d. Bajuwaren, in: Zeitsdlr. f. bayer. Landesgesdi. 15 (1949) 5—67, bes.
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Th. Mommsen, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus, in: N. Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschiditskunde 5 (1880) 76: „Cassiodors gothisdie Geschichte, Jordanes Auszug derselben, können dem Tridentiner Geistlichen kaum unbekannt geblieben sein." Ders., Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XLIV f. Vgl. R. Jacobi, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus (1877) 63—84. G. Waitz, Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 2.
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8—12.
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Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
kurzen Satz zusammengezogen hätte. Der Wortbestand der sinnentsprechenden Sätze (Jordanes Getica III 16 u. 19 und Origo 1) ist jedoch ganz unterschiedlich. Daraus kann man Abhängigkeit von Jordanes nicht mit Sicherheit erschließen. Der Gedanke an einen unmittelbareren Zusammenhang ist trotzdem sehr naheliegend. Die Beweise dafür sind jedoch andere: In den drei erhaltenen Handschriften der Origo gentis Langobardomm hat deren Einleitungssatz verschiedene Gestalt. Im Madrider und im Caveser Codex lautet er: est insula qui dicitur Scadanan in partibus aquilonis ubi multae gentes habitant. Der Modeneser Codex hat an Stelle von Scadanan Scadan und dahinter ist quod interpretatur excidia eingeschoben. Es ist müßig, hier über die Namensformen viel zu rätseln17. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß schon Scadanan verderbt ist und daß hier ein ursprüngliches Scadinavia, Scathinavia oder Scathanavia anzusetzen ist (vgl. unten S. 30). Der Zusatz des Modeneser Codex erweist sich damit als sekundär 18 und der Anfang der Origo dürfte gelautet haben: est insula qui dicitur Scadinavia in partibus aquilonis ubi multae gentes habitant. Paulus Diaconus übernahm die Nachricht von der Herkunft der Langobarden aus der Origo19 und gab ihr die Form . . . Winnilorum, hoc est Langobardorum, gens ... ab insula quae Scadinavia dicitur adventavit (Paulus Diaconus Hist. I, 1). Gleich anschließend erwähnt er (Paulus Diaconus Hist. I, 2), daß auch Plinius diese Insel gekannt habe20. Der erste Satz der Origo steht inhaltlich mit der darauffolgenden Erzählung nicht in festem Zusammenhang. Der Kampf gegen die Wandalen wird so geschildert, als habe er auf dem Kontinent stattgefunden. Von einer Auswanderung von Scadinavia übers Meer und mit Schiffen wird weder vor noch nach diesem Kampf gesprochen. Die Landschaften Golaida, Anthaib, Bainaib und Burgundaib, durch die die Langobarden nach 17
Vgl. L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 38 f.
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L. Schmidt, a. a. O. 9 f. wollte nadiweisen, daß der Text des Modeneser Codex im allgemeinen bedeutend besser sei und der ursprünglichen Form bedeutend näher stehe. Vgl. G. Waitz' Bemerkungen in: Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 1 A n m . 3 .
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Abhängigkeit von der Origo erstmals erkannt v. L. Bethmann, Die Geschichtsschreibung der Langobarden, in: Archiv d. Ges. f. ält. dt. Gesdiichtskunde 10 (1851) 351 ff.
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R. Jacobi, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus (1877) 10 f. meinte, Paulus habe das Scadanan, bzw. Scadan nach Plinius Hist. N a t . IV 13, 96 u. VIII 16, 39 in Scadinavia gebessert. Das anzunehmen, zwingt Paulus Diaconus Hist. I 2 aber gewiß nicht.
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ihrem Sieg über die Wandalen gezogen sein sollen, liegen — jedenfalls in der Vorstellung des Autors der Origo — irgendwo auf dem Kontinent. Aber auch formal ist der erste Satz nur locker durch den relativisdien Anschluß inter quos mit dem nachfolgenden verbunden. Audi ohne eine solche Verbindung wäre der zweite Satz als Hauptsatz: erat gens parva quae Winnilis vocabatur durchaus vollständig. Es sieht also danach aus, als habe der Herkunftsbericht der Langobarden ursprünglich mit diesem Satz begonnen und als sei ihm erst nachträglich ein gleidiartig konstruierter Satz vorangestellt worden, der von der Herkunft aus Skandinavien berichtete. W. Bruckner kam 1899 auf einem anderen Weg zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Er versuchte seinen alten Gedanken 21 , der Origo habe ein in langobardisdier Sprache gehaltenes, allitterierendes Gedicht als Vorlage gedient, eingehender zu begründen 28 . Dabei kam er u. a. zu dem Ergebnis, der Satz: erat gens parva quae Winnilis vocabatur könne der eigentliche Anfang einer ursprünglichen Origo gewesen sein23. Der Hinweis auf Skandinavien sei also eine spätere Zutat. Bruckner meinte weiterhin, das ursprüngliche Gedicht sei nur bis Origo 4 zu verfolgen. Danach seien keine Spuren einer poetischen Quelle zu entdecken, dafür aber könnten einige neue Stilelemente im lateinischen Text festgestellt werden: indirekte Rede an der Stelle direkter Rede, lange Satzkonstruktionen anstatt einfacher Hauptsätze. Volle Sicherheit darüber, wie die ursprüngliche Origo begann, 21
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Vgl. W. Bruckner, Die Sprache d. Langobarden (1895) 19 ff. — Vgl. auch R. Koegel, Gesch. d. dt. Litteratur b. z. Ausgang d. Mittelalters I, 1 (1894) 107 f.; L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 16. — Dagegen R. Mudi, Besprechung von W. Bruckner, Die Sprache d. Langobarden (1895), in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 158 (1896) 892 f. Vgl. W. Bruckner, Die Quelle d. Origo gentis Langobardorum, in: Zeitschr. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur N . F. 31 (43) (1899) 47—58. — Bruckner hat nicht besonders beachtet, daß die Namen der Königsliste im Prologus edicti Rothan ebenfalls meist paarig allitterieren: [Agio] — Agilmund; Lamisio — Leth; Geldehoc — Godehoc; (Ausnahme:) Claffo — Tato; Wacho — Waltari; Audoin — Alboin; [?] — Clef; Authari — Agilulf; Adalwald — Arioald; Rothari... Ähnlich in der Genealogie des Rothari an derselben Stelle: Obthora (Uhtbora) — Mammo; Facho — Frodio; Weo — Weilo; [?] — Hilzo; Alaman — Alamund; Nozu — Nanding; Rothari. — Die Hist Lang. Cod. Goth. 8 nennt Rodoald als Nachfalger des Rothari, der auch bei Paulus Diaconus Hist. IV 47 erwähnt wird. — Vgl. audi G. Baesedce, Über germ.-deutsche Stammtafeln u. Königslisten, in: Germ.-Rom. Monatsschrift 24 (1936) 161—181 mit teilweise übereinstimmenden Ergebnissen. Vgl. W. Bruckner, a . a . O . 51 Anm. 1: „erat gens parva quae Winnili vocabatur könnte der Anfang des Liedes gewesen sein, die Stelle erinnert an den Eingang anderer Lieder, die freilich erst aus späterer Zeit stammen,..
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Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
läßt sich — legt man einen strengen Maßstab bei der Beweisführung an — auf diese Weise allerdings nicht gewinnen24. Geht man den Inhalt der Origo durch, dann macht zwar der erste Satz tatsächlich den Eindruck, als sei er der Gotengeschidite des Jordanes nachgebildet; was dann darauf folgt, kann aber unmöglich von antikem Geschichtsdenken abhängig sein. Die Gesdiidite von Ybor und Agio und ihrer Mutter Gambara, der Kampf der Winniler mit den Wandalen und ihr Namenswechsel und der Zug durch ganz unbekannte Länder, das alles ist echt langobardisches Erzählgut25. Alles was weiterhin folgt, ist dann eine mit mehr oder minder spärlichen Nachrichten ummantelte langobardische Königsliste28. In dieser Langobardengesdiidite ist das älteste wirklich sidiere Ereignis die Besitznahme von Rugiland. Die Origo nennt den König Godehoc und sagt: illo tempore exivit rex Audoachari de Ravenna cum exercitu Alanorum, et venit in Rugilanda et inpugnavit Rugos, et occidit Theuvane regem Rugorum, secumque multos captivos duxit in Italiam. Tune exierunt Langobardi de suis regionibus, et habitaverunt in Rugilanda annos aliquantos. Die Vernichtung der Rugier durch Odovakar im Jahre 488 wird durch des Eugippius Vita s. Severini 44 erwähnt. Prokop Bell. Goth. II 14 berichtet, daß die Heruler nach ihrer Niederlage durdi 24
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Th. Mommsen, Die Quellen d. Langobardengesch. d. Paulus Diaconus, in: N. Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschichtskunde 5 (1880) 57 ff. nahm eine ältere, ausführlichere Fassung der Origo an, die im wesentlichen aus dem Werk des Secundus Tridentinus geschöpft habe. — L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 16 ff. dachte an eine ausführlichere Ur-Ongo, setzte diese jedoch nicht mehr mit dem Werk des Secundus gleich. — W. Bruckner, a. a. O. 47 sprach sich dagegen aus; wie überhaupt seine These gegen eine umfangreichere Ur-Origo sprechen muß. Schon Paulus Diaconus Hist. I 8 spricht in diesem Zusammenhang von einer ridicula fabula. Vgl. dazu: K. Hauck, Lebensnormen u. Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeculum 6 (1955) 186 bis 223. Vgl. die Königsliste in der Vorrede des Edictus Rotbari, die mit der Liste der Origo übereinstimmt. Vgl. Fr. Bluhme, in: G. H. Pertz, Mon. Germ. Hist. Leg. IV (1868) 2 f . u. E. Bernheim, Über d. Origo gentisLang.,in:N.Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschichtskunde 21 (1896) 376 f.; vgl. den Satz des Rothari im Prologas edicti Rotbari: Ego in Dei nomine Rothari vir excellentissimus et séptimo deeimum rex gentis Langobardorum, der an die Amalergenealogie des Cassiodor in siebzehn Gliedern erinnert. Vgl. dazu H. Wolfram, Methodische Fragen zur Kritik am „sakralen" Königtum germanischer Stämme, in: Festschrift f. O. Höfler 2 (1968) 483. — Wolfram denkt an eine Version des Hieronymus vom Chronicon des Eusebius als Vorlage der Amalergenealogie, wo es heißt: [Urbs Roma] quae condita est a Romulo séptima olympiade anno secundo, qui XVII ab Aenea regnavit.
Probleme der historischen Quellen
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die Langobarden 27 zunächst beabsichtigt hatten, sich in Rugiland niederzulassen, daß sie dann aber weiterzogen, weil das Land wüst lag. Erst danadi können die Langobarden eingewandert sein. Die Namen einzelner Könige vor Godehoc, der die Langobarden nach Rugiland führte, brauchen nicht unbedingt als erfunden angesehen zu werden. Aber selbst, wenn man annimmt, sie seien größtenteils historisch, dann ändert sich nichts an der Tatsache, daß die historische Erinnerung der Langobarden praktisch nicht über die Landnahme in Rugiland hinwegreichte, d. h. kaum die Mitte des 5. Jahrhunderts erreicht hat 28 . Was sich vorher ereignete, ist offensichtlich größtenteils den Späteren nidit mehr bekannt gewesen. Einzelne Episoden, die in die Origo oder auch von Paulus Diaconus in seine Historia aufgenommen wurden, tragen deutlich den Stempel des Mythischen2'. Da römische Schriftsteller die Langobarden um Christi Geburt an der unteren Elbe bzw. als Nachbarn der Cherusker und Semnonen bezeugen (Velleius Paterculus II 106; Strabo VII 290; Tacitus Germ. 40; Tacitus Anm. II 45, X I 17; Ptolemaios II 11, 9), müßte die Nachricht von ihrer Einwanderung aus Scadinavia bis in vorchristliche Zeit zurückführen. Sie müßte dann über ein halbes Jahrtausend hinweg, von dem die Langobarden keinerlei nennenswerte historische Erinnerung besaßen, erhalten geblieben sein. Das ist aber ganz unwahrscheinlich. Der erste Satz der Origo ist also offensichtlich, da er kein historisches Erinnern enthalten wird, einem bereits vorhandenen Vorbild nachgeformt worden und dafür kommt nur des Jordanes Gotengeschichte in Betracht. Daß das Scandza des Jordanes durch die Form Scadinavia der Origo ersetzt wurde, kann nur auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen. Jordanes war die Identität der Inseln Scandia und Scadinavia noch genauso bewußt (Jordanes Getica I I I 17) wie etwa Plinius, der beide Namen im Wechsel nebeneinander benutzte (Plinius Hist. Nat. IV 13, 96; IV 16, 104). Man 27
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Die Heruler-Schladit fand während der Regierung des Anastasios I. Dikoros (491—518) statt. W. Ensslin, Theoderidi d. Große (1947) 371 Anm. 4 setzte das Ereignis in das Jahr 508. L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 36: „Von Allem diesen nun, was wir soeben aus gleichzeitigen Schriftstellern des klassischen Altertums über die Langobarden beigebracht haben, findet sich in den eigenen Berichten und Erzählungen derselben [d. h. in der Origo] keine Spur. Nichts wird hier von den Kämpfen mit den Römern, mit ihren suebischen Stammesgenossen unter Marbod erzählt; auch über ihre Geschichte in der Zeit, bevor Griechen und Römer von ihnen erfuhren, läßt sich nichts daraus ermitteln." Des Paulus Diaconus Charakterisierung der Geschichte des Namenswechsels,
die er aus der Origo in seine Historia übernahm, als ridiculosa fabula zeugt
nur scheinbar für seinen kritischen Sinn, denn sein eigener Bericht Hist. I 15 ist nicht weniger „lächerlich".
24
Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
muß annehmen, daß der Autor der Origo oder der Redaktor, der den ersten Satz verfaßte, von dieser Identität noch wußte. Warum er dann allerdings die Namensform Scadinavia vorzog und es nicht wie der Kosmograph von Ravenna bei Scandzdbeließ, das ist schwer zu erklären. Neben dem Secundus Tridentinus, der Origo und anderen Quellen31 hat — wie schon Th. Mommsen erkannte32 — Paulus Diaconus auch die Werke des Jordanes benutzt. Sichtlich hat er den Bericht von der Herkunft der Langobarden zwar der Origo entnommen, dodi folgt er in der Komposition seiner einleitenden Abschnitte eher dem Jordanes, was bislang vielleicht nodi nicht genügend nachdrücklich betont worden ist. Da Jordanes die Goten aus Scartdza ab huius insulae gremio velut examen apium erumpens (Jordanes Getica I 9) kommen ließ, berichtet Paulus entsprechend vorher von der Fruchtbarkeit33 der Menschen des Nordens (Paulus Diaconus Hist. I 1). Jordanes schweifte ab und schob seinen Exkurs über Britannien ein (Jordanes Getica II 10—15). Ebenso unterbricht nun Paulus seine Erzählung und fügt einen Exkurs über den Westen ein (Paulus Diaconus Hist. I 4), der den Erzählzusammenhang scheinbar sinnlos unterbricht, während die Abschweifung des Jordanes mit der Nachricht zusammenzuhängen scheint, die Goten stammten von Britannien (Jordanes Getica V 38). Jordanes kehrte nun zur Insel Scandza zurück, beschrieb sie und die dort wohnenden Völker und erwähnte bei dieser Gelegenheit die Länge der Sommertage im Norden (Jordanes Getica III 16—24), und dementsprechend behandelt auch Paulus den Norden, anschließend den Westen, wobei er nicht vergißt, die Länge der Tagesdauer im Sommer zu erwähnen (Paulus Diaconus Hist. I 5—6). Jordanes ließ nun den Bericht von der Auswanderung der Goten, von ihrer Landung in Gothiscandza, vom Krieg gegen die Ulmerugier und Wandalen und dem Aufbruch nach Südrußland folgen (Jordanes Getica IV 25—29). Auch Paulus berichtet nunmehr vom Aufbruch der Langobarden aus Scadinavia, von ihrem Kampf mit den Wandalen und der Ankunft in ihrer neuen Heimat (Paulus Diaconus Hist. I 7—13). Danach beginnen beide Autoren — durch den Stoff gezwungen — ihre unterschiedlichen Berichte von der Geschichte ihrer Völker. Den Namen der Insel dürfte Paulus in der ihm vorliegenden 30
31
38 33
Ravennatis Anonymi Cosmographia I 12, IV 4 u. V 30. — Hier verändert in Scanza, Seanzan od. Scanzi. Knappe Übersicht bei M. Manitius, Gesch. d. lat. Literatur d. Mittelalters I (1911) 269. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XLV Anm. 85. Audi die Origo spricht von den multae gentes, die auf der Insel Scadanan wohnten. Sicher liegt auch hier ein Zusammenhang mit Jordanes Getica III 19—24 vor.
Probleme der historischen Quellen
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Fassung der Origo noch richtig vorgefunden haben, wie sich zeigen läßt (vgl. unten S. 30). Die von Paulus fixierte Version von der Langobardengeschichte wird dann weitergetragen. Sie findet sich entstellt in der Dritten Fortsetzung des Paulus'4, in der Historia des Andreas von Bergamo35, in der Historia Langobardorum Beneventanomm des Erchempert von Montecassino" und in späteren Geschichtswerken37. Unabhängig von Paulus hielt sich einzig der Autor der Historia Langobardorum codicis Gothani3S, der bald nach 800 schrieb, teilweise unmittelbar aus der Origo schöpfte, aber für die Herkunft der Langobarden auch noch eine andere Quelle benutzte3®. Er nannte die Heimat der Langobarden Scatenauge und verlegte diese Landschaft an die Elbe. Im Reich der Franken wurden die Getica zunächst noch nicht bekannt. Im dritten Buch des Fredegar findet sich allerdings ein Hinweis auf die Herkunft der Langobarden aus Scathanavia (Fredegar III 65). Wortlaut und Inhalt dieses Einschubes, der in Auszüge aus dem Geschichtswerk Gregors von Tours eingefügt ist, weisen mindestens zum Teil auf den Autor der Origo, gehen also letztlich auf Jordanes zurück. Zunächst heißt es bei Fredegar Langobardorum gens, priusquam hoc nomen adsumerit, exientes de Scathanavia, que est inter Danuvium et Mare Ocianum. Scathanavia ist hier also keine Insel. Es folgt dann der Kampf, mit dessen Ablauf sich der Namenswechsel vollzieht. Als Gegner der Langobarden werden hier jedoch nicht die Wandalen, sondern die Hunnen genannt. Die Übereinstimmungen mit der Origo sind durch Eliminierung alles Heidnischen zwar versteckt, aber bei näherem Hinsehen doch deutlich genug erkennbar. Im gleichen Absdhnitt wird dann allerdings in einer Form von der Auswanderung der Langobarden aus Pannonien berichtet, die keinen Bezug zur Origo hat. Hier hat der Autor des Fredegar Gregor von Tours benutzt. Ebenso wenig wie für den Bericht von der Herkunft der Lango34
Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 206. A . a . O . 221. 3 » A . a . O . 234. 37 Vgl. die Übersicht bei C. Blasel, Die Wanderzüge d. Langobarden (1909) 3—9. 38 Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 7 ff. 39 Er erwähnt Hieronymus als Gewährsmann (cap. 2), doch hat schon K. Zeuss, Die Deutschen und die Nachbarstämme (1837) 473 Anm. riditig gestellt, daß er diesen mit Isidor verwechselt hatte, der Etymol. I X 226 Vindelicus amnis ab extremis Galliae erumpens, iuxta quem fluvium habitasse et ex eo traxisse nomen Wandali perhibentur schrieb. Über die Gleichung Wandali = Winili überträgt der Autor der Hist. Lang. cod. Gothani nun Isidors Version von der Herkunft der Wandalen auf die Langobarden. 35
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Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
barden kann Gregor aber Gewährsmann sein, wenn es nun heißt: Langobardi
regem nomen
Clip super se eligunt (Fredegar I I I 67). Audi die
Nachricht vom Tode des Clip (Fredegar I I I 68) kann nicht von Gregor stammen. H i e r kommt wiederum nur die Origo als Quelle in Betracht 40 . Es schließen sich dann wieder Exzerpte aus Gregors Geschichtswerk an. Die Autorenschaft der durch Interpolation aufgefüllten Exzerpte aus den Historien des Gregor ist nicht unumstritten. Br. Krusch wies sie dem zweiten Autor des Fredegar zu, der seiner Ansidit nach um 6 4 2 schrieb". Trotz des Widerspruches von G. Schnürer, der dieselben Textstellen dem ersten Autor zuweisen wollte, dessen Arbeit er bis zum Jahre 6 1 6 / 1 7 — Krusdi nur bis 613 — verfolgen zu können meinte 42 , hat sidi die Zuweisung der Gregor-Auszüge zum zweiten Autor weiter erhärten lassen 4 '; sie kann heute als gesichert gelten. Wortlaut und Inhalt der Einsdiübe in die Historia epitomata
weisen
also eindeutig auf den Verfasser der Origo. Das macht chronologisch nur scheinbar Schwierigkeiten 44 . Sicher ist, daß Paulus Diaconus eine gentis Langobardomm
in einem Manuskript des Edictus
Rothari
Origo vor-
Br. Krusdi, Mon. Germ. Hist. SS. R. Mer. II (1888) 110 Anm. 2—5 nannte schon die Origo als selbstverständliche Vorlage. Ebenso E. Bernheim, Ober d. Origo gentis Langobardorum, in: N. Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschiditskunde 21 (1896) 386 Anm. 4. — Die Chronik des Marius von Avenches kommt jedenfalls als Vorlage Fredegars nicht in Betracht, da sie teilweise andere Personen kennt und die Ereignisse andersartig darstellt. Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. X I (1894) 238 f. Marius nannte allerdings Personen und Ereignisse, die Gregor und Fredegar unbekannt geblieben sind, und die sich dann teils in der Origo, teils bei Paulus Diaconus wiederfinden. — Die Benutzung der Chronik des Marius durdi Paulus bereits bei L. Schmidt, Zur Gesdi. d. Langobarden (1885) 28 erwähnt. 41 Vgl. Br. Krusdi, Die Chronicae des sogenannten Fredegar, in: Neues Archiv d. Ges. f. ältere dt. Gesdiichtskunde 7 (1882) 247—351. " G. Schnürer, Die Verfasser der sogenannten Fredegarchronik (1900) 72 ff. 232. 4S Vgl. S. Hellmann, Das Fredegarproblem, in: Hist. Viertel jahrssdirift 29 (1935) 36 ff. bes. 83 ff. — Vgl. audi dazu: Wattenbach-Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit u. Karolinger 1. W. Levison, Die Vorzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d. Karolinger (1952) 109 ff. 44 C. Platner, Ueber d. Art d. dt. Völkerzüge z. Zeit d. Wanderung, in: Forschungen z. Dt. Geschichte 20 (1880) 172 Anm. 1 vermutete eine Urfassung der Origo, die mit dem sechsten Jahr des Agilulf (Aequo) (597) abschloß, weil sie nur soweit für die Hist. Lang. Chrort. Gothanum benutzt wurde. Doch die Fertigstellung der Endfassung dachte er sich a. a. O. 171 unter Grimoald (662—672). — R. Jacobi, Die Quellen d. Langobardengesch. d. Paulus Diaconus (1877) 8 entschied sich hingegen wie vor ihm L. Bethmann für das siebente Jahr des Grimoald (668). — G. Waitz, Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 1 meinte, die Origo sei nach der Mitte des 7. Jh. entstanden. — Für das Jahr 668 sprach sich audi L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 9 f. aus. 40
Probleme der historischen Quellen
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fand. Daß Paulus selbst der Meinung gewesen sei, diese Origo sei dem Rothari zuzuschreiben, behauptet R. Jacobi, bestreitet L. Schmidt dagegen entschieden45. Beider Argumente sind jedoch nicht zwingend. Dennoch scheint es möglich zu sein, die Origo, wenn auch nicht dem Rothari selbst, so doch dessen Zeit zuzuweisen. Rothari ist der letzte König, dessen Herrschaft die Origo ausführlich behandelt: Et post ipso regnavit Rothari ex genere Arodus, et rupit civitatem vel castra Romanorum quae fuerunt circa litora apriso Lüne usque in terra Francorum quam ubitergium ad partem orienti, et pugnavit circa fluvium Scultenna, et ceciderunt a parte Romanorum octo milia numerus. Danach folgen in den Madrider und Caveser Handschriften kurze Hinweise auf die Regierungsdauer des Aripert und die Regierung des Grimoald. Der Modeneser Codex fügt die Regierungsdauer des Grimoald und einen Hinweis auf Berthari an. In alle drei Handschriften ist ein kurzer Verweis auf Constans II. und seine Ermordung eingefügt, dem ein Zusammenhang mit der Langobardengeschidite fehlt. Die Madrider und Caveser Handschriften stellen offenbar Fortsetzungen der ursprünglidien Origo dar. Der beiden Handschriften zugrunde liegende Text scheint zur Zeit des Grimoald (662—672) redigiert worden zu sein, denn dessen Regierungsdauer wird nicht genannt; er lebte wohl noch. Sie wurde erst vom Autor der Fassung, die in der Modeneser Handschrift vorliegt, angefügt, der die Origo während der Regierung des Berthari (672—690) ergänzte. Es ist bezeichnend, daß dessen Regierungsdauer hier fehlt; offenbar war er nodi am Leben. Sollte die Origo alsbald in die erste Niederschrift der Gesetzessammlung des Rothari eingefügt worden sein, so wäre sie im Jahre 643 verfaßt4". Der Hinweis auf die Regierungsdauer des Rothari wäre dann vom ersten Fortsetzer der Origo angefügt. Sollte der Fortsetzer des Fredegar — wie nunmehr S. Hellmann meint47 — etwa 624/625 zu arbeiten begonnen, die Niederschrift mehrfach unterbrochen haben und weit nach der Mitte des Jahrhunderts das bisher Fertiggestellte mit Zusätzen versehen haben, so verwundert die Verwendung einer 643 niedergeschriebenen Origo nicht; zumindest macht ihre Verwendung durch den zweiten Autor des Fredegar chronologisch keinerlei Schwierigkeiten. Im Chronicon universale, das vor dem Jahre 775 entstanden sein 45
4
R. Jacobi, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus (1877) 5 f.; L. Sdimidt, Zur Gesdi. d. Langobarden (1885) 8.
* So auch E. Bernheim, Uber d. Origo gentis Langobardorum, in: Neues Ardiiv d. Ges. f. ältere dt. Gesdiichtskunde 21, (1896) 381 ff. bes. 384. " Vgl. S. Hellmann, Hist. Vierteljahrsschrift 29 (1935) 92.
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Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
dürfte48, findet sich für das Jahr 4529 der hebräisdien Ära (575 n. Chr. Geb.) die Nachricht von der Auswanderung der Langobarden in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Fredegar III 65. Dort ist daher auch dieselbe Angabe von der Lage des Landes wiederholt. Sie ist also sdion von vornherein bei Fredegar vorhanden gewesen und keine spätere Einfügung. Im Chronicon universale steht außer der bei Fredegar abgeschriebenen Angabe von der Langobardenheimat in Skandinavien auch noch die Nachricht, die Burgunden seien ebenfalls von dorther gekommen: Burgundiones tempore Tyberii augusti egressi sunt de insola maris cuius vocabulo est Scatanavia, que ex vocabulo regionis Scatoarii nuncupata est*'. G. Waitz, der diese Quelle edierte, dachte an Fredegar als Vorlage. Die Verbindungen nach dorthin sind indes für diese Stelle ganz schwach. Dädite man an Fredegar als Vorbild, so wäre man gezwungen, dem Autor des Chronicon gegenüber Fredegar eine Reihe von Neuerungen zu konzedieren. Eine Parallelstelle zum Chronicon universale findet sich in der Passio s. Sigismundi regis. Sie berichtet von den Burgunden: Tempore Tyberii senioris ... egressa est gens de insula, quam mare Oceanum cingit, cuius vocabulum est Scanadavia, qui ex vocabulo quoque regionis Scanadavii nuncupati sunt50. Daß beide Stellen zusammengehören und die eine von der anderen abhängig ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Die Riditung der Abhängigkeit wäre ohne weiteres klar, wenn die Datierung beider Quellen gesichert wäre. Wohl weiß man, daß das Chronicon vor 775 n. Chr. Geb. niedergeschrieben sein muß. Von der Passio meinte C. Binding, sie sei im 7. Jh. oder wenigstens im 8. Jh. entstanden. Br. Krusdi, der sie edierte, meinte, ihre Ausdrucksweise „schmecke" eher nach der ersten Hälfte des 8. Jh. als nach der Zeit Karls des Großen61; hingegen dachte W. Levison an Entstehung im letzten Drittel des 8. Jh.52. 48
48 50 51 52
Vgl. Wattenbadi—Levison, Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter. Vorzeit u. Karolinger 2. W. Levison u. H. Löwe, Die Karolinger v. Anfang d. 8. Jh. b. z. Tode Karls des Großen (1953) 258. G. Waitz, Mon. Germ. Hist. SS. XIII (1881) 4. Br. Krusdi, Mon. Germ. Hist. SS. R. Mer. II (1888) 333. Br. Krusdi, a. a. O. 329 f. Wattenbadi—Levison, Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter. Vorzeit u. Karolinger 1. W. Levison, Die Urzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d. Karolinger (1952) 108 Anm. 240: „Die in Acaunum im letzten Drittel d. 8. Jh. verfaßte Passio Sigismundi...". Etwas abweichend im Heft 2: W. Levison u. H. Löwe, Die Karolinger v. Anfang d. 8. Jahrhunderts b. z. Tod Karls des Großen (1953) 258 Anm. 313: „Als Quelle des Chronicon universale
Probleme der historischen Quellen
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Für die Beurteilung der Abhängigkeit ist entscheidend, daß in der Passio die Nachricht von der Herkunft der Burgunder an inhaltlich richtiger Stelle, nämlidi als kurze Einleitung zu einem Abriß der burgundischen Geschichte steht, während die entsprechende Stelle im Chronicon vollständig isoliert ist. Jede beliebige andere Nachricht hätte hier ebenso sinnvoll bzw. sinnlos eingesetzt werden können. Die Passio muß also für das Chronicon das Vorbild abgegeben haben53. Soweit ist der Zusammenhang klar. Es bleibt allerdings noch die Frage, ob die die Burgunderheimat betreffende Stelle der Passio von Fredegar abhängig ist oder ob sie auf die Origo zurückgeht. Das eine meinte Br. Krusch", das andere einst C. Binding55. Für den ersten Satz kommt Fredegar als Quelle kaum in Betracht. Während er Scathanavia als Land zwischen Donau und dem Ozean kennt (Fredegar III 65), weiß der Verfasser der Passio, daß es sich um eine Insel handelt. Das könnte er aber auch dann nicht von Fredegar erfahren haben, wenn dessen Worte que est inter Danuvium et mare Ocianum (Fredegar III 65) eine spätere Ergänzung wären. Dann nämlich wäre die Lage von Scathanavia bei Fredegar völlig unklar und überhaupt keinesfalls als Insel zu erkennen. Die Vorlage der Passio muß Scadanavia als Insel kennen; nur die Origo oder Jordanes selbst kommen als Quelle in Betracht. Einwandfreie Hinweise auf Jordanes fehlen allerdings vollständig und demzufolge dürfte die Origo hier Quelle der Passio gewesen sein. Die Auswanderung der Burgunden verlegt der Autor der Passio in die Zeit des Tiberius. Das kann keine reine Willkür sein, wenngleich sidi dafür weder bei Fredegar, noch in der Origo eine Vorlage findet. Der Schreiber der Passio hat diese Angaben offensichtlich in der Literatur vorgefunden. Isidor berichtete, Tiberius habe einstmals die Burgunden entlang der Grenzen in den burgi ansässig gemacht; daher auch ihr Name (Isidor Etymol. IX 2, 99). Orosius VII 32 überlieferte dieselbe Nachricht. Hieronymus scheint für beide — allerdings nur teilweise — die Quelle gewesen zu sein (Hieronymus Chronicon 2389). Aus einer dieser Quellen — wahrscheinlich aus Oro-
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gedient hat die Chronik der Passio Sigismund!..., die bereits Anfang des 9. Jh. vorhanden w a r . . . " . So schon W . Levison u. H. Löwe, a. a. O. 258. Br. Krusdi, Mon. Germ. Hist. SS. R. Mer. II (1888) 333 Anm. 1. C. Binding, Geschichte d. Burgundisch-Romanischen Königreichs (1868) 280. 2 8 9 : „Die Abfassungszeit der Schrift [Passio s. Sigismundi] wäre also am Ende des 7., vielleicht auch erst am Anfang des 8. Jahrhunderts zu suchen." — C. Binding meinte aus der auffallenden Kenntnis der Origo schließen zu dürfen, daß der Autor der Passio ein Römer aus dem Reich der Langobarden war, der in das Kloster Acaunum eingetreten sei und dort die Vita des Königs geschrieben habe.
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Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
sius — schöpfte zwar auch Fredegar II 46, doch kann der Anfang der Passio davon nidit abhängen, weil Fredegar verschiedene Angaben nicht enthält, die in der Passio, bei Orosius und Isidor vorhanden sind. Zwischen der Einleitung der Passio und Fredegar sind also nur dort Übereinstimmungen, wo beide aus denselben Quellen schöpfen, die letztlich höchstwahrscheinlich auf Orosius zurückgehen. Nur die Nachricht von der insula ... cuius vocabulum est Scanadavia56 kann weder von Isidor, nodi von Orosius oder Hieronymus stammen, in deren Sdiriften die Insel überhaupt nidit erwähnt wird. Man ist — ob man will oder nidit — also gezwungen, die Einleitung der Passio mit der der Origo im Zusammenhang zu sehen. Bei der Übernahme des Textes in den burgundischen Bereidi wurde der Name des Stammes ausgewechselt, doch der Name des heimatlichen Landes blieb stehen, und audi die Angabe, daß es sich um eine Insel handelt, blieb erhalten. Sollte der Autor der Passio etwa das Wort Scanadavia aus Scadanan oder gar Scadan verbessert haben? Das ist ganz unwahrscheinlich. Der Weg ging von Scadinavia nach Scadanan bzw. Scadan einerseits und Scanadavia andererseits57. K. Zeuss wies darauf hin58, daß Prosper Tiro in seinem Chronicon von der Auswanderung der Langobarden aus Scandia berichtete (Prosper 1169). Th. Mommsen hat diese Stelle in seiner kritisdien Ausgabe des Prosper als Zufügung des 15. Jh. ausgeschieden und das gewiß mit Recht5'. Für den ursprünglichen Inselnamen der Origo gibt sie also nidits her. Sie zeigt allenfalls, daß mittelalterliche Gelehrsamkeit über Quellen verfügte, wonach Scadinavia und Scandia als Synonyma angesehen wurden und wonadi die Langobarden von Scadinavia oder Scandia gekommen sein müßten. Es muß dabei bleiben: Scadanan bzw. Scadan sind Entstellungen von Scadinavia. Alle Nachrichten von der Herkunft der Langobarden und Burgunden aus dem skandinavischen Norden, die sidi in der frühen fränkisdien und burgundischen Geschichtsschreibung finden, gehen also letztlich auf die 59
Die Form Scanadavia ist siditlich verderbt, wenngleich sie die beste der in den insgesamt 15 Codices belegten Überlieferungen darstellt. Im einzelnen sind folgende Varianten belegt: Scanavia, Scanadabia, Scandabia, Scandavia. Die Metathese scheint also schon früh durdigeführt worden zu sein, dodi war sie in dem Manuskript noch nicht vollzogen, das dem Autor des Chronicon universale vorlag, denn dort heißt es Scatanavia. 57 Es wäre allenfalls denkbar, daß dem Autor der Passio ein Text der Origo mit der Namensform Scadanavia vorlag. Daraus ein Scadanan bzw. Scadan zu machen, wäre für Abschreiber der Origo ein leichtes gewesen. Aber auch dieses Scadanavia müßte letztlich auf ein Scadinavia zurückgehen. 58 K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 472. 5 » Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. IX (1892) 497 ff.
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Origo gentis Langobardorum zurück. Es gibt keine befriedigende Erklärung dafür, warum die Origo jenseits der Alpen so früh bekannt und so oft benutzt wurde 60 . Nach dem Ende der Ostgotenherrschaft in Italien hatte deren Gesdiichte für Franken und Burgunden zunächst kein besonderes Interesse. Anders für die Langobarden. Ihnen ist es deswegen offenbar größtenteils zu verdanken, daß die Gotengeschichte des Jordanes überhaupt erhalten blieb. Ihre eigene Geschichtsschreibung, die sich in den Angaben über die Herkunft des Volkes an Jordanes anlehnte, bewirkte, daß im Gebiet der Franken und Burgunden Angaben aus der Langobardengesdiichte zunächst notiert, dann auch in die eigene Gesdiichtsdarstellung aufgenommen wurden. Neben der Vermittlung von Jordanes Scandza-Beridit durdi den Verfasser der Origo gibt es dann allerdings auch noch eine unmittelbare Verbindung zwischen Jordanes und der frühmittelalterlichen Historiographie. Sie ist jedoch jünger. Spätestens aber um 800 n. Chr. Geb. müssen Werke des Jordanes im Gebiet der Franken in Absdiriften vorhanden gewesen sein. Im Jahre 801 vermutete Alkuin, der Abt Angilbert müsse im Besitz einer Historia des Jordanes sein, die er auszuleihen bat*1. In der Tat sind beide Gesdiiditswerke des Jordanes im Jahre 831 im Bibliothekskatalog des Klosters Centula (St. Riquier) verzeichnet, dem Angilbert vorstand 62 . Wenig später benutzte Frechulf Jordanes' Gotengeschichte für seine Weltchronik, wies darauf hin, daß es neben der seit Fredegar im Gebiet der Franken weit verbreiteten Trojasage noch eine andere Überlieferung gäbe, wonach die Franken wie die Gothi et catera natiortes Theotisc. A. Noreen versuchte das ''Gauthi — gerade umgekehrt wie v. Grienberger — als Apposition zu *Gothi zu verstehen 3 ' und sah 33
A. Erdmann, Om folkenamnen Götar odi Gotar, in: Antiqvarisk tidskr. f. Sverige 11:4 (1905) 1—34 (Bd. 11 der Zeitschrift faßt 5 gesondert paginierte Hefte zusammen, deren Erscheinungsjahr wesentlich vor dem auf dem Titelblatt angegebenen Jahr 1905 liegt. E. Brate zitiert Erdmanns Aufsatz bereits in Svenska fornminnesföreningens tidskrift 9 [1896] 330). 34 Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 180 f. — Vgl. dazu: N . Wagner, Getica (1967) 165 ff. mit einer Übersicht über die verschiedenen Versuche, roüxcu und raUToi gleichzusetzen, bzw. getrennt zu halten. 35 K. Müllenhoff, Deutsdie Altertumskunde 2 (1887) 63. 38 Th. von Grienberger, Die nordischen Völker b. Jordanes, in: Zeitschr. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur N . F. 34 (1902) 131. 37 L. Fr. Läffler, Fornvännen 2 (1907) 105. 38 G. Schütte, Gotthiod. Die Welt d. Germanen (1939) 210. 3 ' A. Noreen, Nordens äldsta folk- odi ortnamn, in: Fornvännen 15 (1920) 44. — Vgl. dazu auch Th. von Grienberger, Zeitschr. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur N . F. 34 (1902) 158.
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in *Gauthi keinen Stammesnamen, sondern den Namen des Götaälv. Die *Gauthigothi wären dann die gautischen Goten, d. h. die Goten am Götaälv. L. Weibull schloß sich dieser Ansicht kommentarlos an 40 . J . Svennung faßte *Gauthigothae als eine von Ablabius oder Cassiodor geschaffene Zusammensetzung mit der Bedeutung gautische Goten auf, wobei er allerdings nicht an die Goten am Götaälv, sondern an die Goten im Land der Gauten — goter i götarnas land — dachte. Es sind vielerlei Kombinationsmöglichkeiten, die zur Erklärung des Namens zur Verfügung stehen, und es wäre nicht schwer, noch andere hinzuzufügen 41 . Man sollte, um zu einer Klärung zu kommen, vom Text des Ablabius ausgehen und in diesem Namensformen suchen, die den Gauthigoth entsprechen. Mit Gothiscandza liegt offenbar ein solches W o r t vor, doch was hilft das, wenn dieser N a m e hinsichtlich seiner Komposition ebenso umstritten ist? K . Zeuss sah in Scadinavia und Sxavöla ein germanisches W o r t für Küste und in Gothiscandza dementsprechend „die Gothenküste" 4 2 . K . Müllenhoff hielt den Namen für eine schlechte und ungeschickte Erfindung 43 . Th. von Grienberger meinte, *Gotiscandia müsse ein wirklicher geographischer N a m e sein, „der aber mit Scandza, Scandia, . . . fälschlich in Verbindung gebracht wurde" 4 4 . Die F o r m gehe auf ein *Gutisk-andja, einen Dativ sing, zu dem Nominativ *Gutisk-andeis, zurück. G. Kossinna löste das „rätselhafte Ungeheuer Gothiscandza" als *Codaniska auf, woraus durch Silbentausch zunächst *Codiskana, dann der bei Jordanes genannte N a m e wurde 4 5 . Diese willkürliche Deutung L. Weibull, Skandza u. ihre Völker i. d. Darstellung d. Jordanes, in: Arkiv f. nordisk filologi N. F. 37 (1925) 240. 41 J . Svennung, Fornvännen 59 (1964) 80 f.; ders., Jordanes und Scandia (1967) 65 ff. bes. 71 mit anderer Erklärung: „Ich glaube also, daß der Völkername Gautar aus einem uralten Namen des Flusses, etwa *Gaut (f) gebildet worden ist." — Vgl. auch die Zusammenstellung der verschiedenen Auffassungen über das Wort Gauthigoth bei: N. Wagner, Getica (1967) 156 ff. 184 ff. 207 ff. — Gegen eine Interpolation von -gothi wendet sich J . Svennung, Jordanes und Scandia (1967) 65: „Da aber die Getica-Hss. keineswegs durch Glosseme gekennzeichnet sind, muß idi *Gauthigothae als eine wahrscheinlich von Cassiodor geschaffene Bildung auffassen, im Sinne von ,Gaut—Goten'." 4 2 K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 157 f. Anm. 4» K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 63. 44 Th. von Grienberger, Untersuchungen z. gotischen Wortkunde, in: Sitzungsber. d. Phil.-Hist. Classe d. Kaiserlichen Akademie d. Wissenschaften zu Wien Bd. 142 V I I I . Abh. (1900) 102: „nom. *Gutisk-andeis, . . . , worin andeis als ende des landes gegen das meer, ein vorspringendes küstendetail kap oder landzunge bezeichnen wird." — S. Feist, Vergl. Wörterbuch d. gotischen Sprache ( 3 1939) 217 verzichtete auf eine Etymologie des Namens. 4 5 G. Kossinna, Die ethnologische Stellung d. Ostgermanen, in: Indog. Forsdi. 7 (1897) 287. 40
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hat keinen Anklang gefunden, dagegen wurde die Erklärung v. Grienbergers von Rud. Much akzeptiert 46 , von L. Schmidt übernommen47 und findet sidi noch in neuerer Literatur 48 . J. Svennung hält offenbar eine derartige Bedeutung des Wortes nicht für unmöglich, betont aber, daß Ablabius bzw. Cassiodor den Namen Gothiscandza als das „gotische Scandia" angesehen habe48. Das ist einleuchtend und zudem dadurch direkt beweisbar, das bei Rodericus Toletanus die Form Gothiscandia noch unverändert erhalten ist (vgl. oben S. 83). Namen, die den Eindruck von Komposita machen und bei denen ein näheres Bestimmungswort dem Grundwort vorangeht, sind in der Gotengeschichte mehrfach anzutreffen. Vesegothae, Ostrogothae, Screrefennae, *Aethelrugi, Ulmerugi, Vagoth sind Beispiele dafür 50 . Umgekehrte Zusammensetzungen, an die v. Grienberger angesichts seiner *Gauthi Gothi dachte, gibt es dagegen in diesem Milieu nicht. Es ist daher wahrscheinlich, daß in den Gauthigoth der erste Teil das Bestimmungs-, der zweite das Grundwort ist. Es bleibt übrig, nach der Bedeutung des Bestimmungswortes zu forschen. Die Famoi des Prokop weisen auf einen skandinavischen Stamm hin, der in lateinischer Umschrift *Gauti oder auch *Gauthi geschrieben werden müßte. Daran ist nicht zu zweifeln. Diese ''Gauthi in den *Gauthigothae zu suchen, liegt näher als irgendein anderer Erklärungsversuch. Seltsamerweise hatte Müllenhoff, der 1887 den Namen als Phantasieprodukt abqualifizierte, fünf Jahre vorher gerade diese Auffassung vertreten: „Gaut(h)igoth sunt sine dubio Toitai (leg. Taitoi) Ptolemaei, ravtoi Procopii.. . a " . Der Name könnte daher nur „gautisdie Goten" bedeuten. Es müßte sich hier dann um einen der verschiedenen bzw. verschieden benannten gotischen Stämme handeln, so benannt zur Unterschei46
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Rud. Much, Rez. v o n R. Loewe, Die ethnische und sprachliche Gliederung der Germanen (1899) in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Literatur 27 (1901) 1 1 7 ; ders., Deutsche Stammeskunde ( 2 1905) 1 1 9 ; ders., Artikel „Gothiscandza" in: J. Hoops, Reallexikon d. Germ. Altertumskunde 2 ( 1 9 1 3 — 1 5 ) 306; ders., Die Germania d. Tacitus (1937) 387; (»1967) 487. L. Schmidt, Gesch. d. germ. Frühzeit ( 2 1934) 65. E. Schwarz, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen (1951) 33; ders., Germanische Stammeskunde (1956) 85. J. Svennung, in: Fornvännen 59 (1964) 80. — Gleiche Erklärung schon bei: A . Kode, Ä r Skäne de germanska folkens urhem, in: Hist. tidskrift 25 (1905) 19 f. — Vgl. dazu auch N. Wagner, Getica (1967) 208 ff. Anm. 359. Die gleiche Namenbildung bei den Walgoti—Walagoti—Gualanguti der Fränkischen Völkertafel. Vgl. dazu J . Friedrich, Die sogenannte Fränkische Völkertafel, in: Sitzungsber. d. Kgl. Bayer. A k . d. Wissenschaften. Philos.-philol. u. hist. Klasse Jg. 1920, 11. Abh. (1920) 4 f. 14 ff. K . Müllenhoff, in: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882)
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dung von anderen gotischen Stämmen des Nordens — genannten oder ungenannten —, so benannt eventuell auch zur Unterscheidung gegenüber den Goten des Festlandes oder gegenüber den Goten im allgemeinen. Diese Erklärung müßte allerdings verlangen, daß rauxoi Kurzform desselben Namens gewesen wäre. Das erinnert an den Namen Visi — Vesi — Vesus an Stelle von Visigothae — Vesegothae. Trebellius Pollio bietet in seiner Geschichte des Claudius 6,2: Denique Scytharum diversi populi Peuci, Grutungi, Austrogoti, Tervingi [.. ,]si, Gipedes, Celtae etiam et Eruli ... in Romanum solum inruperunt52. Hier wird seit K. MüllenhofF3 *Visi emendiert. Diese Namensform hat die Notitia dignitatum (Orient. V 20). Visi hat auch Claudius Claudianus54. Apollinaris Sidonius hat dagegen dreimal Vesus bzw. V«/ 5 5 . Mit dem Ende des 5. Jh. verschwinden diese Kurzformen. Von Cassiodor, Prokop, Jordanes und dem Anonymus Valesianus — eventuell auch von Priscus — wird nun der Name Visigothae — Vesegothae — OincHYorfroi benutzt56. Diese Wortbildung muß also jünger, gewissermaßen s e k u n d ä r sein57. Paßt aber die Entwicklung von Vesi zu Vesegothae zu der von Tau-toi zu *Gauthigothae? Wie kam es denn überhaupt zu dieser Änderung des Namens? Erst wenn man darüber etwas wüßte, könnte man über das Verhältnis von rauToi zu *Gauthigothae etwas mehr sagen. In des Jordanes Getica kommt der Name Vesegothae 51 mal vor, insbesondere auch in Textstellen, die dem Ablabius zugewiesen werden müssen. Demgegenüber ist der Name der Ostrogothae bei Ablabius nur einmal belegt (Jordanes Getica III 23), und dort handelt es sich offenbar um eine Einfügung des Cassiodor (vgl. oben S. 90 f.). Ablabius hat den Namen Ostrogothae nicht benutzt, obwohl er zu seiner Zeit durchaus 52
Vgl. dazu J . Svennung, Jordanes und Scandia (1967) 122 ff.; N . Wagner, Getica (1967) 235.
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K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 5 4 0 ; dazu M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- und Völkernamen (1911) 267.
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Claudius Claudianus, De consulatu Stilichonis V 9 4 : . . . Quis enim Visos in plaustra feroces reppulit? . .. Apollinaris Sidonius, Carm. V 4 7 6 : Bellonothus, Rugus, Burgundio, Vesus, Alites, Bisalta, Ostrogothus, Procrustes, Sarmata, Mosdius post aquilas venire tuas ...; Carmina V I I 398: Hie iam disposito laxantes frena duello Vesorum proceres raptim suspendit ab ira rumor...; Carmina V I I 4 3 1 : Haec secum rigido Vesus dum corde volutat ventum in conspectum juerat... Vgl. die Belege bei M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- und Völkernamen (1911) 267 f. K . Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 408 sah in Vesus eine Abkürzung von Vesegothae; dagegen H . Wehrle, Die dt. Namen d. Himmelsrichtungen u. Winde, in: Zeitschr. f. dt. Wortforschung 8 (1906) 335 f.; ebenso M. Schönfeld, a. a. O. 268.
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bekannt war58. Zehn Belege des Namens stehen bei Cassiodor nur in Zusammenhängen, die darauf bedacht sind, den Gegensatz West- und Ostgoten zu betonen oder die Vesegothae als -westliche, die Ostrogotbae als östliche Goten hinzustellen: . . . Vesegothae familiae Balthorum, Ostrogothae praeclaris Amalis serviebant (Jordanes Getica V 42). . . . ibi pars eorum, qui orientali plaga tenebat. eisque praeerat Ostrogotha, utrum ab ipsius nomine, an a loco, id est orientales, dicti sunt Ostrogothae, residui vero Vesegothae, id est a parte occidua (Jordanes Getica XIV 82). Is ergo missis legatis ad Ostrogotham, cuius adhuc imperio tarn Ostrogothae quam Vesegothae, id utrique eiusdem gentes populi, subiacebant (Jordanes Getica XVII98). Quam adversam eius valitudinem procinccaptans Balamber rex Hunnorum in Ostrogotharum parte movit tum, a quorum societate iam Vesegohtae quadam inter se intentione seiuncti habebant (Jordanes Getica XXIV 130). . . . , eo tempore, quo Beremud, .. ., cum filio Vitiricho ab Ostrogothis, ..., ad Vesegotharum regnum migravit (Jordanes Getica XXXIII 174). . . . , egitque, ut orientalem imperium Ostrogothas, Hesperium Vesegothae vastarent, . .. (Jordanes Getica XLVII 244). Et quia, dum utrique gentes, tarn Ostrogothae, quam etiam Vesegothae, in uno essent, ut valui, maiorum sequens dicta revolvi divisosque Vesegothas ab Ostrogothis ad liquidum sum prosecutus, necesse nobis est iterum ad antiquas eorum Scythicas sedes redire et Ostrogotharum genealogia actusque pari tenore exponere (Jordanes Getica XLVIII 246). . . . , quia filius eius,..Beremud iam contempta Ostrogotharum gente ... ad partes Hesperias Vesegotharum fuisset gente secutus, . . . (Jordanes Getica XLVIII 251). Nur zweimal erwähnt Cassiodor die Ostrogothae, ohne zugleich die Vesegothae zu nennen (Jordanes Getica XXXVIII199 und LH 268). Zwei Namensbelege müssen Jordanes selbst zugeschrieben werden (Jordanes Getica XXV 133 und XL 210). Der Nachweis, daß Ablabius den Namen Ostrogothae nicht benutzt hat, ist ziemlich bündig. Schwieriger ist es mit dem Namen der Vesegothae. Geht man die Stellen durch, so kann man einige Nennungen sicher Cassiodor zuschreiben, so alle oben erwähnten, in denen Vese- und Ostrogothae gemeinsam genannt sind, aber auch einige andere (Jordanes Getica XXV 131, XXVIII 200, XLVIII 246, 253, LVI 284, LVIII 297 f., 303). Zwei Textstellen sind Jordanes zuzuschreiben (Jordanes Getica XXV 132 und XXVI138). Alle anderen Nennungen der Vesegothae könnten, m ü s s e n aber nicht von Ablabius stammen. Es ist nicht auszuschließen, daß sie auf Cassiodor zurückgehen. Aus des Jordanes Getica kann nichts weiter geschlossen werden. Eine Durchsicht des 58
Vgl. die Belege bei M. Schönfeld, a. a. O. 38.
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spätantiken Schrifttums zeigt aber, daß die Westgoten bis in die Zeit Justinians in Gallien und Hispanien niemals Vesegothae genannt wurden. Sie hießen einfach Gothi und — wie Apollinaris Sidonius zeigt — daneben Vesi. Bei dieser Sachlage ist es wenig wahrscheinlich, daß sie Ablabius anders als Gothi genannt haben sollte. Cassiodor hätte dann den Namen Vesegothae überall dort eingefügt, wo es notwendig war, diese von den Ostrogothae gehörig zu unterscheiden oder wo es ihm sonst angebracht schien, diesen Namen zu nennen. In zahlreichen Fällen blieb der Name Gothi indes bei Cassiodor stehen, wo ihn Ablabius benutzt hatte. Man könnte daran denken, Cassiodor als „Erfinder" des Namens Vesegothae anzusehen. Er hätte die beiden Namen, mit denen dies Volk bislang bezeichnet worden war — Vesi und Gothi —, zu einem Wort zusammengezogen, Vesigothi und dann an Ostrogothae zu Vesegothae assimiliert. Es entstand ein Wort und zugleich eine neue Bedeutung des Namens, denn es ist ganz sicher, daß Cassiodor den Namen Vesegothae als Westgoten verstand bzw. verstanden wissen wollte (Jordanes Getica X I V 82). Bei den Ostrogothae schwankte er bekanntlich gelegentlidi, ob sie nach ihrem König Ostrogotha oder nach ihren ursprünglichen Wohnsitzen so genannt wurden (Jordanes Getica X I V 82). Im Grunde war es für ihn jedoch wohl von Anfang an klar, daß die Ostrogothae die im Osten siedelnden Goten, d. h. die Ostgoten, waren. So wurden also aus dem Stamm der Vesi, der zu den Gothi gehörte, die Vesegothae. Hätte nun der Stamm der r a w o i unter ähnlichen Bedingungen den Namen *Gauthigothae erhalten können? Etwa weil es im Norden verschiedene gotische Stämme gab? Der Gedanke ist nicht einfach abzuweisen, insbesondere auch wenn man an die *Vagothae denkt. Daß die Stammesgruppe der Goten sich in einzelne Teile gliederte und daß solche Stammesteile Namen hatten wie Vesegothae, *Gauthigothae oder *Vagothae, zeigt am deutlichsten der Name der Ostrogothae, der annähernd 200 Jahre früher belegt ist als der der Vesegothae. Daß es im gotischen Bereich außerdem auch noch Namen gab, die auf andere Art gebildet waren, zeigen die Greutungi, Tervingi und die Gipedae. Daß im Fall der Vesi — Vesegothae die neue Namensform durch eine bewußte oder halbbewußte „Sprachregelung" zustande kam und das außerhalb des Herrschaftsbereichs der Westgoten, scheint sicher, mag man nun Cassiodor oder einen anderen als Urheber dafür ansehen5'. Der 59
Cassiodor wandte sich brieflich im Auftrage des Theoderich im Jahre 507 an Alarico regi Visigotharum (Variae III, 1). Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. X I I (1894) 78.
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Gedanke dessen, der die Form Vesegothae zuerst prägte, dürfte folgender gewesen sein: Vesi, qui et Gothi vocantur, sunt Vesegothae. Im Falle der *Gauthigothae ist eine Namensreglementierung nicht sichtbar, zwar möglich, aber doch recht unwahrscheinlich. Für die Bildung dieses Namens gibt die Entstehung des Namens Vesegothae offenbar wenig her. Es ist im Grunde richtiger, den Namen *Gauthigothae neben den der Ostrogothae zu stellen. Ihr Name ist nicht nur früher belegt als der der Vesegothae, sondern überhaupt älter. Um 300 n. Chr. erwähnt Trebellius Pollio Austrogoti in seiner Vita Claudii 6,2. Claudianus und Apollinaris Sidonius sprechen von Ostrogothieo. Offenbar stammt die Form Ostrogothae an Stelle von Ostrogothi überhaupt erst von Cassiodor. Während der Name Vesegothae gewiß nichts mit Westen zu tun hat, enthält der Name Ostrogothae doch wohl die Himmelsrichtung Osten 61 ; es sind die im Osten siedelnden Goten. Es ist also eine geographische Angabe, die den Gotennamen hier näher bestimmt. Geographische Angaben sind nach Svennung auch in den Namen *Gauthigothae und *Vagothae enthalten, die Goten am Fluß *Gaut und die Goten am *Vágr62. Damit wäre eine Erklärung der Namen gegeben. Befriedigt sie aber wirklich in jeder Hinsicht? Die Namenreihe *Tovxai-^Gauthigothae-Tavxoi-Gautar ist dodi recht ungewöhnlich. Warum zunächst Erweiterung und dann Kürzung des Namens? E. Wessén verwies auf folgende Parallelen: Geatas-WedergeatasWederas; Hrédgotan-Hrédas63. Das mag eine gewisse Stütze darstellen, und wenn diese wirklich helfen sollte, dann müßte ToCtai unmittelbar mit Gothi identisch sein. Damit hätte man die Goten für Skandinavien gleich zweimal belegt. Es bleibt der alte Zweifel an der Richtigkeit der Überlieferung von TOCTCU. Mit diesem Namen ständen sie — als eventuell wenig jüngere Form — neben den Fiidcoveg, also auch neben den Gotones, folglich neben den Gothi. Als 'TaOtai wären sie neben die rauToi zu setzen. Hier kann nur ein alter, aber nicht immer befolgter Grundsatz 60
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Vgl. die Belege bei M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- und Völkernamen (1911) 38; ferner J. Svennung, Jordanes u. Scandia (1967) 116 ff. J. Svennung, a . a . O . 87. 116; N . Wagner, Getica (1967) 162; ebenso H. Wehrle, Zeitsdir. f. dt. Wortforschung 8 (1906) 334 ff.; anders W. Streitberg, Ost- und Westgoten, in: Indogerm. Forschungen 4 (1894) 305 ff.; M. Schönfeld, a. a. O. 39. Es ist bemerkenswert, daß Svennung einerseits die *Vagothae als die Goten am Vágr ansieht, daß er aber andererseits die Existenz eines Flusses Vagus (Jordanes Getica III 17) auf Scandza wegdiskutiert. — Vgl. J. Svennung, a. a. 0 . 1 4 ff. E. Wessén, Uppsala universitets arsskrift 1924 (Filosofi, sprakvetenskap odi historiska vetenskaper 6) (1924) 89.
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helfen: Textemendationen sind nur dort zulässig, wo ein evident korrumpierter Text vorliegt oder wo sie sich unabhängig vom Text beweisen lassen. Warum sollte man dann bei den ToCtcu eine Emendation vornehmen? Eine Änderung wird durch nichts wirklich gefordert! Es bleiben noch die *Vagothae und die *Euagreotingi. In ersteren sieht Svennung *Vagigothae oder *Vagagotbae M . Denkt man bei den •'Gauthigothae an die Goten am Fluß *Gaut, so könnte man in der Tat bei den *Vagothae an Goten am Fluß *Vdgr denken. Jordanes Getica III 17 berichtet haec ergo habet ab Oriente vastissimum lacum in orbis terrae gremio, unde Vagi f luvius velut quodam ventrae generatur in Oceanum undosus evolvitur. Svennung sucht den See und den zugehörigen Fluß auf dem östlichen Festland; dazu gibt der Text keinerlei Grund; es sei denn, man quälte ihn. Wenn der See im Osten von Scandza lag, so muß der Fluß Vagus nach dem Osten ins Meer geflossen sein. Es bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als mit H. Schück, Th. von Grienberger, A. Olrik und anderen65 an den Motala Elf, der den Vättersee nach dem Osten entwässert, zu denken. Damit ergäbe sich für die *Vagothae eine Lokalisierung in der jetzigen Landschaft Östergötland. Daran dachte schon H. Schück". Im Grunde war dieser Raum „blockiert", solange man die Ostrogothae zu den Stämmen Scandzas rechnen mußte; nun ist er „frei". Ein Überblick über die verschiedenen Namensbelege zeigt, daß spätestens um Christi Geburt Goten an der Weichsel ansässig waren und daß in Skandinavien im 2. Jh. oder schon früher ToCtcu wohnten. Im 5. Jh. müssen im Norden mehrere gotische Stämme gesiedelt haben. Alle diese Stämme waren offenbar durch alte Namensbeziehungen miteinander verbunden. Voreilige Schlüsse hieraus über die Herkunft der gotischen Stämme, und die Zeit und den Weg ihrer Ausbreitung zu ziehen, wäre falsch. Man muß nämlich bedenken, daß Ptolemaios der erste antike Autor war, der für Skandinavien eine größere Anzahl von Volksnamen nachweisen konnte. Noch Plinius kannte in Scatinavia nur das „große" Volk der Hillevionen mit ihren 500 Gauen (Plinius Hist. Nat. IV 96). Tacitus nannte den Namen der Inseln nicht, die nach seinen Angaben im nörd64 85
68
J . Svennung, a. a. O. 55. H. Schuck, Folknamnet Geatasi den fornengelska dikten Beowulf, in: Uppsala universitets ärsskrift 1907 Program 2 (1907) 9 ; Th. v. Grienberger, Die nordischen Völker bei Jordanes, in: Zeitsdir. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 46 (1902) 154; A. Olrik, Bravellir, in: Namn odi bygd 2 (1914) 301: „Vagoth (': Väg-gotar eil. Vag-gautar) ma viere 0stg0terne, boende ved Motalaelven (Vagi fluvius, naevnt hos Jordanes lige i forvejen)". H. Schück, a. a. O. 9 f.
Probleme der historisdien Quellen
127
liehen Ozean liegen (Tacitus Germania 1). Er könnte natürlich an Scatinavia gedacht ha,ben, ohne es zu erwähnen. D a er jedoch die Suionen nannte (Tacitus Germania 44), ohne vom Namen der Insel 67 , auf der sie offenbar wohnten, irgendetwas zu schreiben, ist es unsicher, ob er überhaupt genaueres von der Geographie und Ethnographie des Nordens wußte. Das Schweigen der Quellen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts über Goten in Skandinavien besagt also nichts und überrascht auch nicht. Es können schon damals dort Bevölkerungsgruppen gesiedelt haben, die einen den TOCTCU entsprechenden Namen trugen. Davon hätte man im Römischen Reich nicht unbedingt etwas zu wissen brauchen, denn man besaß über die Bevölkerungsverhältnisse des Nordens damals noch keine nennenswerten Informationen 88 . Ein Uberblick über die antiken Quellen gibt also zwar ein anderes Bild von der Siedlungsgeschichte gotischer Gruppen als das Werk des Ablabius; eigentliche Widersprüche fehlen jedoch, und keine seiner Nachrichten über die Urzeit der Goten ist — sieht man von der Dreizahl der zur Wanderung benutzten Schiffe und dem Namen des Berig ab — bei Anlegung eines kritischen Maßstabs im eigentlichen Sinne unglaubwürdig. Diese Feststellung ist gewiß ein Fortschritt. Vor weiteren Folgerungen muß allerdings gewarnt werden. Die Annahme etwa, auch das Unüberprüfbare in der Sage vom Ursprung der Goten müsse richtig sein, ginge viel zu weit. Das Nebeneinander der T o t u a i des Ptolemaios und der r a v t o i des Prokop hat immer wieder Germanisten und Nordisten gereizt, sich mit dem Lautwert der ersten Silbe zu beschäftigen. J . Grimm besserte T o i t a i in "Taütoa 69 , beseitigte also die Unterschiede zwischen den Formen des Ptolemaios und des Prokop und meinte dann, zwischen diesem Namen und dem der Gotbi bestände Ablautverhältnis. Der Gedanke ist immer wieder einmal aufgenommen worden und wird auch heute noch vertreten 70 . O. Höfler betont, daß Gautar und Gothi zweifellos im Ablautverhältnis stehen71. N. Wagner weist darauf hin 72 , daß O. Almgren Gutones — Gotones als „eine Art Diminutivbildung" zu Gautar aufgefaßt habe 73 . Schon Rud. Much hatte in Gautar eine Bezeichnung für Männer 67
88 69 70 71 7! 73
Vgl. St. Bolin, Tacitus kartbild av norra Europa, in: Festskrift tili Arthur Thomson (1961) 1 9 — 2 4 u. dazu J. Svennung, Svearnas ö och Sithonerna hos Tacitus, in: Fornvännen 57 (1962) 193 ff. Rud. Much, Germania d. Tacitus (1937, 2 1959) 3 9 2 ; ( 3 1 9 6 7 ) 494. Vgl. Anm. 29. Vgl. N . Wagner, Getica (1967) 166 ff. Vgl. oben S. 45 Anm. 40. N . Wagner, a. a. O. 168 Anm. 229. O. Almgren, Nordische Felszeidinungen als religiöse Urkunden (1934) 314 ff.
128
Die westgotische Scandza-Tradition
sehen wollen 74 . Almgren ergänzte, daß Gothi ursprünglich eine Bezeichnung für die Jungmannschaft gewesen sei. Schon früh hatte Much auf entsprechende Wortbildungen in skandinavischen Sprachen hingewiesen. Danach hätten also die Auswanderungsscharen — dieser Gedanke steckt dahinter — die ablautende Namensform der daheim Gebliebenen getragen. Ablautbildungen spielen bei der Gestaltung germanischer Stammesnamen aber offenbar keine Rolle. Nur analoge Bildungen könnten wirklich erhärten, daß hier Ablaut vorliegt. Welche historischen Folgerungen könnte man aber auch ziehen, wenn ein wirklich beweisbares Ablautverhältnis vorläge? Um der Vertrauenswürdigkeit der Argumentation willen ist es besser, den Ablaut aus dem Spiel zu lassen. Man sollte sidi damit zufrieden geben, daß es in Skandinavien T o v t a i , ravtoi, *Gauthigothae und *Vagothae und auf dem Festland Gotones, rfrftcovEg, Gothi, Ostrogothae und Vesegothae gab, und daß sie alle auf irgendeine Weise zusammengehören! Ein besonderes Problem bieten die von Ablabius genannten *Euagreotingi. Weder Ablabius, noch Cassiodor, noch Jordanes erwähnten den Stammesnamen Greutungi. Nur Ablabius dürfte ihn allerdings aus dem Werk des Ammianus Marcellinus gekannt haben. In den aus dessen Geschichtswerk übernommenen Exzerpten tilgte er die Namen der Könige Vithimir und Viderich ebenso wie die Namen der Greutungi und Tervingi, die Ammianus Marcellinus als Namen gotischer Stämme verwandte. Greutungi und Tervingi sind für Ablabius Gothi schlechthin. Älter als der Beleg der Greutungi bei Ammianus Marcellinus ist der der Grauthungi des Vopiscus und der der Grutingi des Trebellius Pollio. Zeitgleich mit Ammianus Marcellinus sind sechs Belege für Gruthingi bei Claudianus und zwei für Greothingi bei Hydatius 75 . Die Verderbtheit der Stelle bei Jordanes Getica III 22 erlaubt es nicht, die *Euagreotingi71 einfach mit den festländischen Greutungi gleichzusetzen. Svennung dachte daran, es könnte im Norden neben den Insel-Greoimgi auch Greotingi auf dem Festland gegeben haben77. Das alles ist nicht klar zu entscheiden, und auch hier bleibt am Ende nur das eine sicher: Es liegt ein Beweis 74
75
Rud. Much, Germanische Völkernamen in sagenhafter Deutung, in: Zeitsdir. f. dt. Wortforschung 1 (1901) 325. Vgl. die Belege bei M. Schönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- u. Völkernamen (1911) 113; J. Svennung, Jordanes u. Scandia (1967) 1 1 7 ff.
™ Die Handschriften haben euagre, euagrae, euagere einerseits und othingis an77
derseits. Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) 59 Anm. zu Zeile 11. Die Verderbtheit der Stelle ist uralt. J. Svennung, Jordanes u. Scandia (1967) 119.
Probleme der historischen Quellen
129
für Zusammenhänge zwischen Skandinavien und dem Festland vor 7 8 , der die Goten betrifft. Es ist ja im Grunde ganz unsicher, mit welchem gotischen Teilstamm die Greutungi identisch sind 7 '. Ehe man hier voreilig identifiziert, sollte man daran denken, wie leicht Stammesnamen entstehen und vergehen können 80 . Anders als Svennung versuchte N . Wagner, wo Th. Mommsen debinc Mixi, Evagre, Otingis (Jordanes Getica I I I 22) las, mit E . H e r mann 8 1 in debinc mixti cum Greotingis zu bessern 82 . Ihm fiel auch auf, daß die Ostrogotbae „an den Platz neben den norwegischen Stämmen, den sie in der Liste einnehmen, nicht passen" 8 '. Das W o r t *mixti verlange ein Stützwort, und er stellte daher folgenden T e x t her: debinc Ostrogotbae mixti cum Greotingis. Schon E . Hermann hatte Jordanes Getica I I I 22 mit den Claudian-Versen Ostrogothis colitur mixtisque Grutingis Pbryxager (Claudianus In Eutropium 2,153) verglichen. Wagner betonte, daß seine Emendation die Parallelität der Textstellen noch vergrößere und versuchte nachzuweisen, daß Cassiodor bei Claudian stilistische Anleihen aufgenommen habe 85 . D a es sich jedoch nur um die Stilisierung der Stelle handelt, hätte die Liste skandinavischer Völker nichts mit Claudian zu tun, gehe vielmehr auf eine andere unabhängige Quelle zu78
Es ist niemals genügend beaditet worden, daß hier die Namen zusammengehöriger Bevölkerungsteile etymologisch nicht zusammengehören und daß evtl. alte Namen aufgegeben, dann aber wieder aufgenommen werden können. Man denke hier an die Quaden und die Alamannen, die später wieder Sueben hießen.
79
Vgl. dazu Fr. Altheim, Wald- und Feldleute, in: Paideuma 8 (1954) 424 bis 430; ders., Greutungen, in: Beitr. z. Namenforschung 7 (1956) 81—93; H. Rosenfeld, Goten und Greutungen, in: Beitr. z. Namenforschung 7 (1956) 195 bis 206; Fr. Altheim, Zum letzten Mal: Greutungen, in: Beitr. z. Namenforschung 7 (1956) 241—246; H. Rosenfeld, Goten und Greutungen (Schlußwort), in: Beitr. z. Namenforschung 8 (1957) 36—43; ders., Ost- und Westgoten, in: Die Welt als Geschichte 17 (1957) 245—258; dazu auch: R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961) 472 f. 478 ff.; N. Wagner, Getica (1967) 191 ff.; J . Svennung, Jordanes und Scandia (1967) 115 f. 117 ff. 127 ff.
80
Vgl. Fr. Kauffmann, revariQixog, in Zachers Zeitsdir. f. dt. Philologie 33 (1901) 1—5, wo die Variabilität der Namen durch ein kennzeichnendes Beispiel illustriert wird: Die Spradie der Vandalen wurde gelegentlich als lingua gotica bezeichnet.
81
E. Herrmann, Sind der Name der Gudden und die Ortsnamen Danzig, Gdingen und Graudenz gotischen Ursprungs? in: Nadirichten d. Ak. d. Wissenschaften in Göttingen. Philos.-histor. Kl. Jg. 1941, Nr. 1 (1941) 279 ff.
82
N. Wagner, Getica (1967) 182. N. Wagner, a. a. O. 186.
84 84
N.Wagner, a . a . O . 187.
85
N. Wagner, a. a. O. 192.
9
Hadimann, Goten und Skandinavien
130
Die westgotische Scandza-Tradition
rück 8 '. Es sei abzulehnen, wenn Th. Mommsen hier Spuren des Ablabius sehe. Vielmehr sei „der von Mommsen so hoch gestellte Ablabius eine viel zu unsichere Größe" 87 . Daß aber gerade nur Ablabius hier als Quelle in Betracht kommt, und nicht Cassiodor, schließt natürlich nicht aus, daß dieser bei Claudian Anleihen machte. Wenn die Ostrogothae in Jordanes Getica III 23 von Cassiodor in den Text eingefügt worden sind, so ist Wagners Emendation aber unmöglich. Wenn man gotische Stämme im Norden und auf dem Kontinent nachweisen kann — im Norden seit dem 2. Jh., im Süden mindestens ein Jahrhundert früher —, dann kommt man um die Annahme von Wanderungen vom Norden nach dem Süden oder umgekehrt nicht herum. Verbindungen über See müssen bestanden haben. Ob es sich um einen oder mehrere Wanderzüge handelte, ob die Wanderrichtung stets vom Norden nach dem Süden verlief oder umgekehrt, ob gar Rückwanderer heimkehrten und wann die Wanderung bzw. die Wanderungen erfolgten, das alles bleibt, wenn man nur die Zeugnisse der Namen in Betracht zieht, allerdings v o l l k o m m e n offen. Keine der verschiedenen Möglichkeiten läßt sich im Prinzip von vornherein ausschließen. Als Anwohner der Ostseeküste erwähnt die Scij«iiz Die von Th. Mommsen nach sehr verschiedenartigen Lesungen der Quellen als *Taetel und *'Rugi hergestellten Namen bei Jordanes Getica III 24 (vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 [1882] 60. 164 u. 165 von K. Müllenhoff akzeptiert) sdion von K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 503 als *Ethelrugi gelesen. — S. Bugge, Norges Indskrifter med de seldre Runer 1 (1891—1903) 107 las ''Ethelrugi oder *Aethelrugi. — Th. von Grienberger, Zeitsdlr. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur N . F. 34 (1902) 142 stellte *Thethelrugi her. — Bugges Lesung wurde von L. Fr. Läffler, Fornvännen 2 (1907) 111 akzeptiert, während L. Weibull, Arkiv f. nordiske filologi N . F. 37 (1925) 240 auf Mommsens Lesung zurückgriff. — J. Svennung, Fornvännen 59 (1964) 98 f. kommt wieder auf *Aetelrugi zurück. 81 Vgl. R. Hachmann, in: R. Hachmann, G. Kossack, H . Kuhn, Völker zwisdien Germanen u. Kelten (1962) 50 f. 92 Rud. Mudi, Die Germania d. Tacitus (1937) 30 f.; (»1967) 59 ff. sah — wahrsdieinlidi mit Recht — einen Gegensatz zwisdien vera et antiqua nomina und Germaniae vocabulum recens et nuper additum. — E. Schwyzer, in: Tacitus' Germania erläutert von H. Schweizer—Sidler ("1902) 7 meinte einen Gegensatz zu den erfundenen Namen der Ingväonen, Herminonen und Istväonen feststellen zu müssen. 9»
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Die westgotische Scandza-Tradition
verstanden wissen wollte. Als Namen einer größeren Gruppe benutzte er ihn nicht, doch steht er neben dem der Suebi, die eine echte Gruppe darstellten. Aber audi die Namen Marsi und Gambrivii stehen dabei. Ihr Bedeutungsgehalt ist ungewiß; jedenfalls ist er aber nicht mit dem des Suebennamens gleichzusetzen. Die Problemlage wird dadurdi nicht einfacher, daß Tacitus bei seiner Aufzählung der „Oststämme" die Vandilii nicht nannte. Dort, wo ihr Name in späteren Quellen aufzutreten pflegt, erwähnte er Lugiorum nomen in plttres chitates diffusum (Tacitus Germania 43,2); deren Teilstämme, die Harii, Helvecones, Manimi, Helisii und Naharvali sind jedoch mit Ausnahme der Helvecones, die Ptolemaios Geogr. II 11,9 etwas abweichend AiXouaiomg nannte, sonst unbekannt. Die Identität von Lugii und *Vandili wird zwar allgemein als gegeben angenommen, ist durch antike Autoritäten jedoch nicht direkt belegt. So kann man also aus den *Vandili des Plinius und den Vandilii des Tacitus nicht viel gewinnen, um die Erwähnung der Vandali in der Scandza-Tradition verständlicher zu machen®3. In der Geschichte treten Vandali als germanischer Stamm erstmals als Waffengefährten der Markomannen in ihren Kriegen gegen die Römer auf. Dio Cassius ist der erste, der sie als Ovdvöcdot und BavöiXoi nannte (Dio Cassius LV 1,3, L X X I I 2,4 und LXXVII 20,3). Ihre Lokalisierung im südöstlichen Mitteleuropa an mittlerer und oberer Oder und an der oberen Weichsel ist für diese Zeit sicher. Waren die Wandalen ein Teilstamm der Lugier, dann können sie schon zur Zeit des Tacitus Nachbarn der Goten gewesen sein, denn trans Lugios Gotones regnantur (Tacitus Germania 44,1). Ablabius kannte ferner nach Dexippos Wohnsitze der Wandalen iuxta flumina Marisia, Miliare et Gilpil et Grisia (Jordanes Getica X X I I 113). Er erwähnte sie in Pannonien (Jordanes Getica X X I I 115 und X X X I 161) und schließlich in Spanien und Nordafrika (Jordanes Getica X X V I I 141, X X X 153, X X X I 163, X X X I I 166, X X X I I I 167, 169 und 173, XXXVI 184, XLV 235 und XLVII 244). Von daher kann die Scandza-Tradition nicht beeinflußt sein. Offenbar enthält sie also, was die Wandalen betrifft, wieder ein Stück historische Wahrheit. Einzig über ältere Wohnsitze der Gepiden machen antike Autoren keinerlei Angaben. Erstmals ist ihr Name für die Zeit der Kaiser Claudius " Vergleicht man des Tacitus Angaben über die ethnographischen Verhältnisse im Osten Germaniens mit denen des Ptolemaios, so kommt man — trotz aller Lücken der Uberlieferung und trotz der unterschiedlichen Berichterstattung — um die Annahme eines engeren Bezuges zwisdien Lugii und Vandilii nidit herum.
Probleme der historischen Quellen
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Gothicus (263—270) und Probus (276—282) belegt94. Sie treten u. a. mit Goten und Wandalen in Zusammenhang mit allerhand kriegerischen Auseinandersetzungen auf, die über ihre damaligen Wohnsitze jedodi keinen rechten Aufschluß geben. Man sollte also die Frage der frühesten Wohnsitze der Gepiden besser außer Betracht lassen. Ein Rückblick auf das, was sich bei dem Vergleich der gotischen Scandza-Tradition mit den Nachrichten römischer und griechischer Schriftsteller vornehmlich des 1. und 2. nachchristlichen Jahrhunderts ergeben hat, zeigt, daß sich ein beträchtlicher Teil historischer Wahrheit in ihr nicht bestreiten läßt. Die antiken Autoritäten bestätigen im wesentlichen, daß Goten, Rugier und Wandalen ehedem ihre Wohnsitze dort hatten, wo sie die Überlieferung der Westgoten lokalisierte. Angaben, daß die Goten am Meer wohnten, fehlen. Ausgesprochene Widersprüche gegen die Scandza-Tradition ergeben die Schriften des ersten und zweiten Jahrhunderts nicht". Wo sie ergänzende Angaben liefern, fügen sich diese befriedigend ein. Das alles ist deswegen widitig, weil Ablabius außer Pomponius Mela und Ptolemaios keinen der Autoren dieser frühen Zeit kannte und von keinem abhängig sein kann. Den wichtigsten Teil der Scandza-Tradkion vermag die antike Gelehrsamkeit der Zeit um und nach Christi Geburt allerdings nicht zu bestätigen, die Nachricht selbst von der Auswanderung der Goten aus Scandza. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Ablabius des Ptolemaios ToCtai kannte. Auch Zxavôia, die Insel, auf der sie wohnten, war ihm ein Begriff. Er wußte auch auf Grund von jüngeren Nachrichten von einer Insel im Norden, auf der viele Völker, u. a. die *Vagotbae, die *Gauthigothae wohnten. Er kannte auch eine ferne Insel, von der nach der Gotensage die drei Schiffe unter Berig ausgefahren waren, und er wußte nach derselben Sage von Goten im nordöstlichen Mitteleuropa in einem Land, das er Gothiscandia nannte und das zu Schiff erreichbar war. Gothiscandia ist möglicherweise eine Wortbildung, die auf Ablabius zurüdsgeht, der vielleicht aber eine andere — wenn auch ähnlich lautende — Form zugrunde liegt. Die Gotensage nennt mehrfadi Ländernamen: Gepedoios insula und Spesis provincia (Jordanes Getica XVII 96) und Oium (Jordanes Getica IV 27). Viel ist daraus für das Verständnis einer Änderung, die Ablabius zu dem Namen Gothiscandia geführt haben könnte, nidit zu gewinnen. Germanische Ländernamen aus früher Zeit sind nidit eben häufig belegt. Wo Germanen in ehemals römisdies Gebiet eindrangen, da überM
Scriptores Historiae Augustae X X V 6, 2 u. XXVIII 18, 2. — Die Stellen am handlichsten in Ubersetzung bei W. Capelle, Das alte Germanien (1929) 239 u. 247. — Besser in: E. Hohl, Scriptores Hist. Aug. 2 (1966) 138. 216. • 5 So dachte auch R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 464, dodi haben seine Argumente ein anderes Fundament.
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Die westgotische Scandza-Tradition
nahmen sie in der Regel die alten Namen. In ihren alten Sitzen mögen die Germanen eigene Landschaftsnamen besessen haben. Rugilanda — Rttgiland98 (Origo 3 und Paulus Diaconus Hist. Lang. I 19) und campus feld — campus ..qui sermone barbarico feld (Origo 4 und Paulus Diaconus Hist. Lang. I 20) sind Landschaften aus der Langobardengeschichte, die sich lokalisieren lassen. Nicht ohne Interesse sind auch GolaidaGolanda (Origo 2 und Paulus Diaconus Hist. Lang. I 13), das L. Schmidt in *Gotlanda bessern wollte97, und Antbaib, Bainaib und Burgundaib (Origo 2). Offenbar waren germanische Landschaftsnamen — sagenhafte und erfundene, wie echte — so gebildet, daß mit den Stammesnamen ein geographischer Begriff verbunden war. Gepedoios, Antbaib und Burgundaib und Rugiland sind durchsichtig. Dementsprechend müßte der Name des Landes, das die Goten besetzten, als sie vom Norden kamen, in der Gotensage aus Gothi- und einem geographischen Begriff gebildet gewesen sein. In der Tat wäre *Gothilanda naheliegend. Eine derartige Emendation ist von Beweisbarkeit weit entfernt, wenngleich die spätere germanische Literatur von gleichartigen Namensbildungen wimmelt98. In der Frage der Beziehungen zwischen Goten und Skandinavien ist nun soviel sicher, daß ein Zusammenhang besteht; doch welcher? Es gibt theoretisch noch zwei Möglichkeiten, weiter zu kommen. Man könnte aus der Tatsache, daß die wesentlichsten Teile der Goten-Sage historische Wahrheiten enthalten, folgern, auch die Nachricht von der Einwanderung der Goten müsse wahr sein. Man könnte ähnlich aus der Tatsache, daß Goten in Skandinavien und an der Weichsel siedelten und daß sich daraus die Wanderung der einen Bevölkerungsgruppe nach dem Süden übers Meer oder der anderen nach dem Norden ergäbe, schließen, die Scandza-Tradition entscheide diese Alternative und spreche für eine Wanderung der Goten übers Meer nach dem Süden. Aber hier ist die Grenze dessen erreicht, was methodisch zulässig ist. Goten in Skandinavien könnten ebensogut audi vom Kontinent nach dem Norden gekommen sein. Die Sage kann diese Möglichkeit nidit ausschließen, im Gegenteil. Die Aufzeichnung der „Wandersage" der Sachsen in der Translatio s. Alexandri 1 •* Hist. Lang. Cod. Gothani 3: Rudiranda — Rudilanda. 9 7 L. Schmidt, Zur Geschichte d. Langobarden (1885) 49 Anm. 1. — Vgl. auch K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 472. — Im Codex Heidelbergensis des Paulus übrigens: Godolanda; vgl. L. Bethmann u. G. Waitz, Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 54. 9 8 In einer althochdeutschen Quelle d. 9. Jh. Uualholant (= Gallia), Uuasconolant (= Equitania), Franchonolant (= Germania), Lancpartolant ( = Italia). Vgl. C. Hofmann, Metrologisches u. Geographisches a. d. Wessobrunner Codex, in: Germania 2 (1857) 92.
Probleme der historischen Quellen
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zeigt eine Wanderung", die dem historisch nachweisbaren Ablauf genau entgegengesetzt verlaufen sein soll, anstatt vom Kontinent nach Britannien von dorther zum Kontinent. Die antike Ethnographie vermag wohl in der Frage der ältesten Wohnsitze der Goten zu helfen, für die andere Frage, die nach der Herkunft der Goten, ergibt sich nichts. Will man in dieser Frage weiterkommen, so muß man versuchen, mit Hilfe anderer Quellen vorwärts zu kommen. 6. Die ältesten Nachrichten der Antike über die der Goten
Wohnsitze
Plinius erwähnte in einem Exzerpt aus Pytheas einen Volksstamm, für den die Handschriften etwa Guiones oder Gutones bieten (Plinius Hist. Nat. XXXVII 2,35). K. Zeuss entschied sich einst für die zweite Form1. K. Müllenhoff meinte indes, Plinius habe zwar an dieser Stelle die Gutones genannt, doch habe er ihren Namen an die Stelle der Teutones gesetzt, weil er die Goten als Vermittler im Bernsteinhandel kannte, von dem Pytheas hier berichtete8. Diese Annahme ist insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als es für Plinius in der Tat nahe gelegen haben könnte, speziell die Goten mit dem Bernsteinhandel zu verbinden. Sie entbehrt aber, was eine ursprüngliche Nennung der Teutonen anbelangt, jeder näheren Begründung. O.Bremer hielt noch 1899 daran fest, daß Pytheas hier schon ursprünglich die Gutones genannt haben könnte3. D. Detlefsen schlug dann statt der Lesung Guionibus und Gutonibus die Emendation Inguionibus vor und hielt diesen sonst nicht belegten Namen für eine Nebenform zu den Inguaeones4, was sich jedodi schwerlich beweisen läßt. L. Schmidt, O. Gutenbrunner und E. Schwarz kamen dann wieder auf den Vorschlag Müllenhoffs zurück®. Sicher ist es, daß das Textstück des Pytheas, das Plinius verwandte, nicht wörtlich wiedergegeben ist und Ergänzungen enthält. Sicher ist ferner, daß es sich schon ursprüngm 1
Vgl. oben S. 32 Anm. 68.
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 135. 2 K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 1 (21890) 479. 3 O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899) 52. 4 D. Detlefsen, Die Entdeckung d. germ. Nordens i. Altertum (1904) 7 f. ® S. Gutenbrunner, Germanische Frühzeit i. d. Berichten d. Antike (1939) 70; E. Sdiwarz, Germ. Stammeskunde (1956) 43. — Neuerdings denkt D. Stichtenoth, Pytheas von Marseille. Die Gesdiiditssdireiber d. dt. Vorzeit 103 (1959) 32 f., Plinius habe, da „es vor Christi Geburt noch keine Goten südlich der Ostsee gab", einen anderen Namen vorgefunden und diesen durch den Gotennamen ersetzt. Eingehenderes Erörtern der gewagten Kombinationen Stiditenoths erscheint kaum nötig.
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Die ältesten Nachrichten der Antike über die Wohnsitze der Goten
lieh auf die Nordseeküste bezog und auch von Plinius so verstanden wurde. Deswegen zog Bremer folgerichtig in Betracht, die Goten könnten ursprünglich in Holstein gesiedelt haben*. Wahrscheinlich ist, daß erst Plinius den Namen der Goten einfügte; sei es absichtlich, sei es, weil er den bei Py theas genannten Namen als den der Goten verstand. Mehr ist aus dieser Stelle gewiß nicht zu entnehmen und daher muß sie außer Betracht gelassen werden, wenn es sich darum handelt, Klarheit über die Wohnnent zu gewinnen. sitze der Goten und die Chronologie ihrer Anwesenheit auf dem KontiStrabo ist offenbar der erste antike Geograph, der die Goten kannte. Er nannte Boutcoveg unter den von Marbod abhängigen Stämmen (Strabo Geogr. IV 1,3), was gemeinhin in "ToiiTCüves emendiert wird. Dieser Besserungsvorschlag findet sich schon bei Zeuss7 und ist sicher richtig. Strabo hat seine Geographie im wesentlichen im Jahre 7 v. Chr. abgeschlossen. Der Textabschnitt, der die Goten nennt, ist allerdings einer der von ihm später in den schon fertigen Text eingeschobenen Nachträge. Die Einführung muß v o r der Vertreibung des Marbod, von der der Text nichts berichtet, doch n a c h dem Triumph des Germanicus im Jahre 16 n. Chr., der erwähnt wird, erfolgt sein. Sie nennt im gleichen Satz die Ao-uyioi, die sonst unbekannten Zoüjioi und MouyiXcoveg, ferner die Sißivoi und die S^vcoveg. Lugier und Semnonen gehören offenbar zu den erst durch die römische Flottenexpedition des Jahres 5 n. Chr., durch den Landfeldzug desselben Jahres oder in Verbindung mit dem Feldzug gegen Marbod im Jahre 6 n. Chr. bekannt gewordenen Germanen. Da Strabo von den römischen Intrigen gegen Marbod nichts wußte, ist es kaum möglich, daß die Goten den Römern erst in Verbindung mit der Fühlungnahme des jüngeren Drusus mit Catvalda kurz vor oder im Jahre 18 n. Chr. oder im Zusammenhang mit dem Übertritt Marbods auf römischen Boden im gleichen oder folgenden Jahr bekannt geworden sind. Die Jahre 5/6 n. Chr. sind also der Terminus quo oder ante quem für das Bekanntwerden des Gotennamens und eines kontinentalen Wohnsitzes der Goten bei Römern und Griechen. Plinius nannte die Goten außer in Verbindung mit dem Exzerpt aus Pytheas noch ein zweites Mal (Plinius Hist. Nat. IV 14,99); für die Chronologie der Goten gibt diese Stelle jedoch nichts. Tacitus erwähnte die Goten — als Gotones — in Verbindung mit dem Zug des Catvalda gegen Marbod (Tacitus Ann. II 62), der im Jahre 18 — oder kurz danach — mit dessen Vertreibung endete. Catvalda, von dem es heißt, er sei seit langem unter dem Druck des Marbod landflüchtig • O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899) 52. 55.111. 7 K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 134 Anm. 136; so auch K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1890) 492.
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gewesen, brach damals mit einer starken Schar aus dem Lande der Goten in das Gebiet der Markomannen ein. Die Goten werden damit nicht gerade als unmittelbare Nachbarn der Markomannen fixiert, müssen aber ohne Zweifel in dieser Zeit sdion länger auf dem Kontinent — nicht a l l z u ferne von den Markomannen — ansässig gewesen sein. Sollten die Goten eingewandert sein, dann müßte diese Wanderung vor den Jahren 5/6 n. Chr. erfolgt sein. Es wäre allerdings falsch, aus dem Schweigen lateinischer und griechischer Schriftsteller in der Zeit vor Christi Geburt unbesehen schließen zu wollen, die Goten müßten gerade um die Zeitwende eingewandert sein8. Daß die Goten den Römern und Griechen erst kurz nach Christi Geburt bekannt wurden, hängt in erster Linie mit deren Unkenntnis der ethnographischen Verhältnisse des Nordens zusammen, die sich erst in augusteischer Zeit langsam zu bessern begann. Wenn Strabo die Goten bis zum Jahre 7 v. Chr. nicht kannte, von ihnen dann aber bis zum Jahre 17 n. Chr. erfuhr, so ist gerade das die deutlichste Spiegelung des langsamen Zuwachses ethnographischer Kenntnisse. Selbst wenn die Goten wirklich um Christi Geburt eingewandert sein sollten, dann hätte dieser Vorgang Römer oder Griechen, auch wenn sie von ihm erfahren haben sollten, wahrscheinlich verhältnismäßig wenig interessiert, denn es finden ja in ihrem Schrifttum im allgemeinen nur solche Ereignisse Erwähnung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit mitlitärischen Auseinandersetzungen in Grenznähe oder gar auf römischem Boden standen. Auch Wanderungen werden nur dann erwähnt. In diesem Sinne hatten die Wanderzüge der Kimbern und Teutonen Bedeutung, hatte der Zug des Ariovist nach Gallien Gewicht, war die Wanderung der Markomannen nach Böhmen wichtig und mußte das Auftauchen der Chatten am Rhein Interesse beanspruchen, um ein paar kennzeichnende Beispiele zu nennen. Die älteste Nachricht von den Goten, die des Strabo, sagt von der Lage ihrer Wohnsitze so gut wie nichts, und nur mittelbar läßt sich erschließen, daß sie damals auf dem Kontinent in der Nachbarschaft von östlichen Stämmen gesiedelt haben müssen. Von diesen sind nur die Lugier und die Semnonen — vielleicht auch die Sibinen — genauer lokalisierbar, was jedoch für die Goten nicht viel ergibt (Strabo Geogr. VII 1,3). Plinius kannte die Goten auf dem Kontinent als einen Teil der *Vandili (Plinius Hist. Nat. IV 14,99) und nannte mit ihnen zusammen die Burgunder, Variner und Chariner. Auch daraus läßt sich nur ganz allgemein auf Wohnsitze im östlichen Mitteleuropa schließen. 8
Das ist aber, wo man überhaupt mit Einwanderung der Goten aus Skandinavien redinet, die gängige Meinung.
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Die ältesten Nachrichten der Antike über die Wohnsitze der Goten
Auch des Tacitus Kenntnisse führen für sich allein nicht sehr viel weiter: Trans Lugios Gotones regnantur,... Protinus deinde ab Oceano Rugii et Lemovii, . . . (Tacitus Germania 44,1). Er bestätigte also, daß sie jenseits der Lugier — wohl nördlich oder nordöstlich von ihnen — siedelten und war der Meinung, daß sie k e i n e Anrainer der Ostsee waren, als welche er Rugier und Lemovier a u s d r ü c k l i c h nannte. Das System, das Tacitus beim Aufzählen der östlichen Stämme verwandte, ist jedoch durchsichtig: Er schritt vom Süden nach dem Norden voran, nannte die Lugier, dann die Goten, danach die Rugier a m M e e r . Alsdann bog er nach dem Westen ab und nannte die Lemovier, querte die Ostsee, erwähnte die Suionen, kam übers Meer zum Festland zurück und nannte als Meeranwohner die Aestier und die Sithonen. Die Aufzählungsweise in des Ptolemaios Geographie ähnelt der des Tacitus, doch reihte Ptolemaios die Namen nach einem anderen System auf: Er begann in Germanien weit im Westen und zählte zunächst die Küstenanwohner auf, als deren östliche er die Deiöivoi und die 'Potitixtaioi an der Weichsel erwähnte (Ptolemaios Geogr. II 11,14). Danach zählte er die größten im Binnenland wohnenden Stämme auf und schloß diese Reihe mit den BougYOÜvteg, wiederum an der Weichsel. Es folgte eine Anzahl kleinerer Stämme, die verstreut wohnten, und dann zählte er südliche Gruppen auf und endete mit den Aoijyoi wieder an der Weichsel, diesmal an deren Quelle. Die Goten fehlen bei dieser Aufzählung. Ptolemaios kannte sie nicht als Bewohner Germaniens, als dessen Grenze die Weichsel galt. Den Namen der T O U U X X E I O I , den Ptolemaios zweimal kurz hintereinander nannte, hat Much gewiß mit Recht in ^ToDyixXeioi emendiert" und darin eine — wohl verderbte — Form des Rugiernamens sehen wollen. In der Tat „paßt" diese Emendation gut, denn Ptolemaios nannte zwischen den ^'PouYixXsioi und den BodqyoCvx£5 die 'AiAouaitoveg (Ptolemaios Georgr. I I 11,9), die Tacitus als Helvecones als einen Teil der Lugier kannte10 (Tacitus Germ. 43). Wo Tacitus die Lemovier ansetzte, nannte Ptolemaios die SeiSivoi, die möglicherweise mit den Sißivoi Strabos identisch sind (Strabo Geogr. VII 1,3). Im großen Ganzen stimmt also das Bild von der Verteilung der germanischen Stämme im Raum westlich der Weichsel, das Tacitus zeichnete, mit dem des Ptolemaios überein. Lemovii-1,£ibivoi, Rugii-*'PovyiMXSIOI, Helvecones-AiXovaiwvEg, Lugii-Aovyioi sind synonyme Namenpaare. • R u d . Much, Die Germania d. Tacitus ( 1 9 3 7 , 2 1 9 5 9 ) 3 8 8 ; ( 3 1 9 6 7 ) 4 8 8 . Die Burgunden werden bei Tacitus nicht genannt, offenbar, weil er sie nicht für bedeutend hielt. Sie gehören seiner Ansicht nach offenbar zu den Lugiern. So klassifizierte sie schon K . Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 ( 1 8 8 7 ) 4.
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Tacitus endete die Aufzählung der suebischen Stämme, zu denen er fast alle östlichen Germanen rechnete, annähernd an der Weichsel, ohne freilich den Namen des Flusses zu nennen. Weiter östlich kannte er als Bewohner des — von ihm allerdings hier nicht genannten — Landes Sarmatia die Sarmatae (Tacitus Germ. 46). Er wußte nicht, ob er die Peucini, Venethi und Fenni zu den Germanen oder Sarmaten redinen sollte. Eine geographische und ethnographische Grenze im Osten war ihm jedenfalls bewußt. Das konnte nach antiker Auffassung n u r ein Fluß sein, doch kannte er dessen Namen nicht und ebensowenig die genaue Siedlungsweise der Stämme im fernen Osten. Für Ptolemaios war die Weichsel ein wichtiger Grenzfluß, der Germanien und Sarmatien trennte. Ptolemaios begann seine Aufzählung hinter der Weichsel mit den größten Stämmen, unter denen er die OvevEÖai nannte, die nach seiner Ansicht an der Ostsee wohnten, welche in dieser Gegend nach ihnen OüevsSixög KoAnog benannt sein sollte. S ü d l i c h von ihnen und a n der Weichsel siedelten die DuftcovEg (Ptolemaios Geogr. III 5,28). Als Anwohner des Meeres faßte also auch Ptolemaios sie n i c h t auf. Während nach Tacitus die Lemovii, Rugii und Aestii an der Küste siedeln, waren es nach Ptolemaios die Seiöivoi, die ^'POUYIXXEIOI und die OüevEÖai, und es sieht auf den ersten Blick aus, als seien letztere mit den Aestii identisch. Das ist jedoch nicht so. Tacitus kannte Venethi zwischen den Fenni im Norden und den Peucini im Süden (Tacitus Germ. 46). In diesem Raum sind sie auch nach den kursorischen Angaben des Plinius zu suchen (Plinius Hist. Nat. IV 13, 97). Dazu steht die Lokalisierung Ptolemaios' im Widerspruch. Südlich der Oiieveöai, doch östlicher als die r^öcoveg, setzte Ptolemaios die raXivöai und 2ov8ivoi an (Ptolemaios Geogr. III 5,21). Schon Zeuss erkannte", daß es sich dabei um Teilstämme der Aestier handelt und daß die OtiEveSai hier an Stelle dieses großen Stammes genannt sind18. Offenbar empfand Ptolemaios Schwierigkeiten, diese in Sarmatien an anderer Stelle unterzubringen. Er stellte sie dorthin, wo in seinem System eine Lücke war, d. h. der Name der Aestii fehlte. Die Lokalisierung der Püftcoveg hat unter diesem etwas willkürlichen Verfahren nicht leiden können; die Nachbarschaft von aestischen Stämmen (Ptolemaios Geogr. III 5,21) ergibt im wesentlichen Übereinstimmung mit Tacitus. Aus alledem folgt eindeutig, daß die antiken Autoren, die Näheres über die Wohnsitze der Goten anzugeben vermochten — Tacitus und Ptolemaios —, sie n i c h t an der Ostsee ansetzten. Die Lokalisierung stimmt verhältnismäßig gut überein: Sie kannten die Goten h i n t e r der Kette 11
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 270 f. " Ausführlich darüber K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 17 ff.
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der Küstenstämme. Beide setzten sie j e n s e i t s der Lugier an; beide kannten in ihrer Nachbarschaft im Norden oder Nordosten aestische, im Osten und Südosten finnische und bastarnisdie Stämme. Ptolemaios nannte die Goten einen kleineren Stamm; Tacitus sprach nicht von seiner Größe, doch läßt der Zusammenhang, in den er sie stellte, erkennen, daß er die Lugier für eine weitaus größere Stammesgruppe hielt. Nadi Ptolemaios wohnten die Goten östlich der Weidisel; Tacitus erwähnte den Fluß nicht, doch bleibt nach seiner Gliederung für sie kaum Platz diesseits der Weichsel. Hätte man seit jeher bei der Lokalisierung der Goten die Geschichte des Jordanes n i c h t herangezogen, so wäre wohl kein neuzeitlicher Gelehrter auf den Gedanken gekommen, die Goten am Meer anzusetzen. Nodi K. Zeuss war es durchaus bewußt, daß Tacitus und Ptolemaios keine Goten an der Ostsee kannten. „Tacitus kennt sie auf der Rückseite der Ligier, wie es scheint, nicht als Anwohner der Küste . . . An der Südseite der Wenden stehen sie bei Ptolemaios wieder nicht auf der Küste, sondern nur auf dem Ostufer der Weichsel, . . ."13. Audi K. Müllenhoff setzte die Goten dort an, wo sie nach Ptolemaios' Angaben wohnten. „Man kann . . . die Goten nicht wohl anders als innerhalb der großen Beugung der unteren Weichsel stellen, . . A b e r er erweiterte ihre Siedlungsgebiete „etwa bis zu ihrer [der Weichsel] Mündung und gegen das Frische Haff" und sah diesen Ansatz aber nur „durch die eigene Überlieferung der Goten bei Jordanis c. 4.17" bestätigt. Dabei zwingt nidit einmal die Scandza-Tradition der Goten zu einer derartigen Lokalisierung. Qui ut primum e navibus exientes terras attigerunt, ilico nomen loci dederunt, nam odieque illic, ut fertur, Gothiscandza vocatur (Jordanes Getica IV 25 f.). Der Text sagt nidits davon, w o die Goten landeten, ob am Meer oder — die Weichsel aufwärts fahrend — an geeigneter Stelle am Flußufer. N u r die falsche Deutung des Namens Gothiscandza als „gotische Küste" m u ß t e auf die Ostseeküste lenken. Aber die Erklärung des Namens ging ja einst von der Voraussetzung aus, die Goten müßten — vom Norden über See kommend — selbstverständlich an der Küste der Ostsee gelandet sein. Zu dieser Annahme zwingt der Text aber nidit. Seine Fortsetzung scheint gar das Gegenteil anzudeuten: Unde [Gothiscandza] mox promoventes ad sedes Ultnerugorum, qui tunc Oceani ripas insidebant, castra metati sunt eosque commisso proelio propriis sedibus pepulerunt, ... (Jordanes Getica IV 26). Die Goten zogen also gegen die Ulmerugier, die damals a m M e e r wohnten, und besiegten sie. Nach der Scandza-Tradition erfolgte der Zusammenstoß mit den Ulmerugiern nicht 13 14
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 135. K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 4 f.
Probleme der historischen Quellen
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in der Gegend, w o sie landeten. Sie gingen in Gothiscandza an Land, von wo — unde — sie bald darauf — mox — den Kriegszug begannen. Der Sinngehalt des lateinischen Satzes enthält, daß sie zunächst in Gothiscandza ansässig geworden waren und danach erst gegen die Ulmerugier zogen. Die Zeitangabe — mox — darf in diesem Zusammenhang natürlich nidit überinterpretiert werden. Im Zusammenhang einer Sage haben zeitliche Abstände keinen Aussagewert; alles ist oft — ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Verlauf — auf einen zeitlich indifferenten Hintergrund projiziert. In ihrer Heimat waren die Goten übrigens Nachbarn der Wandalen (Jordanes Getica IV 26), was für verhältnismäßig südliche Wohnsitze sprechen muß. Hätten sie von vornherein Wohnsitze am Meer gehabt, so wären sie durch die Burgunden von den Wandalen getrennt gewesen15. Auch die zweite Jordanes-Stelle, in der Gothiscandza genannt ist, spricht nicht eindeutig für eine Lage der neuen Wohnsitze der Goten am Meer. Meminisse debes me in initio de Scandzae insulae gremio Gothos dixisse egressos cum Berich rege suo, tribus tantum navibus vectos a d ripam Oceani citerioris, id est Gothiscandza (Jordanes Getica XVII 94—95). Der Wortlaut könnte hier durch die Zitierweise des Cassiodor — der Satzanfang zeigt deutlich seine Hand — leicht verändert, der Sinngehalt entsprechend entstellt sein; ... ad ripam Oceani citerioris könnte den Endpunkt der Fahrt über den Ocean haben angeben sollen. Gewiß wäre dann Gothiscandza an der Küste zu suchen. Es könnte aber damit ebenso gut auch nur die Richtung gemeint gewesen sein, in der die Wanderung über die Ostsee verlief. Die Präposition ad steht bei Jordanes häufig — und gerade bei Ländernamen — für in in der Bedeutung „in . . . hinein" und da ripa bei Jordanes für litus oder ora steht, muß Küste, besser Küstenland oder Küstengegend übersetzt werden 1 '. Dann müßte Gothiscandza im Hinterland gelegen haben. Man muß ja übrigens bedenken, daß die westgotische Scandza-Tradition, sollte sie durch Jahrhunderte mündlich annähernd wörtlich richtig überliefert worden sein, von einem Historiker niedergeschrieben wurde, der nur geringe Kenntnisse von der Geographie des Nordens, insbesondere des fernen Nordostens besaß. Im Endeffekt kommt es bei diesen Erwägungen weniger darauf an, eine andere Ubersetzung des lateinischen Textes vorzuschlagen und auf 15
14
Das mag allerdings sdion eine Überinterpretation des lapidaren ScandzaBeridites sein. Immerhin werden die Burgundzones in einer Textstelle des Ablabius genannt (Jordanes Getica X V I I 97) und treten dort als Gegner der Gepiden auf. Zur Verwendung von ad in den Getica vgl. Fr. Werner, Die Latinität d. Getica d. Jordanis (1908) 56 f. 132.
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Die ältesten Nachrichten der Antike über die Wohnsitze der Goten
solche Weise dem Scandza-Bericht einen anderen Sinn zu geben. Wichtiger ist es, zu zeigen, daß es falsch wäre, einer einzigen Übersetzung anzuhängen, wo offenbar verschiedene andere ebenso gut möglich sind, und verständlich zu machen, daß der Spielraum der Übersetzungsmöglichkeiten verhältnismäßig groß ist. Am wichtigsten ist es, daran zu denken, daß man von Jordanes' Getica her wegen des zeitlichen Abstandes der Autoren von den Vorgängen und wegen des verderbten Lateins Nachrichten aus der klassischen Zeit der römisch-griechischen Geographie n i c h t bessern kann, sofern nicht ganz gewichtige Gründe dafür sprechen. Selbst wenn man also dazu neigen wollte anzunehmen, Ablabius, Cassiodor und Jordanes hätten einhellig Gothiscandza unmittelbar an der Ostseeküste lokalisiert, wäre es nicht richtig, wollte man die nach den geographischen Angaben des Strabo, Plinius, Tacitus und Ptolemaios gewonnenen Vorstellungen von der Lage der Wohnsitze der Goten mit Hilfe der Scandza-Überliefemng korrigieren. Es besteht kein Zweifel, daß die Nachrichten der Alten den Vorrang größerer Verläßlichkeit und dementsprechend größerer Glaubwürdigkeit haben, denn sie stammen aus einer Zeit und von Personen, die den geschilderten Zuständen und Ereignissen sehr viel näher standen. Bei allen uns Heutigen bewußten Mängeln antiker wissenschaftlicher Methodik waren doch die Autoritäten der beiden ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt in einer verhältnismäßig günstigeren Situation, wenn es sich darum handelte, Nachrichten unterschiedlicher Provenienz „wissenschaftlich" zu objektivieren. Im Zweifelsfall haben also die Angaben der Geographie zwischen Strabo und Ptolemaios höheres Gewicht. Sie müssen den Aussdilag geben, wenn irgendwelche Zweifel hinsichtlich der Lage von Gothiscandia bleiben. Geht man so vor, dann muß man in Gothiscandia eine Landschaft im Binnenlande (möglicherweise aber zu Schiff erreichbar) sehen. Vieles bleibt zu klären übrig. Es ist unklar, ob die Nachrichten, die Ptolemaios verwandte, sich auf die Verhältnisse des 2. Jahrhunderts beziehen, wenngleich es wahrscheinlich ist. Es ist auch nicht sicher, ob die Nachrichten über T o ü x a i und Puftcovss gleich alt ist. Der Name rüfrooveg mutet älter an: Alle a l t e n Belege des Stammesnamens liefern die längere Form ToutcovEg, Gutones, Gotones (vgl. oben S. 117). Abgesehen von der Form roCxai stammen alle Belege für die Kurzform aus dem 3. oder späteren Jahrhunderten. Man kann aber aus dem Unterschied der Namensformen lediglich folgern, daß im 2. nachchristlichen Jahrhundert sich bereits „starke" Namensformen bei germanischen Stammesnamen durchzusetzen begannen, nicht etwa, daß die starke Namensform renken auf Sxavöia auf spätes Auftreten der Goten im fernen Norden schließen läßt. Der eigentliche Gewinn, den die antiken Nachrichten liefern, ist eine
Probleme der historischen Quellen
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brauchbare Festlegung der kontinentalen Wohnsitze der Goten. Ihr Land Gothiscandia war eine Gegend an der Weichsel, aber östlich des Flusses und nicht am Meer. Das ist allerdings eine Lokalisierung, die den gängigen Ansichten der meisten an der Erforschung der frühgermanischen Geschichte beteiligten Wissenschaften — der Geschichtswissenschaft, der Germanistik und der Vor- und Frühgeschichtsforschung — ganz entschieden widerspricht. Es bedarf der Klärung, wie es zu einer andersartigen Auffassung kommen konnte, um diese wirklich entkräften zu können. Deswegen ist ein Blick auf die Geschichte der Erforschung der Goten — und auch anderer germanischer Stämme — erforderlich. Es wird sich dabei zeigen, daß die vorgeschichtliche Archäologie in der Geschichte der Germanenforschung, insbesondere der der Goten, eine besondere Rolle spielte, die anderen beteiligten Wissenschaften gelegentlich zum Verhängnis wurde.
III. Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand „Ich bestreite nicht, daß die Sprachgeschichte mit der übrigen Geschichte zusammenhängt. Das weiß man längst. Idi wende midi aber scharf dagegen, daß man der Mundartgeographie die Kenntnis so allgemeiner Gesetze für diesen Zusammenhang zuspricht, daß sie es möglich mache, aus der sonstigen Gesdiidite bestimmte Schlüsse auf die Entwicklung der Sprache zu ziehen, und dies obendrein in Verhältnissen, mit denen dieser Forschungszweig nie zu tun hat und über die uns die Quellen nur so dürftig unterrichten, daß wir von solider Kenntnis sowohl der äußeren wie inneren Geschichte weit entfernt sind. Die Philologie täte der Vorgeschichte einen besseren Dienst, wenn sie alle sprachlichen Kriterien, die es für den Zusammenhang der germanischen Stämme und Stammesgruppen nadi hierhin und dorthin gibt, nüchtern geordnet zusammenstellte, statt daß sie ihr vortäuscht, die Sprache bestätige einzelne ihrer häufig wechselnden Thesen. Was da von unserer Seite bisher vorgelegt ist, gibt zum Glück ein Recht zu hoffen, daß wenigstens die ernste Vorgeschichtsforschung die Armut dieser Kunst durchschaut." Hans Kuhn, 1952 1. Kossinna
und der Skandinavien-Topos 19. und 20. Jahrhunderts
des
Die Ansätze, Fragen der germanischen Altertumskunde mit Mitteln der Archäologie zu klären, reichen weit über den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück 1 . Wissenschaftliche Qualität erlangten solche Versuche allerdings vor der Mitte des Jahrhunderts nicht2. Aber erst die neunziger Jahre brachten die ersten systematisch angelegten Arbeiten, die Archäolo1
2
10
Vgl. H. Kirchner, Das germanische Altertum i. d. dt. Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts (1938); P. H . Stemmermann, Die Anfänge der deutschen Vorgeschichtsforschung. Deutsdilands Bodenaltertümer in der Anschauung des 16. u. 17. Jahrhunderts (1934). H . Hildebrand, Svenska folket under hednatiden (1866); O. Montelius, La Suède préhistorique (1874); E. Ve del, Undersogelser anglende den asldre jernalder pa Bornholm (1873); I. Undset, Das erste Auftreten d. Eisens i. Nordeuropa (1882). H a d i m a n n , Goten und Skandinavien
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
gie für Fragen der Altertumskunde in Anspruch zu nehmen, und damit zugleich die ungeduldige Forderung, die germanische Altertumskunde, ja die gesamte germanische Philologie müsse die Grundsätze der neuen Arbeitsweise anerkennen und deren Ergebnisse berücksichtigen. Es war der Germanist Gustaf Kossinna, der diese neue Wendung auslöste 3 und der mit einem wachsenden, unter seinem Einfluß stehenden Schülerkreis die Entwicklung der Altgermanistik tiefer beeinflußte, als es deren Vertretern in der Regel bewußt ist und als es in forschungsgeschichtlichen Abhandlungen sichtbar wird. Die heutige Generation von Altgermanisten weiß von alledem fast nichts. Den Auftakt für die bedeutungsvolle Entwicklung, die mit Kossinnas Wirken einsetzte, bildet ein Vortrag über die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen, den dieser am 9. August 1895 anläßlich der 26. Allgemeinen Versammlung der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft in Kassel hielt 4 . Bei dieser Gelegenheit schnitt Kossinna die Frage der Herkunft einzelner germanischer Stämme nur eben an, behandelte zwar auch schon die Goten, doch — wie auch die anderen Stämme — nur sehr summarisch. D a er die damals entwickelte Auffassung späterhin — sieht man von geringen Änderungen ab — beibehielt, ist es nicht uninteressant, sie sich in ihrer Frühform zu vergegenwärtigen: „Die Besiedlung dieser ostdeutschen Lande westlich der Weichsel und um die obere Oder, deren Bewohner in historischer Zeit in einem Gegensatz zu den Westgermanen und in naher Verwandtschaft mit den Skandinaviern stehen, fand zweifellos von Südschweden und Ostdänemark aus statt. Das zeigen auch die Völkernamen dieser Ostgermanen, die sich entweder in Jütland oder in Südschweden oder Südnorwegen wiederfinden und auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt zurückweisen. Zu diesen Namen gehören diejenigen der Wandalen, Warinen, Burgunden, Rügen, Goten" 5 . Von Kossinna führt dann eine Reihe von entsprechenden Bemühungen um die Klärung der » Vgl. Bibliographie d. Schriften Kossinnas, in: Mannus 10 (1918) V I I I — X I I I ; Ergänzungen in: Rud. Stampfuß, Gustaf Kossinna. Ein Leben f. d. Dt. Vorgesdi. (1935) 39 f. 4 Von den 130 Teilnehmern der Versammlung war nur einer Germanist — Kossinna selbst. Sein Vortrag erlangte daher erst in gedruckter F o r m und besonders dadurch Beachtung, daß Kossinna später immer wieder mündlich und schriftlich auf ihn hinwies. — Vgl. G. Kossinna, Über d. vorgesch. Ausbreitung d. Germanen in Deutschland, in: Correspondenzblatt d. dt. Ges. f. Anthrop., Ethnol. u. Urgesdi. 26 (1895) 1 0 9 — 1 1 2 ; ders., Die vorgesch. Ausbreitung d. Germanen in Deutschland, in: Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 6 (1896) 1—14. ä G. Kossinna, Correspondenzblatt d. dt. Ges. f. Anthrop., Ethnol. u. Urgesdi. 26 (1895) 111; ders., Zeitsdlr. d. Vereins f. Volkskunde 6 (1896) 12, wörtlich ebenso.
Zur Forschungsgeschidite und zum Forschungsstand Herkunft
„ostgermanischer"
Bevölkerungsgruppen
147
bis in die jüngste
Vergangenheit hinab. Fast alle diese Arbeiten sind in ihren methodischen Grundsätzen und in der Behandlung gewisser Annahmen und Voraussetzungen wie sichere Tatbestände hauptsächlich von ihm abhängig, und sie stammen fast alle von seinen Schülern, von den Schülern seiner Schüler oder von seinen wissenschaftlichen Freunden. Den letzten speziell auf die Goten bezogenen Beitrag dieser A r t verfaßte E . C. G. Graf Oxenstierna". Größere Beachtung, insbesondere im Kreise der Wissenschaftler, die sich mit germanischer Altertumskunde beschäftigten, können Kossinnas neue Auffsassungen zunächst noch nicht gefunden haben. Das zeigt beispielsweise die zurückhaltende Aufnahme eines Vortrages vor der damals sehr bedeutenden Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Köln im Jahre 1895 7 . Erst ein größerer Aufsatz, den Kossinna im Jahre
1 8 9 7 veröffentlichte 8 ,
konnte auf die Dauer nicht
unbeachtet
bleiben. Erstmals ging er nun auf Details ein, legte eine Anzahl von Argumenten gegen die bislang in Deutschland unter dem Einfluß von K . MüllenhofP herrschende Betrachtungsweise des germanischen Alter6
7
8
9
lo»
E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945); vgl. dazu die Besprechung von R. Hachmann in: Germania 29 (1951) 98—101; ferner R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 466 f. Vgl. G. Kossinna, Über d. deutsche Altertumskunde u. d. vorgesdi. Archäologie, in: Verhandlungen d. 43. Versammlung dt. Philologen u. Schulmänner in Köln 1895 (1896) 126—129. — Obwohl zahlreiche Germanisten anwesend waren, verwies Kossinna nur kurz auf seinen Kasseler Vortrag, der noch nicht gedruckt vorlag, also noch ganz unbekannt war, und stellte am Schluß seines Vortrags die These auf: „Die germanische Prähistorie ist ein unentbehrlicher Bestandteil der germanischen Altertumskunde und verlangt von Seiten der germanischen Philologie ernste und nachhaltige Pflege." Wie es im Protokoll heißt, nahm die Germanistische Sektion der Versammlung die These ohne Widerspruch und Erörterung an. Der Vortrag hatte offenbar einen starken polemischen Unterton, der sich hauptsächlich gegen O. Seeck richtete: „Die bei der Mehrzahl der römischen Historiker noch heute beliebte Verzerrung der germanischen Kultur zu barbarischer Wildheit in ihrer ganzen ungeschichtlichen Verkehrtheit wird durch nichts besser beleuchtet als durch die Ergebnisse der Archäologie" (a. a. O. 127). — In einem Selbstreferat seines Vortrages sprach Kossinna von „Zerrbildern, die Leute wie Seeck von der germanischen Kultur ebenso kenntnislos als gehässig entwerfen". Vgl. G. Kossinna, in: Jahresber. über d. Erscheinungen a. d. Gebiete d. germ. Philologie 17 (1895) 75 f.; ders., Die dt. Vorgeschichte, eine hervorragend nationale Wissenschaft (1912) 4 Anm. 1, wo Seeck erneut genannt u. als „Thersites" bezeichnet wird. G. Kossinna, Die ethnol. Stellung d. Ostgermanen, in: Indogerm. Forschungen 7 (1897) 276—312. Kossinna bezeichnete sich trotzdem gerne als Schüler Müllenhoffs. Von den zwölf Semestern seines Studiums muß er in der Tat einige in Berlin, andere in Göttingen und Leipzig, einen größeren Teil allerdings in Straßburg ver-
148
Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
tums vor, die Eindruck machen mußten 10 , und entwarf ein anschauliches Bild von seinen eigenen Auffassungen. Er betonte, daß sich allein auf sprachlichem Wege über die vorgeschichtlichen ethnologischen Verhältnisse bei den Germanen kaum etwas entscheiden lasse und bezweifelte, ob es möglich sei, Sprachen und Sprachreste als gleichwertig gegenüberzustellen, die nidit derselben Zeit, vielmehr ganz verschiedenen Jahrhunderten angehören, auf ganz verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung stehen und nach den mannigfachsten fremden Beeinflussungen bekannt werden, und behauptete, daß es gar nicht zu ermessen sei, wie weit das Althochdeutsche und Angelsächsische für die Erschließung des Westgermanischen herangezogen werden dürfe. Ferner wies er darauf hin, daß vom Ostgermanischen nur das Gotische einigermaßen bekannt sei, daß schon der Nachweis des ostgermanischen Charakters des Burgundischen auf schwachen Füßen stehe 11 und daß für das Nordische die wenigen Runeninschriften nicht viel helfen könnten. Kossinna betonte, daß Sprachgeschichte in erster Linie Verkehrsgeschichte sei. E r verzichtete — wie er wörtlich sagte — jedoch darauf, die rein sprachliche Seite des von ihm angeschnittenen Problems, „über die sich ja leicht viel ausführlicher reden ließe" 1 2 , weiter zu verfolgen und wandte sich den archäologischen Funden zu, die er wenige Jahre vorher für sich als vielversprechende neue Quellengattung entdeckt hatte 13 . Nach einer knappen Darstellung der Kulturverbindungen zwischen Skandinavien und dem Kontinent in vorgeschichtlicher Zeit, wobei er die Handelsbeziehungen besonders betonte, stellte er fest: „Dem Handel und Verkehr folgt . . . leicht die Auswanderung und Umsiedlung" 14 . Wie sich die Völkerverschiebungen in vorchristlicher Zeit im einzelnen gestalteten, das sei allerdings durch eingehendere Spezialstudien erst i n Z u k u n f t zu ermitteln, sobald „aus Pommern, Posen und Brandenburg reichlichere Publikationen
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14
bracht haben, wo er 1881 bei E . M a r t i n promovierte. Vgl. H . H a h n e , in: Mannus 10 (1918) V ; Rud. Stampfuß, Gustaf Kossinna (1935) 10 f. Zur Beachtung, die Kossinna — teilweise allerdings erst posthum — fand vgl. Fr. Maurer, Nordgermanen und Alemannen ( 3 1 9 5 2 ) 25. Vgl. auch unten S. 191 ff. Kossinna stützte sich auf einen — mündlichen oder brieflichen — Hinweis Rud. Muchs. Dieser muß überhaupt einen nicht geringen Einfluß auf ihn genommen haben. — Vgl. G. Kossinna, Rezension von R . Much, Deutsche Stammessitze. Ein Beitrag z. ältesten Gesch. Deutschlands, in: Indogerm. Forschungen, Anzeiger 4 (1894) 4 6 — 4 9 . — Gegenseitige Beachtung zeigt auch Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 9, wo Kossinna zitiert wird. G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 277. Vgl. dazu R. Hadimann, in: R. Hachmann, G. Kossack, H . Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 23 ff. G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 280.
Zur Forschungsgeschidite und zum Forschungsstand
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zusammenfassender Art" über die dortigen archäologischen Funde vorliegen. Daher warnte er alle Philologen davor, voreilig auf der Grundlage seiner allgemeinen Aufstellung „eine mehr ins Einzelne gehende Besiedlungsgeschichte" zu entwerfen. Erst müsse die Archäologie zu Wort gekommen sein, „was in den nächsten Jahren hoffentlich schon möglich ist". Er tat das besonders mit Blickrichtung auf den dänischen Germanisten H . Möller, mit dem Kossinna im Anschluß an seinen Kasseler Vortrag „die vorgeschichtliche Besiedlung in lebhaftem Briefwechsel verhandelt" hatte 15 , und der sich daraufhin, wie Kossinna glaubte, zu seiner „Freude zu einer Umkehr seiner Ansichten über die germanische Ausbreitung, . . . , entschlossen" hatte 1 '. Kossinnas Vorüberlegungen waren zwar kein vollständig durchdachter, neuer methodischer Ansatz, brachten aber einige neue Gedanken. Sie mußten allen denen einleuchten, bei denen das Gefühl aufgekommen war, mit Müllenhoffs Tod sei eine ganze Epoche in der Germanischen Altertumskunde abgeschlossen und mit der Arbeitsweise der Junggrammatiker sei insbesondere für diesen Wissenschaftszweig nichts Entscheidendes zu gewinnen. Sie mußte vor allen Dingen alle die beeindrucken, die zur Uberzeugung gekommen waren, der Germanistik könne die Hilfe der vorgeschichtlichen Archäologie bei der Bearbeitung von Problemen der gemanischen Stammeskunde nur von Nutzen sein. Das bedächtige Vorgehen, das er selbst anderen eindringlich empfahl, schien dafür zu sprechen, daß er selbst mit gleicher Sorgfalt vorgegangen war. Das war jedoch nicht so. Gerade hatte er noch betont, daß erst nach gründlichen Spezialuntersuchungen erkennbar sein werde, wie Völkerwanderungen in vorgeschichtlicher Zeit verliefen, und schon stellte er es als gegeben hin, daß nach dem Zeugnis der Namen „bei der germanischen Besiedlung des äußersten Ostens von Deutschland", die nach seiner Auffassung mit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert einsetzte, „Skandinavier die Hauptmasse der Kolonisten waren" 17 . Heute ist es nicht schwer festzustellen, daß Kossinna, um diese Behauptung aufzustellen, den skandinavischen und ostdeutsch-polnischen Fundstoff nicht hinreichend kannte. Heute ist es aber auch klar, daß es ihm wenig genützt hätte, wenn er alles gekannt hätte, was d a m a l s schon in den Museen lag. Das alles war noch zu wenig, um sich ein umfassendes Bild von der archäologischen Kultur machen zu können. Schlimmer, Kossinna verfügte noch gar nicht 15
G. Kossinna, a. a. O. 280 f.
18
G. Kossinna, nannte a. a. O. 280 als Zeugnis für H . Möllers alte Ansicht, dessen Rezension von A. Erdmann, Uber d. Heimat u. Namen d. Angeln (1890— 91) in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 22 (1895—96) 129—164. G. Kossinna, a. a. O. 281.
17
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
über eine voll brauchbare Methode, um die von ihm aufgestellten Thesen zu beweisen. Damals war das alles allerdings nicht zu übersehen; Kossinna imponierte durch die Sicherheit seiner Behauptungen, wenngleich er oft genug durch seine Unduldsamkeit unangenehm auffallen mußte. Keiner seiner germanistischen Leser oder Zuhörer seiner Vorträge wußte, daß die Wissenschaft, der Kossinna selbst sich erst vor kurzem zugewandt hatte, noch mitten in den Bemühungen steckte, eine eigene Methode zu entwickeln. Keinem war es klar, daß der Quellenbestand der mittel- und nordeuropäischen Archäologie noch unzulänglich und der Forschungsstand vielenorts unzureichend war. Kein Leser und Zuhörer wußte, daß Kossinna das ardiäologische Fundgut Mittel- und Nordeuropas vorläufig nur nadi der noch spärlichen Literatur kannte und daß ihm der Dienst als Bibliothekar — 1881—1885 in Halle, 1886 in Berlin, 1887 bis 1891 in Bonn, danach wieder in Berlin18 — keine Zeit zu großen Museumsreisen ließ. Erst 1899—1901 besuchte er in jährlich drei- bis viermonatigen Reisen die Museen Deutschlands und Dänemarks. Im Jahre 1904 reiste er erneut nach Dänemark und nach Schweden, 1905 nach Süddeutschland und Österreich, 1907 und 1908 nadi Belgien und Frankreich 19 . Es war verhängnisvoll: Sein Bild von der Siedlungsgeschichte Skandinaviens und des östlichen Mitteleuropa war längst fertig, als er zu reisen begann. Als Argument für die Besiedlung Ostdeutschlands und Polens von Skandinavien und Dänemark her benutzte Kossinna allerdings weniger ein vorschnell entworfenes Bild vom archäologischen Befund; er führte als Zeugnisse vor allen Dingen die Volksnamen auf, die in den Jahrhunderten nach Christi Geburt in Mittel- und Nordeuropa anzutreffen sind. Er nannte die Warinen, Goten, Rugier, Lemovier, die Wandalen, Silingen, Burgunder, Haruden, Kimbern und Teutonen und die Heruler als die germanischen Stämme, für die seiner Ansicht nach schon die N a m e n Auswanderung aus dem Norden bezeugten20. Die Beweise, die er als Belege für Wanderungen auf Grund von Volksnamen vorlegte, waren jedoch erstaunlich schwach. Für Warinen in O b e r s c h l e s i e n zeugten ihm die Ampivoi bei Ptolemaios Geogr. III 5,8 und die Aiiaojroi bei Ptolemaios Geogr. II 11,9, für denselben Stamm in Jütland offenbar die Varini in Tacitus Germania 40. Den Wandalen in Schlesien stellte er die Wendle in Vendsyssel an der Nordspitze Jütlands gegenüber. Die schlesischen Silingi ließ er — „viel18 19 20
H. Hahne, Mannus 10 (1918) VI; Rud. Stampfuß, Gustaf Kossinna (1935) 11. Vgl. H. Hahne, a. a. O. VIII Anm. 5. G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 281 ff.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
151
leicht" — aus Silund ( = Seeland), die Burgunden „ganz zweifellos" aus Bornholm, und die Rugii und Harudes von der Südspitze Norwegens (Rogaland, Hordaland) kommen. Für die Lemovii wählte er das in einigen Handschriften 21 vorkommende Lemonii (Tacitus Germania 44,1), und verglich diese mit den skandinavischen Aeucovoi (Ptolemaios Geogr. II 11,16), deren Namen er in *Aeva>voi „besserte". Die Gutones, Gotones stellte er neben „ihre Stammesgenossen auf Gotland". Die Cimbri brachte er mit „Himmerland, dem älteren Himbersysal", in Verbindung. Er meinte, „ein phantasievoller Sprachforscher könnte dann nodi im Thyttesysiel nördlich des Limfjords die Teutonen erkennen" 22 . Die Anwesenheit der Heruli auf den dänischen Inseln, wenn nicht gar bereits in Teilen von Jütland, erschloß Kossinna daraus, daß eine Gruppe Germanen dieses Namens im 3. Jahrhundert einen Einfall nach Gallien machte. Es verwundert, wenn man dieses „Beweismaterial" betrachtet, daß es von den Germanisten nicht unter Protest zurückgewiesen wurde. Wahrscheinlich bestand aber der Eindruck, das Zeugnis der Namen sei für sich allein zwar schwach, werde aber durch das der Archäologie so gut bestätigt, daß nun kein Zweifel mehr möglich sei. Nur so läßt sich auch verstehen, daß noch jüngst Fr. Maurer lapidar feststellte: „Diese Erkenntnis der Abspaltung der Ostgermanen von den Nordgermanen gewann als erster Gustaf Kossinna" 23 . Allerdings, soldie Festlegungen des Bezugszusammenhanges zwischen gleichlautenden oder ähnlidi klingenden Stammes- und Landschaftsnamen waren für die deutsche Germanistik der neunziger Jahre immerhin durchaus neu und vielleicht deswegen attraktiv. In dieser Zeit hatten die Arbeiten von Zeuss, Grimm und Müllenhoff — soweit die des letzteren schon veröffentlicht waren — mindestens im deutschen Sprachraum Gewidit. Besonders Zeuss und Müllenhoff hatten in allen ihren Arbeiten gegenüber gewagten Kombinationen, wie sie Kossinna nun vorschlug, betonte Reserve gewahrt 24 . Man kann die ganze Liste von Stammesnamen, die Kossinna bot, durchgehen und wird bei Zeuss und Müllenhoff — aber auch bei J. Grimm — wenig Material finden, auf das sich Kossinna stützen konnte. 21 22 23 24
Vgl. Rud. Much, Die Germania d. Tacitus (1937) 389; ( 3 1967) 489. G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 290 f. Anm. 1. Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen ( 8 1952) 25. J. Grimm neigte in der ihm eigenen genialischen Weise allerdings gelegentlich dazu, Namensgleichheiten oder -ähnlichkeiten in Wanderungsthesen umzumünzen. Vgl. z. B. auch Anm. 27. — Aber auf dem Gebiet der germanischen Altertumskunde galt sein N a m e ungleich weniger als der seines Zeitgenossen Zeuss, den er selbst so wenig schätzte, und Müllenhoffs, der u. a. sein Schüler war.
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
Die Meinung über die Herkunft der Goten kann als kennzeichnendes Beispiel f ü r ihre Ansichten genommen werden. K . Zeuss betonte, „die Zeit v o r der Wanderung [nach Südrußland], die Urzeit des Volkes, ist in seinem Andenken verdunkelt und fabelhaft geworden". Die Tradition von ihrer Herkunft bezeichnete er als „eine unzweifelhaft falsche" Nachricht 25 . J . Grimm stellte fest, „sie [die Langobarden] sind ebensowenig aus der nordischen Insel herangefahren als die Gothen, und ebensowenig zu Schiffe angelangt als die Sachsen" 26 . Er verwies solche Herkunftsangaben „als unhistorisch auf das Feld der Sage" 27 . K . Müllenhoff nahm an, die Goten hätten ursprünglich auf dem rechten, d. h. östlichen Weichselufer gesiedelt und meinte, dazu passe die „Aufstellung bei Tacitus und S t r a b o . . . o. p. 2 9 0 und besonders audi die eigene Überlieferung des Volkes bei Jordanes cap. 4.17" 2 8 . Solche Ansichten von Zeuss, Grimm und Müllenhoff gaben ihrer Zeit das Modell, nach dem sich auch minder 25 28
27
28
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 402 f. J . Grimm, Geschichte d. dt. Sprache ( 3 1868) 475. — Der Text der 3. Aufl. des Budies entspricht im wesentlichen dem der 2. Aufl. aus dem Jahre 1853. Es wurden lediglich von K. Müllenhoff, der dazu von den Erben Grimms beauftragt war, die in Grimms Handexemplar nachgetragenen handschriftlichen Bemerkungen in eckigen Klammern hinzugefügt. Die 2. Aufl. ist wiederum ein nur in der Paginierung geänderter Nachdruck der 1. Aufl. von 1848. Alle Zitate hier nach der 3. Aufl. J . Grimm, a. a. O. 506. — Vgl. auch J . Grimm, Über Jornandes und die Geten, in: Philologische und Historische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1846, 45 f. ( = Kleine Schriften 3 [1866] 219 f.): „Nach diesen Ergebnissen allen läßt sich der Annahme gar nicht ausweichen, daß, gleich sämtlichen Deutschen, die Getae und Daci aus Asien in Europa einwanderten und mit ihrer Breite den Hinterzug des ganzen großen Volkes schlössen und deckten. . . . Erst von Pontus aus kann das langsame anhaltende Vorrücken eines Hauptteils dieser Völker nach der Weichsel bis zur Ostsee und hinüber nach Scandinavien, so weit es von Gothen und Dänen erfüllt wurde, begonnen haben, während späterhin die andere noch stärkere Masse über die Donau nach dem Süden einbrach." Für J . Grimm waren Geten und Goten, Daker und Dänen identisch! H. v. Sybel, Schmidts Allgem. Zeitschr. f. Geschichte 6 (1846) 518 f. widersprach der Gleichung Geten = Goten, doch nicht der Annahme, die Goten seien wie alle Germanen aus dem Osten eingewandert. K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 492. — Der Band wurde posthum veröffentlicht. Ihm liegt ein Vorlesungsmanuskript zugrunde, dessen ältester Text Grundlage für eine zweistündige Vorlesung im Kieler Sommersemester 1846 war, die dann mindestens viermal — wahrscheinlich aber öfter — wiederholt wurde. Der Text wurde dabei mehrfach durchgearbeitet. Von 1861 an hat Müllenhoff nach seinem Manuskript elfmal in Berlin gelesen, wobei dieses ständig verändert wurde. — Man kann daraus eine nachhaltige Wirkung, auch ohne daß das Manuskript gedruckt war, auf einen großen Kreis von Schülern erschließen.
153
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
bedeutende Gelehrte orientierten 29 , und sie wirkten bis an die Jahrhundertwende und sogar darüber hinweg. Zeuss und Müllenhoff wiesen wahrscheinlich hauptsächlich deswegen die gotische Scandza-Ttzdition.
als sagenhaft zurück und bestritten, daß
sie einen historischen Kern habe, weil sie von der Voraussetzung ausgingen, die Namen Toitcn und T a w o i und deren Entsprechungen könnten wegen der Unterschiede im Lautstand der ersten Silbe nichts miteinander zu tun haben 30 . Ihnen schien es deswegen einleuchtend, daß auch die Stämme selbst getrennt zu halten seien. Etwas abweichend w a r die Auffassung J . Grimms, der sich im übrigen durch Gleichsetzung von Getae
und Gothi
den Weg zu einem klaren Bild von vornherein ver-
baute 31 . E r war der erste, der zwischen den Namen der (Getae)
—
Gothi
auf der einen und r o u t o i auf der anderen Seite „eine durch Ablaut bestimmte Verschiedenheit" sah 32 . In seinen oft romantisch verschwommenen Vorstellungen meinte er, daß sich eben darin auch die Unterschiede der beiden Bevölkerungsgruppen spiegelten 33 . Wenn — wie nachweisbar ist —
vor
Kossinnas Beiträgen zur
germanischen Stammeskunde in der deutschen wissenschaftlichen Literatur von der skandinavischen Herkunft der Ostgermanen kaum die Rede war, worauf beruhten dann seine neuen Ansichten und w o waren sie entstanden? H a t t e er sie selbst entwickelt, oder war er von anderen abhängig? Diese Fragen verdienen einiges Interesse. 20
50
31
32
33
Vgl. J . G . A . W i r t h , Geschichte d. Deutschen 1 ( 2 1846) 260; H. A. Schötensack, Uber d. Thraker als Stammväter d. Gothen u. d. verschiedenen Verzweigungen d. gothisdien Völkerstammes 1 (1861) 1 ff. bes. 21 ff.; 2 (1861) 1 ff.; E. von Wietersheim, Gesch. d. Völkerwanderung 2 (1860) 96, wo K. Zeuss und J. Grimm als Zeugen für die Einwanderung der Goten „gerade umgekehrt von der Südküste der Ostsee aus, d. i. von Germanien aus nach Skanzien" angegeben werden. — Vgl. F. Dahn, Urgeschichte der germanischen und romanischen Völker 1 (1881) 227. K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 158 nennt die ToCtai „ein von den Gothen des Festlandes wohl zu trennendes Volk". Er spricht a. a. O. 512 Anm. vom Verderbnis des Namens der skandischen Ostrogothae, der die ursprüngliche und richtige Form nicht mehr zeige. K. Müllenhoff, in: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V,1 (1882) 160 u. ders., Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 498 behandelt Totitai—ravtoi ganz getrennt von den Festlandsgoten. J . Grimm, Gesch. d. dt. Sprache ( 3 1868) 125 ff. 323. 565; ders., Ueber Jornandes und die Geten, in: Philologische und Historische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1846, 1—59 ( = Kleine Schriften 3 [1866] 171—235). J . Grimm, Gesch. d. dt. Sprache ( 3 1868) 514. — Der von J . Grimm entdeckte Ablaut war auch K. Zeuss bekannt und wurde von ihm — ebenso natürlich auch von Müllenhoff — im Prinzip anerkannt. J . Grimm, a. a. O. 312. 514.
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
Im Jahre 1890 — also sieben Jahre vor der Veröffentlichung seine» Beitrages über die ethnographische Stellung der Ostgermanen — hatte Kossinna mit der ihm seit jeher eigenen Heftigkeit noch ganz andere Vorstellungen vertreten. In seiner Besprechung des 1887 posthum erschienenen zweiten Bandes von Müllenhoffs Deutscher Altertumskunde sagte er in Ergänzung von dessen Darstellung über die Ethnographie Skandinaviens: „Woher die germanische Einwanderung kam, kann nicht zweifelhaft sein. Jene an die späteren Wandersagen der Südgermanen anknüpfende Annahme, . . . , als wäre Skandinavien die Urheimat der Germanen oder wenigstens der Ostgermanen, wird durch die Müllenhoff'sdien Ausführungen für immer beseitigt. Bei der Verwandtschaft der Skandinavier mit den Ostgermanen wird man erstere ursprünglich als einen Zweig oder als nächste Nachbarn der letzteren in Ostdeutschland zu denken haben, bevor sie über die Ostsee nach Schonen auswanderten" 34 . In dieser Auffassung, die unter Germanisten bislang ebenfalls selten war, stützte sich Kossinna bereits auf die Archäologie, denn er wies in gleichem Zusammenhang auf einen Aufsatz von O. Montelius hin, in dem dieser die Bodenfunde in ähnlichem Sinne ausgewertet hatte 35 . Er glaubte auch, einer Erklärung der späten Wandersagen sicher zu sein: „ . . . der Weichselmündung gegenüber, . . . , glaubten die Alten die Insel Scadinavia, das Land der Suiones, der Schweden, deren König aus dem Geschlecht der Ynglinge während des alljährlichen Freyrfestes der Beschützer zugleich des Festfriedens und des von weither aufgesuchten Handelsverkehrs war. Den Südgermanen, die Skandinavien vorwiegend aus dieser Zeit der Fest- und Marktversammlung kannten, mußte das Land überaus stark bevölkert erscheinen, ja in den späteren Wandersagen wurde es ihnen zu einer officina gentium, von der die Südstämme selbst ausgegangen wären" 36 . Kossinna wandte sich an gleicher Stelle gegen die Anthropologie, die in letzter Zeit dafür eingetreten war, Skandinavien sei die Urheimat der Germanen 37 . Daß Kossinna im Jahre 1890 zwar schon archäologisches Schrifttum kannte, sich mit diesem aber kaum beschäftigte, zeigt im übrigen ein Aufsatz aus demselben Jahr, in dem er den Ursprung der Germanen noch ohne Hilfe dieser Wissenschaft beleuchtete38. Er stellte sich völlig hinter Müllenhoffs Auffassung, „daß ein zusammenhängendes Sprachstudium allein die rechte Basis für den 34
G. Kossinna, Anzeiger f. dt. Alterthum u. dt. Litteratur 16 (1890) 16 Anm. 2. O. Montelius, Über d. Einwanderung unserer Vorfahren i. d. Norden, in: Archiv f. Anthropologie 17 (1887) 151—160. 3 ' G. Kossinna, Anzeiger f. dt. Alterthum u. dt. Litteratur 16 (1890) 5. 37 G. Kossinna, a. a. O. 16 Anm. 2. 38 G. Kossinna, Die Sueben im Zusammenhang d. ältesten dt. Völkerbewegungen, in: Westd. Zeitsdir. f. Gesch. u. Kunst 9 (1890) 199—216. 35
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
155
deutschen Altertumsforscher" abgebe". Damit wandte er sich allerdings nicht gegen die Archäologie, die ungenannt blieb, sondern gegen Historiker, insbesondere Althistoriker — der ganze Aufsatz stellt eine Polemik gegen A. Riese dar 40 —, indem er festellte: „Mit dem bloßen Latein kann eine Einsidit in die älteste innere Entwicklung der Germanen und ihre Verzweigung nach außen nicht gewonnen werden" 41 . Der Durdibruch zu neuen Ansichten muß bei Kossinna zwischen den Jahren 1890 und 1895 erfolgt sein. Das gilt für seine Wendung zur vorgeschichtlichen Ardiäologie hin, wie für die Preisgabe seiner ursprünglich von Müllenhoff abhängigen Auffassungen zur germanischen Altertumskunde. Im Jahre 1895 hielt er die ersten Vorträge, in denen er der Archäologie einen neuen Platz zuwies". Es läßt sich zwar im einzelnen nicht verfolgen, wie Kossinna in den Jahren 1890 bis 1895 arbeitete und was er verarbeitete. Man kann jedoch aus der auffallend geringen Zahl seiner Veröffentlichungen erschließen43, daß er sich damals Kenntnisse des archäologischen Schrifttums aneignete. Siditlidi war Kossinna nunmehr, nachdem ihm u. a. die Archäologie eine neue Vorstellung von der vorgeschichtlichen Verbreitung der Germanen vermittelt hatte, bemüht, sprachliche Quellen so zu interpretieren, daß keine Widersprüche verblieben. Deutlich ist erkennbar, daß Kossinna, nachdem er sidi der Archäologie voll zugewandt hatte, mehr und mehr von einer sorgsam philologischen Interpretation literarischer Quellen abkam. Sein im Jahre 1893 niedergeschriebener, 1895 erschienener Auf3
* G. Kossinna, a. a. O. 216. A.Riese, Die Sueben, in: Rhein. Museum f. Philologie N. F. 44 (1889) 331— 346. 488. 41 G. Kossinna, a. a. O. 216. — Noch in der Entgegnung Kossinnas, in: Westd. Zeitsdir. 10 (1891) 104—110 auf Rieses Antwort,in: Westd. Zeitsdir. 9 (1890) 339—344 spielen archäologische Argumente keine Rolle. 42 Vgl. G. Kossinna, Uber d. vorgesch. Ausbreitung d. Germanen i. Deutschland, in: Correspondenzblatt d. dt. Ges. f. Anthrop., Ethnol. u. Urgesdi. 26 (1895) 109—112; ders., Über d. dt. Altertumskunde u. d. vorgesdi. Ardiäologie, in: Verhandl. d. 43. Versammlung dt. Philologen u. Schulmänner Köln 1895 (1896) 126—129; ders., Die vorgesdi. Ausbreitung d. Germanen i. Deutschland, in: Zeitsdir. d. Vereins f. Volkskunde 6 (1896) 1—14; ders., Vorgeschichtliche Ardiäologie 1895, in: Jahresber. f. germ. Philologie 17 (1895) 74—94 bes. 75 f. 43 Vgl. das Schrifttumsverzeichnis in: Mannus 10 (1918) VIII ff., das für 1890 sechs, für 1891 vier, für 1892 zwei, für 1893 einen und für 1894 drei unbedeutende Beiträge anzeigt. Es folgen dann die Jahre 1895 mit neun und 1896 mit zehn Veröffentlichungen. — Rud. Stampfuß, Gustav Kossinna (1935) 13 bezeugt, daß Kossinna die wissenschaftlichen Interessen den beruflichen (als Bibliothekar) vorgezogen habe. Offenbar hat er in diesen Jahren hart, aber rücksichtslos für sidi selbst gearbeitet. 40
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
satz über den Ursprung des Germanennamens 44 , der — was die darin angewandten philologischen Methoden betrifft — trotz des häufig anklingenden polemischen Untertons den Erfordernissen seiner Zeit durchaus gewachsen war, läßt, wenn man ihn mit dem zwei Jahre später veröffentlichten Beitrag über die ethnologische Stellung der Ostgermanen 45 vergleicht, diesen Wandel deutlich erkennen. In dem einen Aufsatz finden sich nodi sorgsame Belege der für seine — manchmal vielleicht etwas willkürlichen — Thesen brauchbaren antiken Quellen, und der Orts- und Flußnamen; im anderen stehen vielfältige, meist unbelegte Behauptungen. Nachweise für die Zeugnisse der Volksnamen von der Herkunft kontinentalgermanischer Stämme aus Skandinavien fehlen meist. Man ist gezwungen, seine Gedankengänge zu rekonstruieren bzw. seine Vorlagen zu erschließen. Die Warinen wurden von Kossinna als erster Stamm nordischer Provenienz genannt. Er meinte damit die Avapivoi (Ptolemaios Geogr. III 5,8). Sie in Oberschlesien anzusetzen, scheint sich für ihn aus den *Varini des Plinius ergeben zu haben (Plinius Hist. Nat. IV 14,99), denn dieser kannte sie als einen Volksstamm seiner *Vandili. Die Warinen in Jütland sind hingegen die Varini des Tacitus, die zu den Nerthus-Völkern gehören (Tacitus Germ. 40), und mit ihnen kam er in der Tat, wenn nicht nach Jütland, so doch mindestens in das nordwestdeutsche Küstengebiet. Kossinna vereinfachte sich das Problem dadurch, daß er die Omgouvoi und AijaQjToi nicht nannte, die Ptolemaios Geogr. II 11,9 in der Nachbarschaft von Sueben kannte, und daß er O M Q V O I nicht erwähnte, die in der Nachbarschaft der Aavoi — wahrscheinlich südlich davon — siedelten (Prokop Bell. Goth. II 15,2.3). Nach Prokop wären im übrigen Warnen auch am Rhein zu suchen (Prokop Bell. Goth. IV 20), und außerdem müßten Warnen im 5. und 6. Jahrhundert in Mitteldeutschland angenommen werden. Der Gegensatz zwischen Kossinna auf der einen und Zeuss, Grimm und Müllenhoff auf der anderen Seite ist wiederum nicht zu übersehen. Zeuss und Grimm sahen wohl den Zusammenhang zwischen Varini und Varni, zogen daraus jedoch keine Schlüsse. Auch Müllenhoff sagte über denkbare Wanderungen nichts46. Allerdings ist auffallend, daß Zeuss — wie Kossinna — Aiiapivoi für eine Verschreibung von *Ot>aQivoi 44
43 46
G. Kossinna, Beiträge z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 20 (1895) 258— 301. — Der Aufsatz ist auf November 1893/April 1895 datiert, also 1893 niedergeschrieben und bis 1895 um einige Anmerkungen erweitert. G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 276 ff. K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 132. 360 ff.; J. Grimm, Gesch. d. dt. Sprache (»1868) 419 f. 421; K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 80.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
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ansah, woran auch Müllenhoff dachte". Rud. Much kommt trotz seiner Verbindungen zu Kossinna als Gewährsmann für dessen Gleichung nicht in Betracht, denn er bezweifelte, daß der in den Handschriften des Plinius als Varinne und Varine belegte Stamm (Plinius Hist. Nat. IV 99) überhaupt mit den Varini zu identifizieren sei48. Auf dieser Voraussetzung beruhte aber gerade Kossinnas Behauptung, Varini seien in Oberschlesien ansässig geworden. Der Ursprung von Kossinnas These bleibt unklar. Das aus dem Gen. plur. Wendla in Beowulf 348 und dem Dat. plur. Wenlum im Widsith erschlossene '''Wendlas wurde im Norden schon seit N . F. S. Grundtvig wiederholt mit den Wandalen in Zusammenhang gebracht49. D i e Zusammenstellung von Vendsyssel — älter Wendlisyscel — mit den Wandalen findet sich schon bei Saxo Grammaticus 50 . Zeuss und Müllenhoff zogen eine Verbindung zwischen Wandalen und *Wendlas und Wendlisystel nicht bzw. nicht ernsthaft in Betracht 51 . J. Grimm erwähnte immerhin die *Venias des Widsith 52 im Zusammenhang mit den Wandalen, brachte jedoch beide Namen in keinen Zusammenhang. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, daß Kossinna sich hier auf Rud. Much stützte 5 '. Dieser scheint sich seinerseits mindestens teilweise nach dänischen 47 48 49
50
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K. Zeuss, Die Deutsdien u. d. Nachbarstämme (1837) 133; K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 80 f. Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 40. Es ist anzunehmen, daß Grundtvig diese Gleichung aus dem Werk des Saxo Grammaticus entnommen hat, das er 1818 bis 1822 ins Dänische übersetzte. Bei Grundtvig selbst ist die Gleichung in: Beowulfes Beorh (1861) 208 belegt, dodi dürfte sie audi schon in älteren seiner Schriften zu finden sein, was von Deutschland aus schwierig nachzuweisen ist. — Auf Grundtvig wird in späterem Schrifttum wiederholt hingewiesen, z.B.: S. Bugge, Zum Beowulf, in: Zeitschr. f. dt. Philologie 4 (1873) 197, wo auch darauf verwiesen wird, daß E. M. Ettmüller [in seinem Werk über Beowulf (1840)] schon dieselbe Ansicht wie Grundtvig vertreten habe. — Vgl. ferner: S. Bugge, Studien ü. d. Beowulfepos, in: Beitr. z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 12 (1887) 7 f.; E. Björkman, Studien ü. d. Eigennamen im Beowulf, in: Stud. z. engl. Philologie 58 (1920) 116 ff. bes. 116 Anm. 3 mit Hinweisen auf älteres Schrifttum. Gesta Danorum, über undecimus XIV, 6; liber decimus quartus XVI, 5 (Saxonis Gesta Danorum primum a C. Knabe et P. Herrmann recensita recognoverunt et ediderunt J. Olrik et H . Raeder 1 [1931] 326, 5—6 u. 395, 17). K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 57. 443 ff.; K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 128 f. 665 ff.; dazu auch: K. Müllenhoff, Beovulf. Untersuchungen ü. d. angelsächsische Epos u. d. älteste Gesch. d. germ. Seevölker (1889) 89. J. Grimm, Gesch. d. dt. Sprache (31868) 333. Rud. Mudi, Deutsche Stammessitze (1892) 210 f. — Später hat Kossinna seine Auffassung über die Herkunft der Wandalen modifiziert. Mannus 11/12 (1919—20) 405 ff. bes. 408 vertrat er die Meinung, daß „Vermittler des Mäanders . . . wohl die aus Schlesien nach Vendsyssel gewanderten Wandalen" waren. Im Jahre 1929 betonte er seine „damals [1920] längst fest ge-
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Schriftstellern orientiert zu haben54, kannte die These Grundtvigs, sprach sich zwar nicht ausdrücklich für die Herkunft der Wandalen aus Nordjütland aus, doch zeigen seine Überlegungen, daß er dies als gegeben voraussetzte55. Er wunderte sich darüber, daß Tacitus und Ptolemaios die Wandalen für den Norden nicht belegten und half sich selbst mit einer höchst gewagten Konstruktion: „Alle Nuit(h)ones sind Kimbern, alle Wendle sind Kimbern, alle Nuit(h)ones sind Wendle"5\ Es ist letztlich wahrscheinlicher, daß sich Kossinna unmittelbar auf nordische Literatur stützte, in der er häufiger von der Identität der endlas mit den Wandalen und von deren Heimat in Vendsyssel lesen konnte, denn diese Annahme war ja ein Teil der damaligen Geschichtsauffassung", der manche skandinavischen Wissenschaftler anhingen58. Daß sich Kossinna mit Vorliebe nach der nordeuropäischen Germanistik hin orientierte, wo er Auffassungen finden konnte, die seine Ansicht von der Herkunft der Ostgermanen aus Skandinavien stützten, läßt sich bei seiner Stellungnahme zur Herkunft der Silingen deutlicher erkennen. Von einer Verbindung ihres Namens, der als SiXiyyai bei Ptolemaios Geogr. II 11,10 vorkommt, mit dem alten Namen der Insel Seeland — Silund — wußten Zeuss, Grimm, MüllenhofF und audi Much nichts. Kossinna kannte aber S. Bugges Versuch, den Namen der Insel als Seehundsinsel verständlich zu machen59, und hat — allerdings vorerst noch mit vorsichtigen Worten — darauf seine Auffassung aufgebaut*0. wordene A n s i c h t . . d a ß die frühkaiserzeitlichen Gräber in Mittel- und Nordjütland „eine größere, damals von Schlesien nach Jutland vorgedrungene Wandalenabteilung bezeugen". Vgl. auch Kossinna, Mannus 21 (1929) 233 ff. bes. 237 f. 54 Evtl. nach: H. Möller, Altenglisches Volksepos (1883) 4 f. (Anm. 2). — N o d i O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899, 2 1904) 84 hielt Vandali— Wen(d)las—Wendilenses—Vendtlfolk—Vendsysel für eine ganz unsichere Gleichung, die übrigens allenfalls für Wanderungen nach dem Norden sprechen könnte. 55 Deutlicher später in Rud. Much, Die Germania d. Tacitus (1937, 2 1959) 30; ( 3 1967) 58 f. 50 Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 211. 57 P. A. Münch, Die nordisch-germanischen Völker, ihre ältesten Heimathsitze, Wanderzüge u. Zustände (1853) 83. 58 Vgl. E. Brate, Svenska fornminnesföreningens tidskr. 9 (1896) 330. 5 * S. Bugge, Bidrag til nordiske Navnes Historie, in: Arkiv f. nordisk filologi N . F. 2 (1890) 237 ff. — Kossinna kann nur diesen Aufsatz gemeint haben; ein Zitat fehlt, wie so häufig. — Vgl. dazu Rud. Much, Altschlesien 1, 3—4 (1926) 117 ff. u. G. Kossinna, Mannus 21 (1929) 234 Anm. 3, w o er die Gleichung Silingen—Seeland als nicht zwingend revozierte und nunmehr gegen Much polemisierte. 60 Andere Vorbilder kommen dafür nicht in Betracht. Vgl. Rud. Much, Stichwort „Silingen", in: J. Hoops, Reallexikon d. germ. Altertumskunde 4
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Die Heimat der Burgunden, die nach Kossinna „ganz zweifellos aus Bornholm stammten", suchte K. Zeuss in der westlichen Nachbarschaft der Goten. Er kannte jedoch auch schon die Ansicht, sie hätten ursprünglich auf Bornholm gesiedelt 61 , wies sie aber zurück. J. Grimm sah keinen Grund, die Insel „dem Volksnamen zu entziehen", meinte aber, „warum sollten nicht auch einzelne . . . Burgunden gegen N o r d e n gezogen sein"62. Müllenhoff dagegen zog eine Beziehung der Burgunden zu Bornholm nicht ernsthaft in Betracht"3. Much wiederum sah zwischen dem Namen der Insel und dem des Stammes zwar eine Wortverwandtschaft, jedoch in der Insel nicht die Heimat des Stammes, wiewohl er mit einer älteren Heimat der Burgunden außerhalb des östlichen Mitteleuropa rechnete"4. Während Much später Kossinna für den Entdecker dieser Wortgleichung hielt 65 , hat dieser sich offenbar in Wahrheit auf E. Brate gestützt 66 , doch trug er auch Eigenes bei, insbesondere um die abweichenden Ansichten Zeuss', Müllenhoffs und Muchs zu widerlegen 67 . D a ß „die Rugier ihre Namensvettern an der Südspitze Norwegens" hatten, war zwar schon Zeuss, Grimm und Müllenhoff bewußt, die jedoch daraus für die Herkunft der einen oder der anderen Gruppe keine Konsequenzen zogen. Much sah allerdings in den beiden Gruppen „nur durch Wanderung getrennte Teile eines und desselben V o l k e s . . . , über dessen ältere Sitze" er sich freilich „ganz im Unklaren" war 68 . Im Kreis der
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(1918—19) 180, wo Kossinna als Autor der Gleichung Silund—Sdiyvai genannt wurde. Zugleich wies Much sie zurück. — Während Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 281 die Silingen v i e l l e i c h t aus Seeland kommen ließ, sagte er Mannus 11/12 (1919—20) 408 „Gezeigt aber habe ich jedenfalls schon 1896, daß der westliche Zweig der Wandalen, die Silingen, . . . aus Seeland stammen muß". K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 465 Anm. J. Grimm, Gesthidite d. dt. Sprache (»1868) 486. K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 56 Anm. Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 42; ders., Deutsche Stammeskunde (21905) 125 anders: „wahrscheinlich von Bornholm . . . ausgegangen"; ebenso (31920) 122. Rud. Much, Stichwort „Burgunden", in: J. Hoops, Reallexikon der germ. Altertumskunde 1 (1911—13) 357. E. Brate, Svenska fornminnesföreningens tidskr. 9 (1896) 329 f. — Vgl. P. A. Münch, Undersögelser angaande Danmarks ethnographiske Forhold i de seldste Tider, in: Annaler for nordisk Oldkyndighed og Historie 1848, 216— 336. bes. 290 ff., wo Identität der ältesten Einwohner Bornholms mit den Burgunden jenseits der Ostsee als gesidiert angesehen wird; anders jedoch 233. G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 282 ff. bes. 282: „Hier behält wieder einmal das laienhafte Sprachgefühl gegen alle kurzsichtigen Einwände philologischer Spitzfindigkeit recht." K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 154 Anm. 484 Anm. u. 507; J. Grimm, Gesch. d. dt. Spradie (31868) 328 f. 498; K. Müllenhoff,
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deutschen Germanisten kann Kossinna also keine Stütze gefunden haben; es bleibt unklar, worauf seine Annahme beruht. Bugge und Brate lieferten ihm jedenfalls nichts68. Die Harudes im Heer des Ariovist identifizierte Zeuss mit den XapoüÖEg des Ptolemaios Geogr. II 11,7, deren Wohnsitze er südlich der der Kimbern — also im südlichen Nordjütland — annahm 70 . Grimm meinte hingegen, sie brauchten „nicht gerade aus dem Norden gekommen zu sein, man könnte sie sich . . . in mehr als einer Gegend denken" 71 . Möllenhoff stellte norwegische und kontinentale Haruden ohne Kommentar nebeneinander72, und Much dachte vorsichtig an einen ethnographischen Zusammenhang7®. Auch hier hat Kossinna nirgends eine Stütze. Wahrscheinlich fand er sie jedoch wieder im nordischen Schrifttum. In der Tat ist die Gleichsetzung von Harthesysal mit der Heimat der Haruden schon Gedankengut dänischer Humanisten 74 . Die Erwägung, die Aewüvoi des Ptolemaios (Geogr. II 11,16) könnten aus Lemovii verderbt sein, konnte Kossinna schon bei J. Grimm finden75, der jedoch in diesem Zusammenhang keine Herkunftsfragen erörterte. In diesem Fall folgte er seinem „laienhaften Sprachgefühl" — wie er es nannte —, das es ihm erlaubte, die Lemovii des Tacitus in *Lemonii und die Aeuwvoi des Ptolemaios in '"AEVCÖVOI zu emendieren, „wenn nicht etwa Leuonii oder Leuoni bei Tacitus das richtige treffen sollte" 7 '. Über die Herkunft der Kimbern aus dem Norden hatte K. Zeuss feste Ansichten77. Müllenhoff hingegen meinte, sie seien von der mittleren Elbe ausgegangen78. Dieser Auffassung hatte sich Kossinna ursprünglich angeschlossen; eindeutiger als jener meinte er, sie hätten „irgendwo in Thüringen" gewohnt 79 . Während Müllenhoff die Teutonen für Anwohner der Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 66; 3 (1892) 312; 4 (1900) 493; Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 184. 49 P. A. Münch, Annaler for nordisk Oldkyndighed og Historie 1848, 233 verneinte, daß die Rugier einst den Norden bewohnten, meinte jedoch, sie hätten geographisch in engem Zusammenhang mit den Einwohnern des Nordens gestanden. 70 K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 151 f. 71 J. Grimm, Gesdi. d. dt. Sprache ( 3 1868) 440. 72 K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 467. 73 Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 205. 74 Vgl. G. Schütte, The Origins of the Cimbrians, in: Acta Philol. Scand. 6 (1931—32) 91. 75 J. Grimm, Gesch. d. dt. Sprache ( 3 1868) 498. 76 G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 281 f. 77 K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 144. 78 K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 289. ™ G. Kossinna, Die Sueben im Zusammenhang d. ältesten dt. Völkerbewegungen, in: Westd. Zeitschr. f. Gesch. u. Kunst 9 (1890) 213.
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Nordsee hielt80, dachte sich Kossinna ursprünglich ihre Sitze südlich von den Kimbern im mittleren und oberen Mainland, und er hielt sie nicht für Germanen wie jener, sondern für Kelten81, eine Ansicht, an der er noch bis 1895 festhielt 82 . »Wenn die Flotte des Augustus im Jahre 5 n. Chr. an der Spitze von Jütland noch Kimbern getroffen haben will, so ist das nichts als politischer Humbug". Diese Meinung 83 hatte er drei Jahre früher schon einmal geäußert 84 . Wenn er im Jahre 1897 die Kimbern auf der Kimbrischen Halbinsel ansetzte, kehrte er — wenngleich ohne Begründung — wieder zur allgemein vertretenen Auffassung zurück, denn Müllenhoffs Ansicht hatte offensichtlich niemals viel Zustimmung gefunden. Für die Wendung zur altverbreiteten Auffassung mag Much einen Anstoß gegeben haben 85 . Spuren von Einflüssen auf Kossinna weisen indes wieder nach Dänemark, wo die Verbindung der Kimbern mit der Landschaft Himmerland — Himbersysiel — seit dem Humanismus immer wieder betont worden ist88. Im Jahre 1839 hatte der Norweger R. Keyser erneut die Verbindung der Kimbern mit Himmerland betont 8 '. Ein Wandel der eigenen Ansicht über die Kimbernherkunft innerhalb von wenigen Jahren muß Kossinna, obwohl er häufig genug in Fragen der Wissenschaft keine Bedenken kannte, doch etwas unangenehm gewesen sein. So schrieb er 1897 von den Teutonen, die er wenig vorher für Kelten und Bewohner des mittleren und oberen Mainlandes gehalten hatte, verklausuliert: „Ein phantasievoller Sprachforscher könnte dann noch im Thyttesysal nördlich des Limfjords die Teutonen erkennen" 88 . Aus der deutschen Literatur dürfte Kossinna gewiß nicht zu dieser Wendung angeregt worden sein. Seine Quelle ist wieder in Skandinavien zu suchen, doch die Literatur zur Kimbern- und Teutonenfrage ist so unge80 81 82
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K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 289. G. Kossinna, Westd. Zeitschr. 9 (1890) 213. G. Kossinna, Der Ursprung d. Germanennamens, in: Beiträge z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 20 (1895) 298. G. Kossinna, Westd. Zeitsdlr. 9 (1890) 214. G. Kossinna, Rezension von Th. Mommsen, Römische Geschichte 5 ( 2 1885), in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Literatur 13 (1887) 203 f. Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 214 f. Vgl. G. Schütte, Acta Philol. Scand. 6 (1931—32) 91 ff. R. Keyser, Om nordmaendenes herkomst og folkesläegtskab, in: Samlinger til det norske Folks Sprog og Historie 6 (1839) 359 ( = Samlede Avhandlinger [1868] 120). G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 290 Anm. 1. Die Meinungsänderung, die Kossinna hier vornahm — denn wen anders meinte er mit dem „phantasievollen Sprachforscher" als sich selbst — vollzog Much später ebenfalls. Vgl. Rud. Much, Deutsche Stammeskunde ( 2 1905) 100 f.; ders., Stichwort „Teutonen", in: J. Hoops, Reallexikon d. germ. Altertumskunde 4 (1918—19) 314 ff. Hachmann, Goten und Skandinavien
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heuer groß, daß es — zumal Kossinna selten Verweise lieferte — unmöglich ist, sie festzustellen. Die Heimat der Heruler suchte noch Zeuss südlich der Ostsee89. Müllenhoff bezeichnete sie als Nordgermanen" 0 und auf ihn berief sidi Kossinna in diesem Fall ausdrücklich. Die Goten faßte Kossinna als Einwanderer aus Gotland auf und berief sich dabei auf S. Bugge91, indes zu Unrecht. Bugge hatte nur festgestellt, daß die Einwohner Gotlands sich einst Gutar nannten, von den Schweden im Mittelalter Gutar oder Gotar und von den Isländern Gotar genannt wurden und daß dieser Name formal mit dem der festländischen Goten — schwedisch Goter — identisch sei. Deren ältesten Wohnsitze lagen — meinte Bugge — so nahe bei Gotland, daß es von vornherein äußerst wahrscheinlich sei, daß die Einwohner Gotlands deswegen Gutar hießen, weil sie zum gleichen Volk gehörten wie die festländischen Goten. Aus dieser Annahme versuchte Bugge sprachliche Schlüsse, doch keinerlei Folgerungen über die Herkunft der gotländischen Gutar bzw. der festländischen Goten zu ziehen. Erst E. Brate meinte, die von Jordanes überlieferte Wandersage sei in diesem Zusammenhang sicherlich nicht ganz ohne Bedeutung. Bugge habe sich zwar nicht genau über das Verhältnis zwischen Gotland und den Goten geäußert, aber er scheine zu denken, Gotland sei eine gotische Kolonie gewesen92. Brate meinte, es gäbe gewisse Indizien, einen umgekehrten Zusammenhang anzunehmen. Die Goten an der Weichselmündung könnten ursprünglich eine Kolonie aus Gotland gewesen sein. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Kossinna diesen Hinweis Brates gekannt hat9®, denn er sprach später von nordischen Handelsleuten in der Weichselgegend (vgl. unten S. 169). Natürlich war Kossinna auch das bekannt, was Much 1892 über den Zusammenhang zwischen Skandinavien und den Goten geschrieben hatte' 4 . 89 90 91
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K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 476. K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 69. 91. S. Bugge, Indskrifter med de asldre Runer 1 (1891—1903) 152 ff. (diese Seiten gehören zu der im Jahre 1893 ausgegebenen 2. Lfr. v. Bd. 1). E. Brate, Svenska fornminnesföreningens tidskr. 9 (1896) 329. Derselbe Band der Svenska fornminnesföreningens tidskr. enthält O. Montelius' bedeutenden Aufsatz „Den nordiska jernalderns kronologi", den Kossinna zweifellos gekannt hat. Bei der Lektüre dieses Aufsatzes, E. Brates Rezension des von S. Bugge herausgegebenen Inventars norwegischer Runeninschriften nicht zu beachten und zu lesen, hätte Kossinnas Interessen wenig entsprochen. Rud.Much, Deutsche Stammessitze (1892) 180 f. Vgl. G. Kossinnas Rezension, in: Indogerm. Forschungen, Anzeiger 4 (1894) 46—49. — Rud. Much meinte, die Goten seien schon in ihrer skandinavischen Heimat in mehrere Stämme zerfallen „und zwar ganz oder teilweise dieselben, die . . . uns nachmals an
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Es ist im übrigen wahrscheinlich, daß Kossinna auch einen Aufsatz von A. Erdmann kannte, worin dieser die Ablautverhältnisse zwischen den verschiedenen Namensformen nordischer und festländischer Goten und Gauten eingehend — wenn auch mit anfechtbaren Ergebnissen — untersuchte' 5 . Faßt man zusammen, was sich als Hintergrund für die Behauptung, die Volksnamen zeigten, daß bei der germanischen Besiedlung des östlichen Mitteleuropa Skandinavier die Hauptmasse der Kolonisten lieferte, erkennen läßt, so ergibt sich folgendes: Kossinna hatte Ansichten aufgegeben, die er Anfang der neunziger Jahre teils in Anlehnung an Müllenhoff, teils selbständig enwickelt hatte, sofern diese der neuen These widersprachen (Kimbern und Teutonen). E r orientierte sich nur dann noch nach Müllenhoff, wenn dieser ausnahmsweise von Herkunft aus dem N o r den sprach (Heruler). E r übernahm Auffassungen, die er in dänischer, schwedischer oder norwegischer Literatur angetroffen hatte (Goten, Teutonen, Silingen, Kimbern, Haruden, Burgunden, Wandalen). In einzelnen Fällen scheint er selbständig vorgegangen zu sein; jedenfalls lassen sich Vorbilder nicht eindeutig nachweisen (Warinen, Rugier, Lemovier). Gelegentlich trug er eigene Argumente bei, um die seiner Gewährsleute zu unterstützen (Burgunden). In allen Fällen ging er mit einer erstaunlichen Oberflächlichkeit vor. Willkürliche Emendationen sind nicht selten (Wariner, Lemovier). Fast immer verfuhr er bei seiner Argumentation sehr eklektisch. E r verschwieg Namensbelege, die das „klare Bild" hätten stören können (Wariner, Lemovier), nannte seine Gewährsleute nur ausnahmsweise und verschwieg eigene widersprechende, ältere Ansichten. Wie und unter welchen Voraussetzungen Kossinna zu der These, Skandinavien sei die Heimat der Ostgermanen, gekommen ist, das erklärte er selbst nicht. Doch läßt sich der Weg, den er gegangen sein muß, erschließen. Als bei Kossinna das Interesse an der vorgeschichtlichen Archäologie erwacht war und er ein eifriges Literaturstudium begann®6, mußte
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der Donau und am Pontus entgegen treten" (a. a. O. 181). Hier scheint Vorstellungsgut Jacob Grimms durchzuschimmern, der in: Gesch. d. dt. Sprache ( 3 1868) 514 meinte: „ . . . auch darin folgen sie, fast instinctmäßig, dem alten Stamm nach, dasz ihnen wie diesem Aufgang und Niedergang der Sonne in der neuen Heimat wieder zur Abteilung wird und alsbald ein Eystragautland Vestragautland . . . vorhanden ist." Much kehrte J . Grimms Vorstellung einfach um. A. Erdmann, Om folknamnen Götar och Goter, in: Antiqvarisk tidskr. f. Sverige 1 1 , 4 (1905) 1 — 3 4 . Eines seiner ersten Zitate archäologischer Literatur nennt den Aufsatz von O. Montelius, Über d. Einwanderung unserer Vorfahren i. d. Norden, in: Archiv f. Anthropologie 17 (1887) 1 5 1 — 1 6 0 . Vgl. G. Kossinna, Anzeiger f. dt. Alterthum u. dt. Litteratur 16 (1890) 16 Anm. 2. — Damals war Kossinnas eigene
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er neben deutscher Literatur vornehmlich skandinavische Bücher und Zeitschriften studieren, denn die nordische Vorgeschichtsforschung war damals unbestritten führend in Europa. Dabei mußte er natürlich auf eine ganze Anzahl von Beiträgen stoßen, worin skandinavische Autoren Probleme der germanischen Altertumskunde behandelten". Sie alle waren ihm bis dahin höchstwahrscheinlich unbekannt, denn die deutsche Germanistik der Zeit Müllenhoffs hielt es nicht für nötig, die oft konträren Auffassungen nordischer Autoren zur Kenntnis zu nehmen. Eine nennenswerte Kenntnis skandinavischer germanistischer Literatur verraten Kossinnas eigene frühere Schriften jedenfalls nicht. Es wäre eine besondere Aufgabe, diese Abhängigkeit Kossinnas von skandinavischer Wissenschaft detailliert nachzuweisen. Sie wird wesentlich dadurch erschwert, daß er gerade dort, wo er fremde Ansichten übernahm, mit Hinweisen darauf sparsam, ja, eher geneigt war, seine Abhängigkeit zu übergehen, als seine Leser darüber aufzuklären. Wie in der skandinavischen Wissenschaft seit Saxo Grammaticus die Vorstellung von der nordischen Heimat der Germanen niemals vollkommen aufgegeben wurde, haben u. a. Th. Bieder und C. Weibull unabhängig voneinander gezeigt 98 . J . Svennung konnte ganz besonders überzeugend darlegen, wie im Mittelalter die schwedischen Götar
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Auffassung aber nodi bei weitem nicht fertig, denn er zitierte hier Montelius als Zeugen für die Einwanderung von Germanen nach dem Norden. Nachweislich kannte Kossinna im Jahre 1897 folgende skandinavische germanistisdie Literatur: H. Möller, Das altenglische Volksepos i. d. ursprünglichen strophischen Form (1883); ders., Rezension von A. Erdmann, Über d. Heimat u. d. Namen d. Angeln (1890—91), in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 22 (1896) 129—164; S. Bugge, Bidrag til nordiske Navnes Historie, in: Arkiv f. nordisk filologi N. F. 2 (1890) 225—245; S. Bugge, Norges Indskrifter med de seldre Runer 1 (1891—1903); K. Rygh, Bemerkninger om stedsnavnene i den sendre del af Helgeland, in: Historisk tidsskrift utg. av den Norske historiske forening 1 (1870) 53—135; P. A. Münch, Historiskgeographisk Beskrivelse over Kongeriket Norge i Middelalderen (1849); ders., Die nordisch-germanischen Völker, ihre ältesten Heimathsitze, Wanderzüge und Zustände (1853); ders., Undersögelser angaaende Danmarks ethnographiske Forhold i de aildste Tider, in: Annaler f. nordisk Oldkyndighed og Historie (1848) 216—336; C. A. E. Jessen, Undersögelser til nordisk oldhistorie (1862); H. Petersen, Om Nordboernes Gudedyrkelse og Gudetro i Hedenold (1876); Ed. Erslev, Jylland d. Studier og Skildringer til Danmarks Geografi (1886); O. Nielsen, Bidrag til Oplysning om Sysselinddelingen i Danmark (1867); R. Keyser, Om Nordmasndenes herkomst og Folkeslsegtskab, in: Samlinger til Det Norske Volks Sprog og Historie 6 (1839) 263—462. Th. Bieder, Gesch. d. Germanenforsdiung 1 (1921) 40 ff. 56 ff. 94 ff. ( 2 1939) 64 ff. 101 ff. 163 ff. (Bieders sonst naiv vordergründige Zusammenstellung für diese Frage instruktiv); C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten aus Sdiweden (1958) 3 ff.
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Gothi genannt wurden98 und wie für die Västgötar sogar der Name Wisigothi aufkam100. Der Unterschied zwischen den kontinentalen Gothi und den skandinavischen Gautar, wie er im frühen Mittelalter selbstverständlich war, wurde damit verwischt, und zwar solange, bis die neuzeitliche Wissenschaft ihn wieder neu feststellte. Nicolaus Ragvaldi, ein schwedischer Bischof, lernte — wohl auf dem Baseler Konzil — Jordanes' Gotengeschichte oder größere Auszüge daraus kennen101; Ericus Olai lehnte sich mit seiner Chronica regni Gothorum ganz an Nicolaus Ragvaldi an102. Um 1540 schrieb Johannes Magnus eine Historia de omnibus Gotharum Suenumque regibus, die langdauernden Einfluß gehabt hat103. Olof Rudbeck und viele andere bauten mit wechselnden Einfällen, lebhafter Phantasie und kräftiger Rücksichtslosigkeit gegenüber den von ihnen benutzten Quellen an einem Geschichtsbild, in dem der Norden als Heimat der Völker angesehen wurde104. Als die Historiographie der Aufklärung die Frage nach der Glaubwürdigkeit stellte, wurde das — wie es C. Weibull ausdrückte — „für die ältere Geschichtsschreibung eine Katastrophe". Ihr Lehrgebäude stürzte zusammen. „Aber der Kern dieser Geschichtsschreibung selbst, die Erzählung von der Auswanderung der Goten aus Schweden, war zwischen den Ruinen stehen geblieben"105. Die deutsche Romantik, die über Adam öhlenschläger nach Dänemark und dem Norden wirkte, und die in den Arbeiten Grundtvigs10' ungewöhnliche Blüten trieb, belebte die alten Vorstellungen im Norden bald wieder. Man findet die Uberzeugung von der Herkunft der Goten aus dem skandinavischen "
J. Svennung, Zur Geschichte des Goticismus (1967) 69 f. J . Svennung, a. a. O. 70 f. 1 0 1 J . Svennung, a. a. O. 34 ff. 97 ff. 1 0 S J . Svennung, a. a. O. 81 f. 1 0 3 J . Svennung, a. a. O. 82 f. 1 0 4 J . Svennung, a. a. O. 91 ff. — Vgl. dazu die Darstellung von E. Wessen, Studier tili Sveriges hedna mytologi och fornhistoria, in: Uppsala universitets arsskrift 1924 (Filosofi, sprakvetenskap odi historiska vetenskaper 6) (1924), 82 ff., wo die Diskussion über die mittelalterlich schwedische Gleichsetzung von Götar und Gotar bis ins 19. Jahrhundert verfolgt wird. 1 0 5 C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten aus Schweden (1958) 27 f.; vgl. dazu E . Wessen, a. a. O. 84. 10« Vgl. N . F. S. Grundtvig, Nordens Mythologie eller Sindbilled-Sprog (1832) 116 f. zur Herkunft der Goten (übersetzt): „Wir können uns deshalb den alten Norden als eine geistige Einheit vorstellen, in der der politische Unterschied wie in der ganzen Gesellschaft nur wenig zu bedeuten hatte, und die drei großen Auswanderungen: Die gotische, angelsächsische und die normannische können als gemein nordische betrachtet werden, obsdion sie Bruderteile von dem Reiche gewesen sind, das der Ausgangspunkt war. Da wir nun wissen, daß Dänemark der [Ausgangspunkt] der Angelsachsen, Norwegen der der Normannen war, ist nicht der geringste Grund vorhanden, daran zu zweifeln, daß Schweden der der Goten w a r . " 100
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Norden bei P. A. Münch, dem großen norwegischen, und bei E. G. Geijer, dem bedeutenden schwedischen Historiker des frühen 19. Jahrhunderts, und bei minder bedeutenden Geistern. Im gleichen Umfange, in dem Kossinna sich für diese ihm neuen Ansichten zu erwärmen begann, wuchsen seine Vorbehalte gegenüber Müllenhoff. Im Jahre 1884 hatte er ihm einen verehrungsvollen Nachruf gewidmet. Seine Rezension des zweiten Bandes von K. Müllenhoffs Deutscher Altertumskunde zeigt ihn noch im Banne des Lehrers. Demgegenüber ist seine Besprechung des vierten Bandes oberflächlich, unsorgfältig und willkürlich 107 . Der Wandel seiner wissenschaftlichen Auffassungen führte also zu einer fortgesetzt vergrößerten persönlichen Distanz. Die Hintergründe seiner eigenen neuen Stellung sind von Kossinna selbst wahrscheinlich nie richtig erkannt worden. Er stand fest in seiner Zeit, w a r fortschrittsgläubig und versteifte sich — oft wegen der Form und des Inhalts seiner Äußerungen scharf angegriffen — in seinen A u f fassungen, anstatt sie zu überprüfen. Trotz des Unbewußten seines wissenschaftlichen Handelns vollzog sich dies vor einem geistesgeschichtlidien Hintergrund, der sich bei näherem Hinsehen durchaus durchschauen läßt (vgl. unten S. 182 ff.). Kossinnas Aufsatz über die ethnologische Stellung der Ostgermanen mußte wegen der A r t seiner Darstellungsweise geradezu paradoxe Folgen haben. Im Bereich der Germanistik konnten seine namenkundlichen Deduktionen zur Herkunft der Ostgermanen wegen ihrer Oberflächlichkeit 107 y g i Q Kossinna, Karl Möllenhoff, in: Beitr. z. Kunde d. indogerm. Sprachen 9 (1885) 135—150; ders., Besprechung v. K. Möllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887), in: Anzeiger f. dt. Alterthum u. dt. Litteratur 16 (1890) 1 bis 60; ders., Rezension v. K. Möllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 , 1 (1899), in: Literarisches Centralblatt f. Deutschland 51 (1900) 731—735. Beachtenswert folgende Sätze Kossinnas (Sp. 734): „Wie eine kritisch genaue Abwägung und historisch unbefangene Anschauung die germanische Ethnogenie aufzufassen hat, welche Stellung den Ostgermanen in Wahrheit zukommt, wie die Entstehung des Namens Germanen und des Tacitus Bericht, den M.[üllenhoff] geradezu gewaltsam mißversteht, am natürlichsten zu nehmen ist, das alles ist gegen M. im Laufe der letzten Jahre in mehreren bekannten Abhandlungen von Kossinna ausführlich entwickelt worden. Immerhin sind das Fortschritte der Wissenschaft, die erst nach M.s Tode erwachsen sind, die also nur der Hrsgbr., anmerkungsweise berühren konnte, aber auch hätte berühren müssen, wollte er nicht die nach Erweiterung des Gesichtskreises strebenden Vertreter der Nachbarwissenschaften und die lernbegierigen Anfänger schweren Täuschungen entgegen führen" . . . Sp. 735: „Seit seinem Weggange von Kiel, wo er das vorgeschichtliche Museum verwaltete, hat sich M. in bewußter Weise von der Archäologie dauernd abgewendet . . . Dadurch werden solche einseitigen . . . Constructionen erklärlich, nunmehr aber wohl nicht so leicht möglich sein, seit Kossinna die germanische Altertumskunde wieder voll auf den Boden der Archäologie gestellt hat, . .
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keinen Eindruck machen; dort mußten aber die scheinbar sorgfältige und zurückhaltende Darstellung und Auswertung der archäologischen Befunde imponieren. Für den Archäologen hingegen konnte die Auswertung der Bodenurkunden in der Form, wie er sie 1897 vornahm, auf die Dauer kaum befriedigen. Was Kossinna von der Herkunft so vieler germanischer Stämme aus Skandinavien schrieb, das machte jedoch großen Eindruck, denn er war doch immerhin Germanist und als solcher für die Beurteilung sprachlicher Fakten kompetent. Die unmittelbare Wirkung des Aufsatzes scheint aber noch nicht sehr groß gewesen zu sein. Immerhin brachte das Jahr 1899 bereits zwei größere Veröffentlichungen, die auf einzelne seiner Gedanken eingingen. O. Bremer, der Kossinna mehrfach zitierte108, benutzte freilich den archäologischen Teil seiner Schrift nicht. Im Gegenteil, er betonte, daß „aus der prähistorischen Archäologie . . . für die Bestimmung der Nationalität gar nichts sicheres zu gewinnen" sei. Es sei „nicht entfernt daran zu denken, daß sich auf Grund der geographischen Verbreitung der gefundenen Sachen auf der Karte ethnographische Linien ziehen ließen" 10 '. „Dem neuesten Versuch G. Kossinnas, . . . , auf Grund der Funde die ältesten Wohnsitze der Germanen zu bestimmen, stehe ich durchaus ablehnend gegenüber"110. Nur wo archäologische, historische und linguistische Zeugnisse übereinstimmten, seien sie ethnographisch verwertbar. In diesem Sinne hielt er — allerdings mit Einschränkungen 111 — die Angaben skandinavischer Archäologen für brauchbar, die den Nachweis zu führen gesucht hatten, daß Schweden und Norwegen von Dänemark aus besiedelt worden seien112. Man kann eine versteckte Polemik gegen Kossinna sehen, wenn er philologische Details aus dessen Aufsatz über die ethnographische Stellung der Ostgermanen diskutierte, ohne seine Wanderungsthesen auch nur zu erwähnen. Im gleichen Jahre wie Bremer setzte sich auch R. Loewe in begrenztem Umfange mit Kossinnas neuen Thesen auseinander113. Bezeichnend ist 108
O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899, 2 1904) 5. 79. 103. 111 u. 122 f. nannte philologisdie Details aus seinen Arbeiten, erwähnte S. 85 Kossinna lediglich als Zeugen dafür, daß sidi die breves gladii der Ostgermanen (Tacitus Germ. 43) in skandinavischen Gräbern fänden.
109
O.Bremer, a. a. O. 17.
110
O. Bremer, a. a. O. 36 Anm.
111
O. Bremer, a. a. O. 51 Anm. 3 wandte sich gegen die Meinung der Archäologen, Skandinavien sei schon um 3000 v. Chr. besiedelt worden, und rechnete damit, daß die Steinzeit bis ins 2. Jh. v. Chr. Geb. gereicht habe.
111
Vgl. die von O. Bremer, a. a. O. 51 f. zitierte Literatur.
115
R. Loewe, Die ethnische u. sprachl. Gliederung d. Germ., 16. Festschr. d. Gesellschaft f. dt. Philologie (1899).
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
sein Urteil: Kossinna hat „die Herkunft der Ostgermanen aus Skandinavien und damit die Berechtigung der Zweiteilung der Germanen, . . . , erwiesen. Er ist dabei fast lediglich von ethnologischen, namentlich archäologischen Momenten ausgegangen, hat dagegen die sprachliche Seite der Frage nur kurz, . . . , gestreift und überhaupt sehr unterschätzt" 114 . Bezeichnend ist ebenso, daß Loewe — wenn auch sehr selten — die archäologischen Argumente Kossinnas übernahm, natürlich ungeprüft. „Da sich die Wohnsitze der Germanen erst in der jüngsten Bronzezeit (600—300v. Chr.) östlich über die Weichsel ausdehnen, so können auch erst frühestens während dieser Zeit die Goten in jene Gegenden gekommen sein", meinte er beispielsweise115. Zu einer Auseinandersetzung mit Kossinnas gesamtem Vorgehen kam es noch nicht; es blieb im wesentlichen bei einer — im großen Ganzen wohlmeinenden — Polemik gegen seine philologischen Argumente. Seit seinen im Jahre 1895 gehaltenen Vorträgen und dem Aufsatz des Jahres 1897 war die Problematik des Zusammenhanges zwischen Skandinavien und den „Ostgermanen" für Kossinna in den Grundzügen gelöst, obwohl er 1897 noch geschrieben hatte: „Wie sich die vorchristlichen Völkerverschiebungen hier im einzelnen gestalten, muß sich durch eingehendere Spezialstudien in Zukunft ermitteln lassen, . . ." l l e . Sein nächster größerer Beitrag zur Geschichte der „Ostgermanen" — 1905 veröffentlicht117 — macht das deutlich. Wo er auf den sprachgeschichtlichen Hintergrund zu sprechen kam, blieb er bei Behauptungen, von denen man 1897 noch erwarten konnte, er würde sie in den nächsten Jahren gründlich erörtern. Nun behandelte er sie wie Fakten, die keinen ernsthaften Widerspruch mehr duldeten. „Befremdend hat auf mich gewirkt, daß Schweden, ein Land, das seit der Ubersiedlung der Ostgermanen ins Weichselgebiet, namentlich aber seit dem Erscheinen der Burgunden und dann der Goten, . . ., durch ethnologische wie kulturelle Beziehungen an Ostdeutschland geknüpft erscheint, die ostdeutsche Eigentümlichkeit der verzierten Lanzenspitzen nicht übernommen haben sollte"118, meinte er zunächst. Aber er konnte dann solche Lanzenspitzen sofort nachweisen. Obwohl alles geklärt zu sein schien, setzte Kossinna in diesem Aufsatz aber doch noch einmal zu einer Erläuterung seiner Ansichten an. „Der Begriff des ,Ostgermanischen', . . . , wurde bekanntlich von Müllenhoff 114
R. Loewe, a. a. O. 1.
115
R. Loewe, a. a. O. 18 ähnlich auch 44.
116
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 280.
117
G. Kossinna, Über verzierte Eisenlanzenspitzen als Kennzeichen d. Ostgermanen, in: Zeitsdir. f. Ethnol. 37 (1905) 369—407.
118
G. Kossinna, a. a. O. 382 f.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
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. . . in einen ethnographischen umgewandelt"". Über Herkunft und Anfänge der Ostgermanen herrschten trotzdem ganz willkürliche Meinungen, bis ich vor zehn Jahren 120 auf Grundlage der Archäologie zeigen konnte, daß mit dem Beginn der Kultur der sogen, pomerellischen Gesichtsurnen eine erste tiefe Kluft innerhalb der wirklich germanischen Kultur Norddeutschlands sidi auftut, die nun in eine westgermanische und ostgermanische zerfällt, . . . Es war ursprünglich meine Absidit, die Archäologie der Ostgermanen hier ausführlicher zu behandeln 1 2 1 ... Allein es stellte sich heraus, daß ich mit dieser . . . Erweiterung . . . den Rahmen dieser kürzeren Mitteilung völlig sprengen würde. Ich stelle also die Frage der Ostgermanen für eine Sonderschrift beiseite und gebe jetzt nur einige Andeutungen" 182 . Aber bei diesem Ansatz blieb es, das eigentliche Thema wurde zurückgestellt. In seinen „Andeutungen" wiederholte er die Thesen der Jahre 1895—1897: „Die Ostgermanen entstanden etwa um 700 oder 750 v. Chr. . . . durch Übersiedelung von skandinavischen Scharen, die sich als herrschender Stamm über eine westgermanische Grundbevölkerung lagerten . . . Ich habe schon früher bemerkt, daß die Weichselmündung, nachdem sie einmal in germanische Hände gekommen war123, sich nunmehr zum Emporium im Verkehr mit Skandinavien aufschwang . . . Die nordischen Handelsleute setzten sich nun dort fest und machten sich nach und nach das Weichseltal und das Gebiet westlich der Weichsel Untertan . . . Im Norden dieses Gebiets verschmolzen sie mit ihren westgermanischen Vorgängern zu einem neuen Volke, das wir . . . als Wandilier zu bezeichnen pflegen. Dieser Grundstock der Ostgermanen sind die Leute der pomerellischen Steinkistengräber mit Gesichtsurnen oder später mit einfachen Urnen". Kossinna ließ einen Exkurs über die südlich anschließende nichtgermanische Kultur, dann einen solchen über die Westgermanen, schließlich einen über die keltische Latenekultur folgen und setzte fort: „Wir kommen nun zur Kaiserzeit und damit zu dem springenden Punkte. Zunächst ist noch nachzuholen, daß im Beginn der jüngsten Lateneperiode, also um 150 bis 100 v. Chr. neue Zuwanderungen über die Ostsee, bei denen die burgundische Bevölkerung aus Bornholm Führung und Herrschaft gewann, 119
120 121
122 123
Kossinna meinte: K. Müllenhoff, Über Tuisco u. seine Nachkommen. Ein Beitrag z. Gesch. d. altdt. Religion, in: Sdimidt's Allgem. Zeitsdir. f. Gesch. 8 (1847) 209—269. Gemeint ist sein Vortrag in Kassel 1895; vgl. Anm. 4. Hier schob Kossinna als Anmerkung ein, er habe sich schon in seinem Vortrage in Breslau im Januar 1902 über die Archäologie der Ostgermanen eingehender geäußert, das Vortragsreferat in: Globus 81 (1902) 93 f. biete darüber „jedoch so gut wie nichts". G. Kossinna, Zeitsdir. f. Ethnol. 37 (1905) 386 f. G. Kossinna, Die indogerm. Frage archäologisch beantwortet, in: Zeitsdir. f. Ethnol. 34 (1902) 216.
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
demgemäß auch dieser zweiten Gruppe . . . den Namen gab, nach Hinterpommern und Westpreußen gelangten . . . Kennzeichen hierfür sind die Begräbnisse in Form der sog. reinen Brandgruben . . . Eine dritte Gruppe der Ostgermanen wird durch die kurz vor Chr. Geburt eröffnete Übersiedlung der Goten aus Gotland nach der Weichselmündung begründet. Auf Gotland und anscheinend in ganz Schweden überhaupt herrscht in dieser Zeit die Skelettbestattung durchaus vor . . . Die gotländische Skelettbestattung [wird] durch die Goten nadi Nordostdeutschland gebracht" 124 . Er meinte allerdings, nicht immer sei die Vorbevölkerung vollständig verdrängt und manchmal sei die durch die Einwanderung importierte Grabsitte „durch Übertragung auf die nächstverwandten Nachbarn"" 5 ausgebreitet worden. Kossinnas Argumente für die Einwanderung waren einfach, und sie mögen dem Germanisten einleuchtend erschienen sein. Das Aufkommen neuer Bestattungssitten — Steinkistengräber der Gesichtsurnenkultur, Brandgrubengräber der Spatlaténezeit und Körpergräber kurz vor Christi Geburt —, das waren tiefgreifende Änderungen der Kultur, die es wohl rechtfertigten, Einwanderungen anzunehmen. Daß solche Begräbnissitten auch durch Kulturübertragung weiterverbreitet werden konnten, war verständlich, und daß Kossinna nicht einseitig nur von Wanderungen sprach, betonte wiederum ebenso die Sorgfalt seiner Überlegungen wie die Annahme von Restbevölkerungen, die mit den Neuankömmlingen verschmolzen. Der Leser, der die archäologischen Fakten nicht kannte, konnte allerdings nicht erkennen, daß er die Vermischung mit Restbevölkerungen w i l l k ü r l i c h annahm und daß er ebenso s e l b s t h e r r l i c h entschied, wo die neuen Bestattungssitten eine Einwanderung und wo sie eine Kulturübertragung anzeigten. Kossinnas Darstellung erschien auch deswegen überzeugend, weil er anscheinend Ost- und Westgermanen mit archäologischen Mitteln trennen konnte. Verzierte Lanzenspitzen waren ostgermanisch (wegen der Verwandtschaft von Nord- und Ostgermanen auch nordgermanisch). Dasselbe mußte für bestimmte Gürtelhakenformen 12 ' gelten. „West- und ostgermanische Mäanderurnen" seien „ganz vortreffliche, untrügliche ethnologische Kennzeichen"127. Ost- und westgermanische Fibeln seien zu unterscheiden128. Auf solche Weise schien Kossinna nicht nur in der Zeit um Christi Geburt West- und Ostgermanen trennen zu können. „Genaue124 125 121 127 128
G. G. G. G. G.
Kossinna, Kossinna, Kossinna, Kossinna, Kossinna,
Zeitschr. f. Ethnol. 37 (1905) 391 f. a. a. O. 391. a. a. O. 390. a. a. O. 393. a. a. O. 393 f.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
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res wissen wir [auch] über die spätere Zeit"12*. Im übrigen vertröstete er nochmals auf eine spätere erschöpfende Bearbeitung: „Diese Andeutungen zur Beleuchtung der Frage nach dem Verhältnis von Ost- und Westgermanen mögen vorläufig genügen, bis ich Muße finde, das von meiner ostdeutschen Museumsreise des Jahres 1899 eingebrachte Studienmaterial ausführlich vorzulegen" 130 . Die Gelegenheit dazu wäre im Jahre 1 9 1 1 gekommen gewesen, als Kossinna sein erstes größeres Budi veröffentlichte 131 . Doch dies enthielt nur eine Zusammenfassung bisheriger Ansichten, mit allerhand polemischen Ausfällen. Audi ein zweites, annähernd gleichzeitig erschienenes Buch"8 brachte das versprochene Material nicht, und eine 1925 erschienene „Ostgermanenkarte" ergab nichts Neues13'. Kossinna hat die versprochene ausführliche Vorlage des Materials als Beweis für die Einwanderung der Ostgermanen aus Skandinavien niemals geliefert. 128 130 131
132
133
G. Kossinna, a. a. O. 403. G. Kossinna, a. a. O. 407. G. Kossinna, Die Herkunft d. Germanen. Zur Methode d. Siedlungsarchäologie (1911, l 1920) 21: „So klar für die Ostgermanen verhältnismäßig spät, erst zu Beginn der Eisenzeit, ein erster Kulturanbruch und eine Besiedlungsurzelle an der Weichselmündung erkennbar ist, — woher allein schon mit Notwendigkeit ein überseeisdier Ursprung dieser Stämme erschlossen werden muß, und zwar von Südskandinavien her —, ebenso klar läßt sich ein gegenteiliges Verhalten . . . in Norddeutschland feststellen". Uber die späteren Vorgänge sagte er nichts. G. Kossinna, Die dt. Vorgesdi., eine hervorragend nationale Wissenschaft (1912, 2 1914, 3 1921, 4 1925, «1933, «1934, '1936). 2. Auflage in „Text und Abbildungen" stark vermehrt, doch die „längeren gelehrten Anmerkungen . . . in einen kurzen Anhang verwiesen". — 3. Auflage „Abklatsch der 2. Auflage", mit „durchgängiger Nachbesserung des Textes". — 4. Auflage „Abklatsch der früheren Ausgabe". — 5.—7. Auflage nach dem Tode Kossinnas erschienen. G. Kossinna, Zu meiner Ostgermanenkarte, in: Mannus 16 (1924) 160—175. — Kurz vor seinem Tode im Jahre 1931 schrieb Kossinna, Mannus 21 (1929) 233 f. rückblickend: „ . . . als ich durch eindringende Forschungen archäologischer Art über die Zusammensetzung und Schichtung der vorgeschichtlichen Bevölkerung Deutschlands immer mehr zu der Uberzeugung gekommen war, daß in fast allen vorgeschichtlichen Perioden ein andauerndes Zuströmen nordischer Bevölkerung nach Norddeutschland zu erkennen sei, besonders stark aber in den Jahrhunderten der Entstehung der Ostgermanen, . . . Diese Ansicht der nordischen Herkunft der Ostgermanen vertrat ich zuerst öffentlich im Jahre 1895 in dem sehr gedrängten Kasseler V o r t r a g . . . , dessen Grundlage eine bis heute noch von mir aufbewahrte Manuskriptabhandlung bildete, die mindestens viermal so umfangreich ist als der knappe Auszug, den ich davon veröffentlichte. Ein besonderer Teil dieser Manuskriptabhandlung wurde dann 1896 unter dem Titel ,Die ethnologische Stellung der Ostgermanen' veröffentlicht, . . . "
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
Es ist übrigens wahrscheinlich, daß er die Absicht, sich ausführlicher mit dem „ostgermanischen" Material zu befassen, schon vor dem Jahre 1906 aufgegeben hatte, sollte er sie überhaupt jemals ernsthaft gehegt haben. Im Sommer jenes Jahres machte sein Schüler E. Blume nämlich eine erste Museumsreise, um Material für eine Dissertation über die kaiserzeitliche Kultur zwischen Oder und Passarge zu sammeln; das Thema seiner Dissertation lag sicher schon vorher fest 1 * 4 . Wenige Jahre später erhielt J . Kostrzewski die Bearbeitung des zeitlich vorangehenden Materials als Doktorarbeit 1 3 5 . Schließlich vergab Kossinna auch noch den übrig gebliebenen Materialteil — die Gesichtsurnenkultur — an E. Petersen als Dissertation 13 *. Ehe diese Arbeiten, die sich im übrigen, was die Deutung der Stammesnamen und des archäologischen Befundes anbelangt, weitgehend an das anschlössen, was Kossinna zwischen 1895 und 1905 festgelegt hatte — nur Petersen wich von diesem Schema ab und gab die Annahme, die Bevölkerung der Gesichtsurnenkultur sei aus Skandinavien eingewandert, ganz auf (vgl. unten S. 1 7 9 ) — , recht zur Wirkung kommen konnten, waren Kossinnas Grundthesen längst innerhalb der germanischen Altertumskunde und auch in der Geschichtsforschung von Gelehrten übernommen worden, deren Schriften in ihrem Fachgebiet beträchtliches galten, Rud. Much, Fr. Kauffmann und Ludwig Schmidt, später Fr. Maurer, E. Schwarz, H . Moser. Bei Much vollzog sich — für einen größeren Kreis von Lesern sichtbar — die entscheidende Wendung mit der zweiten Auflage seiner Deutschen Stammeskunde 137 , worin er zwar Kossinna nicht nannte, doch die ältesten germanischen Stammessitze und Kulturverhältnisse sichtlich nach diesem schilderte 138 und eine Reihe germanischer Stämme angeblich skandinavischer Provenienz aufzählte, wobei er im wesentlichen Kossinnas Ansicht folgte 139 . In der nachfolgenden Auflage änderte Much diese 134
135 m
137 138
139
E . Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge z. röm. Kaiserzeit 1 u. 2 (1912 u. 1915). J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlatenezeit 1 u. 2 (1919). E. Petersen, Die frühgerm. Kultur i. Ostdeutschland u. Polen (1929). — Die Arbeit entstand großenteils nach Kossinnas Emeritierung und wurde von M. Ebert betreut. Rud. Much, Deutsche Stammeskunde ( 2 1905). Rud. Much, a . a . O . 23 ff. 2 7 : „Vielleicht sind durch Vorstöße von Norden her am Südufer der O s t s e e . . . scharfe Volks- und Sprachgrenzen geschaffen worden. Auch innerhalb bereits germanischen Volksgebietes können Nachschübe aus Norden die Erhaltung einer einheitlichen Sprache begünstigt haben". Vgl. dazu Anm. 140. Rud. Much, a. a. O. 27 f. (Goten, Greutungen, Haruden, Rugier, Xci/.oi, Burgunder, Variner, Ombronen, Wandalen). In Einzelfällen behielt Much seine eigene, abweichende Meinung bei.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
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Liste' 40 , nannte nunmehr jedoch Kossinna namentlich141 und nahm andere Anregungen von ihm auf. Bedeutsamer für die weitere Entwicklung der germanischen Altertumskunde und für die Verbreitung von Kossinnas Gedankengut wurden die Beiträge Muchs zu J. Hoops' Reallexikon der germanischen Altertumskunde 142 . Anpassung an dessen Vorstellungen ist nachweisbar bei Muchs Stichworten „Wandalen" 143 , „Burgunden" 144 , „Lemovier" 145 , „Goten" 1 4 ' 140
141
142 143
Rud. Much, Deutsche Stammeskunde ( 3 1 9 2 0 ) 23 ff. (Goten, Burgunden Wanderung nach Süden; Rugier u. Haruden Wanderung von Süden nach Norden). An Stelle des Anm. 138 zitierten Satzes steht übrigens nun S. 23 f . : „ D a ß Einwanderungen aus Skandinavien nach dem östlichen Deutschland in ausgedehntem Maße in Betracht kommen, läßt sich archäologisch nachweisen". Rud. Mudi, a. a. O . 6 zitierte u. a. als Literatur G . Kossinna, D i e Herkunft d. Germanen (1911) und stellte fest: „Die Schrift gewährt einen Überblick über die vorgeschichtliche Ausbreitung und Gliederung der Germanen, wie sie sich ihrem Verf. aus den Funden zu erkennen gibt". An gleicher Stelle sagte er über O . Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899, 2 1 9 0 4 ) : „Völlig laienhaft ist sie in der Beurteilung des archäologischen Materials". In der zweiten Auflage steht über Bremer: „Es ist dies die einzige neuere, den ganzen Stoff systematisch behandelnde Arbeit, die aber der Verf. [Much] . . . in vieler Beziehung — so, was die Beurteilung des archäologischen Materials betrifft — als verfehlt betrachtet". J . Hoops, Reallexikon d. germ. Altertumskunde 1 — 4 ( 1 9 1 1 — 1 9 ) . Rud. Much, Stichwort „Wandalen", i n : J . Hoops, Reallexikon 4 ( 1 9 1 8 — 1 9 ) 479 nannte Vendsyssel als Teilheimat der Wandalen. — Kossinnas Ansicht über die Herkunft der Wandalen machte eine Metamorphose durch. Indogerm. Forschungen 7 (1897) 281 stellte er lapidar fest: „ . . . den Wandalen in Schlesien [stehen] Wendle in Vendsyssel an der Nordspitze Jütlands gegenüber". — Mannus 11/12 (1920) 408 setzte er die Wendlas nicht mehr mit den Wandalen in Verbindung, sondern mit dem uppländischen Vendil. Zugleich sprach er von aus Schlesien nadi Vendsyssel ausgewanderten Wandalen. — Mannus 21 (1929) 233 erklärte er, nach eindringlichen Forschungen archäologischer Art sei er einst zur Überzeugung gekommen, „daß in fast allen vorgeschichtlichen Perioden ein andauerndes Zuströmen nordischer Bevölkerung nadi Norddeutschland zu erkennen sei" und da wagte er „es auszusprechen, daß das Verhältnis der Leute von Vendsyssel zu den schlesischen Wandalen nicht so zu denken sei, daß etwa die Vendilenses ein in der Heimat zurückgebliebener Rest eines Stammes gewesen seien . . . sondern, daß beide Stammesteile auf einen gemeinsamen in Skandinavien gelegenen Ausgangspunkt hinwiesen". — Die dt. Vorgesch., eine hervorragend nationale Wissenschaft ( e 1934) 142 heißt es aber anders: „Nun kann j a eine solche Zuwanderung, wie sie zu der Bildung der wandilischen Ostgermanen notwendig war, kaum von einem einzigen Gebiete ausgegangen sein, sondern muß wohl von mehreren mehr oder minder benachbarten und verwandten Stämmen vollzogen worden sein". E i n Aufschluß sei schwer zu erlangen, „zumal es Jahrhunderte gedauert hat, bis diese Einwanderung sich vollzog und eine andauernde enge Verschmelzung mit der Kultur der Grundbevölkerung stattfand", d. h. also, v e r s c h i e d e n e Stämme lieferten die Ein-
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Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
und „Kimbern" 1 4 ', also bei einem beträchtlichen Teil der germanischen Hauptstämme. In anderen Fällen hat Mudi sich allerdings unabhängig gehalten, so bei den Stichworten „Bastarnen", „Teutonen" und „Rugier". Einen Zusammenhang zwischen Seeland und den 2IAÎYY wie Kossinna ihn angenommen hatte, lehnte er ausdrücklich ab 148 . Gewisse Spuren Kossinnas finden sich auch in Muchs Bild von der Entstehung und frühen Ausbreitung der Germanen, doch w a r ihm durchaus bewußt, daß dessen „Aufstellungen vielfach eingehenderer Begründung" bedürften 14 '. Schon bei Much ist sichtbar, wie Kossinnas Lehrmeinung vom skandinavischen Norden als Heimat germanischer Stämme produktiv wurde, d. h. wie sich nach seinem Vorbild Vorstellungen ähnlicher A r t bildeten.
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wanderer; von wandernden Wandalen ist keine Rede. Zeitsdir. f. Ethnologie 37 (1905) 387 ff. sprach Kossinna von skandinavischen Scharen, die sich das Gebiet Untertan machten und mit der einheimisch westgermanischen Grundbevölkerung verschmolzen. Zwischen 750 und 700 v. Chr. seien sie gekommen. — Angesichts dieses Wandels in Kossinnas Ansichten ist es schwer, den Gedankenzusammenhang zwischen ihm und Much zu präzisieren. Fest steht nur, daß ein solcher besteht. Rud. Much, Stichwort „Burgunden", in: J . Hoops, Reallexikon 1 (1911—13) 357 ff. nannte Kossinna als Gewährsmann für die Herkunft der Burgunden aus Bornholm und gab seinen eigenen Vergleich von kelt. Brigantes und *Burgundes auf. Rud. Much, Stichwort „Lemovii", in: J . Hoops, Reallexikon 3 (1915—16) 151 zitierte Kossinna ohne Kommentar, hielt seine Auffassung also für diskutabel. Rud. Much, Stichwort „Goten", in: J . Hoops, Reallexikon 2 (1913—15) 304 ff. 305 erwähnte Kossinna und übernahm seine These von der Herkunft der Goten aus Gotland (nach G. Kossinna, Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 6 [1896] 10), die von Kossinna später verändert wurde, so in: Das Weidiselland (1919) 19 f.: „Der führende Stamm der Goten kam wahrscheinlich von der Insel Gotland, doch werden wohl auch festländische Schwedenstämme, insonderheit die Ost- und Westgauten im heutigen Götaland sich ihnen angeschlossen haben." Dieselbe Meinung findet sich noch bei G. Kossinna, Die dt. Vorgeschichte ( 2 1914) 143 ff., wo er sich zugleich 145 Anm. 1 gegen Auffassungen wendet, die O. Almgren, Mannus 5 (1913) 150 f. und Mannus 8 (1916) 290 ff. geäußert hatte. Unter dem Einfluß von B. Nerman, Die Herkunft u. d. frühesten Auswanderungen d. Germanen (1924) 52 änderte er dann seine Ansicht vollkommen. G. Kossinna, Die dt. Vorgeschichte ( 4 1925) 145 Anm. 1 lautet nun: „Diese Siedlungsänderungen zeigen sich nur im Götalande . . . Audi die Ubereinstimmung der Begräbnisarten erweist nur Götaland, nicht auch Gotland, als Gotenheimat." Rud. Much, Stichwort „Kimbern", in: J . Hoops, Reallexikon 3 (1915—16) 42 ff. nannte Kossinna. Rud. Much, Stichwort „Silingen", in: J . Hoops, Reallexikon 4 (1918—19) 180 f.: „Unwahrscheinlich ist die von Kossinna . . . vermutete Beziehung zu Silund...". Rud. Much, Stichwort „Germanen", in: J . Hoops, Reallexikon 2 (1913—15) 174 ff. bes. 177 f.
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Kossinna hatte sich nie für skandinavische Herkunft der Langobarden ausgesprochen. Much sah 1905 in diesen einen Stamm, dessen Zugehörigkeit zu den Sueben nicht „mit voller Bestimmtheit behauptet werden" könne. Er suchte ihre Stammsitze jedoch noch an der Elbe154. Etwa zehn Jahre später betonte er jedoch, in ihren Rechtsgewohnheiten habe man nordgermanische Beziehungen finden wollen, was um so mehr ins Gewicht falle, als das Volk sich in seiner Wandersage selbst aus dem skandinavischen Norden herleite. „Noch manches andere" scheine „für dessen nordische Herkunft zu sprechen""1. Weitere fünf Jahre später wiederholte er im wesentlichen dasselbe151, später erläuterte er es gelegentlich noch ausführlicher155 und schließlich ging die Ansicht auch in seinen TacitusKommentar ein154. Der Glaube an eine nordische, d. h. skandinavisch-dänische Herkunft der Ostgermanen ist bei Much auch sonst noch vereinzelt produktiv. Die "OußQtovsg des Ptolemaios Geogr. I I I 5,8 hatte er zwar 1892 als Ablautform neben die Ymbre im Widsith-Lied 32 und neben Amrum — älter Ambrum — gesetzt, doch nicht direkt mit den "Außpcoveg in Strabo Geogr. IV 183 zusammengestellt, deren Namen er allerdings ebenfalls mit Ymbre und Amrum verglich155. Zwanzig Jahre später meinte er, die "0(xßpcovE5 seien wahrscheinlich ein „Zweig der jütländischen Ambronen"15«. Durch das Wirken Kossinnas entstand nicht nur in der vorgeschichtlichen Archäologie, sondern auch in der germanischen Altertumskunde eine Lehrmeinung, in der die Herkunft der Germanen und einzelner germanischer Stämme, insbesondere der „Ostgermanen" aus dem Norden in wechselndem, aber wachsendem Umfange eine Rolle spielte. Es waren zunächst wenige, aber in bestimmter Hinsicht bedeutende Gelehrte, die sich nach Kossinna orientierten; in deren Gefolge wurden dann aber viele andere in gleicherweise beeinflußt. Alle vertrauten den wirkungsvoll vorgetragenen archäologischen Argumenten, hielten die Methoden der Archäologie, wie sie Kossinna anwandte, für überzeugend und wichen nur in Einzelheiten von ihm ab. 150 151
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Rud. Much, Deutsche Stammeskunde ( 2 1 9 0 5 ) 117 ff. Rud. Much, Stichwort „Langobarden", in: J. Hoops, Reallexikon 3 (1915 bis 16) 123 ff. Rud. Much, Deutsche Stammeskunde ( 3 1 9 2 0 ) 113 ff. Rud. Much, Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte, in: Germanistische Forschungen. Festsdir. anläßl. d. 60-semestrigen Stiftungsfestes d. Wiener Akadem. Germanisten Vereins (1925) 7 ff. bes. 62 ff. Rud. Much, Die Germania d. Tacitus (1937, «1959) 344 ff.; ( 3 1967) 441 ff. Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 9 ("A|ißecoves). 43 f. ("Oußecoveq). Rud. Much, Stichwort „Ambronen", in: J. Hoops, Reallexikon 1 (1911—131 76 f.
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Unversehens wurde auf diese Weise die Auffassung in der vorgeschichtlichen Archäologie und in der germanischen Altertumskunde von der nordischen Heimat der Germanen und der skandinavischen Abstammung vieler germanischer Stämme zu einer Art neuzeitlichem wissenschaftlichem Topos, zu einem modernen Skandinavien-Topos im Gegensatz zum Scandza-Topos des frühen Mittelalters. Nach ihm begann sich die gelehrte Welt in Deutsdiland, aber auch im benachbarten Ausland, zu orientieren, ohne zu wissen, wie er zustande gekommen war und ohne auch weiter danach zu fragen. Der Skandinavien-Topos lebte in der A r c h ä o l o g i e im wesentlichen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, in der G e r m a n i s t i k weit darüber hinaus. Zwischen den beiden Kriegen erschienen zahlreiche Schriften rein archäologischen, altertumskundlichen oder auch philologischen Inhalts, in denen sich der Skandinavien-Topos als wirksames Gestaltungsprinzip nachweisen läßt. Diese Schriften erbrachten vielerlei wissenschaftliche „Fortschritte". Sie differenzierten naturgemäß das Bild von der frühen Geschichte der Germanen. Sie klärten und begründeten es jedoch nicht; sie haben es im Gegenteil verwirrt, besonders dort, wo Ergebnisse aus der germanischen Altertumskunde, die auf Gedanken Kossinnas beruhten, in die vorgeschichtliche Archäologie rückübertragen und dann weiterverwandt wurden. In der Vor- und Frühgeschichtsforschung ist das von Kossinna benutzte Verfahren zwar inzwischen als falsch erkannt worden, doch ist in dieser Wissenschaft eigentlich noch immer nicht vollkommen klar, w a r u m und in w e l c h e m U m f a n g e es fehlerhaft ist. Auf den Gedanken, die methodologischen Voraussetzungen der sogen. „Methode Kossinna" in ihrem vollen Umfang zu überprüfen, ist noch niemand gekommen. Dabei hat es niemals an gelehrten Kritikern Kossinnas in seinem eigenen Fach gefehlt157. Die Angriffe waren jedoch fast niemals gegen die Methode selbst gerichtet — wenn es auch fast immer so gemeint war —, sondern wandten sich in praxi gegen deren unkonsequente Anwendung durch Kossinna oder durch seine Schüler und Freunde158. Allerdings erschien offenbar vielen Kritikern schon der Beweis für die Unbrauchbarkeit 157 Vgl K . H . Jacob-Friesen, Grundfragen d. Urgesdiiditsforschung (1928) 141 ff. 149. 151. 173. 179 f. 190 ff. 206 f.; P. Reinecke, Aus der russischen archäologischen Literatur, in: Mainzer Zeitschr. 1 (1906) 4 7 ; H . Zeiss, Zur ethnischen Deutung frühmittelalterlicher Funde, in: Germania 14 (1930) 11 bis 2 4 ; E . Wahle, Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen. Grenzen d. frühgeschichtlichen Erkenntnis 1., Sitzungsber. d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften, phil.-hist. Klasse Jg. 1940—41, 2. Abh. 158 y g i R Hadimann, in: R. Hachmann, G. Kossack, H . Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 16—28.
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der „Methode Kossinna" erbradit, wenn es ihnen gelungen war, bei Kossinna oder anderen Inkonsequenzen nachzuweisen. Wo sich ausnahmsweise einmal Angriffe direkt gegen die Methoden richteten, da waren die Argumente dagegen meist nicht viel besser als die Kossinnas selbst. Die Vielzahl der Schriften, die mittlerweile erschienen sind, hat längst den Weg, den die Forschung seit Kossinna gegangen ist, vollends verunklart. Allzuoft kannten die Kritiker nämlich ihre eigene wissenschaftliche Position nicht und konnten nicht erkennen, was sie taten, wenn sie, ohne es zu wissen, mit Kossinnas Argumenten gegen ihn zu Felde zogen. In einer gewissen Ratlosigkeit hat sich ein Teil der Forschung resignierend schon seit längerer Zeit aus dem gefährlichen Bereich der Auseinandersetzungen um das Problem der „ethnischen Deutung", wie es in der Vor- und Frühgeschichte genannt wird, in den sichereren Bereich rein antiquarischer Untersuchungen zurückgezogen. Die Geschichte dieser Forschungsweise zu analysieren, wäre reizvoll, und es würden Ergebnisse von beträchtlichem wissenschaftlichem Aktualitätswert nicht ausbleiben. Hier kann es sich jedoch nur darum handeln, das Schicksal des Skandinavien-Topos noch ein Stück weiter zu verfolgen, zunächst in der Archäologie, dann in der germanischen Altertumskunde. Kossina war von der Ansicht ausgegangen, daß die „Westgermanen" sich im Gegensatz zu den „Ostgermanen" entwickelten. Er grenzte das westgermanische Siedlungsgebiet für die Mitte des 2. Jahrtausends nach Süden und Südwesten — grob gesagt — mit dem Mittelgebirgsland ab 15 ' und stellte fest: „Das von dieser Linie und der Meeresküste eingeschlossene Landgebiet war in hohem Grade geeignet, einem eigenartigen, geschlossenen und nur sich selbst gleichen Volke, wie die Germanen es noch zu Tacitus Zeiten waren . . . als Wiege zu dienen". Es bestand seiner Auffassung nach ein grundlegender Gegensatz zwischen West- und Ostgermanen. Die einen waren in Nordwestdeutschland autochthon und waren aus ihrer Heimat langsam und kontinuierlich peripher vorgerückt, bis sie die Siedlungsräume erreichten, die sie noch zur Zeit des Tacitus inne hatten; die anderen waren erst spät aus Skandinavien eingewandert, hatten sich teilweise mit Westgermanen vermischt, waren durch neue Einwanderungsschübe vermehrt, aber auch verdrängt worden 1 ' 0 . Doch dann wurde der Skandinavien-Topos auch im Westen wirksam. Einer der ältesten Schüler Kossinnas, A. Plettke, entwickelte die These, die Sachsen seien „über See" aus nördlicher Richtung, d. h. über die Elbemündung eingewandert" 1 . G. Schwantes wollte den Nachweis er1S
» G. Kossinna, Herkunft d. Germanen (1911) 21 f. G. Kossinna, a. a. O. 20. A. Plettke, Ursprung u. Ausbreitung d. Angeln u. Sachsen (1920) 60.
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bringen, die Langobarden seien in ihre Wohnsitze an der unteren Elbe aus dem Norden, zwar nicht nachweislich aus Skandinavien, aber doch wohl aus Ostholstein-Mecklenburg eingewandert 1 ". Ebenso meinte er nachweisen zu können, daß die Sueben ursprünglich in Skandinavien wohnten, und erst in der frühen Eisenzeit südlich der Ostsee ansässig geworden waren 1 9 3 . Eine Abnahme der Fundmenge in Skandinavien gegen Ende der Bronzezeit veranlaßte ihn ebenso zu dieser Annahme wie das Auftreten der großen Friedhöfe der Jastorf-Kultur nach dem Ende der ärmlichen und scheinbar kleineren Gräberfelder der Gruppe von Wessenstedt. Der Gedanke von der „Suebischen Landnahme" wurde später von W. Wegewitz ebenso übernommen wie die von der Einwanderung der Langobarden, die jedoch nunmehr nicht aus Norddeutschland, sondern aus Südschweden erfolgt sein sollte" 4 . Mit der These von der „Suebischen Landnahme" war es nun in der Archäologie so weit, daß skandinavische Heimat für so gut wie alle germanischen Stämme — ausgenommen die westlichsten — postuliert wurde. Man fragt sich unwillkürlich, warum denn gerade die westlichen Germanen, für die die Germanistik selbst stets gerne relativ späte Einwanderung aus dem Raum rechts der Weser angenommen hatte 1 8 5 , nicht in dieses „System" einbezogen wurden. Die Antwort auf diese Frage gibt — wie in so vielen Fällen — die Forschungsgeschichte. Im westlichen Teil Deutschlands war bis in die dreißiger Jahre hinein — außer R . Stampfuß — kein G. Sdiwantes, Vorgeschichtliches z. Langobardenfrage, in: Nachrichtenblatt f. Niedersadisens Vorgesdi. 2 (1921) 1—25; ders., Die Gruppen der Ripdorf-Stufe, in: Jahresschr. f. Mitteidt. Vorgesdi. 41/42 (1958) 382 f.: „Meine Anschauungen von 1921, . . . , halte ich aufrecht; sie gelten jedoch, wie wir erst seit kurzem wissen, nur für einen Teil des Bardengaus... [Einwanderung der Langobarden]. An der durchgreifenden Natur der Jastorf-Störung ermessen wir die Ausmaße der ihr zugrunde liegenden Bewegung. Da sich keine soziologischen und wirtschaftlichen Momente für den plötzlichen Eintritt der Ereignisse anführen lassen, kann es sich nur um eine umfassende Verschiebung der Wohnsitze gehandelt haben, . . ., eine möglicherweise sogar tumultuarische Umsiedlungszeit, . . 165 G. Schwantes, Die suebische Landnahme, in: Forschungen u. Fortschritte 9 (1933) 197 f.; ders., Jahresschr. f. Mitteidt. Vorgesdi. 41/42 (1958) 384 f. anders: „Ich vermute nun, daß nur Seedorf das Ergebnis der 'S webischen Landnahme' ist, Jastorf dagegen das heimische Element darstellt, in dessen norddeutsches Verbreitungsgebiet der skandinavische Zustrom sich e r g o ß . . . Tatsächlich läßt sich Jastorf einzig und allein an die jüngste Phase der Periode VI der Bronzezeit (Tremsbüttel) typologisdi anschließen. Die Abhängigkeit ist so groß, daß man Jastorf als nordische Bronzezeit in Eisen bezeichnen könnte". i«4 Wegewitz, Die Langobarden a. d. Niederelbe, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesdi. d. dt. Stämme 2 (1940) 749. 165 Vgl. O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899, 2 1904) 40. 52 f. 57.
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Schüler Kossinnas tätig, der sich in dessen Sinne mit Fragen der germanischen Altertumskunde beschäftigte. Keineswegs war es indes so, daß nun ein größerer Kreis von Gelehrten in der vorgeschichtlichen Archäologie regelmäßig in gleichgerichteten Bahnen dachte. Es gab Widersprüche unter den Schülern und Freunden Kossinnas, und es kam auch gelegentlich Widerspruch gegen Kossinna selbst auf. Schon Schwantes' „Suebische Landnahme" war im Grunde ein Widerspruch gegen Kossinnas Annahme einer Einwanderung der Gesichtsurnenkultur aus Skandinavien. Dieselbe angebliche Fundleere in Skandinavien, die Kossinna die Einwanderung der Gesichtsurnenkultur fordern ließ, ließ Schwantes die Einwanderung der Jastorfkultur und Kulturkontinuität im Weichselgebiet annehmen. Kontinuität im Weichselland meinte schon W. L a Baume im Jahre 1920 sehen zu können 1 ", und ihm schloß sich Kossinnas Schüler E. Petersen an 167 . Es folgten noch andere Abweichungen von Kossinna. Die konsequenteste war die seines Schülers J . Kostrzewski, der noch in seiner Dissertation die Bewohner des östlichen Mitteleuropas für Germanen gehalten hatte 1 ' 8 , aber dann — mit Ausnahme der Goten — deren germanischen Charakter überhaupt zu leugnen begann 108 . Neu war es auch, wenn D. Bohnsack für die Herkunft des großen spätlat^nezeitlichen Kulturgebiets Nordostdeutschlands und Polens theoretisch zwei Möglichkeiten offen sah, „einmal die einer überseeischen Einwanderung" — das hatte Kossinna Zeit seines Lebens gemeint —, „zweitens die einer im wesentlichen bodenständigen bezw. festländischen Entwicklung" 170 . Die Ableitung der gesamten nordostdeutschen Brandgrubengräberkultur aus Bornholm, wie Kossinna es wollte 171 , lehnte Bohnsack ab, aber auch die Verbindungen des Odermündungsgebiets mit der Insel beurteilte er zurückhaltend 172 . Die Kultur des östlich anschließenden hinterpommerschweichselländischen Raums habe durchaus spürbare Beziehungen zu Schweden, meinte Bohnsack; doch alles ermögliche keine sicheren Schlüsse. Er schien vor der Unmöglichkeit, eine Einwanderung nachzuweisen, und der Notwendigkeit, eine solche mit Kossinna postulieren zu müssen, zu kapitulieren, denn er stellte resigniert fest: „Vorläufig wissen wir nur, daß 160
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W. L a Baume, Vorgesch. v. Westpreußen (1920) 41—44. 50; ders., Urgeschichte d. Ostgermanen (1934) 44; ders., Ostgermanische Frühzeit (1959) 6 f. E. Petersen, Die frühgerm. Kultur i. Ostdeutschland u. Polen (1929) 120; ders., Die Bastarnen, in: H . Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 3 (1940) 888 ff. Vgl. Anm. 135. J . Kostrzewski, Germanie przedhistoryczni w Polsce, in: Przeglqd Ardi. 7, 1 (1946) 65—89; ders., Pradzieje Polski (1949) 199 f. D. Bohnsack, Die Burgunden i. Ostdeutschland u. Polen (1938) 114. G . Kossinna, Zeitsdir. f. Ethnol. 37 (1905) 391. D. Bohnsack, Die Burgunden i. Ostdeutschland u. Polen (1938) 117.
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unsere nordostdeutsche Spätlat^nekultur aus Skandinavien gekommen sein muß, ohne das Heimatland noch näher umschreiben zu können" 1 7 *. In Wirklichkeit enthält dieser Satz schon die Feststellung, daß ein archäologischer Nachweis der Einwanderung der Burgunden nicht möglich ist. Bohnsacks Hinweis auf die Notwendigkeit einer genaueren Bearbeitung des schwedischen Fundstoffs der vorrömisdien Eisenzeit, von dem ansehnliche Teile veröffentlicht waren und deren nichtveröffentliditen Hauptteil man in einer relativ kleinen Zahl von Museen schnell übersehen konnte, sollte seine unzeitgemäße Ansicht mildern, mehr als allgemein nachbarliche Kulturverbindungen zwischen dem Kontinent und Schweden seien nicht feststellbar. Auch wenige Jahre später räumte Bohnsack nur widerwillig ein, die Burgunden müßten eingewandert sein, und stellte abermals fest, Bornholm könne als Heimat nidit in Betracht kommen 1 7 4 . Genau genommen war damit eben doch schon die alte Wanderungsthese ad absurdum geführt, denn es war ja seit jeher die Namensähnlichkeit der einzige Anhalt für eine Einwanderung gewesen. Ließ sich mittels des archäologischen Fundstoffs zeigen, daß dieser für die N a m e n nichts besagt, dann war — genau genommen — kein Grund vorhanden, die Wanderung trotzdem noch als Tatsache aufrecht zu erhalten. Während Bohnsack im Begriff war, für die Burgunden die Annahme der Herkunft über See als Topos zu entlarven, war anderwärts derselbe Topos noch weiter produktiv. Jungbronzezeitliche Zuwanderer über See glaubte H . H o f f m a n n in der Lübecker Gegend festgestellt zu haben 175 . R. Schindler ging weiterhin von der Einwanderung der Goten wie von einer gesicherten Tatsache a u s 1 " . Eine Anthologie zum SkandinavienTopos in der Vorgeschichtsforschung ist die von H . Reinerth herausgegebene Vorgeschichte der deutschen Stämme 1 7 7 . Die letzte größere Abhandlung in dieser Serie war dann die des Reinerth-Schülers E. C . G . Graf Oxenstierna über die Urheimat der Goten 1 7 8 (vgl. unten S. 229 ff.). Es wäre müßig, sich mit den Problemen zu beschäftigen, die mit dem Wirken Kossinnas zusammenhängen, wenn es sich hierbei um einen Abschnitt der Forschungsgeschichte handelte, der die Vorgeschichtsforsdiung a l l e i n betrifft. Tatsächlich ist die „ A f f ä r e Kossinna" heute weniger eine Angelegenheit der Vor- und Frühgesdiichtswissenschaft — obwohl man 173 174
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D. Bohnsack, a . a . O . 118. D. Bohnsack, Die Burgunden in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesdi. d. dt. Stämme 3 (1940) 1036 ff. H. Hoffmann, Die Gräber d. jüngeren Bronzezeit i. Holstein (1938) 51. R. Schindler, Die Besiedlungsgesdiidite d. Goten u. Gepiden im unteren Weichselraum auf Grund d. Tongefäße (1940) 101 ff. H. Reinerth [Hrg.], Vorgesdi. d. dt. Stämme 1—3 (1940). E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945).
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sidi auch in dieser durchweg nicht die rechte Vorstellung von den geistesgeschiditlichen Hintergründen der Epoche macht, auf die Kossinna wirkte —, vielmehr hauptsächlich eine solche der Altgermanistik. Noch heute liest man: „Wann das germanische Volkstum und seine Spradie entstanden sind, läßt sich . . . nicht genau ermitteln. Gewisse Anhaltspunkte weisen auf das Ende der Jungsteinzeit hin, also in das dritte vorchristliche Jahrtausend. Die Wohnsitze der Germanen dürften zu dieser Zeit rund um die westliche Ostsee, zwischen Oder und Elbe, in Jütland und auf den dänischen Inseln und in Südskandinavien gelegen haben"17®. „Schon tief in prähistorischer Zeit hatten die Germanen begonnen, sich nadi Westen über die Weser und nach Süden gegen die mitteldeutschen Gebirge auszubreiten. Im Frühlicht der Geschichte drangen sie dann in heftigen Stößen gegen den Rhein und die Donau vor in Gegenden, die im Westen und Südwesten von Kelten, im Südosten von Illyrern besiedelt waren" 180 . Noch heute heißt es von den Goten, sie seien einst wohl von Skandinavien südwärts abgewandert 181 . Es wird von „Weser-Rhein-Germanen", „Elbgermanen" und „Oder-Weichsel-Germanen", also von Komplexen, die ursprünglich der Begriffswelt der Archäologen angehörten, wie von sprachlichen Begriffen gesprochen188. Es ändert nichts, wenn solche Vorstellungen heute oft mit kühler, fast gleichgültiger Distanz vorgetragen werden, und es bedeutet im Endeffekt nichts, wenn betont wird, man müsse „den archäologischen Ergebnissen mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüberstehen"18®. Kossinnas Denken wirkt in der Germanistik bis in die Gegenwart, und es sind keineswegs die Außenseiter des Faches, die sich auf ihn berufen oder die — obwohl sie seinen Namen kaum noch kennen — von seinem Gedankengut zehren184. 179
H. Eggers, Deutsche Sprachgesdi. 1 (1963) 27. H. Eggers, a. a. O. 33. 181 H. Eggers, a. a. O. 27. 1M H. Eggers, a. a. O. 31 f. 183 H. Moser, Deutsche Spradigesdiichte d. älteren Zeit, in: W. Stammler [Hrg.], Deutsche Philologie im Aufriß 1 (21957) 670. 18« Yg[ Krause, Handbuch d. Gotischen (1953) 3: „Die älteste nachweisbare Heimat der Goten war Skandinavien: Darauf deutet die einheimische Wandersage, . . . Daß diese Sage wenigstens im Kern richtig ist, wird sowohl durch die Sprachwissenschaft wie durch die Vorgesdiiditsforschung wahrscheinlich gemacht... In dem Zeitraum um den Beginn unserer Zeitrechnung nämlich finden sich in dem von Goten besiedelten Gebiet der unteren Weichsel Körperbestattungen neben Urnen- und Brandgrubengräbern ganz entsprechend dem Zustand in Südskandinavien, wo soeben die Skelettbestattung als neue Form des Totenkults als Ersatz für die bisherige Urnenbestattung... aufgekommen war." Es folgt die ganze nun schon so sattsam bekannte Geschichte. Und alles stammt aus den frühen Schriften Kossinnas. 180
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Machte man angesichts dieser Situation den Versuch, das, was die Germanistik heute von der Herkunft der Germanen und von der Entstehung und Entwicklung der germanischen Sprachen weiß bzw. zu wissen meint und was sie von den Goten — ihrem Ursprung und der Genesis ihrer Sprache — glaubt wissen zu können, für ein historisch-philologisch-archäologisches Exempel nutzbar zu machen, so würde man sich in einem unentwirrbaren Komplex von Zirkelschlüssen völlig verirren. Wer möchte sich dieser Gefahr aussetzen? Was kann die Germanistik bzw. die germanische Altertumskunde zur Frage eines Zusammenhanges von Goten und Skandinavien beitragen; das ist die Frage, um die es hier eigentlich geht. Mit ihr gelangt man unversehens eine Strecke lang in die Geschichte der germanischen Philologie hinein.
2. Die Vor- und Frühgeschichtsforschung und die Entwicklung des Bildes von der Entstehung der germanischen Sprachen Was sich dem Betrachter vordergründig als „Entstehung des Skandinavien-Topos" darstellt, hat mancherlei geistesgeschichtlich bedingte Hintergründe. Das Denkmodell, über das die Vor- und Frühgeschichte mit den frühen Arbeiten Kossinnas schon vor der Jahrhundertwende verfügte, entstand auf der Grundlage eines neuromantisch gefärbten Geschichtsbewußtseins als Antwort auf den in den Geschichts- und Sprachwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschenden Positivismus. Dies orientierte sich offensichtlich nach dem Scandza-Topos, der im skandinavischen Norden durch das Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert am Leben geblieben, und der mit dem beginnenden 19. Jahrhundert durch die romantische Bewegung neu belebt worden war (vgl. oben S. 165 f.). Die Entwicklung, die sich in der Vor- und Frühgeschichte vollzog, war offensichtlich Teil einer allgemeinen Auflehnung gegen den Positivismus. Allenthalben kam damals das Gefühl auf, die exakten Methoden in den Geisteswissenschaften hätten zwar Fortschritte hinsichtlich der Breite des Wissens und der Zuverlässigkeit der Erkenntnisse erbracht, doch nichts mehr, und das sei nicht genug. Es kam ein deutliches Unbehagen auf, ein Fragen nach dem letzten Ziel der hemmungslosen Detailforschung, und selbst dem Fachgelehrten kam angesichts des Forschungsbetriebes ein Gefühl tödlicher Langeweile an. „Wir sind es endlich müde, in der bloßen gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung zu erblicken", sagte W. Scherer schon im Jahre 18681. In knappen Strichen entwickelte er ein neues, in der Romantik 1
W. Sdierer, Zur Gesch. d. dt. Spradie (1868, »1878) XII. — Scherer wird zu Unrecht oft unter die Positivisten gestellt. Vgl. Fr. Stroh, Handbuch d. germ. Philologie (1952) 60 f.; H. Arens, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Ent-
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wurzelndes Programm: „Was wir wollen, ist nichts absolut Neues; es ist durch die Entwicklung unserer Historiographie seit Moser, Herder, Goethe für jeden, der sehen will, unzweifelhaft angedeutet" 2 . „Warum sollte es nicht eine Wissenschaft geben, welche den Sinn dieser Betrebungen,..., zu ihrem eigentlichen Gegenstande wählte, welche zugleich ganz universell und ganz momentan, ganz umfassend theoretisch und ganz praktisch, das kühne Unternehmen wagte, ein System der nationalen Ethik aufzustellen, welches alle Ideale der Gegenwart in sich beschlösse und, indem es sie läuterte, indem es ihre Berechtigung und Möglichkeit untersuchte, uns ein herzerhebendes Gemälde der Zukunft mit vielfältigem Tröste für manche Unvollkommenheiten der Gegenwart und manchem lastenden Schaden der Vergangenheit als untrüglichen Wegweiser des edelsten Wollens in die Seele pflanzte"'. An Gedanken solcher Art schloß sich Kossinna offenbar an. Insbesondere muß die nationale Wendung, wie sie in Scherers Wissenschaft — er war von Geburt Österreicher — sichtbar wurde, einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben. „Poesie, Publizistik, Wissenschaft vereinigen sich, um an der sicheren Ausgestaltung eines festen nationalen Lebensplanes zu arbeiten . . . Niemand wird läugnen, daß im Gegensatze zu den alten Hauptstoffen der Kunst und Forschung, dem Christenthum und der Antike, seit etwa 100 Jahren das Deutsche, Einheimische, das irdisdi Gegenwärtige und Praktische im stetigen Wachsthume zu immer ausschließenderer Geltung hindurchgedrungen ist"3®. Hier wurzelt Kossinnas Gedanke von der Vorgeschichte als einer hervorragend nationalen Wissenschaft in einem Zeiträume und in Anschauungen, in denen sich übrigens die beiden großen Germanisten Müllenhoff und Scherer trotz allen gegenseitigen Mißverstehens begegneten4. wicklung v. d. Antike b. z. Gegenwart (1955) 268 f.; E. Rothacker, Einleitung i. d. Geisteswissenschaften (1919, *1930) 137 ff. — Vgl. dazu K. Burdadi, Wissenschaftsgeschichtl. Eindrücke eines alten Germanisten (1930) 10: „Literarische Gassenjungen verschreien Scherer als das Haupt einer materialistischen und einer mechanistischen Geschichtsbetrachtung, . . . In Wahrheit stand er viel höher . . . Scherer sah die literarische Tendenz des auf seinen Tod folgenden Menschenalters voraus und wünschte sie herbei." 2
W. Sdierer, a. a. O. XII. W. Sdierer, a. a. O. X f. 33 W. Scherer, a. a. O. X. 4 Vgl. G. Kossinna, Die dt. Vorgesdi., eine hervorragend nationale Wissenschaft ( 2 1914) 235 mit Motto von K. Müllenhoff: „Die vielgerühmte deutsche Wissenschaft, vor allem die geschichtliche, Historie und Philologie, sind sidi ihrer Pflicht gegen die Nation nur unvollkommen bewußt. Was ist zu hoffen, wenn man sie täglich ihr zuwider handeln sieht?" — Vgl. dazu W. Scherer: „Diese Wissenschaft [die deutsche Philologie] ist gebaut auf das reinste, edelste, heiligste Gefühl, das einen Menschen erfüllen kann, auf die Liebe zu der geistigen Gemeinschaft, der er entstammt, auf die Liebe zu seiner Nation", in sei-
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Ein unmittelbarer Kontakt zwischen Scherer und Kossinna ist nicht nachweisbar. Esterer lehrte zwischen 1872 und 1877 in Straßburg, wo Kossinna bei dessen Nachfolger E. Martin im Jahre 1881 promovierte. Da Kossinna 1876 zu studieren begann — zunächst in Göttingen, Leipzig und Berlin —, kann er nicht v o r Scherers Weggang nach Straßburg gekommen sein. Im gleichen Jahre, in dem Scherer starb, 1886, kam Kossinna nach Berlin. Aber er stand noch lange nach dem Tode Müllenhoffs im Jahre 1884 unter dessen Einfluß und löste sich aus diesem erst um und nach 1890, doch läßt sich schwer erkennen, unter welchen Bedingungen. Das nationale Pathos, das sich bei Scherer findet, dürfte ihn auf Umwegen erreicht haben. Mit nachträglicher Strahlung Scherers nach seiner Berufung nach Berlin muß man rechnen; seine posthume Wirkung in Berlin ist bekannt. Es waren keinesfalls Einflüsse aus der in den achtziger und neunziger Jahren noch weitgehend unter dem Einfluß von Evolutionismus und Positivismus stehenden Prähistorie, die die Wendung in Kossinnas Wissenschaft verursachten. In der Philologie hatten die Junggrammatiker ernstlich behauptet, es gäbe „keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwicklung mit solcher Exaktheit erkennen lassen, als bei der Sprache, und daher keine Kulturwissenschaft, deren Methode zu solchem Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann wie die der Sprachwissenschaft". Sie hatten betont, daß bisher alle gangbaren Methoden der historischen Forschung „mehr durch Instinkt gefunden" seien als durch eine „auf das innerste Wesen der Dinge eingehende allseitige Reflexion", und behauptet: „Man müsse mit allem Ernst die Zurüdsführung dieser Methoden auf die ersten Grundprinzipien in Angriff nehmen, und alles daraus beseitigen, was sich nicht aus diesen ableiten läßt" 5 . ner Vorrede zum neuen Abdruck von J. Grimm, Deutsche Grammatik 1 (*1870) XXII; vgl. ferner H. von Sybel, Über d. Stand d. neueren dt. Geschichtsschreibung (Vortrag Marburg 1856), in: Kleine Hist. Schriften 1 (1880) 355 f.: „Jeder Historiker, der in unserer Literatur etwas bedeutete, hatte seitdem [„die unvergleichliche Zeit der nationalen Wiedergeburt und Befreiung", der Anfang des Jahrhunderts ist gemeint] seine Farbe; . . . es gab keine objectiven, unparteiischen, blut- und nervenlosen Historiker mehr. Ein höchst erheblicher Fortschritt! . . . Der Historiker, der sich hier in vornehme Neutralität zu ziehen sucht, wird ohne Rettung entweder seelenlos oder affektiert, . . . nimmermehr wird er sich zu der Fülle, der Wärme und der Freiheit der wahren Natur erheben... Daß unsere Geschichtsschreibung sich zu Vaterlandsliebe und politischer Überzeugung bekannt, hat ihr erst die Möglichkeit zu erziehender Kraft und zu fester Kunstform gegeben." 5
H. Paul, Prinzipien d. Spradhgesch. (1880, 21886, 3 1898, 4 1909) 5; V.Thomsen, Gesch. d. Sprachwissenschaft b. z. Ausgang d. 19. Jh. (1927) 82 ff.; vgl. H. Sdiudiardt, Ueber d. Lautgesetze. Gegen d. Junggrammatiker (1885); K. Vossler, Positivismus u. Idealismus i. d. Sprachwissenschaft (1904).
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Dagegen erhob sich der „phantasievolle Sprachforscher"®. Er wollte sich durdi eine strenge Prinzipienlehre, deren Grenzen allzu eng abgesteckt waren, nicht von alledem trennen lassen, was sich mit deren Methoden nicht fassen ließ, weil er darunter Fragen von höchstem Interesse — und auch von großer Bedeutung — sah. Sicher ist es nicht Kossinnas Verdienst, dies als erster erkannt zu haben. Er war kein klarer, scharfer Denker, der das, was er in seiner Wissenschaft vorfand, auf seine Tragfähigkeit hin analysierte. Er war ein unruhiger Geist, und die Phantasie, die er sich selbst zusprach, war wirklich vorhanden. Sie fand in der Wissenschaft seiner Zeit allenthalben die von den Methodenlehrern gezogenen engen Grenzen, und sie trieb ihn, diese zu überschreiten. Er mag im Schrifttum seiner Jugendzeit manches gefunden haben, was ihn verwandt anmutete. Was andere unbewußt oder erst halbbewußt empfanden, das setzte sein zur Vereinfachung neigender Geist schnell in schlichte Formeln um. Es sieht aus, als habe er sidi unmittelbar gegen die Junggrammatiker wenden wollen, wenn er sagte: „Wie ist es denn möglich, Sprachen oder Sprachreste als gleichwertig gegenüberzustellen, die nicht derselben Zeit, sondern ganz verschiedenen Jahrhunderten angehören, d. h. auf ganz verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung und nach den mannigfachsten Beeinflussungen, die je nach der wechselnden geographischen Lage gleichfalls wechseln, uns entgegentreten?" 7 . Verschiedene Einflüsse sind bei ihm vermutbar, neben dem neoromantisdi-antipositivistischen und dem nationalen auch ein solcher, der von der Sprachgeographie ausging, die dodi ursprünglich als eine Konsequenz des sprachwissenschaftlichen Positivismus entstanden war, durch ihre frühen Ergebnisse allerdings bald gezwungen wurde, eigene Wege zu gehen. Deutlich ist bei Kossinna der Einfluß von F. Wrede, und er betonte im Anschluß an einen Satz, den dieser nur als „Schlagwort" verstanden wissen wollte 8 , Sprachgeschichte sei zunächst nur Verkehrsgeschichte; alles andere sei sekundär®. Sicher sind Kossinna auch hier die methodologischen Hintergründe seines Argumentierens nicht voll bewußt gewesen. Kossinna erkannte jedenfalls die Unvollkommenheit der positivistischen „vollkommenen Methode". Was er dagegensetzte, schien sehr 6
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 290 Anm. 1. G. Kossinna, a. a. O. 276. 8 F. Wrede, Die Entstehung d. nhd. Diphthonge, in: Zeitsdir. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 39 (1895) 261: „Sprachgeschichte ist keineswegs in erster Linie Naturgeschichte; Sprachgeschichte ist noch weniger in erster Linie Bildungsgesdiichte; Sprachgeschichte ist vielmehr zuerst Besiedlungsgeschichte." » G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 277. — Diese Folgerung, „alles andere ist sekundär", war neu in ihrer Ausschießlichkeit. 7
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modern zu sein. Doch es traf sich darin verschiedenartigstes Gedankengut, das er keineswegs zu einem neuen, logisch vollkommenen System vereinigen konnte. Da Kossinna sich im gleichen Maße, wie er sich der Vor- und Frühgeschichte zuwandte, von der Germanistik entfernte, hatte er hinfort an deren weiterer Entwicklung keinen Anteil mehr; im Gegenteil, seine Ideen verloren ihren ursprünglichen Hintergrund ganz. Sie büßten die Verbindungen zu alledem ein, woraus sie ursprünglich erwachsen waren. Sie wurden zum Dogma. Kossinnas Gedanke, die vorgeschichtliche Archäologie sei für die Sprachgeschichte der einzig berechtigte Führer 10 , war — ganz wie die Wendung Scherers — ein Rückgriff auf Gedankengut der Romantik, wenngleich im einzelnen ein Widerspruch dazu 11 . Das Leben eines Volkes — oder Volksstammes — sei eine Ganzheit und große Einheit, das hatte die Romantik durch viele ihrer bedeutenden Köpfe gesagt. Das Volk strahle seinen Geist in alle seine kulturellen Äußerungen hinein, in Sprache, Philosophie und Dichtung, Religion, Sage und Sitte, Recht, Staat und Kunst. Wenn das Ganze auf die Teile strahle, so müsse man vom Teil aufs Ganze schließen können, von der Sprachentwicklung auf die des Volkes, von der Verbreitung der Kultur eines Stammes auf Ausdehnung seines Sprachgebiets und von der Entfaltung der materiellen Kultur auf eine gleichlaufende Entwicklung der Sprache. Das alles mußte möglich sein, und die Romantik lebte noch in einem Enthusiasmus, die Erscheinungen des geschichtlichen Lebens durchschauen und bis in die fernsten Tiefen hinein verstehen zu können, der der folgenden Epoche immer fremder wurde. Sie versuchte noch vieles zu begreifen — wenn auch oft unvollkommen —, was der Positivismus einfach als gegeben hinnahm, d. h. seinem System gemäß hinnehmen mußte. In den Bereich der Romantik griff also Kossinna zurück; aber es war ein Rückgriff, der nur Einzelheiten berücksichtigte, die — aus dem lebendigen Zusammenhang eines zugleich gefühlsbetonten, wie stark spekulativen, aber organischen Denksystems herausgerissen — alsbald ihre Lebendigkeit verloren und zu oberflächlichen Auffassungen, oft Behauptungen, erstarrten und zu Lehrsätzen wurden. So erschienen Kossinna Namengleichungen und Kulturbeziehungen wie Leitmotive, aus denen man auf Völkerwanderungen schließen konnte Und wo eine archäologische Kulturprovinz mit einem Stammesnamen identifiziert werden durfte — d. h. wo Kossinna glaubte, daß es möglich 10
G. Kossinna, a. a. O. 279.
11
J. Grimm, Gesdi. d. dt. Sprache ( 3 1868) 4: „Es gibt ein lebendigeres Zeugnis über die Völker als Knochen, Waffen und Gräber, und das sind ihre Sprachen." — Vgl. aber auch Anm. 13.
Zur Forschungsgeschidite und zum Forschungsstand
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sei —, dort konnte man wissen, daß das Areal dieses Stammes mit dem seiner Sprache gleichzusetzen war. Auf solche Weise konnte aus Stammesgeschichte Sprachgeschichte erschlossen werden; ja, Stammesgeschichte war Sprachgeschichte und umgekehrt 12 . Was Jacob Grimm und die Romantiker noch feinsinnig empfunden hatten, was sie — und auch noch Scherer — durch eine sorgsam gepflegte Sprache bedachtsam zum Ausdruck gebracht hatten1®, das wurde bei Kossinna nun gewaltsam zu handlichen Begriffen zureditgehauen, mit denen sich recht praktisch hantieren ließ. Die gerade überwunden geglaubte Epoche wirkte hier deutlich nach. So erwuchs bei Kossinna — wie bei anderen — aus Gedankengut der Romantik — doch nicht daraus allein — eine Abwendung vom Positivismus, der doch selbst der Gegenschlag der Einzelwissenschaften gegen den Universalismus der Romantik gewesen war. Es war im Grunde eine eigenartige Entwicklung: Der Positivismus wandte sich von der universalen und spekulativen Haltung, von der romantisch-universalen Vision der ersten Jahrhunderthälfte ab; er betonte die Bedeutung der Einzel wissensdiaften und verneinte jedes philosophisch-spekulative Element in ihren Methoden, die sich nicht aus den Elementen einer allgemeinen Logik ableiten lassen konnten. Nun griff eine neue Zeit alte Gedanken wieder auf und verwandte sie gegen den Positivismus, verwarf diesen jedoch nicht völlig, jedoch gerade dessen besonderen Wert, seine methodische Exaktheit und die Gründlichkeit des Forschens, und stellte seiner Methodenlehre ein neues System der Kombination und der Interpretation entgegen, durch das vieles, was vorher vernachlässigt werden mußte, weil es nicht systematisch in einen logischen Zusammenhang gebracht werden konnte, sich scheinbar nun doch zu einer Ganzheit zusammenfügte. Die " Vgl. bei W. Scherer, Zur Gesch. d. dt. Sprache ( 2 1878) X I V : „Ich vermag keinen anderen Unterschied zwischen Vorhistorisch und Historisch zu erkennen als die wesentlich andere Beschaffenheit der Quellen und die entsprechende stärkere oder geringere Beteiligung des combinirenden, construirenden Forschers an der historiographischen Arbeit." 15 J. Grimm, Gesch. d. dt. Sprache ( s 1868) 2 mit typischer Beschreibung vorgeschichtlicher Befunde: „Wie das Messer in Leichname schneidet, um den menschlichen Leib innerst zu ergründen, ist in verwitterte Erdhügel eingedrungen und die lange Ruhe der Gräber gestört worden. Vom Schnee eingeschneit, von Regen geschlagen, von Thau durchtrieben muste die todte Völva dem mächtigen Gott Rede stehen; was in Staub und Asche übrig geblieben war, fragt unermüdliche Neugier nadi dem Zustand der Zeit, aus welcher es abzustammen scheint. Beschaffenheit der Gräber, Gestalt der morschen Schädel, Art und Weise des eingelegten Geräths sollen Antwort geben. Alle diese Zeugen sind beinahe stumm, nur Inschrift und deutliche Münze haben noch Kraft des Wortes, Samenkörnern, die unsere Geschichte befruchten, gleicht das in unendlicher Menge durdi alle europäischen Felder und Hügel zerstreute römische Geld."
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Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
Stärke des neuen Vorgehens war die E v i d e n z des erzielten E r g e b n i s s e s . Dieses war keineswegs im alten Sinne beweisbar, brauchte aber im neuen Sinne kaum nodi bewiesen zu werden. Für die germanische Altertumskunde wurde die Vor- und Frühgesdiichte — auf längere Sicht — in diesem Sinne zum Ausweg aus einer Forsdiungsweise, die zweifellos enorme Mengen von begründeten Einzelerkenntnissen beigebracht hatte, die jedoch den „roten Faden" der Ganzheit längst verloren hatte. In den Jahren bis zum ersten Weltkrieg gab es teilweise noch hinhaltenden Widerstand des alten Forschungsbetriebes; die Jahre danach brachten dann den fast vollkommenen Durchbrudi des Neuen. Die positivistisdie „vollkommene Methode" war aufgegeben und als unvollkommen gebrandmarkt14. Die Grenze dessen, was bislang methodisch möglich schien, wurde durch ein Spiel mit Möglichkeiten zu überschreiten gesucht. Dinge wurden nebeneinander gestellt, nur weil sie zueinander paßten oder zu passen schienen, nicht weil es mit Hilfe einer exakten Methode möglich war, die Zusammengehörigkeit nachzuweisen. Wieweit die Veränderungen in den Auffassungen in der Zeit unmittelbar vor und im ersten Weltkrieg schon zu „neuen" Ergebnissen geführt hatten, zeigt im übrigen die Tatsache, daß J . Hoops alle stammeskundlichen Stichworte Much zur Bearbeitung übertrug. Eine so einheitliche Ausrichtung aller stammeskundlichen Beiträge in einem so weit verbreiteten Reallexikon mußte für die weitere Entwicklung der Germanischen Stammeskunde, ja der gesamten Germanistik wesentliche Folgen haben15. Der bedeutsame Versuch, den Positivismus der Junggrammatiker zurückzuweisen, die von K. Vossler in die Sprach- und insbesondere Literaturwissenschaft erneut eingeführte idealistische Betrachtungsweise zu vertreten und dennoch die positiven Elemente des Alten mit denen des Neuen zu verbinden, die Deutsche Altertumskunde von Fr. Kauffmann 1 *, hatte keine eigentliche Nachwirkung. Kauffmann sagte: „Historische Grammatik nennen wir die Wissenschaft von den Stilperioden oder die Stilgeschichte der Verkehrs- und Gesellschaftssprache, denn ihre Lautgesetze sind nicht Naturgesetze, sondern Stilgesetze der Volkssprache . . . " " . Das richtete sich gegen das 19. Jahrhundert, besonders gegen die 14
15
w 17
K. Vossler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904); ders., Sprache als Schöpfung u. Entwicklung (1905); B. Croce, Ästhetik als Wissenschaft d. Ausdrucks u. allgem. Linguistik (1905). Es ist bezeichnend für Kossinnas Stellung in den Wissenschaften, daß man seine Wirkung in den Stichwortbearbeitungen Muchs in vielen Fällen unmittelbar feststellen kann, daß er selbst jedoch zur Mitarbeit nicht aufgefordert worden war. Fr. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1 u. 2 (1913 u. 1923). Fr. Kauffmann, a. a. O. 1 (1913) I X .
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
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Junggrammatiker. „ . . . Ist dem Philologen keine höhere und ernstere Aufgabe gestellt, als daß er aus der stürmisch bewegten Gegenwart unseres volkstümlichen Daseins oder aus den Epochen der ferneren Vergangenheit den Geist der Zeiten, d. h. ihren Stil erkenne und zur Darstellung bringe, so scheidet ihn vom Kunsthistoriker die Hingabe an das Volkstum, oder . . . , an das, was unter dem ganzen Volk, nicht bloß in einzelnen das Volk führenden Individuen walte. . . . Es kommt innerhalb der deutschen Philologie dem Stilbegriff der Vorrang vor allen Lehrsätzen zu" 18 . Das ist neuerwaditer Idealismus1'. Aber er empfand, daß die Neuerer ein Problem nicht überwunden hatten, das der Positivismus mit sich gebracht hatte: „Die schwerste Sorge, die das wissenschaftliche Dasein eines deutschen Philologen belastet, ist die Isolierung tüchtigster Studierarbeit; der eine will nichts weiter sein als Grammatiker, der andere ist nur Literarhistoriker, der dritte neuerdings audi Prähistoriker". Kauffmann verfocht daher das System der Germanistik als umfassende Altertumswissenschaft, in der „wie in der klassischen Philologie, Volkskunde und Landeskunde, Sprache und Verskunst, Dichtung und Religion, Kunst und Handwerk, Wirtschaft und Geselligkeit einem höheren Ganzen als dienende Glieder untergeordnet und zueinander in lebendige Beziehung gesetzt werden" 20 . Dieses Postulat versuchte er in seinem Buche noch einmal zu verwirklichen. Hinfort wurden Darstellungen der Germanisch-Deutschen Altertumskunde in der Verfolgung dieses Ziels zu Kompendien, in denen Beiträge verschiedener Autoren ohne wirklidi inneren Zusammenhang nebeneinander gestellt wurden11. In Kauffmanns universaler Auffassung der Germanischen Altertumskunde mußte die vorgeschichtliche Archäologie eine Schlüsselstellung einnehmen: „Es dürfte folglidi, wenn wir Sprache und Literatur mit allen anderen . . . Formen des deutschen Lebens durch den Stilbegriff verketten und die wechselnden Stilarten nach dem allein möglichen Verfahren wissenschaftlicher Erkenntnis auf dem Wege der Vergleidiung beschreiben wollen, die Archäologie als Mittlerin an erster Stelle berufen sein" 22 . Audi hier wollte er einen eigenen Weg gehen. Ihm widerstrebte 18 19
20 21 22
Fr. Kauffmann, a. a. O. 1 (1913) I X . K. Vossler, Positivismus u. Idealismus i. d. Sprachwissenschaft (1904) 10: „Ist die idealistische Definition: Sprache = geistiger Ausdruck, zu Recht bestehend, so kann die Gesdiidite der spradilichen Entwicklung nichts anderes sein als die Gesdiichte der geistigen Ausdrudesformen, also Kunstgeschichte im weitesten Verstand des Wortes. Grammatik ist ein Teil der Stil- und Literaturgeschichte, die ihrerseits wieder in die allgemeine menschliche Geistes- und Freiheitsgesdiidite (Kulturgeschichte) eingeht." F r . Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1 (1913) VIII. Vgl. H . Schneider [ H r g . ] , Germanische Altertumskunde (1938, 2 1 9 5 1 ) . Fr. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1 (1913) I X .
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Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
die schlichte Übernahme des Bücherwissens. „Ich habe daher, . . . , der Archäologie nicht bloß aus Büchern sondern auch durch Wanderungen in den weitverstreuten Museen midi zu bemächtigen versucht, . . ."2a. Aus solchen Voraussetzungen ergab sich ein scheinbar unabhängiger Standpunkt zur Vor- und Frühgeschichte, die in seinem Werk in ausgedehnterem Umfange als jemals vorher in Arbeiten von Altgermanisten zu Wort kam". Es ist fast tragisch zu nennen, daß Kauifmann, wo er frühgermanische Ethnographie behandeln mußte, sich Kossinnas Ansicht — in Einzelheiten willkürlich verändert — anschließen m u ß t e , denn weder fand er im Schrifttum etwas anderes als Kossinnas Denken, noch konnte er, was er in den Museen fand, selbst verarbeiten. Bezeichnend ist seine Darstellung der Verhältnisse im nordöstlichen Mitteleuropa: „Die Brandgruben kommen zufrühst und in allgemeiner Verwendung auf den Ostseeinseln Gotland und Bornholm vor; sind dann in Nordostdeutschland zum Volksbrauch geworden und später nach Westen hin, zu den Westgermanen vorgedrungen. Wir vermuten, daß mit den Brandgruben neue Zuwanderungen über die Ostsee herüber erfolgt, daß die früher an der Weichsel seßhaft gewordenen Nordgermanen (Ulmerugi, Lugii) den aus Nordostdeutschland auswandernden Sweben tiefer ins Binnenland hinein gefolgt sind, um an der Ostseeküste neuen skandinavischen Kolonisten (Vandilii) Platz zu machen. Die von Gotland abwandernden Goten und die von Bornholm stammenden Burgunden lassen sich besonders gut erkennen; diesen aus Skandinavien kommenden Ostgermanen müssen aber auch die Gepiden . . . und die westlich von den Burgunden auf dem Festland seßhaft gewordenen Langobarden 25 zugerechnet werden"". Noch deutlicher wurde die Abhängigkeit Kauffmanns von Kossinna im zweiten, zehn Jahre später erschienenen Band seiner Altertumskunde 17 . Nun erfolgte — nachdem einmal der endgültige Durchbruch vollzogen war — das schematische Weitertragen der von Kossinna stammenden Konzeption fast automatisch. Das zeigt beispielsweise S. Gutenbrunners Beitrag zu H . Schneiders Germanischer Altertumskunde: „Über die Grenzen dieses Kerngebietes [Südskandinavien, Dänemark und Norddeutschland] drangen die Germanen schon gegen Ende der Bronzezeit, 23
Fr. Kauffmann, a. a. O. I X f. Fr. Kauffmann, a. a. O. 26 ff. 209 ff. 25 Das Einbeziehen der Langobarden in den Kreis der aus Skandinavien stammenden Völker geht nicht unmittelbar auf Kossinna, sondern wohl auf L. Schmidt zurück. — Vgl. L. Schmidt, Allgem. Gesch. d. germ. Völker b. z. Mitte d. 6. Jh. (1909) 77 f. 2 « Fr. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1 (1913) 296. 27 Fr. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 2 (1923) 16 f. 58 f. 65 f. 24
Zur Forsdiungsgesdiichte und zum Forschungsstand
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also etwa im 8. Jahrhundert, hinaus . . . im südlichen Skandinavien zwang der Rückgang der Ernteerträge einen großen Teil der Bevölkerung auszuwandern. Durch die Auswanderer aus Skandinavien erweitert sich das germanische Siedlungsgebiet besonders nach dem Südosten auf vormals ¡llyrischem Boden. An der Spitze der Ostgermanen schoben sich . . . die Skiren und Bastarnen, . . . , von der Ostsee bis ans Schwarze Meer vor. In ihrem Rücken entwickelten sich im 2. Jahrhundert im Westen von der Odermündung die Langobarden, im Osten die Burgunder. . . . Eine zweite Einfallspforte bildete die Weichselmündung, wo sich die Rugier, ein kleinerer Stamm aus Norwegen, niederließen. Als letzte landeten hier gegen Ende der vorchristlichen Zeit die Goten, die wiederum einen größeren Volkskörper bildeten (Ost- und Westgoten, Gepiden)" 28 . Diese Konzeption wurde dann sogar noch über den Krieg hinaus unverändert weitergetragen 29 . Im wesentlichen war Kossinnas Gedankengut in der Germanistik bis an den zweiten Weltkrieg heran in zweierlei Weise benutzt worden: Als Illustration des historischen Hintergrundes in Verbindung mit rein philologischen Arbeiten 30 — sein Einfluß auf deren sprachgeschichtlidie Seite blieb dabei zunächst gering31 — oder als historischer Abriß im Rahmen von Darstellungen der germanischen Altertumskunde. Da innerhalb dieser der rein philologische Abschnitt meist knapp gehalten war, blieb auch hier ein Einfluß auf die Philologie aus. Das wurde nun anders. Im Jahre 1941 erhob Fr. Maurer erneut die alte Forderung, „daß die Sprachgeschichte aus ihrer Isolierung heraustreten und sich mit anderen historischen Wissenschaften in Beziehung setzen" müsse38. Sie war für ihn aus der modernen Sprachgeographie erwachsen. In diesem Zusammenhang schien es ihm wichtig zu sein, „daß die methodisch neuen Erkenntnisse auch für jene älteren Zeiten unserer Sprach- und Volksgeschichte, in die unmittelbar die Sprachgeographie nicht zurückgelangen kann, neue Forschungsmöglichkeiten eröffnet haben"' 3 . Maurer betonte die Leistungen der vergleichenden indogermanischen und germanischen Sprachwissenschaft, um „die näheren Zusammenhänge zwischen den einzelnen ger28
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S. Gutenbrunner, in: H . Schneider [Hrg.], Germanische Altertumskunde (1938) 3. S. Gutenbrunner, in: H. Schneider [Hrg.], Germanische Altertumskunde ( ! 1951) 3. Vgl. die sechs Auflagen von W. Streitberg, Gotisdies Elementarbuch (1897, 2 1906, 3 - 4 1910, s - 6 1920). Vgl. auch den Anhang „Die Goten" in den insgesamt sechzehn Auflagen von W. Braune, Gotische Grammatik (U880— l a 1961). Fr. Maurer, Sprachgeschichte als Volksgeschichte, in: G. Fricke, Fr. Koch u. K. Lugowski [Hrg.], Von dt. Art in Sprache u. Dichtung 1 (1941) 43. Fr. Maurer, a. a. O. 46.
192
Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
manischen Stämmen" zu erkennen. Dann wies er aber mit Nachdruck darauf hin, „daß eine wirklich klare Einsicht in die Verhältnisse der indogermanischen und der germanischen Völker, in die Probleme ihrer Heimat, ihrer geschichtlichen Schicksale, Ausbreitung, Vermischung, Trennung und Wanderung auf sprachvergleichendem Weg nicht möglich war und nicht möglich ist". Dem entspreche es — meinte er —, „daß über zahlreiche Fragen wie etwa die Stellung und Verwandtschaft der Langobarden oder die des Oberdeutschen oder des Sächsischen oder überhaupt über die Existenz des Westgermanischen bis heute noch keine Klarheit gewonnen werden konnte"®4. Damit kündigte sich eine Wendung an, die schwerwiegende Folgen haben mußte: „Eine Klärung kann meines Erachtens vom rein Sprachlichen her gar nicht gewonnen werden . . . Wir müssen uns an diejenige Wissenschaft um Hilfe wenden, die in den letzten Jahrzehnten einen unerhörten Aufschwung in die Germanenforschung gebracht hat und die über umfassendere und greifbarere Zeugnisse verfügt als die Sprachwissenschaft: die vorgeschichtliche Archäologie"®5. Maurer betonte den Wert der vorgeschichtlichen Forschung für die Philologie und beschwichtigte zugleich: „Dabei braucht die Sprachvergleichung auch in Zukunft keineswegs nur der empfangende Teil zu sein. . . . Aber sie wird . . . gezwungen werden, ihre auf theoretisch-erschließendem Weg gewonnenen Ansichten . . . erneut zu prüfen und Phantome . . . aufzugeben oder auf ihr richtiges Maß zurückzuführen". Er versuchte alsdann, „beispielhaft in einem großen Überblick über die Hauptepochen der germanischen und der deutschen Sprachgeschichte bis zum Ausgang des Mittelalters die . . . Zusammenhänge zwischen Sprachgeschichte und Volksgeschichte aufzuzeigen"8*, und an Hand der Ergebnisse der vor- und frühgeschichtlichen Archäologie versuchte er zu demonstrieren, „wie sich die Auflösung der germanischen Einheit in Volkstum und Sprache" vollzog". Das war Kossinnas Postulat. Er hatte sich gegen alle Versuche gewandt, nur auf Grund von sprachlichem Material die sprachliche Scheidung zwischen Ost- und Westgermanen oder zwischen Skandinaviern und Ostgermanen festzulegen: „Die vorgeschichtliche Archäologie ist hier eben der einzig berechtigte Führer" 38 . Diese Forderung war nun erstmals in der Germanistik voll anerkannt. Doch der, welcher Kossinna zur vollen Anerkennung verhalf, wußte nur wenig über die Tragfähigkeit von dessen Thesen und insbesondere vom philologischen Hintergrund 34 35 86 37 38
Fr. Maurer, a. a. O. 47. Fr. Maurer, a. a. O. 44 f. Fr. Maurer, a. a. O. 48. Fr. Maurer, a. a. O. 49. G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 279.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
193
seiner archäologischen Deduktionen 3 ". Die entscheidende Rolle bei der Wendung, die Maurer vollziehen zu können meinte, spielten übrigens zunächst nicht Kossinnas Schriften, sondern ein Aufsatz von E . Sprockhoff in der Hirt-Festschrift 40 . Nach ihm schilderte Maurer die Genesis des Germanentums 41 und dessen frühe Ausbreitung 48 . Auch die D a r stellung W . L a Baumes 48 gelangte bei Maurer zu einer Wirkung 4 4 , die den Archäologen überraschen m u ß " , und ebenso fand G. Schwantes' Idee von der suebischen Landnahme 4 ' Anerkennung 47 . Schließlich griff Maurer aber unmittelbar auf Kossinna zurück 48 . 39
Fr. Maurer, Sprachgesch. als Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u. Dichtung 1 (1941) 49: „Es ist im wesentlichen der vorgeschichtlichen Archäologie zu verdanken, daß heute ein klares Bild des Germanentums, der Einheitlichkeit des germanischen Kulturkreises in der Bronzezeit vor uns steht. Von dieser sicheren Grundlage aus kann heute jede Art germanischer und deutscher geschiehtlidier Forschung ausgehen."
40
E. Sprockhof!, Zur Entstehung der Germanen, in: Germanen und Indogermanen. Festschrift f. Herman Hirt 1 (1936) 255—274.
41
Vgl. Fr. Maurer, Sprachgesch. als Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u. Dichtung 1 (1941) 49 f.: „Besonders wichtig ist es, die Verbreitung der nordischen Megalithkultur um das Jahr 2000 mit der Bronzezeit um 1200 zu vergleichen, wie das E. Sprockhof! in der Festschrift f. Herman Hirt 1 getan hat . . . Die Auseinandersetzung und die Vereinheitlichung der neuen Kultur vollzog sich nur allmählich, die Verschmelzung beginnt um 2000, der Ausgleich ist um 1200 beendet. Dieser neue germanische Kulturkreis der Bronzezeit hat die Möglichkeit, sich voll im Innern auszugleichen, ohne daß noch einmal eine Störung von außen her erfolgt. . . . Um 1200 ist die Volkwerdung der Germanen beendet."
42
Fr. Maurer, a . a . O . 50: „Bald darauf beginnt bereits eine kräftige Ausbreitung der Germanen nach Osten, dann auch nach Westen und Süden. Auch dieser Vorgang ist in der letzten Zeit mehrfach dargestellt worden, am eindrucksvollsten wieder von E. Sprockhof!."
43
W. La Baume, Vorgesdi. v. Westpreußen (1920) 53.
44
Fr. Maurer, Sprachgesch. u. Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u. Dichtung 1 (1941) 50: „In der frühen Eisenzeit . . . dehnt sich die Ostgermanische Kultur nach Süden . . . aus; die Archäologen sind heute in der Lage, uns diesen Vorgang aufzuweisen; ich folge der Darstellung von La Baume."
45
Es ist nur verständlich, daß Maurer La Baume folgte, weil Sprockhof! entgegen Kossinna eine Expansion der Germanen über die Weichsel hinweg nach Osten auf dem Landwege annahm. Schon früh hatte sich La Baume auf denselben Standpunkt gestellt.
49
G. Schwantes, Die suebisdie Landnahme, in: Forschungen u. Fortschritte 9 (1933) 197 f.
47
Fr. Maurer, Sprachgesch. u. Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u. Dichtung 1 (1941) 51: „Nach den Forschungen von Schwantes kommt es im Lauf des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, . . . , im unteren und mittleren Elbgebiet zur Ansiedlung einer neuen Volkswelle, . . . Schwantes hat nachgewiesen, daß
13
H a d i m a n n , Goten und Skandinavien
194
Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
Die von Fr. Maurer 1941 angekündigte umfangreichere Schrift, die die weiteren Folgerungen im einzelnen ziehen sollte, erschien bald 49 . Sie gibt Aufschluß über alles weitere und bedarf etwas eingehenderer Analyse. Maurer war wie kein Germanist vor ihm bemüht, die Arbeitsweise der Archäologie kennen zu lernen, um sich ein eigenes Urteil über das ihm vorliegende Schrifttum bilden zu können; doch er hatte in diesem Bemühen nur geringen Erfolg. Er ist zweifellos aber einer der ganz wenigen Germanisten, die überhaupt erkannt haben, daß Kossinna in der germanischen Altertumskunde seit den neuziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung innehatte 80 , und ihm waren die Prinzipien von dessen Vorgehen wenigstens teilweise bewußt. Maurer stellte fest, daß Kossinna als e r s t e r die Erkenntnis der Abspaltung der Ost- von den Nordgermanen gewann, z u e r s t die neue Anschauung von der Heimat der Germanen in Südskandinavien, Jütland und Norddeutschland vertrat und als e r s t e r die Überzeugung aussprach, daß sich auf sprachlichem Wege allein über die vorgeschichtlichen ethnologischen Verhältnisse nicht viel entscheiden lasse61. Er bemängelte allerdings an Kossinna, er hätte noch zu stark im Banne der antiken Nachrichten und unter dem Eindruck von Müllenhoffs Dogma von der Gliederung der Germanen in Ost- und Westgermanen gestanden52. Er habe freilich den archäologischen Nachweis für die Existenz der Ostgermanen erbracht, und „das Wesentliche bleibt dies: Er, der Germanist, erkannte, daß die Philologie für jene Zeiten nicht ausreiche und daß die Bodenfunde weiterhelfen mußten; daß hier für die Archäologie eine ganz große Aufgabe lag. Zu ihrer Bewältigung hat Kossinna erste, entscheidende Schritte getan" 53 . Dieses Urteil ist insofern schief, als Müllenhoffs Zweiteilung in Ostund Westgermanen in Kossinnas Worten zwar gelegentlich eine gewisse, dieser Siedlungsstoß aus dem Norden gekommen sein muß . . . Die mäditige und angesehene Gruppe der Elbgermanen wäre danach also nach 600 aus dem Norden ausgewandert." — Später hat Sdiwantes diese Ansicht zurückgenommen; vgl. S. 178 Anm. 162 u. 163. 48
Fr. Maurer, a. a. O. 51: „Zwischen 300 und 100 bildet sich, archäologisch gesehen, das Nordgermanentum greifbar aus. Aus ihm lösen sich bereits um 100 Vandalen und Burgunder, um Christi Geburt die Goten."
49
Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen. Studien z. germ. u. frühdt. Spradigesdi., Stammes- u. Volkskunde (1942, 2 1943, »1952).
50
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 99 f.; (»1952) 94 f.
51
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 26 f.; (»1952) 25.
52
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 100; (»1952) 95.
53
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 101; (»1952) 96.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
195
in seinen Überlegungen aber eine relativ untergeordnete Rolle spielte. Die Begriffe Ost- und Westgermanen waren für ihn zwar wohl gelegentlich spradilidie, im Kern aber doch stets vornehmlich ethnographische Komplexe, deren einheitlich sprachlichen Gehalt er sogar expressis verbis in Zweifel zog54. Tatsädilidi hat Kossinna auch kaum die antiken Quellen überschätzt, vielmehr deutlich gegen solche Gelehrten polemisiert, die die Nachrichten römischer und griechischer Autoren mangels ausreichender Kenntnisse der germanischen Sprachreste und der philologischen Methode als alleinige Quellen für die germanische Altertumskunde benutzten. Seine Polemik gegen A. Riese55 zeigt jedenfalls nicht das, was Maurer ihm vorwarf. In Einzelheiten setzte sich Maurer von Kossinnas Ansichten allerdings ab. Zwar anerkannte er, daß Kossinna die Zweiteilung der kontinentalen Germanen bestätigt und die „Ostgermanen" archäologisch nachgewiesen habe. Über die Einwanderung der frühen Ostgermanen, wie Kossinna sie sehen wollte, schwieg er sich hingegen aus, meinte vielmehr, es „ . . . besteht die größte Wahrscheinlichkeit dafür, daß im Fall der jungbronzezeitlichen Ausdehnung über Hinterpommern bis zur Weichselmündung gleichfalls germanisches Volkstum in diese Gebiete eingewandert ist" 56 . Er schloß sich hier an ältere Auffassungen W. La Baumes an, der sich schon 1920 im Gegensatz zu Kossinna für Kultur- und Bevölkerungskontinuität in diesem Gebiet von der Bronze- zur Eisenzeit hin ausgesprochen hatte57. Abweichend von Kossinna nahm er mit G. Schwantes an, es sei im Laufe des 6. vorchristlichen Jahrhunderts im unteren und mittleren Elbegebiet zur Ansiedlung einer neuen Volkswelle gekommen, der Sueben, deren ursprüngliche Wohnsitze in den „Gebieten der nordischen Urheimat" zu suchen seien58. Es ist jedoch nicht ersichtlich, ob er erkannt hat, daß die „Suebische Landnahme" die Einwanderung 54
G. Kossinna, Indogerm. Forsdi. 7 (1897) 2 7 7 : „Der von Kögel für das Burgundisdie versuchte Erweis streng ostgermanischen Charakters soll, wie mich Much versichert, auf recht schwachen Füßen stehen". — Vgl. dazu R . Koegel, Die Stellung d. Burgundischen innerhalb d. germ. Sprachen, in: Zeitschr. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 37 (1893) 2 2 3 — 2 3 1 .
55
A. Riese, Die Sueben, in: Rheinisches Museum f. Philologie N . F. 44 (1889) 331—346. 4 8 8 ; dagegen: G. Kossinna, Die Sueben i. Zusammenhang d. ältesten dt. Völkerbewegungen, in: Westd. Zeitschr. 9 (1890) 1 9 9 — 2 1 6 ; dagegen: A. Riese, Die Sueben. Eine Entgegnung, in: Westd. Zeitschr. 9 (1890) 3 3 9 — 3 4 4 ; dagegen: G. Kossinna, Nochmals die Sueben, eine Antwort, in: Westd. Zeitsdir. 10 (1891) 104—110.
56
Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (1942) 1 1 5 ; ( 3 1 9 5 2 ) 108.
57
W . L a Baume, Vorgesch. v. Westpreußen (1920) 50.
58
Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (1942) 115; ( 3 1952) 112.
13»
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Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
der frühen Ostgermanen
Kossinnas ausschließt, da Schwantes"
und
Kossinna"' ihre Thesen mit den gleichen Argumenten begründeten. Maurers Gedankengänge sind für die Gesdiichte der Forschung und für die Auffassungen der neuzeitlichen Germanistik so interessant, daß sie noch etwas detaillierter verfolgt werden sollten' 1 : „Ursprünglich bin ich von der Tatsache ausgegangen . . . , daß . . . am Ende der jüngeren S t e i n z e i t . . . die beiden . . . nordischen Kulturkreise, der Kreis der Großsteingräber und der der schnurkeramisdien Einzelgräber (Streitaxtleute) in Verbindung und Mischung geraten und . . . sich zu einem neuen einheitlichen 59
ao
41
Kulturkreis
verbinden".
Das
ist
wieder
die
Vorstellung
G. Sdiwantes, Forschungen u. Fortschritte 9 (1933) 198: „Es erhebt sich nun die Frage, wo jene nordischen Volksmassen geblieben sind . . . Wohl ist Nordostdeutschland recht stark bewohnt, aber hier herrscht eine so ununterbrochene Entwicklung der Zivilisationsformen, . . . , daß mir dieses Gelände weniger als Ziel der nordischen Einwanderer in Betracht zu kommen scheint... Viel wahrscheinlicher ist es, daß sich der Hauptstrom der Einwanderer in das Gebiet zu beiden Seiten der unteren und mittleren Elbe ergossen hat. Wir finden hier eine außerordentlich homogene Fundgruppe, die ich . . . die Jastorf-Gruppe genannt habe . . . Die Jastorf-Besiedlung beginnt auf dem ganzen Gebiet zur selben Z e i t . . . Die Sueben, die mächtigste und angesehenste Gruppe der Germanen, dürften demnach etwa um 600 gerade aus den Gebieten der nordischen Urheimat der Germanen eingewandert sein". — Vgl. dazu auch oben S. 178 Anm. 163. G. Kossinna, Die dt. Vorgeschichte ( 2 1914) 143 f.: „Fragen wir bislang aber, was wir denn als besondere Ursache für diese massenhafte Auswanderung der Nordgermanen aus Skandinavien und ihre Ausbreitung nach Ostdeutschland erkennen können, so konnten wir darauf keine Antwort geben, sondern mußten uns mit dem Hinweis auf das in längeren und kürzeren Pausen sich ständig wiederholende Ausschwärmen des stets in Überfüllen nachwachsenden jungen Lenzes der Skandinavier Genüge tun lassen . . . Zu Beginn der Eisenzeit . . . vollzog sich ein . . . völliger Klimasturz . . . Solch eine Verschlechterung der Lebensbedingungen eines Ackerbauvolkes, wie es die Germanen . . . waren, mußte notwendig zu Verschiebungen der Bevölkerung in südlicher Richtung führen. . . . Wie Nordostdeutschland in der frühen Eisenzeit offenkundig überseeische, nordische Einwanderung aufweist, so zeigt umgekehrt Schweden . . . stärkste Entleerung des Landes." — Vgl. dazu auch: G. Kossinna, Mannus 4 (1912) 417 ff. mit Resüme eines Referats v. R. Sernander auf dem Ersten Baltischen Archäologen-Kongreß in Stockholm 1912. Kossinna beteiligte sich an der anschließenden Diskussion und „brachte die ihm längst bekannte, nunmehr aber statistisch belegte Tatsache, daß seit der Klimaverschlechterung zu Beginn der Eisenzeit die schwedischen Funde plötzlich so außerordentlich spärlich wurden, mit seiner seit Jahrzehnten auf archäologischer Grundlage aufgebauten Meinung zusammen, daß zu Beginn der Eisenzeit aus Schweden eine große Bevölkerung in die Weichselgegend übergesiedelt sei, die allmählich zu dem Stamm der Ostgermanen auswuchs". — Vgl. dazu auch unten S. 394 ff. Vgl. Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen ( s 1952) 103 ff.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
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Kossinnas'2. „Die Auseinandersetzung und die Vereinheitlichung der neuen Kultur vollzog sidi nur allmählich; die Verschmelzung beginnt um 1800, der Ausgleich ist um 1200 beendet". Hier zeichneten sich die Ansichten E. Sprockhofs ab, der auch namentlich genannt wurde". Mit Sprockhof? und gegen die — wie Maurer meinte — Mehrzahl der Archäologen sprach er von bronzezeitlichen Germanen und hielt den sogenannten „Nordischen Kreis" der Bronzezeit für germanisch. Er versuchte die Diskontinuität zwischen der Kultur des „Nordischen Kreises" der Bronzezeit und der späteren eisenzeitlichen, sicher germanischen Kultur, mit drei Argumenten zu erklären: „ . . . die nach Süden vorstoßenden Germanen [könnten] auf fremde, etwa keltische Kulturen treffen, deren Formen sie übernehmen und in den neu sich bildenden spätgermanischen Kulturkreisen durchsetzen" und bereits Pytheas von Massilia habe im 4. vorchristlichen Jahrhundert die germanischen Teutonen auf der Kimbrisdien Halbinsel gekannt und schließlich „irgendwoher müssen die späteren Germanengruppen kommen. . . . Irgendwann muß das Germanentum zwar keine völlige Einheit, wohl aber eine verkehrsmäßig noch eng verbundene Gruppe gewesen sein'4, . . . Die frühe Ausbreitung der bronzezeitlichen Kultur aus Jütland heraus ist in der letzten Zeit mehrfach dargestellt worden, am eindrucksvollsten . . . von Sprockhoff". Maurer konnte nicht sehen, daß E. Sprockhoffs frühe M
Vgl. G. Kossinna, Ursprung u. Verbreitung der Germanen i. vor- und frühgesch. Zeit 2 (1927) 297: „Finno-Indogermanen [Streitaxtkultur] und reine Indogermanen [Megalithkultur] sind nunmehr eins geworden, ein kulturell einiges Volk. . . . Das Ergebnis der Vereinigung von Indogermanen und Finno-Indogermanen und der Verschmelzung ihrer beiderseitigen Kulturen zu einer Einheit kann aber . . . kein anderes gewesen sein, als der Ursprung der Germanen, der also rund um 2000 v. Chr. anzusetzen ist." — Ferner G. Kossinna, Die Herkunft d. Germanen. Zur Methode d. Siedlungsarchäologie (1911) 28 f.: „Allein selbst dieser Zeitpunkt, das Ende der Steinzeit, wäre kaum schon derjenige, in dem ich die Zeit des Ursprungs der Germanen . . . sehen könnte. Eine ungestörte Kontinuität der Kulturentwicklung in Skandinavien wie in Norddeutschland reicht rückwärts vom Ausgang der Steinzeit . . . bis zu den Anfängen des Megalithgräberbaues . . . und von hier weiter zu einer Kulturstufe, schon ohne Gräber, die zeitlich wie kulturell einen Übergang bildet . . . zu der älterneolithischen Epoche, . . . In diesem ganzen jüngerneolithischen Zeitraum einschließlich der genannten Obergangsstufe ist die nordische Kultur, . . . , bereits über so weite Gebiete . . . ausgebreitet, daß wir unzweifelhaft schon Gliederungen in Gruppen und Stämme vor uns haben . . . Hier haben wir also schon das volle Recht, von Germanen in Skandinavien zu r e d e n , . . . " ** E. Sprockhoff, Zur Entstehung d. Germanen, in: Germanen u. Indogermanen. Festschrift f. Hermann Hirt 1 (1936) 255—274 bes. 267 f. 64 Es kommt hier nicht darauf an, die Schwäche dieser Argumentation zu charakterisieren, sondern Kossinnas Denken aufzuspüren.
198
Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
Arbeiten das ausgesprochene Ziel hatten, auf Grundlage einer soliden Materialsammlung und mit Hilfe sorgfältig angelegter Karten darzustellen, wie sich die Ausbreitung der Germanen vollzogen hatte; das wußte man in groben Umrissen zwar schon durch die Darstellungen Kossinnas, doch man wollte es doch endlich einmal gründlich bewiesen haben*5. „Aus einer Betrachtung der Hortfunde in Norddeutschland in der jüngeren Bronzezeit weist er [Sprodkhoff] eine allmähliche Verschiebung des Schwergewichts und damit eine Ausweitung des germanischen Siedlungsraums nach Osten nach66 . . . Sprockhof! stellt auch bereits innerhalb des germanischen Gebiets der jüngeren Bronzezeit eine Reihe von kleineren Kulturprovinzen fest, die sich klar voneinander abheben". Maurer meinte67, alle diese Tatsachen seien „auch für die Sprachgeschichte von großer Bedeutung. Es kann kein Zweifel sein, daß wir bereits für die Zeit von 1200 bis 800 mit einer sprachlichen Aufspaltung des Germanentums zu rechnen haben". Er kam nun zu Schwantes' „Suebisdier Landnahme" und schloß: „Das sind in großen Zügen die frühen Schicksale des Germanentums und die ersten Ansätze zu seiner Gliederung, wie sie sich mir aus der Durchsicht des archäologischen Schrifttums . . . ergibt". Vergleicht man rückschauend, wie sich Maurer nach Sprockhof! — teilweise auch nach Tackenberg*8 — die Ausbreitung der Germanen in der Bronzezeit dachte, mit den Ansichten Kossinnas, so ist es nicht schwer, die Übereinstimmung der Auffassungen festzustellen: „Ich sah, daß die Kulturprovinzen Mitteleuropas in der jüngeren S t e i n z e i t . . . sehr zahlreich waren und unaufhörlich ihre Grenzen wechselten, . . . ganz anders innerhalb der Bronzezeit, . . . da vereinigten sich jene zahlreichen Provinzen zu drei großen Kulturgebieten. Es waren das: 1. ein westliches und südwestliches, das ich das keltische nenne; 2. ein östliches und süd65
66
87 68
Vgl. dazu E. Sprockhof!, Die Germanischen Griff zungensch werter (1931) III und die Ausführungen zur Verbreitung der verschiedenen Schwerttypen, bes. 19 ff. 33. 48 f f . Die gleiche Zielsetzung zeigen die Auswertungen der Verbreitungskarten der Vollgrifischwerter an: E. Sprockhof!, Die germanischen Vollgriffschwerter der jüngeren Bronzezeit (1934) 23. 40. 67 ff. Auch hier kommt es nicht darauf an, darüber zu diskutieren, was Hortfundverbreitung überhaupt historisch aussagen kann und ob sie das aussagen kann, was Sprockhof! meinte und was Maurer folgerte, sondern iestzustellen, wie Maurer mit Sprockhof! argumentierte und wie weit Sprockhoffs Argumente von Kossinna abhängig sind. Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (®1952) 112 f. Vgl. Fr. Maurer, a. a. O. 111 Anm. 1 u. 2. — K. Tackenberg, Die zweihenkligen Terrinen der jüngeren Bronze- und älteren Eisenzeit im Gebiet zwischen Ems- und Elbemündung, in: Urgesdiiditsstudien beiderseits d. Niederelbe (1939) 153—187; ders., Zum bronzezeitl. Formenkreis an Ilmenau u. Niederelbe, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgesdi. 18 (1949) 3—62 und briefliche Mitteilung an Maurer.
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östliches, das ich das illyrische nenne; und 3. als südwärts gerichteter Keil mitten zwischen beiden, von der Ems im Westen bis zur Oder und später bis zur Weichsel im Osten und nordwärts über Skandinavien sich fortsetzend: das germanische Gebiet. . . . in der frühen Eisenzeit . . . : da erobern die Germanen das Ulyriergebiet Ostdeutschlands und ganz Polens, ebenso das keltische Nordwestdeutschland bis nach Belgien hinein, schließlich das Mittelrheingebiet"' 0 . Maurer nahm also das von Kossinna — im Prinzip schon 1895 — entworfene Bild von der Genesis und frühen Verbreitung der Germanen, das Kossinna selbst niemals im vollen Umfang quellenmäßig belegt hatte und das Gelehrte, die ihm wissenschaftlich nahestanden, — von der Richtigkeit der Thesen Kossinnas überzeugt — eher illustriert als wissenschaftlich untermauert hatten, und setzte die auf solche Weise nachgewiesenen bronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Gruppen frühen germanischen Sprachgruppen gleich. Er sah sich dazu berechtigt, weil „die früheren ethnischen Gruppen sich auch als Sprachgemeinschaften jener Zeit ausgewirkt haben müssen"70. Das aber ist nichts anderes als die „Übersetzung" eines der methodologischen Grundsätze Kossinnas, die Maurer übrigens gut kannte 71 und deren Verläßlichkeit er mit Hilfe einiger Kritiker Kossinnas zu ermitteln suchte, wobei er ausführlicher auf E. Wahle einging72. Er kam zum Ergebnis: „Was nun noch die drei Beispiele betrifft, von denen Wahles Kritik den Ausgang nimmt, so kann abschließend aus diesen Einzelfällen gefolgert werden, daß sie unsere Grundlage nicht zu zerstören vermögen . . . Mir scheint geklärt zu sein, daß Kossinnas Satz 1 [„Kulturgebiete sind Völkerstämme", oder: „Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen" 73 ] in dieser Ausschließlichkeit nicht haltbar ist; mir scheint aber ebenso eindeutig das Folgende zu sein: Die prähistorischen Kulturprovinzen lassen sich als Gemeinschaften der sie tragenden Menschen und Gruppen fassen, wenn man nicht blindlings jede Gemeinsamkeit gleich wertet, sondern auf Dauer, Art und Zahl der archäologischen Belege und Erscheinungen achtet,.. ."74. Hatte nicht aber vielleicht Kossinna doch gerade d a s gemeint, wenn " G. Kossinna, Ursprung u. Verbreitung d. Germanen in vor- u. frühgesch. Zeit 1 (1926) 5 f. 70 Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen ( s 1952) 31. 71 Fr. Maurer, a. a. O. 95. 72 Fr. Maurer, a . a . O . 99 ff.; E.Wahle, Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen. Grenzen d. frühgesch. Erkenntnis. 1. Sitzungsber. d. Heidelberger Akademie d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. Jg. 1940/41, 2. Abh. (1941, 2 1952). n Fr. Maurer, a . a . O . 95; G. Kossinna, Herkunft d. Germanen (1911) 3. 17. 74 Fr. Maurer, a. a. O. 102 f.
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Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
er von „ s c h a r f u m g r e n z t e n " Kulturprovinzen bzw. wenn er von „ K u l t u r g e b i e t e n " sprach? Er hat diese von ihm benutzten Begriffe niemals definiert. Allerdings, ganz gleidi, welche Definition er auch immer im Sinne gehabt haben könnte, gegen jede einzelne, die auch nur denkbar ist, verstieß er; denn allzu häufig verfügte er nicht über „scharf umgrenzte" Kulturprovinzen und allzuoft konnte er überhaupt keine „Kulturprovinzen", sondern eine Summe von Typenkreisen, einzelne Typengebiete oder gar nur einzelne verstreute Funde vorweisen, die er als Typengebiet zusammenfaßte und mit „Völkern oder Völkerstämmen" gleichsetzte. Wahrscheinlich konnte Maurer diesen Fehler gar nicht erkennen. Welcher der Kritiker Kossinnas hatte ihn denn bis dahin richtig erkannt? Gingen sie nicht so gut wie alle bei ihrer Kritik von gewissen Grundsätzen aus, die sie selbst von Kossinna übernommen hatten? Meinten sie nicht, die „Methode Kossinna" zu kritisieren und klagten sie in Wirklichkeit doch nichts anderes an als eine falsche Anwendung der „Methode" durch Kossinna selbst75? Selbst H . Zeiss, der bedeutendste und geistvollste unter den Kritikern Kossinnas, behandelte doch im Grunde keine Fälle, wo „scharf umgrenzte Kulturprovinzen" vorlagen, sondern wo einige wenige isolierte Funde abseits des Hauptverbreitungsgebiets des in diesen vertretenen Typs vorhanden waren 7 '. Fr. Maurer blieb also mit seiner Kritik an Kossinna — wie die meisten anderen Kritiker auch — durchaus noch innerhalb des Spielraums von dessen Denken. Das hatte u. a. zur Folge, daß der SkandinavienTopos sich in seiner Darstellung in mehreren Varianten findet. Fünf sind unschwer festzustellen, nämlich 1. die Herkunft der Germanen aus dem skandinavischen Norden (Dänemark, Sdiweden und Norwegen), 2. die Auswanderung der Sueben aus Südskandinavien, 3. die Einwanderung der Burgunden und Wandalen aus dem Norden, 4. die Einwanderung der Goten aus Västergötland, 5. die Erörterung der möglidien Einwanderung der Langobarden aus dem Norden, wobei er nicht erkannte, daß in den Argumenten von Wegewitz der Skandinavien-Topos enthalten ist77. Es verwundert, daß Maurers Werk in der deutschen Vor- und Frühgeschichte zunächst uneingeschränkte Anerkennung fand, ja, seine Be7S
Vgl. R. Hadimann, in: R. Hadimann, G. Kossack, H.Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 16—28. ™ Vgl. H. Zeiss, Zur ethnischen Deutung frühmittelalterlicher Funde, in: Germania 14 (1930) 11—24. 77 Vgl. Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (31952) 115; W. Wegewitz, Die langobardische Kultur im Gau Moswidi (1937) 150; G.Körner, Die südelbischen Langobarden zur Völkerwanderungszeit (1938) 7 f.
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deutung für die Weiterarbeit in der Prähistorie ausdrücklich betont wurde: „Man wird nicht bezweifeln, daß diese neue, im wesentlichen mit ihrer Hilfe gewonnene These in der ardiäologischen Forschung äußerste Betrachtung verdient" 78 . Einwände kamen dann vornehmlich aus Skandinavien. C.-A. Althin betonte: „Eine einheitliche Fundgruppe kann natürlich, grundsätzlich gesehen, entweder ein gesdilossenes Handelsgebiet, eine geschlossene Volksgruppe oder beides zusammen bedeuten" 78 . Er wandte sich gegen die Grundsätze von Kossinnas „siedlungsarchäologischer Methode" und deren Anwendung in der Vor- und Frühgeschiditsforsdiung. Es sei falsdi, die „nordisdie Bronzezeitkultur" als urgermanisch zu bezeichnen, die jüngere nordische Bronzezeit als ethnisch einheitlich zu betrachten, wie es Sprockhof! wollte, und die Jastorf-Kultur mit Sdiwantes aus Südschweden herzuleiten 80 . Althin betonte, es sei dodi außerordentlich bedenklidi, wenn Maurer die Entleerung des Nordens durch die Abwanderung der späteren Träger der Jastorf-Kultur als Folge der „verheerenden Wirkung des ,Fimbulwinters'" annähme. Das müsse logisch zur Annahme „vom Norden als einem während der keltischen Eisenzeit . . . unbevölkerten Land" führen, und es wirke eigentümlich, wenn Maurer „im Anschluß an anderere Forscher, die Wandalen, Goten usw. aus dem unbevölkerten Norden auswandern" lasse81. Rücksichtslos kritisierte Althin Maurers Vorgehen: „Es ist beinahe ein durchgehender Zug in Maurers Arbeit, daß er sdiwach unterbaute archäologische Untersuchungen anerkennt bezw. wohlbegründete verwirft, je nadidem, wie sie in das gegebene Schema passen, so z. B. nimmt er E. Oxenstiernas keineswegs genügend unterbauten Gedanken von der Auswanderung der Goten aus Västergötland nach dem Weichselgebiet auf" 82 . Diese Kritik Althins hat sichtlich auch heute noch ihre Berechti78
78
80 81 82
Vgl. J. Werner, Besprechung von Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (1942), in: Deutsche Literaturzeitung 64 (1943) Sp. 253—263, bes. Sp. 258. C.-A. Althin, Besprechung v. Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen, in: Niederdeutsche Mitteilungen 2 (1946) 163—172, bes. 164. — Vgl. dazu: Fr. Maurer, Entgegnung auf Althins Rezension Niederdeutsche Mitteilungen 2, 163 ff., in: Niederdeutsche Mitteilungen 4 (1948) 82—85 (mit unsadilidier Polemik); C.-A. Althin, Schlußbemerkung, in: Niederdeutsche Mitteilungen 4 (1948) 85—86 mit dem treffenden Satz: „Man vergleiche z. B. die ganz versdiiedenartigen Ergebnisse — in beiden Fällen politisch bedingt — zu denen polnische und deutsche Siedlungsarchäologie gekommen sind." — Vgl. ferner: Ed. Neumann, Besprechung von: Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen ( 8 1952), in: Zeitschr. f. Mundartforschung 22 (1954) 116—117. C.-A. Althin, Niederdeutsche Mitteilungen 2 (1946) 168 ff. C.-A. Althin, a . a . O . 170. C.-A. Althin, a. a. O. 171.
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Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
gung, wenngleich auch sie sich gelegentlich unbewußt der Gedankengänge Kossinnas bediente 88 . Man hätte denken können, insbesondere wenn man die philologische Kritik gegen Maurer in Betracht zieht 84 , die Germanistik hätte hinfort eine Verwendung von archäologischen Funden und von Ergebnissen der Vor- und Frühgeschichtsforsdiung in Verbindung mit rein sprachgeschiditlichen Problemen sorgsamer bedacht. Das Gegenteil war im allgemeinen der Fall. Methodisch etwas sauberer ging nur Th. Frings vor 8 5 . E r benutzte die Ardiäologie zu philologischen Erörterungen nicht, schloß dann jedoch an eine rein philologische Betrachtung über
„Westgermanisch,
Ingwäonisch, Deutsch" einen Versuch an, über die sprachwissenschaftlichen Ergebnisse, die „bald eine Zweiteilung, bald eine Dreiteilung" der germanischen Sprachen ergaben, hinauszukommen. E r betonte, die Gliederung in Küstendeutsch, Binnendeutsch, Alpendeutsch erinnere „an die Taciteische Dreiteilung: Ingwäonen an der Nordsee, Istwäonen zwischen Rhein und Weser, Erminonen an der mittleren und oberen Elbe" 8 '. Schon darin steckt allerdings archäologische Deutung, da Tacitus nur von medii Herminones
(Tacitus Germania 2,2) sprach; wo lag aber für seinen
Gewährsmann die Mitte 8 7 ? Danach versuchte Frings „eine Lösung mit 83
84
85 06 87
Vgl. C.-A. Althin, a. a. O. 172, wo er von der Kritik des Kossinna-Schülers Wahle an seinem Lehrer als von einer „glänzenden Abhandlung über einschlägige methodisdie Fragen" spradi und Wahles Arbeit als „die wichtigste methodische Arbeit innerhalb der Archäologie seit langem" bezeichnet. Vgl. dazu R. Hadimann, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zwischen Germanen u. Kelten (1962) 16 ff. Vgl. E. Rooth, Besprediung von Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen, in: Arkiv f. nordisk filologi 57 (1943) 119—122. — H.-Fr. Rosenfeld, Zu den alemannisch-nordgermanisdien Wortgleichungen, in: Neuphilol. Mitteilungen 51 (1950) 61—109. — H.Kuhn, Besprediung von Fr.Mauer, Nordgermanen u. Alemannen ( 2 1943), in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Literatur 43 (1944) 4—13. — Bes. bei H. Kuhn einige treffliche Formulierungen, so a. a. O. 4: „Er sagt zwar, er habe die Ergebnisse der Bodenforschung nur zur Ergänzung herangezogen, aber er ordnet sie den Ergebnissen seines Faches vollkommen über." — Weiter a. a. O. 5: „Hier hängt die Sprachforschung nun ganz am Rockschoß der Bodenforschung. Die Vorgeschichte bestätigt aus ihr selbst gefolgerte Sprachverhältnisse. Wenn Maurer auf diese Weise nur das Bild der ältesten Sprachzustände ergänzte, wo uns die Sprache selbst kein Zeugnis mehr gibt, dann wäre der Schaden vielleicht kaum der Rede wert. Aber er arbeitet nach diesen Grundsätzen auch da, wo die Spradie selber spricht und rückt ihre Aussagen zugunsten des Bildes zuredit, das ihm die Ergebnisse anderer Wissenschaften . . . gegeben haben." Th. Frings, Grundlegung einer Geschichte d. dt. Sprache (1948, 2 1950, s 1957). Th. Frings, a. a. O. ( 3 1957) 52. Vgl. den Versuch, des Tacitus Gliederung zu verstehen, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zwischen Germanen u. Kelten (1962) 50 ff.
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Hilfe der Vorgeschichte". Er berief sich in der Scheidung zwischen Westund Ostgermanen auf Kossina 88 , meinte in dieser Zeit sei „in dem Raum Niederrhein—Odermündung, dem damaligen Siedlungsraum der Westgermanen, die Dreiteilung in Ingwäonen, Istwäonen, Erminonen vorgebildet". D i e zum Vergleich herangezogene Karte, die ihm sein damaliger Kollege Tackenberg zur Verfügung stellte, ist nichts als eine stark vergröberte Umzeichnung verschiedener von Kossinna entworfener Karten und hat keinerlei wissenschaftlichen Wert 89 . Dasselbe gilt für Karten, die die Verhältnisse um 300—250 v. Chr. darstellen sollten®0. Wenn Frings feststellte, „zu Kossinna und Tackenberg stimmen die Darlegungen und Karten von E. Wahle"®1, so hängt das damit zusammen, daß — wie Tackenberg — auch Wahle Kartenentwürfe Kossinnas ziemlich unverändert übernahm. D i e sprachwissenschaftlichen Folgerungen, die Frings aus dem vorgeschichtlichen Kartenmaterial zog®2, werden im übrigen nur scheinbar durch dieses bestimmt; genau genommen versuchte er nämlich nur sprachliche Fakten, die sich aus seiner Betrachtungsweise ergaben, mit H i l f e der Vor- und Frühgeschichte verständlicher zu machen. Er war weit davon entfernt, Unbewiesenes aus einer Nachbarwissenschaft zu übernehmen und als Prämisse allen sprachwissenschaftlichen Überlegungen voranzustellen. Völlig anders ging dagegen in neuerer Zeit E. Schwarz bei seinen Studien zur Ausgliederung der germanischen Sprachen vor®3. Er setzte 88
Th. Frings, Grundlegung einer Gesdi. d. dt. Spradie (31957) 53 Anm. 16 nannte: G. Kossinna, Ursprung u. Verbreitung d. Germanen in vor- u. frühgesdi. Zeit (1926, 21928, 31934) Abb. 25, die er selbst als Karte 54 abdruckte. 89 Th. Frings, a. a. O. 53 Karte 55 a. — Vgl. dazu W. Foerste, Besprechung von Th. Frings, Grundlegung einer Geschichte d. dt. Spradie (21950), in: Niederdeutsches Jahrbudi 74 (1951) 143: „Die von dem Ardiäologen Tackenberg beigesteuerten Karten 56 a und 56 b sind wissenschaftlich unbrauchbar, solange nicht Rechenschaft darüber gegeben ist, worauf die archäologische Scheidung von Ingwäonen, Istväonen und Erminonen beruht." ®° Th. Frings, a. a. O. 53 Karte 56 a u. b. — Karte 56 b ist nach dem Erscheinen von R. von Uslar, Westgermanische Bodenfunde (1938) überarbeitet. M Th. Frings, a . a . O . 53 Karte 57. Vgl. E.Wahle, Deutsche Vorzeit (1932) 103 ff. 112 ff. 119 ff. Karten 3—6. 2 ® Th. Frings, a. a. O. 54 ff. E. Schwarz, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen (1951); dazu H.-Fr. Rosenfeld, Zur sprachlichen Gliederung d. Germanischen. Eine Untersuchung anläßlich von: E.Schwarz, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen (1951), in: Zeitsdir. f. Phonetik 8 (1954) 365—389, bes. 366 f.: „Durch Oxenstiernas Budi . . . , der die Funde der beiden letzten Jahrhunderte v. Chr. in Västergötland untersucht hat, ist dies als Heimat der Goten bestimmt, . . . Wenn Schwarz auch erklärt, daß er unabhängig von dieser Feststellung die Heimatfrage mit sprachlichen Mitteln untersuchen will, so wird doch die Tatsache
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Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
die Goten an den Anfang seiner Betrachtungen, stellte gleich fest: sie „haben nach ihrer Abwanderung eine eigene Sprache entwickelt und seit ihrer Landnahme in Südrußland eine Sprachinsel gebildet... Das Gotische darf als Sprachinsel nicht auf das Urgermanische, sondern muß auf die Ausgangslandschaft zurückbezogen werden" 94 . Er versuchte, „das zur Abwanderungszeit im ersten Jahrhundert vor Chr. gesprochene Gotonordische zu gewinnen, das in der gotischen Urheimat in Südschweden gesprochen worden" sei9*. Schwarz versuchte weiter, „aufbauend auf den Ergebnissen der modernen Mundartgeographie, die sprachlichen Tatsachen im Zusammenhang mit den geschichtlichen und vorgeschichtlichen zu sehen, um eine möglichst breite und sichere Grundlage zu schaffen"9'. Er begann seine Untersuchungen dann mit einer Erörterung der Urheimat der Goten nach archäologischen und historischen Quellen97, und schloß sich Oxenstiernas Auffassung von der Herkunft der Goten aus Västergötland an (vgl. unten S. 229 ff.), wobei er „erschwerende Umstände" nicht ganz übersah und die Einbeziehung östergötlands als Gotenheimat in Betracht zog98. Danach wandte er sidi den philologischen Problemen mit den Worten zu: „Die sprachlichen Darlegungen werden im Folgenden die archäologischen Kenntnisse in Rechnung setzen, sich im übrigen aber bemühen, mit ihren Mitteln einer Lösung näher zu bringen, so daß es schließlich möglich sein wird, sie mit den Aussagen der Geschichte und Vorgeschichte zu verbinden" 99 . Diese vor- und frühgeschichtlichen Prämissen einer sprachwissenschaftlichen Arbeit dürften den Wert von deren Ergebnissen charakterisieren. Die Benutzung ungeprüfter Auffassungen v o n V o r - und Frühgeschichtsforschern älterer Generation f ü r sprachliche und insbesondere altertums- und stammeskundliche Probleme bezeugt übrigens die Arbeit Schwarz' über germanische Stammeskunde deutlich 100 . Schwarz Schilder skandinavisdi-götländischen Heimat der Goten in stärkerem Maße als gegeben vorausgesetzt, als es für spradihistorische Untersuchung wünschenswert ist." Vgl. ferner die folgenden, teils überaus kritischen Rezensionen: H. Kuhn, in: Anzeiger f. dt. Altertum 66 (1952—53) 45—62; E. A. Philippson, in: Journal of English and Germanic Philology 52 (1953) 242—249; L. Wolff, in: Arkiv f. nordisk filologi 68 (1953) 188—196; Ed. Neumann, in: Zeitsdir. f. Mundartforschung 22 (1954) 118—121; W. Betz, in: Zeitschr. f. Dt. Philologie 74 (1955) 309—313. 94 E. Schwarz, a. a. O. 5. 85 E. Schwarz, a. a. O. 5. 98 E. Schwarz, a. a. O. 5 f. 97 E. Sdiwarz, a. a. O. 13 ff. 98 E. Sdiwarz, a . a . O . 18. 99 E. Sdiwarz, a. a. O. 18 f. 100 E. Schwarz, Germanische Stammeskunde (1956). Vgl. dazu die Besprechung v. H. Kuhn, in: Anglia 76 (1958) 434—442.
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derte die Entstehung des Germanentums nach E. SprockhofF101 (vgl. oben S. 193) und die Ausbreitung der Germanen in Norddeutschland nach Kossinna, Sprockhof? und Tackenberg102. Für die Entstehung der Gesichtsurnenkultur, die er für bastarnisdi hielt, übernahm er den Vorschlag von La Baume und Petersen103. Hier finden sidi Vorbilder, die auch Maurer benutzte. Für die Herkunft der Kimbern stützte er sich auf die Nachrichten der Antike, für deren Wanderweg nahm er Überlegungen M. Jahns und W. Schulz' — beides Sdiüler Kossinnas — zur Grundlage104. In der Annahme der Herkunft der Wandalen aus Nordjütland folgte er der frühen Auffassung Kossinnas und den Ansichten Jahns105. Schwarz machte Bornholm zum Durchzugsland der Burgunden, da ihm Bohnsack die Schwierigkeiten gezeigt hatte, sie von der Insel selbst herzuleiten, und suchte ihre Heimat im Bereich der Kattegatvölker 106 . Die Rugier stellte er wegen der Gleichheit ihrer archäologisdi faßbaren Kultur — Bohnsads war dafür sein Zeuge — neben die Burgunden und hielt sie für ihre Nachbarn in der Urheimat107. Für die skandinavische Urheimat der Goten zitierte er die gotische Scandza-'Tra.dhion und das einschlägige archäologische Schrifttum108. Den Ursprung des gesamten Komplexes der „Ostgermanen" beurteilte Schwarz in Kossinnas Sinn. „Die Stammeskunde, . . . , muß sich entschließen, größere Zusammenhänge und die innere Abhängigkeit aller ostgermanischen Aussiedlungen aus der nordischen Urheimat zu erkennen. Den Vortrupp bilden Kimbern, Teutonen und Ambronen,... Den zweiten Teil der Wandergenossenschaft bilden die Wandalen, Hasdingen, Warnen, Ambronen und andere Stämme, wodurch sich die Urheimat auf Südnorwegen und vermutlich auf die dänischen Inseln ausdehnt... Ihnen 101 102 108 104
105
100 107 108
E . Sdiwarz, a . a . O . 19 ff. E . Sdiwarz, a. a. O. 36 f. E . Sdiwarz, a. a. O. 49 f. E. Sdiwarz, a . a . O . 5 6 ; W . Schulz, Der Wanderzug d. Kimbern z. Gebiet d. Boier, in: Germania 13 (1929) 1 3 9 — 1 4 3 ; M . J a h n , Der Wanderweg d. Kimbern, Teutonen u. Wandalen, in: Mannus 24 (1932) 150—157. E . Sdiwarz, a. a. O. 65 f. u. das 73 f. genannte archäologische Schrifttum. — Ein Schwanken zwischen Dogma und willkürlicher Abweichung davon ist für Kossinna ebenso bezeichnend wie die sklavische und gelegentlich auch freiere Übernahme seines Dogmas für seine Sdiüler. N u r in einem einzigen Fall entschloß sidi Kossinna zu einer totalen, nicht näher begründeten Umkehrung älterer Auffassungen, nämlich bei der Herkunft der Wandalen. Seiner ursprünglichen Auffassung von ihrer Abstammung aus Vendsyssel stellte er die Herkunft der „jütischen Vandalen" aus Schlesien gegenüber. Die Entwicklung des Auffassungswandels läßt sich einigermaßen verfolgen. — Vgl. oben S. 173 f. Anm. 143. E . Schwarz, a. a. O. 74 ff. E . Schwarz, a. a. O. 80 ff. E . Schwarz, a. a. O. 86 ff. u. das 95 f. zusammengestellte Schrifttum.
206
Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
folgen bald darauf die Burgunden und Rugier, wodurch Südwestnorwegen den Kreis der auswanderungslustigen Nordgermanen erweitert. Sind diese Völker zwischen 1 2 0 — 1 0 0 v. Chr. ausgezogen, so folgen 100 Jahre später die Goten aus Götaland, im 2. Jahrhundert die stammesverwandten Gepiden und 250 die Krimgoten und Heruler, diese vermutlich aus Halland" 1 0 9 . Weiter kamen nach Schwarz mit Schwantes die Sueben aus Südskandinavien 110 . Die Langobarden stammten wegen ihrer Wandersage aus Schonen 111 , und schließlich wanderten die Dänen aus dem Gebiet des Mälarsees ein, wofür die Archäologie keinen Anhalt bietet 1 ". Insgesamt ist das fast die Gesamtsumme aller Herkunftsannahmen aus Skandinavien, die jemals gemacht worden sind, nur die Bastarnen fehlen. Spuren Kossinnas sind bei Schwarz unverkennbar. Sein Buch ist vornehmlich nach dem Skandinavien-Topos komponiert. Ergebnisse der Archäologie werden — auch dann, wenn sie den Stempel der Phantasterei tragen — meist ungeprüft übernommen und teils leichthin weitergesponnen. Wo sich im vorgeschichtlichen Schrifttum Widersprüche finden, werden sie — fast im Stile antiker Wissenschaft — gegeneinander abgewogen und danach übernommen oder verworfen. Kritik an Schwarz' Arbeitsweise ist deswegen auch nicht ausgeblieben 113 . Mit Recht stellte H . Kuhn fest: „Schwarz hat . . . gar nicht versucht, die Urheimat des Gotischen auf sprachlichem Wege festzustellen, sondern hat umgekehrt aus der uns, wie man meint, bekannten ersten Heimat des Volkes geschlossen, seine Sprache sei ein Zweig des Nordischen, und hat dann versucht, diese Herkunft des Gotischen auch aus ihm selbst zu beweisen" 114 . Kuhn wandte sich dagegen, Oxenstiernas Thesen bedenkenlos für richtig zu halten 115 . Die tragische Verstrichung, in der sich die zeitgenössische Germanistik befindet, wird dann allerdings sichtbar: Kuhn begann nämlich nun mit Kossina gegen Schwarz zu polemisieren. E r wandte sich gegen Schwarz' Vorwurf, keine Rücksicht auf die geschichtlichen Begebenheiten zu nehmen, und entgegnete: „Sehen wir uns an, wie wenig Boden außerhalb des später nordgermanischen Gebiets in der Bronzezeit germanisch war, in welch gewaltigem Umfang dann am 109 110 111 112 113
114 115
E. Schwarz, a. a. O. 107 f. E . Sdiwarz, a. a. O. 156. E . Schwarz, a. a. O. 193 ff. E . Schwarz, a. a. O. 206. H . Kuhn, Besprechung von E. Schwarz, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen, in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Literatur 66 (1952/53) 4 5 — 5 2 ; ders., Zur Gliederung d. germ. Sprachen, in: Zeitschr. f. dt. Altertum u. dt. Literatur 86 (1955) 1 — 4 7 . H . Kuhn, Zeitsdir. f. dt. Altertum u. dt. Literatur 86 (1955) 1. H . Kuhn, a. a. O. 9.
Zur Forsdiungsgeschidite und zum Forschungsstand
207
Ende dieses Zeitraums der große Klimasturz die Skandinavier gezwungen hat, sich weiter südlich neues Land zu suchen, wie in offenkundigem Zusammenhang damit das Schwergewicht der germanischen Siedlung damals nach Deutschland überzugehen anfing, so daß die alten Kernländer, Südsdiweden und Dänemark, fast zu Hinterland wurden, und wie sich, im wesentlichen wohl in Deutschland, aber doch mit vielem Zuzug aus dem Norden, die Ost- und Westgermanen zu starken eigenen Gruppen entfalteten, dann müssen wir eingestehn, daß sich die Gliederung der Germanen und das Verhältnis ihrer Gruppen in der Zeit, die vor unseren Quellen liegt, viel mehr verschoben haben muß, als es nun nachweisbar ist" 116 . Dagegen könnte man mit Kuhns eigenen Worten einwenden: Er hat gar nicht versucht, die Heimat der Germanen im Norden und ihre Auswanderung über die Ostsee auf sprachlichem Wege festzustellen, sondern hat umgekehrt aus der uns, wie er meint, bekannten ersten Heimat des Volkes weitere Schlüsse gezogen (vgl. oben S. 206). Es verwundert nicht, wenn man feststellt, daß allenthalben die alten, vom Dogma Kossinnas durchsetzten Anschauungen sich auch in der Gegenwart nachweisen lassen. H. Moser meint: „Obwohl gerade in neuerer Zeit auch die deutschen Vorgeschichtsforscher in der Gleichsetzung archäologisch faßbarer Kulturkreise mit ethnischen Einheiten wieder zurückhaltender geworden sind ( . . . ) , läßt sich für die frühgermanische Zeit doch manches mit einiger Sicherheit archäologisch erschließen" 117 . Und nun folgt die alte Version: Entstehung der Germanen aus der Großsteingräber- und der Einzelgrabkultur um 2000 v. Chr., Ausdehnung der Germanen nach dem Osten bis zur Weichselmündung (von etwa 1200—800 v. Chr.), im 6. Jahrhundert Einwanderung der Elbgermanen — Erminonen des Tacitus — an die untere und mittlere Elbe, Grund für die Wanderung ein Klimasturz. Sie wird durch die auch von Frings benutzte Karte Tackenbergs illustriert 118 . Die alte Auffassung setzt sich fort: „Seit etwa 100 v. Chr. ist eine nordgermanische archäologische Sondergruppe faßbar. Die frühen, etwa 1200—800 eingewanderten ,Ostgermanen' oder OderWeichsel-Germanen scheinen bis zum 2. Jahrhundert weiter nach Osten und Südosten vorgedrungen zu sein". Zwischen Oder und Weichsel-Bug rücken die Wandalen und Burgunden, um Chr. Geb. auch die Goten ein. „Die Goten, deren Heimat wir heute in Västergötland suchen, zogen 1,6
H. Kuhn, a. a. O. 9 f.
117
H. Moser, Deutsche Sprachgeschichte d. älteren Zeit, in: W . Stammler [Hrg.], Deutsche Philologie im A u f r i ß 1 ( 2 1957) 633; ebenso ders., Deutsche Sprachgesch. (1950, 2 1954, »1957, "1964, =1965) 86.
118
H. Moser, a. a. O. 814 Karte 1 u. 2 ; ebenso ders., Dt. Sprachgesch. (=1965) 86 f. 220 Karte 1 — 2 (ebenfalls v. Frings übernommen).
Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
208
um 150 n. Chr. ans Schwarze Meer, . . Der Ablauf der Ereignisse wird wiederum u. a. durch eine Karte Tackenbergs illustriert 180 . Wieder greift Moser auf Altes zurück; von skandinavisch-gotischer Gemeinsamkeit in der Sprache kommt er auf den Begriff des Ostgermanischen oder Gotonordischen. Er weist auf E. Schwarz und fährt fort: „Sie [die Gemeinsamkeiten] werden damit zusammenhängen, daß die Goten sich erst um Christi Geburt von den Nordgermanen trennten" 121 . Fr. Maurers Versuch, die vor- und frühgeschichtlichen und die historischen Gegebenheiten mit den sprachlichen Tatsachen in Einklang zu bringen, nennt Moser „einen bestechenden Versuch"118, und er kommt zu dem Schluß: „Es bleiben . . . beim heutigen Stand der Forschung noch viele wichtige Fragen offen. Auch wenn man den archäologischen Ergebnissen heute mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüberstehen muß, soweit es sich dabei um eine Gleichsetzung von Kulturkreis und ethnischer Gruppe handelt, und wenn man auch nicht unbesehen beide als Sprachgemeinschaft betrachten darf, hat doch Maurers Auffassung die gewichtigsten Argumente für sich"183. So wird also dann trotz aller — ausgesprochenen — Reserve gegenüber der Archäologie im Stillen doch festgestellt, die prähistorischen Kulturprovinzen seien Verkehrsgemeinschaften und zugleich Sprachgemeinschaften; die sprachlichen Quellen allein führen zu keinem eindeutigen Ergebnis. „Wir sind auf dieser Zeitstufe besonders darauf angewiesen, die Ergebnisse der vorgeschichtlichen und historischen Untersuchungen beizuziehen und es ist die Aufgabe, sie und die sprachlichen Gegebenheiten in Einklang zu bringen, ohne die Eigenständigkeit der sprachlichen Forschung aufzugeben" 184 . Ähnliches hatte mit anderen, fordernden und oft sehr ungeduldigen Worten bereits 1897 Kossinna gesagt. Doch e i n Unterschied sollte hier nicht übersehen werden: Moser fordert die „Eigenständigkeit der sprachlichen Forschung"; sollte das Unabhängigkeit von Argumenten bedeuten, die nicht aus der Sprachwissenschaft stammen, so wäre damit — wenigstens als Postulat — ein neuer Anfang gemacht. Einen Versuch, die „Eigenständigkeit der sprachlichen Forschung" "* H.Moser, a . a . O . 649; die Oder-Warthe-Germanen scheinen dem v. H. Bengtson und V. Milojüic herausgegebenen Großen Historischen Weltatlas (21954) Karte 6 b (Entwurf G. Kossack) entnommen zu sein, indem er die dort benutzten Begriffe „Weichsel-Germanen" und „Oder-Warthe-Germanen" zusammenzog; der Begriff ist sonst nicht gebräuchlich. 120 121 122 12S 124
H. H. H. H. H.
Moser, Moser, Moser, Moser, Moser,
a. a. O. 814 f. Karte 3. a. a. O. 658; ebenso ders., Dt. Sprachgesdi. (51965) 87. a. a. O. 664. a. a. O. 669. a. a. O. 664.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
209
zu wahren, ist in neuerer Zeit von L. Rösel unternommen worden 1 ". Er wagte „eine Gliederung der germanischen Sprachen allein vom sprachlichen Befund her" 12 '. Aber er hat diesen Vorsatz nicht konsequent durchhalten können. Sagt denn die Sprache selbst, daß „das Got. nach seiner Herauslösung aus dem engeren Bereich des Nordens und seiner Festsetzung an der Weichselmündung" in Beziehungen mit den südgermanisdien Stämmen getreten ist127? Es fallen Stichworte wie „Weser-RheinGermanen" und „Elbgermanen" 188 . „Zur Zeit unserer Gruppierungen in Kapitel I waren Goten, Nordgermanen und Angelsachsen auf den südskandinavischen Siedlungsboden zusammengedrängt" 129 . „In Skandinavien saßen die später ae. [altenglischen] Stämme, die späteren Skandinavier und die Goten in dieser Reihenfolge von West nach Ost. Bei der lockeren Siedlungsweise und dem wohl recht geringen Verkehr bedurfte es sicher längerer Zeit, bis sich eine Neuerung von den ae. Stämmen zu den Goten oder umgekehrt ausgebreitet hatte" 130 . Auf solche gravierenden Inkonsequenzen hat besonders H . Kuhn hingewiesen. Dennoch sind seine Vorwürfe nicht völlig berechtigt. Eine „sehr vage und wirklichkeitsfremde Vorstellung von den Zuständen in der Frühzeit" 131 muß der feststellen, der sich zwar von alten Auffassungen der Vorgeschichtsforschung distanziert, dennoch aber den Gedanken der Prävalenz der Archäologie nicht völlig aufgegeben hat. Gewiß hat der Archäologe selbst heute nicht mehr diese vagen und wirklichkeitsfremden Vorstellungen, aber kann er sie deswegen schon dem Sprachwissenschaftler als wirklichkeitsnah empfehlen152? Es ist offensichtlich nicht das eigentliche Problem, daß die Sprachwissenschaft sich v e r a l t e t e r vor- und frühgeschichtlicher Argumente bedient hat und noch bedient, sondern daß sie sich ü b e r h a u p t vorund frühgeschichtlicher Beweise bedient und daß diese allzu oft nur Scheinbeweise sind. Was hätte die Germanistik insgesamt genommen allerdings anderes tun können? Diese Frage stellt sich zum Schluß! Wer an die Zwangsläufig125
128 127 128 128 150 131 132
14
L. Rösel, Die Gliederung der germanischen Sprachen nach dem Zeugnis ihrer Flexionsformen (1962); dazu: Besprechung von H.Kuhn, in: Anz. f. Dt. Altertum 73 (1964) 145—152; Besprechung von W. Meid, in: Indogerm. Forsdi. 69 (1964) 84—88. L. Rösel, a. a. O. VI. L. Rösel, a. a. O. 48. ebenso 52 f. L. Rösel, a . a . O . 53.115. L. Rösel, a. a. O. 77. L.Rösel, a . a . O . 5 2 f . Anm. 191. H. Kuhn, Anz. f. Dt. Altertum 73 (1964) 148 f. H. Kuhn beruft sich auf die Ubersicht zur schwedischen Vor- und Frühgeschichte, in: M. Stenberger, Sweden (o. J. [1962]) 113—120. H a d i m a n n , Goten und Skandinavien
210
Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
keit historischer Abläufe glaubt, wird geneigt sein zu antworten: „Nichts!" Hielte man ihm vor, daß mindestens der Weg, den Maurer beschritten hat, hätte vermieden werden können, so wird er antworten: „Gerade er war nötig, um eine ganze Forschungsrichtung ad absurdum zu führen — und das endgültig!" Der Irrweg, den bald siebzigjähriges Forschen gegangen ist, läßt sich wohl durdi eine forschungsgeschichtliche Analyse sichtbar machen; er ist dadurch nicht ungeschehen. Es muß sich jetzt hauptsächlich darum handeln, für die Zukunft daraus Konsequenzen zu ziehen. Es ist Angelegenheit der Germanistik selbst, zu prüfen, wo in rein sprachwissenschaftlichen Arbeiten offene oder verborgene archäologische Argumente enthalten sind, und zu untersuchen, wie eine künftige „reine Methode" aussehen muß. H i e r handelt es sich mehr darum zu fragen, was die Germanistik bislang zur Geschichte der Germanen — speziell zu der der Goten — an sicherem Wissen eingebracht hat. Der Umfang dessen, was an rein sprachlichen Einsichten, d. h. an gesicherten sprachlichen Einsichten, vorhanden ist, die die Vorstellungen von der Genesis des Germanentums wirklich ernstlich fördern könnten, ist gering. Er ist sogar für den Bereich des Gotischen bzw. der Goten gering, wiewohl die Quellenlage hier besonders günstig ist. Über den Zusammenhang der Goten mit Skandinavien können sprachliche Fakten für sich allein genommen vorerst kaum Aussagen machen. Die Sprache einer kleinen gotischen Gruppe ist bekannt, die der Goten des Ulfilas. Sprachen alle Goten in Südrußland, auf der Balkenhalbinsel, in Italien und in Südfrankreich und Spanien die gleiche Sprache? Es ist bekannt, daß im Laufe des 4. und 5. Jahrhunderts mancherlei sicher nichtgotische, oft wohl auch n i c h t g e r m a n i s c h e Bevölkerungsgruppen in jenen Komplex eingegliedert wurden, den römische und griechische Ethnographie mit wechselnden Namen Sxvfrai, Gotbi, Tervingi und Greuthungi, Vesi und Vesegothae und Ostrogothae nannte. Welche sprachlichen Folgen hatte dieser Vorgang? Weiß man, daß keinerlei sprachliche Veränderungen eintraten? Waren jene Goten, die sich in Südrußland ansässig machten, ausnahmslos und ausschließlich dieselben, welche vorher an der Weichsel gesiedelt hatten? Es ist bekannt, daß sich im 3. nachchristlichen Jahrhundert innerhalb des Germanentums neue Bevölkerungsgruppierungen entfalteten. Die Alamannen tauchten auf, dann die Franken, Sachsen, Thüringer. Sollte es nur ein Wechsel von Namen gewesen sein? Viele alte Namen verschwanden; einige blieben: Langobarden, Wandalen und Goten. Garantiert die Konstanz der Namen, daß die Struktur dieser Stämme sich weniger änderte als dort, wo neue Namen auftauchten?
Zur Forschungsgesdiichte und zum Forschungsstand
211
Sidier ist im Fall der Goten, daß ein Kern historischer Tradition vorhanden war. Sidier hängen die Gothi des Ablabius auf irgendeine Weise mit den Gotones des Tacitus zusammen. Der von Wenskus geprägte Begriff des Traditionskerns133 bewährt sich. Die Gothi in Südfrankreich fühlten sich als Nachkommen jener, die ehedem an der Weichsel gesiedelt hatten, und sie waren der Meinung, sie seien aus dem fernen Norden übers Meer eingewandert. Aber welches war die Sprache d i e s e r Goten? Kann man diese einfach mit der der Goten des Ulfilas gleichsetzen? Von der Sprache der Ostgoten in Italien weiß man fast nichts. Wie sich die Sprache der Ostgoten von der der Westgoten unterschied, ist nicht bekannt. Nur daß die Sprache des Ulfilas auch unter nichtgotischen Arianern zur Verlesung der Heiligen Bücher benutzt wurde, ist bekannt. Groß kann der Abstand der verschiedenen germanischen Dialekte also wohl nicht gewesen sein. Was kann unter solchen Bedingungen aber aus der Sprache des Ulfilas zur Herkunft der Goten entnommen werden? Was kann die gotische Tradition über die Genesis dieser Sprache aussagen? Könnte ein Germanist auf diese Fragen, soweit sie Sprachliches betreffen, antworten, ohne vorher den Archäologen gefragt zu haben, dann wäre die Antwort für den Archäologen gewiß nicht uninteressant. Der Blick auf die Forschungsgeschichte hat deutlich genug gezeigt, daß eine solche, ganz von den vorgeschichtlichen Quellen unabhängige Antwort augenblicklich nicht möglich ist. Es gibt zur Zeit keinen Ausweg aus dieser Situation; allenfalls bleibt einige Hoffnung für die Zukunft. Was sagen archäologische Quellen in sprachlicher Hinsicht? Was ergeben linguistische Quellen für den Historiker und den Archäologen? In Abwandlung eines Wortes von H. Paul darf man wohl behaupten, daß bisher die gängigen Methoden der philologisch-archäologischen Zusammenarbeit „mehr durch Instinkt gefunden sind als durch eine auf das innerste Wesen der Dinge eingehende allseitige Reflexion"134. „Die natürliche Folge davon ist, daß eine Menge Willkürlichkeiten mit unterliefen, woraus ein endloser Streit der Meinungen und Schulen entsteht"; auch das sagte Paul. Er hat dabei gewiß nicht an Kossinna gedacht. Leute von seinem Schlage mag er im Sinn gehabt haben. Dennoch sollte die Devise nicht heißen: Zurück zum Positivismus! Wohl aber scheint es sicher zu sein, daß man auch heute noch — oder heute wieder — einiges von ihm lernen kann.
133 R Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961) 75 f. 134
14"
H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte ( 4 1909) 5.
212
Spuren der Gedankengänge Kossinnas
3. Spuren der Gedankengänge Kossinnas in der Frühmittelalterforschung Durch das Wirken von K. Zeuss, J. Grimm und K. Müllenhoff wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Gesdiichte der Germanen zum Forschungsgebiet der Germanistik 1 ; die bedeutenden Historiker der Deutschen Historischen Schule hatten an deren Erforschung kaum Anteil. Es lag nicht im Sinne dieses Kreises, an einer provisorischen Quelleninterpretation teilzunehmen, solange die Quellen selbst noch nicht text- und quellenkritisdi analysiert und noch nidit in befriedigender Weise ediert waren. Wohl gab es kursorische Stellungnahmen zur Frage der Herkunft und Geschichte der Germanen von Seiten bedeutender Historiker, doch blieben sie bewußt an der Oberfläche. So sagte noch 1863 H . von Sybel: „Der Ursprung der Germanen entzieht sich, wie alles Entstehen der menschlichen Dinge, dem Blick der Forschung. Das Volk selbst h a t t e , . . . , keine Erinnerung über seine Herkunft g e w a h r t . . . die einzig wissenschaftlich sichere Leuchte in diesem Dunkel frühesten Alterthums gibt die vergleichende Sprachkunde . . . Es ergibt sich . . . der Schluß, daß einst die Stammväter jener [indogermanischen] Nationen ein einziges Volk gebildet und wahrscheinlich im asiatischen Osten zusammengewohnt haben" 2 . So sah schon J. Grimm die Zusammenhänge 3 , und neben von Sybel auch andere Historiker 4 . Immerhin befaßten sich bedeutende Geschichtsforscher damals mit großer Intensität mit Editionsarbeiten, G. H . Pertz, G. Waitz, Th. Mommsen, Br. Krusch5 und andere. Neben Germanisten haben sich damals auch andere Nichthistoriker mit germanischer Geschichte befaßt, so der sächsische Staatsmann Ed. von 1
2
3 4 5
Vgl. R. Hachmann, in: R. Hachmann, G. Kossack, H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 19 ff. H. von Sybel, Die Deutschen b. ihrem Eintritt i. d. Gesch. (Vortrag i. Berlin 1863), in: Kleine Hist. Schriften 1 (31880) 29—48, bes. 29 f. Vgl. oben S. 152 Anm. 26—27. Vgl. oben S. 153 Anm. 29. H.Droysen, Eutrop (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. II [1879]); K.Halm, Salvian (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. 1,2 [1877]) u. Victor Vitensis (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. 111,1 [1879]); F.Leo, Venantius Fortunatus, opera poetica (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. IV,1 [1881]); B. Krusch, Venantius Fortunatus, opera pedestria (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. IV,2 [1885]) u. Appolinaris Sidonius (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. VIII [1887]); Th. Mommsen, Jordanes (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V,1 [1882]); Chronica Minora saec. IV—VII (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. IX [1892], XI [1894], XIII [1897]) und Cassiodor (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. XII [1894]); G. H. Pertz, Annales et chronica aevi carolini-aevi Salici (Mon. Germ. Hist. Scriptores I [1826]—V [1844]); H. Sauppe, Eugipp (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. 1,2 [1877]); G. Waitz, Scriptores Rerum Langobardicarum et Italicarum saec. VI—IX (1878).
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
213
Wietersheim', der von Hause aus Jurist war, und Felix Dahn 7 — weiten Kreisen als Schriftsteller historischer Romane bekannt, v o n Hause aus ebenfalls Jurist und als akademischer Lehrer nicht ohne Bedeutung. Fachgelehrte beschränkten sich im allgemeinen auf Detailuntersuchungen. Der erste umfassende Versuch kritischer Geschichtsschreibung ist zweifelsohne der Ludwig Schmidts 8 , der wie kein anderer vor ihm die antiken Quellen zur frühgermanischen Gesdiichte in ihrer Gesamtheit überblickte. Er fühlte sich allerdings zu einem wesentlichen Teil auch auf Ergebnisse der germanischen Altertumskunde angewiesen. Es ist hier nicht der Ort, seine historiographische Leistung zu würdigen, obwohl das bislang noch niciit in vollem Umfange geschah*, vielmehr ist es nötig zu erfahren, wieweit die von Kossinna begründete Forschungsrichtung der germanischen Altertumskunde in Methoden und Forschungsergebnissen audi auf ihn Einfluß hatte. In seinen ersten Schriften sind Einwirkungen der Lehrmeinungen Kossinnas kaum zu erkennen 10 . Im Jahre 1904 kannte er zwar Kossinnas Aufsatz zur Ethnologie der Ostgermanen, lehnte die Gleichung Gothiscandza-*Codaniska, für die sich Kossinna ausgesprochen hatte, ab und nahm Einwanderung der Goten aus Skandinavien an, nicht weil dieser dafür eingetreten war, sondern weil er an einen historischen Kern der Wandersage glaubte 11 . Im Jahre • Ed. von Wietersheim, Gesch. d. Völkerwanderung 1—4 (1859—64, 21880— 81 [bearbeitet u. in zwei Bänden herausgegeben v. F.Dahn]); Ed. v. W. :: "1789, 1853 Kreisdirektor in Dresden, 1840—48 Minister des Kultus u. Unterrichts, 1 1865. 7 F.Dahn, Urgeschichte d. germ. u. roman. Völker 1—4 (1881—89); F . D . * 1834, 1857 Dozent f. dt. Recht a. d. Universität München, 1862 a. o. Prof.; 1863 o. Prof. a. d. Universität Würzburg, 1872 Universität Königsberg, 1888 bis 1902 Universität Breslau, f 1912. 8 L.Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885); ders., Gesch. d. Wandalen (1901, *1942); ders., Gesdi. d. dt. Stämme b. z. Ausgange d. Völkerwanderung 1—2 (1904—1918); ders., Allgemeine Gesch. d. germ. Völker b. z. Mitte d. sechsten Jahrhunderts (1909); ders., Gesdi. d. germ. Frühzeit. Der Entwicklungsgang d. germ. Nation b. z. Begründung d. fränkischen Universalmonarchie durch Chlodowech (1925, ! 1934); ders., Gesdi. d. dt. Stämme b. z. Ausgang d. Völkerwanderung. Die Ostgermanen (1934), Die Westgermanen (1938). » Vgl. J.Benndorf, Ludwig Schmidt 80 Jahre alt, in: Mannus 34 (1942) 207f. u. M. Jahn, in: Nachrichtenbl. f. Dt. Vorzeit 18 (1942) 105 f. 10 L. Sdimidt, Gesch. d. Wandalen (1901) 6 wurde aber bereits Kossinna genannt und in seinem Sinne von den Ursitzen der Germanen und von der Auswanderung der Goten aus Schweden gesprochen. 11 L. Schmidt, Gesdi. d. dt. Stämme b. z. Ausgange d. Völkerwanderung 1 (1904) 51; ähnlidi auch: Allgem. Gesdi. d. germ. Völker b. z. Mitte d. sechsten Jahrhunderts (1909) 83, wo jedodi Kossinna nicht erwähnt wurde.
214
Spuren der Gedankengänge Kossinnas
1909 waren ihm verschiedene Arbeiten Kossinnas bekannt 12 . Er betonte die künftige Bedeutung der vorgeschichtlichen Archäologie für die Geschichte der Germanen, dürfte aber sicher Kossinna gemeint haben, wenn er sagte: „Die früher allzusehr mißachtete prähistorische Archäologie hat sich in der neuesten Zeit eine achtunggebietende Stellung errungen, beginnt aber jetzt wieder infolge der unberechtigten Prätensionen einzelner Forscher wesentlich an Ansehen zu verlieren." Gleich anschließend nannte er Kossinnas Namen und wandte sich gegen seine Theorien1®. Immerhin stellte er die Ausbreitung der Germanen — offensichtlich als nachträgliche Einfügung" — in Kossinnas Sinne dar, identifizierte sich mit dessen Auffassung jedoch nicht völlig. Anders verhielt er sich indes in der Frage der Herkunft der „Ostgermanen"; archäologische Funde und Stammesnamen sicherten es seiner Ansicht nach, daß die Skandinavier „einen erheblichen Anteil an der Besiedlung Ostdeutschlands hatten" 15 . Das ist Kossinnas Gedankengut aus den Jahren 1895—1897. Als Neuerung nahm er die Herkunft der Langobarden aus Skandinavien an 1 '. „ . . . die Stammsitze [werden] in Gotland zu suchen sein"17. Das hatte Kossinna niemals gesagt. Mit dem Jahre 1919 vollzog sich offensichtlich ein entscheidender Wandel in Schmidts Ansichten18. Was er damals über die Vorzeit Sachsens zu berichten hatte, stammt von Kossinna und aus der von ihm beeinflußten Literatur. Kossinna selbst wurde öfters zitiert. Nun gab Schmidt seine Reserve gegen dessen Methoden und Auffassungen auf und arbeitete in wachsendem Umfange Kossinnas Germanenbild in seine verschiedenen Darstellungen germanischer Geschichte ein, die nun recht populär wurden. Erste deutliche Spuren dieses Wandels finden sich in der ersten Auflage seiner Geschichte der germanischen Frühzeit; sie breiteten sich in der zweiten Auflage weiter aus1®. Die volle Intensität solcher Einflüsse zeigen 12
13 14
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L. Schmidt, Allgem. Gesdi. d. germ. Völker b. z. Mitte d. sechsten Jahrhunderts (1909) 15 Anm. 8.18 f. 49. 168. L. Schmidt, a. a. O. 15 f. L. Sdimidt, a. a. O. 22 f. Der Petit-Satz am inhaltlichen Widerspruch zum Vorhergehenden als nachträgliche Einfügung erkennbar. L. Sdimidt, a . a . O . 24: Goten, Rugier, Burgunden, Wandalen und Warnen werden als ursprüngliche Skandinavier genannt. L. Schmidt, a. a. O. 77. Die Herkunftssage und rechtsgeschichtliche Erwägungen leiten ihn zu dieser Annahme. Kossinna ist unbeteiligt. L. Schmidt, a. a. O. 77. L. Schmidt, Zur Vor- und Frühgeschichte Sachsens, in: Neues Archiv f. Sächsische Gesch. u. Altertumskunde 40 (1919) 114—122. L. Sdimidt, Gesch. d. Germ. Frühzeit (1925, 21934).
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
215
die zweite Auflage der Geschichte der deutschen Stämme20 und die zweite Auflage der Geschidite der Wandalen 21 . Dabei wurden nicht allein Kossinnas Schriften, sondern auch solche seiner Schüler und die seiner wissenschaftlichen Freunde wirksam, und es entstand ein fast total auf Skandinavien bezogenes „System" germanischer Geschichte. Die vollständige Abhängigkeit dieses Bildes von Kossinnas „großzügigem'' Entwurf zeigen einzelne Abschnitte der Geschichte der deutschen Stämme besonders deutlich. Es ist um der Klarheit willen nützlich, die diversen Spuren des Skandinavien-Topos in einem besonders kennzeichnenden Abschnitt dieses Buches zu verfolgen. „Wir werden nach den Ergebnissen der archäologischen Forschung nicht daran zweifeln, daß die Germanen aus den Trägern der nordischen Kultur [der Bronzezeit] hervorgegangen, daß Südskandinavien, Dänemark, Schleswig-Holstein, Norddeutschland zwischen unterer Weser (?) und Oder die Gebiete gewesen sind, in denen sich zur ältesten Bronzezeit die Bildung einer gesonderten germanischen Nation vollzog" 22 . Schmidt fuhr fort: „Mit der weiteren Ausbreitung über diese Grenzen hinaus seit der mittleren Bronzezeit darf man die Anfänge einer Stammesgliederung in Zusammenhang bringen . . . Die nächsten großen Sonderbildungen fanden statt zu Beginn der Eisenzeit, indem die Ostgermanen sich a b t r e n n t e n , . . . Die Entstehung der Ostgermanen wurde eingeleitet durch das schon in der jüngsten Bronzezeit begonnene Vorrücken der Altgermanen über ihre ursprüngliche Ostgrenze, die Oder. Es bildete sich unter diesen, . . . , eine eigenartige Kultur heraus, . . . [Diese] Gesichtsurnenkultur hat sich allmählich besonders nach Süden und Südosten ausgebreitet; . . . Sie erlischt im Norden um 500 v. Chr., im Süden um 300 v. Chr.; an ihre Stelle treten Urnengräber . . . Dieser Kulturwechsel wird wohl mit Recht mit einem Bevölkerungswechsel in Verbindung gebracht" 23 . Schmidt sagte weiter: „Zu Beginn der Eisenzeit erfolgte die erste Übersiedlung skandinavischer Germanen nach dem Fest20
L. Schmidt, Gesch. d. dt. Stämme b. z. Ausgang d. Völkerwanderung 1. Die Ostgermanen ( 2 1934); vgl. audi L. Schmidt, Das germ. Volkstum i. d. Reichen d. Völkerwanderung, in: Hist. Vierteljahrsschrift 29 (1935) 417—440.
21
L. Schmidt, Gesch. d. Wandalen ( 2 1942) 1 ff. mit zahlreichen Zitaten vorgesch. Literatur.
22
L. Schmidt, Gesch. d. dt. Stämme b. z. Ausgang d. Völkerwanderung 1 ( 2 1934) 80—81 Anm. 1, w o er als Gewährsmänner B. Nerman, K. H. Jacob-Friesen und den Kossinna-Schüler E. Wahle nennt. Jacob-Friesen u. Wahle traten bekanntlich als besonders energische Kritiker Kossinnas hervor. Das hinderte nicht, daß sie ihr Bild von der Entstehung der Germanen zur ältesten Bronzezeit von Kossinna übernahmen.
23
L. Schmidt, a. a. O. 81—82 Anm. 3, w o M. Jahn u. E. Petersen, K. Tackenberg u. B. von Richthofen als Gewährsmänner aufgeführt sind.
216
Spuren der Gedankengänge Kossinnas
l a n d e 4 4 . . . Die zuerst einwandernden Skandinavier waren die Wandalen, älter W a n d i l e n , . . . Im 2. Jahrhundert v. Chr. setzten sich neue Schwärme nordischer Germanen auf ostdeutschem Boden fest: die Rugier aus Norwegen und (Ost-)Warnen ebendaher(?), die Burgunder aus Bornholm, um 100 v. Chr. (?), die Silingen aus Seeland (?), um die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. (?) die Goten aus Götaland, endlich im 3. Jahrhundert nach Chr. die Heruler aus Südschweden25 Bei den Westgermanen hat der Prozeß der Bildung von Einzelstämmen sich weiter fortgesetzt... Nordischer Einschlag hat auch bei den Westgermanen nicht gefehlt. Daß die Friesen ursprünglich in Skandinavien beheimatet waren, wird aus dem Charakter ihres Rechts und aus dem Weg ihrer Siedelung, der auf Ankunft zur See hinweist, wahrscheinlich. Die Langobarden stammten . . . wahrsdieinlich aus Gotland, die Haruden in Jütland und Warnen in Schleswig aus Norwegen. Noch in historischer Zeit, nach dem Abzug der Kimbern, haben sich Wendeln (Wandalen) aus Schweden an der Nordspitze Jütlands niedergelassen"26. Die Breite der Wirkung der Bücher Ludwig Schmidts war vielleicht nicht so groß wie die der Bücher und Aufsätze Kossinnas. Sie war auch deswegen notwendig sehr viel geringer, weil Kossinna seine Skandinavienvorstellungen einer größeren Anzahl von Schülern vermittelt hatte, deren rein antiquarische Kenntnisse für ihre Zeit hervorragend waren und die Kossinnas Berliner Schule alsbald einen guten Ruf erwarben. Die Tiefe der Wirkung der Arbeiten Schmidts, der Zeit seines Lebens Bibliothekar in Dresden war und deswegen keinen Schülerkreis um sich scharen konnte, dürfte wegen der unbestrittenen Wissenschaftlichkeit in ihren rein historischen Abschnitten dagegen größer gewesen sein. Wie die germanische Altertumskunde, so waren auch die Hauptwerke der Geschichtsschreibung über die Germanen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vom Skandinavien-Topos durchsetzt. Nach dem 24
L. Schmidt, a. a. O. 82 erklärte diese Abwanderung mit Kossinna, dem sich Nerman angeschlossen hatte, mit einer Klimaversdilediterung. Er übersah dabei, daß Kossinna die Gesichtsurnenkultur auf Grund einer durch diese Klimaversdilediterung ausgelöste Wanderung einwandern ließ, während W. La Baume, E. Petersen u. a. m. die Träger derselben Kultur auf dem Landwege und ohne begleitende Klimaänderung einrücken ließen. E. Petersen hielt die Gesiditsurnenkultur f ü r bastarnisch, Kossinna hielt sie anfangs f ü r wandilisch und nannte die Bastarnen nicht, später fügte er diese als Zweig der Wandilier ein.
25
L. Schmidt, a. a. O. 83 Anm. 1 u. 2. Als Zeugen wurden W . Schulz, M. Jahn, B. von Richthofen, E. Petersen u. Kossinna selbst genannt.
2'
L. Schmidt, a. a. O. 84 f. Auch hier stammt natürlich nicht alles von Kossinna und seinen Schülern.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
217
zweiten Weltkrieg erfolgte durch das Werk R. Wenskus'27 in mancherlei Hinsicht eine Wendung. Wenskus widmet dem Problem der ethnischen Deutung vorgeschichtlicher Fundgruppen einen größeren Abschnitt seines Buches28. Die Kritik an Kossinnas Methode scheitert hier aber schon daran, daß der Kritiker die geistesgeschichtliche Situation der historischen Wissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht in Rechnung stellt, nicht erkennen kann, wo Kossinna stand, nicht weiß, aus welcher Position Kossinnas Kritiker sich gegen ihn wandten, und nicht zu erkennen vermag, warum alle Kritik — so berechtigt sie war — nichts fruchten konnte. So gehört denn Wenskus zu jenen, die das, was sie zu kritisieren suchen, weil sie es im Grunde nicht durchschauen können, bei der nächsten Gelegenheit wieder als eigenes Argument benutzen. Dazu tritt eine überraschende Willkür in der Verwendung archäologischer Materialien bzw. der Ansichten der Forschung darüber, und eine eigenartige voreilige Abwägung von Quellengruppen gegeneinander. Von der alten Auffassung des Nordischen Kreises der Bronzezeit setzt er sich ab, aber es ist — methodisch gesehen — kein Fortschritt, sondern eher ein Verwischen der scharfen Konturen der bereits vorhandenen Auffassungen anderer, wenn Wenskus annimmt, der Umkreis des von der germanischen Lautverschiebung erfaßten Gebiets erstrecke sich „vom Odergebiet im Osten bis zu den Rheinmündungen im Westen und von der Lössgrenze im Süden bis Mittelskandinavien" 8 '. Die alteuropäische Hydronomie spielt in Wenskus' Überlegungen eine besondere Rolle. Man fragt sich aber unwillkürlich, wohin wohl die moderne Sprachgeographie und die Ortsnamenforschung gelangt wären, wenn sie, anstatt bis zu den ältesten belegten Namenformen zurückzugehen, stets vornehmlich den modernen Wort- und Namenbestand benutzt und aus diesen nach bestimmten Prinzipien — und nicht ganz ohne Willkür — ältere Wort- und Namenformen erschlossen hätte, wie es die hauptsächlich von H . Krähe betriebene Forschungsrichtung tut. Immerhin ist sichtbar, daß bei Wenskus der Skandinavien-Topos keine eigentliche Existenzgrundlage mehr hat. Trotzdem meint er aber, der Prähistoriker Oxenstierna habe zwar nicht ,die' Heimat der Goten ermittelt, er scheine doch aber die Herkunft beträchtlicher Teile des Stammeskörpers festgestellt zu haben30. Auch hier sieht er wiederum nicht, auf 27
28 29 30
R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961); vgl. dazu die Besprechungen: R. v. Uslar, Stämme und Fundgruppen. Bemerkung zu „Stammesbildung u. Verfassung" von R. Wenskus, in: Germania 43 (1965) 138—148; R. Hadimann, in: Hist. Zeitschr. 198 (1964) 663—674. R. Wenskus, a . a . O . 113 ff. R. Wenskus, a. a. O. 209 f. R. Wenskus, a . a . O . 467.
218
Spuren der Gedankengänge Kossinnas
welche Weise Oxenstierna dem Denken Kossinnas verpflichtet war. Er kennt dabei die Kritik an Oxenstierna, die gerade darauf hinzuweisen suchte®1, akzeptiert sie gar32, ohne sie indes zu verstehen. Der ScandzaTopos lebt bei Wenskus allerdings noch, wenn er in der langobardisdien Wandersage Indizien echter Uberlieferung sieht33. Vielerlei Überlegungen haben inzwischen gezeigt, wie vielschichtig das Problem der gotischen Herkunftsberichte ist (vgl. oben S. 35 ff.). Es läßt sich nicht einfach mit der Feststellung erledigen: „Manches deutet darauf hin, daß in dieser Wandersage ein historischer Kern enthalten ist"34. Obwohl von Hause aus Germanist, muß N. Wagner unter den Historikern und nicht unter den Sprachwissenschaftlern genannt werden. Seine Getica verfolgen keine philologischen, sondern historische Ziele. Es ist eine historische Fragestellung, die der germanischen Altertumskunde der Zeit Müllenhoffs nicht allzu ferne steht. Mit seltener Sicherheit erkannte Wagner, daß bei der Behandlung eines Themas, an dessen Klärung verschiedene Wissenschaften Anteil haben, „die Trennung der Disziplinen und ihrer Beiträge" notwendig sei3®. Nur eine Sonderung lasse „erkennen, inwieweit die Beiträge der Disziplinen eigenständig sind und einen selbständigen Beweiswert besitzen oder auf entlehnten Voraussetzungen beruhen"3'. Das hatte vor ihm weder ein Germanist, noch ein Historiker gesagt. Wie kein Germanist vor ihm erkannte er die Möglichkeiten, welche die Archäologie derzeit für die Lösung sprachwissenschaftlicher und altertumskundlicher Probleme anbieten kann: „Es zeigt sich, daß das archäologische Material recht verschiedene Auslegungen erfuhr und die Meinungen von neueren Archäologen über die Beweisbarkeit einer gotischen Auswanderung mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln weit auseinandergehen: Während etwa Oxenstierna glaubt, sogar das Ausgangsgebiet dieser Wanderung genau abgrenzen zu können, bezweifelt etwa Moberg, daß sie überhaupt stattfand. Einem Nichtarchäologen ergibt sich aus diesem Forschungsstand die Folgerung, daß man sich für die These einer gotischen Urheimat in Skandinavien auf das Zeugnis der 31
R. Hadimann, Besprechung von E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945), in: Germania 29 (1951) 9 8 — 1 0 1 .
32
R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 466 f. — Die Feststellung: „Es ist nun einmal nicht möglich, allein mit archäologischen Methoden ,die' Heimat eines Stammes zu ermitteln" (a. a. O. 467) war keineswegs die Folgerung des Rezensenten. Diese lautete: „Die vom Autor angewandte Methode ist falsch!" R. Wenskus, a. a. O. 486.
33 34
R. Wenskus, a . a . O . 463.
35
N . W a g n e r , Getica (1967) 167.
36
N.Wagner, a . a . O .
167.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand
219
Archäologie zur Zeit nicht berufen kann"87. Man kann ihm darin nur zustimmen, wenngleich es für den Archäologen nicht schwer sein kann, sidi — um bei Wagners Beispiel zu bleiben — gegen Oxenstierna zu entscheiden. Vom Germanisten müßte man Einblick in die Methoden der Ardiäologie fordern; dann wäre auch für ihn die Entscheidung leicht'8. Da die Ardiäologie ausfalle, folgerte Wagner: „Zur Entscheidung dieser Frage [der Herkunft der Goten] scheinen die beiden anderen Disziplinen, die Spradiwissenschaft und die Geschichtsforschung, im Augenblick eher berufen zu sein"®*. Klar erkennt er auch die fatale Situation der Sprachwissenschaft: „Sie interpretierte ihr Material unter dem Einfluß des Auswandererberichts der Getica (25 f.; 94 f.), welcher angibt, die Goten seien einst unter König Berig von Scandza (Skandinavien) gekommen, der Ähnlichkeit zwischen skandinavischen Landschaftsnamen und den Namen der Goten und der Anschauung einiger Archäologen, die letzten Endes auf den nämlichen beiden, der Geschichtswissenschaft abgeborgten Gegebenheiten, beruhen. Man hielt sich das offensichtlich nicht eindringlich genug vor Augen, sonst wäre man schließlich nicht bis zu der Behauptung gelangt, die Sprachwissenschaft sei von sich aus zum Ansatz einer skandinavischen Urheimat der Goten imstande, . . ." 40 . Folgerichtig weist er „die Entscheidung in der Frage der gotischen Urheimat in Skandinavien . . . der Geschichtswissenschaft zu"41. Bei der forschungsgeschichtlichen Untersuchung des geschichtswissenschaftlichen Befundes kommt er aber zu dem Ergebnis, der Auswanderungsbericht der Getica sei mündliche gotische Tradition und folgert: „In Anbetracht dessen, daß die Glaubwürdigkeit dieser Art Quellen sehr verschieden beurteilt wird, scheint mit diesem Nachweis nicht viel gewonnen zu sein. Wenn eine skandinavische Urheimat der Goten von der Geschichtswissenschaft nur durch dieses Zeugnis gestützt werden kann, dann ist sie dazu verurteilt, nach Belieben angezweifelt werden zu können"42. Solange keine Anstrengungen gemacht worden sind, die Getica quellenkritisch zu durchleuchten, muß die Lage in der Tat so beurteilt werden. Tatsächlich ist Wagner in dieser Hinsicht weit hinter Mommsen zurückgeblieben. Uber den Anteil des Jordanes an seinen Getica hat er nur einen Forschungsbericht geliefert43. Von Ablabius meint er, er habe 37 N.Wagner, a.a.O. 119. 88
39 40 41 42 48
Auch Wagner bemerkte die Schwächen der Argumente Oxenstiernas für die Urheimat der Goten in Västergötland; vgl. N . Wagner, a . a . O . 111 f. bes. 112. N.Wagner, a . a . O . 119. N.Wagner, a . a . O . 138 f. N. Wagner, a. a. O. 139. N . Wagner, a. a. O. 155. N. Wagner, a. a. O. 57 ff.
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Spuren der Gedankengänge Kossinnas
ein Werk verfaßt, das die Goten zumindest erwähnt habe44. So bleibt die Frage, was Ablabius, Cassiodor oder Jordanes zuzuschreiben sei, ganz ungeklärt, ja wird im Grunde gar nicht richtig berührt. In dieser Situation greift er zu den Völkernamen als der scheinbar einzig brauchbaren Quelle45. „Mit der . . . feststehenden Dreiheit von Gautgoten, Ostgoten und Greotingen sind die auf dem Festland vergesellschaftet erscheinenden Namen der Goten, Ostgoten und Greutingen auch für Skandinavien in derselben engen Verbindung belegt. Demnach saßen Abteilungen des gleichen Volkes beiderseits der Ostsee"4*. Wagner erkennt, daß die antiken Quellen den Eindruck erwecken könnten, die Germanenzüge seien fast ausschließlich vom Norden nach dem Süden gegangen. Im Falle der Goten sei die Situation jedoch klarer als bei anderen germanischen Stämmen. Der in den Getica erhaltene Auswanderungbericht bezeuge, daß die Goten von Skandinavien ausgefahren seien47. Obwohl in der Forschung die Ansichten über die Glaubwürdigkeit der Wandersage auseinander gingen, erscheine sie vor dem Hintergrund der Namen gotischer Stämme auf Scandza als durchaus glaubhaft. „Skandinavien ist also die Urheimat der Goten"49. Ganz gleich, ob dies Ergebnis richtig oder falsch ist, Wagners Arbeit ist methodisch gesehen zum großen Teil ein sehr wesentlicher Schritt nach vorn. Wo liegt sein Fehler? Seine Arbeit ist weite Strecken lang ein Referat der Meinungen anderer und seine Auffassung ergibt sich oft letztlich aus diesen Meinungen, deren methodologische Grundvoraussetzungen er nicht immer sieht. Das ist e i n Fehler; der andere: Er hätte nicht nur referierend, sondern vor allen Dingen quellenkritisch vorgehen sollen — notfalls ohne Rücksicht auf die Meinungen der anderen.
44 45 46 47 48
N. N. N. N. N.
Wagner, Wagner, Wagner, Wagner, Wagner,
a. a. a. a. a.
a. a. a. a. a.
O. O. o. o. o.
62. 155. 212. 213. 214.
IV. Probleme der archäologischen Quellen „Bei der Analyse der Kossinna'schen Beispiele aus geschichtlicher und frühgesdiiditlidier Zeit — die angeblich alle gesichert waren und die Gleichsetzung von Kultur und Volk auch in vorgeschichtlicher Zeit beweisen sollten — fiel eines auf: Kein Beispiel war ganz falsch, keines ganz richtig. Teilweise stimmte seine These, teilweise stimmte sie nicht. Kossinnas Anhänger beriefen sich auf die Fälle, die stimmten, und hielten seine These dementsprechend für bewiesen. Kossinnas Gegner beriefen sich auf die Fälle, die nicht stimmten, und verwarfen seine Thesen. Wenn wir aber methodisch weiterkommen wollen, dann dürfen wir uns mit dieser einfachen Feststellung nicht begnügen, dann müssen wir fragen: Warum stimmt Kossinnas Leitsatz in manchen Fällen? Warum stimmt er in anderen Fällen nicht? Wo liegt die Wahrheit?" Hans Jürgen Eggers, 1959.
1. Der bisherige Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten Die geringe Zahl von Schriften zur vorrömisdien Eisenzeit Schwedens, die Kossinna gekannt haben kann, als er im Jahre 1895 erstmals den Gedanken aussprach, die Goten seien über See aus Skandinavien eingewandert, läßt sich einigermaßen übersehen 1 . Nicht sehr viel mehr 1
H. Hildebrand, Svenska folket under hednatiden (1866, 2 1872) = Das heidnische Zeitalter in Schweden, nach der 2. sdiwed. Aufl. übers, von J . Mestorf (1873); ders., Studier i jämförande fornforskning I : Bidrag tili spännets historia, in: Ant. tidskr. f. Sverige 4 (1872—80) 15—263, bes. 132 ff. 161 ff.; O. Montelius, Om lifvet i Sverige under hednatiden (1873, 2 1878) = La Suède préhistorique (1874) = Die Kultur Schwedens in vorchristlicher Zeit, nach der 2. schwed. Aufl. übers, von C. Appel (1885) hier bes. 88—93; ders., Sveriges Forntid (1874); H. Hildebrand, Jernâlderen pâ Gotland I, in: M&nadsblad 7 (1878) 702—710. 733—757; W.Berg, Gravundersökningar vid Tormansbol och Slottsbrosundet, in: Manadsblad 9 (1880) 65—74; F. Nordin, Fornlemningar i Tingstäde socken p i Gotland, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 5 (1881—83) 109—136; O. Montelius, Hvad vi veta om Västergötland under hednatiden, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 5 (1881—83) 231—248, bes. 241 ff.; I. Undset, Das erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa (1882) bes. 469 ff.; O. Montelius, „Brandpletter" i östergötland, in: Mänadsblad 11 (1882) 181—185; ders., Om vara förfäders invandring tili Norden, in:
222
Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
kann er, ohne ausgedehntere Museumsreisen gemacht zu haben, von den Bodenfunden des Gebiets südlich der Ostsee gewußt haben, das in seiner Vorstellung als Wohnsitz der Goten nach ihrer vermuteten Auswanderung in Betracht kommt 1 . Er verwandte deswegen auch zunächst keinerlei a r c h ä o l o g i s c h e Argumente für seine Wanderungshypothese und verzichtete darauf, die Gotenheimat in Schweden genauer zu lokalisieren. Im Jahre 1905 — nach seinen ersten großen Reisen® — sah er die Situation aber bereits anders. Erstmals erwähnte er nunmehr die Skelettbestattung als Kriterium für die festländischen Goten und meinte, kurz vor Christi Geburt habe das Körpergrab „auf Gotland und anscheinend in ganz Schweden überhaupt" geherrscht4. Er glaubte ferner zu wissen, daß
2
s 4
Nordisk tidskr. 1884, 21—36 = Über die Einwanderung unserer Vorfahren in den Norden, in: Archiv f. Anthropol. 17 (1888) 151—160; F. Nordin, Fornlemningar i Vestkinde socken pa Gotland, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 6 (1885—87) 1—26. 113 ff.; O. Montelius, Den förhistoriska fornforskningen i Sverige under Iren 1882—1884, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 6 (1885—87) 76 ff.; ders., Runornas Uder i Norden, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 6 (1885—87) 236—270, bes. 245 ff. = Das Alter der Runenschrift im Norden, in: Archiv f. Anthropol. 18 (1889) 151—170; F. Nordin, Graffältet vid Bläsnungs i Vestkinde socken p l Gotland, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 7 (1888—90) 87—121; F. J. Bashrendtz, Fynd fran den äldre jernâldern i Kalmar län, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 7 (1888—90) 215—237; O. Montelius, öfversigt öfver den nordiska forntidens perioder intill kristendoms införande, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 8 (1891—93) 126—163, bes. 140 ff.; ders., De förhistoriska perioder i Skandinavien, in: Manadsblad 22 (1893) Beilage S. 1—16; ders., Les temps préhistoriques en Suède et dans les autres pays skandinaves (1895) bes. 140 ff.; ders., Den nordiska jernâlderns kronologi I, in: Svenska fornminnesför. tidskr. 9 (1894—96) 155 ff. [1895 erschienen]. O. Tisdiler, Ostpreußisdie Gräberfelder, in: Schriften d. phys.-oekonom. Ges. zu Königsberg 19 (1878) 159—169; A.Voss [Hrg.], Katalog der Ausstellung prähist. u. anthropol. Funde Deutschlands zu Berlin vom 5.—21. August 1880 (1880) bes. 393ff. (Einleitung zu Ostpreußen von O.Tisdiler); O. Tischler, Über die Bedeutung der La Tèneperiode für Mitteleuropa, in: Schriften d. phys.-oekonom. Ges. zu Königsberg 23 (1882), Sitzungsber. 18—23; I.Undset, Das erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa (1882); A.Kühne, Die ältesten Metallaltertümer Pommerns, in: Balt. Studien 33 (1883) 291— 359 bes. 344 ff.; A. Lissauer, Die prähistorischen Denkmäler d. Provinz Westpreußen u. d. angrenzenden Gebiete (1887); O.Tisdiler, Ostpreußische Grabhügel I, in: Schriften d. phys.-oekonom. Ges. zu Königsberg 27 (1886) 113—178, bes. 176; ders., Ostpreußisdie Grabhügel II, in: Schriften d. phys.oekonom. Ges. zu Königsberg 29 (1888) 106—135, bes. 133 f.; H.Schumann, Urnenfriedhöfe in Pommern, in: Balt. Studien 39 (1889) 81—255; S.Anger, Das Gräberfeld zu Rondsen im Kreise Graudenz (1890); R. Dorr, Übersicht über die prähist. Funde im Stadt- und Landkreise Elbing (1893—94) bes. 29 ff. Vgl. oben S. 150. G. Kossinna, Zeitschr. f. Ethnol. 34 (1905) 391 f.
Probleme der archäologischen Quellen
223
derselbe Grabritus auch auf Seeland, Falster, Laaland und in Nordjütland vorkomme, kannte aber nur wenige Beispiele für diese Bestattungsart auf dem Kontinent außerhalb von Ost- und Westpreußen und Hinterpommern einschließlich der Inseln Wollin, Usedom und Rügen. Damals waren aber die Probleme der Chronologie erst unvollkommen gelöst; Kossinna datierte zahlreiche Körpergräber in die Zeit um Christi Geburt, von denen man jetzt weiß, daß sie viel jünger sind. Körpergräber waren daher für ihn das Haupkriterium für die Einwanderung der Goten. Er versuchte aber deren Siedlungsgebiet noch sdiärfer durch den „ostgermanischen" Mäander zu fassen. Dieser sei vom westgermanischen Rädchenmäander klar zu trennen. Im übrigen würden Gefäße mit „ostgermanischem Mäander von „ostgermanischen" Fibeln begleitet5. Entscheidendes Kriterium blieb für ihn dennoch die Bestattungsweise, da „ostgermanische" Mäandergefäße und Fibeln auch außerhalb des Gebiets der Skelettgräber in Brandgruben und Urnengräbern vorkämen und dort zwar auch „Ostgermanen", aber keine Goten anzeigen könnten. Die Situation war Kossinnas Ansicht nach nun geklärt: die Goten mußten aus Gotland ins Unterweichselland eingewandert sein*. Bei dieser Annahme beließ es auch E. Blume7. Er blieb auch dabei, daß Körpergräber gotisch seien und betonte, daß Gräberfelder, auf denen sich gleichzeitig auch andere Bestattungsarten fänden, auf „ethnographische Mischung zu deuten scheinen"8. Für das Weichselmündungsgebiet und Hinterpommern konnte er einige Typen von Metallgegenständen als kennzeichnend nachweisen, die jedoch nicht nur in Körpergräbern vorkommen, also — so, wie er es sah — nicht ausschließlich gotisch sein konnten. In der ethnischen Gliederung versuchte Blume, sich an den Bericht bei Jordanes zu halten (Jordanes Getica IV 25—27). Danach wären die Goten nach ihrer Landung zunädist auf die Ulmerugi gestoßen. Diesen Stamm fand Blume in den Gräberfeldern des Weichseldeltas und Hinterpommerns aus der vorrömischen Eisenzeit9. Im Weichseldelta ließen sidi nunmehr die Goten nieder, während den Rugiern Hinterpommern verblieb10. Der Kampf zwischen Goten und Ulmerugiern fand seiner Ansidit nach in Verbindung mit der Landung der Goten statt. Das Weichsel5 9 7
8
9 10
G. Kossinna, a . a . O . 392 ff. G. Kossinna, a. a. O. 391 f. E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 1 (1912) 154; ders., Mannus 4 (1912) 138 f. E.Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 1 (1912) 157. E.Blume, a . a . O . 155. E. Blume, a a. O. 154 f.
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Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
mündungsgebiet mußte Gothiscandza sein. Die von den Goten nach den Ulmerugiern besiegten Wandalen fand Blume im südwestlichen Ostpreußen11. Gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts glaubte er eine gotische Kolonisation in Ostpreußen, insbesondere im Samland, feststellen zu können12, und im zweiten Jahrhundert vollzog sich deswegen seiner Ansicht nach eine deutliche kulturelle Aufspaltung. Da Jordanes die Gepiden auf einer von Untiefen der Weichsel umgebenen Insel siedeln ließ (Jordanes Getica X V I I 96), mußte es nach Blume dieser Stamm gewesen sein, der damals das Weichselmündungsgebiet besaß, während die Goten selbst nunmehr in Ostpreußen siedelten13. Die nach Jordanes von den Gepiden besiegten Burgunden (Jordanes Getica X V I I 97) sah Blume in der Brandgräberkultur an der Weichsel von Graudenz an südwärts14. Im Jahre 1913 nahm O. Almgren zu Blumes ethnischer Gliederung Stellung. Er meinte, die Verhältnisse seien wohl in mancher Hinsicht verwickelter gewesen, als Blume sie dargestellt habe, doch machten dessen „besonnene Ausführungen den Eindruck, die nächstliegenden und vernünftigsten Sdilüsse zu bringen"15. Größte Schwierigkeiten mache lediglich die von Kossinna entlehnte Annahme einer Übersiedlung der Goten aus G o 11 a n d. Körpergräber setzten in Gotland und im übrigen Schweden nicht früher als in Westpreußen ein und dazu komme, daß um Christi Geburt auf Gotland keine Abnahme der Bevölkerung feststellbar sei; im Gegenteil, die ältere Kaiserzeit sei auf der Insel besonders fundreich. Vier Jahre später kam Almgren nochmals auf dasselbe Problem zurück, betonte abermals die Unmöglichkeit einer Auswanderung aus Gotland um Christi Geburt und sah keinen anderen Ausweg als den, die „Weichselgoten der Hauptsache nach . . . aus dem benachbarten südschwedischen Festlande, Götaland, herzuleiten"16. Dort seien die Verhältnisse so lückenhaft bekannt, daß bis auf weiteres noch Platz für allerhand Annahmen sei. Im übrigen stellte Almgren bei einer Kartierung des ost- und westpreußischen Fundstoffs fest, daß sich entgegen Blumes Angaben in Ostpreußen kaum Körpergräber fänden. Er unterließ es allerdings auszusprechen, was 11
E. Blume, a. a. O. 156.
12
E. Blume, a. a. O. 161 f. 173.
15
E.Blume, a . a . O . 168.
14
E. Blume, a. a. O. 167 ff.
. O. Almgren, Rezension von E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 1 (1912), in: Mannus 5 (1913) 147—151, bes. 150. 18 O. Almgren, Rezension von E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 2 (1915), in: Mannus 8 (1917) 287—292, bes. 290ff. 15
Probleme der archäologischen Quellen
225
daraus zu folgern gewesen wäre: Die Annahme einer gotischen Kolonisation dieses Gebiets mußte entfallen". Auf Almgrens Besprechung hin meinte Kossinna im Jahre 1914, die Masse der Goten sei aus Gotland gekommen, doch sei ein Teil davon auch aus anderen Gegenden Südschwedens eingewandert 18 . Fünf Jahre später hielt er es für wahrscheinlich, daß der führende Stamm der Goten von der Insel Gotland kam, meinte jedoch, es hätten sich ihnen auch festländische Stämme, „insonderheit die Ost- und Westgauten im heutigen Götalande", angeschlossen". Weitere sechs Jahre später betonte er, Siedlungsänderungen seien überhaupt nur im Götaland, nicht aber auf Gotland feststellbar. „Audi die Ubereinstimmung der Begräbnisarten erweist nur Götaland, nicht audi Gotland, als Gotenheimat" 20 . Die „eigentlichen Goten" setzte er allerdings trotz Almgrens Korrektur weiterhin mit Blume am Frischen Haff und im Samland an". Es ist sichtbar, daß Kossinna keine neuen archäologischen Argumente zu Gebote standen. Offensichtlich war er lediglich bestrebt, seine Meinung Schritt für Schritt der Almgrens anzupassen, dessen Autorität in allen Angelegenheiten Skandinaviens er schätzte und deswegen nach und nach anerkannte. Im Jahre 1923 befaßte sich dann B. Nerman — ein Schüler Almgrens — als erster ausführlicher mit der Frage des Nachweises der ursprünglichen Heimat der Goten. Er betonte die Kulturunterschiede zwischen Gotland und dem Weichselmündungsgebiet, verglich die Kultur Östergötlands mit der Westpreußens und folgerte: „Die archäologischen Verhältnisse sprechen also deutlich dafür, daß die Goten aus östergötland stammen"". Aber auch in Västergötland stoße man auf kein Hindernis, eine Wanderung von dorther ins Weichselland anzunehmen". Das gelte 17
O. Almgren, a. a. O. 289. — G. Kossinna, Ursprung u. Verbreitung d. Germanen in vor- und frühgesch. Zeit (1926) 8 und (21928, »1936) 5 hielt an der Gliederung Blumes fest. 18 G. Kossinna, Die dt. Vorgesdi. (21914, 3 1921) 145 f. — Polemik gegen Almgren, a. a. O. 145 Anm. 1. 19 G. Kossinna, Das Weichselland ein uralter Heimatboden d. Germanen (1919) 19 f. 80 G. Kossinna, Die dt. Vorgesdi. (41925) 145 Anm. 1, ebenso («1934) 145 Anm. 1. Die alte Anm. der 2. u. 3. Auflage, die gegen Almgren polemisierte, ist nun durdi eine Anm. ausgewechselt, die Almgren bestätigt. Kossinnas Text an dieser Stelle sonst fast unverändert. 21 G. Kossinna, Ursprung und Verbreitung d. Germanen in vor- und frühgesch. Zeit (1926) 8 und (21928, »1936) 5. 22 B. Nerman, Goternas äldsta hem, in: Fornvännen 18 (1923) 165—182, bes. 179. — In deutscher Ubersetzung als Kap. IV in: B. Nerman, Die Herkunft u. d. frühesten Auswanderungen d. Germanen (1924) 43—58. — Vgl. auch: O. Almgren u. B. Nerman, Die ältere Eisenzeit Gotlands (1914—1923) 140 f. 2 » B.Nerman, a . a . O . 180. 15 Hadimann, Goten und Skandinavien
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Der Beitrag der Ardiäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
audi für andere schwedische Landschaften, doch nicht für öland, wo — wie auf Gotland — eine abweichende Grabsitte geherrscht habe. Die Grabsitten gäben übrigens überhaupt den einzigen Anhalt für Vergleiche. Die Beigaben lieferten keine Hilfe, und das liege daran, daß das Fundgut in öster- und Västergötland und in den benachbarten Landschaften vergleichsweise ärmlich sei. Der Fundstoff des unteren Weichselgebiets sei zwar reicher, doch bestehe er größtenteils aus Typen, die weit über Nordund Mitteleuropa verbreitet seien84. R. Schindler stellte 1940 fest, Blume habe sich bemüht, „seine vorgeschichtlichen Ergebnisse mit den überlieferten historischen Quellen in Übereinstimmung zu bringen, wobei er sich jedoch, . . . , des öfteren gerade von der historischen Überlieferung irreführen ließ" 25 . Er sah sich daher veranlaßt, die Lokalisierung der Goten und Gepiden zu verändern und die einen im östlichen Hinterpommern und westlichen Westpreußen und die anderen im östlichen Westpreußen und im westlichen Ostpreußen anzusetzen, und betonte im übrigen, die stilistischen und strukturellen Unterschiede zwischen der voll ausgeprägten Spätlat^ne- und der spärlichen frühen Kaiserzeittonware sprächen zwar nicht für eine lückenlos kontinuierliche Entwicklung der Bevölkerung26, doch rechnete er mit einer unverändert seßhaft bleibenden „Grundbevölkerung". Selbst wenn man im Ubergang von der Brand- zur Körperbestattung eine Folge allgemeiner, zeitbedingter Änderungen der religiösen Anschauung sähe, so bleibe noch immer das Aufhören der Waffenbeigaben nach Christi Geburt. Ein anderer Unterschied komme hinzu: Bei den Weichselgermanen der Spätlat^nezeit hätten zweifellos die Männer den Vorrang im Kultur- und Gesellschaftsleben gehabt. Nach der Zeitwende sei es genau umgekehrt, denn vorher lieferten die Friedhöfe meist reiche Männer-, danach fast nur reichere Frauengräber. Diese Unterschiede, meinte Schindler, sprächen insbesondere gegen die von W. La Baume und H . J. Eggers hervorgehobene Siedlungskontinuität um Christi Geburt, welche beide zur Annahme veranlaßt hatte, mit der Einwanderung der Goten — wenn überhaupt — dann zu Beginn der Spätlat^nezeit zu rechnen27. In der Übernahme der alten, von den Burgunden verlassenen Siedlungs- und Bestattungsplätze durch ankommende Neusiedler sah Schindler einen aus geographischen 24 25
28 27
B.Nerman, a . a . O . 181. R. Schindler, Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden im unteren Weidiselraum auf Grund d. Tongefäße (1940) 4. R. Schindler, a. a. O. 97 ff., bes. 103. W. La Baume, Die Goten in Ostdeutschland, in: Ostdeutsche Monatshefte 1920, 244; ders., Urgesdi. d. Ostgermanen (1934) 88 Anm. 1; ders., Ostgerm. Frühzeit (1959) 12 unverändert; H . J. Eggers, Das Gräberfeld von Langenhagen, Kr. Saatzig, in: Pommersdie Monatsblätter 50 (1936) 135 ff.
Probleme der archäologischen Quellen
227
Gesichtspunkten sich zwangsläufig einstellenden Tatbestand und das deswegen, weil schon die Burgunden die „Verkehrs- und siedlungsmäßig günstigsten Geländepunkte" gewählt hatten, die nun die neuankommenden Goten kaum verschmähen konnten. Im übrigen war Schindler geneigt, aus dem Beibehalten der alten Siedlungsstellen Anzeichen zu entnehmen, daß „die zwischen Burgunden — Rugiern und Goten stattgefundenen Auseinandersetzungen nicht so feindselig waren, wie man nach dem Bericht des Jordanis annehmen möchte"28. Gegen Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts könne man eine „grundlegende Veränderung der Besiedlungslage" feststellen2'. Nun sei der zuvor gemiedene südliche Höhenrücken Pomerellens besetzt und das westliche Ostpreußen in Besitz genommen worden. „ . . . Das gewaltige Anschwellen der Siedlungsplätze und Fundzahlen [sei] auf einen entsprechenden Bevölkerungsnachschub von Norden zurückzuführen . . . " . Für diese Vorgänge ergäbe die gotische Stammessage eine brauchbare Erklärung, nach der die Gepiden „als letzte übers Meer kamen und sich im Weichselland festsetzten. . . . Bei der neuerlichen Landnahme mußten . . . die Goten . . . im Weichselmündungsgebiet an Raum einbüßen. . . . Sie rückten auf dem von ihnen eingenommenen Raum zusammen und füllen, nach Westen vorrückend, die freistehenden Siedlungslücken auf . . . Die Auseinandersetzung über die Landverteilung zwischen beiden Schwestervölkern dürfte im wesentlichen friedlich gewesen sein" 30 . Die Gepiden besetzten nun das westliche Ostpreußen. Angesichts solcher Verhältnisse fragte Schindler, ob denn Goten und Gepiden überhaupt kulturell voneinander zu unterscheiden seien. Er stellte fest, einzelne Sachgüter ergäben nichts oder nicht viel; das gelte sogar für die Keramik. Immerhin lasse sich erkennen, daß Trichterurnen, verzierte Zweihenkeltöpfe, pokalförmige Fußgefäße und vasenförmige Beigefäße mehr westlich, dagegen verzierte Dreihenkeltöpfe und späte Schalenurnen vorwiegender östlich orientiert seien. Im übrigen falle im Osten das „massenhafte Auftreten" später Fibeln mit zweilappiger Rollenkappe auf31, die man daher „am besten als Gepidenfibel" bezeichnen könne. Vom beginnenden dritten Jahrhundert ab werde dann das Land an der unteren Weichsel, das die Goten bislang innehatten, sichtlich entleert. Das passe gut zu dem mit dem Jahre 214 erstmals bezeugten Auftreten 28
R. Schindler, Die Besiedlungsgesdi. d. Goten u. Gepiden (1940) 104.
2i
R. Schindler, a . a . O . 105.
30
R. Schindler, a. a. O. 105 f.
31
O. Almgren, Studien über nordeuropäische Fibelformen (1897) 17 f. 141 f. Taf.2, 39—41.
15»
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Der Beitrag der Ardiäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
der Goten am Schwarzen Meer88. Die Siedlungsdichte zwischen Weichsel und Passarge bleibe jedoch erhalten, denn die Gepiden seien erst gegen Mitte des vierten Jahrhunderts abgezogen. Alle diese Ansichten, die sich hier bei Schindler zeigen, sind das Ergebnis eines ziemlich willkürlichen — teils einfallsreichen — Spiels mit Möglichkeiten, denen man ebenso einleuchtende, gerade entgegengesetzte Thesen hätte gegenüberstellen können, womit aber ebensoviel oder -wenig gewonnen gewesen wäre. Zur Herkunftsfrage der Goten und Gepiden vermöge er — betonte Schindler — nichts Neues zu sagen". Er lasse das gelten, was Nerman dazu beigetragen habe. Audi G. Müller-Kuales wußte im Jahre 1940 dazu nichts beizutragen, betonte aber als Tatsache, daß die Goten aus Skandinavien in das Weichselmündungsgebiet eingewandert seien. Götaland sei als Heimat „sehr wahrscheinlich anzunehmen" 54 . Bis zum Jahre 1940 war die Frage des archäologischen Nachweises der Einwanderung der Goten ins Weichselland und deren Auswanderung aus Skandinavien um Christi Geburt mehr durch allgemein gehaltene, kombinatorische Überlegungen, als durch Anwendung der Methoden, die Kossinna entwickelt hatte, beurteilt worden. Für Almgren und Nerman war es entscheidend, daß die Goten nicht aus Gotland eingewandert sein konnten, weil beträchtliche Unterschiede in den Bestattungssitten zwischen der Insel und dem Weichselland bestanden und weil das Fundgut der Insel gerade zur Zeit, in der die Wanderung erfolgt sein sollte, sich vermehrte, anstatt abzunehmen, wie zu erwarten gewesen wäre. Dagegen wiesen die Bestattungssitten in Götaland solche Unterschiede gegenüber dem Weichselmündungsgebiet n i c h t auf, also konnten die Goten von dorther eingewandert sein, wenn schon eine Einwanderung durch andere als archäologische Quellen postuliert werden mußte. Wenn es notwendig wäre, eben diese Wanderung auf Grund der literarischen Überlieferungen vorauszusetzen, dann wäre sie — Schindlers Ansicht nach — weniger wegen des Aufkommens der Körpergrabsitte als durch das Verschwinden der Sitte, Waffen beizugeben, und durch das Aufkommen bevorzugt ausgestatteter Frauengräber nachzuweisen. Sowohl in Almgrens und Nermans als auch in Schindlers Rechnung spielte die Voraussetzung, die Goten m ü ß t e n gewandert sein, die entscheidende Rolle. Wahrscheinlich hätte S2
35 84
R. Schindler, Die Besiedlungsgesdi. d. Goten u. Gepiden (1940) 110. Gemeint scheinen angebliche Kämpfe Caracallas gegen Goten zu sein, von denen Script. Hist. Aug. XIII. Aelii Spartiani Vita Antonini Carac. 10,5 f. berichtet. Zu deren Glaubwürdigkeit vgl. aber: W. Reusch, Der historische Wert der Caracalla-vita (1931) 35. R.Schindler, a . a . O . 116. G. Müller-Kuales, Die Goten, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 3 (1940) 1149.
Probleme der archäologischen Quellen
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keiner dieser Gelehrten vom archäologischen Nachweis einer Wanderung gesprochen, wenn Jordanes nicht von ihr berichtet und wenn Kossinna sie nidit verlangt hätte. Die Argumentation in der Zeit zwischen Kossinnas erster Behauptung, die Goten seien aus Gotland eingewandert, bis zu Schindlers Vorstellung, die Goten seien um Christi Geburt ins Unterweichselgebiet, die Gepiden dann später vornehmlich ins östliche West- und westliche Ostpreußen eingewandert, litt hauptsächlich darunter, daß das Postulat einer Wanderung nicht aus dem archäologischen Fundgut, auch nicht aus historischen oder philologischen Überlegungen, sondern einzig aus dem Bericht des Jordanes und einigen oberflächlichen Namenvergleichen abgeleitet wurde. Natürlich war es für alle wirklich ernsthaften Untersuchungen nicht minder hinderlich, daß alle Erwägungen zum Problem der Wanderung ohne ausreichende Kenntnis des g e s a m t e n Fundstoffs angestellt worden waren. Kossinna konnte nach Lage des Forschungs- und Bearbeitungsstandes weder West- und Ostpreußen noch Südschweden genau kennen. Blume kannte zwar das nordöstliche Mitteleuropa für seine Zeit gut, doch Schweden nicht genau. Almgren war mit dem gotländischen und auch mit dem festlandsschwedischen Fundstoff seiner Zeit ausgezeichnet vertraut, ihm war auch das mitteleuropäische Material bekannt, doch vornehmlich nach Blumes Vorarbeiten. Nerman kannte zwar das schwedische Fundgut vollständig, doch die Funde des Weichselraumes nicht genau. Umgekehrt wußten La Baume und Schindler im Weichselland gut Bescheid; beide hatten sich bislang aber nicht eingehender mit Schweden beschäftigt. Für alle Beteiligten war der Nachweis der Wanderung letzlich ein Randproblem: Die Tatsache der Einwanderung war von Kossinna und seinen Schülern behauptet und durch die literarischen Quellen belegt; die Archäologie brauchte da nur noch zu illustrieren, was man ohnehin schon wußte. Es muß deswegen unbestritten als bedeutende Wendung gelten, wenn E. C. G. Graf Oxenstierna Anfang der vierziger Jahre das eigentliche Problem der Gotenwanderung zu untersuchen begann35. Seine Ansätze waren verheißungsvoll. Wie ein entscheidender Fortschritt wirkt es, wenn er die literarischen „Zeugnisse einer gotischen Urheimat in Skandinavien — die schriftliche Überlieferung der Sage durch Jordanis und die Übereinstimmung der Namenformen Götar und Goten — " als Grundlage seiner Untersuchung zurückwies. „Die Saga könnte ein Märchen sein, und gegen die Namensformen könnten sprachgesetzliche Einwände erhoben werden"". E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945). Vgl. dazu ders., Die Heimat der Goten, in: Forschungen u. Fortschritte 17 (1941) 299—301. " E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. 0 . 1 .
55
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Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
Alsbald beging er jedoch Inkonsequenzen. Er ging vom weichselländischen Fundstoff des ersten nachchristlichen Jahrhunderts aus, weil antike Geographen angegeben hätten, die Goten hätten d o r t und spätestens von d i e s e r Z e i t an gesiedelt. Er nahm den terminus ante quem für die Anwesenheit der Goten auf dem Kontinent als terminus quo für deren mögliche Einwanderung und suchte deswegen die Goten in den skandinavischen Funden des letzten vorchristlichen Jahrhunderts. Auf diese Weise begrenzte er sein Thema in einer Weise, die er kurz vorher als falschen Ansatz zurückgewiesen hatte. Er war von der Richtigkeit der räumlichen und zeitlichen Abgrenzung überzeugt und meinte deswegen, sie nicht näher begründen zu brauchen. Ohne es selbst richtig zu bemerken, bezog er damit alle die alten Voraussetzungen, die er kurz vorher aus methodischen Gründen ausklammern wollte, wieder in seine Untersuchungen ein. Auf soldie Weise begab er sich von vornherein der ursprünglich vorhandenen Chance, sein Problem zu lösen. Er lief nun in dreifachem Sinne Gefahr, ein pures Scheinproblem zu verfolgen: Erstens braucht ja die Wanderung — wie er selbst vorher eingeräumt hatte — nicht unbedingt stattgefunden zu haben. Zweitens hätte sie, falls sie — was ja nicht ausgeschlossen ist — historisch sein sollte, zu einer anderen als der angenommenen Zeit erfolgt sein können. Drittens hätte sie aber auch von Skandinavien nach einer anderen Gegend des Weichselraums geführt haben können, da die antiken Autoritäten die gotischen Wohnsitze auf dem Kontinent ja gar nicht so eindeutig umgrenzten. Aber alsbald begrenzte Oxenstierna die Lösungsmöglichkeiten noch weiter. Er zog auch die Gleidiung Götar-Goten, die er anfangs vorsorglich ausgeklammert hatte, wieder in seine Betrachtungen ein und meinte, die Goten seien „zunächst im heutigen Götaland" zu erwarten, und zwar in Västergötland, östergötland und auf der Insel Gotland. „Vorsichtshalber" zog er auch die Nachbarlandschaften mit in Betracht. Gotland sei allerdings schon von Almgren und Nerman untersucht und als mögliche Heimat der Goten ausgeschieden worden. Er wandte sich nun zunächst Väster- und östergötland zu und kam zu einer Reihe von Ergebnissen, die bis dahin immerhin nicht so klar erkennbar gewesen waren, wie er sie nunmehr darlegen konnte. Man kann sie deswegen nicht einfach beiseite schieben: In Västergötland seien überwiegend Brandschüttungsgräber, in östergötland vornehmlich Brandgrubengräber nachweisbar. Die Gräber seien im Westen einheitlich angelegt und hätten keine Oberbauten. Im Osten gäbe es auf jedem Gräberfeld mindestens einzelne Steinhügel, Steinpflaster, Erdhügel, Steinkreise oder Steinsetzungen über dem Grab. Die Variationsbreite der Grabsitten sei in östergötland auch sonst größer (Brandgruben ohne Brandschutt, Brandschüttungsgräber ohne Leichen-
Probleme der archäologischen Quellen
231
brand, Opfergruben etc.). Västergötland wirke ärmer, aber strenger, habe fast niemals Waffenbeigaben, die in östergötland häufig seien. Dafür seien Frauenschmuck und Arbeitsgeräte in Västergötland reichlicher. Die Kultur der Brandschüttungsgräber Västergötlands ende spätestens um Christi Geburt; in östergötland lebe sie -weiter, und es käme nun auch die Körperbestattung vor". Oxenstierna untersuchte danadi den Weichselraum, stellte die seit Blume und Schindler bekannten Kulturveränderungen um Christi Geburt fest und wandte sidi danach der Frage der Methodik des Nachweises der Wanderung zu. Er meinte, die im Weichselraum um die Zeitwende faßbaren neuen Kulturerscheinungen müßten in einem bestimmten Gebiet Schwedens im Fundstoff der vorrömisdien Zeit wieder gefunden werden, wenn die Wanderung der Goten als bewiesen gelten sollte38. Er verglich nun das Weichselland mit Götaland und dessen Nachbarlandschaften und kam zu einer Anzahl von Ergebnissen, die teils lange bekannt, teils aber bislang nicht so deutlich sichtbar gewesen waren. Körpergräber kämen in der Zeit v o r Christi Geburt in Schweden fast gar nicht vor, könnten also nicht von dort hergeleitet werden. Die östergötländische Kultur sdieide als Vergleidhsobjekt wegen der vielen Uberbauten über Grabanlagen, die schwedische Westküste und Dänemark wegen der dort vorherrschenden Urnengrabsitte aus. N u r in Västergötland lasse sich feststellen, daß die Gräberfelder um Christi Geburt abbrechen; nur in Västergötland und an der Westküste käme eine mit dem Weichselland verwandte Keramik vor; im gleichen Raum seien Waffengräber fast nicht vertreten. Reicher Bronzeschmuck im Weichselland könne gut aus Skandinavien hergeleitet werden, „wo schon in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung viel Bronzeschmuck hergestellt wurde". Oxenstierna folgerte daraus: „Der Vergleich weist einzig auf Västergötland als Heimatgebiet der Goten. Somit finden wir das eine der drei gotischen Gebiete Schwedens heraus, während die beiden anderen, Östergötland und Gotland ein klar negatives Ergebnis bringen"". Aber seine Prämisse, die im Weichselraum um Christi Geburt faßbare Kultur müsse in Vorformen in Schweden nachweisbar sein, wenn die Einwanderung der Goten als bewiesen gelten sollte, war stillschweigend preisgegeben. Die Frage, ob Oxenstiernas methodologischen Ansätze richtig sind, bleibt hier aber besser vorläufig außerhalb der Diskussion. Es ist zweckmäßig, zunächst die Ergebnisse seiner Vergleiche auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Es ist zweifelsohne richtig, daß die Körpergrabsitte in 37 38
39
E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. O. 11 ff., bes. 132. E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. O. 147.
E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. 0.148.
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Der Beitrag der Archäologie zur Erforsdiung der Herkunft der Goten
Schweden in der Zeit unmittelbar vor Christi Geburt keine große Rolle spielte; sie fehlt indes nicht vollkommen 40 . Die wenigen verstreuten Gräber, die bislang nachweisbar sind, stehen — darin ist Oxenstierna aber zuzustimmen — in keinem sichtbaren Zusammenhang zu den Körpergräbern des Weichselraums. Zustimmen muß man Oxenstierna auch darin, daß in Västergötland Überbauten über den Gräbern — ausgenommen „Bautasteine" — fehlen. Was allerdings die weidiselländischen Gräber anbelangt, so ist schwer zu entscheiden, ob oberirdische Anlagen — Grabhügel, Steinsetzungen usw. — dort nicht ursprünglich in größerer Zahl vorhanden waren — insbesondere in der intensiv bewirtschafteten Weichselniederung und dem sie beiderseits begleitenden Hügelland — und größtenteils längst beseitigt worden sind, ohne daß dadurch die tieferliegenden Grabgruben gestört wurden. In abgelegenen Wald- und Heidegebieten gibt es jedenfalls Gräber mit Überbauten, doch sind diese mindestens teilweise sehr jung und gehören — soweit sie jung sind — einer späten Ausbauphase an41. Es könnte also durchaus sein, daß das Weichselland in dieser Hinsicht engere Bindungen an östergötland und auch Gotland hatte, als Oxenstierna nach den Funden sehen wollte; das allerdings für eine Spätzeit. Oxenstiernas Annahme, die Brandgräberkultur Västergötlands breche um Christi Geburt ab, ist sicher n i c h t richtig, wie bereits C.-A. Moberg betont hat 48 und wie auch eine chronologische Analyse des västergötländischen Fundstoffs nachweist43. Sicherlich reicht die Besiedlung dieser Landschaft zumindest weit über das erste nachchristliche Jahrhundert hinaus. Die Zahl gut datierbarer Funde ist allerdings nicht sehr groß, so daß es nicht möglich ist, alle Schwankungen der Siedlungsintensität klar zu erkennen. Sicher ist lediglich, daß im Verlaufe der jüngeren vorrömischen Eisenzeit ein intensiver Landausbau erfolgte und daß ein Besiedlungsoptimum gerade in die Zeit um oder kurz nach Christi Geburt fällt (vgl. unten S. 409 ff.). Eine Abnahme der Siedlungsstärke ist mindestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert nicht sichtbar. 40
41
41
45
Vgl. O. Klindt-Jensen, Foreign Influences in Denmark's Early Iron Age, in: Acta Ardi. 20 (1949) 176 f.; E. Nylin, Die jüngere vorrömisdie Eisenzeit Gotlands (1956) 528. 547 Abb. 307. J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlatenezeit 1 (1919) 231 f.; D. Bohnsack, Die Germanen im Kreise Neidenburg unter Berücksichtigung der neuesten Funde, in: Altpreußen 3 (1938) 67—79; ders., Die Burgunden, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 3 (1940) 1043 f.; R.Schindler, Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden (1940) 108 (Hügelgräber). C.-A. Moberg, Kyrkbadcen i Horns socken före och efter järnalderns tredje period, in: Fornvännen 45 (1950) 73—94. R. Hachmann, Die Chronologie d. jüngeren vorrömisdien Eisenzeit. Studien zum Stand der Forschung im nördlichen Mitteleuropa und in Skandinavien, in: 41. Ber. RGK 1960 (1961) 226.
Probleme der archäologischen Quellen
233
Richtig ist wiederum, daß die Waffenbeigaben in Västergötland nicht zur Regel gehören. Aber auch in östergötland sind Waffen selten und treten wahrscheinlich spät auf 44 . Das gilt im übrigen auch für ganz Dänemark und Nordwestdeutschland 4 *. Die Ausbreitung der Sitte, dem Kriegergrabe Waffen beizugeben, erfolgte offenbar aus dem östlichen Germanentum der Spätlat^nezeit heraus. Sie trat im Weichselraum nicht sichtlich später auf als in Schlesien und Südpolen, erreichte Nordwestdeutschland, Dänemark und Skandinavien vor dem Zeitraum, in dem sie im Weichselraum bereits wieder aufgegeben wird. Die Ursache für die späte Aufnahme dieser Sitte im Norden und Nordwesten steht gewiß nicht mit dem Anlaß zur Aufgabe der Waffengrabsitte im Weichselgebiet im Zusammenhang. Richtig ist auch, wenn Oxenstierna betonte, in ganz Skandinavien seien in der vorrömischen Eisenzeit Bronzeschmucksachen verhältnismäßig häufig, doch ist das Aufkommen von Bronzeschmuck auf dem Kontinent eine gemeinmitteleuropäische Erscheinung, wie schon Schindler betonte 4 ', und nicht vom Norden beeinflußt. Das scheinbar unvermittelte Auftreten reich ausgestatteter Frauengräber und das Zurücktreten von Männergräbern an Zahl und an Reichtum der Ausstattung hängt übrigens unmittelbar mit dem Aufgeben der Waffengrabsitte zusammen. Reiche Männergräber der vorrömischen Eisenzeit waren eben auf dem Kontinent fast allenthalben vornehmlich Waffengräber und der Reichtum waren einzig die Waffen, und oft kann man ja in dieser Epoche Männergräber überhaupt nur an den beigegebenen Waffen als solche erkennen 47 . Reiche Frauengräber hat es im Weichselland allerdings auch schon in vorrömischer Zeit gegeben. Es bleibt also die Keramik als einzig möglicher Zeuge eines Zusammenhanges zwischen dem Weichselland und dem Norden. Ist dieser vorhanden, dann muß auch östergötland wieder als Heimat der Goten in Betracht gezogen werden, wo Tonware vorkommt, die der västergötländischen verwandt ist. Allerdings fragt es sich dann, ob man auf der Grundlage von Tongefäßähnlichkeiten allein die Herkunft der Goten noch weiter erörtern darf. Der Unterschied zwischen der sorgfältig gearbeiteten, mit schwarzem Überzug versehenen Keramik der Spätlatinezeit 48 und der groben, 44
R. Hachmann, a. a. O. 218 f. R. Hachmann, a . a . O . 125 ff. 4 * R. Schindler, Die Besiedlungsgesdi. d. Goten u. Gepiden (1940) 100. 45
47
Vgl. R. Hachmann, Das Gräberfeld v. Rondsen (Rzqdz), Kr. Graudenz (Grudzi^dz), u. d. Chronologie d. Spätlatenezeit i. östl. Mitteleuropa, in: Ardiaeologia geogr. 2 (1951) 83.
48
Vgl. D. Bohnsack, Die Burgunden i. Ostdeutschland u. Polen (1938) 74 ff.
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Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
schlecht gebrannten frühkaiserzeitlidien Tonware 49 in Pommern und Westpreußen ist evident. Wie weit sich darin die Mitgabe von G r a b keramik in der Spátlaténezeit und von G e b r a u c h s keramik in r der Kaiserzeit spiegelt, läßt sich jedoch mangels ausreichend zahlreicher Siedlungsfunde in der Spatlaténezeit nur unvollkommen übersehen. N u r die Siedlungen der Kaiserzeit zeigen deutlich, daß nach Christi Geburt ein betonter Unterschied zwischen Grab- und Siedlungskeramik nicht mehr bestand 50 . Die Hauptschwierigkeiten, zu einem verbindlichen Urteil über die Beziehungen zwischen südschwedischer Keramik der vorrömischen Eisenzeit und der weichselländischen Tonware des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zu gelangen, liegen aber darin, daß es schwer ist, aus dem västergötländisdien Fundstoff die sicher kaiserzeitlichen Tonwarentypen auszusondern, und daß es noch nicht gelungen ist, im Weichselland die f r ü h e s t kaiserzeitliche Keramik von der jüngeren sicher abzugrenzen. Auch Schindler gelang das nicht, wenngleich er oft Formen an den Anfang seiner Entwidtlungsreihen stellte, die den spatlaténezeitlichen Gefäßen typologisch nahestehen51. N u r die frühestkaiserzeitliche Tonware des Unterweichselgebiets kann aber ja als Vergleichsmaterial mit der Keramik des Götalandes in vorrömischer Zeit in Betracht kommen. Sicher ist, daß die weichselländischen Gefäßformen, die Oxenstierna mit Keramik aus dem Gotaland verglich52, nicht in die Zeit unmittelbar nach Christi Geburt gehören. Es ergibt sich damit, daß auch der Keramikvergleich zwischen dem Weichselland und Südschweden vorläufig nichts liefert, was für eine Auswanderung über die Ostsee spricht. Alles, was Oxenstierna als d i r e k t e Beweise für eine Einwanderung der Goten aus Västergötland ins Weichselland aufführt, ist also für das, was er beweisen zu können meinte, nicht stichhaltig. Aber auch seine „indirekten Beweise durch Kulturumrisse" sind nicht mehr wert 53 , und es muß nachdrücklich darauf verwiesen werden, daß Oxenstiernas Argumente weder für den Nachweis der Einwanderung der Goten ausreichen, noch die Herkunft beträchtlicher Bestandteile des Stammeskörpers aus Skandinavien beweisen können, was ihm — wie Wenskus meinte54 — trotz „zum großen Teil berechtigter Einwände" doch wohl gelungen sei. 4
» Vgl. R. Schindler, Die Besiedlungsgeschichte d. Goten u. Gepiden (1940) 15 ff. Vgl. R. Schindler, a. a. O. 95 f.; E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945) 163 ff. Abb. 133. 134. 137—139. 142. — Es wäre zu prüfen, ob nicht spatlaténe zeitliche Siedlungen „fehlen", weil sie eine Keramik enthalten, die der der Kaiserzeit ähnlich ist oder gar gleicht. » Vgl. R. Schindler, a. a. O. 97 ff. Taf. 21. 22. 52 E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945) 172 Abb. 143. 55 E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. 0 . 1 8 9 . 54 R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 467. 50
Probleme der ardiäologisdien Quellen
235
Es kann nicht bestritten werden, daß Oxenstierna sein Thema einfallsreich abhandelte. Sein Fehler war es, daß er an ein Thema heranging, das durch das „wissenschaftliche Dogma" von der Herkunft der Goten aus S c a n d z a belastet war, und diese Belastung ist ihm zwar vor Beginn seiner Arbeit, nicht aber mehr in deren Verlauf klar gewesen — oder er hat seine Einschränkung, die Sage von der Gotenwanderung „könnte ein Märchen" sein65, von vornherein nur als ein Spiel mit Worten angesehen. Unlängst hat sich J . Kmiecinski noch einmal mit der Frage beschäftigt, wie es zur Entwicklung der wichtigsten Neuerungen der kaiserzeitlichen Kultur an der unteren Weichsel gekommen sein könnte 6 ', und speziell den Ursprung der kaiserzeitlichen Sitte, Körpergräber anzulegen, die Herkunft der Sitte, Männergräber nicht mehr mit Waffen auszustatten, die Verbreitung der Grabhügel, Steinkreise und -Stelen, die Entwicklung der berlockförmigen Anhänger, Bronzearmbänder und s-förmigen Schließhaken und die Entstehung gewisser Ziermuster auf Tongefäßen des Unterweichselgebiets zu verfolgen gesucht. Er ging dabei — für den archäologischen Teil seiner Untersuchungen — ohne vorgefaßte Meinung vor, wenngleich er bestimmte theoretische Vorüberlegungen anstellte, und gelangte, da er seine Untersuchungen nicht räumlich und zeitlich willkürlich begrenzte, zu fundierteren Ergebnissen als Oxenstierna. Seine Vorüberlegung besagt, daß eine Bevölkerung mit einer bestimmten Kultur, die in e i n u n b e s i e d e l t e s Land einwandert, ihre Kultur behält und an dieser in der neuen Heimat zu erkennen ist. Wenn indes dieselbe Bevölkerung in ein b e s i e d e l t e s Land einwandert, und sich mit der dort ansässigen Bevölkerung mischt, dann muß — so meinte jedenfalls Kmiecinski — es auch zur Vermischung der beiden Kulturen kommen, wobei der Anteil beider an der neuentstehenden Kultur — von verschiedenen Faktoren abhängig — wechseln könne. Dabei könnten — dachte er ferner — aus der Kulturmischung auch neue Kulturformen entstehen57. In beiden Fällen m ü s s e die Völkerwanderung aber am Fundstoff erkennbar sein. Er meinte deswegen — ähnlich wie Oxenstierna —, man müsse die für die gotisdi-gepidische Kultur bezeichnenden Erscheinungen in Gestalt von Vorformen oder Gegenstücken in ihrer Heimat erwarten, soferne der Bericht von der Einwanderung der Goten und Gepiden richtig sei58. Seine Untersuchung habe jedoch keinen Nachweis für solche Vorformen zu erbringen vermocht. Lediglich Grabhügel, Steinkreise und -Stelen seien in Schweden 55 M
57 58
E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945) 1. J. Kmiecinski, Zagadnienie tzw. kultury gocko-gepidzkiej na Wsdiodnim w okresie wczesnorzymskim (1962). J. Kmiecinski, a. a. O. 141 f. 188. J . Kmiecinski, a. a. 0 . 1 4 3 f. 188.
Pomorzu
236
Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
nachzuweisen50, seien dort jedoch vom Süden her bekannt geworden. Die Anlage von Körpergräbern sei verstreut gemeingermanisch und offenbar auch aus dem Süden übernommen worden 60 ; die wenigen berlockförmigen Anhänger aus Mittel- und Südschweden seien dort jünger als an der unteren Weichsel"; s-förmige Schließhaken seien in Schweden gänzlich unbekannt' 2 ; es gäbe in Schweden keine frührömischen Armringe und -bänder 68 ; bezeichnende Zierelemente der weichselländischen Kultur fehlten in Schweden ganz64. Die Sitte, die männlichen Toten ohne Waffen zu bestatten, sei für Schweden überhaupt nicht typisch65. Abschließend erklärte Kmiecinski, es sei keine ausreichende Erklärung, wenn man meine, das Fehlen von Beziehungen zwischen der „gotischen" Kultur an der Weichsel und der skandinavischen Kultur sei ein Zufall; es befriedige auch nicht anzunehmen, daß der unvermittelte Übergang von der Spätlat^ne- zur Kaiserzeitkultur zufällig mit der Einwanderung der Goten zusammenfalle 66 . Aus alledem sei zu folgern, daß die „gotisch-gepidische" Kultur ihren Namen zu Unrecht trage. Sie verdanke ihn zweifelhaften Nachrichten der Antike, insbesondere den Angaben des Jordanes 67 . N u r weil die literarischen Berichte der Alten von der Wanderung der Goten durch das Weichselland nach dem Süden sprächen, seien viele Bestandteile der materiellen und geistigen Kultur, die in diesem Raum um Christi Geburt neu auftreten, einfach den Goten zugeschrieben worden, in Wirklichkeit wurzelten sie tief in der einheimischen Kultur, oder sie seien aus den verschiedensten Gegenden übernommen worden. Es sei allerdings eine unbestreitbare Tatsache, meinte Kmiecinski schließlich68, daß skandinavische Germanen im dritten Jahrhundert n. Chr. an der Nordgrenze des Römischen Reichs anwesend waren. Die Zahlen, die von antiken Schriftstellern für solche Germanen angegeben würden, seien jedoch zweifelhaft, denn die Bevölkerung Skandinaviens sei bis in diese Zeit hinein niemals sehr groß gewesen. Bei der Südwanderung skandinavischer Germanen könnte es sich nur um langsame Infiltrationen von kleinen und kleinsten Gruppen gehandelt haben. Solche Bevölkerungsverschiebungen seien aber nur schwer an Hand des archäologischen Fundstoffs nachzuweisen. «• •• " « •s
J. Kmiecinski, J. Kmiecinski, J. Kmiecinski, J. Kmiecinski, J. Kmiecinski, M J. Kmiecinski, • s J. Kmiecinski, •• J. Kmiecinski, 67 J. Kmiecinski, M J. Kmiecinski,
a. a. O. 92 ff. 163 ff. a. a. O. 86 ff. a. a. 0 . 1 0 8 ff. a. a. O. 126 ff. 175 ff. a. a. O. 118 ff. 169 ff. a. a. 0 . 1 3 3 ff. 183 ff. a. a. O. 88 ff. a. a. 0 . 1 4 1 ff. a. a. O. 144 f. a. a. O. 152 f.
Probleme der archäologischen Quellen
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Die Gruppe von Gräberfeldern mit Grabhügeln, Steinkreisen und Steinstelen, die in der fortgeschrittenen Kaiserzeit im pommerellisdien Hügelland auftrete, könne Spuren solcher skandinavischen Infiltrationen anzeigen. Es müsse jedoch betont werden, daß die übrigen Kulturerscheinungen in diesem Gebiet sonst vollkommen mit denen an der Weichsel übereinstimmten 6 '. Die Hauptergebnisse seiner Untersuchungen seien jedoch, betonte Kmiecinski70, daß die kaiserzeitliche Kultur des Weichsellandes fast keine Verbindungen mit d e r Gegend Schwedens habe, die gemeinhin als Heimat der Goten und Gepiden angesehen werde; sie sei eine Fortsetzung der einheimischen Kultur der vorrömischen Eisenzeit. Er lieferte damit eine ausführliche Bestätigung aller wesentlichen Einwände gegen Oxenstierna' 1 . In den Jahren 1962 und 1964 hat sich schließlich dann noch J. Kostrzewski zum Problem des archäologischen Nachweises der Goten in zwei teils wörtlich gleichlautenden Aufsätzen 72 geäußert, die sich einzig in den die Goten betreffenden Teilen voneinander unterscheiden. Kostrzewski ging von der Voraussetzung aus, daß die Goten und Gepiden die einzigen sicher germanischen Stämme seien, die sich im östlichen Mitteleuropa aufgehalten hätten. Ihnen seien die Körpergräber und Brandbestattungen im unteren Weichselgebiet in der Zeit nach Christi Geburt zuzuschreiben73. Die Sitte, Körpergräber anzulegen, könnten die Goten — wie Oxenstierna nachgewiesen habe — allerdings nicht aus Skandinavien mitgebracht haben74. Der größte Teil der Gräber im Unterweichselraum könne übrigens aus anthropologischen Gründen sowieso nicht den Goten zugewiesen werden. Deren Zahl müsse also sehr klein gewesen sein, und da etwa achtzig Prozent aller Gräber aus nachchristlicher Zeit Frauengräber seien, könne man annehmen, daß die Goten auf ihrem Wanderzug keine große Zahl von Frauen mitgenommen hätten. Sie nahmen sich vielmehr in der neuen Heimat eingeborene Frauen. Audi sonst habe die eingeborene Bevölkerung vielfach weitergelebt, was man an der Weiterexistenz der alten Friedhöfe erkennen könne. Wo allerdings die Friedhöfe abbrechen, müsse man mit Neueingewanderten redinen. Sichtlich folgt Kostrzewski hier teilweise der Darstellung Schindlers " J. Kmiecinski, a. a. 0 . 1 5 4 . 70 J. Kmiecinski, a. a. O. 155. 71 Vgl. auch R. Hachmann, Rezension von E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945), in: Germania 29 (1951) 98—101. 72 J. Kostrzewski, Le problème du séjour des Germains sur les terres de Pologne, in: Archaeologia Polona 4 (1962) 7—44; ders., Zagadnienie pobytu Germanöw na ziemiach polskidi, in: Slavia Antiqua 11 (1964) 87—126. ™ J. Kostrzewski, Ardiaeologia Polona 4 (1962) 26 f. 74 J. Kostrzewski, a. a. O. 27.
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Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
(vgl. oben S. 226 ff.). Das Aufhören der Sitte, den Männergräbern Waffen mitzugeben, sei vielleicht ein besonderes Indiz dafür, daß eine Einwanderung stattgefunden habe75. Das Vorherrschen der Bronze in nachchristlicher Zeit im Gegensatz zum reichlichen Gebrauch von Eisen in der Spätlat^nezeit erkläre sich damit, daß römische Münzen zur Herstellung von Bronzegegenständen benutzt wurden. Alle Indizien reichten allerdings nicht zum Nachweis einer Wanderung aus, wenn nicht eine große Ähnlichkeit zwischen den Grabformen des Unterweichselgebiets und Schwedens bestände™. Schon in der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit gäbe es an der Weichsel Brandgräber mit darüberstehenden senkrechten Steinen, und daraus ergebe sich, daß die ersten Gruppen skandinavischer Einwanderer schon v o r Christi Geburt gekommen seien. Der Versuch Oxenstiernas, Västergötland als Heimat der Goten zu erweisen, sei allerdings nicht überzeugend; es sei viel einfacher, die Einwanderer aus Östergötland kommen zu lassen77. Im zweiten Jahrhundert hätten die Goten das Binnenland kolonisiert. Gegen Mitte dieses Jahrhunderts seien die Gepiden neu eingewandert und hätten sidi auf dem rechten Weidiselufer angesiedelt. Wiederum folgte Kostrzewski sichtlich Schindler (vgl. oben S. 227). Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts seien dann die Goten wieder abgezogen78. Zwei Jahre später hielt Kostrzewski zwar den größten Teil seiner Ansichten aufrecht, rechnete auch weiterhin mit der Einwanderung der Goten vor Beginn der Römischen Kaiserzeit und der Gepiden 150 Jahre später, schloß sidi im übrigen aber stärker den Ergebnissen der Untersuchungen Kmiecinskis an79 und betonte, die Einwanderung der Goten sei zwar nicht zu leugnen, habe aber keine so bedeutende Rolle gespielt, wie bislang angenommen worden sei. Wie bei Oxenstierna, so spielt bei Kostrzewski der Kulturwandel zu Beginn der Römisdien Kaiserzeit als Indiz für die erfolgte Gotenwanderung die Hauptrolle. Der Wandel könne zwar nicht die Wanderung selbst beweisen, wohl aber den auf anderem Wege gewonnenen Beweis illustrieren. Als Hauptbeweis galt Kostrzewski die Übereinstimmung von Einzelheiten der Grabsitte mit Skandinavien, insbesondere mit östergötland, wo allein alle im Weichselgebiet vorkommenden Formen von Graboberbauten vertreten seien. In seinem Urteil vom Aussagewert der Grabformen stand Kostrzewski siditlidi im Gegensatz zu Oxenstierna. Letztlich J. Kostrzewski, a. a. O. 27 f. — Eine nähere Begründung für diese überraschende These gibt Kostrzewski nicht. 7 4 J. Kostrzewski, a. a. O. 28. 7 7 J. Kostrzewski, a. a. O. 29. 7 8 J. Kostrzewski, a. a. O. 30. 7» J. Kostrzewski, Slavia Antiqua 11 (1964) 87 S. 75
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Probleme der archäologischen Quellen
gründet sich sein „Hauptbeweis" aber doch — wie der aller, die vor ihm dasselbe Problem behandelten — auf die Annahme, die Tatsache der Wanderung sei durch antike Nachrichten gesichert, und ebenso sei es nadi den Angaben der griechischen und römischen Autoritäten sicher, daß die Wanderung zu Beginn der Römischen Kaiserzeit und ins Unterweidiselgebiet stattgefunden habe. Da sich Kostrzewski den Untersuchungsergebnissen Kmiecinskis im wesentlichen angeschlossen hat, geben dessen Untersuchungen, zumal sie das Problem der Goten weitaus ausführlicher behandeln, den jüngsten Stand der Untersuchungen wieder, der allerdings in Deutschland bislang noch kaum zur Kenntnis genommen und überhaupt noch nicht diskutiert worden ist. Zieht man Kmiecinskis Urteil über die Herkunftsnachrichten und das hier erreichte Ergebnis einer Analyse der Gotengeschichte des Jordanes in Betracht (vgl. oben S. 109 ff.), so wird es evident, daß es nidit mehr nötig ist, auf seine Ansichten zum Wahrheitsgehalt der Gotensage weiter einzugehen. Seine rein archäologischen Untersuchungen haben das Bild von der kaiserzeitlichen Kultur im unteren Weichselgebiet wesentlich objektiviert, wiewohl manche Fragen — insbesondere die einer feineren Datierung des archäologischen Fundguts, d. h. des Beginns der Römischen Kaiserzeit in diesem Gebiet — noch vernachlässigt sind80. Für die Frage der Gotenherkunft geben seine archäologischen Betrachtungen jedoch nichts. Das haben sie — trotz aller Fortschritte in Einzelheiten der Altertümerkunde — mit allen älteren Arbeiten zur Archäologie und Herkunft der Goten gemeinsam. Sie alle gingen von der Annahme aus, daß die Goten im Gebiet der Weichselmündung siedelten. Von den antiken Nachrichten her gesehen (vgl. oben S. 135 ff.), ist diese Voraussetzung falsch. Die kontinentalen Wohnsitze der Goten lagen an anderer Stelle. Das unterweichselländische Fundmaterial wurde irrtümlich als gotisdi bezeidinet. Wie konnte aber unter solchen Voraussetzungen die Frage nach der Herkunft der Goten richtig gestellt und beantwortet werden? Es ist zu untersuchen, welches archäologische Material wirklich gotisch ist; erst dann kann man erneut nach dem Zusamenhang zwischen Goten und Skandinavien fragen. 2. Die Archäologie
und die frühen festländischen
Gotensitze
In welchem Umfange bei Historikern, Philologen und Ardiäologen die Meinung herrschte — und noch immer die vorherrschende ist —, das Unterweichselgebiet sei als der Raum anzusehen, in dem die kontinental80
G. Kossack, Frühe römische Fibeln aus dem Alpenvorland und ihre chronologische Bedeutung für die germanischen Kulturverhältnisse, in: Aus Bayerns Frühzeit (1962) 125—137 bes. 134 ff.
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Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
germanischen Goten siedelten, hat ein Überblick über die Geschichte der Forschung deutlich genug gezeigt (vgl. oben S. 145 ff.). D a ß diese Lokalisierung den antiken Nachrichten n i c h t entspricht und daß nicht einmal die von Ablabius überlieferte Gotensage Wohnsitze der Goten in unmittelbarem Küstengebiet der Ostsee verlangt, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein (vgl. oben S. 139 ff.). Ebenso muß nun vorausgesetzt werden, daß das erste Erwähnen der Goten durch antike Autoren nicht als terminus a quo, sondern nur als terminus ante quem f ü r den Beginn ihrer Anwesenheit auf dem Kontinent angesehen werden muß. Sie können schon lange v o r ihrer ersten Erwähnung durch Strabo südlich der Ostsee gesiedelt haben. Ungewiß ist es vorerst noch, ob die Goten „seit jeher" südlich der Ostsee ansässig waren, also als Autochthone angesehen werden müssen, oder ob sie einst aus dem Norden einwanderten. N u r eines ist sicher: Als Ablabius schrieb, müssen Bevölkerungsgruppen, deren Namen mit dem der Goten verbunden waren — die T O Ü T O I , die r a u t o i , die *Vagothae, die *Gauthigothae —, schon in Skandinavien ansässig gewesen sein. Und noch etwas anderes ist sicher: Mögen die skandinavischen Goten aus dem Süden, mögen die kontinentalen Goten aus dem Norden gekommen sein, in jedem Falle muß ein Bevölkerungszusammenhang zwischen den skandinavischen und den festländischen Goten vorhanden gewesen sein. Irgendwann müssen Goten die Ostsee überquert haben! Das Problem der festländischen Gotensitze ist der Angelpunkt f ü r die Behandlung und Beantwortung aller nun noch offenen Fragen. Davon hängt alles andere ab: H a t man erst die Sitze der Festlandsgoten und kennt man ihre archäologische Kultur, so kann man diese auf Anzeichen einer Einwanderung hin untersuchen. Dann könnte man im Norden nach kulturellen Spuren der Vorfahren der Goten oder auch dort nach Spuren von gotischen Einwanderungen suchen. Die geographischen Anhaltspunkte f ü r die festländischen Gotensitze sind ganz klar (vgl. oben S. 143). Selbst wenn man weiß, was Tacitus, Ptolemaios und andere zu wissen meinten, verfügt man nicht über umfangreiche Kenntnisse. Wie sicher sind die Informationen der Antike f ü r die Bevölkerungsverhältnisse in diesem abgelegenen Raum, von dem nicht jeder einmal genau wußte, ob er zu Germanien oder Sarmatien gehörte? Einzig die Übereinstimmung von Autoren, von denen man weiß, daß sie nicht voneinander abgeschrieben haben, ist eine brauchbare Stütze der Überlieferungen. Anhaltspunkte f ü r die kulturelle Einordnung der Goten bzw. f ü r ihre Zugehörigkeit zu einem germanischen Stammesverband oder einer Kultgemeinschaft fehlen fast ganz. Die Hinweise des Plinius, der die Goten zur Gruppe der *Vandili (Vindili), zu denen er außerdem die
Probleme der archäologischen Quellen
241
*Varini (Varinne), Charini und Burgundiones zählte (Plinius Historia naturalis IV 99), sind weder eindeutig noch ausführlich genug. Die *Vandili sind die erste seiner insgesamt fünf Gruppen, in die sidi seiner Ansidit nach die Bevölkerung Germaniens gliederte. Schon Zeuss hat bemerkt, daß diese Gliederung keine ursprüngliche ist1, dodi hatte er nicht unbedingt recht, wenn er sich gerade gegen die Existenz der *Vandili als Gruppe wandte 2 . Tacitus zählte die Vandilii zu den vera et antiqua nomina bei den Germanen (Tacitus Germania 2,2). Die Bedeutung dieser Namen bleibt aber ziemlich dunkel (vgl. oben S. 137 f.). Verf. hat die Vandilii gelegentlich als Stammes- bzw. Kultverband zu deuten versucht und neben die Mannus-Stämme, die Sueben und die NerthusStämme gestellt3. Eine sichere Entscheidung ist angesichts der ungünstigen Quellenlage schwierig. Zu allem Unglüdc ordnete Plinius auch seine anderen Gruppen falsch und rechnete zu den Hermiones außer Chatti und Cberusci, was sicherlich richtig ist4, auch die Suebi und Hermunduri. Erstere sind gewiß eine Gruppe für sidi, von der die Hermunduri nur ein Teil sind. Wie weit reichten die Wohnsitze der *Vandili des Plinius? Gehörten die Rugii und die Lemovii des Tacitus dazu? Offenbar kannte Plinius diese Stämme nicht; seine Informationen waren begrenzt. Die Lugii des Tacitus, die Plinius nicht kannte, können nicht einfach mit dessen *Vandili gleichgesetzt werden, denn bei Tacitus stehen die Gotones außerhalb der Lugii. Eine Klärung wird dadurch erschwert, daß Tacitus die Burgundiones nicht nannte. Auch Ptolemaios trägt hier nichts bei, weil er nach anderen Prinzipien aufzählte — geographisch und nach großen und kleinen Stämmen geordnet — und auf wirkliche oder angenommene Stammeszusammenhänge keine Rücksicht nahm. R. Much neigte dazu, anzunehmen, die *Vandili „umfaßten . . . die ganzen Ostgermanen" 5 ; das aus der Aufzählung des Plinius zu schließen, verbietet aber die Quellenlage. Unmethodisch wäre es, einfach die Erzählungen des Strabo, des Plinius, des Tacitus und des Ptolemaios zu einem einheitlichen Bild zusammenzuziehen. Ebenso unmethodisch — wenngleich verführerisch — wäre es, nunmehr von den archäologischen Gruppen her das literarische Material zu gliedern. Daß die Ostgermanen eine wissenschaftliche Fiktion — eine 1
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 70. K. Zeuss, a. a. O. 71: „Plinius stellt ohne Rücksicht auf Art und Bedeutung willkührlidi nur weit verbreitete Namen zusammen;.. 8 R. Hadimann, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 53. * R. Hadimann, a. a. O. 51 ff. 5 R. Much, Die Germania d. Tacitus (1937, ! 1959) 29 f.; (81967) 58 f. 1
16 Hadimann, Goten und Skandinavien
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Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
„Erfindung" Müllenhoffs' — sind, bedarf hier keiner Erläuterung mehr. Ebenso erscheint es fast unnötig, nochmals zu erklären, daß es auch keine archäologische „ostgermanische" Gruppe gibt7. Der germanische Osten gliederte sich in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und in der Kaiserzeit im wesentlichen in zwei Hauptgruppen, die die polnische Forschung seit längerer Zeit als Oxhöfter (Oksywie-) Gruppe und als Przeworsker Kultur bezeichnet8. Verf. wollte diese Gliederung nicht in Frage stellen, als er gelegentlich — mehr um den chronologischen Möglichkeiten Rechnung tragen zu können, als um den germanischen Osten erschöpfend in archäologische Gruppen zu gliedern — von sechs verschiedenen Gruppen, von der Unterweichsel-Gruppe, der Oder-Warthe-Gruppe, der OderWeichsel-Gruppe, der Lausitzer Gruppe, der Mittelpommerschen Gruppe und der Weichsel-Narew-Gruppe, sprach®. Die polnische Forschung hat diesen Gliederungsvorschlag nicht abgelehnt, doch eine andere Nomenklatur vorgeschlagen10, die durchaus sinnvoll ist und akzeptabel erscheint. Es wäre verführerisch, die Przeworsker Kultur einfach mit den *Vandili des Plinius gleichzusetzen, in der Oder-Warthe-Gruppe die Burgunden und in der Oder-Weichsel-Gruppe die eigentlichen Wandalen zu sehen, aber es wäre wissenschaftlich nicht zu verantworten. Immerhin kann man bei allen weiteren Erwägungen von der Voraussetzung ausgehen, daß die Gliederung des germanischen Ostens in die Oxhöfter und die Przeworsker Kultur im großen Ganzen zutreffend ist. Um Einzelheiten klarer erfassen zu können, wird es nötig sein, die beiden großen Kulturgruppen noch genauer zu analysieren, und dabei werden sich gewiß außer den bekannten auch noch andere Untergruppen herausstellen lassen. Aber zurück zu den Goten: Es muß bei allen Versuchen, sie archäologisch zu lokalisieren, bei den geographischen Ansätzen der Antike bleiben: Siedlungsgebiet weit jenseits der Markomannen (Strabo), irgendwo in der Nähe der Burgunden im Osten (Plinius), jenseits der Lugier (Tacitus), an der Weichsel, aber östlich des Flusses (Ptolemaios), k e i n e s f a l l s direkt am Meer (Tacitus und Ptolemaios). Versucht man, den so um6
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Dazu: K. Müllenhoff, Uber Tuisco und seine Nachkommen. Ein Beitrag z. Gesdi. d. dt. Religion, in: Schmidts Zeitsdir. f. Gesch. 8 (1847) 209 ff. Vgl. R. Hachmann, Ostgerm. Funde d. Spätlatenezeit in Mittel- u. Westdeutschland, in: Ardiaeologia geogr. 6 (1957) 55 ff. J. Kostrzewski, Pradzieje Polski (1949) 173. 181; ders., Le problème du séjour des Germains en Pologne, in: Ardiaeologia Polona 4 (1962) 13 f. R. Hachmann, 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 25. 58 ff. — Die Mittelpommersche Gruppe ist kein Teil der Oxhöfter Kultur; die Lausitzer Gruppe ist vielleicht von der Przeworsker Kultur getrennt zu halten. J. Marciniak, Z badan nad wczesnq faz^ Kultury Wenedzkiej, in: Ardieologia Polski 10 (1966) 579—599 bes. 584 f.
Probleme der archäologischen Quellen
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schriebenen Raum nach den heutigen geographischen Anhaltspunkten genauer zu umreißen, so ergibt sich folgendes Bild: Es dürfte etwa das Gebiet nördlich des Mittellaufs der Weichsel sein, jenes Teils des Flusses, wo sich dieser nach dem großen, nach Westen offenen Bogen des Oberlaufs, der Mittelpolen umschließt, erst nach dem Nordwesten, dann fast nach dem Westen und schließlich wieder nach dem Nordwesten und Norden wendet. Im Westen könnte dieser Raum durch den Lauf der Drewenz (Drw^ca) begrenzt sein, im Norden mag der südwestliche Teil von Masuren hinzugehören, soweit er sich zur Weichsel hin entwässert. Im Nordosten gehört das Einzugsgebiet des unteren Bug und der Narew und ihrer Nebenflüsse dazu. Im Osten könnte dieser Raum außer dem unteren Bug auch dessen vom Süden kommenden Nebenflüsse einschließen. Auch das Weichseltal bis oberhalb von Warschau und etwa bis Thorn hinab gehört zu diesem Raum, der von Natur aus eine kulturgeographische Einheit bildet. Er entspricht in seinem Umfang etwa annähernd der polnischen Landschaf): Masowien und einem Teil von Masuren. Bedenkt man, daß Wasserläufe im Altertum gerne zur Bezeichnung von Grenzen benutzt wurden11, daß aber im allgemeinen die Talgebiete beiderseits eines Flusses eine Einheit — auch in kultureller Hinsicht — bilden, so darf man in der Abgrenzung dieser Landschaft keinen Widerspruch dazu sehen, daß Ptolemaios die riiflcoveg an der Weichsel, aber östlich des Flußlaufs, ansetzte. Verf. hat im Jahre 1961 die Kulturgruppe der jüngeren vorrömischen Eisenzeit dieses Raumes, deren Sonderstellung schon J . Kostrzewski erkannt hatte12, als Weichsel-Narew-Gruppe bezeichnet. J . Marciniak hat demgegenüber die Bezeichnung Masowische Gruppe (gmpa mazowieckiej) vorgeschlagen18. Dieser Name ist einprägsamer, wenngleich — wie sich zeigen wird—geographisch nicht ganz zutreffend (vgl. unten S. 267 ff.). Es sollte trotzdem bei der Bezeichnung Masowische Gruppe bleiben. Kostrzewski sah die „Kulturgruppe von ostgermanischem Charakter" in der Südwestecke der Provinz Ostpreußen, die sich — wie er sagte — „südostwärts nach Russisch-Polen" fortsetzte, als eine Sondergruppe der Wandalen14 an. Als ihren nordöstlichsten Ausläufer bezeichnete er einen 11 12 13
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R. von Sdieliha, Die Wassergrenze im Altertum (1931). J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlat^nezeit 1 (1919) 231 ff. J. Marciniak, Ardieologia Polski 10 (1966) 584; neuerdings verwenden T. D^browska und J. Okulicz die Bezeichnung „groupe de Nidzice", also Neidenburger Gruppe. Vgl. T. D^browska u. J. Okulicz, Inventaria Ardi. Pologne Fase. X X : PI. 121—125 (La Tene III) (1968) PI. 121 (1) ff. J . Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlat^nezeit 1 (1919) 232. — Die direkte Bezeichnung archäologischer Fundgruppen nach germanischen Stämmen gehört zum Stil der Zeit und geht natürlich auf Kossinna zurück. In Polen werden nach dem 1. Weltkrieg teilweise diese Namen durch solche slavischer
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Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Grabfund aus Nacza 15 , damals Bez. Lida im Gouv. Wilna. Als westlichsten Fund dieser Gruppe nahm er Michelau (Michalow), Kr. Strasburg (Brodnica), an". An der Drewenz (Drwfca) vermutete er ihre Westgrenze. Er meinte, diese Gruppe gehöre „trotz mancher Verwandtschaft mit der ,burgundischen Kultur' doch vorwiegend dem wandalischen Teil Ostdeutschlands an"17. D. Bohnsack sah dagegen die Soldau (Dzialdowka) als Westgrenze an und sprach von „Wandalen" östlich des Flusses18. Verf. ging 1961 auf Gesamtverbreitung und ethnische Stellung der „Weidisel-Narew-Gruppe" nicht näher ein1*. Dazu war kein Anlaß. Nachdem nunmehr polnische Archäologen den FundstofF aus Masowien zusammengestellt haben80 — vollständig veröffentlicht ist er noch nicht —, ist es möglich, die Masowisdie Gruppe zu untersuchen und Vorstellungen über ihren Beginn und über ihre Grenzen und ihre innere Struktur zu gewinnen, die über das hinausgehen, was Kostrzewski und Bohnsack zu beobachten in der Lage waren. Es müssen allerdings dabei mancherlei Probleme beiseite gelassen werden, deren Lösung auf Grund des derzeitigen Bearbeitungsstandes noch nidit möglich ist. Sie berühren das Problem der Goten nicht unmittelbar und müssen im übrigen der polnischen Forschung überlassen bleiben, die sie — aus räumlicher und sachlicher Vertrautheit — allein lösen könnte. Hier kann es sich lediglich darum handeln, diese Gruppe in ihren Grundzügen zu charakterisieren. Gruppen ersetzt. Grundlage sind die in Plinius belegten Vindili — in *Vandili zu emendieren —, doch hat Plinius neben Vindili (Hist. Nat. IV 99) auch Venedi (Hist. Nat. IV 97) für den Stamm, der bei Tacitus Venethi (Tacitus Germania 46) und bei Ptolemaios OÜEviöat (Ptolemaios III 5, 5; 7 ff.) heißt. — Weitere Belege bei M. Schönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- u. Völkernamen (1911) 280 f. 15 J. Kostrzewski, a . a . O . 232 Anm. 10; dazu W. Szukiewicz, Wykopalistco urny z ornamentem swastikowym w Naczy powiatu Lidzkiego gub. Wilenskiej [Der Fund einer Urne mit Hakenkreuz bei Nacza], in: Materialy antropologiczno-ardieologiczne i etnograficzne 9 (1907) 139—142 Taf. 13 bis 14; ders., Poszukiwania archeologiczene w pow. Lidzkim gub. Wilinskiej [Archäologische Untersuchungen im Kreis Lidzka, Gouvernement Wilna], a. a. O. 13 (1914) 72 f. Taf. 29—30. 16 J. Kostrzewski, a. a. O. 233 Anm. 1; dazu: K. K. Chmieledri, in: Zapiski Tow. nauk w Toruniu I, 9 (1910) 198 f. 17 J. Kostrzewski, a. a. O. 231. 18 D. Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 113; ders., Die Burgunden, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 3 (1940) 1042. 19 R. Hadimann, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 58 ff. ™ A. Kempisty, Obrz^dek pogrzebowy w okresie rzymskim na Mazowszu [Bestattungssitten d. röm. Kaiserzeit in Masowien], in: Swiatowit 26 (1965) 1—161; A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem w okresadi p6znolatenskim i rzymokim na Mazowszu [Studien über die Siedlungen der Spätlat^ne- und Römerzeit in Masowien] (1966).
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Die Masowisdie Gruppe steht — das hatte Kostrzewski schon richtig erkannt — der Przeworsker Kultur nahe; man könnte sie als einen Teil davon bezeichnen. Audi mit der Oxhöfter Kultur ist sie „verwandt", doch — wie sich zeigen läßt — in einem anderen Sinne. Die Masowische Gruppe ist in ihrem nördlichen und südlichen Verbreitungsgebiet schon mit dem B e g i n n der jüngeren vorrömischen Eisenzeit nachweisbar, wie die Gräberfelder von Taubendorf (Gol^biewo), Kr. Neidenburg (Nidzica)", und von Wilan6w" auf einen Blick zeigen. Sie setzt sidi von Anbeginn an deutlich von der Oxhöfter Kultur (Unterweichsel-Gruppe) im Nordwesten und den nichtgermanischen Kulturgruppen des Nordens, Nordostens und Ostens ab. In der Oxhöfter Gruppe war der Bestattungsritus in der vorrömischen Eisenzeit ziemlich weitgespannt. Die herrschenden Grabarten waren das Brandschüttungs- und das Brandgrubengrab23; daneben waren Urnengräber und Knochenhäufchengräber selten. Die Zahl der beigegebenen Gefäße blieb in der Regel gering und betrug selten mehr als zwei. Die Beigefäße wurden meist zerschlagen; die Scherben finden sich selten vollständig im Grabe. Nur kleine Gefäße — Tassen oder Schälchen — wurden unzerbrochen ins Grab gegeben. Die Beigefäße waren g e l e g e n t l i c h dem Feuer des Scheiterhaufens ausgesetzt. Verschlackte Scherben kommen vor. Die Grabgruben waren manchmal mit Steinen ausgelegt, öfters wurden die Gräber mit Steinen bedeckt, größeren Decksteinen, Gruppen kleinerer Steine oder regelrechten Steinlagen. Eigentliche Steinkreisgräber sind für den Bereich der Oxhöfter Kultur in der vorrömischen Eisenzeit nicht nachweisbar", doch ist es nicht sicher, ob nicht landwirtschaftliche Nutzung ursprünglich vorhandene Steinsetzungen schon früh beseitigt hat*5. Für die Ausstattung des Männergrabes waren einzelne 11
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J. Heydeck, Ein Gräberfeld aus der la T^ne-Periode b. Taubendorf, Kr. Neidenburg, in: Sitzungsber. d. Altertumsges. Prussia 21 (1900) 52—57 bes. 53 Taf. 4, 1—6; R. Hadimann, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 70. J. Marciniak, Cmentarzysko cialopalne z okresu p6znolatenskiego w Wilanowie kolo Warszawy [Brandgräber der Spätlat^nezeit in Wilanow bei Warschau], in: Materiaiy Starozytne 2 (1957) 7—174; R. Hachmann, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 67 Abb. 23. D. Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 91 ff. bes. 93; vgl. auch: W. Heym, Drei Spätlat^negräberfelder aus Westpreußen, in: Offa 17/18 (1959/61) 143—158 bes. 155 f. D. Bohnsack, Ostgermanische Gräber m. Steinpfeilern u. Steinkreisen in Ostdeutschland, in: Gothiskandza 2 (1940) 22—36 bes. 35 Anm. 52. In Norddeutschland dürften Steinsetzungen über eisenzeitlichen Gräbern in großem Umfange beseitigt sein. — Vgl. dazu: R. Schindler, Die Steinkreise v. Hamburg—Ohlsdorf, in: Zur Ur- u. Frühgeschichte Nordwestdeutschlands [Jacob-Friesen-Festschrift] (1956) 144—150.
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Die Ardiäologie und die festländischen Gotensitze
Waffen oder ganze Waffensätze üblich, jedoch nicht obligatorisch. Das einschneidige Schwert kam neben dem zweischneidigen vor. Für das Frauengrab war der Gürtelhaken — in vielen verschiedenen Spielarten — bezeichnend 2 '. Mit dem Umbruch zur älteren Kaiserzeit — an der unteren Weichsel scheint er sich etwas später als in Böhmen vollzogen zu haben 27 — wandelten sich im Bereich der Oxhöfter Kultur Tracht-, Grab- und Beigabensitten so stark, daß man allzu oft an einen Bevölkerungswechsel gedacht hat. Kossinna und viele andere meinten, in dieser Zeit seien die Goten eingewandert (vgl. oben S. 223 f.), und noch Schindler28 und Oxenstierna 29 sprachen von Goten im gleichen Zusammenhang. Tatsächlich traten tiefgreifende Änderungen der Kultur ein. Neben das Brandgrab trat nun die Körperbestattung 30 . Die Beigabensitte verlangte weiterhin nur spärliche Mitgabe von Keramik, doch gehört die kaiserzeitliche Grabkeramik völlig anderen Typen an31. Die Beigabensitte verbot für das Männergrab die Waffenbeigabe. Die Trachtsitte der Frau gab den Gürtelhaken auf, übernahm die Schnalle und nahm nach und nach das Armband, den s-förmigen Schließhaken für die Halskette und den Goldberlock als Trachtbestandteile auf 32 . Trotz der Veränderungen in der Struktur der Kultur blieb der Abstand von der südlich angrenzenden Przeworsker Kultur unverändert groß. So wie es in der vorrömischen Eisenzeit keine „ostgermanische" Kultur als eine in sich im Vergleich zu anderen verhältnismäßig einheitliche Kulturprovinz gab, so kam durch die Kulturveränderungen auch in der Kaiserzeit im östlichen Mitteleuropa kein einheitlicher Komplex zustande; im Gegenteil, die Przeworsker Kultur wandelte sich in anderem Sinne als die Oxhöfter Kultur; der Abstand beider Kulturen voneinander wurde eher größer als kleiner. 26
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J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlat^nezeit 1 (1919) 42 ff.; D . Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 23 ff. G. Kossack, Frühe römische Fibeln a. d. Alpenvorland u. ihre chronologische Bedeutung f. d. germ. Kulturverhältnisse, in: Aus Bayerns Frühzeit (1962) 125—137 bes. 136 f. R. Schindler, Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden im unteren Weidiselraum (1940) 97 ff. bes. 102 ff. E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat der Goten (1945) 147. E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge zur röm. Kaiserzeit 1 (1912) 153 f. 157 f.; ders., a . a . O . 2 (1915) 141 ff.; R. Schindler, a . a . O . 9 7 f f . ; J. Kmiecinski, Zagadnienie tzw. Kultury Gocko-Gepidzkiej na Pomorzu wschodnim w okresie wczesnorzymskim (1962) 86 ff. R. Schindler, a. a. O. 15 ff. 97 ff. E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge zur röm. Kaiserzeit 1 (1912) 42 ff. 60 ff. 89 ff.; J. Kmiezynski, Zagadnienie tzw. Kultury Gocko-Gepidzkiej (1962) 108 ff. 118 ff. 126 ff.
Probleme der archäologischen Quellen
247
In den nichtgermanischen Kulturgruppen des Nordens, Nordostens und Ostens herrschte in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit allenthalben die Brandbestattung, die aber fast das einzige Kulturelement ist, das diese Gruppen näher an die Oxhöfter und die Przeworsker Kultur heranrückte. Fast alle Kulturerscheinungen waren sonst andere. Schon Einzelheiten der Grabsitte wichen deutlich ab; Beigaben- und Trachtsitte unterscheiden sich klar. Im Norden, in der Westmasurischen Gruppe, wurden die Urnen mit dem Leichenbrand in Gruppen auf langen Steinpflastern in flachen Hügeln beigesetzt33. Im Nordosten, in der Ostmasurischen Gruppe, scheint ein Steinerdehügel „bronzezeitlichen" Typs vorgeherrscht zu haben 34 . Im Osten herrschte im Gebiet der Zarubinjetz-Kultur das Flachgrab mit Urnen- oder Knochenhäufchen 35 . In der Römischen Kaiserzeit setzte sich die Entwicklung der beiden angrenzenden Masurischen Kulturgruppen bodenständig fort. Sie übernahmen zwar mancherlei Trachtbestandteile aus der Oxhöfter Gruppe, entwickelten diese aber auf eigene Weise selbständig weiter36 und prägten eigene Formen von Fibeln, Nadeln, Anhängern und Schnallen37, die teils auch in die Oxhöfter Kultur wieder aufgenommen wurden. In der Zarubinjetz-Kultur kam es ebenfalls zu einer bodenständigen, doch aus der Nachbarschaft wenig beeinflußten Entwicklung 38 . Gegenüber den Kulturen der nordwestlichen, nördlichen und östlichen Nachbarschaft ist die Masowische Gruppe also im großen Ganzen recht e i n d e u t i g abgrenzbar. Allenfalls im Grenzgebiet zur Oxhöfter Gruppe hin mag gelegentlich die Einordnung einzelner Funde strittig bleiben (vgl. unten S. 255 ff.). Etwas schwieriger ist ihre Abgrenzung ge33
34 35
36
37
38
C. Engel u. W. La Baume, Kulturen u. Völker d. Frühzeit im Preußenlande (1937) 126 Abb. 23 a. C. Engel u. W. La Baume, a. a. 0 . 1 2 6 . P. N . Tretjakow [Hrg.], Pamjatniki Zarubineckoj Kultury, in: Materialy i Issledowanija po Arth. SSSR 70 (1959) 1 ff. bes. 7 m. Verbreitungskarte; J. W. Kucharenko, Pamjatniki zelesnogo veka na Territoriji Poles'ja, in: Archeologija SSSR Vipusk D 1—29 (1961) 14 ff. Abb. 7 Taf. 9—43. C. Engel u. W. La Baume, Kulturen u. Völker d. Frühzeit im Preußenlande (1937) 140 ff. bes. 146 ff. Abb. 30. 31. O. Almgren, Studien über nordeurop. Fibelformen (1897) 19 f. 29 ff. 38 f.; E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 1 (1912) 47 f. 71 f. Abb. 46. 89. 90; C. Engel u. W. La Baume, a. a. O. 146 ff. Abb. 30 d—f. i—m. 31 e—f. k. Vgl. J. W. Kudiarenko, Pamjatniki zelesnogo veka na Territorii Poles'ja, in: Ardieologija SSSR Vipusk D 1—29 (1961) 10 Abb. 3. Die Mittellatenefibeln mit sdiildförmigen Bügelteil sind offenbar wesentlich jünger als andere Varianten der Latenefibeln, die in der Zarubinjetz-Kultur vorkommen. Vgl. dazu das Grab 13 von Hrynicwicze Wielkie, pow. Bielsk Podlaski; Z. Szmit, Wiadomosci Arch. 7 (1922) 113 ff. Abb. 91—103.
248
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
genüber den übrigen Gruppen der Przeworsker Kultur im Westen, Südwesten und Süden. Innerhalb dieser Kultur nimmt sie eine Sonderstellung ein. Sie weist Besonderheiten auf, die sonst fehlen. Deren übriges Gebiet — durch regionale Fundkonzentrationen in Kleinpolen, Ober-, Mittelund Niederschlesien, Mittelpolen und Posen geographisch deutlich gegliedert und auch kulturell nicht undifferenziert — steht der Masowisdien Gruppe als eine r e l a t i v e Einheit gegenüber. Für die g e s a m t e Przeworsker Kultur scheint zu Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit die Brandgrube bezeichnend gewesen zu sein, neben die überall erst nach und nach das Brandschüttungsgrab trat 9 '. Gemeinsam ist die Sitte, z a h l r e i c h e Gefäße auf dem Scheiterhaufen zu zerschlagen und zu verbrennen. Die Gefäße und Scherben wurden
Abb. 1.
Wilanöw, Kr. Warsdiau, Grab 6; Grabgrube mit Beigaben in Fundlage (nach J. Marciniak).
»» Vgl. R. Hachmann, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 43 fi. bes. 55.
Probleme der archäologischen Quellen
249
— teils sehr stark versdimort40 — aus dem Scheiterhaufen gelesen und ins Grab getan (vgl. Abb. 1—2). Auf vollständiges Auslesen der Scherben
Abb. 2. Niedenau (Niedanowo), Kr. Neidenburg (Nidzica), Grab 149; Grabgrube mit Beigaben in Fundlage (nadi Wl. Ziemlinska-Odojowa). 40
Vgl. Chr. Pesdieck, Die frühwandalische Kultur in Mittelsdilesien (1939) 6 f.
250
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
aus der Asche des Scheiterhaufens wurde im allgemeinen kein besonderer Wert gelegt. Gemeinsam ist allen Gruppen der Przeworsker Kultur in der vorrömischen Eisenzeit, den Männergräbern Waffen beizugeben — oft ganze Waffensätze. Gemeinsam ist ferner eine Frauentrachtsitte, in der — anders als in der Oxhöfter Kultur — der Gürtelhaken keine große
Abb. 3.
Dobrzankowo, Kr. Przasnysz, Grab 34; Grabgrube mit Beigaben in Fundlage (nach T. Dqbrowska u. J. Okulicz); hierzu vgl. Abb. 4 u. 5.
Rolle spielte. Wo er dennoch getragen wurde, dort war es — wenn auch nicht ausschließlich — der einfache, auch in der Oxhöfter Kultur bekannt? Scharniergürtelhaken. Auch die Gefäßformen sind zu Beginn der vorrömischen Eisenzeit in den Lokalgruppen der Przeworsker Kultur — die Masowische Gruppe eingeschlossen — überall recht einheitlich. Reginonale Unterschiede mögen vorhanden sein, sind aber — mit Ausnahme der Masowischen Gruppe — noch nicht deutlicher herausgearbeitet worden.
Probleme der archäologischen Quellen
251
Gewisse Unterschiede in der Grabsitte setzen die Masowische Gruppe von den anderen Lokalgruppen der Przeworsker Kultur ab. Verstreut trat schon in der vorrömischen Eisenzeit in deren Verbreitungsgebiet die Körperbestattung auf 41 . Die Masowische Gruppe kannte in dieser Zeit diese Bestattungsart kaum. Umgekehrt ist die Ausstattung der Grabstätten mit oberirdisch sichtbaren Steinkreisen eine Eigenart der Masowischen Gruppe, die sich anscheinend aber erst im Verlaufe der Kaiserzeit stärker durchsetzte. Sie ist für die übrigen Gebiete der Przeworsker Kultur kaum nachweisbar, wie bereits J. Kostrzewski festgestellt hat42. Zwar setzt die geringe Zahl von Grabüberschneidungen für den gesamten Bereich der Przeworsker Kultur oberirdisch sichtbare Kennzeichnung der Gräber voraus, doch ist es k a u m denkbar, daß Steinkreise ursprünglich ü b e r a l l vorhanden waren, aber nur im Bereich der Masowisdien Gruppe nicht vollständig durch Landbewirtschaftung beseitigt wurden 43 . Bemerkenswert ist allerdings, daß zwei Gräber mit kreisförmigen Steinsetzungen im Nordteil des großen Weichselbogens vorkommen44. Daß Steinanlagen dieser Art in der Masowischen Gruppe weiter östlidi den Bug nicht nach dem Süden überschreiten, scheint chronologische Gründe zu haben (vgl. unten S. 268 f.). Auffallender als die Steinkreise sind schon in der vorrömischen Eisenzeit für die Masowische Gruppe gewisse Besonderheiten der Beigabensitte. Der Friedhof von Wilanów läßt erkennen, daß man in dieser Gruppe die Scherben besonders sorgfältig aus der Asche des Scheiterhaufens auslas. Diese Sitte läßt sich in Wilanów 45 , Grodtken (Gródki)46, 41
L. F. Zotz, Wandalisdie Körperbestattungen der Spâtlatènezeit, in: Altsdilesien 4 (1934) 127—138; Chr. Peschedc, a . a . O . 5 f.; J. Kostrzewski, Skelettgräber der Spâtlatènezeit in Großpolen u. d. Silingenproblem, in: Bulletin International de l'Académie des Sciences et des Lettres de Crakovie 4/6 (1936) 76—84 Abb. 1—4.; Chr. Peschedc, a. a. O. 5 f.
42
J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spâtlatènezeit 1 (1919) 221 f.; dazu auch: D. Bohnsack, Ostgerm. Gräber m. Steinpfeilern u. Steinkreisen in Ostdeutschland, in: Gothiskandza 2 (1940) 22—26 bes. 30. 35 Abb. 5; J. Kmiecinski, Zagadnienie tzw. Kultury Godco-Gepidzkiej (1962) 92 ff. Karte 1. E. Hollack, Erläuterungen z. vorgesdi. Übersichtskarte v. Ostpreußen (1908) LIII f. Vgl. J . Kmiecinski, Zagadnienie tzw. Kultury Gocko-Gepidzkiej (1962) 164 f. Nr. 133 u. 155 Karte 1. J. Marciniak, in: Materialy Starozytne 2 (1957) 7—174 bes. 11 f. 14 f. 35 f. 47ff.Abb. 8 . 1 2 . 53. 55. 58. 75. E. Hollack, Das Gräberfeld a. d. Kahlen Berg (Lysa Gòra), al. Fuchsberg (Lisia Gòra) b. Grodtken, in: Sitzungsber. Prussia 22 (1909) 356—363 bes. 360 f. Abb. 210.
43
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45
48
252
Abb. 4.
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Dobrzankowo, Kr. Przasnysz, Grab 34; Waffengrab der Zeitgruppe 2 der vorrömischen Eisenzeit der Masowischen Gruppe, zum gleichen Grab gehörig die Abb. 5 dargestellten Gegenstände (nadi T. Dqbrowska u. J. Okulicz); vgl. hierzu audi Abb. 3. — M 1:3 (1, 3—8), 1:9 (9).
Probleme der archäologischen Quellen
253
Abb. 5. Dobrzankowo, Kr. Przasnysz, Grab 34; Waffengrab der Zeitgruppe 2 der vorrömisdien Eisenzeit der Masowischen Gruppe, zum gleichen Grab gehörig die Abb. 4 dargestellten Gegenstände (nadi T. Dqbrowska u. J. Okulicz); vgl. hierzu audi Abb. 3 — M 1:4,5 (1—4), 1:3 (5).
254
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Stupsk47 und Bartkengut (Bartki)48, Dobrzankowo, Kr. Przasnysz 483 (Abb. 3—5), und Karczewiec, Kr. W^grow486, deutlich nachweisen, d. h. im Bereich aller gut veröffentlichten Gräberfelder. Deutlicher als an solchen Einzelheiten ist die Eigenständigkeit der Masowischen Gruppe an den Entwicklungstendenzen ihres keramischen Formenguts zu erkennen. In der vorrömischen Eisenzeit entwickelte sich die Tonware in der Przeworsker Kultur nicht kontinuierlich. Der Formenschatz der jüngsten Phase der jüngeren vorrömischen Eisenzeit hat keinerlei nennenswerte Beziehung zur älteren Formenwelt. Bereits K. Tackenberg konnte das für Niederschlesien feststellen49; Chr. Pescheck machte dieselbe Beobachtung in Mittelschlesien50. Für Posen zeigt das Gräberfeld von Wymyslowo (Ludwigshof) den gleichen Bruch51. Der Friedhof Piotrk6w Kujawski läßt denselben Wandel erkennen52. Die Masowische Gruppe machte diesen Formenwandel der Tonware n i c h t mit. Auf dem Friedhof Wilan6w ist die Kontinuität der Keramiktypen im Augenblick des Uberganges zur Spätphase der jüngeren vorrömisdien Eisenzeit besonders deutlich (Abb. 6). Das reiche keramische Beigabengut dieses Friedhofs ist sichtlich chronologisch verhältnismäßig unempfindlich. Die Krausen sind in ihrer typisch „wandalischen" Form zwar auf die beiden ältesten Zeitstufen des Friedhofs beschränkt; sie entwickeln sich in der dritten und jüngsten Zeitstufe zu den sogenannten späten Krausen weiter53, doch laufen fast alle anderen Typen durch. Gewisse Veränderungen stellen sich bei der Ornamentik ein, die jedoch 47
E. Reinbacher, Ein ostgerm. Friedhof b. Stupsk, Kr. Miawa in Polen, in: Varia Ardi. [Unverzagt-Festschrift] (1964) 148—161 bes. 152 ff. Abb. 3. 4. 48 C. Engel, Ein wandalisches Gräberfeld b. Bartkengut (Kreis Neidenburg), in: Altpreußen 1 (1935) 44—46 Abb. 1 u. 2; D. Bohnsack, Die Germanen im Kreise Neidenburg, in: Altpreußen 3 (1938) 67—79 bes. 71 ff. Abb. 7 u. 8. 48a T. D^browska u. J. Okulicz, Inventaria Ardi. Pologne Fase. X X : PI. 121 bis 125 (La Tene III) (1968) PI. 121 (1)—(2) [Grab 6], PI. 122 [Gr. 32], PI. 123(1)—(2) [Gr. 34]. 48 UT. Dqbrowska u. J. Okulicz, a . a . O . PI. 124 (1)—(2) [Grab 127] u. PL 125 (1)—(4) [Gr. 152 a], " K. Tackenberg, Die Wandalen in Niedersdilesien (1925) 80. Ansatz des Formenwandels in die beginnende Kaiserzeit ist zu spät. 50 Chr. Pescheck, Die frühwandalische Kultur in Mittelschlesien (1939) 105 ff. tl St. Janosz, Cmentarzysko z okresu p6£nolatenskiego i rzymskiego w Wymyslowie, pow. Gostyn, in: Fontes Praehist. 2 (1951) 1—284 bes. 249 ff.; R. Hadimann, 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 55 Abb. 17. 52 E. Kaszewska, Cmentarzysko kultury wenedskiej w Piotrkowie Kujawskim, pow. Radziej6w, in: Prace i Materialy Muz. Arch. i Etnogr. w Lodzi Ser. Arch. 8 (1962) 5—78 Taf. 4. 9—11. 22. 53 Vgl. R. Hadimann, 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 58 ff. bes. 67 ff.
Probleme der archäologischen Quellen
255
nicht durchgreifend sind: Mäander und Stufenmäander werden in den beiden frühen Phasen bevorzugt; in der Spätphase ist das Briefkuvertmuster beliebt54. Sichtlich hat sich die Keramik in der Masowischen Gruppe in ihrer Formenentwicklung überall ähnlich verhalten wie in Wilan6w. Das ist deutlich im Fundgut der Gräberfelder der Neidenburger Gegend zu erkennen, die besonders gut erforscht ist. Die Zahl vorrömischer Fundstellen ist hier nicht groß und demzufolge keramisches Formengut nicht so reichlich wie auf dem großen Friedhof Wilanöw, doch die reichen Grabinventare der beginnenden Kaiserzeit zeigen, daß die Entwicklung im Norden denselben Tendenzen folgte, die in Wilan6w feststellbar sind. Dreigliedrige Töpfe — mit und ohne Henkel —, wie sie in Wilan6w schon unter den frühesten Funden vertreten sind55 (Abb. 7a—b), gehören im Norden zu den beliebtesten Formen der älteren Kaiserzeit, wie die Funde von Taubendorf (Gol^biewo)56, Niederhof (Ksi?zy Dwor) 57 , Grodtken (Gr6dki) 58 (Abb. 8), Bartkengut (Bartki) 59 , Groß Lensk (Wielki L?ck)60 (Abb. 9—10), alle im Kreise Neidenburg (Nidciza), sowie in Stupsk, Kr. Mlawa 61 , erkennen lassen, östlich von Warschau ist dieselbe Übergangsware vom Friedhof Karczewiec, Kr. W?gr6w, aus dem Grab 127 (Abb. 11) bekannt®1®. Südlich von Warschau ist für die Übergangsphase zur älteren Kaiserzeit kennzeichnende Keramik aus Calowanie, Kr. Otwock (Garwolin), bekannt 62 . Weit im Süden ist vergleichbare Tonware aus dem Grab 40 des Friedhofs von Mas6w, Kr. Ryki (Garwolin), veröffentlicht 63 , doch ist es fraglich, ob dieses große, sonst bislang unveröffentlichte Gräberfeld zur Masowischen Gruppe gehört. 54
Vgl. R. Hadimann, a. a. O. 70. Vgl. R. Hadimann, a. a. O. 59 Abb. 19, 6. 56 J. Heydedc, Ein Gräberfeld a. d. la T&ne-Periode b. Taubendorf, Kr. Neidenburg, in: Sitzungsber. Prussia 21 (1900) 52—57 bes. 54 f. Taf. 3, 1—2. 18. 21. 57 A. Brinkmann, Gräberfeld b. Niederhof, in: Sitzungsber. Prussia 22 (1909) 267—295 Abb. 177.182. 58 E. Hollack, in: Sitzungsber. Prussia 22 (1909) 356 ff. Abb. 210. 5 » C. Engel, Altpreußen 1 (1935) 44 ff. Abb. 2 u. 3; D. Bohnsack, Altpreußen 3 (1938) 67 ff. Abb. 10 b u. c. 80 A. Bezzenberger, La T^ne-Gräberfeld b. Gr. Lensk, Kr. Neidenburg, in: Sitzungsber. Prussia 22 (1909) 63—70 Taf. 12. 81 E. Reinbacher, in: Varia Ardi. (1964) 148—161 Taf. 20 a. 22 b u. 23 b. ,ia T . D^browska u. J. Okulicz, Inventaria Arth. Pologne Fase. X X : PI. 121 bis 125 (La T£ne III) (1968) PI. 124 (1)—(2). 88 A. Kietlinska, Gr6b z okresu latenskiego we wsi Calowanie, pow. Garwolin, in: Sprawozdania P. M. A. 2 (1948/49) 63—68 Taf. 5, 2 u. 5. 83 J. Gurba, Gr6b wojownika z p6znego okresu latenskiego z Masowa w pow. garwolinskim, in: Przegl^d Arch. 10 (1958) 326—331 Abb. 2. 4 b. 55
256
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Abb. 6. Wilanöw, Kr. Warschau, Grab 91; Bestattung der Zeitgruppe 3 der jüngeren vorrömischen Eisenzeit der Masowischen Gruppe. Das Grab zeigt, daß diese Gruppe den Formenwandel der Przeworsker Kultur in dieser Zeit nicht mitmachte (nadi J. Marciniak) — M 1:4,5.
Abb. 7a. Wilanow, Kr. Warschau, Grab 31; Grab der Zeitgruppe 1 der vorrömischen Eisenzeit der Masowischen Gruppe, zu demselben Grab gehörig die Abb. 7b dargestellten Gegenstände (nach J. Marciniak) — M 1:4,5 (1—6), M 1:3 (7—11) — (eine Krause wie Fig. 1 u. eine Schale ähnlich Fig. 5 nidit abgebildet). 17 Hadimann, Goten und Skandinavien
Abb. 7b. Wilan6w, Kr. Warschau, Grab 31; Grab der Zeitgruppe 1 der vorrömisdien Eisenzeit der Masowischen Gruppe, zu demselben Grab gehörig die Abb. 7a dargestellten Gegenstände (nadi J. Marciniak) — M 1:4,5 (1—4), M 1:6 (5).
Probleme der archäologischen Quellen
259
Mängel des Forschungs- und Bearbeitungsstandes lassen zwischen den Funden aus dem südlichen Ostpreußen und denen um und südlich von Warschau Lücken. Ein gut ausgestattetes Grab eines sicher größeren Friedhofs von Kacice, Kr. Pultusk 64 , zeigt indes, daß man überall im Gebiet östlich der Weichsel von der Wilga im Süden bis über Bug und Narew hinweg nach Norden mit gleichartigen Keramikformen redinen kann (Abb. 12—13). Mit dem Beginn der älteren Kaiserzeit vollzogen sich in der Masowischen Gruppe z w e i bemerkenswerte Veränderungen der Grabund Beigabensitte. Sie lassen sich besonders deutlich an den Gräberfeldern im Kreise Neidenburg erkennen. Als Grabform trat nun eine besondere Art der Brandgrube hervor. Meist sind die Brandknochen in der Mitte einer ovalen, bis zu zwei Meter langen und mehr als einen Meter breiten Grube beigesetzt. Zu einer Seite des Knochenhäufchens wurden Holzkohle- und Aschenreste des Scheiterhaufens geschüttet; auf der anderen Seite stehen — meist umgestülpt, nicht selten auch schräg auf die Seite gelegt — bis zu acht Gefäße (Abb. 8—9). Die Keramik ist größtenteils auf dem Scheiterhaufen gewesen und daher stark verbrannt und verschlackt. Sie ist in der Regel jedoch nicht zerschlagen, vielmehr sorgfältig ins Grab gestellt*5. Daß es sich hierbei nicht um eine lokal ostpreußische Variante der Grabsitte handelt, zeigen die Gräber von Stupsk". Für den Süden der Masowischen Gruppe mangelt es an guten Veröffentlichungen, um diese Änderungen der Grabsitte nachzuweisen, doch zeigt der Friedhof von Wilan6w schon unter den Bestattungen der vorrömischen Zeitgruppe 3 eine deutliche Tendenz, die Gräber auf diese Weise auszustatten, so in den Gräbern 6% 1988, 32", 45™, 4771, 4872 und 4973. Zugleich mit dem Wandel der Grabsitte veränderte sich in der Masowischen Gruppe die Beigabensitte: Waffen wurden in der älteren Kaiserzeit n i c h t mehr ins Grab gegeben (Abb. 10). Die Masowische " Kr. Musianowicz, Halstacko-latenskie cmentarzysko w Kacicadi, pow. Pultusk, in: Wiadomosci Arth. 17 (1950/51) 25—46 bes. 35 f. Taf. 9—10. 85 Vgl. A. Brinkmann, Sitzungsber. Prussia 22 (1909) 279 ff. Abb. 180. 182 (Niederhof [Ksi?zy Dwör]); E. Hollack, a. a. O. 360 f. Abb. 210 (Grodtken [Gr6dki]). «« E. Reidienbadier, in: Varia Arch. (1964) 152 ff. Abb. 3 u. 4. 67 J. Marciniak, Materialy Star. 2 (1957) 14 ff. Abb. 12 Taf. 8—9. «8 J. Marciniak, a. a. O. 26 f. Abb. 33 Taf. 19, 2—8. J. Marciniak, a. a. O. 37 ff. Abb. 55 Taf. 29. 70 J. Marciniak, a. a. O. 47 ff. Abb. 75 Taf. 36—38. 71 J. Marciniak, a. a. O. 50 ff. Abb. 78—79 Taf. 39, 11—12; Taf. 40—41. 72 J. Marciniak, a. a. O. 53 f. Abb. 81 Taf. 42. 75 J. Marciniak, a. a. O. 54 ff. Abb. 83 Taf. 43—44. 17*
260
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Gruppe schloß sich in dieser Hinsicht nun g a n z der Oxhöfter Kultur an und wandte sich ebenso sehr von den übrigen Gruppen der Przeworsker Kultur ab, in denen die Sitte, Waffen mit ins Grab zu geben, obligatorisch blieb. Audi in der Frauentradit scheint sich die Masowische Gruppe mit Beginn der älteren Kaiserzeit von den übrigen Gruppen der Przeworsker Kultur stärker abgesondert zu haben; es sei denn, daß es die Beigabensitte war, die die Mitgabe von mancherlei Traditbestandteilen ins Grab verbot. So findet sich denn in den Gräbern der älteren Kaiserzeit — so-
Abb.
8.
Grodtken (Grödki), Kr. Soldau (Dzialdowo), Grab 2 ; Grab der Masowischen Gruppe aus der älteren Römischen Kaiserzeit (nach E. Hollack) — M 1 : 3 .
weit der gegenwärtige Forschungsstand Aufschluß gibt — kaum etwas anderes als ab und zu eine Fibel und hier und da eine Schnalle74. Faßt man alle diese Beobachtungen zusammen, so wird es deutlich, daß die Masowische Gruppe zu Beginn der vorrömischen Eisenzeit noch 74
Die Armut kaiserzeitlicher Frauengräber der Masowischen Gruppe an Schmucksachen ist gegenüber der Oxhöfter Gruppe und dem übrigen Bereich der Przeworsker Kultur gleichermaßen auffallend. Audi importiertes römisdies Bronzegesdiirr ist in auffallend geringer Menge vertreten.
Probleme der archäologischen Quellen
261
verhältnismäßig eng mit der Przeworsker Kultur verbunden war, daß sie aber den Formenwandel dieser Gruppe gegen Ende der vorrömischen Zeit nicht mitmachte, sich vielmehr in eigener Weise weiterentwickelte und zugleich starke Einflüsse von Seiten der Oxhöfter Kultur aufnahm. Es ist heute noch nicht ganz einfach, die Grenzen der Masowischen Gruppe nach allen Seiten hin genau festzulegen. Das gilt für die vorrömische Eisenzeit (Abb. 14), wie für die ältere Kaiserzeit (Abb. 15). Wo Funde unsystematisch ausgegraben worden sind, lassen sie oft die eigentümliche Struktur dieser Gruppe nicht erkennen, auf die es bei ihrer Ab-
Abb. 9.
Gross Lensk (Wielki L$ck), Kr. Neidenburg (Nidciza), Grab 9 ; Grab der Masowischen Gruppe aus der älteren Römischen Kaiserzeit (nach A. Bezzenberger); vgl. dazu Abb. 10.
grenzung ankommt. Oft fehlen auch noch die abschließenden Fundveröffentlichungen (vgl. Beilage 6). J . Kostrzewski hielt den Grabfund von Michelau (Michalow), Kr. Strasburg (Brodnica), für den westlichsten Ausläufer seiner nördlichen „Wandalengruppe"75. D. Bohnsack rechnete — wie schon vor ihm Kostrzewski — mit einem starken Vordringen der „Burgunden" weichsel75
J . Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur der Spätlatenezeit 1 (1919) 232 f.
262
Abb. 10.
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Gross Lensk (Wielki L?ck), Kr. Neidenburg (Nidciza), Grab 9; Grabinventar der Masowischen Gruppe aus der älteren Römischen Kaiserzeit (nach A. Bezzenberger); vgl. Abb. 9 — M 1:4,5.
aufwärts bis an die Bzura bzw. bis zur Soldau (Dzialdowka) h i n " . E r hielt allerdings auch Michelau (Michalow) für „wandalisch" 7 7 . Kostrzewski ordnete dieses Grab wohl deswegen so ein, weil es als Urnengrab " D. Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 113 f. D. Bohnsack, a. a. O. 113: „Vielleicht ein Vorposten der Neidenburger Wandalengruppe".
77
Abb. 11. Karcewiec, Kr. W^gröw, Grab 127; Grabinventar der Zeitgruppe 3 der vorrömischen Eisenzeit der Masowisdien Gruppe (nadi T. Dqbrowska u. J. Okulicz) — M 1:3 (9—13), M 1:4,5 (1—8. 14—18).
264
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
bezeichnet wurde. Die kennzeichnenden Merkmale der Masowischen Gruppe besitzt es nicht eigentlich; vielleicht mag ihn die Urne „wandalisch" angemutet haben, doch gibt es im Gebiet der Oxhöfter Kultur immer wieder vereinzelt einmal Gefäße, die typologisch denen der Przeworsker Kultur sehr nahe stehen78. Nach seiner geographischen Lage zu urteilen, könnte das Grab Michelau durchaus zur Masowischen Gruppe gehören. Nicht recht einzusehen ist es, daß Kostrzewski die Mittellat^nefibel mit Kugeln auf dem Bügel von Gradowo, Kr. Nieszawa 78 , und die Speerspitze von Smilowice, Kr. Wloclawek 8 0 , für „burgundisch" halten wollte. Gewiß sind Speerspitzen in der vorrömischen Eisenzeit im allgemeinen für die Oxhöfter Gruppe kennzeichnend 81 , aber als einziges Kriterium reicht ein Speer für eine kulturelle Einordnung eines Grabes eben doch nicht aus 82 . Dasselbe gilt für die einschneidigen Schwerter von Kuznocin, Kr. Sochaczew 83 . Schwerter dieser Art sind „typisch" für die Oxhöfter Kultur, fehlen allerdings in der Przeworsker Kultur in der vorrömischen Eisenzeit nicht völlig 84 . Auch Bohnsack stand vor ähnlichen Schwierigkeiten der Abgrenzung bei „burgundischem" und „wandalischem" Material, denn der Fundstoff hatte sich in den Jahren seit dem Beginn des ersten Weltkriegs im „Grenzgebiet" zwischen „Burgunden" und „Wandalen" kaum vermehrt. Er behalf sich mit der Annahme: „Eine scharfe Grenze zwischen Burgunden und Wandalen zu ziehen, ist in diesem Gebiet nicht möglich". Er sprach von einer Mischzone zwischen Weichsel und Netze. Aus einzelnen „wandalischen" Fundstücken schloß er, „wandalische" Bevölkerungsteile hätten teilweise zwischen den „Burgunden" gesiedelt 85 . Nördlich der Weichsel 78
79
80 81 8!
83 84
85
D. Bohnsack, a . a . O . 1 1 2 klassifizierte deswegen eine ganze Anzahl von Funden aus Posen und Kujawien als „wandalisch". — Vgl. auch: W . Heym, Drei Spätlatenegräberfelder aus Westpreußen, in: O f f a 17/18 (1959/61) 143 ff. Abb. 3, 1 4 ; 8. 14. 16. 26. — Vollkommene Übereinstimmung in allen kulturellen Merkmalen kann man bei einzelnen Bestattungen auch nicht unbedingt erwarten. Beispielweise würden etliche Gräber des Friedhofs Wilanow — aus dem Zusammenhang gerissen — nicht sicher der Masowischen Gruppe zugeordnet werden können. J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlatenezeit 1 (1919) 25. 253; a. a. O. 2 (1919) 92. J. Kostrzewski, a. a. O. 1 (1919) 253; a. a. O. 2 (1919) 42. Vgl. J . Kostrzewski, a. a. O. 1 (1919) 124 f. J. Kostrzewski, a. a. O. 2 (1919) 42 nannte eine „wandalische" Speerspitze aus Galizien. — Kaiserzeitliche Speerspitzen sind denen der Latenezeit oft sehr ähnlich. J. Kostrzewski, a. a. O. 1 (1919) 228. J . Kostrzewski, a . a . O . 1 (1919) 1 0 5 ; Chr. Pescheck, Die frühwandalische Kultur in Mittelschlesien (1939) 56. D. Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 1 1 2 f.
Probleme der archäologischen Quellen
265
hielt er die Funde von Borowiczki 8 ' und Setropie, beide Kr. Plock87, als Zeugen für die Anwesenheit von Burgunden, und audi südlich des Flusses in Ostkujawien und im Bzura-Gebiet rechnete er mit „Burgunden" 88 . So kann man heute nicht mehr argumentieren; aber auch der heutige Forschungsstand macht es noch immer schwer, einen besseren Weg zu finden. Nur größere, gut ausgegrabene und veröffentlichte Gräberfelder können entscheidend weiterhelfen. Für das östliche Kujawien läßt das Gräberfeld von Piotrk6w Kujawski, Kr. Radziejöw, nunmehr deutlich erkennen, daß ganz Kujawien zur Przeworsker Kultur, aber nicht zu deren Masowischer Gruppe gehörte8'. Die Gräber von Bielawy, Kr. Lowicz, zeigen dasselbe für das Bzura-Gebiet 90 . Die Stellung der Friedhöfe von Borowiczki und Osnica, beide Kr. Plods91, läßt sich noch immer nicht klären. Die Gräberfelder und -gruppen im Gebiet der Soldau (Dzialdowka) und ihrer Nebenflüsse scheinen zur Masowischen Gruppe zu gehören, deren Westgrenze das unbesiedelte Sandergebiet zwischen den Flußsystemen der Drewenz und der Soldau gebildet haben dürfte98. Doch sind von Gräberfeldern westlich der Soldau — Drozdowo, Dziektarzewo, Dzierzqznia, Koloz^b, alle Kr. Plonsk, und Setropie, Kr. Plock — ausgenommen das erstgenannte93 — bislang keine klassifizierbaren Funde veröffentlicht worden94. ' Vgl. G. Proniewski, Probrzeze wisly w najblizszej okolicy Plocka pod wzyl?dem archeologicznym, in: Przegl^d Arch. 1 [ I I — I I I , 3 — 4 ] (1921) 93 f. 116. 120. 8 7 L. Rutkowski, Cmentarzyska z grobami rz^dowemi w Krasinie, Romatowie i Koziminach w pow. Sierpeckim i Plonskim, gub. ploduej, in: Swiatowit 7 (1906) 11; A. Kempisty, Obrz^dek pogrzebowy w okresie rzymskim na Mazowszu, in: Swiatowit 26 (1965) 43. 8 8 D. Bohnsadc, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 113 Abb. N r . 75. 8 9 E. Kaszewska, Cmentarzysko kultury wenedskiej w Piotrkowie Kujawskim, pow. Radziejöw, in: Prace i Materaly Muz. Arch. i Etnogr. w Lodzi Ser. Arch. 8 (1962) 5 — 7 6 . 9 0 M. J . Gozdowski, Zabytki z cmentarzyska w Bielawach, pow. t o w i d u , in: Swiatowit 18 (1947) 6 9 — 9 7 bes. 86 ff. Abb. 11—13. 9 1 G. Proniewski, Przeglqd Arch. 1 [ I I — I I I , 3 — 4 ] (1921) 84 f. 93 f. 120; A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem w okresach poznolatenskim i rzymskim na Mazowszu (1966) 150. 155. 9 2 A. Niewijglowski, a. a. O. 47 ff. Abb. 1 u. Karte 2. 9 5 W . Bernat, Cmentarzysko cialopalne z okresu rzymskiego we wsi Drozdowo, pow. Plonsk, in: Wiadomosci Arch. 22 (1955) 2 1 2 — 2 1 4 Abb. 2. 3. 7. 8. 11—12. 9 4 A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem w okresach poznolatenskim i rzymskim (1966) 151 ff. N r . 161. 166. 167. 224. 307.
8
Abb. 12.
Kacice, Kr. Pultusk, Grab 1947 eines Friedhofs mit Gräbern der Steinkistengräberkultur und der Masowisdien Gruppe (nach Kr. Musianowicz), Abb. 13 gehört zum gleichen Grabinventar — M 1:4,5.
Probleme der archäologischen Quellen
Abb. 13.
267
Kacice, Kr. Pultusk, Grab 1947 eines Friedhofs mit Gräbern der Steinkistengräberkultur und der Masowischen Gruppe (nadi Kr. Musianowicz), Abb. 12 gehört zum gleichen Grabinventar — M 1:4,5.
Im Norden reicht die Masowische Gruppe schon in der vorrömisciien Eisenzeit bis nadi Masuren hinein. Das Grab Michelau könnte in der Tat die Nordwestgrenze markieren. Die Orzyc — ein Nebenfluß der Narew — scheint nach dem Nordosten nicht überschritten worden zu sein. Im Flußgebiet der Liwiec haben die Gräberfelder von Stara Wies und Dobrzankowo (Abb. 3—5) eine Anzahl von Gräbern geliefert, die der Grabsitte und auch der Keramik nach der Masowischen Gruppe zugeordnet werden könnten 95 . Am Mittellauf des Bug ist der Friedhof Drohiczyn®5 W. Radig, Das ostgermanische Gräberfeld v. Stara Wies, Kr. Sokolow, in: Die Burg 3 (1942) 179 ff. Abb. 7. 8. Taf. 3, 9; 5, 2; 4—6 (Stara Wies); T. D^browska u. J. Okulicz, Inventaria Arth. Pologne Fase. X X : PI. 121—125 (La Tene III) (1968) PI. 124—125 (Dobrzankowo).
268
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Kozaröwka, Kr. Siemiatycze, bislang der östlichste Fundort der Masowischen Gruppe aus vorchristlicher Zeit". Der südlichste Fundort scheint Calowanie, Kr. Otwock, zu sein97. Der Friedhof von Mas6w, Kr. Ryki (Garwolin), gehört nicht mehr sicher dazu 98 . Das Gräberfeld von Wilan6w liegt auf dem linken Weichselufer, und es ist deswegen nicht ausgeschlossen, daß auch noch einige andere Fundstellen westlich des Flusses zur gleichen Gruppe gehören, deren Material unveröffentlicht ist". Die Verbreitungskarte der Masowischen Gruppe in der vorrömischen Eisenzeit (Ab. 14) ist ein erster Versuch, das Gebiet dieser Gruppe zu umreißen. Mit der älteren Kaiserzeit veränderte sich ihr Verbreitungsgebiet. Offenbar ist es kein Zufall, daß der Friedhof Wilanow, der ganz sicher vollständig ausgegraben ist, keine kaiserzeitlichen Gräber umfaßt. Ebenso ist es möglicherweise keine Forschungslücke, daß aus dem Gebiet südlich des Bug derzeit nur ganz wenige Gräber bekannt sind, die in den älteren Teil der älteren Kaiserzeit gehören, Eggers' Stufe Bj. Ausnahmen machen das Gräberfeld von Mas6w, Kr. Ryki 100 , das aber in der vorrömischen Eisenzeit nicht eigentlich zur Masowischen Gruppe gehörte, und das Gräberfeld Niecieplin, Kr. Garwolin, dessen Grab V eine frühe, kräftig profilierte Fibel enthält 101 . In Kielpin, Kr. Nowy Dwor Mazowiecki, soll ein Friedhof aus dem Beginn der Kaiserzeit angeschnitten sein; Einzelheiten sind unbekannt 102 . Von den kaiserlichen Gräbern von Stara Wies, Kr. W?gr6w, ist — entgegen der Ansicht W. Radigs — keines sicher in die Stufe Bi zu datieren103, und von den zahlreichen Fibeln aus zerstör96
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Z. Szmit, Groby z okresu latenskiego i rzymskiego na Cmentarzu „Kozar6wka" w Drohiczynie nad Bugiem, in: Wiadomosci Arth. 6 (1921) 61—70 Abb. 1—20. 63; ders., Cmentarz latensko-rzymski „Kozarowka" w Drohiczynie nad Bugiem, in: Wiadomosci Arch. 8 (1923) 152—175 Abb. 12—27. 32. 37—53. A. Kietlinska, Gröb z okresu latenskiego we wsi Calowanie, pow. Garwolin, in: Sprawozdania P. M. A. 2 (1948/49) 63—68 Taf. 5—6. J. Gurba, Gr6b wojownika z pöznego okresu latenskiego z Mazowa w pow. garwolinskim, in: Przegl^d Arch. 10 (1958) 326—331 Abb. 1—11. Möglicherweise Czersk und Pölko, beide pow. Grojec, und Grzyb6w, pow. Kozienice; vgl. A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem (1966) 151 ff. Nr. 154. 195. 289. J. Gurba, Cmentarzysko latensko — rzymskie w Masowie, pow. Garwolin, badane w 1953 r., in: Wiadomosci Arch. 20 (1954) 303. R. Kozlowska, Cmentarzysko z okresu poznolatenskiego i wczesnorzymskiego w Niecieplinie, pow. Garwolin, in: Materiaiy Star. 4 (1958) 337—365 bes. 342 Taf. 110, 2—5. R. Jakimowicz, Sprawozdanie z dziafalnosci P. M. A . z a 1928 rok, in: Wiadomosci Arch. 13 (1935) 242 f. W. Radig, Die Burg 3 (1942) 203. 220.
Probleme der archäologischen Quellen
269
ten Gräbern gehört keine in die früheste Kaiserzeit104. Audi der Friedhof Dobrzankowo, Kr. Przasnysz, hat keine Gräber der Stufe Bi, ergeben1043. Von den 43 Gräbern des Friedhofs Osieck, Kr. Otwock (Garwolin), gehört ebenfalls keines in die Stufe Bi105. Spät in der Kaiserzeit scheinen die Gräberfelder Grodzisk Masowiecki104, Hryniewicze Wielkie, beide Kr. Grodzisk Mazowiecki107, Lajski, Kr. Nowy Dw6r Mazowiecki108, beide übrigens nicht sicher zur Masowischen Gruppe gehörig, Siwek, Kr. Wolomin10', und Wçgrow, Kr. Wçgrow110, zu beginnen. Es ist deswegen nicht unwahrscheinlich, daß das ganze Gebiet zwischen Weichsel und Bug in der frühen Kaiserzeit — Eggers' Stufe Bi entsprechend — überhaupt weitgehend fundarm, d. h. siedlungsarm war. Nördlich von Weichsel, Bug und dessen östlichem Nebenfluß Nurzec erweiterte sich die Masowische Gruppe hingegen im Verlaufe der älteren Kaiserzeit sichtlich (Abb. 16—17). Die Besiedlung folgt dem Lauf des Narew über das Mündungsgebiet des Orzyc hinaus. Die Gegend um Ostrolçka und tomza" 1 wurde besiedelt. Der von Kostrzewski erwähnte Fundplatz Nacza, Bez. Lida, der schon redits der Memel (Niémen) liegt118, gehört indes nicht zur Masowischen Gruppe. Diese reicht aber sicher weit in den nordostpolnischen Raum hinein, wie der Friedhof von Zawyki, Kr. tapi 113 , zeigt. Nach dem Norden drang die Besiedlung bis 104 104a
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W. Radig, a. a. 0 . 1 9 7 ff. Taf. 4, 1—11. T. D;jbrowska u. J. Okulicz, Inventaria Arch. Pologne Fase. X X : PL 121—125 (La Tène III) (1968) betonen PI. 124 (1), daß von den 187 Gräbern keines der Stufe Bi angehört. Die kaiserzeitliche Belegung des Friedhofs beginnt mit dem Ende der Stufe B2. T. D^browska, Cmentarzysko z okresu rzymskiego w Osiecku pow. Garwolin, in: Materialy Star. 4 (1958) 255—300 Taf. 85—94. B. Barankiewicz, Cmentarzysko z okresu rzymskiego w Grodzisku Mazowieckim, in: Materialy Star. 5 (1959) 191—230 Taf. 1—14. Z. Szmit, Sprawozdanie z poszukiwan ardieologicznych w Hryniewiczach Wielkich koto Bielska Podlaskiego, in: Wiadomos'ci Arch. 7 (1922) 111 ff. Abb. 55—103. T. Liana, Znaleziska z okresu pöznolatenskiego i rzymskiego na terenadi miçdzy Wislq a dolnym Bugiem, in: Materialy Star. 7 (1961) 216 Taf. 1—2. A. Kietlinska, Materialy do osadnietwa przedhistorycznego okolic Radzymina, in: Sprawozdania P. M. A. 4,1—2 (1951) 65—74 Abb. 1—15. T. Liana, Materialy Star. 7 (1961) 219 Taf. 3, 14—17. Vgl. Anlage 6 b; Nr. 4 (Brzezno), 6 (Chrostowo) (?), 24 (Jankowo), 27 (Kqty), 40 (Kunin), 46—47 (Mqtwica), 50 (Miastkowo), 67 (Rostki), 93 (Zawyki). J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spatlatènezeit 1 (1919) 232; 2 (1919) 98; W. Szukiewicz, Materialy antr. arch. 9 (1907) 139—142 Taf. 13—14; ders., a. a. 0 . 1 3 (1914) 72 f. Taf. 29—30. D. Jaskanis, Groby cialopalne z okresu rzymskiego w miejscowosci Zawyki, pow. Lapy, in: Rocznik Bialostocki 2 (1961) 401—416 Abb. 1—4 Taf.24 bis 26.
270
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
in den ehem. Kreis Orteisburg (Szszytno) vor114. Im ehem. Kreise Neidenburg (Nidzica) mehrten sich die Fundstellen beträchtlich. Von dort aus muß die Besiedlung des südlichen Teils des ehem. Kreises Osterode (Ostr6da) erfolgt sein, wo Friedhöfe der Masowischen Gruppe aus Kundiengut (Kunki)115, Rzepken (Rzepki) 1 " und Wilken (Wilkowo)" 7 bekannt
Abb. 14.
114
115
116 117
Verbreitung der Masowischen Gruppe in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit; 0 = Fundstelle der Masowisdien Gruppe; O = Fundstelle nicht sicher Masowische Gruppe; vgl. dazu Abb. 15.
C. Engel u. W. La Baume, Kulturen u. Völker d. Frühzeit im Preußenlande (1937) 122 Anm. 24. E. Hollack u. F. E. Peiser, Das Gräberfeld v. Moythienen (1904) 9; E. Hollack, Erläuterungen zur vorgesch. Ubersichtskarte v. Ostpreußen (1908) 80. E. Hollack u. F. E. Peiser, a. a. O. 9 f. E. Hollack, Erläuterungen (1908) LIV u. 181.
Probleme der archäologischen Quellen
271
sind, von denen bislang allerdings noch keiner genauer untersucht worden ist. Wie weit sich die Masowische Gruppe nach dem Westen ausgedehnt hat, ist für die ältere Kaiserzeit, wie für die vorrömische Eisenzeit nicht genau zu übersehen. Von Ciechocin an der Drewenz (Drw^ca), Kr. Lipno, liegt eine alte Nachricht über ein Gräberfeld mit Steinkreisen vor118. Eine ähnliche Notiz gibt es aus Kurowo, Kr. Sierpc119.
15
Abb. 15.
118
30
45
60
75KM
Verbreitung der Masowischen Gruppe in der älteren Römischen Kaiserzeit; O = Fundstelle der Masowischen Gruppe; O = Fundstelle nicht sicher Masowische Gruppe; vgl. dazu Abb. 14.
J. Z.[aborski], Materialy do mapy gubernii Piockiej, in: Swiatowit 2 (1900) 139. L. Rutkowski, Cmentarzyska z grobarni rz^dowemi w Krasenie, Romatowie i Koziminadi, in: Swiatowit 7 (1906) 8 ff.
272
Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Die Verbreitung der Masowischen Gruppe in der älteren Kaiserzeit (Abb. 15) scheint also insgesamt eine Verschiebung des Siedlungsraumes anzuzeigen, die um Christi Geburt erfolgte. Das Gebiet südlich des Bug scheint preisgegeben worden zu sein; dafür erfolgte eine beträchtliche Ausdehnung des Siedlungsraumes nach dem Nordosten, Norden und Nordwesten und allgemein eine Vermehrung der Fundstellen. Im Verlaufe der jüngeren Kaiserzeit nahm die Zahl der Fundstellen im Bereich der Masowischen Gruppe bemerkenswert ab120. Eine kleine Anzahl von Gräberfeldern, die bereits in der älteren Kaiserzeit in Benutzung waren, lief noch bis in die jüngere Kaiserzeit hinein weiter 121 ; viele andere wurden offenbar aufgegeben. An Stelle der bislang überwiegenden Flachgräberfelder treten nunmehr verstreut und in der Regel nicht dort, wo vorher bestattet wurde, Hügelgräber auf. A. Kempisty und A. Niew^glowski haben auf diese Änderungen hingewiesen und an Zuwanderung fremder Bevölkerungsteile aus dem Nordwesten bzw. an Abwanderung der Eingesessenen gedacht122. In der Tat ist der Unterschied zwischen Körpergräbern wie denen von Bialowieza, Kr. Hajnöwka 123 , und dem annähernd gleichzeitigen Brandgrab I von Zawyki, Kr. tapi 1 2 4 , oder den beiden Grabhügeln mit Körpergräbern von Pilgramsdorf (Pielgrzymowo), Kreis Neidenburg 125 , und dem Brandgrab VII von GroßSchläfken (Slawka Wielka), Kr. Neidenburg 126 , groß. Aber die Grabhügel, die im Verlaufe der jüngeren Kaiserzeit auftaudien, haben nicht alle denselben Charakter, wie die Brandgrube in einem Grabhügel von 120
A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem (1966) 38 ff. 170. Vgl. Anlage 6 b, Nr. 3 (Biaio^ka — 2eran), 8 (Czersk), 13 (Drozdowo), 16 (Garlino — Zalesie), 17 a (Goworowo), 33 (Kolozqb), 60 (Piastow), 67 (Rostki), 72 (Sokolowek — Kuligow). — Vgl. auch A. Niew^glowski, a. a. O. Karte 6. 122 A. Kempisty, Obrzqdek pogrzebowy w okresie rzymskidi na Mazowszu, in: Swiatowit 26 (1965) 141 ff. 152 f. 161; A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem (1966) 74 ff. 123 f . Dzierzykray-Rogalski u. J. Jaskanis, Grob szkieletowy dzietka z pöznego okresu rzymskiego, odkryty w 1959 r. w Biaiowiezy, pow. Hajnowska, in: Rocznik Bialostocki 1 (1961) 283—291 Abb. 5—7. 124 D. Jaskanis, Groby cialopalne z okresu rzymskiego w miejscowosci Zawyki, pow. tapy, in: Rocznik Bialostocki 2 (1961) 401—416 bes. 409 Taf. 25, 11—13; 26, 1—6. 125 D. Bohnsack, Ein ostgermanisdies Fürstengrab bei Pilgramsdorf in Ostpreußen, in: Germanenerbe 2 (1937) 258—261; ders., Die Germanen im Kreise Neidenburg, in: Altpreußen 3 (1938) 75 ff. Abb. 17—23; W.Hülle, Ein ostgerm. Hügelgrab bei Pilgramsdorf, in: Mannus 32 (1940) 154—165 Abb. 1 bis 12. 128 F. E. Peiser, Groß Schläfken, in: Prussia 22 (1909) 328—333 Abb. 197 Taf. 51.
121
Probleme der archäologischen Quellen
273
Bogucin, Kr. Plonsk127, zeigt. Doch audi die einfachen Brandgräber weisen in der jüngeren Kaiserzeit nicht mehr die alte Einheitlichkeit auf. Erstmals nach rund zweihundert Jahren treten wieder Waffengräber auf, wie das Grab 9 von Paluki, Kr. Ciechanöw, mit Lanzenspitze, Schildbuckel und -fessel128 und das Grab 12 von Piastow (Pajki), Kr. Przasnysz — es mag ursprünglich mehr als Gefäßreste und eine Lanzenspitze enthalten haben12' —, das Grab 1 des Friedhofs Rostki, Kr. Ostroi^ka (Abb. 18—19)"°, und das Grab 19 von Tuchlin, Kr. Wyszk6w131. Von den gewöhnlichen Brandgräberfeldern der Masowisdien Gruppe unterscheiden sich ferner das Gräberfeld von Littfinken (Litwinki), Kr. Neidenburg, von dessen etwa 50 Bestattungen zwei bis fünf Körpergräber waren132, und offenbar auch die Friedhöfe Burdungen (Burdqg), Kr. Neidenburg133, und Malschöwen (Maiszewko), Kr. Orteisburg134. Ein jüngerkaiserzeitliches Gräberfeld fremden Charakters hat auch die Gemarkung Grodtken mit der Fundstelle Grodtken (Grödki)-Zwierzyniec geliefert135. Manches, was auf den ersten Blick so verschiedenartig ersdieint, ist jedoch kulturell im Grunde einheitlich. Hügelgräber mit Steinpackungen oder Steinkreisen, in denen die Toten verbrannt oder unverbrannt bestattet wurden — denen von Bialowieza, Pilgramsdorf (Pielgrzymowo) und Bogucin ähnlich —, und Flachgräber mit Brand- und Körperbestattungen — denen von Littfinken (Litwinki) und Grodtken-Zwierzyniec vergleichbar — haben ihren Ursprung in der Oxhöfter Kultur der jüngeren 127
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134 1M
W. Bernat, Kurhany z p6znego okresu rzymskiego we wsi Bogucin, pow. Plonsk, in: Wiadomosci Arth. 22 (1956) 210—212 Abb. 1—6. W. La Baume, Ostgermanische Grabfunde aus Paluki, Kreis Zichenau, in: Altpreußen 8 (1943) 4 Abb. 3 b; 4 a u. e; 5 e u. g; 6 a—e. F. E. Peiser, Das Gräberfeld von Pajki bei Praßnitz in Polen (1916) 5 f. Taf. 2, 24—25. F. E. Peiser, a. a. O. 1. 7. Taf. 4, 48—58; 5, 59. L. Okuliczowa, Cmentarzysko z okresu rzymskiego w Tuchlinie pow. Wyszköw, in: Wiadomosci Arch. 30 (1964) 379 f. Abb. 20. F. E. Peiser, Übersichten u. Notizen. Ostpreußen, in: Prähist. Zeitsdlr. 2 (1910) 412 f. E. Hollack, Erläuterungen (1908) 20; R. Schindler, Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden (1940) 129 Nr. 306; D. Bohnsack, in: Altpreußen 3 (1938) 79. E. Hollack, a. a. O. 96; R. Schindler, a. a. 0 . 1 2 9 Nr. 315. E. Holladc, Erläuterungen (1908) 46: »Grodtken f"; t . u. J. Okulicz, The La Tene and the Roman Periods in Northern Masovia and in Southern Mazurian Area in the Light of New Discoveries, in: Arch. Polona 4 (1962) 286—294 Abb. 6.
18 Hadimann, Goten und Skandinavien
274
Abb. 16.
Die Ardläologie und die festländischen Gotensitze
Tuchlin, Kr. Wyszkow, Grab 16; Grabgrube mit Beigaben in Fundlage nach t . Okuliczowa); vgl. Abb. 17.
Kaiserzeit 136 . Waffengräber gibt es allerdings auch in der späten Oxhöfter Kultur nicht. Deren Auftreten weist in den Bereich der südlichen und südwestlichen Gruppen der Przeworsker Kultur, w o Waffenbeigabe bis in die jüngere Kaiserzeit hinein in Männergräbern die Regel blieb. Es sind also 13» Vgl. J . Kmiecinski, M. Blombergowa u. K. Walenta, Cmentarzysko kurhanowe ze starszego okresu rzymskiego w W^siorach w pow. Kartuskim, in: Prace i Materialy Muz. Ardi. i Etnol. w todzi Ser. Arch. 12 (1966) 39—122 Taf. 1—95.
Probleme der archäologischen Quellen
Abb. 17.
275
Tuchlin, Kr. Wyszkow, Grab 16; Frauengrab der beginnenden jüngeren Römischen Kaiserzeit (nach L. Okuliczowa) — M 1:1,5 (5. 7. 2.), 1:3 (1—4), 1:4,5 (6.9—10).
276
Die Ardiäologie und die festländischen Gotensitze
verschiedene Einflüsse, die sich in einem fortgeschrittenen Teil der jüngeren Kaiserzeit bemerkbar machen. Eine Abwanderung — mindestens aber eine Abnahme — der alteingesessenen Bevölkerung scheint in der Tat vor sich gegangen zu sein. Ganze Gräberfelder und -gruppen fremden Charakters zeigen eine Zuwanderung aus dem Nordwesten an. Übernahme der Waffengrabsitte aus dem Süden oder Südwesten kommt in Betracht. Eine weitere Untersuchung der kulturellen Verhältnisse in Masowien in einer Spätphase der jüngeren Kaiserzeit — Eggers* Stufe C2 und Ca entsprechend — verbietet sich in diesem Rahmen, denn für den Zusammenhang zwischen Goten und Skandinavien ergibt sie nichts. Selbst wenn sich ergeben würde, daß die Masowische Gruppe nach dem Norden abgewandert sein sollte, erklärt das die frühesten Goten in Skandinavien
O
Abb. 18.
25
50cm
Rostki, Kr. Ostrol^ka, Gräber 1 und 2; Grabgrube mit Beigaben in Fundlage (nadi A. Kempisty u. J . Okulicz).
— die des Ptolemaios — nicht. Für die Frage der Abwanderung der Goten nach dem Südosten wäre der Verbleib der Masowischen Gruppe gewiß interessant, doch steht dieses Problem hier nicht zur Diskussion. Doch nun zum eigentlichen Ausgangspunkt zurück, zur Frage der Lokalisierung der Goten an Hand des archäologischen Materials: In der
Probleme der archäologischen Quellen
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Tat findet sich, wo die Antike die Goten lokalisiert hat, d. h. an der Weichsel und zwar östlich des Flusses und nicht an der Küste, eine archäologische Gruppe, die dort bereits mit dem Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, also spätestens um 100 v. Christi Geburt, nachweisbar ist und — unter Veränderung ihres Verbreitungsgebietes — bis in die jüngere Kaiserzeit hinein reicht. Der Beweis dafür, daß diese archäologische Gruppe den Goten zuzuweisen ist, ist ebenso sicher, wie die Identifizierung des Fundguts im Elbe-, Weser- und Rheingebiet mit anderen germanischen Stämmen, die lange anerkannt ist. Ein exakter Nachweis im Sinne der Naturwissenschaften ist wohl für keinen Identifizierungsversuch zu erbringen, auch für solche nicht, die längst als richtig anerkannt sind. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei der Masowisdien Gruppe um die Goten handelt, ist aber vergleichsweise hoch. Man kann mit guter Begründung sagen, mit der Masowischen Gruppe liegt die archäologische Hinterlassenschaft der festländischen Goten vor, und diese Feststellung führt wieder ein Stück weiter. Wenn überhaupt, dann können die Goten mit ihren Hauptteilen eigentlich nur vor ca. 100 v. Chr. Geb. nach Masowien eingewandert sein. Das unvermittelte Auftreten von Gräberfeldern vom Typ der Masowischen Gruppe sagt über deren Herkunft noch nichts aus. Die gesamte Przeworsker Kultur macht den Eindruck, als ob sie plötzlich und ohne Vorgänger dagewesen sei. Hier könnte es sich aber durchaus um eine unvermittelte oder sich sehr rasch vollziehende Wandlung der Kultur handeln, die einen Kulturwechsel — dementsprechend auch einen Bevölkerungswechsel — vorspiegelte. Die Frage der Herkunft der Masowischen Gruppe muß nun genauer untersucht werden. Ist sie im Lande entstanden? Besteht zwischen ihr und der skandinavischen Kultur der Zeit vor Christi Geburt ein Zusammenhang? Sollten Goten aus dem Masowischen Raum nach dem Norden verschlagen sein, so könnte das noch bis ins beginnende 2. Jahrhundert nach Chr. Geb. geschehen sein. Eine derartige Abwanderung nach dem Norden könnte indes nicht die ganze Masowische Gruppe betroffen haben, da sie ja in Masowien und Südmasuren durch das 2. Jahrhundert weiterexistierte. Dennoch wäre auch das genauer zu untersuchen. Aber wie sollte man weiterkommen? Weiß man, w i e die Wanderung verlaufen sein müßte, und w i e sie, wenn sie erfolgt wäre, sich im archäologischen Fundgut spiegeln könnte? Gibt es d e n Modellfall der Völkerwanderung und ihres archäologischen Nachweises, dem entsprechend sich die Goten — so oder so — verhalten haben m ü ß t e n und dem entsprechend der Ablauf sich archäologisch abzeichnen m ü ß t e ?
Abb. 19.
Rostki, Kr. Ostrol^ka, Grab 1; Waffengrab der jüngeren Römischen Kaiserzeit (nach A. Kempisty u. J. Okulicz); M 1:1,5 (1—3. 9.), M 1:3 (4—8. 10—11), M 1:4,5 (12).
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Abb. 20.
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Rostki, Kr. Ostrol^ka, Grab 2; Frauengrab der jüngeren Römischen Kaiserzeit (nach A. Kempisty u. J. Okulicz); M 1 : 1 , 5 (1—3.5), M 1:4,5 (4).
3. Zum Problem des archäologischen Nachweises von Bevölkerungsveränderungen: „Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt Der Begriff der Völkerwanderung ist seinem Inhalt nach so weit gespannt und uneinheitlich, daß man — wenn man wollte— behaupten könnte: Es gibt keine Völkerwanderungen, nur Bevölkerungsveränderungen verschiedener Natur, hödist unterschiedlicher Ursachen, ausgesprochen verschiedenartigen Verlaufs und mannigfacher End- und Folgezustände. Darunter ist die Völkerwanderung stricto sensu — die Abwanderung ganzer „Stämme" und die vollständige Entleerung des bisherigen Siedlungsraums — nur ein Sonderfall. Als solcher kann sie nicht bestritten werden, aber nach dem Einzelfall ist sie vom Althistoriker und vom Vor-
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
und Frühgeschichtsforscher an Hand von spärlidien Quellenbelegen am Schreibtisch zum „Normalfall" gemacht worden 1 . Was verbirgt sich aber in der „historischen Praxis" nidit alles unter diesem Begriffsschema? Die Bevölkerungsveränderung reicht von der geschlossenen Auswanderung einer ganzen Bevölkerungsgruppe — eines Stammes der konventionellen Bezeichnung nach — mit einheitlicher Führung über den mehr oder minder stark geplanten und organisierten Abzug einzelner Teile der Bewohnerschaft unter Ausdünnung der gesamten Besiedlung oder unter Evakuierung einzelner kleinerer Landesteile bis zur Abwanderung von Gruppen, Familienverbänden, Familien, Gefolgschaften, von vor der Wanderung weder räumlich noch verwandtschaftlich zusammenhängenden bzw. zusammengehörigen Scharen bis zu der Auswanderung von einzelnen Personen. Alle möglichen Übergangsformen sind nicht nur denkbar, sondern auch geschichtlich belegbar. Die Wanderung kann wohl unter einheitlicher Führung stehen, auch wenn die Wandernden unterschiedlicher Herkunft waren. Sie kann selbst bei gleicher Herkunft aller Teilnehmer spontan und unorganisiert verlaufen. Eine Bevölkerungsveränderung kann sich als ein zeitlich geschlossener Vorgang mit klar faßbarem Anfang und eindeutigem Ende vollziehen. Sie kann sich aber auch kontinuierlich über längere Zeiträume hinziehen. Sie kann beginnen, abebben und neu aufleben. Pioniere können größere Bevölkerungsmengen nachrufen. Mit enttäuschten Rückwanderern muß man ebenso rechnen wie mit erfolglosen, demoralisierten und dezimierten Gruppen, die der alten Heimat wieder zustreben. Dort können ihnen vertraglich ihre alten Wohnsitze garantiert worden sein, doch ist es möglich, daß sie längst wieder besiedelt waren. Bevölkerungsverschiebungen können sich über kurze Strecken vollziehen oder aber auch weite Entfernungen überwinden. Verschiedene Ansiedlungsversuche können die Wanderung unterbrechen. Erstreckte sich die Wanderung über längere Zeiträume, so starben unterwegs die Älteren; Kinder wurden geboren. Kämpfe dezimierten die Zahl der Erwachsenen, ungünstige Lebensbedingungen die der Säuglinge und Kleinkinder. Die Zahl der Wandernden konnte schrumpfen. Auffüllung durch Kriegsgefangene oder andere konnte angestrebt und Zustrom von Fremden konnte gelitten werden. Eine Auswanderung kann durch verschiedenartigste Gründe ausgelöst sein; beginnende Erschöpfung des Ackerbodens und des Weidelandes, Bevölkerungsvermehrung (vgl. dazu unten S. 328 ff.), Hoffnung auf besseres Land unter günstigeren klimatischen Bedingungen, Raub- und Beutelust, Mangel an Frauen, Hoffnung auf Wohlhabenheit oder auf 1
Eine Variante ist es, bei Wanderungen einen konstanten „Traditionskern" anzunehmen. — Vgl. R . Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 75.
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Ruhm, soziale oder religiöse Spannungen in der Heimat, politische Unterdrückung, dynastische Rivalitäten und manches andere mehr. Die Wanderung kann g a n z e Familien — Frauen, Kinder und Alte eingeschlossen — oder aber auch nur Gruppen von Männern umfassen. Sie kann ethnisch einheitlich sein; die Auswanderer können aber von vornherein verschieden geartete Gruppen umfassen, oder es können sich ihnen auf der Wanderung Fremde anschließen. Die Wandernden können sich unterwegs veruneinigen und trennen und sich an verschiedenen Stellen niederlassen. Der Wanderzug kann durch Kämpfe, Krankheit oder natürlichen Abgang der Alten dezimiert, ja er kann aufgerieben werden. Schließlich kann sich die Bevölkerung unter den unterschiedlichsten Bedingungen in der neuen Heimat niederlassen. Sie kann ein bislang unbesiedeltes Gebiet besetzen. Sie kann aber audi die vorhandene Bevölkerung beseitigen, d. h. vernichten oder ihrerseits zur Auswanderung zwingen. Es kann aber auch ebensogut zu einer gestreuten Ansiedlung zwischen den Einheimischen kommen. Einordnung in die in der neuen Heimat bestehenden Lebensformen und Institutionen ist ebenso möglich wie Übernahme der Herrschaft und der kulturellen Führung. Konnubium mit Einheimischen kann gefördert, kann ebensogut aber auch gesetzlich verboten werden. Das Verhältnis der Kultur der Einwandernden zu der der Einheimischen kann ganz verschieden sein. Kulturelle „Überlegenheit" der Zuwanderer kann vorhanden sein, das Umgekehrte ist ebenso möglich. Kulturelle Angleichung kann angestrebt werden, kann sich wider Willen vollziehen, kann ebenso aber auch auf Grund unterschiedlicher wirtschaftlicher oder sozialer Gegebenheiten trotz gegenteiliger Absichten unmöglich sein. Assimilation kann sich vollkommen vollziehen oder einzelne Kulturbereiche — Religion, Wirtschaftsweise, Recht — ausklammern. Beides — Assimilation oder „Apardheid" — kann angestrebt, aber nicht erreicht, verboten, aber trotzdem vollzogen werden. Man könnte einen Katalog historisch belegter Fälle erstellen, der ein großes Volumen erreichen würde. Durch Vergleich aller Details könnte man wahrscheinlich mehrfach belegte, ähnliche oder fast gleiche Abläufe — also Typen — aussondern. Dadurch würde der Katalog schrumpfen; doch bliebe er groß, weil der Spielraum der Möglichkeiten fast unbegrenzt erscheint. So weit gestreut Ursachen, Abläufe und Ergebnisse von Wanderungen sein können, so verschiedenartig muß man sich die Projektion solcher Vorgänge in den archäologischen Fundstoff vorstellen. Die archäologische Dokumentation von Wanderungen könnte abhängig sein von der Kultur der Wandernden und von der der neuen Umwelt, vom Kulturgefälle, von
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der Zahl der Wandernden und der, auf die sie in ihrer neuen Heimat treffen, von der Bereitschaft, sich fremden, in der neuen Heimat herrschenden Gebräudien anzupassen, oder von der Hartnäckigkeit, alte Traditionen selbst in einer ganz unpassenden Umwelt zu erhalten. Wenn ehedem G. Kossinna von Völkerwanderungen sprach, dann dadite er dabei offensichtlich im Grunde an die Auswanderung geschlossener Bevölkerungsgruppen. Seine Vorstellung vom Ablauf von Wanderungen und von deren archäologischem Nachweis waren „akademisch" konzipiert und entbehrten des rechten Gefühls für das historisch Mögliche, und seine Darstellungen von Wanderungsabläufen widersprachen allzu oft seinen eigenen Denkprinzipien2. Es ist heute durchaus möglidi Kossinnas Gedankenwege zu durchschauen. Nachdem aber sein Denken paradigmatisch analysiert und illustriert worden ist (vgl. oben S. 149 ff.), scheint es nun nicht mehr erforderlidi, auf Einzelheiten einzugehen, d. h. seine eigenen Inkonsequenzen zu zeigen und sein oft recht willkürliches Vorgehen zu demonstrieren. Das hätte nur Sinn, wenn eine Kritik an seiner „Methode" zu einer einheitlichen Theorie der Völkerwanderungen führen könnte, und wenn es möglich wäre, auf der Grundlage einer solchen Theorie feste Prinzipien des Nadiweises von Wanderungen an Hand des archäologischen Fundstoffs zu gewinnen3. Darauf ist aber nidit zu hoffen. Es wäre aber gewiß falsch, aus dem Versagen der „Methode Kossinna" nur negative Schlüsse zu ziehen4. Was kann man in einer Situation, in der Kossinnas Denken noch nachlebt und in der mangelhaftes Nachdenken über dessen Hintergründe teilweise zu einer faden Skepsis geführt hat, Positives tun? Am zweckmäßigsten erscheint es, zunächst einen möglichst pragmatischen Ansatz zu finden. Eine Liste signifikanter Fälle, wo ohne Rücksicht auf die Existenz historischer Nachrichten oder ohne deren Zuhilfenahme das archäologische Fundgut sich nur verstehen läßt, wenn man Bevölkerungsveränderungen, d. h. Zu- oder Abwanderungen von Bevölkerungsteilen, annimmt, scheint das Nächstliegende zu sein. Nur ein solcher Katalog — nicht theoretische Vorüberlegungen — hat Sinn, wenn es sich darum handelt, in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Goten und Skandinavien voranzu2
Vgl. R. Hachmann, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 16 ff.
' Diesen Weg versuchte G. Gjessing, Vittnesbörd om folkvandringar, in: Fornvännen 50 (1955) 1—10 zu gehen. 4
Vgl. C.-A. Moberg, Vittnesbörd om folkvandringar, in: Fornvännen 50 (1955) 10—19; A. E. Herteig, Er Folkvandringstidens ekspansjon i Rogaland baret av innvandrere eller er den et indre anliggende? in: Viking 19 (1955) 73—88.
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kommen. Es ist nicht schwer, eine Sammlung von Beispielen von vornherein nach einer gewissen ordnenden Systematik anzulegen. Falsch wäre es, wollte man eine solche Zusammenstellung in der stillschweigenden Erwartung beginnen, es werde sich auf diese Weise schließlich schon eine Möglichkeit ergeben, j e d e Art von Bevölkerungsveränderung auf irgendeine Weise doch archäologisch sichtbar zu machen. Man sollte eher voraussetzen, daß es Bevölkerungsveränderungen gibt, die sich archäologisch n i c h t abzeichnen oder s o abzeichnen, daß daraus keine verbindlichen Schlüsse auf eine Wanderung gezogen werden können. Es ist sinnvoll, sich bei der Liste archäologisch nachweisbarer Wanderungen zeitlich an jenen Bereich zu halten, in dem die Germanen als Bevölkerungsgruppe höchstwahrscheinlich existent waren und in dem auch die Wanderung der Goten — sollte sie wirklich stattgefunden haben — erfolgt sein muß, d. h. an den Zeitraum der Jahrhunderte vor und nach Christi Geburt. Verhältnismäßig einfach — und dementsprechend eindeutig — ist die Situation in allen den Fällen, wo eine Landschaft, die keine oder geringe Zeichen einer stationären Besiedlung aufweist, von einer Ackerbau und Viehzucht betreibenden Bevölkerung besiedelt wurde. Für Norwegen läßt sich die Besiedlung der nördlichen Küstenzonen und des Binnenlandes von Süden her und aus den kleinen Siedlungsinseln der vorrömischen Eisenzeit heraus sehr deutlich machen (vgl. Abb. 49. 59—70) und bedarf keiner besonderen Erörterung (vgl. unten S. 414 ff.). Ähnlich — wenn auch minder deutlich — liegen die Verhältnisse in Schweden (vgl. Abb. 48. 51—58). In West- und Ostskandinavien mögen die Vorgänge nicht vollkommen gleichartig verlaufen sein (vgl. unten S. 426 f.). Nicht viel anders dürften die Verhältnisse im westlichen Ostseegebiet gelegen haben, wo Fünen, dann auch Seeland, im Verlaufe der jüngeren vorrömischen Eisenund der Kaiserzeit eine auffallende Fundvermehrung erkennen lassen5. In allen diesen Fällen ist deutlich sichtbar, wie das bislang siedlungsarme Land Schritt für Schritt besiedelt wurde. H . Jankuhn hat den Vorgang für das westliche Ostseegebiet zu deuten versucht6. Falls die künftige Forschung seine Ansichten bestätigen sollte, müßte es möglich sein, eine gewisse lebendige Vorstellung vom Ablauf der Vorgänge zu gewinnen. Ähnlich wie in Norwegen, Schweden, Dänemark und Schleswig-Hol5
J. Brandsted, Danmarks Oldtid 3. Jernalder ( 2 1960) 91 f. u. 237 f.
* H . Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft d. älteren Eisenzeit im westl. Ostseebecken, in: Ardiaeologia geogr. 3 (1952) 23—35.
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stein ist das Bild von der wikingerzeitlichen Besiedlung Islands7 und Grönlands8. Nur treten die Funde, die auf eine Landnahme weisen, unvermittelter auf. Die Länder waren vorher weitgehend unbesiedelt'. Sowohl der isländische als auch der grönländische Fundstoff gibt gewisse allgemeine Hinweise auf die Herkunft der Bevölkerung. Norwegen ist als Herkunftsraum vieler Kulturgüter durchaus erkennbar. Genaue Einzelheiten vom Verlauf der Einwanderung zeigen die Funde indes nicht. Für den germanischen Kontinent lassen sich etliche Fälle nachweisen, die ähnlich gelagert sind wie die skandinavischen Beispiele. Offenbar liegen die Verhältnisse dort aber häufig komplizierter. Selbst Fälle, die sidi auf den ersten Blick geradezu als Paradigmata anbieten, halten oft einer eingehenderen Überprüfung nicht stand. Ein Beispiel möge die Schwierigkeiten beleuchten. Die Gruppe Bodenbach (Podmokly) in Nordböhmen10 ist schon von P. Reinecke als germanisch angesprochen worden11; W. Mähling hat sie als sicher germanisch hingestellt12. Betrachtungsweise und Argumentation Mählings können aber gegenwärtig nicht mehr den Anspruch auf methodische Exaktheit erheben. Dennoch läßt sich gewiß von allen ehedem angestellten Kombinationen einiges als richtig aufrecht erhalten. Mit Sicherheit kann man sagen, daß es sich bei der Gruppe Bodenbach um eine der mitteldeutschen germanischen Brandgräberkultur durch eine ganze Anzahl gemeinsamer Kulturgüter eng verbundene Kulturgruppe handelt. Sie als germanisch zu bezeichnen, ist sicher nicht unrichtig. Der mitteldeutschen germanischen Brandgräberkultur gegenüber setzt sie sich aber durch eine M. Stenberger [ H r g . ] , Forntida gardar i Island (1943) bes. 327 ff., wo die wichtigste Literatur zur wikingisdi-mittelalterlichen Archäologie Islands zusammengestellt ist. 8 P. N0rlund, Wikingersiedlungen in Grönland (1937) bes. 129 ff., wo sidi die wichtigste Literatur findet. • Die Einwanderung der Eskimos erfolgte n a c h der Besiedlung Grönlands durch die Normannen. Vgl. P . Nerlund, a. a. O. 105 ff. — Von Spuren einer älteren, zur Zeit der Einwanderung der Wikinger verschwundenen Besiedlung sprach Ari Frodi in seiner Islendingabok Abschnitt 1, vgl. Islands Besiedlung und älteste Geschichte, in: Thüle 23 (1928) 44. 1 0 O. Menghin, Einführung i. d. Urgesdi. Böhmens u. Mährens (1926) 90 ff.; W . Mähling, Die germ. Landnahme in Böhmen zur Lat^nezeit, in: Altböhmen u. Altmähren 2 (1942) 2 6 — 4 4 ; ders., Die frühgerm. Landnahme im mitteldeutsch-sächsisdi-nordböhmisdien Gebiet (1944) 13 ff.; ders., Die Bodenbacher Gruppe. Zur Frage d. lat^nezeitlichen elbgerm. Landnahme in N o r d böhmen ( 1 9 4 4 ) ; J . Filip, Keltove ve stfedni Evropä (1956) 195 ff. 331. 372 f.; E . u. J . Neustupny, Czechoslovakia before the Slavs (1961) 158. 1 1 P . Reinette, Zu den Gräberfunden v. Bodenbach a. d. Elbe, in: Wiener Prähist. Zeitschr. 2 (1915) 1 5 — 2 6 . 1 2 W. Mähling, Die Bodenbacher Gruppe (1944) 216 ff. 7
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Anzahl kultureller Besonderheiten ab — Bodenbacher Nadeln 13 , Frühlat^nefibeln mit großer Spiralwindung 14 , Tonteller 15 , Tonlöffel mit langem Stiel und Quirle 1 ', relativ häufige Mitgabe von Beigefäßen ins Grab 17 und starkes Hervortreten der Drehscheibenware, darunter von einigen Typen, die in Mitteldeutschland vergleichsweise selten sind18 — und zeigt damit Kulturverbindungen, die es n i c h t erlauben, schlicht von einer Einwanderung der Bodenbacher Gruppe nach Nordböhmen zu sprechen. Das Vorwiegen der Drehscheibenkeramik beruht auf der Nähe und Überlegenheit der keltischen Latene-Kultur in Mittelböhmen und läßt sich durch nachbarlichen Kulturkontakt — Handel — erklären. Anders steht es mit einigen Elementen der Grabsitte. Die Mitgabe von Tontellern ins Grab ist ein Brauch, der dem mitteldeutschen germanischen Kulturgebiet fremd ist. Schon Mähling hat ihn mit derselben in der Billendorfer Kultur herrschenden Sitte in Verbindung gebracht19. Dort treten Tonteller jedoch in der Regel in Verbindung mit kleineren tönernen Räuchergefäßen auf 24 und haben oft eine etwas abweichende Form 21 . Dennoch können die Tonplatten der Bodenbacher Gruppe n u r von der Billendorfer Kultur hergeleitet werden 22 . In der Form der Beigefäße zeichnen sich ebenfalls Spuren des Billendorfer Stils ab23. Die Sitte, mehrere kleine Beigefäße mit ins Grab zu geben, ist in der mitteldeutschen Brandgräberkultur selten nachweisbar und deutet ebenfalls in den Billendorfer Bereich bzw. den der nordostböhmischen Platenitzer Kultur. Auch die Tonlöffel sind auf gleiche Weise zu verstehen24. Das Verbreitungsgebiet der Bodenbacher Gruppe liegt zwar außerhalb des geschlossenen Siedlungsraumes der Latene-Kultur in Böhmen25, 18
W. Mähling, a. a. O. 203 ff. W. Mähling, a. a. O. Taf. 5, 5; 8, 1; 10, 1; 26, 2. — Der Typ ist von Mähling nicht erkannt und beschrieben worden. 15 W. Mähling, a. a. O. 185 Taf. 8, 7. 8 b; 23, 10 b; 24, 2. " W. Mähling, a. a. O. 186 Taf. 9, 5—7; 25, 2.3. 17 W. Mähling, a. a. O. 184 f. Taf. 13, 5; 23, 10 a. 18 W. Mähling, a. a. O. 159 ff. Taf. VII ff. 19 W. Mähling, a. a. O. 185 f. 20 W. Kropf, Die Billendorfer Kultur auf Grund d. Grabfunde (1938) 79 f. 21 W. Kropf, a. a. O. 80 ff. Abb. 201—204. 207—210. 226. 258. 267. 22 W. Kropf, a. a. O. 80 Abb. 205—206. 226. 275. 278. 23 W. Mähling, Die Bodenbadier Gruppe (1944) 184 Taf. XVII, 2; vgl. dazu: W. Kropf, a. a. O. 153 Abb. 263, 1. 24 W. Kropf, a. a. 0 . 1 1 6 Abb. 239. 25 Vgl. J. Filip, Keltov£ ve stiedni Evropi (1956) Abb. 18. — Das dort dargestellte Verbreitungsbild der keltischen Fladigräberfelder umfaßt als Nr. 337 u. 338 die Gräberfelder von Nestomitz u. Bodenbadi, die zur Bodenbadier Gruppe gehören. Die Fundstelle Nr. 339 (Böhmisdi-Kamnitz=£eska Kamenice) ist ihrem Gesamtcharakter nach unklar; vgl. Sudeta N . F. 1 (1939/40) 108. 14
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doch innerhalb des Bereichs der Billendorfer Kultur 26 bzw. der Platenitzer Kultur 27 , die im nördlichen und östlichen Böhmen zeitlich der Billendorfer Kultur entspricht und ihr kulturell nahe steht. Es ist schwierig, das Verhältnis zwischen der Billendorfer Kultur und der Platenitzer Kultur auf der einen und der Bodenbacher Gruppe auf der anderen Seite klar zu umreißen. Die Annahme eines „kulturellen und ethnischen Aufgehens örtlich seßhafter Stämme in das Germanentum" ist eine Vorstellung, die den Tatbestand nicht klar, sondern nur mit anderen Worten ausdrückt, die ihrerseits der Klärung bedürfen28. Sicher ist es, daß die Billendorfer Kultur an der Genesis der Bodenbacher Gruppe beteiligt war. Sollte es ein einfacher Akkulturationsvorgang gewesen sein? Eine Beteiligung von Resten der Billendorfer Bevölkerung an der Bodenbacher Gruppe ist nicht sicher auszuschließen; dementsprechend kann man nicht mit hinreichender Sicherheit von einer Einwanderung der Bodenbacher Gruppe sprechen. Die Sachlage ist gewiß komplizierter. Von der Gruppe Bodenbach läßt sich die Gruppe Kobil (Kobyly) nicht trennen, das erkannte schon M. Jahn 2 *. W. Mähling betonte dagegen, die nordostböhmische spätlatänezeitliche Gruppe Kobil besäße „so gut wie gar keine engeren Bindungen an die Bodenbacher Gruppe" 30 . Das ist jedoch nicht richtig. Das kleine Gräberfeld Nestomitz (Nestemice) lieferte Gräber beider Gruppen31. Es sind zwar keine Bestattungen, die der auf dem Friedhof Kobil nachgewiesenen älteren Zeitstufe angehören' 2 ; ein so unsystematisch ausgegrabener Bestattungsplatz wie der von Nestomitz braucht aber keinen eindeutigen Aufschluß über seine zeitliche Gliederung zu liefern. Es ist deswegen nicht auszuschließen, daß die Gruppe Kobil einfach die unmittelbare Fortsetzung der Gruppe Bodenbach ist. Die unterschiedliche Verbreitung beider Gruppen besagt bei der geringen Zahl bislang bekannter Fundstellen nicht allzu viel. Hier muß der Fehler 26 27
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Vgl. W . Kropf, Die Billendorfer Kultur (1938) 184 f. 2 1 6 f. Karte 1 — 2 . Vgl. J . Filip, DSjinne pocatky Ceskeho Raje (1947) Karte 2. — Vgl. audi dazu: W. Coblenz, Die Stellung d. oberen Elbe b. d. Ausbreitung d. Lausitzisdien Kultur, in: Prähist. Zeitschr. 34/35 (1949/50) 6 2 — 7 5 ; E . Plesl, Vztahy severoceske sidelni oblasti k Sasku v mladsi dobe halstatske, in: Pam. Arch. 51 (1960) 5 3 9 — 5 6 0 . H . Grünert, Früheste Germanen im Süden der D D R , in: Ausgrabungen u. Funde 3 (1958) 252. M. Jahn, Die ersten Germanen in Südböhmen, in: Altböhmen u. Altmähren 1 (1941) 67. W . Mähling, Das spätlatenezeitlidhe Brandgräberfeld von Kobil, Bez. Turnau. Ein Beitrag z. germ. Landnahme in Böhmen (1944) 107. W . Mähling, Die Bodenbacher Gruppe (1944) 104 ff. Taf. 27, 1. 1 a — d (Grab 2 1 ) ; 31, 2 — 2 a (Gr. 1 2 ) ; Taf. X I I , 5 ; X I V , 6 u. 6 a ; Abb. 5 — 6 (Gr. 18). R . Hachmann, Die Chronologie d. jüngeren vorröm. Eisenzeit, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 116 ff. Abb. 38.
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der kleinen Zahl in Rechnung gestellt werden 35 . Was Mähling als sonstige Argumente gegen eine Kontinuität hervorhob, wiegt weniger als die „vereinzelten Übereinstimmungen", die auch er nicht leugnete34. Die „auffallenden" Stradonitzer Formen sind nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, daß die Gruppe Bodenbach—Kobil, wenn sie keramische Formen aus dem keltischen Bereich übernehmen wollte, der Formenentwicklung folgen mußte, wie sie in Mittelböhmen verlief. Für den Nachweis einer Einwanderung in ein bislang siedlungsleeres Gebiet fällt die Gruppe Bodenbach-Kobil also in zweifacher Hinsicht aus: Die Gruppe Bodenbach läßt sich ohne Einflüsse von Seiten der Billendorfer und der Platenitzer Kultur nicht verstehen, und es ist deswegen schwer vorstellbar, ihre Träger wären ausnahmslos aus einem Gebiet eingewandert, wo Einflüsse der Billendorfer Kultur oder der Platenitzer Kultur fehlten. Natürlich läßt es sidi nicht vollkommen ausschließen, die Gruppe Bodenbach sei im sächsischen Elbegebiet entstanden — teilweise auf Grundlage der Billendorfer Kultur — und dann nach Nordböhmen vorgedrungen, also eingewandert. Damit ist hier aber nichts gewonnen, wo es sich doch darum handelt, e i n d e u t i g e Beispiele für Zu- oder Abwanderung vorzulegen. Wie die Einwanderung der Bodenbacher Gruppe, so ist auch deren Abwanderung nicht nachweisbar. Die Gruppe Kobil muß als deren Fortsetzung angesehen werden. Die Bevölkerung braucht nicht gewechselt zu haben. Nicht einmal ein Ausgreifen der Besiedlung mit Entwicklung der Gruppe Kobil — also mit Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit — ist zwingend anzunehmen, denn die Fundverbreitung ist vom Fehler der kleinen Zahl abhängig. Schon e i n e neue Fundstelle der Bodenbacher oder der Kobiler Gruppe könnte das Verbreitungsbild verändern. Das Beispiel der Bodenbach-Kobiler Gruppe zeigt Schwierigkeiten im Einzelfall und mahnt zur Vorsicht. Es beweist grundsätzlich aber nichts. Beispiele für Zu- oder Abwanderung von Bevölkerungsteilen lassen sich erbringen. Das Gebiet zwischen Elb- und Wesermündung — durch die Rührigkeit C. Wallers gut erforscht — verlor im Verlaufe des letzten vorchristlichen Jahrhunderts seine Bevölkerung. Keines der Gräberfelder reicht 33
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W. Mähling, Das spätlatenezeitl. Brandgräberfeld v. Kobil (1944) 106 (u. Verbreitungskarte als Anlage) gibt der Gruppe Kobil durdi Zurechnung der ganz unsicheren Befunde von Komotau (Chomoutov), Lischwitz (Libäsovice), Polep (Polepy), Groß Opolan (Velky Opolany), Kotzniowitz (Chocnéjovice) eine völlig falsche Verbreitung. Mit gleidier Berechtigung könnte man die Funde von Böhmisch-Kamnitz (Ceska Kamenice) und Turnov-Ohrazenice zur Gruppe Bodenbach rechnen, und schon hätte man völlig gleichartige Verbreitungsbilder. W. Mähling, a. a. O. 107.
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bis in die Zeit der geschweiften Fibel hinein35. Der Befund ist eindeutig. Aber schon mit dem Beginn des ersten nadidiristlichen Jahrhunderts läßt sich Neubesiedlung nachweisen. Funde wie der Friedhof von Oxstedt, Kr. Land Hadeln 3 ", und einige andere" zeigen den Vorgang an. Der Verbleib der abwandernden Bevölkerung läßt sich nicht erkennen. Sie verschwindet scheinbar spurlos. Die Kultur der Neueinwanderer weist über die Elbmündung nach dem Norden 38 , doch ist im Norden gleichzeitig eine Fundvermehrung erkennbar3' und die älterkaiserzeitliche Formenwelt der Westküste Schleswig-Holsteins hat — soweit sie Beziehungen zum Elbmündungsgebiet aufweist — im Lande selbst keine Vorformen. Die Herkunft der Zuwanderer läßt sich vorläufig nicht ermitteln. Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Altmark. Die älteren Abschnitte der vorrömischen Eisenzeit weisen hier durch eine große Funddichte auf eine vergleichsweise dichte Besiedlung hin40 (Abb. 21), die sich in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit noch verdichtet haben muß (Abb. 22). Schon im Verlaufe des letzten vorchristlichen Jahrhunderts — in der Zeit der geschweiften Fibeln — läßt sich eine beträchtliche Ausdünnung der Fundstellen erkennen41; ein großer Teil der Bevölkerung muß ausgewandert sein. Die Frage, wohin, wird noch zu erörtern sein (vgl. unten S. 311). Die Abnahme der Fundstellen setzte sich die ältere Kaiserzeit hindurch fort, so daß schließlich nur noch ein kleiner Teil des Landes — hauptsächlich der Osten — spärlich besiedelt blieb42 (Abb. 23). Mit der 35
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R . Hadimann, 41 Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 156 ff. bes. 161 Abb. 53 b. K . Waller, Chaukische Gräberfelder a. d. Nordseeküste, in: Mannus 25 (1933) 40—59 bes. 51 ff. Abb. 4—7; ders., D a s Gräberfeld v. Oxstedt u. seine Bedeutung f. d. Sachsenforschung, in: Die Kunde N . F. 11 (1960) 13—28 Taf. 1—6. P. Schmid, Die Keramik d. 1. bis 3. Jahrh. » . Chr. im Küstengebiet d. südlichen Nordsee, in: Probleme d. Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 8 (1965) 15 f.; vgl. auch die Verbreitung von Keramiktyp und Ornamentmotiv b. K . Waller, in: Die Kunde 11 (1960) 18. 26 Karte 2. K . Kersten u. P. L a Baume, Vorgesdi. d. nordfriesischen Inseln (1958) 189. 193. 195. 510 Taf. 87, 10; 89, 4—6; 91, 2. 8; 93, 13; P. Schmid, a. a. O. 16 f. H . Hingst, Karten z. Besiedlung Schleswig-Holsteins i. d. vordiristl. Eisenzeit u. d. älteren Kaiserzeit, in: Archaeologia geogr. 3 (1952) 8—15 bes. 11. 13 Karte 3. P. Kupka, Die frühe Eisenzeit i. d. Altmark, in: Jahresschrift f. Vorgesch. d. sädis.-thür. Länder 10 (1911) 37—60 bes. Abb. S. 45 gibt einen gewissen Eindruck von der Siedlungsdichte. P. K u p k a , Späte swebisdie Tonware a. d. Altmark, in: Jahresschrift 15 (1927) 65—82. Fr. Kudienbudi, Altmärkische Funde d. 1. u. 2. Jahrhunderts n. Chr., in: J a h resschrift 24 (1936) 211—224.
Probleme der archäologischen Quellen
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deutsdiland (nach P. L. B. Kupka mit zahlreichen Ergänzungen) — Forschungsstand 1949; vgl. dazu Abb. 22—25. jüngeren Kaiserzeit erfolgte dann aber wieder eine starke Fundvermehrung, die so plötzlich eintrat, daß sie sich nicht durch eine immanente Bevölkerungsvermehrung erklären läßt (Abb. 24). Die jüngere Kaiserzeit hindurch blieb die Altmark dicht besiedelt4', bis dann die Friedhöfe im vierten Jahrhundert wieder abbrachen. Erneut setzte eine auffallende Fundarmut ein44 (Abb. 25). 43 44
Fr. Kudienbudi, Die altmärkisch-osthannöverschen Schalenurnenfelder d. spätrömischen Zeit, in: Jahresschrift 27 (1938) 1—143, bes. 53 f. B. Schmidt, Die späte Völkerwanderungszeit in der Altmark, in: Jahresgabe d. Altmärk. Mus. Stendal 12 (1958) 43—58 bes. 44 f. Abb. 1; W.Schulz, Völkerwanderungs- u. Merowingerzeit (5. bis 7. Jahrhundert), in: Ausgrabungen u. Funde 3 (1958) 269—278 bes. 271 Karte 13.
19 Hadimann, Goten und Skandinavien
290
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Abb. 22.
Fundstellen der jüngeren vorrömischen Eisenzeit im nördlichen Mitteldeutschland (nach R. Hadimann) — Forschungsstand 1949; vgl. dazu Abb. 21 u. 23—25.
Es bedarf kurzen Nachdenkens, ob es sich wiederum um eine Abwanderung handelt: Der Raum nördlich, östlich und südlich des Harzes weist weiterhin verhältnismäßig reiche Funde auf 4 5 ; auch im Elbebogen 45
W. Sdiulz, Die Thüringer, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 1 (1940) 401—476 bes. 431 ff.; ders., in: Ausgrabungen u. Funde 3 (1958) 269 ff. bes. 271 Karte 13; G. Mildenberger, Die germ. Funde d. Völkerwanderungszeit in Sachsen (1959); A. von Müller, Völkerwanderungszeitliche Körpergräber u. spätgerm. Siedlungsräume i. d. Mark Brandenburg, in: Berliner Jahrb. f. Vor- u. Frühgesdi. 2 (1962) 105—189 bes. 159 ff. Abb. 28—29; G. Thaerigen, Die Nordharzgruppe der Elbgermanen b. z. sächsischen Überlagerung (1939); B. Schmidt, Die späte Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland (1961).
Probleme der archäologischen Quellen
Abb. 23.
291
Fundstellen der älteren Römischen Kaiserzeit im nördlidien Mitteldeutschland (nach Fr. Kuchenbuch, G. Mildenberger mit Ergänzungen) — Forschungsstand 1949 für die Altmark, 1959 für das übrige Gebiet; vgl. dazu Abb. 21—22 u. 24—25.
östlich von Magdeburg, im Havelland, in der Priegnitz und in Mecklenburg reichen die Friedhöfe •weiter4'. Ähnlich ist es in Niedersachsen, im 44 O. Felsberg, Die römische Kaiser- u. Völkerwanderungszeit im Elbhavelland, in: Mannus E.-Bd. 7 (1929) 123—169; W. Matthes, Die nördlichen Elbgermanen in spätrömischer Zeit (1931); ders., Die Germanen i. d. Prignitz z. Zeit d. Völkerwanderung (1931); ders., Die Sweben oder Altschwaben, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 1 (1940) 309—400 Taf. 132— 136; E. Schuldt, Das Skelettgrab von Serrahn, Kr. Güstrow, und die späten germanischen Bügelfibeln in Mecklenburg, in: Jahrb. f. Bodendenkmalpflege in Mecklenburg 1954, 98—120; ders., Die kreuzförmigen Fibeln in Mecklenburg, in: Jahrb. f. Bodendenkmalpflege in Mecklenburg 1955, 107—134; ders., Pritzier, einen Urnenfriedhof d. späten röm. Kaiserzeit in Mecklenburg (1955). 19»
292
Abb. 24.
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Fundstellen der jüngeren Römischen Kaiserzeit im nördlichen Mitteldeutschland (nach Fr. Kuchenbudi, Rud. Laser mit Ergänzungen) — Forsdiungsstand 1938 für die Altmark, 1965 für das Gebiet südlich der Altmark, 1949 für das ostelbische Gebiet; vgl. dazu Abb. 21—23 u. 25.
Osten 47 wie im Westen 48 des Landes, ebenso auch in Holstein 49 . In Schleswig folgt dagegen einer wohlausgewiesenen jüngeren Kaiserzeit eine Epoche, über deren Bewohner die Funde keinen rechten Aufschluß 47 48
G. Körner, Die südelbischen Langobarden zur Völkerwanderungszeit (1938). A. Plettke, Ursprung u. Ausbreitung d. Angeln u. Sadisen (1921); K. Waller, Der Galgenberg b. Cuxhaven, die Geschidite einer germ. Grab- u. Wehrstätte (1938); ders., Das Gräberfeld v. Altenwalde, Kr. Land Hadeln (1957); E. Grohne, Mahndorf (1953); K.Zimmer-Linnfeld, Westerwanna 1 (1960). A. Genridi, Formenkreise und Stammesgruppen in Schleswig-Holstein nach geschlossenen Funden des 3. bis 6. Jahrhunderts (1954); dazu auch bes. J. Brandt, Das Urnengräberfeld v. Preetz in Holstein (1960) bes. 61 ff.
Probleme der archäologischen Quellen
Abb. 25.
293
Fundstellen der Völkerwanderungszeit im nördlichen Mitteldeutschland (nach G. Mildenberger u. B. Schmidt) — Forschungsstand 1958 für die Altmark, 1961 für das übrige Gebiet; vgl. dazu Abb. 21—24.
geben50. In Dänemark liegen die Verhältnisse nicht viel anders51. Hier im Norden muß man — wie in gewissen Teilen Ostskandinaviens — mit Kult- und Grabbräuchen rechnen, die die wirkliche Besiedlung nicht objektiv spiegeln. Eine ähnliche Quellenlage braucht man für die Altmark jedoch nicht anzunehmen, denn diese Landschaft ist von Gebieten umgeben, in denen man in der beginnenden Völkerwanderungszeit die Toten entweder wie bisher regelmäßig verbrannte und in Urnen beisetzte — Brandenburg, Mecklenburg und Osthannover — oder wo man die Toten unverbrannt bestattete. Gegen Ende der jüngeren Kaiserzeit 50
H . Jankuhn, Die römische Kaiser- u. d. Völkerwanderungszeit, in: O. Klose [Hrg.], Geschichte Schleswig-Holsteins II, 4 (1964) 258.
294
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
muß also die Bevölkerung abermals die Altmark größtenteils verlassen haben. Eine ähnliche Situation läßt sich für die Lausitz und für Niedersdilesien nachweisen. Als jüngster Ausläufer der Lausitzer Kultur ist in
Abb. 26.
Verbreitung der Billendorfer Kultur in Sachsen (nadi W. Kropf) — Forschungsstand 1938; vgl. dazu Abb. 27—30.
Abb. 27.
Verbreitung der jüngeren vorrömischen Eisenzeit in Sachsen (nach J. Kostrzewski u. R. Hachmann) — Forschungsstand 1919 für die Lausitz, 1949 für das übrige Gebiet; vgl. dazu Abb. 26 u. 28—30.
Probleme der archäologischen Quellen
295
der Lausitz und in Niederschlesien die Billendorfer Kultur reich vertreten (Abb. 26). Relative und absolute Chronologie dieser Kultur sind auch noch heute nicht ohne Problematik. Die von W. Kropf ausgesonderte Endstufe52 dürfte sich als Schlußphase der Kultur im wesentlichen halten
Abb. 28.
Verbreitung der älteren Römischen Kaiserzeit in Sachsen (nadi G. Mildenberger) — Forschungsstand 1954; vgl. dazu Abb. 2 6 — 2 7 u. 29—30.
lassen. Nach G. Bierbaums Versuch, die Enddatierung der Billendorfer Kultur zu klären 63 , hat sidi nichts ergeben, was deren Beurteilung hätte ändern können, und es kann deswegen heute angenommen werden, daß die Billendorfer Kultur einen Zeitabschnitt erreichte, der der Frühlat^nezeit in Süddeutschland entspricht54. Über das Jahr 300 vor Christi Geburt hinaus kann diese Kultur nicht heraufreichen55. In ihrem westlichen Verbreitungsgebiet trat an ihre Stelle die mitteldeutsdie germanische Brandgräberkultur, im Osten blieb das Land f u n d l e e r . Das Schicksal der Bevölkerung der Billendorfer Kultur ist unbekannt. Besiedlung ist in ihrem östlichen Verbreitungsgebiet nicht nur nidit mehr nachweisbar, sondern nicht mehr vorhanden. Mehr als einhundert Jahre war das 51 52 58
54
55
J. Brondsted, Danmarks Oldtid 3. Jemalderen ( 2 1960) 283. W . K r o p f , Die Billendorfer Kultur (1938) 144 ff. G. Bierbaum, Zur Frage d. Enddatierung d. Billendorfer Kultur, in: MannusE.-Bd. 6 (1928) 1 2 7 — 1 3 7 ; ders., Berichtigung zu Bierbaum: Zur Enddatierung d. Billendorfer Kultur, in: Mannus 22 (1930) 374. H. P. Uenze, Zur Frühlat^nezeit in der Oberpfalz, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 2 9 (1964) 7 7 — 1 1 8 . W . Coblenz, Lausitzer Kultur, in: Ausgrabungen u. Funde 3 (1958) 228.
296
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Land siedlungsleer. Um die Wende zum letzten vorchristlichen Jahrhundert läßt sich dann endlich eine Neubesiedlung feststellen. In der Niederlausitz und in den angrenzenden Teilen Schlesiens findet sich nun
Mildenberger) — Forsdiungsstand 1959; vgl. audi Abb. 26—28 u. 30.
Abb. 30. Verbreitung der Völkerwanderungszeit in Sadisen (nach G. Mildenberger) — Forschungsstand 1959; vgl. dazu Abb. 26—29.
Probleme der archäologischen Quellen
297
die germanische Lausitzer G r u p p e " (Abb. 27). Doch nach gut einem halben Jahrhundert ist das Land schon wieder siedlungsleer. Es gibt keinerlei Funde mit geschweiften Fibeln aus dem Bereich dieser Gruppe 57 . Wieder einmal ist der Verbleib einer abwandernden Bevölkerung nicht zu erfassen. Die Oberlausitz hat an dieser vorübergehenden Neubesiedlung keinen Anteil. Sie blieb noch Jahrhunderte hindurch siedlungsleer. In der älteren Kaiserzeit blieb der ganze Osten unbesiedelt (Abb. 28). Erst in der jüngeren Kaiserzeit rückte eine neue germanische Bevölkerung — offenbar aus dem Osten — ein 58 und drang zur Elbe vor 5 9 (Abb. 29), und in der Völkerwanderungszeit reduzierte sich erneut der besiedelte Raum (Abb. 30). In der schleswigsdien Landschaft Angeln folgte auf eine sehr intensive Besiedlung der jüngeren Kaiserzeit 60 , die bis in die VölkerwandeJ . Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlatenezeit 1 (1919) 225; K. Takkenberg, Urnengräber der Spätlatenezeit aus Niedersdilesien, in: Altsdilesien 2 (1927/29) 241—250. 57
R . Hadimann, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 71.
58
Vgl. W. Frenzel, W. Radig u. O. Reche, Grundriß der Vorgeschichte Sachsens ( 2 1935) 155 f.; ferner: W. Frenzel, Die germ. u. röm.-germ. Altertümer d. Oberlausitz u. d. Grenzgebietes, in: Festschrift z. 25-Jahrfeier d. Gesellschaft f. Vorgesch. u. Gesdi. d. Oberlausitz zu Bautzen (1926) 97—127; ders., Das Gräberfeld Bautzen—Heiterer Blick, in: Bautzener Geschichtshefte 4 (1926) 67—69; ders., Haben vor den Burgunden auch Westgermanen in der Oberlausitz gewohnt? in: Bautzener Geschiditshefte 6 (1928) 137—164; ders., Burk. Aunjetitzer Grab und Hügelgräber der Lausitzer Kultur mit germanischer Nachbestattung, in: Jahrb. Bautzen (1927) 31 ff.; J . Frenzel, Neue Fundstellen aus germ. Zeit, in: Bautzener Geschichtshefte 4 (1926) 70—72; Fr. Lehmann, Neue Burgundenfunde b. Bautzen, in: Sachsens Vorzeit 1 (1937) 67—68; ders., Ein burgundisches Haus b. Teichnitz, in: Sachsens Vorzeit 2 (1938) 63—65; R. Needon, Das Brandgräberfeld v. Litten b. Bautzen u. verwandte Fundstätten aus der späteren römischen Kaiserzeit, in: Jahreshefte d. Gesellschaft f. Vorgesch. u. Gesch. d. Oberlausitz 3, 1 (1920) 1—35 u. 52 f.; W. Ratzel, Zwei burgundisdie Brandgräber v. Dresden-Dobritz, in: Sachsens Vorzeit 2 (1938) 155—161; A. Mirtschin, Ausgrabung eines Burgunden-Friedhofs in Schönfeld b. Großenhain, in: Sachens Vorzeit 1 (1937) 123—134; dazu ferner: D. Bohnsack, Die Burgunden, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 3 (1940) 1033—1148, bes. 1079 ff. 1115 ff. Abb. 238; E. Meyer, Studien zur mittleren u. späten Kaiserzeit in Sachsen (Diss. Leipzig 1961).
" Dieser aus dem Osten kommende Siedlungsschub wird allgemein als burgundisch angesehen. Das bedürfte noch eingehender Untersuchung. Vgl. die Kombinationen bei: D. Bohnsack, Die Burgunden, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgeschichte d. dt. Stämme 3 (1940) 1071 f. 1074 ff. 60 H. Jankuhn, Siedlungsgeschichte u. Pollenanalyse in Angeln, in: Offa 10 (1952) 35; ders., Klima, Besiedlung u. Wirtschaft d. älteren Eisenzeit im westl. Ostseebecken, in: Archaeologia geogr. 3 (1952) 23. 25 Abb. 3—5; ders.,
298
Abb. 31.
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Jastorf- und Steinkistengräberkultur in Pommern (nach H . J. Eggers) — Forschungsstand 1937 für Ostpommern, 1955 für Mittel- und Westpommern; die geringe Funddichte im mittleren und westlichen Teil des Landes hängt mit den abweichenden Bestattungssitten der Jastorfkultur zusammen; vgl. Abb. 32—33.
rungszeit hineinreichte, eine vollständige Fundleere für die Merowingerzeit; erst im Verlaufe des 9. und 10. Jahrhunderts wurde das Land langsam wieder aufgesiedelt61, Auftakt des mittelalterlichen Landausbaus. Bevölkerungsveränderungen traten auch im Verlaufe der Gesichtsurnen- und Steinkistengräberkultur oder mit deren Ende ein. Schwierigkeiten, eine relative Chronologie dieser Kultur aufzustellen, verhindern gegenwärtig noch zu erkennen, wann sich hier eine Dezimierung der Bevölkerung vollzog, mit der ein Verlassen der schlechten Böden einherging. Der Vorgang kann sich schon im Verlaufe der jüngsten Phase dieser Kultur vollzogen haben; er kann auch mit dem Übergang zur „ostgermanischen Kultur der Spätlat^nezeit" zusammenfallen. H . ,J. Eggers neigte dazu, ein Weiterleben der Steinkistengräberkultur durch die mittlere vorrömische Eisenzeit anzunehmen und ein Besiedlungsopti-
61
Die römische Kaiserzeit u. d. Völkerwanderungszeit, in: O. Klose [Hrg.], Geschichte Schleswig-Holsteins II, 4 (1964) 282 Abb. 10. H. Jankuhn, Offa 10 (1952) 36 f.
Probleme der archäologischen Quellen
299
Abb. 32.
Jüngere vorrömisdie Eisenzeit in Pommern (nach A. Dymaczewski) — Forschungsstand 1964; vgl. Abb. 31 u. 33.
Abb. 33.
Ältere Römische Kaiserzeit in Pommern (nach A. Dymaczewski) — Forschungsstand 1964; vgl. Abb. 31—32.
300
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
mum spät anzusetzen"2. Dann w ä r e die Abwanderung größerer Bevölkerungsteile in einem späten Abschnitt des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts erfolgt. Trotz mangelhaften Bearbeitungsstandes ist die V e r änderung des Siedlungsraumes zwischen der Phase der größten Expansion der Steinkistengräber 63 und der beginnenden jüngeren vorrömischen Eisenzeit 64 kartographisch sichtbar zu machen, besonders deutlich f ü r Pommern. Die Gesichtsurnen- und Steinkistengräberkultur w a r in der Phase ihrer größten Ausdehnung selbst auf schlechten Böden des pommerschen Sanders reich vertreten (Abb. 31), mit dem Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit w a r das Landesinnere weitgehend siedlungsarm oder sogar leer (Abb. 32). Die Veränderung läßt sich auf kleinem Raum am deutlichsten erkennen. Der ehem. ostpommersche Kreis Bütow ist außerordentlich reich an Funden der Steinkistengäberkultur, dagegen fehlen Funde der jüngeren vorrömischen Eisenzeit ganz 65 . Genauso liegen die Verhältnisse im ehem. Kreise Rummelsburg 66 . Wie im Kreise Bütow er62
63
64
65
66
Vgl. H. J . Eggers, Die Mittel-Latenezeit in Mittelpommern, in: Baltische Studien N. F. 43 (1955) 16: „Wenn wir . . . feststellen, daß die Gräberfelder des Jastorfkreises nodi in der Mittellatenezeit die Grenze der Steinkistengräberkultur respektieren, dann ist dies vielleicht der erste Hinweis darauf, daß diese in Ostpommern so überaus zahlreich vertretene Kultur nicht nur die Frühlatenezeit sondern auch noch die gesamte Mittellatenezeit hindurch gelebt hat." — So auch K. Jazdzewski, Poland (1965) 141, wo Eggers' Auffassung übernommen wurde. W. La Baume, Urgeschichte d. Ostgermanen (1934) 46 f. Abb. 21 zeigt die Verbreitung der Gesichtsurnen; vgl. dazu W. La Baume, Die pommerellischen Gesichtsurnen (1963) mit Karte 3; brauchbarer für Ostpommern H. J . Eggers, Monatsblätter d. Ges. f. pomm. Gesch. u. Altertumskunde 51 (1937) 180—184 Karte 2 wieder abgedruckt in: Baltische Studien N. F. 43 (1955) Taf. 4; ders., Besprechung von J . Kostrzewski, Kultura Luzycka na Pomorzu (1958), in: Archaeologia geogr. 8/9 (1959/60) 51—59 bes. 54 Abb. 5—6. D. Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 100 ff. Abb. 75; vgl. dazu auch A. Dymaczewski, Aus den Forschungen über das Siedlungswesen der Spät-Lä-Tene- u. röm. Kaiserzeit in Westpommern, in: Arch. Polona 7 (1964) 114—134 Abb. 1. H. J. Eggers, Ubersicht über die vorgeschichtlichen Funde, in: G. Bronisch u. a., Die Kunst- und Kulturdenkmäler der Provinz Pommern 1. Kreis Bütow (1938) 22. H. J . Eggers u. G. Giesen, Vorgeschichte, in: Der Kreis Rummelsburg. Ein Heimatbuch (1938) 5 Karte 3: „Häufiger als die Haus- sind die Gesichtsurnen, die allerdings bisher im Kreise Rummelsburg nur in verhältnismäßig entarteten, späten Beispielen vertreten sind. Dies ist mit ein Anhaltspunkt dafür, daß die Steinkistengräberkultur im Hauptteil des Kreises Rummelsburg nicht ursprünglich, sondern von den Nachbarkreisen Bütow und vor allem Lauenburg eingedrungen ist. . . . Die Brandgräberkultur der vorrömischen Eisenzeit . . . i s t . . . bisher im Kreise Rummelsburg noch unbekannt."
Probleme der archäologischen Quellen
301
folgte dort eine Neubesiedlung erst mit der jüngeren Kaiserzeit' 7 , und das ist bezeichnend für die schlechten Böden im gesamten pommerschunterweichselländischen Raum' 8 (Abb. 33). Aufgabe besiedelten Raumes läßt sich in Nordböhmen für das fortgeschrittene letzte vorchristliche Jahrhundert nachweisen. In der Zeit der geschweiften Fibel sind keine Spuren der Gruppe Bodenbach-Kobil in Nordostböhmen mehr nachweisbar69. Es ist wiederum nicht ersichtlich, wohin sich die Bevölkerung gewandt hat. Sie mag in den Germanen aufgegangen sein, die nun allenthalben im Lande nachweisbar sind. In jedem Fall muß sie ihren alten Siedlungsraum aufgegeben haben, der in der Zeit der geschweiften Fibel und auch danach gänzlich unbesiedelt ist und erst spät im ersten nachchristlichen Jahrhundert wieder spärlich aufgesiedelt wird 70 . Siedlungsveränderungen, wie die vorstehend aufgezählten, sind nicht selten im kontinentalgermanischen und nordgermanischen Raum. Ihr Nachweis ist kein Problem, das von einer bestimmten Fragestellung abhängig ist, sondern oft eine Frage des Forschungsstandes. Würde man das gesamte Fundgut Mitteleuropas zwischen der Mitte des letzten vorchristlichen und der des ersten nachchristlichen Jahrtausends systematisch sichten, gründlich chronologisch ordnen und kartographisch darstellen, so " H. J. Eggers u. G. Giesen, a . a . O . 6: „Auffällig ist, daß bisher alle kaiserzeitlichen Funde des Kreises Rummelsburg in die Zeit nadi 200 n. Chr. Geb. zu setzen sind, was auch für den Nachbarkreis Bütow zutrifft." 88 Vgl. O. Almgrens Kartierung, in: Mannus 8 (1917) Karte S. 291, deren Grundlage E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge zur röm. Kaiserzeit 2 (1915) ist. Vgl. auch R. Schindler, Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden im unteren Weichselraum auf Grund d. Tongefäße (1940) 102 ff. 105 ff. Karte 5—6; Kr. Przewózna, Ksztaltowanie sie skupisk osadniczydi u ujscia Wisly w okresadi póznolateñskim i wplywów rzymskich, in: Archeologia Polski 8 (1963) 289—302 Karte 1—5; dies., Research on the Late La Tene and Roman Period in East Pomerania, in: Ardiaeologia Polona 8 (1965) 162—176 Karten 1—3. •» Vgl. R. Hachmann, 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 116 f. 123 f. Abb. 41. 70 Vgl. K. Motyková-Sneidrová, Die Anfänge d. röm. Kaiserzeit in Böhmen (1963) 8 Karte. — Die wenigen nordostböhmischen Funde, die die Karte verzeichnet, gehören nicht in die Obergangszeit (Zeit der geschweiften Fibel) und auch nicht in die Frühphase der älteren Kaiserzeit. — Von Bodenbach (Podmokly) stammt — wohl aus einem Brandgrab — eine relativ späte kräftig profilierte Fibel (K. Motyková-Sneidrová, a . a . O . 43 Nr. 1); unklar ist die Datierung zweier kräftig profilierter Fibeln aus RaiSovice (K. Motyková-Sneidrová, a . a . O . 51 Nr. 80); dasselbe gilt für eine Siedlung von Stvolínky (K. Motyková-Sneidrová, a. a. O. 59 Nr. 81). — Vgl. dazu K. Motyková-Sneidrová, in: Berliner Jahrbuch f. Vor- und Frühgeschichte 5 (1965) 117 f.
302
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
dürfte sich die Zahl gleich- oder ähnlidigelagerter Fälle wesentlich vergrößern lassen. Die vorgelegten Beispiele mögen, da es sich hier doch im wesentlidien darum handelt, paradigmatisch vorzugehen, genügen. Sie reichen auch deswegen aus, weil schon sie es erlauben, über Zu- und Abwanderungen und über temporäre Siedlungsleere Erkenntnisse zu gewinnen und Folgerungen zu ziehen, die eine gewisse allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Es läßt sich erkennen, daß größere und kleinere Landschaften in Germanien für kürzere oder längere Zeit ihre Bevölkerung ganz oder fast vollkommen verloren. Die Dauer der Siedlungsleere ist unterschiedlich, umfaßt knappe einhundert Jahre — wie im Elbmündungsgebiet — oder bis zu fünfhundert Jahren — wie in der Oberlausitz. Regeln oder Gesetzmäßigkeiten im Verlassen oder Wiederbesiedeln lassen sich nicht erkennen. Auch die Besiedlungsdauer ist unterschiedlich; sie schwankt zwischen etwa fünfzig Jahren — wie in der Niederlausitz und angrenzenden Teilen Niederschlesiens — und mehreren Jahrhunderten — wie in der Altmark. Manche Landschaften wurden niemals — auch nicht für kürzere Zeitabschnitte — verlassen; das Gebiet um Mittelelbe und Saale ist dafür das beste Beispiel. Die mit der Abwanderung und der Neubesiedlung verbundenen Vorgänge lassen sich durchweg nur unvollkommen erfassen. In einigen Fällen ist kurzfristig vollständige Abwanderung erfolgt — so im Elbmündungsgebiet und in der Niederlausitz —; in anderen wiederum mag der Vorgang ein allmählicher gewesen sein. Oft ist es deutlich, daß es vornehmlich die schlechten Böden waren, die aufgegeben wurden, während die besseren Böden desselben Raumes besiedelt blieben — so in Pommern und Westpreußen — oder wenigstens Bevölkerungsreste behielten — wie in der Altmark. In manchen Fällen haben sichtlich wirtschaftliche Momente eine Rolle gespielt. Es bleibt indes unklar, ob sie die ausschlaggebenden Gesichtspunkte für die Abwanderung lieferten. Oft ist erkennbar, daß die schlechteren Böden im Rahmen einer Art Binnenkolonisation neubesiedelt wurden, so in Pommern und Westpreußen. Die bislang bekannten Fälle erlauben es in der Regel nicht, genauer zu erkennen, w o h i n sich die Abwanderer wandten. Unklar bleibt es audi meist, w o h e r Zuwanderer kamen. Wurde Binnenkolonisation n u r vom lokalen Bevölkerungsüberschuß getragen? Oder kamen dafür auch fremde Siedlerfamilen oder -gruppen in Betracht? Hinweise auf die Beantwortung solcher Fragen bleiben in der Regel ganz allgemein. Die bisher behandelten Besiedlungsveränderungen sind nicht an kulturellen Merkmalen des Quellenmaterials, sondern einzig an der Fund-
Probleme der archäologischen Quellen
303
frequenz — der der Gräbergruppen und Gräberfelder — zu erkennen. Bevölkerungszu- und -abnahme innerhalb s t ä n d i g besiedelter Räume lassen sich in der Regel nicht so eindeutig fassen. Aus dem Abbrechen von Gräberfeldern allein Schlüsse zu ziehen, ist oft gewagt. Ein Ende der Belegung von Gräberfeldern wird oft durch die Zufälligkeiten der Fundbergung vorgespiegelt. Wo ein Abbrechen objektiv nachweisbar ist, kann es verschiedene Ursachen haben, die auch in der Kultur der Bevölkerung liegen können. Aufgabe der Siedlung — und des Gräberfeldes — schließt nidit Ansiedlung in unmittelbarer Nachbarschaft aus. Nur selten erlaubt die Fundbeobachtung genaue Aufschlüsse71. Oft täusdit eine Veränderung der Bestattungssitten — das Beispiel ö l a n d zeigt es (vgl. unten S. 391 ff.) — eine Abwanderung vor. So scheint der Ubergang von der Brand- zur Körperbestattung in Brandenburg eine beträchtliche Bevölkerungsabnahme vorzuspiegeln, weil mit dem Übergang zur Körperbestattung gleichzeitig die Sitte aufgegeben wurde, a l l e Mitglieder einer Siedlungsgemeinsdiaft auf e i n e m Bestattungsplatz und allesamt m i t Beigaben zu begraben. Veränderungen in den Bestattungssitten, die sich in der jüngeren Kaiserzeit und später vollzogen, müssen stets sorgfältig daraufhin untersucht werden, wieweit der Grabritus die Bevölkerungszahl wirklich widerspiegelt. Wenn es auch stets schwierig ist, Bevölkerungswechsel festzustellen, wenn zwischen dem Ende einer Besiedlung und der Ausbreitung einer neuen Bevölkerung kein Hiatus — keine sichtbar siedlungslose Epoche — liegt, gibt es dennoch Beispiele, wo Neueinwanderung von fremden Bevölkerungsteilen an Hand des Fundguts zwingend angenommen werden muß; sei es, daß sich Fremde zwischen den Einheimischen ansässig machten; sei es, daß ein vollständiger oder fast vollständiger Wechsel der Bevölkerung erfolgte. Schon früh sind in Mitteldeutschland und in der Wetterau Grab- und Siedlungsfunde „ostgermanischen" Charakters aufgefallen 72 . Eine Zusammenstellung des verstreut veröffentlichten Fundstoffs zielte darauf, archäologische Kriterien zu finden, mit deren Hilfe die Fremdheit der Funde verständlich gemacht werden könnte 7 '. Es wurde versucht, auf Grund der Grabfunde, die ja den Vorzug besitzen, nicht nur einen begrenzten Überblick über eine relativ kleine Anzahl von Formen der materiellen Kultur zu gestatten, sondern auch Aussagen über bestimmte Bereiche der geistigen 71
72
73
Vgl. R. Schindler, Siedlungsprobleme im Stormarngau im Anschluß a. d. Ausgrabungen Hamburg-Farmsen, in: Ardiaeologia geogr. 5 (1956) 25—32. G. Kossinna, Wandalen in der Wetterau, in: Mannus 11/12 (1919/20) 405 bis 408. R. Hadimann, Ostgermanische Funde der Spätlatenezeit in Mittel- u. Westdeutschland, in: Ardiaeologia geogr. 6 (1957) 55—68.
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Kultur — Tracht-, Grab- und Beigabensitte — zu machen, tiefer in den Funktionszusammenhang der Kultur einzudringen. So sollte eine Vorstellung von der S t r u k t u r der Gesamtkultur gewonnen werden 74 . Die Untersuchung ergab, daß die in den „ostgermanischen" Gräbern faßbare Grabsitte — das Vorherrschen des Brandschüttungs- und des Brandgrubengrabes neben der Körperbestattung und dem selteneren Urnengrab — sich deutlich von der Mitteldeutschlands absetzt, wo das Urnengrab sehr stark vorherrscht, und sich ebenso stark von der Wetterau unterscheidet, wo in dieser Zeit Urnen- und Knochenhäufchengräber vorkommen. In der Beigabensitte fällt die Waffenbeigabe der Männergräber „ostgermanischer" Prägung gegenüber den waffenlosen Gräbern in Mitteldeutschland auf; die Gräber der Wetterau enthalten gelegentlich Waffen. Von der Kultur beider Landschaffen unterscheidet sich die Beigabensitte der „ostgermanischen" Gräber jedoch durch die Mitgabe zahlreicher zerbrochener Tongefäße. Schon das Ritual der Verbrennung muß anders gewesen sein und verlangt haben, daß viele Gefäße auf dem Scheiterhaufen zerschlagen wurden, so daß die Scherben in der Hitze verschmorten und dann aus der Asche ausgelesen und — meist nicht vollständig — ins Grab getan wurden. In Mitteldeutschland wurden den einheimischen Gräbern keine Beigefäße mitgegeben; in der Wetterau wurden sie niemals auf den Scheiterhaufen getan, sondern — ohne Spuren von Brand — sorgsam ins Grab gestellt. Weiter fällt auf, daß die Trachtsitte der Frau sich durch das Fehlen des Gürtelhakens von den untereinander stark unterschiedenen mittelund westdeutschen Trachtsitten deutlich absetzt. Von entscheidender Bedeutung ist, daß die auf solche Weise strukturell charakterisierte „ostgermanische" Kultur innerhalb von zwei ihrer Struktur nach verschiedenartigen Kulturgruppen auftritt, der mitteldeutschen germanischen Brandgräberkultur 75 u n d einer Kulturgruppe der Wetterau, die zu einer Gruppe von Kulturen zu rechnen ist, die zum „barbarischen Randgebiet" der keltischen Lat^nekultur gehören 7 '. Kultureinwirkungen durch Handelsbeziehungen und andersartigen Kulturkontakt auf zwei so unterschiedliche Kulturgruppen von Seiten einer dritten, kulturgeographisch ganz abseits liegenden Kulturgruppe kommen nicht in Betracht. Es m u ß ein Bevölkerungszustrom als Träger der fremdartigen Erscheinungen angenommen werden. 74 75
n
R. Hadimann, a. a. O. 58 f. W. Sdiulz, Die Bevölkerung Thüringens im letzten Jahrhundert v. Chr. auf Grund d. Bodenfunde, in: Jahresschrift 16 (1928) 1—128. R. Hachmann, in: R. Hachmann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 36; zustimmend: R. von Uslar, Spätlat&nezeitlidie Gräber in Leverkusen-Rheindorf, in: Germania 42 (1964) 50.
Probleme der archäologischen Quellen
305
Der Ursprung der „ostgermanischen" Bevölkerungsteile in Mittelund Westdeutschland ist deutlich: Sie können nur aus dem Bereich der Oder-Weichsel-Gruppe — der Przeworsker Kultur der polnischen Forschung — stammen. Nur dort kommen a l l e Kulturelemente — auf gleiche Weise strukturell vereinigt — zusammen vor". Die Lausitzer Gruppe — der Oder-Weidisel-Gruppe verwandt — kommt als Ursprungsgebiet nicht in Betracht. Sie weist zu deutliche Unterschiede in Grab-, Tracht- und Beigabensitte auf. Aus w e l c h e m Bereidi der OderWeichsel-Gruppe die „Ostgermanen" in Mittel- und Westdeutschland stammen78, läßt sich aber nicht erkennen. Das mag mit dem Bearbeitungsstand des schlesisch-polnischen Materials zusammenhängen, mag andere Gründe haben. Vergleichbar mit der Situation der „ostgermanischen" Kultur in der Wetterau ist die der Gruppe Poienejti7'. In der Moldau und im angrenzenden Bessarabien trat mit dem Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit — nach mitteleuropäischen Maßstäben80 — eine Kulturgruppe auf, die ihren germanischen Charakter besonders deutlich zeigt, wenn man sie funktionell betrachtet. In Grab-, Tracht- und Beigabensitte steht sie den germanischen Kulturgruppen ebenso nahe81, wie sie den einheimisch ostrumänisch-bessarabischen Kulturen ferne steht82. 77
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20
R . Hachmann, Ardiaeologia geogr. 6 (1957) 59; ders., in: R . Hachmann, G. Kossack u. H. Kuhn, a . a . O . 37; zustimmend: R . Nierhaus, Das swebische Gräberfeld von Diersheim (1966) 212. Spuren desselben Bevölkerungszustroms finden sich in Nordostböhmen; vgl. W. Mähling, Das spatlatènezeitliche Brandgräberfeld v. Kobil, Bez. Turnau (1944) 41 Taf. 1 8 , 1 a—d, Abb. 17 u. 35. R . Vulpe, Säpäturile delà Poienejti, in: Materiale arheologice privind istoria vedie 1 (1953) 213—506; ders., Le problème des Bastarnes à la lumière des découverts archéologiques en Moldavie (1955); G. B. Fedorow, Lukaschewskij Mogilnik, in: Kratkie SoobJienija 68 (1957) 51—68 Abb. 17—20; ders., Naselenije prutsko-dnjestrovskogo meidurei'ja, in: Materialy i Issledovanija 89 (1960) 22 iï. Taf. 7—9; R . Hachmann, Jastorf-Funde außerhalb der J a storf-Kultur, in: Die Kunde N . F. 8 (1957) 77—92; K . Tackenberg, Zu den Funden v. Lukaschewka im Bez. Kisdiinew, Moldau-Republik, in: AltThüringen 6 (1962/63) 403—427. R . Hachmann, Die Chronologie d. jüngeren vorröm. Eisenzeit, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 117 ff. Abb. 41. Die Bearbeiter des Fundstofis von Poienejti und Lukaschewka sind sich deswegen auch darin einig, daß es sich um eine germanische Gruppe handelt; vgl. R . Vulpe, Materiale arh. 1 (1953) 494; R . Hadimann, Die Kunde N . F. 8 (1957) 79; K. Tackenberg, Alt-Thüringen 6 (1962/63) 409 ff. Vgl. V. Pârvan, Getica, o Protoistorie a Daciei (1926) 459 ff.; J . Nestor, Der Stand der Vorgesdiiditsforsdiung in Rumänien, in: 22. Ber. d. Röm.Germ. Kommission (1932) 157 ff.; R . u. E. Vulpe, Les Fouilles de Poiana, in: Dacia 3/4 (1927/32) 253 bis 351; R . Vulpe, La civilisation dace et ses proHadimann, Goten und Skandinavien
306
„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Darüber besteht Obereinstimmung. Lediglich die Herkunft der Gruppe Poienejti ist bislang noch strittig. Die Frage nach ihrem Ursprung ist ein Paradebeispiel, und es lohnt, sie eingehender zu untersuchen. R. Vulpe dachte sich als Heimat einen größeren mitteleuropäischen Raum, der Posen, Großpolen, Brandenburg, Schlesien und auch westliche Gebiete umfaßt83. Verf. meinte, die Möglichkeiten auf Südbrandenburg beschränken zu müssen84. K. Tackenberg behauptete dagegen, damit sei das Einzugsgebiet zu klein gefaßt und wies auf die weite und unterschiedliche Streuung der von Poieneçti vertretenen Formen in Mitteleuropa hin85. Dabei zog er auch in Mitteldeutschland evident fremdes „ostgermanisches" Material heran8", betonte das „Zusammengehen der südostbrandenburgischen-niederschlesischen Gruppe" mit Poieneçti und Lukaschewka und dachte sich, daß „Menschen aus den Räumen Mitteldeutschlands . . . nach Bessarabien und die Moldau abgewandert sind"87. Er hielt Abbruch der Besiedlung in der Gegend von Wittenberg und Zerbst88 für möglich, dachte aber auch gleichzeitig daran, die Lausitzer Gruppe könnte die Siedler in der Moldau und in Bessarabien geliefert haben8'. Die Schwierigkeit eines solchen Beweisganges liegt vornehmlich darin, daß die Gruppe Poieneçti kulturell weder der Lausitzer Gruppe, noch der mitteldeutschen Brandgräberkultur90, noch einer anderen mitteleuropäischen Gruppe g e n a u entspricht. Sie liegen aber nicht minder darin, daß die gesamte Gruppe Poieneçti ä l t e r ist als die jüngsten Funde der Gruppen, deren Ende Tackenberg als Abwanderung nach dem Südosten erklären wollte". Sollte die rumänisch-bessarabische Gruppe wirklich die Fortsetzung der Lausitzer Gruppe — oder auch einer beliebigen anderen Kulturgruppe — sein, so müßte sie mit deren jüngstem Formengut beginnen und dieses fortsetzen. Offenbar ist im mitteleuropäischen Raum überhaupt k e i n e Kulturgruppe vorhanden, die die typische Formenkombination der Gruppe Poieneçti vorweggenommen haben könnte. Es könnte sein, daß
83
84 85 88 87 88 89 90
91
blêmes à la lumière des dernières fouilles de Poiana, en Basse-Moldavie, in: Dacia N . S. 1 (1957) 144—164. R. Vulpe, Materiale arh. 1 (1953) 491; ders., Le problème des Bastarnes (1955) 5. R. Hachmann, Die Kunde N . F. 8 (1957) 87 f. K. Tackenberg, Alt-Thüringen 6 (1962/63) 409 ff. K. Tackenberg, a. a. O. 411. K. Tackenberg, a. a. O. 413 f. K. Tackenberg, a. a. O. 416 f. K. Tackenberg, a. a. O. 418. R. Hadimann, 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 71. 89 ff. 120 f. Abb. 30—32. R. Hachmann, a. a. 0 . 1 1 7 ff.
Probleme der archäologischen Quellen
307
man sich von den kulturellen Vorgängen, die mit einer Wanderung einhergehen können, ein falsches Bild madit; ebenso gut ist es jedoch möglich, daß man sich die biologische Zusammensetzung der nach dem Südosten wandernden Gruppe falsch vorstellt, zu sehr an altüberkommenen Klischees hängt und nicht in Rechnung stellt, eine wandernde Gruppe könne ein zusammengewürfelter Haufen sein, der sich erst im Augenblick der Wanderung oder noch danach zusammenfand. Fest steht, daß im südbrandenburgischen Raum die meisten der in Poiene$ti und Lukaschewka vertretenen Formen recht gute Gegenstücke haben. Die Keramik mit ihren x-förmigen Henkeln weist allerdings durchweg weiter nach dem Osten, einzelnes hingegen auch nach dem Westen, wie Tackenberg richtig festgestellt hat92. Dazu gehören die Gürtelhaken, ebenso die Fibeln93. Es wäre wahrscheinlich schon falsch, würde man daraus folgern, der abgewanderte Haufen müsse sich aus eben diesem Raum zwischen dem Mittelelbegebiet im Westen und Niederschlesien im Osten rekrutieren. Es ist eine Rechnung mit zu vielen Unbekannten, als daß man sie lösen könnte. »Die großen Umschichtungen im Gefolge differenzierter Wanderungsvorgänge und die daraus resultierenden politischen Neubildungen in der Zeit zwischen dem 3. und dem 6. Jahrhundert warnen vor simplifizierenden Stammbaumtheorien", so warnte J . Werner vor vereinfachenden Erklärungen völkerwanderungszeitlicher Befunde94. Sie hätten audi Tackenberg warnen sollen. Was in der Völkerwanderungszeit im Großen geschah, kann sich Jahrhunderte vorher in den Verhältnissen der Zeit angemessenen Proportionen vollzogen haben. Eine der Gruppe Poiene$ti-Lukaschewka analoge Situation spiegeln die frühen95 germanischen Funde in Südwest- und Süddeutschland9' wider. Von den gemeinhin als „westgermanisch" bezeichneten Germanenfunden 82 83 94
95
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20»
K . Tackenberg, Alt-Thüringen 6 (1962/63) 412 Abb. 3. K . Tackenberg, a. a. O. 410 f. J . Werner, Die Herkunft d. Bajuwaren u. d. „östlidi-merowingisdie" Reihengräberkreis, in: Aus Bayerns Frühzeit (1962) 230. Die Frage, ob Nemeter, Triboker und Vangionen Germanen waren oder nidit, kann hier ebenso außer Betracht bleiben wie die Frage ihrer Ansiedlung links des Rheins. Vgl. dazu H . Nesselhauf, Die Besiedlung d. Oberrheinlande in römischer Zeit, in: Badische Fundber. 19 (1951) 71—85. — Audi die von K . W. Kaiser, Ein elbgerm. Grab d. Spätlat^ne von Landau, in: Mitteilungen d. Hist. Vereins d. P f a l z 58 (1960) 35—48 veröffentlichten frühen elbgermanischen Funde können unberücksichtigt bleiben. R . Roeren, Zur Archäologie u. Geschichte Südwestdeutschlands im 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr. in: Jahrbuch d. Röm.-Germ. Zentralmuseums Mainz 7 (1960) 214—294; H . Dannheimer, Die germ. Funde d. späten Kaiserzeit u. d. frühen Mittelalters in Mittelfranken (1962).
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
wird Südwestdeutsdiland kaum berührt 8 7 . Siedlungen, wie die von Baldersheim, K r . Ochsenfurt 88 , und Tauberbischofsheim, K r . Mosbach", deuten lediglich eine begrenzte Besiedlung des Maintales an, die sich nach und nadi nur zögernd intensivierte 100 . Durchbrüche durdi den Limes, dessen
Abb. 34.
Limes und spätrömisdie Befestigungen in Südwestdeutsdiland (nadi R. Roeren) — Forschungsstand 1960; vgl. Abb. 35—36.
Vgl. R . von Uslar, Westgermanische Bodenfunde (1938) Taf. 58; Ergänzungen bei: W. Schleiermadier, Der obergermanisdie Limes u. spätrömisdie Wehranlagen am Rhein, in: 33. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1943—1950 (1951) 143 Anm. 29 Abb. 3. 8 8 R . von Uslar, a. a. 0 . 1 8 6 f. " R. von Uslar, a. a. O. 241. 1 0 0 Chr. Pesdieck, Vor- u. Frühzeit Unterfrankens, in: Mainfränkisdie Hefte 38 (1961) 36 ff. Karte 11. 97
Probleme der archäologischen Quellen
309
endgültige Aufgabe 101 und die Neuanlage einer Befestigungszone am Rhein 1 0 1 gaben Raum für eine umfangreiche germanische Besiedlung. Audi ohne die verstreuten historischen Nachrichten wäre der archäologische Befund allein schon voll beweiskräftig. Die Zerstörung des Limes läßt sich
Abb. 35.
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Münzsdiätze und Hortfunde aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Geb. in Südwestdeutschland (nach R. Roeren u. H. Dannheimer) — Forsdiungsstand 1960—1962; 0 = Münzschatz, A = Hortfund; vgl. Abb. 34 u. 36.
W. Schleiermacher, 33. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1943—1950 (1951) 152 ff. bes. 155. W. Schleiermacher, a. a. O. 166 ff.; vgl. auch R . Roeren, Jahrbuch d. Röm.Germ. Zentralmus. Mainz 7 (1960) 220 ff. Karte 2.
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
nachweisen und der Bau neuer Befestigungsanlagen links des Rheins, zwischen Bodensee und Iller, östlich der Iiier und südlich der Donau (Abb. 34) ist erkennbar. Zahlreiche Depotfunde und Münzsdiätze (Abb. 35) dokumentieren eine Unruhezeit103. Dann treten die neuen germanischen Grabfunde als unmittelbare Zeugnisse einer Einwanderung auf104 (Abb. 36),
Abb. 36.
103
104
Germanische Funde Südwestdeutschlands aus dem 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr. Geb. (nadi R. Roeren u. H . Dannheimer) — Forsdiungsstand 1960—1962; vgl. Abb. 34—35.
R. Roeren, Jahrbuch d. Röm.-Germ. Zentralmuseums Mainz 7 (1960) 216 ff. 219 f. 237 ff. Abb. 1; H . Dannheimer, Die germ. Funde d. späten Kaiserzeit (1962) 42 f. Abb. 5. R. Roeren, a. a. O. 223 ff. 243 ff. Abb. 2; H . Dannheimer, a. a. O . 17 ff. 135 f. Abb. 19.
Probleme der archäologischen Quellen
311
Siedlungen — im Freiland, in Höhlen und auf Bergen — kommen hinzu105. Unterschiede in der Grabsitte zwischen Vorbewohnern und Einwanderern sind evident, die der Siedlungsweise ebenso, mögen auch vereinzelt römische Gutshöfe weiterbenutzt worden sein106. Der Bevölkerungswechsel ist deutlidi, doch bleiben zwei Fragen unklar: Wurde die Vorbevölkerung vollständig beseitigt bzw. zum Verlassen des Landes gezwungen? Woher kam die neue Bevölkerung? Die erste Frage ist von der Archäologie her kaum zu beantworten. Auch die zweite Frage läßt sich, obwohl R. Roeren ihr nachgegangen ist, nicht völlig klären, und das ist bezeichnend. Mitteldeutsche Kulturbeziehungen treten deutlich hervor, doch gibt es, wenn man den südwestdeutschen Fundstoff strukturell betrachtet, keine Kulturgruppe im Elberaum, an die sich a l l e funktionell zusammenhängenden Kulturteile — Grab-, Beigaben- und Trachtsitte — unmittelbar anschließen lassen. Roeren meinte: „Hinsichtlich der noch nicht endgültig beantworteten Frage, welche germanischen Stämme zur Ausbildung des alamannischen Stammesverbandes beigetragen haben, dürfte durch einen genauen Vergleich der frühen alamannischen handgemachten Keramik mit der des elbgermanischen Gebietes — von Böhmen bis zur Unterelbe hin — weiterzukommen sein, . . ."107. Dahinter steht der Gedanke, die alamannisdie Bevölkerung müsse auf gleidie Weise stammlich gegliedert aus einem umgrenzbaren Siedlungsraum ausgewandert sein, wie sie in ihrem neuen Siedlungsgebiet ankam und sich niederließ. So k a n n es wohl in einzelnen Fällen gegangen sein. Die „ostgermanischen" Funde in Mittel- und Westdeutschland (vgl. oben S. 303 ff.) sind offenbar ein Beispiel dafür. Aber der Ablauf kann auch ein ganz anderer gewesen sein. Ein emsiges Suchen nach dem Ursprungsgebiet, aus dem die Bevölkerung kam, ist sinnlos, wenn es ein scharf abgegrenztes Heimatgebiet aller, die nach dem Südwesten abwanderten, nicht gegeben hat. In vielerlei Hinsicht anders gelagert — aber dennoch nicht unähnlich — ist das archäologische Bild von den Bevölkerungsveränderungen in Böhmen um Christi Geburt. Die seit Jahrhunderten herrschende keltische Lat^nekultur verging fast spurlos. Merkmale der verhältnismäßig kompliziert strukturierten Wirtsdiafts- und Sozialordnung der Kelten sind nicht mehr länger nachweisbar. Nur gewisse Spuren ihrer materiellen Kultur lassen sich noch eine Zeitlang verfolgen, bis audi sie schließlich verschwin105
104
107
R. Roeren, a. a. O. 224 ff. 253 ff. Abb. 2; H. Dannheimer, a. a. O. 135 Abb. 19. W. Schleiermacher, 33.Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1943—1950 (1951) 156 ff. R. Roeren, Jahrbuch d. Röm.-Germ. Zentralmuseums Mainz 7 (1960) 233.
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Abb. 37.
„Frühgermanische" Grabfunde aus Böhmen (Zeitstufe TiSice 1; zusammengestellt von J. Lichardus nach K. Motykova-Sneidrova) — Forschungsstand 1963; vgl. Abb. 38—39.
den. Die einheimisdi keltische Münzprägung lief aus108. Es strömte statt dessen zwar römisches Geld ins Land, aber die Bevölkerung kehrte trotzdem im wesentlichen zur Naturalwirtschaft zurück. Die kennzeichnende Form der keltischen befestigten Siedlung — das Oppidum — wurde aufgegeben, und damit verschwand eine Siedlungsform, die längere Zeit hindurch für den böhmisdien — wie für den übrigen keltischen — Raum als Großsiedlung eine Hauptrolle gespielt hatte. Tiefgreifende Veränderun108
R. Paulsen, Die ostkeltisdien Münzprägungen. Die Münzprägungen d. Boier (1933); K. Pink, Die Goldprägung der Ostkelten, in: Wiener Prähist. Zeitsdir. 23 (1936) 8—41; ders., Die Münzprägung d. Ostkelten u. ihrer Nachbarn (1939); ders., Einführung i. d. keltische Münzkunde mit bes. Berücksichtigung Österreichs, in: Ardiaeologia Austriaca 6 (1950) 1—55; J. Filip, Keltovi ve stredni Evropi (1956) 224 ff. 542 ff.; V. Ondroudi, Keltski mince typu Biatec (1958); K. Castelin, Die Goldprägungen der Kelten in den Böhmischen Ländern (1965).
Probleme der archäologischen Quellen
Abb. 38.
313
Älterkaiserzeitlidie Grabfunde aus Böhmen (Zeitstufe TiSSice 2; zusammengestellt von J. Lidiardus nach K. Motykova-Sneidrovi) — Forschungsstand 1963; vgl. Abb. 37 u. 38.
gen in der Sozialordnung müssen alledem parallel verlaufen sein. An die Stelle der hochentwickelten keltischen Kultur trat nun eine einfache germanische Bauernkultur, die keine stadtähnlichen Siedlungen, nur Höfegruppen, allenfalls Dörfer kannte und sozial anders strukturiert war. Bemerkenswert ist, daß etwa gleichzeitig mit dem Auslaufen der keltischen Lat£nekultur auch die germanische Gruppe Bodenbach-Kobil versdiwand (vgl. oben S. 284 ff.) und das von ihr in Anspruch genommene Siedlungsgebiet verödete. Die Oppida scheinen zwar nicht alle gleichzeitig verödet zu sein10*, doch fehlen eindeutige Anzeichen für eine längere Weiterexistenz. Nur in 108
Eine systematische Durchsicht des Materials fehlt; Andeutungen bei J . Filip, a. a. O. 331 ff. 542. — Frühe germanische Ware vom Oppidum Zdvist besagt nidit unbedingt Weiterexistenz des Oppidums als solches. Vgl. Fr. ProSek, Keltskd Pevnost HradiätS nad ZÄvisti, in: Pamitki 43 (1947/48) [1950] 43 bis 57, bes. 57 Abb. 9, 1—2.
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Abb. 39. Älterkaiserzeitliche Grabfunde aus Böhmen (Zeitstufe Tisice 3; zusammengestellt von J. Lidiardus nach K. Motykova-Sneidrovä) — Forschungsstand 1963; vgl. Abb. 37 u. 38. Einzelheiten läßt sidi in der frühgermanischen Zeit Fortführen keltischer Traditionen erkennen, so in der Technik der Erzverarbeitung110, in der außerordentlich spärlichen Weiterverwendung von Drehscheibenware111, in einer Reihe von Gefäßtypen, die sichtlich keltische Drehscheibenware nachahmen, doch handgemacht sind112. Die neue germanische Formenwelt, wie sie sich nun hauptsächlich in Gräbern zeigt, stellt in weit größerem Umfange eine Fortsetzung germanischer Traditionen dar und ist stärker 110
R. Pleiner, Die Eisenverhüttung in der „Germania Magna" zur römischen Kaiserzeit, in: 45. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1964 (1965) 20 f. 111 K. Motykovd-Sneidrova, Die Anfänge d. römischen Kaiserzeit in Böhmen (1963) 8. 112 Vgl, k . Motykova-Sneidrova, Zur Chronologie d. älteren römischen Kaiserzeit in Böhmen, in: Berliner Jahrbudi f. Vor- u. Frühgesch. 5 (1965) 143 Taf. 25, 14; 27, 14; 28, 7; 29, 6.19; 30, 1. 7.
Probleme der archäologischen Quellen
315
römischen und norisdi-pannonischen Einflüssen ausgesetzt als solchen eines unter germanischer Herrschaft weiterlebenden keltischen Handwerks 11 '. Der Siedlungsraum, den die Germanen in Böhmen zunächst in Anspruch nahmen (Abb. 37)114, entspricht anfangs ganz dem der spätkeltisdien Besiedlung, deren voller Umfang allerdings nur schwer erfaßbar ist und aus der Verbreitung der spätlat^nezeitlichen Oppida und aus der keltischer Gräberfelder der Mittellat^nezeit erschlossen werden muß. Früh im ersten nachchristlichen Jahrhundert vollzog sich dann anscheinend eine Reduzierung des germanischen Siedlungsraumes (Abb. 38). Südböhmen wurde weitgehend verlassen und die Besiedlung konzentrierte sich auf Mittelböhmen, wo später eine geringe innere Kolonisation erfolgte (Abb. 39). Die Bodenfunde allein lassen für Böhmen nicht genau erkennen, welchen Umfang der Bevölkerungswechsel hatte. Daß die neuen Herren noch gewisse Reste der alten Bevölkerung im Lande antrafen und duldeten, ist aus den Funden zu entnehmen. Der U m f a n g der Restbevölkerung läßt sich kaum erfassen. So gering wie ihr Einfluß auf die materielle Kultur der neuen Herren muß ihre Wirkung auf deren Lebensform gewesen sein. Wo Reste verblieben, müssen sie die eigene Lebensweise schnell aufgegeben und die der neuen Bewohner übernommen haben. Wie im Falle der Gruppe Poiene?ti-Lukaschewka und der frühen Germanen in Südwest- und Süddeutschland läßt sich die Herkunft der germanischen Bevölkerung Böhmens an Hand des archäologischen Befundes nicht genau feststellen. Gewiß, die Germanen Böhmens gehören zum elbgermanischen Bereich, wenn man die Keramik in Betracht zieht. Ihre Kultur hat auch sonst außerordentlich viele Verbindungen nach dem Norden. Einige Kulturerscheinungen setzen die böhmischen Germanen aber vom Norden ab. Es gibt keine getrennten Männer- und Frauenfriedhöfe wie in Mitteldeutschland, Brandenburg und an der Niederelbe. Die Grabsitte weicht deutlich von dem ab, was man aus dem elbgermanischen Norden kennt. Das hat neuerdings insbesondere der sorgfältig ausgegrabene Friedhof Tisice bewiesen, wo neben den üblichen „elbgermanischen" Urnengräbern in großer Zahl kleine und sehr große Brandgruben vertreten sind und wo die Mitgabe von Scherben mehrerer Gefäße in Urnenwie Brandgrubengräbern von den Gepflogenheiten des Nordens deutlich »» K. Motykova-Sneidrovä, a. a. O. 126 ff. Taf. 31, 11; 33, 13; 40, 39. 41. 52. Die Karten Abb. 37—39 entwarf J. Lidiardus, Nitra, gelegentlich eines Referats über Fragen der relativen Chronologie der älteren Kaiserzeit in Böhmen im Institut für Vor- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie der Universität des Saarlandes, Saarbrücken.
114
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
absticht115. Die Herkunft der germanischen Kultur und Bevölkerung Böhmens nadi traditioneller Weise feststellen zu suchen, ist deswegen gewagt. Sie kann nur zu einseitigen Deutungen führen oder in einem Streit um verschiedene Möglichkeiten enden11*, die allesamt eine gewisse Evidenz für sich in Anspruch nehmen können, aber trotzdem alle Sdieinergebnisse wären. Aus dem Norden mag sie gekommen sein. Muß es bzw. kann es sich um eine geschlossene Gruppe einheitlicher Herkunft gehandelt haben? Entleerung der Altmark um Christi ist sichtbar. Zwingt das dazu, alle Einwanderer von dort herzuleiten? Den Vorgängen in Böhmen ähnlich ist die Ausbreitung germanischer Besiedlung der Przeworsker Kultur in Obersdilesien. Eine keltische Siedlungsinsel befand sich noch in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit zwischen Oder und Oppa westlidi von Ratibor117. Mit der älteren Römischen Kaiserzeit trat an deren Stelle eine germanische Gruppe118. Schon im Verlaufe dieser Epoche erfolgte eine nicht unbeträchtliche Binnenkolonisation, die sich bis in die jüngere Kaiserzeit hindurch fortsetzte11'. Das keltische Element verschwand, ohne irgendwelche nennenswerte Wirkungen zu hinterlassen. Verwickelter als anderwärts waren die Bevölkerungsveränderungen, die sich zwischen Rhein und Leinetal in der Zeit um und nach Christi Geburt vollzogen haben müssen. Das Fundgut der vorrömischen Eisenzeit war dem Böhmens ähnlich bzw. stand dem keltischen westlich des Rheins nahe. Der Raum zwischen Rhein- und Leinetal und zwischen Lippe im Norden und dem Maingebiet im Süden war kulturell zwar viel weniger einheitlich als Böhmen, aber die Grundstruktur ist doch dieselbe und gleicht audi der westlich des Rheins. Befestigte stadtähnliche Siedlungen und feste Plätze auf Höhen finden sich allenthalben. Münzumlauf scheint 115
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K. Motykovä-Sneidrova, Zirove pohrebiite ze starii doby rimske v Tisicidi ve strednfch CecMdi [Das Brandgräberfeld der älteren römischen Kaiserzeit in Tisice in Mittelböhmen], in: Pamitky arch. 54 (1963) 343—437, bes. 428 f. Tabelle. M. Jahn, Die ersten Germ, in Südböhmen, in: Altböhmen u. Altmähren 1 (1941) 64—93; H. Preidel, Die Markomannen u. Bayern, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesdi. d. dt. Stämme 2 (1940) 569. M. Jahn, Die Kelten in Schlesien (1931) 66 ff.; vgl. J. Filip, Kcltove ve strednf Evropi (1956) 63 Abb. 17; vgl. dazu: B. Czerska, Osada z okresu pöznolatenskiego kolo Nowey Cerekwii w powiecie Glubczyce [Siedlung der Spätlatenezeit bei Nowa Cerekwia (Altstett), Bezirk Glubzcyce (Leobsdiütz)], in: Archeologia Slqska 3 (1959) 25—68. M. Jahn, Die obersdilesisdien Funde aus der römisdien Kaiserzeit, in: Prähist. Zeitsdlr. 10 (1918) 80—149 u. 13/14 (1922) 127—149; K. Godlowski, Remarks on the Development of Przeworsk Culture Settlement in Upper Silesia, in: Ardiaeologia Polona 8 (1965) 37—65 Karte 2. K. Godlowski, Archeologia Polona 8 (1965) 42 ff. Karte 3.
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verbreitet gewesen zu sein, wenngleich Münztypen mit vorwiegend rechtsrheinischer Verbreitung sich in der Wetterau konzentrierten und dort möglicherweise auch geprägt worden sind. Technisdier Hochstand im keramischen und besonders im Metallgewerbe ist sichtbar, doch scheint die reichliche Verwendung von Drehscheibenware nach dem Norden abzunehmen, was indes mit der Grabsitte zusammenhängen kann, die im Süden ganze Geschirrsätze, im Norden jedoch nur ein einzelnes Gefäß — und das nicht immer — für die Beisetzung verlangte. Einheitlich ist das Bestattungsritual. Stets sind es Flachgräber mit Urnen oder Leichenbrandhäufdien. Daß die Toten überhaupt mit Beigaben ausgestattet werden, ist ein einigendes Merkmal, das diesen Raum vom eigentlich keltischen absetzt. „Von Gallien über Süddeutschland bis nach Böhmen/Mähren hat man die Toten während der Spätlat^nezeit gar nicht oder nur ganz vereinzelt so beerdigt, daß man sie wiederfinden kann, . . ."120. Städtewesen, Münzwirtschaft, Deponierungen von Eisenbarren und größeren Mengen von Eisengerätschaften, Stil der Drehscheibenware und mancherlei bronzenes Formengut binden diesen Raum indes enger an das eigentlich keltische Gebiet Frankreichs, Süddeutschlands, Böhmens und Mährens als an den echt germanischen Bereich in Norddeutschland und im Elbegebiet121. Faßt man zusammen, so hat man das Bild von einer in mandien Zügen einheitlichen Gesamtkultur, welche kantonal in eine Anzahl von Siedlungsgemeinschaften mit lokalen kulturellen Sondermerkmalen aufgespalten war. Die Kantone weichen in „Einzelheiten des Bestattungsbrauchtums voneinander ab, verhalten sich unterschiedlich keltischem Münzgeld gegenüber und unterscheiden sich ferner in der Produktionsart des keramischen Gebrauchsgeschirrs. Ihre Geschichte beginnt nicht erst im Spätlat^ne, vielmehr wurzelt sie in den früheisenzeitlichen Verhältnissen des rechtsrheinischen Gebirgslandes. Man darf also von autochthoner Bevölkerung sprechen, in der Wetterau wie im Siegerland oder in Nordhessen"122. Mit dem Ende der vorrömischen Eisenzeit treten auch in diesem Raum tiefgreifende kulturelle Änderungen ein: „Aufgegeben wird die Siedlungsform des Oppidums, vergessen sind auch die technischen Errungenschaften der Siegerländer Eisenindustrie, verschwunden ist das Münzgeld, und die maschinelle Produktion der Keramik wird wieder abgelöst durch handbetriebene Töpferei"125. G. Kossack hat die möglichen 120
121
G. Kossack, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zwischen Germanen und Kelten (1962) 96. R. Hadimann, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, a. a. O. 34 f. Abb. 1—2.
122 lts
G. Kossack, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, a. a. O. 97. G. Kossack, a. a. O. 98.
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Ursachen der Veränderungen umrissen1". Hier interessiert zunächst mehr der Ablauf des Wandels. An Stelle der autochthonen Kultur begegnet man nun zwischen Rhein und Leinetal einem ganz fremden Material, das keine Vorläufer im Lande, wohl aber Beziehungen nadi dem Norden und dem Nordwesten hat, kulturell allerdings keineswegs einheitlich ist. Unmittelbare Verbindungen zur elbgermanischen Kultur spielen eine Rolle, wie das Frauengrab von Gladbach, Kr. Neuwied" 5 , oder das Männergrab von Landau, Kr. Landau12®, zeigen; Funde, zu denen es eine Anzahl von Gegenstücken gibt127. Neben Elbgermanischem gibt es indes Gleichzeitiges, das eher nach dem Nordwesten in das Gebiet jenseits der Lippe zeigt128 und dort besonders in der Gegend zwischen Wesel und Emmerich Parallelen hat129. O. Uenze hat auf die unterschiedlidien Charaktere dieser Fundgruppen besonders nachdrücklich hingewiesen130 und gewiß das Richtige getroffen. Auf jeden Fall handelt es sidi um neue Siedlergruppen, welche sich als etwas Fremdes südlich der Lippe über die autochthonen Fundgruppen der ausgehenden vorrömisdien Eisenzeit legten oder diese verdrängten und welche völlig anders strukturiert waren. Es ist sdiwer, sich das Auftreten des Fremden nur „in Form einer Einsickerung germanischer Keramik vom Norden her, auf der alten Völkerstraße der Hessischen Senke" vorzustellen131. G. Kossack und Verf. meinten deswegen, von neuen Besiedlungsschiditen sprechen zu müssen132. Das ist eine Ansicht, die O. 124
G Kossack, a. a. O. 99. R. von Uslar, Ein frühkaiserzeitl. Germanengrab a. d. Neuwieder Becken, in: Germania 20 (1936) 36—39 Abb. 1. 12» W. Kaiser, Ein elbgerm. Grab d. Spätlatene von Landau, in: Mitteilungen d. Hist. Vereins d. Pfalz 58 (1960) 35—48 Abb. 1—9. 127 R. von Uslar, Zur Spätlatenezeit in Nordwestdeutsdiland, in: Marburger Studien (1938) 249—253, dodi gehört nicht alles, was von Uslar verzeichnete, hierher. — Ferner: O. Uenze, Keramik d. frühesten Kaiserzeit aus Nordhessen, in: Fundber. aus Hessen 2 (1962) 140—158, bes. 149 ff. Abb. 10—11; R. Nierhaus, Das swebisdie Gräberfeld v. Diersheim (1966) 199 ff., wo alles Fundgut zusammengestellt ist, das möglicherweise als germanisch in Betracht kommt. 128 K. Naß, Germ. Brandgrubengräber d. frühen Kaiserzeit aus Waldeck, in: Marburger Studien (1938) 167—177; O. Uenze, a. a. O. 140 ff. Abb. 1—8 Taf. 43. 12» Vgl. R. Stampfuß, Grabfunde im Dünengebiet d. Kreises Rees (1931) 4 ff. Taf. 11. 12; G. Kossack, in: R. Hachmann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 93 f. 130 O. Uenze, in: Fundber. aus Hessen 2 (1962) 149.154 ff. 131 R. Nierhaus, Das swebisdie Gräberfeld v. Diersheim (1966) 212. 132 R. Hachmann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1962) 38 ff. 100 ff. 125
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Uenze von jeher vertreten" 8 und vor kurzem letztmals betont hat134. Gegen die Annahme, die Burgen seien um Christi Geburt allesamt verlassen worden, hat sich allerdings R. von Uslar mit Argumenten gewandt, deren Grundlage teils Vermutungen über die Zeitstellung schwer datierbarer Keramik und ungeprüfte antike Nachrichten sind135. Ebenso meinte er, gegen die Interpretation des archäologischen Befundes zwischen Rhein und Leinetal um Christi Geburt „Einwände nicht unterdrücken" zu können13*. Seine Argumente sind hauptsächlich von der seinem Denken eigentümlichen Methode bestimmt. Es ist nötig, diese deswegen etwas näher zu durchleuchten. „Der räumliche und zeitliche Zusammenhang unserer barbarischen Randgruppe zu transgredierenden Funden in Art des vom unteren Niederrhein nördlidi von Rhein und Lippe sich ostwärts erstreckenden Formenkreises aus dem Beginn und der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts nach Chr. bis zum ausgereiften Rhein-Weser-Kreis seit der Mitte des ersten Jahrhunderts nach Chr. ist wohl enger, . . ."18? meinte er. Er fragte, wie sich denn der „eigentümliche Stil in der Keramik wie in Metallgegenständen typologisch gesehen weiterentwickelt haben" könnte, wenn die barbarische Randprovinz ein gewaltsames Ende gefunden habe. „Man darf doch wohl die Möglichkeit eines starken und rasdien Abbaus des lat^neartigen Habitus unserer Gruppe [der sog. barbarischen Randprovinz der Lat^nekultur] durch das Formgefühl des nördlicher gelegenen Kreises nicht außer acht lassen"188. Nun ist es allerdings schwer, sich vorzustellen, wie das „Formgefühl des nördlicher gelegenen Kreises" die Existenz der Oppida, die Eisengewinnung im Siegerland und das System der Geldwirtschaft beeinflußt und diese Kultur138
134
185
138
137 138
O. Uenze, Der Einfluß d. Nordens im Spiegelbild d. Burgen, in: Hessische Heimat 5 (1939) 24 f.; ders., Vorgesdi. d. hessischen Senke in Karten (1953) 32 Karte 13—14. O. Uenze, in: Fundber. aus Hessen 2 (1962) 155: „Auf die Periode des Spätlatene folgt zeitlich . . . [eine] Keramik, die uns von den Burgen . . . nicht bekannt ist. Es liegt eine Cäsur vor, an der wir nicht vorbeikommen, und als Erklärung bietet sich nur an, daß wir einen Wechsel in der Bevölkerung vor uns haben, . . . Wir haben demnach mit einer Abwanderung der Spätlat^nebevölkerung,..., zu rechnen." R. von Uslar, Studien zu frühgeschichtlichen Befestigungen zw. Nordsee u. Alpen (1964) 8 ff. 14 f. — Einzige sidier germanische Befestigung aus der Zeit um Christi Geburt ist vorerst noch die Heidenschanze bei Wesermünde. Vgl. W. Haarnagel, Die Grabung a. d. Heidensdianze b. Wesermünde im Jahre 1958, in: R. von Uslar [Hrg.], Studien aus Alteuropa 2 (1965) 142 bis 178, bes. 170 ff. Abb. 16—18. R. von Uslar, Spätlat^nezeitliche Gräber in Leverkusen-Rheindorf, in: Germania 42 (1964) 51. R. von Uslar, a. a. O. 51 f. R. von Uslar, a. a. O. 52 f.
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demente abgebaut haben sollte. Es ist ein blasser Gedanke, der hier als Ausweg vor einem Lösungsvorschlag benutzt wird, ein Theorem, das an den Realitäten einer funktionierenden Kultur nicht erprobt ist und einer Erprobung nicht standhält. Zudem beruht dessen Konzeption auf einem Mißverständnis, einem doppelten sogar. R. von Uslar betonte, daß der der barbarischen Randprovinz der Lat^nekultur „eigentümliche Stil in Keramik wie in Metallgegenständen" sich weiterentwickelt hätte und daß diese Weiterentwicklung nur mit den Verhältnissen in England und „in einem gewissen nicht langwährenden Weiterleben latfeneartiger Keramikformen auf der linken römisch gewordenen Rheinseite" verglichen werden könnte 1 ". Sieht man nicht nur Einzelheiten — und bemüht man sidi nicht, Belanglosigkeiten herauszugreifen —, dann läßt sich deutlich genug erkennen, daß die Kontinuität, die von Uslar betonte, gar nicht vorhanden ist, wenn man die Gesamtstruktur der Kulturen in Betracht zieht. Der zweite Irrtum liegt darin, daß von Uslar meinte, G. Kossack und Verf. seien geneigt, die Kontinuität von der Tonware des Raumes nördlich der Lippe bis zur vollentwickelten Keramik der Rhein-Weser-Gruppe zu negieren. Diese aber ist gerade betont worden: „Im Verlaufe des späten ersten nachchristlichen Jahrhunderts wird die hauptsächlich vom Elbegebiet her bestimmte frühestkaiserzeitliche Siedlungsschicht östlich des Rheins durch eine Kulturgruppe eigenständigen Gepräges e r s e t z t . . . " In deren Keramik begegnen sich nun Einflüsse aus den verschiedensten Richtungen: „Römische Vorbilder werden aufgenommen, Spuren ,elbgermanischer' Stilelemente sind zu fassen; man findet Anklänge an niederrheinisches Formengut der Übergangszeit um Christi Geburt; aber auch die alteinheimische Tonware der Spätlat£nezeit wirkt in Formmerkmalen und Dekor weiter" 140 . Allerdings, in Metallgegenständen kann man in dieser Zeit und in diesem Raum keine Kontinuität finden, die das Maß dessen übersteigt, das für die germanische Kultur um Christi Geburt im allgemeinen gilt. Es läßt sich offenbar also doch nicht leugnen, daß im Gebiet zwischen Rhein- und Leinetal die autochthone Kultur abbrach. Zwei Neuerscheinungen traten an ihre Stelle, Kulturgut des elbgermanischen Gebietes und solches, das speziell mit dem Raum nördlich der Lippe zusammenhängt. Die elbgermanische Kultur verschwand nach kurzer Frist wieder, unter welchen Bedingungen und wohin, das lassen die Bodenfunde nicht erkennen. Es kam zur Entwicklung des Rhein-Weser-germanischen Kreises, an der die Kultur des Nordwestens großen, die des elbgermanischen 13> 140
R. von Uslar, a. a. O. 52. R. Hachmann, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1961) 40; dazu G. Kossack, a. a. 0 . 1 0 0 ff.
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Nordostens keinen bedeutenden Anteil hatte. Daß in der Tat beträditliche Bevölkerungsveränderungen um Christi Geburt und im ersten Jahrhundert danach vonstatten gingen, läßt die Kartierung des Fundstoffs erkennen. Die Karte der frühgermanischen Funde ist — bedingt durch den Fehler der kleinen Zahl — nidit besonders signifikant; immerhin zeigt sie, daß das Siegerland d a m a l s noch besiedelt war141. Der RheinWeser-germanische Fundstoff spart den ganzen Raum des eigentlichen Schiefergebirges vollständig aus; das Gebiet muß Jahrhunderte hindurch unbesiedelt gewesen sein142. Merkwürdigerweise hat von Uslar gerade diese Tatsache schon früh betont, allerdings ohne nach den Ursachen zu fragen143. Wie in Böhmen lassen sich Reste der alten Bevölkerung im Raum zwischen Rhein und Leine nidit sehr deutlich erkennen. Spuren älterer Elemente im keramischen Formengut und in der Zierweise fordern das Weiterleben gewisser Bevölkerungsteile144. Wie in Böhmen ist es jedoch auch hier bezeichnend, daß nur e i n z e l n e Verbindungen von der Vorbevölkerung zu den Einwanderern führen. Ganz gleich, wie umfangreich oder wie gering man sich den Anteil der Restbevölkerung vorstellen mag; an der Prägung der neuen Kultur hatte sie — sichtbar jedenfalls — keinen besonderen Anteil. Mag die Bevölkerung, die in den Oppida überlebte, auch noch so groß gewesen sein, sicher ist, daß sie ihre alte Lebensweise nicht aufrechterhalten konnte. Die Einheimischen fielen zwangsläufig auf das Niveau der Einwanderer zurück; so ausgeprägt war die Struktur der neuen Kultur, mochte sie ihrem Niveau nach auch dem Alten gegenüber deutlich unterlegen sein. Das Abbrechen elbgermanischer Friedhöfe im Thüringer Becken und das Auftreten von Bestattungsplätzen und Siedlungen „westgermanischen" Charakters an deren Stelle hat von Uslar zu keinen besonderen Schlüssen veranlassen können, ausgenommen den, die Kontinuität der Siedlungsplätze dürfe „als wichtige Stütze der vorherrschenden Ansicht beigezogen werden, die ein Weiterbestehen der Hermunduren bis in jüngere Zeit" angenommen hat145. W. Schulz sah Hermunduren hinter den „westgermanischen" Funden Thüringens u n d dem elbgermanischen 141 14!
143 144 145
R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, a. a. 0 . 1 0 2 Karte 7. R. von Uslar, Bemerkungen z. e. Karte germ. Funde d. älteren Kaiserzeit, in: Germania 29 (1951) 46 Abb. 1. R. von Uslar, Westgerm. Bodenfunde (1938) 176. Vgl. R. von Uslar, a. a. O. 86 ff. Taf. A. R. von Uslar, a. a. O. 177. — Tatsächlich besteht die „Kontinuität der Siedlungsplätze" nur darin, daß in einer gewissen Anzahl von Fällen elbgermanisdie und „westgermanische" Scherben an ein und derselben Stelle gefunden wurden.
21 Hadimann, Goten und Skandinavien
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Fundstoff des Mittelelbegebiets14'. G. Mildenberger hat im Jahre 1950 in einer Serie von Karten die Veränderung der Kulturverhältnisse in Mitteldeutschland dargestellt147, das Auflassen elbgermanischer Fundstellen im Westen und das schrittweise Vorrücken „westgermanischen" Formenguts. Er wandte sich dabei gegen von Uslars Ansicht, die „westgermanischen" Funde Thüringens schlicht als hermundurisch anzusprechen, da „die elbgermanische Gruppe des Ostsaalegebiets diesem Stamme zugewiesen werden müsse148. Er sah sich jedoch damals noch nicht in der Lage, die frühkaiserzeitlidien Funde Thüringens einem der germanischen Stämme zuzuweisen. Im Jahre 1958 meinte er dann, Thüringen habe wahrscheinlich unter politischer Herrschaft der Chatten gestanden14". Untersucht man hier die Lage genauer, so kommt man nidit umhin, einen Bevölkerungswechsel anzunehmen. Träger der Rhein-Weser-germanischen Kultur müssen eingewandert sein und die „Elbgermanen" verdrängt haben. Für die Völkerwanderungszeit hat das Einwandern germanischer Bevölkerungsgruppen nach England150, Spanien151, Italien152 und Ungarn15® seine untrüglichen Spuren in den archäologischen Funden hin,4t 147 148 141 150
151
152
15S
W. Schulz, Die Thüringer, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesdi. d. dt. Stämme 1 (1940) 411. G. Mildenberger, Zur Besiedlungsgesdiidite Thüringens in frührömisdier Zeit, in: Jahresschrift 34 (1950) 145—153 Abb. 3—5. G. Mildenberger, a. a. O. 152 f. G. Mildenberger, Mitteldeutschland i. d. römischen Kaiserzeit, in: Ausgrabungen u. Funde 3 (1958) 261. Vgl. E. T. Leeds, The Ardiaeology of the Anglo-Saxon Settlements (1913); N. Äberg, The Anglo-Saxons in England (1926); E. T. Leeds, Early AngloSaxon Art and Archaeology (1936); J. N. L. Myres, The English Settlements, in: R. G. Collingwood u. J. N. L. Myres, Roman Britain and the English Settlements (!1937) 325 ff.; S. Ch. Hawkes u. G. C. Dunning, Krieger u. Siedler in Britannien während d. 4. u. 5. Jahrhunderts, in: 43.—44. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1962—1963 (1964) 155—231. H. Zeiss, Die Grabfunde a. d. spanischen Westgotenreich (1934); J. Martínez Santa-Olalla, Zur Tragweise der Bügelfibeln bei den Westgoten, in: Germania 17 (1933) 47—50; ders., Westgotische Adlerfibeln aus Spanien, in: Germania 20 (1936) 47—52; A. Molinero Perez, La Necrópolis Visigoda de Duraton (Segovia). Excavaciones del Plan Nacional de 1942 y 1943 (1948); J. Ferrandis, Artes decorativas Visigodas, in: R. Menendez Pidal [Hrg.], Historia de España 3 (1940) 611—666 m. weiterer Literatur. N. Äberg, Die Goten u. Langobarden in Italien (1923); weitere Literatur vgl. J. Werner, Die Langobarden in Pannonien (1962) 17 Anm. 2—7; G. Annibaldi u. J. Werner, Ostgotisdie Grabfunde aus Acquasanta, Prov. Ascoli Piceno (Mardie), in: Germania 41 (1963) 356—371. J. Werner, Studien zu Grabfunden d. 5. Jahrhunderts a. d. Slovakei u. d. Karpathenukraine, in: Slovenská Arch. 7 (1959) 422—438; E. Beninger, Die Langobarden an der Mardi u. Donau, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 2 (1940) 827—864; I. Bóna, Die Langobarden in Ungarn, in:
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terlassen. Germanische Einwanderung ist auf den Shetland- und OrkneyInseln deutlich in den Funden zu erkennen1". Fremde Zuwanderung läßt schließlich auch das nordmährische Kostelec für die jüngere Kaiserzeit erkennen153. Zuwanderung erfolgte schon in der älteren Kaiserzeit in Mähren und der Westslowakei156. Auch eine Gruppe von germanischen Funden in der römischen Provinz westlich des Neusiedler Sees muß einer kleinen Bevölkerungsgruppe zugewiesen werden, die dort von den Römern ansässig gemacht worden ist157. In der jüngeren Kaiserzeit finden sich in der östlichen Slowakei und in Nofdostungarn germanische Funde, die keine Voraussetzungen im Lande haben158. Fremd in ihrer Umwelt Acta Ardi. Acad. Scient. Hung. 7 (1956) 183—244; J. Werner, Die Langobarden in Pannonien. Beiträge zur Kenntnis d. langobardischen Bodenfunde vor 568 (1962); D. Csalläny, Archäologische Denkmäler d. Gepiden im Mitteldonaubecken (454—568 u. Z.) (1961). 154 A. W. Bregger, Den norske bosetningen pä Shetland-Orkn0yene (1930) 141 ff.; J. R. C. Hamilton, Excavations at Jarlshof, Shetland (1956). 155 J. Zeman, Serverni Morava v mladSi dobi fimské [Nordmähren i. d. jüngeren röm. Kaiserzeit] (1961) 227 ff. ,5 * E. Beninger u. H. Freising, Die germ. Bodenfunde in Mähren (1933); E. Beninger, Die germ. Bodenfunde i. d. Slovakei (1937); ders., Die Quaden, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesdi. d. dt. Stämme 2 (1940) 669—743; T. Kolnik, Popolnicové pohrebiìSte z mladìSej doby rimskej v OcSkove, in: Arch. Rozhledy 6 (1954) 336. 342—344. 353. 427; ders., Popolnicové pohrebisko z mladSej doby rimskej a po&atku doby st'ahovania närodov v OcSkove pri PieiSt'anoch, in: Slovenskä Ardi. 4 (1956) 233—289; ders., ÙalSie nälezy z Abrahämu na Slovénsku, in: Ardi. Rozhledy 10 (1958) 526—527. 535—543; ders., Nove ojedinelé nälezy Spón z doby rimskej a st'ahovania närodov na juhozäpadnom Slovensku, in: Slovenskä Ardi. 6 (1958) 380—387; ders., Germänske hroby zo stariSej doby rimskej zo Zohora, Zlkoviec a Kostolnej pri Dunaji, in: Slovenskä Ardi. 7 (1959) 144—162; ders., Nove pohrebiskové nälezy z doby rimskej na Slovensku, in: Ardi. Rozhledy 13 (1961) 822—836. 839 bis 849. 853; ders., Pohrebisko v Besenove (prispevok k Stiidiu doby rimskej na Slovensku), in: Slovenskä Arch. 9 (1961) 219—300; ders., Nove sidliskové nälezy z doby rimskej na Slovensku, in: Arth. Rozhledy 14 (1962) 344—368. 371—380. 385—397; ders., Nälez hlinenej plastiky a strieborného nakrünika na Sidlisku z mladlej doby rimskej v Cerveniku, in: Ardi. Rozhledy 16 (1964) 337—346. 352—353; ders., Honosné spony mladsej doby rimskej vo svetle nälezov z juhozäpadneho Slovenskä, in: Slovenskä Ardi. 12 (1964) 409—446; ders., K typológii a dironológii niektorydi Spón z mladsej doby rimskej na juhozäpadnom Slovensku, in: Slovenskä Ardi. 13 (1965) 183 bis 236. 157 I. Bòna, Beiträge zur Archäologie u. Geschichte d. Quaden, in: Acta Ardi. Acad. Scient. Hung. 15 (1963) 255 ff. 158 E. Beninger, Die germ. Bodenfunde i. d. Slovakei (1937) 143 ff.; G. Török, Angaben zur ungarländisdien Wandalenfrage, in: Dolgozatok 9/10 (1933/34) 190—205; 12 (1936) 176. 21*
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ist die eindeutig „ostgermanische" Bestattung von Cziffer, Bez. Trnava, in der Slowakei159; kein Zweifel, daß hier ein germanischer Krieger begraben liegt. Ob es ein einzelner war, der hier völlig allein in fremder Umwelt bestattet wurde? Der Forschungsstand in der Westslowakei schließt es nicht aus, daß weitere Funde gleicher Art auftaudien könnten. Eindeutig ist das Grab von Fürst, Gem. Pietling, Lkr. Laufen, zu beurteilen1'0. J. Werner sagte: „ . . . ein Fremder, der in jener Gegend auf dem Durchzug verstarb und mit ortsfremden Beigaben bestattet wurde"161. Diese Zusammenstellung könnte man noch weiter fortsetzen und käme zur Frage der sog. Neckarsweben, deren Problematik mit der Bearbeitung durch R. Nierhaus162 noch nicht völlig erschöpft ist, hier aber nicht weitergeführt werden kann. Man käme zu den teilweise germanisch anmutenden Funden aus Hessen-Starkenburg1'3 und am Ende zu den angeblichen Germanen in Südbayern um Christi Geburt1'4. Man würde in den Bereich der Grenzfälle geraten, die hier nichts ergeben, wenngleich sie an sich besonders interessant sind. Im einzelnen wäre damit die Erörterung nicht abgeschlossen. Man müßte natürlich auch die literarischen Zeugnisse in Betracht ziehen. Man möchte wissen, was diese zu dem archäologischen Befund sagen und um welche Germanen es sich denn eigentlich in jedem Einzelfall handelte. Dodi hier steht nicht die Frage des Vergleichs von Aussagen archäologischer und literarischer Quellen zur Diskussion, sondern einzig das Problem des Nachweises von Bevölkerungsveränderungen a l l e i n auf Grund des archäologischen Befundes. Trotzdem ist es vielleicht gut, wenigstens kurz auf die philologisch-historische Seite des Problems einzugehen. Von Wanderungen ostgermanischer Gruppen bis in die Wetterau berichten die literarischen Quellen nichts. R. Vulpe hat die Gruppe Poienejti mit den Bastarnen in Verbindung gebracht1". Verf. hat die unüberwindlichen Schwierigkeiten einer solchen Deutung hervorgehoben16'. K. Tackenberg fand einen „Ausweg", mit dessen Hilfe er die 158
I. Bòna, in: Acta Ardi. Acad. Scient. Hung. 15 (1963) 250 ff. Abb. 1. no j Werner, Die frühgesdi. Grabfunde v. Spielberg b. Erlbadi, Lkr. Nördlingen, u. v. Fürst, Lkr. Laufen a. d. Salzach, in: Bayer. Vorgesdi. Blätter 25 (1960) 164—179 bes. 169 ff. Taf. 15. 1,1 J. Werner, a. a. O. 171. 162 R. Nierhaus, Das swebische Gräberfeld v. Diersheim (1966). 163 F. Behn, Die Markomannen am Rhein, in: Forschungen z. Vor- u. Frühgesdi. 2 (1957) 98—111 Abb. 25—27 Taf. 9; dazu: R. Nierhaus, a . a . O . 188 ff. 164 P. Glüsing, Frühe Germanen südlich d. Donau, in: Offa 21/22 (1964/65) 7—20. 165 R. Vulpe, in: Le problème des Bastarnes (1955) 8. 106 R. Hachmann, in: Die Kunde N . F. 8 (1957) 89 f.
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Deutung dieser Gruppe als bastarnisch aufrecht zu erhalten suchte157. Daß es sidi bei den frühen Germanen Südwestdeutschlands um die Alamannen handelt, bedarf keiner Erläuterung. Ebenso ist es sicher, daß die Germanen Böhmens die Markomannen, die an der mittleren Donau die Quaden waren. Die ostslowakisch-nordostungarischen Germanen sind den Wandalen zuzuweisen. Elbgermanische Funde zwischen Rhein und Leine hat O. Uenze zweifellos mit Recht mit den Soufjßoi ActYYoßäpöoi Ptolemaios* in Verbindung gebracht1*8, Funde wie die von Goddelsheim mit den Chatti1M. Bezeichnenderweise ist es nicht möglich, die rumänisch-bessarabischen, westdeutschen, südwestdeutschen oder die böhmischen germanischen Fundgruppen in ihrer Kultur auf ein klar umreißbares, engeres Siedlungsgebiet zurückzuführen, das im Augenblick ihres Auftretens fundleer wurde. Ebensowenig hat es Erfolg, wenn man ältere Belege für Alamannen, Chatten oder Markomannen zu finden versuchte. Es gab sie wohl vorher nicht! Das ist offenbar nicht nur allein für diese Fälle bezeichnend. Die Situation scheint bei der Gruppe Poienejti-Lukaschewka ähnlich zu sein. Die Alamannen in Südwestdeutschland, die Markomannen in Böhmen, die Chatten und die angeblichen „Bastarnen" in Rumänien und ihre kulturellen Beziehungen stellen Modellfälle einer bestimmten Verlaufsform von Wanderungen und Kulturveränderungen dar, bei deren Rückverfolgung man zu keinem Ergebnis kommt. Es ist deswegen sehr die Frage, ob man zu einem greifbaren Schluß kommen würde, wenn man die spärlichen ostgotischen Funde Italiens über das Mitteldonaugebiet hinaus170, dann weiter nach Südrußland und schließlich bis in ihre ostmitteleuropäisdie Heimat zurückzuverfolgen suchte. J. Werner hat mit Recht auf die „großen Umschichtungen im Gefolge differenzierter Wanderungsvorgänge ..hingewiesen 1 7 1 . Im Falle der Alamannen, der Markomannen, der Chatten, der „Bastarnen " ist die Fremdheit des neuen Fundguts in seiner Umwelt evident. Der Nachweis einer Einwanderung ist so gut wie sicher. Unklar bleibt, wenn man nur die archäologischen Funde in Betracht zieht, das Schicksal der Vorbevölkerung. Unklar bleibt, woher die Einwanderer kamen. Ihre Einordnung in den germanischen Bereich ist sicher. Ihre 187 1,8 168
170 171
K. Tackenberg, in: Alt-Thüringen 6 (1962/63) 424. O. Uenze, in: Fundber. aus Hessen 2 (1962) 155. O. Uenze, a. a. O. 154 f. mit Vorsicht; ders., Vorgesdi. d. hess. Senke in Karten (1953) 32: „Die Funde aus der Zeit um Christi Geburt, die im nördlichen Hessen gehoben wurden, können wir nur den Chatten zuweisen." J. Werner, in: Germania 41 (1963) 366 f. J . Werner, Die Herkunft der Bajuwaren, in: Aus Bayerns Frühzeit (1962) 230.
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„Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Kultur läßt sich in einzelnen Zügen mit einem begrenzteren Raum verbinden. Einzelne Formen lassen sich ihrer Herkunft nach redit gut zurückverfolgen. Aber es ist unmöglidi, die gesamte, archäologisch faßbare Kultur „nahtlos" an Vorformen anzuschließen, die allesamt in einem klar abgrenzbaren Raum nadiweisbar sind. Man findet vielleidit Räume, die gerade in der Zeit der Wanderung ihre Bevölkerung verloren. Aber die Kultur der Einwanderer hat dort keine Vorformen. Die Ursachen für solche Befunde können verschiedene sein. Es kann sein, daß die Einwanderer „ethnisch" nicht einheitlicher Herkunft waren. In solchem Falle würde Lokalisierung von Vorformen einzelner Kulturgüter keineswegs den Ursprung von Teilen der Bevölkerung klären. Es kann aber auch sein, daß zwischen Abwanderung und Neuansiedlung einer in sich geschlossenen Gruppe auf diese mancherlei Einflüsse wirkten, die ihre Kultur sdinell veränderten. Ebenso kann es sein, daß in der neuen Heimat schnell fremde Einwirkungen übermächtig wurden oder daß sich die Kultur immanent rasch veränderte. Im Endeffekt wird man sich in der Regel damit begnügen, festgestellt zu haben, daß eine Einwanderung erfolgt ist und daß deren Kultur zwar in eine bestimmte Richtung weist, aber nicht mehr. Es gibt ebenso Fälle, in denen sich die Abwanderung einer Bevölkerung archäologisch einwandfrei fassen läßt; dann bleibt aber meist unbekannt, wohin sie sich wandten. Zogen die Einwohner der Altmark, die ihre Heimat um Christi Geburt verließen, an den Rhein oder nach Böhmen? Oder wandte sich ein Teil der an den Rhein Gezogenen dann nach Böhmen weiter? Es gibt weiterhin die Fälle, wo man eine Einwanderung nachweisen kann, wo aber die Herkunft der Einwanderer dunkel bleibt. Waren die Alamannen, die sidi später wieder Sueben — Schwaben—nannten, aus dem Elbegebiet ausgewandert? Die Evakuierung der Altmark erfolgte erst nach dem Auftreten der Alamannen am Limes. Wie steht es mit den Quaden, die in Spanien wieder als Sueben auftreten? Schließlich kann es dann auch noch die Fälle geben, wo Wanderungen erfolgten, der archäologische Befund sie aber nicht erkennen läßt. Oder ist es nur eine Frage des Forschungsstandes, wenn man von den für Südrußland, für den Balkan und für den Norden belegten Herulern nichts hat172? Wo sind die Sachsen, die mit den Langobarden nach Italien zogen und nach kurzem Aufenthalt wieder heimkehrten17®? Wo sind die Spuren der Wikinger in Winland 174 ? Wo sind die Alanen in Spanien? K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 476 ff.; vgl. dazu: S. Lindquist, Heruler og Daner, in: Tor 9 (1963) 123—139. i7s Vgl. p a u l u s Diaconus Hist. II 6 u. III 5; Gregor v. Tours Hist. IV 42. 174 J. Brandsted, Problemet om nordboer i Nordamerika for Columbus, in: Aarbeger f. nordisk Oldkyndighed og Historie 1950, 1—152. 172
Probleme der archäologischen Quellen
327
Das sind Beispiele, in denen man durch historische Nachrichten von Wanderungen weiß. D a sich aber auch Wanderungen nachweisen lassen, von denen historisch nichts bekannt ist, könnte es auch Wanderungen gegeben haben, von denen historisch und archäologisch nichts bekannt ist. Oft liegt es anscheinend daran, daß archäologisch keine objektiven Kriterien für eine historisch nachweisbare Wanderung vorhanden sind. Es hat sich einfach die Wanderung im archäologischen Fundstoff nicht manifestiert. Oft mag die Unmöglichkeit, eine Wanderung nachzuweisen, daran liegen, daß ein und derselbe N a m e gar nicht mehr ein und dieselbe Bevölkerung bzw. deren Nachkommenschaft repräsentiert. Die Gothi, die aus Südrußland heraus der Spätantike bekannt wurden; waren sie im strengen Sinne ausschließlich die Nachfahren der ostmitteleuropäischen Gotones, Gutones oder riiftcoveg? Es ist bekannt, daß die Goten, als sie zum Balkan vorrückten, viele fremde germanische und nichtgermanische Elemente aufgenommen haben. Wenskus hat diese Tatsache außerordentlich eindringlich nachgewiesen 175 . Die Ostgoten, die nach Italien zogen, inkorporierten erneut andere germanische Bevölkerungsteile. Wie soll man angesichts solcher Vorgänge Kulturkontinuitäit erwarten, selbst wenn der sog. „Traditionskern" erhalten geblieben sein sollte. Was ergeben nun alle diese Betrachtungen für das Problem eines Zusammenhanges zwischen Goten in Skandinavien und auf dem Kontinent? Das ist das Problem, auf das es hier ankommt! Wie es keinen einheitlichen T y p der „Völkerwanderung" gibt, so kann es auch keine bestimmte Methode des archäologischen Nachweises von Wanderungen geben. Will man überhaupt eine Aussage von gewisser Verbindlichkeit machen, so muß man, wenn sich das Problem der Wanderung auf der Grundlage der schriftlichen Quellen stellt, aus diesen möglichst viel über die Form, die Zeit und den Ablauf der Wanderung in Erfahrung zu bringen suchen. Was ist nun aber aus diesen verwendbar? Ist die Wanderung vom Norden nach dem Süden gegangen, so muß sie sich im wesentlichen in der Zeit vor Christi Geburt vollzogen haben. Ging sie in umgekehrter Richtung, so könnte sie auch später erfolgt sein — noch im ersten oder im beginnenden zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Ganz gleich wann und in welcher Richtung die Wanderung erfolgte, es müssen Teile der Goten in der alten Heimat verblieben sein, d. h. im Süden in Masowien und Südmasuren, im Norden höchstwahrscheinlich in Väster- und Östergötland. Wieweit Gotland auch in Betracht kommt, muß ganz ungewiß bleiben. Die Auswertung der literarischen Quellen deutet eine Situation an, die nicht viel hoffen läßt. Es wäre ganz falsch zu erwarten, unter allen 175
R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 476 ff.
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Umständen m ü s s e sich die Wanderung nachweisen lassen. Es ist ungewiß, ob sie sich abzeichnet. Es wäre sogar der Fall denkbar, daß sie sich abzeichnet, daß aber dem Wissenschaftler die methodischen Handhaben fehlen, dies zu erkennen oder — falls sich Andeutungen finden — den exakten Nachweis zu führen. Es bleibt daher nur übrig, die Räume und die Zeiten zu prüfen und die Kulturen auf Andeutungen hin zu untersuchen. Insbesondere wäre es nötig, einen Blick auf die Siedlungsgeschichte Skandinaviens zu werfen. Wie waren dort die Lebensbedingungen in den Jahrhunderten um Christi Geburt? War dort die Grundlage für die Auswanderung größerer Bevölkerungsmengen gegeben? In der Wikingerzeit durchstreiften nordische Kriegergruppen fast ganz Europa, besiedelten Island, dann Grönland, schließlich gelangten sie bis nadi Amerika. Sie fuhren die West- und Südküsten Europas entlang und gelangten — die Flüsse aufwärts fahrend — bis tief ins Binnenland hinein. Im Osten gelangten sie bis nadi Rußland und fuhren die großen Ströme hinab ins Sdrwarze Meer. Gibt d a s nicht ein Modell für die Verhältnisse in früheren Zeiten? 4. Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien in den Jahrhunderten um Christi Geburt Eine Grundlage dafür, wie man sidi die allgemeinen Lebensverhältnisse im germanischen Raum vorzustellen hat, könnte eine Untersuchung von dessen Bevölkerungsdichte liefern. Davon ausgehend, sollte man zu weiterreidienden Folgerungen gelangen können, audi zu solchen, die gewisse Aufschlüsse über Bevölkerungsveränderungen — insbesondere auch im nordeuropäischen Raum — und ihren Ablauf sowie die Zahl der Teilnehmenden ergeben. Auf einem derartigen Wege könnte man schließlich auch wieder zu den Goten selbst und ihrem Bezugszusammenhang mit Skandinavien zurückkommen. Fast alle älteren Versuche, eine Vorstellung von der Bevölkerungsdichte im alten Germanien zu erlangen, kranken an der unzulänglichen Quellenlage. Die antiken Angaben über die große Menge der Germanen hat noch E. M. Arndt 1 veranlaßt, eine Bevölkerungsdichte von 800—1000 Menschen für die Quadratmeile — 17—22 für den Quadratkilometer — anzunehmen. Auch F. Dahn hat die antiken Zahlen noch ohne Kritik übernommen2. L. Schmidt versuchte, auf Grund derselben Unterlagen bes1
2
E. M. Arndt, Einige leidite Bemerkungen zu Caesars und Tacitus Berichten über die Feldordnung und den Ackerbau der alten Germanen, in: Zeitschr. f. Geschichtswissenschaft 3 (1845) 244. F. Dahn, Die Land-Not der Germanen, in: Festschrift B. Windscheid (1888) 3 ff.
Probleme der archäologischen Quellen
329
seres Zahlenmaterial zu gewinnen und rechnete mit 300—350 Menschen auf einer Quadratmeile — also etwa 6—8 Menschen für den Quadratkilometer — und nahm eine Bevölkerung von insgesamt 5—6 Millionen zur Zeit Caesars an3. Später kam er für das erste Jahrhundert nach Chr. Geb. auf nur 3—4 Millionen4. Er ging dabei von dem Zensus aus, den Geiserich anläßlich des Überganges nadi Afrika anstellen mußte, um einen Überblick über den benötigten Schiffsraum zu bekommen5. B. Delbrück dachte an etwa 25 000 Personen für einen Stamm und im Durchschnitt an 4—5 Einwohner pro Quadratkilometer in Germanien*. Er meinte, größer könne die Zahl jedenfalls nicht gewesen sein, weil sonst das System der Volksversammlung nidit hätte funktionieren können. G. Kossinna errechnete auf Grund der Delbrück'sdien Dichtequote die Bevölkerung Germaniens auf etwa 2 Millionen7. Alle diese Schätzungen sind summarisch und haben keine empirische Grundlage, denn es war denen, welche die Berechnungen vornahmen — ausgenommen allenfalls Kossinna —, nicht klar, welche Teile des Landes besiedelt, welche unbesiedelt oder unbesiedelbar waren. Die Schätzungen wurden kaum besser, als man versuchte, die vorgesdiichtlidien Funde zur Grundlage von allerhand Berechnungen zu nehmen, denn diese spiegeln bei oberflächlicher Betrachtung eine große Bevölkerungszahl vor8. Die Grundlagen wurden auch nicht besser, als man — wie K. Völkl — vorgeschichtliche Befunde und antikes Zahlenmaterial zu verbinden versuchte0. Audi auf Grund von ethnographischen Parallelen10 oder mittels 3
L. Schmidt, Allgem. Gesch. d. germ. Völker b. z. Mitte d. 6. Jahrhunderts (1909) 48. 4 L. Schmidt, Gesch. d. dt. Stämme b. z. Ausgang d. Völkerwanderung. Die Ostgermanen (21934) 51. 5 L. Schmidt, Gesch. d. Wandalen (1901) 37 f.; dagegen J. Haury, Byzant. Zeitschr. 14 (1905) 527 f.; dazu L. Schmidt, Byzant. Zeitschr. 15 (1906) 620 f. « H. Delbrück, Der urgerm. Gau u. Staat, in: Preuß. Jahrbücher 81 (1895) 471 bis 501, bes. 477 f.; ders., Gesch. d. Kriegskunst i. Rahmen d. politischen Gesch. 2. Die Germanen (31921) 13 ff.; dagegen L. Schmidt, Besprechung v. H. Delbrück, Gesch. d. Kriegskunst i. Rahmen d. politischen Gesch. II, 2 (1902), in: Hist. Vierteljahresschr. 7 (1904) 66—72 bes. 68 f. 71. 7 G. Kossinna, Altgerm. Kulturhöhe (1927) 62 f.; (71939) 63 hat zusätzlich den Satz: „Wahrscheinlich ist es noch, daß wir mit etwa drei bis vier Millionen Germanen zu rechnen haben werden." 8 K. Pastenaci, Die Bevölkerungsdichte im alten Germanien, in: Germanien 1937, 110—113. 8 K. Völkl. Zur Bevölkerungsdichte im alten Germanien, in: Ammann-Festgabe 2 (1954) 178—190. 10 A. Meitzen, Siedlung u. Agrarwesen d. Westgerm. u. Ostgerm., d. Kelten, Römer, Finnen u. Slawen 1 (1895) 138 ff.; J. Hoops, Waldbäume u. Kulturpflanzen i. germ. Altertum (1905) 495 ff.
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
kultur- und siedlungsgeographischer Untersuchungen 11 ist nichts wirklich Brauchbares zu gewinnen. Nun dürfte es allerdings kaum erforderlich sein, absolute Bevölkerungszahlen, die so offensichtlich schwer zu errechnen sind, zu ermitteln. Es genügt durchaus, relative Zahlen zu gewinnen, wenn sie sich nur auf solche Faktoren beziehen, die für die Bevölkerungsentwicklung ausschlaggebende Bedeutung haben. Dazu gehören u. a. die durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen, die Kindersterblichkeit, die Sterblichkeit der Frau in Verbindung mit den Geburten und die durchschnittliche Zahl der Geburten pro Familie. Liegen diese und einige andere Zahlen vor, dann kann man zwar keine absoluten Bevölkerungszahlen errechnen und auch die Bevölkerungsdichte muß so gut wie unbekannt bleiben. Aber es ist abzuschätzen, in welchem Umfange sich eine Bevölkerung pro Generation maximal vermehrt haben könnte. Mit Maximalzahlen muß man, obwohl sie nicht real sind, in der Regel operieren, weil Minimalzahlen stets verdächtig sind, dem angestrebten Ziel zuliebe eingesetzt worden zu sein. Warum wanderten die Germanen aus? War es ein natürlicher Bevölkerungsüberschuß, der neuen Raum brauchte? War es die Verlockung des fruchtbareren und reichen Südens, der zu Bereicherung durch Plünderung lockte? War es die Kargheit des Bodens und die Unzulänglichkeit der Wirtschaftsweise, die einen Wechsel des Ackerlandes nach kürzerer Zeit erforderlich machte? Waren es soziale Umschichtungen und Spannungen, die Teile der Bevölkerung reizten, unter einem tatkräftigen Führer auszuziehen? Zog man stets nur nach dem Süden oder kamen auch andere Wanderungsrichtungen in Betracht? Zog man schon früh nordwärts oder begann diese Expansion erst in der Wikingerzeit, in der literarische Quellen davon berichten? Viele dieser Fragen sind unbeantwortet. Aber sie stehen alle mit den beobachtbaren Bevölkerungsbewegungen im Zusammenhang oder müssen dabei in Betracht gezogen werden. Etliche dieser Fragen sind, wenn es sich darum handelt, einen Überblick über die Bevölkerungsverhältnisse in Germanien, insbesondere in Skandinavien zu gewinnen, von untergeordneter Bedeutung und können außer Betracht bleiben. Manche hätten zwar schon längst gestellt, aber doch kaum beantwortet werden können. Bevölkerungsstatistische Untersuchungen auf Grund objektiver Materialien waren bis vor kurzem kaum möglich. Vereinzelt unternommene ältere Versuche12, die sich auf den 11
O. Schlüter, Stichwort „Dt. Siedlungswesen", in: J. Hoops, Reallexikon 1 (1911—1913) 413. " L. R. Nougier, Essai sur le peuplement préhistorique de la France, in: Population 9 (1954) 241—271.
Probleme der archäologischen Quellen
331
archäologischen Fundstoif stützten, befriedigen nidit. Erst die neuzeitliche Anthropologie liefert bessere Verfahren. Sie hat einen besonderen Forschungszweig, die Paläodemographie, entwickelt18. Durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen — aufgegliedert nach dem Geschlecht —, Zahl der bestatteten männlichen und weiblichen Individuen und Säuglings- und Kindersterblichkeit, das sind die Faktoren, die sich insbesondere bei der Untersuchung von sorgfältig und vollständig ausgegrabenen Gräberfeldern zur Analyse anbieten. Neuerdings haben G. Acsidi und J. Nemeskeri die Probleme der Paläodemographie durdi Analysen der frühmittelalterlich ungarischen Gräberfelder von K^rpuszta14 und Halimba-Cseres 15 dargestellt und Methoden zu entwickeln versucht, die es ermöglichen sollen, die Geschichte vor- und frühgeschichtlicher Bevölkerungen zu beleuchten. Brauchbares steht dabei neben Unbrauchbarem. Fehlschlüsse zeigen sich teilweise deutlich. Der Klarheit wegen ist es nötig, auf einzelnes etwas näher einzugehen. Nemeskeri und seine Mitarbeiter gingen in Kirpuszta und in Halimba-Cseres davon aus, daß die Säuglingssterblichkeit den Angaben des Friedhofs entspreche und gaben für die beiden Friedhöfe 16,20 °/o bzw. 6,65 °/o an1'. Eine Säuglingssterblichkeit von ca. 6 °/o wäre wesentlich niedriger als die gegenwärtige ungarische und ist daher ganz unwahr13
14
15
16
Übersicht über die Geschichte dieses Forschungszweiges bei: Gy. Acsadi u. J. Nemeskeri, Paläodemographische Probleme am Beispiel des frühmittelalterlichen Gräberfeldes von Halimba-Cseres Kom. Veszprim/Ungarn, in: Homo 8 (1957) 134 f. — Ferner zur Methode: W. W. Howells, Estimating Population Numbers through Ardiaeological and Skeletal Remains, in: R. F. Heizer u. S. F. Cook [Hrg.], The Application of Quantitative Methods in Ardiaeology (1960) 158—176; S. Genoves, Sex Determination in Earlier Man; Estimation of Age and Mortality, in: D. Brothwell u. E. Higgs [Hrg.], Science in Ardiaeology (1963) 342—352; 353—364; N. Creel, in: Chr. Neuffer-Müller, Ein Reihengräberfeld i. Sontheim a. d. Brenz (1966) 73—103, teilweise mit Kritik an Nemeskiri; I. Sdiwidetzki, Das Problem des Völkertodes (1954). J. Nemeskeri u. G. Acsadi, Törteneti demografiai vizsgalatok a Kerpusztai XI. sz.-i. temetö anyagaböl, in: Archaeologiai Ert. 79 (1952) 134—147. G. Török, Halimba-Cseres X.—XII. szazadi temetöje, in: Folia Ardi. 6 (1954) 95—105; G. Acsädi u. J. Nemeskeri, Homo 8 (1957) 133—148; G. Török, Die Bewohner v. Halimba-Cseres n. d. Landnahme (1959); ders., Die Bewohner v. Halimba im 10. u. 11. Jahrhundert (1962). Der auffallende Unterschied der Zahlen liegt offenbar darin, daß Nemeskeri erst nach der Analyse des Gräberfeldes von Kerpuszta das Verfahren der Altersbestimmung empirisch verbessert hat und erst für Halimba-Cseres in der Lage war, die Zahl der Säuglinge exakter zu bestimmen. Es fällt nämlich auf, daß in beiden Gräberfeldern die scheinbare Gesamtkindersterblichkeit annähernd gleich groß ist, nämlich 37,02 %> bzw. 35,51 °/o.
332
Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
scheinlich17. Nemeskeri betonte, daß eine so niedrige Säuglingssterblichkeit auf anderen ungarischen Gräberfeldern nicht wiederkehre, doch mit immerhin 10—20 °/o allerdings nirgends höher sei als in späteren Epochen18. Offenbar war es im ungarischen frühen Mittelalter nicht üblich, a l l e verstorbenen Säuglinge auf dem Friedhof zu bestatten (Abb. 40). Das hat Nemeskiry übersehen. Es wäre einfach medizinisch nicht verständlich, wenn man annähme, die Säuglingssterblichkeit sei in HalimbaCseres niedriger, die Kindersterblichkeit dagegen dreißig- bis sechzigfach höher gewesen als heute. Um sich eine einigermaßen richtige Vorstellung von der Säuglingssterblichkeit zu machen, müßte man die belegten Zahlen ganz beträchtlich erhöhen1®, doch darüber später (vgl. unten S. 347 ff.). Bemerkenswert ist in Halimba-Cseres die hohe Sterblichkeit der Frau zwischen dem 15. und dem 49. Lebensjahr (Abb. 40—41). Bei einer um 18 Personen kleineren weiblichen Bevölkerung ist die Zahl der zwischen dem 15. und 49. Lebensjahr verstorbenen Frauen um 57 größer als die der Männer20. Die durchschnittliche Lebenserwartung der fünfzehnjährigen Männer war mit 32,9 Jahren um 6 Jahre höher als die der Frauen (26,9). Die Hälfte der fünfzehnjährigen Männer starb vor dem 53., die Hälfte der fünfzehnjährigen Frauen sdion vor dem 40. Lebensjahr. Der hohe Anteil der jungen Frauen unter den Gestorbenen hängt offenbar mit der Kindbettsterblichkeit zusammen81. Sicherlich ist die Frauensterblichkeit in Verbindung mit dem Kindbett, wie sie sich in Halimba-Cseres darstellt, für frühe Zeit durchaus als normal anzusehen" (vgl. dazu unten S. 349 ff.). Die Sterblichkeitskurve läßt bei der Bevölkerung von HalimbaCseres für die Erwachsenen gewisse kennzeichnende Einzelheiten er17
18 18
20 21 22
Nemeskeri gibt für die Zeitspanne 1920/21 für Ungarn eine Säuglingssterblichkeit von 19,98 °/o an; vgl. J. Nemeskeri u. G. Acsädi, Ardiaeologiai £rt. 79 (1952) 138 Tabelle 3. G. Acsadi u. J. Nemeskeri, Homo 8 (1957) 139. Es muß mit großenteils unterschiedlichen Ursachen der Säuglings- und Kleinkinder- und der Kindersterblichkeit gerechnet werden. Die Sterbeursadien der ersten Gruppe sind — wie schon Nemeskeri betonte — endogen, die der zweiten Gruppe exogen. Endogene Ursachen sind neben natürlicher Lebensschwäche vornehmlich Ernährungsstörungen. Exogene Ursachen sind alle Infektionskrankheiten, wie Diphteritis, Scharlach, Masern, Keuchhusten etc. — sogenannte typische Kinderkrankheiten —, gegen die der Säugling mindestens größtenteils noch immun ist. — Daher läßt sich die Sterberate der Säuglinge aus der der Kleinkinder nicht errechnen. G. Acsddi u. J. Nemeskeri, Homo 8 (1957) 138. 142 Tab. 1 u. 5. G. Acsddi u. J. Nemeskeri, a. a. 0 . 1 4 2 . In Kerpuszta liegen die Verhältnisse in dieser Hinsicht anders, doch betonte Nemeskeri, Homo 8 (1957) 135 die Vervollkommnung der Alters- und Geschlechtsbestimmungen seit der Analyse dieses Gräberfeldes.
Probleme der archäologischen Quellen
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kennen (Abb. 40), die nur teilweise verallgemeinert werden dürfen. Die hohe Sterblichkeit der Frauen zwisdien dem 15. und 19. Lebensjahr — 18 männliche gegenüber 38 weiblichen Toten — weist auf eine ungewöhnlich große Zahl von Frühehen hin und auf eine erschreckend hohe Sterblichkeit junger Frauen auf Grund von Schwangersdiaften, denen der noch nicht voll ausgewachsene weibliche Körper offensichtlich oft noch nicht gewachsen war. Das Absinken der Sterblichkeit der Frau zwischen dem zwanzigsten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr mag zweierlei — ganz verschiedene — Ursachen haben: Einerseits war der weibliche Körper nunmehr ausgewachsen und widerstandsfähig; andererseits wurde durch die ansteigende Männersterblichkeit zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr, wenn man annimmt, daß ein Altersunterschied zwischen Frauen und Männern normal war und etwa fünf Jahre betrug, eine wachsende Zahl von Ehen gestört. Trotz der hohen Anzahl von Ehen, die durch frühen Tod der Männer gestört wurden, stieg die Frauensterblichkeit bis zum 40. Lebensjahr wieder stark an. Man könnte an Wiederverheiratung vieler Witwen denken. Im übrigen mußte die fortgesetzte Schwächung des weiblichen Körpers durch die regelmäßig wiederkehrenden Schwangerschaften ihre Folgen haben. Die Frauensterblichkeit war groß und muß noch ständig gewachsen sein, bis das Klimakterium einsetzte. Ein deutliches Absinken der Sterblichkeit ist schon zwischen dem 40. und 44. Lebensjahr erkennbar. Nach den Unterlagen von Halimba-Cseres zu urteilen, muß also die Unfruchtbarkeit der Frau teilweise schon sehr früh im fünften Lebensjahrzehnt eingetreten sein. (Es sei denn, daß es Möglichkeiten der Reglementierung der Konzeption gab, die praktiziert wurden, sobald eine gewisse Kinderzahl erreicht war. Aber das dürfte doch wohl eine nur theoretisch erwägbare Möglichkeit sein!) Erst nach dem Klimakterium erreichte die Frauensterblichkeit ein relatives Minimum. Sie stieg dann innerhalb einer Zeitspanne nur leicht an, in der die Männersterblichkeit ein auffallendes Maximum erreichte. Es muß eine Relation zwischen dem Tod der Frau im Kindbett und ihrer natürlichen — d. h. durch ihre Konstitution bedingte — Lebenserwartung vorhanden gewesen sein. Schließlich lief die Kurve der Frauensterblichkeit langsamer als die der Männersterblichkeit aus. Trotz aller Strapazen im Leben der Frau — Schwangerschaften, Geburten und Aufzucht der Kinder, Arbeit im Hause und auf dem Felde — war die e i n z i g e Person in Halimba-Cseres, die ein Alter von mehr als 80 Jahren erreichte, eine Frau. Aufschlußreich sind auch einige Einzelheiten der Männersterblichkeit. Der Kurve der Kindersterblichkeit folgend, sank diese bis zum 25. Le-
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
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Sterbeordnung der Bevölkerung des altungarischen Gräberfeldes Halimba-Cseres. Die Kurve stellt die jährlichen Todesfälle, vom 14. Lebensjahr an aufgeschlüsselt nach den Geschlechtern dar (nach G. Acsadi u. J. Nemeskiri) — Forschungsstand 1957; vgl. Abb. 41.
bensjahr kontinuierlich ab, stieg dann aber bis zum 30. Lebensjahr beträchtlich an. Das kann kaum biologisch bedingt sein, spiegelt vielmehr die Risiken des Krieges wieder, denen offenbar vornehmlich die jüngeren Männer ausgesetzt waren. Man wird jedoch kaum annehmen dürfen, daß es möglich war, j e d e n in der Ferne Gefallenen auf dem heimischen
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335
% der gesamten Bevölkerung
80 Jahre
Abb. 41.
Uberlebensordnung der Bevölkerung des altungarisdien Gräberfeldes von Halimba-Cseres. Die Kurve stellt die Oberlebenden in Prozentzahlen der Gesamtbevölkerung dar (nach G. Acsddi u. J. Nemeskeri mit Ergänzungen) — Forsdiungsstand 1957; vgl. Abb. 40.
Friedhof zu bestatten. Die Männersterblidikeit zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr dürfte also größer gewesen sein, als es die Sterbetabelle erkennen läßt. Das zwingt indes dazu, einen noch g r ö ß e r e n Männerüberschuß anzunehmen, als ihn der Friedhof von Halimba-Cseres zeigt. Ihren eigentlichen und durch natürliche Sterblichkeit hervorgerufenen
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Gipfel erreichte die Männersterblidikeit allerdings erst um das sechzigste Lebensjahr herum. Man kann sich Vorstellungen davon machen, welches die Krankheiten waren, an denen die Männer vornehmlich gestorben sind. Wenn bekannt wäre, wie groß der normale Altersabstand der Ehepartner in Halimba-Cseres war, wäre es ziemlich genau zu ermessen, welchen Einfluß die Sterblichkeit beider Geschlechter auf die Geburtenrate hatte. Alle Zahlen, die sich aus solchen Kurven errechnen lassen, sind fiktiv. Sie zeigen aber doch sehr deutlich die geringe mögliche Zuwachsrate der Bevölkerung, mit der man in primitiven Gemeinschaften normalerweise rechnen muß. Dieser Feststellung scheinen allerdings die Ergebnisse der Untersuchungen von Nemesk&ri und seinen Mitarbeitern zu widersprechen, die mit einer Bevölkerung des Dorfes von 84 Personen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts und 240 Personen im frühen 12. Jahrhundert rechneten. Es sollte also ein ganz beträchtlicher Bevölkerungszuwachs — knapp eine Verdreifachung in weniger als drei Jahrhunderten — eingetreten sein. Der Fehler dieser Rechnung ist leidit siditbar zu machen. G. Török, der Ausgräber des Friedhofs, rechnete in der endgültigen Publikation des Gräberfeldes mit Beginn der Belegung im zehnten Jahrhundert, nannte aber keine genaue Zahl23 und nahm eine Auflassung im zwölften Jahrhundert unter Einfluß des Christentums an84. Er betonte sogar ausdrücklich: „Der ungewisse Anfangs- und Abschlußzeitpunkt [des Gräberfeldes] sind als Grundlage einer statistischen Berechnung ungeeignet"85. Das ist offensichtlich gegen Nemesk&ri gerichtet. Schwierigkeiten liegen vor allen Dingen darin, daß Acsidi und Nemesk^ri nicht nur festere Anfangs- und Enddaten für den Beginn des Friedhofs und dessen Ende — 900 und nach 1100 n. Chr. Geb. — ansetzten, sondern auch eine chronologische Gliederung des Gräberfeldes aufgeteilt auf fünf Gruppen benutzten2', die wohl einem älteren Bearbeitungs- und Auffassungsstand des Ausgräbers entspricht. Török hat sie jedenfalls in seiner endgültigen Veröffentlichung nicht mehr vertreten und eine einfache Gliederung in drei archäologische Gruppen vorgeschlagen, diese dann allerdings nach unbekannten Prinzipien in eine Fünfgliederung umgeändert27. Es ist keineswegs eindeutig möglich, 25 24
25 28 27
G. Török, Die Bewohner v. Halimba im 10. u. 11. Jahrhundert (1962) 26. 33. G. Török, a. a. O. 99 ff., bes. 108 ff. — Das ist eine völlig hypothetische Annahme, insbesondere was das g e n a u e Datum des Wirkungsbeginns der kirchlichen Einflüsse anbelangt. G. Török, a. a. O. 123. G. Acsddi u. J. Nemeskiri, Homo 8 (1957) 137 f. Abb. 1. G. Török, Die Bewohner v. Halimba i. 10. u. 11. Jahrhundert (1962) 7 ff., bes. 17. 20 (mit Liste der Gräber, die T. zur Phase I redinet), 35 f. (mit Liste
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Probleme der archäologischen Quellen
Nemeskiris fünf Gruppen mit Töröks Gruppengliederungen zu synchronisieren 28 . Es ist ebenso unmöglich, in Halimba eine genau festgelegte Anzahl von Generationen anzunehmen2®; ja, es ist nidit einmal möglich, eine Relation zwischen der — vermuteten — Zahl der Generationen und den zeitlichen Gruppen festzulegen 30 . Ein Bevölkerungszuwachs, wie ihn sich Nemesk£ri dachte, ist nicht beweisbar, weil man die Größe der ursprünglichen Bevölkerung nidit ermitteln kann. An der Stelle von 84 Personen könnte man audi eine größere Zahl bei der Gründung des Dorfs — oder des Friedhofs — annehmen; dann ergäbe sich eine entsprechend geringere Endzahl' 1 . Die Zeitstufen, in die man ein bestimmtes der Gräber der Phase II), 60 (mit Liste der Gräber der Phase III). — Daneben benutzt T. a. a. O. 123 eine ausgeglichenere Fünfteilung des Friedhofs, die nun Phasen von je 50 Jahren umfaßt. 28 Es ergibt sich folgendes Nebeneinander von Gruppen: 1. Nemesk£ri: 2. Török, a. a. O. 17: 3. Török, a. a. 0 . 1 2 3 : C I. 80 J H. 202 l UI. 252 IV. 328 > V. 70 > mb. 70 < V. 70 < Man erkennt daran den Unsicherheitsfaktor, der weniger durch willkürliche oder voreingenommene Beurteilung, sondern durch die Schwierigkeit, beigabenarmes Material in der für demographische Untersuchungen erforderlichen Exaktheit auszuwerten, hervorgerufen wird. Natürlich gibt es neben obigen audi noch andere Gliederungsmöglidikeiten. 2
' G. Acsadi u. J . Nemeskiri, Homo 8 (1957) 145 nahmen sieben Generationen für die 220 Jahre an, die der Friedhof bestanden haben soll. Die übergroße Mortalität der Frauen zwischen 15 und 50 läßt theoretisch zwar eine durchschnittliche Generationslänge von etwas mehr als 30 Jahren annehmen. Dennoch erfolgten wahrscheinlich zwischen dem 15. und dem 30. Lebensjahr die meisten Geburten, denn von 291 erwachsenen Frauen erreichten nur 93 das fünfzigste, 123 das fünfundvierzigste, 147 das vierzigste, 182 das fünfunddreißigste und 213 das dreißigste Lebensjahr. Eine kürzere Generationslänge als 30 Jahre wäre in Erwägung zu ziehen.
30
G. Acsadi u. J . Nemeskeri, a. a. O. 142 f. stellten eine Formel zur Errechnung der Kopfzahl der Siedlung auf: P =
K+
.
Darin bedeutet t die
Zeitdauer der Bestattungen auf dem Friedhof, also die Belegungsdauer. Nemeskeri nahm sie mit 220 Jahren an; sie könnte wesentlich länger sein! In der Formel bedeutet e0 die voraussichtliche mittlere Lebensdauer bei der Geburt. Da die Gesamtzahl der gestorbenen Säuglinge nicht bekannt ist, ist der Koeffizient nicht zu berechnen. Die Zahl der Gestorbenen D ist aus dem gleichen Grund nicht genau bekannt. Der Koeffizient K ist ein permanenter Faktor, der Vio von 31
22
beträgt; auch er ist also nicht zu bestimmen.
G. Acsadi u. J . Nemeskeri, a. a. O. 143. Hadimann, Goten und Skandinavien
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archäologisches Material einteilt, sind nur selten durch absolute Daten in ihrer wirklichen Länge so zu fixieren, daß sie mit einer Generationenrechnung in einen sicheren Zusammenhang gebracht werden können. Das gilt natürlich in besonderem Maße für das beigabenarme und auch aus anderen Gründen schwer datierbare Gräberfeld Halimba. Paläodemographisdie Aussagen von einer gewissen Verbindlichkeit sind offenbar überhaupt nur dann möglich, wenn man von einer Maximal-Minimal-Rechnung ausgeht, und wenn man alle denkbaren biologischen und soziologischen Faktoren in die Rechnung einbezieht. Das ganze Verfahren sollte von vornherein nicht auf die Ermittlung von scheinbar exakten Daten gerichtet sein, sondern mehr den Spielraum der Möglichkeiten zu erfassen suchen. Vor der Auswertung des Einzelfalles ist es erforderlich, die im allgemeinen für alle Räume und für die meisten Zeiten gültigen Grundlagen der Paläodemographie zu erfassen und den Spielraum des allgemein Möglichen zu erkennen. Im Sinne dieser Forderung sind eine Reihe von Überlegungen von Bedeutung, die von G. Kurth stammen32. Er betonte, daß man überhaupt nur in Ausnahmefällen signifikante Bevölkerungsquerschnitte erfassen könne". Die altungarischen Friedhöfe gehören nicht in jeder Hinsicht zu diesen Ausnahmen, und Kurth betonte gerade ausdrücklich, daß „die Kinder nicht immer und überall sämtlich im Rahmen der Familien- und Gruppenbestattungsplätze beigesetzt wurden"®4. Er fragte weiter, ob generell damit gerechnet werden dürfe, „daß alle ein zeugungsfähiges Alter erreichenden Jugendlichen und Erwachsenen . . . als potentielle Eltern" angesehen werden dürften 35 . Aus naturbedingten Gründen blieben nach neuzeitlichen Erhebungen 10 °/o aller verheirateten Paare kinderlos. Es sei bekannt, daß auch schon in primitiven Gemeinschaften Geburtenregelungen verschiedenster Art praktiziert wurden (Kindertötung, Kinderaussetzung etc.) und daß Meidungstabus — wie man wisse — den physiologisch gegebenen Zwischenraum zwischen den Schwangerschaften verlängerten. Das und anderes mehr ergebe Hinweise darauf, daß man „mit erheblichen Einschränkungen der rein rechnerisch möglichen Zuwachsrate aus der theoretischen Geburtenkapazität aller gebärfähigen Frauen zu rechnen" habe36. Man dürfe im allgemeinen schließen, daß die 38
33 34 35 39
G. Kurth, Der Wanderungsbegriff in der Prähistorie, in: Alt-Thüringen 6 (1962/63) 1—21. G. Kurth, a. a. O. 3. G. Kurth, a. a. O. 4. G. Kurth, a. a. O. 5. G. Kurth, a. a. O. 6.
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339
Erwachsenen etwa vom 20. Lebensjahre an ihrer Gruppe im Durchschnitt kaum mehr als 15 Jahre als Eltern und Arbeitskräfte zur Verfügung ständen 37 . In Halimba-Cseres liegt die Zahl der potentiellen Mutterschaften für eine fünfzehnjährige Frau bei 25, wenn man den Eintritt des Klimakteriums bei 40 Jahren ansetzt. Zieht man indes in Betracht, daß von den insgesamt 291 Frauen 142 vor Erreichung des 40. Lebensjahres starben, so ergeben sich für die Fünfzehnjährige etwa 11,8 mögliche Mutterschaften 58 . Das ist natürlich eine Maximalzahl, die möglicherweise wesentlich reduziert werden müßte. Man muß ja nicht nur in Rechnung stellen, daß 142 Ehen durch vorzeitigen Tod der Frau unterbrochen wurden. Vielmehr beendete auch der Tod des Mannes oft die Ehe. Es starben 102 Männer zwischen dem 20. und dem 45. Lebensjahr, was einen Anhalt dafür gibt, wie viele Ehen auch durch den Tod des Mannes zerstört wurden! Eine bestimmte Zahl von Ehen war von Natur aus unfruchtbar. Nicht jede Frau schloß schon mit fünfzehn Jahren die Ehe. Die Wahrscheinlichkeit der erworbenen Unfruchtbarkeit wuchs mit der Zahl der Entbindungen. Die Zahl von einer Mutterschaft pro Jahr ist praktisch zu hoch gegriffen, denn die Rekonvaleszenz nach einer Entbindung dauert oft wesentlich mehr als ein Vierteljahr. Abwesenheit des Mannes auf Kriegszügen, Handels- oder Einkaufsreisen und aus vielerlei anderen Gründen ist nicht berücksichtigt. Die tatsächliche Durchschnittszahl der Entbindungen läßt sich nicht errechnen, allenfalls schätzen. Die mögliche Bevölkerungsvermehrung läßt sich deswegen nicht berechnen, da offenbar nicht alle Kinder — insbesondere die Säuglinge und Kleinstkinder — auf dem Friedhof bestattet wurden, und die durchschnittliche Kindersterblichkeit nicht errechnet werden kann. Die Zahl von 11,8 Mutterschaften ist jedenfalls eine ganz hypothetische Zahl und liegt viel zu hoch. Auch Kinderaussetzung, Kindertötung (vgl. dazu unten S. 354, 385 ff.), rituelle Tötung von Erwachsenen lassen sich vorweg nicht berechnen, sondern allenfalls als möglich in Rechnung stellen. Es kann aber als sicher gelten — auch dann, wenn man positiv wirkende Faktoren, wie Abwanderung von Erwachsenen, einkalkuliert —, daß der Friedhof von Halimba-Cseres eine in großem Umfange wachsende Bevölkerungsgruppe nicht repräsentiert. Ein geringer Zuwachs ist gewiß nicht auszuschließen382.
»7 G. Kurth, a. a. O. 9. »8 G. Acsddi u. J. Nemeskiri, Homo 8 (1957) 138 aus Tabelle 1 zu errechnen. S8a Es ist bemerkenswert, daß Nemeskiris und Töröks Rechnungen ganz andere Zahlen für die Bevölkerungsentwicklung ergeben, wenn man die Zahl der Toten pro 10 Jahre zur Grundlage nimmt und aus einem Wachsen der Zahl 22*
340
Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Eine willkommene Ergänzung der vorläufig gewonnenen Aufschlüsse bieten die neuerdings von J . Szilägyi vorgelegten Materialien zur Sterblichkeit in den westlichen Teilen des Römischen Reiches". Sie haben den Vorteil, aus einem Quellenmaterial ganz anderer Art zu stammen, aus Grabsteinen mit Sterbedaten (Abb. 42). Es ist bei Verwendung dieses Materials nur zu berücksichtigen, daß es im Römischen Reich durchweg nicht üblich war, für Säuglinge und Kleinstkinder Grabsteine zu errichten40. Eine Durchsicht des Materials zeigt wieder allgemein eine geringere Lebenserwartung der Frau, die offenbar mit der Beanspruchung durch Schwangerschaften zusammenhängt41. In Rom war in dieser Hinsicht die Situation im Grunde keineswegs günstiger als in HalimbaCseres. Im 15. Lebensjahr war die Erlebensrate dort für beide Geschlechter noch gleich. Während die Lebenserwartung für das weibliche Geschlecht v o r dem 14. Lebensjahr günstiger war als für das männliche, sank sie n a c h dem 15. Lebensjahr ständig ab (Abb. 41). Erst nach dem 50. Lebensjahr laufen die Kurven für beide Geschlechter annähernd parallel und beginnen sich dann — bedingt durch höhere Sterblichkeit des Mannes — wieder zu nähern. Eine überschlägige Berechnung der durchschnittlichen Geburtenzahl einer Frau und der Überlebenschancen der Kinder gibt kaum ein anderes Bild als die altungarischen Gräberfelder. der Toten auf eine wachsende Bevölkerungsgröße schließt (zu den Stufenbezeidinungen vgl. oben S. 337 Anm. 28) : 1. E. Nemeskéri: 2. Török, a. a. O. 17: 3. Török, a. a. O. 123: I. n. ID. IV.
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J. SziUgyi, Beiträge z. Statistik d. Sterblichkeit i. d. westeuropäischen Provinzen d. Römischen Imperiums, in: Acta Arch. Acad. Scient. Hung. 13 (1961) 125—155; ders., Die Sterblichkeit i. d. Städten Mittel- u. Süd-Italiens sowie in Hispanien i. d. röm. Kaiserzeit, in: Acta Ardi. Acad. Scient. Hung. 15 (1963) 129—224; ders., Die Sterblichkeit i. d. nordafrikan. Provinzen I — III, in: Acta Ardi. Acad. Scient. Hung. 17 (1965) 309—344; 18 (1966) 2 3 5 — 277; 19 (1967) 25—59. — Vgl. dazu das von W. W. Howells, in: R. F. Heizer u. S. F. Cook [Hrg.], The Application of Quantitative Methods in Ardiaeology (1960) 170 f. für Griechenland mitgeteilte Material. « J. Szilägyi, Acta Ardi. Acad. Scient. Hung. 13 (1961) 154; vgl. R.Êtienne, A propos de la démographie de Bordeaux aux trois premiers siècles de notre ère, in: Revue hist. de Bordeaux et du département de la Gironde 4 (1955) 189—200. 39
« J. Szilägyi, Acta Ardi. Acad. Scient. Hung. 13 (1961) 155; 15 (1963) 194.
Probleme der archäologischen Quellen
Abb. 42.
341
Überlebensordnung der Bevölkerung Roms zwischen dem 1. und 6. Jahrhundert (nach J . Sziligyi) — Forschungsstand 1963; vgl. Abb. 41 u. 4 4 — 4 6 .
Das aus Rom verfügbare paläodemographische Material liefert übrigens audi noch einige ergänzende Ergebnisse, die außerhalb des Römischen Reichs in so früher Zeit kaum zu erlangen sind, jedoch auch dort mit in Rechnung gestellt werden müssen. In Rom betrug nach den Berechnungen von J . Szilägyi die durchschnittliche Lebenserwartung für Sklaven 17,5 Jahre, für Freigelassene 25,2 Jahre, für Händler und Hand-
342
Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
werker 31,2 Jahre, für Soldaten 32,9 Jahre, für Magistratsbeamte 35,8 Jahre und für intellektuelle Berufe 36,9 Jahre 42 . Es ist deutlich sichtbar, wie stark die Lebenserwartung vom sozialen Status, von den allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen und von der Art des Berufs abhängig war. Wohn- und Ernährungsverhältnisse dürften dabei — neben Schwere der körperlichen Arbeit — die Hauptrolle gespielt haben. Man wird aus solchen Verhältnissen in Rom durchaus schließen dürfen, daß auch unter barbarischen Bevölkerungen des Nordens die durchschnittliche Lebenserwartung nach dem sozialen Status gestaffelt war. Im Raum nördlich des Römischen Reichs mögen die lebensverlängernden Einflüsse eines höheren Ranges wohl etwas geringer gewesen sein. Man wird sie aber auch dann als Faktor nicht vollkommen außer Betracht lassen dürfen, wenn man berücksichtigt, daß anders als in Rom im Norden die sozial gehobenen Schichten zugleich Träger a l l e r kriegerischen Auseinandersetzungen waren, nicht nur der „öffentlichen", sondern auch die der privaten Sphäre — Familienfeindschaft, Sippenfehde und Blutrache mit allen ihren verheerenden Folgen (vgl. unten S. 429 ff.) —, wodurch sich eine Dezimierung gerade der führenden Geschlechter ergeben haben muß. Wichtiger als der Gesellschaftsstand dürfte bei barbarischen Bevölkerungen die Wirtschaftsökologie für die Lebenserwartung gewesen sein. Ungunst der Umwelt, soweit sie das Wirtschaftsleben beeinflußte, muß stets die durchschnittlichen Erlebenschancen beeinträchtigt haben: Unregelmäßigkeiten in den Ernteerträgen, ausgesprochene Mißernten, geringerer Ertrag des Bodens, unzureichende Milch- und Fleischleistungen des Viehs. Man ist deswegen durchaus berechtigt, aus klimatischen Verhältnissen, aus der Wirtschaftsform und der Nahrungsbasis und aus den Wohnverhältnissen allgemeine Schlüsse auf die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung zu ziehen. Die Folgerung, die durchschnittliche Lebenserwartung sei weiter nördlich — insbesondere in Skandinavien — eher geringer gewesen als im Mittelmeerraum, da die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse ungünstiger als im Süden waren, ist u n a u s w e i c h l i c h . Ein aufschlußreiches Beispiel für die Wirksamkeit von Ungunst der allgemeinen Lebensumstände liefern die Untersuchungen über Wirtschaftsform und Nahrungsbasis in Jütland in den Jahrhunderten vor Chr. Geb43. Verarmung des Ackerlandes ist nachweisbar (Abb. 43). Vieh42 43
J. Szilagyi, a. a. O. 15 (1963) 181. P. v. Glob, Jyllands ade agre, in: Kuml 1951, 136—144; K. Thorvildsen, Moseliget fra Tollund, in: Aarbßger 1950, 302—310; H. Helbask, TollundMandens sidste Maaltid, in: Aarboger, 1950, 311—341; bes. Tab. S. 326.
Probleme der archäologischen Quellen
343
5 0 KM
Abb. 43.
Äcker in Dänemark, die in der Zeit um Christi Geburt verlassen wurden (nach J. Brandsted) — Forschungsstand 1960 für Jütland, 1940 für die dänischen Inseln.
krankheiten müssen angenommen werden. Die vegetabilen Nahrungsmittel waren in großem Umfange mit Samen von Ackerunkräutern vermischt, was sich nur durch Absinken der ursprünglich wesentlich günstigeren Ernteergebnisse erklären läßt. Der Nachweis ungünstiger Lebensverhältnisse ist hier durch unterschiedliche Quellenarten möglich, so daß die Sdilüsse auf Hunger, Not und Tod ganz sicher sind.
344
Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Ganz besonders drastisch zeigen sich die Einwirkungen ungünstiger Umwelt in den normannischen Siedlungen auf Grönland 44 . „Wir lernen [dort] eine Bevölkerung kennen, von Krankheit und N o t heimgesucht, mit allen Gebrechen behaftet, von denen eine Menschenrasse nur je durch dauernde Unterernährung betroffen werden kann. . . . Wenn man statistisch aus dem begrenzten Untersuchungsmaterial folgern darf, ist das durchschnittliche Lebensalter auffallend niedrig gewesen; von der großen Kindersterblichkeit abgesehen, ist die Hälfte aller Individuen, die über 18 Jahre alt wurden, noch vor dem 30. Lebensjahr gestorben. Der niedrige Wuchs, besonders unter den Frauen bemerkenswert, ist auch ein Ausschlag schlechter Ernährung; die Größe der Frauen liegt bei 140 cm; die der Männer bei 155—160" 45 . In Grönland handelt es sich zwar um Verhältnisse, die nicht verallgemeinert werden dürfen, die aber dennoch besonders lehrreich sind und zeigen, wie stark die Lebensbedingungen und die durchschnittliche Lebenserwartung von der Gunst oder der Ungunst der Umwelt abhängig sind. Zur Zeit der Besiedlung des Landes von Island aus, müssen die Lebensbedingungen auf Grönland so günstig gewesen sein, daß eine Auswanderung in größerem Umfange nach dorthin lohnte. Später verschlechterten sich die klimatischen Bedingungen dann so sehr, daß die grönländische Bevölkerung auf Verbindungen nadi Island und Norwegen angewiesen war, die zwar schon vorher bestanden hatten, doch nun unentbehrlich wurden. Als das vertraglich garantierte Schiff ausblieb, wurde die Situation kritisch und schließlich erlagen erst die nördlichen, dann auch die südlicheren Siedlungen den Angriffen der Eskimos. Die Kämpfe gegen die vom Norden vorrückenden Eskimos beschleunigten jedoch nur eine Entwicklung, die den Grönländern aus anderen Gründen schon vorbestimmt war. Kennzeichnend ist, daß die grönländischen Normannen offenbar keinerlei Anstalten machten, ihrem Schicksal durch Abwanderung zu entrinnen, als dazu noch die Möglichkeit bestanden hätte. Gewiß war ihnen das Geschehen im einzelnen gar nicht bewußt; sie konnten das ihnen bevorstehende Schicksal nicht einmal ahnen. Deutlicher als andere Beispiele zeigen die Vorgänge auf Grönland, wie stark primitive Gemeinschaften von ihrer Umwelt abhängen. 44
45
P. Norlund, Buried Norsemen at Herjulfsnes (1924); P. Nßrlund u. A. Roussell, Norse Ruins at Gardar, the episcopal seat of mediaeval Greenland (1929); P. Norlund u. M. Stenberger, Brattahlid (1934); A. Roussell, Sandnes and the Neighbouring Farms (1936); zusammenfassend: P. Norlund, Wikingersiedlungen in Grönland. Ihre Entstehung und ihr Schicksal (1937); Fr. C. C. Hansen, Anthropologica medico-historica Groenlandiae antiquae I. Herjolfnes, in: Meddedelser om Grönland 47 (1924) 293—547 bes. 466 ff. — Vgl. dazu die Schilderung einer Hungersnot im Jahre 1596 in Källand in Västergötland bei: M. Stenberger, Det forntida Sverige (1964) 321. P. Nerlund, Wikingersiedlungen in Grönland (1937) 122.
Probleme der archäologischen Quellen
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Ein lebendiges Bild vom Ausmaß der Kinder-, insbesondere der Säuglingssterblichkeit, die ja weder in Halimba-Cseres nodi in Rom in ihrem ganzen Umfange beobachtet werden konnte, einen Eindruck von der geringen durchschnittlichen Lebenserwartung und eine Vorstellung von der übergroßen Sterblichkeit der Frauen im gebärfähigen Alter gibt eine Analyse des mittelalterlichen Gräberfeldes von Västerhus in Jämtland (Schweden) (Abb. 44)4'. Von den 371 in Västerhus Bestatteten47 starben 120 innerhalb des ersten Lebensjahres; das sind 32,3 °/o. Vor der Vollendung des 14. Lebensjahres starben weitere 97 Kinder, d. h. 26,1 °/o der Gesamtbevölkerung. Die Gesamtkindersterblichkeit betrug in Västerhus demnach 58,4 %>, wenn man die bis 20 Jahre alten Toten mitredinet, sogar 62,5 % 48 . Alle diese Prozentzahlen müssen wahrscheinlich geringfügig reduziert werden, weil möglicherweise eine geringere Anzahl von Gräbern Erwachsener im nordöstlichen, östlichen und südöstlichen Friedhofsteil vor der Ausgrabung zerstört wurden und verloren gingen4'. Die Kindersterblichkeit bleibt trotzdem eindrucksvoll hoch50. N.-G. Gejvall hat für Västerhus dem Problem der durchschnittlichen Lebenserwartung sehr eingehende Betrachtungen gewidmet und mögliche Fehlerquellen erörtert, die bei der Auswertung hätten ins Gewicht fallen können51. Insbesondere zog er in Betracht, daß die Pest, die im Mittelalter eine große Rolle spielte, gerade die Personen niedrigeren Lebensalters getroffen haben könnte; greifbare Anhaltspunkte dafür vermochte er jedoch nicht zu erkennen58. 48
N.-G. Gejvall, Westerhus. Medieval Population and Churdi in the Light of Skeletal Remains (1960) 35 ff. Tab. 1. 47 Zu den 364 Individuen, mit denen Gejvall redinete, kommen 7 Foetusse hinzu, die sowohl bei der Gesamtzahl der Individuen als audi bei den vor Vollendung des ersten Lebensjahres Verstorbenen berücksichtigt werden müssen. Vgl. N.-G. Gejvall, a. a. O. 35. 48 N.-G. Gejvall, a. a. O. 36 f. behandelte die Probleme der Altersbestimmung. " N.-G. Gejvall, a. a. O. 29. 50 N.-G. Gejvall, a. a. O. 38 redinete damit, daß ca. 50 Gräber mit Kindern (Infans I und II) möglicherweise nach dem Auflassen des Friedhofs angelegt wurden. Aus dem Material selbst ergibt sich diese Annahme nicht. Gejvall verweist zwar darauf, daß sich dieser Schluß „auf Grund von Grabungsbeobachtungen" ergäbe und verweist auf sein Kapitel 1, wo sidi jedoch keinerlei genauere Anhaltspunkte finden lassen. 51 N.-G. Gejvall, a. a. O. 37 ff. 52 N.-G. Gejvall, a. a. O. 40. Tatsächlich haben seuchenartige Infektionskrankheiten seit dem Altertum s t e t s eine Rolle gespielt. Sie können, da sie wohl jeweils jahrelang grassierten, doch schließlich vorübergingen, auf Friedhöfen, die jahrhundertelang belegt wurden, keine wesentliche Verzerrung des Bildes der durchschnittlichen Lebenserwartung ergeben. Viel wesentlicher ist die Wirkung der ständig vorkommenden Infektionskrankheiten.
346
Abb. 44.
Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Überlebensordnung der Bevölkerung des mittelalterlichen Friedhofs Västerhus (Jämtland) (umgezeichnet nach N.-G. Gejvall) — Forschungsstand 1960; vgl. Abb. 41—42 u. 45—46.
Da die Erwachsenen in Västerhus nach Geschlechtern getrennt bestattet wurden — die Frauen nördlich, die Männer südlich der zugehörigen Kapelle —, da die Kinder ohne Rücksicht auf das Geschlecht — Knaben auch im Norden, Mädchen im Süden — begraben wurden und da
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vom 14. Lebensjahr an bei der Wahl des Bestattungsplatzes Rücksicht auf das Geschlecht genommen wurde, folgerte Gejvall riditig, daß damals der Mensch von diesem Lebensalter an als erwachsen galt. Wenn er daraus indes auch schloß, ein Mädchen habe deswegen bis zum 18. Lebensjahr schon wenigstens 2 bis 3 Kinder zur Welt gebracht haben können 55 , so widerspricht dem die Sterblichkeitskurve, die in Västerhus für das weibliche Geschlecht für dieses Lebensalter keinen Anstieg aufweist; im Gegenteil, in dieser Zeit hat die Zahl der männlichen Toten ein schwer erklärbares Maximum. Erwachsensein im kirchlichen Sinne und durchschnittliches Heiratsalter der Frau scheinen jedenfalls in Västerhus nicht identisch gewesen zu sein. Höheres Heiratsalter muß einerseits die Frau vor frühem Tod im Kindbett geschützt haben, mußte aber auch eine geringere durchschnittliche Kinderzahl zur Folge haben. Bevölkerungsstrukturen, die denen von Västerhus ähnlich sind, lassen sich noch mehrfach nachweisen. Das Bild der slavisdien Bevölkerung — insgesamt 60 Personen —, die auf dem Gräberfeld Espenfeld, Kr. Arnstadt (Thüringen), bestattete, ist ganz ähnlich54. Die Zahl der toten Säuglinge ist mit 1 3 , 3 % allerdings auffallend klein und läßt sidi am ehesten verstehen, wenn man zahlreiche „Bestattungen" von Säuglingen außerhalb des Friedhofs annimmt. Die Anzahl der übrigen bis zum 14. Lebensjahr Verstorbenen beträgt 38,3 %>. Dieser Prozentsatz ist in Espenfeld also noch um 12,2 % höher als in Västerhus. Der Hundertsatz juveniler Toter beträgt in Espenfeld 3,3 % , ist also nur geringfügig geringer als in Västerhus (4,1 %), was mit dem Fehler der kleinen Zahl zusammenhängen dürfte. Damit ergeben sich 56,9°/« Tote, die das 20. Lebensjahr nicht erreichten; eine Zahl, die sicher ein Minimum darstellt und um einen nicht sicher bestimmbaren Prozentsatz toter Säuglinge erhöht werden muß 55 . Einen gewissen Anhalt ergeben auch die slavischen Gräber von Stari Mesto, wo J. Pavelcik 61,8 °/o Tote feststellte, die das Erwachsenenalter nidit erreichten5*. 53
N.-G. Gejvall, a. a. O. 41. H. Badi u. W. Timpel, Slawisches Gräberfeld b. Espenfeld, Kr. Arnstadt, in: Ausgrabungen u. Funde 5 (1960) 244—246. 55 Bei leicht unterschiedlichen Methoden der Altersbestimmung versdiiedener Autoren sind Verschiebungen zwischen den Gruppen der Säuglinge und Kleinstkinder unvermeidlich. 5 ' Y. Paveliik, Kosterni material z vykopu ve Starem Meste r. 1948, in Zpravy Anthrop. Spoleünosti 2 (1949) 24 ff. — Der Friedhof der GlockengräberKultur von Warschau-Henryk6w ergab in 117 Gräbern 199 Bestattungen, davon 113 Kinder (31 Kleinstkinder u. 82 Kinder b. z. 14. Lebensjahr), 20 Frauen, 21 Männer u. 45 unbestimmbare Leichenbrände. Vgl. B. Zawadzka, Cmentarzysko groböw kloszowych w Warszawie-Henrykowie, in: Materiaiy Star. 10 (1964) 229—321 bes. 298 f. 54
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Daß Västerhus in der Tat die normale Säuglingssterblichkeit widerspiegelt, zeigt die mit 34,1 °/o außerordentlich hohe Säuglingssterblichkeit in der frühneolithischen Siedlung Khirokitia auf Zypern". Hier wollte G. Kurth „der Vermutung Ausdruck geben", daß der Anteil der bis zum 20. Lebensjahr Gestorbenen höher lag, als es die Funde erkennen lassen, da manches unansehnliche Kindergrab trotz der Sorgsamkeit der Ausgräber unbeachtet geblieben sein könnte 58 . Die Auswertung der 230 Bestattungen mittelhelladisdier Zeit aus Lerna (Griechenland) geben erwartungsgemäß dasselbe Bild. Die Säuglingssterblichkeit betrug hier 34,9 % . Weitere 20,8 °/o der Menschen starben vor Erreichung des 15. Lebensjahres. Das ergibt eine Gesamtkindersterblichkeit von 55,7 °/o5'. Übrigens wurden in Khirokitia von 178 Individuen nur 3 älter als 45 Jahre 60 . In Lerna waren es von 230 immerhin dreizehn Personen, von denen allerdings nur eine älter als 60 Jahre wurde' 1 . Sowohl in Halimba-Cseres, als auch in Västerhus waren die Lebensbedingungen in dieser Hinsicht günstiger, was sicher hauptsächlich mit der Entwicklung der Wirtschaftsweise zusammenhängt. Bei paläodemographisdien Untersuchungen liegt, solange die Zahl wirklich signifikanter Bevölkerungsquerschnitte, die verfügbar sind, klein ist, immer der Verdacht nahe, die hohe Säuglingssterblichkeit, die geringe durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen, die Sterblichkeit der Frau im Kindbett werde überbetont. Die romantische Vorstellung vom Zauber der frühen Zeiten, wo noch alles besser war als in der Gegenwart, gaukelt aber ein falsches Bild von den Lebensbedingungen in der Frühzeit vor. Es war keine Zeit, in der die Völker jung, gesund und besonders lebenskräftig waren. Krankheit und Tod waren in jeder Gemeinschaft — auch der kleinsten — täglicher Gast. Sie waren so selbstverständlich allgegenwärtig, daß es die Menschen kaum berührt haben kann, wenn sie kamen. Alles war in der Form, wie es geschah, selbst57
58
59
60 41
G. Kurth, Alt-Thüringen 6 (1962/63) 9 Tab. 2; ders., Zur Stellung d. neolithischen Mensdienreste v. Khirokitia auf Cypern, in: Homo 9 (1958) 20—31. G. Kurth, Alt-Thüringen 6 (1962/63) 9. — Er gibt für seine Vermutung keine Gründe an und betont gerade, daß die außerordentlich sorgfältige Ausgrabung audi die Erfassung der jüngsten Altersgruppen garantiere. A. a. O. 13 rechnet er allerdings dann dodi mit der allgemeinen Tendenz, Kindergräber zu übersehen. — Jeder Archäologe, der einmal im Orient gegraben hat, muß ihm zustimmen, wie leicht selbst bei sorgfältiger Beobachtung Kinder-, besonders Säuglingsgräber übersehen werden können! W.W. Howells, in: R.F.Heizer u. S.F.Cook [Hrg.], The Application of Quantitative Methods in Ardiaeology (1960) 171. G. Kurth, Alt-Thüringen 6 (1962/63) 9. W.W.Howells, in: R.F.Heizer u. S.F.Cook [Hrg.], The Application of Quantitative Methods in Ardiaeology (1960) 171.
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verständlich, und allenfalls eine trügerische „Erinnerung" gaukelte vor, es sei ehedem anders — schöner, besser — gewesen als in der Gegenwart. Man kann aber die Basis paläodemographischer Untersuchungen beliebig ausweiten und wird so selten objektiv günstigere Lebensverhältnisse antreffen, daß man das hier gewonnene Bild mit guten Gründen verallgemeinern darf. Trotzdem sei auf einige ergänzende Materialien hingewiesen, die letzte Zweifel ausräumen: Die Auswertung des Skelettmaterials aus der indianischen Siedlung Indian Knoll ergab, daß 57 % der Bevölkerung vor Erreichung des 20. Lebensjahres starb62. Nur v i e r von den insgesamt 1132 untersuchten Personen wurden älter als 55 Jahre, und ein übergroßer Teil der Erwachsenen starb zwischen 21 und 35 Jahren (37,5 °/o)! Es handelt sich hier um eine Feldbau treibende Bevölkerung, deren Wirtschaftsweise einen Vergleich erlaubt. Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Sterblichkeit unter nordamerikanischen Indianern kaum geringer. Für die Zeitspanne zwischen 1885 und 1930 berichtete S. Aberle für die Pueblos von San Juan und Santa Clara von einer Sterblichkeit von 23,1 %> für das erste und von 40,2 °/o für die ersten fünf Lebensjahre und stellte für die Frau im Durchschnitt 7,66 Schwangerschaften fest63. Statistische Auswertungen von Erhebungen aus neuzeitlichen Populationen sehen natürlich ganz anders aus, geben aber doch bestätigende Aufschlüsse und liefern ergänzende Hinweise. Die Zahl von durchschnittlich 7,66 Schwangerschaften bei Pueblo-Indianerinnen erscheint für neuzeitliche Verhältnisse natürlich hoch, angesichts der naturgegebenen biologischen Möglichkeiten aber dodi recht gering. Bei wachsender Zahl von Schwangerschaften muß man aber nicht nur mit einer ansteigenden Todesrate der Mütter, sondern auch mit steigender, erworbener Unfruchtbarkeit rechnen. Es ist kaum möglich, die wachsende Unfruchtbarkeitsrate an neuzeitlichen Populationen, empirisch zu ermitteln. Die Statistik der Totgeburten moderner Populationen dürfte in dieser Frage aber etwas weiterhelfen. Offenbar ist sie ein Spiegel des pathologischen Zustandes der weiblichen Organe, mit dem auch die Sterblichkeit der Frau im Kindbett teilweise zusammenhängt. In Deutschland betrug die Zahl der Totgeburten in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch etwa 4 °/o64. Daß 62
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C. E. Snow, Indian Knoll Skeletons of Site Ch. 2, in: University of KentuckyReports. Archaeology and Anthropology 4 (1948) 371—545; W. W. Howells, a. a. O. 169 f. Tab. 2. S. B. D. Aberle, Child Mortality among Pueblo Indians, in: American Journal of Phys. Anthr. 16 (1932) 342. 344 f. Tab. 1—2.
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P. Flaskämper, Bevölkerungsstatistik (1962) 279.
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soziale und wirtschaftliche Umwelteinflüsse diese Zahl beeinflussen können, zeigt der Unterschied zwischen der Totgeburtenquote der ehelich und der unehelich Geborenen in Deutschland im Jahre 1955, bei der erstgenannten Gruppe 1,94 % , bei der zweiten 2,91 %>. Auf zahlreiche Komplikationen in Verbindung mit Geburten bei jungen Müttern und auf stark anwachsende Risiken bei älteren Müttern in der Vorzeit weisen noch die Zahlen aus den Jahren 1952/54 in Deutschland: 1,92 % Totgeburten entfielen auf junge Mütter (18 Jahre und jünger), 1,55 % auf Frauen im Alter von 21 bis 22 Jahren und 5,33 °/o auf alte Mütter (43 Jahre und mehr)'5. Außer vom Alter der Mutter ist auch heute noch die Totgeburtenrate von der Zahl der Kinder abhängig. Bei Erstgeborenen liegt die Quote 1955 bei 2,01 %, bei den zweiten Kindern nur bei 1,44%, hingegen bei sieben und mehr Kindern bei 3,7 °/o! Noch im Jahre 1875 betrug in Deutschland die Säuglingssterblichkeit übrigens 24,3 % der Lebendgeborenen'6. In Württemberg war der Durchschnitt der Jahre 1861 bis 1870 sogar 36,0%. Danach wird es gewiß berechtigt sein, für frühe Zeiten belegte, weit höhere Zahlen zu generalisieren und in niedrigeren Zahlen Fehler zu sehen. Daß in der Tat noch im 18. und 19. Jahrhundert Säuglings- und Kindersterblichkeit den in Västerhus nachweisbaren Verhältnissen nahe kommen, zeigt u. a. auch die Untersuchung der Bevölkerungsentwicklung in den drei mecklenburgischen Dörfern Göhlen, Kr. Ludwigslust, Lohmen, Kr. Güstrow, und Grüssow, Kr. Waren67. In Göhlen betrug die Sterblichkeit der Kinder (0 bis 14 Jahre) 54 °/o (1750—1775), 50 % (1775—1800), 4 7 % (1800—1825), 5 4 % (1825—1850) und 5 8 % (1850—1875) für das weibliche Geschlecht. Die Vergleichszahlen sind 49 %, 52 %, 55 %, 60 % und 38 % für das männliche Geschlecht. In Lohmen sind die Zahlen ähnlich, teilweise aber noch ungünstiger, und zwar für das weibliche Geschlecht 68% (1775—1800), 4 8 % (1800—1825), 4 7 % (1825—1850) und 4 4 % (1850—1875). Die entsprechenden Zahlen für das männliche Geschlecht sind: 78 °/o, 55 °/o, 37 °/o und 32 %>. Das Bild ist in Grüssow nicht günstiger. Für das weibliche Geschlecht lauten die Zahlen: 55 % (1775—1800), 37 % (1800—1825), 55 °/o (1825—1850) und 62 ®/o (1850 bis 1875). Für das männliche Geschlecht sagen die Zahlen entsprechendes: 62%, 63%, 6 0 % und 57%" a . Bezeichnend ist, daß auch hier überall die Sterblichkeit der Kinder vom sozialen Status der Eltern abhängig ist. 65
P. Flaskämper, a. a. O. 280. " P. Flaskämper, a. a. O. 331 Tab. 58. 67
I. Kothe, Das mecklenburgische Landvolk in seiner bevölkerungsbiologisdien Entwicklung (1941). « 7a I. Kothe, a. a. O. 68 ff. Tab. 25 u. 26.
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Für die Jahre 1775—1800 starben in Göhlen 3 2 % der Kinder von Bauern zwischen 0 und 14 Jahren, 45 % der Kinder von Büdnern (Kätnern), 3 4 % von Häuslern (meist Handwerker). In Lohmen sind die entsprechenden Zahlen für denselben Zeitabschnitt 33 %, 32 % und 51 0/o,7b. Besonders auffallend ist die Sterblichkeit von unehelich geborenen Kindern in Grüssow im Verlaufe des ersten Lebensjahrs: 45 % (1775 bis 1800), 3 5 % (1800—1825), 2 3 % (1825—1850) und 1 2 % (1850 bis 1875). Bemerkenswert sind die Zahlen aus den drei medklenburgisdien Dörfern über vorzeitig beendete Ehen, d. h. solche, bei denen ein Ehepartner starb, solange der andere nodi im Zeugungs- oder gebärfähigen Alter war. Rund ein Drittel aller Ehen wurden durch den Tod eines der Partner vorzeitig beendet, und zwar meist durch den Tod der Frau' 8 . Bemerkenswert ist das Alter der Frauen bei der letzten Geburt. Nur in ganz wenigen Fällen liegt es geringfügig über dem 40. Lebensjahr*82. Der Abstand der Geburten schwankte zwischen 1,9 und 2,8 Jahren bei Bauern, zwischen 3,0 und 3,9 Jahren bei Büdnern (Kätnern) und 2,2 und 3,1 Jahren bei Handwerkern". In den drei mecklenburgischen Dörfern starben als junge Frau 16,5 % der gesamten zwischen 1775 und 1800 nach den Kirchenbüchern nadiweisbaren Bevölkerung. In derselben Altersgruppe starben hingegen nur 10,5 % der Männer" a . Da es sich hier um Vergleidie innerhalb einer Altersklasse handelt, sind diese Zahlen objektiv und können deswegen noch für das 18. Jahrhundert als repräsentativ genommen werden. Zweifelsohne waren die Verhältnisse in den Jahrhunderten vorher nicht günstiger. Die Frauensterblidikeit im Kindbett hat bis in die Neuzeit hinein also stets eine ähnliche Rolle gespielt wie im Altertum70. N. Creel betonte deswegen: „Die Annahme erscheint vernünftig, daß die Mortalität in früheren noch primitiveren Verhältnissen noch höher war" 71 . Noch die Sterbetabellen für die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts zeigen eine beträchtlich höhere Sterblich67
1>I. Kothe, a. a. O. 67 Tab 24. «8 I. Kothe, a. a. O. 60 ff. Tab. 21. 883 1. Kothe, a. a. O. 62 f. Tab. 22. «» I. Kothe, a. a. O. 62 Tab. 22. W, I . Kothe, a . a . O . 68 ff. Tab. 25 u. 26; Prozentzahlen nach Berechnung von N . Creel, in: Chr. Neuffer-Müller, Ein Reihengräberfeld v. Sontheim a. d. Brenz (1966) 81 Tab. 70 Das Kindbettfieber des frühen 19. Jahrhunderts in den Wöchnerinnenheimen wurde durdi örtliche Übertragung durch die Hand des Arztes oder der Hebamme ausgelöst und stellt keine Normalsituation dar, dodi muß man mit gleichartigen Übertragungen redinen, seitdem es berufsmäßige Hebammen gibt. 71 N . Creel, a. a. O. 81.
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keit der Frau zwischen dem 20. und dem 40.Lebensjahr, hervorgerufen durch Tod im Kindbett 72 . Wie in der Neuzeit, im Mittelalter und im Altertum müssen verheerende Seuchen auch in der Vorzeit eine Rolle gespielt haben 723 . In prähistorischen oder frühgeschichtlichen Gräberfeldern sind Epedemien jedoch aus Gründen der Methodik schwer zu zeigen. Ein überzeugendes Beispiel ist jedenfalls kaum nachzuweisen. Vom Tode von Kindern in Verbindung mit dem der Mutter geben auch prähistorische Populationen gelegentlich auf überraschende Weise Kenntnis. Die ersten Leichenbranduntersuchungen, die C. Krumbein, der Entdecker dieses Verfahrens, vornahm 73 , mögen im Hinblick auf Geschlechts- und Altersbestimmung der Erwachsenen noch nicht absolut verläßlich gewesen sein. Eine Unterscheidung von Erwachsenen und Kindern an Hand des Leichenbrandes war damals jedoch schon unschwer möglich. Krumbein stellte unter den Leichenbränden, die er untersuchte — sie gehören allesamt zur vorrömischen Harpstedter Gruppe 74 —, Befunde fest, die bis heute kaum richtig gewürdigt worden sind. In den 38 Leidienbränden des Friedhofs von Leese, Kr. Nienburg, fand er viermal Doppelbestattungen, zweimal solche von Mutter und Kleinkind, einmal einen alten Mann mit Kind, einmal zwei Kinder und ein Kleinkind 75 . Wahrscheinlich ist das Material von Loccum, Kr. Nienburg, das Krumbein anschließend untersuchte, besser verwertbar, obwohl die Zahl der untersuchten Gräber klein ist76. Hier fanden sich dreimal Frauen und Kleinkinder gemeinschaftlich bestattet; nur einmal lag eine Frau — eine ältere — allein im Grab. Am besten läßt sich zweifellos das Material vom Gräberfeld Sölten, Kr. Recklinghausen, auswerten 77 . Hier ließen sich 72
P. Flaskämper, Bevölkerungsstatistik (1962) 390 Abb. 31. Vgl. hierzu I. Schwidetzky, Das Problem d. Völkertodes (1954) 94 ff. C. Krumbein, Anthropologische Untersuchungen an urgeschiditlichen Leichenbränden, in: Forschungen u. Fortschritte 10 (1934) 411 f.; vgl. die außerordentlich kritischen Bemerkungen zu Krumbeins Untersuchungsmethoden bei: J. Huizinga, In dubiis abstine, in: Berichten v. d. Rijksdienst v. h. oudheidkundig Bodemonderzoek in Nederland 3 (1952) 35—41. K. Tackenberg, Die Kultur d. frühen Eisenzeit in Mittel- u. Westhannover (1934); R. Stampfuß, Germanisdie Brandgräber d. Latenezeit am Niederrhein, in: Mannus 30 (1938) 385—404; ders., Das Hügelgräberfeld v. Rheinberg, Kr. Mörs (1939); ders., Siedlungsfunde d. jüngeren Bronze- u. älteren Eisenzeit im westlichen Ruhrgebiet (1959); H. T. Waterbolk, Hauptzüge d. eisenzeitl. Besiedlung d. nördl. Niederlande, in: Offa 19 (1962) 9—46 bes. 28 ff. C. Krumbein, Forschungen u. Fortschritte 10 (1934) 411. C. Krumbein, Die anthropologische Bestimmung d. Leichenbrände d. Urnenfeldes v. Loccum, in: Die Kunde 3 (1935) 188—191. C. Krumbein, Anthropologische Untersuchungen d. Leichenbrände d. Gräberfeldes v. Sölten (Kr. Recklinghausen), in: Westfalen 20 (1935) 240—246.
723 78
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75 74
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Probleme der ardiäologisdien Quellen
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105 Brände eines nur wenig größeren Friedhofs untersuchen; davon waren 21 Doppelbestattungen. Insgesamt umfaßte der Friedhof also 126 Personen, davon 22 Säuglinge, 44 Kleinkinder und 9 Jugendliche, also insgesamt 75 nicht erwachsene Personen; das sind 59,5 °/o der in Sölten bestatteten Bevölkerung 78 . Unter den Doppelbestattungen — auf diese kommt es hier an — fanden sidi sechzehn mit einer Frau und einem Kleinkind und zweimal solche von Mann und Kind7®. Drei Bestattungen enthielten je zwei Kinder 80 . Unter den Bestattungen von Frau und Kind fanden sich fünfmal Säuglinge, sonst n u r Kleinkinder. Bei den Kinderdoppelbestattungen waren es einmal ein Kind und ein Säugling, einmal ein Kind und ein Kleinkind, einmal ein Kleinkind und ein Säugling. In den beiden Doppelbestattungen mit Männern (?) fanden sich Kleinkinder. Bei den Doppelbestattungen von Frau und Kind besteht ein besonderer, statistisch auch sichtbarer Zusammenhang. Offenbar waren es gelegentlich die im Kindbett Gestorbenen; viel häufiger jedoch war der Anlaß ein anderer. Man könnte an gemeinsamen Tod von Mutter und Kind gelegentlich einer Seuche denken. Gewiß wäre dieser Fall genauso häufig audi für Vater und Kind eingetreten; dennoch ist die Zahl der Bestattungen mit Mann und Kind selten. Der Bezug zwischen Mutter und Kind in Doppelbestattungen m u ß also ein anderer gewesen sein. Tod der Mutter muß wohl zur Tötung des Kleinkindes geführt haben. Kinder scheinen bis zu einem bestimmten Lebensalter beim Tod der Mutter nicht eigentlich als lebensfähig gegolten zu haben. Daß das Alter des Kindes eine Rolle spielte, läßt sich klar erkennen: Kaum jemals wurden Heranwachsende (Inf. II) gemeinsam mit einer Frau bestattet. Mit Recht betonte daher schon Krumbein, daß nur selten gleichzeitiger natürlicher Tod zweier oder mehrerer Individuen eine gemeinsame Verbrennung und Bestattung erforderte. In dem gesamten von ihm untersuchten Material fand sidi nämlich niemals eine Doppelbestattung von 2 Erwachsenen81. Wie konsequent eine bestimmte Sitte in Sölten praktiziert wurde, zeigt die Tatsache, daß hier 34 °/o der Frauengräber Doppelbestattungen waren. Von zwölf der auf diesem Friedhof bestatteten j ü n g e r e n Frauen hatten elf ein Kind bei sich, also 91 °/o. Von den 14 toten Frauen, die ein h ö h e r e s Alter erreicht hatten (Maturus), waren nur fünf gemeinsam mit einem Kind bestattet, also 35 %>. Daraus folgt, daß eine junge Frau in Sölten, wenn sie starb, in der Regel ein Kind hatte, das ihr in den Tod 78 79
80 81
23
C. Krumbein, a. a. O. 245 Tab. 5. C. Krumbein, a. a. O. 245 Tab. 6 u. 7. — U. Thieme, in: R. Stampfuß, Das Hügelgräberfeld v. Rheinberg (1939) 27 wies nur ein einziges Grab nadi, in dem eine Frau (?) mit einem Säugling bestattet war. C. Krumbein, a. a. O. 245 Tab. 8. C. Krumbein, a. a. O. 246. H a d i m a n n , Goten und Skandinavien
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folgte, daß ältere Frauen — obwohl noch gebärfähig — aber viel seltener kleine Kinder hatten. Im Gegensatz zu vielen anderen niditdiristlichen Populationen Alteuropas überwiegen wie in Loccum so auch in Sölten weibliche die männlichen Bestattungen. 13,4 °/o aller Bestattungen enthielten Männer, 22,2 °/o Frauen; auf die Gesamtzahl der Erwachsenen bezogen waren zu 54,9 % Frauen und zu 33,3 °/o Männer bestattet, der Rest dem Geschlecht nach unbestimmbar82. Das scheint für die Kulturgruppe, zu der diese Friedhöfe gehören, bezeichnend zu sein (vgl. unten S. 361 ff.). Von Natur aus gibt es in allen menschlichen Populationen stets mehr männliche als weibliche Neugeborene. Die Sterblichkeit des männlichen Geschlechts ist aber von vornherein höher, so daß in der Regel das Gleichgewicht mit etwa 15 Jahren hergestellt ist. Danach pflegte im Altertum die hohe Sterblichkeit der Frau im Kindbett einzusetzen, die erst das Klimakterium beendete. Besonders hohe Sterblichkeit des Mannes trat erst im Verlaufe des sechsten Lebensjahrzehnts ein. In Sölten entspricht die Zahl der auf dem Friedhof bestatteten Männer der natürlichen Entwicklung der Männersterblichkeit nicht. Junge Männer fehlen auf dem Friedhof v ö l l i g83. Viele Männer der Söltener Population müssen fern der Siedlung — vermutlich auf Kriegszügen — zu Tode gekommen sein, und es war nicht üblidti, die in der Fremde Gestorbenen nach Hause zu überführen. Sonst läßt sich häufig auf prähistorischen Friedhöfen Europas beobachten, daß die weiblichen Erwachsenen in der Minderzahl sind. In Halimba-Cseres stehen 309 männliche Tote 291 Frauen gegenüber84. Wie auf manches andere, so ist Nemeskéri auch auf die Ursachen des Männerüberschusses nicht weiter eingegangen. Die Erklärung liegt aber nahe: Es ist keineswegs selbstverständlich, daß in jeder primitiven Gemeinschaft j e d e s Neugeborene zur Aufzucht bestimmt und stets eine gleiche Individuenzahl beider Geschlechter aufgezogen wurde. Kindesaussetzung und -tötung sind aus dem Altertum belegt; sie sind auch für die germanische Frühzeit bekannt8*. N. Creel hat darauf hingewiesen, daß der Überschuß an Männern auf fast allen vorchristlichen Friedhöfen nachweisbar sei und sich einfach 82
83 84 85
C. Krumbein, a. a. O. 244 Tab. 2. — Vgl. auch U. Thieme, in: R. Stampfuß, Das Hügelgräberfeld v. Rheinberg (1939) 25—27, wo 43 °/o der Bestattungen des Friedhofs als Frauen ausgewiesen sind; je 1 5 % waren Männer und Kinder. — Man könnte bei diesen frühen Leidienbranduntersuchungen mit Fehlern der Methode rechnen. C. Krumbein, a . a . O . 244 Tab. 3. G. Acsädi u. J. Nemeskéri, Homo 8 (1957) 138 Tab. 1. Vgl. unten S. 385 ff.
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nicht allein durch frühen Tod vieler Mädchen im Kindesalter erklären lasse. Für die Kindheit und Jugend sei ja gerade höhere Sterblichkeit des männlichen Geschlechts bezeichnend, und diese müsse bewirken, daß unter den toten Säuglingen und Kindern von Natur aus mehr Jungen als Mädchen sind. Die geringe Zahl der weiblichen Toten könne, wo sie nachweisbar sei, deswegen keine biologischen, sie müsse kulturelle Ursachen haben, und Creel meinte, bei der in Alteuropa üblichen Kindesaussetzung sei — durch die patriarchalische Struktur bedingt — das weibliche Geschlecht stets besonders betroffen worden. Er betonte, es erscheine „logisch, anzunehmen, daß die ,unwillkommenen' Kinder in zahlreichen Fällen die weiblichen waren"86. Diese Erklärung läßt sich bestätigen (vgl. unten S. 386 f.). Aus allen diesen Betrachtungen kann man eine Reihe von Folgerungen ziehen, die für a l l e primitiven Gemeinschaften, also auch für die G e r m a n e n , Gültigkeit haben müssen. Eine Säuglingssterblichkeit von 33 °/o der Neugeborenen wird man für das Altertum durchaus als normal betrachten dürfen. Ebenso ist eine Säuglings- und Kindersterblichkeit von mehr als 60 °/o aller Geburten für die menschliche Frühzeit ganz normal. Eine Sterblichkeit der Frau im Kindbett und an den Folgen schwerer Geburten, die bis zu 40 % höher sein konnte als die normale Sterblichkeit des Mannes im gleichen Lebensalter, wird man als nicht ungewöhnlich annehmen dürfen. Für die durchschnittliche Lebenserwartung der juvenilen und adulten Bevölkerung geben prähistorische Materialien genügend verläßliche Unterlagen. Es ist bekannt, in welchem Umfange sie in der Neuzeit gestiegen ist87. Mangels statistischer Unterlagen aus dem Mittelalter ist es schwer feststellbar, wann sich die für die Frühzeit normale Lebenserwartung grundlegend änderte. Die Population von Västerhus zeigt, daß die Veränderungen erst relativ spät eintraten; wahrscheinlich doch erst im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, mit durchschlagender Wirkung dann erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Wie im antiken Rom müssen sozialer Status und wirtschaftliche Lage die Sterblichkeit und die durchschnittliche Lebenserwartung beeinflußt haben. Personen höheren Ranges hatten von Natur aus eine höhere Lebenserwartung. Bei Unfreien und Sklaven muß sie allgemein niedriger gewesen sein. Noch die Cholerasterblichkeit in Hamburg im Jahre 1892 läßt eine Differenzierung nach der sozialen Stellung deutlich erkennen88. 86
87 88
23»
N . Creel, in: Chr. Neuffer-Müller, Ein Reihengräberfeld i. Sontheim a. d. Brenz (1966) 82. P. Flaskämper, Bevölkerungsstatistik (1962) 389 Abb. 29. P. Flaskämper, a. a. O. 315.
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Beeinflußt durch Gunst bzw. Ungunst des Klimas und die damit zusammenhängenden Lebensverhältnisse kann die durchschnittliche Lebenserwartung im klimatisch günstigen Süden nur höher gewesen sein als weiter nördlich. Alle diese statistischen Untersuchungen geben eine recht gute Grundlage für ein allgemeines Urteil über Bevölkerungsentwicklungen in der Frühzeit. Das vorliegende Material hat eine beruhigende räumliche Breite und zeitliche Streuung. Man könnte mit seiner Hilfe durchaus versuchen, die Verhältnisse im germanischen Raum, insbesondere in Skandinavien, zu beleuchten. Jedenfalls gehen die durch demographische Analysen gewonnenen Vorstellungen nicht weit an der Wirklichkeit vorbei. Es bleiben allerdings etliche unbekannte oder zumindest unsichere Faktoren, so die durchschnittliche Kinderzahl. Die Befunde in HalimbaCseres geben als extreme Maximalzahlen etwa 11,8 mögliche Mutterschaften, sofern in jedem Jahr in jeder Ehe ein Kind geboren wurde (vgl. oben S. 339). In Västerhus ist eine so hohe Geburtenzahl selbst durch eine extreme Maximalrechnung nicht zu erreichen. In den drei von I. Kothe untersuchten mecklenburgischen Dörfern lagen die Maxima der durchschnittlichen Kinderzahlen bei 8,3 Kindern für Göhlen und bei 9,4 Kindern für Lohmen. Beide Zahlen gelten nur für Ehen mit einem Heiratsalter der Frau unter dem 20. Lebensjahr. Den Maxima stehen Minima bis zu 3,5 hinab gegenüber. Schon ein Heiratsalter der Frau zwischen 20 und 25 Jahren gibt 6,1 Kinder als Maximum gegenüber 3,5 Kindern als Minimum. Bei einem Heiratsalter zwischen 25 und 30 Jahren liegt das Maximum bei 4,6 und das Minimum bei 3,2 Kindern. Bei einem Heiratsalter zwischen 30 und 35 Jahren sind die entsprechenden Zahlen 5,6 und 2 Kinder. Ist das Alter der Mutter bei der Eheschließung zwischen 35 und 40 Jahren, sind die Zahlen 4,0 und 0,5 Kinder. Ist die Mutter bei der Heirat älter als 40 Jahre, so sind maximal 0,6 und minimal 0,08 Geburten nachweisbar8*. Das starke Schwanken der Geburtenzahl nach dem sozialen Stand in ein und demselben Dorf schon im 18. Jahrhundert zeigt, daß mancherlei Verhütungspraktiken üblich waren90, so daß die von I. Kothe errechneten Zahlen nicht unbesehen auf die Vorzeit übertragen werden dürfen. Daß allerdings auch unter neuzeitlichen ethnographischen Populationen nicht selten Geburtenregelungen üblich sind, ist bekannt. Es darf also nicht unterstellt werden, daß in der Frühzeit alles seinen normalen, natürlichen Verlauf nahm. 8
' I. Kothe, Das mecklenburgische Landvolk in seiner bevölkerungsbiologischen
Entwicklung (1941) 59 Tab. 20. »» I. Kothe, a. a. O. 61 Tab. 22.
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Für Indianerfrauen hat S. B. D. Aberle angegeben, daß die durchschnittliche Zahl der Geburten pro Familie selten höher als zehn ist. Das bedeutet, daß die optimale Geburtenzahl bei weitem nicht „ausgenutzt" wurde. Eine Geburt pro Jahr dürfte praktisch biologisch gar nicht realisierbar sein. Im übrigen wurde gewiß schon in der Vorzeit das biologisch Mögliche keineswegs normalerweise angestrebt. Je nadi der ethischen Wertung des Kindes und der Kinderzahl dürften sich die Populationen der Vorzeit in dieser Hinsicht verschieden verhalten haben. Das Gesamtbild, das sich auf Grund von anthropologischen Daten für die Lebensverhältnisse in der Vorzeit entwerfen läßt, ist alles andere als günstig. Es ist düster und könnte auf den Betrachter, für den die neuzeitlichen Verhältnisse selbstverständlich sind und als ganz „normal" erscheinen, deprimierend wirken. Für prähistorische Bevölkerungen — auch für die Germanen — sah das alles sicher subjektiv ganz anders aus. Es war in der Form, wie das Geschehen ablief, so überaus selbstverständlich und daher auch durchaus „normal". Die oben angestellten statistischen Untersuchungen sind Paradigmata. Es wäre möglich, noch mehr Material vorzulegen"; für den Leser wäre das kaum zumutbar. Es sollte zunächst genügen, eine Anzahl von für die Frühzeit allgemein verbindlichen Tatbeständen festzustellen: Es hat sich u. a. für Populationen früher Zeiten zeigen lassen, daß die Säuglings- und Kindersterblichkeit außerordentlich hoch war, daß die durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen ungewöhnlich gering war, daß die Sterblichkeit der Frau im Kindbett erschreckend hoch gewesen sein muß, daß das Klimakterium der Frau verhältnismäßig früh eingetreten sein muß, daß durch geringe Lebenserwartung der Erwachsenen, hohe Sterblichkeit der Frau im Kindbett und frühes Eintreten des Klimakteriums die Geburtenzahl pro Ehe nicht sehr hoch gewesen sein kann, selbst wenn die Zahl der Konzeptionen verhältnismäßig groß gewesen sein sollte. Die Kinderzahl läßt sich allerdings nur in den seltensten Fällen direkt aus dem Fundgut ermitteln, denn es ist offenbar nicht immer die Regel gewesen, alle Kinder mit den Erwachsenen auf demselben Friedhof zu bestatten. Das wurde offenbar erst mit der Einführung des Christentums bzw. nadi dem vollkommenen Durchsetzen christlicher Auffassungen innerhalb der vorher schon nominell christlichen Bevölkerung üblich. 61
G. Kurth, Alt-Thüringen 6 (1962/63) 12 f. hat mit einer Serie von Populationen vom griechischen Neolithikum bis in die ausgehende Türkenzeit des 18. Jahrhunderts nachgewiesen, „wie gering der [nach der Kinder- und Jugendlidiensterblichkeit] verbleibende Anteil Fortpflanzungsfähiger generell bei einigermaßen signifikant besetzten Serien tatsächlich ist, . . D i e Zahl der Todesfälle nadi dem 15. Lebensjahr variiert zwisdien 31,3 °/o für das griechische Neolithikum und 40,8 °/o bzw. 40,4 %> für die klassische und hellenistische Epoche.
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
G. Kurth folgerte aus allen paläodemographisdien Rechnungen, daß der mögliche Bevölkerungsüberschuß in frühen Zeiten nur als relativ gering eingeschätzt werden dürfte und auf keinen Fall ausgereicht haben könnte, „ständig weiträumige Populationsverschiebungen zu speisen"". Der Beginn der Seßhaftigkeit müsse zwar als positiver Faktor in die Berechnungen einbezogen werden, doch müsse berücksichtigt werden, „daß mit Zunehmen der Bevölkerungsdichte die großen Seuchen als zusätzlicher, wesentlicher Reduzierungsfaktor einzugreifen beginnen, der mit zunehmender Bevölkerungsdichte als Hemmungsfaktor an Gewicht gewinnt"". Er kam weiter zum Ergebnis: „Die historisch faßbaren Populationsverschiebungen haben trotz ihrer enormen historisch gesicherten Dynamik biologisch nicht viel geändert.... Die allgemein sehr niedrige durchschnittliche Lebenserwartung unserer Vor- und Frühzeitpopulationen läßt für sie bis zur Neuzeit nur eine sehr geringe Wachstumsdynamik voraussetzen. Ihre biologische Abgabefähigkeit m u ß daher als relativ unbedeutend angesehen werden" 94 . Kurth betonte, daß geschichtlich großräumige Bewegungen zumeist nur von zahlenmäßig sehr begrenzten Gruppen getragen wurden, deren biologischer Dauereffekt sehr gering, deren kulturelle Dynamik dagegen ungewöhnlich groß war 95 . Damit ist eine recht gute Grundlage auch für ein Urteil über die Bevölkerungsverhältnisse im g e r m a n i s c h e n Raum, insbesondere in Skandinavien gegeben. Als solche ist sie auch nicht entbehrlich, denn für die Jahrhunderte um Christi Geburt ist, bedingt durch das Vorherrschen der Sitte der Leichenverbrennung im Bereich des Germanentums, die Aussagefähigkeit des anthropologischen Materials nicht so günstig wie in Zeiten und Räumen, in denen Leichenbestattung vorherrschte. Die Untersuchungsmöglichkeiten, die Leichenbrände bieten, werden unterschiedlich beurteilt, teils sehr skeptisch9', teils optimistischer97. Zu den methodischen G.Kurth, a . a . O . 13. G. Kurth, a. a. O. 13. 84 G. Kurth, a. a. O. 18 f. »5 G. Kurth, a. a. O. 19. M J. Huizinga, In dubiis abstine, in: Berichten v. d. Rijksdienst v. h. oudheidkundig Bodemonderzoek in Nederland 3 (1952) 35—41. — Die Polemik Huizingas richtet sich vornehmlich gegen die Arbeiten von C. Krumbein. Ihr liegt offenbar nidit die volle Kenntnis der modernsten Methoden zugrunde. — Vgl. auch J. A. ValSik, M. Cerny u. M. F. Pospiäil, Antropologidkd analysa obsahu zarov^di hrobu z Vradiäti [Anthropologische Analyse des Inhalts der Brandgräber aus V r d d M ] , in: Slov. Ardi. 8 (1960) 168—172. 97 N.-G. Gejvall, Bestämning av brända ben fran forntida gravar, in: Fornvännen 42 (1947) 39—47; U. Schaefer, Grenzen und Möglichkeiten der anthropologischen Untersuchung von Leichenbränden, in: Bericht ü. d. V. Internationalen Kongr. f. Vor- u. Frühgesch. i. Hamburg 1958 (1961) 717— 92
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Probleme der archäologischen Quellen
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Schwierigkeiten kommt die unterschiedliche Qualifikation und Zuverlässigkeit der Wissenschaftler, die in diesem Fachbereich — an mancherlei Anzeichen erkennbar — besonders groß zu sein scheint. Immerhin hat die Situation auch ihre positiven Aspekte. „Eine demographische Auswertung der anthropologischen Befunde eines Friedhofs ist fast in jedem Falle möglich und oft ergiebiger als an einem Friedhof mit Körperbestattung, da sich namentlidi die Überreste von kindlichen und jugendlichen Individuen in Urnen besser erhalten als normal im Boden beigesetzte Leichen"88. Schwierig ist meist die Gesdileditsbestimmung, sicherer die Altersbestimmung. Nicht unproblematisch ist die Berechnung der Zahl der Individuen. In Aussig-Schreckenstein stellte J. Chochol Individuen fest, „welche durch eine unbedeutende Restezahl, oder nur durch einzelne Bruchstücke von in Gräbern anderer Individuen beigemischten Knochenbrandresten vertreten sind"". Solche Fälle können nicht als Doppelgräber, in denen die Brandreste annähernd äquivalent vertreten sein müssen, angesehen werden. Da die Verbrennungsplätze meist nicht bekannt sind, kann nur ganz selten angegeben werden, ob a l l e Knochenreste aus dem Leichenbrand ausgelesen wurden oder ob nicht beträchtlichere Teile liegen blieben und bei einer nachfolgenden Bestattung mit den Knochen eines anderen Toten zusammen ausgelesen wurden. Daher sind „Doppelgräber" von zwei oder mehreren Erwachsenen häufig verdächtig. In Aussig — Stfekov waren immerhin fünf solcher unechter Doppelgräber unter 55 Bestattungen nachweisbar1*0. Anderswo wurden solche Beobachtungen allerdings nicht gemacht; möglicherweise ist das Problem als solches überhaupt nicht immer erkannt worden. Wie bei allen quantitativen Analysen muß auch bei Leichenbränden eines Friedhofs zwar nicht die Gesamtzahl, wohl aber eine r e p r ä s e n t a t i v e Zahl vorhanden sein. In Anbetracht dieser Notwendigkeit schrumpft die Zahl der für statistische Analysen auswertbaren Brandgräberfriedhöfe oder -gruppen1*1.
w M
100 101
724; N.-G. Gejvall, Cremations, in: D. Brothwell u. E. Higgs [Hrg.], Science in Ardiaeology (1963) 379—390; Ch. Müller, Methodisdi-kritische Betrachtungen zur anthropologischen Untersuchung von Leidienbränden, in: Prähist. Zeitsdir. 42 (1964) 1—29. U. Sdiaefer, a. a. O. 723. J. Chochol, Anthropologische Analyse menschlicher Brandreste aus den Lausitzer Gräberfeldern in Üsti nad Labem-Strikov II und Zirovice, Bez. Cheb, in: E. Plesl, Luzicka kultura v severozapadnich Cechach (1961) 276. J. Chochol, a. a. O. 276. Vgl. A. Malinowski, Wyniki badan przepalonych szczqtkow kosci ludzkidi z cmentarzyska ludnosci kultury przedluzyckiej w Pudliszkach w pow. gostynskim [Ergebnisse von Leidienbrandanalysen vom Friedhof der Vor-
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Will man Brandgräber Skandinaviens der Zeit um Christi Geburt paläodemographisdi auswerten, so tut man gut daran, vorher einen Blick auf kontinentaleuropäische Brandgräberfriedhöfe älterer Zeit zu werfen. Die Zahl derer, die sidi für eine Auswertung eignen, ist nicht gerade groß, dodi gibt es einige Friedhöfe, die recht brauchbare und auch interessante Aufschlüsse liefern. In erster Linie kommen die Gräberfelder von Moraviiany, Bez. Schönberg (Sumperk) in Mähren102, Aussig-Schreckenstein in Nordböhmen10* und Myáliborz, Kr. Opoczno 104 — alle drei der Lausitzer lausitzer Kultur bei Pudliszki, Kr. Gostyá], in: Przegl^d Ardi. 17 (1964— 65) 119—122; A. Kloiber, Die anthropologische Auswertung des Leichenbrandes aus den Gräbern von Wien XI. — Mühlsangergasse, in: Mitt. d. Anthrop. Ges. Wien 72 (1942) 298—300; J.Chodiol, Dosavadni vysledky antropologického rozboru luzick^ch iárovych pohíbü z Cesk^di zemi [Bisherige Ergebnisse einer anthropologischen Analyse der Lausitzer Brandgräber in den böhmischen Ländern], in: Památky Ardí. 49 (1958) 559—582; K. 2ebera, Zd. Fiedler u. J. Chochol, V^zkum na píseüném prásypu u Skalice v R. 1952 [Die Erforschung der Sanddüne bei Skalice im Jahre 1952], in: Památky Ardi. 47 (1956) 287—313 bes. 307ff. 313; H.Grimm u. G. Theis, Anthropologische Untersuchungen am Leidienbrandinhalt v. Urnen d. frühen Eisenzeit v. Berlin-Britz, in: Wissensdiaftl. Zeitschr. d. Humboldt-Universität Berlin, Math.-Nat. Reihe 2 (1952—1953) 85—87; H.Grimm u. G. Theis, Untersuchungen an Leidienbränden aus Randau, Kr. Schönebeck (4. Jahrh. v.Chr.), in: Jahressdir. 38 (1954) 196—203; K. HajniS, Antropologická analysa rimsko-babarskych zarov^ch pohrbu z Beíeñova na Slovensku [Die anthropologisdie Analyse von römisch-barbarisdien Leichenbränden aus BeSenov in der Slovakei], in: Studijné zvesti AÜSAV 10 (1962) 105—116; H. Bach u. K. Pesdiel, Bronzezeitlidie Brandgräber von Kolk bei Gleina, Kr. Gera, in: Ausgrabungen u. Funde 7 (1962) 227—236; U. Schaefer, Anthropologische Untersuchungen einiger Leichenbrände des Gräberfeldes, in: J.Brandt, Das Urnengräberfeld v. Preetz i. Holstein (1960) 93—111; A. Malinowski, Ekspertiza antropologiczna przepalomych koici ludzkich z wybranydi popielnic ludnoici kultury pomorskiej [Anthropologische Analyse von Leichenbränden aus Urnen der Gesichtsurnenkultur], in: Wiadomosci Ardi. 32 (1966) 25—30. 1M
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M. Stloukal, Problematika antropologického rozboru zarovych pohfbu (Vyzkum pohfebiítí v Moraviüanech) [Die Problematik der anthropologischen Analyse der Brandgräber (Erforschung der Begräbnisstätte in Moraviáany)], in: Arch. rozhledy 20 (1968) 330—347. J. Chochol, Anthropologische Analyse mensdilicher Brandreste aus den Lausitzer Gräberfeldern in Üsti nad Labem-Strekov II und in Zirovice, Bezirk Cheb, in: E. Plesl, Luzická kultura v severozápadních Cechadi (1961) 273— 293. A. Wiercinska, Analiza antropologiczna ludzkich szczqtków kostnych z grobów cialopalnydi w Myáliborzu, pow. Opoczno [Anthropologisdie Analyse menschlicher Knochenreste aus Brandgräbern von MyMiborz, Kr. Opoczno], in: Wiadomofci Ardi. 30 (1964) 59—65.
Probleme der archäologischen Quellen
361
Kultur angehörig —, sowie das Gräberfeld Wichrowice, Kr. "Wloclawek105, — der frühen vorrömischen Eisenzeit angehörig — in Betracht. Nidit unwichtig sind ferner die Gräber von Voerde-Ork und Voerde-Emmelsum, Kr. Dinslaken104, und des Urnenfriedhofs „de Roosen" bei Neerpelt, Prov. Limburg (Belgien)107. In diesem Zusammenhang haben auch die oben S. 352 ff. erwähnten Friedhöfe Loccum und Leese, beide Kr. Nienburg, und Sölten, Kr. Recklinghausen, eine gewisse Bedeutung. Auch die Gräberfelder von Sodiaczew, Kr. Sodiaczew108, Warschau-Zbytki109, und Warsdiau-Henryk6w"° liefern teilweise gutes Material. Eine breite Basis bietet der Friedhof der Lausitzer Kultur von MoravicSany in Mähren, dessen Gesamtbestattungszahl mit „etwa 900" bzw. mit 800 Individuen angegeben wird111. Davon sind bis zu 317 Kinder (Inf. I und II), darunter 49 Säuglinge, d. h. 18,3 % m . Wie üblich, ist die Zahl der Säuglinge zu niedrig und gibt eine Säuglingssterblichkeit an, die die der Neuzeit nicht erreicht. Sie betrug ja in den drei genau untersuchten mecklenburgischen Gemeinden Göhlen, Lohmen und Grüssow 1725 bis 1750 maximal 21 °/o und minimal 10 %, hatte noch 1800 bis 1825 Maxima von 28 %>, 23 °/o und 20 °/o und Minima von 12 °/o, 8 % und 12 °/o und noch 1900 bis 1925 Maxima bis zu 25 % und Minima bis zu 8 Vo11'. In Moraviiany wie in den meisten anderen frühen Populationen müssen entweder zahlreiche Säuglingsgräber unbeobachtet geblieben sein oder viele Säuglinge wurden abseits des Gemeinschaftsfriedhofs beigesetzt. Kein 106
A. Malinowski, Badania pochowk6w ciaiopalnych z cmentarzyska ludnoki okresu latenskiego w Wichrowicadi, pow. Wloclawek [Analyse der Leichenbrandbestattungen vom Gräberfeld aus der Lat^nezeit in Widirowice, Kr. Wloclawek], in: Fontes Ardi. Posnanienses 16 (1965) 126—138. 10 * U. Sdiaefer, Anthropologische Untersuchung der Skelettreste aus den Urnengräbern von Voerde-Ork und den Grabhügeln von Voerde-Emmelsum, Kr. Dinslaken, in: Bonner Jahrb. 161 (1961) 308—318. 107 P. Janssens, Onderzoek van de crematieresten uit het urnenveld „de Roosen" te Neerpelt in 1960, in: H. Roosens u. G. Beex, De opgravingen in het urnenveld „de Roosen" te Neerpelt in 1960, in: Ardi. Belgica 58 (1961) 28—34 ( = Het oude land van Loon 16 [1961]; ders., De crematieresten, in: H. Roosens u. G. Beex, Het onderzoek van het urnenveld „de Roosen" te Neerpelt in 1961, in: Ardi. Belgica 65 (1962) 158—160 ( = Het oude land van Loon 17 [1962]). 108 A. Wiercinska, Wiadomosci Ardi. 30 (1964) 63 Tab. 7. 109 A. Wiercinska, a . a . O . 63 Tab. 7. 110 A. Wiercinska, a. a. O. 63 Tab. 7. 111 M.Stloukal, Ardi. rozhledy 20 (1968) 331. Allerdings weist die Statistik a. a. O. 338 nur 400 Erwachsene, 344 Kinder und 56 unbestimmbare, zusammen also 800 Individuen nach! 112 M. Stloukal, a. a. O. 344. 113 I. Kothe, Das mecklenburgische Landvolk in seiner bevölkerungsbiologischen Entwicklung (1941) 67 f. Tab. 24.
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Brandgräberfriedhof der vorrömischen Zeit gibt — ausgenommen Sölten, Kr. Recklinghausen (vgl. oben S. 353), — höhere Zahlen für Säuglingsund daher audi für Kindersterblichkeit. In Mysliborz liegt die scheinbare Kindersterblichkeit immerhin bei 42,2 %>, in Sochaczew beträgt sie 34 %, in Zbytki dagegen nur 24,0 %114. Gutes Material liefert allein der sehr sorgfältig, wenn auch nidit ganz vollständig ausgegrabene Friedhof Warschau-Henryków mit 57,1 °/o Kindergräbern115. Das ist mit Zahlen vergleichbar, wie sie in Mecklenburg noch 1775—1800 vorkamen, wo das Maximum der Kindersterblichkeit bei 51 °/o lag. Noch 1800 bis 1825 betrug das Maximum dort 33 % ; 1825 bis 1850 stieg es auf 4 6 % , sank 1850 bis 1875 auf 40°/o und 1875 bis 1900 betrug es teilweise noch 28 %>"•. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen wird leider normalerweise bei Leichenbranduntersuchungen nicht angegeben. Sie wären nach Männern und Frauen aufzuschlüsseln, und nur so wäre ein Bild von der möglichen Kinderzahl und von der Sterblichkeit der Frau in jungen Jahren, d. h. im Kindbett, zu gewinnen. Für Warschau-Henryków ergibt sich eine überschlägig errechnete durchschnittliche Lebenserwartung der fünfzehnjährigen Männer und Frauen von 34,7 Jahren. Sicher war die der Frauen niedriger als die der Männer117. Da die Sterblichkeit der Personen zwischen 15 und 20 Jahren mit 7,8 °/o ziemlich hoch ist, wird man in Warschau-Henryków mit häufiger Frühehe rechnen müssen. Für Wichrowice wird die durchschnittliche Lebenserwartung der Frau mit 29 Jahren, die der Männer mit 23,4—32,8 Jahren angegeben118. In Skandinavien ist in bronzezeitlichem Milieu die geringe Zahl nachweisbarer Kinderbestattungen kennzeichnend11'. Der Friedhof Simris mit seinen über hundert Bestattungen umfaßt nur fünfzehn Kindergräber. Nur fünfzehn Männer und acht Frauen konnte Gejvall dem Geschlecht nach 114 115
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A. Wiercinska, Wiadomosci Arch. 30 (1964) 63 Tab. 7. I. Kothe, Das mecklenburgische Landvolk in seiner bevölkerungsbiologisdien Entwicklung (1941) 67 f. Tab. 24. Das Zusammenfassen der Personen, die zwischen dem 30. und dem 60. Lebensjahr starben, in der Statistik verschleiert den zu erwartenden frühen Sterblidikeitsgipfel der Frau. Vgl. A. Wierciáska, Wiadomolci Ardi. 30 (1964) 63 Tab. 24. A. Malinowski, Fontes Arch. Poznanienses 16 (1965) 138. Es handelt sich hier offenbar um die mittlere Lebenserwartung der Neugeborenen. N.-G. Gejvall, Anthropological and osteological Analysis of the skeletal material and cremated bones from Simris 2, Simris Parish, in: B. Stjernquist, Simris II (1961) 160: „ . . . very small infants are in rarity, and the total of those known is insufficient to justify the assumption that cremation and interment took place in a hundred per cent of such cases." U. Schaefer, Bonner Jahrb. 161 (1961) 308 ff. bes. 314 Tab. 1.
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determinieren. Es ist fraglich, ob die ungleiche Verteilung der Geschlechter für den ganzen Friedhof verallgemeinert werden darf. Auf dem Kontinent hat man im allgemeinen umgekehrte Relationen; diese Tatsache darf vielleicht nicht ganz vernachlässigt werden. Sölten lieferte bekanntlich 28 Frauen und 17 Männer bei 6 dem Geschlecht nadi undeterminierten Leichenbränden (vgl. oben S. 353 f.). Der Friedhof Voerde-Ork, Kr.Dinslaken, umfaßt sechs Frauen und einen Mann bei 4 Undeterminierten"0. VoerdeEmmelsum ergab ein ähnliches Bild. In Neerpelt hingegen sind die Geschlechter mit vierzehn Männern und fünfzehn Frauen bei neun Undeterminierten praktisch gleichmäßig vertreten181. Bei den bronzezeitlichen Gräbern von Gielow, Kr. Maldiin in Mecklenburg, sind neben vier Kindern ein Mann und fünf Frauen, ferner ein undeterminierter Erwachsener nachgewiesen1". Man muß damit redinen, daß von Kulturgebiet zu Kulturgebiet jene Faktoren, die nidit den ökologischen Bedingtheiten unterworfen, sondern von der Struktur der Kultur, d. h. vom Willen des Menschen, abhängig sind, mancherlei Wandlungen unterworfen waren" 5 . Wieweit unter den bislang behandelten Friedhöfen aus der Zeit um Christi Geburt germanische sind, ist eine Frage der Definition (vgl. unten S. 441 ff.). Es gibt durchaus Gründe, Friedhöfe wie den von WarschauHenryköw in Verbindung mit Bestattungsplätzen zu betrachten, die mit gutem Grund als germanisch bezeichnet werden dürften" 4 . Sicher germanisch ist der Friedhof von Korzen, Kr. Gostynin" 5 (Abb. 45). Seine Struktur ist dem von Warsdiau-Henryköw nicht unähnlidi. 57,1 % Kindergrä120
U. Schaefer, a. a. O. 315 ff. bes. 318 Tab. 2. P. Janssens, Ardi. Belgica 58 (1961) 28 ff.; ders., a. a. O. 65 (1962) 158 ff. 112 Vgl. ehr. Müller, Anthropologische Bemerkungen z. d. Leichenbränden a. d. bronzezeitlichen Flachgräbern v. Gielow, Kr. Malchin, in: Bodendenkmalpflege Mecklenburg Jahrb. 1965, 135 ff. bes. 139. 125 Vgl. die Verhältnisse auf dem bronzezeitlichen Friedhof Cirna in Rumänien, wo 37,25 % Säuglinge und Kinder nachweisbar sind, doch von der Gesamtpopulation 33,34% als Männer und nur 11,76 °/o als Frauen determinierbar sind. Es bleiben nur 18 Leichenbrände Erwachsener ( = 16,69%) übrig, die, wenn man sie probeweise allesamt für weiblich hielte, das Gleichgewicht der Geschlechter nicht herstellen könnten. — Vgl. D. Nicoläescu-Plopjor, Cercetäri antropologice asupra oseminletor din necropola de incinerape de la Cirna, in: VI. Dumitrescu, Necropola de incinerafie din Epoca Bronzului de la Cirna (o. J. [i960]) 365 ff. bes. Tab. 2.
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B. Zawadska, Cmentarzysko grob6w kloszowych w Warszawie-Henrykowie [Ein Friedhof der Glockengräberkultur bei Warschau-Henryköw], in: Materialy Arch. 10 (1964) 229—321. Vgl. A. Wierciiiska, Wiadomoici Arch. 30 (1964) 63 Tab. 7; B. Zawadska, a. a. O. 289 Tab. 1.
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Abb. 45.
Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Überlebensordnung der Bevölkerung des jüngerkaiserzeitlichen Gräberfeldes Korzen, Kr. Gostynin (umgezeichnet nach A. Wiercinski) — Forschungsstand 1968; die Kurve der überlebenden Männer besitzt nicht die statistische Sicherheit wie die der Frauen, da von den 89 Leidienbränden Erwachsener des Friedhofs nur 13 als männlich, aber 25 als weiblich zu bestimmen waren; vgl. Abb. 41—42. 46 u. 47.
bern in Warschau-Henrykow stehen 45,6 % in Korzen gegenüber. Die Sterblichkeit der Jugendlichen ist mit 4,1 %> geringer als in Korzen, w o sie 7,8 % beträgt. D i e Sterblichkeit bis zum 20. Lebensjahr ist demnach
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in Warschau-Henryków 61,2 °/o und in Korzen 54 °/o hoch12". In Lanz, Kr. Ludwigslust, beträgt die Kindersterblichkeit mehr als 33 °/o127. Neben germanischen Gräberfeldern der Zeit um Christi Geburt, die eine hohe Kindersterblichkeit aufweisen, auf denen also ein großer Teil oder gar alle Kinder bestattet worden sind, gibt es Friedhöfe mit ganz abnormer Struktur. Das 101 Gräber umfassende Gräberfeld von Tiäice, Bez. Mèlnik, ergab aus 78 Bestattungen 80 Individuen, darunter 9 Kinder, 2 Jugendliche, 9 Männer und 50 Frauen, ferner 10 Unbestimmbare128. Rechnete man die unbestimmbaren Leichenbrände als Männer, so gäbe es kein Gleichgewicht der Geschlechter, nähme man sie für Kinder, so ergäbe es bei weitem nicht die normale Kindersterblichkeit. Rechnete man die anthropologisch unbestimmbaren Gräber — sie enthielten keinen Leichenbrand, waren also vielleicht Kenotaphien — zu einer der Gruppen, gäbe auch das kein befriedigendes Resultat. Der Friedhof muß ein besonderer Bestattungsplatz gewesen sein, der vornehmlich den Frauen einer Siedlungsgemeinschaft vorbehalten war. Weder Beobachtungen zur Kindersterblichkeit noch Vergleiche zwischen der Anzahl der Männer und Frauen in der Population sind möglich. Einzig die Differenz zwischen den durchschnittlichen Lebenserwartungen von Männern und Frauen dürfte hier einigermaßen zutreffen: 45,5 Jahre für den Mann, 43,6 Jahre für die Frau, d. h. eine um 1,9 Jahre geringere Lebenserwartung der Frau. Nach den Erfahrungen mit dem Gräberfeld von Västerhus könnte man die Kindersterblichkeit von Warschau-Henryków und Korzen für signifikant im kontinentalgermanisdien Raum nehmen. Greift man, um eine breite Basis zu gewinnen, auf spätgermanische Körpergräberfelder aus, so begegnet man allzuhäufig Bestattungsplätzen, die unvollständig ausgegraben sind — so Sontheim a. d. Brenz, Kr. Heidenheim129, und 126
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A. Wierclnska, Analiza antropologiczna materiata cialopalnego z cmentarzyska okresu rzymskiego w Korzeniu, pow. Gostynin [Anthropologische Analyse von Knochenmaterial aus Brandgräbern der Römischen Zeit von Korzeü, Kr. Gostynin], in: Materiaiy Star. 11 (1968) 419 Tab. 2. H. Keiling, Ein Bestattungsplatz d. jüngeren Bronze- u. vorröm. Eisenzeit v. Lanz, Kr. Ludwigslust, in: Bodendenkmalpflege Mecklenburg Jahrb. 1962, 37. — H. Keiling betont: „Dazu kommt noch eine Anzahl vermutlich in diese Gruppe gehörender Gräber. Knochenlager ohne Steinsdiutz mit geringem oder vergangenem Leichenbrand können bei der Ausgrabung leicht übersehen werden." J. Chochol, Antropologick^ rozob Sarov^di pozüstatkü z pohrebiSti rimského obdobi v TiSice [Anthropologische Untersuchung des Leichenbrandes auf der Begräbnisstätte aus der Römerzeit in Tiiice], in: Pamitky Ardi. 54 (1963) 438—468 bes. 458 Tab. 5—6. N. Creel, Die Skelettreste a. d. Reihengräberfriedhof Sontheim a. d. Brenz, in: Chr. Neufer-Müller, Ein Reihengräberfriedhof i. Sontheim a. d. Brenz (1966) 73—102 bes. 73.
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Linz-Zizlau130 — oder bei denen nidit genügend Obacht auf die Kindergräber gegeben wurde — so Mindelheim131 und Köln-Müngersdorf"* — oder bei denen zu wenig anthropologisches Material erhalten blieb oder untersucht wurde — so in Köln-Junkersdorf133 — oder bei denen überhaupt keine anthropologischen Untersuchungen gemacht werden konnten — so in Bülach, Kt. Zürich134 — oder die für eine Auswertung fast zu klein sind — wie die Gräbergruppe bei Modiov, Bez. BöhmischBrod135. In allzuvielen Fällen war die Grabungstechnik unzulänglich wie in Hailfingen, Kr. Tübingen13'. Hier und da gibt es jedoch Friedhöfe, die eine ausgezeichnete Grundlage für paläodemographische Untersuchungen bieten. Von besonderem Wert ist das Gräberfeld von Felkendorf-Kleetzhöfe, Kr. Kulmbach137. Die Bearbeitung dieses Bestattungsplatzes ist ein Beispiel für eine besonders glückliche Zusammenarbeit von Anthropologen und Archäologen. Der Friedhof ist vollständig und mit Sorgfalt ausgegraben. Unansehnliche Gräber wurden offenbar nicht übersehen. Der Erhaltungszustand der Knochen war indes schlecht. G. Asmus konnte nur 33 Bestattungen, das sind etwa 42 %> der Begräbnisse, untersuchen138. Nach den Beigaben in den anthropologisch bestimmten Gräbern, sowie nach der Größe der Grabgruben, konnten zahlreiche andere Gräber archäologisch determiniert werden. Von den insgesamt 78 Bestattungen waren nur zwölf nicht genau H. Ladenbauer-Orel, Linz-Zizlau (1960) 24 f. J.Werner, Das alamannische Gräberfeld v. Mindelheim (1955) 6 : „Der Erhaltungszustand der Kinderskelette läßt darauf schließen, daß eine unbekannte Zahl der Kindergräber von den Ausgräbern nicht mehr festgestellt werden konnte." 1 3 2 Fr. Fremersdorf, Das fränkische Gräberfeld Köln-Müngersdorf (1955) 5 ff. 51: „Auffallend ist, daß keine einzige Beisetzung von Kleinkindern und Säuglingen nachgewiesen werden konnte." i3s ^ Bauermeister, Die Skelettreste d. fränkischen Gräberfeldes v. Junkersdorf b. Köln, in: P. La Baume, Das fränkische Gräberfeld v. Junkersdorf b. Köln (1967) 262: „Der Erhaltungszustand des hier bearbeiteten Materials war leider sehr schlecht." 134 J.Werner, Das alamannische Gräberfeld v. Bülach (1953) 5 : „Ohne Berücksichtigung des noch nicht bearbeiteten anthropologischen Befundes . . . " 1 3 5 J . Zeman, PohrebiSti z doby st2hov£ni ndrodü v Modiove [Das völkerwanderungszeitliche Gräberfeld in Mochov], in: Pamatky Ardi. 49 (1958) 423—471; J . Chochol, Kostrovä pozüstatky z doby stihovani narodu odkryti pH v^zkumu v MochovÄ [Die Skelettreste in den völkerwanderungszeitlichen Gräbern in Mochov], in: Pamatky Arch. 49 (1958) 472—477. 1 3 6 H. Stoll, Die Alamannengräber v. Hailfingen i. Württemberg (1939) 4 f. 1 3 7 G. Asmus u. K . Schwarz, Beobachtungen z. Tracht u. z. Bevölkerungsstruktur d. karolingisch-ottonisdien Zeit i. Franken, in: Bayer. Vorgesdiiditsbl. 24 (1959) 172—183. 138 Vgl. K. Schwarz, a. a. O. 180 Anm. 9. 130 131
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bestimmbar. Die Gesamtanalyse ergab 24 Männer, 11 Frauen und 31 Kinder. Je zwei der nidit genau bestimmbaren Gräber könnten männlich und weiblich sein. Sieben Gräber sind völlig zerstört, ein weiteres ist ohne Beigaben und ohne Skelett"'. Ein Überschuß an Männern ist audi von anderen Bestattungsplätzen bekannt. Hier ist er frappant; er bliebe, auch wenn die acht undeterminierten Gräber männlich wären, was indes keineswegs wahrscheinlich ist. In Felkendorf-Kleetzhöfe sind die Toten zu 46,96 % Kinder, zu 36,36% Männer und zu 16,67% Frauen. Das durchschnittliche Sterbealter von 16 Männern konnte mit etwa 35 festgestellt werden. Das entsprechende Alter der Frau ergab sich aus vier Skeletten mit etwa 27 Jahren. Die Lebenserwartung der Frau war also um 8 Jahre geringer. „Zieht man die wenigen Frauen- und die vielen Kinderbestattungen in Betracht, so ergibt sich, daß die Frauen durchschnittlich 2—3 Kinder verloren haben müssen. Sie selbst hatten jedoch nur eine mittlere Lebensdauer von etwa 27 Jahren. Man muß also damit rechnen, daß die Frauen jung heirateten und häufige Geburten in rascher Folge hatten. Denn um 3—4 Kinder aufzuziehen, mußten bei der großen Kindersterblichkeit zunächst einmal in den wenigen Jahren ihrer Ehe 6—7 Kinder geboren werden"140. Wahrscheinlich ist eine Zahl von 3—4 überlebenden Kindern pro Familie zu hoch gegriffen. Ein Bevölkerungsüberschuß muß gar nicht unbedingt vorhanden gewesen sein. Ein besonderes Problem in FelkendorfKleetzhöfe ist der Männerüberschuß. Sollten etwa die Bauern ihre jüngeren Töchter haben abwandern lassen, so daß die jüngeren Söhne unverheiratet bleiben mußten141? Es könnte sein, daß die Bevölkerungsbilanz durch die Zahl der Geburten und durch die Säuglings- und Kindersterblichkeit im Gleichgewicht blieb und daß die überschüssigen Männer Fremde waren, die von Bauern angeworben wurden. Man könnte auch an Sklaven denken. Diese hätten jedenfalls nicht heiraten können. Aber auch diese Lösung befriedigt nicht ganz, denn v i e l e frühmittelalter139 140
141
Vgl. K. Schwarz, a. a. 0 . 1 8 1 Anm. 13. G. Asmus, a. a. O. 179. — Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen wäre noch zu reduzieren, wenn man zwei nicht sicher auswertbare Gräber einbeziehen könnte. Die dort Bestatteten hatten bestenfalls knapp das heiratsfähige Alter erreicht. G. Asmus, a . a . O . 179 f. folgert: „Nimmt man an, daß jeweils eine Frau Hofbäuerin war, dann arbeiteten außer ihrem Mann noch durchschnittlich 2 Knechte auf dem Hof. Nimmt man weiter an, daß die heranwachsenden Söhne als Arbeitskräfte auf dem Hof blieben, so erhebt sich die Frage nach dem Verbleib der erwachsenen Töchter. Anscheinend haben diese den väterlichen Hof verlassen."
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liehe Gräberfelder haben einen Männerüberschuß und zeigen eine geringere Lebenserwartung der Frau. Das sollte festgehalten werden! Eine nicht ganz geringe Bedeutung hat neben Felkendorf-Kleetzhöfe der beigabenlose Friedhof IV um die Kirche von Mühltal bei Epolding, Kr. Wolfratshausen142, doch war die Untersuchung dieses Objekts nicht sehr gut14®. H. Dannheimer lehnte es daher ab, Überlegungen darüber anzustellen, „wie hoch sich die Belegung des Friedhofs IV ehedem belief"144. Die Friedhofsgrenze sei nach dem Norden nur andeutungsweise bekannt; nach dem Westen sei sie möglicherweise erfaßt, dodi nach dem Osten sei keine zuverlässige Abgrenzung gewährleistet. Nach dem Süden zu seien 1922 mehr als 50 Gräber ununtersucht geblieben. Gegenüber den etwa 176 festgestellten Bestattungen rechnete Dannheimer damit, „daß eine Mindestzahl von 500 Gräbern durchaus nicht zu hoch gegriffen" sei145. Hingegen betonte er, die Beobaditungsmöglichkeiten für Kindergräber seien schlecht, ihr Anteil an der Belegung des Friedhofs müsse relativ größer sein. Tatsächlich scheint der Friedhof aber nicht weit nach dem Norden zu reidien146. Im Süden mögen tatsächlich ca. 50 Gräber fehlen. Im Westen im Bereich des Zuganges zur Kirche scheint der Friedhof dünn belegt zu sein. Nur im Osten ist die Grenze ungewiß. Das aber ist kein Hindernis für eine Auswertung in paläodemographischer Hinsidit. Dannheimer unterschied chronologisch zwischen zwei Orientierungsgruppen des Friedhofs147. Die Orientierungsgruppe 1 entspricht im wesentlichen den Gräbergruppen A und B des Anthropologen G. Ziegelmayer148. Die Gräber dieser Gruppe 1 bzw. A und B sind die ältesten des Friedhofs und lehnen sich direkt an das Kirdiengebäude an. Hier ist nicht viel verloren14'. 142
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144 145 148 147 148 149
H. Dannheimer, Epolding-Mühlthal (1968) 3 f. 5 f. 10. 67 ff. T a f . D 2 ; E 1—2; Abb. 7. 11—13; G. Ziegelmayer, Die menschlichen Skelette v. Friedhof b. d. frühmittelalterlichen Kirche v. Mühlthal, in: H.Dannheimer, a . a . O . 103 ff. bes. 106 ff. Vgl. H. Dannheimer, a. a. O. 3 f. Der Präparator Maurer des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege entdeckte 1922 den Friedhof und muß nach dem von ihm gefertigten Plan etwa 88 Gräber gefunden haben (Gr. 1—55), deren Inhalt verloren ist. H. Dannheimer grub dort 1964 erneut und legte „rund 94 weitere Gräber des Friedhofs" frei. H.Dannheimer, a . a . O . 10. H.Dannheimer, a . a . O . 10. H. Dannheimer, a. a. O. 40 Taf. 40. H. Dannheimer, a. a. O. 67 Taf. D 2. G. Ziegelmayer, in: H. Dannheimer, a. a. 0 . 1 1 1 Taf. E. Nur die Gräber 1—3 des Maurersdien Plans, ein den Gräbern 2 u. 3 benachbartes Grab ohne Nr. und je ein Grab westlich und östlich der Kapelle. Vgl. H. Dannheimer, a. a. O. Abb. 7 Taf. D 2 u. E 2.
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Die 37 Gräber der Gruppen A und B umfassen 11 Foetusse und Neugeborene, 19 Kinder (Inf. I und II) und 7 Erwachsene. Das ergibt eine Kindersterblichkeit von 81,1 %, eine solche von Erwachsenen von 18,9 %>. Rechnete man die verlorenen Gräber als Erwachsene und redinete man westlich der Kirche im unausgegrabenen Gelände mit einigen Bestattungen150, so käme man als Maximalzahl auf ca. 14—15 Erwachsene und hätte dann immer noch bis zu 55,8 °/o Kindersterblichkeit. Dannheimers Orientierungsgruppe 2 gliederte Ziegelmayer als Gruppen C bis E151, faßte diese dann aber bei seinen Berechnungen zusammen und kam zu einer Sterblichkeit bei Kindern von 66,0 °/o, bei Jugendlichen von 7,6 Männer und 1 4 % Frauen; zwischen 48 und 65 Jahren sind die entsprechenden Zahlen 17 °/o und 15 °/o; zwischen 65 und 80 Jahren 23 °/o und 17%. Das achtzigste 24»
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Lebensjahr überlebten sieben Männer ( = 4 %), aber keine Frau160. Die hohe Sterblichkeit der jungen Frau konnte nicht durch die höhere Sterblichkeit des älteren Mannes •wettgemacht •werden. Für Männer ergibt sich daher ein Durchschnittsalter von etwa 46, für die Frauen ein solches von 42 Jahren 1 ' 1 . Das Gesamtbild stimmt auffallend mit dem von HalimbaCseres überein, wenngleich die beiden Friedhöfe in Einzelheiten wegen der unterschiedlichen Altersklasseneinteilung sonst schwer vergleichbar sind162. Das kleine Gräberfeld von Mochov, Bez. Böhmisdi-Brod, gibt keinen Aufschluß über Kindersterblichkeit und durchschnittliche Lebenserwartung der Geschlechter, doch kann das Verhältnis der Geschlechter mit sieben Männern und fünf Frauen auch hier als kennzeichnend gelten16'. Für eine Reihe von anderen frühmittelalterlichen Bestattungsplätzen verwies N. Creel auf Untersuchungen mit einem ähnlichen Übergewicht der Männer164. Man kann daher sidier sein, daß es sidi hierbei um eine allgemein gültige Regel handelt, die nur unter bestimmten abnormen Verhältnissen durchbrochen wurde. Von allen Werten, die sich durch demographische Analysen gewinnen lassen — Kindersterblichkeit, durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen und der Männer, Anteil der beiden Geschlechter an den Erwachsenengräbern und durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe — ist der erste vielleicht in seinem Aussagewert am fragwürdigsten und von Faktoren abhängig, die sich oft schwer übersehen und schlecht kalkulieren lassen. Kindergräber — Körper- wie Brandbestattungen — werden leicht zerstört und bei der Ausgrabung leicht übersehen. Daher müssen die Zahlen, die sich erfassen lassen, als Minimalzahlen angesehen werden. Aber selbst dort, wo alle Kindergräber erfaßt sind, darf aus der Zahl der toten Kinder nicht in j e d e m Falle auf die Kindersterblichkeit geschlossen werden. Jeder Erwachsene, der die Gemeinschaft, zu der ein Friedhof gehört, v e r l i e ß und anderwärts starb und begraben wurde, bewirkte ein scheinbares Erhöhen der Kindersterblichkeit. Verlassen der angestammten Siedlung in größerem Umfange — Auswanderung — läßt sich 160 161 162
163
164
N . H. Huber, a. a. O. 20 Tab. N . H. Huber, a. a. O. 24. Einzelheiten bleiben bei Huber hypothetisch, so die Aufrechnung der Zahl der vor dem 14. Lebensjahr gestorbenen Kinder — 798 Individuen — und Unterschiede in der Sterblichkeit der Schwerbewaffneten, Leichtbewaffneten und Unbewaffneten. — Vgl. N . H. Huber, a. a. O. 24 ff. bes. Abb. 2 u. 3. J. Chodiol, Kostrovi pozüstatky z doby stihovini narodu odkryte pfi vyzkumu v MochovS, in: Pamdtky Ardi. 49 (1958) 472 ff. bes. 475 f. N . Creel, in: Chr. Neuffer-Müller, Ein Reihengräberfeld in Sontheim a. d. Brenz (1966) 80.
Probleme der archäologischen Quellen
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nur selten in einer Weise nachweisen, daß sich daraus ein Korrektiv für die Zahlen der Kindersterblichkeit ergibt. Nur zweierlei läßt sich beweisen: Frühmittelalterliche Gräberfelder — und nicht nur diese — repräsentieren oft Siedlungen, die langsam wudisen. Ein innerer Landausbau ist im frühen Mittelalter — und nicht nur in dieser Zeit — nachweisbar, dessen Quellen offenbar größtenteils im Bevölkerungsüberschuß der älteren Siedlungen gesucht werden müssen. Bei aller Unsicherheit der absoluten Dauer der einzelnen Zeitstufen möchte man beispielsweise aus dem Belegungsrhythmus des Gräberfeldes von Bülach ein langsames Wachsen der Siedlung und ihrer Bevölkerung entnehmen. Die älteste Bestattungsphase ist dort mit sieben Bestattungen vertreten. Für die zweite bis fünfte Phase gibt es sieben, sechsundzwanzig, vier und dreiundfünfzig Bestattungen1'5. J. Werner rechnete mit einer Verzehnfachung der Bevölkerung in knapp zwei Jahrhunderten. „Die Einengung des alamannischen Siedlungsraumes nach der Einbeziehung des Stammes ins fränkische Reich und die lange Periode des Friedens sind wohl in erster Linie dafür verantwortlich, daß die Bevölkerung sich derart vermehrte und die Siedlung sich so erstaunlich verdichtete"1". Zu ähnlichen Ergebnissen kam schon H . Stoll für das Gräberfeld von Hailfingen1*7 und Werner konnte ähnliches für Mindelheim annehmen1"8. Vergleichbare Verhältnisse lassen sidi für das Gräberfeld in Mühlthal (Gräbergruppen I—III) vermuten, das indes nicht in genügender Vollständigkeit ausgegraben wurde, um ein ganz klares Bild zu liefern 1 ". Vom Umfang des mittelalterlichen Landausbaus geben Arbeiten von H. Stoll170 und H . Dannheimer eine Vorstellung171 (Abb. 47), teils in Verbindung mit den Ortsnamen. Es ist zur Zeit selbst auf begrenztem Raum schwer überschaubar, wie weit Vergrößerung der Hofgruppen165 j_ Werner, Das alamannisdie Gräberfeld von Büladi (1953) 69 ff. Taf. 2. — Der ungleiche Rhythmus des Anwachsens ist bedingt durdi die Art von J. Werners Gruppengliederung des Materials. 1M J.Werner, a . a . O . 77. 167
H. Stoll, Die Alamannengräber v. Hailfingen i. Württemberg (1939) 42 f. na j Werner, Das alamannisdie Gräberfeld v. Mindelheim (1955) 18. 169 H. Dannheimer, Epolding-Mühlthal (1968) 26 ff. Taf. B. 170 H. Stoll, Neue Arbeiten z. Frühgeschichte d. Alamannen, in: Bad. Fundber. 16 (1940) 119—129 bes. 124 ff.; ders., Das alamannisdie Gräberfeld von Grimmeishofen, Ldkr. Waldshut, in: Bad. Fundber. 17 (1941—1947) 196— 224; ders., Die Alamannengräber v. Freiburg, Stadtteil St. Georgen, in: Bad. Fundber. 18 (1948—1950) 107—126. 171 H. Dannheimer, Reihengräber u. Ortsnamen als Quelle z. frühmittelalterlichen Besiedlungsgesdiidite Bayerns, in: Aus Bayerns Frühzeit (1962) 2 5 1 — 286; ders., Die germ. Funde d. späten Kaiserzeit u. d. frühen Mittelalters i. Mittelfranken (1962) 139 ff. bes. 144 f. Abb. 20.
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
Siedlungen zu dorfartigen Ansiedlungen und der innere Landausbau nebeneinander hergingen oder Alternativlösungen waren, die bei stärkerer Bevölkerungsvermehrung zu Gebote standen und je nach der Lage in verschiedenem Umfange genutzt wurden, „örtliche Beobachtungen können nicht unbesehen auf einen größeren Raum übertragen werden",
Abb. 47.
Frühmittelalterlicher Landausbau im Kreise Landshut (Bayern), dargestellt an Gräberfeldern und Ortsnamen (nach H. Dannheimer) — Forsdiungsstand 1962.
aber an einer frühmittelalterlichen Bevölkerungsvermehrung in Süddeutschland ist nicht zu zweifeln. Werner nannte einen der Hauptgründe: Die lange Periode des Friedens. Sie hat zweifellos nicht nur die Dezimierung der männlichen Bevölkerung durch den Kriegsdienst verringert, sondern auch der übrigen Bevölkerung einen Status von Sicherheit geboten, der u. a. der Bevölkerungsvermehrung in ungewöhnlichem Umfange zugute kam. Ein Überleben von drei bis vier Kindern kann pro Familie für diese Zeit durchaus als Regel angenommen werden.
Probleme der archäologischen Quellen
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So günstige Lebensbedingungen sind gewiß nicht für alle Zeiten und Räume als Regel anzunehmen. Aber es muß immer wieder Epochen relativer Ruhe gegeben haben — auch schon vor dem Mittelalter —, in denen sich Bevölkerungen unter günstigeren Bedingungen entwickeln konnten. Beispiele lassen sich nadiweisen (vgl. unten S. 406 ff.). Beobachtungen von Bevölkerungsvermehrungen im frühen Mittelalter in Süddeutschland geben einen allgemeinen Rahmen für das, was in Skandinavien um Christi Geburt möglich war. Eine Anzahl osteologisch sorgfältig untersuchter Gräberfelder besonders aus Västergötland geben klare Vorstellungen von den Realitäten. Ein besonders gutes Beispiel bietet die Untersuchung des Gräberfeldes von Bankälla durch N.-G. Gejvall172. Hier wurden 68 Bestattungen eines ursprünglich wesentlich größeren Friedhofs178 sorgfältig ausgegraben. Von diesen Gräbern enthielten 64 Leichenbrandreste; von den restlichen 4 Gräbern könnten 3 Kinderbestattungen sein; das vierte ist überhaupt als Grab unsicher174. Bei maximal 43 Kindergräbern von 67 für die Berechnung verwendbaren Gräbern ergibt sich ein Anteil von 64,2 % Kindergräbern175. K. E. Sahlström versuchte, die ihm ungewöhnlich groß erscheinende Kindersterblichkeit durch Annahme einer Kinderepidemie zu erklären17®. Dafür besteht jedoch kein Ansatz. Im Falle einer Epidemie wären bei einer so relativ kleinen Siedlungsgemeinschaft gar nicht soviele Kleinkinder gleichzeitig am Leben gewesen, wie auf dem Friedhof bestattet worden sind177. Das Gräberfeld bestätigt ganz einfach, daß Sterblichkeit und Lebenserwartung in Bankälla nicht günstiger waren als im nichtgermanischen Raum. Man könnte allenfalls einwenden, der Friedhof sei vor der Ausgrabung teilweise stark gestört worden, und es sei hauptsächlich d e r Friedhofsteil erhalten geblieben, der vornehmlich als Bestattungsplatz für Kinder diente. Offensichtlich sind aber die västergötländisdien Gräberfelder nicht auf diese Weise gegliedert, und es ist gewiß mindestens für festlandsschwedische Bestattungsplätze richtig, wenn Gejvall betont, daß in der Zeit um Christi Geburt bei der Bestattung der Toten alle Altersklassen annähernd gleichartig behandelt wurden, 172
173 174 175 178 177
K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, Bankälla odi Stora brandgropsgravfält (1954) 7 fi. 69 ff.; vgl. dazu auch R. sellschaftsordnung d. Germanen um Christi Geburt, in: 5 (1956) 8 Tab. 1. K. E. Sahlström, a. a. O. 7 ff. 88. N.-G. Gejvall, a. a. O. 69 ff. (Gräber 4, 10,16 u. 28). K. E. Sahlström, a. a. O. 39 f. K. E. Sahlström, a. a. O. 40. Audi N.-G. Gejvall, Westerhus (1960) 40 redinet mit der „unerklärlich" hohen Kindersterblichkeit.
Ro. Tvä västgötska Hachmann, Zur GeArchaeologia geogr.
einer Seuche wegen
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
vom Neugeborenen bis zum Greis178. Wenn in anderen Fällen die Zahl der Kindergräber geringer zu sein scheint als in Bankälla, so hängt das damit zusammen, daß die Erhaltungsbedingungen und die Grabungstechnik nicht zu vergleichen sind. In Mellby by beispielsweise ist die Zahl der Kindergräber Bankälla gegenüber auffallend klein. Die Fundbergung erfolgte zunächst unsystematisch17'. Aus dem frühen Teil der Grabung stammt eine Anzahl Gräber, die unter den Grabnummern 1 bis 37 zusammengefaßt sind. Es sind nur vier Gräber mit Säuglingen und Kindern darunter180. Das sind gut 10 % ! Unter den Gräbern 38 bis 98, die sorgfältiger, wenn auch sicher nicht mit aller möglichen Perfektion gegraben wurden181, befanden sich sieben Doppelgräber mit je einem Erwachsenen und einem Kind sowie neun Kindergräber. Das sind immerhin 13,4 °/o. Daß auch dieser Anteil von Kindergräbern auf dem besser untersuchten Friedhofsteil zu gering veranschlagt ist, muß aus folgenden Gründen angenommen werden: Die Gliederung nach Grabarten ist in Bankälla eine ganz andere als in Mellby by, und es läßt sich an Zusammensetzung der Grabtypen deutlidi erkennen, daß gerade die unansehnlichen Gräber nicht beobachtet worden sind182 (vgl. unten S. 378). Die Kindersterblichkeit in Mellby by dürfte deswegen wohl eher mit der des benachbarten Friedhofs Stora Ro zu vergleichen sein183. Diese beträgt 18 %, doch schon Sahlström meinte184, in Stora Ro müßten ursprünglich viel mehr Kindergräber vorhanden gewesen sein und suchte solche unter den elf anthropologisch unbestimmbaren Leichenbränden dieses Friedhofs. Rechnete man zu den sieben Kindern die elf dem Alter nach unbestimmbaren hinzu, dann ergäbe sich schon eine Sterbequote von 36 % für die Bevölkerung dieses Friedhofs. Das ist allerdings nur ein Näherungswert. Das relativ große und von Sahlström sorgfältig untersuchte Gräberfeld Kyrkbacken in Västergötland185 lieferte unter 197 anthropologisch 178
N.-G. Gejvall, in: B. Stjernquist, Simris II (1961) 160. K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, Gravfältet i Mellby by, Källands Härad, in: Västergötlands fornminnesföreningens tidskrift 5 (1951) 5—77, bes. 5 ff.; vgl. dazu: R. Hadimann, Ardiaeologia geogr. 5 (1956) 8. 180 K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, a. a. O. 60 ff. 181 . K. E. Sahlström, a. a. O. 8 f. 182 Vgl. die Tabellen in: K. E. Sahlström, a. a. O. 39 u. K. E. Sahlström, Bankälla odi Stora Ro (1954) 39. 62. 183 K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, Bankälla och Stora Ro (1954) 44 ff. 77 ff. 184 K. E. Sahlström, a. a. O. 67. 185 K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, Gravfältet pa Kyrkbacken i Horns socken, Västergötland (1948); vgl. dazu R. Hadimann, Ardiaeologia geogr. 5 (1956) 7 f. 179
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analysierbaren Leichenbränden 46 von Kindern; das sind 23,8 °/o aller Toten18®. Es bleiben aber 26 unbestimmbare Leichenbrände. Nähme man an, darunter seien vornehmlich solche von Kindern, was nicht ganz unwahrscheinlich, wenngleich nicht beweisbar ist, so käme man auf 36,4 % Kinder unter den Toten. N u r 34,5 °/o der sicheren Kindergräber enthielten in Kyrkbadken Säuglinge187. Es sieht danach aus, als seien die Säuglingsgräber in Kyrkbacken nicht vollständig erfaßt. Verdoppelt man probeweise den Prozentsatz der Säuglingsgräber — Bankälla entsprechend —, so ergäbe sich für Kyrkbacken eine Sterblichkeitskurve, die den vorgeschichtlidien Verhältnissen viel besser entspräche198. Tatsächlich ist eine solche Kurve indirekt beweisbar (vgl. unten S. 378). Daß wirklich Bankälla die besten Unterlagen lieferte und daß es keine totale Willkür ist, die Zahl der verstorbenen Kinder für Stora Ro, Mellby by und Kyrkbacken zu korrigieren und zu erhöhen, läßt sich aus der Verteilung der Kinder auf die verschiedenen Grabarten erkennen. Es zeigt sich, daß in Bankälla 76 °/o der Urnengräber Kindergräber sind. 56,5 °/o der Rindenschachtelgräber und 61,6 % der Brandgrubengräber sind ebenfalls Kindergräber. Setzte man voraus, daß dies der allgemein üblichen Verteilung der Kindergräber auf die verschiedenen Grabarten annähernd entspricht, oder nähme man wenigstens an, daß der gut gegrabene Friedhof Bankälla den wirklichen Verhältnissen am nächsten kommt, so ergibt ein Vergleich mit den anderen Friedhöfen einige interessante Aufschlüsse. In Bankälla sind 40 % a l l e r Gräber Urnengräber, in Stora Ro sind es 55 %>, in Mellby by gar 66 °/o, während es auf dem sorgfältig ausgegrabenen Friedhof Kyrkbacken nur 35 °/o sind 18 '. Man kann als Regel aufstellen: Je größer die Zahl der Urnengräber mit Leichenbrand von Kindern ist, um so schlechter wurde der Friedhof gegraben. Die gut sichtbaren Urnengräber werden am leichtesten entdeckt. Die Frequenz der schwerer feststellbaren Rindenschachtelgräber ist auf denselben Friedhöfen in gleicher Reihenfolge 41 % , 13 4/o, 19 °/o und 50 ®/o. Bankälla und Kyrkbacken sind am besten gegraben und man sieht, daß sie, 186
187
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189
Bei dieser Rechnung sind die 26 unbestimmbaren Leichenbrände als Erwachsene angesetzt; es ist also eine Minimalzahl. N.-G. Gejvall, a. a. O. 182 ff.; N . H. Huber, Anthropologische Untersuchungen a. d. Skeletten a. d. alamannisdien Reihengräberfeld v. Weingarten, Kr. Ravensburg (1967) 21 f. gibt nach Gejvall für Kyrkbacken 73 %> Kindergräber, 51 °/o Inf. I und 31 % Säuglinge an. Die Herkunft dieser Zahlen ist nicht nachprüfbar. Sie sind offensichtlich falsch. Vgl. N.-G. Gejvall, a. a. O. 165 Fig. 6; vgl. dazu N.-G. Gejvall, Westerhus (1960) Taf. 5. K. E. Sahlström, Bankälla och Stora Ro (1954) 62; N.-G. Gejvall, in: K. E. Sahlström, Gravfältet pä Kyrkbacken (1948) 81 ff. Tab. 1.
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was die Verteilung der Grabarten anbelangt, stärker untereinander übereinstimmen als mit Stora Ro und Mellby by. Das scheint zu bedeuten, daß in Stora Ro und Mellby by Rindenschachtel- und Brandgrubengräber in wesentlich geringerer Vollständigkeit erfaßt worden sind als die gut erkennbaren Urnengräber. Es sieht danach aus, als seien auf diesen beiden Friedhöfen vor allem Rindensdhachtelgräber besonders schlecht beobachtet worden1'0. Die unscheinbaren Knochenreste von Kindern in Rindenschachtel- und Brandgrubengräbern zu übersehen, war um so leichter möglich, als in der Zeit um Christi Geburt im Norden — wie anderwärts — die Leichenbrände nur selten vollständig aus dem Scheiterhaufen ausgelesen und ins Grab gegeben wurden1®1. Natürlich darf man bei soldien Berechnungen lokale Unterschiede der Grabsitte nidit übersehen. Es muß sie in einem — wenn auch geringen — Umfange audi in Västergötland gegeben haben. Während in Bankälla 56,3 °/o aller Rindenschachtelgräber Kindergräber sind, sind es in Kyrkbacken nur 11 % . Rechnete man mit unbeobachteten Rindensdiaditelgräbern mit Kindern, so erhöhte sich der Gesamtteil der Rindensdiachteln in Kyrkbacken gegenüber Bankälla, der dort ohnehin mit 50 % gegenüber 41 % höher ist. Auch der Anteil der Kindergräber an Brandgruben ist in Kyrkbacken mit 19,2% viel geringer als in Bankälla (61,6 %). Hinzu kommt, daß der Anteil der Brandgruben in Bankälla höher ist als in Kyrkbacken. Es muß allerdings beaditet werden, daß in Kyrkbacken die Anzahl der Säuglinge unter Rindensdiachtel- und Brandgrubengräbern beträchtlich geringer ist als die entsprechenden Prozentzahlen für Kindergräber: 5 , 6 % der Säuglinge stammen aus Rindensdiachtelgräbern, 11,1% aus Brandgruben, aber 83,3% aus Urnengräbern. Diese Zahlen sprechen doch eindeutig dafür, daß unter Rindensdiachtel- und Brandgrubengräbern die Zahl der Säuglingsgräber ursprünglich viel größer war, d. h. daß viele Rindensdiachtel- und Brandgrubengräber in Kyrkbacken verloren sind und die Kindersterblichkeit in Kyrkbacken in Wirklidikeit viel höher war. Genaue Zahlen lassen sidi allenfalls schätzen, nicht erredinen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß die Kindersterblichkeit hier geringer war als in Bankälla. Auch in Västergötland, wo sich eine starke innere Kolonisation in der Zeit um und nadi Christi Geburt nachweisen läßt (vgl. unten S. 409), 190
191
Audi wenn man chronologische Gesichtspunkte einbezieht — Rindenschachtelgräber sind durchweg die jüngsten Bestattungen —, ergeben sich keine anderen Gesichtspunkte, denn in Mellby by und Stora Ro sind junge Gräber ebenso vertreten wie in Bankälla. Vgl. R. Hadimann, Die Chronologie d. jüngeren vorröm. Eisenzeit, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 205. N.-G. Gejvall, Bankälla och Stora Ro (1954) 84 f. Tab. I; ders., in: B. Stjernquist, Simris II (1961) 160.
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müßte die Abwanderungsquote in Rechnung gestellt werden, wollte man exaktes Material zur Kindersterblichkeit gewinnen. Den Umfang der Abwanderung richtig zu schätzen, ist schwer. Schwierigkeiten der Altersbestimmung an Hand von Leichenbränden sind bekannt1'2. Die von Gejvall für Kyrkbacken veröffentlichte Sterblichkeitstabelle zeigt — wie oben erwähnt — eine auffallend geringe Anzahl von Säuglingen und gibt nur einen vagen Anhalt für eine durchschnittliche Lebenserwartung"3, die offenbar zu hoch angesetzt ist. Spätere Überarbeitung und Neuberechnung führte zur Errechnung einer durchschnittlichen Lebenserwartung der Neugeborenen von 24,7 Jahren1'4. Zieht man in Betracht, daß die Säuglingssterblichkeit in Kyrkbacken nicht vollständig erfaßt zu sein scheint, so kommt man zur Annahme einer durchschnittlichen Lebenserwartung a l l e r Neugeborenen, die bedeutend niedriger liegt und der von Västerhus — etwa 18 Jahre — nahekommen müßte. Interessanter wäre die durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen, aufgeschlüsselt nach den Geschlechtern. Doch dafür fehlen Zahlen. Mindestens für Västergötland dürften die Fundplätze von Bankälla und Kyrkbacken einigermaßen repräsentative demographische Werte liefern — soweit sie überhaupt solche liefern können. Fundplätze benachbarter Landschaften könnten, wenn die Analysen der Leichenbrände detailliert untersucht und publiziert wären, das Bild ergänzen. Gejvall untersuchte 458 Leichenbrände von Fiskeby in östergötland, das Bestattungen zwischen der jüngsten Bronzezeit und der Wikingerzeit umfaßt. Das von ihm angegebene Durchschnittsalter von 30,7 Jahren" 5 läßt sich hier nicht auswerten, da die Bestattungsbedingungen innerhalb der langen Zeitspanne zwischen Bronze- und Wikingerzeit wechselten. Das Sterblichkeitsdiagramm läßt eine niedrige Kindersterblichkeit erkennen und deswegen annehmen, daß hier Säuglinge und Kinder nicht regelmäßig bestattet bzw. daß sie bei der Grabung nicht vollständig erfaßt wurden. Das Diagramm zeigt ferner eine Überlebensquote der Alten, die größer als die in Kyrkbacken ist194. Die nunmehr vorliegende Veröffentlichung des Fundguts von Fiskeby"7 — die Leichenbrandbestimmungen von Gej192 193
194 195 198 197
N.-G. Gejvall, Gravfältet p l Kyrkbacken (1948) 172 f. Tab. 4. N.-G. Gejvall, a. a. O. 165 Abb. 7; ders., Westerhus (1960) Taf. 5 gibt ein verändertes Diagramm der Sterblichkeit in Kyrkbacken. An gleicher Stelle ein Diagramm, das die Sterblichkeit für Mellby by, Bankälla und Stora Ro in einer Kurve darstellt. N.-G. Gejvall, Westerhus (1960) 39. N.-G. Gejvall, a. a. O. 39. N.-G. Gejvall, a. a. O. Taf. 5. P. Lundström, Gravfälten vid Fiskeby i Norrköping II. Fornlämningar och fynd (1965).
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vall sind beigefügt — läßt keine Überprüfung des Diagramms zu, da alle Altersbestimmungen sehr summarisch sind; Gejvall muß für seine Tabelle andere Werte benutzt haben. Das Sterblichkeitsdiagramm des Gräberfeldes Södra Spänga in Upland zeigt geringe Kindersterblichkeit — also unvollständige Bestattung der Säuglinge — und eine verhältnismäßig große Uberlebensquote der Alten. Beides erklärt die scheinbare durchschnittliche Lebenserwartung der Neugeborenen von 31,8 Jahren" 8 . Unvollständig sind die Unterlagen für eine paläodemographische Durchrechnung der Gräberfelder von Vallhagar auf Gotland 1 ". Das mittlere Gräberfeld umfaßt 54—64 Bestattungen in 41 Gräbern; Kinder fehlen hier ganz. Sie wurden anderwärts bestattet. Gejvall gab als durchschnittliche Lebenserwartung 35,4 Jahre an, eine Zahl, deren Grundlage unklar bleibt. Für die germanischen Brandgräberfriedhöfe im skandinavischen Norden ist das Zahlenverhältnis der Geschlechter nicht immer leicht und niemals ganz sicher feststellbar. In Vallhagar M stehen 19 sichere Männerbestattungen solchen von 7 Frauen gegenüber. Unsicher sind weitere 8 Männer- und 15 Frauenbeisetzungen. Es stehen also maximal 27 Männer- 23 Frauengräbern gegenüber800. Für Kyrkbacken rechnete Gejvall mit maximal 67 männlichen und 55 weiblichen Bestattungen201. In Bankälla stehen acht Männer sechs Frauen gegenüber, dazu kommen fünf als weiblich und zwei als männlich unsichere Leichenbrände*0*. Ein Uberwiegen des männlichen Geschlechts ist also auch hier sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht absolut sicher. Für Stora Ro wiesen die Leichenbranduntersuchungen nur fünf männliche, dagegen fünfzehn weibliche Individuen aus. Nach den Angaben von Gejvall waren die Geschlechtsdeterminationen für elf Frauen und für drei Männer nicht völlig sicher*03; das Bild könnte sich also umkehren; aber hier wie anderswo ist die Zahlenbasis zu schmal. In Mellby by überwiegen ebenfalls die Frauen204. Geschlechtsbestimmungen bei Leichenbränden aus Skandinavien sind für die Jahrhunderte um Christi Geburt besonders schwierig, da die Reste der verbrannten 188 199
200 201 202 203 204
N.-G. Gejvall, a. a. O. 39 Taf. 5. N.-G. Gejvall, The Cremations at Vallhagar; The Skeletons and their Contribution to the Problems of Physical Anthropology in the Vallhagar Region during the Iron Age, in: M. Stenberger [Hrg.], Vallhagar. A Migration Period Settlement on Gotland/Sweden 2 (1955) 700—723; 724—765; ders., Westerhus (1960) 39 Taf. 5. E. Nylen, Die jüngere vorrömisdie Eisenzeit Gotlands (1956) 172. N.-G. Gejvall, Gravfältet pa Kyrkbacken (1948) 162 f. Tab. 5. K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, Bankälla odi Stora Ro (1954) 39. 69 ff. K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, a. a. O. 67. 77 ff. N.-G. Gejvall, Västergötlands fornminnesföreningens tidskrift 5 (1951) 60 ff. Tab. 1 : 1 2 Männer, 1 Mann (?), 16 Frauen, 2 Frauen (?).
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Knochen oft nur unvollständig aufgelesen und bestattet worden sind*05. Archäologische Geschlechtsbestimmungen können oft nicht viel helfen, denn viele Gräber sind beigabenlos, und oft überwiegt — bedingt durch die Beigabensitte — das für Frauengräber bezeichnende Beigabengut. Nadi allen diesen Angaben läßt sich ein lebendiges Bild von den Lebensverhältnissen in Altgermanien zeichnen, das auch für Skandinavien gelten muß und das sich viele Jahrhunderte hindurch kaum geändert haben kann. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen war gering; Greise waren selten. Den Hauptanteil der Bevölkerung bildeten Kinder und Jugendliche, obwohl deren Sterblichkeit — vor allem die der Säuglinge — sehr groß war. Trotz physiologisch bedingter größerer Sterblichkeit des männlichen Geschlechts war in allen Lebensaltern die Zahl der Männer größer. Es muß mit Kindesaussetzungen — insbesondere von weiblichen Neugeborenen — gerechnet werden. Die Sterblichkeit der jungen Frau im Kindbett war erschreckend groß und nach vorübergehendem Absinken stieg sie mit dem Lebensalter und der Zahl der Geburten wieder stark an. Neben der biologisch bedingten Unfruchtbarkeit mancher Ehen machte sich eine — mit der Zahl der Geburten wachsende — erworbene Unfruchtbarkeit der Frau in der Zahl der Kinder bemerkbar. Viele junge Männer waren zur Ehelosigkeit verurteilt oder verwitweten nach kurzer Ehe. Es gab aber auch viele junge Witwen, deren Männer gefallen oder im Streit erschlagen worden waren. Sie hatten gewiß eine gute Chance zur Wiederheirat. Kindesaussetzung, Säuglings- und Kindersterblichkeit dezimierten die Rate der Heranwachsenden von der Geburt an, und zwar so, daß die Zahl der ehereifen Herangewachsenen eines Geschlechts die der elterlichen Ehen nur wenig übertraf. Personen, welche sozial höher standen, lebten wohl unter geringfügig günstigeren Lebensbedingungen. Männer höheren Ranges hatten bei Verwitwung eine günstigere Chance der Wiederverheiratung. Sie konnten sich wohl auch neben der Hauptfrau mehrere Nebenfrauen leisten. Die allgemeinen Lebensbedingungen konnten im europäischen Norden allenfalls weniger günstig sein als weiter südlich, und gewiß konnte Skandinavien eher einen geringeren Bevölkerungsüberschuß haben als der kontinentale Teil Germaniens. Wohin sich dieser geringe Überschuß wandte, das ist zunächst ganz unklar. Daß er für eine Binnenkolonisation ganz oder teilweise verbraucht wurde, läßt sich zeigen (vgl. unten S. 405 ff.). Daß auch eine allgemeine nach dem Norden gerichtete Landnahme in Betracht kommt, läßt sich ebenso beweisen (vgl. unten S. 415 ff.). Es bleibt die Frage, ob dann noch Substanz für Bewegungen nach dem Süden vorhanden blieb. 205
N.-G. Gejvall, Gravfältet pä Kyrkbacken (1948) 168 ff. Tab. 1; ders., in: B. Stjernquist, Simris II (1961) 160 f.
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In diesem Zusammenhang darf natürlich auch das Verhalten der germanischen Bevölkerung des Festlandes nicht außer Betracht gelassen werden. Gab es im skandinavischen Norden einen Bevölkerungsüberschuß, so muß der des Südens jedenfalls normalerweise größer gewesen sein. Wo blieb dieser aber? Auch hier kommt Binnenkolonisation in Betracht, und sie läßt sich für verschiedene Epochen nachweisen (vgl. oben S. 288 ff.). Der Versuch, nach dem Süden auszubrechen, ist historisch vielfältig belegt, doch ist unwahrscheinlich, daß in j e d e m Falle ein Bevölkerungsüberschuß dahinterstand. Daß sidi kontinentale Germanen nach dem Norden wandten, ist nicht beweisbar, aber im Prinzip nicht auszuschließen. Wenn im germanischen Raum — audi im Norden — ein Bevölkerungszuwachs in geringem Maße nachweisbar ist, so bleibt jedenfalls unklar, wie die Kurve des Wachstums verlief. Beispiele aus der Merovingerzeit zeigen, daß friedliche Jahre das Bevölkerungswachstum förderten. Kriegerische Unruhen können es gebremst, überhaupt ganz verhindert haben. Wirtschaftlich günstige Jahre können das Wachstum begünstigt haben, wie wirtschaftliche Not es reduzieren konnte. Wirtschaftliche Notjahre konnten ganze Populationen vernichten. Die grönländischen Wikinger sind für den letztgenannten Fall das beste Beispiel. Technische Fortschritte mögen gelegentlich schon in frühen Zeiten geringe günstige Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung gehabt haben. Direkte Nachweise fehlen dafür. Was die Analyse antiker Nachrichten ergab, das bestätigt eine bevölkerungsstatistische Untersuchung durchaus: Der skandinavische Norden war keine vagina gentium und keine officina nationum. Uber die Dichte der Bevölkerung des Nordens sagen die paläodemographischen Betrachtungen allerdings nur indirekt, daß sie nicht groß gewesen sein kann. Sie sagen aber unmittelbar, daß der Norden keinen g r o s s e n Bevölkerungsüberschuß abgeben konnte. Wenn trotzdem größere Bevölkerungsmengen aus dem Norden aufgebrochen sein sollten, dann müssen ganze Landschaften entvölkert worden sein, und das müßte man erkennen können (vgl. oben S. 287. 294 f.). Die Brauchbarkeit paläodemographisdier Überlegungen mag in mancher Hinsicht gelegentlich Zweifel erlauben. Manche der sich anbietenden Folgerungen mögen nicht als ganz zwingend erscheinen, wenigstens bei flüchtiger Betrachtung. Ein Blick auf die literarischen Quellen räumt allerdings alle Zweifel und Bedenken aus. Natürlich könnte man auch gegen manche dieser Quellen und ihre Verwendung in diesem Zusammenhang Einwendungen erheben. Die isländischen und skandinavischen Sagas können nicht ohne text- und quel-
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lenkritische Überlegungen und nicht an Hand der deutsdien Übersetzung schlichtweg für a l l e kulturhistorischen Fragen benutzt werden. Aber es gibt Teile, bei denen man nicht nach eventueller Tendenz zu fragen braucht, wo die Frage nach der Historizität ohne Bedeutung ist und wo man bedenkenlos auch eine Übersetzung benutzen kann. Aber es gibt noch andere Einwände: Das geringe Alter dieser Literatur in der Form, in der sie schriftlich fixiert vorliegt, ist bekannt. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die heidnisch-religiösen Auffassungen, die insbesondere die Sagas spiegeln, oft Spuren von späten Entwicklungen erkennen lassen. Christliche Vorstellungen mögen gelegentlich schon das heidnische Glaubensgut durchsetzt haben und die Schlußredaktoren, jene, die das Jahrhunderte hindurch mündlich tradierte Erzählgut schließlich aufzeichneten, waren allesamt Christen und mögen manches mit den Augen des Christen gesehen und verzeichnet haben. Es kann aber als sicher gelten, daß die allgemeinen Lebensformen durch das Christentum zunächst wenig verändert wurden, und manche von den Angaben, die gerade hier interessieren, werden ausdrücklich als heidnisches, von den Christen verabscheutes oder bekämpftes Brauchtum bezeichnet. Es kann deswegen als sicher gelten, daß die Sagas für die allgemeinen Lebensverhältnisse viele uralte Gewohnheiten überliefern, deren hohes Alter nicht abweisbar ist; sei es, daß sie sie aus christlicher Sicht zu bekämpfen oder zu unterdrücken suchen; sei es, daß sie sich aus antiker oder christlicher Rechtsvorstellung nicht erklären lassen. Über manches, was die Bevölkerungsstatistiken aussagen, erfährt man allerdings auch aus der Literatur nichts oder zumindest wenig Greifbares. Anderes wird mit großer Nachdrücklichkeit bestätigt. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Erwachsenen läßt sich im allgemeinen mangels präziser Altersangaben nicht genau übersehen. In der nordischen Literatur fällt allerdings auf, wie selten drei aufeinanderfolgende Generationen — durch den Tod einzelner Ehepartner nicht dezimiert — gleichzeitig lebten. Nur selten wird berichtet, ein Mann habe das Greisenalter erreicht. Die Zahl der Geburten einer Frau bleibt normalerweise unbekannt, da in der Regel nur von den heranwachsenden oder den erwachsenen Kindern die Rede ist80*. Meist ist die Zahl der Kinder gering. Oft ist vom einzigen Sohn die Rede, oft von der Tochter als der einzigen Erbin eines reichen Mannes207. Nicht selten ist die Rede von Un806
207
Vgl. die Geschichte vom Skalden Egil, Kap. 31, in: Thüle 3 (21963) 92: „Skallagrim und Bera hatten ziemlich viele Kinder und anfangs starben sie immer. Da bekam sie einen Sohn. . . . Skallagrim und Bera hatten zwei Töchter... Dann bekamen Skallagrim und Bera nodi einen Sohn." Die Geschichte v. Skalden Egil, in: Thüle 3 (21963) 38 f.: Björgolf heiratet — in zweiter Ehe — Hildirid, die Erbin des reichen Högni; — Die Ge-
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fruchtbarkeit, Unfähigkeit zur Kohabitation oder von Ehen, in denen nicht einmal die Aufzucht eines einzigen Kindes gelang208. Von der Annahme an Kindesstatt wird oft und von der Aufzucht ausgesetzter Kinder durch Fremde, die selbst keine oder nur wenige Kinder hatten, wird gelegentlich berichtet. Obwohl es der Stolz des Germanen — insbesondere des begüterten Häuptlings — war, eine große Zahl von Nachkommen — möglichst Söhne — zu haben und mit ihnen zusammen öffentlich aufzutreten, gab es offensichtlich nur selten Gelegenheit, den Reichtum an Kindern ausdrücklich zu betonen. Geschieht es, dann stammen die Kinder oft von mehreren Frauen, und es handelt sich dann um Wohlhabende, die sich wiederholte Werbung um eine Frau finanziell leisten konnten209 oder denen es möglich war, sich eine Nebenfrau zu beschaffen210. Oft heiratete eine Frau mehrfach, da ihr Mann starb oder von einem Kriegszug nicht wiederkehrte211. Es ist bei solchen Wiederverheiratungen keine Geringschätzung der Frau zu erkennen. Nur die Verachtung der Nebenfrau und ihrer Kinder wird häufig deutlich. Oft nimmt der Gefolgsherr Einfluß auf die Heiratsabsichten einzelner seiner Gefolgsleute. Er schlägt vor, was ihm selbst nützlich werden könnte. Er verhindert gelegentlich Heiraten, und der Gefolgsmann bedarf der Erlaubnis des Herrn, um dessen Aufenthaltsort zu verlassen, wenn er zu heiraten gedenkt. Von der Möglichkeit zur Eheschließung der Unfreien und von deren Kinderzahl berichten die Erzählungen nur selten. Die Gesetze bestimmten gelegentlich, daß der Knecht ohne Einwilligung des Herrn nicht heiraten durfte (Lex salica 29, 4). Im allgemeinen galt — wie die literarischen Nachrichten erkennen lassen — der Mann mehr als die Frau. Deswegen wurde das neugeborene
208
210
211
schichte v. d. Leuten aus dem Lachswassertal, in: Thüle 6 ( 2 1 9 6 3 ) 6 5 : H r u t heiratet Unn, die Erbin des Mord Geige. — Außerordentlich selten werden zwei oder mehr Töchter als einzige Nachkommen eines Mannes genannt. Die Geschichte v. d. Leuten a. d. Lachswassertal, in: Thüle 6 ( 2 1 9 6 3 ) 5 0 f f . : Vigdis und Thord Goddi sind kinderlos. Die Geschichte v. d. Leuten a. d. Lachswassertal, in: Thüle 6 ( 2 1 9 6 3 ) 65 f.: H r u t heiratet nach der Scheidung von Unn noch zweimal und hat von den letzten beiden Frauen sechzehn Söhne und zehn Töchter. Vierzehn dieser Söhne wuchsen offenbar heran. Das hob der Dichter als Zeichen stolzer Größe und Kraft besonders hervor! Die Geschichte v. d. Leuten a. d. Lachswassertal, in: Thüle 6 ( 2 1963) 43 ff.: Höskuld, längst mit Jorunn verheiratet, brachte eine Sklavin als Nebenfrau aus Norwegen nach Island heim. Die Geschichte vom Skalden Egil, in: Thüle 3 ( 2 1 9 6 3 ) 4 0 f f . : Bard heiratet Sigrid, die Erbin des Sigurd, wird im Kampf tödlich verwundet und sein Waffengefährte Thorolf heiratet die Witwe. Harald Schönhaar tötet dann den Thorolf und Eyvind Lämmlein wirbt um Sigrid. Diese hat von Bard einen Sohn und von Eyvind einen Sohn und eine Tochter.
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Kind höher geschätzt, -wenn es ein Knabe war. Es war im germanischen Altertum — wie die literarischen Überlieferungen ausdrücklich bestätigen — keineswegs selbstverständlich, daß jedes Neugeborene zur Aufzucht bestimmt wurde. Dem Vater stand das Recht zu, das Kind, das vor ihn auf den Boden gelegt wurde, aufzunehmen oder auszusetzen212. Seine Entscheidung war für das Leben des Kindes mindestens ebenso wichtig wie der Geburtsakt selbst. Durch Namengebung und Wasserweihe brachte der Vater den Entschluß, das Kind aufzuziehen, zum Ausdruck und dadurch wurde gleichzeitig jede Möglichkeit späterer Aussetzung ausgeschlossen. Die Gründe für die Aussetzung waren teils eugenischer Art, teils religiös-ethischer Natur, hatten gelegentlich auch praktische oder ganz persönliche Gründe. Die Aussetzung hatte — besonders bei ärmeren Leuten — wohl auch oft wirtschaftliche Hintergründe. Kinder wurden ausgesetzt, wenn sie Mißbildungen aufwiesen oder wenn sie schwächlich waren und als nicht lebensfähig oder lebenswert angesehen wurden; auch wenn sie dem Aussehen nach „stammfremd" erschienen. Sie erfuhren gelegentlich dasselbe Schicksal, wenn der Mann sich im Augenblick der Geburt anschickte, auf Kriegsfahrt zu gehen, oder auch, wenn sich der Mann an seiner Frau rächen wollte. Mitunter wurde die Entscheidung über Annahme oder Aussetzung des Kindes verschoben, wenn bei einer besonders schweren Geburt nicht sofort übersehen werden konnte, ob die Mutter überleben würde. Das Kind einer Nebenfrau konnte ausgesetzt werden, wenn die Hauptfrau aus Eifersucht darauf bestand. Kinder wurden besonders auch dann ausgesetzt, wenn Anzeichen vorhanden waren, daß sie als Erwachsene Neidinge werden würden. Auch wurden sie wohl vom Vater nicht aufgenommen, weil ihm ein Traum 212
Jön Eiriksson, De expositione infantum apud veteres septentrionales, eiusque causis, als Anhang in: Gunnlaugs saga ormstungu (1775); J. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer 1 (41899) 627 ff.; R. Keyser, Nordmasndenes private Liv i Oldtiden, in: Efterladte Skrifter II, 2 (1867) 4—9; Kr. Kalund, Familielivet pä Island i den ferste Sagaperiode, in: Aarbager f. nord. Oldkyndighet och Historie 1870, 272—79; W. Platz, Geschichte d. Verbrechens d. Aussetzung (1876); vgl. K. Maurer, Die Wasserweihe d. germ. Heidenthumes, in: Abhandlungen d. Kgl. Bayer. Akad. d. Wissenschaften I, Cl. XV, 3 (1880) 175 bis 253; dazu K. Müllenhoffs Besprechung in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 7 (1881) 404—409; Wiederabdruck in: K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 632—638; vgl. auch K. von Amira, Grundriß d. germ. Rechts, in: H. Paul [Hrg.], Grundriß d. germ. Philologie 3 (21901) 114 f.; G. Merschberger, Die Rechtsstellung d. germ. Frau (1937) 102 ff. (dilettantisch); R. von Kienle, Germanische Gemeinschaftsformen (1939) 76 ff.; W. Grönbedi, Kultur u. Religion d. Germanen 1 (51954) 280. 299. 342; 2 (51954) 100. — G e g e n Annahme einer bes. Bedeutung der Kindesaussetzung: O. Klose, Die Familienverhältnisse auf Island (1929) 80 ff.
25 Hadunann, Goten und Skandinavien
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
verkündet hatte, daß von dem Kinde, sollte es aufwachsen, viel Unheil ausgehen werde. Es kam vor, daß der Bruder das Kind seiner Schwester aussetzen ließ, weil diese verführt worden und der Verführer der Rache der Familie entgangen war. Die Aussetzung aus wirtschaftlichen Gründen wurde zwar gebilligt, jedoch nicht als ein guter Ausweg betrachtet. Sie kam bei Hungersnöten und bei der ärmeren Bevölkerung wohl in Betracht, wurde jedoch bei wohlhabenden Eltern als unerhört angesehen. Aufzucht bereits ausgesetzter gesunder Kinder durch andere kam nicht nur in Notzeiten vor und war nidit selten. Das Aussetzen aus ethisch-religiösen Motiven mag die sozial Führenden, die an der Ausbildung von Recht und Gesetz in besonderem Maße beteiligt waren und deswegen ein besonders feines Gefühl für die sittlichen Erfordernisse hatten, besonders betroffen haben. Die wirtschaftlich-praktischen Gründe mögen bei den Ärmeren bzw. bei den Unfreien eine bedeutende Rolle gespielt haben. Wie weitverbreitet das Kindesaussetzen im Norden in heidnischer Zeit war, erkennt man daran, daß auf Island mit der Annahme des Christentums neben dem Essen von Pferdefleisch das Aussetzen von Kindern b e s o n d e r s nachdrücklich verboten wurde. Beides waren offenbar für die Christen die sichtbarsten und abscheulichsten Zeichen des Heidentums. Natürlidi wurde das Verbot bei den christlich gewordenen Germanen keineswegs sofort respektiert, vielmehr noch Jahrhunderte hindurch nicht oder dodi nur widerwillig beachtet. Audi die diristlichen Gesetze der Südgermanen müssen sich immer wieder mit dieser Sitte beschäftigen und belegen sie mit schweren Strafen. N u r die Aussetzung des mißgebildeten oder lebensschwachen Kindes wurde auch durch das Christentum noch lange gebilligt. Mädchen wurden, weil die Frau weniger galt, häufiger ausgesetzt als Knaben 213 . Ein isländischer Häuptling, der zum Thing aufbrach und dessen Frau ein Kind erwartete, befahl, wenn es in seiner Abwesenheit geboren werden sollte, es aufzuziehen, soferne es ein Knabe sein werde, und es auszusetzen, falls es ein Mädchen sei214. Die Vita s. Luidgeri berichtet von einer Frau, die das Kind ihres Sohnes aus Zorn darüber aussetzen ließ, daß ihm nur Töchter geboren worden waren 215 . Die nordischen Sagas, in denen für die Oberschicht häufig alle vorhandenen Kinder aufgezählt werden, zeigen deutlich ein Übergewicht des männlichen Ge213 214 215
J. Grimm, Deutsche Reditsaltertümer 1 (41899) 557. 629. K. Maurer, Ueber d. Wasserweihe d. germ. Heidenthumes (1880) 182. Altfridi Vita Sancti Liudgeri 6, in: Mon. Germ. Hist. SS. II edidit G. H. Pertz (1829) 406.
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schlechts. Wohl gab es Ehen, aus denen mehrere Knaben erwuchsen, ebenso einige, aus denen viele Knaben und etliche Mädchen entstammten, doch das waren Ausnahmen. Die Zahl der Ehen, in denen nur Mädchen geboren wurden, von denen mehr als eins überlebte, war gering. Man darf vermuten, daß oft nur ein erstgeborenes Mädchen am Leben gelassen wurde und daß weiteren nur dann eine Lebenschance blieb, wenn zwischendurch auch Knaben geboren worden waren. Eine Praxis der Kindesaussetzung, die in solcher Weise das weibliche Geschlecht benachteiligte, mußte Fortbestand und Fortentwicklung der Bevölkerung nicht unbeträchtlich beeinflussen. Die Werbung eines jungen Mannes um seine Braut war deswegen häufig ein Problem, das die Familie sehr beschäftigte. Vater und Tochter waren nicht selten geneigt, den Bewerber hochmütig zurückzuweisen, denn es war nicht schwierig, einen passenden Schwiegersohn bzw. Mann zu finden. Mandier junge Mann wurde in die Fremde getrieben, um sidi im Kampf Ruhm zu erwerben oder um durch Raub oder als geschickter Händler den für eine standesgemäße Ehe erforderlichen Reichtum vorweisen zu können. Mancher kam von solchen Fahrten und Abenteuern mit dem zurück, was er benötigte, um die gewünschte Ehe schließen zu können. Viele andere kehrten nicht zurück; sei es, daß sie in der Fremde eine andere Frau fanden; sei es, daß sie irgendwo im Kampf oder auf See den Tod fanden. Das letztere trug zur Lösung des ständigen Männerüberschusses wenigstens teilweise bei. Es ist unmöglich, aus den Sagas Aufschluß über alle die Zahl der Nachkommenschaft beeinflussenden Regeln des ehelichen Zusammenlebens zu gewinnen. Episoden deuten an, daß mancherlei Reglementierungen beachtet werden mußten. Nachweisbar ist Scheidung, wenn Unfähigkeit zur Kohabitation vorlag, auch auf Wunsch der Frau 21 '. Auch bei Kinderlosigkeit war Scheidung möglich. Insgesamt gab es einen ganzen Katalog von Scheidungsgründen817. Gewiß war Kohabitation Forderung des Mannes und Wunsch der Frau; aber es gab offenbar das Recht der Ausnahme. So verweigerte sich eine Isländerin ihrem Manne, nachdem am Tage ein blutiges Gefedit stattgefunden hatte, bis sie erfuhr, daß ihr Schwager seinen schweren Verletzungen erlegen war. Die Fehde mit dem Nachbarn galt wie ein Krieg, nach dessen unentschiedenem Abschluß die beiderseitigen Verluste gegeneinander aufgerechnet wurden. „Der Umstand, daß die beiden Wagschalen ebenmäßig mit Leichen beschwert sind, konnte nicht nur für den rechnenden Verstand der Parteiführer, nein, auch für eine leiden-
217
25»
Die Geschichte v. weisen Njal, in: Thüle 4 ( 2 1 9 6 3 ) 38. J . Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer 1 ( 4 1 8 9 9 ) 626.
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Die Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien um Christi Geburt
schaftliche Frauenseele Genugtuung und Trost bedeuten" 218 . Daraus ergaben sich Folgerungen für ihr eheliches Verhalten. Deutlich ist auch im Norden zu sehen, •wie oft die Ehen vorzeitig durch den gewaltsamen Tod des Mannes oder durch frühen Tod der Frau gestört wurden. Wiederheirat des Witwers war möglich. Auch die Witwe hatte gute Ausichten auf eine neue Ehe. Mehrfaches Wiederheiraten der verwitweten Frau — bis zu viermal — ist belegt. Der Grad möglicher Beschränkungen der Geburten und der Umfang der Dezimierung der Nachkommenschaft durch Kindesaussetzung und durch Säuglings- und Kindersterblichkeit läßt sich an Hand der literarischen Überlieferung schwer übersehen. Naturgemäß wird von Aussetzungen in der Regel nicht gesprochen. Da die Sagas von den bedeutenden Taten der Erwachsenen berichten, wird auch nur selten etwas vom Tode des Kindes oder des Heranwachsenden gesagt, die sich noch keinen Ruhm erworben hatten. Zudem berichten die Sagas von der Oberschicht, in der Möglichkeiten zur Kinderaufzucht günstiger waren, die allerdings auch durch Tod des jungen, noch unverheirateten Mannes im Kampf immer wieder besonders getroffen wurde. Denn erst erwarb sich der Jüngling Ruhm — und Reichtum — auf der Kriegsfahrt, und danach sah er sich nach einer passenden Frau um, denn seine Aussichten, eine Frau aus guter und reicher Familie zu gewinnen, hingen ja nicht nur vom Ansehen seiner eigenen Familie, sondern auch von seinem Tatenruhm und von seiner persönlichen Wohlhabenheit ab. Wenn in Södermanland dem durch ein Verbrechen Entmannten drei Kinder gebüßt werden mußten — zwei Söhne und eine Tochter —, so kann das als ein Anhalt dafür genommen werden, daß man normalerweise mit dem Aufwachsen von etwa drei Kindern zu rechnen pflegte21®. Dabei war das männliche Geschlecht offensichtlich in der Überzahl. Die Rechtsnorm gibt gewiß keinen Ansatz, um das Ausmaß der Bevölkerungsvermehrung zu errechnen, nicht einmal zu schätzen. Sie zeigt nur, daß die Bewohner des Nordens selbst mit keinen hohen Zahlen rechneten. Die paläodemographischen Daten, die die neuzeitliche Wissenschaft zur H a n d hat, bestätigen das, was die Bewohner des skandinavischen Nordens ehedem empfanden: Eine Bevölkerungsvermehrung großen Umfanges war aus mehreren Gründen nicht möglich. Die immerhin nicht ganz geringe Zahl von Geburten innerhalb einer Familie wurde durch eine Anzahl verschiedener Faktoren dezimiert. Die allgemeinen Lebensbedingungen des Nordens wirkten sich auf die Zahl der Uberlebenden ungünstiger aus als auf dem Kontinent. Ein Bevölkerungsüberschuß 218
A. Heusler, Das Strafrecht d. Isländersagas (1911) 94. J. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer 1 (41899) 558.
Probleme der archäologischen Quellen
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läßt sich weder für den Norden noch für den Kontinent exakt berechnen. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß die Zahl der Germanen nach und nach langsam gewachsen sein muß. Die Wachstumsrate, die denkbar ist, kann aber nicht sehr groß gewesen sein; im Norden geringer als im Süden. Paläodemographische Betrachtungen allein können es nicht klären, in welcher Weise sich eine langsame Vermehrung der Bevölkerung auf dem Kontinent und insbesondere im Norden auswirken konnte. Abwanderungen größerer oder auch kleiner Gruppen aus Skandinavien nach dem Süden oder auch umgekehrt könnten sich im archäologischen Fundgut durchaus abzeichnen, müssen es aber nicht. Eine wachsende Bevölkerung, die im Lande blieb und sich durch Binnenkolonisation Neuland sdiuf, wäre jedoch erkennbar. Auch ein umgekehrter Vorgang — langsame Aufsiedlung bislang unbesiedelter Gebiete des Nordens — müßte faßbar sein, und ist es auch. Man denke an Island, Grönland und Winland. Über die Bevölkerungsveränderungen und -bewegungen ergibt sich aus den paläodemographisdien und den Sagaberichten zwar manches, aber nicht das Gewünschte. Es ist zweckmäßig, bevölkerungsstatistische Beobachtungen durch siedlungsgeschichtliche Untersuchungen zu ergänzen. Sie sind geeignet, das Bild von den Lebensverhältnissen im Norden zu erweitern. 5. Zur Siedlungsgeschichte Skandinaviens in den um Christi Geburt
Jahrhunderten
Bis in die Gegenwart hinein hat sich die archäologische Erforschung des skandinavischen Nordens hauptsächlich auf die Altertümer gerichtet. Oft beanspruchte deren kulturgeschichtliche Stellung das Hauptinteresse, oder man beschränkte sich gar auf die katalogartige Vorlage des vorhandenen Materials. Kontinentale Einflüsse auf Denk- und Arbeitsweise waren zeitweise und besonders in Schweden stark. Die Reaktion dagegen war aber in der jüngeren Vergangenheit scharf. Sie hat jedoch nicht immer dazu beigetragen, neue Gedanken zu entwickeln oder neuartige Fragen zu stellen. Oft fragt man gar nicht mehr; man stellt nur noch fest. Selbst die neueren zusammenfassenden Darstellungen zur skandinavischen Archäologie sind in erster Linie altertumskundlich und statistisch orientiert1. Siedlungsgeschichtliche Untersuchungen, die großräumige Zusam1
H. Arbman, Zur Kenntnis d. ältesten Eisenzeit in Schweden, in: Acta Ardi. 5 (1934) 1—48; C.-A. Moberg, Zonengliederungen d. vorchristlichen Eisenzeit i. Nordeuropa (1941); J. Brandsted, Danmarks Oldtid 1—3 ( 2 1957—60); M. Stenberger, Sweden (1962); ders., Det forntida Sverige (1964); A. Hagen, Forhistorisk tid og vikingtid, in: Värt folks historie (1962); E. Kivikoski, Finlands förhistoria (1964).
390
Zur Siedlungsgeschidite Skandinaviens um Christi Geburt
menhänge untersuchen, sind selten®. Wertvolle Detailuntersudiungen liegen vornehmlich für Norwegen vor 3 , einige auch für Schweden4. Für siedlungsgeschichtliche Fragen helfen oft aber selbst Materialstatistiken weiter 5 . Es wäre vermessen zu glauben, die Probleme skandinavischer Siedlungsgeschidite könnten schon durch Zusammenfassung des vorhandenen Schrifttums und aus größerer räumlicher Distanz im Rahmen eines knappgehaltenen Kapitels erschöpfend dargestellt werden. Eine Zusammenfassung und Behandlung im Detail bleibt Aufgabe der skandinavischen Forschung. Für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Goten und Skandinavien, auf deren Untersuchung hier — wie überall — alles zielt, ist es allerdings nur nötig, auf bestimmte und teilweise sehr umgrenzte Probleme der skandinavischen Siedlungsgeschichte einzugehen. Es ist hier wiederum erforderlich, paradigmatisch — wohlgemerkt aber nicht eklektisch — vorzugehen. Mancherlei interessante neuere Fragestellungen bleiben daher außer Betracht". Bei siedlungsgeschichtlichen Untersuchungen kommt es auf die Kenntnis ökologischer Faktoren an. Die Bodenart und das Klima spielen eine Rolle. Letzteres kann und konnte sich auch ehedem ändern. Aber auch der Siedlungsraum als Landschaft ist von Bedeutung; er ist von Natur aus gegeben und im wesentlichen unveränderlich. Der wirtschaftliche Nutzwert eines Raumes kann sich natürlich wandeln, sei es durdi Wandel des Klimas; sei es durch die Bewirtschaftung selbst, d. h. etwa durch Verarmung des Bodens; sei es durch Veränderung der Wirtschaftsweise; sei es durch Zusammen- oder Gegeneinanderwirken verschiedener dieser Fak2
Bj. Hougen, Fra seter til gärd. Studier i norsk bosetningshistorie (1947). H. Sdietelig, Vestlandske graver fra jernalderen (1912); ders., Den forromerske jernalder i Norge, in: Oldtiden 3 (1913) 117—143; Bj. Hougen, Grav og gravplass. Eldre jernalders gravskikk i 0stfold og Vestfold (1924); S. Grieg, Hadelands eldste bosetningshistorie (1926); A. W. Bregger, Nord-Norges bosetningshistorie (1931); S. Grieg, Listas jernalder (1938); ders., Vestfolds oldtidsminder (1943); Sv. Marstrander, Hovedlinjer i Trendelags forhistorie, in: Viking 20 (1956) 1—69; Th. Sjövold, The Iron Age Settlement of Arctic Norway (1962). 4 W. Slomann, Medelpad og Jämtland i eldre jernalder, in: Universitetet i Bergen Ärbok 1948 hist.-ant. rekke 2 (1950) 1—78; E. Nylin, Bebyggelseproblem i Nordens förhistoria, in: Tor 8 (1962) 169—185; G. Arwidsson, Bebyggelsearkeologi i Mälarlandskapen u. Bebyggelsearkeologisk forskning, in: Tor 10 (1964) 21—28 u. 29—32; Sv. Jansson, Högfjällundersökningar, in: Tor 10 (1964) 36—44; Bj. Ambrosiani, Fornlämningar odi bebyggelse, Studier i Attundalands och Södertörns förhistoria (1964). 5 I. Serning, Dalarnas järnalder (1966). • E. Sprockhof, Store Dal, in: Bonner Jahrbücher 158 (1958) 295—329. 3
Probleme der archäologischen Quellen
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toren. Änderungen der ökologischen Faktoren können zu soldien Wandlungen der Wirtschaftsform führen. Sie können natürlich auch andere Ursachen haben, die sich oft schwer erfassen lassen. Von allen diesen verschiedenen Faktoren ist die Ökologie noch am ehesten kalkulierbar. Sie scheint sich im wesentlichen tiefgreifender v o r der Epodie gewandelt zu haben, die im Zusammenhang mit der Frage nach der Entwicklung der nordischen Germanen und der Herkunft der Goten näher betrachtet werden sollte. In der eigentlichen vorrömischen Eisenzeit und den ersten nachchristlichen Jahrhunderten scheint sich die natürliche Umwelt der Germanen nur in verhältnismäßig geringem Umfange verändert zu haben. Man darf auch wohl annehmen, daß sich die Wirtschaftsweise in diesen Jahrhunderten nicht g r u n d l e g e n d wandelte. Ackerbau und Viehzucht waren die Grundlage des Wirtschaftslebens. In diesen beiden Bereichen mögen sich die Schwerpunkte gelegentlich verschoben haben. Das ist in diesem Zusammenhang nicht so sehr wesentlich. Wichtiger ist es, daß die Wirtschaftsweise eine durch vorhandene Arbeitskräfte begrenzte oder durch die Ertragfähigkeit geforderte Bodenfläche verlangte, Acker für das Getreide, Brache, Wiese oder Waldweide für das Vieh. Mehr als das, was zum Leben notwendig war, brauchte nicht bebaut zu werden. Das bebaute Gebiet setzte für die Größe der Bevölkerung eine Grenze; wenn diese überschritten war, mußten neue Lösungen gefunden werden. Eine Bevölkerungsvermehrung — war sie vorhanden — mußte sich unter solchen Bedingungen durch den Ausbau bestehender Siedlungen und durch Wachsen von deren Bevölkerungszahl, durch eine Binnenkolonisation in Gegenden, die bislang nicht in gleicher Weise landwirtschaftlich genutzt worden waren, oder durch Abwanderungen in die Ferne niederschlagen. Man wird, wenn Ausbau bestehender Siedlungen oder Binnenkolonisation nachweisbar sind, Abwanderung nicht ausschließen dürfen; doch darf man, wenn sich zeigen läßt, daß der geringe Bevölkerungsüberschuß, mit dem man im Norden in jenen frühen Zeiten rechnen muß, sich im Landausbau niederschlägt, annehmen, daß in solchem Falle Auswanderung in die Ferne eine untergeordnetere Rolle gespielt haben dürfte. Bei Untersuchungen, die den Umfang des besiedelten Raums erfassen sollen, sind — solange Grabfunde Grundlage der Untersuchungen sind — Veränderungen der Grabsitte, die sich in der Zahl der Gräber oder Gräberfelder niederschlagen müssen, gebührend in Rechnung zu stellen. Wie überall gilt hier die Regel, daß nur Gleichartiges verglichen werden darf, wenn man mit verläßlichen Ergebnissen rechnen möchte. Ein Beispiel möge das beleuchten: M. Stenberger wies im Jahre 1933
392
Zur Siedlungsgeschichte Skandinaviens um Christi Geburt
Abb. 48.
Grabfunde auf der Insel ö l a n d aus der jüngeren vorrömischen Eisenzeit (48 A), der älteren Römischen Kaiserzeit (48 B) und der jüngeren Römischen Kaiserzeit (48 C) (nach M. Stenberger) — Forschungsstand 1933. Ein Vergleich der Abb. 48 A und 48 B zeigt den beginnenden Landausbau um und nadi Chr. Geb. Abb. 48 C weist gegenüber Abb. 48 B eine Ausdünnung der Funde aus, was jedoch keine Dezimierung der Bevölkerung, sondern eine Änderung der Bestattungssitten anzeigt.
für die Insel öland 179 Grabanlagen der älteren Römischen Kaiserzeit nach (Abb. 48 B), hingegen nur 42 Gräber für die jüngere Kaiserzeit, davon 39 genauer datierbar (Abb. 48 C); 20 gehören seiner Ansicht nach in den älteren, 19 in den jüngeren Abschnitt der jüngeren Kaiserzeit7. Stenberger schloß daraus, daß sich die Siedlungsverhältnisse innerhalb der jüngeren Kaiserzeit kaum verändert hätten; ein B r u c h liege aber zwischen der älteren und jüngeren Kaiserzeit8. Im allgemeinen seien gegen Ende der älteren Kaiserzeit die alten Bestattungsplätze aufgegeben wor7 8
M. Stenberger, ö l a n d under äldre järnalder (1933) 14 ff. 56. M. Stenberger, a. a. O. 56 f.
Probleme der archäologischen Quellen
393
den. Die Gräber seien nunmehr in der Nähe der Höfe angelegt worden. Aus der geringeren Anzahl der Gräber schloß Stenberger aber auch auf eine Auswanderung zum Kontinent hin'. Vergleicht man nun aber die Verbreitungskarten der Abb. 48 B u. C, so läßt sich erkennen, daß sich der besiedelte Raum seinem Gesamtumfang nach nicht sehr stark verändert hat. Weit im Norden findet sich gar bei Gillberga im Persnäs sn.10, in einer Gegend also, die vorher keine rechten Spuren einer Besiedlung zeigte, ein einzelner Grabfund. Offenbar hatte sich mit dem Beginn der jüngeren Kaiserzeit nicht nur die Lage der Bestattungsplätze, sondern auch die Bestattungssitte geändert. Es war hinfort nicht mehr üblich, die Toten im bisherigen Umfange mit Beigaben auszustatten und die Gräber so anzulegen, daß sie sich heute finden und identifizieren lassen. Für den Betrachter von heute gibt das ein Bild, dessen Ausdeutung man sich gründlich überlegen muß! Es sieht aus, als habe sich die Entwicklung der Grabsitte, wie sie in der jüngeren Kaiserzeit begann, auch später noch fortgesetzt. Stenberger konnte für die Epoche, die er ältere Völkerwanderungszeit nannte, nur zehn Grabfunde nachweisen, die alle in den frühen Abschnitt dieser Zeit zu gehören scheinen. Drei oder vier Grabfunde datierte er in seine jüngere Völkerwanderungszeit 11 . Für die folgenden Epochen gibt es keinen einzigen Grabfund; erst in der Wikingerzeit wird es wieder anders. Dennoch sind Zeugnisse anderer Art vorhanden, die für die Völkerwanderungszeit eine dichte Besiedlung bezeugen, die Siedlungen selbst12, von denen man aus den vorhergehenden Epochen so gut wie keine Spuren besitzt. Trotz allem nahm Stenberger eine Auswanderung gegen Ende der älteren Kaiserzeit an und meinte sogar, diese könne mit einer anderen großen Wanderung zusammenhängen, der der Goten, deren Wohnsitze er in Ostpreußen annahm 13 . Es ist unschwer festzustellen, woher in diesem Zusammenhang der Gedanke an Ostpreußen kam (vgl. oben S. 224). Wichtiger ist, daß Folgerungen, wie sie Stenberger zog, methodisch falsch 9 10 11
12 13
M. Stenberger, a. a. O. 57. M. Stenberger, a. a. O. 45. M. Stenberger, a. a. O. 62 ff. 68. — Bei der Verwendung der Begriffe Völkerwanderungszeit durch Stenberger ist zu bedenken, daß es für Schweden derzeit noch kein sicheres Chronologiesystem für die Zeit nach dem vierten nachchristlichen Jahrhundert gibt. Stenberger ist Schüler von S. Lindquist und benutzt dessen Chronologie, die teilweise auf falschen Prämissen beruht. Stenbergers Völkerwanderungszeit scheint die Zeit vom fünften bis ins achte Jahrhundert hinein zu umfassen. Die von ihm aufgeführten älteren Funde scheinen ins fünfte, die jüngeren evtl. erst ins achte Jahrhundert zu gehören. M. Stenberger, a. a. O. 86 ff. Taf. II, 4. M. Stenberger, a. a. O. 57.
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Zur Siedlungsgeschichte Skandinaviens um Christi Geburt
sind. Änderungen der Zahl von Gräbern oder Gräberfeldern sagen für sich nicht immer etwas Verbindliches aus. Das Beispiel öland warnt — darauf kommt es hier an — vor einer vordergründigen Beurteilung des Fundstoffs. Wenn man zur Behandlung der Siedlungsverhältnisse im Norden ansetzt, ist es — das soll das Beispiel ö l a n d ferner zeigen — nicht nur nötig, paradigmatisch anstatt eklektisch vorzugehen, sondern vor allen Dingen wichtig, daß die gewählten Beispiele für das Ganze annähernd signifikant sind. Das gilt für ö l a n d allenfalls für die Zeit um Christi Geburt. Skandinavien ist wohl eine kompakte Landmasse, aber es ist keine kulturgeographische Einheit. Im Gegenteil, das Hochgebirge im Landesinnern, das besonders im Westen nahe an die Küste tritt, zergliedert den Raum. Der norwegische Westen hat ein anderes Gesicht als große Teile des schwedischen Ostens. Kulturgeographisch sind die vorgelagerten Inseln — Bornholm, Öland und Gotland — wieder anders orientiert als das schwedische Festland. Die Vorstellungen der neueren Zeit von der Siedlungsgeschidite Skandinaviens in der Mitte des letzten Jahrtausends vor Christi Geburt sind sehr stark von R. Sernanders und A. Blytts Klimatheorie geprägt worden14, die übrigens schon Kossinna fasziniert hat. Die spätere Forschung hat die Vorstellungen von der Verschlechterung des Klimas, die sich im Verlaufe des letzten vorchristlichen Jahrtausends vollzogen haben soll, durch eine große Zahl von regionalen Untersuchungen im wesentlichen bestätigt, insbesondere aber auf Intensität, örtlichen Verlauf und zeitliche Differenzierung hin untersucht15. Daß sich Änderungen des Kli14
15
R. Sernander, Die schwedischen Torfmoore als Zeugnis postglazialer Klimasdiwankungen, in: J. G. Andersson [Hrg.], Die Veränderungen des Klimas seit dem Maximum der letzten Eiszeit (1910); A. Blytt, Essay on the Immigration of the Norwegian Flora during Alternating Rainy and Dry Periods (1876); ders., Die Theorie d. wechselnden kontinentalen u. insularen Klimate, in: Bot. Jahrb. 2 (1881) 1—50 u. 177—184. L. von Post, Ur de sydsvenska skogarnas regionale historia under postarktisk tid, in: Geol. för. i Stockholm förhandl. 46 (1924); R. Nordhagen, De senkvartaere klimavekslinger i Nordeuropa og deres betydning for kulturforskning (1933); F. Firbas, Spät- und nadieiszeitliche Waldgeschidite Mitteleuropas nördlich d. Alpen 1—2 (1949—52); H. Schmitz, Klima, Vegetation u. Besiedelung, in: Ardiaeologia geogr. 3 (1952) 15—22.
Abb. 49.
Die Besiedlung Norwegens in „vorrömischer" Zeit, dargestellt an Hand der Grabfunde (nach H. Schetelig, J. Petersen, J. St. Münch, A. W. Bregger, S. Grieg mit Ergänzungen). Die Karte umfaßt die Funde der letzten drei bis vier Jahrhunderte v. Chr. Geb., aber auch Funde aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert, denn der frühe Abschnitt der älteren Römisdien Kaiserzeit, der auf dem Kontinent deutlich ausgeprägt ist, ist in Norwegen nicht klar nachweisbar.
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Zur Siedlungsgeschichte Skandinaviens um Christi Geburt
mas auf den Menschen und seine Wirtschafts- und Lebensweise auswirkten, ist mittlerweile durchaus sichtbar, doch ist zeitweise die Wirkung der Klimaveränderungen überbetont worden". Wirklich strittig kann jetzt allenfalls noch sein, w i e der Mensch auf die ökologischen Veränderungen reagierte, denn ihm standen durchaus unterschiedliche, ja konträre Reaktionsmöglichkeiten zu Gebote. In Norwegen ist soviel klar, daß es für die ältere Eisenzeit nur außerordentlich spärliche Anzeichen für eine Besiedlung des Inlandes durch eine Ackerbau oder Viehzucht treibende Bevölkerung — also Germanen — gibt17 (Abb. 49). Der ganze Norden des Landes von Trandelag an zeigt für die Jahrhunderte vor Christi Geburt nichts, was auf eine bäuerliche Besiedlung hinweisen könnte. Der Raum zwischen Trandelag im Norden und Hordaland im Südwesten war fast siedlungsleer. Die meisten Funde, die auf Siedlungen verweisen, stammen aus dem Süden und aus küstennahen Gebieten. Sie sind auch dort ganz ungleich verteilt. Sie konzentrieren sich in den Landschaften 0stfold 18 und Vestfold19 beiderseits des Oslo-Fjords (Abb. 59), auf Lista20 im südlichen und Jaeren in Rogaland (Abb. 66) im südwestlichen Norwegen21. Schon Hordaland war für diese Siedler Peripherie und Trandelag muß für sie gewissermaßen am Ende der Welt gelegen haben22. Hier deutet übrigens der Grabritus der jüngeren Kaiser- und der Völkerwanderungszeit, der Traditionen der vor16
Gegen Einwirkungen der Klimaveränderungen auf die Kultur: O. Möllerop, Gard og gardssamfunn i eldre jernalder, in: Stavanger Museums Arbok 67 (1957) 21—54.
17
H. Schetelig, Oldtiden 3 (1913) 117—145; A. Björn, Fra vor «ldste jernalder, in: Bergens Meseums Aarbok 1926, hist.-ant. raskke Nr. 3 (1927) 1—42; ders., Nye fund fra ferromersk jernalder, in: Universitetets Oldsaksamling Arbok 2 (1928) 5—14; Bj. Hougen, Fra seter tili glrd (1947) 103 ff.; E. Hinsdi, Keltertidsproblemet i nordisk arkeologi, in: Nordisk tidskrift N. S. 26 (1950) 201—212; ders., Förromersk jernalder i Norge, in: Finska fornminnesföreningens tidskrift 52 (1953) 51—71.
18
A. W. Bragger, 0stfolds oldtidsminner (1932); Bj. Hougen, Grav og Gravplass. Eldre jernalders gravskikk i 0stfold og Vestfold (1924).
19
S. Grieg, Vestfolds minnesmerker, in: Universitetets Oldsaksamling Arbok 1938—40 (1941) 1—65; ders., Vestfolds Oldtidsminner (1943).
20
H. Gjessing, Vest-Agder i forhistorisk tid, in: Norske bygder 2 (1925) 34 bis 75; S. Grieg, Jernaldershus pa Lista (1934).
21
H. Schetelig, Vestlandske graver fra jernalderen (1912); H. Schetelig, Nye jernalderfund paa Vestlandet, in: Bergens Museums Aarbok 1916—17 hist.ant. raekke 2 (1919) 1—86; J. Petersen, Bosetningen i Rogaland i folkevandringstiden, in: Viking 18 (1954) 1—28.
22
Sv. Marstrander, Trandelag i forhistorisk tid (1954) 78; ders., Hovedlinjer i Trandelags forhistorie, in: Viking 20 (1956) 33.
Probleme der archäologischen Quellen
397
römischen Eisenzeit fortzusetzen sdieint, stärker auf ältere, bislang unbekannte Grabplätze 23 , als die spärlichen Funde selbst. Die oft behauptete starke Reduzierung des in der vorrömischen Eisenzeit besiedelten Raumes gegenüber der spätbronzezeitlichen Siedlungsfläche84 läßt sich für Norwegen bei kritischer Analyse der Fundsituation nicht mehr ganz im alten Sinne aufrecht erhalten 25 . Eine gewisse Verringerung des landwirtschaftlich genutzten Raumes ist jedoch u n b e s t r e i t b a r . Audi scheinen gewisse Änderungen der Wirtschafts- und Siedlungsweise erkennbar zu sein. Die Vorgänge, die der sogenannten Klimaverschlechterung unmittelbar folgten, müssen Schweden und das westliche Ostseegebiet in ähnlichem Maße betroffen haben. Die Reaktionen der Menschen mögen verschieden gewesen sein. Wie Bj. Hougen betonte, ist es unmöglich, für Norwegen auf Grund der Fundverteilung Bevölkerungszahl und -dichte in der vorrömischen Eisenzeit statistisch zu ermitteln 28 . Man muß sich darauf beschränken, den g e r i n g e n Umfang der besiedelten Landstriche und deren verhältnismäßig d ü n n e Besiedlung zu betonen. Eine Bevölkerungsabnahme gegen Ende der Bronze-, zu Beginn oder früh im Verlaufe der älteren Eisenzeit läßt sich nicht eigentlich erkennen, doch auch nicht einfach ausschließen; auch dürfen nicht ohne weiteres Entvölkerung und Massenauswanderungen allein auf Grund der Klimaveränderungen und Verkleinerung des Siedlungsraums postuliert werden. Es ist am wahrscheinlichsten, daß sich die Bevölkerung nach und nach — subjektiv sich selbst vielleicht gar nidit recht bewußt — den Änderungen des Klimas in der Art des Ackerbaus und der Form der Viehhaltung anpaßte. Dabei konnte sich auch die Bevölkerungszahl reduzieren. Die vorher offenbar stärker fluktuierende Art der Wirtschaftsform mag aufgegeben worden sein. Die kühlen Winter führten möglicherweise zu einer gewissen Konzentrierung der Ansiedlung in den klimatisch noch immer günstigsten Gebieten an der Küste, die schon seit langem am dichtesten besiedelt waren. Einzelheiten müssen in größeren Zusammenhängen gesehen werden (vgl. unten S. 415 ff.). Das gegenüber großen Teilen des Kontinents spärliche Fundgut der vorrömischen Eisenzeit Norwegens läßt sich teilweise chronologisch glie2
» Th. Petersen, Meldalsfundene, in: Norske Oldfund 4 (1923). H. Shetelig, Det norske folks liv og historie 1 (1930) 88 ff.; auch: H. Jankuhn, Klima, Besiedlung u. Wirtschaft d. älteren Eisenzeit i. westl. Ostseebedcen, in: Archaeologia geogr. 3 (1952) 24: „Verschiebung der nördlichen Grenze menschlicher Ansiedlung um mehrere Breitengrade nach Süden." 25 J. Boe, Smaa meddelser fra Bergensdistriktet, in: Bergens Mus. Ärbok 1924/ 1925 hist.-ant. rskke 1 (1926) 17; A. Björn, Fra vor aeldste jernalder, in: Bergens Mus. Ärbok 1926 hist.-ant. raekke 3 (1927) 25; Bj. Hougen, Fra seter til gard (1947) 104. 28 Bj. Hougen, a. a. O. 103 ff. 24
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Zur Siedlungsgeschichte Skandinaviens um Christi Geburt
dern27. Dadurch ergibt sich aber kein klareres, bewegteres Bild von den Siedlungsvorgängen. Die Zahl der Funde ist mengenmäßig zu gering. Es kann als ziemlich sicher gelten, daß das norwegische Fundgut der ersten Jahrzehnte nach Christi Geburt gegenüber der vorhergehenden Zeit seinen Charakter kaum änderte. Geschlossene Funde, die zeitlich H . J. Eggers' Stufe Bi entsprechen28, sind selten. Die ältere Kaiserzeit beginnt im fernen Nordwesten im wesentlichen mit Fundgut der Stufe B2 2 '. In Schweden sind Spuren der Klimaveränderungen um die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends deutlich30. Was die Umweltveränderungen für den Menschen bedeuteten und wie er darauf reagierte, das alles ist auch hier jedoch nicht klar zu übersehen. Wenn es eine Ackerbau treibende Bevölkerung war, die an der Küste entlang gegen Ende der Bronzezeit bis weit nach Norrland hinauf wohnte und dort zahlreiche Steinhaufengräber anlegte31, und wenn diese Bevölkerung aus dem Süden gekommen sein sollte, wenn ferner ihre Kultur trotz der Beigabenarmut ihrer Gräber nichts anderes wäre als ein Ableger der südskandinavischen Kultur der jüngeren Bronzezeit, dann könnte sie wohl von der Änderung des Klimas stark betroffen worden und zur Abwanderung nach dem Süden veranlaßt worden sein. Das würde dann allerdings nicht nur für die Bewohner Nordschwedens, sondern müßte auch für die des finnischen Küstenbereichs gelten, denn die Kultur der schwedischen kuströser und die der finnischen kummelgravar32 ist gleichartig und dürfte einer einheitlichen Bevölkerung angehören, von der ein Zweig auch nach Norwegen" 27
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33
Vgl. R. Hadimann, Die Chronologie d. jüngeren vorrömisdien Eisenzeit, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 229 f. H. J. Eggers, Zur absoluten Chronologie d. röm. Kaiserzeit im Freien Germanien, in: Jahrbuch d. Röm.-Germ. Zentralmus. Mainz 2 (1955) 196 ff. Abb. 1. 5 u. 6. Bj. Hougen, Grav og Gravplass. Eldre jernalders gravskikk i 0stfold og Vestfold (1924) 21 ff. G. Lundqvist, Tidvattnet och försumpningsetapperna, in: Geol. föreningen i Stockholm, förhandlingar 54 (1932) 305—309; T. Nilsson, Die pollenanalytische Zonengliederung d. spät- und postglazialen Bildungen Sdionens, in: Geol. föreningen i Stockholm, förhandlingar 57 (1935) 385—562; vgl. dazu H. Schmitz, Archaeologia geogr.3 (1952) 15; M. Stenberger, Det forntida Sverige (1964) 319 ff.; T. Bergeron, M. Fries, C.-A. Moberg u. F. Ström, „Fimbulvinter", in: Fornvännen 51 (1956) 1—18. M. Stenberger, a . a . O . 307ff.; E. Baudou, Till fragan om de norrländska kuströsenas datering, in: Fornvännen 54 (1959) 161—176. C. F. Meinander, Die Bronzezeit in Finnland, in: Finska fornminnesföreningens tidskrift 54 (1954) 92 ff.; E. Kivikoski, Finlands förhistoria (1964) 91 ff. Abb. 86. K. Rygh, En gravplads fra broncealderen (1906); A. Bjarn, To nordenfjelske markfunn fra den aeldste jernalder (1935) 23.
Probleme der archäologischen Quellen
399
reichte. Die große Beigabenarmut erschwert indes die Einordnung dieser Gräber und ein Erfassen der Stellung der ganzen Kultur. Mit dem Beginn der älteren Eisenzeit verschwindet jedenfalls die Kultur der kuströser und der kummelgravar im Norden, aber auch der Süden wird fundarm®4. Wohin soll sich diese Bevölkerung, wenn sie abgewandert sein sollte, gewandt haben? Auswanderung nach dem Osten, wo die ältere Eisenzeit fast noch fundarmer ist als in Schweden selbst, kommt kaum in Betracht35. Allenfalls für die Zeit vor der Änderung des Klimas, für die jüngere Bronzezeit, könnte man expansive Bewegungen nach dem Norden und dem Osten vermuten". Es ist kaum denkbar, daß diese sich noch bis in die älteste Eisenzeit hinein erstreckten37, denn der eisenzeitliche Befund zeigt — wenn er sich überhaupt bevölkerungsgesdiichtlich ausdeuten läßt — keine expansive, allenfalls eine regressive Bewegung38. Eine eigentliche Kontinuität zwisdien jüngster Bronzezeit und älterer Eisenzeit ist in Schweden nur an wenigen Stellen nachweisbar. Die Gründe dafür sind gelegentlich auf dem Kontinent gesucht worden. Ein allgemeines Handelsembargo hätte Schweden von seinen alten Rohstoffquellen abgeschnitten3'. „Da man wenigstens in Skandinavien zu jener Zeit nicht verstand, Eisen in größerem Umfang herzustellen, mußte das Metall von Stein und weniger dauerhaften Stoffen wie Horn, Holz usw. ersetzt werden. Die Bronzezeit, . . . , die vielleicht nur eine Kultur der wohlhabenden Bevölkerungsschichten gewesen ist, brach zusammen und eine neue Holzsteinzeit beherrschte jedenfalls den größten Teil unseres Landes", meinte H. Arbman40, und E. C. G. Graf Oxenstierna behauptete: „Die nordische Bronzetechnik und -kunst ist vor allem am germanischen Eisenschmied zu Grunde gegangen"41. Er erklärte das Fehlen der südlichen Bronze damit, daß die modischen Wünsche für den Schmuck ausschließlich dem neuen Metall gegolten hätten, daß der Norden, der über den neuen Rohstoff selbst verfügte, ganz einfach den Süden nicht mehr brauchte, und 34
35 38
37 38 39
40 41
H. Arbman, Zur Kenntnis der ältesten Eisenzeit in Schweden, in: Acta Arch. 5 (1934) 1 ff. E. Kivikoski, Finlands förhistoria (1964) 110 ff. B. Nerman, Yngre bronsäldern — en första svensk vikingatid, in: Fornvännen 49 (1954) 257—285 dachte so. B. Nerman, a. a. O. 282. M. Stenberger, Det forntida Sverige (1964) 320 f. S. Lindquist, Den keltiska Hansan, in: Fornvännen 15 (1920) 113—135 wollte den Niedergang der nordischen Kultur einer hypothetischen keltisdien Handelsorganisation, der „keltischen Hansa", zuschreiben. — Ebenso noch H. Arbman, Acta Arch. 5 (1934) 46 ff. H. Arbman, a. a. O. 48. E. C. G. Graf Oxenstierna, Die ältere Eisenzeit in östergötland (1958) 67.
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daß der Eisenschmied sich in einem „ Anfängerstadium" befand 41 . Keine dieser sidi kräftig widersprechenden Erklärungen kann die Erscheinungen aber wirklich befriedigend verständlich machen. Die wenigen spätestbronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Grabfunde Schwedens liegen fast ausschließlich im Süden und zudem im küstennahen Gebiet oder auf den Inseln. „Es liegt nahe zu glauben, daß dies in gewisser Beziehung auf einer Fehldatierung verschiedener Fundgruppen beruht und daß die Bronzezeit innerhalb gewisser Gebiete länger gedauert hat als weiter südlich . . s o versuchte H . Arbman das Phänomen zu erklären4*. Ähnlichen Überlegungen neigte auch B. Stjernquist zu44. So könnte es, muß es aber nicht gewesen sein. Es ist nötig, die Kultur als Ganzes zu betrachten und ihre Struktur in Betracht zu ziehen, und man darf den fernen Norden nicht isoliert vom Kontinent sehen. Sicher ist es richtig, daß das Eisen künstlerisch nicht jene technischen Voraussetzungen wie die im Norden gewohnte Bronze bietet. Hätte sich aber die skandinavische Bevölkerung nicht — wie die des Kontinents — mit einfachen Schmucksachen begnügen können? Muß man in Schweden an eine Unfähigkeit denken, das neue Metall zu gewinnen oder zu verarbeiten, wo man in Norwegen in viel begrenzteren Siedlungsräumen auf ansehnliche Mengen von Schmucksachen stößt? Ist es nötig, um dieses Phänomen zu erklären, anzunehmen, der norwegische Westen habe Eisen importiert, der schwedische Osten hingegen nicht? Eine Erscheinung ist bisher unbeachtet geblieben, die der frühen Eisenzeit Norddeutschlands, des westlichen Ostseegebiets und Skandinaviens gemeinsam ist: das fast vollkommene Fehlen von metallreichen Hortfunden. Sollte man wegen des Eisens und wegen des Fehlens der Bronze überhaupt die Sitte aufgegeben haben, Horte niederzulegen? Sollte man gewisse Gegenstände nur deponiert haben, weil sie aus Bronze waren? Hier müßte man weiterforschen. Zunächst ist es klar, daß die Eisenzeit in Norddeutschland und Skandinavien einige kulturelle Gemeinsamkeiten besitzt, die weder mit dem Aufkommen des Eisens noch mit der fortschreitenden Klimaveränderung in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen können. Offenbar hat sich die Kultur beiderseits der Ostsee immanent verändert. N u r regional blieben Hortsitten erhalten 45 . Wo die Sitte, Horte anzulegen, späterhin wieder auftrat, hatte sie, wie der Hjort41 4S 44 45
E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. O. 67 f. H. Arbman, Acta Arch. 5 (1934) 15 Abb. 10. B. Stjernquist, Simris II (1961) 128 ff. Vgl. J. Brendsted, Danmarks Oldtid 3. Jernalderen (M960) 22 ff. Abb. S. 22 u. 26.
Probleme der archäologisdien Quellen
401
springfund46 und Deponierungen wie der Kessel von Gundestrup47 zeigen, einen ganz anderen Charakter, gewiß audi einen veränderten kulturgeschichtlichen Hintergrund. Das gilt audi für einzelne Depots der vorrömischen Eisenzeit48 und der Kaiserzeit49 in Schweden. Es ist kaum möglich, ein so komplexes Problem wie das des Aussetzens der Hortfunde hier weiter zu verfolgen. Es läßt sich nicht im „Vorbeigehen" lösen. Es genügt aber festzustellen, daß allein die Sitte, Bronzehorte anzulegen, einen Reichtum der jüngeren Bronzezeit widerspiegelt, der sich aus den jungbronzezeitlichen Gräbern nicht ergibt. Gräber mit Gräbern verglichen geben ein anderes Bild. K. E. Sahlström hat im Anschluß an die Bearbeitung des Gräberfeldes von Kyrkbacken von einer gräberlosen Zeit gesprochen, die der Jungbronzezeit folgte und erst mit Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit abgeschlossen gewesen sein sollte50. „Kann eine Landschaft jahrhundertelang besiedelt gewesen sein, ohne Funde aufzuweisen?" fragte Oxenstierna51. „Ein unglückseliges, gleichzeitiges Schwinden der drei grabbildenden Faktoren: Metallbeigaben, Knochen und Überbau können offensichtlich zu einer ,gräberlosen' Zeit führen"82. Es ist nicht ganz einfach vorstellbar, daß sich alle Elemente einer Kultur gleichzeitig so entwickelt haben sollten, daß die ganze Kultur archäologisch nicht mehr faßbar ist, und doch gibt es Beweise dafür, daß die Entwicklung in Schweden teilweise so verlaufen sein muß. Auf Gotland liegt inmitten des Gräberfeldes Vallhagar M eine Gruppe von vollkommen beigabenlosen Brandgräbern, die — wie E. Nyl&i nachweisen konnte55 — die ältesten Gräber des Friedhofes sind (Abb. 50). Das Bild wäre wahrscheinlich noch wesentlich klarer, wenn das Gräberfeld Vallhagar S vollständig ausgegraben wäre und sich Nyl£ns Annahme bestätigen ließe, die ältereisenzeitliche Belegungsphase dieses Friedhofes schließe sich an die beigabenlosen Gräber des Friedhofes Vallhagar M an54. Einstweilen ist auf Gotland die sogenannte „gräberlose Zeit" mit Sicherheit nur durch Vallhagar M belegt. Andere Friedhöfe — wie 4' 47
48
49 50 51 52 53 54
26
G. Rosenberg, Hjortspringfundet, in: Nordiske Fortidsminder III, 1 (1937). S. Müller, Det störe salvkar fra Gundestrup i Jylland, in: Nordiske Fortidsminder I (1890—1903) 36—68 Taf. 6—14. E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945) 114 Abb. 70. 96—98. M. Stenberger, Det forntida Sverige (1964) 414 f. Abb. 180. K. E. Sahlström u. N.-G. Gejvall, Gravfältet p l Kyrkbacken (1948) 139 fi. E. C. G. Graf Oxenstierna, Die ältere Eisenzeit i. Östergötland (1958) 65. E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. O. 69. E. Nylen, Die jüngere vorrömische Eisenzeit Gotlands (1956) 168 f. Abb. 38. E. Nylen, a. a. O. 127. Hadbmann, Goten und Skandinavien
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Zur Siedlungsgeschichte Skandinaviens um Christi Geburt
etwa Nystu 55 — könnten ähnlich gedeutet werden wie Vallhagar M, wenn sie systematischer ausgegraben wären. Im ganzen mehren sich jetzt die Vallhagar M ähnlichen Befunde. Für das schwedische Festland geben die Beobachtungen Nylons für sich allein genommen nur den Hinweis, daß die Entwicklung in Västerund Östergötland und im Gebiet um den Mälarsee ähnlich verlaufen sein könnte. Ein Urteil über die Verhältnisse in östergötland wird der Friedhof von Fiskeby56 einmal erlauben. Für Uppland hat das Gräberfeld von Dragby 57 schon Überraschendes ergeben. In Västergötland haben pollenanalytische Untersuchungen von M. Fries gezeigt, daß ein Besiedlungsrückgang oder eine Veränderung der Wirtschaftsweise, wie sie leicht aus den Bodenfunden geschlossen werden könnten, sich aus den floristischen Befunden nicht ergeben. Getreidepollen und solche von Ackerunkräutern lassen sich nachweisen58. Die geringe Zahl der bislang vorliegenden Pollenanalysen sagt allerdings nichts über den U m f a n g des Ackerbaues und den der bebauten Fläche, die durchaus kleiner gewesen sein kann als vorher und später; immerhin, sie weist ihn eindeutig nach. Allerdings ist es bemerkenswert, daß es aus Västergötland noch keinen Friedhof gibt, der von der jüngsten Bronzezeit bis in die Eisenzeit durchläuft. Keines der von K. E. Sahlström so sorgfältig untersuchten Gräberfelder hat eine Gruppe von beigabenlosen Gräbern geliefert, nach deren Lage auf dem Friedhof man darauf schließen dürfte, daß sie in die „gräberlose" Zeit gehören. In östergötland scheint das Gräberfeld von Fiskeby eines der wenigen zu sein, das von der Bronzezeit bis in die Eisenzeit durchläuft. In Uppland ist es nicht anders. Man muß auf Gotland und in Väster- und östergötland und wohl auch in Uppland mit einer großen Anzahl von Gräberfeldern rechnen, die erst im Verlaufe der jüngeren vorrömischen Eisenzeit angelegt wurden. Untersucht man das chronologisch aufschlüsselbare Fundgut genauer, so kommt man überall zu dem Ergebnis, daß noch zu Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit die 55 56
57
58
E. Nylen, a. a. O. 35 f. Abb. 7. P. Lundström, Gravfältet vid Fiskeby i Norrköping II. Fornlämningar och fynd (1965); M. Stenberger, Det forntida Sverige (1964) 332 wies auf eine Serie von Cn-Daten hin, die kontinuierliche Belegung des Friedhofs von der jüngsten Bronzezeit ergeben haben sollen. M. Stenberger, Gravfältet vid sockenmötet. Dragby i Skuttunge, orientirung och problem, in: Tor 6 (1960) 63—86; ders., Dragbyröset 88, in: Tor 7 (1961) 184—190; S. Rydh, Dragbyfältet kring röse 88, in: Tor 8 (1962) 45—94; H. Jaanusson u. U. Silven, Undersökningen av Dragbyröset 88, in: Tor 8 (1962) 5—44; D. Damell u. I. Sjögren, Hjulkorsgravar pä Dragbyfältet, in: Tor 8 (1962) 95—104; M. Stenberger, Det forntida Sverige (1964) 332 f. M. Fries, Vegetationsutveckling och odlingshistoria i Varnhemstrakten. En pollenanalytisk undersökning i Västergötland (1958) 38 f.
Probleme der archäologischen Quellen
403
Besiedlung überall ziemlich spärlich war, daß die Gräberfelder auf verhältnismäßig kleine Siedlungsgemeinschaften hinweisen und daß der besiedelte Raum klein war. Zieht man das alles in Betracht, so kann es als s i c h e r gelten, daß der Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit in Schweden gewiß keine Bevölkerungsvermehrung brachte. Eine Verminderung ist wahrscheinlicher, eine Bevölkerungsleere allerdings ganz unwahrscheinlich. Das braucht aber keineswegs zu bedeuten, daß größere Bevölkerungsteile abwanderten. Ungunst der Umwelt und Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Grundlagen des Lebens können unversehens die Bevölkerung stark dezimiert haben, ohne daß wesentliche Abwanderungen stattgefunden zu haben brauchen. M. Stenberger schilderte die verheerenden Folgen eines einzigen regenreichen Sommers in der Gegend von Kalland in Västergötland im Jahre 1596. Die Ernte wurde, nachdem der eigentliche Sommer noch gut war, auf den Feldern durch Regen vernichtet. Im Verlaufe des Winters erkrankte das Vieh an dem feucht eingebrachten, verdorbenen Futter. Wer hundert Ziegen oder Schafe besessen hatte, verlor alle bis auf ein oder zwei Tiere. Ähnlich ging es mit dem Rindvieh. Die Äcker waren so verdorben, daß sie d r e i Jahre lang keine Feldfrüchte trugen. Eine schreckliche Hungersnot war die Folge. Alles, was eßbar schien, wurde zu Mehl vermählen, Rinde, Haselnußschalen und anderes. Man nährte sich von Laub und Gras. Viele Menschen starben. Man fand die Toten oft auf den Äckern und Wiesen; sie hatten noch das Gras im Mund, von dem sie sich ernähren wollten. Bettelei aus N o t nahm allenthalben überhand. Krankheit und Verbrechen folgten dem Hunger 5 '. Eine solche Schilderung erinnert an die Lebensverhältnisse auf Grönland kurz vor dem Ende der normannischen Besiedlung (vgl. obenS. 344). Die Vorgänge verliefen auf Grönland wohl schleichender, waren allgemeiner und subjektiv weniger bemerkbar, und sie fanden natürlich keinen Chronisten. In Västergötland erfolgte die Katastrophe offenbar sehr unvermittelt; sie war aber lokaler Natur. Ähnliche Hungersnöte, die kurze Zeit dauerten, aber schlimme Folgen hatten, lernt man aus den norwegischen Sagas für die Wikingerzeit kennen. Ob langdauernde Klimaverschlechterung, ob ein- oder mehrmalige Mißernten, die Wirkung auf die Menschen war gleich: Hunger, Krankheit, Tod; kurzum Dezimierung der Bevölkerung. Ähnlich könnte es der schwedischen Bevölkerung der beginnenden Eisenzeit ergangen sein. Was sich heute als ein Vorgang darstellt, der — deutlich sichtbar — sich über längere Zeiten hinweg verfolgen läßt, 5
» M. Stenberger, Det forntida Sverige (1964) 321 f.
26»
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das mußte den Menschen der Eisenzeit anders erscheinen. Sie konnten günstigenfalls nur einzelne Ereignisse sehen, diese jedoch kaum miteinander verknüpfen und auf e i n e Ursache zurückführen. Sie konnten allenfalls zurüdsschauend Veränderungen erkennen, doch keinesfalls v o r a u s s c h a u e n d die unausweichlichen weiteren F o l g e n vorhersehen. Sie konnten sich an die Hoffnung klammern, es werde alles wieder so werden, wie es war. Sie mochten sidi wohl an die übersinnlichen Mächte wenden, um Hilfe zu erlangen. Organisierte Abwanderung über See war jedenfalls nur e i n e von vielen verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten, keinesfalls die einzig mögliche und sicherlich nicht die nächstliegende. War nämlich die N o t erst da, dann konnte sie auch schon bald so groß sein, daß großangelegte Aktionen, ihr zu entkommen, nicht mehr möglich waren. Man muß ja bedenken, daß die beginnende Verschlechterung des Klimas die Bewohner des Landes ganz unterschiedlich treffen mußte. Die Äcker in den schlechten Lagen waren schon unbrauchbar, als in den fruchtbaren Landschaften sich die Ernten zwar schon langsam verschlechtert hatten, aber immer noch erträglich waren. Da nicht alle in gleichem Umfange betroffen waren, kann der Gedanke an gemeinsame Aktionen sicher nicht zwingend gewesen sein. Die natürliche Reaktion einer Bevölkerungsgruppe, die N o t leidet, ist es immer, zunächst dorthin zu gehen, wo es noch sichtlich besser ist. So mögen sich die Menschen aus dem Norden im klimatisch günstigeren Süden gesammelt haben, was nur zur Folge haben konnte, daß die beginnende N o t sich auch dort rasch verschlimmerte. Organisierte Abwanderungen über See verlangen Schiffsraum, setzen genügende Verproviantierung und kräftige Schiffsmannschaften voraus. Es fragt sich, ob alles das in voll ausgebrochener Not noch realisierbar war. War es nicht vielleicht zunächst einfacher, auf Besserung zu warten? Derweil starben viele, insbesondere Säuglinge und Kinder. In der N o t mögen auch die Neugeborenen ausgesetzt worden sein. Unversehens hatte die Bevölkerung ihre Zukunft verloren. Mit solchen rein theoretischen Erwägungen kann man das Problem der Bevölkerungsveränderungen im Norden im Verlauf der Klimaveränderung natürlich nicht lösen. Wohl aber kann man versuchen, derart den Spielraum der Verhaltensmöglichkeiten der Bevölkerung zu erfassen. Erkennt man dessen volle Breite, so schützt man sich vor Fehlschlüssen, die sonst leicht den Eindruck zwingend notwendiger Folgerungen machen können. Über die Bevölkerung auf Gotland zur frühen Eisenzeit geben die Gräberfelder bei Vallhagar gewisse Aufschlüsse. „Die Bevölkerungsgruppe, die hier ihre Toten beisetzte, kann nicht groß gewesen sein. An-
405
Probleme der archäologischen Quellen
fangs handelte es sich wohl um nicht mehr als einen kleinen Hof. Wahrscheinlich hat die Zahl der Bewohner zugenommen, aber natürlich war der Zuwachs ungleichmäßig, . . S o sah Nylin die Verhältnisse'0. Es handelte sich auf Gotland also um Einzelhöfe oder um kleine Hofgruppen. Die ca. 150 Gräber von Dragby in Uppland sind ebenfalls nicht mehr als die einer Familie, die hier durch Jahrhunderte einen Hof bewirtschaftete' 1 . Dasselbe gilt für den Friedhof von Fiskeby. Für Kyrkbacken zeigen die datierenden Beigaben, daß der Friedhof vielleicht 300 Jahre lang, d. h. etwa 9—12 Generationen hindurch, benutzt wurde. Nach Art und Alter der Beigaben lassen sich drei Gräbergruppen unterscheiden. Die Verteilung der Gruppen zeigt, daß die Belegung etwa 3—4 Generationen vor Christi Geburt im Norden begann und daß der Friedhof dann fortgesetzt nach dem Süden erweitert wurde, ohne daß indes die älteren Friedhofsteile vollkommen aufgelassen wurden. Die Toten wurden offenbar je nach Maßgabe des verfügbaren Raumes zwischen älteren Gräbern 0 ° 0 o OO
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Abb. 78. Gräberfeldplan von Henryköw, Kr. Warschau (umgezeichnet nach B. Zawadska). Der Plan zeigt eine Gliederung des Friedhofs in drei Zeitgruppen, deren jüngste im Süden des Friedhofs liegt und in ihrem Charakter schon der Masowischen Gruppe entspricht. stattungen, wie sie ebenfalls in der Westmasurischen Gruppe nidit ungewöhnlich sind. Sie mögen etwas älter sein". Vier andere Hügel derselben Nekropole enthielten von viereckigen Steinsetzungen umgebene Brandgruben", eine Bestattungsart, die ebenfalls in der Westmasurischen Gruppe vorkommt — so in Tillwalde (Tynwaid), Kr. Rosenberg i. Westpr. (Susz)34 —, wo sie möglicherweise eine relativ junge Phase der » C. Engel u. W. La Baume, a. a. 0 . 1 0 2 Abb. 16. M t . u. J. Okulicz, in: Arch. Polona 4 (1962) 287 Abb. 5,1; 6,2. " C. Engel u. W. La Baume, Kulturen u. Völker d. Frühzeit im Preußenlande (1937) 126 Karte 7; W. Heym, Die Gesch. d. Landschaft um den Tillwalder See auf Grund der Bodenfunde, in: Altpreußen 2 (1936/37) 161—177 bes.
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Entstehung der Masowisdien Gruppe und der Ursprung der Goten
in Masowien (nach A. Niew^gtowski) — Forschungsstand 1962; A = Gräber der „Baltischen" Kultur; 0 = Gräberfeld der Steinkistengräber- und Glockengräberkultur. vorrömischen Eisenzeit vertritt, wenn auch sicher nicht die eigentliche jüngere vorrömische Zeit. Weiter südöstlich sind gleichartige Funde aus zerstörten Grabhügeln von Piastöw, Kr. Przasnysz, bekannt' 5 . Der bislang südlichste Fundort dieser Art ist Targonie, Kr. Ciechanöw 36 (vgl.
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165 ff. Abb. 23; A. Luka, Cmentarczysko z wczesnego i srodkowego okresu latenskiego w Tynwaldzie pow. Suski, in: Slavia Ant. 5 (1954/56) 302—357 Abb. 1—17. A. Niew^glowski, Kurhany z wczesnego i srodkowego okresu latenskiego w Miejscowosci Piastöw w pow. Przasnysz, in: Swiatowit 24 (1962) 235—248 Taf. 7—8. A. Niew^glowski, Swiatowit 24 (1962) 247 Anm. 67; R. Jakimowicz, Sprawozdania z dzialal. P. M. A. za rok 1928, in: Wiadomosci Arch. 13 (1935) 268.
Probleme der archäologischen Quellen
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Abb. 79). Die Erforschung der nordöstlichen Teile Masowiens wird derartige Funde gewiß nodi mehren. Die Masowische Gruppe ist also mindestens in ihrem nördlichen Verbreitungsgebiet n i c h t autodithon und ganz sicher langsam aus dem Süden nach dem Norden vorgerückt. Mit Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit hat sie südliche Ausläufer der Westmasurisdien Gruppe verdrängt. Im Verlaufe der älteren Kaiserzeit ist das im Norden gewonnene Land dichter aufgesiedelt worden; es wurde ferner nach dem Nordosten und dem Osten Raum gewonnen, über dessen Vorbesiedlung indes keine rechte Klarheit besteht. Wahrscheinlich ist auch hier eine Besiedlung durch eine baltische Gruppe, höchstwahrscheinlich die Ostmasurische Gruppe, verdrängt worden. Die Wurzeln der Masowischen Gruppe liegen gewiß n i c h t in einer der baltischen Gruppen. Sie scheinen mindestens zum Teil bis in die Steinkisten- und Glockengräberkultur des mittleren Weichselgebiets zurückzureichen. Der Zusammenhang läßt sich jedoch nicht ohne weiteres deuten. Was verursachte die relativ unvermittelte Veränderung der Struktur der Kultur? Im Trachtgut könnte man einen Augenblick an Einflüsse von Seiten der keltischen Lat^nekultur denken. Genau genommen sind diese aber gering, beschränken sich auf die Fibeln, für deren Vermittlung gewiß noch Kulturgruppen als Zwischenglieder angenommen werden müssen. Schon in den Gürtelhaken fehlt Lat^netradition. Aus Lat&ieeinflüssen läßt sich die Keramik gewiß nicht erklären; da steht Formengut, wie es in Warschau-Henryk6w, Wola SzydiowieckaKolonia oder Wichrowice vorkommt, dem Formengut schon näher, wenn auch nicht allzu nahe. Grab- und Beigabensitte lassen sich noch am ehesten aus einheimischer Tradition erklären. Manche Fragen, die mit der Genesis der Masowischen Gruppe zusammenhängen, werden sich mit dem Fortschreiten der Erforschung der Archäologie Masowiens, Masurens, Kujawiens, Mittel- und Kleinpolens beantworten lassen. Von besonderer Wichtigkeit wird die Erforschung von Siedlungskomplexen sein, sowohl solchen der Masowischen Gruppe der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, als auch denen der vorhergehenden Epoche. Über die einseitige Auswahl der Grabkeramik hinaus wird auf diesem Wege der Gesamtbestand an Formen aller Tonwaregattungen sichtbar werden. Das Wenige, was bislang von der Siedlung Poswi^tne, Kr. Plonsk'7 (Abb. 80), bekannt geworden ist, deutet an, was zu er®7 J. Pyrgala, Najwazniejsze wyniki z badan osady pöznego okresu latenskiego i wczesnego okresu wplywöw rzymskidi w Poiwi^tnem, pow. Plonsk, in: Swiatowit 24 (1962) 285—303 Taf. 10—11.
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Entstehung der Masowisdien Gruppe und der Ursprung der Goten
Probleme der archäologischen Quellen
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warten ist: eine enge Verbindung zwischen ausgehender Glockengräberkultur und beginnender Masowischer Gruppe. Andere Fragen sind davon unabhängig, denn sie sind methodischer Natur. Wie es ganz unmöglich ist, die Alamannen archäologisch in ein scharf umreißbares Heimatgebiet zurückzuverfolgen, wo sie bereits als Alamannen heimisch waren, wie es nicht möglich ist, die Gruppe Poienejti-Lukaschewka auf eine eindeutig beschreibbare mitteleuropäische Heimat zurückzuführen (vgl. oben S. 306 ff.), so könnte es auch mit der Masowischen Gruppe und demzufolge mit den Goten sein. Man könnte deswegen wohl meinen, wie die Alamannen sich als „Stamm" konstituierten, als germanische Bevölkerungsgruppen sich hinter dem Limes stauten, diesen durchbrachen und sich schließlich im Winkel zwischen Oberrhein und Donau ansässig machten, so könnten die Goten als „Stamm" mit der Konstituierung der Masowischen Gruppe der jüngeren vorrömischen Eisenzeit „entstanden" sein. Hier irgendwo endet die Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang der Goten mit der Masowischen Gruppe. Sie wird keinen voll befriedigen, der eine klare, erschöpfende und absolut verbindliche Antwort erwartet, der wissen will, wie es war. Es bleibt nun noch immer die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den kontinentalen und den skandinavischen Goten oder — anders ausgedrückt — zwischen der Masowischen Gruppe und dem Norden. Eines scheint s i c h e r zu sein: Spuren skandinavischer Kultur der Zeit um 100 vor Christi Geburt, der Epoche also, in der man mit der Genesis der Masowischen Kultur redinen könnte, finden sich im Weichselraum n i c h t . Aber ist das ein Beweis dafür, daß keine Goten aus dem Norden kamen? Die Archäologie kann keine andere Antwort geben. Sie kann die Kultur Väster- und östergötlands durchmustern und wird nirgends etwas finden, was im Süden gleichartig oder ähnlich vertreten ist und nach dem N o r d e n weist. Aber auch das andere ist klar: Der Norden zeigt k e i n e Spuren südlicher Siedler, insbesondere jene Landschaften nicht, die als Siedlungsraum der Goten in Betracht kommen. Neue Impulse aus dem Süden kamen n i e m a l s aus der Masowischen Gruppe, weder vor noch nach Christi Geburt. Abb. 80.
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Fundstücke der Masowischen Gruppe aus einem Kalkofen bei Pöwi?tne, Kr. Plonsk (nach J. Pyrgala). Die Fundstücke können nicht als geschlossener Fund betrachtet werden, doch dürfte die Zeitspanne, in die sie einzuordnen sind, nicht groß sein. Auffallend ist das Vorkommen von Formengut, das der Glockengräberkultur nahesteht, in einer Siedlung der Masowisdien Gruppe. — M l :4,5.
Hadimann, Goten und Skandinavien
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Entstehung der Masowisdien Gruppe und der Ursprung der Goten
Die Grundlagen f ü r ein gewissenhaftes Erkennen verlieren sich hier. Die Ursachen dafür liegen wieder weniger im Forschungsstand, mehr im Methodischen. Es ist damit Zeit, die verstreuten Ergebnisse zu sammeln, das sicher Erreichte festzustellen und auf das in Zukunft Erreichbare hinzuweisen. Es ist im gleichen Zusammenhang erforderlich, sich den bislang ungenutzten Möglichkeiten zur Interpretation zuzuwenden, diese auszuschöpfen und sdiließlidi den verbleibenden Spielraum der Möglichkeiten zu umreißen. Wie hängen die Goten und Skandinavien zusammen? Das war die Frage, von der diese Untersuchung ihren Ausgang nahm. Rückblickend erschrickt man, wie viele Nachforschungen nötig waren, um den Wahrheitsgehalt alles dessen zu erfassen, was hinter dieser Frage steht, und was alles erforderlich war, um den Wahrheitsgehalt selbst geringfügiger Details zu ergründen. Man erschrickt vielleicht auch bei dem Gedanken, was alles unklar bleiben mußte und wie wenig wirklich sicher ist. Die Spanne zwischen der Wirklichkeit, wie sie ehedem war, und dem, was von ihr erfahrbar ist, erscheint zu groß. Es hat oft den Anschein, als gäbe es überhaupt keine sichere Brücke zurück in die Vergangenheit. Sollte das der Fortschritt gegenüber dem Positivismus auf der einen und einer idealistisch-neuromantischen Forschungsweise auf der anderen Seite sein, daß man am Ende nur weiß, man könne eigentlich überhaupt nichts oder doch zumindest nur sehr wenig wissen? Oder haben vorstehende Untersuchungen doch einige greifbare Ergebnisse erbracht? Sollten sie solche haben, so liegen sie wohl hauptsächlich in der Methodik, in einem neuen Ansatz, zu forschen und zu fragen.
V. Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme „Ich habe eine Menge kleiner Gedanken und Entwürfe zusammengeschrieben; sie erwarten aber nicht sowohl noch die letzte Hand als vielmehr noch einige Sonnenblicke, die sie zum Aufgehen bringen."
G. Chr. Lichtenberg, 1742—99. Die Frage des Zusammenhanges zwischen Goten und Skandinavien: ist sie gelöst, ist sie überhaupt lösbar? Das fragt sich zum Schluß. Rückschauend lassen sich Ergebnisse in den einzelnen Stationen der Betrachtungen nicht verkennen, darunter wohl gesicherte Tatbestände, Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, Vermutungen und Annahmen und — wohl auch Irrtümer. Trotz aller angestrebten Systematik erscheinen sie bunt gemischt. Was ergibt sich, wenn man sie nun abschließend nach ihrem Erkenntniswert gliedert und nach der Sicherheit der Aussagen ordnet? Daß es in der frühmittelalterlichen Historiographie einen ScandzaTopos gab, neben dem ein Troja-Topos und noch ein dritter Topos bestand, wonach die germanischen Bevölkerungsgruppen im Zusammenhang mit Völkern standen, die in der Heiligen Schrift genannt sind, läßt sich füglich nidit mehr bestreiten. Nachrichten, die von der Herkunft der Langobarden, der Burgunden, der Franken und anderer germanischer Gruppen aus dem skandinavischen Norden sprechen, sind sichtlich nach dem Modell der von Jordanes überlieferten Herkunft der Goten aus Scandza konstruiert. Sie haben keinen historischen Wert. Für die Überlieferung von der Herkunft der Goten gilt diese Feststellung in gleichem Sinne nicht. Sie ist ein fester Bestandteil der Getica des Jordanes. Während die Abhängigkeit späterer Herkunftsberichte von den Getica nachweisbar ist, läßt sich deren gotisdie „Urgeschichte" weder durch den Nachweis einer Abhängigkeit von einem älteren, antiken Modell als eine Fiktion erweisen, noch einfach durch ihre Stellung zwischen Textpartien, die sich schon auf den ersten Blick als unglaubwürdig — d. h. als gelehrte Erfindung oder als sagenhafte, greifbaren Wahrheitsgehalt entbehrende Überlieferung — erweisen, entlarven. 29»
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Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme
Die Frage, woher Jordanes die „Urgeschichte" der Goten mit ihrem Bericht von deren Auswanderung aus Scandza in Erfahrung gebracht haben könnte, führt tief in das Problem der Entstehung seiner Gotengeschichte hinein. Der Anteil des Jordanes läßt sich erfassen und aussondern. Was übrig bleibt, erweist sich als eine „Kurzfassung" der Zwölf Bücher gotischer Geschichte des Cassiodor, eines Hofbeamten des Theoderich. Die Kürzungen des Jordanes scheinen indes nicht wesentlich gewesen zu sein oder aber nidit in erster Linie den von ihm überlieferten Text betroffen zu haben. Andernfalls wäre es nidit möglich, hinter dem Werk des Cassiodor dessen Gewährsleute zu erkennen und deren Anteil mindestens großenteils zu erfassen. Die Untersuchung des Problems, woher Cassiodor Kenntnis von der Urgeschichte der Goten erlangt haben könnte, führt einerseits auf den Historiker Ablabius, anderseits auf eine alte ostgotische Quelle, die Cassiodor selbst — teilweise offenbar ulfilas-gotisch geschrieben — vorgelegen haben muß: Die Amalergenealogie mindestens in fünfzehn Generationen muß ostgotische Tradition sein. Wo Cassiodor indes feststellte, er habe die gotische Geschichte der römischen Geschichte ebenbürtig gemacht; dieser Teil seiner Arbeit ist nichts als Geschichtsklitterung. So ist es zu werten, wenn er den jungen König Athalarich über ihn berichten läßt, er habe die Könige der Goten, „welche lange vergessen waren", wieder bekannt gemacht und habe nachgewiesen, daß das Geschlecht der Amaler dem der römischen Imperatoren gleichzustellen sei. Sonst ist Cassiodors Anteil an der Gotengeschichte gering. Er beschränkt sich auf Einfügungen, die speziell die Ostgoten und ihre Geschichte betreffen. Und noch zwei kleine, aber folgenreiche Änderun'gen sind Cassiodor zuzuschreiben: Er bildete den Namen der Vesegothae aus den beiden Namen, die dieser Stamm früher nebeneinander trug: Vesi und Gothi. Zudem fügte er den Namen der Ostrogothae in die Liste der skandinavischen Völker ein, und die Dani und Heruli dazu. Die Analyse seines Textes zeigt, daß Cassiodor die sogen. „Urgeschichte" der Goten im Werk des Ablabius antraf, eines sonst unbekannten Geschichtsschreibers, dem zwar schon Mommsen beträchtliche Teile des Cassiodorianischen Geschichtswerks zuschreiben wollte, von dem aber noch jüngst Wagner meinte, man wisse nicht recht, wer er denn eigentlich wirklich gewesen sei und ob er überhaupt wesentliches zum Werk des Cassiodor beigetragen habe. Es erweist sich, daß der Anteil des Ablabius an Cassiodors Werk ziemlich eindeutig umrissen werden kann. Es läßt sich annähernd erkennen, wo er schrieb und auch wann. Sicher war Ablabius ein Nichtgermane, der des Gotischen nicht oder nur in begrenztem Umfange mächtig
Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme
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war. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er in Gallien geschrieben. Zum Hof in Tolosa könnte er gewisse Verbindungen gehabt haben. Höchstwahrscheinlich verfaßte er sein Gesdiichtswerk bald nach dem Tode des Eurich. Sidier umfaßt sein Werk eine Geschichte der Westgoten bis zur Regierung des Eurich selbst bzw. wenig darüber hinaus. Die gotische „Urgeschichte" ist deren Auftakt. Deutlich läßt sich erfassen, daß Ablabius für sein Werk sich der Schriften antiker Autoren bediente. Skandinavien kannte er nach Ptolemaios und Pomponius Mela, und weite Teile der Westgotengesdiichte entnahm er u. a. den Werken des Dexippos und des Ammianus Marcellinus. Manches mag er von Priscus übernommen haben. Die gotische „Urgeschichte" liegt eingebettet zwischen Exzerpten aus Ptolemaios und Pomponius Mela auf der einen und solchen aus Ammianus Marcellinus und Dexippos auf der anderen Seite — alles späterhin aufgesplittert durch Einfügungen des Cassiodor — und läßt sich nicht aus antiker Überlieferung herleiten. Es m u ß sich um echt germanische, d. h. westgotische Tradition handeln. Die westgotische Herkunftstradition umfaßt eine Erzählung, wonach die Goten über See ausgewandert sind und sich südlich des Meeres, d. h. der Ostsee, in einem Lande Gothiscandia niedergelassen haben. Dieses Land liegt nach der gotischen Überlieferung nicht sicher am Meer, denn die Goten wandten sich von dort später gegen die Rugier, die nach Angabe der Sage damals an der Meeresküste siedelten, und vertrieben sie angeblich aus ihrer Heimat. Auch gegen die Wandalen führten sie Krieg. Ihre Wohnsitze müssen also nach der Sage zwischen denen der Rugier und Wandalen gelegen haben. Es läßt sich nachweisen, daß in der gotischen „Urgeschichte" in beträchtlichem Umfange historische Wahrheit enthalten ist. Vieles, was sie berichtet, wird von antiken Geographen und Historikern der Zeit um und nach Christi Geburt bestätigt, die Ablabius nicht gekannt und benutzt haben kann. Die zeitgenössischen Verhältnisse im östlichen Mitteleuropa dienten dem Ablabius gewiß nicht als Vorbild. Sie waren ganz anders, als die gotische „Urgeschichte" sie schildert. Ablabius war sich dieser Unterschiede bewußt und betonte sie ausdrücklich. Wenn sich im Herkunftsbericht der Goten geschichtliche Wahrheit deutlich erkennen läßt, so besagt das indes nicht, daß die g e s a m t e Urgeschichte historische Wahrheit ist. Einzelne Teile wirken durchaus sagenhaft, und besonders die Überlieferung von der Auswanderung unter einem Führer mit drei Schiffen wirkt wie ein Topos eigenständig germanischen Herkunftsdenkens, der sich ja in den Versionen von der Einwanderung der Angeln und Sachsen nach Britannien — leicht variiert —
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Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme
wiederholt. Allerdings, die angelsächsische Einwanderung wird durch den Topos „Einwanderung mit drei Schiffen" keineswegs diskreditiert, ist im Keime ja Wahrheit. A u d i hinter dem Berig-Topos könnte historische Wahrheit stehen. Im Unterschied z u den Angeln und Sachsen läßt sich hier aber gar nichts beweisen. Unklar bleibt, ob ursprünglich ein germanischer, dem griechischen 2v.av8ia entsprechender N a m e in der Herkunftssage enthalten war, für den Ablabius das ihm bekannte S x a v ö i a des Ptolemaios erst sekundär einfügte, das dann später in Scandza verderbt wurde, oder ob darin eine namenlose oder ganz anders benannte Insel — im Nordmeer gelegen — vorkam, die Ablabius wegen ihrer Lage nach Ptolemaios als S x a v ö i a Scandia identifizierte. Der N a m e des Gotenlandes Gothiscandia
muß von
Ablabius stammen. Das Land mag ursprünglich *Gothilanda
geheißen
haben. Des Ptolemaios T o ü x a i auf den Exavöiai vfjaoi hat Ablabius zwar nicht erwähnt. Er kannte aber die Z a h l der v o n Ptolemaios aufgezählten skandischen Stämme und dürfte auch ihre Namen zur Kenntnis genommen haben. Weniger wahrscheinlich ist es, daß Ablabius des Ptolemaios Puöioveg an der Weichsel kannte. Vielleicht kannte Ablabius nur Textauszüge aus dem W e r k des Ptolemaios. Wenn auch der Beweis, daß die Goten einst aus Skandinavien auswanderten, nach der gotischen „Urgeschichte" des Ablabius keineswegs möglich ist, so zeigt dessen Westgotengeschichte doch, daß zu seiner Zeit oder wenig früher Stämme, die den N a m e n der Goten trugen, im fernen skandinavischen N o r d e n ansässig waren, die *Gauthigothae
und die *Va-
gothae. Das Nebeneinander v o n 'Tauten und Pfr&CDveg bei Ptolemaios spricht dafür, d a ß bereits im zweiten nachchristlichen Jahrhundert gotische Stämme in Skandinavien u n d
auf dem Kontinent ansässig waren. Die-
ses Nebeneinander von Namen kann kein Z u f a l l sein; es spricht für einen Bevölkerungszusammenhang. Allerdings bleibt es nach Ablabius und allen anderen historischen Nachriditen ungewiß, w i e
dieser Zusammen-
hang zu verstehen ist. Wanderten die kontinentalen Goten ursprünglich aus Skandinavien aus? Lagen die ursprünglichen Wohnsitze der G o ten auf dem Kontinent und gelangten Stammesabteilungen nach dem Norden? Die kontinentalen Wohnsitze der Goten — unter dem Eindruck der Gotengeschichte des Jordanes seit langem im Weidiselmündungsgebiet angesetzt — sind an H a n d antiker Nachrichten anders zu lokalisieren. Sowohl Tacitus als auch Ptolemaios, die die ausführlichsten geographischen Angaben
machten,
kannten
die
Goiowes-riröorveg
nicht
an
der
Küste, sondern im Binnenland. Ptolemaios gab an, daß sie östlich der
Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme
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Weichsel, aber südlich der Oveveöai und zwar entlang des Flusses siedelten. Daraus ist zu folgern, daß die kontinentalen Wohnsitze der Goten östlich der Weichsel, aber nicht an deren Unter- sondern am Mittellauf anzunehmen sind. Die Analyse der historischen Quellen liefert also, wenn sie nur nüchtern und konsequent erfolgt, ein Bild von der frühen Gotengeschichte, das in mancherlei Einzelheiten von dem abweicht, was seit langem konventionell für richtig angesehen wird. Die Fehler der Vergangenheit sind deutlich, und ihre Ursachen lassen sich ermitteln. Der Versuch, die Getica des Jordanes text- und quellenkritisch zu analysieren, trägt seine Früchte. Es ist interessant, daß sich Ablabius als Hauptautor und zwar der einer Westgotengeschichte erweist. Bedeutsam ist, daß diese Gotengeschichte eine e i g e n e Überlieferung der Goten enthält, die mindestens zum Teil historisch wahr sein muß. Wenn die gotische Eigenüberlieferung auch nicht deren Herkunft aus Skandinavien nachweisen kann, so zeigen doch Stammesnamen, daß es Goten nördlich und südlich der Ostsee gab und daß sie allesamt e i n e r „Abstammung" waren; sei es, daß Teile von Süden nach dem Norden oder vom Norden nach dem Süden wanderten. Schon dieses Teilergebnis steht im Gegensatz zu dem, was in allen beteiligten Wissenschaften — Geschichtsforschung, Germanistik und Prähistorischer Archäologie — allgemein als gesichert angenommen wird. Es widerspricht insbesondere dem, was Germanistik und germanische Altertumskunde seit langem von der Herkunft der Germanen im allgemeinen und insbesondere von der der Goten und ihrer Sprache wissen zu können meinten. Ein Blick auf die Forschungsgeschichte zeigt deutlich, w i e diese Auffassung zustande kam, und daß im 19. Jahrhundert ein wissenschaftlicher Topos entstand, der mit dem Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie durchaus verglichen werden kann, ein Skandinavien-Topos. Die bedeutendsten Germanisten des deutschen Sprachraums hingen im 19. Jh. einem solchen Topos allerdings nicht an. Soweit diese überhaupt die Frage nach der Herkunft der Germanen — auch der Goten — stellten, hielten sie am ehesten östliche, asiatische Herkunft für möglich. Und soweit man überhaupt Fragen der Besiedlung Skandinaviens in Betracht zog, dachte man eher daran, der Norden sei höchstwahrscheinlich von Süden — vom Kontinent her — besiedelt worden. N u r in Skandinavien hatte sich der alte Scandza-Topos durch das Mittelalter hindurch erhalten. Er erfuhr durch die skandinavische Gelehrsamkeit des 17. Jahrhunderts eine so kräftige Erneuerung, daß ihn die rationalistische Skepsis der Aufklärung nicht eigentlich zerstören
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Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme
konnte. Im Gegenteil, die von der deutschen Romantik inspirierten Gelehrten des frühen 19. Jahrhunderts nahmen die alten Gedanken — von evidenten Unglaubwürdigkeiten gereinigt — wieder auf. Grundtvig, Keyser und Geijer sind die bedeutendsten Zeugen, ihre Werke die besten Zeugnisse dafür. Als sich im skandinavischen Norden die Prähistorische Archäologie als Wissenschaft zu entfalten begann, blieb sie von diesem Denken ganz unberührt. O. Montelius dachte sich Skandinavien vom Kontinent her besiedelt. Aber als dann Anfang der neunziger Jahre der Germanist Kossinna — offenbar von den Möglichkeiten der germanischen Philologie und Altertumskunde gleichermaßen enttäuscht — sich der Archäologie zuwandte, wurde alles plötzlich anders. In seinen Frühwerken noch ganz unter dem Einfluß Müllenhoffs, hatte Kossinna anfangs nichts von skandinavischer Herkunft der Germanen gehalten. Als er sich selbst dann aber an den Schriften der in seiner Jugend führenden skandinavischen Archäologen zu schulen begann, stieß er auf mancherlei skandinavisches Schrifttum germanistischen und altertumskundlidien Inhalts, in dem die Ansicht von der nördlichen Herkunft der Germanen — insbesondere der Goten — noch lebendig war. Die Vorstellungen, die er dort fand, müssen ihn begeistert haben. Noch ehe er das archäologische Fundgut Mitteleuropas genau kannte und ehe er sich über Methoden der Auswertung der Bodenfunde recht klar geworden war, konzipierte er ein neues Bild vom Ursprung der Germanen: Sie mußten großenteils aus Skandinavien ausgewandert sein. Dafür hatte er scheinbar überzeugende archäologische Belege und auch neue philologische Anhaltspunkte zur Hand. Ein wachsender Kreis von im Prinzip nicht unbegabten Schülern war von Kossinna und von den Möglichkeiten, die seine neue „Methode" zu bieten schien, fasziniert. Diesen Schülern mußte er als Germanist und — wie er immer wieder betonte — Schüler eines der bedeutendsten Gelehrten des 19. Jahrhunderts in allen philologisch-historischen Fragen als unbestrittene Autorität gelten. Daß er mit neuen archäologischen Methoden und auf der Grundlage eines soliden philologischen Fundaments zu neuen Erkenntnissen führte, erschien ihnen evident. Die Germanistik selbst stand seinen Ansichten anfangs reserviert gegenüber. Aber schließlich überzeugte er auch hier. Für den Germanisten schien die Schwäche der sprachlichen Deduktionen Kossinnas zwar evident, die neuen archäologischen Quellen reizten aber. Ihre Auswertung, wie Kossinna sie vorschlug, war für den Philologen zwar nicht nachprüfbar, doch war ihm die von Kossinna benutzte Methode vertraut. Es war doch eigentlich nur eine Umsetzung
Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme
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der Methoden der Philologie und deren Anwendung auf andersartige Quellen. Die Auswertung, die Kossinna vorschlug, schien mindestens für ihren archäologischen Teil überzeugend und verläßlich. So drangen sein Denken und seine Auffassungen schließlich doch in die Germanistik ein. Was lag denn auch näher, als die so überaus fragmentarischen sprachlichen Quellen der frühgermanisdien Zeit durch die der Archäologie zu ergänzen, um zu einem umfassenden Bild von Entstehung und Entwicklung germanischer Sprache und Kultur zu gelangen? Was war naheliegender, wenn einmal ein sprachliches Glied fehlte, als sich der Archäologie zu bedienen, da doch Spradie und Kultur sich stets im gleichen Rhythmus zu entwickeln schienen? Im deutschen Sprachraum entstanden auf diese Weise Theorien und Hypothesen über die Entstehung und Entwicklung der germanischen Sprachen, deren Grundlage eine archäologische Konzeption von der Genesis des Germanentums war, die fast immer von Kossinna stammte. Das Ergebnis war: Der alte ScandzaTopos des frühen Mittelalters, der in der skandinavischen Wissenschaft überlebt hatte, wurde — von Kossinna wieder aufgenommen — in der Prähistorischen Archäologie zum Skandinavien-Topos umgewandelt. Dieser wurde», von der Germanistik erst zögernd, dann willig, schließlich begierig aufgenommen und für wissenschaftliche Wahrheit gehalten. Der Durchbruch begann mit den Arbeiten Muchs und wurde durch Arbeiten Maurers endgültig vollzogen. Nach dem zweiten Weltkriege kam in der Germanistik gegenüber den Methoden und Ergebnissen der Vor- und Frühgeschichte zwar eine leicht abkühlende Skepsis auf. Das änderte aber an der Grundkonzeption nichts. Dieser Vorgang hatte zur Folge, daß heute keinerlei sprachliche Erscheinungen ungeprüft für Fragen der Genesis der Germanen oder einer ihrer Stämme verwandt werden dürfen. Obwohl die Quellenlage für gotische Sprachreste vergleichsweise sehr günstig ist, ist es ein unverantwortliches Wagnis, sprachliche Quellen für Fragen des Zusammenhanges von Goten und Skandinavien zu verwenden. Fast jedes, auch das scheinbar beste sprachliche Argument kann — für Germanisten oder Archäologen kaum genauer erkennbar — auf einem archäologischen Fundament stehen, das unsicher ist, selbst sprachliche Argumente an versteckter Stelle enthält und methodisch fragwürdig sein kann. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die Archäologie in den letzten Jahrzehnten methodologisch viel gewonnen und viele zweifelhafte Beweisgänge ausgemerzt hat. Manche im Grunde veraltete These ist allerdings geblieben, für den Philologen und den Historiker als solche noch schwerer erkennbar als für den Archäologen selbst. Nicht nur in die Germanistik hat das Denken Kossinnas hineinge-
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Die Goten und Skandinavien: Ergebnisse und Probleme
wirkt. Seine Spuren sind audi in der Frühmittelalterforschung deutlich erkennbar. Sie manifestierten sich dort hauptsächlich in den Arbeiten von Ludwig Schmidt. Wo dieser weiterwirkt, muß auch Kossinna zur Wirkung kommen. Im großen ganzen dürften aber die Gedanken Kossinnas in der Mittelalterforschung schon weiter überwunden sein als in der Germanistik. Die Vorstellungen vom kontinentalen Siedlungsgebiet der Goten, wie sie sich im archäologischen Schrifttum bis in die jüngere Vergangenheit finden, sind von Kossinnas Denken zutiefst durchdrungen. Die Annahme, die Oxhöft-Gruppe sei in nachchristlidier Zeit gotisch, später auch gepidisch, geht von einer Lokalisierung der Goten aus, die den besten antiken Nachrichten widerspricht und sich ganz auf den Bericht des Jordanes von der Wanderung nach Gothiscandza stützt. Die philologische Gleichung Gothiscandza = *gutisc andeis = gotische Küste hat diese Lokalisierung scheinbar bestätigt. Sie taugt aber nichts! Eine falsche Festlegung der Gotensitze und eine ebenso unrichtige Lokalisierung gotischer Bodenfunde nimmt jedem der bisherigen Versuche, die Frage einer skandinavischen Heimat der Goten mit Hilfe des archäologischen Fundguts zu lösen, von vornherein das Fundament. Der Raum, der nach den antiken Nachrichten — denen des Tacitus und Ptolemaios, aber auch denen des Strabo und Plinius — als Siedlungsraum der Goten in Betracht kommt, ist an der Weichsel etwa zwischen Thorn und Warschau anzunehmen. In diesem Raum läßt sich f ü r die jüngere vorrömische Eisenzeit — grob dem letzten vorchristlichen Jahrhundert entsprechend — eine Kulturgruppe feststellen, die — nach dem Charakter ihres Fundguts zu urteilen — ein Teil der Przeworsker Kultur ist, aber auch Spuren von Einflüssen von sehen der unterweidiselländischen Oxhöft-Gruppe aufweist, die Masowische Gruppe. Diese Gruppe tritt — wie die Przeworsker Kultur — mit dem Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit nicht ganz unvermittelt auf. Sie hat ihre Südwestgrenze im Weichseltal, ihre Westgrenze an der Drewenz oder etwas östlich davon, reicht im Norden bis nach Südmasuren hinein, im Süden bis südlich von Warschau und im Osten bis an den mittleren Bug (Abb. 14). Mit dem Beginn der älteren Kaiserzeit macht die Masowische Gruppe eine Expansion nach dem Norden und Nordosten durch und verliert gleichzeitig im Süden an Raum (Abb. 15). Die Annahme, die Träger der Masowischen Gruppe seien die Goten, ist gut begründet. Der Ursprung der Masowischen Gruppe — und damit der der Goten — läßt sich vorerst nur unvollständig klären. Erkennbar ist, daß das nördliche Gebiet in der vorhergehenden Epoche einer Kulturgruppe vollkommen anderen Charakters zugehörte, der „Baltischen" Kultur der
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frühen Eisenzeit (Abb. 79). Hier besteht offenbar kein genetischer Zusammenhang; nicht einmal Einwirkungen sind spürbar. Der mittlere und südliche Teil der frühen Masowischen Gruppe nimmt einen Raum ein, wo in der frühen Eisenzeit die weit nach dem Nordwesten, Westen und Süden ausgreifende Steinkistengräberkultur und dann die Glockengräber kultur existierte. Das Neben- bzw. Nacheinander beider Kulturen ist heute noch nicht klar. Ebenso sind Chronologie und Gruppengliederung dieses umfangreichen Kulturkomplexes derzeit nur teilweise bekannt. Entstand die Masowische Gruppe aus diesem Kulturkomplex, der in seinem Gesamtverbreitungsgebiet nach der in Deutschland noch vielenorts herrschenden Lehrmeinung überall ziemlich unvermittelt abbridit, ohne daß Ursachen und genauer Zeitpunkt richtig zu erfassen sind? Diese Frage läßt sich heute nicht mehr einfach verneinen, aber auch noch nicht ganz sicher bejahen. Das Problem des Zusammenhanges der Masowischen Gruppe mit der vorher existierenden Kultur ist offenbar sehr komplex. Beispiele können genügend deutlich zeigen, wie weitgespannt der Begriff „Völkerwanderung" ist. Zudem erscheinen die mit Bevölkerungsveränderungen einhergehenden kulturellen Vorgänge oft so heterogen, daß sie fast unüberschaubar wirken. N u r wo sich Siedlungsabbruch und temporäre Siedlungsleere erkennen lassen, sind Bevölkerungsverschiebungen — Abwanderungen oder Landnahme — regelmäßig unmittelbar nachweisbar. Die Möglichkeit, Bevölkerungsverschiebungen an andersartigen Indizien, insbesondere an Änderungen der Kultur zu erkennen, ist nicht auszuschließen, ist in Einzelfällen exakt beweisbar, läßt sich öfters wahrscheinlich machen, läßt sich jedoch nicht in klare Regeln fassen. Eine Untersuchung der Bevölkerungsverhältnisse in Skandinavien nach paläodemographischen Methoden zeigt die Ungunst der Lebensbedingungen im skandinavischen Norden. In der Tat, Skandinavien war nicht jene vagina nationum oder officina gentium, von der Ablabius sprach. Die Lebensverhältnisse mögen auf dem Kontinent nicht sehr günstig gewesen sein. D a ß man aber im Norden gesünder und länger lebte, daß die Kindersterblichkeit geringer und die Kinderzahl höher war, diese Annahmen sind unwahrscheinlich, ja unmöglich. Sie können deswegen bei einer Kalkulation der Möglichkeiten außer Betracht bleiben. Der Norden mag in den Jahrhunderten um Christi Geburt einen geringen Bevölkerungsüberschuß produziert haben; der des Kontinents war aber größer, wenn auch vielleicht nicht beträchtlich. Die Masse der Germanen, die den Römern an allen nördlichen Grenzen zu schaffen machte, war nicht der reine Bevölkerungsüberschuß. Es waren mindestens zum Teil Menschen, die ihre Wohnsitze aus Gründen verließen, die mit Be-
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völkerungsvermehrung nicht oder nicht unmittelbar zusammenhingen. Oft läßt sich nachweisen, daß ganze Landstriche verlassen wurden. Wenn solche Auswanderer an der Grenze erschienen, so mußte es den Römern, die die Hintergründe der Wanderungen nicht übersehen konnten, so erscheinen, als handele es sich um einen echten Bevölkerungsüberschuß. Skandinavien — in der Bronzezeit recht beträchtlich, wenn auch keineswegs dicht besiedelt — verlor mit der beginnenden älteren Eisenzeit offenbar einen Teil seiner Bevölkerung. Das Klima veränderte sich; es wurde geringfügig kühler und nasser. Vernässung mancher Böden verringerte deren wirtschaftliche Rentabilität. Eine Reduzierung der stationär besiedelten, landwirtschaftlich genutzten Landstriche war zweifelsohne die Folge. Eine vollständige Verödung, wie sie die Funde manchenorts anzuzeigen scheinen, ist aber gewiß nicht eingetreten. Eine Abwanderung größerer Bevölkerungsteile nach dem Kontinent braucht mit diesen Vorgängen nicht einhergegangen zu sein. Sie läßt sich allerdings nach der Fundsituation nicht völlig sicher ausschließen. Eine natürliche Abnahme der Bevölkerung auf Grund einer durch klimatische Ungunst und deren wirtschaftliche Folgen verursachte höhere Sterblichkeit ist wahrscheinlicher. Sichtlich setzte in Skandinavien mit der jüngeren vorrömischen Eisenzeit langsam eine Binnenkolonisation ein. In Schweden wird sie bereits im Verlaufe des letzten vorchristlichen Jahrhunderts deutlich sichtbar (Abb. 48. 51—58). In Norwegen scheint sie später zur Wirkung gekommen zu sein (Abb. 49. 59—70). Es ist nicht recht denkbar, daß der Norden angesichts dieser fortschreitenden Kolonisation gleichzeitig auch noch beträchtliche Bevölkerungsteile nach dem Süden abgab, wenn es sich auch nicht vollständig ausschließen läßt. Wahrscheinlicher ist es, daß an der Landnahme im Norden auch kontinentale Germanen teilnahmen; aber auch das ist nach den Quellen nicht exakt beweisbar. Es gibt allerdings in der „historischen'1 Überlieferung des Nordens Einzelfälle, die vom Zug nach dem Norden zeugen: Die Saga berichtet, daß Leif Eriksson auf seiner Fahrt nach Winland einen „Südmann" namens Tyrk, also wohl einen Deutschen, bei sich hatte. Aber das war eine einzelne Person, und es ist auch ein Einzelfall. Was besagt er schon? Die Heruler, von deren Rückkehr nach dem Norden Prokop berichtete, zählen hier ja nicht, und auch die Sachsen rechnen nicht, die mit den Langobarden nach Italien gekommen waren und die heimzukehren beschlossen, weil ihnen die neue Rechtsordnung nicht zusagte. Wären Züge nach dem Norden erfolgt, dürfte man nicht erwarten, daß die historischen Berichte sie faßten. Der antiken, auch der spätantiken Historiographie waren Kenntnisse der Ereignisse im Norden gleichermaßen unerreichbar und belanglos.
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Bevölkerungs- und siedlungsgesdiichtliche Aspekte sprechen zusammengenommen dennoch eher für eine beträchtliche Beteiligung mitteleuropäischer Germanen an der Aufsiedlung des Nordens — insbesondere in einer frühen Zeit, als der Weg nach dem Süden versperrt war — als für die Herkunft eines Großteils kontinentaler Germanen aus dem Norden. Wer mag es angesichts dieses Tatbestandes überhaupt noch für möglich halten, daß Kimbern und Teutonen, Ambronen und Haruden, Wandalen und Burgunden, Langobarden und Rugier, Sueben und noch manche andere germanische Bevölkerungsgruppen aus dem Norden abgewandert sein sollten? Diskutabel — wenn auch nur innerhalb von engen Grenzen — bleibt lediglich die Möglichkeit einer Auswanderung der Goten. Die Fragwürdigkeit der Vorstellung, die meisten germanischen Stämme seien aus dem Norden gekommen, ist denen, die Skandinavien für die Heimat der meisten Germanen hielten, oft — mindestens im Unterbewußtsein — klar gewesen. Schon Kossinna suchte nach Auswegen, um den Verbleib der in Mitteleuropa autochthonen Bevölkerung verständlich zu machen. Er sprach daher gelegentlich davon, die Einwanderer hätten eine Oberschicht gebildet. Kleinere Gruppen nur seien aus dem Norden ausgewandert und hätten sidi im Süden zu Herren über die einheimisch germanische oder nichtgermanische Bevölkerung aufgeworfen. Diesen hätten sie mit der Herrschaft auch ihren Namen gegeben. Mit ihnen seien sie schließlich biologisch wie kulturell verschmolzen. Es wäre nicht einmal schwer, solche Vorgänge mit Beispielen aus dem skandinavischen Norden der Wikingerzeit zu belegen. Wikinger in Osteuropa, im Mündungsgebiet der Oder, auf den Britischen Inseln, in der Normandie und auf Sizilien, wären das nicht gute Beispiele für nordische Krieger, die sich schon früher überall in kleinen Gruppen niederließen und die Herrschaft an sich rissen? Ja und nein! Es sind in der Tat gute Beispiele für eine expansive Spätzeit und für eine Sozialordnung, die vertikal stark gestaffelt und voller innerer Spannungen war. In der Wikingerzeit waren die Möglichkeiten, landwirtschaftlich nutzbares, bislang jedoch unbesiedeltes Land in Besitz zu nehmen, durch die Landnahme der vorhergehenden Jahrhunderte schon beträchtlich eingeschränkt, wenn auch in Grenzen immer noch gegeben. Die Verbreitungskarten zeigen, was in der Wikingerzeit noch neu besiedelt werden konnte und was tatsächlich besiedelt wurde. Aber die langsam wachsende Bevölkerung wurde durch einen ständigen, aufreibenden inneren Kleinkrieg — Fehde, Streit und Blutrache — zu einem beträchtlichen Teil nach außen gedrängt. Die zur Auswanderung oder zum Raubzug Entschlossenen hatten ihre spezifischen sozialen Organisationsformen. Sie gaben ihnen, wo sie über-
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rasdiend erschienen, eine vorübergehende oder auch dauernde Überlegenheit. Noch in den Jahrhunderten um Christi Geburt müssen aber die Verhältnisse im Norden •wesentlich andere gewesen sein. Das läßt sich vor allen Dingen archäologisch nachweisen. Schon vor Christi Geburt ist die fortschreitende soziale Differenzierung auf dem Festlande deutlich erkennbar1 und bald danach läßt sidi in weiten Gebieten des Kontinents eine Fürstenschicht fassen, die über die „Stämme" hinweg untereinander eng verbunden war2. Davon ist im eigentlichen skandinavischen Norden — Dänemark ausgenommen — nichts zu spüren. Man könnte entgegnen, es sei gefährlich, ex silentio — d. h. aus dem Fehlen archäologischer Zeugnisse für soziale Gliederungen — auf einfache Sozialordnungen zu schließen. Es ist aber sichtbar, daß gerade in den Jahrhunderten um Christi Geburt das archäologische Fundgut im germanischen Raum annähernd überall dieselben Aufschlußmöglichkeiten bietet. So weisen — um ein kennzeichnendes Beispiel zu nennen — die archäologischen Funde zwischen Rhein- und Leinetal um und nach Christi Geburt keine Anzeichen für eine stark differenzierte soziale Struktur auf, wie sie sich im elbgermanischen Gebiet und weiter östlich reichlich zeigen. Es ist gewiß kein Zufall, daß die Römer für die Gegend am Rhein stets nur von H ä u p t l i n g e n als ihren Gegnern sprechen, während in Böhmen und in anderen Teilen des Ostens von K ö n i g e n die Rede ist®. Nicht zufällig gibt es aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert aus dem eigentlichen Skandinavien — Norwegen und Schweden — keine einzige fürstliche Bestattung. Ein erstes Fürstengrab ist für das zweite Jahrhundert aus Norwegen bekannt, das von Store Dal in 0stfold 4 . Es ist bezeichnend, daß dieses Grab kulturell so vollständig nach dem Süden — nach Dänemark — orientiert ist, daß man den dort Bestatteten gelegentlich für einen Fremden — einen Zuwanderer aus Dänemark — halten wollte. Erst nach und nach wurden im Laufe der jüngeren Kaiserzeit Anzeichen für eine fortschreitende Veränderung der Gesellungsformen in 1
Vgl. R. Hachmann, Zur Gesellschaftsordnung der Germanen i. d. Zeit um Christi Geburt, in: Archaeologia geogr. 5 (1956) 7 ff.
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H. J. Eggers, Lübsow. Ein germ. Fürstensitz d. älteren Kaiserzeit, in: Prähist. Zeitsdir. 34/35 (1949/50) 58 ff.
® Vgl. R. Hadimann, in: R. Hachmann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Germanen u. Kelten (1961) 66 f. 4
J. Petersen, Store Dal, in: Norske Oldfund 1 (1916) 1 ff.; H. J . Eggers, Der röm. Import im freien Germanien (1951) 95; E. Sprockhof!, Store Dal, in: Bonner Jahrb. 158 (1958) 295 ff.
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Norwegen8 und in Schweden® erkennbar. Lange war der Norden offenbar Peripherie nicht nur im Hinblick auf die materielle Kultur, sondern auch hinsichtlich der Formen und der Gliederung der Gesellschaftsordnung. Eine soziale Überlegenheit nordischer Auswanderergruppen — angenommen, es habe solche Gruppen, die sich nach dem Süden wandten, gegeben — über die einheimisch kontinentaleuropäische, germanische Bevölkerung ist für die Jahrhunderte um Christi Geburt nicht denkbar. Sie zu postulieren, zeugt nicht von Gefühl für das, was historisch wirklich möglich und wahrscheinlich ist. Gegen solche Argumente könnte man allerdings einwenden, die Struktur der Bevölkerung des Römischen Reiches sei doch wohl deutlich entwickelter gewesen als die der Germanen, und trotzdem hätten diese sidi zu Herren großer Teile des Reiches gemacht. Dieser Einwand sticht aber aus mehreren Gründen nidit. Es war ein komplizierter Prozeß, der der Entstehung germanischer Herrschaften auf römischem Boden voranging. Schon lange vorher hatten Germanen oder andere Barbaren im Römischen Reich hohe und höchste militärische Ränge inne — Stilicho, Ricimer, Arbogast, Odovakar, Aspar sind Beispiele dafür — und germanische Föderaten waren zum unentbehrlichen Instrument römischer Staatsführung geworden. Es vollzog sich ein langsamer sozialer Aufstieg von Germanen innerhalb des Reiches, der von der Staatsführung teils aus der Not der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Barbaren, teils aus Einsicht in die Zweckmäßigkeit solchen Vorgehens in wechselnder Intensität, aber ohne eigentliche Unterbrechung immer weiter gefördert wurde. Auf dieser Grundlage und angesichts der Schwäche des geteilten Reiches konnten Germanen eigene Herrschaften auf römischem Boden bilden, die mindestens de iure durch Föderatverträge legalisiert waren. Die Geschichte der Westgoten, insbesondere ihr Aufbruch unter Alarich nach dem Westen, erhellt am besten die Besonderheiten der Situation. Im Germanentum war ursprünglich — d. h. in der Zeit vor Christi Geburt — eine ziemlich einheitliche soziale Disposition vorhanden. Es waren nicht zuletzt die Erfahrungen, die germanische Häuptlingssöhne in römischem Kriegsdienst oder als Geiseln in Rom machen konnten, welche die soziale Differenzierung im germanischen Raum förderten. Die Reaktion der Germanen auf die Heimkehrenden war unterschiedlich. Im westlichen Germanentum scheiterte Arminius an den Widerständen der alten Vgl. H. Sdietelig, Vestlandske Graver fra Jernalderen (1912) 53 ff. (Fürstliches Grab von Avaldsnes, Rogaland, der Stufe C2 der jüngeren Kaiserzeit); H . J. Eggers, Der röm. Import im freien Germanien (1951) 91. • O. Almgren, Ett uppländskt gravfält med romerska kärl, in: Fornvännen 11 (1916) 76 ff.
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verfassungsmäßigen Verhältnisse; weiter östlich hatte Marbod Erfolg. Es ist kein Zufall, daß das älteste germanische Fürstengrab, Prag-Bubenec7, aus Böhmen stammt. Der Norden folgte dem kontinentalen Germanentum deutlich verspätet in dieser Entwicklung. Nodi die Geschichte des norwegischen Königs Harald Schönhaar und die des Dänen Harald Graufell läßt diese Verspätung gegenüber kontinentalen Verhältnissen deutlich erkennen. Nordische Herrensdiichten auf dem K o n t i n e n t sind in den Jahrhunderten um und nach Christi Geburt daher wenig wahrscheinlich. Was an Zuwanderern aus dem Norden hätte kommen können, hätte sich wohl in der Regel den Gefolgschaften kontinentaler Häuptlinge und Fürsten angeschlossen oder wäre zwischen einheimischen Germanen seßhaft geworden und von diesen alsbald sozial und kulturell inkorporiert worden. Erst im Verlauf der Völkerwanderungszeit — wohl vornehmlich in deren jüngerem Teil — und in der Wikingerzeit entstand im Norden eine Gesellschaftsordnung, die in bestimmter Hinsicht den Nordleuten den kontinentalen Germanen gegenüber eine Überlegenheit gab. Diese Überlegenheit war aber doch eine einseitige und partielle, und es ist gewiß kein Zufall, daß sich Nordleute nur an der Peripherie Europas dauerhaft festsetzen konnten, auf Island und Grönland, auf den Britischen Inseln, in der Normandie, auf Sizilien, in Rußland. Mitteleuropa wurde heimgesucht, aber geriet nicht in ihre Hände. Doch zurüdc zu den Goten an der Weichsel, der Masowischen Gruppe: Daß diese Gruppe ein Teil — wenn auch ein relativ eigenständiger — der ausgedehnten Przeworsker Kultur ist, läßt sich nicht bestreiten. Die Frage der Genesis der Masowischen Gruppe läßt sich deswegen von der der gesamten Przeworsker Kultur nicht trennen. Zusammenhänge mit der ausgehenden Steinkistengräber- und Glockengräberkultur sind sichtbar, wenn auch heute erst schwach. Veränderungen des besiedelten Raumes sind deutlich, doch wird heute daraus und aus mangelnder Kulturkontinuität niemand mehr voreilig auf einen vollkommenen Bevölkerungswechsel schließen wollen. Der Gedanke, die Masowische Gruppe sei aus einer mittelweichselländisdien Gruppe der vorangehenden Kultur entstanden und hätte sidi alsbald nach dem Norden in „baltisches Gebiet" vorgeschoben, ist zwar naheliegend, aber die Quellen liefern dafür noch keinen vollgültigen Beweis. Eine Einwanderung der Masowischen Gruppe mit dem Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit aus Skandinavien ist, wenn man Typenbestand, Tracht-, Grab- und Beigabensitte in Betracht zieht und auf Zu7
B. Novotny, Hrob velmoze z poüätky doby rimsk