Skandinavien und Byzanz: Bedingungen und Konsequenzen mittelalterlicher Kulturbeziehungen 9783666367267, 9783525367261, 9783647367262


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German Pages [1344] Year 2015

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Skandinavien und Byzanz: Bedingungen und Konsequenzen mittelalterlicher Kulturbeziehungen
 9783666367267, 9783525367261, 9783647367262

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Historische Semantik

Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz

Band 23

Roland Scheel

Skandinavien und Byzanz Bedingungen und Konsequenzen mittelalterlicher Kulturbeziehungen Teil 1

Mit zahlreichen Abbildungen und einer Übersichtskarte

Vandenhoeck & Ruprecht

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-2953 ISBN 978-3-525-36726-1 ISBN 978-3-647-36726-2 (E-Book) ISBN 978-3-666-36726-7 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Zugl.: Frankfurt am Main, Univ., Diss. 2014, Siegelziffer D.30. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Måløv Kirke, Triumphwand, Detail: nördliche Seitenaltarnische, Theotokos Hodegetria, © Roland Scheel. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

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II.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Byzanz und der Norden zwischen mobiler Wikingerzeit und der »Europäisierung Europas«: Zwei Narrative, ihre Problematik und ein Desiderat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Konsequenzen eines Bewusstseinswandels . . . Zwei isolierte Narrative: Die Waräger und die »Europäisierung« Nordeuropas . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenkritische und erinnerungskritische Überlegungen . . 2. Skandinavien, Byzanz, Hochmittelalter: Zum Gegenstand . . . . 3. Zur Methode: Kulturen, Kulturareale und Corpusbildung . . . . Forschungsgeschichtliche Implikationen . . . . . . . . . . . Byzantinische und skandinavische Quellencorpora . . . . . Transfers in einer ephemeren Kulturbeziehung . . . . . . . 4. Kulturtransfer, die Konstitutionslogik historiographischer Texte und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Warangoi und Axtträgern: Das byzantinische Bild der Skandinavier und Skandinaviens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ῥῶς in Byzanz und die Problematik »ethnischer« Bezeichnungen Migration auf dem »Ostweg« und die Zahl skandinavischer Söldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basileios II. als Gründer einer »Warägergarde«? . . . . . . . 2. Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten und die Notwendigkeit einer Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachgebrauch und Perzeption . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Waräger, Tauroskythen und obskure Waffen bei Michael Psellos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2. Haraltes aus Warangia und die Einbindung der Skandinavier in das Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Chrysobullen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Exkurs: Κούλπιγγοι – kolbjagi – Kylfingar . . . . . . . . . . 2.5. Ambiguitäten bei Michael Attaleiates . . . . . . . . . . . . . 2.6. Die Sprache der Quellen und die Geschichte der »Waräger« . 3. Komnenoi, Kreuzfahrer und Warangoi: Späte Perspektiven auf das 11. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Gegenwart wird Vergangenheit – Skylitzes, Bryennios und Zonaras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrones semantisches Wissen formt erzählte Episoden . 3.2. »Vertraut« und »wohlgesinnt«: Byzanz und die Axtträger vor 1204 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geographisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnographische Variation und ihr Hintergrund . . . . . . . 3.3. Auf dem Höhepunkt der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . Warangoi als Senatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Alexias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterbrochenes Schweigen: Die Schlacht von Beroe 1122 und die Bilder des Madrid-Skylitzes . . . . . . . . . . . . . . Manuel Komnenos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Andronikos I. Komnenos, die Angeloi und ihre Warägergarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niketas Choniates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Warägerbild bei Nikolaos Mesarites . . . . . . . . . . . 3.5. Der Vierte Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Eroberung hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Dekonstruktion eines Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eine »palaiologische Renaissance« . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Nikaia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Michael VIII. Palaiologos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Engländer oder Byzantiner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Das 14. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pseudo-Kodinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letzte Zeugnisse der Βάραγγοι . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit: Höhepunkt, Traditionsabbruch und eine notwendige Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Byzanz im Norden: Historiographisch-politische Zugänge . . . . . 1. Im Anfang war das Märchen: Haraldr Sigurðarson als Held im Exil – und als Träger von Transfer? . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Der »Norðbrikts þáttr« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Validität historischer Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die doppelte Theoriebindung skaldischer Tradition . . . . . Wissenstransfer und Informationsgenese jenseits von Mentalitätsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Das Ende von Haralds byzantinischer Karriere – ein Alternativszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Morkinskinna – Fagrskinna – Heimskringla: textgenetische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutungsschema und »Authentizität« in der Heimskringla . 1.6. Haraldr inn harðráði, Kulturtransfer im 11. Jahrhundert und die Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gold der Menia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Münzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pektoralkreuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migranten aus Byzanz und Haralds »Kirchenpolitik« . . . . Skandinavisch-rusischer Kulturkontakt und seine Folgen . . 1.7. Historiographie, ihre hochmittelalterliche Zeit und ihre erzählte Wikingerzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwischen zwei Imperien: Dänemark im 12. und frühen 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Das Schweigen der frühen Quellen . . . . . . . . . . . . . . Stumme Artefakte: Ørnetæppet und Dagmarkors . . . . . . Erik »der Zyprer«: Vom Märtyrervater zum Kreuzfahrerheiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Feinde der Römer und Nachbarn der Griechen in grauer Vorzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Chronicon Lethrense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von ultima Tyle bis zum Imperium der Griechen . . . . . . Engmaschige, organisierte Kontakte . . . . . . . . . . . . . . Der Byzantiner Odin und Heldentaten auf dem Ostweg . . . Stoffgeschichte: eine »Warägersage«? . . . . . . . . . . . . . 2.3. König, Ritter und Kreuzfahrer in Byzanz: Kontakte in der jüngeren Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danorum fidem Gre˛cie˛ conciliauit: Erik Ejegod bei Saxo . . Die Historia de profectione Danorum in Hierosolymam oder Byzanz als Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.4. Zwischensumme: Byzanz in der dänischen Historiographie . IV. Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intention oder Zufall, direkt oder indirekt? . . . . . . . . 1. Das Corpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vä-Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Finja-Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Jørlunde-Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Byzanz, Skjalm Hvides Nachkommen und die Kalkmalereien Datierungsmethoden und Kontexte . . . . . . . . . . . . Konkrete Datierungen: Vä als Kirchenbau und Kloster . Óláfr Haraldsson und Knud der Heilige in der Geburtskirche zu Bethlehem . . . . . . . . . . . . . . . . Das Skjalmkollektiv und sein Status im 12. Jahrhundert . Rundkirchen und Lapislazuli . . . . . . . . . . . . . . . . Die Maiestas Domini als politisches Barometer . . . . . . Zwischensumme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit: Byzanz und eine dänische »Klassik« in der Valdemarenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.

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Zwischen zwei Parteien: Norröne Historiographie um 1200 . . . . 1. Das 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtstexte als Zeugen früher Migration? . . . . . . . . . . Enzyklopädisches Wissen im späteren 12. Jahrhundert . . 2. Orkneyinga saga und Morkinskinna als Schlüssel zu Byzanzbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Orkneyinga saga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ro˛gnvalds Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilgerfahrt, Herrschertugend und Herrschaftsbeziehungen Erzählmomente und Prosimetrum: Ro˛gnvalds Reise als Maß aller Dinge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maßstäblich vergrößert: Sigurðr Jórsalafari in der Morkinskinna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Cui bono? Das Kloster Munkaþverá, Byzanz und die Baglar . . Politische Positionierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Munkaþverá, die Hvassafellsmenn und Byzanz . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4. »Weitgereiste« aus Þingeyrar: Óláfs saga Tryggvasonar und Yngvars saga víðfo˛rla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erschließung der Wikingerzeit in der Óláfs saga Tryggvasonar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Þingeyrar, die Birkebeinar und Byzanz . . . . . . . . . . . . Das Fortleben eines Motivs I: Die Yngvars saga víðfo˛rla . . . Das Fortleben eines Motivs II: víðfo˛rla þættir . . . . . . . . Zwischenfazit: Byzanz im literarischen Wettrüsten um 1190 bis 1220 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Materielle Kultur: drei Überreste reger Interaktion . . . . . . . . Ein experimenteller Schiffstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein geschnitztes Weltgericht und byzantinische Seide . . . . VI. Resümee: Der Norden und Byzanz im Hochmittelalter (1150 bis 1220) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Byzanz im Norden: Fiktional-ästhetische Zugänge . . . . . . . . . . 1. Waräger-Exkurse in den Íslendingasögur . . . . . . . . . . . . . Byzanz als Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Byzanzexil und Fehdeaustrag in Byzanz . . . . . . . . . . . . Zwischensumme: Byzanzfiktion und ihre Bedeutung für das Bild von der söguöld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die »Warägisierung« der Mythologie im 13. und 14. Jahrhundert »… den die Væringjar Fáfnir nennen« . . . . . . . . . . . . Die Verlagerung von Schauplätzen: Vo˛lsunga saga und O ˛ rvar-Odds saga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modulares Erzählen und die »Warägisierung« einer Saga . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der byzantinische Freund: Ein Ausblick auf die spätmittelalterliche norröne Literatur . . . . . . . . . . . . . . . Geschätzte Schwiegersöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibungen der »Großen Stadt« . . . . . . . . . . . . . . Geliebte Schwiegerväter: Ein anderes Byzanzbild? . . . . . . Grikkland als Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Bildungsromane« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Byzantinische oder orientalische Vorbilder? . . . . . . . . . 4. Besonderheiten: Das Byzanzbild der spätmittelalterlichen norrönen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank

Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 2013 als Dissertation am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt eingereicht und im Mai 2014 verteidigt. Für die Publikation wurde sie geringfügig überarbeitet und um aktuelle Forschungsliteratur und Quelleneditionen ergänzt. Finanzielle Unterstützung erfuhr ich durch ein Stipendium der Studienstiftung, das es ermöglichte, das Projekt konzentriert abzuschließen; darüber hinaus unterstützte die Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität zwei Tagungsreisen. Dass die Publikation einer so umfangreichen Arbeit zügig gelang, verdanke ich Bernhard Jussen, der den Druckkostenzuschuss aus Mitteln des ihm verliehenen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises finanzierte. Von ihm ging zudem die Anregung zur Aufnahme in die Reihe »Historische Semantik« aus, für die ich auch Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz herzlich danken möchte. Am Anfang der Arbeit stand ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Byzanz und Skandinavien in der Wikingerzeit, das mein Doktorvater Wolfram Brandes unter Mitarbeit meines Frankfurter Kollegen Daniel Föller auf den Weg gebracht hatte. Rasch zeigte sich, dass der zeitliche Schwerpunkt sich angesichts der Quellensituation in das Hochmittelalter verschieben würde. Zudem zeichnete sich schon früh die erhebliche Breite und Vielfalt des Quellencorpus ab, das nicht nur überschaut, strukturiert und analysiert, sondern auch zugänglich gemacht sein wollte. Umso deutlicher wird aus der Retrospektive, wie sehr ich Kolleginnen und Kollegen, meinen Freunden und meiner Familie zu Dank verpflichtet bin. Sie alle haben mir auf verschiedene Weise geholfen, ans Ziel zu gelangen. Zuerst sind meine Gutachter Wolfram Brandes und Julia Zernack zu nennen. Sie ließen mir von Anfang an vollkommene Freiheit bei der Strukturierung meiner Arbeitsprozesse, was ich als einen großen Vertrauensvorschuss empfand. Gleichzeitig nahmen sie sich mit größter Selbstverständlichkeit auch jenseits von Kolloquiumsvorträgen immer wieder viel Zeit, um aktuelle Beobachtungen und Thesen zu besprechen und Arbeits- und Darstellungsstrategien gemeinsam zu

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Dank

durchdenken. Es war dabei von besonderem Wert, sowohl einen Byzantinisten als auch eine Skandinavistin als Ansprechpartner zu haben, deren Rat ich nicht nur in fachlicher Hinsicht sehr schätze. Gleichfalls sehr zu Dank verpflichtet bin ich Johannes Pahlitzsch (Mainz), der kurzfristig das Drittgutachten übernahm. Johannes Fried, der mich erstmals für die Mediävistik begeisterte und bei dem meine Magisterarbeit entstanden war, hat die Entstehung der Dissertation mit Interesse verfolgt und in zahlreichen anregenden Gesprächen begleitet. Gleiches gilt in der Skandinavistik für meine Kollegen Espen Børdahl und Beatrice La Farge, die mir nicht nur mit zahlreichen Literaturhinweisen weiterhalf, sowie für Daniel Föller. Im Anschluss an Begegnungen auf Tagungen und bei Vorträgen entstanden zahlreiche anregende Kontakte und kollegiale Gespräche. Für kritische Hinweise und Fragen, wichtige Anregungen und Ermutigung danke ich besonders Jonathan Shepard (Oxford), Mia Münster-Swendsen (Roskilde), Thomas HeebøllHolm (København), Michael Kræmmer (Sorø), Niels Henrik Holmqvist-Larsen (København), Anders Ödman (Lund), Carsten Jahnke (København), Sverrir Jakobsson (Reykjavík), Edward Carlsson Browne (Aberdeen), Krijnie N. Ciggaar (Leiden), Martin Kaufhold (Augsburg) und Klaus Böldl (Kiel). Die methodische Arbeit an Phänomenen kultureller Interaktion erhielt entscheidende Impulse durch das Schwerpunktprogramm »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter«, vor allem in der intensiven Zusammenarbeit mit Stamatios Gerogiorgakis und Dittmar Schorkowitz. Den methodisch äußerst wertvollen Zugang zur historischen Semantik vermittelten mir meine Frankfurter Kollegen Silke Schwandt, Ulla Kypta und Tim Geelhaar, die mich bereitwillig in ihren Semantik-Arbeitskreis aufnahmen. Aus der Zeit gemeinsamer Projekttätigkeit im Historischen Seminar verdanke ich Tim zudem zahlreiche Anregungen und Kommentare für die Redaktion der Arbeit, ebenso wie meiner Göttinger Kollegin Irene Kupferschmied. Ganz besonders verbunden bin ich Ulla Haastrup (København), die mich nach einer zusehends regen Korrespondenz über dänische Kalkmalereien kurzerhand einlud, mich großzügig und freundschaftlich mit Material versorgte und mit ihrem überbordenden Wissen zu den dänischen Fresken gewissermaßen die Betreuung des kunsthistorischen Teils meiner Arbeit übernahm. Für diese Freigiebigkeit danke ich ihr umso mehr, als sie abweichende Meinungen des Dilettanten in Datierungsfragen mit Langmut aushält. Über sie lernte ich auch Søren Kaspersen (København) und John H. Lind (København/Odense) kennen, die mir mit ihrer Expertise in Kunstgeschichte und osteuropäischer Geschichte weiterhalfen. Kaum zu überschätzen ist bei aller Bedeutung des akademischen Rahmens der Anteil, den meine außeruniversitären Freunde und meine Familie an der Entstehung der Dissertation hatten. Danken möchte ich Andreas Weidemann, der

Dank

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nicht nur stets zuhörte, mitdachte und kritisch nachfragte, sondern auch für höchst willkommene Ablenkung sorgte, zusammen mit Martin Dallmann, Christoph Hamer und Fabian Wolf. Stets zur Seite standen mir die Familie meiner Frau, Wilfriede, Wolfgang und Sabine Veltjens. Meine Eltern Barbara und Ludger haben das Entstehen der Dissertation nicht nur inhaltlich unterstützt und gemeinsam mit meiner Schwester Sophie-Marie und ihrem Mann Sebastian das Manuskript korrigiert, sondern es auch verstanden, mir angesichts von Sorgen, wie sie Doktoranden nur allzu vertraut sind, den Rücken zu stärken. Am meisten aber danke ich meiner Frau Johanna. Sie hat den größten Anteil an diesem Buch, nicht allein deshalb, weil unsere simultane mediävistische Arbeit an gegenüberliegenden Schreibtischen besonders produktiv ist, sondern aus Gründen, die sie selbst am besten kennt.

I.

Einleitung »Wenn ihr Byzanz fragtet, es würde rufen, die Tapferkeit unserer Leute sei sein Schutz.1«

Überall ist Byzanz. Skandinavische Herrscher und ihre Heere gelangen auf Kreuzzügen nach Miklagarðr, in die »große Stadt« Konstantinopel, erfahren großartige Empfänge und werden zu Freunden der Kaiser. Wikingerzeitliche Exilanten erleben spektakuläre Abenteuer. Die Reise nach Grikkland, der Dienst bei den Væringjar, der Erwerb von Ehre und Ruhm beim Basileus sind Elemente, die sich wie ein roter Faden durch die skandinavischen Texte des hohen und späten Mittelalters ziehen, gleichermaßen durch Historiographie und Fiktion, durch vernakulare wie lateinische Texte. Dass Byzanz für das Geschichtsbild der Skandinavier eine so bedeutende Rolle spielt und dieses immer wieder neu kontextualisierte Byzanzbild sich deutlich von demjenigen unterscheidet, welches die lateineuropäischen Nachbarn in jenen Jahrhunderten pflegen, stellt zugleich Ausdruck wie Konsequenz einer jahrhundertelangen, regen und produktiven Kulturbeziehung dar. Sie hinterließ ihre Spuren auch in der materiellen Kultur: Seit ersten Begegnungen zwischen Byzantinern und Skandinaviern, die im 9. Jahrhundert über die Flusssysteme Osteuropas das Schwarze Meer und Konstantinopel erreichten, finden sich Importgüter byzantinischer Herkunft im Norden. Ihre offensichtliche Attraktivität beeinflusste später die lokale Ästhetik und führte zur Rezeption beziehungsweise Nachahmung bei frühen skandinavischen Münzprägungen und der Produktion von Kreuzanhängern. Wikingerzeitliche Runeninschriften memorialen Charakters aus dem schwedischen Raum unterstreichen die Bedeutung von Fahrten zu »den Griechen« in den skandinavischen Oberschichten. Umschreibungen von Gott als dem »Beschützer Griechenlands« (gætir Grikklands) in der Skaldendichtung des 11. Jahrhunderts kennzeichnen den Stellenwert von Konstantinopel als christliches Zentrum. Auch die Byzantiner wurden zusehends aufmerksamer für skandinavische Migranten, die aus dem Norden des Schwarzen Meeres mitunter als Plünderer, 1 »Si Greciam consulis, nostrorum audacia se defensari clamitabit.« (Historia de profectione Danorum [um 1195], S. 466, Z. 16f.).

16

Einleitung

meist aber als Händler nach Konstantinopel gelangten. Sie integrierten viele von ihnen in ihr Militär, und gemäß aktuellem Forschungskonsens begründete der kriegerische Basileios II. am Ende des 10. Jahrhunderts eine Sondereinheit aus diesen Skandinaviern, die berühmte »Warägergarde«. Nicht zuletzt an dieser Stelle ist die Geschichte von Byzanz und Skandinavien untrennbar verbunden mit der Genese eines Herrschaftsraums entlang des Weges von der Ostsee ans Schwarze Meer: Skandinavische Migration und Verflechtung mit lokalen Bevölkerungen an diesem Weg führte zur Genese der Kiever Rus’, die aufgrund der personalen Rückbindung an den Norden bei gleichzeitiger Integration in die byzantinische Kultursphäre wie eine Klammer zwischen Byzanz und dem Norden erscheint – mit entsprechenden Konsequenzen für die spätere Nationalgeschichtsschreibung. So steht denn die moderne Historiographie jener Kulturbeziehung im Bann der wikingerzeitlichen Geschichte dieses »Ostwegs«, seiner Entwicklung, der Auswirkungen und auch des Zeitrahmens, in welchem diese Verbindung produktiv war. Abgesehen von Runensteinen und archäologischen Funden indes stammt die Masse der skandinavischen Texte, welche ausführlich von Byzanz und auch dem Ostweg berichten, ausnahmslos aus dem Hochmittelalter. Obschon diese Textmasse aus weiter Distanz und einer gegenüber der Wikingerzeit radikal veränderten Gegenwartsperspektive spricht, hat die Forschung sie als Träger von Sachinformationen und osteuropäischen Traditionen integriert in Rekonstruktionen des Ostwegs und seiner wikingerzeitlichen Geschichte und mit Wissen aus viel älteren byzantinischen und altrussischen Texten synthetisiert. In der so entstandenen Geschichte von Byzanz und Skandinavien erscheint die hochmittelalterliche Kulturbeziehung wie der blasse Abglanz einer wikingerzeitlichen Blüte. Bei einem näheren Blick auf die verschiedenen lokalen Milieus, welche die skandinavischen Literaturen im Hochmittelalter prägen, zeigt sich jedoch, dass Gegenwartserfahrungen die Semantik des Byzanzbegriffs und damit Byzanzbilder mindestens ebenso sehr formen wie lange zurückreichende Traditionen. Die Migration zwischen dem Norden und dem östlichen Mediterraneum war auch nach dem Bedeutungsverlust des Ostwegs in der Zeit der Kreuzzüge intensiv, und sie fand ihren Niederschlag weit über die einschneidenden Ereignisse des Jahres 1204 hinaus nicht allein in der materiellen Kultur, sondern führte auch zu bemerkenswerten Rezeptionsprozessen in der romanischen Kunst des Nordens. Gleichzeitig aber sind die Literaturen des Nordens, welche uns ein Byzanzbild vermitteln, Resultate des Transfers und der Anverwandlung lateineuropäischer Gelehrsamkeit, und die romanische Kunst bleibt bei allen Byzantinismen eben romanisch. Daher unterwindet sich die vorliegende Studie nicht dem Versuch, eine lineare Geschichte von Migration, Kulturbegegnung und Interaktion an sich zu rekonstruieren. Das Ziel ist es vielmehr, die Geschichte der gegenseitigen Wahrneh-

Einleitung

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mung der Byzantiner und der Skandinavier, ihres Wandels mit der Zeit und ihrer synchronen und diachronen Konsequenzen im Norden und in Byzanz nachzuzeichnen. Mobilität und Interaktion besagen für sich genommen noch nichts über mögliche Auswirkungen an beiden Enden von Migrationswegen, und das Fremde wird im heimischen Kontext erst in jenem Augenblick wirkmächtig, in dem es dort eine synchrone Bedeutung und Funktion entwickelt. Dies gilt für Byzanz, wo sich kontinuierlich skandinavische Migranten aufhalten, gleichermaßen wie für den Norden. So ist der eingangs zitierte, einem dänischen Magnaten im Jahre 1187 in den Mund gelegte Ausruf über den dänischen Schutz für Byzanz nicht bloß ein Indikator für eine funktionierende Kulturverflechtung, sondern zugleich das politische Statement eines Chronisten, der in einer angespannten Situation zwischen dem staufischen Reich und dem valdemarischen Dänemark schreibt. Dänischer Schutz und staufische Bedrohung der Byzantiner, sowohl durch Friedrich Barbarossa im kurz zurückliegenden Dritten Kreuzzug oder durch Heinrich VI. zur Entstehungszeit des Textes, sind keineswegs ein zufälliger Gegensatz. Solchen Prozessen der Aneignung und Funktionalisierung des Fremden und ihrer Einbindung in komplexe, miteinander verflochtene synchrone Prozesse transkultureller und lokaler Interaktion sowie ihrem Hintergrund in konkreten Begegnungen zwischen Menschen gilt hier das Interesse. Die Basis der Analyse bildet eine umfassende und möglichst akkurate Erschließung der schriftlichen Quellencorpora, die hierfür relevante Informationen enthalten. Daraus resultiert die Gliederung in eine byzantinische und mehrere lokal und diachron differenzierte skandinavische Perspektiven, welche jeweils komparatistisch aufeinander zu beziehen sind. Überschneidungen und Differenzen in der Aufmerksamkeit für das jeweils Andere und seine Funktionalisierung lassen ein neues Bild von der Kulturbeziehung zwischen Byzanz und Skandinavien im Hochmittelalter entstehen. Es stützt sich weniger auf die erzählten Ereignisse selbst und die Vergangenheit, welche dort konstituiert wird, als vielmehr auf die synchronen Konstitutionsbedingungen von Vergangenheitsbildern. Auf diese Weise lösen sich die hochmittelalterlichen Texte aus ihrer Beschränkung auf die Zeit, von welcher sie berichten, und es öffnet sich die Perspektive für Prägungen des kulturellen Gedächtnisses in spezifischen politischen Konstellationen und ihre ästhetische Fortwirkung in der longue durée. So entsteht ein neues Bild von einer Beziehung über die weite Distanz und ihren Auswirkungen auf die kulturelle Konstellation »Europas« im Mittelalter.

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1.

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Byzanz und der Norden zwischen mobiler Wikingerzeit und der »Europäisierung Europas«: Zwei Narrative, ihre Problematik und ein Desiderat

Skandinavier waren mobil. Die Vorstellung von Wikingern und Warägern, die mit ihren Schiffen nicht nur die Küsten und Flüsse Westeuropas und den Nordatlantik bis nach Neufundland befuhren, sondern über die Flüsse Osteuropas auch das Schwarze und das Kaspische Meer erreichten, ist ein fester Bestandteil des gegenwärtigen kollektiven Geschichtsbildes vom Frühmittelalter geworden.2 Migration und die Entstehung skandinavischer Herrschaften

2 Vgl. unter Publikationen, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richten, die Überblicke bei Jansson, Österled [1992]; Noonan, Scandinavians in European Russia [1997]; Foote/Wilson, Achievement [1970], S. 218–229; Simek, Wikinger [1998], S. 71–85; Föller, Wikinger [2012], S. 42f., 114f. sowie die Quellensammlung bei Die Waräger, ed. Ebel [1978]. Ausführlich behandelt wird das Thema skandinavisch-osteuropäischer Geschichte in der Wikingerzeit bei Ellis Davidson, Viking Road [1976] und Larsson, Väringar [1991] sowie im Hinblick auf hieraus resultierende Sagenmotive von Stender-Petersen, Varangica [1953]; noch weitere Perspektiven auf wikingerzeitlichen orientalischen Einfluss in der späteren Sagaliteratur spannt Mundt, Adaption orientalischer Bilder [1993] auf, ebenso Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 283–312. Das hochmittelalterliche Bild des östlichen Ostseeraumes in den Sagas behandelt Zilmer, »He drowned in Holmr’s Sea« [2005], Vorstellungen von Reisen in den Osten und nach Byzanz in den Sagas Shafer, Saga-Accounts of Far-Travellers [2010], S. 82–139 (Byzanz und Heiliges Land) und 140–206 (Osten). Die wikingerzeitliche Verbindung zwischen Skandinavien und Byzanz durch Osteuropa bildet einen Aspekt der umfassenden Untersuchungen von Riant, Expéditions et pèlerinages [1865], Melsteð, Ferðir, siglingar og samgöngur [1907–1915] sowie Blöndal, Væringjasaga [1954], S. 7–206 bzw. Blöndal, The Varangians of Byzantium [1978], S. 1–130. S. ferner Varangian Problems, ed. Hannestad [1970]; Les pays du Nord, ed. Zeitler [1981]; Bysans och Norden, ed. Piltz [1989]; Byzantium, ed. Fledelius/Schreiner [1996]; Byzantium and Islam in Scandinavia, ed. Piltz [1998]; Från Bysans till Norden, ed. Janson [2005]; Byzantium and the Viking World, ed. Shepard/Androshchuk [im Druck]. Weiterhin Mel’nikova, Lists of Old Norse Personal Names [2004]. Auf die Bedeutung osteuropäischer Verbindungen machte aus archäologischer Sicht bereits Arne, Sveriges förbindelse med Östern [1911] aufmerksam. Insbesondere Bolin, Mohammed, Charlemagne and Ruric [1953] begründete in Modifikation der Pirenne-These auf numismatischer Basis die bis heute wirksame, indes mangels schlüssiger Beweise umstrittene Idee, die »karolingische Renaissance« sei materiell wesentlich durch Silber aus Arabien ermöglicht worden, das durch warägischen Handel über Skandinavien in den Westen gelangt sei. Zur Forschungsdebatte Andersson, Pirenne, Bolin och den nya arkeologin [1989] und McCormick, Origins [2001], S. 345–351, 385–387, 562–564, 606–613, 778–798, der verdeutlicht, dass im Gegensatz zu Pirennes Ansicht eben der Handel des Frankenreichs mit der islamischen Welt über das Mediterraneum den ökonomischen Aufschwung ermöglichte. Aus der Archäologie weiterhin Duczko, Viking Rus [2004]; Jansson, Warfare, Trade, Colonization [1997]; Stalsberg, Scandinavian Viking-age Boat Graves [2001]; Sindbæk, Varægiske vinterruter [2003]; Ambrosiani, Birka and Scandinavia’s Trade [2005]; Boba, Nomádok [2005]; Jansson, Situationen i Norden [2005]. Einen exzellenten Überblick über skandinavisch-rusische Beziehungen aus rusischer Perspektive bieten Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996]; vgl. auch Schramm, Altrußlands Anfang [2002].

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außerhalb eines ex post als »skandinavisch« zu definierenden Raumes, etwa in der Rus’ und der Normandie, die in Wechselwirkung mit den lokalen Kulturen rasch neue Formen annahmen, stellen eine Konsequenz skandinavischer Mobilität dar. Hieraus folgt, dass die Kulturen der geographisch gesehen äußersten nordwestlichen Peripherie Europas in ihren verschiedenen lokalen Ausprägungen keineswegs isoliert oder randständig erscheinen: Insbesondere die Archäologie konnte zeigen, in welchem Maße die materielle Kultur des wikingerzeitlichen Nordens, zuvorderst diejenige des Ostseeraums, sowohl durch Verbindungen nach West- als auch nach Osteuropa geprägt war.3 Karten, welche die Wege wikingerzeitlicher Fahrten verdeutlichen und in Überblicksdarstellungen und Ausstellungskatalogen allenthalben begegnen, führen die eigentlich zentrale Lage Skandinaviens in Europa, die es der Beweglichkeit seiner Einwohner verdankte, deutlich vor Augen. In diesem Deutungsschema lässt sich ein Grund für die fortdauernde Aktualität der Wikingerzeit in der Forschung sowie der populären Rezeption trotz des Übergangs von nationalen zu transnationalen Perspektiven auf die Geschichte erkennen. Die Kultur der Wikingerzeit bezieht ihre spezifische Rolle in der globalen Geschichte nicht mehr wie im 19. und dem größten Teil des 20. Jahrhunderts durch ihre vermeintliche germanische oder skandinavische Genuinität,4 durch ihre Freiheit von »südlich-christlichem« Einfluss, sondern durch ihre Offenheit für verschiedene kulturelle Einflüsse und ihre Fähigkeit zur Adaption transferierter Kulturgüter, insbesondere aus dem Osten Europas. Das

3 Vgl. neben den in Anm. 2 genannten archäologischen Arbeiten v. a. Duczko, Viking Sweden and Byzantium [1996]; Roslund, Brosamen [1998], bes. S. 375–385. Grierson, Harold Hardrada [1979]; Morrisson, Le rôle des varanges [1981]; Malmer, Imitations of Miliaresia [1981]; Malmer, The Byzantine Empire [1981]; Malmer, A Small Chain [1992]; Malmer, Some Observations [2001]; Kromann, Mønterne fra Byzanz [1989]; Kromann/Steen Jensen, Fra Byzans til Lund [1995]; Kromann/Steen Jensen, Byzantine Inspired Nordic Coinage [1996]; Cultural Interaction between East and West, ed. Fransson/Svedin u. a. [2007]; Androshchuk, Vikings in the East [2008]; Crumlin-Pedersen, Viking Warriors [2013]. Metcalf, Viking-Age Numismatics 1 [1995] und Suchodolski, Change of Contacts [2001] analysieren den Einfluss byzantinischer Münzen auf das von Lateineuropa geprägte Münzwesen im Norden und seine zeitlichen Konjunkturen. Die aktuellste Übersicht über gefundene Münzen und ihre regional sehr verschiedene Verwendung bietet Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck]. Auch im wikingerzeitlichen Burgenbau (Herschend, Fornborgar och Bysans [1989]) und in der religiösen Kunst, v. a. bei Pektoralkreuzen (Staecker, Rex regum [1999]) zeigt sich östlicher Einfluss. S. auch Stalsberg, Norge – Rus’-riket [2003]. Larsson, Klädd krigare [2007] beschäftigt sich mit byzantinischem Einfluss auf wikingerzeitliche Textilien; vgl. dazu auch Bender Jørgensen, Rezension Larsson [2008]; Muthesius, Byzantine Silks in Viking Hands [1996]; Hedeager Krag/Ræder Knudsen, Vikingetidstekstiler [1990]. 4 Zu diesem Aspekt der modernen Rezeption skandinavischer Geschichte u. a. von See, Barbar [1994]; Zernack, Anschauungen [1996]; Weber, Vorzeit [2001], S. 161–170; Germanentum, ed. Glauser/Zernack [2005]; Lind, »Vikinger«, vikingetid og vikingeromantik [2012]; Scheel, »Wikinger« und »Wikingerzeit« [2014].

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Wissen um skandinavische Kontakte mit diesen östlichen Regionen ist indes älter: Begründet in der Warägerlegende der Povest’ vremennych let, der im frühen 12. Jahrhundert in Kiev entstandenen so genannten »Nestorchronik«, die in Rjurik, dem ersten Herrscher der Rus’ in Novgorod, einen Skandinavier (varjag) erblickt, den die einheimischen Slawen als Herrscher in ihr Land holten,5 war das Bewusstsein über wikingerzeitlichen skandinavischen Einfluss tief verankert in russischen Vorstellungen von der eigenen Geschichte. Seit dem »Normannenstreit« des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert wurden die Erzählung und ihre Interpretation Gegenstand national wie international geführter, zunehmend ideologisch bestimmter Debatten. Sie zielten darauf, die Fragen nach ostslawischer »Eigenleistung« und der Rolle von Skandinaviern bei der Formierung der Kiever Rus’ zu klären und sahen sich zugleich mit wachsendem archäologischen Wissen konfrontiert.6 Die Aufmerksamkeit für wikingerzeitliche skandinavisch-osteuropäische Kontakte wuchs jedoch insbesondere nach 5 Die Chronik basiert auf Vorgängertexten, deren ältester aus der Zeit um 1060 stammen dürfte. Zu Rjurik Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 19–21 (sub A.D. 862). Dass es sich bei den varjagi, zu denen die Rus’ gezählt werden, um Skandinavier handelt, verdeutlicht die Aufzählung anderer varjagi: Schweden, Normannen, Angeln und »andere Goten« (ebd. S. 19). Neben Rjurik werden seine zwei Brüder Sineus und Truvor genannt, die sich in Beloozero und Izborsk niedergelassen hätten. Rjurik wird in der verlässlichsten Überlieferung nach Ladoga verortet; die Lavrent’evskaja-Handschrift lässt beim Ortsnamen eine Lücke, eine sekundäre Zufügung in der Troickaja-Handschrift verortet ihn unter Übernahme offenbar einer Novgoroder Version der PVL nach Novgorod (ebd. S. 20), was eine lokalpolitische Deformation des Textes zu sein scheint (Lind, De russiske krøniker [1994], S. 37–39). 6 Scholz, Warägerfrage [2000], passim, bes. S. 111–114, behandelt die frühesten Phasen der Kontroverse im 18. Jh. Einen repräsentativen Ausschnitt aus der überbordenden Literatur der jüngeren Zeit stellen folgende Titel dar: Riasanovsky, The Varangian Question [1969], bes. S. 202–204 (antinormannistisch, vgl. auch die aufschlussreiche Diskussion im selben Band S. 553–569); Forschungsübersichten bei Rahbek Schmidt, The Varangian Problem [1970]; Smedberg, Scrutiny of a Review [1971]; Karlin-Hayter, La question Varège [1972]; Dejevsky, Varangians in Soviet Achaeology [1977]; Bulkin/Dubov/Lebedev, Rus’ i Varyagi [1987], S. 26; Noonan, The Vikings and Russia [1991]; Nielsen, The Troublesome Rjurik [1992]; Duczko, Viking Rus [2004], S. 3–5; Thulin, The Rus’ of Nestor [2000]; aus archäologischer Sicht Lebedev, A Reassessment [2005]; Klejn, Controversy [2013]. Einen alternativen Zugang, Informationen über die Genese der Rus’ und die Rolle von Skandinaviern aus der eddischen Überlieferung, Skaldendichtung und Runeninschriften zu extrahieren, verfolgte Pritsak, Origin of Rus’ [1981], s. bes. S. 581–584. Die reiche Literatur in slawischen Sprachen, insbesondere auf Russisch, ist hier nicht berücksichtigt, da der Verfasser sie nicht selbst beurteilen kann. Die Archäologie hat in den letzten Jahrzehnten die Anwesenheit von Skandinavien in der Emergenzphase der Rus’ innerhalb der funktionalen Eliten zweifelsfrei nachgewiesen; aktuelle Diskussionen beziehen sich nunmehr auf die Zahl und den kulturellen Einfluss dieser Skandinavier auf die frühe Rus’ (kritisch hierzu: Harris/Ryan, The Inconsistencies of History [2005]). Sehr optimistisch bezüglich der historischen Glaubwürdigkeit der Povest’ vremennych let und des skandinavischen Einflusses auf die Genese der politischen Struktur ist Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 36f. und passim; zurückhaltender und aus mehreren Perspektiven multidirektionaler kultureller Interaktion abwägend Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], u. a. S. 19–45.

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dem Ende der bipolaren Mächtekonstellation um 1990 und mit der Erweiterung der Europäischen Union;7 Wikinger und Waräger legen zusammen gleichsam eine Klammer um ein frühmittelalterliches Europa,8 das analog zur gegenwärtigen Wahrnehmung weniger auf einen (post-)karolingischen Kern reduziert erscheint. Die historische Bedeutung kultureller Verbindungen und Interaktionen für die Emergenz der hochmittelalterlichen Kulturareale wird so unterstrichen. Die vorherrschende Narration skandinavisch-osteuropäischer Geschichte sei daher einleitend und als Grundlage für ihre Problematisierung in groben Zügen dargelegt. Sie konzentriert sich auf die wikingerzeitliche Entwicklung des »Ostweges« zwischen Ostsee und Schwarzem Meer sowie ihre Konsequenzen. Archäologische Funde belegen die Siedlung von Skandinaviern im Kurland bereits seit dem 7. Jahrhundert, an der südlichen Ostseeküste gab es seit dem frühen 8. Jahrhundert skandinavische Handelsplätze;9 erste schriftliche Hinweise auf Fernhandel zwischen Nordeuropa und dem östlichen Mediterraneum finden sich schon bei Jordanes,10 und in der Tat lassen sich Handelsverbindungen sowie Söldner aus dem südlichen Skandinavien in Heeren der Völkerwanderungszeit im Balkanraum weit vor Beginn der Wi7 Zwar war die Geschichte des »Ostwegs« aufgrund der jeweiligen »nationalen« Überlieferungen seit der frühen Neuzeit Bestandteil auch der skandinavischen Nationalgeschichten, doch bedeutete die Wende 1990 eine deutliche Stärkung europabezogener Perspektiven. Dies belegt die hohe Zahl transkulturell arbeitender Studien. Vgl. aus Geschichtswissenschaft und Philologie Stang, Fra Novaja Zemlja og Varanger [1990]; Arrignon, Le dit d’Eymundr [1991]; Stein-Wilkeshuis, A Viking-age Treaty [1991]; Lind, De russiske ægteskaber [1992]; Mundt, Adaption orientalischer Bilder [1993]; Mel’nikova, Ancient Rus’ and Scandinavia [1995]; Shepard, The Rhos Guests [1995]; Mel’nikova, Þar var eigi kaupfriðr [1997]; Tschekova, Erzählung über den Fürsten Oleg [1997]; Piltz, Varangian Companies [1998]; Stein-Wilkeshuis, Scandinavian Law [1998]; Langslet, Olav den hellige [2002]; Schramm, Altrußlands Anfang [2002]; Arentzen, Mellom midgard og Miklagard [2003]; Mel’nikova, Reminiscences of Old Norse [2003]; Vasaru, Bjarmaland [2003]; Janson, Nordens kristnande [2005]; Mel’nikova, Varangians and the Advancer [2005]; Shepard, Conversions and Regimes Compared [2005]; Sverrir Jakobsson, Austurvegsþjóðir [2005]; Sverrir Jakobsson, Schism that never was [2008]; Tolochko, Primary Chronicle [2008]; Shafer, Saga-Accounts of Far-Travellers [2010]; Garipzanov, Wandering Clerics and Mixed Rituals [2012]. Aus der Archäologie The Rural Viking, ed. Hansson [1997]; Rom und Byzanz im Norden 2, ed. Müller-Wille [1998]; Edberg, Varangians to the Greeks [1999]; Stalsberg, Scandinavian Viking-age Boat Graves [2001]; Suchodolski, Change of Contacts [2001]; Sindbæk, Varægiske vinterruter [2003]; Stalsberg, Norge – Rus’-riket [2003]; Duczko, Viking Rus [2004]; Ambrosiani, Birka and Scandinavia’s Trade [2005]; Jansson, Situationen i Norden [2005]; Edberg, Experimental ›Viking voyages‹ [2009]; Edberg, Gudsmodern från Blachernai [2009]. 8 Vgl. die an Völkerwanderungskarten erinnernde Verbildlichung in Abb. 1. 9 Jansson, Österled [1992], S. 74; Duczko, Viking Rus [2004], S. 61f.; Nerman, Grobin [1958]; Callmer, Archaeology of the Early Rus’ [2000]. 10 Iordanis Romana et Getica, ed. Mommsen [1882] erwähnt unter den Völkern von Scandza Schweden, welche die Römer mit Pelzen belieferten, und Dänen: S. 59, Z. 4 (Suehans) und Z. 14 (Suetidi und Dani).

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Abb. 1: Die Mobilität der »Wikinger« und »Waräger« im Frühmittelalter, aus: Historischer Weltatlas, hrsg. v. Walter Leisering, 102. Aufl., Wiesbaden 1022004, S. 37.

kingerzeit archäologisch fassen.11 Emblematisch mag hierfür der Ausgrabungsfund von Helgö im Mälarsee stehen, das als ländlicher Zentralraum vom 3. Jahrhundert bis in die Wikingerzeit von Bedeutung war.12 Hier wurden 1954

11 Den bisher fehlenden Beweis für die Anwesenheit von Südskandinaviern in völkerwanderungszeitlichen Heeren erbringen zwei nach Ansicht von Fischer, Udovice Solidus Pendants [2008] im Raum des heutigen Dänemark gefertigte Anhänger aus Goldfiligran mit je zwei Solidi vom Ende des 5. Jhs., die 1906 und 1925 in Udovice/Serbien gefunden wurden. Hiermit ist ein konkreter Vermittlungsweg für die im Skandinavien gefundenen spätrömischen und frühbyzantinischen Solidi aufgezeigt (vgl. die Problematik bei Fagerlie, Late Roman and Byzantine Solidi [1967], bes. S. 99), sofern man Fischers am Material und auf dem Vergleich numismatischer Funde entwickelter Interpretation folgt. Zu einem anderen Schluss über den Entstehungsort kommt Popovic´, Solidi [2008] (Abbildungen ebd.). 12 Lamm, Helgö [1999], bes. S. 288f.; Gyllensvärd, The Buddha [2004], S. 23f.; Harbison, Helgö Crozier Head [2004]. Die späten Funde (8./frühes 9. Jh.) irischer Provenienz behandeln außerdem O’Meadhra/Lamm, The Enigmatic Irish Stud [2011]. Zu Helgös regionaler Bedeutung auch Fischer/Victor, New Horizons for Helgö [2011], bes. S. 88f. Androshchuk, The Rural Vikings and Helgö [2007] widerspricht der Vorstellung einer Ablösung Helgös als Zentralort durch Birka ab dem 8. Jh. und betont die Kontinuität der zentralen Bedeutung und

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am Standort eines Hauses unter anderem eine nordwestindische BuddhaStatuette des 6. Jahrhunderts aus Bronze, eine ähnlich alte koptische Taufkelle und die jüngere Krümme eines Bischofsstabes wahrscheinlich irischer Herkunft gefunden, darüber hinaus in der Umgebung zahlreiche Goldsolidi überwiegend des späten 5. Jahrhunderts aus Rom, Ravenna und Byzanz13 sowie aus späterer Zeit arabische Silbermünzen. Obschon man nicht damit rechnen kann, dass Skandinavier selbst am westlichen Ende der Seidenstraße oder in Ägypten die fraglichen Gegenstände erwarben, verdeutlichen die Beispiele, dass Handelsverbindungen existierten, in welche vor allem Bewohner des östlichen Teils der skandinavischen Halbinsel später vordringen sollten. Archäologisch greifbar wird dieser warägische Fernhandel durch Osteuropa ab der Mitte des 8. Jahrhunderts, als große Mengen arabischer Silber-Dirheme in der stark skandinavisch geprägten Siedlung Staraja Ladoga (norrön Aldeigjuborg) am äußersten Rand des erst kurz zuvor von Slawen besiedelten Raumes, doch auch im gesamten östlichen Skandinavien in die Erde gelangen.14 Mitgebracht wurden sie von Skandinaviern, die ihre Luxuswaren – in erster Linie Sklaven und Pelze, die sie jenseits der Ostsee erworben hatten – über die Wolga und das Kaspische Meer sowie auf anderen Routen bis ins Kalifat und das Samanidenemirat gebracht und sie dort veräußert hatten.15 Arabische Geographen berichten in der folgenden Zeit von diesem Handelsweg und von Begegnungen mit solchen Skandinaviern auf Reisen in den Wolgaraum,16 bevor diese Wege seit

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starken überregionalen Vernetzung, welche das ländliche Zentrum auch in der Wikingerzeit behielt. Fischer/Victor, New Horizons for Helgö [2011], S. 88–90; zu den spätrömischen Solidi in Skandinavien s. außerdem Fagerlie (wie Anm. 11); Metcalf, Viking-Age Numismatics 1 [1995]. Nosov, Ein Herrschaftsgebiet entsteht [2001], S. 44–53; Duczko, Viking Rus [2004], S. 64–70 . Vgl. zum Alter der Handelsroute nach Bagdad Noonan, Ru¯s/Rus’ Merchants [1991], S. 218f. und Noonan, Ru¯s/Rus’ Merchants [1991], der betont, die Handelsroute habe sich um 800 durch den rusischen Kontakt mit jüdischen Fernhändlern entwickelt und sei als direkter Weg im frühen 9. Jh. etabliert, wobei er als Voraussetzung hierfür die Entwicklung arabischchazarischen Handels hervorhebt. Miquel, La géographie humaine 2,1 [1975], S. 331–342; Golden, Ru¯s [1995]: Ibn Hurda¯dbeh beschreibt 885/6 die Route der Ru¯s aus dem Nordwesten der Rus’ nach Bagdad (Übersetzung bei Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 70). Eine ausführliche Beschreibung der Ru¯s liefert Ibn Fadla¯ns Reisebericht, ed. Togan [1939], §§80–93, S. 82–98, der 921/22 auf die Nachfrage des ˙ lokalen Herrschers hin zu den Wolgabulgaren gesandt wurde, um sie im Islam zu unterweisen, und dabei den Ru¯s begegnete, wobei seine Beschreibung der Ru¯s eindeutig skandinavische Elemente, aber auch eine Reihe an Verhaltensweisen auflistet, die aus skandinavischen Texten und archäologischen Kontexten unbekannt sind. Eine Parallele bildet Ibn Rusteh (um 903, Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 71–74). Während diese frühen Autoren die Kiever Rus’ nicht beschreiben, kennen geographische Texte wie die anonym überlieferten Hudu¯d al-ʽa¯lam (Ende 10. Jh.), Al-Istahrı¯ (vor/um 950, Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 77, ˙ ˙ 79f.) und Ibn Hawqal (2. H. 10. Jh., ˙Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 98f.) sowie von dieser ˙ Traditionslinie abhängige Autoren drei städtische Zentren, darunter Kiev und Novgorod.

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dem Ende des 9. Jahrhunderts durch Niederlagen der Rus’ bei Attacken auf die Wolgabulgaren und deren Machtausweitung sowie eine Münzverschlechterung im samanidischen Raum relativ an Bedeutung verloren.17 Ein weiterer gleichzeitig entstehender, zunächst sekundärer, auf Dauer aber wesentlich bedeutsamerer Handelsweg wurde derjenige »von den Warägern zu den Griechen«, wie ihn die Povest’ vremennych let im frühen 12. Jahrhundert beschreibt:18 Er führte im nördlichen Abschnitt entlang der Newa, durch den Ladogasee, über Wolchow, Lovat oder von der Ostsee über die Düna und im südlichen Teil den Dnjepr hinab ins Schwarze Meer sowie weiter nach Konstantinopel und stellte so eine Verbindung zwischen Byzanz und dem Norden her. Aus den Handelsaktivitäten von nicht sonderlich zahlreichen Skandinaviern entwickelte sich gemäß aktuellem Forschungskonsens im 10. Jahrhundert die Rus’ als Herrschaftsformation am Dnjepr. Nordeuropäer sammelten wie viele andere ethnische Gruppen im ostslawischen Raum entlang des Weges Tribut und vermarkteten ihre Besitztümer unter anderem in Konstantinopel. Doch bestand am Dnjepr ein äußerer Zwang zur Organisation, der an anderen Stellen nicht gegeben und zudem gekoppelt war mit einer besonderen byzantinischen Bereitschaft, das neue Reich zu privilegieren. Der auf Dauer politisch wichtigste einer ganzen Reihe von befestigten Zentralorten mit lokalen Herrschern wurde das weit im Süden des Weges gelegene und auf den Handel mit Byzanz ausgerichtete Kiev nahe der von Chazaren dominierten Steppe.19 Archäologische Funde aus dem Raum der Kiever Rus’ Generell bleibt auch in arabischen Texten die skandinavische, slawische beziehungsweise gemischte Identität der Ru¯s uneindeutig. In der vagen Vorstellung vom Norden bei Masʽu¯dı¯ (Muru¯j al-Dhahab, um 946 und Kita¯b at-tanbı¯h wa al-isˇra¯f, um 955/56, Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 86–90 bzw. 171f.) sind Skandinavier und Ru¯s dagegen identisch (Miquel, La géographie humaine 2,2 [1975], S. 345–347). Überbordend dagegen ist im Vergleich hierzu die Informationsfülle über den skandinavischen Raum bei Al-Idrı¯si, dem aus Nordafrika stammenden Geographen am Hofe Rogers II. von Sizilien (Nuzhat al-Mushta¯q, Mitte 12. Jh., Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 178–188). 17 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 69–71; Sindbæk, Vejen fra Skandinavien [2010], S. 387–393. Zum Ende des Zustroms von Silbermünzen aus dem islamischen Raum um 940–970 Steuer, Gewichtsgeldwirtschaften [1987], S. 489–495; Mäkeler, Wikingerzeitlicher Geldumlauf [2005], S. 131f.; zur Münzverschlechterung bei den Samaniden und dem Ende des Zustroms in die Rus’ spätestens im 11. Jh. Noonan, Silver Crisis [1991]. 18 Nestorchronik, ed. Müller [2001], Vorgeschichte, Kap. 7, S. 7f. Vgl. Shepard, Concluding Remarks [2011], S. 134–138. Vgl. Abb. 1. 19 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 103–111 bringen die Situation der Fremden am Dnjepr zwischen Slawen, Chazaren, Petschenegen und Byzantinern auf die griffige Formel »Organize or die« (ebd. 111). Vgl. auch das folgende Kapitel »The Dnjepr Rus (c. 920–960) – Organize or Die: Securing the Way to Byzantium«, S. 112–138. Ähnlich mit der spezifischen Situation am Dnjepr argumentiert die Kritik von Tolochko, Primary Chronicle [2008], S. 183–187 an der schon im 19. Jahrhundert etablierten »Handelstheorie«, die etwa Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 33–37 vertritt und welche davon ausgeht, die Rus’ sei quasi gesetzmäßig aus warägischem Fernhandel entstanden, der wiederum seine Vorläufer in gotischem Fernhandel finde. Ein grundlegendes Problem bildet hierfür zudem die optimis-

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scheinen insofern die Erzählung der Povest’ vremennych let dahingehend zu bestätigen, als die zahlenmäßig kleinen funktionalen Eliten der Rus’ eng mit skandinavischen Kriegerhändlern verbunden waren: Ab dem späten 9. bis ins späte 10. Jahrhundert lässt sich etwa in Gräberfeldern und an Handelsplätzen jenseits von Staraja Ladoga in befestigten Orten wie Rjurikowo Gorodischtsche, Polotsk oder Gnezdovo (Smolensk), denen die Rus’ ihre altnordische Bezeichnung Garðar (»Burgen[land]«) verdankt, eine festlandskandinavische, orientalisch beziehungsweise von Steppenvölkern beeinflusste materielle Kultur nachweisen,20 die im späteren 10. Jahrhundert analog zur Emergenz der Rus’ als politische Einheit schwindet;21 etwa zeitgleich wechselt die Namensgebung der Herrscher von skandinavischen zu slawischen Namen. Die Verbindung mit Byzanz verfestigt sich entscheidend nach der Annahme des griechischen Christentums durch Vladimir den Heiligen und seine Heirat mit Anna Porphyrogennete 988.22 Die nunmehr verdichteten Beziehungen, welche den Handel und Kulturtransfer auf dem »Ostweg«23 stark beförderten, besaßen indes eine längere Vorgeschichte: Bereits im 9. Jahrhundert hatten Rus’ Konstantinopel attackiert, und die Povest’ vremennych let überliefert die Texte rusisch-byzantinischer Handelsverträge von 912 und 945,24 die im Anschluss an vorangegangene Konflikte geschlossen worden waren. Dass schon früh Verbindungen bestanden, belegen einerseits in Skandinavien gefundene byzantinische Bleisiegel aus dem 9. Jahrhundert aus Hedeby, Ribe und Sæby ved Tissø auf

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tische Auswertung viel späterer Schriftquellen wie der Povest’ vremennych let in Bezug auf frühmittelalterliche Verhältnisse (Tolochko, Primary Chronicle [2008], S. 177–188, vgl. auch Lichachev, The Legend [1970]), welche selbstverständlich alle Informationen synchronen, hochmittelalterlichen Deutungsschemata unterwerfen. Ein Transfer quellenkritischer und gedächtniskritischer Analyseverfahren auf jene Texte blieb bisher weitgehend aus. Vgl. Schorkowitz, Cultural Contact [2012]. Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 21f., 36f., 72, 173–177; Duczko, Viking Rus [2004], bes. S. 218–246; Tolochko, Primary Chronicle [2008], S. 185f.; Androshchuk, Vikings in the East [2008], S. 520–535; Wilson, East and West [1970]. Mel’nikova, Cultural Assimilation [2003], S. 464f. betont, dass nicht alle skandinavischen Spuren einfach verschwinden und sich gerade auf dem Land skandinavische Kulturelemente noch lange nach 1000 im Ensemble halten, was aber das Gesamtbild letztlich nur nuanciert. Vgl. zur rusisch-byzantinischen Kulturbeziehung und ihren Konsequenzen für die Rus’ Avenarius, Byzantinische Kultur und die Slawen [2000], S. 177–211; Mel’nikova, Varangians and the Advancer [2005]; zu Auswirkungen auf die materielle Kultur mit indirekten Konsequenzen für den Norden Jansson, Situationen i Norden [2005], S. 44–46, 51–78. Üblicherweise wird der »Weg von den Warägern zu den Griechen« (Anm. 19) mit dem »Ostweg« (austrvegr) der Sagas gleichgesetzt, jedoch meint der Begriff üblicherweise den östlichen Ostseeraum und sein Hinterland (Zilmer, »He drowned in Holmr’s Sea« [2005], S. 291–293). Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 33–41, 55–65. Vgl. zum Handel auch Ferluga, Der byzantinische Handel nach Norden [1987].

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Seeland25. Andererseits finden sich zwei Byzantiner, deren ursprünglich skandinavischer Name Ingvarr zu Ἴγγερ (Inger) gräzisiert wurde: ein Metropolit von Nikaia (um 825) und der Vater von Eudokia Ingerina (um 840-883), der Konkubine des Basileus Michael III. und späteren Frau des Kaisers Basileios I.26 Trotz der besonderen Fähigkeit der Byzantiner, Fremde rasch in ihre Gesellschaft zu integrieren,27 deutet das Auftauchen skandinavischer Namen in der obersten Gesellschaftsschicht im früheren 9. Jahrhundert darauf hin, dass erste Kontakte zu diesem Zeitpunkt bereits einige Zeit zurückliegen müssen. In der byzantinischen Überlieferung begegnen die Skandinavier als Ῥῶς (Rho¯s) 28 in einer nicht eindeutig zu datierenden und daher unsicheren, möglicherweise interpolierten Passage im Wunderkatalog der Vita des Georgios von Amastris, die aufgrund des Schweigens über den Ikonoklasmus insgesamt vor 843 datiert wird,29 sowie in 25 Sie alle wurden vom patrikios Theodosios Baboutzikos ausgestellt. S. Duczko, Viking Rus [2004], S. 53–59, dessen Interpretation die Siegel im Zusammenhang mit einer Rus’-Gesandtschaft sieht, die 839 von Konstantinopel über das Frankenreich nach Skandinavien sieht (s. Anm. 29). Es habe sich um einen Anwerbeversuch des Basileus für skandinavische Söldner bei einem »dänischen König« gehandelt. Dies scheint angesichts des Fundorts der Siegel an Handelsplätzen und der Herrschaftssituation im Norden zu jener Zeit allerdings kühn. Die Deutung basiert auf zurückhaltenderen Annahmen von Shepard, The Rhos Guests [1995], bes. S. 53–60, über den Zusammenhang der Gesandtschaft und des Siegels von Hedeby mit Funden von Kupferfolleis des Theophilos im Norden; da Kupfergeld im Norden unbrauchbar war, deutet es stärker als Silbergeld auf direkten Transport durch Migranten hin (vgl. Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck]). Shepard rechnet mit einem auch geographisch schlecht informierten byzantinischen Versuch einer breiten Kooperation mit potentiellen Verbündeten. In Sigtuna wurden ebenfalls byzantinische Bleisiegel, jedoch aus dem 11. Jahrhundert, gefunden (Edberg, Vem var Kosmas? [1996]). 26 Inger v. Nikaia begegnet als Ikonoklast in den beiden Viten des Hl. Ioannikios (Mango, Eudocia Ingerina [1973], S. 18f.); zu den Quellen für Eudokia und der Rekonstruktion ihrer Herkunft vgl. ebd., S. 19–25. Eudokias zentrale Rolle in der byzantinischen Politik behandelt Kislinger, Eudokia Ingerina [1983]. 27 Vgl. Lilie, Fremde [1995], S. 104–107; Laiou, Foreigner and Stranger [1991], bes. S. 96f.; Shepard, Trouble-shooters and Men-on-the-Spot [2011], S. 722f. 28 Zur Begriffsbegeschichte unten, S. 77ff. 29 In der Vita (Zˇitije sv. Georgija Amastridskago [1915], Kap. 43–47, S. 64–69, bes. Kap. 43, S. 64f.) dringen die Rus’ ins Schwarze Meer vor und verwüsten von der Propontis kommend Paphlagonien, bevor der Hl. Georgios sie an der Plünderung seines Grabes hindert. Diese Tatsache scheint mit der Ersterwähnung von Rus’ im Westen in den Annales Bertiniani unter 839 zu kollidieren, die betonen, die Rus’, welche in Ingelheim am Hof Ludwigs des Frommen auf dem Weg von Konstantinopel nach Skandinavien auftauchten, seien vom Basileus Theophilos mit sicherem Geleit versehen worden (Annales Bertiniani, ed. Waitz [1883], S. 19f.). Deshalb schließt Vasiliev, The Russian Attack [1946], S. 71–89 einen vorangehenden Krieg aus und kommt so zu dem Schluss, die Passage spiegele den rusisch-byzantinischen Konflikt von 941 (zur Gesandtschaft von 839 Shepard, The Rhos Guests [1995]). Markopoulos, La Vie de Saint Georges d’Amastris [2004] hält den Bericht aufgrund von Stilähnlichkeiten mit Photios für eine Projektion des Überfalls auf Konstantinopel von 860 (vgl. folgende Anm.). Dagegen datiert Treadgold, Three Byzantine Provinces [1989] die Vita auf 820–839 und die fragliche Attacke auf 818/819; Zuckerman, Deux étapes [2000], S. 101f.

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zwei von apokalyptischen Andeutungen geprägten Homilien des Patriarchen Photios im Kontext ihres Angriffs auf Konstantinopel im Jahre 860.30 Ausführlich behandelt werden ihre Aktivitäten jenseits des Byzantinischen Reichs erstmals um 950 in der paränetischen Schrift De administrando imperio des späteren Basileus Konstantinos Porphyrogennetos. Er beschreibt, wie die Rus’, deren Sprache sich von slawischen Dialekten unterscheidet, im Winter gesammelten Tribut während des Sommers mit von der tributpflichtigen Bevölkerung bereitgestellten kleinen Flussschiffen (μονόξυλα/monoxyla: »Einbäumen«) den Dnjepr hinab und nach Mesembria etwa 200 Kilometer nördlich Konstantinopels an der Westküste des Schwarzen Meers bringen.31 Die Verträge zwischen dem Basileus und den Rus’ aus den Jahren 912 und 945 in der Povest’ vremennych let ergänzen den Befund. Abgesehen von diesen Handelsbeziehungen fanden sich Skandinavier beziehungsweise Rus’ im byzantinischen Heer, in welches die Basileis seit Justinian Barbaroi durch Diplomatie und persönliche Bindungen zu integrieren und deren kriegerisches Potential an die eigene Machtsphäre zu binden verstanden hatten.32 Auch diese militärisch-kriegerische Komponente skandinavisch-byzantinischen Kulturkontakts intensivierte sich am Ende des 10. Jahrhunderts, als Vladimir eine große Anzahl an Kriegern aus seinem Gefolge – nach einer eher kühnen Spekulation eines bedeutenden Forschers auf diesem Gebiet sollen es 6000 gewesen sein33 – aus Kiev nach Konstantinopel zu Basileios II. schickte, dem die

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betont, eine Datierung der Attacke auf ca. 830 ließe den Schluss zu, es handle sich bei der in Ingelheim auftauchenden rusischen Gesandtschaft nach Konstantinopel um Friedensunterhändler. Photios: Homilien, ed. Laourdas [1966], Homilien 3, S. 29–39 und 4, S. 40–52. Vgl. hierzu Tinnefeld, Blitzschlag [1981] und allgemein zu den frühen byzantinischen Quellen Obolenskij, Byzantine Sources [1970]. Der Begriff begegnet lediglich in den Titeln (ebd., S. 29/40), in den Texten werden die Rus’ umschrieben und antikisierend mit Skythen identifiziert; Photios arbeitet hier mit einem Hintergrundstil aus Ezechiel 38,15 und spielt dabei auf eine Identifikation der Ῥῶς mit dem Fürsten Gog im Land Magog an (Brandes, Anastasios ὁ δίκορος [1997], S. 36 mit Anm. 80). Zu 860: Vasiliev, The Russian Attack [1946], bes. S. 188–202. Unter A.D. 866 findet sich die Attacke auch in der Povest’ vremennych let: Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 21f. De administrando imperio, ed. Moravcsik/Jenkins [1949], Kap. 9 (Περὶ τῶν ἀπὸ Ῥωσίας ἐρχομένων Ῥῶς μετὰ τῶν μονοξύλων ἐν Κωνσταντινουπόλει/»Darüber, wie die Rho¯s aus der Rho¯sia mit den Einbäumen nach Konstantinopel kommen«), S. 56–62. Vgl. hierzu Shepard, Byzantine Diplomacy 800–1204 [1992], bes. S. 51–55, 64–71; Haldon, ›Blood and Ink‹ [1992], S. 281–290; zur Bedeutung von Barbaroi für die Diplomatie Smythe, Barbarians at Diplomatic Receptions [1992]. Vgl. auch unten, S. 77ff. Blöndal, S. 93f./46f; Benedikz, Varangian Regiment [1969], S. 23. Während die Povest’ vremennych let (Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 96f.) für 980 davon berichtet, Vladimir der Heilige habe unzufriedene Waräger auf ihren Wunsch hin nach Konstantinopel entlassen, Basileios II. vor ihrer Gier gewarnt und zu ihrer Aufteilung geraten, stützt sich die Zahl 6000 auf eine Erwähnung von »Rus’« (Erhuzk’) in der Weltchronik des Armeniers Stephanos Asołik (Stephan von Taron), die zum Jahr 1000 von einer Begegnung zwischen Bagrat III. von Abchasien, Gurgen von Georgien und Basileios berichtet und dabei erwähnt, die Zahl dieser

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eben eingetroffenen Söldner gelegen kamen, um einen Umsturzversuch abwehren zu können.34 In diesem Ereignis erblickte die Forschung wenn nicht schon die Gründung der skandinavischen Leibgarde der Basileis, der berühmten Warägergarde, so doch zumindest das Gründungsdatum einer skandinavischen Sondereinheit im byzantinischen Militär, aus der sich dann alsbald die Warägergarde entwickeln sollte.35 Während die Formierung der Rus’ offensichtlich zur Absorption der dünnen, ursprünglich aus Skandinavien stammenden Teile der Oberschicht führte und auch den kriegerisch geprägten Direkthandel der früheren Wikingerzeit zwischen Skandinavien und dem östlichen Mediterraneum eher behinderte, indem Zentralorte wie Kiev und Novgorod zu Umschlagplätzen eines in Abschnitte segmentierten Handels in wachsenden Dimensionen wurden,36 blieb der direkte Kontakt mit Byzanz über den Ostweg durch den Nachschub von Kriegern aus dem skandinavischen Raum bestehen. Klare Hinweise hierauf geben die dreißig »Griechenlandfahrersteine«, zum Zweck der Memoria errichtete Runensteine hauptsächlich im östlichen Schweden. Die ganz überwiegend im 11. Jahrhundert entstandenen Inschriften dokumentieren sicher Fahrten von insgesamt 36 Einheimischen nach Grikkland, von denen zahlreiche im byzantinischen Militär gedient haben dürften.37 Der Anreiz von Sold und Beute erwies sich in einer

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Rus’, welche Basileios vom Herrscher der Rus’ im Gegenzug für die Hand seiner Schwester verlangt habe, habe 6000 betragen. Sie wird übernommen, ohne dass das Zustandekommen der Zahlen im fraglichen Werk oder die Kategorien des Autors für die Identifikation dieser »Rus’« hinterfragt würden, und auf die Povest’ vremennych let und Michael Psellos’ Chronographia (s. B2) übertragen, ein für das ganze Forschungsgebiet typisches Verfahren. Michael Psellos: Chronographia (B2). So etwa Blöndal, S. 92–107/45–53; Benedikz, Varangian Regiment [1969]; Shepard, The English and Byzantium [1973]; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 179; Fledelius, Hvad Norden formåede [1989], S. 70; Larsson, Väringar [1991], S. 30; Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 294; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 130; Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 272f.; Quak, Scandinaviërs in de lijfwacht [2005]; Déroche/Puech/ Métivier, Le monde byzantin 750–1204 2007 [2007], S. 468; D’Amato, The Varangian Guard [2010], S. 6f; Theotokis, Rus [2012], S. 128–147, 151–153. Vgl. auch die einschlägigen Lexikonartikel: Franklin/Cutler, Varangians [1991]; Lübke, Waräger § 2 [2006]; Shepard, Varangian Guard [2010]; Jakob Benediktsson, Varjager [vestnordisk] [1975]. Roslund, Brosamen [1998], S. 332–335, 381–385; Tolochko, Primary Chronicle [2008], S. 186; Shepard, Concluding Remarks [2011], S. 133f. In Schweden erwähnen 29 Inschriften unzweideutig 32 Byzanzfahrer. Grundlegend für die Auflistung und bezogen auf aktuelle Literatur sind die unter der jeweiligen Nummer (#) angeführten, von Daniel Föller erstellten Lemmta in Lilie/Ludwig u. a., PmbZ [2013]. Aus der 1. Hälfte des 11. Jhs. bzw. ohne Einschränkung auf einen engeren Zeitraum 17 Inschriften: Ög 81 (Assurr #20553), Ög 94 (Oddlaugr #26174), Sö 82 (Frøystæinn #22009), Sö 85 (An¯ læifr #26181), Sö 165 Heðinn (#22590), Sö 170 (Ba¯ulfr #21136), onymus #32042), Sö 163 (O Sö 345 (Gæir #22046), Sm 46 † (Svæinn #27434), Vg 178 (entweder Æsbiorn #20138 oder Kolbæinn #24210), U 112 (Ragnvaldr #26803), U 201 (To¯ki #28361), U 358 (Folkbiôrn #22000), U 431 (Gunnarr #22521), U 518 (Ormgæirr #26203 und Ormulfr #26205), U 792 (Haursi

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Gesellschaft, deren agonale Oberschicht auf Ressourcenzufuhr von außen angewiesen war, als höchst wirksam.38 Zudem schienen der Weg nach Byzanz und der Aufenthalt dort aussichtsreicher als der Versuch, auf den östlichen Wegen ins Kalifat an Edelmetalle zu gelangen. Insgesamt 26 Runensteine aus Ostschweden dokumentieren die letzte bekannte Fahrt von Skandinaviern nach Serkland, wahrscheinlich in den Raum des Kaspischen Meeres, die ein gewisser Ingvarr um 1040 anführte und auf der alle Teilnehmer ums Leben kamen.39 Verdeutlicht wird die Präsenz migrierender Skandinavier auf dem Ostweg zudem durch das Entstehen eines neuen Appellativums: Während der ostslawische Terminus Rus’ für Skandinavier40 sowohl die nunmehr slawischsprachigen Herrscher als auch die Bewohner des Kiever Reiches und die Region selbst umfasste,41 entwickelte sich

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¯ ki #20208). Ab der Mitte des 11. Jhs. aus Schweden 12 Inschriften: U 73 #22566), U 1016 (A (Æmmundr #20137, Ingimundr #22761, Namen erschlossen über U 72), U 104 (Svæinn #27436) und Þórir (#28340), U 136 (Øystæinn #26176), U 140 (Anonymus #32061), U 270 (Kætill Grikkfari #23595), U 374 (Anonymus #32056), U 446 (Anonymus #32051), U 540 (Anonymus #32057), U 890 (Anonymus, nicht eindeutige Lesart von Grikkjar #32064), U 922 ¯ tryggr #26210). Hinzu (Ingifastr #22760), U 956 (Viðbiôrn Grikkfara #28424), U 1087 † (O kommt der Runenstein von Berezan an der Mündung des Dnjepr (Grani #22320 und Karl #23677) sowie drei schwedische Steine, die zweier Verstorbenen in Langbarðaland (= Lon¯ læifr #26180), U 133 (1050–75, gobardia, Katepanat Italias) gedenken: Sö 65 (1. H. 11. Jh., O Holmi #22628), U 141 † (dito Holmi #22628). Hinzuzufügen ist ein auf Gotland gefundener Wetzstein (G 216, 1050–1100), auf dem Grikkjar, Jórsalir, Island, Særkland mit zwei Personennamen im Nominativ aneinandergereiht sind, der aber wohl keine Fahrten memoriert. Die imposante Zahl von 164 Lemmata zu (potentiellen) Byzanzmigranten erreicht Föller durch mehr oder weniger plausible Konjekuren über die Beteiligung weiterer auf den o.g. Steinen genannter Personen und über so aufscheindende Netzwerke (vgl. v. a. #22008), durch die Einbeziehung von Steinen, die unspezifisch Fahrten í austr oder nach Garðar erwähnen, sowie der Steine, die Teilnehmer an Yngvars Expedition nach Serkland memorieren (Anm. 39), weiterhin durch die Inklusion von Sagatexten, die Personen vor 1025 nennen, die aber zu Recht partiell als Fiktion gekennzeichnet werden. Zudem meint der austrvegr zumeist nur den südöstlichen Ostseeraum (vgl. oben, S. 25 mit Anm. 23). Zum Wert der einzelnen Quellen und den Kriterien der Rekonstruktion s. Föller, Skandinavische Quellen [2009]. Zu den »Griechenlandfahrersteinen« s. u.a Blöndal, S. 346–366/223–233; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 236–239; Pritsak, Origin of Rus’ [1981], passim; Larsson, Runstenar och utlandsfärder [1990], S. 106–130; Jesch, Ships and Men [2001], S. 89–107; Bibikov, Byzantine Sources [2005], S. 21f. Larsson, Runstenar och utlandsfärder [1990], S. 114–117, 121–128. Beck, Ingvar [2000] . Die Runensteine sind aufgelistet unter NI 27. Abgesehen von den Runensteinen berichtet die isländische Yngvars saga víðfo˛rla, zurückgehend auf einen um 1200 entstandenen lateinischen Text, von der Expedition. Sie besitzt jedoch keinerlei Informationswert über die Ereignisse, wie unten, S. 697 ff. , zu zeigen sein wird. Dennoch hat die Forschung immer wieder versucht, arabische, byzantinische, rusische oder georgische Quellen mit Yngvars Zug, wie ihn die Saga repräsentiert, in Verbindung zu bringen (vgl. Ellis Davidson, Viking Road [1976] , S. 164–173 und den Überblick bei Shepard, Yngvarr’s Expedition [1985]). Hierzu unten, S. 77ff. Knysh, The Mystery of Kyiv [2000].

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das ursprünglich möglicherweise synonym gebrauchte varjag zur Bezeichnung für skandinavische Söldner in den Diensten rusischer Fürsten, für aus dem Norden kommende Händler, Siedler oder Plünderer in der Rus’42 und wurde im 11. Jahrhundert als Βάραγγος (Warangos) vom Altrussischen ins Griechische übernommen.43 Die Bedeutung dieser skandinavischen Waräger im byzantinischen Militär und in der Hauptstadt als Leibgarde des Basileus erreichte gemäß der dominierenden Forschungsnarration in den ersten zwei Dritteln des 11. Jahrhunderts ihren Höhepunkt; Runengraffiti in der Hagia Sophia und Inschriften auf dem Löwen von Piräus44 zeugen von ihrer Präsenz ebenso wie die bereits erwähnten Griechenlandfahrersteine. Gleichzeitig waren auch die Verbindungen zwischen den skandinavischen Ländern und der Kiever Rus’ besonders dicht: Jaroslav der Weise, ein Sohn Vladimirs des Heiligen, hatte Ingegerd, die Tochter des Schwedenkönigs Olof Skötkonung, zur Frau. Er herrschte zunächst über Rjurikowo Gorodischtsche (altnordisch Hólmgarðr), den Vorgänger von Novgorod am nördlichen Ausfluss des Ilmensees, das als bedeutendster Ort im Norden des Weges zwischen Schwarzem Meer und Ostsee besonders stark durch die Präsenz von Skandinaviern und den Handel mit dem nordeuropäischen Raum geprägt war; sowohl die materielle Kultur als auch in erster Linie englische und dänische Münzen aus Gorodischtsche zeigen die kulturelle Verflechtung mit dem Norden einschließlich dem Nordseeimperium Knuds des Großen während Jaroslavs Herrschaft, die erst mit dem Bau der etwas flussabwärts gelegenen »Neustadt« Novgorod um 1044 nachließ.45 Nach dem Tode seines Vaters 1015 dehnte Jaroslav von hier aus seine Macht, nach zunächst wechselndem Erfolg, ab 1019 letztlich dauerhaft auf Kiev aus. Mit ihm als Herrscher des »Ostwegs« und seiner besonderen Beziehung zum nördlichen Zentrum Gorodischtsche verbindet sich in mehrerlei Hinsicht der Höhepunkt wikingerzeitlicher Kulturbeziehungen zwischen Byzanz und dem Norden: Der König Óláfr Haraldsson von Norwegen befand sich zwischen 1028 und 1030 im Exil bei Jaroslav. Er fiel beim Versuch, seine Herrschaft über Norwegen zu erneuern, in der Schlacht von Stiklestad und wurde alsbald als Heiliger verehrt. Sein Halbbruder Haraldr Sigurðarson floh 42 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 203. Neben der Povest’ vremennych let lässt die auf Jaroslaw den Weisen zurückgeführte Rechtskodifikation Russkaja prawda Rückschlüsse auf den Status der varjagi als privilegierte Fremde zu (Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 217–224). 43 Zur Klärung des Zusammenhangs zwischen væringr, varjag, arab. warank und Βάραγγος s. u., S. ff. 44 Svärdström, Runorna i Hagia Sofia [1970]; Larsson, Nyfunna runor [1989]; Knirk, Runer i Hagia Sofia [1999]; Fischer, Ännu ett runfynd [1999]; Snædal, The Piraeus Lion Revisited [im Druck]; s. unten, S. 137f., 183f. 45 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 201–203; Nosov, Ein Herrschaftsgebiet entsteht [2001], S. 68–71.

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nach der Schlacht mit seinem Gefolge aus Norwegen ebenfalls an Jaroslavs Hof, von wo er nach einiger Zeit weiter nach Konstantinopel fuhr, mit seinen Leuten als Waräger in die Dienste des Basileus trat, für ihn ins Heilige Land zog, auf Sizilien und in Bulgarien kämpfte und schließlich am Hof den verhältnismäßig bescheidenen Rang eines spatharokandidatos erlangte.46 Um 1043 kehrte er über die Rus’ nach Norwegen zurück und eignete sich dort die Königsherrschaft an, bevor er 1066 beim Versuch, England zu erobern, bei Stamford Bridge fiel. Haralds Biographie, von der Forschung aus naheliegenden Gründen immer wieder aufgegriffen,47 steht ähnlich wie der Fund von Helgö emblematisch für die europaweite Vernetzung der Skandinavier in der Wikingerzeit und die Offenheit Skandinaviens für kulturelle Einflüsse aus dem Osten, zumal er Elisabeth, eine Tochter Jaroslavs, zur Frau genommen hatte. Solche nordeuropäisch-rusischen Heiratsverbindungen sollten auch in Zukunft bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts bestehen:48 Jaroslavs Enkel Vladimir II. Monomach war verheiratet mit Gyða, der Tochter von Harold Godwinesson, des letzten angelsächsischen Königs; Vladimirs II. Sohn Mstislav wiederum war verheiratet mit Kristin, der Tochter des Schwedenkönigs Inge Stenkilsson. Deren Tochter Ingeborg, die Frau des dänischen dux Knud Lavard, wurde die Stammmutter der Valdemaren; eine andere Tochter, Malmfred, war zuerst mit Sigurðr Magnússon, dem König von Norwegen, später mit dem König Erik Emune von Dänemark verheiratet.

46 Verlässliche, aber spärliche Informationen über Haraldr in Byzanz stammen aus der paränetischen Schrift des Kekaumenos (Λόγος νουθετητικὸς πρὸς βασιλέα/Logos nouthete¯tikos pros basilea, B11); ansonsten begegnet Haraldr in zahlreichen skandinavischen Quellen (s. unten, S. 293ff.). 47 Die erste Rekonstruktion des Verlaufs von Haralds Byzanzaufenthalt unter Einbeziehung von Kekaumenos stammt von Munch, Kritiske undersøgelser [1873]; weiterhin Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884]; Blöndal S. 108–168/54–102; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 207–229; Blöndal, The Last Exploits [1939]; Malmer, The Byzantine Empire [1981]; Ciggaar, Harald Hardrada [1990]; Bagge, Harald Hardråde i Bysants [1990]; Friedrichsen, Harald Sigurdsson [2001]; Brandes, Das Gold der Menia [2005]; Shepard, Middle Byzantine Military Culture [2011]. Aus numismatischer Perspektive: Hendy, Michael IV and Harold [1970]; Grierson, Harold Hardrada [1979]; Morrisson, Le rôle des varanges [1981]. Eine Sonderstellung nimmt Brandes, Das Gold der Menia [2005] ein, der lediglich Haralds gesicherte Anwesenheit auf Sizilien als Argumentationsgrundlage für eine Rekonstruktion eines intertextuellen Bezuges zwischen einer byzantinischen Heiligenvita und einem Eddalied benutzt. 48 Zu den Eheverbindungen Lind, De russiske ægteskaber [1992]; Uspenskij, Dynastic Names [2003], S. 25–42; Skandinavische Quellen, sowohl die Gesta Danorum (D47) als auch die Konungasögur (NI 146, NI 171–173), weisen auf diese Verbindungen hin, zeigen aber alle eine lückenhafte Kenntnis der rjurikidischen Genealogie (vgl. die Anmerkungen ebd.). Darüber hinaus sind die Heiratsverbindungen der Rus’ nach Nordeuropa keineswegs exklusiv; es bestanden im 11. Jh. ebenso Verbindungen mit Byzanz, Polen, Ungarn, dem römisch-deutschen Raum und Frankreich (Hellmann, Heiratspolitik Jaroslavs [1962]).

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Diese intensiven Verbindungen mit der Rus’, die seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert Teil des byzantinischen commonwealth geworden war,49 vor allem aber über die Rus’ mit Byzanz, verloren nach der Überschreitung ihres Höhepunkts um die Mitte des 11. Jahrhunderts an Bedeutung.50 Nach der Eroberung Englands, insbesondere aber nach der Verwüstung Northumbrias durch William den Eroberer und dem endgültigen Schwinden von Aussichten auf ein Ende der normannischen Herrschaft, kam es zu einer Emigrationswelle von angelsächsischen Freien und Magnaten nach Dänemark,51 die offenbar zumindest teilweise über Dänemark und den Ostweg Byzanz erreichten und dort, so die Ansicht mehrerer Forscher, alsbald die »Warägergarde« zu dominieren begannen;52 einige gründeten gar im Schwarzmeerraum eine angelsächsische Kolonie.53 Insofern erwies sich die kulturelle Verbindung, welche der Ostweg über zweihundert Jahre dargestellt und die auch in England sichtbare Konsequenzen hinterlassen hatte,54 im späten 11. Jahrhundert noch einmal als produktiv. Jedoch wurde der südliche Abschnitt dieses Weges zwischen Kiev und der Mündung des Dnjepr in das Schwarze Meer in dieser Zeit zunehmend durch Steppenvölker, insbesondere durch Petschenegen, gefährdet, abgesehen davon, dass skandinavische Kriegergruppen sich in den konsolidierten rusischen Fürstentümern weniger frei bewegen konnten.55 Ein Runenstein, der auf der Insel Berezan in der Mündung des Dnjepr gefunden wurde, offenbar von einem Gotländer zum Gedenken an seinen Fahrtgenossen kurz vor oder um 1100 gesetzt, ist das letzte

49 Der Begriff ist übernommen von Obolenskij, Byzantine Commonwealth [1971]; zur Rolle der Rus’ hierin vgl. Shepard, Byzantium’s Overlapping Circles [2006], S. 22–28. 50 Für die Rus’ bezieht sich dies mehr auf die Dichte der politischen Verbindungen, die zur Zeit Jaroslaws am engsten waren, nicht auf die bis ins 12. Jh. weiter zunehmenden Warenströme (Roslund, Brosamen [1998], S. 381–385). Vgl. auch Sindbæk, Vejen fra Skandinavien [2010], S. 395f. 51 Bolton, Political Refugees [2005], S. 36. Vgl. hierzu auch die längere Vorgeschichte angelsächsisch-byzantinischer Verbindungen, unten, S. 66f. 52 Zu finden ist die Ansicht, dass seit einem Aufstand der ausländischen Palastwachen 1079 Engländer statt Rus’ die »Warägergarde« bildeten, bei Vasiliev, History of the Byzantine Empire 2 [1928], S. 155. Aufgrund neuer Erkenntnisse über englische Exilanten nach der normannischen Eroberung vertreten diese These weiterhin Dawkins, Later History [1947] aus nationalistisch-englischer Perspektive in direkter Ablehnung von Blöndal, Nabites the Varangian [1939]; Vasiliev, The Opening Stages [1937]; grundlegend Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 61–90 mit einer sehr detaillierten Quellenschau; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 232. Vgl. auch die folgende Anm. 53 Fell, Saga of Edward [1973]; Ciggaar, L’émigration anglaise [1974], bes. S. 305–309; Shepard, Another New England? [1974]; Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979]; Rogers, Anglo-Saxons and Icelanders [1981]. 54 Für die Zeit vor 1066 vgl. Ciggaar, England and Byzantium [1982]; mit breiter zeitlicher Perspektive ab dem 10. Jh. Shepard, From the Bosporus [2010], bes. S. 39–42. 55 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 204; Roslund, Brosamen [1998], S. 376; Tolochko, Primary Chronicle [2008], S. 186.

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Zeugnis direkten Kontakts zwischen Byzanz und dem Norden auf dem Ostweg.56 Nach dem Ende direkter Kontakte blieb aufgrund des sehr regen Handels mit der Rus’, insbesondere mit Novgorod, dennoch ein gewisser Einfluss der byzantinischen Welt auf den Norden bestehen, der sich zum Beispiel in Kalkmalereien in gotländischen Kirchen des 12. Jahrhunderts manifestiert.57 Die hier skizzierte Narration über die Geschichte des Ostweges, welche ausführlich in zahlreichen Studien behandelt wurde, schließt jedoch mit dem Ende der Wikingerzeit im späteren 11. Jahrhundert. Sie basiert auf der plausiblen Annahme, dass die jahrhundertelangen Kontakte und sich aus ihnen entwickelnde Beziehungen nicht ohne Konsequenzen für die beteiligten Kulturen geblieben sein können. Tatsächlich lässt sich in Byzanz auch abgesehen von den Runengraffiti in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine wachsende Aufmerksamkeit für Skandinavier im Heer und am Hof sowohl in der byzantinischen Geschichtsschreibung als auch in Urkunden erkennen. Die als Βάραγγοι (Warangoi) oder nach ihrer bevorzugten Waffe als Axtträger (πελεκυφόροι/ pelekyphoroi) bezeichneten Skandinavier und Angelsachsen werden zum festen Bestandteil des byzantinischen Bildes von der jüngeren Geschichte. Da die Skandinavier abgesehen vom fast ausschließlich epigraphisch überlieferten Runenalphabet über keine Schrift verfügten, ist die Forschung in erster Linie auf archäologische Zeugnisse angewiesen, um das Ausmaß byzantinischen Einflusses auf die Kulturen der Wikingerzeit bestimmen zu können. Die materielle Kultur zeigt sich insbesondere entlang der Ostküste des heutigen Schweden und auf Gotland erheblich durch Güter byzantinischer Herkunft geprägt: Seidenkleider in Gräbern, Elfenbeintafeln, Enkolpia und andere Brustkreuze, Handelswaren und byzantinische Münzen aus verschiedenen Horten,58 obschon in geradezu verschwindend geringer Zahl von insgesamt 734 gegenüber einer sechsstelligen Masse an deutschen und englischen Münzen,59 belegen den Kontakt und die Wertschätzung von Gegenständen byzantinischer Herkunft, zumal byzantinische Münzen außer auf Gotland und in Dänemark, wo sie offenbar als

56 Arne, Runstenen från ön Berezanj [1914]. 57 Hierzu zuletzt Vasilyeva, Byzantinska traditioner [2009]. Besonders eindringlich zeigt Roslund, Brosamen [1998] , S. 332–377, dass die Dichte des archäologischen Materials aus Byzanz keineswegs synchron zur Geschichte der »Warägergarde« verläuft und letztere für die Masse der Funde im Verhältnis zum regulären Handel wahrscheinlich bedeutungslos war. 58 S. die Literatur in Anm. 3. 59 Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck] zählt unter Berücksichtigung des Katalogs von Hammarberg/Malmer/Zachrisson, Byzantine Coins [1989] und jüngeren Publikationen 523 Münzen auf Gotland, 125 auf dem schwedischen Festland bzw. ohne genau Ortsangabe in Schweden, 21 in Dänemark, 20 auf Bornholm, 22 in Finnland und 23 in Norwegen. In Norwegen bilden Goldmünzen mit 16 Exemplaren die Mehrzahl, ansonsten ist die weit überwiegende Mehrzahl der Münzen aus Silber.

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Zahlungsmittel umliefen, sehr oft als Anhänger getragen wurden, was insbesondere Grabfunde belegen.60 Hiermit jedoch ist noch kein Einfluss auf die heimische materielle Kultur bewiesen.61 Dieser zeigt sich erst in Auswirkungen auf die Realästhetik, mithin in nicht besonders zahlreichen Rezeptionszeugnissen, etwa in lokal hergestellten Pektoralkreuzen aus dem 11. Jahrhundert, die byzantinische Vorbilder mit einheimischer Ornamentik verschmelzen und die Ikonographie modifizieren,62 in Nachahmungen byzantinischer Münzen, wie sie in Schweden und Dänemark bis um die Mitte des 11. Jahrhunderts geschlagen wurden und im Gegensatz zu den Originalen im Handel verwendet wurden,63 sowie bei Marienamuletten des 12. Jahrhunderts,64 wobei jedoch der Ostseeraum kaum überschritten wird.65

Methodische Konsequenzen eines Bewusstseinswandels Die Frage, wie archäologische Funde ohne weitere Informationen zum historischen Kontext im Hinblick auf die Geschichte der byzantinisch-skandinavischen Kulturbeziehung zu deuten sind, kurzum, wie das Ausmaß kulturellen Einflusses aus Byzanz beziehungsweise kultureller Verflechtung des Nordens mit Byzanz in der Wikingerzeit zu bestimmen sind, zeigt zugleich ein methodisches Dilemma der Forschung auf. Um historische Kontexte herstellen, Akteure sichtbar machen und derart vereinzelte Artefakte aus dem wikingerzeitlichen Ostseeraum zum Sprechen bringen zu können, bedarf es schriftlicher Quellen. Zeitgenössische byzantinische Texte sind jedoch in Bezug auf Verhältnisse in Skandinavien grundsätzlich ebenso wenig informativ wie die im frühen 12. Jahrhundert entstandene Povest’ vremennych let. Da die einheimische chronikalische Ge60 Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck]. 61 Sehr prägnant hierzu Cutler, Misapprehensions and Misgivings [2000], S. 485: »We must not confuse evidence of contact with proof of influence.« 62 Horn Fuglesang, A Critical Survey [1996], S. 140f., bes. 147–152; Cutler, Byzantine Art and the North [1996]. Beide machen darauf aufmerksam, dass Thesen über byzantinischen Einfluss, hier in der Kunstgeschichte, bewusste Nachahmung plausibel machen müssten, was in den meisten Fällen aber nicht gelänge. Zu den Pektoralkreuzen, die auch in diesem Sinne Zeugnisse byzantinischen Einflusses, obschon mitunter über die Rus’ vermittelt, darstellen, s. die umfassende Untersuchung von Staecker, Rex regum [1999], bes. S. 266–285, 381–395. 63 Schweden: Malmer, Imitations of Miliaresia [1981]; Hammarberg/Malmer/Zachrisson, Byzantine Coins [1989], S. 51–57; Dänemark: Grierson, Harold Hardrada [1979]; Kromann/Steen Jensen, Byzantine Inspired Nordic Coinage [1996]; zur Verwendung: Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck]. 64 Edberg, Gudsmodern från Blachernai [2009]. 65 So zeigt Tsigaridas Glørstad, From Byzantium [2013], S. 94–98 am Beispiel von Ringfibeln, dass dieser Oberklasseschmuck in Norwegen im Gegensatz etwa zu Schweden keinerlei direkten byzantinischen Einfluss aufweist, sondern sich ganz an insularen Vobildern letztlich fränkischer Prägung orientiert.

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schichtsschreibung in Schweden erst im 14. Jahrhundert einsetzt und bezüglich der Geschichte des Ostwegs keinerlei Informationen bereitstellt, greift die Forschung insbesondere auf Konungasögur zurück, die seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert nahezu ausschließlich auf Island verfasst wurden, mithin auf Texte, die vor einem gänzlich anderen kulturellen Horizont entstanden und über die Geschichte Norwegens und der nordatlantischen Inseln berichten. Diese Ferne der Sagas von dem wikingerzeitlichen Gegenstand, über den sie berichten, ist nicht allein geographisch und zeitlich, sondern vor allem ideengeschichtlich zu verstehen: »Geschichte« in den Sagas ist den semiotischen Strukturen hochmittelalterlicher, lateinischer Historiographie und damit grundlegend typologisch-allegorischen Denkstrukturen unterworfen. Somit ist sie selbst ein Zeugnis von Kulturtransfer, allerdings aus dem postkarolingischen Europa beziehungsweise England. Solche Aneignungsprozesse erzeugten überhaupt erst ein greifbares Bewusstsein von linearer Geschichte.66 Verzichtet man indes konsequent auf die Übernahme von Informationen hochmittelalterlicher Texte über die Wikingerzeit, verliert die oben skizzierte Narration über die Geschichte des Ostwegs ihre Kohärenz. Insbesondere die oft als Beispiel herangezogene und immer neu kontextualisierte Geschichte des späteren Norwegerkönigs Haraldr Sigurðarson ist, obschon in den elementarsten Grundzügen durch eine zeitnahe byzantinische Quelle beglaubigt, abhängig von den Äußerungen isländischer Gelehrter des früheren 13. Jahrhunderts und ihrer reflektierten Komposition aus Fiktion und Verarbeitung von mündlichen sowie schriftlichen, je einheimischen und transferierten Traditionen. Zwei isolierte Narrative: Die Waräger und die »Europäisierung« Nordeuropas Dass dieses »Warägernarrativ«, welches weitgehend unkritisch skandinavische Historiographie selektiv mit wikingerzeitlichen Artefakten und byzantinischer Historiographie verflicht, trotz eines weiterentwickelten quellenkritischen Bewusstseins für den Aussagewert norröner Historiographie über die ferne Vergangenheit unberührt blieb,67 resultiert aus der Epochenschwelle, an der es endet. 66 Zu mittelalterlicher Geschichtsschreibung und ihren exegetischen Konstruktionstechniken von Geschichte grundlegend Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein [1999], S. 82–94; Ohly, Mittelalterliche Bedeutungsforschung [1983], S. 1–31; Ehlers, »Historia«, »allegoria«, »tropologia« [1990], S. 158–160; Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik [1980]. Zum Transfer dieser Deutungsschemata nach Skandinavien Scheel, Lateineuropa [2012], bes. S. 199–204. 67 Ein typisches Beispiel für eine von der modernen Quellenkritik noch weitgehend unberührte Arbeit bildet das monumentale Werk von Riant, Expéditions et pèlerinages [1865] (in dänischer Übersetzung Riant, Skandinavernes Korstog [1868]), der aus den extrem zahlreichen und verstreuten skandinavischen, lateineuropäischen und byzantinischen Quellen, die damals zudem teilweise noch unediert waren, eine Geschichte der skandinavischen Pilgerreisen

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Da die Geschichte des Ostwegs und des damit verbundenen byzantinischen Einflusses auf den Norden etwa zeitgleich mit dem Ende der Wikingerzeit im späten 11. Jahrhundert schließt, entstehen keine störenden Interferenzen mit dem zweiten transkulturellen Narrativ, demjenigen von der Integration der nordischen Länder in die lateineuropäische Kultur des Hochmittelalters im Zuge dessen, was von Robert Bartlett als forcierte »Europäisierung Europas« bezeichnet wurde.68 Phänomene gesellschaftlicher Transformation im Norden – die Ausweitung der Königsherrschaft auf die Kontrolle und Sanktionierung des Friedens, königlicher Schutz des Handels und der Wege, ein königliches Münzmonopol, die Verfestigung der Kirchenorganisation mit ortsfesten Bistümern und zahlreichen Priestern, der Beginn lokaler Schrifttraditionen, das Eindringen von Kreuzzugsdenken69 – trennen als Epochenschwelle beide Narrative effizient voneinander ab. Der für fremde Kultureinflüsse, möglicherweise gar für byzantinische Mission,70 offenen und mobilen Gesellschaft der Wikingerzeit steht mithin nach dem Ende der Wikingerzüge und der Übernahme des lateinischen und Kreuzfahrten rekonstruiert. Zwar trennt er offenkundig fiktionale Texte von solchen, welche aufgrund ihres Stils Referentialität nahelegen (ebd. S. 129–131), doch akzeptiert er etwa Aussagen von Íslendingasögur aus dem 13. Jh. über das 10. Jh. als historischen Fakt und kombiniert sie mit Aussagen mediterraner Quellen (ebd. 131, 140, 168f.). Zwar steht weder das Warägernarrativ im Zentrum seiner Aufmerksamkeit noch trennt er wikingerzeitliche von hochmittelalterlicher Geschichte, doch setzt sich Riants seinerzeit unproblematische Praxis unkritischen Ineinanderlesens von Bausteinen verschiedener Texte über Blöndal bis in die Gegenwart fort. Eine Ausnahme bilden die kritischen Anmerkungen bei Jakob Benediktsson, Varjager [vestnordisk] [1975]. 68 Bartlett, Die Geburt Europas [1996], S. 325–376. 69 Vgl. Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 82–100; Helle, Norge blir en stat [1974], S. 94– 101; Helle, Organisation [1988]; Jón Viðar Sigurðsson, Norsk Historie [1999], S. 80–107; Bagge, Da boken kom til Norge [2001], S. 30–133, 282–303, 322–341. Auf die Relevanz von Kreuzzugsdenken im Dänemark des 12. Jhs. machte v. a. Villads Jensen, Danmark som en korsfarerstat [2000], S. 51–65 aufmerksam; vgl. zuletzt Villads Jensen, Korstog [2011]. 70 Arne, Biskop Osmund [1947]; Schmid, Sveriges kristnande [1934]; Klasson, Byzantine Heritage [1985]; Ellis Davidson, Northmen in Byzantium [1985]; Sjöberg, Orthodoxe Mission [1985]; Piltz, Byzantium and Islam [1998]. Janson, Nordens kristnande [2005] betont sehr stark die (vermeintlich) große kulturelle Entfernung des wikingerzeitlichen Schweden vom (post-)karolingischen Raum. In der großen Bereitschaft, hier auf sehr dünner Basis weitreichende Konjekturen anzustellen, äußert sich nicht zuletzt das Bedürfnis, die eigene Nationalgeschichte im europäischen Kontext aufzuwerten und die Zuordnung zu einer peripheren Rolle im »katholischen« Lateineuropa abzuwehren (vgl. zum Hintergrund der Byzanzrezeption in der schwedischen Literatur Linnér, Bysans i svensk litteratur [1994]; Bodin, Bruken av Byzans [2011], S. 423–437). Staecker, Bremen – Canterbury – Kiev – Konstantinopel? [1998], bes. S. 74, konfrontiert die schriftlichen Quellen mit archäologischem Material, das einen starken Einfluss des byzantinischen commomwealth bei Kreuzanhängern nahelegt. Vgl. dagegen aber die problemorientierten Beiträge von Duczko, Viking Sweden and Byzantium [1996]; Nilsson, Förekom det byzantinska influenser [2005]; Hallencreutz, När Sverige blev europäiskt [1993], S. 26–37. Den Eindruck einer Epochenschwelle erhärtet auch Sindbæk, Vejen fra Skandinavien [2010], S. 396, der mit dem Ende des »Ostwegs« auch das Ende byzantinischen Einflusses gekommen sieht.

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Christentums eine gegenüber solchen Einflüssen abgeschlossene, gleichsam provinzielle Gesellschaft gegenüber, die als Peripherie eines (vermeintlich) verfestigten Europa kulturelle Impulse nurmehr aus den im Süden und Südwesten benachbarten Regionen erhält.71

Quellenkritische und erinnerungskritische Überlegungen Aus dieser Erzählung resultiert eine bemerkenswerte Spaltung im herkömmlichen Umgang mit der mittelalterlichen Überlieferung aus Skandinavien, aber auch aus Byzanz, die zahlreiche Probleme aufwirft und zugleich ein Desiderat konstituiert. Während in Schriftquellen dokumentierte byzantinisch-skandinavische Kontakte im Hochmittelalter, die durch Begegnungen auf den Kreuzzügen skandinavischer Herrscher und darüber hinaus durchaus gegeben waren, sowie deren Auswirkungen in Byzanz und Skandinavien eher randständig behandelt werden,72 konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Forschung ganz überwiegend auf die Wikingerzeit und die Geschichte direkter Kontakte über den Ostweg, was sich markant auf den bereits angedeuteten Umgang mit den unverzichtbaren schriftlichen Zeugnissen auswirkt. Informationen über wikingerzeitliche Kontakte, aber auch Wissensinhalte aus und über Byzanz sowie orientalische, zumal zur byzantinischen Literatur parallele Erzählmotive aus Sagas werden a priori als Zeugnisse wikingerzeitlichen Kulturtransfers und hierdurch begründeter Traditionen angesehen und bleiben im Hinblick auf ihre Prägung durch mittelalterliche Hermeneutik oder durch intertextuelle Bezüge weitgehend ungeprüft. Die Analogie zur Archäologie ist frappierend: Geschichten, die sich in der Wikingerzeit abspielen, und Motive, die sich zeitgleich zur Wikingerzeit in byzan71 Selbstverständlich finden sich Ausnahmen zum hier beobachteten Muster. Hochmittelalterliche Beziehungen der skandinavischen Länder mit Byzanz behandeln v. a. Ciggaar, St. Thorlac’s [1979]; Ciggaar, Western Travellers [1996], S. 103–128; Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000]; Riis/Riis, Knud den Helliges ørnetæppe [2004]. Ihre Studien sind in unserem Kontext von großer Bedeutung. Vgl. weiterhin für die Kunstgeschichte Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979]; Haastrup, Byzantine Elements [1981]; Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], darin v. a. Hjort, Madonna med barnet [1986]. 72 Die skandinavische Kreuzzugsforschung konzentriert sich im Rahmen der dänischen Expansion seit dem späten 12. Jahrhundert besonders auf den Ostseeraum (vgl. etwa Villads Jensen, Danmark som en korsfarerstat [2000]; Møller Jensen, Sclavorum expugnator [2003]; Villads Jensen, Korstog og kolonisering [2003]; Møller Jensen, Danmark og den hellige krig [2000]; Broderliste, broderskab, korstog, ed. Møller Jensen [2006]); Villads Jensen, Denmark and the Second Crusade [2006]; Møller Jensen, Denmark and the First Crusades [2007]; Villads Jensen, Korstog [2011]. Kreuzzüge und Pilgerreisen ins Heilige Land behandeln u. a. Bring/Wahlgren, Valfarter och Korståg [1827]; Riant, Skandinavernes Korstog [1868]); Westergård-Nielsen/Kedar, Icelanders in Jerusalem [1979]; Møller Jensen, Vejen til Jerusalem [2004].

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tinischen oder erst später in hochmittelalterlichen rusischen Texten über die ferne Vergangenheit oder gar in orientalischen Literaturen finden, müssen zu der Zeit, von der sie handeln, in den damals noch gar nicht geschriebenen isländischen »Text« gelangt sein wie byzantinische Miliaresia in die gotländische Erde. Konungasögur, insbesondere Snorri Sturlusons berühmte Heimskringla, aber auch die Gesta Danorum gleichen so einem ungestörten Fundhorizont.73 Gemäß dieser Logik lassen sich mehr oder weniger deformierte alte »Fakten« über die ferne Geschichte und diese überlagernde jüngere Informationsschichten beziehungsweise »Fiktion« stratigraphisch voneinander trennen. Kontrollquellen für dieses oftmals praktizierte Verfahren der Geschichtsrekonstruktion durch Textzerstörung, die einen Abgleich vorgefundener Informationen aus verschiedenen Traditionslinien ermöglichten, finden sich freilich praktisch nie; als Konsequenz bleibt die Vorstellungskraft des Forschers das wichtigste Bemessungskriterium für das Freipräparieren »echter« Tradition aus den Texten,74 die dann mit Erkenntnissen aus ganz anderen historischen Kontexten, welche die Archäologie und die Byzantinistik bereitstellen, verknüpft werden. Auch wenn die Ansicht des Altnordisten Andreas Heusler aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, es habe bereits in der Wikingerzeit »freimündliche« Sagas gegeben, welche Schreiber um 1200 bloß niedergeschrieben hätten,75 heute als nicht mehr konsensfähig gelten darf, ist die hier skizzierte, oft nicht reflektierte Annahme über die Stabilität mündlicher Traditionen und ihren Übergang in Historiographie oder andere mittelalterliche Textformen vor dem Hintergrund 73 So kommt etwa Pritsak, Origin of Rus’ [1981], S. 226–250 zu dem Schluss, die Tyrkjakonungar (»Türkenkönige«) bzw. das Tyrkland, in dem Troja in den Vorgeschichts-Genealogien der Íslendingabók, der Heimskringla und der Snorra Edda liegt, entstammten nicht der TrojaGeschichte bei Fredegar und der Vermischung mit dem gegenwärtigen Eindruck vom türkischen Kleinasien um 1200, sondern spiegelten genau wie die gesamte nordische Mythologie die Begegnung der Skandinavier mit den Chazaren und ihren Herrschern sowie deren Kultur der »Männerbünde« im 8. und 9. Jahrhundert. Er ignoriert hierbei die enge Verbindung auch der frühen altnordischen Literatur mit lateineuropäischer Gelehrsamkeit und die Bezeichnung Kleinasiens als Tyrkland im Altnordischen des 12. Jhs. (Sverrir Jakobsson, Við og veröldin [2005], S. 148–151). Einen ähnlichen Umgang mit Inhalten bzw. Motiven in hochund spätmittelalterlichen Texten wie Pritsak zeigen u. a. Stender-Petersen, Die varägersage [1934] und Mundt, Adaption orientalischer Bilder [1993]. Sie alle versuchen, durch »Entkleidung«, also Demontage von kohärenten historiographischen, mythologischen oder fiktionalen Texten, »echte« Traditions- bzw. Motivkerne gleichsam in der untersten Schicht der Texte zu finden, die sie anschließend frei mit anderen, ebenfalls herauspräparierten Elementen höchst phantasievoll und assoziativ kombinieren können, obwohl weder die Handlung, die Namen der Akteure noch die Handlungsorte der Texte an sich irgendeine Beziehung erkennen lassen. Ein anschauliches Beispiel bietet Pritsak, Origin of Rus’ [1981], S. 164–182 zur Geschichte des rusischen Überfalls auf Konstantinopel 860. 74 Auf diese Problematik der Kategorie »Plausibilität«, die zu historisieren ist, machte zuletzt Phelpstead, Fantasy and History [2012] im Kontext von Óláfs saga Tryggvasonar und Yngvars saga víðfo˛rla aufmerksam (s. auch unten, S. 701ff.). 75 Heusler, Anfänge [1914], bes. S. 53–74.

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jüngerer Erkenntnisse der Gedächtnisforschung76 sowie der Historiographiegeschichte77 inakzeptabel. Die herbe Schlussfolgerung hieraus muss lauten, dass sich aus der hochmittelalterlichen Überlieferung abgesehen von basalen Aussagen über historische Großereignisse nur wenige Erkenntnisse über ereignisgeschichtliche Details, geschweige denn mentalitäts- beziehungsweise ideengeschichtliche Erkenntnisse über die Wikingerzeit gewinnen lassen, welche quellenkritischen Anforderungen genügten und sich als Grundlage für weitere Kontextualisierungen belasten ließen; sie müssen Spekulation bleiben, sofern sie nicht durch unabhängige, zeitnähere Überlieferung oder Erkenntnisse anderer Disziplinen verifiziert werden können.78 Die damit verbundene Distanzierung von oftmals folkloristisch geprägten, assoziativen Geschichtskonstruktionen, wie sie hier skizziert wurden, zeigt eine gewisse Ähnlichkeit zu den kritischen Maßstäben, welche die schwedischen Professoren und Brüder Lauritz und Curt Weibull ähnlich wie der Däne Erik Arup im frühen 20. Jahrhundert erstmals konsequent an Quellen des skandinavischen Mittelalters anlegten.79 Die von Lauritz Weibull durchaus provokativ vorgetragene Quellenkritik wurde in den nordischen Ländern von Zeitgenossen und oftmals noch Jahrzehnte später in verblüffender

76 Für die quellenkritischen Implikationen aktueller Erkenntnisse über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses und die Eigenarten menschlichen Erinnerns sind in erste Linie die Resultate und methodischen Postulate von Fried, Schleier der Erinnerung [2004], S. 80–197, 372–384 relevant; Gesetzmäßigkeiten des kollektiven Gedächtnisses in frühen Hochkulturen, gerade am Übergang von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung, untersuchte grundlegend Assmann, Das kulturelle Gedächtnis [2005], hier S. 67–103, bes. 97ff. 77 Die Erkenntnisse beziehen sich v. a. auf die Interdependenz zwischen Geschichtsnarration und der den Autor umgebenden Gegenwart im Hinblick auf Denkmodelle und Politik im weitesten Sinne; vgl. Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein [1999], S. 161– 259; Schneidmüller, Constructing the Past [2002]; Schulmeyer-Ahl, Anfang vom Ende [2009], bes. S. 213–217, 402–408; bezogen auf Skandinavien u. a. Kersken, Geschichtsschreibung [1995], S. 402–483; Boje Mortensen, Sanctified Beginnings [2006]; Foerster, Vergleich und Identität [2009], bes. S. 170–176; Scheel, Lateineuropa [2012]. S. auch die folgenden Ausführungen zur Konstitutionslogik von historiographischen Texten, S. 68ff. 78 Eine Ausnahme bildet in einem gewissen Maße die formal extrem gebundene und daher auch von mittelalterlichen Zeitgenossen als stabil betrachtete Skaldendichtung (s. Snorri Sturluson: Heimskringla 1941, ed. Bjarni Aðalbjarnarson [1941–1951], Bd. 1, S. 7), doch sind auch Skaldenstrophen fast ausschließlich in Sagaprosa eingebettet überliefert (vgl. hierzu von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981]; von See, Problem der Erzählprosa [1981]; Fidjestøl, Skaldenstrophen in der Sagaprosa [1993]). Ein noch zu behandelndes Problem bildet vor allem die Frage nach der Authentizität von Strophen, welche mittelalterliche Autoren auch selbst dichten konnten (vgl. unten, S. 625ff., S. 765ff.). 79 Programmatisch wirkten v. a. Weibull, Kritiska undersökningar [1911]; Weibull, Historiskkritisk metod [1913]; Weibull, Saxo: Kritiska undersökningar [1915]. Eine sehr gute Übersicht über die Forschungssituation im Norden, die Debatten und das Fortwirken der Weibullschen Quellenkritik, an der sich folgende Ausführungen orientieren, vermittelt Krag, Weibull [2006]; zu Erik Arup s. Svenstrup, Arup [2006], bes. S. 346–351, 395–405.

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Schärfe als »Radikalismus« oder eigentlich gänzlich unoriginelle, an den eigenen Regeln mehr als an Geschichte selbst interessierte, literaturwissenschaftlich orientierte »Hyperkritik« geschmäht,80 welche die Wikingerzeit beziehungsweise das Frühmittelalter für Historiker »tabuisiere«,81 führte sie doch unweigerlich zu der Erkenntnis, dass man über bestimmte Perioden der Nationalgeschichte schlicht keine gesicherten Erkenntnisse mehr gewinnen könne – wohlgemerkt nicht generell, sondern aus zeitlich fernen Schriftzeugnissen. An Stelle von Textzerstückelung und der Montage einander völlig fremder Fragmente zu einem Geschichtskonstrukt müssten die Texte selbst als Produkte ihrer Gegenwart ernst genommen werden. Der »Weibullianismus« ist inzwischen ein abgeschlossenes und überwundenes Kapitel in der Forschungsgeschichte der skandinavischen Mediävistik,82 doch prägte er nachdrücklich den Umgang mit Konungasögur und etwa mit der mythologischen Vorgeschichte in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, indem er den Glauben an eine freizulegende, prinzipiell gegebene Faktizität hinter der Erzählung zerstörte und so den Text neuen, dezidiert mediävistischen Fragestellungen zugänglich machte.83 Die englischsprachige Skandinavistik, insbesondere aber das Warägernarrativ erreichte die Quellenkritik der WeibullBrüder indes nicht. Hieraus ist nicht etwa abzuleiten, dass genau eine solche 80 So bei Arvidsson, Källkritisk radikalism [1971], bes. S. 332–335; Nyberg, From the Editor’s Desk [1971], S. 136. Arvidsson gelangt zu dem interessanten Resultat, L. Weibull sei in seiner Quellenkritik stark von Joseph Bédier beeinflusst, ohne ihn zu nennen (vgl. die Entgegnung seines Bruders Curt: Weibull, Lauritz Weibull [1972]). Überraschend ist hier, immerhin elf Jahre nach dem Tode Lauritz Weibulls, der aggressive Ton gleich zu Anfang: Ihm werden Negativismus, Arroganz und Polemik, Selbstinszenierung sowie die Zerstörung der wikingerzeitlichen Ereignisgeschichte vorgeworfen (Arvidsson, Källkritisk radikalism [1971], S. 287f.), wobei unschwer erkennbar Letzteres das eigentliche Skandalon darstellt. Vgl. auch die englische Version des Aufsatzes Arvidsson, Source-Criticism [1972] und die aufschlussreichen Diskussionsbeiträge im gleichen Band (Lyon, Lauritz Weibull [1972]; Musset, Lauritz Weibull [1972]; Werin, Lauritz Weibull [1972] (als einziger positiv); Wührer, Laurits Weibull [1972]; Yrwing, Lauritz Weibull [1972]; Nyberg, From the Editor’s Desk [1971]), die sich fast alle von Weibull distanzieren; weiterhin Johnsen, Weibull Discussion [1977], der norwegische Vorläufer Weibulls und die Wirkungen der Debatte in Norwegen bespricht. In jüngerer Zeit warnte Nors, Rezension Hermanson [2001], S. 575–580 davor, aus der Sicht zeitgenössischer Fragestellungen quellenkritisch hinter die Errungenschaften der Weibull-Brüder zurückzufallen. 81 Z.B. Nyberg, Frühes und spätes Mittelalter [2001], S. 198. 82 Hierzu ausführlich Odén, Lauritz Weibull och forskarsamhället [1975]; vgl. auch Bagge, Mellom kildekritikk og antropologi [2002], S. 207–211; Krag, Weibull [2006], S. 354–356. 83 Zu den Gesta Danorum v. a. Johannesson, Saxo Grammaticus [1978]; Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987]. Ähnlich umstürzend wirkte auf Island Nordal, Hrafnkatla [1940], der eine der von Folkloristen am intensivsten als Zeugnis für heidnische Mythologie und »freimündliche« Form analysierten Íslendingasögur, die Hrafnkels saga Freysgoða, als literarische Fiktion eines hochmittelalterlichen Autors erwies (vgl. zum Diskurs unten, S. 738f. mit Anm. 15f.).

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Konfrontation nun nachzuholen wäre, zumal es den Zeitgenossen im früheren 20. Jahrhundert in allererster Linie um Rekonstruktion einer verlässlichen, im klassischen Sinne politischen Ereignisgeschichte aus positivistischer Perspektive ging. Das Ziel der vorliegenden Studie ist ein anderes, wie noch zu zeigen sein wird. Dennoch ist ein kritischer Umgang mit den Schriftzeugnissen, der sich der Kreativität von Erinnerungsprozessen und der Prägung des individuellen wie des kollektiven Gedächtnisses durch jeweils synchrone Bedingungen bewusst ist, und eine intensive Auseinandersetzung mit historiographischen Narrationen selbst in ihrer Komplexität gerade angesichts der etablierten Forschungsnarration dringend geboten. Die auf dem Felde byzantinisch-skandinavischer Geschichte etablierte Arbeitsweise führt nämlich nicht allein dazu, dass die Eigenlogik der hochmittelalterlichen Texte beziehungsweise von Erzählkernen in solchen Texten sowie ihr ideengeschichtlicher und politischer Kontext verschwinden oder unsichtbar bleiben; sie bedingt auch, dass Elemente des hochmittelalterlichen skandinavischen Byzanz- und Russlandbildes aufgrund geringer Aufmerksamkeit für ihre Konstitutionsbedingungen durch das Warägernarrativ unkritisch reproduziert werden. Dies gilt beispielsweise für die in der Forschung herrschende Ansicht, Waräger seien mit ein und demselben Schiff von Schweden nach Konstantinopel gefahren. Diese Ansicht, den Sagas entnommen, basiert auf dem hochmittelalterlichen skandinavischen Wissen über die Rus’; dies endet freilich hinter Hólmgarðr-Novgorod, das über Newa, Ladogasee und Wolchow problemlos mit dem Schiff erreichbar war und das ganze Mittelalter hindurch regelmäßig von Händlern aus dem Norden besucht wurde. Dass es mangels Wassertiefe und aufgrund zahlreicher Stromschnellen auch mit kleineren Fahrzeugen praktisch aussichtslos ist und im trockeneren und wärmeren Klima des little optimum wohl noch aussichtsloser war, mit dem Schiff die Lovat hinauf in die Nähe des Dnjepr zu gelangen, wie moderne Versuche mit Schiffsnachbauten bewiesen,84 und dass Waräger offensichtlich in erheblichem Ausmaß zu Pferde oder im Winter mit Schlitten über das Eis reisten,85 ist kaum ins Bewusstsein vorgedrungen, weil »Wikinger« nun einmal mit dem Schiff zu reisen haben und die Sagas dies nahelegen. Die Passage in der Povest’ vremennych let,86 welche den Weg von den Warägern zu den Griechen beschreibt, bezieht sich jedoch nicht eindeutig auf Schiffsreisen. Konstantinos Porphyrogennetos berichtet, dass die Rus’ aus dem nicht genau identifizierbaren Nemogardia und anderen Zentralorten ihre Schiffe 84 Edberg, Varangians to the Greeks [1999]; Edberg, Experimental ›Viking voyages‹ [2009]. Auch der Dnjepr war alles andere als leicht zu befahren (Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 92f.; vgl. dazu im Folgenden auch De administrando imperio). 85 Sindbæk, Varægiske vinterruter [2003]; vgl. auch Kerkkonen, Bondeseglares vinterfärder [1989]. 86 Wie Anm. 18.

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bei Kiev abbrächen und die monoxyla der Tributpflichtigen mit der übernommenen Ausrüstung versähen. Seine Kenntnis der »äußeren Rhosia«87 und ihrer geographischen Verhältnisse ist jedoch begrenzt. Deutlich wird aber, dass, selbst wenn mit Flussschiffen gereist wurde, diese nach den Landpassagen offensichtlich nicht für die Weiterreise brauchbar waren. Der Terminus monoxylon, welcher seit der frühbyzantinischen Zeit verschiedene Schiffstypen bezeichnet, die von Slawen benutzt werden, meint in diesem Zusammenhang augenscheinlich nicht Einbäume, sondern mit Holz beplankte Boote, die einen durchlaufenden Kiel besaßen.88 Ähnlichkeiten mit skandinavischen Schiffsbauten, wie sie etwa von Slawen gebaute Schiffe des Ostseeraums aufwiesen, sind keineswegs ausgeschlossen, doch war ihre Größe äußerst begrenzt; die Rus’ konnten sie nach Konstantins Aussage auf ihren Schultern tragen.89 »Wikingerschiffe«, wie sie Ausgrabungen und Rekonstruktionen der heutigen Imagination vertraut gemacht haben,90 dürften in Konstantinopel nicht vor dem Kreuzzug des Norwegerkönigs Sigurðr Jórsalafari um 1110 aufgetaucht sein.91 Der von den Sagaautoren konservierte Wissensbestand über geographische Verhältnisse in 87 De administrando imperio, ed. Moravcsik/Jenkins [1949], Kap. 9, Z. 3, S. 56. 88 Mit dem μονόξυλον als Bezeichnung für verschiedene slawische Schiffstypen seit dem 5. Jh. setzt sich intensiv Havlíková, Slavic Ships [1991], hier bes. S. 101–104, auseinander. Aus dem Gebrauch dieser und anderer Bezeichnungen sowie den Umschreibungen bei byzantinischen Historiographen, die etablierten Termini stets den Vorzug vor »barbarischen« Neologismen geben, leitet sie drei Schiffstypen her: 1. ausgehöhlte Einbäume, 2. beplankte oder mit Häuten bespannte Plattbodenschiffe, 3. beplankte Schiffe mit durchlaufendem Kiel, ähnlich skandinavischen Schiffstypen. Letztere beiden Typen finden sich auch in den Bestimmungen der Russkaja Pravda (ebd. 103). Sofern von Booten mit Kiel die Rede ist, handelt es sich laut den byzantinischen Quellen des 10. und 11. Jhs. grundsätzlich um kleine, flusstaugliche Fahrzeuge (ebd. 98f., vgl. auch die folgende Anm.). Diese Bedeutung ist Spekulationen bei Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 81f und Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 436–442 in Unkenntnis des semantischen Potentials des Wortes entgegenzuhalten. 89 De administrando imperio, ed. Moravcsik/Jenkins [1949], Kap. 9, Z. 53–55, S. 60. Wenn es sich um Schiffe handelte, die nordeuropäischen Bautypen ähnelten, waren sie keineswegs größer, sondern eher kleiner als die »Krampmacken« getaufte Rekonstruktion gotländischer Archäologen (Länge 8 Meter, Breite 2 Meter), die aber die Flüsse in der Sowjetunion nicht befahren durften und daher keine Erfahrungen auf Lovat und Dnjepr sammeln konnten (Nylén, Vikingaskepp mot Miklagård [1987], S. 256–260). Zu den extremen Problemen, auf die spätere Expeditionen ebendort mit geringfügig größeren Fahrzeugen trafen, s. Edberg, Experimental ›Viking voyages‹ [2009]. 90 Vgl. zum Wikingerschiff als Erinnerungsort Föller, Schiffe [2011]. 91 Ahrweiler, Les relations [1971] ist der Ansicht, die rusischen Schiffe, mit denen die Angreifer des Jahres 860 Konstantinopel erreichten (oben, S. 27 mit Anm. 30), seien groß gewesen. Dies ist technisch unmöglich, sofern diese Rho¯s keine »Flottenbasis« am Meer besaßen. Abgesehen von der problematischen sprachlichen Indizienfindung für die Größe der Schiffe in byzantinischen Texten (Tinnefeld, Blitzschlag [1981], S. 247f.) hätte jene Flottenbasis dann zur Entstehungszeit von De administrando imperio und später nicht mehr existiert, denn die rusischen Schiffe der folgenden Jahrhunderte sind immer von geringer Größe.

Byzanz und der Norden

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Osteuropa ist immer geprägt von älterem, traditionsgebundenem lateineuropäischen Wissen, das wie auch immer geartete mündliche Traditionen über Erfahrungen von skandinavischen Augenzeugen früherer Jahrhunderte überlagert und sich mit ihnen amalgamiert. Beides jedoch in Texten des 12. bis 15. Jahrhunderts voneinander trennen zu wollen, ist ein Unterfangen, das nicht zu belastbaren Aussagen führen kann.92 Kiev-Kœnugarðr, der eigentliche Zentralort der frühen Rus’ zum Beispiel, taucht außer in der spät überlieferten Kristni saga als sekundäres, Novgorod nachgeordnetes Zentrum allein in späten, fiktionalen Texten auf, welche in den fraglichen Passagen denselben enzyklopädischen Text fortschreiben,93 während die »klassischen« Sagas nur NovgorodHólmgarðr kennen, das freilich in Sagaübersetzungen gern zu Kiev »emendiert« wird.94 Da solche Interferenzen bei der Konstitution von Geschichtsbildern großteils unbemerkt bleiben oder eben durch Kontextwissen übertüncht werden, schreibt sich auf diese Weise die hochmittelalterliche Erzählung von Warägern in der Rus’ und Byzanz selbst fort. Zudem setzt die Forschung zumeist mehr oder weniger stillschweigend voraus, dass die Geschichte direkter und vor allem wirksamer byzantinisch-skandinavischer Kulturverbindungen mit dem 11. Jahrhundert endet. Das Resultat ist eine paradoxe Gegenläufigkeit zwischen einer chronologisch stetig zunehmenden Informationsdichte in den Quellen und der Aufmerksamkeit der Forschung für frühere Verbindungen, von welchen diese Quellen handeln. Hochmittelalterliche Texte bleiben so eine Schutthalde an Informationen über die Wikingerzeit. Nimmt man dagegen an, dass auch im Hochmittelalter

92 Vgl. die umfassende Analyse von Simek, Kosmographie [1990]. Er stellt einen selbständigen Umgang der Skandinavier mit der lateinischen Gelehrsamkeit fest, die aber nur für Nordwesteuropa entscheidend neue Informationen aus regionaler Tradition ergänzt (ebd., S. 391f.). 93 Grundlage aller Behandlungen der Kiev-Kœnugarðs in der Rus’ bildet die Kosmographie in der Hauksbók vom Anfang des 14. Jhs. (Edition in Simek, Kosmographie [1990], Text 12, S. 449–453), zugleich der ältesten Handschrift der Kristni saga selbst (NI 166). Die älteste Textschicht der norrönen Kosmographie nennt Kœnugarðr im frühen 14. Jh. nicht (NI 12+NI 14, s. auch die Anm. zu den Varianten). Von der Form in der Hauksbók oder einer ähnlichen Quelle sind alle anderen Erwähnungen in der erzählenden norrönen Literatur, durchgängig aus dem 14. Jh., abhängig: S. O ˛ rvar-Odds saga (NII 47), Bærings saga (NII 55), Þjalar-Jóns saga [1939], Kap. 7, S. 12; Göngu-Hrólfs saga [1959], Kap. 38, S. 278; Gautrekssaga, ed. Ranisch [1900], S. 19f. Die Gesta Danorum (5,8,8) nennen Cønogardia im Rahmen der mythologischen Vorgeschichte, als im Norden parallel zur Pax Augustea im Mediterraneum um die Geburt Christi der Frieden des dänischen Königs Frode Fredegod herrscht. Er setzt auch die Herrscher von Holmgardia und Cønogardia ein (D33); s. außerdem das auf die verlorene Skjo˛ldunga saga zurückgehende Sögubrot af fornkonungum (NI 161+NI 162). 94 So etwa im Kontext der Reise von Haraldr inn harðráði von Byzanz nach Norden (NI 123, vgl. die Übersetzung Morkinskinna, ed. Andersson/Gade [2000], S. 149). Er folgt darin Blöndal, 165/100.

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rege direkte Kontakte mit Byzanz über den »Westweg«95 bestanden, den Pilger und Kreuzfahrer aus ganz Lateineuropa befuhren, und dass zudem die skandinavischen Kulturen Einflüssen aus Byzanz beziehungsweise der Übernahme von Kulturgütern aus jener Region viel weniger verschlossen waren, als es das gängige Integrationsnarrativ und die Vorstellung vom Morgenländischen Schisma96 nahezulegen scheinen, wird die Vorstellung von ungestörten Traditionsschichten in den skandinavischen Literaturen hinfällig; man wird dagegen grundsätzlich mit Überlagerungen alter Traditionen durch ständig neue Informationsströme rechnen müssen. Folgt man darüber hinaus der an sich keineswegs avantgardistischen Prämisse, dass Historiographie weniger als Gefäß mündlicher Traditionen denn als absichtsvolles Konstrukt aufzufassen ist,97 das synchronen hermeneutischen Strukturen und Kommunikationsabsichten des jeweiligen Autors folgt, wird sich die Frage: »Warum Byzanz?« für das skandinavische Hochmittelalter, seine Texte und Kunstwerke nicht zufriedenstellend mit lange zurückliegenden Kontakten ohne erkennbare Relevanz in der Gegenwart erklären lassen. Dass aber das Sprechen über Byzanz und Byzantinisches eine bedeutende Rolle im Norden spielt, wird jenseits von Runeninschriften erst nach dem Ende direkter Kontakte über den Ostweg mit dem Transfer der lateineuropäischen Schriftkultur überhaupt differenziert nachvollziehbar: Eine gewisse Synchronität beziehungsweise Gleichläufigkeit kultureller Prozesse zwischen Byzanz und dem Norden im Sinne der Systemtheorie98 – und damit zugleich ein wachsendes Potential für kulturelle Interaktion – entsteht in Bezug auf uns überlieferte Zeugnisse erst nach der Christianisierung der skandinavischen Länder; für die Wikingerzeit zeigt sich im Vergleich mit Byzanz in zahlreichen kulturellen Be-

95 Der vestrvegr nach Byzanz bzw. ins Heilige Land führt entweder von Jütland oder der niederländischen Küste aus über Land nach Rom und Süditalien und ab dort per Schiff nach Osten (so um die Mitte des 12. Jhs. beschrieben im Leiðarvísir: NI 11) oder per Schiff durch die Nordsee, den Kanal, die Biskaya und die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer (so bei den Pilgerreisen des Norwegerkönigs Sigurðr Jórsalafari und des Jarls Ro˛gnvaldr Kali Kolsson von den Orkneys: NI 134-NI 140 und NI 47-NI 55). Vgl. auch Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 56–60, 237, 255f., 265–267; Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 94– 125; Møller Jensen, Vejen til Jerusalem [2004]. 96 Bayer, Spaltung der Christenheit [2004], S. 165–213 verdeutlicht, dass 1054 als Stichdatum von untergeordneter Bedeutung und der Bruch erst im Rahmen des Ersten Kreuzzugs und hieraus resultierender, insbesondere normannisch-byzantinischer Konflikte eingetreten sei. Von ebendiesen Konflikten aber waren die Skandinavier, wiewohl »Lateiner«, nicht betroffen; ostentatives Lob über die Eigenschaften der Βάραγγοι oder πελεκυφόροι stammt praktisch ausschließlich aus Quellen des 12. Jhs. Vgl. auch im Hinblick auf norröne Quellen Sverrir Jakobsson, Austurvegsþjóðir [2005] bzw. Sverrir Jakobsson, Schism that never was [2008]. 97 Vgl. die Literatur in Anm. 65 und 76. 98 Vgl. in diesem Zusammenhang Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation [2009], bes. S. 102–104; Koselleck, Zeitschichten [2000], S. 99–118, 164–176.

Skandinavien, Byzanz, Hochmittelalter: Zum Gegenstand

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reichen sehr deutlich die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«.99 Die im 12. Jahrhundert einsetzende skandinavische Historiographie, sowohl in lateinischer als auch in norröner Sprache, widmet der jüngeren wie auch der ferneren Geschichte über Landsleute in Byzanz, besonders im Kontext von Kreuzzugsgeschichten, eine hohe Aufmerksamkeit. Analoges zeigt sich bei den fiktionalen Genres der Sagaliteratur aus dem 13. und 14. Jahrhundert sowie der auffallenden und aus dem lateineuropäischen Rahmen herausragenden Vorliebe dänischer Kalkmalereien für byzantinische Ikonographie-Elemente.

2.

Skandinavien, Byzanz, Hochmittelalter: Zum Gegenstand

Die Beschaffenheit der schriftlichen Überlieferung und die etablierten, sich gegenseitig weitgehend ausschließenden Lesarten lassen das Desiderat erkennen, zu dessen Überwindung die vorliegende Studie beitragen möchte: Es gilt, aus einer primär synchronen Perspektive auf die schriftliche und bildliche Überlieferung die kulturelle Verbindung zwischen Byzanz und Skandinavien über den Westweg im Hochmittelalter zu untersuchen.100 Als Grundlage hierfür muss ein bisher nicht existenter Überblick über die relevanten Quellen sowohl aus Byzanz als auch aus Skandinavien erarbeitet werden, unabhängig von ihrem unmittelbaren Zeugniswert bezüglich der nahen oder fernen Ereignisgeschichte. Es ist zu fragen nach den Gründen der Kulturbeziehung, ihren synchronen und diachronen Bedingungen und Auswirkungen auf beiden Seiten, ihrem Verhältnis zu früheren Kontakten und zur wachsenden lateineuropäisch-skandinavischen Kulturverflechtung; auf diese Weise entsteht ein Beitrag zur Differenzierung des Bildes von der Formierung »Europas« im Mittelalter, das gerade im Falle Skandinaviens teleologisch und damit überdeutlich auf die Integration in den »Westen« ausgerichtet ist.101 Gleichzeitig sind bestehende und oftmals seit langer 99 Koselleck, Koselleck 1984 [1984], S. 300–339, bes. 321–339; Koselleck, Zeitschichten [2000], S. 9f., 164–176, freilich bezogen auf die Beschleunigung kultureller Prozesse am Übergang zur Moderne; vgl. weiterhin Uhl, Gebrochene Zeit? [2003], bes. S. 67. Bezüglich der Applikation auf mediävistische Kontexte ist Drews, »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« als Problem [2008], S. 49–56 hervorzuheben. Vgl. auch Drews, Die Karolinger und die Abbasiden [2009], bes. S. 427–442. 100 Aus chronologischen Gründen spielt daher skandinavisch-rusische Geschichte außerhalb ihrer Rezeption keine Rolle, mit Ausnahme hochmittelalterlicher Verbindungen zwischen den Fürsten von Novgorod und skandinavischen Herrscherfamilien; zu letzteren s. v. a. Lind, De russiske ægteskaber [1992]; Uspenskij, Dynastic Names [2003]. 101 Zur Unschärfe des Europa-Begriffs in der Mediävistik mangels einer aus heutiger Sicht adaptierbaren Auffassung davon in den Quellen, welcher jedoch in der Moderne zumeist auf die lateinische Christenheit bzw. das »Abendland« zugespitzt wird, vgl. Oschema, Europa in der Forschung [2006] mit dort verzeichneter Literatur; Borgolte, Perspektiven [2001], bes. S. 17.

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Einleitung

Zeit ungeprüfte Forschungsmeinungen zur wikingerzeitlichen byzantinischskandinavischen Kulturverbindung, die sich auf mittelalterliche Texte stützten, aus quellenkritischer Perspektive zu überprüfen und zu revidieren. Der zur schriftlichen Überlieferung synchrone Blick muss dabei in mehrere lokale Perspektiven auf die verschiedenen Länder des Nordens aufgefächert werden; der vergleichende Zugang bezieht sich insofern nicht allein auf das Verhältnis zwischen Byzanz und Skandinavien in der Makrostruktur, sondern auch auf Differenzen zwischen den verschiedenen skandinavischen Regionen auf der Mikroebene. Eine weitere komparative Ebene tritt durch den Vergleich synchroner Schnitte durch verschiedene Zeitebenen des Hochmittelalters hinzu. Dass letzterer Begriff auch angesichts der Unterschiede zwischen etablierten Epochengrenzen bezüglich Skandinaviens und des byzantinischen Reichs lediglich eine heuristische Hilfskonstruktion darstellen kann, liegt auf der Hand. Sie orientiert sich aus dem pragmatischen Grund an Gegebenheiten in Skandinavien, da die Masse und Vielfalt der Zeugnisse kulturellen Einflusses aus Byzanz dort deutlich größer ist als umgekehrt. Den Beginn dieses nordischen »Hochmittelalters«102 kennzeichnet die Formierung der christlichen Königreiche Dänemark, Norwegen und Schweden im späten 11. Jahrhundert, die Etablierung einer festen Kirchenstruktur und als Konsequenz hieraus die Aneignung der lateinischen Schriftkultur und der Beginn einheimischer Historiographien ab dem frühen 12. Jahrhundert in Dänemark, Island und Norwegen.103 Die Pilgerfahrten beziehungsweise Kreuzfahrten skandinavischer Herrscher zu Beginn des 12. Jahrhunderts, welche auch nach Byzanz führten, alte Kulturbeziehungen durch Herrscherbegegnungen auf neue Grundlagen stellten, auch im Heiligen Land zur Begegnung mit dem byzantinischen Christentum und seiner Kunst führten und auf die Byzanzrezeption im Norden wirkten, kennzeichnen gleichfalls den Beginn des Untersuchungszeitraums. Dass das nordische »Hochmittelalter« sich aus dieser Perspektive bis in das 14. Jahrhundert erstreckt, hat seinen Grund im Charakter der schriftlichen, 102 In Skandinavien finden sich durch die Abwesenheit des »Frühmittelalters«, das gewöhnlich als »Wikingerzeit« bezeichnet wird, alternative Periodisierungen. Vor allem in Dänemark unterteilt man mitunter in »älteres« und »jüngeres« Mittelalter (ældre middelalder/yngre middelalder, vgl. Nyberg, Frühes und spätes Mittelalter [2001]). Dass hier dennoch mit dem Begriff »Hochmittelalter« operiert wird, erklärt sich aus dem nationalgeschichtlichen Charakter alternativer, lokalbezogener Periodisierungen. Sie setzen eine zweifelhafte »Gemeinschaft der skandinavischen Völker« (Nyberg, a. a. O., S. 208) voraus und verwischen die seit dem 12. Jh. bestehende Kulturverflechtung mit Lateineuropa, die eine zeitliche Gleichläufigkeit zeittypischer, eben hochmittelalterlicher politischer Diskurse bedingt. Vgl. hierzu z. B. Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 7–13, 35–44, 54–79; Andersen, Rex imperator [2005], S. 22–32 (Politik- und Rechtsgeschichte v. a. in Dänemark); den Sammelband Den nordiske renessansen, ed. Jón Viðar Sigurðsson/Meulengracht Sørensen [2000]; Bagge, Da boken kom til Norge [2001], S. 49–85, 134–179 (Ideengeschichte). 103 Vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 19–30, 127–130, 152–157.

Skandinavien, Byzanz, Hochmittelalter: Zum Gegenstand

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insbesondere der norrönen Überlieferung: Obschon für die moderne Nationalgeschichtsschreibung einschneidende Ereignisse wie etwa die Ausdehnung der norwegischen Königsherrschaft auf Island 1262/64 bereits weit zurückliegen und die »klassischen« Genres der Sagaliteratur – Konungasögur und Íslendingasögur – seither kaum noch neue »Werke« hervorbringen, setzt sich doch eine besondere Aufmerksamkeit für Byzanz und Byzantinisches bruchlos in den »nachklassischen« Genres der Fornaldarsögur und Originalen Riddarasögur beziehungsweise Märchensagas fort, die im 14. Jahrhundert besonders produktiv sind. Analoges hierzu lässt sich in der dänischen Historiographie beobachten.104 Es scheint daher folgerichtig, aus dieser Perspektive das Hochmittelalter bis ins 14. Jahrhundert auszudehnen, als Entwicklungen einsetzen, die dauerhaft zu einer Verschiebung der kulturellen Zentren in den Ostseeraum führen. Sie finden ihren politischen Ausdruck in der Etablierung der Kalmarer Union und lassen den nordatlantischen Raum zur skandinavischen Peripherie werden.105 Hiermit ist zugleich ein Problem berührt, das sich aus der Übertragung des modernen Begriffs »Skandinavien« auf einen mittelalterlichen Raum ergibt. Im Folgenden wird unter Skandinavien beziehungsweise dem Norden die Region Europas verstanden, welche ihre Bewohner im Mittelalter als Norðrlo˛nd beziehungsweise regna aquilonis bezeichneten.106 Es handelt sich um die Länder, in welchen nordgermanische Dialekte, die »dänische Zunge« (do˛nsk tunga), gesprochen wurden,107 mithin neben den Königreichen Dänemark, Norwegen und Schweden

104 Gemeint ist das Compendium Saxonis, eine in die Chronica Jutensis integrierte, um etwa 75 % kürzende Übertragung der Gesta Danorum in leichter lesbares Mittellatein aus der Mitte des 14. Jhs. Trotz der starken Kürzung bewahrt sie fast alle Informationen über den Osten und Byzanz, vgl. D28-D56. 105 Faktoren bzw. Indikatoren hierfür waren das Ende der skandinavischen Herrschaft auf der Isle of Man und den Suðreyjar 1266, das allmähliche politische und kulturelle Zusammenwachsen der Orkneys mit Schottland seit dem 13. und v. a. im 14. Jh., die schwedischnorwegischen Personalunion unter Magnús Eiríksson seit 1319 sowie die Pest, die Norwegen mit seiner Einzelhof-Infrastruktur besonders hart traf und insbesondere die funktionalen Eliten stark dezimierte bzw. ihr Einkommen aus Landbesitz drastisch verminderte (vgl. Benedictow, Great Pestilence [1990]; Benedictow, Svartedauen [2002]; Riis, Skandinavien im Spätmittelalter [2006], S. 141f.). 106 Regna aquilonis: Ælnoth, Gesta et Passio Gesta Swenomagni regis et filiorum eius et Passio gloriosissimi Canuti regis et martyris, Kap. 1, in: VSD, S. 82. Norðrlo˛nd: Heimskringla 1, Prologus, S. 3; vgl. Sverrir Jakobsson, Við og veröldin [2005], S. 193–199. 107 Der Begriff do˛nsk tunga als Sammelbezeichnung für die nordgermanischen Dialekte und den Siedlungsraum ihrer Sprecher lässt sich in der Skaldendichtung ab dem früheren 11. Jh. nachweisen (Sighvatr Þórðarson, Víkingarvísur, ed. Jesch, Str. 15 in SkP 1,2, S. 555f.), ebenso wie im so genannten Ersten Grammatischen Traktat (The First Grammatical Treatise, ed. Hreinn Benediktsson [1972], S. 212) und in der Heimskringla als sprachliches Pendant zum Raum Norðrlo˛nd (wie Anm. 106). Zur Problematik der Assoziation von Räumen mit kulturellen Formationen vgl. Siegrist, Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft [2003], bes. S. 326; Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend be-

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auch Island, die Färöer, die Shetlands, die Orkneys, Caithness und die Suðreyjar: die Hebriden und die Isle of Man. Dass die Aufmerksamkeit für diese verschiedenen skandinavischen Regionen sehr ungleich ausfallen wird, resultiert wiederum aus den in Quantität und Qualität höchst unterschiedlichen schriftlichen Überlieferungen: Während aus Schweden selbst abgesehen von Rechtstexten keinerlei aussagekräftige Literatur überliefert ist und von der Isle of Man lediglich eine annalistisch-knappe Chronik, behandeln aus Island stammende Texte praktisch den gesamten skandinavischen Raum, bleiben aber aufgrund ihrer Konstitutionsbedingungen primär Zeugnisse isländischer Byzanzrezeption. Deutlich einfacher erweist sich die Eingrenzung des Untersuchungsrahmens für Byzanz: Einerseits handelt es sich zumindest im Kern um ein klar definierbares politisches Gefüge,108 dessen schriftliche Überlieferung allein aufgrund der ungebrochenen zentralen Bedeutung Konstantinopels, seiner Dominanz in der schriftlichen Überlieferung und der Rückbindung an die Antike109 zumindest im Falle der uns zur Verfügung stehenden Quellen keine Aufgliederung in verschiedene lokale Vergleichsperspektiven wie im Norden verlangt. Andererseits bietet die Emergenz des Terminus Βάραγγος (Warangos) ab etwa 1060 als Bezeichnung für »Skandinavier«,110 welche diese von den slawischsprachigen Bewohnern der Rus’ (Ῥῶς) eindeutig abhebt und sie damit erst als distinkte ethnische Gruppe111 mit einer bestimmten Herkunft aus Nordeuropa jenseits der Rus’ definiert, einen begründeten chronologischen Ausgangspunkt. Dass die Ausdehnung des analysierten Zeitraums auch für Byzanz analog zum Konstrukt des nordischen Hochmittelalters bis ans Ende des 14. Jahrhunderts trotz des Einschnittes, den die Eroberung von 1204 darstellte, notwendig ist, ergibt sich schon aus dem Fehlen eines aktuellen Überblicks über die Geschichte der »Waräger«; gerade für die Jahre um 1400 sind aber in den letzten Jahrzehnten neue Quellen ediert worden. Deren Bedeutung in der spätbyzantinischen Zeit belegt bereits das sehr oft als Quelle zur Geschichte der Waräger herangezogene Zeremonienbuch des Pseudo-Kodinos aus den Jahren 1347–1368, welches den Βάραγγοι, wer auch immer sie zu jenem

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trachtet [2011], S. 402–405; zum konkreten Fall Sverrir Jakobsson, Við og veröldin [2005], S. 207–216. Problematisierend hierzu Shepard, Byzantium’s Overlapping Circles [2006], S. 15–28, 40–55. Vgl. Magdalino, Constantinople [1991], S. 195–197. Die ältesten schriftlichen Nennungen von Warangoi in einem Brief von Michael Psellos (B1) und einem Chrysobull Konstantinos’ X. Doukas (B15) stammen aus der Zeit um 1060, als der Begriff in der gesprochenen Sprache bereits etabliert gewesen sein muss. Der Begriff »Ethnie« ist historisch aufzufassen. Er entspricht ethnographischen Praktiken der Byzantiner und lässt damit keine Rückschlüsse auf »Nationalitäten« im modernen Sinne zu (vgl. unten, S. 82f.).

Zur Methode: Kulturen, Kulturareale und Corpusbildung

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Zeitpunkt gewesen sein mögen, bedeutende Funktionen im kaiserlichen Zeremoniell zuspricht.112

3.

Zur Methode: Kulturen, Kulturareale und Corpusbildung

Die hier skizzierte, an jeweils lokalen Phänomenen orientierte Konstruktion der analysierten zeitlichen und geographischen Räume weist den Vorteil auf, dass sie sowohl im Norden als auch im Mediterraneum in etwa die gleiche Zeitspanne überdeckt. Zudem orientiert sie sich in beiden Kulturarealen konsequent am Alter der relevanten Schriftquellen, nicht aber an den vergangenen Ereignissen, von denen sie berichten, und bietet so eine ausgewogene Grundlage, um synchron die Konstitutionsbedingungen schriftlicher Informationen in verschiedenen Kontexten verfolgen und vergleichen zu können. Nichtsdestoweniger bleiben die zeitlichen Ausgangspunkte der Analyse ebenso wie die untersuchten kulturellen Räume, auch wenn sie sich auf zeitgenössische Selbstwahrnehmungen stützten können, eine Konstruktion, freilich eine notwendige.113 Legt man einen breiten, auf Anthropologie und Soziologie gestützten Kulturbegriff zu Grunde,114 der sowohl ideelle als auch materielle Aspekte einbezieht, und begreift man Kulturen nicht als starre Entitäten, sondern als Ausdrucksformen stetig fortschreitender sozialer Prozesse,115 bedeutet die Konstitution eines Anfangszeitpunktes für eine Analyse und eine hieraus hervorgehende historiographische Narration nichts anderes als eine künstliche Stillstellung eigentlich dynamischer Systeme; Analoges gilt für die Konstruktion von Kulturarealen wie »Byzanz« oder »Skandinavien«, deren räumliche Dimension sich erst als soziale und damit

112 S. B114–126. 113 Vgl. Osterhammel, Transkulturelle vergleichende Geschichtswissenschaft [1996], S. 298f. Zum Zusammenhang zwischen Kultur und Raum s. weiterhin Vollrath, Geographischer Raum – politischer Raum [1992]; Schippers, Cultures in Space [2006]; Siegrist, Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft [2003]. Die hier und im Folgenden formulierten Überlegungen zu Kultur, Transfer und Austausch basieren zum großen Teil auf dem gemeinsam mit Stamatios Gerogiorgakis und Dittmar Schorkowitz erarbeiteten Beitrag Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], hier S. 402–405. 114 Vgl. Weber, »Objektivität« [1982], S. 180–189; Geertz, Dichte Beschreibung [2007], bes. S. 9. Kritisch zu Geertz und einem symbolistisch zugespitzten Kulturbegriff Reinhard, Anthropologische Wende [2009], bes. S. 77–85; weiterhin Barzen/Bulgakova u. a., Kontakt und Austausch [2008], S. 195–198; Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 421f. 115 Weber, »Objektivität« [1982], S. 184f.; Lipp, Kulturtypen [1979], S. 465–467, bes. S. 465. Vgl. weiterhin Hörning/Reuter, Doing Culture [2004]; Dücker/Müllerburg, Bilanz eines Aufbruchs [2011], S. 562–564 sowie unten, S. 61ff.

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Einleitung

dynamische Sinnordnung ergibt.116 Unverzichtbar ist eine solche Stillstellung am Anfang jedoch aus pragmatischen Gründen, um Fixpunkte im komplexen kulturellen Bezugssystem zu erhalten, zu denen sich Veränderungen beziehungsweise Entwicklungen relativ beschreiben lassen. Daraus folgt, dass die hier als gegeben betrachteten Kulturen in Skandinavien und Byzanz, die in Identitätskonstruktionen der Zeitgenossen erkennbar werden, als soziale Konstrukte innerhalb des behandelten Zeitraums selbst einem steten Wandel unterliegen. Dieser wurde eben durch Mobilität beziehungsweise Migration, Kulturkontakt und -transfer beziehungsweise Austausch befördert117 und ist im diachronen Vergleich verschiedener Konstellationen des Kontakts und Kulturtransfers herauszuarbeiten. Überdies lassen sich das Hochmittelalter und seine byzantinischskandinavischen Verbindungen ebenso wenig von ihrer Vorgeschichte isolieren wie von der späteren Überlieferungsgeschichte aus dem Hochmittelalter stammender Texte. Beides ist für eine angemessene Analyse stets zu berücksichtigen.

Forschungsgeschichtliche Implikationen Es bleibt indes der Vorteil einer Konzentration auf das Hochmittelalter bestehen, dass sie Forschungsprobleme löst, welche durch die Isolation von Warägernarrativ und Integrationsnarrativ sowie die unkritisch-anachronistische Auswertung von Informationen in hochmittelalterlichen Texten aufgeworfen wurden. Als Basis für eine solch breit angelegte, vergleichende Studie muss zudem ein Überblick über idealerweise alle vorhandenen schriftlichen Äußerungen aus Skandinavien und Byzanz erarbeitet werden, welche mit byzantinisch-skandinavischem Kontakt in Verbindung stehen. Dies betrifft Äußerungen über Skandinavien und Skandinavier in der byzantinischen Literatur sowie umgekehrt Informationen über Byzanz, Byzantiner und Skandinavier in Byzanz, aber auch aus Byzanz stammende Informationen in den hochmittelalterlichen Texten aus Skandinavien. Zeugnisse über solche Kontakte aus Lateineuropa sind ebenfalls hinzuzuziehen. Eine solche, bislang nicht erarbeitete Gesamtschau dient nicht nur dem Verständnis synchroner, hochmittelalterlicher Bezüge zwischen den Texten untereinander sowie den Texten und ihrer Umwelt, sondern vor allem der Beseitigung von Unklarheiten, welche auch zahlreiche kleinere, allein aufgrund ihres Umfangs exemplarisch arbeitende Studien offenlassen: So konzentrieren sich, wie 116 Die Vorstellung von Raum als Sinnordnung orientiert sich am Konzept Ernst Cassirers (vgl. Bohr, Raum als Sinnordnung [2008], S. 21–29); s. auch Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 402–405. 117 Vgl. Herbers, Europa und seine Grenzen [2007], S. 38f. Zur Bedeutung von Migrationen für kulturelle Geflechte vgl. Borgolte, Migrationen [2009]; Borgolte/Schneidmüller, Schlusswort [2012], S. 260–264 mit dort angeführter Literatur.

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bereits angedeutet, neben den Monographien von Blöndal, Ellis Davidson und Larsson mehrere Aufsätze auf das Beispiel des späteren Norwegerkönigs Haraldr inn harðráði Sigurðarson,118 dessen Geschichte in byzantinischen Diensten sie für gewöhnlich aus den entsprechenden Passagen von Snorri Sturlusons Heimskringla extrahieren.119 Details zu der dort vorgefundenen wikingerzeitlichen Geschichte, seinen Kämpfen auf Sizilien, seinem Zug ins Heilige Land, seiner Ungnade und Gefangenschaft in Konstantinopel, seiner angeblichen Blendung des Basileus Konstantinos IX. Monomachos120 sowie seiner Flucht werden dann aus anderthalb Jahrhunderte älteren historiographischen Texten aus Byzanz ergänzt, die Informationen zu kriegerischen Aktivitäten oder Vorgängen am Hof bereithalten. Problematisch bleibt an dieser Vorgehensweise, dass Haraldr, abgesehen von einem paränetischen Text, nirgends in der byzantinischen Historiographie in Erscheinung tritt. Zur Unterfütterung von Informationen aus der Heimskringla werden Textpassagen herangezogen, die nicht nur Haraldr nicht erwähnen, sondern in fraglichen Passagen zumeist nicht einmal von Warangoi oder Axtträgern sprechen, obschon sie dies an anderen Stellen tun.121 Derart aus dem Blickwinkel einer Saga gelesene byzantinische Texte dienen dann wiederum der Korrektur von »Deformierungen« des Geschichtsverlaufs, wie ihn die Saga bereitstellt. Dies gilt etwa für die Rekonstruktion der Blendung des Basileus Konstantinos IX. in der Heimskringla. Da Konstantinos der byzantinischen Überlieferung nach offensichtlich nicht geblendet wurde, sondern sein Vorgänger Michael V., wird die Erzähllogik der Heimskringla, auf der die ganze Rekonstruktion im Ausgangspunkt beruht, an der betreffenden Stelle aufgelöst, womit die ganze Narration von Haralds Gefangenschaft, seinem Ausbruch, seinem Überfall auf den schlafenden Konstantinos, dessen Blendung und Haralds Flucht in den Wind geschlagen wird. Fortgewischte Kausalketten müssen nun spekulativ gebildet werden. In den Vorgang der Blendung, den Michael Psellos als Augenzeuge ausführlich beschreibt,122 wird schließlich Haraldr anstelle des anonymen, öffentlich bestallten Ausführers (δήμιος) in der byzantinischen Erzählung eingefügt. Psellos gibt keinerlei Hinweis auf dessen Identität als Fremder, obschon er gerade im Kontext des Sturzes Michaels V. anmerkt, auch die »Tauroskythen« in der Stadt hätten

118 Vgl. Anm. 47. 119 S. NI 111-NI 124. 120 In der Tat wurde nicht Konstantinos, sondern sein Vorgänger Michael V. geblendet. Die Sagas jedoch, die als einzige Quellen Haraldr mit der Blendung eines Basileus in Verbindung bringen, beziehen diese einwandfrei auf Konstantinos, dessen Beinamen Monomachos sie norrön verballhornt überliefern (NI 122). 121 Hierauf wird in der Auseinandersetzung mit Blöndals Erzählung und ihren Vorläufern näher einzugehen sein; vgl. unten, S. 111–142, 259–271. 122 Psellos, 5,48–50, Bd. I, S. 114f.

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sich am Aufstand gegen den Basileus beteiligt, und er an zahlreichen Stellen seines Werks Skandinavier als Axtträger oder Tauroskythen sowie andere »Fremde« in der byzantinischen Gesellschaft als solche benennt.123 Indem man Haraldr in byzantinische Quellen hineinliest, entsteht auch zu anderen Details seiner Biographie eine plastische Narration, die dann den Hintergrund für die Deutung wikingerzeitlicher Kulturverbindungen und ihre Konsequenzen im Norden bildet, jedoch in einem prekären Verhältnis zu ihrer eigenen, äußerst heterogenen Quellengrundlage steht. Man muss freilich konzedieren, dass lediglich auf diese Weise ein Geschichtsverlauf an Beispielen erzählt werden kann, in dem Akteure von Kulturtransfer sichtbar werden; dennoch bleibt ihr gravierendster Mangel abgesehen von quellenkritischen Einwänden, dass sie nicht reflektieren, wie repräsentativ ihre Beispiele sind. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Erstens wird mangels eines Überblicks über die Gesamtüberlieferung nicht deutlich, wie die historiographischen Teilnarrationen, welche die Basis der Geschichtsrekonstruktion bilden, sich zum Ganzen des jeweiligen Texts, aber auch zum jeweiligen lokalen Gesamtcorpus der zeitgenössischen Historiographie verhalten, inwiefern sie von anderen Texttraditionen abhängig oder inspiriert sind. Die Frage nach der Zentralität oder relativen Bedeutungslosigkeit von Byzanznarrativen, aber auch nach ihrem Ursprung in Augenzeugenberichten oder in literarischen (Wander-) Motiven lässt sich erst auf diese Weise beantworten. Zweitens erlaubt exemplarisches Arbeiten es nur sehr begrenzt, die Repräsentativität eines Beispiels im weiteren historischen Kontext zu reflektieren: So bildete Haraldr Sigurðarson als Halbbruder eines geschlagenen Königs mit einem entsprechend riesigen Gefolge unzweifelhaft weniger die Regel als die absolute Ausnahme skandinavisch-byzantinischer Kulturbegegnung: Er erfuhr als Verbündeter Jaroslavs des Weisen in der Rus’ Unterstützung, konnte daher höchstwahrscheinlich leichter als andere Reisende den Ostweg befahren und als Anführer einer Großgruppe von mehreren hundert Mann seine Dienste in Byzanz anbieten. Genau deshalb, aufgrund seiner herausragenden Bedeutung, ist er dem Byzantiner Kekaumenos in seinen »Ratschlägen an den Basileus« eine Erwähnung wert.124 Die Möglichkeiten zur Extrapolation zudem ausgesprochen unsicheren Wissens über Ereignisse in seinem byzantinischen Umfeld und ihre Folgen auf den üblichen Fall von Kulturkontakt scheinen demnach äußerst begrenzt. Dennoch stützen sich spekulative Postulate über einen weit reichenden Einfluss der byzantinischen, orthodoxen Oikumene auf den mittelalterlichen Norden immer wieder auf sein Beispiel.

123 Vgl. B3 (zum Aufstand von 1042) bzw. B2-B8. 124 B11. Kekaumenos behauptet, Haraldr sei mit 500 Mann in Konstantinopel erschienen.

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Derart kühne Schlussfolgerungen, auch zu anderen Kontaktkonstellationen, über byzantinische Beeinflussung oder gar orthodoxe Mission auf Gotland und in Schweden ziehen zudem oft kunstgeschichtliche, archäologische und runologische125 Forschungsbefunde sowie auch Skaldendichtung heran, reißen diese aber aus ihrem Zusammenhang.126 So bieten etwa zwei Skaldenstrophen aus dem 11. Jahrhundert, eine vorgetragen vor Knud dem Großen, eine in Erinnerung an Haraldr inn harðráði, die Kenning gætir Grikklands (»Schützer Griechenlands«) beziehungsweise Girkja vo˛rðr ok Garða (»Schützer der Griechen und Rus’«) für Gott.127 Abgesehen davon, dass allein der vom Versmaß verlangte Stabreim schon die Wortwahl nahelegt, berechtigt der Kontext kaum dazu, die Kenninge als Zeugnisse konkreten »orthodoxen Einflusses« zu bewerten: Das erste Beispiel, vorgetragen von Þórarinn loftunga als stef (»Refrain«) in einem Lobgedicht auf Knud den Großen, setzt Knuds Schutz über sein Land (England) gleich mit der Sorge des »Schützers Griechenlands« für das Himmelreich. Ausgedrückt wird der zeitgenössische Gedanke des Königs als vicarius Christi,128 und da die Ergänzung dieser stef gemäß der hochmmittelalterlichen Überlieferung in der Knýtlinga saga dazu diente, dem bei Knud in Ungnade gefallenen Dichter seinen Kopf zu retten, scheint Þórarinn hier an Knuds Titel eines Anglorum basileus anzuknüpfen, den die Könige von Wessex bereits seit dem früheren 10. Jahrhundert führten.129 Das zweite Beispiel des Totengedenkens an Haraldr Sigurðarson demonstriert denn auch weniger eine »orthodoxe« Kirchenpolitik des Norwegerkönigs, der dem Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen keinen Einfluss auf Norwegen zugestehen wollte,130 sondern parallelisiert ähnlich wie bei 125 Hierzu unten, S. 65f. mit Anm. 167. 126 S. z. B. Piltz, Zwei russische Kaufmannskirchen [1981]; Klasson, Byzantine Heritage [1985]; Ellis Davidson, Northmen in Byzantium [1985], bes. S. 224–229; Piltz, Byzantium and Islam [1998]. Vgl. hierzu auch Staecker, Bremen – Canterbury – Kiev – Konstantinopel? [1998], S. 74, der den materiellen Befund zur Herkunft von Kreuzanhängern gegen schriftliche Quellen zur Missionierung Schwedens und Dänemarks ausspielt und so die Frage nach der Möglichkeit byzantinischer Mission stellen kann. 127 Þórarinn loftunga: Ho˛fuðlausn, ed. Townend in SkP 1,2, S. 850f.; Arnórr jarlaskáld Þórðarson: Haraldsdrápa, ed. Whaley in SkP 2,1, S. 279f. Vgl. auch die Liste der Christuskenningar in den Skáldskaparmál (NI 164), welche die kenning Grikkja konungr vorsieht. 128 So auch an anderen Stellen ohne »Griechenland«-Bezug, Bolton, Empire of Cnut [2009], S. 291f.; vgl. Boshof, Vorstellungen [2005]. 129 Als basileus bezeichnet Knud sich in 10 Urkunden (DD 1,1 Nr. 395, S. 168, Nr. 405, S. 158, Nr. 407, S. 159, Nr. 414, S. 162, Nr. 416, S. 163, Nr. 424, S. 168, Nr. 429, S. 170, Nr. 430, S. 170, Nr. 434, S. 172, Nr. 436, S. 173 aus dem Zeitraum zwischen 1019 und 1033). Zur angelsächsischen, möglicherweise durch direkte Kontakte mit Byzanz gestärkten Tradition, die auch Edward der Bekenner fortführt vgl. Gray Birch, Index of Styles and Titles [1879], S. 52– 61; Kleinschmidt, Die Titulaturen englischer Könige [1988], S. 89–98; Ciggaar, England and Byzantium [1982], S. 86; Shepard, From the Bosporus [2010], S. 23. 130 So etwa Johnsen, Harald Hårdrådes død [1969] und Ciggaar, Western Travellers [1996], S. 118 im Rückgriff v. a. auf Adam von Bremen.

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Þórarinn des Königs Handeln und Gottes Plan: Haraldr hatte nämlich mit seinen Taten, die in den Strophen der Haraldsdrápa gepriesen werden, eben Garðar und Grikkland gegen seine heidnischen Feinde verteidigt; er selbst war der Girkja vo˛rðr ok Garða. Der Hang zur Isolation solcher Fundstellen aber, von materiellen Befunden byzantinischen Stils beziehungsweise byzantinischer Ikonographie oder eben von archäologischen Funden byzantinischer Provenienz aus ihrem jeweiligen, oft mindestens ebenso stark westeuropäisch geprägten Kontext ist einerseits eine Konsequenz aus der Trennung zwischen Warägernarrativ und Integrationsnarrativ, trägt aber andererseits weiter zur Verschärfung dieser Trennlinie bei. Von der prinzipiellen Assoziation byzantinischer Fundgegenstände im Norden mit Warägerfahrten beziehungsweise direktem Kontakt über den Ostweg hat sich jedoch die Archäologie seit Ende der neunziger Jahre mit guten Gründen zunehmend distanziert.131 Als weiteres Problem ist bei geschichtswissenschaftlichen Analysen skandinavischer Reisen in das Mediterraneum, wie sie seit dem 12. Jahrhundert etwa in Itineraren, aber auch historiographischen Texten zu verfolgen sind, eine Neigung zu beobachten, in den reisenden Laien sowie Klerikern ungebildete, von anderen mobilen Lateineuropäern kulturell isolierte, gleichwohl findige Barbaren zu erkennen.132 Umso merkwürdiger erscheint es dann, dass zwei skandinavische Königsheilige, einer davon außerhalb des dänischen Königshauses praktisch unbekannt, seit dem 12. Jahrhundert die Säulen der Geburtskirche in Bethlehem zieren.133 Solch kulturtypologisches Denken ist geprägt vom Bild des Wikingers, wie es sich seit der Nationalromantik entwickelt hatte,134 blendet auch hier die zeitgleiche Verflechtung des Nordens mit Lateineuropa aus und ähnelt die 131 Roslund, Brosamen [1998]; Duczko, Viking Sweden and Byzantium [1996]; Duczko, Byzantine Presence [1997]. 132 Westergård-Nielsen/Kedar, Icelanders in Jerusalem [1979], S. 203 bezeichnen etwa den Leiðarvísir, ein isländisches Jerusalem-Itinerar (NI 11) als »Icelandic guide for the perplexed«, für Pilger, welche im lateinischen Kreuzfahrerumfeld kulturell komplett isoliert gewesen seien. Ähnliche Einschätzungen über die Skandinavier finden sich bei Albu Hanawalt, Scandinavians in Byzantium and Normandy [1995], S. 117–122, die Barbarentopoi bei Leon Diakonos reproduziert und auf volkstumsideologischer Basis versucht, einen fragwürdigen Analogieschluss herzustellen zwischen kulturell nicht assimilierten Warägern in Byzanz und den Normannen, die langsamer fränkisch geprägt worden seien, als man gemeinhin annehme. 133 Es handelt sich um die Märtyrerkönige Óláfr Haraldsson von Norwegen († 1030) und Knud Svendsen von Dänemark († 1086); während Óláfr sich auch außerhalb Skandinaviens erheblicher Popularität erfreute, blieb die Verehrung des Königs Knud im Wesentlichen auf die Grablege in Odense und den Zirkel der Königsfamilie beschränkt (dazu unten, S. 562f.); zudem verdrängte ihn bereits seit dem 12. Jahrhundert sein Namensvetter Knud Lavard. Zu den Malereien Kühnel, Wall Painting [1988], S. 112–128. S. Abb. 94–96. 134 Vgl. Zernack, Anschauungen [1996], S. 488f., 509; Weber, Vorzeit [2001], S. 161–170; Wawn, Vikings [2000], S. 19–33, 183–207; Scheel, »Wikinger« und »Wikingerzeit« [2014].

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skandinavischen Pilger und Kreuzfahrer des Hochmittelalters im fremden Umfeld ihren wikingerzeitlichen Vorfahren an. Auch hier bleibt die Frage nach der Einbettung byzantinisch-skandinavischer Kulturbeziehungen in einen komplexeren synchronen Kontext weitgehend ungeklärt, ebenso die Frage nach der Beeinflussung von Reisenden im fremden kulturellen Umfeld. Assoziativ-spekulative, deformierende Verflechtung einander fremder Texte miteinander und mit Artefakten, worauf unsichere Geschichtsrekonstruktionen aufgebaut werden, exemplarisches Arbeiten anhand solcher Rekonstruktionen und die kulturtypologische Isolation mobiler Skandinavier im Mediterraneum kennzeichnen im Zusammenwirken mit den beiden etablierten Narrativen einen Problemkomplex, der zu nachdrücklichen methodischen Einwänden seitens der Kunstgeschichte, der Archäologie und der Philologien geführt hat135 und den Eindruck verstärkt, dass das Warägernarrativ mit jüngeren Forschungsdiskursen über skandinavische Geschichte weitgehend inkompatibel ist. Die besondere Aufmerksamkeit für Byzanz und Byzantinisches im hochmittelalterlichen Skandinavien indes ist bei aller methodisch gebotenen Skepsis ebenso wenig von der Hand zu weisen. Umso dringlicher erscheint die Notwendigkeit, eigene Interpretationen auf der Basis eines transparenten Überblicks über die verschiedenen lokalen Quellencorpora aufzubauen, die vor einem Vergleich beziehungsweise einer Verflechtung miteinander jeweils für sich rekonstruiert und ausgewertet werden müssen. Dies gilt insbesondere für das byzantinische Corpus, das in erster Linie aus historiographischen, daneben aber auch aus paränetischen und geographischen Texten, Briefen, Urkunden, Rechtstexten und einem Zeremonienbuch besteht, in denen von »Skandinaviern« (Βάραγγοι, πελεκυφόροι, Ταυροσκύθαι) oder »Skandinavien« (Βαραγγία, Θούλη) die Rede ist. Niemals stehen diese Skandinavier im Zentrum der Aufmerksamkeit eines Texts, von einigen kurzen Passagen abgesehen, und grundsätzlich handeln die Kontexte von Ereignissen im byzantinischen Militär, entweder im Feld oder in der Hauptstadt am Hof der Basileis. Für das Bild von dieser ganz überwiegend militärischen Geschichte der »Waräger« in Byzanz ist die »Væringjasaga« des Isländers Sigfús Blöndal, 1954 posthum auf Isländisch erschienen, in ihrer inhaltlich erheblich revidierten, unlängst unverändert neu aufgelegten englischen Übertragung durch Benedikt S. Benedikz von 1978136 bis heute 135 Für die Kunstgeschichte: Horn Fuglesang, A Critical Survey [1996]; Cutler, Byzantine Art and the North [1996]; für die Archäologie: Roslund, Brosamen [1998], bes. S. 332f.; 381–385; Duczko, Viking Sweden and Byzantium [1996]; für die Philologien: Amory, Things Greek in the Riddarasögur [1984]; Damico, The Voyage to Byzantium [1996]. 136 Die revidierte Version, 1981 und 2007 nachgedruckt, modifiziert und ergänzt Blöndals Aussagen an verschiedenen zentralen Stellen erheblich und bringt ein erkleckliches Maß an Subjektivität und mitunter zweifelhafter Ideologie in die Narration ein, außerdem ist das Quellenverzeichnis nicht komplett; vgl. unten, S. 99, 159f. und 230.

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von grundlegender Bedeutung. Tauchen »Waräger« in Sagas oder byzantinischen Quellen auf, wird in Editionen, die nach Blöndals Werk erschienen, grundsätzlich auf seine Studie als Autorität zur Geschichte der »Warägergarde« verwiesen; ähnlich verhält es sich mit kleineren Studien. Die Vorstellung von einer berühmten skandinavischen Leibgarde der Basileis existierte zwar bereits deutlich früher,137 doch markiert die »Væringjasaga« den Stand der modernen Forschung. Abweichende Forschungsmeinungen resultieren aus divergierenden nationalen Perspektiven; sie berühren die Frage der skandinavischen beziehungsweise englischen Identität der Warägergarde und damit diejenige moderner nationaler Vereinnahmung von Geschichte, die per se nichts Nationales an sich hat, doch sie betreffen nicht die Methode.138 Zwar wertet Blöndal den allergrößten Teil der hier behandelten byzantinischen Quellen aus, doch lässt er sich von Anfang an von einer Grundannahme leiten, die er aus Sagatexten des 13. Jahrhunderts entnommen hat, nämlich, dass es bereits früh eine Warägergarde (norrön væringjalið) gegeben habe. Hierfür existiert kein Beleg. Tatsächlich legen erst skandinavische Texte um 1200 die Existenz einer »Garde« nahe.139 Zwar finden sich am Palast in Konstantinopel ab der Mitte des 11. Jahrhunderts »Axtträger« als Bestandteil des Zeremoniells, doch kommt ihnen keine zentrale Rolle zu. Zudem sind Waräger unter den Tagmata, den »professionalisierten« Gardeeinheiten des byzantinischen Militärs, die seit dem 8. Jahrhundert bestanden und seit der Mitte des 10. Jahrhunderts das Heer auch in den Provinzen zu dominieren begannen, nicht als Einheit zu identifizieren, obwohl bis ins späte 11. Jahrhundert militärtaktische Schriften und Ranglisten durchaus detaillierte Informationen bereitstellen.140 In der Tat bringt vor der Chronographia des Michael Psellos im Kontext von Ereignissen des 137 So bereits bei Bring/Wahlgren, Valfarter och Korståg [1827], S. 62–64, 71–74, 94f., 100–104, 126–128, 136, 153; Cronholm, Wäringarna [1832]; Guðbrandur Vigfússon, Um tímatal [1855], S. 407 mit Anm. 1 hebt unter Berufung auf die Hrafnkels saga hervor, dass die Waräger als Einheit schon vor 950 existiert hätten; weiterhin Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 131f. 138 Vasiliev, History of the Byzantine Empire 2 [1928], S. 155; Dawkins, Later History [1947] bestreitet in Reaktion auf Blöndal, Nabites the Varangian [1939] die Annahme, die »Garde« sei ab dem späteren 11. Jh. nicht eindeutig englisch dominiert. 139 Die frühesten Fundstellen sind in der Historea de Profectione Danorum in Hierosolymam (ca. 1195, D24: Wæringe, curiales regni), den Gesta Danorum 12,7,1 (D49, hier als custodia) und in der Mirakelsammlung des Heiligen Þorlákr von Skálholt (NI 61, als væringjalið). 140 Vgl. die ausführliche und äußerst quellennahe Untersuchung von Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 31–33, 123–128, der den Zeitraum bis 1071 abdeckt und feststellt, man könne über die Organisation der »Waräger« im 10. und 11. Jh. kein gesichertes Wissen erlangen. Blöndal, S. 92f./45f. argumentiert mit dem Traktat De re militari vom Ende des 10. Jhs., in welchem zwar Rho¯s vorkommen, die den Basileus im Feld begleiten, jedoch als Einheit nicht benannt und daher auch nicht greifbar werden. Die Annahme, Rho¯s meine hier »Waräger«, ist zudem keineswegs so eindeutig wie behauptet: Ihr Einsatz als Kavallerie schließt direkt aus Skandinavien kommende Krieger zu jener Zeit aus (vgl. unten, S. 84f.).

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Jahres 1042 kein byzantinischer Text die Funktion der Leibgarde (δορυφορία) in Verbindung mit Skandinaviern, und auch dann geschieht dies nicht exklusiv, sondern vor dem 12. Jahrhundert grundsätzlich randständig.141 Blöndals Geschichte der Waräger basiert dagegen auf der bereits beschriebenen Überblendung skandinavischer und byzantinischer Quellen verschiedener Zeitschichten, die eine starke Konzentration auf Haraldr Sigurðarson bedingt. Um eine fortlaufende Narration zu konstruieren, ist sie zudem assoziativ angereichert, indem Ereignisse der byzantinischen Militärgeschichte einbezogen werden, in welchen Waräger nicht firmieren, aber plausiblerweise hätten beteiligt sein können. Die Übergänge zwischen positiver und spekulativer Basis lassen sich zumeist nicht erkennen, woran die englischsprachige Überarbeitung der »Væringjasaga« einen erheblichen Anteil hat. Bezüglich der Geschichte von Skandinaviern in Byzanz fehlt daher im Gegensatz zu zahlreichen anderen Bereichen europäischer Geschichte eine corpusorientierte, positivistische Bestandsaufnahme als Reibungsfläche, weil sie von Anfang an Gegenstand nord- beziehungsweise nordwesteuropäischer Nationalgeschichtsschreibung war, welche ihren Zugang über die »eigene« nationale Überlieferung – Sagas und Runensteine – fand142 und hiervon ausgehend transkulturell Verflechtungen zwischen Quellen herstellte, die in ihrer Zusammensetzung schwer zu durchschauen sind. Deren Auflösung ist jedoch die Voraussetzung für begründete Vergleiche und neue Erkenntnisse. So paradox es angesichts herrschender Paradigmata transkulturell arbeitender Geschichtswissenschaft143 scheinen mag, müssen zunächst die byzantinische Perspektive auf Skandinavier und Skandinavien und ihre nordeuropäischen Gegenstücke strikt getrennt voneinander rekonstruiert werden.144 Erst auf dieser Grundlage lassen sich gegenseitige Fremdwahrnehmungen und ihr Fortwirken in Geschichtsbildern über einen längeren Zeitraum hinweg vergleichen, die diachrone Entwicklung der Kulturbeziehung fundiert deuten und eingebrachte Vorannahmen eventuell revidieren. Anders lässt sich zudem angesichts der extremen

141 Vgl. B4. 142 Der Begriff einer »eigenen« nationalen Überlieferung, der bezüglich der Sagas eigentlich nur auf Island zuträfe, erstreckt sich hier auch auf die übrigen skandinavischen Länder, England und Deutschland, deren Gesellschaften seit dem ausgehenden 18. Jh. Inhalte der isländischen Überlieferung als nationales Eigentum vereinnahmt hatten (vgl. Scheel, »Wikinger« und »Wikingerzeit« [2014]). 143 Vgl. Schneidmüller/Seitz, Transkulturelle Mediävistik [2008], S. 562–566; Burke, Cultural Hybridity [2009], S. 13–33. 144 Freilich trifft sich diese Perspektiventrennung wieder mit dem Modell der histoire croisée bei Werner/Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung [2002], S. 618f., die darauf verweisen, dass die Erzeugung mindestens zweier Perspektiven auf eine Vergleichs- und Transferkonstellation Voraussetzung einer anschließenden überkreuzenden Betrachtung sei (vgl. auch ebd., S. 624–627).

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Unterschiede in der Beschaffenheit der relevanten Zeugnisse – in Byzanz vereinzelte Hinweise am Rande der eigentlichen Hauptinhalte, im Norden ganze Erzählstränge unter Beteiligung der Hauptfiguren – gar keine Vergleichbarkeit herstellen. Die mageren Informationsbruchstücke aus Byzanz verlangen eine ganz andere Behandlung als die narrativen Großzusammenhänge in skandinavischen Texten, welche sich auch auf den jeweiligen analytischen Zugang auswirkt. Dass das byzantinische Corpus und nicht die skandinavische Überlieferung die Ausgangsbasis bildet, widerspricht auf den ersten Blick dem Titel der Untersuchung, hat aber mehrere Gründe: Zum einen sind die byzantinischen Chroniken zeitlich deutlich näher zu den Ereignissen verfasst, über die sie berichten, und genügen großteils dem »Gesetz der Autopsie«145; zum anderen sind sie den grundlegenden Ereignissen, den skandinavisch-byzantinischen Kulturbegegnungen, auch örtlich am nächsten. Realbegegnungen, sofern sie in Quellen bezeugt sind, fanden praktisch ausschließlich im byzantinischen Raum oder im Heiligen Land statt, es migrierten ausschließlich Skandinavier, nicht Byzantiner. Begegnungen bilden die Grundlage einer Kulturbeziehung und von Transferprozessen,146 und im Gegensatz zur Untersuchung unmittelbar benachbarter Kulturareale bedürfen sie bei der Analyse einer ephemeren Kulturbeziehung eines Nachweises. Ließe sich dieser nicht erbringen, könnte man keine Grundlage für direkten Kulturtransfer anführen und müsste insbesondere bei nicht-narrativen Zeugnissen grundsätzlich mit Vermittlung über Zwischenstationen rechnen, eine Möglichkeit, welche die Analyse von Verbindungen zwischen einander geographisch fernen Kulturen kompliziert, und die prinzipiell von Einzelfall zu Einzelfall berücksichtigt werden muss. Abgesehen hiervon geht der Aufenthalt von Migranten in der fremden Umgebung kulturellen Aneignungsprozessen voraus, unabhängig davon, ob die byzantinische Umgebung der Akteure Ideen und Konzepte von ihnen übernimmt, ob skandinavische Exilanten in Byzanz Kulturgüter an reisende Skandinavier vermitteln oder sie als zurückkehrende Migranten selbst Träger von Transferprozessen werden. Der Aufenthalt und der Status von skandinavischen Byzanzmigranten beziehungsweise seine diachrone Entwicklung ist daher von besonderem Interesse. Die Rekonstruktion des Bildes aus den byzantinischen Texten nimmt indes aufgrund der Beschaffenheit der verstreuten Erwähnungen, aber auch aufgrund der forschungsgeschichtlichen Ausgangsbasis zwangsläufig einen ganz anderen, kleinteiligeren Charakter an als die spätere Analyse skandinavischer Byzanzbilder. Erstere muss sich an Feinheiten wie etwa dem Wandel von Wortgebrauch und -bedeutungen abarbeiten und sorgfältig tendenziöse Lesarten aus der Per145 Hunger, Literatur [1978], S. 457. 146 Herbers, Europa und seine Grenzen [2007], S. 38f.

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spektive späterer skandinavischer Texte vermeiden. Aufgrund des quellenkritischen Potentials der byzantinischen Zeugnisse ist ihrer Analyse aber trotz der größeren Mühsal bei der Erschließung unbedingter Vorrang vor späteren skandinavischen Perzeptionen einzuräumen, die ihrerseits wiederum dazwischenliegendem Ideen- und Wissenstransfer aus verschiedenen Regionen und Zeitschichten unterliegen. Mit anderen Worten: Für ein besseres Verständnis der Konstitutionsbedingungen skandinavischer Byzanzbilder ist eine fundierte Kenntnis der kulturellen Interaktionen in Byzanz eine unverzichtbare Voraussetzung. Eine prosopographische Vorgehensweise, welche sich für die Rekonstruktion von Realbegegnungen auf den ersten Blick anzubieten scheint, kann angesichts der gegebenen Quellensituation nicht ans Ziel führen. Dies liegt vor allem an der extrem heterogenen Quellenbasis: Byzantiner erwähnen Skandinavier zwar oft als Angehörige einer ethnischen beziehungsweise militärischen Gruppe, interessieren sich aber im Regelfalle nicht für deren Namen oder Biographie. Die skandinavische Überlieferung, ihrem Gegenstand ungleich ferner, folgt je nach Gattung – lateinische oder norröne Geschichtsschreibung über ferne oder nahe Vergangenheit, Isländersaga, Fiktion über ferne Vorgeschichte, Rechtstext, Urkunde – höchst unterschiedlichen Darstellungskonventionen. Im Gegensatz zu einer jüngst erschienenen prosopographischen Auswertung wikingerzeitlicher Runensteine,147 die ein geschlossenes Corpus bilden, brächte eine Prosopographie aus den hochmittelalterlichen Schriftquellen insbesondere in der statistischen Auswertung lediglich ein Zerrbild von Konjunkturen bestimmter Genres und der von ihnen behandelten Zeiträume hervor.148

Byzantinische und skandinavische Quellencorpora Stattdessen drängt es sich auch angesichts der Forschungssituation auf, einen nach Corpora gegliederten Gesamtüberblick über relevante Quellenpassagen zu erarbeiten, der sich in der Form an Regesten orientiert. Auf diese Weise wird nicht allein die Interpretationsgrundlage transparent und die Einordnung vertiefend behandelter Beispiele erleichtert, sondern auch das bisher nicht systematisch aufgearbeitete Quellenmaterial für weitere Untersuchungen aus anderen Perspektiven zugänglich gemacht; zugleich entlastet ein solcher Überblick die eigene Narration von dem Zwang, vorgefundene Details grundsätzlich in extenso zu reproduzieren. Die insgesamt 540 Regesten sind gegliedert in lokale Corpora, wobei die umfangreiche norröne Literatur in zwei Unterkategorien, eine mit 147 Durch Daniel Föller in der PmbZ, s. S. 28f. mit Anm. 37. 148 Dies ist auch ein Problem der statistischen Auswertung bei Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 91–94.

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Konungasögur, Urkunden, Briefen und Rechtstexten sowie eine mit fiktionalen Texten, aufgeteilt ist. Obschon eine solche Aufteilung, welche aus der Sagaliteratur allein die Konungasögur den referentiellen Texten zuordnet, bei narrativen Texten generell nie voll zu befriedigen vermag,149 orientiert sie sich doch daran, welche Texte dem eigenen Anspruch nach im Rahmen mittelalterlicher Historiographie liegen; sie gehören zudem überwiegend einer früheren Zeitschicht an. Sortiert sind diese Regesten entsprechend der synchronen Perspektive auf die byzantinisch-skandinavische Kulturbeziehung nach dem Alter der Texte selbst, nicht nach den Ereignissen, von denen sie berichten. Auf diese Weise treten sowohl der innere Zusammenhang der Quellen als auch intertextuelle Bezüge deutlicher zu Tage, ebenso Konjunkturen des Erzählens über Byzanz und Byzantinisches im Norden und umgekehrt sowie Wandel im Byzanzbild beziehungsweise dem Bild vom Norden. Dass allen Regesten zu byzantinischen Quellen und zu besonders aussagekräftigen Stellen in norrönen Texten Zitate und Übersetzungen aus dem Griechischen und Norrönen hinzugefügt sind, dient dem vereinfachten Zugang zu einem Thema, welches sich nicht zuletzt aufgrund seiner Sprachbarriere sowohl für Byzantinisten als auch für Altnordisten zunächst als unnahbar erweist und deshalb zur Persistenz kaum hinterfragter Meistererzählungen beigetragen hat. Zudem sind etwa seit Blöndals Arbeit zahlreiche Texte neu ediert worden, was teilweise zu neuen Erkenntnissen über ihre literaturgeschichtliche Einordnung sowie ihre Relevanz in unserem Kontext führte. Zwar sind viele von ihnen inzwischen ins Englische, Französische oder Deutsche übersetzt, doch kann bei einer Versammlung relevanter Quellenpassagen das Augenmerk auf einer textnahen, im Detail begriffspräzisen Übersetzung liegen, die zwar in ungleich geringerem Ausmaß literarischen Ansprüchen genügt, aber eine bessere Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Textstellen, ihrer Terminologie und ästhetischen Gestaltung ermöglicht. Aus dem Gesamtüberblick lassen sich schließlich Beobachtungen ableiten, welche bestehende, an Beispielen gewonnene Erkenntnisse der Forschung kontextualisieren beziehungsweise nuancieren können und die Einordnung eigener Erkenntnisse erleichtern. Analog hierzu ist den Regesten ein katalogartiger Überblick über das Corpus byzantinisch beeinflusster Kalkmalereien in Dänemark beigegeben. Auf diesen Überblick stützt sich schließlich der Vergleich zwischen dem byzantinischen Bild vom Norden, seinen Einwohnern und umgekehrt den skandinavischen Vorstellungen von Byzanz. Er vermag diachrone Entwicklungen des Kontakts, seiner Bedingungen, Intensität und Wirkungen in verschiedenen Kulturbereichen – etwa Historiographie und Kunst – aufzuzeigen und zumindest potentiell, Transfergeschehen und ihre Auswirkungen auf bestimmte historische Konstellationen und ihre spezifischen Dynamiken zu149 Vgl. Müller, Höfische Kompromisse [2007], S. 37–39.

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rückzuführen. Ihre Parameter bilden Realbegegnungen in Byzanz in einem bestimmten kulturellen Milieu, Rezeptionsprozesse seitens der Migrierenden sowie die Rezeption transferierter Ideen beziehungsweise Wissensbestände oder (Kunst-)Gegenstände im jeweiligen soziopolitischen Umfeld im Norden.150

Transfers in einer ephemeren Kulturbeziehung Die Beschreibung der byzantinisch-skandinavischen Kulturbeziehungen und besonders ihrer Auswirkungen stützt sich, wie schon mehrfach anklang, auf ein dem Gegenstand angepasstes, prozessorientiertes und akteurbezogenes Modell des Kulturtransfers. Der Begriff, vor bald drei Jahrzehnten geprägt von den Germanisten Michel Espagne und Michael Werner,151 und seitdem in ganz verschiedenen geisteswissenschaftlichen Forschungskontexten zur Anwendung gebracht,152 bezieht sich auf ein Modell kultureller Interaktion, in welchem in einer bestimmten Kontaktsituation Ideen von einer in die andere Kultur übertragen und dort in das kulturelle Ensemble eingefügt werden, wobei sie aufgrund 150 Rezeption wird in diesem Kontext als ein kreativer Prozess verstanden, der bereits bei der Kognition des Fremden als Fremdes durch den Wahrnehmungshorizont des Rezipienten eine Veränderung des Gegenstandes bewirkt sowie letztlich eine Horizontverschiebung beim rezipierenden Akteur hervorruft. Die Begriffe basieren auf dem rezeptionsästhetischen Modell bei Jauß, Literaturgeschichte als Provokation [1975], S. 131–135, 141–144, 148–151; Jauß, Einleitung [1977], S. 11–14 und kognitionswissenschaftlichen Überlegungen von Fried, Schleier der Erinnerung [2004], S. 80–152. Vgl. auch Burke, Kultureller Austausch [2000], S. 13f., 37f., der diese Phänomene als »Dekontextualisierung« und »Rekontextualisierung« von Kulturgütern bezeichnet; Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation [2005], S. 132–137; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 11f.; Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 417–419. 151 Espagne/Werner, Deutsch-französischer Kulturtransfer [1985]; Transferts, ed. Espagne/ Werner [1988]; Espagne, Les transferts culturels franco-allemands [1999] beschäftigen sich mit französisch-deutschen Kulturbeziehung in der Moderne. 152 Vgl. im mediävistischen Kontext v. a. den Sammelband Kultureller Austausch, ed. Kasten/ Paravicini/Pérennec [1998] an der Schnittlinie zwischen Geschichtswissenschaft und Philologie, der mit seiner Fokussierung auf die Beziehungen zwischen dem deutsch- und französischsprachigen Raum gewissermaßen Espagnes Ansatz aus mediävistischer Perspektive erweitert; Brandes, Das Gold der Menia [2005] (byzantinisch-skandinavischer Kulturtransfer); den Band Grenze und Grenzüberschreitung, ed. Knefelkamp/BosselmannCyran [2007] mit den Beiträgen Steger, Von Grenzüberschreitungen [2007] (Medizin); Schlie, Welcher Christus? [2007] (Kunstgeschichte); Becker/Bulach/Müller, Wissenstransfer, Integration und Ausgrenzungen [2007] (Handwerk); außerdem Grebner, Interkulturalität und Verwissenschaftlichung [2008] (höfische Zentren); Klammt/Rossignol, Mittelalterliche Eliten [2009] (Archäologie und Geschichte Ostmitteleuropas). Vgl. zu methodischen Überlegungen das Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs »Kulturtransfer im europäischen Mittelalter« (Graduiertenkolleg 516, Kulturtransfer [o. J.]); Herbers, Europa und seine Grenzen [2007]; Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], bes. S. 402–422.

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ablaufender Kognitions- beziehungsweise Rezeptionsprozesse einer Transformation unterliegen. Das Modell, entwickelt anhand von Arbeiten über zwei »Kulturnationen« und ihre Gelehrtenmilieus, ist seitdem erheblich verfeinert worden:153 So wurde hervorgehoben, dass sich die Transferforschung von nationalgeschichtlich geprägten Rahmen lösen müsse, was aus mediävistischer Perspektive besonders in unserem Kontext selbstverständlich erscheint; auch wurde deutlich, dass Kulturtransfer neben Ideen durchaus auch materielle Güter betrifft, was die Einbeziehung archäologischer und kunstgeschichtlicher Erkenntnisse ermöglicht. Weiterhin ist die Aufmerksamkeit für die Prozesshaftigkeit des Transfers in Rezeption durch mobile beziehungsweise migrierende Transferenten, Übertragung und Rezeption beziehungsweise Aneignung, Einfügung und Funktion in der Zielkultur ebenso gewachsen wie das Bewusstsein um die Prozesshaftigkeit der untersuchten Kulturen selbst. Sie unterliegen als Produkte sozialer (Selbst-)Zuschreibung nicht zuletzt durch Kulturkontakte und Kulturtransfer einem ständigen Wandel, wie bereits bei der Definition des Arbeitsrahmens deutlich wurde.154 Auch hat eine Untersuchung von Prozessen des Transfers stets die längerfristige Wirkung von adaptierten Ideen, Wissensbeständen oder Gegenständen in der Zielkultur unter sich wandelnden Bedingungen zu berücksichtigen. Eine Möglichkeit hierzu bietet der Vergleich von Konungasögur mit fiktionalen norrönen Texten, welche Muster des Erzählens über Byzanz fortschreiben und weiterentwickeln. Angesichts der Interdependenz und Reziprozität einer jeden Kulturbeziehung,155 welche die Geschichtswissenschaft unter dem Eindruck der postcolonial studies156 und in Ablehnung älterer, holistischer Vorstellungen überzeitlich gegebener Kulturen, von teleologisch gedachten Kulturgefällen zwischen »altem« und »neuem« Europa157 stark betont, besitzt das Modell vom Kulturtransfer 153 Vgl. neben mediävistischen Überlegungen (Anm. 152) v. a. Lüsebrink, Kulturtransfer – methodisches Modell [2001], bes. S. 129–138; Middell, Wechselseitigkeit der Kulturen [2001], bes. S. 16f., 49–51; Geppert/Mai, Vergleich und Transfer [2000], S. 108. Besonders Eisenberg, Kulturtransfer als historischer Prozess [2003], S. 403–405, 409–416 fordert eine »prozessorientierte« Kulturtransferforschung, die sich von statischen Vergleichsbedingungen, wie sie die Nationen im transfert culturel-Modell darstellen, löst. 154 S. oben Anm 114. 155 Vgl. Burke, Kultureller Austausch [2000], S. 9, 13; Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation [2005], S. 138; Middell, Wechselseitigkeit der Kulturen [2001], S. 49–51; Herbers, Europa und seine Grenzen [2007], S. 35–40. 156 Chakrabarty, Postcoloniality [1995]; vgl. Bhabha, Location of Culture [1994], S. 34–65 157 Das Konzept vom »alten« und »neuen« Europa prägte Halecki, Grenzraum [1957], S. 20–24; vgl. außerdem Moraw, Entwicklungsunterschiede [1987] sowie erneut Moraw, Europa im späten Mittelalter [2006], S. 9. Es erscheint ambivalent: Einerseits diente es dazu, den auf den »Westen« verengten Blick zu erweitern; andererseits implizieren die Begriffe »alt« und »neu« eine essentialistische Auffassung davon, was »Europa« auszumachen habe und was bestimmte Regionen an kulturellen Eigenschaften eben vor anderen besaßen. Die angespro-

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indes auf den ersten Blick einen entscheidenden Makel: Es beschreibt hierarchische, unilineare Prozesse; ein Kulturgut wird aus einer Kultur entlehnt und von dieser in einer andere übertragen.158 Hierfür benötigt man die Denkfigur der Grenze. Nur allzu leicht drängt sich daher der Verdacht auf, Transferanalyse beinhalte koloniale Denkstrukturen. Dem ist freilich nicht so, wenn man den Transfer als eine dem komplexen Gesamtbild multidirektionaler kultureller Interaktionen untergeordnete heuristische Figur betrachtet. So ist es offensichtlich, dass bei einer dichten Kulturverflechtung159 zwischen benachbarten Arealen ständig und gleichzeitig Transfers in beiden Richtungen ablaufen können, die ganz verschiedene Kulturbereiche (etwa unterschiedliche Bereiche der Kunst, des Handwerks, der Literatur, Sprach- und andere Wissensbestände) betreffen mögen und an kulturellen Phänomenen orientierte Grenzziehungen verschieben, obsolet machen oder gar schärfen können.160 Mit Verflechtung einhergehende Akkulturation bedeutet dabei keineswegs automatisch die Annäherung einer Kultur an die Ausprägungsformen einer anderen. Ein solches, auf einzelne Prozesse reduziertes Verständnis von Kulturtransfer schränkt die Praktikabilität für die Skizzierung komplexer Gesamtbilder ein, insbesondere dann, wenn distinktive Raumbezüge, etwa bei einer Diaspora oder bei raumübergreifenden Elitenkulturen, nicht erkennbar werden.161 Es erweist

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chene Problematik verdeutlichen Kämpfer, Über den Anteil [2001], S. 52–59; Borgolte, Perspektiven [2001], S. 18–24; Oschema, Europa in der Forschung [2006], S. 31f. Vgl. auch Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 399. Vgl. Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 395f. in Abgrenzung von der Idee, der Transfer lasse sich als multilateraler, multipolarer Prozess auffassen (vgl. Burke, Kultureller Austausch [2000], S. 11–13; Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation [2005], S. 138 sowie den bilingualen Titel Kultureller Austausch, ed. Kasten/Paravicini/Pérennec [1998], der dt. Austausch und frz. transfert gleichsetzt), ohne die dahinterstehende Idee von Transfer aufzuweichen, wie sie bei Espagne/Werner, Deutsch-französischer Kulturtransfer [1985], S. 504–506 formuliert ist. Die komplexitätsreduzierende heuristische Denkfigur »Transfer« und die notwendige Einbettung in komplexe historische Vorgänge sind zwei verschiedene Dinge. Die Begriffe »Kulturbeziehung« und »Kulturverflechtung« sind entlehnt von Bitterli, Die ›Wilden‹ [1976], S. 81–83 und entsprechend gebraucht. Bitterli unterscheidet vier Formen des Kulturkontakts in aufsteigender Dichte: die gelegentliche Kulturberührung, den Kulturzusammenstoß, die Kulturbeziehung und als engste Form die Kulturverflechtung. Letzterer Begriff wird hier für die kulturelle Verbindung zwischen Skandinavien und Lateineuropa verwendet (vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 199–204), byzantinischskandinavische Verbindungen wären die meiste Zeit über als Kulturbeziehung einzustufen. Vgl. Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 418. Die Möglichkeit, die Adaption fremder Kulturgüter zur Schärfung kultureller Grenzen zu instrumentalisieren, analysiert Bruendel, Negativer Kulturtransfer [1998], bes. S. 154. Vgl. auch Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation [2005], S. 137. Ein anschauliches Beispiel untersuchen Burkhart/Mersch u. a., Hybridisierung [2011], S. 467–474, die sich mit kulturellen Ausdrucksformen von Eliten im Mittelmeerraum be-

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sich aber umgekehrt für die Analyse ephemerer Kulturbeziehungen wie derjenigen zwischen Byzanz und Skandinavien, die allein aufgrund der räumlichen Ferne in keine enge Verflechtung münden, als ausgesprochen hilfreich. Zwar lassen sich regelmäßige Kontakte durch Realbegegnungen nachweisen, doch bleibt eben eine solch enge Verbindung mit Byzanz, wie sie zum Beispiel die Kiever Rus’ durch die Kirchenstruktur, die Liturgie, die Kunst und die Politik besaß, aus.162 Daher ist die byzantinisch-skandinavische Beziehung mit eher sprunghaften, wechselnden Konjunkturen unterliegenden Transferprozessen angemessener zu beschreiben. Ferner kann das Gesamtbild erkennbarer Transferprozesse gerade zwischen zwei weit entfernten Kulturen durchaus sehr asymmetrisch sein. Dies ist bei Skandinavien und Byzanz der Fall, wo Byzantinisches im Norden in ganz verschiedenen Kulturbereichen wirksam wird, während sich in Byzanz außerhalb der Militärgeschichte kaum Spuren finden. Dies konstituiert – außer in der Wahrnehmung byzantinischer Zeitgenossen, aber auch skandinavischer Bewunderung der »Großen Stadt« – nicht automatisch irgendein »Kulturgefälle«, sondern kann durch den Blick auf Transferprozesse wertneutral registriert werden, spiegelt sich aber zwangsläufig in der Gliederung der Untersuchung, die sich in Skandinavien mit einer ganz anderen Fülle an Zeugnissen konfrontiert sieht. Ein weiterer Vorteil einer vergleichenden Studie von Transferprozessen liegt darin, dass die Kulturbereiche, zu denen die Transferenten – Skandinavier in Byzanz und dem Heiligen Land – Zugang hatten, mit den Kulturbereichen verglichen werden können, in welchen sich Transferprozesse in den jeweiligen Kulturarealen auswirken.163 Durch den Vergleich werden nicht nur Transformationen beim Rezeptionsprozess durch Migranten und im Zielkontext sichtbar, sondern es wird damit auch die Bedeutung von Kulturtransfer aus Byzanz im Kontext einer wachsenden lateineuropäisch-skandinavischen Verflechtung deutlich. Der funktionale Monolith, den Kulturen im Bewusstsein ihrer menschlichen Träger beziehungsweise in deren Äußerungen ganz selbstverständlich darstellen und als der sie uns etwa in historiographischen Texten erscheinen,164 wird durch die Beobachtung von Transfer in seiner Kompositschäftigen, welche sich gerade durch das beständige Überschreiten von in anderen Bereichen erkennbaren Kulturgrenzen auszeichnen. An solchen Stellen führen alternative Zugänge weiter, etwa die Analyse von Hybridisierung solcher Elitenkulturen. 162 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996]; Shepard, Byzantium’s Overlapping Circles [2006], S. 22–28. 163 Die Begrifflichkeit orientiert sich an Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 419–422. Kulturbereich meint hier interdependente Aspekte kultureller Prozesse, zum Beispiel Literatur, Kunst, Handwerk etc., während mit Kulturen assoziierte Räume als Kulturareale bezeichnet werden. 164 Hoerder, Imago mundi [2012], S. 12–14 verdeutlicht den Konstruktionscharakter kultureller Identität in der Vergangenheit wie der Gegenwart, woraus für die historischen Geis-

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struktur zum Teil durchschaubar. Innerhalb dieser Struktur steht die Verflechtung des Nordens mit Mittel- und Westeuropa ihrerseits in einem wechselseitigen Verhältnis zum Transfer aus Byzanz – und umgekehrt, indem zur gleichen Zeit stattfindende kulturelle Prozesse zunehmend synchron ablaufen und an bestimmten potentiellen Schnittstellen im Sinne Kosellecks »gleichzeitig« werden.165 Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Religiöse Bilder aus Byzanz erfreuten sich offensichtlich schon in der Wikingerzeit hoher Wertschätzung im Norden,166 jedoch wechselten sie beim Transfer aus dem byzantinischen Raum in einen synkretistisch geprägten nordischen Kontext zwangsläufig den Kulturbereich; ein Niederschlag auf die lokale Realästhetik ist nicht nachzuweisen, folglich bleibt fraglich, ob man hier überhaupt von Kulturtransfer sprechen kann. Zwar zeigen wikingerzeitliche Runeninschriften des 11. Jahrhunderts möglicherweise Rezeptionsspuren griechisch-christlicher Frömmigkeit, insbesondere Marienfrömmigkeit, nicht aber die gleichzeitig im Norden entstandenen Kreuzanhänger.167 Die spätere Etablierung einer aus Lateineuropa übernommenen Marien-

teswissenschaften eine Art »doppelte Theoriebindung« (Fried, Gens und regnum [1994]) entsteht, die es auszuheben gilt. Indes lassen sich moderne Identitätsstiftungen nicht mit vormodernen gleichsetzen; letztere konfrontieren uns zwar mit kulturellen Identitäten, die dann gerne aus moderner Perspektive national angeeignet und fortgeschrieben wurden, doch sind ihnen der Kulturbegriff selbst ebenso wie der moderne Ideologiebegriff fremd (zu Kultur als historischem Begriff Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik 4 [1999], S. 31–54). Sie als bloße Ideologien abzutun, wäre folglich anachronistisch. Die empirisch aufweisbare Tatsache kultureller Identitätsbildung bei sozialen Gruppen, ein »Grenzerhaltungsmechanismus«, ist zunächst hinzunehmen, ohne dies a priori als Produkt komplett intentionalen Handelns zu begreifen. Den Begriff des boundary maintaining mechanism prägte der Ethnologe Barth, Introduction [1969], S. 15f., 19. Für Skandinavien im Mittelalter vgl. Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 8–15, 170–176. 165 Hierzu Drews, »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« als Problem [2008], S. 54–56. 166 Das belegen zwei byzantinische Elfenbeintafeln mit rückseitigen Runeninschriften: Goldschmidt/Weitzmann, Elfenbeinskulpturen 1 [1930], Nr. 28, S. 32 (Kreuzigung, 11. Jh.); Nr. 29 (Theotokos Hodegetria, 11. Jh.). Die Runen selbst verweisen indes nicht sicher auf die Wikingerzeit und geben daher keine direkte Datierungshilfe für ihr Eintreffen im Norden, sondern waren im Mittelalter ebenfalls in Gebrauch. 167 Unter den »Griechenlandfahrersteinen«, welche der Memoria an Personen dienen, die i Grikkjum gestorben sind oder »die Griechen« aufgesucht haben (vgl. oben, S. 29 mit Anm. 39), zeigen Sö 165 (11. Jh.), U 201 (frühes 11. Jh.), U 540 (Ende 11. Jh.) und U 956 (M. 11. Jh.) die Formel Guð hialpi hans salu (»Gott helfe seiner Seele«), die an die griechische Formel Κύριε βοήθει… etwa auf Bleisiegeln erinnert (Segelberg, God Help his Soul [1972], S. 170– 176). U 540 und U 956 zeigen eine erweiterte Formel Guð hialpi hans salu ok Guðs moðir (»Gott helfe seiner Seele und Gottes Mutter«), die eher an eine Übersetzung der griechischen Θεοτόκος als der lateinischen Virgo denken lässt (vgl. Sjöberg, Orthodoxe Mission [1985]), jedoch aufgrund der Verwendung der Formel Dei mater alma auch im Westen zu unspezifisch bleibt (Segelberg, God Help his Soul [1972], S. 166–168). Auf der anderen Seite wird der salvator, der sie Seele befreit (liberare) in der von Latinismen durchsetzten Óláfs saga Tryggvasonar des Oddr Snorrason aus ihrer lateinischen Vorlage als hjálpari übersetzt (Óláfs saga Tryggvasonar, ed. Óláfur Halldórsson, Prologus, S. 125), wo ein spezifisch by-

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verehrung im Norden indes schafft bei reisenden Skandinaviern des Hochmittelalters ein ganz anderes Rezeptionspotential für byzantinische Bilder und erschließt neue, der Herkunftskultur funktional verwandte Verwendungskontexte, zum Beispiel in einheimischen Kirchen. Umgekehrt verändert sich die byzantinische Wahrnehmung der Skandinavier, die im 12. Jahrhundert in Kreuzfahrerheeren von Westen her und nicht mehr in Kriegergruppen über die Rus’ Konstantinopel erreichen. Das Wissen über die Existenz christlicher Königreiche im äußersten Nordwesten ermöglicht beispielsweise andere Strategien der Anwerbung von skandinavischen Söldnern, indem man schlicht dem König schreibt. Die stets vorhandene Gleichzeitigkeit verschiedener Kulturbeziehungen schafft jedoch zugleich ein weiteres Problem für die Analyse von Beziehungen über die lange Distanz: Es besteht immer das Risiko, etwas als byzantinisch Identifiziertes im Norden als Zeugnis von direktem Transfer zu deuten, obschon die Möglichkeit besteht, dass der fragliche Gegenstand aus dem ebenfalls byzantinisch geprägten Lateineuropa oder der Rus’ entlehnt wurde. Besonders nachdrücklich stellt sich diese »byzantinische Frage« für die ikonographische und stilistische Beeinflussung romanischer Kunst im Norden,168 aber auch für Beschreibungen von skandinavischen Reisenden in Byzanz, die sich bei schriftlichen Vorlagen aus Lateineuropa bedient haben können. Erst der Abgleich mit Realbegegnungen und konsequente Vergleiche zwischen den verschiedenen Quellencorpora, auch über die Grenze zwischen schriftlichen und bildlichen Medien hinaus, erlauben von Fall zu Fall eine fundierte Antwort auf die Frage, ob es sich bei Kunstwerken um eine zielgerichtete Entlehnung direkt aus Byzanz handelt beziehungsweise ob das Entlehnte als Byzantinisch wahrgenommen wurde oder ob man mit Koinzidenz rechnen muss. Bei historiographischen Traditionen ist analog dazu die Frage nach dem Verhältnis zu lateineuropäischen Byzanzbildern von entscheidender Bedeutung. Konjunkturen des Transfers in Verbindung mit Nachweisen über Realbegegnungen lassen im Anschluss hieran zugleich Rückschlüsse über kulturelle

zantinischer Hintergrund für die Übertragung nicht erkennbar ist. Wenn der byzantinische Einfluss die vernakulare Wiedergabe auch geprägt haben mag, ist er hier bereits der Quellenamnesie anheimgefallen. Der Profectio Danorum (D23), einer lateinischen Kreuzzugschronik, ist zudem kurz vor 1200 die Formulierung Dei genetrix geläufig, wenn sie von der Theotokos spricht. Abbildungen der Maria orans mit erhobenen Händen werden auf der Rückseite von Brustkreuzen byzantinischen Typs, die im Norden hergestellt werden, als gekreuzigte Figur interpretiert, was deutlich von der Unkenntnis mariologischer Bildprogramme seitens der Hersteller im 11. Jh. zeugt (Staecker, Rex regum [1999], S. 150–152, 439f.; 164–172, 511–513; 164–172); vgl. unten, S. 357 mit Anm. 289. In der Rus’ begegnen solche Umdeutungen nicht, es existiert also in diesem Bereich eine unverkennbare kulturelle Differenz. 168 Hierzu sehr nachdrücklich und wegweisend für unsere Fragestellung Cutler, Misapprehensions and Misgivings [2000], bes. S. 508f.

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Kompatibilität zu, welche mangels Quellen für die Wikingerzeit oft schwerfallen. So müssen Kulturbegegnungen nicht zwangsläufig zu Transfer führen, wenn kaum wechselseitiges Rezeptionspotential besteht; je mehr Kulturbereiche, etwa religiöse Konzepte, Vorstellungen von Geschichte, Herrschaftsorganisation, Münzwesen oder Kriegsführung, einander ähneln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit kultureller Entlehnung in beiden Richtungen. Recht eindrücklich zeigt sich dies im Vergleich byzantinisch-englischen Kulturtransfers im 10. und 11. Jahrhundert, der in Urkunden, Chronistik, Hagiographie, dem Münzwesen und archäologischen Funden bis in Zeit von Edward the Confessor169 zahlreiche Spuren hinterließ, mit byzantinisch-skandinavischen Transferprozessen, die über die gleichen Kontaktwege abliefen, aber in den Gesellschaften Skandinaviens weniger deutlich zu Tage treten.170 Umgekehrt erschien es den Byzantinern offenbar leichter, Söldner in einem hierarchisch organisierten Herrschaftsraum mit einem dominierenden Zentralort anzuwerben. Funde mehrerer Bleisiegel aus der Zeit Edwards des Bekenners sowie vom Ende des 11. Jahrhunderts nach der normannischen Eroberung am Thames Exchange in London, die großteils von Beamten des genikon stammen, einer zentralen fiskalischen Einrichtung in Konstantinopel, legen die Existenz eines von remigrierten Söldnern betriebenen, zentralen »Anwerbungsbüros« nahe, das im Kontakt mit Konstantinopel stand.171 In Skandinavien findet sich, abgesehen von den einzelnen Bleisiegeln des 9. Jahrhunderts, nichts Vergleichbares.

169 Hierzu v. a. López, Le problème des relations [1948], S. 153–159; Shepard, From the Bosporus [2010], S. 23–43. Lapidge, Byzantium, Rome and England [2002] behandelt das Auftauchen eines »griechischen« Bischofs namens Sigewold (< Nikephoros?) am angelsächsischen Hof zwischen 959 und 970, der offenbar über Landbesitz in East Anglia verfügte; Ciggaar, England and Byzantium [1982] behandelt die byzantinisch-englischen Beziehungen unmittelbar vor 1066. Zu Siegelfunden (insgesamt zehn, überwiegend aus dem späten 11. und frühen 12. Jh.) s. Cheynet, Sceaux de Londres [2003], S. 97f. 170 Zur Differenz zwischen den skandinavischen Ländern und dem angelsächsischen England auch Shepard, Small Worlds [im Druck]. 171 Die neun relevanten Siegel sind ediert bei Cheynet, Sceaux de Londres [2003], S. 86–95, die obige Deutung ist übernommen von ebd., S. 95–100. Hinzu kommen vier außerhalb Londons gefundene Siegel (Ioannes protospatharios [Ioannes Raphael, patrikios und katepano¯ Italias], 1040er-Jahre, gefunden in Winchester; Patriarch Sophronios v. Jerusalem nach 1048–1076/83, Winchester; Alexios I. Komnenos, Lincolnshire; Patriarch Euthymios v. Antiochia, 13. Jh., Portsmouth; alle beschrieben ebd., S. 85f.). S. auch Egan, Byzantium in London? [2007].

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4.

Einleitung

Kulturtransfer, die Konstitutionslogik historiographischer Texte und Politik

Ideen- und Wissenstransfer erweisen sich, ob sie nun zwischen miteinander verflochtenen oder einander weniger eng verbundenen Kulturen stattfinden, als äußerst sprunghafte Prozesse, die in ihrer Dichte und konkreten Transformation ihres Gegenstands ganz wesentlich von den lokalen soziopolitischen Bedingungen geprägt sind, in denen die Rezipienten agieren. Dies zeigt sich sowohl bei den byzantinischen Quellen als auch besonders deutlich in der Geschichte der frühen Historiographie Skandinaviens, an der die folgenden Überlegungen entwickelt werden; sie gelten mutatis mutandis gleichfalls für andere Quellencorpora. Die nordische Historiographie bildet unter Inklusion von Texten, die sowohl historiographischen sowie hagiographischen Diskurs umfassen und typisch für frühe Texte aus Skandinavien sind,172 im vorliegenden Kontext das größte Quellencorpus. Wissenstransfer über gelehrte Netzwerke, lokale und über Kulturgrenzen hinaus wirkende politische Bedingungen wirken gleichzeitig auf die Konstitution historiographischer Nachrichten. Dies unterstreicht, dass eine synchrone Perspektive auf die Geschichtsschreibung und die Rekonstruktion ihrer Konstitutionslogik notwendig und folgerichtig ist, zumal sich in den Texten Transfer aus Lateineuropa mit Byzanzrezeption auf verschiedenen Ebenen schneidet.173 Das analytische Hauptaugenmerk der vorliegenden Studie liegt daher zunächst auf einer onomasiologisch orientierten Untersuchung von Byzanz und »Byzantinischem« in der skandinavischen Historiographie – und umgekehrt von »Skandinavischem« in byzantinischen Texten.174 Sie beschränkt sich nicht dar172 Die Annahme historiographischer und hagiographischer Elemente als Diskurse, die durchaus in ein und demselben Text begegnen können, stammt von van Uytfanghe, Heiligenverehrung II (Hagiographie) [1988], S. 156f. Vgl. auch Lifshitz, Beyond Positivism [1994]. Zur Entfaltung historiographischer Narration um einen hagiographischen Kern, die sich für die geographischen Peripherien Nord- und Osteuropas als charakteristisch erweist, Boje Mortensen, Sanctified Beginnings [2006], S. 252–259. Eine gemeinsame Behandlung historiographischer und hagiographischer Aussagen ist zudem gerechtfertigt durch deren gemeinsame, exegetische Hermeneutik (vgl. Lubac, Geistiger Sinn der Schrift [1952]; Ehlers, »Historia«, »allegoria«, »tropologia« [1990], S. 153–156; Knoch, Geschichte als Heilsgeschichte [1998], S. 19–29; Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein [1999], S. 73–96). 173 Vgl. das ähnliche Konzept bei Scheel, Lateineuropa [2012], S. 11–17. 174 Als onomasiologisch wird hier ein historisch-semantischer Zugang bezeichnet, der sich an der akteurbezogenen conceptual history von Skinner, Bedeutung und Verstehen [2010], bes. S. 83, und Pocock, Concept of a Language [2010], S. 101–109 orientiert; vgl. hierzu Lottes, »State of the Art« [1996], S. 39–45; Reichard, Historische Semantik [1998], S. 13–18; SchornSchütte, Neue Geistesgeschichte [2002], S. 274–277; Eßer, Historische Semantik [2002], S. 281–285. Inwiefern eine Beobachtung des »Sprechens über Byzanz« und umgekehrt über den Norden indes bestimmte sprachliche Konzeptionen erkennen lassen wird, bleibt offen, schließlich handelt es sich hierbei nicht um einen zentralen Aspekt politischer Sprache,

Kulturtransfer, die Konstitutionslogik historiographischer Texte und Politik

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auf, den Zusammenhang zwischen Texten im Ganzen und ihren Passagen zu klären, in welchen bestimmte, Byzanz bezeichnende Wörter wie Graecia, Constantinopolis, Grikkland oder Miklagarðr vorkommen, sowie die hier aufscheinenden Konzepte vom jeweils Anderen herauszuarbeiten; gleichzeitig nimmt sie, nach der Konstitutionslogik fragend, das Verhältnis zwischen dem Kosmos des Textes, seiner Eigenlogik und seiner ideengeschichtlichen und politischen Umgebung in den Blick.175 Auf diese Weise ließe sich im günstigsten Falle zeigen, wie Informations- beziehungsweise Wissenstransfer aus Byzanz, transferierte historiographische Konzepte und Geschichtshermeneutik aus Lateineuropa und die politische Aussageintention des Autors sich in einem Text schneiden und derart historiographische Konzeptionen176 von Byzanz und Byzantinischem im Norden entstehen und fortgeschrieben werden. Ein solches Verfahren, das philologische und geschichtswissenschaftliche Arbeitsweisen unter einer von der historischen Semantik177 inspirierten Perspektive kombiniert, beruht auf zwei grundlegenden Prämissen: Es wird angenommen, dass Historiographie und in ihr realisierte Konzepte in einem diskursiven Verhältnis zu ihrer Umwelt stehen, und dass die politische Situation, in welcher ein Text entsteht, dechiffrierbare Spuren in diesem Text hinterlässt. Dies tut sie, so die zweite Prämisse, weil der Autor mit seinem Text auf rationale Weise unter Gebrauch der ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel und rückgebunden an kollektives Wissen über res gestae eine bestimmte, aus seiner politischen Situation resultierende Kommunikationsabsicht verfolgte. Mit anderen Worten: Historiographische Texte stellen sondern um das Sprechen über eine fremde Kultur in (zum Teil) politischen Diskursen. Zudem zielt die Untersuchung nicht primär auf die Analyse und den Vergleich von Textoberflächen, sondern letztlich auf den soziopolitischen Kontext; an dieser Stelle kommt ein hermeneutischer Zugang zum Tragen (vgl. Droysen, Grundriß der Historik [1858], § 32a, S. 15; zum Verhältnis von Semantik und Hermeneutik außerdem Gadamer, Semantik und Hermeneutik [1993]). Bedeutsam bleiben Skinners und Pococks Feststellungen hierfür jedoch insofern, als Konzepte eben lediglich in Äußerungen von Akteuren sichtbar werden, zur Erkenntnis dieser Konzepte ein breites Corpus an Äußerungen jenseits von »Klassikern« verglichen werden muss, und dass Diskursbeiträge – »Quellen« – vor deren synchronen Entstehungsbedingungen bzw. -voraussetzungen interpretiert werden müssen. 175 Zur Konstitutionslogik Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? [2000], S. 19; Schulmeyer-Ahl, Anfang vom Ende [2009], S. 213–217, 402–408; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 16f. Die Grundannahme lautet, dass ereignisgeschichtliche, strukturgeschichtliche, ideengeschichtliche und ästhetische Faktoren die Ausdrucksmöglichkeiten des Autors begrenzen beziehungsweise beeinflussen, da er mit seinem Text eine Kommunikationsabsicht verfolgt. 176 Vgl. die auf Skinner und Pocock gestützten Überlegungen in Anm. 172. 177 Gemeint ist hier, wie bereits erläutert, die onomasiologische, konzeptbezogene Ausprägung der historischen Semantik beziehungsweise der neuen angloamerikanischen Ideengeschichte. Vgl. Konersmann, Semantik [1995], Sp. 596; Reichard, Historische Semantik [1998], S. 13–16; Hampsher-Monk, Neuere angloamerikanische Ideengeschichte [2002], S. 293–301. Zum Verhältnis zwischen historischer Semantik und (kultur-)historischem Erkenntnisinteresse vgl. Jussen, Historische Semantik [2011], S. 54–56.

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Einleitung

– unabhängig von ihrer kaum mehr nachvollziehbaren Rezeption – Ausschnitte eines fortlaufenden politischen Diskurses178 dar, auf dessen Charakter im Folgenden näher einzugehen ist. Ein solches Vorgehen ist indes riskant: Angesichts weniger verfügbarer Kontrollquellen wird eine politische Konstellation anteilig aus Texten entwickelt, welche dann selbst in diese Konstellation eingeordnet werden. Nur allzu leicht verstrickt man sich hier in Zirkelschlüsse. Das Risiko hierfür lässt sich eindämmen, indem man die jeweilige Konstitutionslogik verschiedener Quellen konsequent vergleicht und der Eigenlogik eines jeden Texts, auch von Kontrollquellen, die abseits des Hauptinteresses stehen, absoluten Vorrang vor seiner Einordnung in rekonstruierte Konstitutionsbedingungen einräumt. Plausibel werden erst Interpretationen skandinavischer Byzanzrezeption, welche die Textzeugnisse, ihre jeweiligen lokalen Konstitutionsbedingungen und diese Komplexe miteinander in Beziehung setzen, ohne die Quellen entgegen ihrer Eigenlogik anordnen beziehungsweise ausrichten zu müssen. Hiermit wird zudem eine Isolation aussagekräftiger Stellen von ihrem Kontext und damit ihre argumentative Überbelastung vermieden. Die Überlegungen zur Konstitutionslogik von Geschichtsschreibung deuten an, wie das Bild von Byzanz in Skandinavien und die Geschichte seines Wandels rekonstruiert werden. Der analytische Schwerpunkt liegt hier auf der Wirkung von Transfer, die rückzubinden ist an Kontaktbedingungen in Byzanz und die Frage, woher die grundlegenden Informationen kamen beziehungsweise gekommen sein können. »Politik« – oder weniger anachronistisch »das Politische«179 – als Bezeichnung für den gesellschaftlichen, diskursiven Kontext meint hier nicht die Ausübung von Herrschaft im klassischen Sinne, sondern die in unserem Fall auf Geschichte gestützte Aushandlung sozialer Verhältnisse beziehungsweise Ordnungs- und Identitätsvorstellungen, insbesondere aber von 178 Auch der Diskursbegriff verlangt angesichts der Vielfältigkeit seines Gebrauchs nach Präzisierung; er orientiert sich weniger an Foucault, Ordnung des Diskurses [1991], bes. S. 10– 25, der in erster Linie Regelhaftigkeiten von Sprechpraxis in bestimmten sozialen Zusammenhängen an den Textoberflächen analysiert, sondern am stärker kontextbezogenen Modell bei Hermanns, Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte [1995], S. 86–91, welches den Diskurs als Dialog zwischen Texten in bestimmten historischen Zusammenhängen begreift. Hierzu Lottes, »State of the Art« [1996], S. 35–38; Reichard, Historische Semantik [1998], S. 18–22; Lüsebrink, Begriffsgeschichte [1998], S. 32; Ruoff, Foucault-Lexikon [2007], S. 100f.; Goldstein, Introduction [1994], S. 1–4, 12–15. 179 Der Politikbegriff orientiert sich an der »Kulturgeschichte des Politischen«, die sich speziell bezüglich vormoderner Gesellschaften von universalen, essentialistischen Definitionen von »Politik« bzw. »Politischem« löst und ohne weitere apriorische Einschränkung Aushandlungsprozesse im Kontext »kollektiv verbindlicher Entscheidungen« in den Blick nimmt, in deren Kontext zumindest historiographische Texte in unserem Zusammenhang zu verstehen sind (Stollberg-Rilinger, Einleitung [2005], S. 9–14, das Zitat auf S. 14; s. weiterhin Reinhard, Was ist europäische politische Kultur? [2001], S. 593–596).

Kulturtransfer, die Konstitutionslogik historiographischer Texte und Politik

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Machtverhältnissen und der Frage, was zur Teilhabe an Macht befähigt. Sie finden innerhalb der funktionalen Eliten von Gesellschaften statt, in denen zugleich Produzenten und Rezipienten der untersuchten Texte zu finden sind. Es ist zu erwarten, dass hinter den Konzepten von Byzanz politische Akteure beziehungsweise Kollektive sichtbar werden. Damit erfasst die Analyse freilich immer nur einen sehr geringen Teil der jeweiligen Gesellschaften, deren Gedächtnis sich auf textuelle Kohärenz180 stützte und daher entsprechende Zeugnisse hinterließ; dies gilt für Byzanz wie für den Norden gleichermaßen. Eine weitere Einschränkung betrifft die Möglichkeiten, die sich für Rekonstruktion von Konstitutionsbedingungen für Historiographie eröffnen. Sie ermöglichen philologisch gesprochen immer nur eine Beschäftigung mit der produktionsästhetischen Seite; Aussagen zur Rezeptionsgeschichte sind jenseits intertextueller Bezüge kaum je möglich. Man bleibt zurückgeworfen auf die Prämisse, dass jeder Text qua Rationalität und Kommunikationsabsicht seines Autors einen Diskursbeitrag darstellte und daher als repräsentativ zu betrachten ist. Analoges zu diesen Feststellungen gilt auch für Bildquellen, sowohl für byzantinische, welche sich jedoch im Wesentlichen in der im späteren 12. Jahrhundert entstandenen, illuminierten Madrider Handschrift der Synopsis historio¯n von Ioannes Skylitzes erschöpfen, als auch für skandinavische Zeugnisse. Die romanischen Kalkmalereien dänischer Kirchen aus dem 12. und beginnenden 13. Jahrhundert mit ihrer byzantinischen Prägung in Stil und Ikonographie bilden das einzige in unserem Zusammenhang relevante, größere Corpus. Auch hier stellen sich zu Schriftquellen analoge Fragen des Übertragungsweges, aber auch der Konstitutionsbedingungen und der Aussageabsicht im heimischen politischen Kontext. Es bleibt zwar der Unterschied zu Schriftquellen bestehen, dass Bilder nicht in gleicher Weise wie Texte als diskursive Zeugnisse behandelt werden können, die ihren Inhalt im Fortschreiten einer Narration argumentativ entwickeln, sondern ihn symbolisch kommunizieren.181 Sie lassen jedoch, so viel sei vorweg gesagt, eine besondere Bindung an dieselbe, höchst einflussreiche politische Gruppe in Dänemark im 12. Jahrhundert erkennen, welche auch die Schriftquellen dominiert, und werden so mit letzteren vergleichbar. Vergleiche über Mediengrenzen hinweg machen zudem die politische Situation nochmals deutlicher,

180 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis [2005], S. 97–103 begreift textuelle Kohärenz des kulturellen Gedächtnisses als Gegenstück zur rituellen Kohärenz in oralen Gesellschaften, die aufgrund des Erstarrens im Text den Gegenwartsbezug des Vergangenen immer neu stiften muss. Genau dies wird in historiographischen Diskursen nachvollziehbar. 181 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation [2004], bes. S. 498–502. Es sei hinzugefügt, dass sich die Idee der symbolischen Kommunikation nicht nur auf nonverbale Äußerungen, sondern selbstverständlich auch auf Sprechakte, genauer auf deren nichtprozedurale, sondern »momenthaft verdichtet[e], sinnfällig[e], mehrdeutig[e] und unscharf[e]« Momente bezieht (ebd. S. 499 mit entsprechender Literatur).

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können, indem sie weitere Kontrollzeugnisse bereitstellen, Zirkelschlüsse offenlegen oder Aussagen, die aus der Analyse eines Corpus resultierten, bekräftigen und weiter konkretisieren. Die Wirkungen einer Kulturbeziehung und von Transferprozessen lassen sich zudem über die Grenzen synchroner politischer Konstitutionsbedingungen und Diskursbeiträge hinaus verfolgen, wenn man fiktionale Texte, die nahezu ausschließlich auf Island überliefert sind,182 ebenfalls in den Blick nimmt. Hiermit fasst man zugleich eine andere zeitliche Schicht. Zwar kann die Trennung zwischen referentiell und fiktional, wie bereits angedeutet, angesichts des Charakters der untersuchten Texte niemals vollauf befriedigen,183 und sie darf keineswegs Qualitätsurteile über Texte begründen, die in ihrer Verschiedenheit völlig gleichberechtigte Zeugen ihrer kulturellen Umgebung darstellen. Dass diese Dichotomie lediglich eine heuristische Hilfskonstruktion sein kann, zeigt bereits der Bericht über Haraldr inn harðráði in Byzanz in Morkinskinna und Heimskringla, der märchenhafte Wandermotive mit mündlichen Traditionen zu historischen Ereignissen insofern untrennbar vermischt, als eine Sektion der Texte ihre Eigenlogik zerstörte und den Blick auf mögliche Konzepte von Skandinaviern in Byzanz verstellte. Dennoch weisen im Gegensatz zu den Konungasögur insbesondere übersetzte und originale Riddarasögur ein erhebliches Maß an teils expliziter erzähltheoretischer Reflexion auf, welches mit dem Bewusstsein darüber einhergeht, dass hier im Gegensatz zur Historiographie Fiktion frei gestaltet wird.184 Daher findet eine analytische Trennung in Texte, welche auf historische Ereignisse rekurrieren, hierin dem kollektiven Gedächtnis verhaftet sind oder nahelegen, dass sie dies tun, und solche, deren Handlung zu Unterhaltungszwecken erfunden wurde, ihre Berechtigung. Der Übergang freilich bleibt fließend; dass in unserem Zusammenhang nicht nur Riddarasögur und Märchensagas, sondern auch Íslendingasögur und Fornaldarsögur zu ihnen gerechnet werden, hat vor allem den Grund, dass die Ferne der historischen Ereignisse, falls sie sich auf solche beziehen, den Autoren erheblich mehr Gestaltungsspielraum ließ, als es bei den Konungasögur diesseits mythologischer Vorgeschichte je der Fall war. Deutlich wird dies allein in der Rückbindung historiographischer Erzählungen an mündlich tradierte und – nach dem Eindruck, den der Prolog der Heimskringla vermittelt185 – kollektiv memorierte 182 Ausnahmen zu dieser Feststellung bilden die mythologischen Vorgeschichten im dänischen Chronicon Lethrense, in Svend Aggesen Brevis historia regum Daciae, in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus sowie im Compendium Saxonis, die hier analog zu den Fornaldarsögur der fiktionalen Literatur zugrechnet werden (vgl. den folgenden Textabschnitt). 183 Vgl. oben, S. 60 mit Anm 149. 184 Barnes, Romance in Iceland [2000], S. 283; Glauser, Romance [2005], S. 382–385. 185 Snorri Sturluson: Heimskringla 1941, ed. Bjarni Aðalbjarnarson [1941–1951], Bd. 1, Prolog, S. 7. Ob und inwiefern verfestigte mündliche Tradition außer Skaldenstrophen, zum Beispiel

Kulturtransfer, die Konstitutionslogik historiographischer Texte und Politik

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Skaldenstrophen. Bei Fornaldarsögur liegt die Tatsache, dass die Autoren freier waren, sofern sie nicht eddische Heldenlieder als Grundlage verwendeten, auf der Hand; bei den Íslendingasögur zeigt sich die Möglichkeit, gerade in Exkursen über Byzanzfahrten Erzählmodule mit fiktionalem Charakter an Narrationen anzuhängen, die sonst ganz überwiegend um kollektives genealogisches Wissen, wie es in der Landnámabók begegnet, arrangiert sind.186 Auch konnte die Forschung plausibel machen, dass beglaubigende Skaldenstrophen hier oft von Sagaautoren selbst gedichtet wurden.187 Eine andere zeitliche Schicht der Wirkung von Kulturtransfer greift man mit der so definierten fiktionalen Literatur dahingehend, dass diese Texte frühestens ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden und damit jünger als die meisten Konungasögur sind. Die Blütezeiten dieser Genres liegen in einer Zeit, als das byzantinische Material eine Abschwächung der Kulturverbindung nahelegt. Insoweit lässt sich an ihnen verfolgen, wie Wissen aus und über Byzanz beziehungsweise Byzanzbilder von politischen Kommunikationskontexten in Erzählmotive übergehen, die in der fiktionalen Literatur modular gebraucht und wie Mosaike immer neu mit anderen Modulen zusammengesetzt werden. Hiermit wird folglich ein zentraler Aspekt der als bereits im mündlichen Milieu um Skaldengedichte herum entstandene »Kommentarprosa«, den schriftlichen Sagas vorausgingen, lässt sich nicht eindeutig zeigen; vgl. die Kontroverse zwischen Hofmann, Vers und Prosa [1971], S. 170–175, der die Ansicht einer frühen, festen mündlichen Begleitprosa als funktionales Komplement zur Skaldik vertritt, und von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981], S. 477–485 bzw. von See, Problem der Erzählprosa [1981], S. 506–510, der sehr nachdrücklich auf die Unzuverlässigkeit aller Quellenbelege über »mündliche« Sagas und die Rückbindung der Historiographen allein an Skaldenstrophen als verlässliche Aussagen zur Vergangenheitsgeschichte hinweist. An die Interpretation von deren Inhalten sind Historiographen offensichtlich gebunden, während in anderen Bereichen der Erzählung eindeutig eine freiere Modellierung möglich war. Vgl. unten, S. 309 mit Anm. 64. 186 Dies äußert sich vor allem darin, dass die auf Island stattfindende Geschichte chronologisch praktisch bruchlos und historiographisch zumeist präzise nachvollziehbar fortschreitet, während der Byzanz-Exkurs stattfindet. Auf diese Weise kann eine Figur mehrere Jahre in Byzanz sein, was gemäß ihrem erneuten Auftreten auf Island vor dem Denkhintergrund einer universalen Zeit chronologisch unmöglich ist. Hier lösen sich die Autoren eindeutig vom Anspruch historiographischer Einheit der Zeit, dem sie sich für innerisländische Vorgänge unterwerfen: Was sich außerhalb des räumlichen Horizonts der Sagas abspielt, gehorcht anderen Regeln. Besonders prominent zeigt sich dieser Effekt der adventure time (vgl. Phelpstead, Adventure-Time [2009], S. 340–344) bei der Heiðarvíga saga (NII 1) und der Laxdœla saga (NII 7+NII 8), aber auch schon bei der Yngvars saga víðfo˛rla (NI 26-NI 34, bes. NI 30). 187 Vgl. etwa Borgfirðinga so˛gur, ed. Nordal [1938], S. CXL–CXLIII, der schon bei der Heiðarvíga saga, wahrscheinlich einer der ältesten Íslendingasögur (bald nach 1200) anhand eines Vergleichs mit der Skaldik in der Óláfs saga Tryggvasonar Odds und der Sverris saga zeigen kann, dass alle drei Sagas, vor allem aber die Heiðarvíga saga, Strophen aufweisen, die in den Jahrzehnten um 1200 im Kloster Þingeyrar gedichtet wurden. Etwas anders liegt die Situation bei den so genannten »Skaldensagas« (vgl. dazu Meulengracht Sørensen, The Prosimetrum Form [2001], S. 185–190).

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Einleitung

Langzeitwirkung von Kulturtransfer sichtbar, da die Bedeutung von Byzanz im Weltbild der skandinavischen Zeitgenossen sowie ihre Vorstellungen von skandinavisch-byzantinischer Interaktion und von deren Bedeutung im Verhältnis zu anderen europäischen Kulturverflechtungen verfolgt werden kann. Für den onomasiologischen Aspekt der Untersuchung von Byzanz-Konzepten sind solche fiktionalen Texte in gleicher Weise wie Historiographie relevant. Unterhaltende Texte spiegeln kulturelle Realität umso plastischer, als sie von Ambivalenzen, die extratextuelle Ereignisse der historiographischen Narration aufzwingen, frei sind. Aus den Überlegungen zu bestehenden Forschungsdesideraten und Methoden, mit deren Hilfe sie zu beheben sind, sollte deutlich geworden sein, dass auch der hier gewählte Zugang prinzipiell keineswegs ohne Konjekturen über Zusammenhänge zwischen byzantinischen und skandinavischen Zeugnissen von Kontakt und Transfer auskommt, ebenso wenig ohne die Konstruktion von Zusammenhängen zwischen Texten und ihrer Umwelt. Sobald die Analyse über den Mikrokosmos des Texts hinausgreift, bildet sie Hypothesen anhand eines Horizonts an Möglichkeiten, den die herangezogenen Zeugnisse vom gewählten Standort aus eröffnen.188 Ein weiteres Problemfeld eröffnet sich mit der Vielzahl gut erforschter und intensiv diskutierter Themenfelder, die eine breit angelegte Untersuchung zwangsläufig streift, darunter mehrere nationalgeschichtliche beziehungsweise regional ausgerichtete Forschungsfelder wie etwa byzantinische Militäradministration und Ideengeschichte, die Kreuzzüge, Historiographiegeschichte und den Bereich höfischer Literatur und der Motivgeschichte. Der hierbei zwangsläufig entstehende Kompromiss bei der Bewältigung und Verwendung zur Verfügung stehender Informationen gibt einer besonderen Quellennähe außer aus den bereits genannten Gründen auch deshalb den Vorzug, weil die Quellencorpora als Zeugnisse ihres kulturellen Hintergrunds zugleich der hier entwickelten Narration Kohärenz verleihen. Indes ist eine gleich intensive Behandlung aller Zeugnisse, wie sie in den Regesten zu überblicken sind, nicht möglich; da vertiefte Analysen an Beispielen erfolgen müssen, kann auch hier exemplarisches Arbeiten und die Risiken, die es birgt, nicht umgangen werden. Insofern relativiert sich die eingangs geübte Kritik an der älteren Forschung; nichtsdestoweniger wird aus einer konsequent synchronen Perspektive auf die Zeugnisse ein alternativer Zugang zur byzantinisch-skandinavischen Geschichte versucht, der zwar seinerseits neue Schwierigkeiten aufwirft, jedoch andererseits zahlreiche Probleme der Forschungsgeschichte aushebelt. Es ist dabei nicht das primäre Ziel, neue Erkenntnisse gegen etablierte Forschungsmeinungen über die Wikingerzeit auszuspielen. Vielmehr wird auf der Basis eines transparenten und auch außerhalb der eigenen Fragestellung nutzba188 Vgl. Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit [1984], S. 204–207; Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte [2009], S. 149f.

Kulturtransfer, die Konstitutionslogik historiographischer Texte und Politik

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ren Überblicks eine alternative, aus quellenkritischer Sicht zudem weniger problembehaftete Fragestellung an das Material herangetragen, um so das Bild vom Norden Europas im Mittelalter zu nuancieren. Eine Untersuchung, welche die verschiedenen Quellencorpora – Historiographie, Urkunden, Rechtstexte und Enzyklopädik aus Byzanz, lateinische und norröne Historiographie, Hagiographie, Urkunden, Rechtstexte, Briefe, fiktionale Literatur, Kunstwerke – in ihren jeweils synchronen und lokalen Konstitutionsbedingungen vergleicht, nach Kontaktbedingungen und Transferprozessen von Wissen, Ideen und anderen Kulturgütern sowie deren synchroner und diachroner Wirkung im Hochmittelalter fragt, umschifft dabei nicht allein das Problem der Distanz zwischen Textzeugnis und Ereignis, das für die Wikingerzeit schwer lösbar ist; sie stellt zudem eine Verbindung zwischen zwei einander weitgehend fremden Geschichtsnarrativen her, indem das »Warägernarrativ« synchron mit dem Narrativ von der skandinavischen Integration in das mittelalterliche Lateineuropa konfrontiert wird. Es gilt, den vom postkarolingischen Kerneuropa bestimmten Blick auf die europäische Geschichte mit seinen oft nicht explizierten, aber implizit stets wirksamen Gewissheiten über Zentrum-Peripherie-Verhältnisse zu öffnen für die synchrone Vielschichtigkeit kultureller Interaktion, welche die europäische Geschichte, hier die skandinavische und die byzantinische, prägt; gerade bei der Distinktion der skandinavischen Gesellschaften von ihren lateineuropäischen Nachbarn, die in der Tat in zahlreichen Kulturbereichen dominierenden Einfluss ausübten, kommt diese Vielschichtigkeit zum Tragen. Erweitert werden sollen gleichfalls nationale skandinavische Perspektiven, welche oft unter dem Eindruck der »Europäisierung Europas« im Hochmittelalter hiervon abweichende Phänomene einer kulturell vermeintlich vielfältigeren Nationalgeschichte in die Wikingerzeit auslagern.189 Hierbei entstehen selbstredend Aporien. Diese bedeuten jedoch nicht, dass sich abweichende Erkenntnisse zwangsläufig und jederzeit gegenseitig ausschließen. Sie zeigen vielmehr die Erkenntnismöglichkeiten.

189 Als typisches Beispiel ist das Übergangsmodell von der Wikingerzeit zur Valdemarenzeit (ab 1157) bei Christensen, Mellem vikingetid og Valdemarstid [1966/1967], S. 50–53 anzusprechen: Es geht davon aus, dass das Ende der Wikingerzeit, die als kulturell autochthone Epoche gedacht wird, eine kulturelle und politische Schwächung der skandinavischen Länder (hier Dänemarks gegenüber »Deutschland«) im späten 11. und früheren 12. Jh. nach sich zog, bevor diese sich »angepasst« und im mittelalterlichen Rahmen als Mächte etabliert hätten. Hier zeigt sich, genau wie in der Fixierung auf die Wikingerzeit in der byzantinischskandinavischen Geschichte, die merkwürdige Denkfigur eines »nordischen Altertums«, welches nach einer Phase des »Kulturabbruchs« ins Mittelalter hinüberführt. Solche Deutungsschemata von Geschichte führen zu einer assoziativen und affirmativen, anachronistischen Überfrachtung des Begriffs von der »Wikingerzeit«, die hierdurch zudem kulturtypologisch einheitlicher scheint, als sie war. Diesen Prozess bezeichnete der Archäologe Svanberg, Decolonizing the Viking Age [2003], S. 96–99, 202f. als »Kolonisierung«. Vgl. hierzu auch Scheel, »Wikinger« und »Wikingerzeit« [2014]; Föller, Schiffe [2011].

II.

Von Warangoi und Axtträgern: Das byzantinische Bild der Skandinavier und Skandinaviens

1.

Ῥῶς in Byzanz und die Problematik »ethnischer« Bezeichnungen

Aus dem skandinavischen Raum kommende Migranten erreichten Byzanz über Wege durch den Osten Europas. Sie kamen von Norden her nach Konstantinopel. Wie bereits eingangs erörtert, müssen erste Kontakte in die Zeit vor beziehungsweise um 800 zurückreichen, bevor es im früheren 9. Jahrhundert zu ersten dokumentierten kriegerischen Zusammenstößen mit Plünderungen an den Schwarzmeerküsten und der Propontis kam.1 Gelehrten byzantinischen Beobachtern erschien also zunächst eine weitere ethnische Gruppe von Barbaroi aus dem Raum nördlich des Pontus. Sie übernahmen die Bezeichnung dieser Händler und Krieger als Rus’, welche die ostseefinnischen und ostslawischen Bewohner der fraglichen Regionen ihnen gegeben hatten, und nannten sie Ῥῶς. Die Herkunft des Ethnonyms ist nicht mehr zweifelsfrei zu klären, da sein Alter nicht rekonstruierbar ist; sie war seit dem Normannenstreit Gegenstand sehr unterschiedlicher Deutungen.2 Vor dem Hintergrund des eingangs skizzierten, archäologisch abgesicherten Wissens über skandinavische Präsenz in Osteuropa und aufgrund des Wortgebrauchs sowohl altrussischer wie auch byzantinischer Texte jedoch geht man gemeinhin davon aus, dass ostslawische Siedler, die am nördlichen Rande ihres Siedlungsraumes in Kontakt mit Sprechern nordgermanischer Dialekte von jenseits der Ostsee kamen, deren Bezeichnung von den ansässigen Ostseefinnen übernahmen.3 Letztere bezeichneten die Bewohner des heutigen Schweden als

1 S. oben, S. 26f. mit Anm. 29f. 2 Vgl. oben, S. 20 mit Anm. 6. 3 Vgl. Thomsen, Det russiske rigets grundlæggelse [1909], S. 440f.; Ekbo, Om ortnamnet Roden [1958], S. 196–199; Mägiste, Fi. Ruotsi, estn. Rootsi 1958 [1958]; Falk, Einige Bemerkungen [1981]; Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 28–30; Ekbo, Finnish Ruotsi [2000]; Andersson, Roden – Ruotsi [2001]. Andere Forschungsmeinungen bespricht ausführlich

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*ro¯tsi (Neufinnisch Ruotsi). Die vielfach formulierte Annahme, jenes Ethnonym gehe in irgendeiner Weise auf das urnordische Wort *ro¯þuz beziehungsweise das altschwedische Wort *ro¯þr und damit die Bedeutung »Rudern«/»Rudermannschaft« oder ein Kompositum mit diesem Bestandteil zurück, ist allein schon aufgrund der Weise plausibel, auf welche Skandinavier über die Ostsee und in das baltische Binnenland gelangten – nämlich rudernd auf verhältnismäßig kleinen Schiffen. Skandinavier waren für die Ostseefinnen »Ruderleute«, und das Ethnonym mag aus dieser Beobachtung entstanden sein.4 Vielversprechend und zugleich konkreter scheint eine Herleitung von der heutigen schwedischen Landschaft Roslagen, dem Küstenstreifen Upplands mit seinen zahlreichen Schären.5 Sie wird in Texten des 14. Jahrhunderts noch als Rodh/Roþ bezeichnet; eine frühere mittelalterliche Form mit erhaltener Nominativendung, möglicherweise in zwei Runeninschriften zu erkennen,6 wäre dann *Roþer. Auch dieser Landschaftsname geht auf die frühere Form *ro¯þr (»Rudern«) zurück und bezog sich auf den Küstenstreifen, an dem sich die Flotten sammelten, welche dann die Ostsee überquerten. Zweifellos waren die frühen Roslagen als amphibische Landschaft die Basis einer ostskandinavischen Thalassokratie; durch sie ging der gesamte Verkehr zwischen dem Raum der Svear und den Gebieten im Osten und Südosten der Ostsee. Es liegt nahe, dass die Sprecher des Ostseefinnischen diese Landesbezeichnung als pars pro toto auf Skandinavier beziehungsweise auf Tributsammler, Händler und Plünderer übertrugen, welche nordgermanische Dialekte sprachen. Gegen diese Deutung wurden vor allem sprachgeschichtliche Einwände erhoben, da für eine regelgerechte Übernahme als *ro¯tsi der Stammvokal des urnordischen *ro¯þuz synkopiert sein muss.7 Dies könne frühestens im

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Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 75–112; vgl. auch Thulin, The Southern Origin [1981]. So Ekbo, Om ortnamnet Roden [1958], S. 196–199; Ekbo, Finnish Ruotsi [2000]. Auch im Folgenden Thomsen, Det russiske rigets grundlæggelse [1909], S. 440; Andersson, Roden – Ruotsi [2001]; Nyman, Roslagen § 1 [2003]; vgl. auch Blöndal, S. 7/1. U 11 (ca. 1075–1085): raþ| |þu : runaR : ret : lit : rista : toliR : bry[t]i : i roþ : kunuki : toliR : a(u)k : gyla : litu : ris… …– : þaun : hion : eftiR …k : merki srni… haku(n) * (b)aþ : rista (Rað þu runar. Rett let rista Tolir bryti i roði kunungi. Tolir ok Gylla letu ris[ta] …, þaun hion æftir [si] k(?) mærki … Hakon bað rista: »Deute du die Runen. Tolir der bryti in ro¯ðr ließ sie recht ritzen für den König. Tolir und Gylla ließen ritzen …, dieses Ehepaar in Erinnerung an sich die Landmarke … Hakon ließ ritzen.«). U 16 (verloren, etwa gleich alt): kuni * auk : kari : raisþu * stin * efiR …r : han : uas : buta : bastr : i ruþi : hakunar (Gunni ok Kari ræisþu stæin æftir … Hann vas bonda bæztr i roði Hakonar: »Gunni und Kari errichteten diesen Stein nach… Er war der beste Freibauer in Hakons ro¯ðr«). Es kann sich in beiden Fällen um Håkon den röde von »Schweden« (ab 1073) handeln, U 11 dokumentiert die älteste schwedische Benennung eines »Königs«. Die Bedeutung von ro¯ðr, »Roslagen« (so Andersson, Roden – Ruotsi [2001]) oder »(Ruder-)Mannschaft«, bleibt jedoch ambivalent. Zu den mittelalterlichen Rechtstexten und ihrer Deutung bezüglich der Ausdehnung von Roden vgl. Strauch, Roslagen § 2 [2003] mit dortigen Hinweisen auf den Forschungsdiskurs. Vgl. zur Chronologie dieses Übergangs Birkmann, From Ancient Nordic [2002], S. 692–694.

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6. Jahrhundert geschehen sein, was angesichts der längeren Nachbarschaft und der eindeutig urnordischen Form anderer Lehnwörter im Finnischen als viel zu spät angesehen wurde, weshalb Gottfried Schramm die Herleitung als »historisch unglaubhaft« verwarf.8 Einerseits zeigen in der Tat Runeninschriften um die Mitte des 6. Jahrhunderts noch den erhaltenen Stammvokal;9 andererseits muss man angesichts der Entwicklungen im Schiffbau und Nachweisbarkeit einer skandinavischen Siedlung im ostseefinnischen Kurland seit dem 7. Jahrhundert10 jedoch von einem Intensivierungsschub der transbaltischen Kulturverbindungen zu jener Zeit infolge dauerhaften Zusammenlebens ausgehen, die ohne weiteres zur Emergenz einer neuen Terminologie geführt beziehungsweise diese überhaupt erst hervorgebracht haben können. Im 7. Jahrhundert indes wäre die postulierte Übernahme unproblematisch.11 Entscheidend ist bei aller Unklarheit, die sich allein aufgrund der vollkommenen Abwesenheit schriftlicher Belege für den fraglichen Zeitraum nicht beseitigen lässt, sondern immer nur per analogiam mit Hilfe sprachhistorischer Überlegungen sehr hypothetisch erhellt werden kann, dass mit Ruotsi, Rus’, arabisch Ru¯s und Ῥῶς eine Bezeichnung von Fremden gemeinsam mit diesen Fremden nach Süden migriert.12 So lassen sich die Ῥῶς in der Vita des Georgios von Amastris und bei Photios13 sowie ein Jahrhundert später bei Konstantinos Porphyrogennetos14 und in den Handelsverträgen der Povest’ vremennych let15 8 Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 105–107 bezeichnet allein aufgrund der hypothetischen Chronologie obige Hypothesen als »abwegig«. In der Tat kennzeichnen germanische Lehnwörter in finno-ugrischen Sprachen ganz verschiedene, extrem weit zurückreichende Zeitschichten von Transfers (hierzu Koivuletho, Contact with Non-Germanic Languages [2002]), und es existieren finnische Lehnwörter aus dem Urgermanischen mit im Gegensatz zu Ruotsi erhaltenem urgermanischer Stammvokal, so etwa kuningas für »König« (< urnord. *kuningaz: Brink, Sociolinguistic Perspectives [2002], S. 687), folglich müsste die Übernahme *ro¯ðr > *ro¯tsi jünger sein. 9 S. Anm. 8. 10 Vgl. Nerman, Grobin [1958]. 11 Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 105–107 besteht darauf, dass Ethnonyme von Völkern, die einmal miteinander in Kontakt getreten seien, sich fortan nicht mehr ändern dürften. Folglich wäre die Emergenz des Ethnonyms Ruotsi etwa im 7. Jh. unmöglich, weil der Kontakt zwischen Sprechern finno-ugrischer und germanischer Dialekte viel älter sei. Eine solche Idee ist allein schon aufgrund der diachronen Änderung des Charakters von Kulturkontakt durch die Jahrhunderte und dadurch bedingter Fremdwahrnehmungen unplausibel; vgl. die Emergenz und Verbreitung des Ethnonyms »deutsch« seit dem frühen Mittelalter (Fried, Weg in die Geschichte [1994], S. 17–28; Ehrismann, theodiscus/*thiudisk [1994]; vgl. auch Haubrichs, »Theodiscus«, Deutsch und Germanisch [2004]). 12 Vgl. Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 107–112 und zur arabischen Überlieferung oben, S. 23f. mit Anm. 16. 13 S. oben, S. 26f. mit Anm. 29f. 14 S. oben, S. 27 mit Anm. 31. 15 Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 19–21 (sub A.D. 862); vgl. oben, S. 20 mit Anm. 5f. sowie unten, S. 81. Stein-Wilkeshuis, Legal Prescriptions [1993] zeigt über die skandinavischen

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sowie wahrscheinlich auch in Abrechnungen der Kosten für zwei byzantinische Flottenexpeditionen nach Kreta 902 und 94916 aus heutiger, vergleichender Sicht als skandinavische Migranten oder doch als ihre direkten Nachfahren identifizieren. Dass die zeitgenössischen Byzantiner sie in gleicher Weise in ihrem geographischen Weltbild verorteten, lässt sich nicht erweisen. Eine solche Identifikation der Rus’ mit Schweden leisten im 9. Jahrhundert allein die Annales Bertiniani, welche den Kaiser Ludwig die 839 nach Norden durchreisenden, aus Byzanz kommenden Rhos als Suenones erkennen lassen.17 Dies war aufgrund lokalen kollektiven Wissens über Skandinavier, die zu jener Zeit im Frankenreich hinreichend präsent waren, aufgrund direkter Kontakte der Eliten, etwa durch Harald Klaks Taufe in Mainz und die erst kurz zurückliegende Mission Ansgars leicht möglich. Liutprand von Cremona erkennt 968/69 in den Rusii Nordmanni, denn sie seien aquilonares homines.18 Den Byzantinern indes bleiben die Ῥῶς Barbaroi aus »ihrem« Norden, also dem osteuropäischen Raum im Norden des Schwarzen Meeres;19 genau dies erlaubt bei ihrer Beschreibung auch das Anknüpfen an die antike Ethnographie und ihre Bezeichnung als Σκυθαί, die sich auf praktisch alle Völker in jener Region nördlich des Reiches applizieren ließ,20 beziehungsweise bei Leon Diakonos und Michael Psellos als Ταυροσκύθαι (Skythen/Tauroskythen).21 Konstantinos Porphyrogennetos selbst betont, dass die Sprache der Ῥῶς, wie er sie in De administrando imperio beschreibt, sich von derjenigen der einheimischen Slawen, von denen sie Tribut sammeln, unterscheide;22 er gibt ihre Benennungen der Dnjepr-Stromschnellen parallel zu denjenigen der Slawen wieder, die sich, auch nachdem sie durch das Hörverständnis von Sprechern des Mittelgriechischen gegangen und in griechischer Schreibkonvention wiederge-

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Namen in den Listen hinaus, dass hier auch skandinavische Rechtsgewohnheiten wirksam waren. S. unten, S. 96 mit Anm. 90. Annales Bertiniani, ed. Waitz [1883], S. 19f. Vgl. hierzu v. a. Shepard, The Rhos Guests [1995] und oben, S. 26 mit Anm. 25; Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 179–193 lässt den byzantinischen Kontext der Mission außen vor. Liudprandi Cremonensis Antapodosis, ed. Chiesa [1998] 5,15, S. 131. Liutprand leitet die griechische Bezeichnung a qualitate corporis (wahrscheinlich < ῥούσιος/russus: »rot«) der Rus’ her, hält sie also für beschreibend und erklärt auch die Etymologie des lateineuropäischen Ethnonyms Nordmanni. Vgl. Blöndal, S. 83f./40. Vgl. Tinnefeld, Blitzschlag [1981]. Vgl. die Übersicht über die verschiedenen Applikationen bei Moravcsik, Byzantinoturcica II [1958], S. 279–283. Die Fundstellen sind aufgelistet in Anm. 228. De administrando imperio, ed. Moravcsik/Jenkins [1949], Kap. 9, S. 56–62. Er unterscheidet zwischen Ῥωσιστί und Σκλαβηνιστί bei der Benennung der Stromschnellen.

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geben sind, überwiegend als Altnordisch erkennen und deuten lassen.23 Bei dem Namen einer Stromschnelle ist aber bereits die Adaption einer anderen slawischen Bezeichnung und damit sprachliche Entlehnung beziehungsweise Zusammenfall erkennbar.24 Gleiches gilt für die Namen von Rus’, welche die in der Povest’ vremennych let überlieferten Handelsverträge von 912 und 944 bewahren.25 Nichtsdestoweniger bleiben auch bei Konstantin, um die Mitte des 10. Jahrhunderts, die Ῥῶς an Kiev und seine Umgebung gebunden; zwar erfährt man die Namen einiger Zentralorte der »äußeren Rhosia«,26 von denen manche identifizierbar sind. Die Lage des Hauptortes Nemogardas, woher die archontes der Rhosia kommen und mit der Konstantinos möglicherweise Rjurikowo Gorodischtsche meint,27 bleibt aber unklar, und der Text vermittelt keine Vorstellung von der geographischen Ausdehnung und Beschaffenheit jener Regionen. Dass es sich bei den Rus’ um Migranten beziehungsweise um Fremde unter der slawischsprachigen Bevölkerung am Dnjepr handelt, wird deutlich; woher genau sie kamen, erfährt man bei ihm nicht. Eine vage Vorstellung hiervon erhält man jedoch etwas später in der Weltchronik des Pseudo-Symeon Magistros, die bis 963 reicht: Sie berichtet im Kontext eines Angriffs der Ῥῶς, welche auch Δρομῖται (Dromitai) genannt würden, auf Konstantinopel im Jahre 941, dass diese »aus dem Volk der Phrangoi« (ἐκ γένους τῶν Φράγγων) stammten.28 In der 23 Vgl. z. B. Thomsen, Det russiske rigets grundlæggelse [1909], S. 290–315; Blöndal, S. 16–19/9–11; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 81–87. Melin, Names of the Rapids [2003], bes. S. 57f. 24 Die erste Stromschnelle heiße in beiden Sprachen Ἐσσουπῆ (De administrando imperio, ed. Moravcsik/Jenkins [1949], Kap. 9, Z. 25, S. 60), was »Schlafe nicht!« bedeute. Νεσσουπῆ (emendiert, so Thomsen, Det russiske rigets grundlæggelse [1909], S. 299f.) wäre eine eindeutige Umsetzung eines slawischen Ausdrucks (so auch Melin, Names of the Rapids [2003], S. 37f. unter Verweis auf lokale turksprachige Ortsnamen). Das Postulat einer skandinavischen Wurzel (etwa bei Thomsen a. a. O., S. 300 und Blöndal, S. 16/9) erfordert erhebliche Phantasie und passt nicht zu Konstantinos’ Übersetzung. 25 Blöndal, S. 76–78/36f.; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 89–96; Mel’nikova, Lists of Old Norse Personal Names [2004]. In den Verträgen wird auch das Recht zum Eintritt in das byzantinische Militär bzw. das Recht des Basileus auf Entsendung von Kriegern geregelt (Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 38, 63f.). 26 De administrando imperio, ed. Moravcsik/Jenkins [1949], Kap. 9, Z. 3, S. 56. 27 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 38. Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 431–435 ist ausgesprochen optimistisch bezüglich der Identifikation von Ortsnamen in De administrando imperio mit seinerzeitigen Siedlungen. Selbstverständlich kann man ex post die verschiedensten Ortsnamen mit ergrabenen Orten verknüpfen, womit aber nichts ausgesagt ist über den Eindruck aus dem Text selbst und die in ihm repräsentierte mental map. 28 Die Chronik ist in einer Handschrift (Parisinus gr. 1712, 12./13. Jh.) sowie einer weiteren Abschrift überliefert, die sich für die Jahre 813 bis 948 auf die äußerst komplex überlieferte, so genannte Logothetenchronik stützt (vgl. die Einleitung zu Symeonis Magistri chronicon, ed. Wahlgren [2006], bes. S. 46). Der fragliche Abschnitt ist ediert in Theophanes Continuatus etc., ed. Bekker [1838], S. 746, die Datierung sowohl des Texts als auch des Ereignisses bei Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 109 ist falsch. Vgl. zum Hintergrund Jenkins, The

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zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts lässt sich also die Kenntnis einer ursprünglich westlichen Herkunft der Ῥῶς erstmals nachweisen. Andererseits kennzeichnet bereits die Notwendigkeit, die Ῥῶς, von denen man spricht, näher zu definieren und ihre eigentlich andere Herkunft zu betonen, eine spezifische Ambiguität des Terminus, die in dem Maße zu wachsen scheint, wie die Kiever Rus’ sich als Herrschaftsgebiet formiert, mit einem bestimmten geographischen Raum assoziiert wird und pauschal alle Menschen einer Region als Bezeichnung einzuschließen beginnt.29 So trennt Leon Diakonos in seiner Chronik vom Ende des 10. Jahrhunderts die Ῥῶς beziehungsweise Ταυροσκύθαι nicht konsequent von den slawischsprachigen Bewohnern des Raums,30 und ebenso wenig lassen sich in den fraglichen Passagen eines wahrscheinlich etwa gleichzeitigen, anonym überlieferten Taktikons die Ῥῶς eindeutig als Skandinavier identifizieren.31 Sigfús Blöndal leitet in seiner Geschichte der Waräger aus den Aussagen dieses Taktikons her, dass unter der Herrschaft Basileios’ II. bereits eine Sondereinheit, ein tagma aus Ῥῶς bzw. Warägern bestanden habe; in der Tat aber sind die dort erwähnten Ῥῶς, welche als Fußtruppen gemeinsam mit anderen Gruppen, Bogenschützen (τοξόται) und μαλάρτιοι (»Speer-/Schwertkämpfern«) im Feld beim Basileus sind,32 auch als

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Supposed Russian Attack [1949], S. 403f.; außerdem Bibikov, Byzantine Sources [2005], S. 15f. Er macht darauf aufmerksam, dass altslawische Übersetzungen des Pseudo-Symeon die Φράγγοι als varjagi (Waräger) übersetzen. Die Alternativbezeichnung als Δρομῖται findet sich auch bei Theophanes Continuatus etc., ed. Bekker [1838], S. 707: Es handelt sich um ein Wortspiel, das hier ironisch auf die Fähigkeit der Rus’ zum schnellen (Fort-)Rennen (< δρομάς/ δρομάσειν), also zur raschen Flucht, anspielt (Bibikov, Byzantine Sources [2005], S. 16). Zu diesem regionalen Verdichtungsprozess um Kiev vgl. Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 169–180; Mel’nikova, Ancient Rus’ and Scandinavia [1995], S. 8–10; Schorkowitz, Cultural Contact [2012], S. 85f., 87–91, zum Namensübergang Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 155f. Zum Hintergrund in der materiellen Kultur, die ein Verschmelzen skandinavischer Gruppen mit ihrer sozialen Umgebung im späten 10. Jh. dokumentiert, vgl. Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 21f., 36f., 72, 173–177; Duczko, Viking Rus [2004], bes. S. 218–246; Tolochko, Primary Chronicle [2008], S. 185f.; Wilson, East and West [1970]. S. unten, S. 84f. Campaign Organization, ed. Dennis [1985], Kap. 10, Z. 37f., S. 280; Kap. 19, Z. 34f., S. 294; Kap. 25, Z. 13/19, S. 312. Blöndal, S. 92f./45f. bezieht sich auf die ältere Edition Taktikon, ed. Vári [1901], S. 21, Z. 8, S. 31, Z. 3, 44, Z. 9. Nach ihm wird das Taktikon im Folgenden als »Taktikon Vári« oder »De re militari« bezeichnet. Die zeitliche Verortung des Traktats ist nicht unumstritten, doch folgt die Forschung für gewöhnlich J. Kulakovskij in der Datierung in die 990er-Jahre und der Identifizierung des Adressaten mit Basileios II. (s. die Übersicht bei Campaign Organization, ed. Dennis [1985], S. 241–244). Dies ist das einzige Taktikon, in welchem Ῥῶς begegnen. Weder im Taktikon »Skirmishing« (Three Byzantine Military Treatises, ed. Dennis [1985], S. 137–239) aus dem späteren 10. Jh. noch in Constantine Porphyrogenitus: Three Treatises, ed. Haldon [1990], ebenfalls aus dem 10. Jh., kommen sie vor. Insofern scheint die Identifikation dieser Ῥῶς mit denjenigen, von welchen die Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 96f. A.D. 980 berichtet, nicht unplausibel. Campaign Organization, ed. Dennis [1985], Kap. 10, Z. 37f., S. 280. Malartioi begegnen nur in

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Kavallerie einsetzbar, was Skandinavier zu diesem Zeitpunkt einwandfrei ausschließt.33 Der Kampf zu Pferde setzte sich in Dänemark zeitgleich mit ritterlichen Idealvorstellungen erst im Laufe des 12. Jahrhunderts durch,34 blieb aber etwa unter den geographischen Bedingungen Norwegens stets randständig35 und war auf Island niemals von Bedeutung.36 Dennoch ist die Aussage des taktischen Handbuchs ernst zu nehmen, orientierten sich die Parameter byzantinischer Ethnographie im Anschluss an antike Vorbilder doch wesentlich am »Aussehen« (εἶδος), dem »Charakter« (ἦθος) und der »Lebensweise« (δίαιτα) von Barbaroi, was insbesondere den Waffengebrauch beziehungsweise die Kriegsführung mit einschließt.37 Gerade deshalb sind Skandinavier beziehungsweise Angelsachsen

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diesem Text und einer etwa 100 Jahre jüngeren Urkunde, ihre Bedeutung ist nicht eindeutig (ebd. S. 283, Anm. 2). Fußsoldaten stellen grundsätzlich den Kern einer byzantinischen Armee dar, in welchem sich auch der Feldherr befindet, bilden einen potentiellen Schutzring für sich zurückziehende Kavallerie und schützen den Tross (vgl. McGeer, Sowing [1995], S. 253–289). Genau so formuliert es auch Campaign Organization, ed. Dennis [1985], Kap. 19, Z. 34f., S. 294 für die Marschformation des Heeres durch Engstellen: erst Aufklärer und Pioniere, dann die Kavallerie, dann die Infanterie mit dem Basileus, darunter die Rho¯s, dann wieder Kavallerie. Folglich hat die »Kaisernähe« von Fußsoldaten einen schlichten praktischen Grund und bedeutet nicht, dass es sich hierbei um exklusive »Gardisten« handelt. Nichtsdestoweniger nehmen die Rho¯s hier eine herausgehobene, wenn auch nicht exklusive Stellung ein. Zu Blöndals Überschätzung der Bedeutung der Rho¯s um 1000 ebd., S. 209, Anm. 33. Campaign Organization, ed. Dennis [1985], Kap. 25, Z. 13/19, S. 312. Das Kapitel handelt von Überraschungsangriffen auf feindliche Heerlager bei Nacht. Es ist aus der Formulierung nicht ganz klar, ob die Ῥῶς ἱππότες hier als »Kavallerie« oder »berittene Infanterie« gemeint sind, doch spricht der Kontext unzweideutig von einer Kavallerieattacke auf den Gegner vor Tagesanbruch, bei welchen die hippotai und Rho¯s angreifen und die Infanteristen (πεζικαὶ στρατιαί) zurückbleiben. Villads Jensen, Danmarks krigshistorie før 1600 [2008], S. 84f.; Heebøll-Holm, Priscorum quippe curialium [2009], bes. S. 34–40, 50–55, 69; Heebøll-Holm, Saxo og krigskunst [2012], S. 116–119. Vgl. Bengtsson, Hövisk kultur [2006], S. 202–209. Traditionell hält man mit Saxo Grammaticus den Überfall überwiegend sächsischer Ritter auf das königliche Aufgebot in Fodevig/Schonen 1134 für die erste Kavallerieschlacht der dänischen Geschichte (Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 75–77). Aus archäologischer Sicht steht dem nichts entgegen. So etwa die Sv.s., die den König Sverrir in seiner Rüstung zu Pferde in der Schlacht am Ryginabergr 1200 als tödliche Ausnahme zwischen den einheimischen Fußkämpfern darstellt (Kap. 163, S. 254). Vgl. die zahlreichen Kampfschilderungen in der Sturlunga saga, der wichtigsten gegenwartschronistischen Quelle für das 12. und 13. Jh. Trüdinger, Studien zur Geschichte [1918], S. 164f., 175; Müller, Geschichte der antiken Ethnographie [1980], S. 426–438, 467–479, 499–520; Záste˘rová, Problematik [1985]; Hunger, On the Imitation [1970], S. 31; Lund, Germanenbild der Römer [1990], S. 19–39. Das Verhältnis zwischen byzantinischer Geographie und ihren antiken Vorbildern behandeln Hunger, Literatur [1978], S. 507–522, hier bes. 509; Müller, Geschichte der antiken Ethnographie [1980], S. 499–520. Sehr deutlich zu erkennen ist die Mimesis antiker Vorbilder bei Psellos’ Beschreibung der »Tauroskythen« und »Italoi« im Heer des Isaakios Komnenos (B7) und bei Anna Komnenes Schilderung der Schlacht bei Dyrrhachion (B44), die in ihrer Dialektik

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oder Engländer auch jenseits ihrer späteren Bezeichnung als Βάραγγοι seit dem späteren 11. Jahrhundert zu identifizieren, weil sie zugleich ethnographisch eindeutig als »Axtträger« definiert werden und sich ihre Rolle im multiethnischen Zeremoniell eben mit dieser Eigenschaft verbindet. Dies ist jedoch im 10. Jahrhundert noch nicht der Fall, und auch hier tragen die Rho¯s, beritten oder nicht, keine Äxte. Während letztere das ethnographische Merkmal der Βάραγγοι schlechthin werden, stehen diese Waffen nie mit den Rus’ in Verbindung.38 Erklärbar werden die Ῥῶς im Taktikon Vári als berittene Krieger indes, wenn man in ihnen nicht Skandinavier, sondern einfach Krieger aus dem Kiever Raum erblickt. Dort passte sich aufgrund der oftmals konfliktiven Kulturbeziehungen zwischen Rus’ und Petschenegen und darauf folgenden Prozessen des Kulturtransfers die Kriegsführung der Rus’ den Bedingungen der Steppe an: Ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts begannen sie, selbst zu Pferde zu kämpfen und gaben das Breitschwert als Waffe zugunsten eines Krummsäbels auf, der sich sowohl zu Pferde als auch zu Fuß gebrauchen ließ.39 Leon Diakonos, der seine Ἱστορία in den 990er-Jahren verfasste, beschreibt im Rahmen des Feldzuges von Ioannes I. Tzimiskes gegen Bulgaren und Rus’ ausführlich die längere byzantinische Belagerung von Dorystolon (Dristra) an der Donau im Sommer 971, das von Svjatoslav und seinen Rus’ besetzt war. Hier hätten die Ταυροσκύθαι erstmals – wenngleich erfolglos, weil ungeübt – zu Pferde gekämpft.40 Solche Kriegsgezwischen disziplinierter Kriegsführung der Rhomäer und Disziplinlosigkeit der Barbaroi im Kampf klassischen ethnographischen Schemata folgen (vgl. Lund, Germanenbild der Römer [1990], S. 70). 38 Zwar kannten die Rus’ ganz selbstverständlich die Streitaxt skandinavischen Typs, doch wurde sie allem Anschein nach bereits früh zu einer kürzeren Waffe mit anderer Form transformiert (Schreiner, Ausrüstung des Kriegers [1981], S. 235f. mit Abb. eines rusischen Axtkopfs ebenda); die Schneide war deutlich schmaler. So meint denn die norröne tapar-øx, mit einem Lehnwort aus dem Ostslawischen für »Axt«, nicht den skandinavischen Typ, den etwa eine Illumination des Madrid-Skylitzes wiedergibt (unten, S. 220), sondern eine kleinere, kurzstielige Form (vgl. Ásgeir Blöndal Magnússon, Íslensk orðsifjabók [1989]). 39 Vgl. Schorkowitz, Cultural Contact [2012], S. 85f.; Schreiner, Ausrüstung des Kriegers [1981], S. 225–228. Eine Passage in der Povest’ vremennych let (Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 156, A.D. 997), die so interpretiert wurde, dass Vladimir »berittene Truppen« gegen die Petschenegen geführt habe, ist nicht belastbar, da sie auf einer unwahrscheinlichen Übersetzung beruht (ebd.); auf eine solche Interpretation beruft sich wiederum Shepard, Uses of the Franks [1993], Anm. 74. 40 Leonis Diaconi Historia, ed. Hase [1828], VIII,9-IX,12, S. 140–159, die fragliche Passage IX,1, S. 143. Vgl. auch Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 85–90 unter A.D. 971 mit dem Text eines Vertrages zwischen Svjatoslav und Basileios, wo indes kein byzantinischer Sieg, sondern rusische Überlegenheit dokumentiert ist. Ein paralleler Bericht hierzu findet sich bei Skylitzes, Ioannes Tzimiskes 11f., S. 298–303. Zum politischen Kontext der Beziehungen zwischen Byzanz und den Rus’ v. a. Hanak, The Infamous Svjatoslav [1995], S. 145–151; Franklin/ Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 149f.; Terras, Leo Diaconus [1965] analysiert die Beschreibungen der Rus’ bei Leon; er versucht mit zweifelhaftem Erfolg, eine skandinavische ethnische Identität jener Tauroskythen plausibel zu machen, wofür allein der Hinweis auf die

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bräuche festigten auch die schon bei Photios begegnende, stark antikisierende Identifikation mit den Skythen beziehungsweise Tauroskythen, welche sich insbesondere bei Leon Diakonos findet, Beobachtungen aus der Gegenwart überformt41 und von seinem Nachfolger Michael Psellos unter anderen Vorzeichen fortgeführt wird;42 auch bei ihm können »Tauroskythen« als berittene Söldner auftreten.43 Vor dieser Hintergrundinformation erscheinen die Ῥῶς auch im Taktikon Vári am Ende des 10. Jahrhunderts in einem anderen Licht; es wird deutlich, dass es sich um Menschen aus dem nordpontischen Raum handelt, welche sich aufgrund ihrer Waffenführung für bestimmte Aufgaben im byzantinischen Militär eigneten und sich mit ziemlicher Sicherheit in einer Sprache miteinander verständigen konnten, höchstwahrscheinlich in einem ostslawischen Dialekt.44 Byzantinische Ethnographie fragt hier nicht nach genetischen Abstammungsverhältnissen oder Ähnlichem, sondern ist funktional in Bezug auf ihren Kontext, in diesem Fall eine Beschreibung des Gebrauchs von Truppenkontingenten. Auch darf man nicht erwarten, dass aus Texten verschiedener Autoren aus zudem verschiedenen Zeitschichten eine kohärente »ethnische« Definition eines »Volkes« aufscheint. Einerseits beobachteten die Byzantiner Fremde, welche sie in ihr politisches oder militärisches Gefüge integrierten, sehr genau, wie sich etwa am Beispiel des »Rates an den Basileus« (Λόγος νουθετητικὸς πρὸς βασιλέα) des Kekaumenos, aber auch an ethnographischen Listen des späteren 11. Jahrhunderts zeigen lassen wird;45 andererseits widmete man den Barbaren keine solche Aufmerksamkeit, dass man

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Belastbarkeit von Stereotypen, welche durch Leons Antikisierung in der Beschreibung auftauchen, genügt. Terras beobachtet jedoch zutreffend Auswirkungen von Kulturtransfer aus der Steppe auf Haartracht und Schmuck (bes. S. 406) in Svjatoslavs Beschreibung und bemerkt, dass sich »Skandinavier« und »Slawen« in Leons Darstellungen nicht trennen ließen. Seine Beobachtung einer »curious mixture« (ebd. S. 405) bei der Beschreibung von Svjatoslavs Äußerem trifft die von Kulturtransfer und -verflechtung aus zahlreichen Richtungen geprägte Lokalkultur der Kiever Rus’ zu jener Zeit. Die (letztlich genetische) Herkunft der fraglichen Personen spielt für diese Prozesse der Amalgamierung und auch die byzantinische Ethnographie nicht die geringste Rolle. Fundstellen in Leonis Diaconi Historia, ed. Hase [1828] sind: IV,6, S. 63 (Hier werden die Ταυροσκύθαι als Ῥῶς identifiziert.) sowie V, 1–3, S. 75–79, die von der Überredung der Rus’ zum Angriff auf das Bulgarenreich 969 handeln. Weiterhin VI,10–13, S. 105–112 über eine byzantinisch-rusische Schlacht in Thrakien im Herbst 969, VII,9 über erneute Einfälle der »Skythen« in Makedonien sowie VIII,2–7, S. 114–124 über die Eroberung des von »Tauroskythen« besetzten Preslav. Neben der Fundstelle in der vorigen Anm. verzeichnet allein Leon Diakonos die Einnahme Chersons durch die »Tauroskythen« im Jahre 989/990 (X,9, S. 175). Hierzu unten, S. 114ff. Vgl. unten, S. 123. Vgl. hierzu aus der Perspektive des späten 11./frühen 12. Jhs. auch die Povest’ vremennych let unter A.D. 898 (Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 29): »Das slavische Volk aber und das russische sind eins. Von den Warägern her nämlich wurden sie ›Rus’‹ genannt; zuerst aber waren sie Slaven. […] die slavische Sprache war ihnen gemeinsam«. B10+B11, B15-B23. Vgl. unten, S. 138ff.

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sich um kohärente Benennungssysteme bemüht hätte; kategorialer Trennschärfe steht außerdem die Mimesis antiker Vorbilder entgegen.46 Man beobachtet hier eher eine »Logik der Praxis« im Sinne Bourdieus,47 welche den vergleichend beobachtenden, nach Mustern suchenden Forscher mit Problemen innerer Widersprüche konfrontiert. Zudem bot sich den Zeitgenossen stets die Wahl zwischen dem Anknüpfen an die Terminologie antiker Ethnographie, welche letztlich alle Völker aus dem Norden – im Übrigen auch bei Lateinern wie Adam von Bremen48 – zu »Skythen« werden ließ, und der Benutzung aktueller Bezeichnungen.49 Abgesehen von diesen der byzantinischen Literatur inhärenten Unschärfen schritten selbstverständlich auch die beobachteten kulturellen Prozesse fort: Konstantinos Porphyrogennetos beschrieb um die Mitte des 10. Jahrhunderts noch eine Migrantengruppe aus Tributsammlern und Händlern unter einer slawischsprachigen Bevölkerung, die einem auch aus den frühen byzantinischrusischen Handelsverträgen in den Namenslisten entgegentritt. Ihre Rolle in Byzanz lässt sich nicht genauer definieren; zwar finden sich in Konstantinos’ Zeremonienbuch bei einem Empfang von Gesandten aus Bagdad im Mai 946 Ῥῶς in einer Auflistung von Ehrenwachen, die praktisch alle den Byzantinern zur Verfügung stehenden Ethnien umfasst, auch am Tor zum Palast, was den Rückschluss auf die Anwesenheit von Skandinaviern plausibel erscheinen lässt, doch tragen sie Schwert und Schild und werden nicht als Axtträger ausgewiesen wie die Skandinavier frühestens ein Jahrhundert später.50 Äxte als Waffen im zeremoniellen Kontext, in welchem Rho¯s außer an der oben genannten Stelle nicht begegnen, finden sich in den Händen anderer Gruppen, doch scheint es sich hierbei angesichts von Terminologie und Beschreibung um kleine Waffen, nicht um die langstielige nordeuropäische Streitaxt zu handeln, welche im 46 Sie ist wichtiger als ein das jeweils eigene Werk überschreitendes »System«; s. Hunger, On the Imitation [1970] und oben, Anm. 37. 47 Bourdieu, The Logic of Practice [1990], S. 262–270. 48 V.a. Adam I,60, S. 58; II,1, S. 61; III,13, S. 154. 49 Während die Verwendung solcher Ethnonyme allgemein als ein bewusster Rückgriff auf antike Terminologie verstanden wird, versucht Janson, Nordens kristnande [2005], S. 182– 203 plausibel zu machen, dass die Scythia bei Adam (vorangehende Anm.) und auch in Rimberts Anskar-Vita einen synchron real existierenden, im Osten zusammenhängenden kulturellen Raum bezeichne, der seit den Spätantike räumlich konstant sei und sich im Frühmittelalter v. a. dadurch auszeichne, dass dort volkssprachliche, in glagolitischem bzw. kyrillischem Alphabet geschriebene altkirchenslawische und nordgermanische, in Runen geschriebene christliche Texte in Gebrauch gewesen seien. Während die Existenz altkirchenslawischer Liturgie und anderer Texte vollkommen unstrittig ist, sind jedoch die Argumente für analoge Verhältnisse in Skandinavien mehr als dünn. Reduziert man auch die allein angesichts der materiellen Kultur abwegige Annahme praktisch totaler Isolation vom Westen Europas bis ins 10. Jh., die sich v. a. auf Fremdheitstopoi bei Rimbert und Adam stützt, gelangt man erneut zur Erkenntnis, dass »Skythien« aus antiker Perspektive ein vager, fremder Raum nördlich des Schwarzen Meeres ist. 50 DC 2,15, S. 579, Z. 21f.

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11. Jahrhundert das bestimmende ethnographische Merkmal von skandinavischen Migranten in Byzanz werden und auch das Zeremoniell so nachhaltig prägen sollte. Zwar tragen laut De cerimoniis zu verschiedenen Anlässen spatharioi und spatharokandidatoi, makedonische Angehörige der »großen hetaireia« und auch der δρουγγάριος τῆς Βίγλης, quasi der Chef der »inneren Sicherheit« am Palast,51 Beile irgendeiner Art, wohlgemerkt neben anderen Waffen, die als τζικούρια oder διστράλια bezeichnet werden.52 Diese haben aber weder in ihrer Bezeichnung noch der Art, wie sie getragen werden, noch im Personal, welches sie trägt, irgendetwas mit den πελέκεις gemein, die seit der Mitte des 11. Jahrhunderts zum festen Bestandteil des Palastinventars werden.53 Bei Leon Diakonos und besonders in De re militari indes erscheinen die Ῥῶς und der von ihnen hergeleitete Landesname Ῥωσία bereits sehr viel homogener als bei Konstantinos, was nach der Herrschaftsverdichtung am Dnjepr, der Christiani51 Vgl. Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 104f. Reiske (DC, S. 442 und Kommentar DC II, S. 474) identifiziert den droungarios mit dem in DC ebenfalls begegnenden akolouthos, den er für identisch mit dem (vermeintlichen!) Kommandeur der Warangoi hält. In der lateinischen Übersetzung wird denn der δρουγγάριος τῆς Βίγλης im o.g. Kontext (DC, S. 524) auch mit acoluthus übersetzt. Dies ist ein auch in der weiteren Forschung folgenschwerer Irrtum (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 114). Weder dieser akolouthos noch der spätere der Komnenenzeit hat irgendetwas mit Warägern zu tun (vgl. unten, S. 162ff.). Zur hetaireia unten, S. 131f. 52 Fundstellen: 1. zu Festanlässen DC 1,10, S. 72, Z. 24-S. 73, Z. 2 (spatharokandindatoi und spatharioi tragen διστράλια); DC 1,27, S. 148, Z.14–17 (spatharokandidatoi tragen Schilde und διστράλια μονοπέλυκα, spatharioi Schilde und διστράλια). 2. bei Empfängen in der Magnaura DC 2,2, S. 524, Z. 3f. (der droungarios te¯s Wigle¯s trägt ein Schwert, ein μαγλάβιον [Keule] in der rechten Hand und ein τζικούριον über der rechten Schulter). 3. beim Empfang der Gesandtschaft aus dem Kalifat 946, bei dem auch Russen erwähnt sind (vgl. Anm. 237), DC 2,15, S. 576, Z. 2–6/13–16 (Makedonier aus der megale¯ hetaireia tragen μονοπέλυκα τζικούρια/ spatharioi tragen διστράλια). 53 Reiske (DC II, S. 606) ist der Ansicht, der akolouthos, in Wahrheit der droungarios (DC 2,2, S. 524, Z. 3f.), trage eine nordische Streitaxt, und übersetzt τζικούριον mit bipennium, »beidhändig geführte Streitaxt«. Es handelt sich um einen durch deformierendes Kontextwissen, nämlich die vermeintliche Rolle des akolouthos, bedingten Fehlschluss. Einerseits hält der droungarios in der rechten Hand bereits eine Keule, weshalb die (kleine) Axt auf der rechten Schulter in einer Tasche, Schlaufe oder einem ähnlichen Wehrgehenk befestigt sein muss; aufgrund der Erwähnung an anderen Stellen in diesem und anderen Texten handelt es sich beim tzikourion (< securis) einwandfrei um eine kleine (Wurf-)Axt mit doppeltem Blatt, möglicherweise um eine Adaption fränkischer Vorbilder, beim distralion um ein größeres Beil mit einer Schneide mit gegenüberliegendem Hammer oder Picke, womit auch und gerade Werkzeugäxte eingeschlossen waren, die von Soldaten zur Befreiung des Wegs von Gehölz benutzt wurden (auch als ἀξίνη bezeichnet, s. Constantine Porphyrogenitus: Three Treatises, ed. Haldon [1990], C, Z. 558, S. 136; Three Byzantine Military Treatises, ed. Dennis [1985], S. 60; Campaign Organization, ed. Dennis [1985], S. 294, hier auch mit dem Synonym πέλεκυς). Vgl. hierzu Dawson, Suntagma Hoplôn [2002], S. 84; Kolias, Byzantinische Waffen [1988], S. 165–170. Neben fränkischem Einfluss auf Äxte als Wurfwaffen kommt auch die begrenzte Übernahme persischer Reitereiäxte in Frage. Beide o.g. Typen in DC jedenfalls sind nicht erkennbar skandinavischer bzw. rusischer Herkunft und zeigen keinerlei ethnographische Konnotation.

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sierung sowie dem Heiratsbündnis zwischen Basileios II. und Vladimir kaum verwundert.54 Die Bezeichnung war während der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts auf alle Rus’ übergegangen und umfasste um das Jahr 1000 eine kulturelle Formation, die zwar ganz wesentlich durch Migration und kulturelle Interaktion in verschiedene Richtungen – nach Norden, nach Süden und zur Steppe – zu Stande gekommen, jedoch an einen bestimmten Raum um Kiev rückgebunden war. Es steht angesichts byzantinischer Zeugnisse, aber auch von Erkenntnissen der Archäologie außer Frage, dass unter den funktionalen Eliten der Ῥῶς um die Jahrtausendwende zahlreiche Menschen skandinavische Vorfahren hatten oder einige gar selbst aus Skandinavien gekommen waren. Freilich war ihre Anzahl insgesamt nicht sonderlich groß und zudem waren sie kulturell, auch sprachlich, nicht länger distinkt von ihrer Umgebung;55 dafür waren kulturelle Prozesse geprägt von benachbarten Kulturformationen, sowohl in der Steppe als auch dem Byzantinischen Reich.56 Diese Entwicklung ist mitzudenken, wenn man byzantinische Äußerungen über Ῥῶς beobachtet. Sie erhellt Differenzen in der Semantik des Wortes, wie sie sich zwischen De administrando imperio und dem Taktikon Vári zeigen, verlangt aber gerade deshalb eine konsequente Trennung von Textaussagen nach deren Entstehungszeit. Migration auf dem »Ostweg« und die Zahl skandinavischer Söldner Insofern erscheinen die Aussagen der Povest’ vremennych let, Vladimir habe im Jahre 980 zahlreiche varjagi, die mit ihren Einkünften aus Beute und Sold unzufrieden gewesen seien, nach Konstantinopel entlassen,57 ebenso wie deren Bezeichnung als Ταυροσκύθαι bei Michael Psellos im gleichen Kontext und in Abgrenzung zu seinem Gebrauch der Bezeichnung Ῥῶς oder Σκύθαι für Rus’58 nicht unproblematisch: Der Kiever Chronist schrieb im zweiten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts, Psellos verfasste den fraglichen Abschnitt seiner Chronographia im Zeitraum zwischen 1059 und 1063.59 Für beide lagen die Ereignisse des späten 10. Jahrhunderts weit außerhalb ihrer Lebensspannen und auch für den etwa achtzig Jahre nach den Ereignissen schreibenden Psellos am äußersten 54 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 169–180; Mel’nikova, Ancient Rus’ and Scandinavia [1995]. 55 Tolochko, 2001 [2001]; Jansson, Situationen i Norden [2005], S. 40–43. Zur geringen Zahl auch Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 124–131. 56 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 169f.; Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 425–432; Schorkowitz, Cultural Contact [2012]. 57 Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 96f. 58 B2. 59 Hunger, Literatur [1978], S. 378; Pietsch, Chronographia [2005], S. 5f.

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Rande dessen, wozu das kommunikative Gedächtnis noch Informationen liefern konnte.60 Der Zeitraum, über den er vom Hof aus eigener Anschauung berichtet, beginnt bei ihm 1041,61 zu einer Zeit also, als etwa ein Haraldr Sigurðarson sich auf Sizilien seine Meriten erworben hatte, bevor er in seine Heimat zurückkehrte, von welcher der Zeitgenosse Kekaumenos zu berichten weiß, dies sei die Βαραγγία – und eben nicht die Ῥωσία, deren Bewohner 1043 Konstantinopel angriffen:62 Was Psellos in seiner Lebenszeit beobachten konnte, nahm sich anders aus als ein halbes Jahrhundert zuvor. Damit schwindet nicht die Tatsache, dass um 988 zahlreiche Krieger von Norden her Konstantinopel erreichten und von Basileios II. erfolgreich eingesetzt wurden und dass dies etwa im Taktikon Vári seine Spuren hinterließ, doch stellt sich angesichts der Entwicklung der Kiever Rus’ seit dem späten 10. Jahrhundert nachdrücklich die Frage, ob die Autoren in ihrer Vorstellung, Rus’ und »Waräger« seien zu unterscheiden, nicht jeweils gegenwärtige Konzepte des späteren 11. beziehungsweise frühen 12. Jahrhunderts rückprojizieren. Im Anschluss daran fragt sich, inwiefern sich aus diesen späten Informationen über die vermeintliche »Gründung der Warägergarde«63 irgendetwas Verlässliches über deren »skandinavische« Identität aussagen lässt. Das Problem unterstreicht der von Blöndal unkritisch hinzugezogene armenische Historiograph Stephan Asołik von Taron:64 Er erwähnt am Ende seiner Weltchronik, welche er im 11. Jahrhundert verfasste, unter dem Jahr 1000 eine Begegnung zwischen Bagrat III. von Abchasien, Gurgen von Georgien und Basileios II. in Armenien:65 Und an demselben Tage, als er [Basileios] weitergehen wollte, brach im Lager der Griechen aus ganz unbedeutender Ursache ein großer Kampf aus. Es lagerten nämlich 60 Zum kommunikativen Gedächtnis vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis [2005], S. 48–56, der in Anlehnung an Vansina, Oral Tradition [1985], S. 23f. die Reichweite des kommunikativen (Alltags-)Gedächtnisses mit maximal acht Jahrzehnten beziffert. Zwischen ihm und dem kulturellen Gedächtnis, das eine signifikant reduzierte und transformierte Informationsmenge rituell oder textuell bewahrt, liegt das so genannte floating gap, ein mitwandernder Zeitraum des »Gedächtnisverlusts« am Übergang zwischen beiden Erinnerungsformen, der im Falle von Psellos bereits die fraglichen Jahrzehnte erfasst haben sollte. 61 Hunger, Literatur [1978], S. 377; Pietsch, Chronographia [2005], S. 41–44, 63. 62 Der Bericht findet sich bei Psellos 6,90, Bd. II, S. 8–12. 63 Blöndal, S. 92. Sehr plakativ formuliert bei Benedikz, Varangian Regiment [1969], S. 23f.; Blöndal (Benedikz), S. 45. Vgl. auch die Illustration ebd. gegenüber der Titulatur, welche eine bekannte Buchillumination Basileios’ II. in martialischer Pose zeigt mit der Unterschrift: »Basil II. Emperor of the East, 976–1025. Founder of the Varangian Regiment.« Das Original zeigt sie nicht. Dieses »Gründungsdatum« ist gemeinhin akzeptiert, vgl. die Literatur in Anm. 35 auf S. 28 sowie die Ausführungen unten, S. 259ff. 64 Vgl. auch die häufige Übernahme durch andere Forscher (Anm. 35 und Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 279f.). 65 Stephan v. Taron: Armenische Geschichte, ed. Gelzer/Burckhardt [1907], S. 210f. Vgl. auch Aristakes Lastisvertsi: Histoire, ed. Prud’homme [1864], Kap. 1, S. 9 ohne Angabe der Zahl an Rus’.

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die Fürsten und Edlen des Kuropalaten Davith in der Nähe des griechischen Heeres. Als nun vom russischen Fußvolk einer hinausging, um für sein Pferd Gras zu holen, wollte ihm einer von den Iberern [i. e. Georgiern, R.S.] dies entreißen. Als | jener aber schrie, kam ihm einer von den Seinigen zu Hilfe. Als nun gleicherweise seinerseits der Iberer den Seinigen zurief, kamen einige und töteten den erst (genannten) Russen. Hierauf aber erhob sich das gesamte Volk der Russen, die an jenem Orte waren, zum Kampfe – es waren aber 6000 Fußsoldaten, mit Speer und Schild bewaffnet, die der Kaiser Wasil von dem Könige der Russen sich erbeten hatte, als er ihm seine Schwester zu Ehe gegeben hatte, zu welcher Zeit sie auch zum Glauben an Christum übergetreten waren.

Ganz abgesehen von der äußerst fragwürdigen Zahl, die jedoch seit Blöndals Verknüpfung gemeinhin als gegeben akzeptiert wird, obschon sie eine zum Kontext passende biblische Parallele aufweist,66 ist vor allem bemerkenswert, dass Stephan als zeitlich nächster Autor diesen Rus’ nichts von alldem zuschreibt, was den Byzantinern bald als typisches ethnisches Kennzeichen von Skandinaviern gelten sollte: Weder hebt der Armenier sie im Ethnonym von »slawischen« Rus’ ab, noch beschreibt er sie als Axtträger, wie es alle byzantinischen Autoren seit Michael Psellos tun; die Rus’ sind bei ihm mit Schilden und Speeren bewaffnet. Dass Stephan mit jenen 6000 Kriegern skandinavische Migranten vorrangig aus dem heutigen Schweden beschreibt, wie Blöndal meint,67 ist höchst unwahrscheinlich und wäre allein schon aufgrund ihrer hohen Zahl abwegig, nähme man sie denn wörtlich: Es ist anhand der vorgefundenen Gräber davon auszugehen, dass die Bevölkerung der Mälar-Region, also derjenigen Zentrallandschaft, von der aus die meisten Fahrten nach Osteuropa unternommen wurden, sich im Laufe der Wikingerzeit von 20.000 auf 40.000 verdoppelte.68 Nähme man eine skandinavische, vorwiegend schwedische Herkunft der 6000 Rus’ in Armenien an, hätte sich also eine Menge, welche die Zahl aller freien Männer im waffenfähigen Alter aus dem Einzugsgebiet des Mälarsees bei weitem überträfe, in byzantinischen Diensten befunden. Selbst wenn man einen erheblich größeren Einzugsbereich im Norden für Fahrten nach Byzanz annimmt, wäre eine solche Zahl an skandinavischen Migranten, welche ja immer nur einen Teil der Skan66 1 Sam 13,5 (s. Lexikon d. Zahlenbedeutungen, ed. Meyer/Suntrup [1987], S. 875). Dort rüsten sich die Philister, durch einen Mord an einem der ihren provoziert, mit 6000 Mann zum Angriff auf Israel. Hier wie bei Stephan geht die Provokation von einem Totschlag am Gegner aus, der dann 6000 Mann mobilisiert. Generell orientieren sich Zahlen bei Schlachten gern an symbolisch konnotierten Zahlen und verschiedenen Vielfachen davon, was für Westeuropa Wallace, Warriors and Warfare [2011], S. 20–47, bes. 46f. eindrücklich zeigen kann. 67 Blöndal, S. 91/44f. vertritt die Ansicht, es handele sich im Wesentlichen um die »Schweden«, welche Vladimir bei der Eroberung Kievs zur Verfügung gestanden hätten und dann 988 nach Byzanz weitergeschickt worden seien. 68 Hyenstrand, Centralbygd – randbygd [1974] stellte diese Berechnungen aufgrund der Zahl von Hofstellen im gesamten Mälaren-Bassin (exkl. Närke) an. Der Anteil freier, abkömmlicher Männer im waffenfähigen Alter dürfte 10 % der Bevölkerung kaum überschritten haben.

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dinavier in der Rus’ darstellte, wohl kaum zu erreichen.69 Irgendwoher müssen schließlich auch die zahlreichen Skandinavier gekommen sein, die sich um jene Zeit etwa in England aufhielten, und von einer Personalverknappung in den kriegerischen Schichten innerhalb Skandinaviens ist um jene Zeit ebenfalls nichts bekannt. Zum Vergleich zur Fiktion von 6000 »Warägern« ließen sich zunächst drei relativ ereignisnahe Beispiele aus der schriftlichen Überlieferung anführen, eines aus der byzantinischen Literatur, eines aus einem Skaldengedicht und eines aus der norrönen Gegenwartschronistik um 1200: Kekaumenos berichtet, Haraldr Sigurðarson sei mit 500 Mann in Konstantinopel erschienen.70 Dieses Gefolge war bereits riesig für einen Kriegsherrn,71 wurde, so scheint es, entgegen der sonst erkennbaren byzantinischen Praxis der Aufteilung fremder Soldatenkontingente72 zumindest auf Sizilien geschlossen eingesetzt und stellte höchstwahrscheinlich einen erheblichen Anteil all jener norwegischen Exilanten dar, welche die Schlacht von Stiklestad 1030 überlebt hatten, in der Óláfr Haraldsson, Haralds Halbbruder, gefallen war, erweitert um andere Skandinavier aus der Rus’, kurz: Es handelte sich um einen nicht unerheblichen Teil der norwegischen und übriger skandinavischer Krieger zu jener Zeit. Ein synchroner Seitenblick auf das dänisch beherrschte England bekräftigt diese Annahme, berichtet das Anglo-Saxon Chronicle doch davon, dass Knud der Große, der Beherrscher Englands, Dänemarks und Norwegens, sowie sein Sohn Harald dauerhaft eine Flotte von 16 Schiffen unterhalten hätten, die laut einer anderen Tributberechnung im selben Kontext etwa 65 hamele (»Ruderlöcher«/ »Riemen«) pro Schiff ergibt. Folgt man der gängigen Ansicht, dass es sich hierbei weniger um die physische Anordnung auf einem »Standardschiff« handelte, sondern um die Größe der rudernden Mannschaft, lässt sich auf eine Kriegergruppe von etwa 1000 bis 1500 Mann schließen, welche dem seinerzeit mit großem Abstand mächtigsten Herrscher Nordeuropas, dem Basileus Anglorum, unmittelbar und dauerhaft zur Verfügung stand.73 Das zweite Beispiel, Einarr 69 Ähnlich skeptisch äußert sich Larsson, Väringar [1991], S. 33. 70 B11. 71 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 194f. schätzen die Größe der druzhina, des direkten kriegerischen Gefolges der Kiever Fürsten auf ca. 700 Mann, was gut zu den 1000–1500 Mann in der ständigen Flotte Knuds des Großen passt. Die 500 Mann, welche Haraldr angeblich mit sich führte, spiegeln im Vergleich zu solchen Größenordnungen einen sehr hohen sozialen Status. 72 Dies war zumindest im 12. Jh. der Fall (unten, S. 218), und auch die Rho¯s, die 902 nach Kreta eingeschifft werden, sind auf die ganze Flotte verteilt (unten, S. 96 mit Anm. 90). Auch das Taktikon Vári spricht von solchen Rho¯s, die den Basileus begleiten und solchen, die mit der Kavallerie reiten (oben, S. 83 mit Anm. 33f.). 73 Im Anglo-Saxon Chronicle, ed. Plummer [1892], S. 161 sub A.D. 1039 sind die 16 Schiffe als Größe der regelmäßig unterhaltenen Flotte angeführt; für jedes hamele seien acht Mark gezahlt worden. Selbstverständlich wurden auch Abgaben für größere Flotten gesammelt: Sub A.D. 1040 wird von einem Tribut von 21.099 Pfund für 62 Schiffe Hårdeknuds bei 8 Mark je

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Skúlasons Gedicht Geisli über Óláfr inn helgi, wahrscheinlich 1153 erstmals vorgetragen, berichtet über den Beistand des Heiligen für die Væringjar des Basileus, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Schlacht von Beroe gegen die Petschenegen 1122 unter Nennung des Gewährsmannes, eines auch in Orkneyinga saga,74 Morkinskinna75 und abhängigen Texten häufig firmierenden Warägers namens Eindriði ungi: Damals, zu einer Zeit, als die Komnenoi an der Spitze großer Heere in den Krieg zogen und einen Großteil, wenn nicht alle ihrer stehenden Einheiten mobilisierten, »die immer unter dem Befehl des Krieg führenden Basileus standen«76, hätten viereinhalb hundert Væringjar – 520 Personen – gegen die Heiden gekämpft.77 Die Sverris saga schließlich berichtet für das Jahr 1195 von einer Gesandtschaft im Auftrage des Basileus Alexios III. Angelos, die den König Sverrir von Norwegen, Knud IV. von Dänemark sowie Knut Eriksson von Schweden um jeweils 1000 beziehungsweise 120078 Söldner gebeten habe; eine solch empfindliche Verringerung seiner Menge an Kriegern habe Sverrir jedoch in seiner unsicheren Situation im Lande nicht hinnehmen wollen und lediglich die Anwerbung freier Bauern gestattet. Freilich sind auch solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen, doch vermitteln sie in ihrer jeweils vergleichbaren Größe einen Eindruck davon, was unter »großen« Truppenkontingenten zu verstehen ist. Dazu ist anzumerken, dass die Bevölkerung in Skandinavien um 1200 sich gegenüber der Wikingerzeit bereits mehr als verdoppelt hatte und man für Norwegen zu jenem Zeitpunkt schon mit etwa einer Viertelmillion Menschen rechnen muss, erheblich mehr als etwa zu Zeiten Óláfs des Heiligen.79 Am Kreuzzug des Königs Sigurðr Jórsalafari, dem größten skandinavischen Expeditionsunternehmen im Mittelalter jenseits des Baltikums,

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hamele sowie nochmals von 11.048 Pfund für 32 Schiffe berichtet. Bei 1,5 Mark je Pfund ergibt sich eine Anzahl von etwa 65 hamele je Schiff, was sich am wahrscheinlichsten auf die Ruderer selbst beziehen lässt, jedoch aufgrund des unklaren Verhältnisses zwischen Pfund und Mark eine gewisse Unsicherheit enthält (vgl. Keynes, Diplomas [1980], S. 225; Lawson, Cnut [1993], S. 183 kommt aufgrund eines anderen Verhältnisses auf insgesamt ca. 80 Mann pro Schiff). Die meisten Schiffe jener Zeit hatten im Durchschnitt höchstwahrscheinlich nicht mehr als 20 Riemenpaare (Brøgger/Shetelig, Vikingeskipene [1950], S. 208; Rodgers, Cnut’s Geld [1995], S. 398–401; Bill, Viking Ships [2008], S. 175f.), so dass etwa die doppelte Anzahl an Besatzung im Verhältnis zu den Riemen plausibel scheint (Rodgers, Cnut’s Geld [1995], S. 401–403). Auch bei großzügig gerechneten 100 Mann pro Schiff käme man auf kaum mehr als 1500 zu bezahlende Krieger für die dauerhaft unterhaltene Flotte durch Knud den Großen. NI 44ff. NI 153. ἄνδρες, οἳ ἔθος ἀεὶ ὑπὸ βασιλεῖ πολεμοῦντι τάττεσθαι ἦν (Ioannes Kinnamos, B 60). NI 19 und NI 155. Üblicherweise rechnen Texte jener Zeit mit dem »Großhundert« aus zehn Dutzend. NI 37. Um 1050 dürften etwa 170.000 Menschen in Norwegen gelebt haben ( Jón Viðar Sigurðsson, Norsk Historie [1999], S. 195f.). Auch hier kann also zwischen dem 10. und 12. Jh. von einer Verdoppelung von etwa 100.000 auf über 200.000 Menschen ausgegangen werden.

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hatten zu Beginn des 12. Jahrhunderts etwa 5000 Personen teilgenommen, wenn man die Feststellung der Morkinskinna, der König sei mit sechzig Schiffen aufgebrochen, zu Grunde legt.80 Auch in der Rus’ selbst war der Herrscher Kievs nach Aussage der Povest’ vremennych let ein Jahrhundert nach Vladimir nicht allein in der Lage, 8000 Krieger für den Kampf gegen die Kumanen aufzustellen.81 Die Ressourcen waren also begrenzt, und auch die Nestorchronik beziffert die Masse der Waräger, welche Jaroslav im Jahre 1015 über die Ostsee holte, mit eintausend Mann, sein ganzes Novgoroder Heer auf viertausend.82 Im Lichte dieser Zahlen wird deutlich, dass es sich bei den zahlreichen Rus’, die Stephan Asołik für das Jahr 1000 erwähnt, kaum mehrheitlich um Migranten aus dem skandinavischen Raum gehandelt haben kann, selbst wenn man davon ausgeht, ihre Zahl sei erheblich kleiner als die von ihm genannten 6000 gewesen. So rechnet Mats Larsson aufgrund archäologischer und runologischer Untersuchungen, die auf einer Extrapolation der rekonstruierten Fahrtenanzahl aus Mittelschweden nach Byzanz auf ganz Skandinavien beruht, mit der kontinuierlichen Anwesenheit von etwa 500 bis maximal 1000 Skandinaviern in Byzanz während der Zeit, in welcher Runensteine errichtet wurden (ca. 1010–1090), und postuliert daher eine Anzahl von insgesamt etwa 4000 bis 8000 skandinavischen Byzanzmigranten im gesamten Zeitraum von acht Jahrzehnten.83 Diese Schät80 NI 134. Die Zahl der Schiffe wird bestätigt durch arabische Historiographen und Kreuzfahrerhistoriographie (s. Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 245); Albert of Aachen: Historia Ierosolimitana, ed. Edgington [2007] XI,26–34, S. 798–808 indes behauptet, Sigurðr habe 10.000 Mann bei sich gehabt, was aber eine fingierte Zahl sein dürfte, die auch nirgends sonst bestätigt ist. Vgl. aber oben, Anm. 73: Knapp 100 Mann pro Schiff scheinen eine plausible Schätzung zu sein. Man darf schließlich nicht die besonders großen Schiffe mit mehr als 30 rúm zur Grundlage nehmen, welche die Autoren der Konungasögur als Superlative hervorheben, und die Schiffe mussten neben der Besatzung mehr Proviant tragen, als bei kürzeren Expeditionen üblich war. Die Stärke der Armee bei Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 245 (10000) in Anlehnung an Albert scheint zu hoch gegriffen. Die Schätzung von Blöndal, S. 213/137 (nicht weniger als 6000, Benedikz macht daraus mindestens 6000–8000), die also mindestens 100 Mann pro Schiff ansetzt, liegt eher am oberen Rand dessen, was plausibel erscheint. 81 Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 257f. (A.D. 1093); vgl. zur zahlenmäßigen Größe von Heeren in der Rus’ Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 198. 82 Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 175 (A.D. 1015); Erste Novgoroder Chronik, ed. Dietze [1971], S. 51 (A.D. 1016). 83 Larsson, Runstenar och utlandsfärder [1990], S. 121–124. Er berechnet den Anteil der Auslandsfahrersteine an Runeninschriften auf mittelschwedischen Steinen mit memorialen Inhalten (insgesamt etwa 10 % mit lokalen Spitzen von bis zu 24 %) und setzt den Anteil von Steinsetzungen insgesamt in ein Verhältnis zu einer auf Basis der Anzahl an Hofstätten rekonstruierten Anzahl von Todesfällen im fraglichen Zeitraum (vgl. hierzu Hyenstrand, Centralbygd – randbygd [1974]), woraus er ableitet, dass insgesamt zwischen 1010 und 1090 zwischen 3000 (bei 10 % Anteil der Todesfälle) und über 8000 (bei 24 % der Todesfälle, was eine hohe »Dunkelziffer« bei den Inschriften voraussetzte) Menschen aus Mittelschweden irgendwo im Ausland verstorben sein müssen, wovon nur ein Bruchteil auf Byzanz entfallen

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zung lässt sich bereits als optimistisch bezeichnen, weil sie davon ausgeht, dass der mittelschwedische Raum (Uppland und Södermanland), dessen Migranten sich aufgrund der Inschriften während des 11. Jahrhunderts in besonderer Weise verfolgen lassen,84 in etwa denselben Anteil an skandinavischer Migration nach Byzanz beisteuerte wie andere skandinavische Regionen. Die materielle Kultur der schwedischen Ostküste und Gotlands deutet jedoch darauf hin, dass Migrationen von dort in die Rus’ und nach Byzanz durchaus häufiger gewesen sein können als aus anderen Regionen und in der Regel kleinere Gruppen umfassten,85 sieht man von Haralds wahrscheinlich überwiegend norwegischem Gefolge aus 500 Mann und einer eher kurzfristigen, aber heftigen angelsächsischen Emigrationswelle im späten 11. Jahrhundert einmal ab.86 Die Vorstellung, dass sich vom späteren 10. Jahrhundert an kontinuierlich eine satt vierstellige Anzahl kann. Eine Zahl von etwa 1000 Byzanzmigranten pro Jahrzehnt setzte bereits ein Mehrfaches dessen voraus, als die Runensteine nahelegen und schlösse eine hohe Zahl ohne Runengedenken aus der lokalen Gesellschaft Verschwundener mit ein. 84 Ein weiteres Problem bildet die Frage nach dem Zusammenhang der Praxis, Runensteine zu errichten, mit tatsächlicher Mobilität. Larsson, Runstenar och utlandsfärder [1990], S. 123 ( jedoch mit Vorbehalten aufgrund der mittelalterlichen Landschaftsrechte, S. 127f.) und Jansson, Runes in Sweden [1987], S. 38 etwa rechnen damit, dass das Ende der Praxis auch das Ende der Wikingerfahrten und damit von starker Mobilität in den Oberschichten kennzeichne. Dagegen wendet sich Sawyer, Viking-age Rune Stones [2000], S. 16, welche die von Larsson (vorige Anm.) hervorgehobene Tatsache betont, dass Auslandsfahrersteine nur einen Bruchteil des Gesamtcorpus ausmachen und die soziale Funktion der Steine eine lokale war. Den memorialen Charakter der Steine, der mehr mit dem Entwicklungsstand der Kirchenstrukturen und institutionalisierter Memoria als mit Auslandsfahrten zu tun hat, betonen auch Föller, »Rate, wer es kann!« [2009]; Düwel, Runenkunde [2001], S. 95–97. Letztlich nimmt die Zahl der Byzanzmigranten mit den Kreuzzügen eher zu als ab. Die Tatsache, dass keine lokale, hochmittelalterliche schwedische Historiographie existiert, welche Detailwissen zum 12. Jh. bewahrt, belegt noch nicht, dass für Schweden ein anderes Migrationsmuster gilt als für andere skandinavische Regionen. 85 Zur ungleich schwächeren Prägung der materiellen Kultur etwa Norwegens durch osteuropäische Verbindungen im Vergleich zum Ostseeraum vgl. Tsigaridas Glørstad, From Byzantium [2013], S. 94–98. Zur Gruppengröße Larsson, Runstenar och utlandsfärder [1990], S. 125. Es stellt sich wiederum die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Inschriften und materieller Kultur, und inwiefern eventuell segmentierte Handelsbeziehungen, die sich in Fundhorizonten ausdrücken, etwas über die Migration von Kriegern aussagen. Während Düwel, Handel und Verkehr [1987], S. 315–319 die Griechenland-Steine im Zusammenhang mit Handelsfahrten sieht, bestreitet Larsson, Runstenar och utlandsfärder [1990], S. 126f. dies v. a. aufgrund der Tatsache, dass byzantinische Münzen in der Region nur einen verschwindend geringen Anteil des überwiegend deutschen Fundmaterials ausmachen. Das mehr oder weniger einzige direkt verhandelte Gut von Schweden nach Byzanz sei im 11. Jh. eben die eigene militärische Arbeitskraft gewesen, wovon die Runensteine höchstwahrscheinlich zeugten. Vgl. zur Ablehnung der Deutung byzantinischer Funde im Norden aus Militärdienst auch die Literatur in Anm. 130. 86 Hierzu v. a. Dawkins, Later History [1947]; Shepard, Another New England? [1974]; Ciggaar, L’émigration anglaise [1974]; Rogers, Anglo-Saxons and Icelanders [1981]. S. außerdem unten, S. 187ff.

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an Skandinaviern in byzantinischen Diensten befunden habe, erscheint vor diesem Hintergrund alles andere als zwingend, ebenso wie die Vorstellung, eine solch verhältnismäßig kleine Gruppe habe ein eigenständiges tagma gebildet.87 Kehrt man nun zu Stephan Asołiks Beschreibung zurück und nimmt seine Schilderung der »rusischen« Bewaffnung mit Speeren ernst, schwindet der skandinavische Charakter jener Truppen. Zieht man dann noch das etwas ältere byzantinische Taktikon Vári vom Ende des 10. Jahrhunderts hinzu, das die Ῥῶς als potentielle Kavalleristen beschreibt und auf welchem Blöndal ein Gutteil seiner Argumentation über eine »Garde« aufbaut, wird das Bild im Gegensatz zu demjenigen der »Væringjasaga« und von ihr abhängigen Arbeiten vollends nebulös, zumindest gemessen an der Erwartung, man könne diesen Ῥῶς einen eindeutigen ethnischen Status zuschreiben. In der Tat bildet die semantische Mehrdeutigkeit des Wortes zwischen den ersten Erwähnungen im 9. Jahrhundert und der Emergenz des Terminus Bάραγγος im 11. Jahrhundert die kulturelle Vielfalt und den Wandel in der Dnjepr-Region ab.88 Hieraus erhellt auch, dass die Zahlen an Ῥῶς, die sich in byzantinischen Quellen des 10. und 11. Jahrhunderts verfolgen lassen und welche durchaus als Gefolgschaften mit jeweils mehreren hundert Mann nach Konstantinopel gelangt sein mögen, keine sicheren Rückschlüsse auf die Anzahl an Skandinaviern in byzantinischen Diensten ermöglichen. Sonderlich groß sind sie freilich nicht, was dafür spricht, dass die fraglichen Migranten in die mikre¯ hetaireia, das überwiegend aus Barbaroi bestehende »geringere« Gefolge der Basileis aufgenommen wurden und kein gesondertes tagma bildeten,89 das auch nirgends belegt ist: In De cerimoniis sind Listen der rhogai für 700 Ῥῶς (bei einer Gesamtstärke der Expedition von über 12.000 Mann!) beziehungsweise 629 Ῥῶς erhalten, die in den Jahren 902 und 949 für byzantinische Expeditionen gegen das muslimisch kontrollierte Kreta eingesetzt wurden, jedoch nicht geschlossen, sondern auf die Flotte verteilt. Weiterhin ist dort die Entsendung von 415 Ῥῶς gemeinsam mit einer byzantinischen berit87 Die Sollstärke eines Tagmas ist aufgrund der Quellensituation umstritten und machte bis zum 11. Jh. offensichtlich einen Wandel hin zu geringeren Truppenstärken durch. Treadgold, Notes on the Numbers [1980] rechnet für das 9. Jh. mit einer Stärke von 4000 Mann je Tagma, Haldon, Warfare [1999], S. 103 schätzt die tatsächliche Stärke vorsichtiger auf etwa 1000–1500 Mann. Da ein Tagma, soweit erkennbar, aus 20 bis 30 banda als operativen Standardeinheiten bestand, deren (Soll-)Stärke das Taktikon Leons VI. um 900 mit 200–400 Mann angibt, die aber im Laufe des 10. Jhs. auf real ca. 50 Mann sank (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 56f.), scheint eine tatsächliche Größe der Tagmata von mindestens 1000 Mann, wahrscheinlich mehr, für die Zeit um die Jahrtausendwende realistisch. Ende des 10. Jhs. ist mit einer Iststärke der Σχολαί von etwa 30 banda = 1500 Mann auszugehen (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 87), die im 11. Jh. eher zu- als abnahm (ebd. 243). 88 So auch Schreiner, Zum Bild der Russen [1992], S. 417f. 89 Vgl. zu hetaireia unten, S. 132f. Die Annahme bei Blöndal, S. 93/46, die Ῥῶς im Taktikon Vári gehörten zur »großen« hetaireia, ist angesichts ihrer exklusiven Zusammensetzung und der exorbitanten Eintrittsgelder unwahrscheinlich.

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Von Warangoi und Axtträgern

tenen Armee von 1453 Mann in die Longobardia 935 dokumentiert,90 und Ioannes Skylitzes berichtet von einem gewissen Chrysocheir, einem angeblichen Verwandten Vladimirs des Heiligen, der 1024 mit einem Gefolge von 800 Mann vor Konstantinopel aufgetaucht sei und vorgegeben habe, in den Dienst Basileios’ II. treten zu wollen, dem der Basileus aber zu Recht misstraut habe.91

Basileios II. als Gründer einer »Warägergarde«? Dass man mit den kriegerischen Gefolgen aus der Ῥῶς, die wie andernorts jeweils die Größe von mehreren Hundert erreichen konnten und von denen mehrere zugleich Byzanz erreicht haben können,92 grundsätzlich auch Skandinavier und damit potentielle Akteure von Kulturtransfer greift, sei hiermit nicht bestritten; dass man diese aber aus den vielfach verwobenen kulturellen Prozessen und sich überlagernden und neu formenden regionalen Identitäten in der Kiever Rus’ und ihrer Personenverbände herauslösen kann, sehr wohl. Der byzantinische Sprachgebrauch um die Jahrtausendwende legt in keiner Weise nahe, dass die Byzantiner zwischen »Slawen« und »Skandinaviern« unterschieden93 oder dass sie etwaige Unterschiede im Migrationsverhalten von »einheimischen« Ῥῶς aus der Kiever Region und von »skandinavischen« Ῥῶς etwa aus der Mälaren-Region wahrnahmen. Die so wirkmächtige »Væringjasaga«94 verschleiert dies gezielt, denn Blöndal leitet aus Erwähnungen von Ῥῶς, welche Basileios im Feld begleiten, zuerst die Tatsache ab, dass es eine ethnisch spezifische Gardeeinheit gab, bezeichnet diese zunächst ohne Quellengrundlage synonym als »Rússar« und »Væringjar« (beziehungsweise »Russians« und »Varangians«) und, sobald die elitäre Gardeeinheit des Basileios als solche benannt wird, nur noch als 90 DC 2,44, S. 652, Z. 10–14/654, Z. 1–12 (902, hier auch der Vermerk über die Verteilung auf die Schiffe); DC 2,45, S. 664, Z. 15f./ 667, Z, 17f./674, Z. 9–11 (949); DC 2,43, S. 660, Z. 8f. (935). Vgl. zu den ersten beiden Fundstellen Blöndal, S. 65–67/27, zur ebd. behandelten rhoga, dem Sold, unten, S. 132f. 91 Skylitzes, Basileios II./Konstantinos VIII., Kap. 46, S. 367f. Die Spekulationen bei Blöndal, S. 97f./49f. über mögliche skandinavische oder angelsächsische Vorbilder für den griechischen Namen (Auðmundr/Eadmund) und die Suche nach solchen Namen etwa in der Snorra Edda sind müßig, weil sie allein auf der Vorannahme über eine solche Identität aufbauen, nicht aber auf der Quelle selbst. 92 Franklin/Shepard, 194f., schätzen die Größe des pers. Gefolges, der druzhina eines lokalen Fürsten auf etwa 100 bis maximal 700 Mann. 93 Dieser Ansicht ist Blöndal, S. 91/44f., kann dafür aber keine zeitgenössischen Quellen anführen; sein Verweis auf Riant, Skandinavernes Korstog [1868] ist unergiebig. Die normannischen Historiographen aus Süditalien, die er nicht namentlich anführt und welche »Russen« und »Waräger« trennen, schreiben ganze 100 Jahre später und übernehmen ein ausdifferenziertes byzantinisches Begriffssystem ihrer Gegenwart, wie zu zeigen sein wird. 94 Die Gründung der »Garde« durch Basileios gilt gemeinhin als Tatsache, vgl. die Literatur in Anm. 35.

Ῥῶς in Byzanz und die Problematik »ethnischer« Bezeichnungen

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»Væringjar« beziehungsweise »Varangians«.95 Der Anstrich einer für Basileios’ Zeit gar nicht vorhandenen Quellenbasis wird folgendermaßen erzeugt: »Þessi Væringjasveit varð smám saman kjarninn í lívörðunum, og um hann hefur áreiðanlega gilt sama regla og um aðrar lífvarðsveitir, að þar voru eingöngu teknir úrvalsmenn, og þeir urðu að gjalda háan inngangseyri, enda var málinn hár og miklar aukagjafir. Þessi sveit var svo nefnd »Væringjar í (höfuð-)borgarinni« (hoi en te polei Barangoi, frb. í en tí poli Varangí), og með því greindir frá öðrum Væringjasveitum, sem einu nafni voru kallaðar »Væringjar utan (höfuð-)borgarinnar« (hoi exo tes poliós Barangoi, frb. í exo tis polios Varangí); þær sveitir voru notaðar í herþjónustu (oft sem setulið eða á flotanum) hingað og þangað, eftir þörfum, en sjálfur lífvörðurinn ekki utan höfuðborgarinnar, nema keisarinn sjálfur væri með.« »Diese Warägereinheit wurde allmählich der Kern der Leibwache, und für sie galt sicher die gleiche Regel wie für andere Gardeeinheiten, dass ausschließlich handverlesene Männer aufgenommen wurden; sie mussten eine hohe Eintrittsgebühr zahlen, dafür war der Sold hoch, und es gab zahlreiche Sonderzahlungen. Diese Einheit wurde »(Haupt-)Stadt-Waräger« (hoi en te polei Barangoi, sprich í en tí poli Varangí) genannt und so von anderen Warägereinheiten unterschieden, die »Waräger außerhalb der (Haupt-)Stadt« (hoi exo tes poliós Barangoi, sprich í exo tis poliós Varangí) genannt wurden; diese Einheiten wurden nach Bedarf an verschiedenen Orten im Heeresdienst genutzt (oft als Garnison oder in der Flotte), die Leibgarde selbst jedoch nicht außerhalb der Hauptstadt, außer wenn der Kaiser selbst dabei war.«96 »Gradually this Varangian regiment became the heart of the guards, and the same rule as to a high entrance-fee will certainly have obtained among them, as their regular pay and extra bonuses alike were above the emoluments of the rest of the army. These select Varangians became known as the ›Varangians of the city‹ (οἱ ἐν τῇ πόλει Βάραγγοι) in distinction from the other Varangian units, who were known as ›Varangians outside the city‹ (οἱ ἔξω τῆς πόλεως Βάραγγοι); these were used in general military service (often as garrisons or on marine duty) as need called within the Empire, while the guardsmen never left the capital unless the emperor himself was present. (As Basil II detested the

95 Vgl. auch Benedikz, Varangian Regiment [1969], S. 24, der einen solchen Wortgebrauch durch die Forschung ab Basileios’ Zeit begründet: »From this I hope it is clear that by the end of Basil II’s reign there is no longer any question about there being a firmly established service unit which, for convenience, is best thought of by its Icelandic name of Væringjar (Varangians), as this, of all the synonyms by which Byzantine and Arab chroniclers refer to them, has alone held the field.« Die Aussage ist insofern falsch, als der Begriff sich zu jenem Zeitpunkt überhaupt nicht nachweisen lässt und folglich auch keine Synonyme existieren konnten; das ganze Konstrukt ist anachronistisch. Außerdem lebt der Begriff Rho¯s selbstverständlich weiter, nur das damit bezeichnete »Volkstum« verändert sich. Die convenience führt genau hier zu biologistischen Vorstellungen, vgl. unten, Anm. 101. 96 Blöndal, S. 92, Übs. R.S. Bei der »Eintrittsgebühr« und dem »Sold« meint Blöndal offenbar das System der rhogai, das er auf S. 57f./21f. bespricht; vgl. unten, S. 99f.

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Von Warangoi und Axtträgern

atmosphere of his capital, and kept as much away from it as he could, they are not likely to have seen overmuch of it until he died.)«97

Die in Anführungszeichen gesetzten Bezeichnungen, im Original in lateinischen Buchstaben, in der englischen Bearbeitung in griechischer Schrift, erwecken trotz Abwesenheit von Fußnoten den Anschein, diese Distinktion von »Stadtwarägern« und »Armeewarägern« stamme aus einem Text, etwa einem Taktikon aus den Zeiten Basileios’ II., doch entstammen die griechischen Begriffe in der Tat der Imagination des Autors und haben mit Basileios II. nicht das Geringste zu tun. Eine entfernt ähnliche Formulierung findet sich allein in der Continuatio der Chronik von Ioannes Skylitzes, die nach 1100 entstand. Sie behandelt die Revolte von Nikephoros Bryennios dem Älteren im Jahre 1077 und berichtet:98 »Τοῦ γὰρ Βρυεννίου ἀποστατήσαντος καὶ τῶν ἐκτὸς Βαράγγων ὁμοφρονησάντων αὐτῷ οἱ ἐν τῷ παλατίῳ Βάραγγοι ἕνα τινὰ ἑαυτῶν ἐπιλεξάμενοι πρὸς τοὺς ὁμοέθνους ἀποστέλλουσιν, ἀξιοῦντες ἀφεῖναι μὲν τὸν ἀποστάτην, φρονῆσαι δὲ τὰ τοῦ βασιλέως.« »Als Bryennios vom Kaiser abfiel und die Warangoi außerhalb sich ihm anschlossen, bestimmten die Warangoi am Palast einen aus ihrer Mitte und schickten ihn zu ihren Landsleuten und ersuchten sie, sich von der Revolte zu distanzieren und sich der Sache des Basileus anzuschließen.«

Zwar entwirft die Chronik hier das Paar οἱ ἐκτὸς Βάραγγοι und οἱ ἐν τῳ παλατίῳ Βάραγγοι, doch ergibt sich die Dichotomie allein aus dem Erzählzusammenhang, nämlich aus der Tatsache, dass ein Usurpator auf Konstantinopel zu marschieren gedenkt und sich sowohl in seinem Heer als auch am Kaiserpalast Landsleute befinden, was der Basileus Michael VII. Doukas und sein logothete¯s Nikephoritzes nutzen wollen, um dem Rebellen seine Leute abspenstig zu machen. Aus dieser einen Erwähnung, welche sich zudem nicht mit der behaupteten »Einteilung« bei Blöndal deckt, lässt sich keine Sprachsystematik und keine Existenz einer ethnisch geschlossenen Gardeeinheit herleiten, schon gar nicht für den Zeitraum über hundert Jahre zuvor. Zudem war der Begriff Βάραγγος nach allem, was die überlieferten Texte nahelegen, in Byzanz vor der Mitte des 11. Jahrhunderts unbekannt: Kein einziger der im fraglichen Kapitel für die Aktivitäten von »Warägern« angeführten Fundorte in den Quellen enthält das Wort, und häufig ist nicht einmal von Rus’ die Rede.99

97 Blöndal (Benedikz), S. 45. Man beachte die für die englische Version charakteristische Ergänzung gegenüber dem Original am Schluss. 98 B34. Den Kontext behandeln auch Attaleiates (B12+B13), Bryennios d. J. (B38) und Zonaras (B54). 99 So bei Aristakes Lastisvertsi: Histoire, ed. Prud’homme [1864], der auf S. 46, 49, 53 und 106 herangezogen wird. Außer bei dem Zusammenstoß von 1000 (oben, S. 89) nennt Aristakes keine Rus’ oder Warangoi. Die Gründe für Blöndals Konjekturen, die als solche nicht erkennbar sind, werden nicht deutlich.

Ῥῶς in Byzanz und die Problematik »ethnischer« Bezeichnungen

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Entgegen der von der »Væringjasaga« entworfenen Fiktion bleibt das Bild von den Rus’, so bedeutsam sie in der hetaireia des kriegerischen Basileios II. auch gewesen sein mögen,100 bezüglich ihrer genauen Herkunft, ihrer Aufenthaltsdauer und ihrer Rückbindung an eventuelle skandinavische Herkunftsregionen sehr vage. Ihre von spezifischem Erkenntnisinteresse geleitete, generelle Identifikation mit Skandinaviern läuft indes Gefahr, in volkstumsideologische oder biologistische Argumentation abzugleiten.101 Da sich unser Erkenntnisinteresse zudem auf die byzantinische Wahrnehmung von »Skandinaviern« als solchen richtet, nicht aber auf die Wahrnehmung der auch skandinavisch geprägten Kiever Rus’ und ihrer Byzanzmigranten, werden Fundstellen von Ῥῶς hier nicht weiter verfolgt.102 Der Eindruck aus der »Væringjasaga«, es führe eine gleichsam geradlinige historische Entwicklung von den Rus’ in den frühen Handelsver100 Die Bedeutung der Rho¯s im byzantinischen Militär des 10. und frühen 11. Jhs. ist umstritten. Während etwa Blöndal, S. 88–107/42–53; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 179f.; Mel’nikova, Ancient Rus’ and Scandinavia [1995], S. 7–10; Shepard, Byzantine Diplomacy 800–1204 [1992], S. 68f.; Shepard, Small Worlds [im Druck] sie als sehr bedeutend einschätzen, konstatiert McGeer, Sowing [1995], S. 209 Anm. 33 in seiner ausführlichen Untersuchung zur byzantinischen Militärgeschichte des 10. Jhs.: »[Blöndal] overstates the presence and role of the Rhos in the later tenth century.« Sehr deutlich wird dies auch im umfangreichen Werk von Holmes, Basil II [2005], bei der die »Waräger« oder auch Rus’ in Basileios’ Heer praktisch keine Rolle spielen. Die dünnen Hinweise auf Aktivitäten der Rus’ versammelt sie ebd., S. 510–515 im Kontext der diplomatischen Beziehungen mit der Rus’. Substantiell scheint allein der Verweis, dass Basileios II. den Ῥῶς auf dem Bulgarienfeldzug 1016 nach der Belagerung und Eroberung Longas’ ein Drittel der Beute überließ, den gleichen Anteil, den auch die Byzantiner und er selbst erhielten (Skylitzes, Basileios II. und Konstantinos VIII., Kap. 40, S. 355, vgl. Blöndal, S. 95f./47). Hierzu ist erstens anzumerken, dass Basileios einen Großteil des byzantinischen Heeres zum Plündern des Umlandes fortgeschickt hatte, so dass die Rho¯s bzw. Infanterietruppen insgesamt bei der Belagerung einen bedeutenderen Anteil der Streitmacht bildeten, und zweitens, dass sie bei den zahlreichen anderen Gelegenheiten der Bulgarenkriege nicht erwähnt werden. Möglicherweise steht eine bevorzugte Behandlung der συμμαχοῦντες Ῥῶς genau hier im Jahre 1016 auch im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Zerschlagung der chazarischen Herrschaft auf der Krim, bei der die Byzantiner gemeinsam mit Mstislav von Tmutorakan erfolgreich vorgingen (Skylitzes a. a. O. Kap. 39, S. 354f.). 101 Dies belegt die Rezeption bereits in der englischen Bearbeitung der Væringja saga. Benedikz, S. 48 überlegt in der Tat, ob bei Basileios’ II. angeblicher Begünstigung der »Waräger« nicht »racial sympathy« ebenso eine Rolle gespielt habe wie »politcal trust«. Er betont, mit Eudokia Ingerina, der zweiten Frau Basileios’ I., habe Basileios II. nordische Vorfahren, und schreibt dessen militärische Fähigkeiten der Vererbung aus dieser »Rasse« (strain) zu. Genetische Prädisposition befähigte also gemäß dieser Logik Basileios zu seinen Erfolgen und seiner Erkenntnis, welchen Wert Skandinavier für das Militär besitzen, der dann wieder aus der Blutlinie stammt. Man kann kaum genug betonen, dass Blöndal selbst nichts dergleichen schrieb. 102 Für die hier ausgelassenen Fundstellen vgl. Blöndal, S. 95–107/48–53, der im Original die wenigen Belege stark anreichert. Benedikz streicht den Inhalt ab S. 102 in der Überarbeitung erheblich zusammen und ändert den Kapitelschluss, woraus nochmals eine deutliche Zuspitzung auf Basileios II. resultiert (vgl. unten, S. 259ff.).

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trägen und den »Gardisten«, auf die sich Basileios II. seit 988 stützen konnte, zu jenen Axtträgern beziehungsweise Dani, die 1204 gemäß der übereinstimmenden Aussage byzantinischer Texte und lateineuropäischer Kreuzfahrerberichte Konstantinopel verteidigten, erweist sich als trügerisch. Er wird vermittelt durch jüngere Erinnerungszeugnisse seit dem späteren 11. Jahrhundert. Sie trennen »Russen« und »Waräger« in Folge der Formierung der Rus’, die Skandinavier von integrierten und integrierbaren Migranten im Zentrum der Eliten zu Fremden machte. Dazwischen liegt eine Entwicklung, die den im späten 10. und frühen 11. Jahrhundert erkennbaren, homogenisierenden Begriff Ῥῶς für Menschen aus dem Kiever Herrschaftsraum unter Druck setzte und seine Semantik brüchig werden ließ. Dies gilt sowohl für die Rus’ selbst als auch für die Byzantiner, die mit fremden Söldnern umgehen mussten und Differenzen wahrnahmen.

2.

Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten und die Notwendigkeit einer Dekonstruktion

Die Emergenz eines gesonderten Ethnonyms, das offensichtlich »Skandinavier« und »Angelsachsen« einschließt und sie damit aus der Vieldeutigkeit des Begriffs Ῥῶς herauslöst, lässt sich in Byzanz ab etwa 1060 nachweisen. In diesem Jahr stellte Konstantinos X. Doukas einen im Original erhaltenen Chrysobull für das Kloster Lavra aus, in welchem unter anderem die Befreiung von der Einquartierung jedweder Soldaten gewährt wird;103 bei ihrer Aufzählung stehen Βάραγγοι, Ῥῶς, Sarazenen, Phrangoi (Normannen) 104 und Byzantiner nebeneinander. Etwa zur gleichen Zeit benutzt Michael Psellos in einem Brief an einen Vertrauten das Appellativum Βάραγγος, welches er in seiner Chronographia aus stilistischen Gründen vermeidet.105 Man wird davon ausgehen müssen, dass der Begriff bereits im Sprachgebrauch etabliert war, bevor er erstmals auf Pergament sichtbar wird, was angesichts des beschriebenen Wortgebrauchs von Ῥῶς, wie er um die Jahrtausendwende erkennbar ist, in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts geschehen sein muss; ex post sieht Ioannes Skylitzes im Jahre 1034 Waräger erstmals am Werk.106 Zu jener Zeit, um 1030, begegnet der Terminus als warank auch erstmals im Arabischen in den Werken des al-Bı¯ru¯nı¯, offenbar als Bezeichnung für die Bewohner der skandinavischen Halbinsel.107 Auch bei Βάραγγος handelt es sich 103 104 105 106 107

B15. Zu dieser Identifizierung vgl. Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 275–278. Vgl. Hunger, Literatur [1978], S. 380f. B25. Vgl. unten, S. 172f. Dietrich, (al-)Bı¯ru¯nı¯ [1978], S. 34. Die Ostsee (und möglicherweise andere Meere im Norden Europas) wird als bahr warank bezeichnet (Al-Tafhı¯m li-Awa¯’il Sina¯’at al Tanjı¯m, Über˙ ˙

Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten

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um eine Bezeichnung, die ähnlich wie Ῥῶς aus dem Altnordischen als varjag ins Ostslawische und entweder von dort oder direkt aus dem Altnordischen ins Griechische gewandert ist108 und damit dem norrönen Wort væringr beziehungsweise væringi entspricht; der deutsche Begriff »Waräger« wurde übrigens in der Neuzeit aus dem Russischen übernommen.109 Etymologisch ist die Verwandtschaft mit dem Plurale tantum várar (»Treueschwur«) sehr naheliegend. Argumentiert man streng lautgeschichtlich, kann es sich jedoch beim væringr oder væringi kaum um ein Derivat von vár auf *-ingr handeln, denn das altrussische Lehnwort varjag setzt voraus, dass zum Zeitpunkt der Übernahme noch kein i-Umlaut eingetreten war; gemäß jüngeren Erkenntnissen der Sprachgeschichte müsste letzteres indes schon vor dem Ende des 6. Jahrhunderts geschehen sein.110 Eine Form ohne Umlaut konnte zu einem späteren Zeitpunkt nur gegeben sein, wenn es sich bei dem urnordischen Vorbild von varjag und væringr um ein Kompositum handelte, dessen zweites Glied das Nomen agentis zu ganga (gehen), *-gengi (urnordisch *-gangian) war, woraus sich die Wortbedeutung »Eidgänger«, »Angehöriger einer Gruppe von Verschworenen« ergibt.111 Parallelen zu einem solchen Kompositum in anderen germanischen Sprachen finden sich früher in den Leges Langobardorum und der Lex Francorum

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setzung bei Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 61f., 175), analog zur Bezeichnung der Ostsee als »warägisches Meer« in der Povest’ vremennych let. Es wurden in der Vergangenheit zahlreiche verschiedene Hypothesen zur skandinavischen oder nicht-skandinavischen Herkunft des Wortes formuliert, auch unter dem Einfluss antinormannistischer Ideologie, die hier nicht wiederzugeben sind (vgl. hierzu Schramm, Die Waräger [1983]). Zuletzt übte Danylenko, Urmane, Varjagi and Other Peoples [2004], S. 187– 190 auf linguistischer Basis Kritik an der Vorstellung einer Übernahme aus dem Ostslawischen ins Griechische, da er die griechische Transliteration von varjag zu Βάραγγος für unwahrscheinlich erachtet. Seine schwer durchschaubare Argumentation zielt darüber hinaus vor allem darauf, plausibel zu machen, die ursprüngliche Bezeichnung für Skandinavier in der Rus’, gespiegelt im ostslawischen Wort urmane (< norðmaðr), sei vom Altnordischen ins Arabische gewandert und von dort übernommen worden (ebd. S. 205f.). Solche Hypothesen, die auf langen Plausibilitätsketten im quellenfreien Raum basieren, werden in diesem Kontext nicht weiter verfolgt. Andersson, Waräger § 1 [2006], S. 253. Sehr ausführlich und mit einem neuen Paradigma Schulte, Grundfragen der Umlautphonemisierung [1998], bes. S. 250–258, der die entscheidenden Phänomene sehr früh und auf einen relativ kurzen Zeitraum vor der 2. Hälfte des 6. Jhs. verdichtet ansetzt. Klassischerweise geht man davon aus, dass sie bis ins 7. Jh. andauerten (Birkmann, From Ancient Nordic [2002], S. 696). So bereits Bugge, Blandede sproghistoriske Bidrag [1885], S. 222–225; ähnlich, jedoch mit einer anderen Entlehnungsrekonstruktion im Detail Thomsen, Det russiske rigets grundlæggelse [1909], S. 376f., 436–444. Die Forschungsgeschichte dazu kann hier nicht in ihrer Breite nachvollzogen werden, s. daher Jakob Benediktsson, Varjager [vestnordisk] [1975]; Schramm, Die Waräger [1983]; zum aktuellen Forschungsstand, in welchem die Herleitung nicht unbestritten, aber weithin akzeptiert ist, Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 161– 165; Andersson, Waräger § 1 [2006].

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Chamavorum sowie im Altenglischen, scheinen dort jedoch Fremde unter dem Schutz eines Herrschers zu bezeichnen.112 Irgendein direkter Bezug zum Wort væringi ist nicht erkennbar;113 immerhin aber belegen sie die Existenz eines solchen Kompositums in anderen germanischen Sprachen und erklären Eigenheiten der Flexion, welche eine ganze Reihe solcher Komposita aufweist.114 Daher ist dieser klassischen Erklärung der Wortherkunft gegenüber alternativen Interpretationen der Vorzug zu geben.115

112 Lex Ribuaria, ed. Sohm [1883], Kap. 9, S. 118; MGH LL 4, ed. Pertz [1868], Edictus Rothari, Kap. 368, S. 85; Radelgisi et Siginulfi Divisio ducatus Beneventani, Kap. 12, S. 222; s. auch den dortigen Index, S. 679 mit weiteren Verweisen; vgl. Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 164f. 113 Einen solchen Bezug versucht Melazzo, The Normans [1993] herzustellen und parallelisiert dabei væringr – Βάραγγος mit der Bezeichnung Ἀλβανοί für süditalienische Krieger bei Attaleiates, Kap. 3, S. 7, Z. 13 und Kap. 5 S. 15, Z. 13, mit denen die Normannen gemeint seien, welche wiederum von einem hypothetischen altfränkischen Wort *aliban (»Fremder«) herzuleiten sei. Der hochspekulative Versuch, Normannen und Waräger durch Etymologisierungen zu parallelisieren, übersieht jedoch erstens die weiten zeitlichen Differenzen zwischen den frühmittelalterlichen Rechtstexten und dem 11. Jahrhundert und zweitens den konkreten, definitiv ethnographischen Gebrauch der Worte durch die Byzantiner, der keinerlei Rückbindung an die Wortsemantik in Rechtstexten erkennen lässt. 114 Noreen, Altisländische Grammatik [1970], § 149, S. 128f. (Wechsel von *-[g]engi zu -ingi) und § 229, S. 167 (Fehlen des g aus *-gengi bei væringe, foringe, lanzofringe, unningi, ho˛fþinge, erfinge, brautinge, frelsinge, lausinge, hamingja). 115 Vgl. Jacobsson, La forme originelle [1954] sowie die bei Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 161–164 angeführte Literatur. Sie gehen aufgrund der lautlichen Gestalt varjag und arab. warank sowie dem Ortsnamen Varangerfjord (östlich des Nordkaps) davon aus, dass ein skandinavischer Lautstand *va¯rangr der Entlehnung zu Grunde liegen müsse, der in der frühen Rus’ entstanden und im Norden transformiert worden sein müsse. Für die Übernahme ins Ostslawische ist dies lautgeschichtlich unwahrscheinlich (Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 163), das Arabische kann den Laut vom Griechischen Βάραγγος haben. Das Suffix *-ang ergibt sprachgeschichtlich zumal im 10./11. Jh. keinen Sinn. Stang, Fra Novaja Zemlja og Varanger [1990], S. 146–150 ist der Ansicht, al-Bı¯ru¯nı¯ meine mit bahr warank aufgrund der Kälte eindeutig das Weiße Meer und den Varangerfjord. Aufgrund ˙finnischer und samischer varjak-Ortsnamen im heutigen Finnland sowie am Varangerfjord kommt er zu dem Schluss, dass eine direkte Übernahme durch fahrende Händler vom Eismeer (aus »Varanger«) vom Nordischen ins Griechische, von dort ins Slawische und zurück ins Nordische geschehen sei. Kekaumenos (B11) meine mit Βαραγγία den Varangerfjord. Erstens jedoch meint er nicht diesen entlegenen Raum, sondern den Herrschaftsbereich Haralds, zweitens postuliert Stang arabisch warank und griechisch Βάραγγος zu einer Zeit, als der Begriff weder in der einen noch in der anderen Sprache existierte, drittens hat der griechische Begriff nie mit dem Nordmeer oder mit Händlern dorther zu tun, sondern immer mit Kriegern, viertens ergibt eine Rückentlehnung von einem Begriff, der Händler vom Weißen Meer meint, durch Krieger aus Mittelskandinavien keinen Sinn, und fünftens ist die byzantinische Assoziation der Βαραγγία mit dem äußersten Nordwesten der Welt nahe der Thoule¯ und nicht dem Weißen Meer unzweideuig (unten, S. 190ff.). Vgl. neben den Einwänden von Stang gegen die etablierte Deutung außerdem Danylenko, Urmane, Varjagi and Other Peoples [2004].

Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten

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Die Komposita mit *-gengi als zweitem Glied, welche im Norrönen durchweg ein ähnliches Erscheinungsbild zu Ableitungen auf -ingr aufweisen, zeigen zudem eine erhebliche Vielfalt: Es finden sich teilweise beim selben Wort sowohl Beispiele mit (frelsingi: »freier Mann« < Adj. frjáls; leysingi: »Freigelassener« < Adj. lauss) als auch ohne durchgeführten i-Umlaut (foringi: »Anführer« < Präfix for-; lausingi: abermals »Freigelassener« < Adj. lauss) 116 sowie gemäß dem eigentlichen Paradigma des zweiten Gliedes schwach flektierte als auch analog zu -ing-Derivaten stark flektierte Exempla (so bei leysingr).117 Daraus folgt, dass das in norrönen Texten des Hochmittelalters nachweisbare Wort væringr/væringi mit einem dann analogisch durchgeführten Umlaut verhältnismäßig spät entstanden sein kann und so die nicht umgelautete runenschwedische Form *va¯r(g)engi als Vorlage für altrussisch varjag noch lange Zeit möglich scheint, bevor sie analogisch angeglichen wurde.118 So bestechend und sprachhistorisch folgerichtig diese Rekonstruktion erscheint, besitzt die doch einen gravierenden Schönheitsfehler: nämlich die komplette Abwesenheit eines aussagekräftigen Belegs. Einerseits existieren nur drei Fundstellen von væringr beziehungsweise væringi im Singular, die einen Rückschluss auf das Flexionsparadigma zuließen, und sie alle widersprechen der Herleitung aus *va¯r(g)engi beziehungsweise zeigen die »analogisch angeglichene«, stark flektierte Form mit i-Umlaut: Zwei Runeninschriften des früheren 11. Jahrhunderts aus Östergötland nennen jeweils eine Person namens uirikr beziehungsweise (im Genitiv) uereks; es handelt sich möglicherweise um einen zum Namen gewordenen, auf einer Ostfahrt erworbenen Beinamen, und wahrscheinlich um ein und dieselbe Person, die wiederum höchstwahrscheinlich bei Knud dem Großen im Dienst gestanden hatte, woraus sich ein Terminus post quem 1016 ergäbe.119 Auch die

116 Ásgeir Blöndal Magnússon, Íslensk orðsifjabók [1989]; vgl. Andersson, Waräger § 1 [2006], S. 254f. 117 Wie Anm. 116. 118 Vgl. zum i-Umlaut und Formen analogischen Ausgleichs Noreen, Altschwedische Grammatik [1904], §§ 61–63, S. 56–59; Birkmann, From Ancient Nordic [2002], S. 696; Schulte, Grundfragen der Umlautphonemisierung [1998], bes. S. 250–258. Aufgrund der möglichen Parallelformen scheint eine zeitliche Eingrenzung etwa auf den Zeitraum vor 850 (Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 172f.) aus lautgeschichtlichen Gründen nicht zwingend nötig, vgl. die Doppelform lausingi/leysingi. 119 Ög 111: uirikR : resti : stan : eftiR : þialfa : bruþur : sin : trak : þan : aR * uaR * miR * knuti : (Væringr ræisti stæin æftir Þialfa, broður sinn, dræng þann, er var með Knuti: »Væringr errichtete den Stein nach Þialfi, seinem Bruder, dem Mann, der bei Knud war.«). Ög 68: suina × karþi × bru × þesi × eftiR × ouint × bruþur × sin × han × uas × uesteR × tauþeR × i × uereks × (k)ai-i (Svæina gærði bro þessi æftiR Øyvind, broður sinn. Hann vas vestr dauðr i Værings : »Svæina errichtete diese Brücke nach Øyvindr, seinem Bruder. Er starb im Westen auf Værings Schiff.«). Die letzten, schwer leserlichen Runen (k)ai-i lassen sich plausibel zu skaiþi – Schiff ergänzen. Vgl. Föller in PmbZ, #28418 und 28419; Nordiskt runnamnslexikon, ed. Peterson [2007].

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einzige Fundstelle im Singular aus der norrönen Literatur in der Jarteinabók Þorlaks byskups o˛nnur aus dem frühen 13. Jahrhundert zeigt den Dativ væringjum,120 also genau wie der Genitiv uereks im runenschwedischen Beispiel ein starkes Flexionsparadigma; zu erwarten wäre gemäß der Herleitung von *va¯r (g)engi die Form væringja. Im Plural, der im Hochmittelalter vielfach begegnet, fallen die starken und schwachen Paradigmata zusammen und erlauben daher keine Rückschlüsse. Ein weiterer wikingerzeitlicher Beleg aus dem 11. Jahrhundert im Norden, ebenfalls im Plural, findet sich in der Skaldik, genauer in der vierten erhaltenen Strophe des Lobgedichts, das Valgarðr á Velli vor dessen Tod auf Haraldr Sigurðarson inn harðráði dichtete.121 Die zur Hälfte wiedergegebene Strophe findet sich ausschließlich in der Fagrskinna, einer Gesamtdarstellung der norwegischen Geschichte, die in den 1220er-Jahren offensichtlich für den norwegischen Hof geschrieben wurde. Sie ist eingeflochten in die problematische Erzählung von Haralds Flucht aus byzantinischer Gefangenschaft und seiner Blendung des Basileus Konstantinos IX. Monomachos. Hierbei, so die Halbstrophe, habe Haraldr eine Einheit aus Væringjar aufhängen lassen und so deren Zahl vermindert. Im Strophenkontext erfordert die aðalhending, der Binnenreim im Abvers, eindeutig eine Form mit i-Umlaut (væringjar – færre), so dass die lautliche Gestalt um 1050 im Norrönen in dieser Form gegeben war. So gesehen legen die altnordischen Fundstellen allein scheinbar kein Kompositum als Grundlage nahe, mit Ausnahme einer signifikanten Auffälligkeit: Vor allen vokalisch anlautenden Endungen und damit in allen Pluralformen ist ausnahmslos -j- bewahrt. Dies ist eine offensichtliche Parallele zu den oben genannten anderen Komposita mit *-gengi, die, sofern sie nicht analogisch angeglichen wurden, im Nominativ auf -ingi enden und wie jan-Stämme flektieren.122 Ableitungen, welche auf das Suffix -ingr beziehungsweise -ing enden, gehören hingegen zu den reinen a- beziehungsweise o¯-Stämmen und zeigen keinen Einschub von -j-. Angesichts dieses Befunds bleibt das Postulat, der in Runeninschriften und Sagas nachweisbare væringr müsse sich von *va¯r(g)engi herleiten, bestehen. Es existierte analog zu lausingi/leysingi möglicherweise noch im 11. Jahrhundert die Parallelform *va¯ringi ohne analogisch durchgeführten i-Umlaut und damit die Möglichkeit, dass eine Übernahme in das Slawische als varjag auch spät geschehen konnte. Eine solche sprachhistorische Erklärung bildet jedoch immer nur einen gleichsam diffusionistischen Aspekt der Möglichkeiten ab; die Bilingualität entscheidender Akteure kann bei einer Entlehnung ebenso gut zu einer Rückführung auf das Element des Eides (várar) und einer Kreolisierung geführt haben. Wann genau eine solche Übernahme letztlich geschah, lässt sich nicht 120 NI 61. 121 NI 122; vgl. Anhang 1.7. 122 Noreen, Altisländische Grammatik [1970], § 403, S. 278.

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mehr klären, ebenso wenig wie die Bedeutung des Wortes zur Zeit seiner Übernahme ins Ostslawische, da man hier im komplett textlosen Raum argumentiert.123 Die Povest’ vremennych let ist insofern keine Hilfe, als sie zwar die skandinavische Identität der varjagi eindeutig kommuniziert,124 dies aber aus einem Horizont des Sprachgebrauchs im späteren 11. und frühen 12. Jahrhundert tut. Inwiefern dieser auf ältere mündliche Traditionen zurückgeht und wie weit diese Traditionen zurückreichen, ist abgesehen von der Russkaja Pravda, der ältesten Kodifizierung ostslawischen Rechts, nicht mehr feststellbar. Unabhängig davon jedoch, wie die kaum mehr zu erhellende Entstehungsgeschichte des Wortes ausgesehen haben mag, müssen in die christianisierte Rus’ kommende beziehungsweise angeworbene Skandinavier seit dem späten 10. Jahrhundert zunehmend zu Fremden geworden sein. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Einträgen der Povest’ vremennych let beziehungsweise der Chronik von Novgorod über die Herrschaft von Jaroslaw dem Weisen, der als Herrscher Novgorods angesichts eines drohenden Konflikts mit seinem Vater Vladimir unmittelbar vor dessen Tod 1015 beziehungsweise 1016 varjagi ins Land geholt habe, die sich dann in Novgorod (beziehungsweise Rjurikowo Gorodischtsche) gewalttätig benommen und die Rache der Novgoroder zugezogen hätten, wofür Jaroslaw wiederum die Einheimischen bestraft habe.125 Die Menge derjenigen, welche er alsbald gegen seinen Bruder, Svjatoslav von Kiev, geführt habe, wird mit 1000 in einem Heer von 4000 angegeben.126 Nach Erwähnungen bei kriegerischen Konflikten Jaroslavs mit seinen Brüdern in 1018 und 1024 berichtet die Chronik dann für 1036 letztmalig von der Anwerbung von varjagi von der anderen Seite der Ostsee.127 Zudem muss nach wie vor mit der Anwesenheit größerer Gruppen von Skandinaviern auch jenseits des ostseenahen Novgorod gerechnet werden, wie es allein das Exil Óláfr Haraldssons zwischen 1028 und 1030 123 Diese Tatsache relativiert die Chronologie bei Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 172f., der aus in diesem Fall nicht zwingenden lautgeschichtlichen Überlegungen eine Übernahme um 850 oder wenig später postuliert. Auch spätere Übernahmen scheinen denkbar. Entscheidend ist das praktisch gleichzeitige Auftauchen der skandinavischen, ostslawischen, arabischen und griechischen Form des Wortes im 11. Jh., s. die folgende Analyse. 124 S. Anm. 5 auf S. 20. 125 Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 174 (zu A.D. 1015); ausführlicher Erste Novgoroder Chronik, ed. Dietze [1971], S. 51 (zu A.D. 1016). Die Novgoroder Chronik wird für die fragliche Passage auf eine gemeinsame Vorlage mit der Povest’ vremennych let zurückgeführt. 126 Wie Anm. 125. 127 Nestorchronik, ed. Müller [2001], S. 177 (A.D. 1018: Jaroslav führt Krieg gegen Bolesław Chrobry von Polen und Svjatopolk.); S. 182f. (A.D. 1024: Jaroslav führt Krieg gegen seinen Bruder Mstislav um Kiev); S. 186 (A.D. 1036: Jaroslav zieht von Novgorod nach Kiev gegen die Petschenegen).

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und dasjenige seines Halbbruders Haraldr Sigurðarson ab 1030 sowie die Runensteine nahelegen, welche die Heerfahrt des Schweden Yngvarr und seiner Leute nach Osten dokumentieren.128 Dass diese varjagi auch bezüglich ihrer Glaubenspraxis in der Rus’ als Fremde, genauer als Lateiner, wahrgenommen wurden, unterstreicht auch das Paterikon des Höhlenklosters in Kiev. Dessen überlieferte Redaktionen stammen aus dem früheren 13. Jahrhundert, doch gehen einzelne Geschichten hiervon auf die Entstehungszeit des Klosters im 11. Jahrhundert zurück. Gleich die erste Legende berichtet von Shimon, einem varjag, der, von seinen Brüdern aus seiner skandinavischen Heimat vertrieben, den goldenen Gürtel und die Krone eines Kruzifixes, »wie es die Lateiner verehren«, von seinem Vater mitnahm.129 Abgesehen davon, dass diese Stücke 1068 in den Kirchenschatz eingingen, wurde der Gürtel zum Längenmaß für den Bau der Klosterkirche, so die zweite und dritte Legende.130 Auf diese Weise gehen Teile eines westlichen Crucifixus und die Aktivität eines varjag in die Gründungslegende des Klosters ein. Selbst die Einwohner des vermeintlich »orthodox« beeinflussten Ostskandinavien sind in der Perzeption der Kiever des späten 11. Jahrhunderts Lateiner, beziehungsweise ihr Kultus trägt westliche Züge, was jedoch für den Autor der Legende ebenso unproblematisch ist wie die »Orthodoxie« der Byzantiner für skandinavische Historiographen. Auffällig ist jedenfalls abgesehen von solchen narrativen Fremdwahrnehmungen das Auftauchen des Terminus væringr – varjag – warank in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Runeninschriften, in der ältesten Fassung der Russkaja Pravda, die auf die Zeit von Jaroslaws Herrschaft ebenfalls im frühen 11. Jahrhundert zurückgeführt wird,131 sowie in einem arabischen Text um dieselbe Zeit,132 in Byzanz wenige Jahrzehnte später. Zuvor gibt es keinen einzigen Hinweis. Insbesondere die Russkaja Pravda liefert Anhaltspunkte für die Funktionalisierung des Wortes varjag, das in zwei Artikeln privilegierte Fremde 128 Vgl. Anm. 39. 129 Ol’shevskaia, Kievo-Pecherskii paterik [1997], S. 296–298. Die folgende Interpretation findet sich bei Lind, Christianity on the Move 2013 [im Druck]; vgl. auch Stender-Petersen, Varangians and the Cave Monastery [1953], S. 147–149 und den dortigen Überblick über weitere Aspekte »warägischen« Christentums, etwa das Martyrium früher skandinavischer Christen im noch heidnischen Kiev und die Gründung des Kiever Höhlenklosters in einer »Warägerhöhle«, sowie Mel’nikova, Varangians and the Advancer [2005], S. 119–125. 130 Ol’shevskaia, Kievo-Pecherskii paterik [1997], S. 304–306. 131 Russkaja Pravda, ed. Baranowski [2005], Art. 10f., S. 14. Man datiert die Art. 1–17 oder 18 der Kratkaja Pravda (»kurze Pravda«), der ältesten der drei überlieferten Redaktionen, in die Zeit Jaroslavs des Weisen, und bringt sie in Verbindung mit seiner Eroberung Kievs mit Hilfe der Novgoroder, wofür diese die Pravda erhalten hätten (vgl. die Äußerungen der Povest’ vremennych let und der Novgoroder Chronik, Anm. 125; zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der Pravda s. Russkaja Pravda, ed. Baranowski [2005], bes. S. 44–50). 132 Al-Bı¯ru¯nı¯: Al-Tafhı¯m li-Awa¯’il Sina¯’at al Tanjı¯m, Übersetzung bei Samarrai, Arabic Sources ˙ [1959], S. 61f., 175.

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bezeichnet: So muss der varjag beim Rechtsstreit um gewalttätige Auseinandersetzungen keine Eidhelfer beibringen.133 Die Bedeutung des Wortes ist in der fraglichen Zeit sicher mehrschichtig und schließt skandinavische »Händler, Söldner, Siedler und unabhängige Kriegerbanden«134 ein, weist aber auch nach der Aussage der rusischen Chroniken vor allem eine kriegerische Komponente auf, welche auch das Paterikon bekräftigt. Gelangten solche skandinavischen Kriegerverbände, die in der Rus’ einen Fremdenstatus besaßen und nicht im selben Maße integriert und akkulturiert wurden wie die aus Skandinavien stammenden Rus’ in Kiev noch ein halbes Jahrhundert zuvor, nach Byzanz weiter, konnten die Byzantiner sie nicht mehr als Ῥῶς in ihrem Militär verwenden. Differenzen in Sprache, Ausrüstung und Kampftaktik müssen den Verantwortlichen zunehmend ins Auge gefallen sein. Entsprechend registriert der im frühen 12. Jahrhundert schreibende Leo von Ostia sowohl Rhosi als auch Dani und Gualani bei seiner Aufzählung der byzantinischen Truppen, welche Basileios II. gegen eine lokale Erhebung in Bari 1009 entsandte und die Stadt 1011 einnahm;135 im Konflikt zwischen den sich etablierenden Normannen und dem byzantinischen katepano¯ von Italias begegnen 1041/42 erneut Guarani auf byzantinischer Seite.136 Skandinavier und 133 So die Russkaja Pravda, ed. Baranowski [2005], Art. 10, S. 14; vgl. den forschungsgeschichtlichen Kommentar ebd. S. 209–214. Art. 11, ebd. S. 14 (Kommentar S. 214–220) behandelt den Fall, dass sich Unfreie bei einem varjag verbergen. In beiden Artikeln bilden varjag und kolbjag als Bezeichnungen für Fremde ein Wortpaar; zur Problematik der Identifizierung jener kolbjagi vgl. unten, S. 142ff. 134 Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 203: »›Varangian‹ is a single word which covers diverse groups: merchants, mercenaries, settlers, autonomous war-bands. They could be found throughout the lands of the Rus. But their closest links – geographically, diplomatically, militarily and economically – were with Iaroslav of Novgorod.« Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 164–176 verfolgt eine spezifischere, sprachhistorische Erklärung, die auf der Tatsache aufbaut, dass varjagi und kolbjagi in der Russkaja Pravda immer paarig auftreten, und auf die unten, S. 142ff., näher eingegangen wird. 135 Chronik von Montecassino, ed. Hoffmann [1980] 2,37, S. 237, Z. 5/29; zur Abfassungszeit und den Quellen ebd., S. VII–XVII. Die Differenzierung ist bemerkenswert, übernimmt sie doch nicht das byzantinische Βάραγγοι, sondern erkennt Skandinavier als Dani. Wie diese Erkenntnis indes mit den Verhältnissen um 1011 oder vielmehr um 1100 zusammenhängt, ist nicht mehr zu erkennen. Rätselhaft ist die Herkunft des Ethnonyms Gualani [Walani], welche der üblichen, unmittelbar einleuchtenden Transliteration von Βάραγγοι [Warangi] zu Guarangi (so etwa gleichzeitig bei Geoffrey Malaterra: De rebus gestis, ed. Pontieri [1928], Kap. 27, S. 74, Z. 2–16) zuwiderläuft. Vgl. aber Guarani in der folgenden Anm. Danylenko, Urmane, Varjagi and Other Peoples [2004], S. 186f., 193f. baut auf der Dreiheit eine fragwürdige Parallele zu Ῥῶς, Βάραγγοι und Κούλπιγγοι auf, weshalb letztere »Dänen« seien (vgl. unten, S. 146). Alle Verweise auf Leo bei Blöndal, S. 99f./51 führen an die falschen Stellen der von ihm zitierten Edition. 136 Chronik von Montecassino, ed. Hoffmann [1980] 2,66, S. 300, Z. 8/10 (allein in der Redaktion B der Chronik mit Ergänzungen des Petrus Diaconus um die Mitte des 12. Jhs., vgl. ebd., S. XXXIII–XXXV). Behandelt wird die Niederlage der Byzantiner gegen die Normannen unter dem katepano¯ Italias Exaugustus Bioannes im September 1041, dessen byzantinisches

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Rus’ im byzantinischen Militär waren für Leo von Ostia um 1100 und die späteren Bearbeiter seiner Chronik von Montecassino getrennt wahrnehmbar, und dies möglicherweise auch für seine ältere Quelle, obschon Zeitgenossen jener Ereignisse diesen Unterschied nicht machen und unter Basileios allein Russi am Werke sehen, genau wie armenische Historiographen auch.137 Die sprachgeschichtlichen und semantischen Überlegungen verdeutlichen im Hinblick auf unsere Fragestellung in erster Linie, dass eine gesicherte Grundlage für die Untersuchung skandinavisch-byzantinischer Interaktionen in Byzanz erst mit der Emergenz des Terminus Βάραγγος gegeben ist, der sich eindeutig auf Sprecher skandinavischer Sprachen sowie angelsächsischer Dialekte bezieht. Die frühere Geschichte skandinavisch-byzantinischen Kontakts bleibt auch in der Konstruktion des fremden Gegenüber immer an die Kiever Region beziehungsweise die Schwarzmeerregion als Kontaktzone rückgebunden, weshalb sie sich zwangsläufig immer auf eine von Migranten und multipolaren Prozessen des Kulturtransfers und kultureller Verschmelzung geprägte Herrschaftsstruktur bezieht. Eine Distinktion von Skandinaviern, die aus einem Land jenseits dieser Rus’ nach Byzanz kommen, ist allerspätestens gegeben mit dem Aufenthalt von Haraldr Sigurðarson. Kekaumenos weiß etwa 25 Jahre nach dessen Flucht aus Byzanz 1043 aus eigener Erfahrung zu berichten, dass dessen Land die Βαραγγία sei, und um die Mitte des Jahrhunderts ist dem isländischen Skalden Valgarðr á Velli klar, dass es sich bei norðmenn, die sich in Byzanz aufhalten, um væringjar handelt, und dass diese eine gesonderte ethnische Gruppe im byzantinischen Militär darstellen. Aus diesem Grund kennzeichnet das reale, funktionale Auftreten des Ethnonyms und nicht seine hypothetische Genese eine neue Phase kultureller Interaktion dahingehend, dass die Byzantiner ihr Gegenüber als dezidiert »skandinavisch« – oder besser »warägisch« – wahrnahmen, was sich auch in der Emergenz von spezifisch auf Skandinavier bezogenen ethnographischen Stereotypen äußert: So bezeichnet bereits Michael Psellos, der als erster Historiograph, wenngleich außerhalb seiner Chronik, den Begriff Βάραγγος gebraucht,138

Kontigent offenbar mit Warangoi ausgestattet war, die aber sonst (etwa in den zeitnahen Annales Barenses, MGH SS 5, ed. Pertz [1844], S. 55) nicht erwähnt werden. 137 Dies spricht für einen Anachronismus bei Leo. Ademar von Chabannes († 1034) berichtet in seinen bis 1028 reichenden Historiae, die sich auf Aquitanien beziehen, für 1018 davon, wie Basileios’ II. Kämpfer aus der gens Russorum unter dem katepano¯ Basileios Boioannes die für die longobardischen Rebellen kämpfenden Normannen besiegen (Ademari historiae, ed. Waitz [1841] 3,55, S. 140). Hier ist weder von Guarani, Gualani oder Dani die Rede. Blöndal, S. 99f. macht diesen Unterschied nicht. Totale Konfusion herrscht bei Blöndal (Benedikz), S. 51, der inkorrekte Verweise übernimmt, zudem seine isländische Vorlage missversteht und ein Zitat aus Ademar Leo von Ostia zuschreibt. 138 In einem Brief an Nikephoros Keroullarios (B1).

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die Ταυροσκύθαι in seiner Geschichtserzählung als »Axtträger«139 und als Verbündete140 – in Abgrenzung von den Ῥῶς, die 1043 Konstantinopel angreifen.141 Diese Identität von Skandinaviern – dann auch als Βάραγγοι bezeichnet – und Axtträgern expliziert erneut Anna Komnene in ihrer zwischen 1137 und 1153 entstandenen Alexias.142 Die Belastbarkeit jener Identität ist die heuristische Voraussetzung für eine Analyse, die auf semasiologischer Ausgangsbasis das Bild der Byzantiner von Skandinaviern und Skandinavien nachzuzeichnen sucht, sich also im Gegensatz zur anreichernden »Væringjasaga« Blöndals und anderer, ähnlicher Arbeiten auf eine nähere Analyse jener Stellen beschränkt, in denen explizit von Skandinaviern im oben geschilderten Sinne die Rede ist. Dies bedingt eine notwendige Dekonstruktion der bekannten Warägergeschichte in mehrerlei Hinsicht: Einerseits wird in Frage gestellt, dass Skandinavier beziehungsweise »Waräger« seit dem 10. Jahrhundert in der byzantinischen Armee als Ῥῶς kontinuierlich beschreibbar sind, bevor sie auch von Byzantinern als »Waräger« bezeichnet werden; darüber hinaus wird nicht der Versuch unternommen, einzelne, durch explizite Nennung dokumentierte Ereignisse durch hypothetische Rekonstruktionen möglicher weiterer skandinavischer Einsätze im byzantinischen Militär zu einer Narration zu verbinden. So berechtigt und notwendig die Rekonstruktion eines Geschichtsverlaufs ist, bestätigen Beobachtungen, die aus einer derart hypothetischen Konstruktion hergeleitet sind, wie es die Geschichte der Waräger aufgrund der wenigen Erwähnungen zwangsläufig sein muss, für gewöhnlich eben jene Vorannahmen, die selbst zur Hypothesenbildung über skandinavische Aktivitäten in Byzanz führten, wie an zahlreichen Beispielen zu zeigen sein wird.

Sprachgebrauch und Perzeption Alternativ zu einer Rekonstruktion ereignisgeschichtlicher Zusammenhänge wird – angesichts der niedrigen Dokumentationsdichte und der verhältnismäßig geringen Aufmerksamkeit der byzantinischen Historiographen für Barbaren in der Armee – das Sprechen oder besser Schreiben der Byzantiner über Waräger und die Region, aus der sie kommen, in seiner diachronen Entwicklung beobachtet. Rückschlüsse auf die Anwesenheit und Bedeutung von Skandinaviern in Byzanz, auf die Dichte und den Charakter der skandinavisch-byzantinischen 139 Dies tut er als Augenzeuge im Kontext des Zeremoniells des Usurpators Isaakios I. Komnenos 1057 (B7). 140 B3. 141 Psellos 6,90–95, Bd. 2, S. 8–12. 142 Im Kontext der Eroberung Konstantinopels durch ihren Vater Alexios I. Komnenos 1081 (B41) sowie erneut, indem sie einen gewissen Ναμπίτης (Nabites) als Kommandeur der Βάραγγοι sowie der Axtträger bezeichnet (B43+B44).

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Kulturbeziehung werden möglich, indem man (1.) die Frequenz der Erwähnungen verfolgt, das heißt die Häufigkeit, mit der Skandinavier begegnen, im Verhältnis zur Anzahl der Texte, in denen sie aufgefunden wurden. Weiterhin fragt sich (2.), in welchen inhaltlichen Kontexten Waräger auftauchen, was sie (3.) genau in diesen Kontexten tun und (4.), welche Eigenschaften hieraus erkennbar oder ihnen direkt zugeschrieben werden. Diese Beobachtungen sind in erster Linie rückzubinden an die Zeit, in welcher der jeweilige Autor schreibt, und lassen möglicherweise diachrone Entwicklungen erkennen. Durch eine strikte Orientierung an expliziten Erwähnungen wird vor allem ein zentrales Problem rekonstruierender Erzählungen umgangen: Sie geraten in dem Augenblick in Erklärungsnot, in welchem sie Passagen von Texten verwerten, die ein Ethnonym wie Βάραγγος oder πελεκυφόρος verwenden, jedoch just nicht dort, wo man Waräger am Werke sehen will. Ein klassisches Beispiel hierfür wäre Michael Psellos’ ausführlicher Bericht über die Blendung Michaels V.,143 in dem kein Βάραγγος, Ταυροσκύθης oder πελεκυφόρος begegnet, obwohl Psellos alle drei Begriffe kannte und an anderen Stellen auch benutzte. Selbstredend bieten eindeutige Textstellen nur einen äußerst begrenzten Ausschnitt zeitgenössischer Diskurse, doch bilden sie gerade angesichts des Charakters und der Verteilung byzantinischer Historiographie, die zum großen Teil Gegenwartsgeschichte behandelt und zudem relativ gleichmäßig chronologisch verteilt ist, eine gute Grundlage für diachrone Vergleiche, ohne dass man Vorannahmen aus anderen Quellencorpora in ihre Analyse einbringen müsste. Hierbei zeigt sich auch, dass die byzantinischen Gelehrten bis auf zwei Ausnahmen durchweg Anderes an den Warägern interessierte als die skandinavischen Historiographen,144 die kurz vor 1200 immer aufmerksamer nach Byzanz zu blicken begannen. In Texten, die zwischen der Emergenz des Ethnonyms Βάραγγος 1060 und der Usurpation des Alexios I. Komnenos 1081 entstanden, mit dessen Herrschaft sich einschneidende Veränderungen im byzantinischen Militär, aber auch der Herrschaftspraxis in zahlreichen anderen Bereichen verbinden und mit der eine neuen Phase byzantinisch-lateineuropäischer Kulturverflechtung in Folge der Kreuzzüge begann, begegnen »Skandinavier« an insgesamt 21 Stellen in elf verschiedenen Texten, wenn man die acht nicht unproblematischen Erwähnungen von »Tauroskythen« beziehungsweise »axttragenden Barbaroi« in Michael Psellos’ Χρονογραφία mitzählt. Zugleich zeigt sich bei der frühesten Textschicht die größte gattungsbezogene Vielfalt: Neben zwei Chroniken, derjenigen des Psellos und der Ἱστόρια des Michael Attaleiates, findet sich ein bereits er143 Chronographia 5,48–50, Bd. I, S. 114f. Vgl. Munch, Kritiske undersøgelser [1873], S. 543– 545; Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884], S. 383f.; Blöndal, S. 150–160/90–96 und die folgenden Ausführungen. 144 Es handelt sich um Nachrichten über Haraldr auf Sizilien (B11, NI 115-NI 118) und die Schlacht von Beroe 1122 (B58, B70, NI 19+NI 155).

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wähnter Brief des Psellos, ein Strategikon sowie ein ebenfalls bereits bekannter paränetischer Text, beide verfasst von einem nicht näher identifizierbaren Kekaumenos, und sechs Chrysobullen, deren ältester 1060 verfertigt wurde.

2.1.

Waräger, Tauroskythen und obskure Waffen bei Michael Psellos

Aufschlussreich sind bereits die frühesten Zeugnisse, der Brief des Psellos und ein Chrysobull des Konstantinos X. Doukas für das Kloster Lavra, der ein Privileg Konstantinos’ VII. Porphyrogennetos über die fiskalische Exemtion abhängiger Bauern, die Freiheit von Einmischung durch lokale militärische oder kirchliche Funktionäre sowie die Befreiung von Sonderabgaben und der Einquartierung von Truppen bestätigt; in der erschöpfenden Auflistung dieser Truppen begegnen »sowohl Warangoi, Rho¯s, Sarake¯noi, Phrangoi als auch andere Ethnien und die Rhomaioi«.145 Βάραγγοι steht hier als Ethnonym neben den Ῥῶς. Etwa zeitgleich, möglicherweise geringfügig früher, benutzt Michael Psellos das Wort in einem Brief an Nikephoros Keroullarios, den Neffen eben jenes berüchtigten Patriarchen Michael I. Keroullarios, mit dem sich die Geschichte des Schismas von 1054 verbindet.146 Der Brief ist, da Psellos sich durchgehend tropischer, sarkastischer Redeweise bedient, kaum verständlich, jedoch warnt er Nikephoros Keroullarios eindringlich vor einem »bösen Aderlasser«, den er selbst geschickt habe: »Ἀπέστειλά σοι ᾿ιατρόν, ἠγαπημένε μοι ἄνθρωπε, φλεβοτομεῖν δυνάμενον οὐκ ἀνθρώπους μόνον, ἀλλὰ καὶ κτήνη καὶ ξύλα, καὶ μάλιστα ταῦτα, διότι ἀφόβως ἐπιχειρεῖ καὶ ὑποβάλλει τὸ τῆς φλεβοτομίας ὄργανον. τοῦτο δέ σοι προλέγω καὶ διαμαρτύρομαι·μὴ φλεβοτομηθείης ποτὲ παρ’ αὐτοῦ μήτε ἄλλως ᾿ιατρευθείης. τοσαύτην γὰρ ἔχει δύναμιν ἡ ἐπιβολὴ τῆς χειρὸς αὐτοῦ, ὥστε ἀναιρεῖν αὐτίκα τὸν ᾿ιατρευόμενον· καὶ τὸ δὴ θαυμασιώτερον, ὅτι καὶ δρῦν ἐὰν πειραθῇ τεμεῖν αὐτίκα ψυγήσεται. περὶ τίνα οὖν ὠφέλιμός ἐστι καὶ περὶ ἃ μάλιστα ἐσπούδασε; μεσι[τεῦσαι] Βάραγγον, ἐξελᾶσαι χωρίων, ἀπαιτῆσαι διπλοῦν τὸν κανόνα, συκοφαντῆσαι, ἱεροσυλῆσαι. τὰ μ[ὲν] τοῦ ᾿ιατροῦ τοιαῦτα· ˙ σὺ δὲ ἀντίθες τὰ ἐναντία· ἐλέησον, ὠφέλησον, ει᾿ μὲν δυνατόν, μονοκάβαλλον, ει᾿ δὲ μή, πεζὸν καὶ ἀνυπόδετον ἐμοὶ διδοὺς τὴν χάριν.« »Ich entsandte einen Arzt zu Dir, mein Lieber, der den Aderlass nicht nur bei Menschen vornehmen kann, sondern auch bei Tieren und Hölzern – und zwar insbesondere bei letzteren. Denn er geht ohne Furcht mit dem Aderlass-Werkzeug um und sticht damit ein. Ich warne und mahne Dich, ihn bei Dir niemals einen Aderlass machen zu lassen, Dich von ihm auch sonst nicht therapieren zu lassen. Derart ist die Kraft seines Handauflegens, dass es den Patienten sofort umbringt. Noch verwunderlicher ist, dass 145 B15. 146 Tinnefeld, Michael I. Kerullarios [1989], hier bes. S. 120–124; s. auch Bayer, Spaltung der Christenheit [2004], S. 63–106.

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sein bloßer Versuch, an einer Eiche zu schneiden, diese sofort gefrieren lässt. Wozu ist er nützlich und worin hat er sich beim Studium hervorgetan? Vermittlung des Warangos; Verwaisung von Dörfern; Forderung nach dem doppelten Kanon; Verleumdung; Schändung. So viel über den Arzt. Stell Du dem Gegensätzliches entgegen. Erbarme Dich, tue Gutes, wenn Du reich bist, reite mit nur einem Pferd, und wenn nicht, gehe zu Fuß – tu mir diesen Gefallen.«147

Aus dem Text selbst geht hervor, dass die »Vermittlung des Warangos« im Kontext der übrigen Aufzählungen negativ konnotiert ist, und zwar in menschlicher wie in materieller Hinsicht, da diese Tätigkeit in einer Reihe mit Steuererhöhungen und der Verödung des Landes genannt wird. Dies lässt an genau die Einquartierung denken, von welcher die Chrysobullen jener Jahre bestimmte Klöster und Besitztümer ausnehmen: Wer einem den Waräger schickt, erweist dem fraglichen Grundbesitzer, in diesem Falle dem hohen Zivilbeamten Nikephoros Keroullarios, damit einen Bärendienst. Die spätere Überlieferung, vor allem bei Ioannes Skylitzes, stützt eine solche Lesart.148 Neben dieser textimmanenten Interpretation erschließt sich über den Kontext noch ein weiterer möglicher Grund. Die Keroullarioi, vor allem der Patriarch Michael, hatten um die Mitte des 11. Jahrhunderts erheblichen Einfluss auf die byzantinische Politik gewonnen:149 Er setzte sich mit seiner konfliktiven Haltung gegenüber dem Papst gegen Konstantinos IX. Monomachos durch, dominierte politisch während der Herrschaft Michaels VI. und schlug sich schließlich 1057 auf die Seite des Usurpators Isaakios Komnenos, was seine Macht abermals stärkte. Auch Michaels einflussreiche Neffen aus der zivilen Bürokratie, der im Brief adressierte Nikephoros und sein Bruder Konstantinos, unterstützten 1057 Isaakios. Der Patriarch hatte indes eine Machtfülle erlangt, die es ihm ermöglichte, Isaakios offen zu drohen, als dieser ihm nicht zu Willen war, was den Basileus wiederum veranlasste, ihn im Herbst 1058 mit militärischer Gewalt festzusetzen und aus der Hauptstadt zu deportieren. Wenn man dem im frühen 12. Jahrhundert entstandenen Scylitzes continuatus glauben darf, der über diese Vorgänge ebenfalls berichtet, waren es Βάραγγοι, welche diese Aufgabe übernahmen und den Patriarchen sowie seine Vettern ergriffen150 – wenig verwunderlich angesichts der Tatsache, dass Michael erheblichen Rückhalt in der lokalen Bevölkerung und möglicherweise unter den rhomäischen tagmata in der Stadt besaß. Außerdem zeigt schon bei Psellos selbst Isaakios als »Soldatenkaiser« eine besondere Affi-

147 B1. Für Hilfe bei der Übersetzung aus dem Griechischen danke ich sehr herzlich Stamatios Gerogiorgakis (Erfurt). 148 Vgl. die Erwähnung eines Vergewaltigungsversuchs durch einen Warangos (B25). 149 Hierzu auch im Folgenden Tinnefeld, Michael I. Kerullarios [1989], S. 96f.; Kazhdan, Keroularios [1991]; Bayer, Spaltung der Christenheit [2004], S. 101–106. 150 S. B29.

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nität zu »Axtträgern«, die ihn auch im Feld begleiten.151 Den folgenden Prozess gegen Michael, der einen Rückzug vom Patriarchat verweigerte, sollte kein anderer als Michael Psellos führen.152 Er wurde indes durch den Tod des Patriarchen überflüssig. Aus diesem Kontext ergibt sich noch eine andere Lesart des nach Michaels Absetzung verfassten Briefs: In der Erinnerung der Keroullarioi besaß das Ethnonym Βάραγγος aufgrund persönlicher Erfahrungen möglicherweise einen besonders unangenehmen Klang. Zugleich macht der Kontext verständlich, warum Psellos seinem Vertrauten Nikephoros erst einen »Arzt« schicken sollte, um ihn dann eindringlich vor ihm zu warnen. Schließlich hatte er selbst den Sturz des übermächtigen Patriarchen mit ins Werk gesetzt und dabei Kräfte freigesetzt, die sich nun gegen die übrigen Keroullarioi zu wenden drohten. Vor diesem Hintergrund liest sich die sarkastische Lobpreisung des todbringenden Arztes wie eine Warnung vor einem einflussreichen Feind am Hofe Isaakios’, der es auf ihr Besitztum abgesehen hat. Weiter als bis hier wird sich eine hypothetische Kontextverankerung kaum plausibel fortführen lassen; immerhin erschließt sie aber neben einer sprichwörtlich schlechten Reputation der Βάραγγοι möglicherweise einen zweiten, konkreteren Grund, warum Psellos hier im Gegensatz zu seiner Chronographia ein und gerade dieses Ethnonym aus der Volkssprache verwendet; mit den Ῥῶς verfährt er ähnlich.153 In vielfacher Hinsicht problematischer erscheinen dagegen die Erwähnungen von »Tauroskythen« beziehungsweise »Axtträgern« in Psellos’ Chronographia, die in zwei Etappen, nach dem Thronverzicht des Isaakios Komnenos ab 1059 bis 1063 und in einem letzten Abschnitt von 1075–1078 entstand.154 Der erste Abschnitt behandelt den Zeitraum bis Isaakios’ Rückzug ins Kloster. Dass die Fundstellen trotz ihrer Uneindeutigkeit dennoch berücksichtigt werden, begründet sich vor allem daraus, dass Psellos den Terminus Ταυροσκύθαι nicht wie sein Vorgänger Leon Diakonos, dessen Werk er fortsetzt, synonym zu Ῥῶς gebraucht, sondern beide konsequent trennt und die »Tauroskythen« als Axtträger qualifiziert, genau wie es später Anna Komnene mit den »Warangoi« tut.155 Diese 151 S. B7. Isaakios war zum Zeitpunkt seiner Usurpation 1057 δομέστικος τῶν Σχολῶν τῆς Ἀνατολῆς, also Oberkommandierender der Armee im östlichen Reichsteil (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 150). Vgl. zu seiner Herrschaft auch Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 48–53; zu seiner Charakterisierung bei Psellos Lauritzen, Depiction of Character [2013], S. 63–66. 152 Pietsch, Chronographia [2005], S. 110 Anm. 185 mit entsprechenden Quellenstellen zum Verhältnis von Psellos und Keroullarios; ausführlich Tinnefeld, Michael I. Kerullarios [1989]. 153 Vgl. zum pejorativen Gebrauch dieses Ethnonyms unten, S. 124f. 154 Hunger, Literatur [1978], S. 372–382; zur Chronographia generell Kaldellis, The Argument [1999], passim, hier S. 8–12; Pietsch, Chronographia [2005], passim, hier S. 2–6; Lauritzen, Depiction of Character [2013], bes. S. 193–206. 155 Vgl. Psellos (B7) mit Anna Komnene (B43+B44).

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ethnographische Übereinstimmung sowie seine Kenntnis des volkssprachlichbarbarischen Terminus Βάραγγος, der dem Gelehrten ganz offensichtlich im antikisierenden Stilanspruch seiner Chronographia156 inakzeptabel erscheint, rechtfertigen eine Inklusion. Gleich die erste Erwähnung von Ταυροσκύθαι ist von großer Tragweite, da sie intensiv rezipiert wurde: Psellos berichtet, wie bereits erwähnt, dass jene Tauroskythen, die 988 von Vladimir nach Konstantinopel geschickt wurden, Basileios sehr gelegen kamen, um einen militärischen Umsturzversuch abzuwehren.157 Bardas Phokas, selbst ein Neffe des Basileus Nikephoros II. Phokas (963–969), hatte unmittelbar nach dem Tode von Ioannes I. Tzimiskes 976 den Usurpationsversuch von Bardas Skleros, des Schwagers des verstorbenen Basileus, abgewehrt und Skleros ins syrische Exil getrieben. 987, als der junge Kaiser Basileios II. eine militärische Niederlage gegen die Bulgaren verkraften musste, kehrte Skleros mit einem Heer nach Kleinasien zurück. Der abermals gegen ihn ausgesandte Bardas Phokas indes, der selbst Usurpationsabsichten hegte, vereinigte seine Streitkräfte mit denjenigen des Skleros; beide zogen auf Konstantinopel. Just in dieser Situation, so Psellos, konnte Basileios II. jene zahlreichen tauroskythischen Krieger, welche er kurz zuvor erhalten hatte, gemeinsam mit dem »übrigen fremden Heer« (ξενικὴ ἕτερα δύναμις) 158 einsetzen, und das erfolgreich: Im Sommer 988 kam es bei Chrysopolis auf der asiatischen Seite des Bosporus zur Schlacht, in welcher die kaiserlichen Hilfstruppen den Usurpatoren eine herbe Niederlage beibrachten; Phokas selbst stürzte noch vor dem Zusammentreffen mit Basileios auf dem Schlachtfeld tot vom Pferd; Skleros unterwarf sich später dem Basileus. Dieses Ereignis, als Fanal für die Gründung einer absolut zuverlässigen »Warägergarde« gesehen, wird nur bei Psellos mit dieser Namensverteilung berichtet. Leon Diakonos, als Zeitgenosse ungleich besser informiert, berichtet Ähnliches wie Psellos, erwähnt jedoch mit keinem Wort eine besondere ethnische Identität der »ausreichenden Streitmacht« des Basileios.159 Ioannes Skylitzes und mit ihm Ioannes Kedrenos sowie Ioannes Zonaras bezeichnen die Hilfstruppen von 988 als Ῥῶς,160 mit der ganzen impliziten Problematik und Vieldeutigkeit bezüglich der Identität jener Truppen, welche der Begriff transportiert, heben sie also ethnographisch überhaupt nicht ab. Dass Psellos als einziger Historiograph nicht von Ῥῶς spricht, dieses Ethnonym aber 156 Zwar ist der Stil des Psellos ausgesprochen vielseitig und inkludiert auch umgangssprachliche Wendungen (Hunger, Literatur [1978], S. 380f.), doch vermeidet er den Gebrauch aktueller volkssprachlicher Ethnonyme, sofern sie nicht pejorativ gebraucht werden. 157 Dies ist das vermeintliche »Gründungsdatum« der »Warägergarde«, s. oben, S. 89 mit Anm. 63. 158 B2. 159 Leonis Diaconi Historia, ed. Hase [1828] X,9, S. 174. 160 Skylitzes, Basileios II. und Konstantinos VIII., Kap. 17, S. 336; Zonaras, S. 523.

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an anderer Stelle benutzt, und dass »Tauroskythen« bei ihm zwischen 988 und 1042 gar nicht begegnen, danach aber umso öfter, gibt zu denken. Darüber hinaus wird bei ihm und anderen Historiographen deutlich, dass beileibe nicht ausschließlich Rus’ beziehungsweise »Tauroskythen« das Rückgrat von Basileios’ Verteidigung bildeten, sondern eben eine ganze Reihe »fremder« Truppenkontingente. Was Psellos betont, ist weniger die Kriegstüchtigkeit jener Tauroskythen – sie überfallen die Gegner in deren Heerlager, nicht in offener Feldschlacht – sondern vielmehr die schicksalhafte Begünstigung des Basileus durch das rechtzeitige Eintreffen von Verstärkung, um die es dem Biographen eigentlich zu tun ist.161 Rückschlüsse auf mögliche Intentionen von Psellos’ Begriffswahl aber lassen erst die weiteren Verwendungen zu. Bei ihrem nächsten Auftreten im April 1042162 begegnen die Tauroskythen in exakt der gleichen Gruppenkonstellation wie 988. Ende 1041 war dem verstorbenen Basileus Michael IV. Paphlagon sein Neffe Michael V. gefolgt, den er und seine Gemahlin Zoe noch vor seinem Tode adoptiert hatten. Als Michael sich jedoch vom Einfluss der mächtigen Basilissa zu befreien versuchte und sie im April 1042 auf die Insel Prinkipos im Marmarameer bringen ließ, kam es zu Gerüchten über ein Mordkomplott und Unruhen in der Stadt, die Zoes Rückkehr erzwangen und Michaels Absetzung mit sich brachten. Psellos verdeutlicht das Mobilisierungspotential des Aufstandes durch eine Aufzählung: Die Beamten, der Klerus, die kaiserliche Familie, das Personal des Palastes, die Handwerker in der Stadt sowie »Fremde« und »Bundesgenossen« (ξενικὸν καὶ συμμαχικόν) im kaiserlichen Dienst hätten aufbegehrt; letztere werden wie im Eintrag zu 988 qualifiziert als »Tauroskythen und die anderen« (οἱ περὶ τὸν Ταῦρον Σκύθαι, ἢ ἕτεροί), was ihnen als Stellvertreter für fremde Truppenkontingente besonderes Gewicht verleiht; jedoch schreibt Psellos über die Vorgänge des Jahres 1042 im

161 Vgl. zur Nähe der Chronographia zu biographischen Darstellungsformen Pietsch, Chronographia [2005], S. 53–57. 162 B3. Blöndal, S. 153f./90f. suggeriert unzutreffend im Rekurs auf Psellos, die »Garde« sei zu den Aufständischen übergelaufen. Psellos schreibt unmissverständlich, es habe sich um einen allgemeinen Volksaufstand gehandelt, in den auch die Tauroskythai involviert gewesen seien. Dass er unter der Bewaffnung des Mobs, nicht der Palastwachen (!), auch πελέκεις (Äxte) erwähnt, besagt nichts, da er hier (7,27, S. 103) eine lange Liste aus Schwertern, Bögen, Speeren, Äxten und Steinen aufzählt, die verdeutlichen soll, dass der Mob alles als Waffe benutzte, dessen er habhaft werden konnte, und so vor dem Palast erschien. Die Äxte werden hier nicht mit den »Tauroskythen«, sondern dem gemeinen Pöbel der Stadt verknüpft, und selbstverständlich gebrauchten Handwerker und die Armee auch vor der Adaption der »Dänenaxt« Äxte (vgl. oben, S. 87 mit Anm. 53). Die Bedeutung der Tauroskythen bei Psellos ist hier völlig blass, Blöndal aber benötigt die Fiktion, weil er erklären muss, warum der »Gardist« Haraldr Sigurðarson Michael V. blendete, was wiederum weder Byzantiner noch die Sagas berichten.

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Gegensatz zu 988 bereits aus eigener Anschauung; bald darauf sollte er unter Konstantinos IX. Monomachos in hohe Ämter aufsteigen.163 Ausgesprochen aufschlussreich ist ein weiterer Abschnitt über dasselbe Jahr, der die Zeit der gemeinsamen Herrschaft der Schwestern Zoe und Theodora in der Zeit von April bis Juni 1042 behandelt und beschreibt, wie die Schwestern das Zeremoniell bei Hofe handhabten:164 »Σχῆμα δὲ βασιλείας ταῖς ἀδελφαῖς ἐποιοῦντο ὁποῖον καὶ τοῖς φθάσασιν εἴθιστο αὐτοκράτορσι· προὐκάθηντο γὰρ ἄμφω τοῦ βασιλικοῦ βήματος ἐπὶ μιᾶς ὥσπερ γραμμῆς βραχύ τι πρὸς τὴν Θεοδώραν παρεγκλινούσης, καὶ ἀγχοῦ μὲν οἱ ῥαβδοῦχοι καὶ ξιφηφόροι καὶ τὸ γένος ὅσοι τὸν πέλεκυν ἀπὸ τοῦ δεξιοῦ ὤμου κραδαίνουσι· τούτων δὲ ἐνδοτέρω μὲν τὸ ἄγαν εὐνούστατον καὶ οἱ διαχειριζόμενοι τὰ καθήκοντα· περιεστεφάνου δὲ αὐτὰς ἔξωθεν ἑτέρα τις δορυφορία δευτέραν ἔχουσα τάξιν τῆς πιστοτέρας, σὺν αι᾿δοῖ ξύμπαντες καὶ βλέμματι ἀπερειδομένῳ πρὸς γῆν· μεθ’ οὓς ἡ πρώτη βουλὴ καὶ ἡ τάξις ἡ ἔκκριτος, καὶ ἐφεξῆς οἱ τὰ δευτερεῖα λαχόντες καὶ αἱ τριττύες, στιχηδὸν πάντες καὶ συνηρμοσμένοι ἐκ διαστήματος.« »Die Zeremonie des Kaiserhofes wurde bei den Schwestern genau so durchgeführt, wie es von den vorangegangenen Herrschern gewohnt gewesen war. Sie saßen nämlich beide vor der kaiserlichen Tribüne wie in einer Linie, die bei Theodora leicht zur Seite abwich, und um sie herum waren die rhabdouchoi (Liktoren/Rutenträger) und die xiphe¯phoroi (Schwertträger) sowie das Volk, das die Axt von der rechten Schulter schwingt; innerhalb aber waren die engsten Vertrauten und die Inhaber der Hofämter; im Kreis außen um sie herum stand die übrige Leibwache (doryphoria), die den zweiten Rang der Getreuen innehatte, alle zusammen mit Respekt den Blick zu Boden gerichtet. Hinter ihnen befanden sich der Senat und die auserwählte Klasse, und danach die Inhaber des zweiten und dritten Ranges, alle in Reihen und in regelmäßigem Abstand angeordnet.«

Das »Volk, welches die Axt von der rechten Schulter schwingt« (τὸ γένος ὅσοι τὸν πέλεκυν ἀπὸ τοῦ δεξιοῦ ὤμου κραδαίνουσι) ergänzt hier die antik anmutenden »Liktoren« und »Schwertträger« zu einer Dreiheit; dies wiederholt sich im gleichen Buch bei der Beschreibung eines Triumphzuges des strate¯gos Pardos im Jahre 1043, nachdem dieser den Usurpator Georgios Maniakes besiegt hatte.165 Die Bezeichnungen geben höchstwahrscheinlich keine funktionelle Einteilung irgendwelcher Einheiten wieder, sondern beschreiben vielmehr eine Vielfalt von Waffenträgern beim Zeremoniell. Die τάγματα, hauptstädtische Militäreinheiten, die auch am Palast zu finden waren, werden im militärischen Schrifttum grundsätzlich anders als die oben genannten Waffenträger, jedoch mitunter wie

163 Er lässt sich gemäß seiner Chronographia 1041 als Sekretär am kaiserlichen Gericht fassen, bevor er 1043 unter Konstantinos IX. zum kaiserlichen Privatsekretär wird (Hunger, Literatur [1978], S. 373). 164 B4. 165 B5.

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bei Psellos variierend und frei umschreibend bezeichnet.166 Dass es sich indes bei »Axtträgern« prinzipiell zugleich um »Tauroskythen« handeln kann, geht aus einer anderen, ähnlichen Beschreibung eines zeremoniellen Empfangs im August 1057 hervor.167 Damals hatte sich der strate¯gos Isaakios Komnenos, der aufgrund seines langjährigen Oberkommandos in Kleinasien entsprechenden Rückhalt in der Armee besaß, erhoben und zum Basileus proklamieren lassen;168 Michael Psellos selbst war nach der für Isaakios siegreichen Schlacht von Petroia bei Nikaia von Michael VI. als Unterhändler entsandt worden, um Isaakios hohe Würden und schließlich das Mitkaisertum und die Regentschaft neben dem alten Basileus anzubieten.169 Im Kontext dieser Begegnung, die sich bei Nikomedeia abspielte, schildert Psellos einen sorgfältig inszenierten Empfang im Feld bei Isaakios, bei dem ähnlich wie im Zeremoniell Zoes und Theodoras die Getreuen nach ihrem Rang in konzentrischen Kreisen um den Herrscher angeordnet sind, der in einem großen Zelt thront. Im Falle des Feldherrn, der sich die Kaiserwürde angeeignet hat, handelt es sich naturgemäß um Soldaten; den äußersten Kreis bilden die »verbündeten Truppen« (συμμαχικαὶ δυνάμεις), die als Italoi und Tauroskythen bezeichnet werden. Beide »Völker« – mit den Italoi sind, wie aus dem Wortgebrauch von Psellos und anderen Zeitgenossen klar wird, die Normannen gemeint – werden in der Tradition antiker Ethnographie in ihrem Aussehen, ihren Kampfgewohnheiten und ihrem Waffengebrauch näher beschrieben.170 Daraus erfährt man nicht nur, dass die Normannen außer ihrem Barbarenstatus aus byzantinischer Sicht nichts mit den »Tauroskythen« gemein haben, sondern auch, dass letztere einschneidige Streitäxte (ἀξῖναι ἑτερόστομοι) auf den Schultern tragen. Diese erste Verbindung von »Axtträgern« und »Tauroskythen« in der byzantinischen Historiographie erlaubt eine Identifikation und die Verfolgung der fraglichen Gruppe über beide Beschreibungen. Auf diese Weise wird der Blick zurückgelenkt auf eine dieser Schilderung unmittelbar vorangehende Szene des Empfangs:171 Die Inszenierung beginnt nicht erst im Zelt, sondern bereits vor dem dem Betreten des Zeltes beschreibt

166 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 115. 167 B7. 168 Vgl. Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 48–51; Brand/Cutler, Isaac I Komnenos [1991]. 169 S. zur Problematik der autobiographischen Schilderung von Psellos’ eigener Rolle unter Isaakios Kaldellis, The Argument [1999], S. 167–170. 170 Von einer Identifikation von Normannen und Skandinaviern, die Bibikov, Byzantine Sources [2005], S. 17 hier erkennt (Italoi seien »Skandinavier«, Tauroskythai »Rus’«), kann keine Rede sein; es handelt sich um eine parallele, kontrastierende Beschreibung zweier Barbarengruppen, einer aus »Italien« und einer von nördlich des Schwarzen Meeres. Vgl. auch Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 292f. Zur byzantinischen Ethnographie und ihren Konventionen S. 83 mit Anm. 37. 171 Ebenfalls unter B7.

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Michael Psellos eine Masse an Soldaten, die abermals in konzentrischen Kreisen auf den Zelteingang hin ausgerichtet ist. Hier findet sich eine Trias aus drei Waffengattungen, analog zum Zeremoniell bei Zoe und Theodora, nämlich Schwertträger, Lanzenträger sowie diejenigen, die »von den Schultern die von Eisen schweren rhomphaiai schwangen« (οἱ δ’ ἀπὸ τῶν ὤμων ῥομφαίας βαρυσιδήρους ἐπέσειον). Es stellt sich unmittelbar die Frage, welche Waffen Psellos hier eigentlich meint, denn bei der rhomphaia handelt es sich um eine thrakische Stangenwaffe des 4. Jahrhunderts vor Christus, die eine Länge von über einem Meter aufwies, wovon mehr als die Hälfte auf eine schlanke, einschneidige, gerade oder leicht gekrümmte Klinge entfiel, der Rest auf einen hölzernen Griff. Eine solche Waffe ist in der byzantinischen Zeit nicht nachzuweisen, und in der Tat erschließt sich der Wortgebrauch bei Psellos über antike und biblische Vorbilder: Einerseits benutzt Plutarch das Wort, andererseits begegnet es im Lukasevangelium und mehrfach in der Offenbarung des Johannes; es kann dort sowohl Speere als Schwerter bezeichnen, ist also relativ frei verwendbar.172 Hier offenbart sich deutlich das Dilemma, in das eine Untersuchung gerät, die aus der Wortverwendung Rückschlüsse auf Konzepte, in diesem Fall von einer Gruppe von Fremden, zu schließen sucht: Beschreibendes und ethnographisches Interesse schneiden sich in der Chronographia mit dem Ideal antiken Sprachgebrauchs sowie besonders bei Psellos einer Vorliebe für begriffliche Variation und die Demonstration hoher Bildung.173 Das Ziel, bestimmte semantische Zuordnungen zu erkennen, verschwimmt hierdurch erheblich. Dennoch spricht einiges für eine Identifikation der ῥομφαία mit der πέλεκυς beziehungsweise der ἀξίνη, welche die Tauroskythen auf ihrer Schulter tragen:174 Zum einen wird auch die rhomphaia auf der Schulter getragen, zum anderen bezeichnet Psellos sie an einer späteren Stelle explizit als einschneidig (ἑτερόστομος), was, wenn er sie als Bezeichnung für einen Speer oder ein Schwert benutzt hätte, wenig Sinn ergäbe. Hinzu tritt eine gewisse Ähnlichkeit der rhomphaia mit der im skandinavischen Mittelalter verwendeten Streitaxt, zumindest insofern, als es sich um eine Stangenwaffe vergleichbarer Länge mit einer Schneide handelt. Dazu fällt auf, dass die ersten zwei der fünf Erwähnungen von »Axtträgern« πελέκεις verwenden, während an der dritten Stelle, der Szene am Eingang zum Zelt des Usurpators Isaakios, von ῥομφαίαι die Rede ist, in der unmittelbar folgenden, dezidiert ethnographischen Szene im Zelt des Isaakios wiederum im Rückgriff auf die Ilias von ἀξίνη, bevor bei der letzten Erwähnung aus dem später geschriebenen 172 Kolias, Byzantinische Waffen [1988], S. 191f., Anm. 38, 212 Anm. 143; Burckhardt, Rhomphaia [2001]; Heath, Byzantine Armies [1979], S. 38 irrt in der Annahme, Palasttruppen hätten in der Tat rhomphaiai benutzt. 173 Hunger, Literatur [1978], S. 380f.; Psellos: Chronographie, ed. Renauld [1967], S. XXII– XXIX; Lauritzen, Depiction of Character [2013], S. 167–191. 174 Vgl. hierzu auch Dawson, »Varangian Rhomphaia« [1992].

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zweiten Teil der Chronographia, wieder im zeremoniellen Kontext, abermals die ῥομφαία begegnet.175 Es scheint so, als habe Psellos nach einem passenden, antikem Sprachgebrauch angemessenen Terminus gesucht, was nicht ohne weiteres möglich war, nutzten die Byzantiner doch die Streitaxt als Waffe kaum.176 Das Zeremonienbuch des Konstantinos Porphyrogennetos bezeichnet Äxte als τζικούρια oder διστράλια, wobei nicht eindeutig zu erweisen ist, ob Psellos diese Kompilation kannte; zudem steht ihr Stil der Volkssprache zu nahe, als dass der Chronist sie hätte zum Vorbild nehmen können, und sie beschreibt nicht die Langwaffen, die er als Unterhändler im Gefolge des Isaakios gesehen hatte.177 Letztlich sollte sich im 12. Jahrhundert πέλεκυς als erstes Glied des Kompositums »Axtträger« (πελεκυφόρος) durchsetzen, doch bezeichnet das im Griechischen gebräuchliche Wort zunächst eine schlichte Werkzeugaxt zum Zwecke des Holzhackens und lässt keine Prunkwaffe erahnen, welche der Schilderung des Zeremoniells angemessen wäre. Außerdem scheinen πελέκεις prinzipiell zweischneidige Äxte gewesen zu sein, um die es sich im fraglichen Kontext aber nicht handelte, wie Psellos an einer Stelle deutlich hervorhebt.178 Eine andere gängige Bezeichnung für die Axt, τζικούριον, kam augenscheinlich wegen deren geringerer Größe nicht in Frage.179 Das Wort ἀξίνη hingegen bezeichnet zwar bei Homer und Herodot eine Streitaxt, meinte aber in byzantinischer Zeit ebenfalls ein Werkzeug zur Holzbearbeitung,180 so dass sich die Applikation der nicht nur in antiken Vorbildern, sondern auch in der Bibel und in exegetischen Texten verbürgten, weniger nach Handwerkzeug klingenden ῥομφαία als Bezeichnung für »Streitaxt« anbot. Folgt man dieser Interpretation, sind »Tauroskythen« und »Träger der rhomphaiai« zumindest teilweise, angesichts der Mehrdeutigkeit des Begriffs aber nicht automatisch identisch. 175 B8. 176 Der Schluss, Psellos stehe bei der Begriffswahl unter dem Druck des mime¯sis, stimmt überein mit Dawson, »Varangian Rhomphaia« [1992]. Zur Axt in Byzanz Kolias, Byzantinische Waffen [1988], S. 162–172, der das vereinzelte Auftauchen der Waffe im byzantinischen Militär seit dem frühen 10. Jahrhundert für eine Folge rusisch-byzantinischen Kulturtransfers hält, was sich aber anhand von DC nicht erhärten lässt. Es finden sich jedoch auch kleine Wurfäxte fränkischen Typs sowie ein eingeschränkter Gebrauch durch die Reiterei, der wohl auf persische Vorbilder zurückzuführen ist (ebd. 163–166). Vgl. auch Haldon, Warfare [1999], S. 134; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 96f. 177 Hierzu oben, S. 87f. 178 So qualifiziert er die beim Zeremoniell gezeigten Äxte als ἑτερόστομοι, also als einschneidig, was auch später gern betont wird. Die skandinavische Form der Streitaxt mit nur einer Schneide war offenbar angesichts heimischer Typen ungewohnt (B7+B8; Anna Komnene, B48; Panegyrikus Browning, B52; Niketas Choniates, B74+B75). 179 Kolias, Byzantinische Waffen [1988], S. 167f. schließt die Tatsache der geringeren Größe überzeugend daraus, dass für die Ausrüstung von Kriegsschiffen immer ein Mehrfaches an τζικούρια gegenüber den πελέκεις vorhanden sein musste (DC, S. 671, Z. 4). 180 Kolias, Byzantinische Waffen [1988], S. 167; er übersieht allerdings die Erwähnung bei Psellos (B7).

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Eine solche Lesart wird gestützt durch die bereits erwähnte letzte Fundstelle in der Chronographia. Sie gehört als einzige zum unvollendeten zweiten Teil des Werkes, das wohl zwischen 1075 und 1078 unter dem Einfluss des Kaisers Michael VII. entstand und stärker noch als der erste Teil Züge von persönlichen Memoiren aufweist.181 »Träger von rhomphaiai« begegnen hier bei einem zentralen Ereignis, nämlich dem Umsturz nach der verhängnisvollen Schlacht von Mantzikert 1071, bei welcher der Basileus Romanos IV. Diogenes in seldschukische Gefangenschaft geraten war.182 Psellos selbst und der kaisar Ioannes Doukas, der Vaterbruder des späteren Basileus Michael VII. Doukas, setzten den Umsturz in einer Situation allgemeiner Ratlosigkeit ins Werk, indem sie Michaels Mutter, die Basilissa Eudokia Makrembolitissa, entmachteten. Zu diesem Zweck habe Michael, der bereits 1067 zum Mitkaiser erhoben worden war, sich die Palastwachen (οἱ περὶ τὴν αὐλὴν φύλακες) gewogen gemacht; bei ihnen handle es sich um ein genos, dessen Angehörige Schilde sowie die »einschneidige und die aus schwerem Eisen gefertigte rhomphaia auf der rechten Schulter« trügen (ῥομφαίαν τινὰ ἀπὸ τοῦ ὤμου ἑτερόστομον καὶ βαρυσίδηρον ἐπισείοντες). Sie hätten den Symbasileus in ihre Mitte genommen und in den oberen Stockwerken des Palastes in Sicherheit gebracht. Ihr kriegerisches Gebrüll, das Gegeneinanderschlagen ihrer Schilde und rhomphaiai hätten solchen Lärm und bei der Basilissa solche Furcht verursacht, dass sie, von Psellos begleitet, in einen unterirdischen Teil des Palastes geflohen sei. Einerseits stützt die hier betonte Einschneidigkeit der rhomphaia eine Identifikation mit Äxten; zugleich aber bereitet eine daraus herzuleitende Identifikation der Palastwachen allgemein mit »axttragenden Tauroskythen« einiges Kopfzerbrechen, bliebe es doch die einzige Stelle in der vorkomnenischen Historiographie, auf die sich eine solche Assoziation stützten könnte. Als Beleg für die Existenz einer »Warägergarde« ist eine teils auf Indizien gestützte Assoziation von Axtträgern mit Tauroskythen und wiederum von diesen mit Trägern der rhomphaia jedenfalls nicht belastbar, zumal abgesehen von letzterer Fundstelle »Tauroskythen« beziehungsweise »Axtträger« im Zeremoniell stets nur eine unter mehreren Gruppen von Palasttruppen darstellen. So bleibt aus der Beschreibung des Umsturzes von 1071 der Eindruck, dass es sich bei den Trägern der rhomphaia sicherlich um Barbaren am Palast handelte und dass sich zweifellos Skandinavier unter ihnen befanden, doch bleibt die Waffenbezeichnung, welche diese Gruppe definiert, zu vage, um in ihnen einwandfrei »Tauroskythen« beziehungsweise mit Äxten bewaffnete Skandinavier erkennen zu können, was auch im Widerspruch zum Bild der übrigen Fundstellen in der Chronographia und in anderen Texten stünde. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Psellos mit den mit rhomphaiai bewaffneten »Beschützern« des Michael Doukas 181 Hunger, Literatur [1978], S. 377f.; Pietsch, Chronographia [2005], S. 111–128. 182 B8.

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die verschiedenen Barbaroi meint, die sich im Palast aufhielten, ähnlich, wie es etwas später Michael Attaleiates im Kontext eines Anschlags auf den Basileus Nikephoros Botaneiates183 wiederholt. Angesichts der Tatsache, dass beiden Autoren Ethnonyme zur Verfügung standen, ist der Verzicht auf eine nähere Definition der Fremden im Palast jedenfalls bemerkenswert. Eine klare, das ganze Werk übergreifende begriffliche Systematik bei der Beschreibung von Barbaren am Palast sowie in der Hauptstadt lässt sich mithin bei Psellos nicht erkennen. Offensichtlich genießt Eloquenz Vorrang vor ethnographischer Präzision, besonders dann, wenn im jeweiligen Kontext kein exotisierendes Interesse an den Barbaren besteht; zugleich scheinen antike und daher wohlklingende Bezeichnungen wie rhomphaia auch deshalb willkommen zu sein, weil sie inkludierend und verallgemeinernd etwa in Bezug auf Wachen bei Hofe mit prunkvollen Waffen gebraucht werden können. Auch später begegnet die rhomphaia noch vereinzelt in der komnenenzeitlichen Historiographie, jedoch praktisch durchgehend im Rückgriff auf die beiden Schilderungen von Leibwachen bei Michael Psellos: Zum einen benutzt und zitiert Nikephoros Bryennios abschnittsweise die Chronographia, wenn er vom Sturz des Romanos Diogenes und Michaels VII. Interaktionen mit den Palastwachen im Spätsommer 1071 berichtet,184 zum anderen bedient seine Gemahlin Anna Komnene sich des gleichen Wortlauts wie Psellos, als sie von einem Empfang ihres Vaters Alexios Komnenos berichtet, dem nach einem missglückten Mordanschlag im Jahre 1094 die Schuldigen vorgeführt wurden und der sich hierbei mit Verwandten und Wachen umgab, welche mit rhomphaiai bewaffnet gewesen seien.185 In beiden Fällen handelt es sich um Zitate, welche über ein halbes Jahrhundert später die elegante Formulierung übernehmen, bei denen jedoch aus dem Kontext deutlich wird, dass mit den so beschriebenen Personen Warangoi gemeint sind. Aus quellenkritischer Sicht besitzen sie für die vorkomnenische Zeit keinen besonderen Aussagewert, dokumentieren aber, dass spätere Rezipienten Psellos’ »Träger der rhomphaiai« mit Warangoi assoziierten. Doch auch im 12. Jahrhundert war diese Assoziation nicht zwingend; Bryennios und auf ihm beruhend auch Anna benutzen den Terminus noch in einem anderen Kontext, um die Prunkwaffen kaiserlicher Leibwächter zu bezeichnen, jedoch ohne jedwede Anspielung auf die Beteiligung von Barbaren: Ende 1077 hatten sich sowohl der doux von Dyrrhachion und Vater oder Großvater des gleichnamigen Geschichtsschreibers, Nikephoros Bryennios, sowie der strate¯gos des Themas Anatoliko¯n, Nikephoros Botaneiates, gegen den Basileus Michael VII. Doukas erhoben. Des Bryennios Belagerung blieb erfolglos, so dass Bota183 B14. 184 B36. 185 B47.

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neiates sich die Kaiserwürde sichern konnte, während Bryennios Thrakien unter seine Kontrolle brachte. 1078 schließlich kam es bei Kalavrye in Thrakien zur Schlacht zwischen dem Heer des Bryennios und den zahlenmäßig unterlegenen kaiserlichen Truppen, die vom domestikos to¯n scholo¯n Alexios Komnenos kommandiert wurden.186 Obschon die Schlacht zunächst für Alexios ungünstig verlief und er bei einem direkten Angriff auf Bryennios beinahe gestellt worden wäre, gelang es ihm, so berichten der jüngere Bryennios und Anna übereinstimmend, die gegnerischen Linien mit sechs seiner Getreuen zu durchbrechen, wohinter er das purpurbehängte Paradepferd seines Gegners vorfand sowie »Träger von rhomphaiai, welche die Basileis gewöhnlich begleiten«.187 Dass diese mehrfach genannten Waffen einschneidig seien oder auf der Schulter getragen würden, vermerken hier weder Bryennios noch Anna Komnene. Alexios habe sich mit Hilfe seiner sechs Getreuen sowohl des Pferdes als auch der rhomphaiai bemächtigt und sei unbemerkt vom gegnerischen Gros zu den eigenen Linien zurückgekehrt, wo er seinen Truppen mit dem Ausruf, der feindliche Feldherr sei gefallen, neuen Mut verliehen habe.188 Ab hier verlief die Schlacht zu seinen Gunsten und endete mit seinem Sieg. Dass die Träger der rhomphaiai, von denen Nikephoros Bryennios, der Nachfahr des gescheiterten Rebellen und Schwiegersohn des Siegers, hier berichtet, Warangoi oder überhaupt Barbaren gewesen seien, wird mit keinem Wort auch nur angedeutet. Auch Anna bietet keinerlei Indiz, es habe sich bei den von Alexios überrumpelten Leibwächtern des Bryennios um Warangoi oder um Barbaroi gehandelt. Insofern behält das bei Psellos begegnende Wort seine unscharfe Bedeutung, die teilweise schon Psellos’ byzantinischen Rezipienten eine Identität von »Trägern der rhompaiai« mit »Skandinaviern« nahelegt, teilweise jedoch auch für sie ganz unspezifisch »Palastwachen« oder »Leibwächter« bedeuten kann, die mit Prunkwaffen ausgestattet sind. Semantische Mehrdeutigkeiten dieser Art bleiben bei Psellos nicht allein auf die Wahl einer antiken Waffenbezeichnung beschränkt, sondern beziehen sich auch auf die Tätigkeiten der »Tauroskythen« in seiner Chronographia. Während zwei frühe Erwähnungen von Ταυροσκύθαι (zu 988 und 1042) als Verbündete, eine explizite Assoziation von Tauroskythen als Axtträger (zu 1057) sowie die beiden Erwähnungen von Axtträgern im Zeremoniell (unter 1042 und 1043) homogen und wenig problematisch erscheinen, irritiert die dritte Erwähnung von Ταυροσκύθαι. Sie geht der ausführlicheren ethnographischen Beschreibung 186 Eine Analyse der Schlacht und der bei Nikephoros und Anna beschriebenen Taktiken bietet Tobias, Tactics and Strategy [1979]; vgl. auch Haldon, Warfare [1999], S. 205f.; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 56–58. 187 Nikephoros Bryennios 4,9, S. 273, Z. 25: τὰς ἐξ ἔθους τοῖς βασιλεῦσι παρεπομένας ῥομφαίας. 188 Ebd., S. 273/275. Ausführlicher, doch mit der gleichen Wortwahl, berichtet Anna Komnene 1,5,7, S. 23 bzw. 1,5,9, S. 23f.

Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten

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im Rahmen des Empfangs beim Rebellen Isaakios Komnenos 1057 etwas voraus und begegnet im Rahmen der vorangehenden, für ihn siegreichen Schlacht von Nikaia.189 Als eine Flanke von Isaakios’ Heer nachgab, sei dieser zugleich von vier Tauroskythen aus dem kaiserlichen Heer mit Lanzen angegriffen worden, die ihn jedoch nicht aus dem Sattel hätten heben können, da sie ihn simultan mit gleicher Kraft von beiden Seiten getroffen hätten. Dieser für Isaakios äußerst glückliche Zufall wird von Psellos als Wendepunkt der Schlacht dargestellt. Ein Problem mit der Identität jener Tauroskythen tut sich jedoch nicht nur deshalb auf, weil sie mit Lanzen und nicht mit Streitäxten kämpfen, wie es in späteren Texten durchweg der Fall ist, sondern auch aus dem Grund, dass der narrative Kontext sowie die Logik eine Attacke zu Pferde nahelegen.190 Da es sich bei berittenen »Tauroskythen« jedoch nicht um Skandinavier handeln kann, wie bereits im Kontext früherer Erwähnungen von Ῥῶς erörtert, erhält auch der TauroskythenBegriff bei Psellos eine Unschärfe, die schon seinen Vorgänger Leon Diakonos kennzeichnet und der charakteristisch nicht nur für diese Werke, sondern für das 11. Jahrhundert vor der Usurpation des Alexios Komnenos insgesamt zu sein scheint: Unbestreitbar werden sich unter den verbündeten Tauroskythen und zumal unter den Axtträgern Skandinavier befunden haben, doch muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass Psellos an der letztgenannten Stelle ähnlich wie Leon Diakonos und andere Autoren ein halbes Jahrhundert zuvor Rus’ beschreibt, die nicht direkt aus Skandinavien, sondern aus der transkulturell geprägten Gesellschaft nördlich des Schwarzen Meeres nach Byzanz gekommen waren. Auch im späteren 11. Jahrhundert war schließlich der Reiseweg von Norden nach Byzanz entlang des Dnjepr und über das Schwarze Meer derselbe geblieben.191

189 B6. 190 Die unmittelbar vorangehende Passage berichtet von einer erfolgreichen Kavallerieattacke der kaiserlichen Truppen, die zur Auflösung der Linien in Isaakios’ Heer geführt habe. In der darauf folgenden Melée, in welcher Isaakios im Zentrum stand, müssen die Tauroskythai mit ihren Lanzen auf ihn getroffen sein, was nahelegt, dass sie mit dem Reitereiangriff in seine Nähe gelangt sein müssen. Vgl. auch die Beobachtungen hierzu von Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 292f., Anm. 74. Er zieht jedoch hieraus keinen Rückschluss auf Differenzen zwischen Skandinaviern und Rus’; sie bleiben »Russo-Skandinavier« und ihre Waffe die Streitaxt, obschon diese Passage jener Verschmelzung unzweideutig widerspricht. 191 Es wurde wiederholt angemerkt, dass der »Ostweg« in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts durch Steppenvölker unterbrochen wurde bzw. dass skandinavische Migration zurückging (u. a. Piltz, Varangian Companies [1998], S. 102f.; Roslund, Brosamen [1998], S. 376; Ciggaar, Western Travellers [1996], S. 110; Tolochko, Primary Chronicle [2008], S. 186), doch waren Unterbrechungen nicht dauerhaft, und der Handel blühte auch im 12. Jh. (Franklin/Shepard, The Emergence of Rus [1996], S. 208f., 324–326; Noonan/Kovalev, Prayer, Illumination and Good Times [2007], S. 87–90); dies deckt sich mit dem Fazit aus Funden byzantinischer Handelsgüter in Ostskandinavien, deren Menge um 1150 ihren Höhepunkt erreicht (Roslund, Brosamen [1998], S. 381–385).

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Unterstellte man der Chronographia eine »gepflegte Semantik« im Luhmannschen Sinne192 für die Beschreibung von Barbaroi aus dem Norden, bedeutete dies, dass man die Aussagekraft der Wörter über extratextuelle Verhältnisse überstrapazierte und folglich ihren Sinn deformierte; dies gilt angesichts des heterogenen Begriffsbestandes aus Tauroskythen, Trägern von πελέκεις, ἀξῖναι oder ῥομφαίαι, den der Text zur Benennung von Fremden aus dem Norden benutzt, angesichts der Unschärfen der jeweiligen Wortbedeutungen in verschiedenen Kontexten sowie der widerstreitenden Faktoren, welche die Begriffswahl beeinflussen. Vielmehr setzt sich Psellos selbst mit einer gehegten antiken Begriffssystematik auseinander. Einerseits kannte er den Βάραγγος-Begriff, wie aus seinem Brief hervorgeht und wie er sich auch in zahlreichen Chrysobullen jener Zeit findet, was eine Differenzierung zwischen Rus’ und Skandinaviern plausibel macht. Andererseits zeigt bereits die Abwesenheit des Wortes in der Chronographia, dass andere Faktoren – der variierende Gebrauch antiker Terminologie, ihre Anpassung an den jeweiligen höfisch-prunkvollen oder ethnographischen Erzählkontext – dominierten und eine präzise Identifikation und Schilderung von Barbaren im Zirkel der Macht keine Priorität genoss. Folgerichtig verschwimmen die Konturen von Skandinaviern in Byzanz bei den frühesten Zeugnissen im Dunst diskursiver Praktiken. In zumindest einer Hinsicht aber zeigt die Chronographia eine deutliche begriffliche Trennschärfe, und es verwundert kaum, dass diese für die Textaussage eine große funktionale Bedeutung hat: Psellos unterscheidet konsequent zwischen den verbündeten, positiv konnotierten und zumeist mit Äxten bewaffneten »Tauroskythen« und den Byzanz feindlich gesonnenen, von irrsinnigem Hass auf die Rhomäer getriebenen Ῥῶς. Letztere begegnen in der Chronographia nur einmal, nämlich im Kontext der Belagerung von Konstantinopel durch die Rus’, die im Anschluss an die Revolte des Georgios Maniakes 1043 stattfand193 und bei der die riesige Flotte aus kleinen, offenbar nur begrenzt seetauglichen »rusischen Schiffen« (σκάφη Ῥωσικά) 194 schließlich vor allem Opfer eines Sturms geworden sei, da die (Fluss-)Schiffe dem entstehenden Seegang nicht gewachsen gewesen seien. Dass es sich bei den angreifenden Ῥῶς in der Chronographia nicht um »Tauroskythen« handelt, welche etwa für Leon Diakonos mit Ῥῶς identisch sind,195 sondern dass bei Psellos zwischen beiden in allen Eigenschaften ein himmelweiter Unterschied besteht, unterstreicht auch die Wortwahl: Nicht allein 192 Vgl. hierzu Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik 4 [1999], S. 55–100; zum Verhältnis zwischen gepflegter Semantik und Alltagssemantik Koch, Semantik [2011], S. 373f. mit weiteren Verweisen auf Luhmanns Œuvre und den Zusammenhang mit der Begriffsgeschichte. 193 Chronographia 6,90–95, Bd. II, S. 8–12. 194 Ebd., S. 8. 195 Vgl. S. 85 mit Anm. 41.

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der Verzicht auf eine antikisierende Bezeichnung der Rus’ bedeutet eine Abqualifizierung, sondern zugleich liegt hierin eine Anspielung auf die Assoziation der Rus’ mit den Völkern Gog und Magog aus der Offenbarung des Johannes: Apokalyptische Rhetorik und Anspielungen auf den Fürsten Gog von Rosch (Ῥώς!), Meschech und Tubal, wie er bei Ezechiel begegnet,196 finden sich bereits im Kontext der Photios-Homilien über den Angriff der Ῥῶς auf Konstantinopel 860.197 In der Vita des Basilius Iunior aus dem 10. Jahrhundert werden die Ῥῶς expressis verbis mit Gog und Magog aus der Johannes-Offenbarung identifiziert,198 desgleichen bei Leon Diakonos.199 Dieser eschatologische und den Gegner schmähende Bedeutungsaspekt mag entscheidend zur Wahl der Bezeichnung für den Feind in der Chronographia beigetragen haben. In Bezug auf unsere Fragestellung mochte es zunächst so scheinen, als bekräftige das Auftauchen des Terminus Ῥῶς die skandinavische Identität der ganz anders qualifizierten Ταυροσκύθαι. In der Tat mag Psellos die Differenz zwischen skandinavischsprachigen varjagi beziehungsweise Βάραγγοι und slawischsprachigen Rus’ aus dem Dnjepr-Raum bewusst gewesen sein – immerhin fallen die letzten Jahre von Haraldr Sigurðarsons byzantinischer Karriere in Psellos’ frühe Jahre bei Hofe – doch richtet sich seine klare Differenzierung nicht primär nach ethnographischen Kriterien, sondern nach ihrem Nutzen oder Schaden für das Reich der Rhomäer. Dies erhellt im Nachhinein die erste Erwähnung von Tauroskythen bei Psellos im Kontext der Ereignisse des Jahres 988. Es handelte sich bei diesen Truppen nach anderen, zeitlich näheren Texten um Ῥῶς gemäß dem breiten Bedeutungsspektrum, welches dieser ethnographische Terminus im späten 10. und frühen 11. Jahrhundert abdeckt. Dass diese Hilfstruppen bei Psellos zu Tauroskythen mit entsprechenden Anklängen an aus heutiger Sicht »warägisch« konnotierte »Axtträger«, den Palast und kaiserliches Zeremoniell avancieren mussten, ist ein Resultat der klaren Rollenverteilung zwischen Ῥῶς und Tauroskythen und besagt nichts über die ethnische Identität der von Vladimir entsandten Krieger, ganz unabhängig davon, was die Povest’ vremennych let aus einer diachron ähnlich fernen Perspektive berichten mag. Es ist nicht nur bei dieser Fundstelle mehr als wahrscheinlich, dass man mit den Tauroskythen bei Psellos neben skandinavischen Migranten wie etwa Haraldr und seinen Männern zugleich Rus’ zu fassen bekommt, während sich unter den 1043 angreifenden und dem Antichrist zuarbeitenden Ῥῶς wiederum Skandinavier befunden haben müssen – immerhin ist

196 Hes 38,3; 39,1. Da die Septuaginta das hebräische »Haupt« (rosch) nicht übersetzt (dagegen die Vulgata »[…] contra Gog, terram Magog, principem capitis Mosoch et Thubal«), begegnet Ῥώς hier als Eigenname. 197 Brandes, Anastasios ὁ δίκορος [1997], S. 36 mit Anm. 80. 198 Brandes, Anastasios ὁ δίκορος [1997], S. 35f.; Offb 20,8. 199 Leonis Diaconi Historia, ed. Hase [1828] IX,9, S. 150.

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Von Warangoi und Axtträgern

dies die Zeit, als Haraldr inn harðráði aus Byzanz flieht und über die Rus’ nach Norwegen zurückkehrt.

2.2.

Haraltes aus Warangia und die Einbindung der Skandinavier in das Militär

Eben jener Haraldr, den auch Psellos gekannt haben konnte und von dessen Verdiensten er gehört haben dürfte, hinterließ auf einen byzantinischen Aristokraten derselben Generation namens Kekaumenos einen so nachhaltigen Eindruck, dass er ihn in einer paränetischen Schrift, einer »Mahnrede an den Basileus« (Λόγος νουθετητικὸς πρὸς βασιλέα), ausführlicher als Beispiel für fremde Aristokraten in byzantinischen Diensten erwähnt.200 Jener fürstenspiegelartige Text, der gemeinsam mit einem Strate¯gikon desselben Autors mit Ratschlägen für verschiedene Funktionsträger in nur einer Handschrift überliefert ist, erweist sich in mehrfacher Hinsicht als bemerkenswert: Einerseits bespricht er aus byzantinischer Perspektive Ereignisse, welche auch viel später entstandene Sagas über Haraldr inn harðráði verarbeiten, was eine absolute Ausnahme darstellt. Andererseits handelte es sich bei Kekaumenos, einem Byzantiner armenisch-griechischer Herkunft, offenbar um einen »Landedelmann«201, mithin den Vertreter einer Gesellschaftsschicht aus den Provinzen, wahrscheinlich aus Kleinasien,202 die in der byzantinischen Literatur sonst kaum Spuren hinterlassen hat, dessen Wissensbestand sich aber nicht nachhaltig von demjenigen der Städter unterscheidet.203 Seine genaue Identität ist nicht mehr zu klären; er ist aber höchstwahrscheinlich nicht identisch mit dem strate¯gos Katakalon Kekaumenos, der 1057 gemeinsam mit Isaakios Komnenos den militärischen Umsturz betrieben hatte.204 Auch die Frage, ob es sich bei ihm um einen Zivilbeamten oder einen Angehörigen des Militärs handelte, ist umstritten,205 doch zeigt sein Strategikon, das auf andere Vorgänger zurück-

200 Nicht zuletzt aufgrund dieser byzantinischen Aufmerksamkeit wurde Haralds byzantinische Karriere in Kombination von Kekaumenos, Skaldenstrophen und Sagatexten behandelt, vgl. u. a. Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884]; Blöndal, The Last Exploits [1939]; Blöndal, S. 108–168/54–102; Bagge, Harald Hardråde i Bysants [1990]; Ciggaar, Harald Hardrada [1990]; Friedrichsen, Harald Sigurdsson [2001]; Shepard, Middle Byzantine Military Culture [2011]. 201 Kekaumenos: Strategikon, ed. Beck [1964], S. 6. 202 Zu dieser Hypothese, das Werk sei in der Atmosphäre der lokalen frontier society entstanden, kommt Roueché, The Place of Kekaumenos [2009], S. 142–144 aufgrund der Zusammensetzung der Texte in der einzig überlieferten Handschrift sowie der Tatsache, dass auch Ratschläge an den toparche¯s solcher Randgebiete ergehen. 203 Roueché, Literary Background [2002], S. 135f. 204 Vgl. Savvides, Family of Kekaumenos [1987]. 205 Für eine Zugehörigkeit zum Militäradel sprach sich Litavrin in seiner Einleitung aus

Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten

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greift, keine besonderen militärischen Kenntnisse des Autors, die etwa über das hinausgingen, was die nicht dem Militär entstammenden Historiographen der Komnenenzeit wissen. Er gibt auch nicht wie andere Verfasser in diesem Genre eigene Erfahrungen zum Besten,206 sondern memoriert in erster Linie historische Akteure und moralisiert anhand von Beispielen; Hans-Georg Beck bezeichnete letzteres Werk daher in seiner Übersetzung als »Vademecum des byzantinischen Aristokraten«. Auch im Λόγος νουθετητικός herrschen pragmatische Ratschläge vor, welche die andere Texte beherrschende Kaiserideologie inhaltlich klar dominieren:207 Kekaumenos behandelt Aspekte wie Vorratshaltung, Soldzahlungen, Unterhalt und Ausstattung von Heer und Flotte sowie die Verpflichtungen des Basileus, Ämterkauf und Bestechung zu bekämpfen und nicht dauerhaft in der Hauptstadt zu bleiben, sondern selbst ins Feld zu ziehen. Unter diesen praktischen Hinweisen findet sich auch der Rat, Fremde, die in byzantinische Dienste traten, aber nicht dem Herrscherhaus ihres Herkunftslandes entstammen, niemals in hohe Würden zu befördern, und selbst Angehörige von Herrscherfamilien niemals weiter als bis zum spatharokandidatos, einer auf der mittleren Ebene angesiedelten Würde (ἀξία διὰ βραβείου),208 aufsteigen zu lassen. Dabei bezieht er sich besonders auf »Φράγγοι oder Βάραγγοι«, »Franken«/»Normannen« oder »Waräger«, was den Anschein erweckt, das alliterierende Wortpaar209 mit Homoioteleuton stelle einen Sammelbegriff für »Lateiner« oder westliche Barbaroi dar; dass es sich bei den Warangoi um Lateiner handelte, dürfte den Byzantinern im Laufe des 11. Jahrhunderts mit dem Fortschreiten der romzentrierten Kirchenorganisation im Norden, aber auch durch die Immigration von Angelsachsen, die alsbald in Chrysobullen begegnen und in der Historiographie unter Βάραγγοι subsumiert werden, deutlich ge-

206 207 208

209

(Kekavmen: Sovety i rasskazy, ed. Litavrin [2003]); eine gegenteilige Position vertritt A. Kazhdan, vgl. seine Zusammenfassung in Kazhdan, Kekaumenos [1991]. Zu den literarischen Vorlagen sowie den Besonderheiten von Kekaumenos ausführlich Roueché, Literary Background [2002], bes. S. 112–123. Hunger, Literatur [1978], S. 162. B10. Ein Indikator hierfür findet sich im Kle¯torologion, der ausführlichsten Auflistung der Ämter und Ränge am Hof und der hieraus resultierenden Sitzordnung bei kaiserlichen Banketten. Es wurde 899 von einem gewissen Philotheos verfasst und ist in De ceremoniis des Konstantinos VII. Porphyrogennetos um die Mitte des 10. Jahrhunderts überliefert (DC 2,53, S. 783–787, hier 784). Der nächsthöhere Rang des pro¯tospatharios ermöglichte die Aufnahme in den Senatorenstatus (Oikonomides, Title and Income [1994], S. 205). Zu den Hofrängen vgl. ebd., S. 205–207; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 125– 130; Lemerle, »Roga« [1967], S. 80–83, 92–96. Es handelt sich nicht um eine Alliteration im strengen Sinne, doch beginnen in der mittelgriechischen Aussprache beide Wörter mit dem labiodentalen Frikativ [f] bzw. [v].

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worden sein.210 Es wird zudem ab hier noch häufiger in byzantinischen Texten begegnen.211 Begründet wird die Forderung, solche Zurückhaltung gegenüber diesen Fremden walten zu lassen, mit drei Argumenten: Durch die Begünstigung von Fremden entwerte der Basileus die Verdienste Einheimischer und mache sie sich zu Feinden; zudem beschädige er das Ansehen der Byzantiner in der Fremde, denn durch den Aufstieg von Menschen, die in ihrer Heimat nicht bedeutend waren, entstehe der Eindruck, die Byzantiner selbst hätten keine fähigen Leute zur Verfügung. Außerdem stiegen hohe Würden dem Fremden zu Kopfe, und er verlöre die Achtung vor dem Basileus.212 Die Mahnung, auf die Begünstigung von Fremden zu verzichten, belegt Kekaumenos im Folgenden mit drei Beispielen.213 Er berichtet von einem nicht näher identifizierbaren Petros, einem Neffen des Königs der Germanoi, der unter Basileios II. zum spatharios und schließlich in 210 S. unten, S. 138ff. Dass die Axtträger Lateiner sind, legt außerdem 1204 Robert de Clari nahe, s. unten, S. 256. 211 Dies passiert insgesamt siebenmal, außer Kekaumenos (B10) bei Michael Attaleiates (B12), zweimal bei Ioannes Skylitzes (B26+B27) und dreimal beim Scylitzes continuatus (B31, B33, B35), also überwiegend in Texten um 1100 bzw. aus dem frühen 12. Jh. Vgl. auch unten, S. 172. Dass das Wortpaar in späteren Texten nicht mehr begegnet, liegt u. a. an der Substitution des volkssprachlichen Ethnonyms durch »Axtträger« (πελεκυφόροι) bei späteren Autoren. Nichtsdestoweniger verwechseln Schreiber auch späterer Jahrhunderte gern Βάραγγοι mit Φράγγοι (Scylitzes continuatus B32, Pseudo-Kodinos B116). 212 Im gleichen Kontext (Kekaumenos, § 81, S. 294, Z. 12f.) unmittelbar vor den genannten Ausführungen findet sich eine unklare Passage, welche als Hinweis auf den angelsächsischen Charakter der Warangoi gedeutet wurde. Der Satz lautet nach der Edition von Litavrin und der einzigen Handschrift: Ὁπόταν γὰρ τιμήςῃς τὸν ἐξ ἀγέλης ἐθνικὸν ἐλθόντα πριμικήριον ἢ στρατηγόν, τί ἀξίαν ἔχεις δοῦναι τῷ Ῥωμαίῳ στρατηγίαν; Πάντως ποιήσις αὐτὸν ἐχθρόν. Das Wort ἀγέλης der einzigen Handschrift ist wiederholt zu Ἀγγέλης oder Ἀγγλῶν γῆς (»angel[sächsisch]« / »Volk der Angelsachsen«) emendiert worden (Übersicht über spätere Lesarten in der Ed. Litavrin a. a. O.; vgl. etwa Ciggaar, L’émigration anglaise [1974], S. 308f.; Shepard, The English and Byzantium [1973] , S. 65f), auch Beck übersetzt entsprechend (S. 138): »Machst du zum Beispiel einen Engländer, der zu dir kommt, gleich zum primmike¯rios oder zum General, was bedeutet es dann noch für einen Rhomaios an Ehrung, wenn du ihm ein hohes Kommando überträgst? Du machst dir nur alle zu Feinden.« Doch spricht Kekaumenos in diesem Zusammenhang unspezifisch von ethnikoi, so dass ein konkretes Ethnonym nicht zu erwarten wäre, und kommt erst später zu seinen Beispielen, die wiederum keinen Angelsachsen behandeln. Zudem bezeichnen die etwa gleichzeitigen Chrysobullen (s. unten, S. 141 u. 276ff.) »Engländer« als Ἰγγλίνοι und nicht etwa Ἀγγέλοι, Ἄγγλοι oder mit einem ähnlichen Wort. Da das griechische Wort ἀγέλη (»Schar« / »Gruppe«) zudem auch in diesem Satz einen Sinn ergibt, folgt die hiesige Interpretation der Edition Litavrins, weshalb die Übersetzung lauten muss: »Machst du zum Beispiel einen aus der fremden Schar [=einen der ethnikoi], der zu dir kommt, gleich zum primmike¯rios oder zum General, was bedeutet es dann noch für einen Rhomaios an Ehrung, wenn du ihm ein hohes Kommando überträgst? Du machst dir nur alle zu Feinden.« Einen Hinweis auf die Anwesenheit von Engländern, welche freilich nicht als unplausibel bestritten wird, oder ihre Bedeutung gibt des Kekaumenos Text mithin nicht. Der einzige »Warangos«, der begegnet, bleibt der Norweger Haraldr bzw. sein Gefolge. 213 B11.

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das – nach der Logik der vorangegangenen Mahnung – zu hohe Amt des domestikos to¯n exkoubito¯n avanciert sei; gleichzeitig aber habe Basileios den Großvater von Kekaumenos, dem doux von Hellas, der ebendiese Würde des domestikos to¯n exkoubito¯n zuvor gehalten habe, befördert, um die Byzantiner durch den Aufstieg des Fremden nicht zu demütigen. Noch drastischer erscheint das Beispiel von Senekerim Arcruni, dem König von Vaspurakan in Armenien, der seine Herrschaft an den Basileus übergab und dafür den ebenfalls eigentlich zu hohen Rang eines magistros erhielt.214 Damit rückte er zwar in die oberste Schicht byzantinischer Würdenträger auf, doch, so wäre gemäß Kekaumenos’ Argumentation zu ergänzen, handelte es sich bei ihm auch nicht um einen »Franken« oder Warangos. Der Dritte in der illustren Runde königlicher Diener des Byzantinischen Reiches schließlich ist Ἁράλτης, Haraldr Sigurðarson; ihn behandelt Kekaumenos am ausführlichsten. Man erfährt, dass jener Haralte¯s einen Bruder namens Ἱούλαβος (Hioulavos < Óláfr) hatte, welcher der Basileus der »Varangia« gewesen sei und ihn zum zweiten in der Herrschaft gemacht habe, doch dass Haraldr mit 500 Mann vornehmer Herkunft nach Byzanz aufgebrochen sei, um dort dem Basileus Michael Paphlago¯n zu dienen. Dieser habe ihn empfangen und dann auf Sizilien gegen die Araber eingesetzt, wo er und seine Leute sich ausgezeichnet hätten, woraufhin er von Michael zum manglabite¯s befördert worden sei. Nach weiteren Großtaten im Kampf gegen die Revolte des Peter Deljan in Bulgarien, an dem auch Kekaumenos selbst teilgenommen habe, habe Michael den Haraldr schließlich zum spatharokandidatos gemacht. Damit entspricht Haraldr als einziger der drei genannten Fremden der vorangestellten, allgemeinen Forderung der Mahnrede, Fremde nicht weiter als bis in diesen Rang aufsteigen zu lassen. Kekaumenos betont, dass Haraldr jene gläserne Decke den Byzantinern nicht verübelt habe; zwar habe er später gegen das Ausreiseverbot des Basileus Konstantinos IX. Monomachos das Land verlassen, doch sei er, nachdem er seinem Bruder Hioulavos in der Herrschaft über die Varangia nachfolgte, ein Freund der Byzantiner geblieben. Dass Haraldr so ausführlich behandelt wird, mag damit zusammen hängen, dass sein Aufenthalt in Byzanz im Gegensatz zu den beiden anderen in Kekaumenos’ eigene Lebensspanne fällt und er ihm, etwa beim Bulgarienfeldzug 1041, selbst begegnet war oder zumindest aus erster Hand über ihn informiert wurde. Hierfür spricht auch das verblüffend präzise Wissen über Haralds Herkunft; in der Tat war er über die gemeinsame Mutter der Halbbruder Óláfs des Heiligen und wurde nach seiner Rückkehr König von Norwegen. Dagegen weiß Kekaumenos nicht, dass Haraldr eigentlich als exilierter Verlierer eines norwegischen Konflikts um die Herrschaft nach Byzanz 214 Skylitzes indes behauptet, Senekerim sei patrikios und strate¯gos von Kappadokien geworden (Βασίλειος καὶ Κωνσταντίνος 39, S. 354, Z. 94–355, Z. 4).

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kam, und dass zwischen dem Tod des Hioulavos und Haralds Aufstieg zur Königsmacht nicht weniger als 16 Jahre liegen. Immerhin aber weiß er, dass Haraldr später in Norwegen herrschte, was die Möglichkeit des Informationsflusses und damit die Präsenz von Skandinaviern im Umfeld der byzantinischen Aristokratie im späteren 11. Jahrhundert belegt und die eher topisch klingende Wendung von seiner fortgesetzten πίστις und ἀγάπη zu den Byzantinern mit etwas Substanz unterfüttert. Bedeutender jedoch als die Kontrollfunktion, welche dem Λόγος νουθετητικός hierdurch gegenüber skandinavischen Quellen zukommt, sind zwei andere Erkenntnisse. Einerseits belegt die im gesamten byzantinischen Corpus nur zweimal begegnende Βαραγγία als Bezeichnung für das Land, welches Hioulavos und nach ihm Haralte¯s beherrschten,215 dass im späten 11. Jahrhundert, als Psellos in seinem Brief und Basileis in ihren Chrysobullen Βάραγγοι erwähnen, den Byzantinern die Herkunft dieser Fremden aus einem Land jenseits der Rus’ bewusst war. Dies wiederum legte es Kekaumenos und dem noch zu behandelnden Michael Attaleiates nahe, sie mit Φράγγοι zu einer Gruppe von westlichen Fremden zusammenzufassen und erlaubt aus heutiger Perspektive einwandfrei ihre Identifizierung mit Skandinaviern, welche schon die Wortgeschichte selbst nahegelegt hatte. Andererseits fällt auf, dass im byzantinischen Karriereweg des Haraldr nirgends Βάραγγοι oder gar irgendeine Gardeeinheit begegnen. Es wird lediglich vermerkt, dass er von Michael IV. »empfangen« und »aufgenommen« (ἐδέξατο […] ἐνεδέχετο) und mit seinen Leuten, die später nicht mehr erwähnt werden, nach Sizilien geschickt wurde.216 Dort unterstand er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dem Kommando des strate¯gos Georgios Maniakes;217 nach Bulgarien zog der Basileus selbst. Die Ehrungen Haralds mit dem Titel des manglabite¯s und spatharokandidatos werden ausschließlich auf ihn persönlich bezogen, und zu keinem Zeitpunkt schimmert ein noch so vager Bezug zu irgendeiner Waräger-Einheit durch. Aus der Stille der Texte heraus auf die Abwesenheit einer »Warägergarde« zu schließen, ist zugegebenermaßen nicht ganz unproblematisch; aus der Stille heraus ihre Existenz beweisen zu wollen, jedoch nicht weniger. Hätte es unter den zu Haralds Zeit nachweisbaren τάγματα (tagmata), den stehenden hauptstädtischen Truppen, unter denen sich die Gardeeinheiten befinden, den Σχολαί, Ἐξκούβιτα, Βίγλα, Ἱκανᾶτοι, Στρατηλᾶται und 215 Die andere Fundstelle befindet sich in den Chiliaden des Ioannes Tzetzes (B57); eine dritte Fundstelle von Βαραγγία bezieht sich auf die Einheit aus Βάραγγοι (Anna Komnene, B46). 216 B11. Das »Empfangen« und »Aufnehmen« zeigt einen Rückbezug auf das Szenario, auf welches Kekaumenos zuvor (s. Anm. 212) hinweist. 217 Das Verhältnis der beiden zueinander behandelt sehr ausführlich die Morkinskinna (NI 113, NI 115-NI 118, NI 121); sie bewahrt den Namen des Georgios Maniakes in verballhornter Form als »Munak«.

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Μεγάθυμοι,218 ein τάγμα τῶν Βαράγγων gegeben – Haralds Geschichte wäre der Ort, an dem man spätestens seine Erwähnung erwarten müsste. Wo, außer unter den »Warägern«, hätte sich die Karriere eines hoch erfolgreichen norwegischen Königssohns, dessen Identität man kannte und der so viele von ihnen mitgebracht hatte, abspielen sollen? Tatsächlich sind die Titel, welche ihm der Basileus Michael verleiht, in dieser Hinsicht völlig unspezifisch. Haraldr wird nicht etwa zum »Kommandeur der Waräger« (ἡγεμὼν τῶν Βαράγγων), wie Anna Komnene später einen gewissen Ναμπίτης (Nabite¯s) tituliert,219 oder zum πριμμικήριος τῶν Βαράγγων, den es im späten 12. und 14. Jahrhundert gab,220 sondern erhält bei Kekaumenos einen Hofrang. Dies vollkommene Schweigen über eine »Warägergarde«, nicht nur bei Psellos, sondern auch bei allen anderen vorkomnenischen Texten einschließlich Siegeln nimmt sich im Lichte der Beschreibungen des Zeremoniells bei Psellos ausgesprochen beredt aus. In der Tat muss man davon ausgehen, dass Haraldr aufgrund seiner Leistungen und seiner Zuverlässigkeit (und möglicherweise aufgrund einer entsprechenden Zahlung seinerseits) als Einzelperson in die ἑταιρεία (hetaireia), das vielgestaltige persönliche Gefolge des Basileus, aufgenommen und dementsprechend mit einer ἀξία διὰ βραβείου versehen wurde. Mit einer solchen Annahme löste sich eine ganze Reihe von Problemen, die sich sowohl aus der heterogenen Beschreibung von »Axtträgern« und »Trägern der rhomphaiai« bei Psellos als auch aus der oft begegnenden Behauptung ergeben, es hätte seit 988 eine »Wäragergarde« existiert. Die »Gefolgschaft«, die sich in Bleisiegeln, verschiedenen Taktika und der großen Kompilation De cerimoniis des Konstantinos VII. Porphyrogennetos, welche die administrative Struktur beziehungsweise das Protokoll behandeln, im 9. und 10. Jahrhundert recht gut verfolgen lässt und von Ioannes Skylitzes erstmals für das Jahr 813 erwähnt wird,221 übernahm offenbar am Palast sowie im Feld den unmittelbaren persönlichen Schutz des Basileus und stand hierin neben den »offiziellen« Tagmata wie den Σχολαί und der Βίγλα.222 Insbesondere die »Fremden« (ἐθνικοί) bewachten nach Ausweis von Taktika und De cerimoniis den Basileus am Palast und im Feld.223 Es bestanden, soweit es sich 218 Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 141–147; Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 73–101, 243–269; Haldon, Warfare [1999], S. 115–120; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 121–126. 219 B43+B44, B46. 220 Ioannes Apokaukos, B89; Theoktistos Stoudites, B107; Ps.-Kodinos, B119. 221 Skylitzes, Leon V. Armenios, Kap. 1, S. 13, Z. 39, erneut A.D. 823 (Michael II. Travlos, Kap. 12, S. 38, Z. 19). 222 Zur hetaireia auch im Folgenden Beck, Byzantinisches Gefolgschaftswesen [1965]; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 130; Karlin-Hayter, L’Hétériarque [1974]; Oikonomides, Title and Income [1994]; Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001]; Haldon, Warfare [1999], S. 125, 159. 223 S. Constantine Porphyrogenitus: Three Treatises, ed. Haldon [1990], C, S. 118, Z. 377–379

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im späteren 9. und 10. Jahrhundert verfolgen lässt, drei hetaireiai, eine »große« (μεγάλη ἑταιρεία), eine »mittlere« (μέση ἑταιρεία) sowie jene »dritte« (τρίτη), kleine hetaireia, die aus Fremden aufgebaut war und nach den wichtigsten türkischstämmigen Ethnien oft als Φαργάνοι oder Χαζάροι bezeichnet wurde,224 jedoch im späteren 9. Jahrhundert auch Ungarn, Araber und Phrangoi umfassen konnte.225 Zum einen greift man mit den ἐθνικοί in der dritten hetaireia die Barbaren am Palast. Sie machten einen Teil der Leibgarde aus und werden zum Beispiel bei Philotheos in seinem Κλητορολόγιον, welches in De cerimoniis überliefert ist, im Rahmen bestimmter kaiserlicher Festbankette erwähnt, zu denen sie in einem bestimmten »barbarischen« Mantel, dem kabadion, erschienen.226 Zum anderen machte Nicolas Oikonomides in einem Vergleich von Bleisiegeln, Taktika und narrativen Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts plausibel, dass es sich bei den zahlreichen Bleisiegeln mit dem Titel επὶ τῆς ἑταιρείας oder επὶ τῆς μεγάλης ἑταιρείας nicht um den Kommandaten der hetaireia (den ἑταρειάρχης) handelt, sondern um byzantinische Rentiers überwiegend oberer Gesellschaftsschichten.227 Sie erwarben für erhebliche Mengen an Geld einen entsprechenden Titel und eine jährliche Zahlung (ῥόγα/rhoga), die je nach Zugehörigkeit zur »mittleren« oder »großen« hetaireia in einer Höhe von etwa drei bis sechs Prozent der »Eintrittsgebühr« jährlich betrug und vom Basileus an die Inhaber höherer Würden persönlich übergeben wurde.228 Maßgeblich war also in erster Linie die größere Nähe zum Basileus, die sich mit dem Erwerb einer Position in der hetaireia verband. In einem ähnlichen Zusammenhang sieht Oikonomides, gestützt vor allem auf eine Passage bei Philotheos, den Titel ἐπὶ τῶν βαρβάρων, der auf Bleisiegeln ab dem 9. bis etwa zur Mitte des 10. Jahrhunderts begegnet.229 Hier handele es sich nicht um einen sonst nicht nachweisbaren Kommandeur irgendwelcher fremden Truppen oder des seit dem fünften Jahrhundert greifbaren, aber zwischendurch verschwundenen scrinium barbarorum,

224 225 226 227 228

229

(erwähnt 200 Mann der hetaireia und 100 ethnikoi der hetaireia); Three Byzantine Military Treatises, ed. Dennis [1985], Campaign Organization, S. 250, Z. 99–104 und S. 252, Z. 158– 162. Zum Zeremoniell (nur die »große« und »mittlere« hetaireia) DC 2,1, S. 518f.; 2,12, S. 553; alle drei hetaireiai in DC 2,15, S. 576; im Kriegsdienst A.D. 935 DC 2,44, S. 660f. Weitere Erläuterungen und Quellenverweise bei Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 20. Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 12f. Es findet sich im Taktikon Escorial um 975 noch eine vierte hetaireia aus »Fußsoldaten« (πέζοι, möglicherweise Rus’). Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 20. Zu den Weihnachtsfeierlichkeiten (DC 2,52, S. 749) und am Sonntag nach Ostern (DC 2,52, S. 772). Vgl. Les listes de préséance, ed. Oikonomides [1972], S. 177, 209. Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 12–19 Zum System der rhoga Lemerle, »Roga« [1967], S. 78–96, bes. 94; Oikonomides, Title and Income [1994], S. 205–207; Oikonomides, Role of the State [2002], S. 1013f. Hier besonders Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 16–19. Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 20–23.

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eines frühbyzantinischen »Ausländeramtes«, wie verschiedene Forscher meinten. Vielmehr stelle der Titel analog zum επὶ τῆς ἑταιρείας eine Bezeichnung für byzantinische Rentiers dar, die gemäß dem Ausweis des Κλητορολόγιον von 899 gemeinsam mit den ethnikoi der hetaireia ihre Jahreszahlungen erhielten und sich zu offiziellen Anlässen auch wie sie kleideten.230 Die hetaireia zeigt also im 9. und 10. Jahrhundert, als sie sich gut beobachten lässt, einen mehrschichtigen Charakter; es handelt sich zugleich um Leibwächter außerhalb der regulären militärischen Ordnung der Tagmata, die weder Byzantiner noch nobler Herkunft sein mussten, und um gut situierte Byzantiner, welche erhebliche Geldsummen investierten, um vom Basileus einen Titel und eine damit verbundene Jahrespension sowie eine Position in der Nähe des Herrschers und im Zentrum der Macht zu erwerben. In jedem Fall aber sind es Gefolgschaften, welche dem Beamten- und dem regulären Militärapparat entzogen und dem Basileus persönlich in besonderer Weise verschworen sind.231 Dies erklärt auch, warum sie im Kle¯torologion und in De cerimoniis stets gesondert von den tagmata behandelt werden.232 Hierin liegt zugleich ihre politische Bedeutung, und es ist plausibel, die erheblichen Mengen an Rho¯s, die sich im 10. Jahrhundert, besonders aber unter Basileios II. in byzantinischen Diensten befanden, in diesem Kontext zu sehen, woraus sich auch die von Psellos betonte Nützlichkeit der Rus’ und des »übrigen fremden Heeres« gegen Usurpatoren erklärt.233 Es ist freilich riskant, diese im 10. Jahrhundert vor allem in De cerimoniis zu beobachtenden Verhältnisse einfach auf die Zeit ein Jahrhundert später übertragen zu wollen, zumal die »Fremdenlegion«, wie Hans-Joachim Kühn sie bezeichnete, im Laufe des 11. Jahrhunderts zunehmend an funktionaler Differenz zu den tagmata einbüßt.234 Zwar finden sich aus der für uns relevanten Epoche keine Taktika, die den Wandel im Detail verfolgen ließen, doch erwähnen narrative Quellen die hetaireia der Basileis wiederholt, und in der Tat scheinen diese Gefolgschaften während der zahlreichen Usurpationen des 11. Jahrhunderts immer wieder eine Rolle gespielt zu haben.235 Da sich Barbaroi bei Hofe zwar in den narrativen Quellen nachweisen, aber nur in Einzelfällen mit bestimmten Tagmata236 in Verbindung bringen lassen, bleibt ihre Verortung in eine hetaireia, die durchaus anders organisiert gewesen sein mag als im 10. Jahr230 Besonders deutlich deutet darauf DC 2,52, S. 749 hin: »[…] βασιλικοὺς ἀνθρώπους ἐθνικοὺς πάντας, οἷον Φαργάνους, Χαζάρους, Ἀγαρηνοὺς, Φράγγους καὶ ὅσοι τῆς βασιλικῆς ἐξ αὐτῶν ἀπολαύουσι τῶν ῥογῶν […]«. 231 Zu diesem Aspekt Beck, Byzantinisches Gefolgschaftswesen [1965], S. 13–25, 28–32. 232 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 68. 233 Vgl. B2; die Stelle ist so gesehen als Anspielung auf die ethnikoi der hetaireia zu verstehen. 234 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 68. 235 Beck, Byzantinisches Gefolgschaftswesen [1965], S. 22–28. 236 So etwa die Petschenegen (Τάγμα τῶν Πετζινάκων Μογλενιτῶν, Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 251).

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hundert, die plausibelste Lösung. Hierbei ist indes stets zu beachten, dass »Fremde« auch in überwiegend »byzantinisch« erscheinende tagmata wie etwa die Σχολαί integriert werden konnten.237 Betrachtet man die »Axtträger«, vor allem aber die scheinbar merkwürdig unspezifischen »Träger der rhomphaiai« bei Psellos als »Fremde« in der hetaireia, löst sich das vermeintliche Problem der ethnischen Unbestimmtheit von Prunkwaffenträgern in der Nähe des Herrschers;238 sie stellen eine bunte Mischung verschiedener Fremder dar, unter denen sich selbstverständlich auch Skandinavier befanden, die aber keine separate Einheit bildeten. Zudem erhält man eine vage Vorstellung von der Zahl der »Axtträger«, die Psellos im Zeremoniell erwähnt: Zwar schätzt Warren Treadgold die Personalstärke der hetaireiai im frühen 10. Jahrhundert insgesamt auf etwa 1200,239 doch erfahren wir aus De cerimoniis, dass zum Beispiel Romanos I. auf einen Italien-Feldzug im Jahre 935 jeweils nur etwa vierzig bis fünfzig Angehörige der megale¯ hetaireia, der mese¯ hetaireia, der Pharganoi und Chazaroi entsandte;240 Philotheos beschreibt im Kle¯torologion das Polytrichon, ein Bankett im Rahmen des Weihnachtsfestes, zu dem 216 ethnikoi und solche Byzantiner, die mit ihnen ihre Jahreszahlung erhielten, geladen waren.241 Die zahlenmäßige Stärke der Fremden am Palast, welche dann im Zeremoniell als »Leibwächter« sichtbar waren, ist also im Vergleich zur Größe der verschiedenen tagmata als reguläre Gardeeinheiten, die jeweils über mindestens 1000 Mann in der Ist-Stärke, wenn nicht erheblich mehr umfassten,242 und angesichts der Gesamtstärke der byzantinischen Armeen in Hauptstadt und Provinzen von etwa 80.000 bis 100.000 Mann243 durchaus als überschaubar zu bezeichnen. Dies verwundert angesichts der Eintrittszahlungen, sofern sie auch für Fremde galten, die etwa von der »kleinen« hetaireia der Fremden in die »große« hetaireia aufstiegen, kaum: Haraldr, der bei seiner Ankunft in Byzanz von Michael IV. »aufgenommen« (ἐνεδέχετο), sprich, wahrscheinlich in die »kleine« hetaireia integriert worden war, erhielt später den Titel eines spatharokandidatos, und dieser ist zusammen mit dem höher rangierenden pro¯tospatharios unter den 237 Dies belegen Fremde unter den Kommandierenden und Offizieren der Tagmata, vgl. die Listen bei Kühn, Die byzantinische Armee [1991], passim. Generell treten neue Tagmata, teilweise aus ethnikoi, im 11. Jh. hinzu (Warangoi sind nicht unter ihnen), aber auch die »klassischen« Einheiten werden aufgestockt (ebd., S. 243). 238 Dies gilt auch für die Beschreibung der Schlacht von Kalavrye bei Nikephoros Bryennios 4,9, S. 273 (oben, S. 122). 239 Treadgold, Byzantium and Its Army [1995], S. 110. 240 DC 2,44, S. 660f. 241 DC 2,52, S. 749; Les listes de préséance, ed. Oikonomides [1972], S. 177. 242 Vgl. hierzu oben, S. 95 mit Anm. 87. Tendenziell vergrößern sich die bestehenden Tagmata im 11. Jh.; neue kommen hinzu (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 243–259). 243 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 59.

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Bleisiegeln der επὶ τῆς μεγάλης εταιρείας, also den byzantinischen Rentiers in der »großen« hetaireia, am häufigsten vertreten.244 Ein wiederum in De cerimoniis überlieferter Text vom Ende des 9. Jahrhunderts verzeichnet die Zahlungen, die im Zusammenhang mit dem Erwerb solcher Titel zu entrichten waren; ein spatharokandidatos in der megale¯ hetaireia hatte sechs litrai Gold, entsprechend 432 nomismata oder einem Äquivalent von knapp zwei Kilogramm (!) des Edelmetalls245 zu zahlen, wofür er im Gegensatz eine rhoga in Höhe von 32 nomismata jährlich erhielt. Obschon die Bedeutung jener Hofränge im Laufe des 11. Jahrhunderts abnimmt,246 erhellt hieraus, dass Haraldr höchstwahrscheinlich in den exklusiven Zirkel der megale¯ hetaireia aufgerückt war, der nicht aus irgendwelchem Barbarenfußvolk, sondern aus der byzantinischen Haute-Volée bestand.247 Eine besondere Nähe zum Basileus dokumentiert bereits sein vorheriger Rang als manglabite¯s, den er nach dem Sizilienfeldzug erhielt: Die Μαγγλαβίται (»Keulenträger«) waren eine ebenfalls seit dem 9. Jahrhundert nachweisbare Leibwächtertruppe, die im Palast augenscheinlich ähnliche Aufgaben wahrnahm wie Angehörige der hetaireia; sie wurden in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts durch die Βεστιαρῖται verdrängt.248 Da diese Einheiten ebenfalls nicht unter den tagmata firmieren, dürfte es sich bei den manglabitai gleichfalls um eine dem Gefolgschaftswesen zugehörige Gruppe gehandelt haben. Ihre Rolle im 11. Jahrhundert ist nicht klar zu erkennen und damit wie so oft bei byzantinischen Titeln auch nicht zu erweisen, ob es sich beim manglabite¯s zu Haralds Zeit um eine Funktionsbezeichnung oder einen reinen Ehrentitel im Gefolge des Basileus handelte. Außer Frage steht aber, dass Haraldr nach seinem Einsatz auf Sizilien als Einzelperson, nicht als Kommandeur einer »Warägergarde«, in den inneren Zirkel der kaiserlichen Gefolgschaft aufstieg, als solcher nach Bulgarien zog und im Anschluss hieran weiter avancierte, bevor seine Karriere endete und er sich gegen den Befehl des Basileus davonstahl. Nähere

244 Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 10–12 listet zahlreiche entsprechende Siegel auf. 245 DC 2,49, S. 692f. Der spätantike solidus bzw. das nomisma besaßen bis ins spätere 10. Jh. ein gleichbleibendes Gewicht von 4,55 Gramm. S. hierzu auch Oikonomides, Title and Income [1994], S. 208; Lemerle, »Roga« [1967], S. 80–83. 246 Vgl. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], S. 303; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 125f. Nichtsdestoweniger deutet das Beharren des Kekaumenos auf die Einhaltung gewisser Hierarchien (B10) in den 1070er-Jahren darauf hin, dass der Übergang zu den Komnenoi hier den entscheidenden Einschnitt bringt (vgl. Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 126–128; Lemerle, »Roga« [1967], S. 97–99). 247 Oikonomides, Byzantine State Annuitants [2001], S. 19. 248 Hier und im Folgenden Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 128–130; Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 66.

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Gründe hierfür werden noch in der Auseinandersetzung mit den Schilderungen der Sagas sowie der lateinischen Historiographie zu diskutieren sein.249 Hervorzuheben bleibt, dass in die Kreise, in denen Haraldr in der »Mahnrede« des Kekaumenos auftritt, nur einzelne Personen, nicht aber Massen an fremden Söldnern aufgenommen wurden. Die 500 Mann, welche er mitbrachte und offensichtlich auch auf Sizilien und möglicherweise in Bulgarien kommandierte, werden an anderer Stelle im byzantinischen Militär zu suchen sein; in der Tat befand sich Haraldr in Konstantinopel und womöglich in Gefangenschaft, während die Chronik von Montecassino 1041/42 »Waräger« im Mezzogiorno kämpfen sieht – unter dem Kommando des dortigen katepano¯ Exaugustus Bioannes.250 Dass indes fähige Einzelpersonen, welche den Byzantinern überdies militärische Ressourcen erschlossen, sich in höchsten Kreisen etablieren konnten, ist angesichts der Ermahnungen des Landadligen offensichtlich. Die Tatsache, dass von seinen drei Beispielen allein Haraldr nicht über die ἀξία διὰ βραβείου eines spatharokandidatos hinausgelangte, den er als höchsten akzeptablen Rang für Barbaroi betrachtet, zumal er nicht den Zugang zum Senatorenstatus ermöglicht, und dass Kekaumenos diese Tatsache lobend rechtfertigt, kann als zuverlässiger Beleg für eine etablierte abweichende Praxis gelten. Tatsächlich begegnen einige Jahrzehnte später unter Alexios I. Komnenos in den Basilika zwei Βάραγγοι, die als hypatoi (Senatoren) bezeichnet werden.251 Wo sich indes nicht skandinavische Königsbrüder, sondern einfache Βάραγγοι aufhalten, wie sie offensichtlich auch Psellos in seinem Brief an Nikephoros Keroullarios meint, verdeutlicht das Στρατήγικον des Kekaumenos, das gemeinsam mit der Mahnrede überliefert ist. Hier empfiehlt Kekaumenos unter anderem, die Mauer von Festungen täglich zu inspizieren und in jedem Fall von Anbauten freizuhalten. Um die Dringlichkeit dieser Regel zu unterstreichen, führt er ein Beispiel wahrscheinlich aus dem Jahr 1064 an, als Otranto in Apulien von den Normannen erobert wurde.252 Zwar habe der einheimische Stadtkommandant Malapetzes sowohl Ῥῶς, Βάραγγοι, »Speerträger« (κοντάρατοι) sowie Seeleute (πλώιμοι) zu Verfügung gehabt, um die Stadt zu verteidigen, es jedoch vermieden, das wertvolle, an die Stadtmauer gebaute Haus seiner Nichte abzureißen. Genau dort seien die Φράγγοι dann in die Stadt eingebrochen. Die Βάραγγοι, von denen hier übrigens wieder in Abgrenzung von Ῥῶς die Rede ist, waren keineswegs Bestandteil irgendeiner Gardeeinheit, sondern unterstanden dem jeweiligen lokalen Kommando in den verschiedenen θέματα, also den seit dem späteren 7. Jahrhundert entstandenen militärischen Administrationsein249 Vgl. unten, S. 293f., bes. S. 321ff. 250 Chronik von Montecassino, ed. Hoffmann [1980] 2,66, S. 300, Z. 8/10. Vgl. oben, S. 138 mit Anm. 256. 251 B51. 252 B9.

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heiten.253 Diesen Eindruck unterstreichen sowohl Runeninschriften als auch eine Chronik aus dem Mezzogiorno: Das Chronicon rerum in regno Neapolitano gestarum aus dem Zeitraum um 1100 berichtet zum Jahr 1047 von der Eroberung der Städte Stira und Lecce in Apulien von den Normannen durch Guarangi in byzantinischen Diensten.254 Noch eindeutiger bezüglich der Anwesenheit von Skandinaviern in Garnisonen sind die berühmten, Ende des 18. Jahrhunderts entdeckten Runeninschriften auf dem Marmorlöwen aus dem Hafen von Piräus, der 1687 von den Venezianern erobert wurde, wobei die Löwenskulptur aus dem 4. Jahrhundert vor Christus erbeutet und nach Venedig verbracht wurde. Zwei Runenschlangen aus dem 11. Jahrhundert und ein Runengraffito belegen die wiederholte Anwesenheit von verschiedenen Skandinaviern und die Tatsache, dass nicht der geschlossene Einsatz riesiger Verbände aus Barbaroi, sondern ihre Verteilung in Gruppen auf Garnisonen den Regelfall darstellte.255 253 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 47–66; Haldon, Warfare [1999], S. 107–115 S. außerdem Anm. 256. 254 Lupi Protospatarii annales, ed. Pertz [1844], S. 59. Die Zuschreibung zu einem gewissen Lupus Protospatharius stammt aus dem 17. Jh. und ist daher zweifelhaft. Vgl. Blöndal, S. 175f./107. Die Chronik stützt sich für ältere Ereignisse auf die Annales Barenses, die jedoch 1043 enden, so dass die Herkunft der Information nicht ganz klar ist. Wahrscheinlich stammt sie aus lokaler mündlicher Tradition. 255 Jene Runeninschriften haben immer wieder die Aufmerksamkeit von Runologen auf sich gezogen, auch wenn aufgrund von Verwitterung und Beschädigungen durch die 1687 verschossenen Kanonenkugeln sowie das Hebezeug eine eindeutige Entzifferung nicht mehr möglich war (vgl. Åkerblad, Om det sittande Marmorlejonet [1803]; Rafn, Antiquités de l’Orient 1956 [1956], S. 81–149; Brate, Piraeuslejonets runinskrift [1920]; Blöndal, S. 354– 359/230–233; Lozovan, Varègues, Roméens [1973]; Jansson, Pireuslejonets runor [1984]; Gustavson, Piräus-Löwe [2003]). Die Runenreste galten nach sehr verschiedenen Resultaten der frühen Forscher im späteren 20. Jh. gemeinhin als nicht mehr lesbar, jedoch konnte Snædal, The Piraeus Lion Revisited [im Druck] nach einer Reinigung des Löwen 2007/2008 und einer gründlichen Untersuchung einen Gutteil der Inschriften entziffern. Sie liest auf der linken Seite (vorderes Bein und Flanke des Löwen): : hiaku þir hilfniks min—en i hafn þesi þir min i-ku runar at hau-sa buta-… hua-…—þu suiar þeta leinu f…– aþrgailtuankearu- (…hiaggu þæir helfnings/helmings mænn … en ¯ı hafn þessi þæir mænn hiaggu ru¯nar at Hau[r]sa bo¯nda … [re¯]þu Svı¯ar þetta a¯ leiun/lei(o)nu f[iall]/f[urs] a¯þr giald vann gærva: »Die Männer der Truppe ritzten die Runen … doch in diesem Hafen ritzten die Männer die Runen nach Hau[r]si dem Freibauern … Schweden brachten dies auf dem Stein an. [Er] fiel/starb, bevor er Beute/Lohn gewann.«). Die Inschrift stammt aufgrund der Gestaltung der Runenschlange (ähnlich U 341) wohl aus der Zeit um 1020–1040 und wäre somit die älteste. Spekulationen über einen Zusammenhang mit größeren Truppenbewegungen etwa unter Basileios II. nach Bulgarien sind substanzlos, zumal kein Erfolg, sondern sein Gegenteil dokumentiert ist und das Anbringen solcher Runenschlangen Zeit benötigt. Die zweite Inschrift in einer Zeile auf dem linken Hinterlauf des Löwen ist eher ein oberflächlich angebrachter Graffito. Snædal liest: trikir rist runir… (drængir/drængiar rist(u) ru¯nir/ru¯nir: »Junge Männer ritzten die Runen.«) Die Schreibweise legt eine westnordische Identität der Ritzer nahe und wäre im 11. wie im 12. Jh. möglich. Die dritte Inschrift bedeckt einen Großteil der rechten Seite des Löwen, zeigt die kunstvollste Schlange, ähnelt hierin U 112 (ca. 1060–1100), ist aber am meisten beschädigt. Snædal liest: asmuntr x risti [x] … …

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Innerhalb der byzantinischen Provinzarmeen, der themata, sowie des Katepanats Italias wurden seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts auch stehende tagmata stationiert beziehungsweise gebildet, so dass im 11. Jahrhundert die Strukturen vor Ort denjenigen in Konstantinopel ähnlicher geworden waren.256 Auf diese Weise waren auch nicht-einheimische Krieger in die Provinzarmeen an ganz verschiedenen Orten integrierbar und verwendbar, wie etwa für den Stadtkommandanten Malapetzes, aber auch für rebellierende hohe Generäle wie Nikephoros Bryennios den Älteren, den δούξ von Dyrrhachion, der 1077 mit den Truppen aus dem Westen des Reiches, darunter laut dem nach 1100 entstandenen Scylitzes continuatus »sehr zahlreichen Βάραγγοι und Φράγγοι«,257 nach Konstantinopel zog.

2.3.

Chrysobullen

Diesen Eindruck, dass die Masse der fremden Krieger, darunter auch die »Waräger«, vor der Komnenenzeit mit im Verhältnis zur Gesamtzahl ganz wenigen Ausnahmen in den Provinzen eingesetzt und dortigen Einheiten attachiert wurde, unterstreichen auch die sechs Chrysobullen der vorkomnenischen Zeit, die im Zeitraum von 1060 bis 1080 ausgestellt wurden und Βάραγγοι erwähnen.258 Die fraglichen Passagen enthalten in allen Urkunden Exemtionen von der Pflicht [n]ar þisar x þair x isk-… …þurlifr—auk x (-x) u/r …– o-…—–t-… … [þ]ufruk…r…s–…– ¯ smundr risti [ru¯n]ar þessar, þair Æskell/A ¯ skell … Þo¯rlæifr … ok …: …uanfarn x (A ¯ smundr ritzte diese Runen, Æskell/A ¯ skell, … Þo¯rlæifr … und …«). Einige Runenformen »A deuten auf gotländischen Einfluss hin, wo wiederum Runenschlangen existieren, die den uppländischen ähnlich sind. Generell fällt die völlige Abwesenheit des palatalen »r« in allen Inschriften auf, was gerade bei der ältesten Inschrift etwas überrascht. Snædal, The Piraeus Lion Revisited [im Druck] rechnet mit einem westnordisch geprägten (Misch-)Dialekt der Exil-Skandinavier. Entscheidend ist, dass sich wie bei Kekaumenos in Otranto über mehrere Jahrzehnte immer wieder skandinavische Kleingruppen im Hafen aufhielten, was unsere These über ihre Verteilung stützt. 256 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 123f. Einen Verlust der Bedeutung, welche die Armeen der themata aus »Soldatenbauen« erfuhren, erkennt Haldon, Military Service, Military Lands [1993], S. 60–67 schon seit der Zeit um 800, als die tagmata an Bedeutung gewinnen. Er bestreitet, dass es sich bei den themata um ein festes »System« gehandelt habe (so v. a. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], S. 80–84; die zeitlich punktuelle »Erfindung« eines solchen Systems im 7. Jahrhundert durch einen Basileus bestreitet u. a. Brandes, Finanzverwaltung in Krisenzeiten [2002], S. 235–238, 475–479, 507– 509). Haldon betont den selbstverständlichen Übergang zu bezahlten Vollzeitsoldaten, ob byzantinisch oder fremd, bei einer entsprechenden Leistungsfähigkeit der Staatsfinanzen. Vgl. die hieraus resultierenden Implikationen für die Diskussion des komnenenzeitlichen Söldnerwesens (unten, S. 202 mit Anm. 539). 257 B33. 258 B15–B20.

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zur Einquartierung (mitaton) 259 stehender Truppenverbände auf dem jeweiligen Landbesitz. Diese Verpflichtung bezog sich vor allem auf Winterquartiere, belastete betroffene Regionen erheblich und führte immer wieder zu Zwischenfällen; von einem solchen mit einem Βάραγγος berichtet die am Ende des 11. Jahrhunderts entstandene Chronik des Ioannes Skylitzes.260 Bei einquartierten Truppen handelt es sich einerseits um ethnikoi, zugleich aber auch um Angehörige byzantinischer tagmata, die im Gegensatz zu den Soldaten der themata keine heimische Versorgung in der entsprechenden Region genossen.261 Die folgende Exemtionsformel aus dem ältesten relevanten Chrysobull von 1060 für das Kloster Lavra auf dem Athos, der im Original erhalten ist, verdeutlicht den Kontext und die übliche Formulierung:262 »[…] μήτε μὴν τὸν πρόεδρον Θεσσαλονί(κης) δίκ(αι)όν τι προβάλλεσθαι κατὰ τῆς μον (ῆς) τοῦ ἁγίου Ἀνδρέου μήτε δὲ τὸν δοῦ(κα) ἢ κατεπάνω ἢ στρατηγὸν ἢ κριτ(ὴν) Βολεροῦ Στρυμόνο(ς) (καὶ) Θεσσαλονί(κης) ὑποδοχ(ὴν) ἢ χρείας ἢ κανίσκιον ἢ ἀντικάνισκον ἀπὸ τῆς μεγάλης Λαύρ(ας) (καὶ) τῶν περὶ ἀυτὴν ἐπιζητεῖν, ἢ ἀπληκεύειν ἐν ἀυτοῖς ειρᾶσθαι, ἀλλὰ μᾶλλον ἐλευθεριάζειν ταύτην τὲ (καὶ) τὰ ὑπ’ ἀυτὴν ἀπό τε μιτ(ά)τ(ου) ἐπιθέσεως, ἢ ˙ λογαρικ(ῆς) ει᾿σπράξεως Βαράγγων, Ῥῶς ἢ Σαρακηνῶν ἢ Φράγγων ἢ ἑτέρων τινῶν ἐθνι (κῶν) (καὶ) Ῥωμαίων, […].« »[Es wird angeordnet,] dass weder der rechtmäßige proedros von Thessalonike dem Kloster des Heiligen Andreas etwas auferlege noch dass der doux, der katepano¯, der strate¯gos oder der krite¯s von Boleron, Strymon und Thessalonike, die hypodoche¯ [Nachschub/Unterhalt für die Truppen], die chreia [Steuer zur Finanzierung der Gehälter des lokalen Militärkommandos], das kaniskion [Versorgung für Steuereintreiber] oder das antikaniskion verlangen von der großen Lavra und denjenigen in der Nähe, oder dass versucht werde, bei ihnen [Truppen] zu stationieren, sondern dass das Kloster und seine Besitztümer [das Seine] vielmehr frei seien von der Bürde der Einquartierung [mitaton], sowohl von der Leistung für Warangoi, die Rho¯s, die Sarake¯noi, die Phrangoi als auch für andere Ethnien und die Rhomaioi […].«

Die Befreiung von Einquartierungen steht hier im Kontext der Exemtion von jedweder fiskalischer oder finanzieller Belastung durch die Zivilverwaltung (repräsentiert durch den proedros, den Bischof von Thessalonike), das Militär oder die Justiz (repräsentiert durch den krite¯s). Dass die Abgabenfreiheit durch eine erschöpfende Aufzählung der verschiedenen Belastungen konkretisiert wird, ebenso wie der Exemtion vom mitaton eine lange Liste von Ethnonymen folgt, 259 Oikonomides, Fiscalitè et exemption [1996], S. 264–272. 260 B25. 261 Die Vorstellung bei Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], S. 208f., 303–306, bei den Soldaten der themata handle es sich um reine »Soldatenbauern«, deren Existenzsystem vor allem im 11. Jh. einen Niedergang zu Gunsten der tagmata erfuhr, ist inzwischen relativiert worden (vgl. Haldon, Military Service, Military Lands [1993], S. 60–67 und unten, S. 202 mit Anm. 539). 262 B15.

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stellt eine Besonderheit der Urkundensprache in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts dar. Sie verdankt sich der Begründung einer neuen Schule für das Recht in Konstantinopel durch Konstantinos IX. Monomachos im Jahre 1043,263 die eine zunehmende definitorische und in unserem Zusammenhang ausgesprochen nützliche Präzisierung von rechtlich relevanten Bestimmungen bis ins Detail bedingte. Man kann also davon ausgehen, dass die Aufzählung an Truppen die bedeutendsten Gruppen enthält. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Gliederung nicht nach Einheiten erfolgt, sondern nach Ethnien einschließlich der Byzantiner selbst, und dass Βάραγγοι hierbei gemeinsam mit Ῥῶς an erster Stelle stehen. Indirekt unterstreicht diese Vorgehensweise, welche ja einer möglichst kompletten Erfassung aller Eventualfälle dient, dass die ethnikoi großteils außerhalb der regulären tagmata standen, und unterstützt die Annahme, dass sie im Ausgangspunkt in einem außerhalb der regulären Militärverfassung befindlichen Gefolgschaftsverhältnis zu den Basileis standen. Das prominente Auftreten der »Waräger« besagt nicht zwangsläufig etwas über ihre Häufigkeit im Verhältnis zu den anderen »Fremden«, jedoch beweist ihr Vorkommen eine spürbare Präsenz, womit sich wiederum der Kreis zu Psellos’ Brief 264 schließt: Das Kloster Lavra und seine Abhängigen mussten fürderhin nicht mit der »Vermittlung des Βάραγγος« rechnen. Fünf weitere Urkunden aus den Jahren 1073,265 1075,266 1079267 und 1080268 weisen ähnliche, aber erweiterte Listen auf. Der im Archiv von Patmos überlieferte Chrysobull Michaels VII. Doukas für seinen Neffen Andronikos Doukas von 1073, in welchem ihm Güter um Milet übertragen und von Abgaben befreit werden, nennt nach den Ῥοσοβάραγγοι, offenbar einer kontrahierten, noch zu diskutierenden Form von Ῥῶς und Βάραγγοι sowie vor den übrigen Ethnien an zweiter Stelle Κούλπιγγοι (Koulpingoi), welche in allen folgenden Urkunden neben den Βάραγγοι auftreten. Etwas modifiziert findet sich die Liste, jedoch mit getrennt geschriebenen Ῥῶς und Βάραγγοι und erweitert um Boulgaroi, in der Diataxis, der Regel für eine fromme, klösterliche Stiftung des Michael Attaleiates, die eine Kirche in Konstantinopel und ein Armenhaus in Rhaidestos am Marmarameer umfasste.269 Zudem stehen nicht Rhomaioi allgemein in der Aufzählung einzuquartie263 Vgl. hierzu Follieri, Sulla Novella [1971]; Weiß, Oströmische Beamte [1973], S. 65–76; zur Vorgeschichte der »Universität« auch Speck, Universität von Konstantinopel [1974]; bezogen auf die hier interessierenden Ethnonyme Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 61–63. 264 B1. 265 B16. 266 B17. 267 B18+B19. 268 B20. 269 B17 (1075), wiederholt und bestätigt in B18 (1079). Zu den privaten Klostergründungen vgl. Angold, Church and Society [1995], S. 332–337.

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render Truppen, sondern ab diesen Urkunden explizit Offiziere und Unteroffiziere (ἄρχοντες) 270 der themata und tagmata. Der Text, erhalten im Isotypikon von 1077 mit späteren Erweiterungen, umfasst als Sammlung verschieden alter Bestandteile neben einer autobiographischen Einleitung und den eigentlichen Regeln für das Leben der Mönche und zu den karitativen Aktivitäten umfangreiche Bestimmungen, welche die Unverletzlichkeit des Besitzes selbst und seiner privaten Administration durch die Familie sicherstellen sollen.271 Im anschließenden Inventar schließlich finden sich die Abschriften zweier umfangreicher Chrysobullen für die Stiftung des Attaleiates von Michael VII. Doukas aus dem Jahre 1075 sowie des Nikephoros III. Botaneiates von 1079, wobei letztere im Wesentlichen erstere bestätigt und für die fragliche Passage wortwörtlich übernimmt. Gleiches gilt für den etwa zwei Monate später im Jahr 1079 ausgestellten Chrysobull für das Kloster Lavra.272 Eine Änderung der Aufzählung ist erst bei der letzten Urkunde aus dem vorkomnenischen Zeitraum zu erkennen, die Anfang 1080 für das Kloster Vatopedi auf dem Athos ausgestellt wurde; hier treten abermals zwei Gruppen, Ἴγγλινοι (»Engländer«) und Νέμιτζοι (»Deutsche«) hinzu.273 Es liegt nahe, dass der Erweiterung der Liste eine Änderung der Wahrnehmung zu Grunde liegt, möglicherweise in Folge der Emigrationswelle von Angelsachsen nach der Verwüstung Northumbrias durch die Truppen Williams in den Jahren 1069 und 1070,274 mit der sich wahrscheinlich auch das Bleisiegel des patrikios Σφένις (Svend), eines διερμενευτὴς τῶν ᾿Ενκλίνων (»Übersetzer der Inglinoi«) in Verbindung bringen lässt.275 Bezeichnend für die angelsächsisch-skandinavische Verflechtung auch und gerade im fernen Byzanz ist hier, dass der Träger eines skandinavischen Namens für die sprachliche Integration »englischer« Migranten sorgt. Eine Differenzierung zwischen beiden Gruppen scheint daher obsolet, wie sich im Verlauf des 12. Jahrhunderts noch zeigen wird. Dabei ist aber zu unterstreichen, dass eine rege Kulturverbindung und offenbar auch die Anwerbung von Kriegern aus England weiter zurückreichen als bis in jene Jahrzehnte.276 Bevor die ausführlich und bis ins Detail definierende Urkundensprache im Laufe der Herrschaft Alexios’ I. Komnenos wieder verschwin270 Das Wort ἄρχων diente in der byzantinischen Armee der fraglichen Zeit zur Bezeichnung von »Offizieren und Unteroffizieren mit direkter Kommandobefugnis« (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 55). 271 Zur Diataxis Hunger, Literatur [1978], S. 382–388f.; Gautier, Diataxis [1981], S. 6–11; Talbot, Attaleiates: Rule [2000], S. 326–331. 272 B19. 273 B20. 274 Vgl. Fell, Saga of Edward [1973]; Ciggaar, L’émigration anglaise [1974], bes. S. 305–309; Shepard, Another New England? [1974]; Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979]; im größeren diachronen Kontext Shepard, From the Bosporus [2010], bes. S. 38f. 275 S. unten, S. 201 mit Anm. 534. 276 S. Anm. 171.

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det, stellte er dem Kloster Lavra noch 1082 und 1086 zwei Privilegien mit beinahe identischen Listen an Ethnonymen aus;277 die umfangreichste Auflistung enthält der jüngste Chrysobull von 1088, der dem Mönch Christodoulos für die Gründung des dortigen Klosters die Herrschaft über die gesamte Insel Kos überträgt.278 Außerdem wird in den letzten beiden Urkunden das tagma der Ἀθάνατοι gesondert hervorgehoben, das, auf ältere Traditionen zurückgreifend, nach der Niederlage bei Mantzikert 1071 aus Flüchtlingen der verlorenen kleinasiatischen Gebiete neu gebildet worden war.279

2.4.

Exkurs: Κούλπιγγοι – kolbjagi – Kylfingar

An sich scheinen die Listen auf den ersten Blick wenig problematisch. Grundsätzlich begegnen Ῥῶς und Βάραγγοι immer Seite an Seite; ihre Verbindung zu Ροσοβάραγγοι in einem Fall mag sich möglicherweise als Indiz dafür deuten lassen, dass in den 1070er-Jahren die Differenz zwischen beiden Gruppen nicht so ausgeprägt war, wie es die getrennte Nennung mit verschiedenen Ethnonymen erscheinen lässt; auch in der Chronik des Michael Attaleiates fließen beide Gruppen an einer Stelle ineinander. Eindeutig ist die Zusammenziehung indes nicht; der Text des fraglichen Chrysobulls ist lediglich in einer Abschrift des 13. Jahrhunderts überliefert, so dass auch ein Schreiber für die Entstehung des Hapax legomenon verantwortlich gewesen sein kann; schließlich spricht Michael VIII. Palaiologos zur gleichen Zeit von Ἐγκλινοβάραγγοι.280 Größere Schwierigkeiten und eine umfangreiche Forschungsdiskussion dagegen hat das Ethnonym Κούλπιγγοι verursacht, das in byzantinischen Texten ausschließlich an den genannten acht Stellen und immer benachbart zu den Βάραγγοι begegnet.281 Auf einer so schmalen Basis, die zudem aus variierenden Reproduktionen einer bestimmten Formel besteht, scheinen Identifikationsversuche aussichtslos. Dass sie trotzdem wiederholt unternommen wurden, hängt letztlich mit der Russkaja Pravda zusammen: Der rusische Rechtstext in seiner ältesten Fassung, der Kratkaja Pravda, nennt an den einzigen Fundstellen in den Artikeln 10 und 11 varjagi und kolbjagi ebenfalls gemeinsam, wenn deren Vorrechte, unter anderem der Verzicht auf Eidhelfer, näher definiert werden.282 Es handelt sich dort also um Sozionyme für zwei gleich privilegierte Gruppen, 277 B21+B22. Lediglich bei dem Chrysobull von 1082 (B21) sind die Boulgaroi und Sarake¯noi nicht vorhanden. 278 B23. Hier treten noch Ἀλανοί und Ἀβασγοί, Alanen und Abasgen (»Abchasier«) hinzu. 279 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 244f. 280 Unten, S. 276. 281 B16-B23, nicht aber B15. 282 Russkaja Pravda, ed. Baranowski [2005], Art. 10f., S. 14; vgl. oben, S. 106f.

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welche zudem auf die im Ostslawischen seltene Endung -jag auslauten, die als Übertragung von altnordisch -ingr gedeutet wird.283 Inwiefern sie eine ethnische Definitionskomponente besitzen, geht aus den beiden Passagen überhaupt nicht hervor; die Identifikation der varjagi mit »Skandinaviern« verdankt sich in erster Linie der altrussischen Chronistik,284 welche über die kolbjagi schweigt.285 Im Norrönen begegnet, allerdings erst im frühen 13. Jahrhundert in der Egils saga Skalla-Grímssonar, ein höchstwahrscheinlich ostseefinnisches Volk, das als Kylfingar bezeichnet wird;286 als Personenname begegnet Kylfingr auf vier Runensteinen des 11. Jahrhunderts, dreien aus Uppland und einem aus Södermanland.287 Obschon die Transliteration von kolbjagi zu Κούλπιγγοι sich von derjenigen von varjagi zu Βάραγγοι unterscheidet (-ing statt -ang),288 ganz zu schweigen von lautlichen Problemen bei der Übernahme vom Altnordischen ins Altrussische, die sich hier nicht wie bei væringr/varjag lösen lassen, identifiziert man die Koulpingoi allgemein mit den kolbjagi der Russkaja Pravda und diesen wiederum mit den Kylfingar, neben weniger prominenten, ganz anderen Assoziationen etwa mit ungarischen oder türkischen Wörtern.289 Praktisch haltlosen 283 Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 163, 169; Stender-Petersen, Die Väringer und Kylfinger [1953], S. 99. 284 Oben, S. 100ff. 285 Sie begegnen außer in Ortsnamen der nördlichen Rus’ (vgl. unten, S. 148) in einer Birkenrindeninschrift (Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 175 mit Anm. 232). 286 NII 3. Dass es sich bei den Kylfingar der Saga, mit denen der norwegische Protagonist der Szene in ferner Vergangenheit auf seiner Tributeintreibung im heutigen Nordschweden bei den »Finnen« zusammenstößt, um andere Gruppen aus der heutigen Finnmark oder östlich davon handelt, ist u. a. von Stender-Petersen, Die Väringer und Kylfinger [1953], S. 105–107 bestritten worden, der in ihnen die von ihm postulierten skandinavischen kolbjagi erkennen will, die dann in der Tat sehr weit von Süden in einer sehr großen Gruppe angereist wären. Die Frage nach dem quellenkritischen Wert dieser Aussage bleibt dabei gänzlich unberührt. Für die Saga des 13. Jhs. sind die Kylfingar zunächst »Fremde aus dem Osten«, die der Norweger alle erschlagen lässt. 287 Es handelt sich um die allesamt nur stilgeschichtlich datierten Inschriften Sö 318 (um 1020– 50), U 419 (um 1020–50), U 320 † (wahrscheinlich um 1060–1100), U 445 (um 1060–1100); zumindest letztere beiden wurden wahrscheinlich von der gleichen Person, einem Kylfingr Nesbjôrnsson, gesetzt (vgl. Nordiskt runnamnslexikon, ed. Peterson [2007]; Föller: PMBZ #24221–24223). 288 Hierzu Stender-Petersen, Die Väringer und Kylfinger [1953], S. 111, der den Unterschied damit erklärt, dass Βάραγγος aus dem Slawischen, Κούλπιγγος direkt aus dem Skandinavischen entlehnt sei, weil letztere direkt nach Byzanz gekommen und weniger von »slavischrussischen Elementen« durchsetzt gewesen seien. Die Erklärung ist lautgeschichtlich für den letzten Wortbestandteil denkbar, für den ersten Wortteil aber unmöglich, denn dann hätte sie vor dem Eintreten des i-Umlauts im 6. Jh. geschehen müssen – wenn die Koulpingoi überhaupt etwas mit Kylfingar zu tun haben. Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 167– 170, 171–174 hingegen argumentiert mit einer Entlehnung über das Ostslawische auf einem Lautstand vor etwa 850, welcher den abweichenden Vokal erkläre. 289 So wurden Kölpények , die in der ungarischen Historiographie des 12. Jhs. als ungarische Hilfstruppen seit dem 10. Jh. begegnen, mit den Kylfingar in Verbindung gebracht (vgl.

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und damit letztlich auch wertlosen Spekulationen, wozu strenggenommen auch die folgenden Ausführungen zu zählen sind, stehen angesichts einer derart dünnen Grundlage Tür und Tor offen. Sie zwingen indes zur Auseinandersetzung. Es existieren auch in der größten Gruppe nordistischer Zugänge ausgesprochen unterschiedliche Erklärungsansätze, die auf zwei Alternativen hinauslaufen, konkret auf eine Identifikation der kolbjagi/Koulpingoi mit einer Gruppe von Skandinaviern neben den varjagi290 oder einer ostseefinnischen Gruppe im Novgoroder Raum.291 Weder die eine noch die andere kann belastbare Quellen für sich beanspruchen. Die Argumentation für eine skandinavische Identität der Koulpingoi basiert im Wesentlichen auf der Konstruktion Adolf Stender-Petersens, der die Gruppenbezeichnung vom altnordischen Wort kólfr (urnordisch *kulƀio¯n: »Bolzen, Stange, stumpfer Pfeil, Klöppel«) herleitet und nicht wie andere, frühere Forscher mit einer solchen Bewaffnung dieser Gruppe oder einem »Stab« als Würdezeichen rechnet,292 sondern kólfr als Bezeichnung für eine »Genossenschaft«, wahrscheinlich für eine Handelsgenossenschaft, auffasst, ähnlich wie er varjag versteht.293 Die Abwesenheit des Sozionyms aus anderen rusischen Texten erklärt er sozialdarwinistisch damit, die kolbjagi hätten mit wenig Erfolg den weniger lukrativen Finnenhandel betrieben, was er wiederum aus der Egils saga schließt, während die varjagi bekanntlich an den großen Flüssen aktiv gewesen seien.294 Damit ergäbe sich semantisch, linguistisch und ethnographisch eine Parallele zu væringr (»Eidgänger«), die sich freilich keineswegs von sich aus aufdrängt, sondern von einer ganzen Reihe von Assoziationen und letztlich von einem normannistischen Vorurteil getragen wird. Die Assoziationskette geht von der Warägergeschichte der Povest’ vremennych let aus, die mit der Entlehnung des Wortes væringr aus dem Altnordischen verknüpft wird, weiterhin von der Vorannahme, dass privilegierte Gruppen in der

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291 292 293 294

Székely, Hungary and Sweden [1975], S. 11). Eine andere Herleitung von kolbjag – Κούλπιγγοι von türkisch bzw. petschenegisch kölbeg wurde von Bruckus, Varjagi i Kolbjagi [1935] vorgeschlagen. Auch wenn eine solche Herleitung für kolbjag sich nicht durchsetzte (vgl. Blöndal, S. 14/7), wäre damit jedenfalls der ungarische Begriff besser erklärt als mit einer Herleitung von Kylfingr. So v. a. Stender-Petersen, Die Väringer und Kylfinger [1953], S. 99–113, der eine umfassende frühere Forschungsdiskussion auch über die skandinavischen Zeugnisse von Kylfingr versammelt; Rahbek Schmidt, Soziale Terminologie [1964], S. 353–355; Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 167–176. Vgl. auch die Übersicht bei Andersson, Kylfingar [2001]. In erster Linie Briem, Kylfingar [1930]; Holm, Kylvingar och väringar [1993]; Koivulehto, Baltic Finns [1997]. Vgl. auch die Übersicht bei Andersson, Kylfingar [2001]. Vgl. etwa Thomsen, Det russiske rigets grundlæggelse [1909], S. 386f. Stender-Petersen, Die Väringer und Kylfinger [1953], S. 109f, zu den varjagi ebd., S. 98f. Ebd., S. 110f. Wie sich die behauptete Konkurrenz zwischen varjagi und kolbjagi in den byzantinischen Chrysobullen niederschlagen soll, wie ebd. festgestellt wird, bleibt schleierhaft.

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Rus’ des frühen 11. Jahrhunderts, zumal im Novgoroder Raum, grundsätzlich skandinavischsprachig und skandinavischstämmig (oder genauer: germanisch) gewesen sein mussten und schließlich von dem Postulat, dass kolbjag sich von Kylfingr herleiten muss. Hinter der Konstruktion steht also ein spezifisches identifikatorisches Interesse, zu dem eine Argumentation gezielt gesucht und gefunden wird; die Argumentation gegen eine ostseefinnische Identifikation erfolgt allein aus der Stille.295 Unbestreitbar ist eine Bedeutung von kólfr als Gilde zwar im Hochmittelalter, also viel später, in zwei norrönen Komposita (hjúkólfr: »Hausgenossen«, húskólfr: »Zusammenkunft«) greifbar, nicht aber für das Wort kólfr allein.296 Stender-Petersens Annahme wurde von Gottfried Schramm aufgegriffen und entlehnungsgeschichtlich sowie semantisch dahingehend modifiziert, dass es sich bei kolbjagi um skandinavische Kaufleute des Novgoroder Raums und bei varjagi um nordische Krieger weiter südlich in der Rus’ gehandelt habe, die um die Jahrtausendwende bereits zu Synonymen mit verschiedenen lokalen Wurzeln geworden seien.297 Das paarweise Auftreten in den Chrysobullen erklärt Schramm, allein auf sprachgeschichtliche Beobachtungen rekurrierend, mit verschiedenen Zeitschichten: Das -p- in Κούλπιγγοι deute auf eine Entlehnung über das Ostslawische hin, welches das -f- aus *kulƀingaz in ein -b- (*kolbjag) umgeformt hätte. Eine auf -ing lautende Entlehnung ins Griechische wiederum sei nur bei einem Lautstand des Ostslawischen im 9. Jahrhundert denkbar. Daher postuliert Schramm, die Koulpingoi seien als »Gardeeinheit« bereits um 850 entstanden, die Warangoi (auf -ang) dagegen unter Basileios II. um 988. Es handle sich also um zwei verschiedene skandinavische Einheiten.298 Diese Hypothese ist aus byzantinischer Sicht abzulehnen. Nicht nur spricht kein einziger Text außerhalb der Chrysobullen von den Koulpingoi, sondern Schramm hat auch übersehen, dass die Koulpingoi eben nicht von Anfang an neben den Warangoi stehen, sondern erst 1073 hinzukommen. Die Chrysobullen zählen zudem verschiedensprachige Ethnien, nicht Einheiten auf.299 Außerdem wäre ein solch frühes Datum für die Entstehung einer exklusiven nordischen Einheit, die sich nicht einmal vor Alexios Komnenos sicher postulieren lässt, doch arg ge-

295 Ebd., S. 102f. Damit ließe sich freilich genauso gut auch gegen eine skandinavische Identität der kolbjagi argumentieren und gegen eine Herkunft aus dem Altnordischen. 296 S. Ásgeir Blöndal Magnússon, Íslensk orðsifjabók [1989]. 297 Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 172–176. 298 Ebd., S. 167–170, 171–174. 299 Ebd., S. 169 mit der Aussage, die griechischen Urkunden hülfen für eine Datierung nicht weiter, vgl. dagegen B15 mit B16. Auch die Aussage ebd., S. 168, die Warangoi hätten das höhere Ansehen genossen, weil Haraldr bei ihnen diente, besagt nichts, weil die Koulpingoi im fraglichen Kontext gar nicht existieren.

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wagt. Die erste gesicherte Erwähnung von Ῥῶς, nicht Κούλπιγγοι, bezieht sich auf das Jahr 860.300 Akzeptiert man trotzdem Stender-Petersens Erklärung und auch Schramms Rekonstruktion der Bedeutung von varjagi und kolbjagi im Ostslawischen, so wäre aus einem ursprünglich spezifisch beschränkten Sozionym mit ethnographischer Konnotation, das noch nach der Mitte des 11. Jahrhunderts in der Rus’ und Byzanz unter skandinavischen Migranten funktional gewesen sein muss, in Byzanz ein Ethnonym geworden. Einerseits erklärte sich so, warum Koulpingoi zwar im akribisch sammelnden ethnographischen Inventar der Chrysobullen begegnen, aber nicht in der Historiographie. Dort würden die Koulpingoi dann unter Warangoi oder »Axtträgern« firmieren. Dies scheint plausibel, verhält es sich doch bei den Inglinoi nachweislich analog, da besonders von einem normannischen Chronisten um 1100, aber im 12. Jahrhundert auch von Byzantinern selbst Warangoi und »Engländer« als identisch angesehen werden.301 Andererseits stellte die Transformation eines sich lokal mit anderen überschneidenden, partikularen Sozionyms in ein Ethnonym – und das bei nicht erkennbaren »ethnischen« Differenzen! – eine Ausnahme in der Sprache der Urkunden dar. Eine alternative, weniger prominente Hypothese erkennt in den Koulpingoi eine Bezeichnung für »Dänen« in Abgrenzung von den übrigen Skandinaviern, den Warangoi;302 sie stützt sich auf eine Aufzählung byzantinischer Truppen im nach 1100 entstandenen Chronicon Monasterii Casinensis des Leo von Ostia, der zum Jahr 1009 vom lombardischen Aufstand gegen den katepano¯ des byzantinischen Italien in Bari berichtet, der sich auf »Dani, Russi et Gualani« zur Verstärkung stützen konnte.303 Durch eine äußerst fragwürdige Gleichsetzung dieser Trias mit den Rho¯s, Warangoi und Koulpingoi unserer Chrysobullen wird dann die »dänische« Identität der Koulpingoi im Gegensatz zur »schwedischen« der Warangoi gewonnen, ohne dass deutlich würde, wie Leos Aufzählung mit den Chrysobullen zusammenhängt, die zudem zahlreiche andere Ethnonyme kennen, und auf welcher Basis der Kardinal Leo oder seine Vorlage »Dänen« und »Schweden« im byzantinischen Heer unterschied, wenn die Byzantiner selbst dies nicht taten. Unklar bleibt zudem, wie Warangoi in allen Handschriften der Montecassiner Chronik zu Gualani beziehungsweise Walani werden konnten; bei anderen italienischen Autoren werden sie als Guarangi transliteriert, so dass man sich fragen muss, ob nicht Leos Dani die byzantinischen Warangoi repräsentieren und die Gualani eine andere Gruppe meinen, ganz abgesehen vom weiten zeitlichen 300 Photios: Homilien, ed. Laourdas [1966], Homilien 3, S. 29–39 und 4, S. 40–52. Vgl. oben, S. 27 mit Anm. 30. 301 S. unten, S. 195ff. 302 Danylenko, Urmane, Varjagi and Other Peoples [2004], S. 186f, 193f. im Rückgriff auf dort verzeichnete Literatur des 19. Jhs. 303 Chronik von Montecassino, ed. Hoffmann [1980] 2,37, S. 237, Z. 5/29.

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Intervall zwischen Abfassung der fraglichen Chronik und den berichteten Ereignissen, in welchem sich der byzantinische Sprachgebrauch grundlegend gewandelt hatte.304 Fernerhin bliebe bei einer skandinavischen Identifikation der Κούλπιγγοι, ob man sie nun als Bezeichnung für skandinavische Kaufleute oder »Dänen« auffasst, wie bei den Væringjar das Problem bestehen, dass eine nicht umgelautete Form aus dem Altnordischen ins Altrussische gewandert sein müsste. Dies wäre bei einer regulären Übernahme sprachgeschichtlich kaum möglich, denn beim Kylfingr handelt es sich einwandfrei um ein Derivat auf -ingr,305 so dass ein i-Umlaut schon vor dem Ende des 7. Jahrhunderts, wahrscheinlich aber noch früher eingetreten sein muss.306 Bei alledem fragt sich wiederum, ob Kylfingr überhaupt eine Ableitung von kólfr mit i-Umlaut (< urnord. *kulƀingaz) darstellt, oder ob es sich um ein später gebildetes Derivat zu kylfa (Keule) handelt und daher überhaupt etwas mit dem kolbjag der Russkaja Pravda zu tun hat.307 Zwingend erscheint diese Verbindung nämlich keineswegs. Eine Übernahme von *kulƀingaz ins Ostslawische hätte also aus lautgeschichtlicher Sicht in grauer Vorzeit stattfinden müssen, was sowohl Stender-Petersen als auch Schramm übersehen.308 Warum indes Skandinavier auf dem »Ostweg«, für die weder die altrussische Chronistik noch arabische Geographen noch byzantinische Historiographen noch die norröne Literatur mehr als ein Appellativum benötigen, sich selbst in der Fremde, zumal in Byzanz, mit zwei ganz verschiedenen Sozionymen bezeichnet und sich gar als verschiedene Ethnien geriert haben sollten, deren Bezeichnungen zudem keinerlei funktionalen, sondern lediglich einen lokalen, entstehungsgeschichtlichen Unterschied aufwiesen, bleibt schleierhaft. Eine alternative Erklärung der Kylfingar/kolbjagi/Koulpingoi als ostseefinnische Gruppe nimmt ihren Ausgangspunkt in der alles andere als eindeutigen Bezeichnung einer fremden Gruppe als Kylfingar, wie sie in der Egils saga SkallaGrímssonar begegnet, und der Tatsache, dass der Novgoroder Raum, Garðar beziehungsweise das Garðaríki der Sagas, in einem isländischen enzyklopädi-

304 Vgl. oben, S. 107 mit Anm. 135. 305 Das Paradigma zeigt bei vokalisch anlautenden Endungen im Gegensatz zu etwa N. pl. væringjar kein eingeschobenes -j-; vgl. oben, Anm. 102. 306 Oben, Anm. 135. 307 Es sei nochmals mit Nachdruck betont, dass die normannistische Deutung zwar »über alle anderen einen endgültigen sieg davongetragen« (Stender-Petersen, Die Väringer und Kylfinger [1953], S. 100) hat, das aber durch nichts als die gesetzte Analogie von kolbjagi zu varjagi entgegen sprachgeschichtlichen Problemen. Das Vorurteil war hier stärker als die sprachgeschichtliche oder semantische Plausibilität. 308 Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 173 datiert die Übernahme aus dem Skandinavischen für beide Sozionyme um die Mitte des 9. Jhs., was lautgeschichtlich bei varjag denkbar, bei kolbjag unmöglich ist.

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schen Text aus dem Zeitraum um 1160–1250 als Kylfingaland bezeichnet wird.309 Zudem werden zahlreiche Ortsnamen im Raum um Novgorod und Ladoga mit den kolbjagi in Verbindung gebracht.310 B. Briem war daher der Ansicht, es handle sich bei den Kylfingar und kolbjagi um eine Übersetzung der Eigenbezeichnung, welche sich die ostseefinnischen Woten (Vatja, pl. Vatjalaiset) gaben und die in ihrer eigenen Sprache »Pflock/Keil/Pfahl/Stange« (altnordisch kólfr) bedeutet. H. Stang schlug dagegen vor, das Ethnonym basiere auf kolp’, der wepsischen Lehnform von kólfr, das sich ethnographisch auf die stumpfen Pfeile zurückbezöge, mit welchen die Wepsen und andere Pelzjäger umgingen.311 In jenem Fall, so bleibt aus heutiger Perspektive auf transkulturelle Phänomene anzumerken, hätten sich Übersetzungen in eine altnordisch-ostslawische Kreolform kolbjag und ins Altnordische kylfingr mit regelgerecht durchgeführtem i-Umlaut im rein skandinavischen Sprachraum zeitlich parallel und damit nach der lautgeschichtlichen Grenze etablieren können; dann wäre aber eine Entstehung im transkulturellen Umfeld, eben im Kylfingaland der altnordischen Geographie zu postulieren, keine »Übernahme« aus dem Altnordischen und keine »germanische« Identität der so Bezeichneten. Immerhin interagierten Gruppen, deren Angehörige finno-ugrische, nordgermanische und ostslawische Dialekte sprachen, im Novgoroder Raum über lange Zeit hinweg derart intensiv, dass die stillschweigende Voraussetzung, sprachliche Übernahmen müssten immer lautgesetzlichen Mustern gehorchen, die ohnehin nur ex post aus dem Material (re-)konstruiert sind, keine zwingende Plausibilität für sich beanspruchen kann. Die Wörter besagen somit nichts über ihre Migrationsrichtung. Gesteht man den Akteuren aber ein gegenseitiges Verstehen der jeweils anderen Sprache zu, so dass Übersetzungen oder regelkonform angeglichene Übertragungen (kolbjag > kylfingr) an die Stelle phonetischer Nachahmung treten, eröffnet sich eine derart große Anzahl an Möglichkeiten der Wortgenese und -verbreitung, dass angesichts der kümmerlichen Quellenlage nur die sokratische Einsicht in das eigene Nichtwissen bleibt. Deutlich wird in jedem Fall, dass sich das Wort kolbjag keineswegs vom altnordischen kylfingr herleiten muss, sondern diese vermeintliche Selbstverständlichkeit als leitende Prämisse per analogiam zu varjag und væringr zu Stande kam. Möglicherweise handelte es sich bei den Κούλπιγγοι unabhängig von normannistischen Deutungen auch ganz schlicht 309 Es handelt sich um die so genannte »Völkertafel« (Edition in Simek, Kosmographie [1990], S. 457–461). 310 Vgl. Holm, Kylvingar och väringar [1993]; Briem, Kylfingar [1930]; Schramm, Altrußlands Anfang [2002], S. 175 mit Anm. 233. 311 Stang, Fra Novaja Zemlja og Varanger [1990], S. 141–145. Er greift damit auf die ältere Auffassung etwa bei Thomsen, Det russiske rigets grundlæggelse [1909], S. 386f und Briem, Kylfingar [1930] zurück, dass mit kólfr bzw. seiner Entlehnung ein die Gruppe kennzeichnender Gegenstand gemeint sei.

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und einfach um Petschenegen (< kölbeg). Zur Chronologie ihrer Integration in die byzantinische Armee jedenfalls passte eine solche Herleitung perfekt.312 Dass sie im Chrysobull 1073 neben den Βάραγγοι stehen, konnte hier ebenso gut Zufall und dann immer wieder kopiert worden sein. Grenzen setzt beinahe nur die eigene Imagination. Verfolgt man indes das ebenfalls hoch spekulative Gedankenspiel weiter, dass die kolbjagi kein lokales, uraltes Komplement oder Synonym zu den varjagi darstellen, sondern eine andere nordeuropäische, ähnlich privilegierte Gruppe von Fremden bilden, nämlich Ostseefinnen, bleibt deren Hauptvorteil, dass sie die verschiedenen Belege in der Russkaja Pravda, in den Chrysobullen und den Sagas bzw. der altnordischen geographischen Literatur in Einklang zu bringen vermag: Dass Sprecher des Ostseefinnischen und skandinavischer Dialekte als »Fremde« in der Rus’ ähnliche Tätigkeiten als Händler und Krieger wahrnahmen, ist nicht belegbar, aber eben auch nicht widerlegbar.313 Man musste nicht »Normanne« oder »Waräger« oder sonst ein »Germane« sein, um in dieses Interaktionsmuster einzutreten. Dies scheint auch deshalb plausibel, weil gerade Jaroslav der Weise, auf den wiederum die Kratkaja Pravda mit ihren Regelungen betreffend varjagi und kolbjagi zurückgeführt wird, sich bei der Ausdehnung seiner Herrschaft nach Kiev besonders auf Krieger aus dem Novgoroder Raum gestützt hatte. Dass er zwei verschiedene ethnische Gruppen privilegierte, von deren Diensten er profitiert hatte, ist nicht unplausibel.314 Aus byzantinistischer Sicht scheint eine solche Deutung auch deshalb vorzuziehen, weil die Ethnonyme der Chrysobullen, die im Gegensatz zu den oft antikisierenden Bezeichnungen in der Literatur einer präzisen, volkssprachlichen Benennung von »Fremden« immer den Vorzug geben und dabei niemals verschiedene Sozionyme für eine Gruppe wiedergeben, auf Beobachtung beruhen; anders ist die oben nachvollzogene Variation der Listen mit der Zeit kaum zu erklären. Demnach waren die Koulpingoi 1060 nicht in die Aufmerksamkeit der Kanzlei vorgedrungen, 1073 hingegen schon. Ihre Anwesenheit ist also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht älter. Eine brauchbare Erklärung hierfür, für die synchrone ethnographische Funktionalität aus byzantinischer Sicht, fehlt, während es an Spekulationen über die Wortgenese keineswegs mangelt. 312 Vgl. Moravcsik, Byzantinoturcica I [1958], S. 87–89 und Bruckus, Varjagi i Kolbjagi [1935]. Damit wäre erklärt, warum 1060 noch keine Koulpingoi vorhanden sind, 1073 dagegen schon. 313 Damit wäre das argumentum e silentio gegen eine solche Hypothese bei Stender-Petersen, Varangica [1953], S. 102f. herumgedreht. Seine Kritik ebd., das Altrussische verfüge über das Ethnonym Vod’ für die Woten, verfängt nicht, weil Ethnonyme immer auch Sozionyme darstellen und sich bei der Berührung mehrerer Sprachen überlagern können (vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 98 zu den synchronen Bezeichnungen Saxones, Alamanni und Teutonici für »Deutsche« im Dänemark des 12. Jhs.). 314 Vgl. die Argumentation bei Holm, Kylvingar och väringar [1993].

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An die normannistische Erklärung des Wortes ist hingegen die Frage zu richten, warum im späteren 11. Jahrhundert ein Synonym aus dem Ostslawischen ins Griechische übernommen werden sollte, wenn es ein und dieselbe Gruppe von Migranten mit der gleichen Sprache und dem gleichen Status in der Rus’ und in Byzanz bezeichnete. Die Idee, zwei Parallelbezeichnungen aus verschiedenen Regionen wahrten gleichsam das Gedächtnis an längst vergangene Zeiten in der Rus’, hilft für das späte 11. Jahrhundert nicht weiter, als Skandinavier zu »Fremden« in der Rus’ geworden waren, denn es gab synchron nicht den geringsten funktionalen Unterschied. Genau einen solchen spiegeln aber die Ethnonyme der Chrysobullen. Handelte es sich bei den Κούλπιγγοι um eine überschaubare Gruppe von Ostseefinnen, die untereinander eine für Byzantiner hörbar andere Sprache besaßen, jedoch aufgrund ihrer Aktivitäten in der Rus’ und einer engen Kulturbeziehung zu Sprechern skandinavischer Dialekte mit ihnen ohne größere Schwierigkeiten kommunizieren konnten, die zudem mit ihnen nach Byzanz kamen und eingesetzt werden konnten, dann erklärte sich ihr Auftreten in den genau beschreibenden Chrysobullen und nur dort unter einem gesonderten Ethnonym. Es erklärte auch, warum die Byzantiner in einem Umfeld skandinavischsprachiger Migranten ein fenno-nordisch (oder auch rusischnordisch) kreolisiertes Ethnonym für diese Gruppe von Fremden hörten und in skandinavischer Aussprache (spekulativ *Kolpingr > Κούλπιγγος) auf -ing und nicht wie das ostslawisch vermittelte Βάραγγος auf -ang wiedergaben. Weiterhin erklärte es das Aufgehen der Koulpingoi in der Bezeichnung »Warangoi« in literarischen Texten analog zu den angelsächsischen Migranten: »Engländer« gelangten schon vor der Eroberung Englands durch die Normannen, besonders aber nach der Intensivierung von Williams Herrschaft seit den 1070er-Jahren in größerer Zahl nach Byzanz, wo sie denn ab 1080 in den Chrysobullen aufscheinen. Sie firmieren aber, wie bereits angedeutet, in der Historiographie stets als »Axtträger« oder Βάραγγοι. Obschon also der Hypothese, es handle sich bei den Κούλπιγγοι um Migranten aus dem Ostseeraum, die untereinander einen finnischen Dialekt sprachen, aus dieser Sicht der Vorzug zu geben ist, seien die äußerst rudimentäre Quellengrundlage und das erhebliche Ausmaß an Phantasie, welche die (Re-)Konstruktion des Zusammenhanges deshalb erfordert, nachdrücklich betont. Sowohl die Idee von Kylfingar als Kaufmannsgilde, als lokales Synonym zu Væringjar wie auch die Vorstellung einer solchen Bezeichnung für Ostseefinnen versuchen, Zusammenhänge zwischen den arg vereinzelten Überresten herzustellen, weshalb das Ergebnis immer schon durch die Perspektive vorgezeichnet und alle Spekulationen gleich beliebig und letztlich fruchtlos sind. Aus streng normannistischer Sicht gelingt hierbei eine Identifikation als skandinavische »Kaufmannsgilde«, die aber zur Exklusion der hochmittelalterlichen Semantik von Kylfingar führt und sich gegen die Funktion der ethnischen Listen in den

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byzantinischen Chrysobullen sperrt. Aus byzantinistischer Logik, die hier der normannistischen als Gegengewicht an die Seite gestellt werden muss, ergibt sich vielleicht keine höhere positive Wahrscheinlichkeit, aber doch eine geringere Unplausibilität für die Identifikation mit Ostseefinnen, die aber die ursprüngliche Herkunft des Wortes kolbjagi – Κούλπιγγοι aus dem Altnordischen als Sozionym für skandinavischsprachige Migranten in Zweifel ziehen muss. Verwirft man den direkten Zusammenhang zwischen kylfingr und kolbjag, der keineswegs den zeitlich weit auseinanderliegenden Fundstellen selbst zu entnehmen ist, werden beide Argumentationen hinfällig. Beide Hypothesen taugen mithin nicht als Grundlage für weitere Überlegungen, will man sich nicht in Zirkelschlüssen verfangen. Die Personennamen auf den vier Runensteinen, die aus dem Zeitraum von circa 1020 bis zum Ende des 11. Jahrhunderts stammen und von denen möglicherweise alle drei in Uppland vorgefundenen, mindestens aber zwei von ihnen die gleiche Person namens Kylfingr als Setzer des Steins nennen,315 tragen kaum zu einer weiteren Erkenntnis bei. Es mag sich um einen Namen handeln, der wie der ebenfalls in Runeninschriften nachzuweisende Finnr (»Finne«) aus einem Ethnonym hervorgegangen ist,316 oder auch um einen Angehörigen der von Stender-Petersen postulierten »Kaufmannsgilde«; losgelöst von irgendeinem Ethnonym betrachtet wäre es normannistisch gedacht ebenfalls möglich, dass Kylfingr wie Væringr einen zum Namen gewordenen Beinamen darstellt,317 möglicherweise gar eine Übersetzung des byzantinischen Hofranges manglabite¯s (»Keulenträger«), wie ihn Haraldr nach dem Sizilienfeldzug innehatte. Überlegungen hierzu verlieren sich jedoch unmittelbar im Reich der Spekulation, da die Runeninschriften über die Personen namens Kylfingr keine weiteren biographischen Details, etwa zu einem eventuellen Aufenthalt in Byzanz, preisgeben. Insofern muss das Problem ungelöst bleiben, zumal die ethnographische Vielfalt der Chrysobullen im ersten Jahrzehnt von Alexios’ Herrschaft gemeinsam mit der detaillierten Sprache der Urkunden wieder verschwindet.

2.5.

Ambiguitäten bei Michael Attaleiates

Die kaiserlichen Privilegien belegen indes ebenso wie das Strategikon des Kekaumenos und eine nicht klar zu greifende Erwähnung von »Tauroskythen« bei Psellos, dass Ῥῶς und Βάραγγοι zwar als verschiedene, aber doch einander 315 Vgl. Anm. 473. 316 Vgl. Nordiskt runnamnslexikon, ed. Peterson [2007]. 317 Dies ist der Grund für die Aufnahme der Personen auf den Runensteinen in die PmbZ durch Föller (#24221–24223).

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nahestehende Ethnien aufgefasst wurden, wobei auch die Möglichkeit bestand, Φράγγοι und Βάραγγοι als Gruppe westlicher Barbaren zusammenzufassen; diesbezüglich spiegelt sich der Weg der Migration von Skandinavien nach Byzanz im Schrifttum ebenso wieder wie die ausgeprägte Mischkultur der Rus’, in der skandinavische Elemente im Laufe des 11. Jahrhunderts zwar rückläufig, aber eben auch durch die Anwesenheit von nicht integrierten »Warägern« wie Óláfr Haraldsson oder seinem Halbbruder Haraldr Sigurðarson und ihren Anhängern weiterhin präsent waren. Die gemeinsame Nennung und eine fließende Grenze zwischen Rus’ und Warangoi ermöglichte entweder dem Schreiber eines Chrysobulls im Jahre 1073 oder dem Abschreiber des erhaltenen Textes im 13. Jahrhundert die Kontraktion zu Ροσοβάραγγοι;318 eine ähnliche Ambiguität ebenso wie die Möglichkeit zur Kombination von Phrangoi und Warangoi zeigt auch die Begriffswahl in der um 1080 verfassten Ἱστόρια des Michael Attaleiates,319 in der an zwei Stellen innerhalb einer zusammenhängenden Erzählung Βάραγγοι begegnen: Der im Herbst 1077 im Wesentlichen auf Anstiftung seines Bruder Ioannes hin rebellierende δούξ von Dyrrhachion Nikephoros Bryennios habe in seinem Heer, das er nach Adrianopolis und weiter nach Konstantinopel führte, mit organisatorischer Hilfe seines Bruders Ioannes über »eine große Masse an Warangoi und Phrangoi« (Βαράγγων καὶ Φράγγων πλήθη πολλά) verfügen können.320 Etwas später erhob sich in Kleinasien der δούξ Πελοποννήσου καὶ Ἑλλάδος Nikephoros Botaneiates, dem letztlich nach der Resignation Michaels VII. Doukas auch 1078 die Usurpation gelingen sollte. Einstweilen jedoch wehrte sich Michael VII. gegen Nikephoros Bryennios, indem er ein Heer unter seinem strate¯gos Alexios Komnenos und dem Normannen Roussel de Bailleul entsandte, welches erfolgreich die Streitkräfte des Nikephoros überfiel, die in der Küstenstadt Athyra westlich von Konstantinopel lagerten und Bryennios in die Flucht schlagen konnten.321 Auch in den kaiserlichen Truppen der Hauptstadt fanden sich laut Attaleiates und wenig überraschend Βάραγγοι, die auf »rusischen Schiffen« (ῥωσικὰ πλοῖα) gegen Nikephoros ausgesandt wurden, während das übrige kaiserliche Heer über Land zog. Da das Landheer früher als die Flotte eingetroffen sei, hätten sich die Soldaten beim Durchkämmen der Umgebung zu stark zerstreut, so dass schließlich die Warangoi allein die Stadt bestürmt und genommen hätten, 318 Möglicherweise handelt es sich um eine spätbyzantinische Schreibweise; die einzige andere Fundstelle, bei der Βάραγγοι mit einem ethnographischen Präfix versehen werden, ist in einem Prostagma Michael VIII. Palaiologos von 1272; dort handelt es sich um Ἐγκλινοβάραγγοι (B91). 319 Vgl. zu Attaleiates Hunger, Literatur [1978], S. 382–389; Tsolake¯s, Geschichtwerk des Michael Attaleiates [1970] sowie die Einleitung in Attaliates: Historia, ed. Pérez Martín [2002]. 320 B12. 321 B13, auch im Folgenden.

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während die verspätet eintreffenden übrigen Truppen die Flucht von Bryennios und seinen Leuten nicht hätten verhindern können. Bemerkenswert schließlich ist, dass Attaleiates wenige Zeilen nach dem Bericht über die Erstürmung der Stadt durch die Warangoi, die mit den »rusischen« Schiffen bei Athyra gelandet sein müssen, von Ῥῶς schreibt, die zahlreiche »Makedonier«, also Leute des Bryennios, bei der Erstürmung Athyras getötet hätten. Der narrative Verlauf lässt, wenn man ihm einen logischen Zusammenhang unterstellt, keine andere Wahl, als in den Besatzungen der »rusischen Schiffe«, der Warangoi und der Rho¯s in Athyra dieselben Personen zu erkennen. Damit werden vermeintliche Klarheiten über einen differenzierten Wortgebrauch beseitigt und die Ambiguität der Ethnonyme, wie sie bei Psellos und in den Urkunden erkennbar wurde, unterstrichen. Im Kontext verwundert das wenig, handelte es sich doch bei den aus Konstantinopel entsandten Truppen höchstwahrscheinlich um Angehörige der aus verschiedenen Migrantengruppen zusammengesetzten hetaireia, die rusische Schiffe benutzen mussten. Dies geschah wohl aus dreierlei Gründen: Erstens befand sich die byzantinische Flotte doch zu jener Zeit in einem desolaten Zustand,322 außerdem war der Weg von Konstantinopel nach Athyra sehr kurz und erforderte keine hochseetauglichen Schiffe.323 Abgesehen hiervon zeigt des Attaleiates Bericht, dass bei Revolten, die sich auf das Militär stützen, Waräger gegen Waräger kämpften. In den verschiedenen Militärbezirken stationierte Fremde standen also den lokalen Kommandanten auch für Usurpationsversuche zur Verfügung. Mithin kann von einer exklusiven Bindung der »Waräger« an die Person des Basileus, die insbesondere Blöndal seit Basileios II. hervorhebt, keine Rede sein; eine solche ließe sich lediglich für diejenigen in der Hauptstadt und besonders am Palast in der hetaireia des Basileus postulieren. In der Tat konnte Michael VII. Doukas sich auf »seine« Warangoi beziehungsweise Rho¯s verlassen. Nikephoros III. Botaneiates, dem des Attaleiates Sympathie gilt324 und der als lachender Dritter aus dem Konflikt um den Thron in den Jahren 1077 und 1078 hervorging, konnte sich auf die Treue seiner Barbarengefolgschaft indes nicht verlassen. Attaleiates berichtet von einem in den Jahren 1079 bis 1080 stattfindenden, spontanen Aufstand seiner »fremden Wachhabenden im Palast«. Sie hätten sich, vom Teufel verführt, gegen den Basileus verschworen und ihn beim Appell, als sie in Waffen angetreten waren, auf seinem Balkon mit Pfeilen beschossen. Der greise Kaiser und seine byzantinischen Begleiter hätten sich tapfer gegen den Angriff gewehrt, bis einheimische Wachen sie gerettet und die Barbaren in ihre Quartiere in den oberen Stockwerken zurückgedrängt hätten. Nach ihrer Kapitulation habe Nikephoros 322 Vgl. Haldon, Warfare [1999], S. 91; Pryor/Jeffreys, Age of the δρόμων [2006], S. 89–100. 323 Er beträgt entlang der Küste knapp 30 Seemeilen. 324 Hunger, Literatur [1978], S. 384–386; Papaioannou, Remarks [2012], S. 156, 161f.

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ihnen Gnade gewährt, obwohl ein sekretarios beim Anschlag ums Leben gekommen sei.325 Spätere Autoren wie der Scylitzes continuatus, die möglicherweise über dieses Ereignis berichten, identifizieren die Wachen als Βάραγγοι,326 ähnlich wie Psellos in der Retrospektive auf 988 aus den Rho¯s seiner Quellen »Tauroskythen« macht. Es ist jedoch bemerkenswert, dass Attaleiates dies nicht tut. Er schreibt als proedros und patrikios im innersten Kreis der Macht um Nikephoros III. praktisch unmittelbar nach den Ereignissen, deren Augenzeuge er wahrscheinlich war, dürfte also die meisten Detailinformationen zur Verfügung gehabt haben; zudem benennt er in anderen Kontexten Warangoi als solche. Freilich zeigt die Motivation des Anschlags auf das Leben des Basileus Deformationsmarker; eine mit den Einflüsterungen des Teufels argumentierende Erzählung ist nicht nur für den modernen Historiker unzufriedenstellend, sondern überdeckt auch in vormodernen Texten profane Kausalzusammenhänge.327 Dies lag zweifellos im Darstellungsinteresse Michaels, das auf ein makellos positives Bild von Nikephoros Botaneiates gerichtet war. Hieraus ist aber kein Grund abzuleiten, warum er die »Waräger« nicht als solche hätte bezeichnen sollen, wenn es sich bei den barbarischen Bogenschützen um solche gehandelt hätte. Stattdessen spricht er wie Konstantinos’ VII. De cerimoniis ganz unspezifisch von ethnikoi. Vor dem Hintergrund der Begriffswahl bei Psellos, bei Kekaumenos und in den Chrysobullen lässt sich darauf schließen, dass es sich bei den mörderischen Palastwächtern um Angehörige der hetaireia handelt. Nichts außer einer Konkretisierung in später entstandenen Texten, die keine größere Nähe zu den Ereignissen erkennen lassen, deutet auf eine skandinavische oder irgendeine andere spezifisch ethnische Identität der Wachen hin; auch Trunkenheit ist beileibe kein Privileg skandinavischer Krieger in byzantinischen Diensten.328 Zudem belegt die Stelle den Nutzen mehrerer verschiedener Einheiten am Palast: Sein Überleben verdankt Nikephoros nach dem Bericht des Attaleiates den byzantinischen Wachen, welchem tagma auch immer sie angehört haben mögen. Insofern bestätigt auch der jüngste byzantinische Text, der vor der Usurpation des Alexios Komnenos entstand, dass von einer »Warägergarde« keine Rede sein kann, ebenso wenig von irgendwelchen anderen gesonderten skandinavischen

325 B14. 326 Scylitzes continuatus (nach 1100, B34) und Ioannes Zonaras (Mitte 12. Jh., B54). 327 Der Scylitzes continuatus bietet Jahrzehnte später eine Motivation, vgl. unten, S. 176ff. Sie wird jedoch hier nicht berücksichtigt, weil sie wahrscheinlich das Produkt einer ex postVerknüpfung von Ereignissen darstellt. 328 Blöndal, S. 193f./118f. hebt diese Tatsache hervor. Spekulationen über die Ursachen für den vermeintlichen Mordanschlag der Warangoi (Chalandon, Alexis [1900], S. 38; Blöndal a. a. O.) sind deshalb fruchtlos, weil Attaleiates gar keine solchen nennt, sondern erst der Scylitzes continuatus, dessen Erklärung Blöndal übernimmt.

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oder »warägischen« Einheiten. Skandinavier, Angelsachsen und – möglicherweise – Finnen sowie Rus’ fanden sich verteilt unter den ethnikoi in der kaiserlichen hetaireia, als Einzelpersonen im engsten Kreis des kaiserlichen Gefolges sowie in der Masse vor allem in den verschiedenen Festungen und Städten in den themata, wo sie zusammen mit anderen Gruppen von fremden Kriegern dem jeweiligen lokalen Kommando unterstanden.

2.6.

Die Sprache der Quellen und die Geschichte der »Waräger«

Dieses Bild, das sich ausschließlich auf 21 Stellen in Texten stützt, welche vor 1081 entstanden und die Begriffe Βάραγγοι, Ταυροσκύθαι oder Bezeichnungen für Träger von »Streitäxten« (πέλέκεις, ἀξῖναι, ῥομφαίαι) enthalten, weicht erheblich von Blöndals Rekonstruktion der Warägergeschichte ab. Nicht weniger als 123 Seiten in der isländischen Originalfassung beziehungsweise 89 Seiten in der englischsprachigen Überarbeitung der »Væringjasaga«, was etwa einem Drittel des gesamten Textes entspricht, setzen sich mit den »Warägern« in der Zeit vor 1081 auseinander,329 wovon wiederum mehr als die Hälfte allein auf Haraldr Sigurðarsons Aufenthaltszeit in Byzanz (um 1034 bis 1043) entfällt.330 Dies resultiert selbstverständlich aus der Auswertung des umfangreichen norrönen Quellenmaterials und dem Versuch, aus Texten, die in Byzanz, Armenien, im Heiligen Land sowie in Süditalien entstanden, aber keine Skandinavier erwähnen,331 die historischen Situationen genauer zu rekonstruieren, in welchen Skandinavier, vor allem Haraldr und seine Männer, definitiv oder auch wahrscheinlich zum Einsatz kamen. Es werden also die byzantinischen Eroberungen auf Sizilien näher behandelt, ebenso der Krieg gegen Peter Deljan in Bulgarien und eine byzantinische Mission nach Jerusalem, da die Sagas Haraldr als Kreuzfahrer avant la lettre beschreiben und sich hierzu auf Strophen von Haralds Hofskalden berufen. So unproblematisch die Suche nach Kontextinformationen zum Zweck einer Geschichtsrekonstruktion erscheint, so problembehaftet erweisen sich indes die Identifikation von »Warägern« an Stellen, wo überhaupt keine Rede von ihnen ist, und hierauf aufbauende Erkenntnisse über die spezifische Situation des vermeintlichen Væringjalið beziehungsweise des Varangian regiment und die Eigenschaften, welche diese Einheit oder Einheiten ausgezeichnet haben. Es wird deutlich erkennbar, dass Blöndal sich bei seiner Rekonstruktion vom Bild der Sagas, der nationalen isländischen Überlieferung 329 Blöndal, S. 73–196/32–121. 330 Blöndal, S. 108–168/54–102. 331 In byzantinischen Quellen, die vor etwa 1060 entstanden, sowie generell in armenischen und levantinischen Texten begegnen ausschließlich »Rus’« mit der sich daraus ergebenden Problematik.

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leiten ließ. Daher überrascht es wenig, dass die Væringjar als eine den Basileis besonders ergebene Einheit erscheinen, die unter Basileios II. zur »Leibgarde« geworden seien und das tagma der Ἐξκούβιτα verdrängt hätten,332 obwohl zu dieser Zeit an keiner Stelle von Warangoi in einer solchen Funktion die Rede ist, von solchen Leibgardisten ganz zu schweigen; auch in der hetaireia sind keine umstürzenden Personalveränderungen in dieser Richtung festzustellen. Weiterhin erscheint jene Warägergarde als militärisch hocheffizient; sie habe im Glanz einer besonderen Bevorzugung durch die letzten Angehörigen der makedonischen Dynastie, Zoe und Theodora sowie durch die Doukai, gestanden; insbesondere letztere hätten sich im Gegenzug auf eine besondere Treue der »Warägergarde« zu ihrem Haus verlassen können.333 Argumente hierfür werden oftmals aus der Identifikation beliebiger Leibgardisten mit der »Warägergarde« oder etwa im Falle Haralds bei der Blendung Michaels V. mit einem anonymen Büttel gewonnen.334 Diese prinzipielle Gleichsetzung von »Leibwächtern« mit »Warägern« jedoch ist vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus den Texten vor 1081 abzulehnen. Teilweise werden zudem Textaussagen in ihr Gegenteil verkehrt. So wird ein Gegensatz zwischen dem vermeintlich von Haraldr geblendeten Michael V. und Zoe konstruiert: Ersterer hätte die Waräger benachteiligt, während Zoe und Theodora, die 1042 nach der von Haraldr persönlich ausgeführten Blendung Michaels V. für einige Monate allein herrschten, den Warägern erneut den Vorzug gegeben hätten.335 Die Chronographia des Psellos, die hier scheinbar als Quelle diente, besagt indes nichts anderes, als dass Michael V. zahlreiche »skythische Eunuchen« in seine »Leibwache« (σώματος φρουσά), also höchstwahrscheinlich seine hetaireia, aufnahm.336 Dass dies eine Diskriminierung der »Warägergarde« darstellte, wird nirgends in den Quellen deutlich. Die erwähnte Passage über das Zeremoniell bei Zoe und Theodora konstatiert eben keinerlei Gegensatz zum Vorgänger, sondern betont explizit, dass die Schwestern bei den Zeremonien alles exakt so beließen, wie es war.337 Eine Bevorzugung der Skandinavier unter den Herrscherinnen lässt sich nicht erkennen. Als es 1044 zum Aufstand gegen Konstantinos IX. Monomachos kam, weil dieser sich einem Gerücht zufolge seiner Frau Zoe entledigen wollte, wurde er laut Skylitzes, der mehrfach Warangoi erwähnt, von seinen Leibwächtern beschützt, nicht von einer 332 Vgl. Blöndal, S. 92 und Blöndal (Benedikz), S. 45 und 53, zitiert und näher besprochen unten, S. 259ff. 333 S. unten, S. 158f. 334 Munch, Kritiske undersøgelser [1873], S. 543–545; Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884], S. 383; Blöndal, S. 151–161, 169/90–96, 103. 335 Ebd., S. 160f./95f. 336 Chronographia 5,15, Z. 11, Bd. I, S. 114. Vgl. Blöndal, S. 150/88 (ohne Quellenangabe). 337 B3.

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spezifischen Wäragergarde.338 Da Blöndal jedoch fest davon ausgeht, eine solche Garde habe existiert, muss er damit rechnen, die Abwehr von Usurpationsversuchen, etwa durch den strate¯gos Leon Tornikios 1047, sowie die folgende Blendung sei von Warägern durchgeführt worden.339 Als Beweis dafür, dass Waräger die »schmutzige Arbeit« im Zusammenhang mit dem Machterhalt erledigten, dient Blöndal wiederum die Blendung Michaels V. durch Haraldr, die keine byzantinische Quelle auch nur andeutet. Auch bei der Abwehr einer Petschenegeninvasion von 1048, bei der nach Ausweis der Quellen eindeutig das tagma der Σχολαί den Sieg herbeiführte, sollen Waräger eine besondere Rolle gespielt haben; als Beleg hierfür sieht Benedikz in der englischen Revision von Blöndal an, dass die Sieger die abgeschlagenen Köpfe besiegter Gegner im Triumph nach Konstantinopel trugen.340 Was genau außer klischeehaften Vorstellungen an diesem Verhalten, das auch an anderer Stelle als »warägisch« beschrieben wird und entsprechende Identifikationen nach sich zieht, eine spezifisch skandinavische Identität der fraglichen Krieger nahelegt, bleibt allerdings offen – das Zurschaustellen von Häuptern getöteter Feinde ist absolut keine exklusiv skandinavische Praxis, eher im Gegenteil; sie spielt nicht einmal in den Sagas eine Rolle. Abgesehen von diesem Extremfall wird allgemein sichtbar, wie Vorannahmen aus den Sagas und volkstumsideologische Vorstellungen Lesarten byzantinischer Quellen bestimmen, die dann wiederum als Argumente dienen, um Geschichtsbilder zu untermauern, welche die »Warägergarde« als die verlässlichste und exklusive Leibgarde der Basileis und zugleich als »Männer fürs Grobe« darstellen – was indes auch die Sagas nicht tun, wie noch zu zeigen sein wird. Solche Vorannahmen, insbesondere über eine herausragende Gefolgschaftstreue der Waräger zum jeweils herrschenden Haus, führen etwa im Kontext der Usurpation des Isaakios Komnenos 1057 zur verfälschenden Rezeption von Skylitzes. Blöndal berichtet unter Berufung auf ihn, die Waräger im Heer hätten lange gezögert, sich der Rebellion des Komnenen gegen den Basileus anzuschließen.341 In der Tat berichtet Skylitzes, dass der strate¯gos Katakalon Kekaumenos, der sich mit Isaakios verschworen hatte, nicht recht gewusst habe, wie er die von ihm in Kleinasien mobilisierten fremden Truppen dazu brächte, sich der Rebellion anzuschließen und ihn nicht dem Basileus auszuliefern. Es handelt sich hierbei wohlgemerkt um eine Einheit aus Rho¯s und zwei aus Phrangoi, die Skylitzes als tagmata bezeichnet,342 nicht aber um axttragende 338 Skylitzes, Konstantinos Monomachos, Ka. 7, S. 433f.; vgl. Blöndal, S. 172/104f. 339 Blöndal, S. 172f./105. 340 Ebd., S. 173/105f. Die Behauptung, das Köpfen der Feinde »has a Varangian air about it« (S. 106) wurde von Benedikz gegenüber dem Original hinzugefügt. 341 Blöndal, S. 177/107f.; ähnlich Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 294f. 342 Skylitzes, Michael Gero¯n, Kap. 7, S. 490, Z. 15f.

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»Tauroskythen«, von denen Psellos im späteren Verlauf der gleichen Rebellion berichtet.343 Des Skylitzes’ Rho¯s einfach zu »Warägern« zu erklären, ist allein schon deshalb unzulässig, weil die von Kekaumenos ausgehobene Truppe nicht mit derjenigen des Isaakios Komnenos deckungsgleich ist. Außerdem nennt Skylitzes Βάραγγοι beim Namen, wenn er sie meint, und der von Psellos beschriebene Empfang besagt gar nichts über die Zahlen an Skandinaviern, auf welche der Usurpator sich stützen konnte; für die Zeremonie im Zelt mögen unter einhundert genügt haben, weshalb die Annahme, es habe ein ganzes tagma von ihnen existiert, aus den Quellen nicht herzuleiten ist. Der ratlose Katakalon jedenfalls habe laut Skylitzes zunächst ein gefälschtes kaiserliches Schreiben vorgelegt, das ihn zur Aushebung zweier lokaler byzantinischer tagmata und dreier tagmata aus σύμμαχοι gegen die Türken ermächtigte.344 Später erst, im Lager bei Nikopolis, habe er die einzeln nacheinander angetretenen byzantinischen Kommandeure eidlich auf sich verpflichtet. Nach diesem Erfolg sei es ihm ein Leichtes (!) gewesen, die fremden Kontingente zu überzeugen und auf sich einzuschwören; von Zögern ihrerseits findet sich keine Spur. Skylitzes beschreibt hier nichts anderes als ein interkulturelles Kommunikationsproblem, das Katakalon Kekaumenos dazu bewegt, zuerst seine byzantinischen Truppen zu bearbeiten. Es gab also weder aus »legitimistischen« Gründen zögernde fremde Einheiten, noch handelte es sich bei ihnen um »Waräger«. Blöndal identifiziert die Rho¯s und Phrangoi entgegen dem Wortgebrauch bei Skylitzes als Warangoi, weil Psellos an bereits bekannten Stellen »tauroskythische Axtträger« in Isaakios’ Heerlager erwähnt. Nichts spricht dafür, dass diese ihm von Katakalon Kekaumenos zugeführt wurden; Isaakios selbst war zu jener Zeit στρατηγὸς αὐτοκράτωρ, eine Umschreibung für den Rang des δομέστικος τῶν Σχόλων τῆς Ἀνατολῆς,345 damit kein anderer als der Oberkommandierende im östlichen Reichsteil und sehr wohl in der Lage, eigene Truppen in beeindruckender Zahl zu mobilisieren. Die Tendenz, Aktionen von erwähnten oder erschlossenen Warangoi als Zeichen ihrer spezifischen Ergebenheit zum Herrscherhaus zu interpretieren, zeigt sich erneut bei der etwas unorthodoxen Art, in welcher Romanos IV. Diogenes laut dem Scylitzes continuatus den Purpur erlangte.346 Nach einigen Monaten der Alleinherrschaft der Basilissa Eudokia Makrembolitissa, der Frau des verstorbenen Konstantinos X. Doukas, sei Romanos bewaffnet in den Palast eingedrungen, habe die Ehe mit Eudokia vollzogen und sich am Morgen des 1. Januar 1068 zum Basileus ausrufen lassen. Bei den Βάραγγοι sei trotz der 343 B7. 344 Skylitzes, Michael Gero¯n, Kap. 7, S. 490–492; vgl. dagegen Blöndal, S. 177/107f.; Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 294f. 345 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 150. 346 B30.

Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten

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allgemeinen Jubelstimmung in der Stadt daraufhin ein Aufruhr losgebrochen, den der noch minderjährige Kaisersohn und Symbasileus Michael Doukas aber unmittelbar hätte beschwichtigen können. Romanos geriet schließlich 1071 bei der desaströsen Schlacht von Mantzikert in seldschukische Gefangenschaft. Hier sei nach Benedikz die »Provinzwarägergarde« mehr oder weniger ausgelöscht worden, da die Leibgardisten des Basileus schwere Verluste erlitten hätten,347 woran sich allerdings die Frage anschließen könnte, woher dann Nikephoros Bryennios der Ältere schon 1078 wieder seine zahlreichen Βάραγγοι hatte, die er aus dem Westen mit nach Konstantinopel führte. Als Romanos sich jedenfalls 1071 in den Händen der Feinde befand, sei es eben jenem Michael Doukas, der die Waräger 1068 beruhigte, und seinem Vaterbruder Ioannes Doukas gemäß Psellos gelungen, die mit rhomphaiai bewaffneten fremden Palastwachen hinter sich zu bringen,348 was die Erhebung Michaels zum Basileus erheblich begünstigte. Nikephoros Bryennios der Jüngere spricht in seiner viel später entstandenen Chronik auch davon, dass »Barbaren aus den Länder am Okeanos« zugleich die Basilissa eingeschüchtert hätten.349 Abgesehen davon, dass die Identifikation von »Palastwache« und »Warägergarde« nur in Texten einen Rückhalt findet, die deutlich nach 1100 unter dem Eindruck einer radikal veränderten Militärstruktur entstanden und nicht von Augenzeugen geschrieben wurden, schreibt Blöndal der »Warägergarde« aufgrund dieser Textstellen eine besondere Ergebenheit gegenüber Michael VII. Doukas zu:350 »Eins og áður er um getið, varð Michael VII. til að mýkja skap Væringja gegn stjúpföður sínum er hann tók ríki. Nú sýndu þeir enn, að þeim var hlýrra til unga keisarans.« »Wie schon vorher erwähnt, hatte Michael VII. Anteil daran, die Gemüter der Waräger gegenüber seinem Stiefvater zu beruhigen, als jener die Herrschaft übernahm. Nun zeigten sie erneut, dass sie dem jungen Kaiser ergebener waren.«

Diese Lesart einer besonderen Ergebenheit nicht gegenüber dem Parvenü Romanos, sondern gegenüber dem Dynasten Michael wird in der englischen Übertragung durch Benedikz nochmals stark überzeichnet:351

347 Blöndal, S. 185–187/113, gestützt auf den Scylitzes continuatus (B31). Während das Original den Tod der meisten Leibwächter hervorhebt, stammt die gänzlich unbelegbare Spekulation, die »Provinzwaräger« seien hier untergegangen, von Benedikz. Sie baut wiederum auf einer spekulativen Teilung der »Waräger« in Stadt- und Provinwaräger, s. oben, S. 97f. 348 Psellos, Chronographia (B8). 349 B36. 350 Blöndal, S. 188. 351 Solcherlei Überzeichnungen ziehen sich durch die gesamte revidierte englische Version. Auffällig ist vor allem die Abscheu vor Kreuzfahrern (»Crusading hordes […] planned to sack [Antioch] in their customary civilized manner«, S. 130, fehlt komplett im Original, S. 205), die auch zur kompletten Revision des Schlusses führt. Blöndal (Benedikz), S. 176 schließt seine historische Narration mit einer Klage über die osmanische Eroberung, ihren

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»Michael Ducas now became Emperor as Michael VII, and was evidently favoured by the Varangians and favoured them. […] As we have noted, the legitimist temper of the regiment had made them less sympathetic to Romanos IV, and they now demonstrated that their real sympathy was with the son of the legitimate Emperor.«352

Auf diese Weise wird aus zwei isolierten Ereignissen – dem Aufbegehren von Warangoi, also nicht-byzantinischen Gefolgsleuten des verstorbenen Konstantinos X., gegen eine Usurpation unmittelbar vor ihrer Nase und der Bereitschaft fremder Palastwachen drei Jahre später, sich dem Sohn Konstantins X. anzuschließen – eine durch die Forschung stark rezipierte »legitimistische Grundhaltung« beziehungsweise »Treue«.353 Dass die hetaireia, also die persönlich an den Sohn des verstorbenen Basileus gebundene Gefolgschaft, nicht untätig seiner Entmachtung zusieht, ist indes kein Beleg für eine besondere Stellung zur byzantinischen Nachfolgepraxis. Andere Indizien für Sympathien und Antipathien gibt es nicht; im Jahre 1071 beteiligten sich die »Träger der rhomphaiai« nicht an einer riskanten Usurpation, sondern taten schlicht, was angesichts der Abwesenheit des gefangenen Basileus opportun war. Inwiefern Michael zudem die Waräger begünstigt haben soll, bleibt schleierhaft, schließlich erwähnt auch der ganz zeitnah schreibende Attaleiates sie in der Armee des Usurpators Nikephoros Bryennios 1077.354 Damit ist zugleich die These hinfällig, in Mantzikert seien die »Provinzwaräger« untergegangen. In der Serie von Militärrevolten 1077/ 78, die Michael VII. Doukas zu Fall bringen sollten, verfügte nicht nur der glücklose Nikephoros Bryennios, sondern auch der doux Nikephoros Basilakes, der sich nach Bryennios ebenfalls in Dyrrhachion erhob, über Βάραγγοι.355 Diese waren ihm nach der Chronik Nikephoros Bryennios’ des Jüngeren von keinem anderen als Michael VII. Doukas selbst gesandt worden. Basilakes rekrutiert also neben der Armee des westlichen Reichsteils einmal mehr die ihm zugeteilten Warangoi, diesmal sogar jene aus der Hauptstadt. Eine legitimistische Haltung der »Waräger« ist angesichts dieser Tatsache mit allem Nachdruck in Frage zu

352 353 354 355

Vorläufer von 1204 und die Waräger, »who surrendered so tamely to the robbers of 1204«. Blöndal dagegen enthält sich solch moralischer Wertungen gänzlich, ebenso der psychologisierenden Unterstellung von Neid und Unterlegenheitskomplexen bei den Kreuzfahrern von 1204 (vgl. Blöndal [Benedikz], S. 159, 163–166) und gibt abschließend der Hoffnung Ausdruck, Istanbul könne einst die Hauptstadt eines befriedeten und geeinten Balkans verschiedener Nationen werden, wenn nicht gar einer geeinten Welt. Die ungekennzeichnete Tilgung dieses utopischen Schlusses, entstanden kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ändert den Charakter des ganzen Buches, ebenso wie die radikale, immer wieder Partei ergreifende erzählerische Perspektive bei Benedikz, welche dem Original nicht gerecht wird. Letzteres wirkt daher in seinen Ergebnissen heute weniger veraltet als die revidierte Fassung. Vgl. auch unten, S. 229. Blöndal (Benedikz), S. 114; ähnlich Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 67f. Vgl. unten, S. 259ff. B12. Scylitzes continuatus (B35); Nikephoros Bryennios (B40).

Βάραγγοι in vorkomnenischen Texten

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stellen. Dass sich die »Tauroskythen« auch schon der Usurpation des Isaakios 1057 anschlossen, belegt vielmehr im Gegenteil, dass die in den vorkomnenischen Texten identifizierbaren Skandinavier ebenso wie Rus’, Normannen, Ungarn, Bulgaren, Seldschuken, Petschenegen, Araber und andere in byzantinischen Diensten ganz überwiegend in Gruppen auf die themata verteilt waren, dort den Kommandierenden als stehende Truppen zur Verfügung standen und Militärrevolten auf diese Weise eher begünstigten als behinderten.356 Die Vorstellung einer besonderen Treue zu den Basileis oder gar einer bestimmten Dynastie ist nicht aufrechtzuerhalten; es drängt sich dagegen der Schluss auf, dass sie ebenso wie die Masse der Byzantiner dem jeweiligen Befehlshaber auf dem Weg zur erhofften Beute folgten, deretwegen sie schließlich in byzantinische Dienste getreten waren.357 Verzichtet man auf die hermeneutische Vermengung von Geschichtsbildern der Sagas mit byzantinischen Texten und mehr oder weniger latenten Vorstellungen von germanisch-warägischer Gefolgschaftstreue, und liest man zudem vorkomnenische Texte für sich, verschwinden nicht nur zahlreiche spekulative Aspekte »warägischer« Ereignisgeschichte,358 sondern mit ihnen zugleich die »Warägergarde« selbst und ihre vermeintlichen besonderen Eigenschaften. Mit dem Phänomen, dass Βάραγγοι, wie sie vor allem die byzantinische Historiographie beschreibt, ihre Eigenschaften und Aktivitäten mit der Zeit erheblich ändern, hängt auch ein weiteres Problem der etablierten Narration zusammen, nämlich die Frage nach der Kommandostruktur. Angesichts dessen, was die zeitgenössischen Texte nahelegen, unterstanden die Waräger wie alle fremden Söldner dem jeweils lokalen Befehlshaber. Jedoch geht man vielfach davon aus, dass die in der Hauptstadt stationierte »Gardeeinheit« einem byzantinischen Beamten, dem ἀκόλουθος, unterstanden habe, ein Titel, der, im 10. Jahrhundert schon einmal als ἀκόλουθος τῆς Βίγλης in einem anderen Kontext gebraucht, im 11. Jahrhundert bei Skylitzes erneut auftaucht.359 Konsequent verfolgt die »Væringjasaga« auch die Karriere eines gewissen akolouthos Michael, der den hohen Ehrenrang eines patrikios innehatte und 356 Cheynet, Pouvoir et contestations [1990] zählt seit dem Herrschaftsantritt Romanos’ III. (1028) bis zu Alexios Komnenos 1081 insgesamt 88 Umsturzversuche in 53 Jahren (ebd., Nr. 31–113, S. 41–90), im Jahrhundert der Komnenoi (1081–1180) jedoch nur 41 (ebd., Nr. 114–154, S. 90–113), zahlreiche davon in den ersten Jahrzehnten von Alexios’ Herrschaft. Zur Bedeutung der Armee, gerade im Osten des Reichs, für die Usurpationen vgl. ebd., S. 345–357. 357 Dies lässt sich in Skandinavien für das 11. Jh. archäologisch gut am Zusammenhang zwischen Auslandsfahrer-Runensteinen und dem Reichtum der zugehörigen Güter zeigen (Larsson, Runstenar och utlandsfärder [1990], S. 97–99, 129f.). 358 Eine Liste der bei Blöndal ohne Quellengrundlage postulierten und interpretierten Ereignisse findet sich unten, S. 188 mit Anm. 485. 359 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 114; vgl. in unserem Kontext B26+B27.

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1049 sowie in der folgenden Zeit byzantinische Kontingente gegen die Petschenegen in Bulgarien und die Seldschuken in Kleinasien führte. Blöndal geht davon aus, dass es sich bei den Männern, die Michael kommandierte, um Waräger gehandelt habe, und führt Michaels Erfolge umgekehrt auf Waräger zurück.360 Problematisch ist neben den Details der fraglichen Passagen, dass es mit einer Ausnahme keinen einzigen weiteren Beleg, weder in byzantinischen noch in anderen Texten noch auf Siegeln gibt, dass die Position des akolouthos irgendetwas mit Βάραγγοι zu tun hätte. Die Ausnahme bildet das Zeremonienbuch des Pseudo-Kodinos, welches den akolouthos expressis verbis als »Verantwortlichen« (ἔνοχος) für die Warägergarde bezeichnet.361 Es entstand allerdings um die Mitte des 14. Jahrhunderts, drei Jahrhunderte nach den hier besprochenen Ereignissen, nach dem Traditionsbruch, den das Jahr 1204 für die Hofkultur der Byzantiner bedeutete und nach der Wiedererrichtung der palaiologischen Herrschaft über die alte Hauptstadt. Angesichts der Wandelbarkeit byzantinischer Amts- und Rangbezeichnungen und des radikalen Strukturwandels in ganz verschiedenen Kulturbereichen erscheint eine Übertragung auf einen 300 Jahre zurückliegenden Zeitraum nicht begründbar.362 Recht gut verfolgen lassen sich der akolouthos und seine Aktivitäten hingegen in der Historiographie des 12. Jahrhunderts, nur hat er dort mit Warangoi nicht das Geringste zu tun; die akolouthoi – möglicherweise handelt es sich abermals um eine Rangbezeichnung und keine Funktionsbeschreibung – übernehmen diplomatische Gesandtschaften und übersetzen in Verhandlungen mit Lateinern.363 Kehrt man nun zur von Blöndal herangezogenen Stelle bei Skylitzes zurück, stellt man fest, dass eben nicht der akolouthos und patrikios Michael, sondern ein gewisser patrikios Bryennios von Konstantinos IX. zum ethnarche¯s, zum Kommandierenden der ethnikoi im ausgehobenen Heer bestimmt worden 360 Blöndal, S. 173–176/106f.; die Assoziation des akolouthos mit den Warangoi, hergleitet, aber kontextuell gelöst von derjenigen bei Pseudo-Kodinos (B116), begegnet schon bei Du Cange, Glossarium [1807], S. 175 und erneut in Reiskes Kommentar zu De cerimoniis, DC II, S. 474. Letzterer verwechselt den dortigen akolouthos, ranggleich zum πρωτομανδάτωρ der Ἐξκουβίτοι und Ἱκανᾶταοι, mit dem δρουγγάριος τῆς Βίγλης im gleichen Text und jenem akolouthos, den Skylitzes und Pseudo-Kodinos meinen (dazu Kühn, vorige Anm. und oben, Anm. 52, S. 87). Übernommen wurde diese Assoziation in der Forschung seitdem immer wieder (vgl. etwa Les listes de préséance, ed. Oikonomides [1972], S. 331; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 130; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 231; Bibikov, Byzantine Sources [2005], S. 22; Lübke, Waräger § 2 [2006]. 361 B116; vgl. unten, S. 281ff. 362 Vgl. hierzu Pseudo-Kodinos, ed. Macrides/Munitiz/Angelov [2013], S. 446–448 sowie die Tabelle über die Herkunft und früheste Erwähnung bei Ps.-Kodinos beschriebener Rituale (ebd., S. 451–453). Es wird deutlich, dass die spätbyzantinischen Zeremonien zwar an ältere Traditionen anknüpfen, sich dies aber mehr auf die Rituale als die beteiligten Personenkreise bzw. Ämterhierarchien bezieht. 363 Vgl. z. B. Ioannes Kinnamos 2,16, S. 80 (zu A.D. 1147) sowie ebd. 5,4, S. 210 (zu A.D. 1161).

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war, bei denen es sich um westliche Barbaren, Φράγγοι καὶ Βάραγγοι, sowie um 20.000 berittene Bogenschützen aus dem kilikisch-syrischen Grenzraum gehandelt habe.364 Solche Zahlen sind wie immer cum grano salis zu genießen, doch legt die auch für byzantinische Verhältnisse sehr hohe Ziffer nahe, dass die leichte Kavallerie, auf die Skylitzes hier anspielt, in der Mehrzahl war. Der akolouthos Michael jedoch führte keine dieser Gruppen, sondern bekam den Oberbefehl über das ganze Unternehmen übertragen. Als er bei Skylitzes etwas später erneut begegnet, wird er in das thema Iberia im äußersten Osten entsandt, um eine seldschukische Invasion abzuwehren, woraufhin er dort und im thema Chaldea stationierte Φράγγοι καὶ Βάραγγοι aushebt und die Seldschuken zum Rückzug veranlassen kann.365 Dies ist der einzige Punkt vor Pseudo-Kodinos, an dem Waräger und ein akolouthos gemeinsam begegnen, und die Stelle besagt nichts über irgendeine Warägergarde und ihr Verhältnis zum akolouthos. Es geschieht um 1050 nichts anderes, als dass ein hoher militärischer Würdenträger am Hof ausgesandt wird, eine Gegend zu befrieden, der sich hierzu der ethnikoi im lokalen thema bedient. In zwei Texten aus der Zeit Manuels wird die Tatsache als Indiz für eine Verbindung des akolouthos mit den Warangoi ausgemacht, dass einer von ihnen auch als primmike¯rios der Wardariotai genannt wird, einer seit dem 10. Jahrhundert existenten, wohl von Manuel zur Palasteinheit gemachten Gruppe gleichfalls »barbarischen« Ursprungs;366 mehr als eine Zugehörigkeit des akolouthos zum Hof ist hiermit aber nicht bewiesen. Andere Fundstellen aus der Ära der Komnenoi erwähnen verschiedene Träger dieser Amtsbezeichung als Unterhändler mit Kreuzfahrern und den Kreuzfahrerstaaten sowie als Lateinübersetzer. Diese Verwendung mag eine besondere, möglicherweise funktionale Nähe des akolouthos zu Lateinern am Palast spiegeln, doch ist diese eben an keiner Stelle auf Warangoi zugespitzt. Die Annahme, dass der akolouthos des 11. und 12. Jahrhunderts in einem besonderen Verhältnis zu den Warägern stand, deren Kommandanten mit anderen Wörtern bezeichnet werden,367 ist daher ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie alle hierauf aufbauenden Argumentationen über die Bedeutung einer von ihm kommandierten Gardeeinheit. Zweifellos befanden sich zahlreiche Skandinavier im Byzantinischen Reich; sie erhielten nach der Mitte des 11. Jahrhunderts als Βάραγγοι ein eigenes byzanti364 B26. 365 B27. 366 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 183, der sich auf Listen der Würdenträger anlässlich von Kirchensynoden stützt. Die Hierarchien dieser Listen sind wiedergegeben ebd., S. 501–509, s. hier die Liste der Synode von 1166 (S. 507). Erwähnt ist freilich nur ein Phylax akolouthos ohne nähere Qualifikation. Zu den Wardariotai vgl. Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 271f., 279f. 367 Es finden sich im 12. Jahrhundert, als die Warangoi als eigene Einheit erscheinen, andere Bezeichnungen für Kommandanten der Waräger im Heer des Basileus oder in byzantinischen Garnisonen (vgl. oben, S. 131 und unten, S. 283).

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nisches Ethnonym, das sie von den Rus’, mit denen sie gemeinsam nach Konstantinopel kamen, differenzierte, und sie werden als Angehörige der hetaireia auch im Zeremoniell sichtbar, obschon sich die allermeisten von ihnen in den Provinzen befunden haben dürften. Liest man jedoch zeitgenössische Texte ohne den Ballast der Wikinger- und Germanen-Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts, ohne Vorannahmen aus den räumlich und zeitlich weit entfernten Sagas oder späteren byzantinischen Quellen, welche zwangsläufig sprachliche und konzeptuelle Anachronismen in die Repräsentation der Geschichte des 11. Jahrhunderts einbringen, erweist sich die »Warägergarde« und ihre lange, detaillierte und assoziativ angereicherte Geschichte vor 1081 als ein Phantom.

3.

Komnenoi, Kreuzfahrer und Warangoi: Späte Perspektiven auf das 11. Jahrhundert

Mit der erfolgreichen Usurpation durch Alexios Komnenos, den höchsten Militär im Westen des Byzantinischen Reichs, kam die Serie von militärischen Umsturzversuchen im 11. Jahrhundert an ein Ende. Zugleich war eine existenzielle Bedrohungssituation für die byzantinische Herrschaft entstanden, nicht zuletzt durch ebendiese Kämpfe um den Purpur,368 eine Vernachlässigung der Grenzräume, die finanziell bedingte Schwächung der Armee und die Anwendung elaborierter, aber starrer diplomatischer und militärischer Taktiken gegen neue, nomadisch lebende und anders kämpfende Gegner aus der Steppe:369 Im Jahrzehnt zwischen der verheerenden Schlacht von Mantzikert im Jahr 1071, bei der Andronikos Doukas mit seinen Männern desertierte, um in Konstantinopel seinen Vetter Michael (VII.) Doukas an die Macht zu hieven, und Alexios’ Griff nach der Macht 1081 waren ganz Anatolien, aber auch das Tal des Maiandros im Südwesten Kleinasiens sowie Nikaia byzantinischer Kontrolle entglitten und in 368 Hierzu Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], der allein zwischen 1071 und 1081 19 Umsturzversuche registriert (ebd., Nr. 94–112, S. 75–89). 369 S. Vryonis Jr., The Eleventh Century [2003], bes. S. 42f., der strulturelle Übereinstimmungen zwischen den Erklärungen des Attaleiates, Kekaumenos und Skylitzes für den Niedergang des 11. Jhs. und damit byzantinisches Eigenverschulden auch und gerade in ökonomischer Hinsicht herausstellt. Dagegen betont Haldon, Approaches [2003], bes. S. 71–74 die Tatsache, dass neben wirtschaftlichen Faktoren vor allem Unverständnis der Organisationsformen bei den neuen Gegnern – Petschenegen und turksprachigen Gruppen – deren Unterschätzung und daraus folgend eine rasch veraltende Taktik auf dem Feld sich ab den 1060er-Jahren deutlich bemerkbar machten und schreibt den selbstkritischen Ton der historiographischen Quellen kausal verdichtenden ex post-Konstruktionen zu. Zur allgemeinen Geschichte bis 1081 vgl. auch im Folgenden die Übersicht bei Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 1–58, zur im 11. Jh. zunehmend riskant werdenden, »klassischen« mittelbyzantinischen Militärtaktik McGeer, Sowing [1995], S. 253–289.

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der Hand der Seldschuken sowie halbnomadisch lebender, turksprachiger Gruppen, welche die Heerstraßen nach Osten unsicher machten. Es waren mehr oder weniger abgeschnittene byzantinische Vorposten entstanden, deren Ressourcen dem Basileus nicht mehr zu Verfügung standen.370 Dass zum Zweck der Usurpation beziehungsweise ihrer Abwehr wiederholt Türken in byzantinische Konflikte eingebunden wurden und man sie offensichtlich für absorbierbar hielt, begünstigte die Erosion der kleinasiatischen Gebiete, in denen schließlich das seldschukische Sultanat Ru¯m entstand, obschon die Seldschuken ursprünglich kein besonderes Interesse an Kleinasien gehabt hatten. Die Byzantiner sahen sich mit einer Gemengelage aus seldschukischer Herrschaft und von dieser nicht kontrollierten nomadischen, plündernden Gruppen konfrontiert.371 Ähnlich wie die Franken, welche die Strukturen hinter den Überfällen von Skandinaviern im Frühmittelalter lange Zeit nicht durchschauten, weil sie ihr eigenes Herrschaftsverständnis auf das fremde Gegenüber projizierten,372 zeigen byzantinische Texte keine Einsicht in die Mehrschichtigkeit der Migration turksprachiger Gruppen und ihre heterogenen Organisationsformen. Im Norden des Reiches bereiteten das erstarkende Ungarn und wiederholte Einfälle der Petschenegen Probleme; am westlichen Grenzsaum nahm sich die Situation nicht besser aus.373 Die Eroberung Siziliens durch Maniakes 1038–1040 war nur teilweise und vorübergehend gelungen, und die Normannen, bereits seit ihrem Auftreten im frühen 11. Jahrhundert in lombardisch-byzantinische Konflikte eingebunden,374 hatten seit der Mitte des Jahrhunderts bis 1071 Apulien und Kalabrien, das byzantinische Katepanat Italias, erobert. Im Sommer 1081 setzte Robert Guiscard schließlich über die Adria und schickte sich an, den Balkan zu erobern. Erschwerend kam hinzu, dass die themata offenbar schon vor 1071 ihren Nutzen zur Verteidigung des Grenzlandes verloren hatten,375 wie sich schon in der Schlacht von Mantzikert gezeigt hatte. In dieser Situation, in welcher alle Defensivbarrieren – Pufferstaaten in Armenien und Syrien, Grenzfestungen östlich des Tauros, befestigte Orte in Anatolien, Brückenköpfe in Süditalien, eine starke Flotte und die themata – ausgefallen waren, sah sich Alexios Komnenos gezwungen, ad hoc auf die Situation zu reagieren und zwischen den verschiedenen Krisenherden zu lavieren.376 Hierzu standen ihm praktisch ausschließlich 370 371 372 373 374

Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 27–37. Ebd., S. 36f. Fried, Weg in die Geschichte [1994], S. 147f. Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 37–45. Vgl. Hoffmann, Die Anfänge der Normannen [1969]; Loud, Byzantine Italy [1988], S. 220– 227. 375 Haldon, Military Service, Military Lands [1993], S. 60–67; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 33–37; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 231f. 376 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 27–31; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 56–84, bes. S. 80–84.

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Truppen aus den byzantinischen Kernlanden um Konstantinopel, Thrakien, Makedonien und Thessalien, sowie fremde Söldner zu Verfügung; zur Finanzierung unter anderem des vernachlässigten Militärs griff er auf drastische Maßnahmen zurück, darunter auf die Entfremdung von Kirchenbesitz.377 Die nunmehr zentral gesteuerte Armee konzentrierte Alexios zunächst ganz, jedoch ohne Erfolg, auf die Abwehr der Normannen, die ihm erst später durch Bestechung normannischer Heerführer und die Anwendung von Taktiken gelang, welche große Entscheidungsschlachten zu Gunsten der Ausblutung des Gegners und von Hinterhalten vermieden und welche die Byzantiner von den Petschenegen übernommen hatten.378 Erst gemeinsam mit den Kreuzzugsheeren, die erstmals im Winter 1096/97 in Konstantinopel eintrafen, wandte sich Alexios von der Verteidigung der europäischen Kernlande wieder den kleinasiatischen Gebieten zu. Er versuchte wie seine Nachfolger mit mäßigem Erfolg, die versammelte militärische Schlagkraft aufzuspalten, einzelne Heerführer später auch durch Lehnseide an sich zu binden und den Krieg zu byzantinischen Gunsten zu kanalisieren,379 wobei ihm wie auch seinen Nachfolgern wahrscheinlich mit Ausnahme Manuels die eigentliche Motivation der Kreuzzüge fremd blieb:380 Im Juni 1097 fiel Nikaia nach einem Sieg der vereinigten Heere und kurzer Belagerung wieder in byzantinische Hand, wobei die von Alexios verhinderte Plünderung Spannungen im Verhältnis zwischen Byzantinern und Kreuzfahrern verursachte; der Sieg über die Seldschuken bei Dorylaion im gleichen Sommer 377 Zu Alexios’ Verhältnis zur Kirche s. Angold, Church and Society [1995], S. 46–48, 69–72; zu den fiskalischen Reformen Chalandon, Alexis [1900], S. 277–301; Hendy, Byzantium, 1081– 1204 [1989]; Angold, The Road to 1204 [1999], S. 260; Morrisson, Byzantine Money [2002], S. 958–962; Laiou, Overview [2002], S. 1147–1153. 378 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 68–70. 379 Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten [1981], S. 20–25; Runciman, Byzantium and the Crusades [1986]; Chalandon, Alexis [1900], S. 173–190; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 39–42, 46f.; Lilie, Fremde [1995], S. 103f. 380 Zum ideengeschichtlichen Hintergrund v.a. Riley-Smith, The First Crusade [1986], bes. S. 13– 57; Phillips, Heiliger Krieg [2009], S. 23–35. Ob und in welchem Maße den Byzantinern das Prinzip des geheiligten Krieges geläufig war, ist aufgrund der Abwesenheit klarer Zurückweisungen der lateinischen Kreuzzugsidee umstritten: Kolbaba, Fighting for Christianity 1998 [1998], bes. S. 218–221 betont die Vertrautheit mit der Grundidee bei Unverständnis für die westlichen Begleitsymptome, Dennis, Defenders [2001], S. 38f. unterstreicht dagegen, Krieg sei aus byzantinischer Sicht prinzipiell schlecht; ähnlich Haldon, ›Blood and Ink‹ [1992], S. 292–294. Auch Stouraitis, Byzantine Positions [2011], bes. S. 60–62, betont die Ablehnung der Ideen eines von Gott gewollten Krieges sowie der Selbstheiligung durch den Tod in einem solchen, die vor der Zeit der Kreuzzüge zu erkennen ist, gerade in Reaktionen auf den islamischen Jiha¯d. Diese Prinzipien seien auch im 12. Jh. gültig und lediglich vorübergehend durch verstärkte kulturelle Interaktion und geteilte politische Interessen der Byzantiner mit Kreuzfahrern überdeckt. Die These bringt jedoch nicht die Tatsache zum verschwinden, dass kein byzantinischer Autor gegen den Kreuzzug als solchen polemisiert, sondern Feindseligkeiten sich immer gegen das konkrete Verhalten der westlichen Barbaroi richten. Zudem wurde Manuels Zug gegen Konya 1176 als Kreuzzug stilisiert, vgl. unten, S. 230 mit Anm. 660.

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ermöglichte den Kreuzfahrern und Byzantinern den mehr oder weniger unbehelligten Durchzug durch Anatolien nach Antiochia, aus dessen desaströs organisiertem Belagerungsheer sich die Byzantiner indes vor dem Fall der Stadt zurückzogen.381 Entscheidend war jedoch für letztere, dass es letztlich mit Hilfe des Kreuzzuges, der zahlreiche Probleme bereitet hatte, gelungen war, die Kontrolle zumindest über den kleinasiatischen Küstensaum östlich der Ägäis sowie an der Südküste und die reichen, zum Meer hin offenen Täler zurückzuerhalten.382 Die hier grob skizzierten Ereignisse zeigen, dass in der Zeit zwischen 1081 und der folgenden Jahrhundertwende radikale Veränderungen stattfanden, welche sich auf denjenigen Kulturbereich, in welchem Skandinavier in den Quellen begegnen, erheblich auswirkten. Dies betrifft einerseits die Zusammensetzung der Armee, denn in der Zeit des Alexios verschwinden auch zahlreiche tagmata aus den Schriftquellen; Söldner gewannen verhältnismäßig stark an Bedeutung.383 Andererseits betreffen die Umbrüche angewandte Taktiken sowie die Tatsache, dass nunmehr der Basileus nicht wie zahlreiche Vorgänger im 11. Jahrhundert in Konstantinopel blieb, sondern zumeist selbst mit der Armee ins Feld zog.384 Angesichts der taktischen Flexibilität, welche aus den Darstellungen von Alexios’ Schlachten in der Historiographie hervorgeht, und Manuels Verhalten, das entgegen allen früheren Taktika die typische byzantinische Vorsicht bei der Kriegsführung in den Wind schlägt,385 ist die vollkommene Abwesenheit von militärtaktischen Handbüchern, welche eine genaue Rekonstruktion byzantinischer Kriegsführung bis um die Jahrtausendwende ermöglichen, wahrscheinlich alles andere als ein Zufall: Das militärische Handeln unter dem Rückgriff auf zahlreiche verschieden spezialisierte Truppen verschiedener Herkunft war dem Willen des jeweiligen Komnenos unterworfen und konnte sich von Herrscher zu Herrscher wandeln.386 Dass die kaiserlichen Feldherren dabei

381 Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten [1981], S. 25–42; Runciman, The First Crusade [1951], S. 213–262; Chalandon, Alexis [1900], S. 199–205 382 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 32, 46f. 383 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 128–130; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 231–233; Magdalino, The Byzantine Army [1997]; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 24f. 384 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 80–83, 231–235. 385 Kazhdan, Aristocracy [1984]; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 413–421; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 121–123, 135–138. 386 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 80–83, 96–98, 135–138, 231–235 zeigt im Vergleich zwischen Alexios, Ioannes II. und Manuel die enormen Unterschiede in der Kriegsführung der drei Herrscher und deren Bedeutung. Zum ererbten Hintergrund byzantinischer Kriegspraxis vgl. Haldon, Warfare [1999], S. 226–228; Dennis, The Byzantines in Battle [1997]. Kaegi Jr, Some Thoughts [2007], S. 264–266 betont die Bedeutung zurückhaltender, schriftlich vermittelter Strategien für das Überleben des früh- und mittelbyzantinischen

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auf das Wissen älterer Taktika zurückgriffen, ist sehr wahrscheinlich, doch handelten gerade die Komnenoi sowohl bei der Zusammensetzung ihrer Armeen als auch bei deren Gebrauch, gemessen an den vorigen Jahrhunderten, unorthodox. Zugleich intensivierte sich der Kontakt mit Akteuren aus dem lateineuropäischen Westen ganz erheblich, sowohl durch die symbiotische Handelsverbindung insbesondere mit den Venezianern, durch die byzantinisch-normannischen Kriege als auch durch den Durchzug der Kreuzzugsheere; neue kulturelle Verflechtungen waren das Resultat.387 Man kann anhand lateinischer und volkssprachlicher Kreuzzugsberichte plausibel machen, dass schon unter den Teilnehmern des Ersten Kreuzzugs, etwa in der Flotte des Guynemer von Boulogne,388 Skandinavier über den »Westweg« Konstantinopel und das Heilige Land erreichten,389 noch bevor der dänische König Erik Ejegod 1103 auf dem Weg nach und Sigurðr Jórsalafari 1110 auf dem Weg von Jerusalem mit ihren Heeren nach Byzanz kamen; auch der König von Man und den Suðreyjar, Lagmaðr Goðrøðarson, war um 1102 nach Jerusalem gepilgert.390 Zusammen mit der ge-

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Reichs und ihre Differenz zur lateineuropäischen Kriegerethik, die, so die Erkenntnis aus den vorgenannten Werken, unter den Komnenoi dahinschmilzt. Die Literatur zum Thema »Byzanz und der Westen«, die sich überwiegend auf die Zeit der Kreuzzüge konzentriert, ist überbordend. Hervorgehoben seien hier der Überblick über die Verzahnung von Kulturverflechtung und -wandel sowie deren Problematik bei Beck, Byzanz und der Westen [1968] und Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], bes. S. 178–185; zu den Kreuzzügen Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten [1981] und Laiou, Byzantium and the Crusades [2005]. Die Handelsverbindungen mit Venedig, Genua und Pisa behandeln Lilie, Handel und Politik [1984], bes. S. 596–612; Hendy, Studies [1985], S. 590–602. Eine wertvolle prosopographische Studie bietet Ciggaar, Western Travellers [1996], auf S. 102–128 auch zu skandinavischen Reisenden. Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 183–188. Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 197–199. Seine Quellenverweise sind indes grundsätzlich mit Vorbehalt zu betrachten, da er die Normannen und Dani als zu einem »Volksstamm« gehörend betrachtet und entsprechend nicht differenziert. Ekkehardi chronicon, ed. Waitz [1843] sub A.D. 1097, S. 208, Z. 46f. erwähnt Dani und Northmanni im Heer des Ersten Kreuzzugs unter Godefroy de Bouillon, doch begegnen jene Dani nicht an der entsprechenden Stelle in Fulcheri Carnotensis Historia Hiersolymitana, ed. Hagenmeyer [1913], I,13, S. 203, der von Daci spricht, die Hagenmeyer als Donauanrainer begreift, was auch ihrer Position in der Aufzählung entspricht. Bei Henry v. Huntingdon: Historia Anglorum, ed. Greenway [1996], VII,6, S. 424 steht Dacia als Herkunftsland der Kreuzfahrer zwischen Flandria und Saxonia, meint also sicher »Dänemark«. Albert of Aachen: Historia Ierosolimitana, ed. Edgington [2007], I,5, S. 6–8, X,1, S. 718, X,7, S. 724 berichtet von Kreuzfahrern aus dem regnum Danorum im Hauptheer und außerdem allein von einem dänischen Nachzüglerheer aus 1500 Mann unter Svend, möglicherweise einem Sohn des Königs Svend Estridsen, das nach dem Durchzug durch Konstantinopel von den Seldschuken in Kleinasien überfallen und komplett aufgerieben worden sei, was die Kreuzfahrer in Antiochia erfahren hätten (ebd. , III,54, S. 222–224). Zu den Kreuzzügen der skandinavischen Herrscher und ihren Quellen Fledelius, Royal Scandinavian Travellers [1996] bzw. unten, S. 423ff. und 608ff.

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stiegenen Menge an angelsächsischen Exilanten, die seit dem zweiten Jahrzehnt der normannischen Herrschaft nicht nur ins benachbarte Dänemark, sondern auch in erheblichen Mengen nach Byzanz migrierten, wie die Chrysoullen ab 1080 dokumentieren, boten sich den Byzantinern ganz neue Dimensionen für die Anwerbung von Βάραγγοι, was wiederum den Entwicklungen in der byzantinischen Armee entgegenkam. Parallel hierzu fand durch die Begünstigung der militärischen Elite, aus der die Komnenoi selbst stammten, in den Oberschichten der byzantinischen Gesellschaft eine Militarisierung statt, die sich in der komnenenzeitlichen Enkomiastik sowie den Beschreibungen etwa der Basileis als Feldherren in der Historiographie niederschlägt.391 In gewisser Weise ähnelt Alexios’ Herrschaft hierin derjenigen seines Vaterbruders Isaakios gut zwanzig Jahre zuvor, der gleichfalls mit Hilfe der Armee an die Macht gelangte und mit drastischen Maßnahmen am Hof, darunter der Reduktion der rhogai392 und Eingriffen in den Kirchenbesitz die staatlichen Einnahmen konsolidierte, womit er zugleich den Patriarchen und die Ziviladministration gegen sich aufbrachte.393 Auch die martialische Inszenierung, von der Psellos berichtet und welche die Herkunft aus der Militärelite unterstreicht, findet auf Isaakios’ Münzen ihr Gegenstück, welche den Basileus abweichend von der Tradition mit dem blanken Schwert in der Hand darstellen.394 Die Aufmerksamkeit für militärische Vorgänge jedenfalls wächst in der byzantinischen Literatur seit Alexios, analog zur Bevorzugung der Militäraristokratie, aus der die Komnenoi selbst hervorgegangen waren.395 Außerdem zeigt sich unter den Komnenoi seit 1081 ein auffälliger Rückgriff auf das eigene Haus bei der Organisation und Stabilisierung der Herrschaft; das Kaiserbild focussiert stärker als zuvor auf das Individuum und seine Dynastie.396 Parallel hierzu ent-

391 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 413–434; Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 180f.; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 227–230. 392 Oikonomides, Title and Income [1994], S. 208. 393 Sta˘nescu, Les réformes d’Isaac [1966]; Kazhdan/Constable, People and Power [1982], S. 146f.; Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 48–53; Brand/Cutler, Isaac I Komnenos [1991]. 394 Grierson, Catalogue of the Byzantine Coins 3,2 [1973], S. 759f.; vgl. Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 52. 395 Gleichwohl befinden sich außer Nikephoros Bryennios dem Jüngeren keine Militärs unter den Autoren, was aber den Befund umso bemerkenswerter macht (zum Quellenwert der einzelnen Autoren für die Militärgeschichte Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 3– 25). Vgl. auch Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], S. 369–377, 413–425; Chalandon, Alexis [1900], S. 277–281; Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], der den Abschnitt über die Geschichte zwischen 1081 und 1204 (S. 290–345) mit »Die Herrschaft des Militäradels« überschreibt. 396 So Reinsch, Abweichungen vom Kaiserbild [2009], bes. S: 120–128, basierend auf Prooimien komnenenzeitlicher Urkunden und den »Alexiadischen Komnenischen Musen«, einem Alexios I. in den Mund gelegten paränetischen Text an seinen Sohn Ioannes II. Komnenos,

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standen neue Titel, alte verloren an Bedeutung, und das System der rhoga, des durch Investition erworbenen Titels mit jährlicher Zahlung, verschwand, während die Vergabe von Land und Fiskaleinkünften wuchs.397 Hierarchien, stabilisiert durch das Zeremoniell, vertieften sich:398 Höchste Würden blieben Angehörigen der kaiserlichen Familie vorbehalten und stärkten so das Herrschaftsgewebe mit dem Basileus als integrierender Figur zu Ungunsten der nicht verwandten oder anderweitig an die Komnenoi gebundenen Aristokratie; die gilt ganz besonders für die Ziviladministration und ihre Familien, die im 11. Jahrhundert in der Hauptstadt starken Einfluss besessen,399 zum Sturz des Isaakios Komnenos entscheidend beigetragen hatten und nun einen sozialen Abstieg erfuhren.400 Auch die starke Zunahme der dynatoi, der Großgrundbesitzer, die

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der zugleich dessen Herrschaftssicherung dient; vgl. auch Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 27–30. Oikonomides, Title and Income [1994], S. 210–213. Zur komnenischen Praxis der Vergabe von pronoiai und Forschungsmeinungen hierzu s. unten, S. 202 mit Anm. 539. Kazhdan/McCormick, The Social World [1994], S. 196f.; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 237–248. Die Opposition einer politischen Dominanz der Ziviladministration vor den Komnenoi, abgelöst durch das Gegenteil seit Alexios, geht zurück auf Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], doch betont Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], S. 191– 198, jene Dichotomie sei deutlich unterkomplex: Die Zivilaristokratie habe, von Ausnahmen abgesehen, stets die Rückbindung und Einbeziehung des Militäradels gesucht, auch wenn sie im Verhältnis politisch dominierte. Umgekehrt sei dies von seiten der Militäraristokratie in der Komnenenzeit weniger der Fall. Vgl. auch Fögen, Das politische Denken [1993], S. 56–58. Die knappe Skizze des »komnenischen Systems« der Herrschaftsausübung basiert in erster Linie auf der positiv würdigenden Darstellung bei Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 180–227, der negative Sichtweisen auf die Komnenoi insgesamt und besonders Manuel Komnenos, seine vermeintlich imperial überspannte Politik, »Vetternwirtschaft« und »Feudalisierung« auszuräumen sucht (so etwa bei Chalandon, Jean II et Manuel I, 2 [1912], S. 607f.; Ostrogorsky, Pour l’historie de féodalité [1954], S. 20–54 bzw. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], S. 306–310, 318–325; Ahrweiler, L’idéologie politique [1975], S. 85f.; Browning, The Byzantine Empire [1980], S. 126–132). Ähnlich wie Magdalino bereits Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 13–20, 116–120, der den konsensualen und stabilisierenden Charakter komnenischer, durch das Haus gestützter Herrschaft unterstreicht. Zwar weist Angold, The Road to 1204 [1999], S. 258f. darauf hin, dass die gelungene Analyse des seit Alexios entstandenen Systems der persönlich-politischen und weniger institutionell gestützten Herrschaft und des Wiedererstarkens des Byzantinischen Reichs die »Schuld« am Untergang 1204 überdeutlich an Andronikos I. Komnenos festmacht, doch betonen auch Kazhdan/Constable, People and Power [1982], S. 136 die Probleme, die aus Andronikos’ Zerstörung der Macht des Militäradels als Säule komnenischer Herrschaft und dem Wiedererstarken der Zivilaristokratie erst entstanden. Im raschen Zusammenbrechen des komnenischen Imperiums nach dem Ableben der integrierenden Zentralfigur liegt schließlich auch eine deutliche Parallele zum staufischen und dänischen Imperium, die im 13. Jh. dekomponieren. Nicht zuletzt daher wird Magdalinos Rekonstruktion eines komnenischen Systems der Vorzug gegeben vor der Feststellung planloser Improvisation bei Treadgold, Byzantine State [1997], S. 612–666 und dem Vorwurf bei Lemerle, Byzance tournant [1977], S. 309–312, Alexios I. habe gleichsam als »bornierter Reaktionär« (»réactionnaire borné«, ebd. S. 310) und Patriarch die Errungenschaften der

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wiederum eng in das »komnenische System« eingebunden waren und einen zunächst offenbar durchaus produktivitätssteigernden Prozess der »Feudalisierung« (oder vielleicht besser der Dezentralisierung vertikaler Herrschaftsverhältnisse) kennzeichnen,401 lässt Byzanz aus mediävistischem Blickwinkel dem Westen Europas ähnlicher werden. Ein Gleiches gilt für das Verschwinden der präzisen, detaillierten Urkundensprache im späten 11. Jahrhundert und von Taktika, welche die Rangfolge am Hof und in der Administration oder eben den Einsatz der Armee genauer beschrieben. Für diesbezügliche Rückschlüsse bleibt man im Wesentlichen auf die Historiographie und Siegel zurückgeworfen.

3.1.

Gegenwart wird Vergangenheit – Skylitzes, Bryennios und Zonaras

Dass die mit Alexios I. verbundenen strukturellen Umbrüche hier vor den Texten behandelt wurden, die von ihnen Zeugnis ablegen, begründet sich daraus, dass bereits in dieser Umbruchszeit historiographische Werke entstanden, welche zwar die Zeit vor Alexios behandeln, deren Autoren aber von der Umwelt des endenden 11. und frühen 12. Jahrhunderts geprägt waren. Es gilt, diese Perspektive aus erinnerungskritischer Sicht in Rechnung zu stellen, wenn man sich den 17 Fundstellen von Βάραγγοι und »Axtträgern« in der Chronik des Ioannes Skylitzes, ihrer Fortsetzung, bei Nikephoros Bryennios dem Jüngeren und Ioannes Zonaras zuwendet.402 Lässt man die Chrysobullen, von denen sechs aus der Zeit vor 1081 und drei aus den 1080er-Jahren stammen, als Sonderfall beiseite, zeigt sich im Vergleich zu den vor 1081 entstandenen Texten eine etwas höhere Fundstellendichte403, vor allem aber eine viel größere terminologische Klarheit: Alle Chroniken sprechen bei insgesamt 13 der 17 Fundstellen von Βάραγγοι,404 dreimal begegnet die Bezeichnung πελεκηφόροι (βάρβαροι/φύλακες, axttragende Barbaroi/Wachen), einmal findet sich die vage Umschreibung τὸ γένος ἐκ τῆς

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Basileis aus der Ziviladministration im 11. Jh. zerstört und eine »Modernisierung« in Byzanz, wie der hochmittelalterliche Westen sie erlebte, blockiert. Für solche Annahmen, an einem spezifischen Ideal und Ziel gemessen, treten die Linien von Erfolg und Zusammenbruch zu deutlich hervor. Vgl. auch Chalandon, Jean II et Manuel I, 1 [1912], S. 277–309, 321– 323; Kazhdan/Constable, People and Power [1982], S. 136–139. Magdalino, The Byzantine Army [1997], bes. S. 32–36, betont die Vergleichbarkeit der bedingten und begrenzten Vergabe von Land, Einkommen aus Arbeit und staatlichen Besitztümern wie Festungen an bestimmte, oftmals dem Militär angehörende Personen mit dem lateineuropäischen Lehnswesen, zumal die Betonung von dessen Vielgestaltigkeit und eigentlich nicht-systemischem Charakter Parallelisierungen von Phänomenen erleichtere. B25-B40, B54. 17 Fundstellen in 4 historiographischen Texten, die nach 1081 entstanden, aber die Zeit davor behandeln, stehen 15 Stellen in fünf Texten, davon zwei Chroniken aus dem Zeitraum vor 1081 gegenüber. Grundsätzlich bei Skylitzes (B25-B35), einmal bei Bryennios (B40) und bei Zonaras (B54).

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βαρβάρου χώρας τῆς πλησίον ὠκεανοῦ (Volk aus den barbarischen Ländern, die an den Okeanos grenzen).405 Ambiguitäten, wie sie sich vor 1081 allenthalben konstatieren lassen, sind verschwunden, bezeichnenderweise in Texten aus einer Zeit, in der zahlreiche Angelsachsen und Skandinavier nach Byzanz kamen. Am eindrucksvollsten zeigt sich dies in der Σύνοψις ἱστοριῶν des Ioannes Skylitzes und besonders ihrer später entstandenen Fortsetzung. In der Chronik, die dem Vorbild des Theophanes Homologetes folgt und als Kaiserchronik nüchtern und unter bewusster Vermeidung persönlicher Kommentare byzantinische Geschichte von 811 bis zum Ende der Herrschaft des Isaakios Komnenos 1059 behandelt,406 findet sich allein der Terminus Βάραγγοι, und zwar an vier Stellen. Drei hiervon beziehen sich auf Einsätze der Warangoi im Feld, wobei der erste aus zwei Gründen besonders häufig herangezogen wurde:407 Es handelt sich um das am frühesten datierte Ereignis, bei dem »Waräger« eine Rolle spielen. Im Jahre 1034 sei ein im thema To¯n Thrake¯sio¯n im Westen Kleinasiens stationierter Warangos beim Versuch, eine Frau zu vergewaltigen, von dieser mit seinem eigenen Schwert erschlagen worden, woraufhin die übrigen Warangoi ihr seine Habe als Kompensation hinterlassen und seinen Leichnam wie bei einem Selbstmörder unbeerdigt »entsorgt« hätten.408 Bekannt ist diese Stelle auch deshalb, weil die Tötung des Verbrechers (mit einem Speer statt wie im Text mit einem Schwert) und die Übergabe der Kompensation an das Opfer in der Madrider Handschrift der Chronik, dem einzigen erhaltenen illuminierten Manuskript der byzantinischen Historiographie überhaupt, bildlich dargestellt sind.409 Problematisch ist hierbei zunächst, dass das Ethnonym innerhalb weniger Zeilen zweimal vorkommt, es sich gemäß dem Text dieser im späteren 12. Jahr405 All diese Variationen bietet Bryennios (B36-B39). 406 Vgl. Hunger, Literatur [1978], S. 389–393; Cheynet, Jean Skylitzès [2011] sowie die Einleitung in der Edition von Thurn, bes. S. VII–XI. 407 B25, ebenfalls zu finden bei Kedrenos und Glykas. Vgl. u. a. die Erwähnungen bei Blöndal, S. 118f./62f.; Larsson, Väringar [1991], S. 41–43; Stang, Fra Novaja Zemlja og Varanger [1990], S. 141. Es verweisen praktisch alle einschlägigen Studien auf dieses erste Datum, wobei allerdings die Chronologie der Textgenese, die hier im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, nicht deutlich wird. 408 Die merkwürdig anmutende Argumentation mit dem Gesetz über den βιοθάνατος (Selbstmord) veranlasste die Herausgeber von Jean Skylitzès: Empereurs de 2003, ed. Flusin/ Cheynet [2003], S. 327 und Synopsis, ed. Wortley [2010], S. 372 offenbar zur (Fehl-)Übersetzung mit »Mord«. Abgesehen davon, dass Vergewaltigung z. B. in der isländischen Grágás zur Entrechtung des Täters führt und bewaffnete Selbsthilfe also aus skandinavischer Perspektive rechtmäßig war (Grágás, ed. Vilhjálmur Finsen [1852], Nr. 293, S. 331–333), ist nicht bekannt, dass Mörder in Skandinavien unbeerdigt geblieben wären. Warum Skylitzes aber die Warangoi den Täter wie einen Selbstmörder behandeln lässt, bleibt ungeklärt und ist nicht in Einklang mit unserem Wissen über skandinavische Rechtspraktiken zu bringen. 409 Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 234 bzw. Abb. 2. Die Illumination befindet sich auf fol. 208r. Zum Madrid-Skylitzes allgemein vgl. unten im Kontext der Darstellung von Palastwachen, S. 220–223.

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Abb. 2: Ein Warangos wird beim Versuch, eine Frau zu vergewaltigen, von ihr erschlagen; die übrigen Warangoi leisten ihr Kompensation durch Übergabe seiner Habe (Madrid, Cod. Vitr. 26– 2, fol. 208r, Detail), aus: Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], Abb. 493.

hundert in Messina entstandenen Handschrift aber beim ersten Vorkommen des Wortes um Φράγγοι und nicht um Βάραγγοι handelt.410 Die Bildüberschrift indes weist die Männer, die im Vergleich zu anderen Miniaturen ein bemerkenswert dunkles Inkarnat mit roten Wangen aufweisen, dunkles, nackenlanges Haupthaar, Vollbärte mit langen Schnurrbärten und nur knielange Kleidung tragen, als Βάραγγοι aus.411 Hierzu bleibt anzumerken, dass es sich bei dem Illuminator, der hier aller Wahrscheinlichkeit nach »Waräger« darstellen wollte, um einen Lateiner handelte, dessen Miniaturen auf westlichen Ikonographie- und Stilkonventionen beruhen, zugleich aber arabischen Einfluss zeigen.412 Inwiefern er die sicher erschlossene, illuminierte byzantinische Vorlage, die aus der Zeit nach 1118 stammte,413 jedoch modifizierte, bleibt offen. Auffällig jedenfalls sind die charakteristischen Schnurrbärte, die in der Tat skandinavischen und angelsächsischen Darstellungen ähneln. Man kann nur spekulieren, wie Skylitzes Kenntnis von dem etwa sechzig Jahre zurückliegenden Vorfall erhielt und ob das Ereignis von Anfang an mit dem Ethnonym verknüpft war. Es ist denkbar, dass die Geschichte unter Skandinaviern und Angelsachsen in der Hauptstadt zirkulierte und Skylitzes sie daher in Verbindung mit der ethnischen Gruppe brachte, welche er als Βάραγγοι bezeichnet. Ansonsten fügt sich die Geschichte von Warägern in den themata in jenes Bild ein, das sich aus Psellos, Attaleiates und den Chrysobullen ergab. Das Gleiche gilt für zwei bereits erwähnte Stellen, die von Einsätzen der »Verbün410 411 412 413

Das betrifft auch die Neapolitaner Handschrift (s. B25). Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 234. Es handelt sich um den Illuminator B1. Ebd. S. 375f. Ebd, S. 394–397.

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deten« (συμμαχικά) 1049/50 gegen Petschenegen und zwischen 1050 und 1054 gegen die Seldschuken unter dem Kommando des ethnarche¯s Bryennios und des akolouthos Michael sprechen;414 in beiden Fällen werden die mobilisierten Hilfstruppen mit dem so ähnlich klingenden Wortpaar Φράγγοι καὶ Βάραγγοι beschrieben, einer Formel für »westliche Verbündete«, die sich seit dem späten 11. Jahrhundert derart verfestigte,415 dass sie im Falle der Madrider SkylitzesHandschrift und auch bei anderen Texten die Verwechslung von beiden Ethnonymen durch Schreiber begünstigte.416 Aufhorchen lässt dagegen die vierte Erwähnung gegen Ende der Chronik:417 Skylitzes berichtet von einem Usurpationsversuch gegen Michael VI. Stratiotikos durch Theodosios Monomachos, den Vetter des kurz zuvor gestorbenen Basileus Konstantinos IX., im August 1056. Die »wachhabenden Soldaten im Palast«, die von den Eunuchen alarmiert wurden und den Usurpationsversuch abgewehrt hätten, werden qualifiziert als Ῥωμαῖοί καὶ Βάραγγοι, wobei hinzugefügt wird, dass diese Waräger, ein »keltisches«, also westliches Volk, den Rhomäern Kriegsdienst leisteten. Skylitzes setzt also am Ende seiner Chronik fremde Palastwachen und »Waräger« indirekt gleich, indem er keine anderen Barbaroi aufzählt, was sich entgegen dem Schluss aus den vorkomnenischen Quellen als Beleg für die Existenz einer »Warägergarde« lesen ließe. Es fragt sich jedoch, aus welcher Perspektive Skylitzes schrieb. Leider ist über ihn nur sehr wenig mehr als das bekannt, was er selbst über sich in seiner Synopsis historio¯n preisgibt.418 Hieraus erfährt man, dass er δρουγγάριος τῆς Βίγλας war und den hohen Rang eines κουροπαλάτης419 inne hatte. Zwar handelt es sich bei der Βίγλα, die erstmals gegen Ende des 8. Jahrhunderts begegnet, um ein tagma, das ursprünglich mit der Leibwache der Basileis betraut war, doch bezog sich der Titel des Kommandanten jener Eliteeinheit schon um die Mitte des 11. Jahrhunderts nicht mehr auf diese Funktion, sondern auf ein ziviles, richterliches Amt, das möglicherweise zunächst mit dem militärischen zusammengefallen war.420 In der Tat begegnet Ioannes Skylitzes, der offenbar identisch ist mit dem Ioannes Thra-

414 B26-B27. 415 Zu finden insgesamt siebenmal bei Kekaumenos (B10), Michael Attaleiates (B12), bei Skylitzes (B26+B27) und in der Fortsetzung seiner Chronik (B31, B33, B35). 416 So abgesehen von B25 auch bei B32 im Scylitzes continuatus, wo die Variationen φάραγγοι und φράγγοι für βάραγγοι begegnen; eine Handschrift des Pseudo-Kodinos zeigt ebenfalls die Form φάραγγοι (B116). 417 B28. 418 Vgl. hier und im Folgenden Hunger, Literatur [1978], S. 389–393 und die Einleitung zur Edition von Thurn, S. VII–X sowie bes. Seibt, Ioannes Skylitzes [1976]. 419 Zu diesem Hofrang und seiner Bedeutung im 11. und 12. Jh. Guilland, Curopalate [1976], S. 191f. 420 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 104–116; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 133–135; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 230.

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kesios, den Georgios Kedrenos als seine Quelle angibt und auf den sich Ioannes Zonaras an einer Stelle bezieht,421 1091 und 1092 in Rechtsdokumenten als δρουγγάριος τῆς Βίγλας; 1091 befragt er Alexios zur Auslegung einer Novelle über das Eherecht, und 1092422 erscheint er in einem kaiserlichen Schreiben erstmals als κουροπαλάτης. Hieraus ergibt sich, dass die Synopsis historio¯n zwischen 1092 und der folgenden Jahrhundertwende entstanden sein muss, als Georgios Kedrenos sie für den fraglichen Abschnitt seiner Chronographia praktisch wörtlich übernahm. Die Fortsetzung der Chronik, welche den Zeitraum von 1057 bis 1079 überdeckt und in mehreren Handschriften nahtlos an die Synopsis historio¯n anschließt,423 kann angesichts auffallender stilistischer, sprachlicher und kompositorischer Ähnlichkeiten – übrigens auch in der Beschreibung von Skandinaviern – durchaus von Skylitzes selbst stammen.424 Sie benutzt die Chronik des Michael Attaleiates und muss, da Kedrenos sie nicht übernimmt, nach 1101 in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts entstanden sein. Da der Annahme nichts entgegensteht, dass Skylitzes der Autor der continuatio war und er zudem erst im letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts in einem hohen Amt begegnet, lässt sich darauf schließen, dass er vor oder um 1050 geboren wurde, also eine Generation jünger als Michael Psellos war. Hierzu fügt sich, dass er in der Chronik niemals auf seine Augenzeugenschaft verweist, die für den Zeitraum der Synopsis historio¯n und auch für einen erheblichen Teil ihrer Fortsetzung, so sie von ihm stammt, nicht gegeben sein konnte, kurz: Skylitzes beschreibt 1056, als er Βάραγγοι und fremde Palastwachen gleichsetzt,425 eine vier Jahrzehnte zurückliegende Situation, die er nicht selbst erlebt hatte. Welche Quellen ihm für den letzten Teil der ersten Fassung seiner Chronik zur Verfügung standen und inwiefern er sich auf schriftliche Dokumente oder mündliche Tradition stützte, ist ungewiss.426 Es drängt sich jedoch angesichts der klaren Terminologie und der Vorstellung einer spezifisch »warägischen« Palastwache im Gegensatz zu früheren Texten die Annahme auf, dass das Geschichtsbild 421 Es handelt sich um die Schilderung der Vision, die Isaakios Komnenos zur Abdankung bewegt (Zonaras, Epitomae historiarum 3, 18,6,5, S. 673, Z. 4–18). Aus dem Nachnamen lässt sich auf die Herkunft des Skylitzes aus dem Thema Thrakesio¯n im westlichen Kleinasien schließen. Vgl. hierzu v. a. Seibt, Ioannes Skylitzes [1976]. 422 Regesten 2, ed. Dölger/Wirth [1995], Nr. 1167, S. 131 vom März 1092. Im Juni 1091 war er noch [pro¯to]proedros (ebd. Nr. 1162, S. 129; das Schreiben nennt ihn proedros, was lt. Seibt, Ioannes Skylitzes [1976] angesichts des Karrierewegs aber ein Schreiberfehler sein muss). 423 S. B25. 424 Argumente hierfür versammelt v. a. die griechische Einleitung zur Edition von Tsolakes; eine deutsche Zusammenfassung auch anderslautender Forschungsmeinungen, v. a. von Moravcsik, Byzantinoturcica I [1958], S. 340 bietet die Skylitzes-Edition von Thurn, S. IXf. 425 B28. 426 Für den ersten, im Wesentlichen auf Theophanes Homologetes basierenden Teil zeigte sich, dass Skylitzes seine Vorlagen manipulativ benutzt (Flusin, Introduction [2010], S. xviii– xxiii). Seine historische Zuverlässigkeit wurde daher in Zweifel gezogen.

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von der gegenwärtigen Umwelt des Skylitzes beeinflusst ist, dass er also ganz selbstverständlich die eigene Wahrnehmung des komnenischen Hofes am Ende des 11. Jahrhunderts für die Imagination früherer Szenarien am Hof und die Erstellung seiner Narration benutzte, welche im Detail nicht so dokumentiert gewesen sein kann. Besonders deutlich wird ein solch typischer Anachronismus schließlich in der Fortsetzung der Chronik aus dem frühen 12. Jahrhundert, die nicht weniger als siebenmal Βάραγγοι erwähnt und auf die sich Blöndals »Væringjasaga« für den fraglichen Abschnitt als Hauptquelle stützt.427 Hochinteressant und im Vergleich höchst aufschlussreich ist hier die Schilderung vom Aufstand der Palastwachen gegen Nikephoros Botaneiates, die nach der Chronologie des Scylitzes continuatus 1078 stattgefunden haben muss. Es ist nicht sicher, ob der Text, der Michael Attaleiates’ Historia als Quelle benutzt, hier das gleiche Ereignis meint wie letzterer;428 Attaleiates datiert den bereits besprochenen Mordanschlag der Barbaren auf die Jahre 1079/80. Andererseits bleibt der Anschlag, von dem beide Texte sprechen, der jeweils einzige in der Zeit des Botaneiates und geht gleich aus; auch dem nach 1118 schreibenden Ioannes Zonaras, der beide Texte benutzte, schien die Identifikation der beiden Berichte miteinander offenbar plausibel, denn er kontrahiert sie zu einem Ereignis.429 Geht man nun davon aus, dass Skylitzes sich im Ausgangspunkt auf Attaleiates bezog, seinen Bericht aber unter Hinzuziehung anderer Informationen modifzierte, wie er es auch an anderen Stellen der Synopsis tat, ist die Definition der Barbaroi, von denen Attaleiates ganz unspezifisch spricht, als Βάραγγοι bemerkenswert, ebenso wie die zeitliche Verschiebung von 1079 nach 1078, in die Frühzeit der Herrschaft des Nikephoros Botaneiates. Diese geht einher mit dem Grund für den Anschlag, den Attaleiates noch in der Verführung durch den Widersacher erblickt: Nachdem Nikephoros Bryennios und sein Bruder Ioannes sich 1077 gegen den Basileus Michael VII. erhoben, hätte der einflussreiche logothete¯s Nikephoritzes einen der »Palastwaräger« aus der Hauptstadt zu den Warangoi des Bryennios geschickt, der diese zum Abfall von der Rebellion überreden sollte.430 Er sei jedoch entlarvt und auf Befehl des Ioannes Bryennios gefoltert und schließlich durch das Abschneiden der Nase, eine typische Strafe für Verräter,431 verstümmelt worden. Nach der Niederlage 427 B28-B35. Vgl. Blöndal, S. 169–196/103–121. 428 Vgl. B34 mit Attaleiates (B14). 429 B54. Blöndal 189f./115f. (sowie Chalandon, Alexis [1900], S. 38; Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 67f.) folgt ihm hierin, doch geht er bei der Interpretation ganz vom Scylitzes continuatus aus. Quellenkritisch ist diese Annahme nicht haltbar. 430 B34; die Details hierzu stammen aus der ausführlicheren Parallelstelle bei Bryennios (B38), der wiederum keine Verbindung zu einem Anschlag auf Nikephoros Botaneiates herstellt. 431 Dieses Detail wiederum nur beim Scylitzes continuatus (B34).

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der Bryennioi, die Ioannes glimpflich überstand, sowie der Usurpation durch Nikephoros Botaneiates sei Ioannes schließlich am Palast aus Rache von eben jenem Warangos mit der Axt erschlagen worden, den er hatte verstümmeln lassen. Direkt im Anschluss daran hätten sich die Warangoi erhoben und versucht, den Basileus zu töten, jedoch nach erfolgreicher Gegenwehr aufgeben müssen und den Basileus durch »flehende Bitten« beschwichtigt. Das Ende der Darstellung, das zwar keine wörtlichen Übernahmen aus Attaleiates enthält, ähnelt dennoch letzterem so sehr – dort die Auslieferung an die Gnade des Herrschers, hier die bettelnde Beschwichtigung – dass man davon ausgehen muss, es handelte sich um den gleichen Vorgang. Skylitzes kontextualisiert ihn jedoch radikal anders: Für ihn ist die gescheiterte Mission eines Warägers vom Palast der eigentliche Grund für einen Racheakt, der spontan den Anschlag auf das Leben des Basileus motiviert. Dies führt zu der Annahme, dass Skylitzes hier die Historia des Attaleiates manipuliert, um einen weiteren historischen Aspekt, nämlich den Totschlag an Ioannes Bryennios, einbringen zu können. Dies führte dazu, dass er aufgrund seines gegenwärtigen Alltagswissens über Barbaren am Palast eine logische Verbindung zwischen dem Tod des Bryennios von der Hand eines Skandinaviers und der unspezifischen Erwähnung eines Barbarenaufstandes herstellte, die dann zugleich zu einer Umdatierung des Ereignisses führen musste, denn Bryennios starb kurz nach der Usurpation des Nikephoros Botaienates, nicht 1079 oder 1080.432 Das bedeutet, dass der Scylitzes continuatus die unspezifischen Erwähnungen von Barbaren am Palast, wie sie vor 1081 üblich sind, aus der Perspektive des 12. Jahrhunderts disambiguiert und Warangoi in das Erinnerungszeugnis des Attaleiates implantiert. Wen sonst außer Βάραγγοι sollten die früheren Autoren aus diesem Blickwinkel auch gemeint haben, wenn sie von Barbaroi am Palast sprachen? Die Geschichte ist in sich logisch, doch so lange man nicht plausibel machen kann, warum der viel später schreibende Skylitzes besser informiert war als der extrem zeitnah schreibende Attaleiates, der ganz andere Details zum konkreten Hergang zu berichten weiß, ist davon auszugehen, dass die Geschichte aus der rekonstruierenden Kontraktion verschiedener Ereignisse zu einem Kausalzusammenhang entstand. Sie folgt der Logik des Skylitzes beziehungsweise des Verfassers der Continuatio und damit der Logik eines politischen Akteurs im frühen 12. Jahrhundert. Hieraus lassen sich zwar keine belastbaren Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Palastgarde vor der Komnenenzeit ziehen, jedoch zeigt die ganz selbstverständliche Identifikation von »fremden 432 Man greift hier typische Effekte von Erinnerungsphänomenen, wobei die Erzeugung semantischer Kohärenz zur Überlagerung des älteren Ereignisses mit jüngerem Wissen führt: Fried, Schleier der Erinnerung [2004], S. 49–56, 135–139.

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Palastwachen« und Warangoi, dass unter der Herrschaft des Alexios die Zusammensetzung der hetaireia, wie man sie im 11. Jahrhundert verfolgen kann, eine erhebliche Veränderung zu Gunsten der Präsenz von Angelsachsen und Skandinaviern erfahren hatte, sicherlich begünstigt durch die angelsächsische Emigrationswelle unter König William. Differenzen zwischen vorkomnenischen und komnenenzeitlichen Texten sind demnach kein Zufall, sondern spiegeln eine historische Entwicklung, welche sich auf die Wahl ethnographischer Bezeichnungen und die Geschichtsbilder auswirkt. Analoges gilt wahrscheinlich für zwei weitere Fundstellen von Βάραγγοι in der Hauptstadt beim Scylitzes continuatus, welche die Verhaftung und Deportation des Patriarchen Michael Keroullarios im Auftrage des Isaakios Komnenos 1058 sowie die Machtergreifung des Romanos Diogenes durch die Vermählung mit der Kaiserinwitwe Eudokia Makrembolitissa 1068 betreffen.433 Inwiefern auch hier Warangoi anachronistisch für die ethnikoi im kaiserlichen Gefolge stehen, das vor 1081 deutlich vielfältiger war als zu Skylitzes’ Zeiten, bleibt ungewiss; zwar fügte sich die Annahme, Isaakios habe 1058 Fremde benutzt, um den populären und mächtigen Patriarchen zu stürzen, zu Psellos’ Negativbild der Warangoi in seinem Brief an einen Angehörigen des Patriarchen.434 Andererseits sprechen weder Attaleiates noch Psellos in seinem Enkomion auf Keroullarios435 von Warägern, Axtträgern oder Tauroskythen, obwohl sie die Verhaftung des Keroullarios behandeln. Wenn also Skylitzes hier nicht abermals aus der Retrospektive die Identität von Fremden konkretisiert, so zeigt er doch zumindest ein größeres Interesse an den Skandinaviern als seine Vorgänger. Die ohnehin nicht unproblematischen Schlüsse, die Blöndal und Benedikz insbesondere auf letzteren Fundstellen aufbauen,436 sind jedenfalls zudem als nicht sicher zu bezeichnen. Die übrigen Erwähnungen beziehen sich auf Βάραγγοι im Heer: Es wird betont, dass Romanos IV. Diogenes ein bunt zusammengewürfeltes und wenig angemessenes Heer 1071 nach Mantzikert geführt hätte; in der Aufzählung begegnet unter anderen auch wieder das Tandem aus Φράγγοι καὶ Βάραγγοι.437 Ebenso verhält es sich beim Bericht über die Revolte des Nikephoros Bryennios 1077,438 der mit Attaleiates übereinstimmt, und bei dem sich anschließenden Usurpationsversuch des Nikephoros Basilakes 1078, der gleichfalls

433 434 435 436

B29-B30. B1. Michael Psellos, Enkomiastikos, ed. Sathas [1874]. Das Konstrukt eines »legitimistischen Corpsgeists« der »Warägergarde« ruht u. a. auf deren vermeintlichem Verhalten gegenüber Nikephoros III. (Blöndal 187–195/114–120). Vgl. zu dieser ideologisch begründeten Interpretation auch oben, S. 159 und unten, S. 259f. 437 B31. 438 B33.

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über Φράγγοι καὶ Βάραγγοι verfügt habe.439 Dass auch die Skylitzes-Fortsetzung den Warägern bei aller Aufmerksamkeit keine besonderen Eigenschaften zuschreibt, zeigt sich deutlich an einer Textstelle, an der sie gemeinsam mit Ἀλαμανοί – man beachte das von den frankophonen Normannen und Kreuzfahrern übernommene Ethnikon für »Deutsche«440 – in Makedonien eingesetzt werden.441 Hier hatte im Winter 1072/73 ein byzantinisches Heer den Serben Konstantin Bodin besiegt, der sich zuvor zum Bulgarenzar Peter hatte ausrufen lassen und eine bulgarische Revolte anführte. Waräger und Deutsche seien anschließend ausgeschickt worden, die bulgarische Festung in Prespa442 zu schleifen, wobei sie das dortige Kloster ausgeplündert hätten. Auch hier ist der Übergang zu anderen westlichen Barbaroi fließend: In der Überlieferung werden aus Βάραγγοι Φάραγγοι und schließlich Φράγγοι. Entscheidend für die Aussage der Textpassage ist, dass es Lateiner waren, die ein Kloster plünderten. Der Blick auf die »Waräger« und die Palastwache in der Synopsis historio¯n resultiert aus einer komnenenzeitlichen Perspektive und spiegelt die einschneidenden Veränderungen im Militär und am Hof, die nach 1081 stattfanden. In mehrerlei Hinsicht bilden die Ὑλη ἱστορίας (»Materialien zur Geschichte«) des Nikephoros Bryennios eine Parallele zu Skylitzes, sowohl bezüglich des zeitlichen Abstands zwischen den erzählten Ereignissen und der Textgenese, Überschneidungen im Inhalt als auch des Bildes von Skandinaviern in Byzanz. Nikephoros, der Sohn oder Enkel des gleichnamigen doux von Dyrrhachion, geboren 1064 oder (wahrscheinlicher) um 1080 und verheiratet mit Anna Komnene, verfasste wohl nicht allzu lang vor seinem Tod 1137 auf die Anregung seiner Schwiegermutter hin eine in nur einer inzwischen verlorenen Handschrift überlieferte, 1079 unvollendet abbrechende Geschichte der Jahre seit 1057,443 wobei er sich stark auf die Häuser der Doukai und Komnenoi sowie deren Prestige, vor allem auf Alexios, aber auch auf die Geschichte seines gleichnamigen Vorfahren konzentriert. Sein Informationsstand über die Geschichte der 439 B35. 440 Hierzu Ditten, »Germanen« und »Alamannen« [1985], bes. S. 27–29 zeigt, dass das Ethnonym sich seit dem Scylitzes continuatus für »Deutsche« durchsetzt und das Wort Germanoi für andere Zuschreibungen frei bleibt – ein weiterer Beleg für die Abhängigkeit des ethnographischen Sprachgebrauchs vom Gegenwartskontext mit entsprechenden Implikationen für das plötzliche Ansteigen der Okkurenzen von Warangoi. 441 B32. 442 Die Festung befand sich auf der nach dem Kloster Hagios Achilleios benannten Insel im Kleinen Prespasee, heute an der Grenze zwischen Griechenland und Albanien. 443 Ausführlich behandelt werden nur die Jahre 1070–1079. Die Anhaltspunkte für eine Datierung sind komplex: Das Prooimion erwähnt Ioannes II. als Basileus, entstand also nach 1118; andererseits erwecken die ersten beiden der vier Bücher den Eindruck, Alexios I. lebe noch. Für eine Spätdatierung wiederum spricht, dass die Chronik nicht, wie angekündigt, bis 1081 fortgeführt und offenbar hastig niedergeschrieben wurde (Ed. Gautier, S. 29; Hunger, Literatur [1978], S. 394–400).

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Dynastien dürfte ausgezeichnet gewesen sein, war er doch seit 1097 mit Anna Komnene, der Tochter des Alexios verheiratet, die ihn gemeinsam mit ihrer Mutter nach dem Tode Alexios’ 1118 anstelle ihres Bruders Ioannes auf den Thron hieven wollte, was er selbst verhinderte. Auch die Tatsache, dass der kaisar Bryennios der einzige Angehörige des Militäradels war, der in der Komnenenzeit eine Chronik verfasste,444 verleiht seinem Bild vom Zustand des Militärs besonderes Gewicht. Auch hier ist jedoch zu beachten, dass Nikephoros Vergangenheitsgeschichte schreibt, deren Augenzeuge er nicht war; er stützt sich auf Michael Psellos, Michael Attaleiates sowie den Scylitzes continuatus.445 Insofern entspricht es der Erwartung, dass drei der fünf Erwähnungen von »Axtträgern« beziehungsweise Warangoi mit den Vorlagen übereinstimmen: Die Aktionen der Axtträger beim Umsturz nach der Schlacht von Mantzikert 1071, als Michael VII. Doukas die Palastwachen auf seine Seite zog, entstammen partiell wortwörtlich der Chronographia des Psellos.446 Auch der Bericht über den Warangos, der während der Erhebung des älteren Bryennios 1177 aus der Hauptstadt nach Adrianopolis geschickt wurde, ähnelt dem Scylitzes continuatus, jedoch schreiben die Hyle¯ historias ihm den Auftrag zu, Nikephoros zu töten und nicht, seine Warangoi zum Überlaufen anzustiften.447 Das Motiv für diese Änderung scheint politisch zu sein, verleiht doch ein Mordauftrag durch des Basileus rechte Hand Nikephoritzes der Erhebung Legitmität. Auch die Aussage, der Usurpator Nikephoros Basilakes habe 1078 Βάραγγοι in seinem Heer gehabt, stimmt mit dem Scylitzes continuatus überein.448 Zwei neue Informationen treten hinzu: 1074 habe der kaisar Ioannes Doukas bei seinem Feldzug gegen Rousseil de Bailleul, der in Anatolien eine normannische Herrschaft errichtet hatte, mit Axt und Schild bewaffnete Palastwachen direkt bei sich im Heer gehabt, die Schlimmeres vermieden hätten, als die Normannen (Keltoi) aus dem byzantinischen Heer übergelaufen und die Schlacht verloren gegangen sei.449 Gleichfalls von axttragenden Palastwachen spricht Bryennios bei der Abdankung Michaels VII., als sich Nikephoros III. Botaneiates vor der Stadt befand und die Volksmenge den Umsturz befürwortete. In dieser Situation habe Alexios Komnenos, der unmittelbar zuvor Nikephoros Bryennios besiegt hatte, vorgeschlagen, die Menge mit Hilfe der Axtträger gewaltsam zu zerstreuen, was der resignierte Basileus abgelehnt habe.450

444 445 446 447 448 449 450

Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 1, 7–9. Hunger, Literatur [1978], S. 396. B36, vgl. Psellos, B8. B38, vgl. SC, B34. B38, vgl. SC, B33. B37. B39.

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Abermals also vermittelt ein Text aus dem früheren 12. Jahrhundert den Eindruck, es habe fünf bis sieben Jahrzehnte zuvor eine »Warägergarde« gegeben, und abermals erhärtet sich der Verdacht des Anachronismus, denn in seinem Bericht über die Erhebung Michaels VII. zum Basileus 1071 tut Bryennios der Jüngere exakt das Gleiche mit dem Text des Psellos, was der Scylitzes continuatus mit dem Text des Attaleiates veranstaltet hatte: Er konkretisiert eine uneindeutige Erwähnung von »Trägern der rhomphaia«, indem er aus ihnen ein »Volk aus den barbarischen Ländern, die an den Okeanos grenzen« (τὸ γένος ἐκ τῆς βαρβάρου χώρας τῆς πλησίον ὠκεανοῦ) macht. Dass Psellos’ Formulierung an sich aber nicht automatisch »Waräger« bedeuten musste, belegt eine andere Stelle, an der Bryennios ebenfalls die Psellos-Version von rhomphaiai als Waffen der Leibwächter transferiert, ohne damit Äxte oder bei den fraglichen Personen »skandinavische« Eigenschaften zu verbinden.451 Es handelt sich dabei um die ethnisch nicht definierten Leibwachen des älteren Nikephoros Bryennios in der schon erwähnten Schlacht von Kalavrye 1078, als Alexios Komnenos deren Prunkwaffen gemeinsam mit dem unbemannten Paradepferd seines Gegners erbeuten konnte. Es ist also weniger die Bedeutung des Begriffs selbst als der Palastkontext und die gegenwärtige Assoziation von Herrschernähe der Waräger, die den jüngeren Bryennios vor dem Hintergrund seines eigenen Wissens bewegten, 1071 »Fremde vom Okeanos« am Werk sehen zu wollen und keine undefinierte Masse an ethnikoi wie Psellos oder Attaleiates. An drei weiteren Stellen zu 1074, 1077 und 1078 spricht er leicht variierend von πελεκηφόροι φύλακες, also »axttragenden (Palast-)Wachen«; bei der Erhebung des älteren Bryennios, welche der Scylitzes continuatus ebenfalls behandelt, sind die Axtträger einwandfrei mit Βάραγγοι identisch;452 Anna Komnene wiederholt diese im 12. Jahrhundert stabile Gleichsetzung explizit.453 Wiederum lässt sich erkennen, wie Bryennios eine hochsprachliche Formulierung von Psellos übernimmt, welche das volkssprachliche Ethnonym vermeidet, diese aber zugleich zuspitzt: Psellos schrieb zwar von Trägern der πελέκεις,454 verband sie aber nicht direkt oder exklusiv mit der Bezeichnung als φύλακες oder φυλακή; eine solche Verbindung aus Waffe und Wachfunktion schuf er lediglich mit dem unspezifischen Wort ῥομφαία.455 Die gleichsam selbstverständliche funktionale Assoziation der Axtträger als Palastwache beziehungsweise Wache der Basileis »seit jeher« (ἄνωθεν), welche sich in Co-Okkurenzen bestimmter Wörter niederschlägt,

451 Bryennios 4,9, S. 273, Z. 25. Blöndal 192f./117f. akzeptiert dies unkritisch als Hinweis darauf, dass mit diesen Trägern der rhomphaiai ebenfalls Warangoi gemeint seien. 452 B38, vgl. SC, B33. 453 B 41. 454 B4, B5. 455 B8.

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stellt also erst Bryennios her.456 Für ihn als Vergangenheitsgeschichtsschreiber ist es im 12. Jahrhundert selbstverständlich, dass Warangoi am Palast bei Sukzessionskrisen in Erscheinung treten, und das keineswegs ohne Grund: Der kaisar Nikephoros Bryennios hatte schließlich selbst im Zentrum des Konflikts gestanden, der ab dem 15. August 1118 zu eskalieren drohte, als Alexios I. im Manganapalast im Sterben lag und sein Sohn Ioannes, Annas wohl auch vom Vater zur Nachfolge vorgesehener jüngerer Bruder, sich zum Basileus ausrufen ließ.457 Nikephoros stand mit seiner Frau Anna hoch in der Gunst der Basilissa Eirene Doukaina, die erheblich an Macht gewonnen hatte, und er besaß hierdurch eine gute Ausgangsposition für eine Usurpation, zu der ihn Frau und Schwiegermutter drängten, der er sich aber sowohl in jenem Augenblick als auch ein Jahr später verweigerte, als Anna gemeinsam mit anderen Aristokraten einen Mordanschlag auf ihren Bruder Ioannes plante.458 Ioannes indes musste aber in jenen Tagen des August 1118 zusehen, wie er in den Besitz des Großen Palastes gelangte. Als Voraussetzung hierfür, so die Chronik des Ioannes Zonaras, der wie Skylitzes μέγας δρουγγάριος τῆς Βίγλας war und die Ereignisse des Jahres 1118 in der Stadt erlebt hatte, musste Ioannes an den Torwachen vorbeikommen.459 Bei ihnen habe es sich indes um Βάραγγοι gehandelt, die niemanden auch nur in die Nähe des Gebäudes lassen wollten, so lange Alexios noch lebte. Erst nachdem der Unterhändler dessen Tod beschworen habe, hätten sie Ioannes den Einlass gewährt. Entfernt Ähnliches gilt für die Nachfolge des Manuel Komnenos 1143.460 Nikephoros Bryennios hatte die Ereignisse des Jahres 1118, von denen uns Zonaras unterrichtet, im Gegensatz zu denjenigen von 1071 und 1078, von denen er selbst schreibt, hautnah miterlebt. Differenzen zwischen Psellos’ Chronographia und seiner Darstellung der Palastwachen sowie die Darstellung von Palastwachen überhaupt verdanken sich seinem autobiographischen Gedächtnis. Analoges gilt für Ioannes Zonaras, der in seiner ausgesprochen breit überlieferten Weltchronik den Mordanschlag auf Nikephoros III. Botaneiates behandelt, wobei er eine abgewandelte Formulierung aus dem Scylitzes continuatus benutzt, inhaltlich aber auf Attaleiates zurückgreift.461 Auch bei Zonaras sind es wie bei Skylitzes Βάραγγοι, die den Anschlag begehen, abermals aus der Perspektive eines hohen Hofbeamten, dessen Karriere aber in die Umbruchszeit Alexios’ I. fiel. 456 B37. 457 Hunger, Literatur [1978], S. 394–396; Chalandon, Alexis [1900], S. 272–276. 458 Chalandon, Jean II et Manuel I, 1 [1912], S. 7f.; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 134f., S. 103. Zu Annas zentraler Rolle vgl. Hill, Actions Speak Louder [2000], S. 53–58. 459 B55. Zu Zonaras Hunger, Literatur [1978], S. 416–418 und Zonaras, ed. Trapp [1986]. 460 Niketas Choniates, B71, der wiederum zu 1118 eine andere Version als Zonaras ohne Warangoi bietet. 461 B54.

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Synchrones semantisches Wissen formt erzählte Episoden So ergibt sich für jene Texte, die deutlich nach 1081 entstanden, jedoch die Zeit davor behandeln, ein verblüffend eindeutiges Bild: Die komnenenzeitliche Vergangenheitsgeschichtsschreibung sieht grundsätzlich »Waräger« am Werk, wo ältere, zeitnähere Texte dies nicht oder nicht eindeutig tun. Hier zeigt sich eine Veränderung im Sprachgebrauch, die nicht nur die ethnikoi im Gefolge der Basileis mit Warangoi gleichsetzt, sondern zudem den Begriff πελεκηφόροι/ πελεκυφόροι (»Axtträger) als Synonym hierfür stabilisiert. Ambiguitäten, wie sie bei Psellos in Gestalt lanzentragender »Tauroskythen« noch begegnen, sind ab jetzt praktisch verschwunden. Der Wandel im Sprachgebrauch, welcher angesichts der Übereinstimmungen aller vier Texte als Spiegel von Veränderungen im kollektiven semantischen Gedächtnis462 angesehen werden darf, geht wiederum einher mit einer Veränderung des Geschichtsbildes seit dem ausgehenden 11., vor allem aber im frühen 12. Jahrhundert: Waräger infiltrieren von hier aus die vorkomnenische Geschichte des 11. Jahrhunderts, die bereits am Rande des kommunikativen Gedächtnisses463 liegt, wodurch sich die Akteure von historischen Episoden bei erneutem Erzählen verändern: Aus einer relativ jungen Entwicklung wird ein »Schon-immer«. Diese Entwicklung spiegelt ihrerseits die oben skizzierte wachsende Bedeutung von Angelsachsen und Skandinaviern für das byzantinische Militär und für die kaiserliche Gefolgschaft am Palast, und sie lässt sich auch mit den Runeninschriften, die auf den Emporen der Hagia Sophia entdeckt wurden, chronologisch in Einklang bringen – wenn sie denn echt sind.464 462 Der Begriff orientiert sich an der Taxonomie des menschlichen Gedächtnisses bei Schachter/ Wagner/Buckner, Memory Systems [2000]. Zur Applikation auf die Geschichtswissenschaft s. Fried, Schleier der Erinnerung [2004], S. 80–86; Assmann, Das kulturelle Gedächtnis [2005], S. 66–86. In unserem Fall bewirkt eine Änderung der kollektiven Wissensbestände die Kommunikation des signifikanten Inhalts durch ein zuvor nicht benutztes Ethnonym. 463 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis [2005], S. 48–56 beziffert in Anlehnung an Vansina, Oral Tradition [1985], S. 23f. die Reichweite des kommunikativen (Alltags-)Gedächtnisses mit maximal acht Jahrzehnten. Zumindest für Nikephoros Bryennios den Jüngeren und Anna Komnene lagen die fraglichen Ereignisse zum Zeitpunkt der Niederschrift mindestens 6 Jahrzehnte zurück; Analoges gilt für Skylitzes, wenn er Ereignisse aus der ersten Hälfte des 11. Jhs. berichtet. 464 1964 wurde eine Runenritzung im Marmorgeländer der mittleren Arkade der südlichen Empore entdeckt (publiziert in Svärdström, Runorna i Hagia Sofia [1970]). Lesbar ist nurmehr der Rest eines Namens [a]lftan (zu ergänzen zu halftan: Hálfdann) am Anfang der Inschrift, was folgt, ist nicht mehr lesbar. Svärdström rechnet aber damit, dass der Ritzer des Graffito wahrscheinlich außer seinem Namen das Futhark kaum beherrschte und keinen sinngebenden Text ritzte. Da die Galerie der Hagia Sophia nicht jedermann frei zugänglich war, das Kaiserpaar oder bei der Einbindung des Basileus in die Liturgie die Basilissa die Südgalerie nutzten (Mainstone, Hagia Sophia [1988], S. 232), ist ein Zusammenhang der Ritzung mit Palasttruppen nicht unwahrscheinlich. Die Runenformen sowie die Orthographie deuten laut Svärdström, Runorna i Hagia Sofia [1970], S. 249 auf eine Entstehung im

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Einerseits begründete sich dies aus angelsächsischer Emigration im späten 11. Jahrhundert, der gestiegenen Präsenz von Lateinern mit dem Ersten Kreuzzug, vor allem aber dem massenhaften Auftauchen von Skandinaviern zu Tausenden in den Kreuzzugsheeren der drei Könige Erik Ejegod, Lagmaðr Goðrøðarson von den Suðreyjar und Sigurðr Magnússon Jórsalafari bald nach der Jahrhundertwende. Dass unter Alexios gerade die Skandinavier und Angelsachsen massiv an Bedeutung gewannen, wird sich andererseits kaum aus deren besonderer »Gefolgschaftstreue« herleiten lassen, wie bereits hinreichend deutlich wurde. Neben ihrer Präsenz mag vor allem eine Rolle gespielt haben, dass andere verfügbare Barbaroi, vor allem Normannen, sich in byzantinischen Diensten als unsichere Kantonisten erwiesen hatten, weil Byzanz in Konflikte mit deren unmittelbar benachbarten Landsleuten geriet. 1074 etwa waren die byzantinischen Normannen in der Schlacht zu dem Eroberer Roussel de Bailleul übergelaufen; zwar waren sie als schwere Kavallerie kaum verzichtbar, doch hatte ihre Anzahl stark abgenommen, andere Lateiner gewannen in ihrem Einsatzgebiet an Bedeutung, und sie erhielten im Gegensatz zu den Warangoi keine Landsleute zu Kommandeuren.465 Auch die Einbeziehung von Türken in innerbyzantinische Konflikte hatte sich als fatal erwiesen.466 Als weiterer Grund leuchtet ein, dass Alexios sich als »Soldatenkaiser« auch bei den fremden Leibwächtern in der hetaireia inbesondere auf Kräfte verließ, die er aus seinem Heer rekrutieren konnte; sein Oheim Isaakios war 1057, als Psellos ihn traf, ähnlich verfahren.

späten 11. oder 12. Jh. hin, was sich perfekt in unsere Beobachtungen fügt. Eine weitere Inschrift im Marmorgeländer, über deren Ort in der Literatur Uneinigkeit herrscht, besteht nur aus einem Namen: Larsson, Nyfunna runor [1989] verortet sie in eine westliche Arkade der nördlichen Empore und zeigt eine entsprechende Fotografie, Knirk, Runer i Hagia Sofia [1999] verortet sie unter Hinweis auf den ursprünglichen Entdecker in den westlichen Teil der Südgalerie. Larsson las ari:k (zu ergänzen zu »Ari kiarþi«: »Ari fertigte«), Folke Högberg und Svein Indrelid rekonstruierten arni, also nur den Namen Árni (Knirk a. a. O.). Angesichts der fotografischen Dokumentation bei Larsson ist der Lesart ari:k zuzustimmen (so auch Johanson, Mutmaßungen [2005], S. 817). Die Empore der Hagia Sophia ist übersät mit Graffiti, und es ist nicht auszuschließen, dass sich unter zahlreichen nicht (mehr) lesbaren Ritzungen weitere Runengraffiti befinden (Knirk, Runer i Hagia Sofia [1999]; Fischer, Ännu ett runfynd [1999]). Sie haben jedoch in der Art ihrer Ausführung nichts mit den kunstvollen Runenschlangen auf dem Piräus-Löwen (s. S. 137 mit Anm. 255) gemein. Mehr als eine Kuriosität stellt die Übereinstimmung der der Namen, liest man sie als Hálfdann und Ari, mit den Byzanzfahrern des Romans »Hemma och i österled« (1945, zweiter Teil des Romans »Röde Orm«) von Frans G. Bengtsson dar. So fragt sich, ob Bengtsson die Inschriften bereits vor ihrer »Entdeckung« ebenfalls kannte oder sie nach dem Erscheinen des Romans von modernen »Warägern« angebracht wurden ( Johanson, Mutmaßungen [2005], S. 817f.), was nicht auszuschließen ist. 465 Shepard, Uses of the Franks [1993], S. 302–305. 466 Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 94–100; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 37–42.

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Schließlich bleibt festzuhalten, dass schwere Infanterie, als welche die mit Streitäxten kämpfenden Warangoi im 12. Jahrhundert durchgehend begegnen, für die Byzantiner leichter auszustatten und anzuwerben war als Kavallerie. Byzanz verfügte nämlich damals über keine einheimische Zucht von Streitrössern, sondern nur über relativ kleine Pferde,467 so dass byzantinische kataphraktoi gegen lateineuropäische Gegner in der direkten Konfrontation üblicherweise chancenlos waren und westeuropäische Söldner, auf deren schwere Reiterei die Byzantiner gleichfalls angewiesen waren, ihre Pferde selbst mitbringen mussten. Wenn sich die Byzantiner wie 1081 bei Dyrrhachion gegen Reiterheere zur Wehr setzen mussten, waren Fußtruppen, die mit der langstieligen »Dänenaxt«468 zu hantieren wussten, mehr oder weniger die einzige Möglichkeit, das Potential zur Offensive zu behalten.469 Jenseits solcher Überlegungen, die sich letztlich auf eine Beobachtung des Sprechens beziehungsweise Schreibens über Skandinavier stützen, wird das Bild der »Waräger« freilich schnell vage. Die Frage, ob und, falls ja, wann die »Axtträger«, von denen die Historiographie spricht, ein tagma bildeten und in der Tat zu einer Gardeeinheit im eigentlichen Sinne wurden, muss gänzlich offen bleiben.470 Ebenso gut denkbar wäre ein gradueller, sich vor allem im ersten Jahrzehnt von Alexios’ Herrschaft vollziehender Wandel der hetaireia, so dass auch die Warangoi, welche sich am Palast befanden, weiterhin außerhalb der regulären Einheiten standen. Unter Manuel begegnet die hetaireia wieder;471 zu diesem Zeitpunkt sind die Axtträger jedoch scheinbar nicht ein Teil von ihr. Zudem verblasst in den Jahrzehnten ständiger Umstürze seit 1071 und besonders seit Alexios das relativ klare Bild von den byzantinischen Militärstrukturen zuse467 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 67; Kroll, Tiere im Byzantinischen Reich [2010], S. 32 und 49 stellt bei Pferdeskeletten vom Balkan, aus dem Donauraum, Thrakien, der Peloponnes und Kreta der mittelbyzantinischen Zeit Widerristhöhen von nicht mehr als 1,35–1,48 Meter fest; vgl. auch Kolias, Horse [2012]. 468 Eine solche ethnographische Konnotation (securis Danica) findet sich im 12. Jh. bezeichnenderweise bei William of Malmesbury: Gesta regum Anglorum, ed. Mynors/Thomson/ Winterbottom [1998] II,188,6, S. 338, an der Schnittstelle zwischen angelsächsischer und normannischer Kultur, sowie ebenfalls im Altfranzösischen in der Continuation de Guillaume de Tyr, ed. Morgan [1982], Kap. 139, S. 145. 469 Deutlich wird dies an ihrer herausgehobenen Behandlung bei Anna Komnene (B43+B44); Geoffrey Malaterra: De rebus gestis, ed. Pontieri [1928], Kap. XXVII, S. 74, Z. 2–16 besagt gar, Alexios habe seine ganze Hoffnung auf die Waringi gesetzt. Vgl. die Analyse bei Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 61–68. 470 So v. a. Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 258f. im Gegensatz zu Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 130, der Blöndal folgt; auch Brandes, Das Gold der Menia [2005], S. 212–220 bezweifelt die Existenz einer »Warägergarde« im 11. Jh. Es ist insofern bezeichnend, dass Byzantinisten, welche nicht gezielt nach der Garde suchen, in der vorkomnenischen Zeit auch nicht auf sie gestoßen sind. 471 Etwa bei der Schlacht von Sirmion 1167 (Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 124; vgl. auch B61).

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hends, was nicht allein aus der Abwesenheit von taktika resultiert: Während der Herrschaft des Alexios werden die Ἐξκούβιτα bei der Schlacht von Dyrrhachion sowie als Wachen am Großen Palast erwähnt,472 die anderen drei »klassischen« tagmata (Σχολαί, Βίγλα, Ἱκανᾶτοι) nicht mehr.473 Auch die Ἀθάνατοι (»die Unsterblichen«), ursprünglich ein aus kleinasiatischen Flüchtlingen gebildetes byzantinisches Gegengewicht gegen die fremden Söldnereinheiten in der Armee, werden 1094 letztmalig erwähnt;474 das von Alexios gegründete τάγμα τῶν Ἀρχοντοπούλων (»Offizierssöhne«) taucht nach seinem Tod 1118 nicht mehr auf.475 Generell ist die Differenzierung zwischen themata und tagmata nach 1081 obsolet, und das Verschwinden der klassischen Namen kennzeichnet eine radikale Umgestaltung der Armee.476 Erhalten bleibt jedoch eine Differenzierung zwischen stehenden Truppen in der Hauptstadt, Einheiten, die bei Bedarf im Umland ausgehoben werden, und der Garde am Palast, die in der Historiographie unspezifisch als ὑπασπίσται (»Schildträger«) oder δορυφόροι (»Speerträger«) bezeichnet wird. Werden jene Leibwachen einmal spezifiziert, so handelt es sich in der Komnenenzeit ausnahmslos um Βάραγγοι oder πελεκυφόροι.477 Dies bedeutet keineswegs, dass »Waräger« die exklusive Leibgarde gebildet hätten. Es fanden sich grundsätzlich einheimische Gardisten, und als dies zu einem bestimmten Zeitpunkt gegen Ende des 12. Jahrhunderts nicht mehr der Fall war, wurde das von Niketas Choniates umgehend als Skandalon registriert.478 Man kann aber erkennen, dass zumindest die Barbaren am Palast im 12. Jahrhundert als Gruppe mit Warangoi identisch geworden sind, was Ioannes Skylitzes (beziehungsweise seinen Continuator) und Nikephoros Bryennios zur nachträglichen Identifikation der früheren hetaireia mit ihnen veranlasst. Andere Son472 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 157–159 davon aus, dass die Exkoubita in der Schlacht von Dyrrhachion untergeht. Blöndal 92/45 geht gar so weit, die Ablösung der Exkoubita durch die Warangoi in die Zeit Basileios’ II. (konkret 988–1025) zu verorten. Diese Annahme beruht allein auf der freien Assoziation nicht verbundener Textstellen bei Psellos (B2) Anna Komnene (B41), deren Gültigkeit zu bezweifeln ist (s. unten, S. 259f. und Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 103f.). In der Tat erwähnt noch die um die Mitte des 12. Jhs. entstandene Chronik des Zonaras die Exkoubita im Zuge der Sukzessionskrise von 1118, bei denen auch die Warangoi ihr Quartier haben (B55), wahrscheinlich am Chalke-Tor des Großen Palastes, wie es einige Jahrzehnte später Nikolaos Mesarites berichtet (B63). 473 Hierzu Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 73–92, 104–121. 474 Ahrweiler, L’idéologie politique [1975], S. 73; Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 243– 246. 475 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 250; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 159 mit entsprechenden Verweisen auf Ioannes Skylitzes, Nikephoros Bryennios und Anna Komnene. 476 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 121–126, 156–158, 231f.; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 231–233; Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 127–129; Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 261f. 477 So auch Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 157. 478 S. Niketas Choniates über Andronikos Komnenos zum Jahre 1185 (B78).

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dereinheiten aus fremden Söldnern, etwa Flamen, Franzosen und Deutsche, werden zwar erwähnt, gehören aber nicht an den Palast in die unmittelbare Nähe der Basileis.479 Damit ist noch nichts über die genaue Organisationform der Waräger gesagt; es entspräche dem komnenischen System und ähnelte auch stärker skandinavischer Herrschaftspraxis, wenn die persönliche Bindung hier wie schon in der hetaireia eine größere Rolle spielte als die Definition einer Einheit mit bestimmten Rängen und einer klar geregelten Kommandohierarchie, die sich etwa in Siegeln verfolgen ließe.480 Entscheidend ist, dass die Waräger von den Zeitgenossen des 12. Jahrhunderts als Einheit wahrgenommen wurden. Genau aus diesem Grund lassen sie sich auch nicht weiter in irgendwelche »Nationen« aufspalten, wie es frühere Forscher mitunter versuchten.481 Es ist nicht unplausibel, dass Angelsachsen die im Feld, in den Festungen und Konstantinopel stationierten Βάραγγοι im späten 11. Jahrhundert zahlenmäßig dominierten,482 bevor die skandinavischen Kreuzzüge wieder massenhaft Norweger, Dänen, Schweden und Bewohner der Atlantikinseln, der Hebriden und der Isle of Man nach Byzanz spülten; konkret bestimmen lässt sich das Verhältnis indes nicht mehr, und die Geschichte der Waräger für eine bestimmte moderne Nation vereinnahmen zu wollen, entbehrt jeder Grundlage, wie noch näher zu zeigen sein wird. Für die Byzantiner bildeten die Warangoi ein γένος, weil sie sich gegenseitig verstanden und deshalb sowie aufgrund der Tatsache, dass sie als Fußkämpfer mit der Streitaxt umzugehen wussten, gemeinsam einsetzbar waren. Die sprachliche Differenz zwischen angelsächsischen und nordgermanischen Dialekten war zu jener Zeit noch ausgesprochen gering und insbesondere die Kontakte über die Nordsee zwischen Jütland, Westnorwegen und dem Danelag noch bis weit ins 12. Jahrhundert hinein dicht.483 Da man zudem davon ausgehen 479 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 124: »These men [i. e. the hetaireia] differed from the German, Flemish, or Italian mercernary troops that appear in descriptions of special missions. Such troops cannot be considered tagmatic whether or not they possessed an elite status within the army. This special status stemmed from their function as extra-heavy shock troops, or from their service as special mission detachments.« Dagegen über die Waräger (ebd. S. 125): »The only units that appear to have been tagmatic, in the sense that they were constantly maintained guard units, were the Varangians.« Zu ergänzen wären sie um die sonstige hetaireia der Basileis. 480 Es findet sich aus der mittelbyzantinischen Zeit allein das Siegel des patrikios und Übersetzers Sphenis (B24); s. unten, S. 201. 481 Vgl. z. B. Vasiliev, History of the Byzantine Empire 2 [1928], S. 155; Blöndal, Nabites the Varangian [1939]; Dawkins, Later History [1947]; Vasiliev, The Opening Stages [1937]; Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 61–90, aber auch Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 64–66; 232. 482 Vgl. die Literatur in Anm. 53. 483 Vgl. für Dänemark Münster-Swendsen, Skandinaviens placering [2007], S. 40–48; Münster-

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darf, dass skandinavische und angelsächsische Migranten oft gemeinsam nach Byzanz gekommen waren, wird verständlich, warum die Byzantiner zwar in der extensiven Urkundensprache der 1080er-Jahre eine Differenzierung zwischen Warangoi und Inglinoi erkennen lassen, diese aber in der Praxis, die sich in der Historiographie spiegelt, zu keinem Zeitpunkt eine besondere Rolle gespielt haben dürfte. Bemerkenswert ist auch, dass bei allen Autoren – Skylitzes, Bryennios und Zonaras – eine klare Tendenz zu erkennen ist, in der Retrospektive fremde Palastwachen als Warangoi aufzufassen, dass aber Waräger in den Provinzen, wie sie durchgehend begegnen, auch bei Nikephoros Bryennios, der als Experte in Militärfragen anzusprechen ist,484 zwar vorkommen, jedoch keine herausragende Rolle spielen. Die Zahl der Ereignisse außerhalb der Hauptstadt, bei denen Warangoi als Truppen begegnen, ist unabhängig vom Autor oder der Entstehungszeit des jeweiligen Textes relativ gleichmäßig über den Zeitraum von 1034 bis 1081 verteilt. Dass auch Bryennios nicht mehr über sie zu berichten hat, spricht dafür, dass ihre Rolle in der Armee vor der Zeit Alexios’ I. in der Tat nicht herausragend war.485 Swendsen, Educating the Danes [2012]; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 24–26; für Norwegen Helle, Organisation [1988], S. 46–53; Hellberg, Tysk eller engelsk mission [1986]; Abrams, Anglo-Saxons [1995], S. 248f. 484 Damit ist er der einzige unter den komnenenzeitlichen Autoren (vgl. Hunger, Literatur [1978], S. 397–399; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 1, 7–9). 485 Das spiegelt auch Blöndals Darstellung, die für den Zeitraum 27/18 Seiten umfasst. Nimmt man jedoch das umfangreiche Kapitel über Haraldr Sigurðarsons Dienst hinzu, dominiert bei Blöndal die vorkomnenische Zeit zwischen 1034 und 1081 mit 98/67 Seiten zu 58/44 Seiten über das lange 12. Jahrhundert der Komnenoi und Angeloi – eine Konsequenz aus der synthetisierenden Narration, die fast alle Informationen über Haraldr aus der nordischen Überlieferung bezieht. Aus dem Kapitel über die Jahre 1043–1081, das sich wiederum fast nur auf byzantinische Quellen stützen kann, sind Warangoi bei folgenden Ereignissen, die Blöndal in seine Narration einbezieht, nicht erwähnt, obwohl Text und Anmerkungsapparat dies oft unmissverständlich nahelegen: 1. Beim Krieg gegen die Rus’ 1043 seien die rusischen Warangoi fortgeschickt worden; in der Tat spricht Skylitzes von Händlern (171f./104). 2. Konstantinos IX. sei 1044 von Warangoi vor einem Anschlag bewahrt worden; die Leibwache ist in den Quellen nicht spezifiziert (172/104f.). 3. Konstantinos IX. habe 1045 3.000 Waräger geschickt, die dem doux Liparit IV. gegen König Bagrat IV. von Georgien beistehen sollen: Entgegen dem Beleg sind sie bei Skylitzes nicht erwähnt (172/105). 4. Beim Aufstand des Tornikios 1045 (172f./105). 5. Im Krieg gegen die Petschenegen 1048 (173/105f.). 6. Der akolouthos Michael sei der Kommandeur der Warangoi 1049/50 und bei anderen Gelegenheiten (173–176/106f.). 7. Die fremden Truppen, die Isaakios Komnenos 1057 zur Rebellion überredet, seien Warangoi; in der Tat begegnen andere Ethnonyme (177f./107f., vgl. oben, S. 157). 8. Isaakios habe die Waräger besonders geschätzt (179f./109). 9. Die Waräger seien den Doukai besonders treu ergeben (180f./109f., 184–188/112–114). 10. Waräger im Krieg gegen die Normannen 1066 an Land und zur See (182–184/110f.). 11. In Mantzikert gingen die »Provinzwaräger« unter (184f./113f.). 12. In der hetaireia Ioannes Bryennios’ d. Ä. befanden sich bei seiner Rebellion 1077/78 Waräger (190–192/115–117). 13. Es seien die Waräger im Gefolge des Usurpators Nikephoros Basilakes gewesen, die ihn an Michael VII. auslieferten (195f./119f.).

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Auch statistisch lässt sich dieser Eindruck untermauern: Gliedert man alle 82 Textstellen bis 1204, an denen gemäß byzantinischem Sprachgebrauch unzweideutig von Skandinaviern die Rede ist,486 unter Auslassung der neun Chrysobullen487 nach Ereignissen vor und nach 1081, ergibt sich ein Verhältnis von 28 Erwähnungen bei Ereignissen vor 1081 zu 45 Erwähnungen zwischen 1081 bis 1204. In letzterem Zeitraum dominiert zudem der Bezug auf Ereignisse in Konstantinopel (zehn zu 24).488 Bei einer Gliederung nach Ereignissen, die Mehrfacherwähnungen eliminiert, bleibt das Verhältnis mit 24 Ereignissen vor 1081 und 34 Ereignissen danach gleich: Anderthalb mal mehr Ereignisse liegen in der Komnenenzeit. Noch deutlicher wird das Bild, wenn man die Anzahl der Fundstellen nicht nach dem behandelten Zeitraum, sondern nach dem Zeitpunkt der Textentstehung gliedert: Nur 11 Fundstellen stammen aus fünf Texten vor 1081, 62 Stellen, mehr als das Fünffache, finden sich in nicht weniger als 17 verschiedenen Texten, die zwischen dem Ende des 11. Jahrhunderts und dem frühen 13. Jahrhundert entstanden. Aus der Perspektive, die sich aus einer Analyse der seit Alexios I. Komnenos entstandenen Vergangenheitsgeschichtsschreibung ergibt, begann mit dem Komnenoi ein langes 12. Jahrhundert, in welchem die byzantinische Aufmerksamkeit für Skandinavier im Heer und am Hof am größten und die byzantinisch-skandinavische Kulturbeziehung am dichtesten war.

486 Ausgelassen wurden demgemäß jene Stellen, an denen von ῥομφαίαι die Rede ist, eingeschlossen aber jene Erwähnungen, die sich auf kein konkretes Ereignis, sondern allgemein, möglicherweise auch fiktional auf »Warangoi« beziehen (v. a. B1 und B56) oder wo ein anderes, zweideutiges Ethnonym (etwa Γερμανοί) verwendet wird, die Textstelle aber auf einer eindeutigen Erwähnung beruht (so Niketas Choniates [B72] im Rückbezug zu Ioannes Kinnamos [B59]). Ebenso fortgelassen sind Bezugnahmen auf Skandinavien ohne Akteure in geographischen Kontexten und Siegel. 487 Statistisch wirkten die Chrysobullen deshalb verfälschend, weil sie eine nur im 11. Jahrhundert begegnende Sprachpraxis repräsentieren. 488 Bei den Ereignissen in Konstantinopel sind Mehrfacherwähnungen bereits eliminiert. Die Hauptstadtfixierung nach 1081 hängt allerdings auch mit dem Verschwinden der themata und der Zentralisierung des Heeres zusammen. Umsturzversuche werden nun nicht mehr wie früher vom Militäradel in den themata ins Werk gesetzt, sondern geschehen im Umfeld des Palastes, so dass Warangoi hier auf andere Weise ins Spiel kommen (vgl. unten, S. 230ff.).

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»Vertraut« und »wohlgesinnt«489 : Byzanz und die Axtträger vor 1204

Geographisches Wissen Die Entwicklung einer byzantinisch-skandinavischen Kulturbeziehung, in welcher die Byzantiner ihrem Gegenüber größere Aufmerksamkeit schenkten, drückt sich auch auf das geographische Wissen durch: Im 11. Jahrhundert bezeichnet allein Kekaumenos das Herkunftsland des Norwegers Haraldr Sigurðarson näher, indem er das Ethnonym Βάραγγος in das Toponym Βαραγγία transformiert; Skylitzes weiß, dass die Warangoi ein γενὸς κελτικόν, also Lateiner, sind. Bereits in der Ἀλεξίας aber, dem ältesten für unseren Zusammenhang relevanten Text, der Ereignisse ab 1081 behandelt, ist eine Weiterentwicklung zu erkennen: Anna Komnene schreibt explizit, dass die Warangoi aus Θούλη kämen,490 was angesichts des evasiven Charakters, den jenes sagenumwobene Land des äußersten Nordens in den antiken und mittelalterlichen Literaturen besitzt, höchst bemerkenswert erscheint.491 Im Westen begegnet die Identifikation von Tyle mit einem konkreten Land allein in nordischen Kontexten, nämlich über Beda vermittelt erstmals bei Adam von Bremen, in den latinophonen norwegischen Königschroniken des 12. Jahrhunderts, in der Landnámabók als Synonym für Ísland und mit scheinbarer Selbstverständlichkeit im Prolog der Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, der seine isländischen Gewährsleute als Tylenses bezeichnet.492 Trotz dieser im Westen nicht eben zahlreichen Zeugnisse ist eine solche Assoziation in Byzanz keineswegs einmalig, sondern erweist sich als relativ stabil: Dreimal begegnet sie in der Alexias.493 Ein Enkomion aus den 1140er-Jahren auf den Patriarchen von Konstantinopel, welches auch den kritischen Übergang der Herrschaft von Ioannes Komnenos auf seinen jüngeren Sohn Manuel behandelt, weiß zu berichten, dass er 1143 in Kilikien Axtträger (οἱ ἑτερόστομοι πελέκεις αἴροντες) bei sich hatte; sie stünden in der besonderen Gunst des Basileus und kämen aus der Nähe des

489 Mit diesen Attributen (συνήθεις ὑπάρχοντες) belegt Nikolaos Mesarites 1201 die Axtträger (B67), nachdem er beschreibt, wie sie ihn aus unmittelbarer Lebensgefahr retteten (deutsche Übersetzung identisch mit Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel, ed. Grabler [1958], S. 316). Jene Beschreibung illustriert treffend die besondere Rolle, welchen den Warangoi während der Zeit der Kreuzzüge unter den Lateinern in Byzanz zukam. 490 Im Kontext der Eroberung Konstantinopels durch ihren Vater (B41). 491 Zum Mythencharakter und der im westlichen Mittelalter keineswegs verbreiteten, ja bestrittenen Assoziation der ultima Thule mit Island von See, Ultima Thule [2004], S. 114–129. Zur antiken Tradition über »Skandinavien«, welche für die Geographie der Byzantiner von höchster Bedeutung war, vgl. Rübekeil, Scandinavia [2002]. 492 Adam IV,36, S. 271–274; GD, Praefatio 1,4; weitere Stellen bei von See, Ultima Thule [2004], S. 127f. 493 B41, B42, B49.

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nördlichen Pols.494 Ähnlich äußert sich der Erzbischof Eustathios von Thessalonike in seiner 1180 entstandenen Grabrede auf Manuel Komnenos, als er lobt, der Verblichene habe in beispielloser Zahl Söldner angeworben, darunter »jene, auf welche der reine Boreas bläst« (ὅσοις ἀκραιφνὴς βοῤῥᾶς ἐπιπνεῖ), wohlgemerkt in Unterscheidung von »Skythen«, also Barbaroi aus dem Raum nördlich des Schwarzen Meeres.495 Besonders aufschlussreich schließlich sind die um 1160 entstandenen Ἱστορίαι des Ioannes Tzetzes. Diese »Geschichten« stellen ein merkwürdiges, von dem verarmten Universalgelehrten selbst geschaffenes Genre dar, denn Tzetzes kommentiert eine Sammlung seiner eigenen Briefe mit insgesamt 660 historiai enzyklopädischen Inhalts, die in volkssprachlichen Versen (στίχοι πολιτικοί) gehalten sind und zu denen er später wiederum Scholien anfertigte.496 An einer Stelle findet sich folgender geographischer Kommentar:497 »Περὶ νήσων Ἑσπερίδων καὶ Βρεττανῶν Αἱ Βρεττανίδες νῆσοι μὲν κεῖνται περὶ Θρᾳκίαν· δύο αἱ μέγισται πασῶν, πρώτη Ἰουερνία καὶ Ἀλουβίων μετ’ αὐτήν· αὗται τῶν ἄλλων πρῶται. Καὶ ἄλλαι δὲ τριάκοντα καλούμεναι Ὀρκάδες, καὶ Θούλη ἔγγιστα αὐτῶν, ἄλλη μεγίστη νῆσος, ει᾿ς Ἀπαρκτίου τὴν πνοὴν ἔγγιστα κεκλιμένη. Ἐκ τούτων τῶν τριάκοντα ει᾿σὶν αἱ Ἑσπερίδες. Πρὸς μέρη γὰρ ἑσπέρια κεῖνται τῆς Βρεττανίας. Τριῶν δε Διονύσιος πόλεων μόνον λέγει.« »Über die westlichen und britannischen Inseln Die britannischen Inseln liegen unter dem Thraskias498; die zwei größten von allen sind zuerst Ivernia und Albion nach ihr; sie liegen vor den anderen. Und die übrigen dreißig werden Orkades genannt, und Thoule ist die nächste zu ihnen, eine weitere sehr große Insel, am nächsten gelegen am Wind Aparktios. Außerhalb von diesen dreißig sind die Hesperides. Sie liegen zum Teil westlich von Brettania. Dionysios [Periegetes] spricht von nur drei Städten.«

Tzetzes gibt hier Pytheas von Massilia beziegungsweise Dionysos von Alexandria wieder und zeichnet das byzantinische Bild von der Geographie Nordwesteu494 Panegyrikos auf Michael II. Oxeites (B52). Zur Quellenlage für das fragliche Ereignis und die Bedeutung des Enkomions hierin s. unten, Anm. 631. 495 B62. 496 Hierzu Wendel, Tzetzes [1948], bes. Sp. 1992–1999 und die Einleitung der Edition, S. VII– XXXIII. 497 B57. 498 Es handelt sich um einen Wind aus Nordnordwest.

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ropas nach; man darf davon ausgehen, dass Anna und andere Autoren, wenn sie von der Thoule sprechen, diese oder eine ähnliche Vorstellung vor Augen haben. Das eigentlich Bemerkenswerte jedoch ist das Scholion, welches Tzetzes zum zweiten der oben zitierten Verse ergänzte.499 Berücksichtigt man die Änderung, heißt es: »Αἱ Βρεττανίδες νῆσοι μὲν κεῖνται περὶ Θρᾳκίαν· δύο αἱ μέγισται πασῶν, πρώτη Ἰουερνία ἡ λεγομένη Βαραγγία καὶ Ἀλουβίων μετ’ αὐτήν· […]« »Die britannischen Inseln liegen unter dem Thraskias; die zwei größten von allen sind zuerst Ivernia, die Warangia genannt wird, und Albion nach ihr; […]«

Abermals begegnet hier der Versuch, das Land, aus welchem die Warangoi beziehungsweise Axtträger kamen, in die Parameter des aus der Antike ererbten Weltbildes einzufügen,500 was bereits an sich für eine deutlich gewachsene Aufmerksamkeit gegenüber den Migranten spricht, die dorther nach Byzanz kamen. Bemerkenswerterweise führt dies nicht zur Identifikation mit der ebenfalls begegnenden Insel Θούλη wie bei Anna Komnene, sondern mit Ἰυερνία, Irland. Gründe hierfür sind auf den ersten Blick schwer zu benennen, zumal Iren nirgends mit Warangoi in Verbindung gebracht werden. Blickt man aber darauf, was die Assoziation des Heimatlandes der Waräger bei Anna und bei Ioannes Tzetzes gemeinsam haben, so ist es die Lokalisierung im nordatlantischen Raum, und zwar jenseits Englands. In der Tat ist die Θούλη bei Anna Komnene von verschiedenen Forschern mit England identifiziert worden, weil Anna sie als Insel bezeichne, doch in erster Linie deshalb, weil normannische Historiographen in den Warangi, die 1081 im byzantinischen Heer unter Alexios gegen die Normannen kämpften und von denen auch Anna berichtet, Angelsachsen beziehungsweise Engländer (Angli) erkannten. Eine eigentliche Grundlage im Text selbst besitzt diese Deutung nicht, und man fragt sich spontan, warum die Autorin die in der antiken Tradition begegnende Brettania nicht auch so nennen sollte, wenn sie sie meinte.501 In der Alexias selbst wird die 499 Das Scholion findet sich in beiden überlieferten Redaktionen der Chiliaden; s. hierzu auch die Anm. in B57. 500 Dies ist das bestimmende Merkmal der byzantinischen Geographie, weshalb sie ganz auf Ptolemaios zurückgeworfen bleibt und kaum neue Erkenntnisse sammelt (Hunger, Literatur [1978], S. 507–522). Insofern ist das Eindringen neuer Begriffe wie Βαραγγία in das Corpus bemerkenswert. 501 Die Assoziation mit England aufgrund der Tatsache, dass Anna von einer Insel spricht, stammt von Buckler, Anna Comnena [1929], S. 438, vgl. auch Dawkins, Later History [1947], S. 40. Sie ist hinfällig, weil gemäß antiker Tradition sowohl die Thoule als auch Skandia neben Brettania Inseln sind (vgl. Rübekeil, Scandinavia [2002], S. 595–597). Die ausführlichste Begründung liefert Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 65f., der alle uns

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Vorstellung von der Lage der Thoule an einer anderen Stelle deutlich, als Anna des Alexios Einmischung in innerseldschukische Spannungen thematisiert, welche der Sache der Rhomäer gedient habe.502 Hier beschwört sie die einstige Größe der römischen Herrschaft und benennt die äußersten Grenzräume, im Südosten die Küste des Roten Meeres und Äthiopien, im Nordwesten die sagenumwobene Thoule und die von den »Nordvölkern« bewohnte Region, kurz: Die Römer hätten einst praktisch alle Klimazonen beherrscht, von der »verbrannten« Region (διακεκαυμένη) bis an die Polarregion. Einerseits findet sich hier wieder der vage und eben deshalb vielseitig verwendbare, aus der antiken Tradition ererbte Thoule-Begriff, der zudem einer poetischen Formulierung einstiger römischer Weltherrschaft dient. Andererseits nutzt seine Verwendung zur Beschreibung, wo die Grenzen (ὅσοι) des Reiches lagen, kaum als Argument für eine Identifikation mit England. Zweifellos hatte sich letzteres unter römischer Herrschaft befunden, doch definiert Anna Komnene hier Grenzräume römischer Ausdehnung und nennt mit Äthiopien auch am anderen Extrem eine Region, die antiken Geographen zwar bekannt, Rom aber nicht unterworfen war. Folglich stimmen Anna Komnene und Ioannes Tzetzes darin überein, dass sie das Herkunftsland der Warangoi beziehungsweise die Varangia mit einer Insel beziehungsweise Region jenseits Englands identifizieren,503 deren letztlich beliebige Namen sie antiken Vorbildern entnehmen; auch bei anderen Autoren des

bekannten Indizien für die englische Identität der damaligen Warangoi versammelt; vgl. auch Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979], S. 71. Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 65 mit Anm. 73 begründet diese Ansicht per analogiam mit der Feststellung, Psellos: Historikoi logoi, ed. Sathas [1876], S. 402 spreche von τῶν Βρεταννίων ἡ Θούλη. Diese Zuordnung lässt jedoch keine diesbezüglich gepflegte Semantik erkennen. So listet Psellos: Poemata, ed. Westerink [1992], Nr. 59, v. 25–28 Θούλη in variierenden und möglichst wortreichen Wendungen unter den Ländern, auf die der Thraskias bläst, wobei Thoule und die »Ufer der Brettanoi« additiv nebeneinander stehen. Erstere Fundstelle hat also kein besonderes Gewicht bezüglich des mittelbyzantinischen Sprachgebrauchs. Darüber hinaus besagt des Psellos Wortgebrauch erstens noch nichts über denjenigen bei Anna mehr als sieben Jahrzehnte später, zweitens entspräche dies nicht den für die byzantinische Geographie so wichtigen antiken Vorbildern wie Pytheas von Massilia, Dionysos von Alexandria oder Prokopios von Kaisareia, bei denen die Thoule und Brettania nicht identisch sind, und drittens assoziiert Anna an anderer Stelle Thoule mit der Polarregion (B45), so dass Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 66 ihr zwei Thoule-Begriffe unterstellen muss, um die Assoziation mit England aufrechtzuerhalten. Der Hinweis, die Krieger aus Thoule, die Anna zu 1107 im Dienste der Normannen erwähnt, seien bei Ordericus Vitalis genannt und daher Angelsachsen, ist unzutreffend. S. zu diesem Komplex auch unten, S. 214f. 502 Es handelt sich um den Bericht über byzantinische Hilfe für den Sultan Abu’l-Kasim im Jahre 1086, um ihn unter byzantinische Herrschaft zu bringen (B45). 503 Der Schluss stimmt überein mit demjenigen bei Blöndal, S. 219–221/143f., der ebenfalls der Ansicht ist, der Thoule-Begriff habe sich als eher vage Bezeichnung für die Region am nordwestlichen Rand der Welt angeboten.

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12. Jahrhunderts kommen jene Migranten aus dem äußersten Norden der bewohnten Welt.504 Insofern zeigt das zeitgenössische byzantinische Wissen auch hier jene typische Doppelbödigkeit von unhintergehbarer antiker Wissens- und Sprachtradition und Beobachtung in der Gegenwart, welche auch bei der ethnographischen Beschreibung neu auftauchender Migrantengruppen zu beobachten war.505 Nichtsdestoweniger ist offensichtlich im Gegensatz etwa zu Psellos oder auch Attaleiates die Vorstellung selbstverständlich geworden, dass die »axttragenden Waräger« aus der äußersten nordwestlichen Ecke der Welt kommen und damit in ihrer Herkunft mit den Rus’ nichts gemeinsam haben. Hier spiegelt die Anpassung des geographischen Wissens zunächst eine Änderung der Reisewege spätestens mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts, als die Skandinavier die gleichen Wege ins Mediterraneum zu nutzen begannen, die auch andere Kreuzfahrer nahmen und welche überdies in einem isländischen Reisebericht und einer dänischen Kreuzzugschronik sowie einer Segelanweisung tradiert sind, abgesehen von den Kreuzzugsberichten in größeren historiographischen Werken.506 Darüber hinaus zeigt sich, dass die Präsenz und Bedeutung von als distinkte Gruppe wahrgenommenen Migranten aus Skandinavien im 12. Jahrhundert dazu drängte, ihre Herkunftsregion zu definieren. Modifikationen des überkommenen geographischen Wissens, durch welche das byzantinische Schrifttum sich im Gegensatz etwa zum arabischen keineswegs besonders auszeichnet,507 fallen bei Ioannes Tzetzes und Eustathios von Thessalonike508 zudem zeitlich mit einem Informationsschub geographischen Wissens in der arabischen Literatur bei AlIdrı¯si zusammen, der am sizilianischen Hof für Roger II. arbeitete,509 und dokumentieren so die hohe Dichte an Informationsströmen in der Zeit der ersten Kreuzzüge. Die bemerkenswerte Wissensdichte des arabischen Geographen über die Geographie und Städte Skandinaviens lässt sich in der byzantinischen Literatur freilich erst mit dem Reisebericht des Laskaris Kananos im 15. Jahrhundert fassen.510

504 So im Enkomion auf den Patriarchen Michael II. Oxeites (um 1143–1146, B52) und im Nekrolog des Eustathios von Thessalonike auf Manuel Komnenos (1180, B62). 505 Vgl. oben, S. 79f., bes. aber Hunger, On the Imitation [1970]. 506 S. die Itinerare im Leiðarvísir (NI 111), der Morkinskinna (NI 134-NI 145), der Orkneyinga saga (NI 47-NI 59), in der Profectio Danorum (D17-D19, D24) und Kong Valdemars Jordebog (D63). 507 Hunger, Literatur [1978], S. 507–519. 508 B62. 509 Nuzhat al-Mushta¯q, Mitte 12. Jh., Übersetzung der relevanten Passage bei Samarrai, Arabic Sources [1959], S. 178–188. 510 Hierzu unten, S. 290f.

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Ethnographische Variation und ihr Hintergrund Dennoch bleibt auch hier eine gewisse Zweideutigkeit erhalten: Normannische Historiographen registrieren, wie bereits angedeutet, »Waräger« als »Engländer«; auch Niketas Choniates, der als wichtigste historiographische Quelle für das bewegte ausgehende 12. Jahrhundert anzusprechen ist,511 identifiziert den nach Outremer ziehenden Richard Löwenherz als τῶν πελεκυφόρων κατάρχων Βρεττανῶν, οὓς νῦν φασὶν Ἰγγλίνους (»Herrscher der axttragenden Brettanoi, die nun Inglinoi genannt werden«).512 Abgesehen davon, dass die Uneinheitlichkeit der Überlieferung genau an dieser Stelle Unsicherheiten erzeugt,513 zeigt sich genau wie in den Chrysobullen über ein Jahrhundert zuvor, dass man durchgehend damit rechnen muss, mit Warangoi und Axtträgern Angelsachsen beziehungsweise Engländer und Skandinavier gleichermaßen zu greifen; die Gründe hierfür aus byzantinischer Sicht wurden hinreichend deutlich. Damit scheint sich zugleich wieder die vermeintliche Klarheit der geographischen Kommentare, die in den Axtträgern Skandinavier sehen, zu verflüchtigen. Indes spezifiziert Niketas Choniates die πελεκυφόροι, deren König Richard ist, auf ungewöhnliche Weise, indem er sie als »axttragende Brettanoi« oder »axttra511 Vgl. Hunger, Literatur [1978], S. 431–434; van Dieten (Einleitung zur Edition), XVII–XX; Niehoff-Panagiotidis, Narrative Bewältigungsstrategien von Katastrophenerfahrungen [2010]. 512 B80 (zum Jahr 1189/90). Es bliebe anzumerken, dass die Continuation de Guillaume de Tyr, ed. Morgan [1982], Kap. 139, S. 145, erneut Kap. 140, S. 147 Richard in einem anderen Kontext (bei Jaffa 1192) die Benutzung einer »Dänenaxt« im Kampf zuschreibt. Man kann spekulieren, ob er eine solche auch bei seinem Aufenthalt in Byzanz trug und eine ethnographische Zuschreibung für Augenzeugen so offenkundig wurde. Dass man den anglonormannischen Herrscher aus byzantinischer Sicht nicht als Italos oder Phrangos verbuchen konnte, lag angesichts der Tatsache auf der Hand, dass Richard 1190 Krieg gegen den sizilianischen Normannenkönig Tankred II. führte. 513 So entspricht das obige Zitat nicht dem von van Dieten gegebenen Editionstext, der das Ethnonym Γερμανοί aus der Mehrheit der Handschriften übernimmt. Die Handschrift P (Cod. Parisinus graec. 1778, 13. Jh.) und ihre Töchter indes haben das Ethnonym Βρεττανοί. Der Hs. P kommt eine zentrale Bedeutung in der Überlieferung des mehrfach vom Autor selbst redigierten Geschichtswerks zu (vgl. hierzu unten, S. 232 und van Dietens Einleitung sowie das Stemma, ebd. S. CI). Zweifellos stehen hier Lesarten offenbar voneinander unabhängiger Handschriften gegen P (vgl. ebd., S. CII), doch spiegelt gerade letztere eine zentrale Überarbeitungsstufe des Autors in den Korrekturen des Textes selbst. Von daher hat die Lesart von P einiges Gewicht, und man muss davon ausgehen, dass Βρεττανοί und Γερμανοί zumindest aus spätbyzantinischer Perspektive als Synonyme nutzbar waren. Bedeutsam ist die Wahl des Ethnonyms deshalb, weil Niketas zuvor mit Γερμανοί Waräger meint (B72, B75). Letzteres Ethnonym ist seit dem 11. Jh. zunehmend unspezifisch auf »Franken« im weitesten Sinne beziehbar (Ditten, »Germanen« und »Alamannen« [1985], S. 26–29), so dass die Bezeichnung Βρεττανοί als klassisches Gegenstück zu Ἴγγλινοι mehr Sinn ergibt und möglicherweise zudem als lectio difficilior zu gelten hat, die ihren spezifischen Sinn ab dem 13. Jh. für die meisten anderen Schreiber, die zumeist deutlich später als derjenige von P arbeiteten, eingebüßt hatte.

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gende Germanoi« bezeichnet. Eine nähere ethnographische Definition »axttragender Barbaren« in einem syntaktischen Zusammenhang ist jedoch sonst nirgends aufzufinden, so dass man aus der Konkretisierung schließen darf, dass Choniates hier einen bestimmten Teil der Axtträger, eben Inglinoi (»Engländer«) meint, den Begriff also entgegen seinem sonstigen Gebrauch semantisch zu verengen sucht. Dass nach Tzetzes in den 1160er-Jahren und Eustathios 1180 kein Byzantiner mehr die nördliche Herkunft der Waräger behandelt, bedeutet keineswegs, dass keine Skandinavier mehr nach Byzanz kamen; gerade für jene Zeit häuft sich in nunmehr gegenwartschronistischen, informationsreichen Sagas die Anzahl der Personen, die zwischen Byzanz und den skandinavischen Ländern ganz selbstverständlich kommen und gehen, ohne dass die Erzähler der fraglichen Texte dies als ungewöhnlich hervorheben.514 Für England sind diese Verbindungen abgesehen von der Emigrationswelle unter William dem Eroberer weniger gut dokumentiert, was vor allem daher rührt, dass es sich bei den Migranten nicht um Angehörige der normannischen Oberschicht, sondern um anglophone Freie handelte, die sozial nicht in die anglonormannische Herrschaft integriert waren und höchstwahrscheinlich auch in geringerem Maße remigrierten; sie schieden gleichsam aus der Geschichte aus.515 Die transkulturelle Verkehrsdichte verdeutlicht ein Seitenblick auf eine ganz zeitnah zu Ereignissen entstandene dänische Kreuzfahrerchronik, welche ein dänisch-norwegisches Unternehmen im Rahmen des Dritten Kreuzzuges behandelt und unter anderem berichtet, die Skandinavier seien in Akkon von König Richards Männern überfallen worden, weil jene sie für »Griechen« gehalten hätten.516 Einerseits belegt die Stelle, dass eine skandinavische Identität in Outremer spontan zu einer Zuordnung in die byzantinische Interessenssphäre führt; zugleich aber wird deutlich, dass die Anglonormannen selbst eine für Kreuzfahrer typische, byzanzfeindliche Beziehung zu den »Warägern« haben, in ihnen also nicht ihresgleichen erkennen. Anglophone Axtträger, von 514 So kommt in der Sverris saga des Königs Bruder Eiríkr jarl Sigurðarson 1181 aus byzantinischen Diensten zurück (NI 36); 1195 kommt der Waräger Hreiðarr inn víkverski und wirbt in Alexios’ III. Namen Truppen an (ebd., NI 37); 1198 kehrt ein Isländer Namens Sigurðr Ormsson inn grikkr (»der Grieche«) nach Hause zurück (Sturlunga saga, NI 62-NI 64, NI 189). Kristín konungsdóttir, die Mutter des Königs Magnús Erlingsson, emigriert mit ihrem neuen Gemahl nach 1170 aus Norwegen nach Byzanz (Heimskringla, NI 157), wo sie 1187 stirbt, wie die Isländischen Annalen zu berichten wissen (ebd.). Saxo vermerkt, die dänischen equites in Byzanz hätten rasch von der dänischen Eroberung Rügens gehört und diese gefeiert, wovon Rückkehrer berichtet hätten (D55). Um 1193 kommt eine Flotte dänischer Kreuzfahrer nach Konstantinopel, von denen einige in byzantinischem Dienst verbleiben (D24). 515 Dokumentiert ist ihre Existenz freilich im Schreiben Manuels an Henry II. von England von 1176 (s. Anm. 663). 516 D20.

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deren kontinuierlicher Präsenz man seit dem späteren 11. Jahrhundert ausgehen muss, entstammten folglich einem anderen sozialen Milieu als die englischen Kreuzfahrer, welche den Aufenthalt der Dänen in Outremer für diese zu einer gefährlichen Angelegenheit machen. Noch eine weitere Fundstelle in der zwischen 1180 und 1182 entstandenen Chronik des Ioannes Kinnamos legt scheinbar nahe, es handle sich bei den Axtträgern um Engländer:517 Just dort wird die Schlacht bei Beroe gegen die Petschenegen 1122 behandelt, als es den Axtträgern gelungen war, mit ihren Waffen eine Bresche in eine petschenegische Wagenburg zu schlagen, die sich für die Byzantiner als uneinnehmbar erwiesen hatte. Kinnamos bezeichnet die Axtträger als ἔθνος Βρεταννικόν, doch erlaubt gerade hier der Kontext den überaus seltenen Beweis, dass Skandinavier zugegen gewesen sein müssen: Zwei Jahrzehnte nach dem Ereignis, deutlich bevor Kinnamos seinen Text verfasste, schuf Einarr Skúlason in Norwegen das Skaldengedicht Geisli (»Lichtstrahl«) auf den norwegischen Heiligenkönig Óláfr Haraldsson. 14 der 71 Strophen, ein Fünftel des ganzen Lieds, behandeln zwei Wunder Óláfs in Byzanz, deren letzteres eben der Sieg der Byzantiner auf den Pézinavellir (»Petschenegenfeldern«) durch die Væringjar trotz deren Unterzahl war.518 Für das direkt vorangehende Wunder wird als Quelle der Waräger Eindriði ungi genannt, der sich auch in der norrönen Historiographie auf seinen Wegen von und nach Byzanz als Agent des Manuel Komnenos verfolgen lässt, und der kurz vor 1150 aus Byzanz nach Norwegen gekommen war. Óláfs wundersamer Beistand gegen die Petschenegen zog in der norrönen Literatur einschließlich der lateinischen Wundersammlungen am Erzbistum Niðaróss rasch seine Kreise, wurde bald gar fiktional auf die Geschichte von Óláfs Halbbruder Haraldr inn harðraðí in Byzanz rückübertragen.519 In der englischen Überlieferung dagegen firmiert das Ereignis nicht, was die ethnographische Erläuterung bei Kinnamos fragwürdig erscheinen lässt, zumindest aber die Austauschbarkeit von »Engländern« und »Skandinaviern« aus der Perspektive des Historiographen unterstreicht.520

517 B58; parallel dazu Niketas Choniates, B70. 518 NI 19 (zu Geisli und der Weiterverarbeitung in den Passio et miracula b. Olavi, dem Gamal norsk homiliebok und der Legendarischen Óláfs saga helga); NI 154+NI 155 (zur Weiterverarbeitung in der Hkr.); vgl. auch Hagland, Slaget på Pezinavellir [1990]. 519 Ebd. bzw. zur Morkinskinna, die ein solches Wunder auf Haralds Zeit projiziert, NI 114. Zur Verarbeitung in der Heimskringla (Hákonar saga herðibreiðs) NI 154 und NI 155. Den ganzen Komplex behandelt auch Blöndal ausführlich auf S. 223–232/148–153. 520 Blöndal, S. 228–230/151f. spielt den Quellenwert von Kinnamos gegenüber NC herunter, da er mit Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Litteratur [1897], S. 279–281 annimmt, die einzig überlieferte Handschrift stelle ein mehr oder weniger verderbtes Extrakt dar und die Identifikation mit Brettanoi eine Interpolation des Schreibers aus dem 13. Jh., der nur »Engländer« als Waräger kenne, was angesichts der Ergebnisse bei Hunger, Literatur [1978], S. 410–415 und Kinnamos, ed. Brand [1976], S. 10f. nicht mehr gelten kann. Ebenso wenig

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Festzuhalten bleibt schließlich, dass in Beroe Skandinavier anwesend gewesen sind; zwar berichten die Byzantiner weder von einem Olafswunder noch vom Bau einer Kirche zu Ehren des fremden Heiligen, wie es der lateinische Wunderkatalog aus Norwegen in seinen verschiedenen Fassungen und die Sagas tun. Bemerkenswert ist aber doch, dass der bei Beroe errungene Sieg dem Basileus Ioannes II. Komnenos groß genug erschien, dass er laut Niketas Choniates das Kirchenfest τῶν Πετζινάκων (to¯n Petzinako¯n) zur Erinnerung an den Tag des Sieges stiftete,521 den er laut beiden byzantinischen Quellen wiederum der Gottesmutter verdankte, zu der er in seiner Not gebetet hatte. Werkzeuge des Sieges indes waren, wie sowohl Choniates als auch Kinnamos unterstreichen, letztlich seine Axtträger. Auch der vermeintliche Bau einer Olafskirche in Byzanz, welchen die Waräger laut den Passio et miracula beati Olavi, dem Gamal norsk homiliebok und verschiedenen Sagas dem Heiligen vor ihrem Sieg gelobt und durchgeführt hätten und der in Geisli unerwähnt bleibt,522 scheint weniger abwegig, wenn man sich vor Augen hält, dass die zeitnächsten skandinavischen Texte in der Tat von einem Marienpatrozinium dieser Kirche sprechen.523 Gerade die Theotokos und die der Legende nach vom Apostel Lukas selbst gemalte Ikone der Theotokos Hodegetria, die seit dem 11. Jahrhundert, besonders aber seit Ioannes II. Komnenos zur komnenischen »Staatsikone« geworden war, galten den Byzantinern als siegbringend, und die Marienverehrung besaß eine dezidiert militärische Komponente,524 was Niketas Choniates in genau diesem Kontext verdeutlicht: Ioannes habe angesichts der schwierigen Situation die Marienikone, die er mitführte, ergriffen und gebetet. Insofern geht von der Vorstellung, Ioannes habe zum Dank für den Sieg ein weiteres Marienheiligtum errichten lassen, in dem sich auch ein Bildnis des heiligen Óláfr befand, ein erheblicher Reiz aus. Man wird über die Lokalisierung einer solchen, zudem nur über entlegene und nicht zuverlässige Quellen erschlossenen Kirche keine gesicherten Erkenntnisse erzielen können, doch möglicherweise handelte es sich hierbei um Hagia Maria Warangiotissa, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Nähe der Hagia Sophia bezeugt ist; ein Nebenpatrozinium des Óláfr ist ohne weiteres denkbar, der Bau eines eigenen Heiligtums für einen obskuren lateinischen Barbaren-

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überzeugt die unbelegbare Hypothese, Ioannes II. habe seine Waräger nach »Nationen« getrennt, was Blöndal aus NC Βασιλεία Ἰωάννου τοῦ Κομνηνού, S. 29f. herleitet. Die Passage indiziert das Gegenteil, s. Anm 788. Kinnamos’ Zeugnis ist ernst zu nehmen, seine Bezeichnung der Waräger jedoch einmal mehr als pars pro toto-Benennung aufzufassen. B70. Vgl. die Synopse in NI 19 sowie NI 155. Die Passio und die Legendarische Óláfs saga helga haben eine Marienkirche, das Gamal norsk homiliebok eine Kirche, die Maria und Óláfr geweiht ist. Erst Morkinskinna (verlegt in Haraldr Sigurðarsons Zeit) und Heimskringla machen hieraus eine Óláfskirche. Pentcheva, Icons and Power [2006], S. 90–97, 184–191; Weyl Carr, Court Culture [1994], S. 85–94; Weyl Carr, Thoughts on Mary [2005].

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heiligen durch des Basileus hingegen weniger.525 Plausibel erscheint eine solche Verortung der Kirche vor allem deshalb, weil seit 1118 Warangoi als Wächter am Chalke-Tor des Großen Palastes nachweisbar sind, sich also seit Alexios’ Herrschaft eine Abteilung wohl konstant im Zentrum des alten Komplexes aus Hagia Sophia, Palast und Hippodrom aufhielt.526 Die herausgehobene Behandlung des Ereignisses in der byzantinischen wie der skandinavischen Historiographie und die Tatsache, dass man den Wissenstransfer prosopographisch am Norweger Eindriði ungi festmachen kann, der hoch in der Gunst Manuels stand und für ihn in Norwegen Waräger anwarb, erlauben hier ausnahmsweise eine enge Verknüpfung skandinavischen und byzantinischen Materials, zumal – im Gegensatz zu Informationen über Haraldr inn harðráði – 525 Die simple Annahme, dass die Warangoi, die zumindest um 1200 bereits einige Zeit im Chalke-Tor des Großen Palastes untergebracht waren (s. Nikolaos Mesarites zu 1201, B63, aber auch Ioannes Zonaras zu 1118, B54), »ihren« Heiligen Óláfr, sein Schwert und später im Lateinischen Kaiserreich auch den isländischen Bischof Þorlákr in H. Maria Warangiotissa verehrten (NI 61), die im 13. Jh. in direkter Nähe der Hagia Sophia nachzuweisen ist, böte eine plausible und simple Lösung für die Frage nach den Kirchen der Warangoi in der Stadt. Sie löste das Problem, dass nur späte Sagas (Morkinskinna und Heimskringla) den Bau einer gesonderten Óláfskirche behaupten und dies gleich zweimal geschehen sein soll, einmal durch Haraldr Sigurðarson und einmal durch die Waräger unter Manuel Komnenos. Vgl. die quellenkundlich aufschlussreiche Diskussion bei Ciggaar, St. Thorlac’s [1979], die freilich Informationen der Sagas unkritisch verwendet, so dass gleich drei »Warägerkirchen« in Byzanz entstehen. Das scheint mangels jedes anderen Belegs wenig wahrscheinlich. Hingegen muss die Existenz einer von einem Angelsachsen gegründeten Augustinuskirche, die in der Vita des Augustinus v. Canterbury um 1090/1100 belegt ist, deren Lage wir nicht genau kennen die sich aber möglicherweise im Lateinerviertel am Goldenen Horn recht nahe am Blachernai-Palast befand, hervorgehoben werden (Ciggaar, L’émigration anglaise [1974], S. 309–313; Shepard, Another New England? [1974]). Die Kirche H. Maria Warangiotissa ist um die Mitte des 13. Jhs. als orthodoxe Kapelle belegt ( Janin, Géographie ecclésiastique [1969], S. 158). S. auch Acta et diplomata 1, ed. Miklosich/Müller [1860], Nr. 182, S. 423f. vom Februar 1361. Dawkins, Echo in the Sagas [1937], S. 249, Blöndal, S. 229f./153 und S. 297–299/185f. sowie Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 205 identifizieren die Óláfskirche der Sagas mit H. Maria Warangiotissa, eine Annahme, die sie zwar nicht aus der Übereinstimmung mit der Óláfs-Passio und seiner Legendarischen Saga begründen, die aber durch deren Behauptung vom Bau einer Marienkirche entscheidend untermauert wird. Ciggaar, St. Thorlac’s [1979], S. 445 lehnt die Identifikation allein aufgrund des Befunds von Heimskringla und Morkinskinna ab und überliest den Verweis der Óláfs-Hagiographie auf eine Marienkirche (ebd. 429 m. Anm. 3), weshalb sie H. Maria Warangiotissa mit der Þorláks-Kirche aus dessen Wunderkatalog identifiziert, die dann unter Henri v. Flandern entstanden sein müsste, weshalb die Óláfskirche nicht gleichfalls nahe der Hagia Sophia gelegen haben könne. Dies scheint angesichts der Quellenlage eine unnötige Komplizierung zu sein. Die byzantinischen und die besten skandinavischen Quellen legen nahe, dass sich die Verehrung skandinavischer Heiliger in Byzanz an einem zentralen Ort nahe des Alten Palastkomplexes abspielte. Hierfür ist H. Maria Warangiotissa, möglicherweise nach 1122 erbaut, der wahrscheinlichste Ort. Raumprobleme scheint es angesichts der Größe der Stadtbevölkerung im frühen 12. Jh. noch nicht gegeben zu haben (vgl. Magdalino, Medieval Constantinople [2007], S. 57–67). Blöndals Rekonstruktion ist zuzustimmen. 526 S. B54 und B63 sowie die vorherige Anm.

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neben einem nachvollziehbaren Vermittlungsweg vor allem der zeitliche Abstand der Schriftquellen zum Ereignis in Byzanz wie im Norden etwa gleich ist. Zugleich zeigt sich aber, wie lokale Adaption und semantische Zuspitzung in den großen Saga-Narrationen Parallelen zur byzantinischen Perspektive verschwinden lassen und zu fiktionaler Ausgestaltung sowie zur Implantierung in ganz andere Zeitkontexte führen, die aus der Perspektive norwegischer Königs- und Heilsgeschichte, nicht mehr aber aus byzantinischer Sicht einen Sinn ergeben. Die einzige Stelle, an welcher sich Informationstransfer aus Byzanz in den Norden und seine Wirkungsgeschichte prosopographisch und quellenkritisch mit Kontrollzeugnissen verfolgen lassen, mahnt eindringlich vor der unkritischen ereignisgeschichtlichen Auswertung skandinavischer Geschichtsschreibung des 13. Jahrhunderts. Ioannes Kinnamos meint mit seinem ἔθνος Βρεταννικόν jedenfalls mehr als »Engländer«,527 wobei wie immer aber eine für byzantinische Verhältnisse ganz selbstverständliche Mischung anzunehmen ist, die aus lokaler, funktionaler Perspektive eine, aus heutiger Sicht auf mittelalterliche Herrschaftsformationen aber mehrere verschiedene Gruppen umfasst. Ein innerer Widerspruch zwischen dem Gebrauch der Ethnonyme und der Entwicklung des geographischen Wissens besteht also nicht, wenn man erneut in Rechnung stellt, dass die Systematik des byzantinischen Blicks auf den Norden nicht über eine praktische Gebrauchsebene hinaus zugespitzt wurde. So bezeichnet Niketas Choniates mitunter die Axtträger auch als Γερμανοί, ein gemäß seinem Wortgebrauch unklares Ethnikon für »Lateiner«, welches im 12. Jahrhundert durch die Etablierung des Wortes Ἀλαμανοί für »Deutsche« gleichsam »frei« geworden war.528 Auf diese Weise ließ sich klassisches Vokabular neu adaptieren. Wenn indes eine Angehörige der Herrscherfamilie wie Anna Komnene die Warangoi en passant gleich mehrfach nach Thoule verortet, wenn Enkomiasten die nördliche Herkunft der besonders geschätzten Söldner betonen und Ioannes Tzetzes Tinte für eine Einordnung der Βαραγγία in die byzantinische Geographie verschwendet, demonstriert dies nichtsdestoweniger, dass die Aufmerksamkeit für skandinavische Migranten im 12. Jahrhundert derart gewachsen war, dass man sich zur Modifikation antiker Tradition genötigt fühlte, welche den Byzantinern generell wenig modifikationsbedürftig schien. Die Voraussetzung hierfür war eine gesteigerte interkulturelle Kommunikation, welche die bei Leon Diakonos und Michael Psellos selbstverständliche Assoziation der Rus’ und der dorther kommenden Skandinavier mit Skythen oder Tauroskythen inakzeptabel gemacht und neue Verortungen angestoßen hatte.

527 Blöndal, S. 228f./151f. erkennt in den Briten bei Kinnamos einen Anachronismus aus der Abfassungszeit 1180–1182, als die Waräger aus Engländern bestanden hätten. Das ist ausgeschlossen, vgl. die Belege für skandinavische Byzanzmigration in Anm. 514. 528 Ditten, »Germanen« und »Alamannen« [1985], S. 26–29.

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3.3.

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Auf dem Höhepunkt der Aufmerksamkeit

Warangoi als Senatoren Dass die Voraussetzungen für Skandinavier günstiger wurden, zur Elite der byzantinischen Gesellschaft Zugang zu erhalten und hier zu reüssieren, belegt ein Scholion zu den Basilika, der seit dem 11. Jahrhundert so bezeichneten, auf dem Corpus iuris civilis des Justinian basierenden kaiserlichen Gesetzessammlung.529 Der fragliche, nach 1118 entstandene Kommentar bezieht sich auf eine Novelle Konstantinos’ VII. Porphyrogennetos, welche die Strafe für Mörder konkretisiert. Als Beispiel führt das Scholion den Mord eines βάραγγος συγκλητικός, eines Senatoren also, an einem anderen warägischen Senator auf, der in den Tagen des Alexios Komnenos geschehen sei. Daraufhin habe ein gewisser πρωτασηκρῆτις Bardas Hikanatos530 das Vermögen des Mörders gemäß der Novelle konfisziert, was eine Datierung des Vorgangs auf die Zeit um 1100 erlaubt.531 Zwar verlor der Senat als Gruppe von Würdenträgern, die er in der mittelbyzantinischen Zeit darstellte, unter Alexios erheblich an Einfluss, den er im 11. Jahrhundert durch die hohe Bedeutung der Zivilbeamten am Hof noch genossen hatte;532 damals gehörten Würdenträger ab dem Rang eines pro¯tospatharios zum Senat.533 Dies schloss auch einen gewissen Σφένις (Svend) ein, den διερμενευτὴς τῶν ᾿Ενκλίνων, von dem ein Bleisiegel höchstwahrscheinlich aus der Zeit des Alexios, aus dem ausgehenden 11. oder frühen 12. Jahrhundert, erhalten ist.534 Der eindeutig skandinavische Name Svend hilft bei der wenig fruchtbaren Frage, ob es sich um einen Skandinavier oder Angelsachsen handelte, nicht weiter; das »Englische« jener Zeit konnte prinzipiell jeder Skandinavier verstehen, doch deutet seine Funktion als »Dolmetscher der Inglinoi« auf zwei Dinge hin: Erstens war die transdialektale Kompetenz bei Westskandinaviern und Bewohnern des 529 B51. 530 Zur Person Savvides, A Prosopographical Note [2001]. 531 Regesten 2, ed. Dölger/Wirth [1995], Nr. 677. Bei Bardas handelt es sich wahrscheinlich um den seit 1082 zu verfolgenden, hohen Beamten, der gemäß einem Siegel (Byzantinische Bleisiegel 2, ed. Wassiliou/Seibt [2004], Nr. 215) kurz vor 1100 πραίτωρ von Hellas und der Peloponnes wurde. 532 Guilland, Patrices de Theodora [1976], S. 15f.; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 127; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 188f. 533 Oikonomides, Title and Income [1994], S. 205. 534 Zacos: Lead Seals 2, ed. Nesbitt [1984], Nr. 706, S. 337. Das Siegel zeigt den Heiligen Georgios, die rückseitige Inschrift lautet: Κύριε βοήθει Σφένι πατρικίῳ καὶ διερμηνευτῇ τῶν ᾿Ενκλίνων. Vgl. Sˇcˇavelev, Pecˇat’ vizantijskogo patrikija [2010], S. 488, der eine Datierung ins späte 11. Jh. als die wahrscheinlichste betrachtet. Mit dem Amt des »Übersetzers« beschäftigt sich prosopographisch Guilland, Grand Interprète [1976], der jedoch das o.g. Siegel noch nicht kannte. S. außerdem zu den Übersetzern unter den Komnenoi und Angeloi Gastgeber, Die lateinische Übersetzungsabteilung [2005], der sich v. a. mit Auslandsschreiben befasst. Vgl. dazu auch Kresten/Müller, Auslandsschreiben [1994], S. 402–407.

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Danelaw aufgrund dichter kultureller Verflechtung besonders ausgeprägt,535 so dass der angesehene Migrant Svend möglicherweise aus Dänemark, dem südwestlichen Norwegen oder Nordostengland kam. Zweitens deutet die explizite Verbindung mit Inglinoi darauf hin, dass Svend sich seine Verdienste, für die er die klangvolle Würde eines patrikios erhielt, im Umgang mit Großgruppen angelsächsischer Emigranten erwarb, was auf seine Anwesenheit in der Frühphase von Alexios’ Herrschaft hindeutet.536 Obschon der senatorische Rang unter Alexios an Bedeutung verlor, zeigt die Anwesenheit gleich dreier Warangoi in diesen Kreisen, dass die Grenzen des Avancements, welche Kekaumenos noch am Beispiel Haralds aufgezeigt hatte, endgültig obsolet geworden waren; Alexios hatte alte Prinzipien der Anciennität ganz einfach über Bord geworfen.537 Immerhin schloss er in anti-merkantiler Attitüde einheimische Kaufleute vom Senatorenrang aus und machte diesen zugleich erblich;538 dass unter dem Komnenen also fremde Söldner, welche als Inhaber von pronoiai, vom Basileus zur fiskalischen Nutzung überlassenem Land oder nur den Einkünften daraus,539

535 Vgl. Münster-Swendsen, Educating the Danes [2012]; Hellberg, Tysk eller engelsk mission [1986]; Helle, Organisation [1988]. 536 Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit dem Zug jener Angelsachsen, die gemäß westeuropäischen Quellen (darunter die Jatvárðar saga, NI 217+NI 218) eine »englische« Kolonie am Schwarzmeer begründeten (s. Shepard, Another New England? [1974]; Ciggaar, L’émigration anglaise [1974]; Fell, Icelandic saga of Edward [1972]; Fell, Saga of Edward [1973]; Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979]). 537 Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 125–128; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 181–192. 538 Vgl. Hendy, Studies [1985], S. 561–569, 582–586, 590; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 142–150, 188f. 539 In welchem Ausmaße fremde Söldner seit dem späteren 11. Jh. lediglich unterhalten oder mit pronoiai ausgestattet wurden, in welchem Maße die Komnenoi hier Migranten unverhältnismäßig begünstigten, was Niketas Choniates nahelegt, und inwiefern ein solcher »Feudalismus« dem vermeintlich vorangehenden »Fiskalismus« als Dekompositionsphänomen entgegenzusetzen sei, ist in der Forschung umstritten: Vgl. u. a. Chalandon, Jean II et Manuel I, 2 [1912], S. 611–618; Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], S. 303–310, 324f.; Charanis, The Byzantine Empire [1969], S. 204; Hohlweg, Beiträge zur Verwaltungsgeschichte [1965], S. 82–93; Bartusis, The Late Byzantine Army [1992] , S. 162–190, welche die die Ablösung eines einheimischen, freien Soldatenbauerntums durch fremde Profiteure betonen. Kazhdan/Cutler, Continuity and Discontinuity [1982], S. 441–448, 477f.; Hendy, Studies [1985], S. 85–107; Harvey, Economic Expansion [1989], S. 120–160; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 160– 179; Magdalino, The Byzantine Army [1997], S. 32–36; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 148–156 dagegen bezweifeln die Schärfe einer solchen Dichotomie und einer klaren zeitlichen Grenze ebenso wie eine moderne, teleologisch bedingte Negativbewertung dessen, was als »Feudalismus« erscheint. Außerdem würden politische Geschichte und Wirtschaftsgeschichte in der klassisch-modernen Historiographie der mittelbyzantinischen Zeit sympathetisch und daher übertrieben miteinander verflochten. Einen Überblick über die Forschungsgeschichte, aus welcher obige Autoren nur einen schmalen Ausschnitt repräsentieren, vermitteln zudem Kazhdan, Pronoia [1996], bes. S. 162 f.;

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am Hof bessere Aussichten hatten als einheimische Zivilbeamte, die zum Reichtum von Byzanz beitrugen, wie es etwa Niketas Choniates beklagt,540 wird durch jenen Gesetzeskommentar deutlich illustriert. Möglicherweise fügt sich auch das undatierte Bleisiegel eines gewissen Bardas Warangos in diesen Kontext, der den Rang eines kouropalate¯s innehatte,541 einer in der mittelbyzantinischen Zeit sehr hohen Würde, die im 11. Jahrhundert etwa an Generäle oder hochrangige Rechtsgelehrte wie Ioannes Skylitzes vergeben worden war, im 12. Jahrhundert durch die Einführung der komnenischen Titel wie sebastos und sebastokrato¯r jedoch einen gewissen Bedeutungsverlust durchmachte und in der spätbyzantinischen Zeit sehr selten wurde,542 so dass eine Zuordnung in die Komnenenzeit plausibel erscheint. Es ist nicht zu entscheiden, ob Βάραγγος hier einen Beinamen oder einen Nachnamen darstellt, so dass keine Rückschlüsse auf einen etwaigen Migrantenstatus möglich sind wie bei den beiden vorgenannten Senatoren. Auszuschließen ist indes nicht, dass der Name eine Gräzisierung etwa des nordischen Namens Bárðr oder Barði darstellen könnte. In jedem Fall waren Barbaroi skandinavischer oder angelsächsischer Herkunft oder Männer, die in Verbindung mit solchen Vorfahren gebracht wurden, in die Hofgesellschaft aufgestiegen und integriert. Urkunden und die Inschrift eines Reliquiars über ein Jahrhundert später belegen den Familiennamen Βαραγγόπουλος (Warangopoulos), der sich möglicherweise, wenn auch keineswegs sicher auf die Nachfahren solcher Migranten zurückführen lässt.543

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Angold, The Road to 1204 [1999], S. 261 f. Vgl. zudem die sehr ausführliche wirtschaftsgeschichtliche Behandlung bei Oikonomides, Role of the State [2002], S. 1018–1058, bes. S. 1042–1048. NC, Manuel Komnenos 7, S. 203 bzw. 208f. B133, s. Schlumberger, Sigillographie [1884], S. 453f. (ohne Abb.). Das Siegel zeigt eine Madonna und auf dem Revers die Inschrift ΚΕ ΒΘΗ ΒΑΡΔΑ ΚΟΥΡΟΠΟΛΑΤ’ Τ ΒΑΡΑΓ: Κύριε βοήθει Βάρδα κουροπαλάτ(ῃ) τ(ῳ) Βαράγ(γῳ). »Herr, hilf dem kouropalate¯s Bardas Warangos.« Eine Übersicht vermitteln Kazhdan, Kouropalates [1991]; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 126–128. Guilland, Curopalate [1976], S. 191f. bemerkt, dass der Titel als Ehrenbezeichnung auch an hoch stehende Barbaroi wie Roussel de Ballieul vergeben wurde; Bardas vermerkt er in seiner Sammlung der Titelträger ohne Datierung ebd., S. 220. S. auch Seibt, Byzantinische Bleisiegel 1 [1978], S. 242–249. So in einer Urkunde von 1288 (B94), die u. a. von einem Alexios Warangopoulos besiegelt wurde. Vgl. auch den Nachnamen Βαραγγίας in einer anderen Urkunde von 1246 aus Kleinasien (B90) sowie Urkunden von 1295 (B95) und ca. 1318 (B105) mit ähnlichen Nachnamen sowie unten, S. 278f. Das Kreuz ist publiziert in Greek Treasures, ed. Georgoula [2005], Kat. Nr. 97, S. 140. Das Goldenkolpion mit doppelten Kreuzbalken und LapislazuliAufsatz auf der Vorderseite trägt die Inschrift ΟΠΛΟΝ ΓΕΝΟΙΟ ΚΑΙ ΦΥΛΑΞ ΣΤ(ΑΥ)ΡΕ ΜΟΥ ΒΑΡΑΓΓΟΠΟΥΛ(Ω) ΣΕΒΑΣΤΩ ΓΕΩΡΓΙΩ: »Mein Kreuz, werde Waffe und Schutz dem sebastos Georgios Warangopoulos.« Die Rückführung des Namens auf die Komnenenzeit ist v. a. deshalb plausibel, weil es in Nikaia wohl keine Waräger als gesonderte

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Jener Zug des »komnenischen Systems«, welchen Enkomia unter Bezug auf Skandinavier besonders bei Manuel Komnenos rühmend hervorheben544 und den Niketas Choniates aus der Retrospektive auf 1204 so vehement anprangern sollte, begünstigte die Integration von fremden Kriegern in die Gesellschaft um die Basileis, eröffnete ihnen den Zugang zu weiteren Kulturbereichen545 und führte zugleich zu genau der kulturellen Annäherung auch von byzantinischer Seite, welche oben beobachtete Modifikation des geographischen Wissens erkennen lässt. Freilich nimmt sich eine solche Kontextualisierung der skandinavisch-byzantinischen Kulturbeziehung und ihrer Verdichtung weniger spektakulär aus als eine Konzentration auf das 11. Jahrhundert, erscheint sie doch so parallel zur charakteristischen Lateinerfreundlichkeit der Komnenoi und ihren Folgen. Nicht zuletzt aus den Sachzwängen der Kreuzzüge heraus entwickelte sich eine nie dagewesene Dichte kultureller Beziehungen zwischen den westlichen Regionen Europas und Byzanz, welche den Handel, vor allem aber das Umfeld der Basileis betraf.546 In gewisser Weise waren also die Warangoi nur eine unter zahlreichen Gruppen aus Lateineuropa, zu welchen die Komnenoi Beziehungen unterhielten und die sie nutzten, um ihre Macht zu erhalten, doch eben eine solche, der schon die frühen komnenenzeitlichen Historiographen wie Skylitzes und Bryennios eine weit zurückreichende Verbundenheit mit den Rhomäern und eine besondere Nähe zu den Herrschern zuschreiben. Inwiefern dieses byzantinische Geschichtsbild des 12. Jahrhunderts für das Saeculum zuvor zutrifft, erscheint nach dem Vergleich mit zeitnahen Texten höchst fragwürdig. Unabhängig davon jedoch kennzeichnet es mehr als deutlich den besonderen Status, welchen die hofnahen Chronisten den Skandinaviern und Engländern in Vergleichen zu anderen Fremden zuschrieben.

Einheit gab. Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 275 versteht das Auftauchen des μέγας διερμενευτὴς τῶν Βαράγγων in der spätbyzantinischen Zeit als Indiz für den Aufstieg von Warangoi in die graecophone Oberschicht; deutliche Hinweise darauf, dass solche Ämter nicht einfach mit Einheimischen besetzt wurden, existieren freilich nicht, im Gegenteil scheint der Richter Adam »von den Warangoi« am Ende des 14. Jhs. ein Byzantiner zu sein (B130). Vgl. unten, S. 284f. 544 B52, B62. 545 Dies ist einerseits im Kontext der Öffnung der byzantinischen Gesellschaft zum lateinischen Westen und den Kreuzfahrerherrschaften insgesamt zu sehen (vgl. Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten [1981], S. 209–211; Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 164–196; Laiou, Foreigner and Stranger [1991]; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 27–61, 83–97; Lilie, Fremde [1995]), doch nahmen die Skandinavier gerade aufgrund ihrer geringen Vernetzung mit den Kreuzfahrern in Outremer bzw. deren »fränkischen« Verwandten sowie den Normannen für die Byzantiner eine strategische Sonderrolle ein. 546 S. die vorige Anm.

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Die Alexias Am deutlichsten wird diese Aufmerksamkeit für Warangoi beziehungsweise Axtträger und Skandinavien in der Ἀλεξίας der Anna Komnene, die sie zwischen 1137 und ihren Tode in den 1150er-Jahren verfasste, und in der Χρονικὴ διήγησις des Niketas Choniates, der bedeutendsten Chronik zur Komnenenzeit, die in mehreren Bearbeitungsstufen im Zeitraum kurz vor der Wende zum 13. Jahrhundert bis etwa 1210 entstand und den Zeitraum von 1118 bis 1207 behandelt; im Ganzen sind zehn Fundstellen bei Anna und 19 bei Niketas, weit mehr als bei allen anderen Texten, von Interesse.547 Gleich die erste Erwähnung in der Alexias, als Alexios Ende März 1081 vor Konstantinopel steht und auf Wege zur Einnahme der Stadt sinnt, bietet eine Schlüsselstelle von Annas Sicht auf die Waräger:548 »ὡς δὲ ἐνταῦθα μὲν ἐφεστάναι τοὺς Ἀθανάτους λεγομένους ἐμάνθανε (στράτευμα δὲ τοῦτο τῆς ῥωμαϊκῆς δυνάμεως ᾿ιδιαίτατον), ἐκεῖσε δὲ τοὺς ἐκ τῆς Θούλης Βαράγγους (τούτους δὴ λέγω τοὺς πελεκοφόρους βαρβάρους), ἀλλαχόσε δὲ τοὺς Νεμίτζους (ἔθνος δὲ καὶ τοῦτο βαρβαρικὸν καὶ τῇ βασιλείᾳ Ῥωμαίων δουλεῦον ἀνέκαθεν), φησὶ πρὸς τὸν Ἀλέξιον παραινῶν μήτε τοῖς Βαράγγοις ἐμβαλεῖν μήτε τοῖς Ἀθανάτοις προσεμβαλεῖν. οἱ μὲν γὰρ αὐτόχθονες ὄντες τῷ βασιλεῖ πολλὴν τὴν ει᾿ς αὐτὸν ἐξ ἀνάγκης ἔχοντες εὔνοιαν θᾶττον ἂν τὰς ψυχὰς προδοῖεν ἢ πονηρόν τι κατ’ αὐτοῦ μελετῆσαι πεισθήσονται, οἱ δέ γε ἐπὶ τῶν ὤμων τὰ ξίφη κραδαίνοντες πάτριον παράδοσιν καὶ οἷον παρακαταθήκην τινὰ καὶ κλῆρον τὴν ει᾿ς τοὺς αὐτοκράτορας πίστιν καὶ τὴν τῶν σωμάτων αὐτῶν φυλακὴν ἄλλος ἐξ ἄλλου διαδεχόμενοι τὴν πρὸς αὐτὸν πίστιν ἀκράδαντον διατηροῦσι καὶ οὐδὲ ψιλὸν πάντως ἀνέξονται περὶ προδοσίας λόγον.« »Und als er [der Kaisar Ioannes Doukas] hörte, dass an der einen Stelle die so genannten Athanatoi [Unsterblichen] standen (das ist eine ganz spezielle Einheit des rhomäischem Heeres), an einer anderen die Varangoi aus Thule (mit ihnen meine ich die bekannten axttragenden Barbaren), an wieder anderer Stelle aber die Nemitzoi (auch das ist ein Barbarenvolk, das von alters her dem Reich der Rhomäer dient), da gab er Alexios den Rat, weder an die Waräger noch an die Athanatoi heranzutreten. Die einen hingen als die Landeskinder des Basileus zwangsläufig mit großer Hingabe an ihm und würden eher ihr Leben opfern als sich dazu überreden lassen, etwas Hinterhältiges gegen ihn zu planen, die anderen aber, die ihre Waffen [Schwerter] auf den Schultern schwingen, hätten als väterliche Tradition und gleichsam als Unterpfand und Erbe ihre Treue gegenüber den Kaisern und den Schutz ihrer Körper jeweils vom einen auf den anderen übernommen; sie hielten darum unerschütterlich an der Treue ihm gegenüber fest und würden auch das Reden über Verrat zweifellos rundheraus [schlicht] ablehnen.«

Die Passage ist ausgesprochen anschaulich erzählt, auch wenn Anna selbst sie so nicht gesehen haben kann, wurde sie doch erst zwei Jahre später geboren und 547 Zu Anna Komnene Hunger, Literatur [1978], S. 400–408; Edition Reinsch/Kambylis, S. 3*9*; zu Niketas Choniates unten, S. 229f. 548 B41.

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imaginierte die Szene mindestens 55 Jahre nach den Ereignissen. Sie dokumentiert mehrerlei: Zum einen erweist sie Ioannes Doukas, einen Drahtzieher von Alexios’ Usurpation und Stifter der Allianz zwischen den Komnenoi und Doukai als klugen Strategen, der in der Folge recht behält. Zum anderen beschreibt sie die Eigenschaften zweier herausragender Einheiten, der Ἀθάνατοι, einem tagma aus Einheimischen,549 und der Βάραγγοι, die hier schon als traditionelle Leibwachen angesprochen werden. Indem sie Ioannes Doukas die beiden Gruppen in den höchsten Tönen preisen lässt, enthebt sie sie zugleich jedwedem Verdacht, den Umsturz begünstigt zu haben. Letztlich sind es die Deutschen beziehungsweise ihr Kommandeur namens Gilpraktos,550 an den sich Georgios Palaiologos erfolgreich wendet und die ihm den Einbruch in die Stadt ermöglichten. Auch nach dem Fall der Stadt wird der Eindruck erweckt, die Waräger hätten dem alten Basileus noch zur Verfügung gestanden, um die plündernden Truppen des Alexios anzugreifen. Genau hierzu habe ihm sein Berater Nikephoros Palaiologos geraten, doch sei der greise Basileus des Kampfes überdrüssig gewesen und habe dies verboten.551 Bemerkenswert ist hierbei die Duplizität der Ereignisse zur Usurpation des 1081 gestürzten Nikephoros III. Botaneiates selbst drei Jahre zuvor: Annas Gatte Nikephoros Bryennios, dessen Hyle¯ historias Anna als Quelle selbst benutzte und fortschrieb, berichtet über 1078, der bei Anna nun selbst rebellierende Alexios Komnenos habe dem bedrohten Michael VII. Doukas damals geraten, die »axttragenden Wachen der Basileis« einzusetzen, was dieser abgelehnt hätte.552 Ob sich in der Tat 1078 und 1081 die Ereignisse so sehr ähnelten oder ob man hier mit einem intertextuellen Bezug zu rechnen hat, der ein Motiv – die Axtträger als letzte Rettung – konstituiert, ist nicht mehr mit letzter Konsequenz zu entscheiden. Anna selbst berichtet von ihren Quellen, welche mündliche Berichte unter anderem ihres Vaters und des Georgios Palaiologos sowie schriftliche Niederlegungen von Veteranen einschließen, die Mönche geworden waren, vor allem aber die Hyle¯ historias ihres verstorbenen Mannes, die als Biographie des Alexios fortzusetzen ihr ursprüngliches Ziel war.553 Inwiefern sich die Kaisertochter, die sich seit ihrem gescheiterten Usurpationsversuch von 1118 im von ihrer Mutter gestifteten Kloster Te¯s Kecharitomene¯s in Konstantinopel aufhielt und von

549 Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 243–246; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 159f. 550 Der Name deutet unmittelbar auf eine Gräzisierung von Gilbert, was eher auf eine anglonormannische bzw. frankophone Herkunft des Kommandanten schließen ließe. Wäre dem so, unterstriche dies die politische, gegenwartsbezogene Motivation für die Rollenverteilung, welche Anna hier vornimmt. 551 B42. 552 B39. 553 Alexias 14,7,5–7, S. 451–453.

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einflussreichen Personen am Hof nach eigener Aussage isoliert war,554 auf Erinnerungen an Jahrzehnte zuvor Gehörtes und Gesehenes verließ oder auch über ältere eigene Aufzeichnungen verfügte, bleibt offen. Über aktuelle Vorgänge während der Herrschaft ihres Neffen Manuel war sie durch im Kloster verkehrende Personen orientiert. Auch angesichts dessen, dass Anna mittelbar durch Augenzeugen über die Vorgänge des Jahres 1081 informiert war, sei jedoch abermals auf die große zeitliche Entfernung beider Texte – ihres eigenen und desjenigen ihres Gatten – von ihrem Berichtsgegenstand verwiesen555 sowie darauf, dass im 11. Jahrhundert beziehungsweise vor Skylitzes entstandene Texte keine aus Axtträgern bestehende Palasteinheit kennen. Im gleichen Zusammenhang der Usurpation von 1081 schließlich wird der pro¯toproedros Borilos erwähnt,556 ein enger Vertrauter und ehemaliger Sklave des Botaneiates, der auf eigene Faust »diejenigen, welche die Schwerter von den Schultern schwingen« (οἱ ἐπὶ τῶν ὤμων τὰ ξίφη κραδαίνοντες), exakt das gleiche Synonym für Warangoi wie etwas zuvor, sowie die Χώματενοί557 zwischen Konstantinsforum und Milion gefechtsbereit habe antreten lassen.558 Diese Ergänzung erscheint auf merkwürdige Weise in den Erzählverlauf eingeschoben, da sie ihn verdoppelt; zuerst berichtet der Text vom Verrat des Gilpraktos, über den Anna durch Georgios Palaiologos informiert gewesen sein dürfte, der 1081 als Unterhändler fungierte. Anschließend folgt die undisziplinierte Plünderung der 554 Ebenda 14,5,6, S. 452. 555 Ioannes Doukas und Alexios Komnenos waren zum Abfassungszeitraum bereits seit Jahrzehnten verstorben, Georgios Palaiologos lebte ebenfalls nicht mehr. 556 B42. 557 Die Cho¯matenoi sind ein tagma aus der phrygischen Stadt Choma, das Nikephoros III. Botaneiates aufgestellt hatte. Vgl. Hohlweg, Beiträge zur Verwaltungsgeschichte [1965], S. 81f.; Oikonomides, L’évolution de l’organisation [1976], S. 145; Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 256 und die Literatur in der Edition der Hyle¯ historias, S. 264, Anm. 5. Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 70 schätzt ihre Zahl auf nur etwa 500 bis 600 Mann und schließt daher auf ein Übergewicht der Warangoi, da die recht kleine Stadt nicht mehr Männer hätte hergeben können, wobei die Frage offen bleibt, inwiefern das tagma streng nach der Herkunft aus dieser Stadt geordnet war. 558 Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 70 nimmt dieses Bild der Einheiten, die »Schild an Schild« standen und das über 50 Jahre nach den Ereignissen entstand, wörtlich und rechnet aufgrund der Länge der Strecke von etwa 1000 yards zwischen Forum und Milion mit etwa 2000 Personen, davon aufgrund der Zahl der Cho¯matenoi (letzte Anm.) etwa 1400 Waräger. Die resultierende Zahl der Warangoi scheint zwar nicht unwahrscheinlich, ist aber auf diese Weise nicht zu erhärten. Anna evoziert hier ein beeindruckendes Bild, das sie möglicherweise von Paraden bzw. Triumphzügen her kennt (etwa 1133, vgl. NC, Βασιλεία Ἰωάννου τοῦ Κομνηνού, S. 18f.); der Nutzen von einer langen Reihe an Kämpfern entlang einer Straße für den Straßenkampf gegen Eindringlinge hingegen und damit die Historizität des Bildes erscheinen äußerst fragwürdig. Möglicherweise ist das Adverb στιχηδόν (»in einer Reihe«) gemäß einer ebenfalls nachweisbaren Bedeutung auch als »Reihe für Reihe« aufzufassen, womit Anna Komnene auf ein Antreten in kleinen Gruppen anspielte; dann wäre die Argumentation mit dem zur Verfügung stehenden Raum ebenfalls hinfällig.

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Stadt durch die Truppen der Komnenoi, schließlich die abgewiesene Bitte des Nikephoros Palaiologos an den alten Basileus, die Axtträger einzusetzen und das gescheiterte Angebot des Botaneiates, Alexios zu adpotieren.559 Bevor schließlich der Patriarch zu Wort kommt, der Botaneiates ebenfalls zur Abdankung rät, ist der Kommentar über Borilos eingeschoben. Die zwei Sätze wiederholen zunächst, die Truppen der Komnenoi seien mit Plünderungen beschäftigt und zerstreut gewesen, dann folgt die Information, Borilos habe »Schwertträger« und Cho¯matenoi versammelt, deren Aktivität nicht weiter verfolgt wird. Zwar ist es möglich, dass Anna hier durch den Gebrauch des ordo artificialis einen gleichzeitig geschehenen Ablauf verdeutlichen will, doch unterbricht der Einschub den Erzählfluss, ist isoliert von der Diskussion zwischen Botaneiates und Nikephoros Palaiologos über den Einsatz der Waräger und steht im Widerspruch zum Verhalten des Borilos unmittelbar danach, als er seinem Gönner Botaneiates, der in seiner Niedergeschlagenheit vergessen hatte, die Insignien abzulegen, den zugehörigen Armschmuck entreißt. Es scheint, als habe Anna hier eine andere Schriftquelle ausgewertet; die Sperrigkeit der Passage deutet auf ein kompilatorisches Vorgehen hin. Auch die Handschriften, welche eine Epitome der Alexias enthalten, streichen die Erzählung von Borilos und fügen sie gekürzt nach der Rede des Patriarchen ein.560 Auffällig ist in jedem Fall, dass es nicht allein um Byzantiner aus der Stadt und Waräger ging, sondern schließlich auch ein tagma aus Phrygiern in der Hauptstadt zur Verfügung stand. Diese spielen bei Anna 1081 sonst keinerlei Rolle,561 ihre Anwesenheit widerspricht aber deutlich der Exklusivität der Waräger und Ἀθάνατοι zu jenem Zeitpunkt, welche die Vorgeschichte der Eroberung suggeriert.562 Dass Anna im größeren Kontext und bei der exponierten Stelle indes, welche oben zitiert wurde, von byzantinischen tagmata und Warägern handelt, basiert also weniger auf den Details der Ereignisse von 1081 selbst als auf einem politischen Argument: Die Alexias hebt das engste militärische Umfeld des Alexios, wie es Anna und ihr intendiertes Publikum um die Mitte des 12. Jahrhunderts

559 Alexias 2,9,4, S. 79–2,12,4, S. 85. 560 S. den Apparatus epitomae in der Edition, S. 85f. 561 Nur im Kontext der Revolten von 1077/78 unter den Truppen des bedrängten Michael VII. Doukas, welche Anna bezüglich des Inhalts aus Bryennios hat; vgl. Bryennios IV,4, S. 265, Z. 12 und Anna 1,4,4, S. 19, Z. 46. 562 Dies relativiert zumindest für die Frühphase der Herrschaft des Alexios Komnenos die Gültigkeit der Aussage bei Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 157 und auch Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 232, dass die Warangoi die wichtigste Gardeeinheit der Komnenenzeit stellten, auch wenn dies im Gesamtbild kaum zu bestreiten ist.

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selbst kannten,563 lobend hervor. Die einheimischen tagmata und die Warangoi sind in der ganzen Chronik die beiden Gruppen, welche in besonderer Weise das Leben des Basileus gegen Mordanschläge in Konstantinopel und Gefahren im Feld schützen;564 andere Barbaroi spielen in diesem Kontext keine vergleichbare Rolle mehr, obwohl sie im Militär durchaus von großer Bedeutung sind.565 Folglich müssen die Athanatoi und die Warangoi aus Thoule in ihrem Edelmut und ihrer unbedingten Kaisertreue besonders hervorragen. Für die Komnenoi und die Historiographen des Hauses werden Axtträger in der Tat zur Rettung in Krisensituationen, was sich in der Sukzessionskrise von 1118, aber auch noch unter den Angeloi bewahrheiten sollte. Ein wesentlicher Teil der Schuld am Sturz des Nikephoros Botaneiates, vor allem aber an der Plünderung Konstantinopels 1081 einschließlich seiner Kirchen, was Anna verdammt,566 liegt praktischerweise für alle Überlebenden letztlich bei einem »deutschen« Verräter, während die für die Komnenoi selbst wichtigsten Eliten nicht kollaborierten, sondern gleichsam vom neuen Autokrator in altehrwürdiger Tradition geerbt wurden. Der erzeugte Eindruck stellt das genaue Gegenteil dessen dar, was die sich wandelnde Sprachpraxis der Texte suggeriert: dass nämlich mit Alexios ein Usurpator aus dem Militäradel überkommene Strukturen eben nicht bewahrte, sondern sie nach seinem Bedarf teilweise radikal veränderte. Mit der unbedingten Verlässlichkeit der Warangoi schließt sich ein Kreis zu Ereignissen, welche Anna selbst erlebt haben konnte: 1094 missglückte ein Mordanschlag auf Alexios beim Polo, 1100 wurde ein Komplott von Militäradligen verraten, bevor es zum Usurpationsversuch kam.567 In beiden Fällen begegnen Axtträger. Im ersten Fall sei Alexios von einem als Bittsteller verkleideten Barbaren in byzantinischen Diensten gestellt worden, der jedoch durch göttliche Intervention nicht in der Lage war, sein Messer gegen Alexios einzusetzen, doch sei die Sorge vor einer Unterwanderung weiterer Kreise und einer Wiederholung des Anschlags so groß gewesen, dass beim Empfang am folgenden Tag, der ausgesprochen militärisch inszeniert worden sei, Träger von Schwertern, Lanzen und rhomphaiai (οἱ μὲν ξίφη περιεζωσμένοι, οἱ δὲ δόρατα φέροντες, οἱ δὲ τὰς βαρυσιδήρους ῥομφαίας ἐπὶ τῶν ὤμων ἔχοντες) sowie Blutsverwandte Alexios umringt hätten, was den Mitwissern der Verschwörung äußersten Eindruck ge563 Dass Anna in einem höheren Maße, als es ihr eigener Text suggeriert, das Bild von Alexios auf ihre eigene Gegenwart hin modelliert, zeigt Magdalino, Pen of the Aunt [2000], S. 35f. 564 Auf Feldzügen 1087 in Bulgarien (B46) und 1111 in Cherson (B50), in der Stadt s. Anm. 567. 565 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 124; Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 170–179; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 232f. 566 Alexias 2,10,4 (S. 81). 567 Revolten von 1094 (B47; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 128, S. 98f.) und 1100/ 1101 (B48; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 130, S. 100). Die Informationen bei Blöndal, S. 202f/128f. überspringen den eigentlichen, im Folgenden geschilderten Mordanschlag und die Motivation für die Bedrohung der Verschwörer.

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macht habe. Um dies zu unterstreichen, bedient sich Anna hier einer Formulierung aus der Chronographia des Psellos.568 Obschon »Axtträger« an dieser Stelle unter den Leibwachen also nicht explizit genannt sind, kann man davon ausgehen, dass die rhomphaiai an dieser Stelle als »Äxte« aufgefasst wurden, denn für die Vorgänge des Jahres 1100 wird wieder die zu Βάραγγοι synonyme Formulierung βάρβαροι οἱ ἐπὶ τῶν ὤμων τὰ ἑτερόστομα ξίφη κραδαίνοντες (»Barbaroi, welche die Schwerter/Waffen auf den Schultern schwingen«) gebraucht, die schon für 1081 zweimal begegnete.569 Die Verschwörer des Jahres 1100 hatten einen Senator, einen gewissen Solomon, als Geldquelle und Marionette an ihre Spitze gesetzt. Ihm habe Isaakios Komnenos, der Bruder des Basileus, nach seiner Festsetzung erfolgreich mit Folter gedroht: Ein Blick auf die Barbaroi, welche Isaakios dabei hatte, habe ihn davon überzeugt, lieber alles zu verraten, was er wusste. Dies ist der erste positive Beleg dafür, dass Waräger zur Einschüchterung politischer Gegner verwendet wurden.570 Noch aufschlussreicher als jene hauptstädtischen Ereignisse, die aufgrund des Kontextes hochsprachliche, umschreibende Formulierungen bedingen, sind jedoch die Informationen über Warangoi in der Armee, über die Anna durch die Memoiren der Veteranen und Georgios Palaiologos gut informiert erscheint. Letzterer wurde als doux von Dyrrhachion im Oktober 1081 von den Normannen unter Robert Guiscard belagert, konnte sich jedoch bis zum Eintreffen des von Alexios herangeführten Heeres, das ohne die Erwähnung von Warangoi genauer beschrieben wird,571 behaupten. Bei der gemeinsamen Besprechung der Befehlshaber schließlich habe der weise Georgios zur Anwendung einer Nadelstichtaktik gegen die Normannen geraten, eine illustre Runde jüngerer Männer aber habe zur offenen Entscheidungsschlacht gedrängt; aufgezählt werden so klingende Namen wie Konstantinos Doukas Porphyrogennetos, Nikephoros Synadenos, Leon und Nikephoros Diogenes, also drei Söhne von Basileis, und in einem Atemzug mit ihnen ein gewisser Ναμπίτης (Nabites), der »Befehlshaber der Waräger« (ὁ τῶν Βαράγγων ἡγεμών). Sein Name leitet sich wahrscheinlich von einem skandinavischen Epitheton her.572 Ungeachtet der Tatsache, dass der 568 B7. 569 B42+B44. 570 Ein weniger direkter Bezug findet sich in Berichten über die Machtergreifung Michaels VII. Doukas 1071, als Träger der rhomphaiai (Psellos, B8) bzw. »Barbaroi aus den Ländern am Okeanos« (Bryennios, B36) die Basilissa mit ihrem Lärm einschüchtern und so aus dem Palast verjagen. 571 Alexias 4,4,3, S. 126f. 572 B43. Die Herleitung von einem möglichen norrönen Beinamen Nábítr (»Leichenbeißer/ Schlächter«) findet sich bei Blöndal, Nabites the Varangian [1939] und Blöndal, S. 198f./123. Er geht davon aus, dass ein solches Epitheton gut zu Raubtiernamen wie O ˛ rn, Ari, Haukr, Hrafn oder Úlfr passen könne, zumal Schlachten in den kenningar der Skaldik gern als »Füttern der Raben/Wölfe« beschrieben werden. Insofern unterstriche der Beiname die

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Rat der jungen Heißsporne sich als fatal erweisen sollte, begegnet jener Nabites, den Alexios persönlich zu Rate zog und der die Warangoi wenige Tage später bei der Schlacht gegen die Normannen ins Verderben führte,573 weiterhin im engsten militärischen Kreis um Alexios, den Anna im Gegensatz zu Georgios Palaiologos als Draufgänger darstellt: Bei Groß-Pristhlava in Bulgarien im Jahre 1087 entschloss sich Alexios erneut gegen den Rat des Palaiologos und wiederum mit desaströsen Folgen für die Byzantiner zum Angriff, und unter den sechs Männern, die er zu seinem persönlichen Schutz in der Schlacht kommandierte, befanden sich drei der Ratgeber von Dyrrhachion: Leon und Nikephoros Diogenes sowie Nabites, der hier als ἄρχων Βαραγγίας, Kommandeur der Warangia, bezeichnet wird.574 Erstmals findet sich hier mit Βαραγγία, synonym zur Landesbezeichnung bei Kekaumenos und Tzetzes, ein sammelnder Begriff für eine Einheit und damit der sprachliche Niederschlag der Vorstellung, dass die Waräger in einem tagma oder einem ähnlichen Verband organisiert seien, analog etwa zur früheren Βίγλα.575 Inwiefern dies die Situation des Jahres 1087 spiegelt, ist wiederum mit einem Vorbehalt zu versehen; Anna Komnene jedenfalls war die Vorstellung geläufig, als sie nach 1137 die Alexias verfasste. Dass Nabites sich sechs Jahre nach der Schlacht von Dyrrhachion als lebendig erweist, verwundert etwas angesichts von Annas Schilderung der Schlacht, welche die ausführlichste Darstellung kämpfender Warangoi in der gesamten byzantinischen Literatur darstellt.576 Alexios habe hier die Axtträger für die erste Angriffswelle verwendet und ganz vorn, vor der Hauptstreitmacht und den berittenen Bogenschützen, aufgestellt, eine Aktion, die nicht der klassischen mittelbyzantinischen Strategie entspricht577 und wahrscheinlich einen Mangel an schwerer Reiterei in jenem Augenblick spiegelt.578 Die Warangoi sollten der

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Einschätzung des Anführers als kriegslüstern, genau wie auch Anna Komnene den Nabites beschreibt. Problematisch bleibt, dass sich im norrönen Schrifttum kein Nábítr nachweisen lässt. Deshalb bleibt die Rekonstruktion hypothetisch, aber mangels einer plausibleren Alternative gültig. Am 18. Oktober 1081 (B44). B45. Diese war unter den vier »klassischen« tagmata bis ins frühere 11. Jh. für die »innere Sicherheit« zuständig gewesen und neben der hetaireia für den persönlichen Schutz des Basileus (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 104–106), Aufgaben, die sich mit denjenigen der Warangoi im 12. Jh. weitgehend decken. B44. McGeer, Sowing [1995], S. 257–280; außerdem Dennis, The Byzantines in Battle [1997], bes. S. 173; Haldon, Warfare [1999], S. 221–228. Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 66f.; Kroll, Tiere im Byzantinischen Reich [2010], S. 32, 49; Kolias, Horse [2012]. Zudem war die von Alexios auch schon zuvor gegen andere Usurpatoren wie Nikephoros Bryennios den Älteren angewandte Taktik eher auf eine dichte Schlacht ausgerichtet und wenig beweglich, was gegen die Normannen zu einem tödlichen Problem und erst durch den Transfer seldschukischer Taktiken behoben wurde (Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 60–70).

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leichten Reiterei ermöglichen, durch eine Öffnung ihrer Linie vorzupreschen, ihre Pfeile abzuschießen, und schließlich ihren Rückzug abschirmen. Über ihre Zahl lassen sich auf dieser Basis keine zuverlässigen Aussagen treffen; das byzantinische Gesamtheer dürfte angesichts der Größe vorheriger Schlachten zwischen Usurpatoren und Verteidigern in Byzanz um 20.000 Mann stark gewesen sein,579 und es ist fraglich, wie groß der Teil des byzantinischen Heeres war, den ihre Linie überdeckte, zumal sie in der Aufzählung der herangeführten Truppen nicht genannt werden. Dass Alexios sie bei sich behielt, wie die Alexias vermerkt, mag darauf hindeuten, dass er sie vor dem von ihm befehligten mittleren Teil der Armee aufstellte. In der Tat seien die Waräger als erste in ein Scharmützel mit den Normannen verwickelt worden, hätten ihre Gegner aber in die Flucht schlagen können, deren Verfolgung aufgenommen und seien durch die Linien der Normannen gebrochen. Genau dies für Lateiner typische, undisziplinierte Verhalten sei ihnen zum Verhängnis geworden580 und habe Alexios’ ganze Strategie über den Haufen geworfen: Robert Guiscard habe gewartet, bis sie sich weit genug von der byzantinischen Streitmacht entfernten und habe sie dann, als sie erschöpft waren, abschlachten lassen. Die Überlebenden, die sich in eine Kirche geflohen hätten, seien samt dem Gebäude verbrannt worden. Die Alexias dramatisiert hier, wenn behauptet wird, die »ganze Barbarenabteilung« sei gefallen, denn offensichtlich überlebte zumindest Nabites. Die gesamte Darstellung ist wiederholt spezifisch auf Angelsachsen bezogen worden,581 da eine zeitnähere normannische Chronik, die um 1100 entstandenen De rebus gestis Rogerii Calabriae et Siciliae comitis et Roberti Guiscardi ducis fratris eius des Geoffrey Malaterra, das gleiche Ereignis ausführlich behandeln. Im Wesentlichen bestätigt Geoffrey Annas Bericht, dass die Waringi den ersten Angriff geführt hätten, jedoch danach erschöpft waren.582 Doch er identifiziert sie

579 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 62. 580 Annas Betonung, die Warangoi seien extrem »übermütig« bzw. »heißblütig« im Kampf, steht im Einklang mit ethnographischen Konventionen (vgl. oben, S. 83 mit Anm. 37) und wird hier als singuläre Motivation für die Tatsache, dass sie zu weit vorpreschten, eingesetzt. 581 So etwa bei Dawkins, Later History [1947], S. 41f.; Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 65f.; Ciggaar, L’émigration anglaise [1974], S. 307f.; Birkenmeier, Komnenian Army [2002] a. a. O. und S. 256. Der bei letzterem geäußerte Gedanke, die »englischen« Warangoi hätten mit den Normannen eine Rechnung offen gehabt, und Alexios habe dies einkalkuliert, ist nicht unattraktiv, bleibt aber Spekulation. Aus dem von Anna betonten Gewicht der Bewaffnung lassen sich gleichfalls keine Schlüsse auf die Frage nach englischer oder skandinavischer Herkunft ziehen. Die Frage nach der »Nationalität« bleibt einmal mehr fruchtlos. 582 Diese Übereinstimmung aus zwei Perspektiven, bei der keine gegenseitige Benutzung anzunehmen ist, macht die Hypothese bei Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 62–66, die Warangoi hätten einen Sieg errungen, den Alexios nur taktisch nicht zu nutzen gewusst hätte, unwahrscheinlich.

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als Angli.583 Eine kleinere Abweichung betrifft die Kirche, die bei Geoffrey ein anderes Patrozinium aufweist und nicht von den Normannen angesteckt wird, sondern schlicht unter dem Gewicht der Männer auf dem Dach einstürzt. Zweifellos ist die Identifikation der Waräger mit Angelsachsen aus normannischer Perspektive und auch aufgrund der Migrationsströme aus England nach Byzanz höchst plausibel. Dass die Angelsachsen grundsätzlich und geschickt mit Äxten kämpften, hatten die Normannen 1066 bei Hastings erleben können;584 im Teppich von Bayeux finden sich entsprechende bildliche Darstellungen der huscarls von Harold Godwinesson. Darin unterschieden sich Angelsachsen indes nicht von Skandinaviern, von denen sie die Streitaxt wahrscheinlich übernommen hatten und bei denen sie als Waffe im 12. Jahrhundert noch massenhaft in Gebrauch war.585 Geoffreys Identifikation hingegen spiegelt historische Realität, wie Jonathan Shepard beweisen konnte,586 bietet jedoch, was nicht zuletzt die Chrysobullen des Alexios belegen, hier eine pars pro toto-Bezeichnung, ähnlich wie eine andere, etwas jüngere normannische Quelle zum Ersten Kreuzzug, die Gesta Tancredi des Ralph von Caen (nach 1130), die feststellen, des Basileus Angli hätten für ihn Laodikeia gehalten.587 Man identifiziert, was man kennt. Hieraus lässt sich nicht, wie mehrfach geschehen, eine praktisch exklusiv oder stark überwiegend angelsächsische Identität der erwähnten Warangoi ableiten.588 583 Geoffrey Malaterra: De rebus gestis, ed. Pontieri [1928], Kap. 27, S. 74, Z. 2–16. Auch Ordericus Vitalis: Historia ecclesiastica 2, ed. Chibnall [1969], IV, S. 202–204 berichtet ohne Bezug auf eine spezifische Schlacht vom Exil zahlreicher Angli, die Alexios gegen die Normannen unter Robert Guiscard eingesetzt sowie zu Palastwachen und Bewachern seiner Schätze gemacht habe. 584 Marren, 1066 [2004], S. 52. 585 Vgl. Villads Jensen, Danmarks krigshistorie før 1600 [2008], S. 61f., 92f.; Liestøl, Øks [1976]. Saxo hebt hervor, dass bei der Schlacht auf Grathe Hede 1157 zwischen Svend III. Eriksen und Valdemar Knudsen Streitäxte zum Einsatz kamen und Svend mit einer solchen erschlagen wurde (GD 14,19,15). Zahlreiche dort ausgegrabene Axtköpfe in der Sammlung des Nationalmuseums in Kopenhagen unterstreichen dies (vgl. Die letzten Wikinger, ed. Wamers [2009], Nr. 23, S. 81). Die »Dänenaxt« bleib indes auch im normannisch beherrschten England des 12. Jahrhunderts in Gebrauch, vgl. ihre Benutzung durch König Stephen in der Schlacht von Lincoln 1141 (Henry v. Huntingdon: Historia Anglorum, ed. Greenway [1996], 10,18, S. 738 mit Verweisen auf Parallelstellen bei Ordericus Vitalis und der continuatio von Symeon monachus) und durch Richard Löwenherz in der Schlacht von Jaffa 1192. Die französische Fortsetzung der Chronik des Guillaume v. Tyrus nennt die Waffe hache daneise, »Dänenaxt« (Continuation de Guillaume de Tyr, ed. Morgan [1982], Kap. 139, S. 145, erneut Kap. 140, S. 147). 586 Shepard, The English and Byzantium [1973]. 587 Gesta Tancredi [1866], Kap. 58, S. 649. 588 Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979], S. 71 behauptet, Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 70 beziffere das Verhältnis von Engländern zu Skandinaviern 1081 auf 1000 zu 400. Dies tut er nicht, sondern pocht auf die Unbestimmbarkeit des genauen Verhältnisses. Die Gesamtzahl berechnet er auf der Basis von Annas Äußerung in B42, vgl. Anm. 743.

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Solche Argumente haben ihren Grund letztlich immer nur in normannischer Historiographie, nicht aber in der Alexias. Ihr Hinweis auf die Unerfahrenheit der Warangoi lässt sich genauso wenig als Indiz für ihre »englische« Herkunft deuten wie des Alexios Anordnung, von ihren Pferden abzusitzen und vorzurücken.589 Hieraus ist nur zu schließen, dass auch die Infanterie für den Marsch beritten war. Hätte Alexios über »warägische« Kavallerie verfügt – die es niemals gab – hätte er sie gerade in seiner desaströsen Lage in Dyrrhachion gegen die berittenen Normannen selbstverständlich eingesetzt. Ebenso wenig hilfreich ist die Idee, die hier erwähnten »englischen« Waräger seien mit der vermeintlich »skandinavischen Garde« nicht identisch und seien auch sonst voneinander getrennt gewesen.590 Albert von Aachen etwa stellt im frühen 12. Jahrhundert fest, dass sich in der Armee des Alexios, die dieser nach Philomelion geführt hatte, um den Kreuzfahrern vor Antiochia beizustehen, Dani bipennium armatura dimicare peritissimi befunden hätten, womit eine Identifikation eben jener Axtträger mit »Dänen« derjenigen Geoffreys zur Seite zu stellen wäre.591 Warangoi oder Axtträger sind für Byzantiner zunächst ebensolche, und die Bezeichnung hat eine funktionale Grundlage; welchen nord- oder westgermanischen Dialekt die Migranten genau sprechen und aus welcher Region jener subpolaren Sphäre im äußersten Nordwesten der Welt sie exakt kommen, ob sie also »Angelsachsen«, »Dänen«, »Norweger«, »Isländer« oder »Schweden« sind, macht aus byzantinischer und zumal historiographischer Perspektive keinen entscheidenden Unterschied. Ebenso bietet Annas Bezug auf die einstige Größe römischer Herrschaft, die sich bis nach Thoule erstreckte, keinen Anhaltspunkt dafür, das Herkunftsland der Warangoi mit England zu identifizieren;592 dies vertrüge sich zudem nicht mit der antiken Tradition, aus welcher die Autoren des 12. Jahrhunderts schöpfen. Auch eine besondere warägisch-normannische Abneigung, über die im Zusammenhang der Konfrontation von 1081 spekuliert wurde,593 lässt sich zumindest nicht auf Dauer belegen. Als Bohemund von Tarent 1107 östlich der Adria landet, hat er »diejenigen von der Insel Thoule, die sonst auf Seiten der Rhomäer kämpfen« (ὅσοι ἀπὸ τῆς Θούλης νήσου στρατεύονται Ῥωμαίοις) bei sich.594 Auch angesichts dieses Verrats aber provozieren die Waräger keinen la589 Beides (in B44) verwendet Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 76–78 als Argument für die Herkunft der Warangoi aus England. 590 Auf diese Weise versucht Blöndal, S. 220f./141f. das Problem zu lösen. 591 Albert of Aachen: Historia Ierosolimitana, ed. Edgington [2007], IV,40, S. 310. 592 So bei Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 65f.; Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979], S. 71. S. hierzu die Analyse oben, S. 192f. mit Anm. 501. 593 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 65f. 594 B49. Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 65f. hält diese Leute aus Thoule für Engländer, da er Thoule bei Anna als »England« interpretiert, was ihr Text nicht hergibt (hierzu oben, Anm. 501). Dass er sie mit den Leuten des Robert de Montfort identifiziert, die

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teinerfeindlichen Kommentar, mit denen Anna sonst nicht hinter dem Berg hält: Die Verbündeten der Byzantiner seien durch die Umstände gezwungen gewesen, sich den Normannen anzuschließen. Wie schon 1081 zeigt sich hier die Bereitschaft, Skandinavier beziehungsweise Angelsachsen in byzantinischen Diensten grundsätzlich zu exkulpieren. Verrat, Unstetigkeit, Gier, Unverfrorenheit, Geschwätzigkeit und andere negative Eigenschaften, welche die Autorin bei den Lateinern, die auf dem Ersten Kreuzzug in Konstantinopel für Aufruhr sorgen, und insbesondere bei den Normannen wiederholt entdeckt,595 fehlen den Warägern in der Alexias völlig; selbst der glatte Verrat derjenigen Skandinavier, die sich vom Übergang zu Bohemund 1107 mehr Beute versprachen, wird überspielt. Alles, was sie so noch mit den anderen Lateinern gemein haben, ist ihre im ersten Angriff hoch wirksame, jedoch undisziplinierte Kampfweise. Die besondere Wertschätzung der Axtträger zeigt sich auch darin, dass sie aus der Masse der Barbaroi herausstechen, so im Herbst 1111, als Alexios sich in Cherson aufhielt und Gesandte des seldschukischen Sultans empfing, der soeben im westlichen Kleinasien eine Niederlage gegen die Byzantiner einstecken hatte müssen. Zur Einschüchterung der Gesandten habe man in guter byzantinischer Tradition »Soldaten aller Zungen« (στρατιώται ἐκ πάσης γλώττης) antreten lassen – und die axttragenden Barbaroi (πελεκοφόροι βάρβαροι), die hier als einzige besonders hervorgehoben werden.596 Es sind genau diese Entwicklungen in Alexios’ Herrschaft, welche Skandinaviern unter den zahlreichen Fremden in Byzanz einen Sonderstatus zukommen lassen. Dass die skandinavischen Kreuzfahrer, welche keinem byzantinischen Autor eine Erwähnung wert sind, offenbar nicht die gleichen Probleme verursachten wie die Lateiner auf dem Ersten Kreuzzug wenige Jahre vor ihnen,597 dafür aber Alexios zahlreiche Söldner zuführten, begünstigte, wie bereits angedeutet, ihren Sonderstatus unter den westlichen Barbaren ebenso wie das verhältnismäßig hohe Alter nordisch-byzantinischer Verbindungen über den Ostlaut Ordericus Vitalis: Historia ecclesiastica 4, ed. Chibnall [1973], S. 239 zu dieser Zeit zu Bohemund zogen, und daraus ein weiteres Argument für eine »englische« Identität herleitet, ist ethnographisch unplausibel: Ordericus spricht von Normannen, und diese werden von den Byzantinern niemals mit »Axtträgern«, »Warangoi« oder »Thoule« in Verbindung gebracht. 595 Vgl. den Bericht vom Aufenthalt der Kreuzfahrer in Konstantinopel (Alexias 10,7,1– 10,11,10, S. 303–321). Die Zuverlässigkeit der Sachinformationen der Alexias über den Ersten Kreuzzug in Byzanz und Outremer betont Frankopan, Perception and Projection [2002], S. 64–70. 596 B50. 597 Vgl. hierzu u. a. Frankopan, The First Crusade [2013], S. 118–137; Laiou, Byzantium and the Crusades [2005]; Harris, Byzantium and the Crusades [2003], S. 53–71; Angold, The Road to 1204 [1999]; Runciman, Byzantium and the Crusades [1986]; Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 178–196; Lilie, Byzanz und die Kreuzzüge [2004], S. 38–52; Chalandon, Alexis [1900], S. 155–253.

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weg, so verschieden vom 12. Jahrhundert sie in ihren Auswirkungen auch gewesen sein mochten.

Unterbrochenes Schweigen: Die Schlacht von Beroe 1122 und die Bilder des Madrid-Skylitzes Warangoi erfreuen sich bei Anna Komnene eines besonderen Status. Dennoch sind sie keineswegs allerorten anzutreffen, und sie erscheinen folglich nicht als die exklusive Elitetruppe schlechthin; bei zahlreichen kriegerischen Ereignissen von teilweise entscheidender Tragweite wie etwa der Schlacht von Lebounion gegen die Petschenegen 1091 werden sie gar nicht erwähnt, ganz im Gegensatz zur Schlacht von Beroe 1122.598 1118 tauchen sie am Ende der Weltchronik des Ioannes Zonaras auf, die im fraglichen Abschnitt eine Alexios-kritische Gegenerinnerung zur Alexias und der Chronik des Nikephoros Bryennios bildet;599 die Warangoi müssen dort von Ioannes Komnenos zuerst überzeugt werden, ihm das Tor zum Großen Palast und damit den Weg zum Thron zu öffnen. Danach begegnen sie während der Herrschaft des Ioannes von 1118 bis 1143 nur ein einziges Mal. Dies ist jedoch ebenso wenig ein Beleg für ihre Abwesenheit wie Annas Schweigen bei zahlreichen Gelegenheiten, denn bei ihrer einzigen Er598 Das spricht wiederum gegen die oben bereits relativierte Glaubwürdigkeit von Anna Komnenes Bericht über die Ereignisse des Jahres 1081, der Warangoi und Cho¯matenoi eine praktisch exklusive Rolle zubilligt. Dies spiegelt sich nicht in ihren Erwähnungen während der kommenden Jahre, deckt sich aber mit dem Eindruck aus den Sukzessionskrisen von 1118 (B55) und 1143 (B52, B71) und sollte daher zu denken geben. Zwar stimmen Geoffrey Malaterra und Anna darin überein, dass die Warangoi im Oktober 1081 bei Dyrrhachion schwere Verlust hinnehmen mussten, doch überlebte zumindest ihr Kommandeur Nabites und taucht später wieder auf (B46), so dass der »Untergang« des »Regiments« keine hinreichende Begründung für die Stille der Quellen bietet. Im Kriege gegen Robert Guicard begegnen sie nicht mehr. Die hohe Bedeutung der Warangoi und zumal der emigrierten Angelsachsen sei damit nicht bestritten, doch muss sie im Kontext gesehen werden. Im Feld dominiert für die Historiographen und damit auch für ihre Informanten aus dem Militär die Kavallerie, zumal Alexios seine Strategie nach den Normannenkriegen auf schnell vorgetragene Attacken der leichten Reiterei verlegt (vgl. Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 68–70). Blöndal, S. 200–202/127f. berichtet von den Kriegen des Alexios gegen die Petschenegen und Serben (vgl. Chalandon, Alexis [1900], S. 95–136; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 70–77), in welchen etwa 1091 bei Chariopolis die »Erlesenen des Haushalts« (οι᾿κοτέρων λογάδας, Alexias 7,7,3) sowie die Latinoi zum Einsatz kamen, die wahrscheinlich Warangoi umfassten, räumt aber selbst ein, dass Anna Warangoi auch so nennt, wenn sie sie meint. Natürlich hatten sich die Warangoi nicht in Luft aufgelöst, doch weiß Anna in dieser Zeit keine Ereignisse explizit mit ihnen zu verbinden, wie es Ioannes Kinnamos (B58) und Niketas Choniates (B70) etwa für die Schlacht von Beroe 1122 können. 599 B55. Zu Zonaras Hunger, Literatur [1978], S. 416–418: Der wohl bedeutendste byzantinische Kanonist fiel mit Anna Komnene und Bryennios 1118 in Ungnade im Kloster, war also mit ihnen verbunden gewesen, nimmt aber gegenüber Alexios eine deutlich kritischere Haltung ein als dessen Tochter und Schwiegersohn.

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wähnung bei der Schlacht von Beroe 1122 spielen sie eine entscheidende Rolle, die zudem im Norden rasch bekannt wurde.600 Die Kommunikationswege funktionierten also, auch wenn man praktisch keine Migranten namhaft machen kann.601 Sucht man nach Gründen für das Schweigen der Quellen, ergeben sich vier Hypothesen: Erstens tut sich in der Historiographie 1118 selbst eine Lakune auf; die beiden Chroniken von Ioannes Kinnamos und Niketas Choniates, welche den Zeitraum danach behandeln, entstanden erst Anfang der 1180er Jahre beziehungsweise ab etwa 1200.602 Beide behandeln die Herrschaft des Ioannes Komnenos nicht ausführlich und sind keine Militärexperten, so dass das Detailwissen über den fraglichen Zeitraum insgesamt viel geringer ist. Es existierten zweitens seit dem späteren 11. Jahrhundert keine funktionierenden Armeen der themata mehr, in welchen einquartierte Kontigente stehender Truppen sich gegenüber den sesshaften Einheimischen gleichsam automatisch abhoben, sondern Alexios kommandierte ein großes Heer, mit dem er zu den verschiedenen Krisenherden zog.603 Dass in einem derart großen Heer geschlossene Landsmannschaften beisammen blieben, stellte ganz offensichtlich nicht den Regelfall dar, sofern diese nicht wie bei Dyrrhachion aufgrund ihrer speziellen Verwendbarkeit zusammengezogen wurden. Auf diese Weise wären mehrere kleinere skandinavisch-englische Kontingente im Feld schlicht in der Infanterie, den peltastoi, aufgegangen. Auf dem Zug Ioannes’ II. ins Heilige Land jedenfalls findet Niketas Choniates es bemerkenswert, dass er zwecks Einschüchterung der Belagerten in Shaizar in Syrien 1138 Makedonier, Keltoi und Skythai (Kumanen), »Perser« (Seldschuken) sowie »ausgewählte Soldaten« (κατὰ 600 Ioannes Kinnamos (B58), Niketas Choniates (B70). Zur Rezeption im Norden vgl. die Analyse oben, S. 197f. 601 Ausnahmen vor Manuel Komnenos bilden der exilierte norwegische Königssohn Sigurðr slembidjákn, der nach einem Totschlag auf den Orkneys lt. Orkneyinga saga (NI 43), Morkinskinna und den anderen Konungasögur (NI 152) im Zeitraum 1128–1135 nach Rom, Jerusalem und Byzanz pilgert (vgl. Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 267f.) sowie die Gefolgschaften bzw. Armeen und Flotten der Könige Lagmaðr Goðrøðarson von Mo˛n und den Suðreyjar, Erik Ejegod von Dänemark und Sigurðr Jórsalafari von Norwegen sowie der bei Albert von Aachen erwähnte Prinz Svend, mglw. ein Sohn des Königs Svend Estridsen, dessen Nachzüglerarmee zum Ersten Kreuzzug mit etwa 1500 Mann aus Konstantinopel kommend 1098 bei Philomelion von den Seldschuken vernichtet wird (Albert of Aachen: Historia Ierosolimitana, ed. Edgington [2007], S. III,54, S. 222–224, vgl. Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 279f. mit weiteren Verweisen auf den Annalista Saxo und Guillaume v. Tyrus). 602 Hunger, Literatur [1978], S. 410–415, 431; NC, S. XII–XVIII; zur geringen Informationsdichte über Ioannes II. und zumal seine militärischen Aktionen Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 95–98. Er widerspricht der Annahme bei Hunger, Literatur [1978], S. 411f., Kinnamos sei militärisch gebildet gewesen (ähnlich Kinnamos, ed. Brand [1976], S. 5f.), und begründet auch hieraus die relativ geringe Dichte der Informationen über Ioannes II. 603 Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 80–83, 231–235; vgl. auch oben, S. 167f.

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πολέμους τοὺς πρότερον) aus seinem Heer jeweils gesondert Aufstellung nehmen lässt, um die »Vielfalt« (πολυμέρης) der Waffen besser zu Geltung zu bringen.604 Dass Warangoi hier, wo sie sich vielleicht unter den »Ausgewählten« befanden, und andernorts nicht hervorgehoben werden, mag an ihrer im Verhältnis geringeren Zahl liegen; sie waren immerhin die byzantinischen Soldaten mit dem längsten Anreiseweg, und ihre Zahl wird etwa um 1110 mit dem Besuch Sigurðs von Norwegen um eine satt vierstellige Zahl gestiegen sein,605 doch ließ sie sich nicht derart spontan für einen Feldzug aufstocken wie etwa bei Seldschuken und umgesiedelten Angehörigen von besiegten Steppenvölkern innerhalb der Reichsgrenzen. Drittens standen Ioannes Komnenos andere militärische Optionen offen als seinem Vater. Ihm gelang es, bis gegen Ende der 1120er-Jahre die Situation auf dem Balkan und im Westen zu stabilisieren, was ihm ein aggressiveres Vorgehen in Kleinasien ermöglichte. Dabei konzentrierte er sich aber nicht auf die Sicherung von Landflächen, die ohnehin nicht effektiv zu verteidigen waren, sondern auf die Belagerung und Einnahme von Stützpunkten entlang des Küstenwegs nach Antiochia.606 Zur Spezialität byzantinischer Kriegsführung entwickelte sich die Belagerung, die hierzu perfektionierte Maschinerie und vor allem Taktik;607 eine solche Strategie, die prinzipiell nicht zu großen Feldschlachten führt, begünstigt indes nicht sonderlich die Sichtbarkeit von spezialisierten Infanteristen wie den Axtträgern aus der Retrospektive. Eine vierte Hypothese bezieht sich auf die Kampftaktiken, die sich seit Alexios’ anfänglichen Niederlagen entwickelt hatten. Der Einsatz der Warangoi bei Dyrrhachion, auf den der Basileus nach der Aussage von Geoffrey Malaterra seine ganze Hoffnung setzte,608 hatte sich als desaströs erwiesen, ebenso andere Gelegenheiten, bei denen Alexios die Entscheidungsschlacht gesucht hatte, sowohl gegen die Normannen als auch gegen Petschenegen und Kumanen. Aus den bitteren Erfahrungen mit letzteren, die wie die Seldschuken gegen die Kreuzfahrerheere schweren Angriffen grundsätzlich auswichen und aus dem Hinterhalt mit leicht gerüsteten, berittenen Bogenschützen angriffen, dabei insbesondere für ein marschierendes Heer aber nicht zu stellen waren, entwickelte sich 604 NC, Βασιλεία Ἰωάννου τοῦ Κομνηνού, S. 29f. hebt dieses ungewöhnliche Verfahren auch stilistisch hervor; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 232 hält die Praxis geschlossener, großer Verbände jeweils gleicher Herkunft seit Mantzikert 1071 für obsolet; ähnlich Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 92. Laut Haldon, Warfare [1999], S. 226– 228 blieben fremde Söldnereinheiten als solche beisamen, aber ebenfalls in kleinen Einheiten, die flexibel einsetzbar sind. 605 Vgl. die Diskussion der Zahlen, oben, S. 93f. 606 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 35–41; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 85–87, 97f.; 607 Zum Belagerungskrieg vgl. McGeer, Byzantine Siege Warfare [1995]. 608 Geoffrey Malaterra: De rebus gestis, ed. Pontieri [1928], Kap. 27, S. 74.

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letztlich eine neue byzantinische Taktik, die sich vor allem gegen normannische Invasoren unter Bohemund als sehr erfolgreich erwies.609 Sobald die Byzantiner sich aber auf eine konsequente Nadelstichtaktik verlegten und die offene Feldschlacht zu meiden begannen, mussten Infanteristen wie die Axtträger aus dem Raster der Aufmerksamkeit fallen, da die entscheidenden kriegerischen Handlungen nunmehr der leichten Reiterei zufielen. Berittene Krieger ernten in der byzantinischen Historiographie grundsätzlich den Ruhm, und zu ihnen gehörten die Warangoi nicht; abgesehen davon kam den Infanteristen allein aufgrund ihrer Beweglichkeit, aber auch der traditionellen Taktik der mittelbyzantinischen Zeit eher eine defensive Rolle zu.610 Eine Ausnahme in der Zeit Ioannes’ II. freilich bestätigt diese Regel. Die Einfälle der Petschenegen, welche von Norden her immer wieder den Kern des Reichs, Makedonien, Thrakien und Thessalien, bedrohten, hatte Alexios nicht zu beseitigen vermocht. Insbesondere deren Taktik, ihre Wagen im Kreis aufzustellen und sich nach raschen Überfällen in diese gut zu verteidigende Wagenburg zurückzuziehen, hatte die Byzantiner bis 1122 vor ein unlösbares Problem gestellt.611 Die beiden wichtigsten Chroniken über die Zeit nach 1118 aber, die in nur einer byzantinischen Handschrift erhaltene und unvollendete, um 1180– 1182 entstandene Ἐπιτομὴ τῶν κατορθωμάτων des Ioannes Kinnamos, der wohl ein militärisch informierter Zivilbeamter war, und die Χρονικὴ διήγησις des Niketas Choniates, die sich gegenseitig nicht rezipieren,612 berichten übereinstimmend davon, dass die Axtträger den entscheidenden Beitrag zum Sieg geleistet hätten, indem sie gemeinsam mit Ioannes selbst vorrückten und mit den Äxten eine Bresche in die Wagenburg schlugen.613 Der Transfer dieses Wissens nach Skandinavien innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte wurde bereits angesprochen. Bei Beroe war eine taktische Ausnahmesituation eingetreten, auf die Ioannes unkonventionell und erfolgreich reagierte, indem er die mit Hiebwaffen ausgerüstete, schwere Infanterie, eben die Warangoi, geschlossen offensiv einsetzte; ihre Zahl betrug, glaubt man dem ältesten Zeugnis überhaupt, den entsprechenden Skaldenstrophen in Geisli, ungefähr 500.614 Dass sie ihm hierzu unmittelbar zur Verfügung stehen, deutet auf eine klassische Verwendung der Infanterie zu Sicherung des zentralen Heeresteils sowie des Trosses in ihrem Falle hin. Genau deshalb kommen an dieser Stelle die Axtträger in den Genuss voller

609 610 611 612 613 614

Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 68–77, 156–158. McGeer, Infantry versus Cavalry [1988], S. 142–145. Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 70–72. S. 141 m. Anm. 273. B58+B70. NI 19.

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Aufmerksamkeit der Erzählungen, die sich sonst auf die prestigeträchtige Reiterei konzentrieren. Dass die Warangoi zwischen Alexios und Manuel also quasi verschwiegen werden, macht sie indes nicht unsichtbar. Dies verdeutlicht eindrucksvoll die illuminierte Handschrift der Skylitzes-Chronik, nicht bei ihrer Darstellung der unbewaffneten Warangoi, die 1034 eine Einheimische für den Vergewaltigungsversuch durch einen der Ihren entschädigen,615 sondern bei der Schilderung einer Palastszene, die einer der byzantinischen Illuminatoren des Codex anfertigte: 820 wurde Leon V. der Armenier von Anhängern des von ihm zum Tode verurteilten patrikios Michael Travlos ermordet, der daraufhin zum Basileus akklamiert wurde. Eine besonders großflächige Illumination der Handschrift, ausgeführt von einem Byzantiner,616 zeigt, wie der Leichnam Leons aus dem Palast geschleift wird.

Abb. 3: Der Leichnam des ermordeten Basileus Leon V. wird aus dem Palast getragen (Madrid, Cod. Vitr. 26–2, fol. 26v, Detail), aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Skylitzis_Chron icle_VARANGIAN_GUARD.jpg

Der Palast ist seitlich und rückwärtig von 15 zum Teil bärtigen Soldaten umgeben, welche die Bildinschrift als οἱ τὴν αὐλὴν φυλάττοντες (»Palastwachen«)

615 Oben, S. 173. 616 Madrid, Cod. Vitr. 26–2, fol. 26v, obere Hälfte. Vgl.Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 65f. bzw. Abb. 50 und hier Abb. 3. Es handelt sich um den Illuminator A1. Die zugehörige Textstelle findet sich bei Skylitzes, Λέων ὁ Ἀρμένιος 11, S. 22f.

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ausweist und die alle mit Helm, Skaplion und Ring- oder Lamellenpanzer gerüstet sind; fünf von ihnen tragen sichtbar Rundschilde, einer einen tropfenförmigen Schild, und über ihre Köpfe ragen zahlreiche Spitzen von Waffen hinaus, welche sie senkrecht oder nahezu senkrecht in der Hand halten. Bei diesen Waffen handelt es sich teils um Speere, wobei an vier von ihnen wehende Banner befestigt sind. Zum größeren Teil aber tragen die Wachen langstielige Streitäxte, die mitunter an die Schulter gelehnt zu sein scheinen. Die Schneiden der Äxte sind konvex gebogen und ausgesprochen lang, die Axtblätter verjüngen sich zur Öse hin stark, und die Stiele ragen ein gutes Stück über die Ösen hinaus. Antike Vorbilder für solche langstieligen Äxte finden sich nicht. Taxiarchis G. Kolias erkannte in der konkreten Ausformung der Waffenköpfe eine persische Form, und in der Tat zeigen wikingerzeitliche Fundstücke von Axtköpfen aus Skandinavien ein erheblich anderes Längenverhältnis zwischen Schneide und Befestigungsöse.617 Funde des skandinavischen Hochmittelalters jedoch, etwa vom Schlachtfeld bei Grathe Hede, wo 1157 Valdemar der Große seinen Gegner Svend III. besiegte, oder aus Norwegen um die gleiche Zeit ähneln den Äxten im Madrid-Skylitzes schon sehr viel mehr: Hochmittelalterliche Streitäxte weisen längere, dünnere Blätter auf als ihre wikingerzeitlichen Vorgänger; die konvexe Schneide ist um ein Mehrfaches länger als die schlanke Öse.618 Insofern muss man aus der Miniatur keineswegs schließen, es handle sich nicht um »Dänenäxte«, welche der Teppich von Bayeux übrigens sehr ähnlich darstellt und Quellen des 12. Jahrhunderts durchgehend mit »Dänen« assoziieren.619 Eine realienkundliche Lesart der Darstellung bietet sich daher und aufgrund der Abwesenheit antiker Vorbilder an, im vollen Bewusstsein um die Risiken einer solchen Interpretation ohne Vergleichsmaterial aus anderen illuminierten Chroniken. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist indes, dass in der Imagination des byzantinischen Illuminators ein erheblicher Teil von »Palastwachen« mit langstieligen Äxten ausgestattet zu sein hat, welche weder die Historiographie vor Psellos noch Konstantinos’ VII. Zeremonienbuch mit einer konkreten Vokabel benennen620 oder als ethnisches Distinktionsmerkmal zuordnen. Die Illumination im Madrid-Skylitzes ist als Repräsentation der Vorgänge im Jahr 820 als anachronistisch anzusprechen, zeigt aber dafür umso deutlicher die Vorstellungswelt des 12. Jahrhunderts. Die Handschrift selbst entstand im späteren 617 Kolias, Byzantinische Waffen [1988], S. 162–172, hier 170; so auch Bruhn Hoffmeyer, Military Equipment [1966], S. 111f. (vgl. ebd., Fig. 18), die ebenfalls mit dem Breitenverhältnis von Schneide und Öse argumentiert. Liestøl, Øks [1976] bestätigt die Differenz im Aussehen der Axtköpfe für die Wikingerzeit. 618 Liestøl, Øks [1976] und oben, Anm. 585. Vgl. zur Óláfs Ikonographie mit der Axt als Attribut Lidén, Olav den helige [1999], S. 211–219. 619 S. oben, S. 213 mit Anm. 585. 620 Zu De cerimoniis oben, S. 86f.

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12. Jahrhundert in Messina; ihre Illuminationen gehen indes auf einen etwas älteren Archetyp zurück, der Illuminationen aus anderen bebilderten Chroniken importierte, die sich von der schriftlichen Darstellung bei Skylitzes unterscheiden. Da höchstwahrscheinlich auch die Epitome¯ historio¯n des Ioannes Zonaras zu den Vorlagen gehörte, muss dieser Vorläufer nach 1118 entstanden sein.621 Damit fällt der Archetyp zum Bildprogramm des Madrid-Skylitzes, für den an den Palast Wachen mit skandinavischen Streitäxten gehören, in genau den Zeitraum von Ioannes’ Herrschaft, welcher von der Stille der historiographischen Texte geprägt ist. Auch an anderen Stellen der Handschrift werden Äxte dargestellt. Der gleiche byzantinische Illuminator, der auch die Palastwachen malte, stellt einige Folien später die Belagerung von Samosata am Euphrat durch Michael III. in der Mitte des 9. Jahrhunderts dar,622 bei der drei bartlose Belagerer, die keine besonderen ikonographischen Merkmale aufweisen, mit Zimmermannsäxten vor den Toren der Stadt stehen. Diese Äxte weisen gerade Schneiden, einen Dorn auf Gegenseite und einen kurzen Stiel auf.623 Auch die Arbeitsäxte, die ein Lateiner bei der Darstellung von Fundamentarbeiten für einen Sommerpalast Romanos’ II. (959– 963) darstellt,624 besitzen schmale, gerade Blätter und kurze Stiele. Streitäxte des oben beschriebenen Typs mit langer Schneide dagegen schildert ein dritter Lateiner, der an der Handschrift arbeitete: 921/22 wurde Ioannes Mouzalon, einer der ersten strate¯goi des thema Kalabrien, aufgrund seiner drückenden Herrschaft von Einheimischen ermordet; drei Mörder werden je mit einem Streitkolben, einer Lanze und einer langstieligen Axt gezeigt.625 969 eroberte der strate¯gos Michael Bourtzes Antiochia durch Verrat; die Illumination zeigt ihn, wie er mit einer langstieligen Streitaxt weit ausholt, um mit ihr statt wie im Text mit seinem Schwert den Bolzen des Schlosses am Stadttor zu zerschlagen.626 Die langstielige Streitaxt, welche die Byzantiner nicht gekannt hatten und die von skandinavischen Migranten ins Mediterraneum gebracht worden war, stellte mithin im 12. Jahrhundert einen selbstverständlichen Bestandteil des Bildes vom Palast und von der Kriegsführung allgemein dar, blieb aber im Sprachgebrauch zugleich das wichtigste Erkennungsmerkmal für skandinavische und englische Soldaten. Der Terminus πελεκυφόροι (Axtträger) bildete nicht allein eine

621 Alle Informationen zur Geschichte des Madrid-Skylitzes stammen aus Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 394–397 622 Fol. 72r, Illuminator A1. Analyse bei Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 116. 623 Dawson, Suntagma Hoplôn [2002], S. 84 identifiziert diesen Typus als distralion. 624 Fol. 141v., Illuminator B1. Analyse bei Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 181. 625 Skylitzes, Νικηφόρος ὁ Φοκάς 5, S. 263; fol. 147r, Illuminator B3. Analyse bei Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 187f. 626 Skylitzes, Νικηφόρος ὁ Φοκάς 17, S. 273; fol. 153v, Illuminator B3. Analyse bei Tsamakda, Illustrated Chronicle [2002], S. 194.

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Funktionsbeschreibung am Hof, wie sie sich seit Michael Psellos anbahnte und bei Nikephoros Bryennios und Anna Komnene stabil geworden war, sondern zugleich ein ethnographisches Synonym zu Βάραγγοι. Das Ineinandergreifen von Sprache und Bildwelt – wenn auch der Madrid-Skylitzes hieraus nur einen äußerst begrenzten Ausschnitt darstellt – belegt die durchgehende Präsenz von Warägern im 12. Jahrhundert. Manuel Komnenos Für die Zeit Manuels, der erheblich aggressiver als sein Vater die Macht von Byzanz an der Adria, in Kleinasien und der Levante auszudehnen strebte, dabei grundsätzlich Entscheidungsschlachten suchte und unter dem die Militarisierung der Hofgesellschaft ihren Höhepunkt erreichte,627 sind etwas mehr Informationen über Waräger verfügbar, obschon die Quellensituation mit Ioannes Kinnamos und Niketas Choniates sich nicht grundlegend anders ausnimmt als für Ioannes II. auch: Kinnamos verweist erstmals 1165 auf seine Augenzeugenschaft,628 und Choniates rückte erst unter den Angeloi ins Zentrum der Macht. Darüber hinaus betonen zwei bald nach Manuels Inthronisierung 1143 entstandene Enkomia, dass es beim Tode Ioannes’ II. wohl zu einer ähnlichen Situation kam wie schon 1118: Ein Panegyrikos auf den Patriarchen Michael Oxeites, der ein eingeschobenes Enkomion auf Manuel enthält und vor dem Tod des Patriarchen 1146 verfasst wurde, berichtet eine andere Version von der Nachfolge als die beiden Chronisten.629 Ioannes Komnenos befand sich seit 1142 auf einem Feldzug, welcher den Ostweg ins Heilige Land über Attaleia sowie dessen Hinterland sichern und außerdem zumindest Antiochia unter byzantinische Oberherrschaft bringen sollte.630 Auf diesem Feldzug starben sein ältester Sohn und Symbasileus Alexios sowie dessen jüngerer Bruder Andronikos. Da Raimond von Antiochia sich unkooperativ zeigte, überwinterte Ioannes in Kilikien, um nach der Überwinterung Antiochia zu belagern, starb jedoch im April 1143, höchstwahrscheinlich bei einem Jagdunfall.631 Laut den Chroniken 627 Kazhdan, Aristocracy [1984]; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 413–434; Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 180f.; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 227–230. 628 Kinnamos, ed. Brand [1976], S. 3f. 629 B52 (Enkomion), B71 (Niketas Choniates). B53 (ein Enkomion von Michael Italikos) erwähnt nur vage Manuels geschickten Umgang mit den Barbaroi im Kontext seiner Herrschaftssicherung. 630 Vgl. Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten [1981], S. 126–130. 631 Browning, Panegyrikos Browning [1961], S. 229–232, der ebd. auch das Enkomion (B52) ediert, liest aus diesem Text entgegen allen anderen, byzantinischen, westeuropäischen, armenischen wie arabischen Quellen, die alle aus einer offiziösen Quelle informiert sind, einen Hinweis darauf, dass Ioannes II. im April 1143 auf dem Heerzug nach Antiochia in

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designierte er seinen vierten und jüngsten Sohn Manuel, der sich bei ihm befand, aufgrund von dessen besserer Eignung zur Herrschaft und überging damit den dritten Sohn Isaakios, der sich in Konstantinopel aufhielt. Damit wurde eine Sukzessionskrise ausgelöst, die der μέγας δομέστικος Ioannes Axouchos löste, indem er von Kleinasien nach Konstantinopel vorausreiste, den ahnungslosen Isaakios Komnenos überrumpelte und im Pantokrator-Kloster einsperrte, der sich erwartungsgemäß – nunmehr kaltgestellt – mit der Nachfolge des jüngeren Bruders nicht einverstanden gezeigt habe. Axouchos habe zudem die Palastwache (τῶν βασιλείων φυλακή) und den Klerus an der Hagia Sophia auf Manuels Seite gezogen.632 Das sehr viel früher als die Chroniken entstandene Enkomion hingegen legt keine Designation des Benjamin durch den Vater nahe, sondern suggeriert, dass es Manuel gelang, die Armee in Kilikien auf sich einzuschwören, ohne dass der im Sterben liegende Vater hierzu etwas getan habe. Die spontane Akklamation schließt eine Aufzählung der Menschenmenge ein, die Zivilisten und Soldaten aller Coleur, Kavallerie wie Infanterie, umfasst habe; näher beschrieben aber werden allein »οἱ ἑτερέστομοι πελέκεις αἴροντες, οἳ εκεῖθεν ἡμῖν ἥκουσιν οὗ ὁ βόρειος πόλος ὀρθὸς ἐφέστηκε, οἱ ἀγχοῦ τῆς βασιλικῆς αἴγλης ἱστάμενοι, καὶ οἱ καθ’ αἷμα τούτῳ προσήκοντες καὶ οἷς εὔνοια τὴν πλησιότητα δέδωκε.« »diejenigen, die die einschneidigen Äxte tragen, die zu uns gekommen sind von daher, wo der nördliche Pol sich befindet, die nahe dem kaiserlichen Glanz stehen, die zum Blutvergießen zu ihm gekommen sind und denen das [kaiserliche] Wohlwollen die Nähe gewährt.«633

Der im Feld stehende Basileus musste also eine nicht unerhebliche Menge Waräger bei sich gehabt haben. Ähnlich lässt sich eine nicht eindeutige Passage in einem Enkomion des Michael Italikos über Manuel deuten, die betont, der Basileus habe im Moment der Krise entschlossen gehandelt, Konsens über seine Herrschaft erzeugt, aufständische Verwandte zum Schweigen gebracht und »die Barbaroi ringsumher« (οἱ κύκλῳ βάρβαροι) zum Stillhalten gebracht,634 wobei nicht eindeutig ist, ob der Lobredner die ihn umgebenden Barbaren in der Armee oder die Byzanz bedrohenden Barbaroi außerhalb der Grenzen meint. In jedem Fall verließ sich Manuel, wie schon das erste Enkomion betont, im Rahmen seiner kriegerischen Politik auf seine Axtträger: Als die byzantinische Kilikien sich nicht versehentlich auf der Jagd an einem Giftpfeil verletzte, sondern einem Anschlag auf sein Leben zum Opfer fiel. Sie wird zurückgewiesen von Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 141, S. 106; vgl. für die konventionelle Darstellung Chalandon, Jean II et Manuel I, 1 [1912], S. 191–193. 632 NC, Βασιλεία Μανυὴλ τοῦ Κομνηνού 1, S. 48f. 633 Β52. Benedikz erwähnt das Enkomion in seiner Revision von Blöndal, S. 232 auf S. 153f. in Anm. 5. 634 B53.

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Flotte im Winter 1148/49 das von Normannen eroberte Corfu (Kerkyra) belagerte, während der vom Wetter zurückgehaltene Manuel mit seiner Armee in Thessalien überwinterte, wurde der Befehlshaber, der megas doux Stephanos Kontostephanos, von den Trümmern einer geborstenen Belagerungsleiter tödlich verwundet.635 Der Sterbende, der seinen Tod aus Gründen der Moral geheim halten wollte, habe laut Ioannes Kinnamos zwei Männern seine letzten Befehle erteilt: Seinem Sohn Andronikos Konstostephanos und dem ἐξάρχων τῶν πελεκηφόρων, dem Kommandeur der Axtträger, dessen Namen man nicht erfährt. Wie schon Nabites bei Anna Komnene im Bericht über Schlachten der Jahre 1081 und 1087636 begegnet hier ein Waräger-Kommandant im direkten persönlichen Umfeld des Befehlshabers; der eigene Sohn und der Axtträger reichen dem bald nach 1180 schreibenden Kinnamos an dieser Stelle, um die Vertrauten des Kontostephanos zu repräsentieren. Bemerkenswerterweise werden weder Nabites, der unter Alexios diente, noch des Konstostephanos Vertrauter als akolouthoi bezeichnet, sondern als ἡγεμών beziehungsweise ἐξάρχων der Warangoi; Ioannes Apokaukos nennt in einem Rechtsgutachten Theodoros, den Kommandanten einer Warägergarnison in Ioannina wahrscheinlich während des späten 12. Jahrhunderts, als πριμμικήριος τῶν ἐν Ἰωαννίνοις βαράγγων, was zugleich belegt, dass Warangoi wie schon im Jahrhundert zumindest in Kleingruppen auch jenseits der Hauptstadt anzutreffen waren.637 Hier findet sich abermals eine Variation des Kommandententitels, wobei nicht zu entscheiden ist, ob der Träger des Allerweltsnamens Theodoros ein Byzantiner oder ein Skandinavier war, dessen Name, etwa Þórir, entsprechend gräzisiert worden sein könnte.638 Unbestreitbar bleibt indes, dass der akolouthos vor dem 14. Jahrhundert niemals als Befehlshaber der Warangoi firmiert, sondern dass deren Be-

635 Ioannes Kinnamos (B59). In einem anderen Zusammenhang begegnen die Axtträger in Kerkyra auch bei NC (B72). 636 B43+B44, B46. 637 B89. Die Identifikation mit Theodoros Diabatenos bei Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 274f. aufgrund des Kommentars bei Bee-Sepherle¯, Prosthe¯kai kai Parate¯re¯seis 1976 [1976], S. 171 ist dort tatsächlich gar nicht gegeben, der Warägerkommandant Theodoros bleibt anonym. Er ist höchstwahrscheinlich dem Zeitraum kurz vor oder um 1200 zuzuordnen. Ioannes Apokaukos (ca. 1155–1233) war seit 1199/1200 Metropolit von Naupaktos und über die Verhältnisse im Suffraganbistum Ioannina zweifellos gut informiert. Es ist freilich nicht zu bestreiten, dass eine Einheit aus Warangoi nach 1204 im Despotat Epiros weiter existiert haben kann, worauf allerdings keine andere Quelle einen Hinweis bietet. Als wahrscheinlichste Lösung bleibt daher festzuhalten, dass Apokaukos sich hier nach 1219 auf Vorgänge der vergangenen Jahrzehnte bezieht. Zur Person s. Angold, Church and Society [1995], S. 213–231. 638 Vgl. Bagge, Theodoricus Monachus [1989], S. 115. Analog wird der Name Eysteinn in Theodoricus monachus’ Historia de antiquitate regum Norwagiensium (1183–1185) bei positiv besetzten historischen Figuren zu Augustinus latinisiert (Scheel, Lateineuropa [2012], S. 171).

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zeichnungen instabil sind und im Gegensatz zur spätbyzantinischen Zeit keine eindeutige Einbindung in ein übergeordnetes System etwa des Palastzeremoniells erkennen lassen.639 Niketas Choniates erwähnt den Tod des Kontostephanos im Beisein seiner Vertrauten nur sehr kurz,640 stellt aber fest, dass Manuel nach der Aufgabe der Festung durch die Normannen 1149 eine starke Garnison aus Germanoi dort zurückgelassen habe. Das antike Ethnonym ist in seiner Chronik uneindeutig,641 doch darf man aus der Wahl eben jener Bezeichnung für Lateiner und aus der herausgehobenen Bedeutung der Axtträger bei der Belagerung bei Kinnamos darauf schließen, dass »Germanoi« Waräger jedenfalls mit einschließen. Dass zu diesem Zeitpunkt zumindest im Feld die Axtträger auch den Schutz der kaiserlichen Person übernommen hatten, der im 11. Jahrhundert Aufgabe der hetaireia gewesen war, zeigt des Kinnamos Darstellung von Manuels triumphalem Einzug nach Antiochia an Ostern 1159.642 Auf seinem Zug nach Osten war es ihm in erster Linie darum gegangen, der byzantinischen Oberherrschaft über Armenien und Outremer durch seine Präsenz Ausdruck zu verleihen; politische Unruhe in Konstantinopel nötigte ihn zur raschen Rückkehr.643 Zuvor jedoch konnte er Rainald de Châtillon, den Fürsten von Antiochia, zu einer publikumswirksamen, demütigenden Unterwerfung nötigen, als Stadtherr vor König Balduin III. von Jerusalem nach Antiochia einziehen und sich demonstrativ acht Tage im Palast aufhalten.644 Hiervon hätten ihn die Lateiner abzuhalten versucht, indem sie Manuel das Risiko eines Anschlags auf sein Leben vor Augen führten, doch hätte Manuel sie durchschaut und geantwortet, von Balduin, der weit hinten im Zug reiten würde, ginge keine Gefahr aus, von Rainald, der als Strator fungieren müsse, ebenso wenig, doch zur Sicherheit werde er 639 Zu diesem Problem in der Forschungsgeschichte auch oben, S. 162. Es ist kein Zufall, dass das Kapitel »Keisarinn og hirðin. Skyldur Væringja sem lífvarðarsveitir« (»Der Kaiser und der Hof. Die Pflichten der Waräger als Leibgarde«)/»The Emperor, his Court, his guards and his City« bei Blöndal, S. 278–297/177–185 sich ohne Ausnahme auf das Zeremonienbuch des Pseudo-Kodinos (1347–1348, B114-B125) sowie andere spätbyzantinische Zeugnisse und die Grettis saga (NII 21) bezieht. Da hier der akolouthos als Oberkommandierender der Warangoi genannt wird, verfolgt Blöndal auch seine Rolle in De cerimoniis aus dem 10. Jh., wo keine Warangoi begegnen und er auch in keinem besonderen Verhältnis zu den Rus’ am Hof steht. Die dezidiert spätbyzantinische Palastordnung wird auch in diesem Zusammenhang unten, S. 281ff., behandelt. 640 B72. 641 Zur Ambiguität des Terminus Ditten, »Germanen« und »Alamannen« [1985], S. 26–29, zur Problematik bei NC oben, S. 195f. 642 B60. Vgl. die Analyse bei Anca, Herrschaftliche Repräsentation [2010], S. 49–51; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 65–74; Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten [1981], S. 170–180; Chalandon, Jean II et Manuel I, 2 [1912], S. 443–456, 517–528. 643 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 68f. 644 Anca, Herrschaftliche Repräsentation [2010], S. 170–172; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 67–72.

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eine »große Schar (ὅμιλος) der axttragenden Barbaroi« um sich haben, wie es eben der Gewohnheit (ἔθος) entspräche. Dennoch sei Manuel vorsichtig genug gewesen, doch lieber einen doppelten Brustpanzer unter seinen Gewändern zu tragen. Auch zum prunkvollen Einzug des Basileus also gehören die Axtträger in nicht geringer Zahl und in der unmittelbaren Nähe des Herrschers; ihre Präsenz sichert hier die Wirksamkeit der byzantinischen Machtdemonstration in einem zumindest latent feindlichen Kreuzfahrerumfeld. Die spontane Assoziation von Skandinaviern mit Graeci, welche die Profectio Danorum in den 1190er-Jahren den englischen Kreuzfahrern in Akkon zuschreibt,645 kam nicht von ungefähr. Das Wissen um die Nähe der Axtträger und besonders ihrer Kommandeure zum Feldherrn, welcher oft genug Manuel selbst war, erlaubt die Hypothese, dass sie auch beim größten byzantinischen Sieg jener Zeit im Krieg gegen die Ungarn 1167 beteiligt waren, der letztlich aus byzantinischer Intervention in ungarische Thronfolgestreitigkeiten unter den Árpáden resultierte, mit der Manuel seit dem Tode Gézas II. auf eine ungarische Abhängigkeit von Byzanz zielte.646 Stephan III. von Ungarn hatte sich gegen seine von Byzanz protegierten Gegner durchgesetzt und in den zwei Jahren zuvor die byzantinischen Festungen Sirmion und Zeugminon in Pannonien eingenommen, woraufhin Manuel die byzantinische Armee auf den Balkan führte. In der Entscheidungsschlacht bei Sirmion, die einen durchschlagenden byzantinischen Sieg bringen sollte, kommandierte Andronikos Kontostephanos, der bereits auf Corfu in Begleitung des Warägerkommandeurs begegnete, die Hauptstreitmacht. Er hatte laut Kinnamos »viele bemerkenswerte Männer, die üblicherweise immer unter dem [Befehl des] Krieg führenden Basileus standen« (πολλοί ὀνόματος ἀξιούμενοι ἄνδρες, οἱ ἔθος ἀεὶ ὑπὸ βασιλεῖ πολεμοῦντι τάττεσθαι ἦν), bei sich.647 Wiederum wird also auf die Gewohnheit (ἔθος) verwiesen, und bemerkenswert erscheint, dass diese Gruppe normannische Söldner nicht einschließt, die als Ἰταλοὶ οἱ ἐκ τοῦ μισθοφορικοῦ mit einem »und« zu ersterer Gruppe addiert werden. Nach den Erfahrungen aus Kerkyra und Antiochia muss man auch aufgrund des Sprachgebrauchs damit rechnen, dass diese Gruppe der »Bemerkenswerten« zwar bei weitem nicht allein aus Axtträgern bestand, dass aber letztere zu jenen persönlichen Truppen des Basileus zählten.648 645 D20. 646 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 78–81; Makk, Árpáds and Comneni [1989], S. 88–106. 647 B61. 648 Blöndal schließt diese Stelle nicht in seine Darstellung ein. Dass sie hier gleichsam entgegen dem ethos der Untersuchung integriert wird, obschon nicht explizit von Warangoi die Rede ist, begründet sich aus dem Rückbezug auf eben jene »Gewohnheit« in der Zusammensetzung der Truppe, welche laut Kinnamos selbst den Basileus begleitet und explizit (B60) Warangoi umfasst. Eine solche Rechtfertigung aus dem Sprachgebrauch des Autors selbst ist etwa bei Anna Komnene und anderen früheren Autoren nicht gegeben.

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Ähnliches deutet sich im Jahr darauf an, als Manuel in Serben intervenierte, wo Stefan Neeman seit 1166 die Macht an sich gerissen hatte. Niketas Choniates hebt hervor, Manuel habe schnell reagieren können, indem er seine »Reiterei« (ἱππάσιμα) und seine »Leibwache« (δορυφόροι) mobilisiert habe und mit ihnen über die Grenze gezogen sei.649 Niketas grenzt hier unmittelbar in der Hauptstadt zur Verfügung stehende Truppen vom Rest der Armee ab; unter den δορυφόροι sind bei Niketas Choniates mit allergrößter Wahrscheinlichkeit die Axtträger zu finden, denn er spezifiziert sie an anderen Stellen explizit als πελεκυφόροι δορυφόροι.650 Die besondere Nähe der Skandinavier und Engländer zum Basileus bezieht sich in der Zeit Manuels nicht allein auf den Einsatz im Feld, sie geht mit einer besonderen Verfügbarkeit zumindest eines erheblichen Teils der Warangoi in der Hauptstadt einher, welche sie von anderen Söldnereinheiten abhebt. Dies bestätigt sich am Beginn von Manuels Krieg mit Venedig, als er am 12. März 1171 die Venezianer in Konstantinopel und überall in seinem Herrschaftsraum festsetzen und ihre Vermögen konfiszieren lässt.651 Ein großes venezianisches Schiff, das entkommt, wird hier von mit Axtträgern bemannten byzantinischen Kriegsschiffen verfolgt, was auf zweierlei schließen lässt, dass nämlich die Axtträger seemännische Erfahrung besaßen652 und dass sie rasch genug verfügbar waren, um Schiffe zur Verfolgung eines soeben entflohenes Fahrzeugs bemannen 649 B73. 650 B81. Die Konjektur erfährt ihre Rechtfertigung also abermals aus dem Sprachgebrauch. Die Assoziation mit »(Leib-)Wachen« ([σωματο-]φύλακες, ὑπασπίσται oder δορυφόροι ist bei NC so eindeutig wie bei keinem anderen Autor vor 1204 (s. die Formulierungen in B70, B76-B78, B83+B84, B88). Dies sowie die folgenden Verwendungen der Axtträger wiederum sind die deutlichsten Indizien für ihren Status als nunmehr eigenes tagma. Zu diesem Schluss kommt auch Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 124. 651 NC (B74). Zum Hintergrund des Konflikts mit Venedig vgl. Lilie, Handel und Politik [1984], S. 485–510; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 91–95. Beide betonen, dass Manuels Kommandoaktion gegen die Venezianer auf einem Pakt mit Friedrich Barbarossa beruhte, in welchem jedoch beide Kaiser mit jeweiligen Hintergedanken bezüglich ihrer Ziele in Italien eingetreten waren. Letztlich habe Friedrich das doppelte Spiel geschickter gespielt, erfolgreich Manuels Ambitionen in Italien hintertrieben und zudem Sizilien und Byzanz entzweit. Während Lilie, S. 508f. Manuels hieraus resultierende Isolation im Westen betont, warnt Magdalino, S. 94f. vor einer Überbewertung der venezianisch-sizilianischen Gegner. Pisaner und Genuesen standen Manuel ebenso weiterhin zur Verfügung wie eine dichte Kommunikation mit dem Papst. 652 Ein naheliegender Schluss, den auch Blöndal, S. 182–184/110f., 191f./116f. und 237f./158 betont. Bemerkenswerterweise verzeichnet er B74 nicht, sondern bezieht sich im Kontext des Konflikts mit Venedig auf eine Erwähnung des akolouthos Aaron als Kommandeur der byzantinischen Flotte bei Kinnamos 6,10, S. 284, der, wie bereits gezeigt, in keinem besonderen Verhältnis zu den Warangoi stand. Auch sonst können sich Verweise auf Waräger in der byzantinischen Flotte nicht auf positive Belege stützen. Waräger begegnen nur zweimal in einem solchen Kontext: Einmal bei Attaleiates 1077 (B13) und 1171 bei NC. Von den Schiffen, welche Sigurðr Jórsalafri (NI 145) und auch der Jarl Ro˛gnvaldr (NI 59) zurückließen, liest man nirgends im byzantinischen Quellencorpus.

Komnenoi, Kreuzfahrer und Warangoi

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zu können. Dies war nur möglich, wenn sie ihr Quartier innerhalb der Stadtmauern hatten, sei es nun im Palast, wo eine begrenzte Anzahl an Leibwächtern sich aufhielt, oder außerhalb.653 Dass Warangoi auch als Gefängniswärter in der Hauptstadt fungierten, legt ein volkssprachliches Gedicht von Michael Glykas um die Jahrhundertmitte nahe, in welchem unter anderem vom Alptraum eines Gefängnisinsassen erzählt wird, in dem »brüllende Warangoi« vorkommen.654 Die Gründe dafür, diese Passage autobiographisch aufzufassen, sind freilich ausgesprochen dürftig, ebenso wie die Annahme bei Ellis Davidson, dass die Warangoi im Noumera-Gefängnis am Großen Palast stationiert gewesen seien, das an einer ganz anderen Stelle des Gedichts genannt wird.655 Letztlich belegen die Verse, die wohl als literarische Fiktion anzusprechen sind und gerade deshalb in Volkssprache formuliert wurden, dass die im kollektiven Bewusstsein sehr präsenten Warangoi zu Manuels Zeit mit Folter und Gefangenschaft assoziiert wurden, womit sich einerseits der Kreis zu ihrer frühesten Erwähnung bei Psellos schließt und sich andererseits eine Vorausdeutung auf ihre Rolle in der spätbyzantinischen Zeit verbindet.656

3.4.

Andronikos I. Komnenos, die Angeloi und ihre Warägergarde

Niketas Choniates Dass sich zur Zeit Manuels eine erhebliche Anzahl an Warägern in der Stadt befunden haben muss, wird jedoch weniger deutlich in der Selbstverständlichkeit ihrer Verfügbarkeit zu verschiedenen Gelegenheiten als in zahlreichen Ereignissen der turbulenten 24 Jahre, die auf seinen Tod 1180 folgten. Allein ein Blick auf die in diesem Zeitraum einmalig hohe Frequenz an Erwähnungen bei Niketas 653 Über den Ort des warägischen »Hauptquartiers« stellt Blöndal, S. 291–291/181f. Spekulationen an, ebenso Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 183–186. Blöndal geht davon aus, dass die Waräger als Leibwache an allen Orten, an welchen die Basileis sich aufhielten, über Räumlichkeiten verfügten, ihr Quartier zwischen dem Mangana-Palast und dem NeorionHafen am Goldenen Horn hatten. Nachweisbar sind sie dagegen einzig und allein im ChalkeTor des Großen Palastes, und das gleich mehrfach im 12. Jh. bzw. um 1200. Weder Blöndal noch Ellis Davidson kannten indes die in dieser Hinsicht wichtigste Quelle von Nikolaos Mesarites, die weitere Spekulationen obsolet macht. Vgl. unten, S. 242. 654 B56, bei Blöndal nicht behandelt. 655 Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 185 nimmt den Bericht in ihren Überlegungen zum »Hauptquartier« der Warangoi wörtlich. Bourbouhakis, ›Political‹ Personae [2007], bes. S. 66–75 weist darauf hin, dass der autobiographische Bezug erst durch einen Schreiberkommentar in der einzigen Handschrift des 13. Jhs. hergestellt wird. Er verweist auf klare formale und inhaltliche Ähnlichkeiten zum Pto¯choprodromos, einem anderen fiktionalen, unterhaltenden und paränetischen Werk des 12. Jhs., in welchem der autodiegetische Erzähler ebenso wenig mit dem Autor gleichzusetzen sei. 656 S. unten, S. 284ff.

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Choniates und Nikolaos Mesarites steht in diametralem Widerspruch zur Feststellung in Benedikz’ englischer Revision der »Væringjasaga«:657 There is not much evidence of Varangians in action during the short reigns of these last inglorious representatives of the Comnenian house.

Das genaue Gegenteil ist der Fall. Benedikz ließ sich hier augenscheinlich von der Annahme leiten, die »Warägergarde« sei in der damals noch als kataklystisches Ereignis eingeschätzten Schlacht von Myriokephalon im September 1176 praktisch ausgelöscht worden;658 außerdem waren Blöndal, ihm und anderen die besonders große Aufmerksamkeit, welche Nikolaos Mesarites, Euthymios Tornikes und Nikephoros Chrysoberges des Axtträgern entgegenbringen, nicht bewusst.659 In der Tat war der byzantinische »Kreuzzug«,660 der auf die Zerschlagung des Sultanats von Konya zielte, auf diese Weise die Krönung von Manuels Expansionspolitik dargestellt und die Position des Basileus an der 657 Blöndal, n.v./160. Dieser Satz ist von Benedikz gegenüber der Vorlage (S. 241) ergänzt worden. Er fasst zwar den Eindruck auch der isländischen Version treffend zusammen, die für die folgenden Jahre sehr knapp ausfällt, überzeichnet aber einmal mehr und zudem in wertender Weise das objektivere Original. Ebenso wertet Blöndal, S. 240, den Tod Manuels als schweren Einschnitt v. a. für die Außenwahrnehmung, betont aber, dass Byzanz weiter existierte, wohingegen Benedikz, S. 159, die Formulierung wählt: »[…] and with him died the Empire that shone in the eyes of the Western contemporaries with a glow that was to produce the envy that led to the third and most terrible disaster of all.« (vgl. auch oben, S. 159f.). Einerseits deformiert diese etwas pathetische Feststellung Blöndals nüchterne Aussage, andererseits hält sie den Erkenntnissen der aktuellen Forschung zum Ursachenkomplex für die Ereignisse des Vierten Kreuzzugs nicht stand (dazu unten, S. 250ff.). 658 Blöndal, S. 238f./158f. Die Aussage entspricht den Interpretationen etwa bei Chalandon, Jean II et Manuel I, 2 [1912], S. 503–513; Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], S. 323; Runciman, Kingdom of Jerusalem [1952], S. 412–414. Eine Neubewertung der Schlacht auf quellenkritischer Basis begründete Lilie, Die Schlacht von Myriokephalon [1977], bes. S. 268–275, der betonte, die verlorene Schlacht stelle keinen Untergang der Armee dar und begründe keinen Niedergang der byzantinischen Macht; hierfür seien andere Ursachen, vor allem die Feudalisierung der Wirtschaft, zentrifugale Tendenzen in der Politik und die Herrschaft unfähiger Kaiser namhaft zu machen. Auch wenn jüngere Analysen die negative Bewertung der »Feudalisierung« in Byzanz in Frage stellen (s. oben, S. 170 mit Anm. 400), bleibt das relativierende Urteil über Myriokephalon gültig (vgl. Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 17, 98–104 gegen Ahrweiler, L’idéologie politique [1975], S. 85f.; Angold, The Byzantine Empire [1984], S. 192–194 und Browning, The Byzantine Empire [1980], S. 126–128, 131f.). Angold, The Road to 1204 [1999], S. 267 schließt sich indessen Lilies und Magdalinos Position im Wesentlichen an. 659 S. B63-B69. 660 Die Einschätzung als Kreuzzug findet sich bei Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 96–98 und Stützt sich u. a. auf Lilie, Die Schlacht von Myriokephalon [1977], bes. S. 202–204. Grundsätzlich ging es Manuel um die Sicherung Kleinasiens sowie um die Verdichtung der Beziehungen zu den Kreuzfahrerstaaten; laut seiner Enkomiasten war er bereit, im heiligen Krieg gegen die Seldschuken zu fallen. Hier ist demnach eine Rezeption des Kreuzzugsgedankens zumindest in höfischen Kreisen erkennbar. Vgl. die Diskussion über die byzantinische Rezeption der Kreuzzüge, oben, Anm. 380.

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Spitze der Kreuzfahrer gesichert hätte, in der Klause von Tzibiritze in eine der größten Schlachten des 12. Jahrhunderts gemündet. Sie ging strategisch verloren, weil Manuel aufgrund von Versorgungsproblemen die Passage erzwingen musste, ohne zuvor hinreichend aufgeklärt zu haben. Zudem hörte er, wie schon einst sein Großvater bei Dyrrhachion, nicht auf den Rat der erfahrenen Kommandanten zur Vorsicht. Nachdem die Infanterie-Vorhut des langgezogenen, sich in Marschformation bewegenden Heeres die Engstelle passiert hatte, wurden die verschiedenen Kontingente der Hauptstreitmacht angegriffen und nacheinander besiegt; Manuels Schwiegersohn Balduin von Antiochia fiel, die Antiochener desertierten, Panik brach aus, und auch der Basileus verlor den Überblick. Dabei behinderte nicht zuletzt der zwischen Vorhut und Gros platzierte Tross eine effektive Kommunikation. Dennoch kam es im Gegensatz zur Schlacht von Mantzikert gut ein Jahrhundert zuvor außer bei den Antiochenern nicht zu Desertionen, es gelang Manuel, seine Männer um sich zu scharen, sich unter großem persönlichen Einsatz aus der Enge freizukämpfen und die Vorhut zu erreichen. Man hatte den Tross mit den Belagerungsmaschinen und zahlreiche Männer der Hauptstreitmacht verloren, von einer Vernichtung der byzantinischen Armee kann jedoch nicht einmal entfernt die Rede sein:661 Um Frieden ersuchte nicht Manuel, sondern der Sultan. Eine strategische Niederlage stellte die Schlacht vor allem deshalb dar, weil es den Seldschuken gelang, die Belagerungsmaschinen zu zerstören und damit die Hoffnung dahin war, Konya wirksam belagern zu können. Den Vergleich von Myriokephalon mit der früheren Schlacht, den Niketas Choniates Manuel hier zuschreibt und der von der früheren Forschung aufgegriffen wurde, habe jener in einem manisch-depressiven Zustand ausgesprochen.662 Angesichts des Status der Armee nach 1176 scheint er keineswegs gerechtfertigt, auch wenn Manuels Politik militärischer Stärke hierdurch erheblichen Schaden genommen hatte. Die Armee und mit ihr die Waräger waren keineswegs untergegangen, ebenso wenig wie 1081 bei Dyrrhachion, obschon Manuel selbst und nach ihm die Angeloi weitere Engländer und Skandinavier anwarben.663

661 Diese Lesart basiert auf Lilie, Die Schlacht von Myriokephalon [1977]; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993] (wie Anm. 658) und Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 126–135. 662 Vgl. NC, Βασιλεία Μανυὴλ τοῦ Κομνηνού 6, S. 191f. und Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 133–135. 663 Manuel verfasste noch 1176 im Dezember einen Brief an Henry II. von England (überliefert in der Chronica Rogeri Houedene, ed. Stubbs [1869], S. 102–104), in welchem er von englischen principes berichtet, die in seinem Dienst gestanden hätten und ihm nun vom Hergang der Schlacht in Myriokephalon berichten könnten (ebd., S. 104). Der Brief ist als einziges Selbstzeugnis Manuels über Myriokephalon von zentraler Bedeutung. S. auch Blöndal, S. 239/158.

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Bei nicht weniger als zehn Gelegenheiten nach Manuels Tod weiß Niketas Choniates innerhalb dieses relativ kurzen Zeitraums von Aktivitäten axttragender Barbaroi in Konstantinopel zu berichten; sie alle dienten politischen Absichten.664 Für diese letzten Jahrzehnte des Byzantinischen Reichs vor der Eroberung durch die Lateiner darf Niketas als bestinformierte Quelle gelten. Seine zivile Beamtenlaufbahn war zunächst in der Provinz verlaufen; seine hauptstädtische Karriere als Sekretär (βασιλικὸς ὑπογραμματεύς) hatte zur Zeit des Kinderkaisers Alexios II. oder noch unter Manuel Komnenos begonnen, war unter dem Usurpator Andronikos Komnenos unterbrochen, setzte sich aber ab 1185 unter den Angeloi rasant fort: Er hatte hohe juristische Posten inne; seit 1195 war er bis Februar 1204 λογοθέτης τῶν σεκρέτων beziehungsweise μέγας λογοθέτης und stand damit an der Spitze der Ziviladministration, jedoch offenbar ohne maßgeblichen politischen Einfluss ausüben zu können, sofern man der Erzählperspektive in seinem Werk Glauben schenkt.665 Seine Darstellung byzantinischer Geschichte des 12. Jahrhunderts ist abgesehen von volkssprachlichen Paraphrasen in vier Fassungen überliefert, einer kürzeren, vor 1204 abgeschlossenen und ursprünglich bis 1202 reichenden Redaktion, einer nach der Eroberung während Aufenthalten in Selymbria, Konstantinopel und Nikaia entstandenen, bis Ende 1207 reichenden, separat überlieferten Fortsetzung und zwei überarbeiteten Redaktionen, welche die Ursprungsfassung und die Fortsetzung miteinander verbinden. Die ältere dieser beiden Fassungen b (brevior), welche die Mehrzahl der über dreißig Textzeugen ausmacht und möglicherweise Parallel zur Fortsetzung entstand, kürzt dabei vor allem den Teil vor 1204 und revidiert Negativurteile über Herrscher, die in Nikaia inopportun schienen. Schließlich revidierte Niketas diese Fassung nochmals, wobei die Redaktion a (auctior) entstand, deren Perspektive seine Unzufriedenheit mit den Lebensumständen in Nikaia spiegelt und dabei auch das historische Urteil insbesondere über Alexios III. Angelos und andere Akteure der letzten Jahre vor 1204 aus der ex post-Perspektive erheblich verschärft, jedoch nicht bis zum Ende der ursprünglichen Fortsetzung reicht.666 Für Niketas Choniates bedeutet der Fall Konstantinopels den Verlust praktisch seines gesamten Besitzes und auch das Ende seiner Karriere; seine Position 664 B75, B77-B81, B83+B84, B86+B87. Nicht mitgezählt sind die kämpferischen Aktivitäten zur Verteidigung der Stadt 1203 (B85) und 1204 (B88). 665 Hunger, Literatur [1978], S. 229–241, hier bes. 430f.; van Dieten, Niketas Choniates [1971], S. 1–51, bes. S. 18–44: 1189 war Niketas Statthalter von Philippopolis geworden (ebd. S. 29f.), 1190 λογοθέτης τοῦ δρόμου (S. 31f.), 1190/91 κρίτης τοῦ βήλου (S. 32f.), dann ἐπὶ τῶν κρίσεων (S. 34f.), schließlich λογοθέτης τοῦ γενικοῦ (S. 36). 666 Zur Überlieferung vgl. die Einleitung der Edition durch van Dieten, S. LVIII–CI, der die Fassung a ediert; Niehoff-Panagiotidis, Narrative Bewältigungsstrategien von Katastrophenerfahrungen [2010], S. 186–191 mit Besprechung der Forschungsdiskussion um van Dietens Rekonstruktion, sowie Simpson, Before and After 1204 [2006], bes. S. 211–220.

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in Nikaia war deutlich bescheidener. Indem er die spätere Perspektive in die Überarbeitung einfließen lässt, verstärkt er noch den teleologischen Charakter seiner Narration, die in volkssprachlichen Fassungen weitertradiert wurde, bereits in spezifischen Eigenschaften Manuels den Keim des Untergangs erkennen lässt und Wegmarken der Entwicklung zum Untergang hin zu definieren sucht, wodurch Züge eines imperialen Negativtypus, der sich etwa in Andronikos I. Komnenos manifestiert, motivartig schon bei früheren Basileis und überhaupt im Verhalten der Eliten auftauchen.667 So werden etwa Manuels Verschwendungssucht, seine Begünstigung der Lateiner, die Verteilung von pronoiai an unproduktive Barbaren, die grundsätzliche Bevorzugung von Angehörigen der Komnenos-Familie zu Lasten von Experten, seine Astrologiehörigkeit und Einmischung in kirchliche Angelegenheiten und Religionsfragen wie das Verhältnis der Orthodoxie zum Islam668 und sein militärisches Fehlurteil bei Myriokephalon angeprangert.669 Auf diese Weise wird Manuel als ambivalenter Held mit den folgenden Herrschern verknüpft und eine Kausalkette erzeugt, die den Entzug von Gottes Gunst und seine Folgen 1204 anschaulich werden lässt. Jene stringente Perspektive macht die Chronik des Niketas Choniates zu einer reizvollen Gegenerinnerung gegenüber der Ἐπιτομὴ τῶν κατορθωμάτων des Hofhistoriographen Ioannes Kinnamos, erzeugt jedoch zugleich Vorbehalte gegenüber der Zuverlässigkeit des historischen Urteils, auf welchem die Forschung lange Zeit aufbaute. Dass Manuels imperiale Politik rückwärtsgewandt und angesichts der realen Möglichkeiten zum Scheitern verurteilt war, zumal sie auf »Feudalisierung«, fiskalischer Ausbeutung und Günstlingswirtschaft beruhte, Byzanz wirtschaftlich von Venedig abhängig machte und damit quasi organisch in die Dekomposition des Reichs bis 1204 mündete, ist eine Interpretation, die sich im Wesentlichen vom Geschichtsbild bei Niketas Choniates herleitet; Paul Magdalino zog es nachdrücklich und mit guten Gründen in Zweifel.670 Bezüglich der Sachinformationen hingegen besitzt des Niketas Werk vor allem für die Zeit, in welcher er als Gegenwartschronist tätig war, einen sehr hohen Wert. 667 Niehoff-Panagiotidis, Narrative Bewältigungsstrategien von Katastrophenerfahrungen [2010], S. 197–201 betont anhand eines Vergleichs zwischen Narration und sich hieraus ergebendem Geschichtsbild bei b und a nachdrücklich, dass dieses Urteil lediglich auf die naturgemäß viel intensiver rezipierte Redaktion a zutrifft, die auf diese Weise »narrative Bewältigungsstrategien« eigener Erfahrungen des Autors sichtbar mache (ebd. S. 201–203). Die Implikationen für die moderne Historiographie des Fachs, welche enormen Einfluss auf das Bild der Komnenenzeit und zumal Manuels besaßen, behandelt eingehend Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 3–20. Magoulias, Andronikos I. Komnenos [2011], S. 134f. zeigt, dass Manuel sein dunkles Spiegelbild in Andronikos I. Komnenos findet, was der Darstellungsabsicht bei NC entspricht. 668 Zu Manuel und der Kirche vgl. Angold, Church and Society [1995], S. 77–115, bes. S. 82–86, 108–113. 669 NC, Βασιλεία Μανυὴλ τοῦ Κομνηνού 1, S. 53–61; 7, S. 203–211; 7, S. 215f. 670 Vgl. hierzu die Diskussion oben, S. 170f., insb. die besprochene Literatur in Anm. 400.

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Kaum zu bezweifeln ist auch, dass das komnenische »System«, möglichst alle zentralen Schaltstellen der Macht mit Angehörigen des eigenen Familienkollektivs zu besetzen, was zudem zum Verschwinden der klassischen Ämterhierarchie führte und Nobilität nach verwandtschaftlicher Nähe zum Basileus definierte, nach Manuels Tod sein negatives Potential entfalten sollte:671 Zwar hatte das Prinzip seit Alexios Komnenos erfolgreich dazu beigetragen, die Bürokratie der Hauptstadt zu entmachten und den Militäradel, aus dem die Usurpatoren des 11. Jahrhunderts überwiegend stammten, fest an die Dynastie zu binden, doch waren mit dem Machtwachstum im Kollektiv selbst mächtige potentielle Gegner entstanden sowie sekundäre Machtzentren neben Konstantinopel. Manuel Komnenos hatte zusehen müssen, wie er die Söhne seiner älteren Brüder zufriedenstellend beteiligte, ohne seinen Vetter Andronikos vor den Kopf zu stoßen, was ihm nicht gelang. Dieser hatte sich seit den 1150er-Jahren als hartnäckiger Widersacher im eigenen Hause erwiesen und wiederholt mit Feinden des Reichs gegen Manuel paktiert, offenbar auch versucht, Manuel zu töten, und möglicherweise stand er als Wunschkandidat hinter einem Umsturzversuch des ἐπὶ τοῦ κανικελείου Michael Styppeiotes im Jahre 1159.672 Wiederholt wurde Andronikos gefangen genommen, brach aus, wurde wieder aufgenommen, geriet erneut in Zwiespalt zu Manuel, wurde zur Blendung verurteilt, hielt sich an muslimischen Höfen auf und erlangte schließlich Amnestie, wurde aber ans Schwarze Meer verbannt.673 Das ständige Lavieren Manuels und der Zwang, Andronikos immer wieder neu einzubinden, ganz abgesehen von weiteren Spannungen zwischen verschiedenen Zweigen der Komnenoi, erinnert mutatis mutandis an genau die Konflikte, welche sich um die gleiche Zeit auch im Westen, etwa in Dänemark und Norwegen, um die Herrschaft abspielen.674 Eine solche Konstellation musste keine kataklystischen Folgen heraufbeschwören, doch waren sie in dem Moment absehbar, als Manuel einen minderjährigen Sohn hinterließ, eine den Konsens garantierende, integrative Figur an der Spitze des Verbands fehlte und derart zentrifugale Kräfte freigesetzt wurden.675 671 Hierzu v. a. Lilie, Des Kaisers Macht [1984], bes. S. 116–120; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 180–227, bes. S. 217–227; Angold, The Road to 1204 [1999], S. 262–265. 672 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 198–201; Kresten, Sturz des Styppeiotes [1978], S. 49–80. 673 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 197–202; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 144f., S. 107f. 674 Vgl. hierzu Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 45–185; Bagge, Borgerkrig og statsutvikling [1986]; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 47–83, 154–176. 675 Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 83–89, 104–115 betont zwei Faktoren, nämlich den Verlust des integrierenden Oberhaupts und die damit einhergehende Verselbständigung von Usurpatoren, die nicht mehr auf Konstantinopel schauen, sondern eine komnenische Lokalherrschaft begründen; ganz ähnlich Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 217–227. Vgl. zum strukturellen Hintergrund auch Kazhdan/Cutler, Continuity and Discontinuity [1982], S. 441–448.

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Diese mit Manuels Tod einsetzende Entwicklung scheint auf das Engste mit der skandinavisch-byzantinischen Kulturbeziehung verflochten zu sein. Als Regent für den minderjährigen Alexios II. setzte sich 1180 zunächst der pro¯tosebastos Alexios Komnenos durch, der jüngere Sohn von Manuels älterem Bruder Andronikos und Gerüchten zufolge Geliebte der Kaiserinwitwe Maria von Antiochia.676 Damit hatte sich einer aus den Reihen der Komnenoi über die anderen erhoben, was es Andronikos Komnenos ermöglichte, aus dem Exil nach Paphlagonien zu ziehen und die Gegner des jüngeren pro¯tosebastos Alexios um sich zu sammeln. Darin wurde er von Manuels Tochter Maria Porphyrogennete und deren Gemahl, dem kaisar Ioannes-Renier von Montferrat, in Konstantinopel unterstützt. Ein von diesen beiden geplanter Mordanschlag auf den pro¯tosebastos Alexios im Februar 1181 kam indes nicht zur Ausführung, doch flüchteten sich Maria und der Kaisar in die Hagia Sophia, verschanzten sich dort und sammelten einheimische Truppen und Normannen (Italoi) 677 um sich. Alsbald kam es zu einer regelrechten Schlacht innerhalb der Stadt und auf beziehungsweise in den Monumentalbauten, bei der die Bevölkerung laut Niketas Partei für Maria Komnene ergriff. Letztendlich setzten sich die kaiserlichen Truppen mit roher Gewalt durch und drängten die Gegner in das Augustaion vor der Hagia Sophia zurück. Zwar erfährt man bei Niketas nichts von Axtträgern unter den »gut bewaffneten Einheiten« (οἱ κατάλογοι εὐοπλότατοι) 678, welche Alexios zur Verfügung standen, doch schlugen sie mit Äxten (πελέκεις) die Tore des Augustaion ein und drängten ihre Feinde in die Hagia Sophia.679 Letztlich endete der Miniaturbürgerkrieg damit, dass Maria zu Andronikos nach Phrygien entkam. Der pro¯tosebastos hatte sich auf die Truppen am Palast verlassen können. Dies war nur wenig später nicht mehr der Fall. Als Andronikos Komnenos auf der asiatischen Seite des Bosporos stand und Alexios die Flotte unter dem bereits bekannten megas doux Andronikos Konstostephanos gegen den Feind aussandte, lief letzterer über und beraubte Alexios der Fähigkeit, sich zur Wehr zu setzen; sein Heerführer Andronikos Angelos war schon zuvor zum älteren Komnenen desertiert, nachdem er eine blamable Niederlage gegen dessen Truppen hatte hinnehmen müssen.680 Man erfährt bei Niketas ohne Angabe der Details, dass der verlassene pro¯tosebastos schließlich im Palast von den »axttragenden Germanoi« (Γερμανοί, οἳ κατωμαδὸν τοὺς ἑτεροστόμους πελέκεις 676 Hier und im Folgenden Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 31–75; Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 88–99. Die maßgebliche Quelle für alle Geschichtsrekonstruktionen jener letzten zweieinhalb Jahrzehnte der mittelbyzantinischen Zeit bildet, wie bereits betont, praktisch allein Niketas Choniates. 677 NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ πορφυρογέννητου τοῦ Κομνηνού, S. 233, Z. 64. 678 NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ πορφυρογέννητου τοῦ Κομνηνού, S. 236, Z. 48f. 679 Ebd., S. 237, Z. 70. 680 NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ πορφυρογέννητου τοῦ Κομνηνού, S. 246–248.

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ἀνέχουσιν) festgesetzt und schließlich in den Palast des Patriarchen verbracht wurde;681 später ließ Andronikos ihn blenden. Abermals befanden sich also Waräger in der unmittelbaren Nähe des Machthabers, und ihre Kooperation trug zur Usurpation des Andronikos bei, die von einem noch nie gesehenen Massaker an den Lateinern in Konstantinopel begleitet wurde und ausgesprochen effizient dazu beitrug, die von den früheren Komnenoi geschickt austarierte balance of power zwischen Byzanz und den verschiedenen italienischen Seerepubliken im Handel und der Seemacht zu Ungunsten der Byzantiner zu zerstören, indem nach dem Verlust der Venezianer als Partner 1171 nun auch Genua und Pisa zu Feinden des Reiches gemacht wurden, was wiederum die Venezianer in eine äußerst vorteilhafte Verhandlungsposition gegenüber den Byzantinern für die Folgezeit versetzte. Ein verheerendes Echo auf das Massaker in Italien und dem restlichen Lateineuropa blieb freilich aus, was unter anderem eine verfrühte Einigung der Seestädte und der Normannen gegen Byzanz verhinderte.682 Diese Turbulenzen, in welchen den Warägern immer mehr eine zentrale Rolle zukommt – Jean-Claude Cheynet zählt 58 Umsturzversuche zwischen 1180 und 1204683 – sollten sich fortsetzen. Insbesondere Andronikos Komnenos, der sich in der kurzen Zeit bis zu seinem Sturz und seinem brutalen Ende zur Belustigung der Stadtbewohner im Jahre 1185 zu einem außerordentlichen Gewaltherrscher entwickeln sollte,684 verließ sich auf die Axtträger. Zunächst musste er, der sich offenbar am Ideal vorkomnenischer Machtbefugnisse des Basileus orientierte,685 andere Teilhaber an der Macht loswerden: So ließ er Maria Porphyrogennete, die Schwester des jungen Alexios und ihren Mann, die selbst wesentlich mitgeholfen hatten, ihm den Weg zur Macht zu ebnen, noch 1182 ermorden. Auch die Basilissa musste sterben, weshalb Andronikos von den κριταὶ τοῦ βήλου ein Todesurteil erwirken wollte. Als sich drei Richter, die Niketas namentlich aufzählt,686 solchem Unrecht offen widersetzten, ließ er sie von den Axtträgern, die drohend ihre Waffen erhoben, und dem umstehenden Mob einschüchtern. In der Tat wurde auch die Kaiserinmutter verurteilt und unter der Aufsicht des hetairei681 B75. 682 Hierzu ausführlich Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 41–43; Lilie, Handel und Politik [1984], S. 539–550. Magdalino, Constantinople [1991] verweist auf die Emergenz eines spezifisch konstantinopolitanischen, eigentlich nicht mehr byzantinischen Selbstbewusstseins im späten 12. Jh., in welchem die sich 1182 äußernde extreme, jedoch nicht primär konfessionell begründete Lateinerfeindlichkeit eine zentrale Rolle spielt, die so gesehen nicht byzantinisch, sondern konstantinopolitanisch ist. 683 Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 150–207, S. 110–145; vgl. auch die Interpretation ebd., S. 427–458. 684 Zu ästhetischen Aspekten der Porträtierung Andronikos’ bei NC, insbesondere zu antiken Vorbildern vgl. Magoulias, Andronikos I. Komnenos [2011], S. 134f. 685 Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 96–98; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 106–108, 225–227, 490–492. 686 B77.

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arche¯s Konstantinos Tripsychos sowie eines hohen Palasteunuchen getötet, woraufhin Andronikos zum Symbasileus erhoben wurde; den jungen Alexios ließ Andronikos schließlich 1183, abermals unter Beteiligung seines hetaireiarche¯s, mit einer Bogensehne erdrosseln, bevor er dessen Braut Anna ehelichte, auf diese Weise eine dynastische Verbindung etablierte und sich zum Autokrator erhob.687 Auch andere Komnenoi, denen unter der Herrschaft Manuels ein zentraler Platz zugekommen war, waren nun ihres Lebens nicht mehr sicher; Niketas Choniates berichtet von einer langen Reihe an Verbannungen, Blendungen und Hinrichtungen.688 Damit hatte Andronikos nach der Kooperation mit den Lateinern die zweite Säule des komnenischen Systems eingerissen.689 Das integrierende Band des Familienkollektivs wandelte sich rasch zu einem wirksamen Sprengsatz, als etwa Alexios Komnenos, ein verbannter Großneffe Manuels, Guillaume II. von Sizilien überzeugte, Byzanz anzugreifen.690 1185 eroberten die Normannen dann den Westen des Reichs; die grausame Plünderung Thessalonikes wird bei Niketas und in einem Bericht des Metropoliten Eustathios ausführlich beschrieben.691 Auch Isaakios Komnenos, ebenfalls ein Großneffe Manuels, machte sich laut Niketas Choniates noch zu Andronikos’ Zeit 1185 vom Statthalter in Zypern zum Basileus eines eigenen Reiches.692 Angesichts der Mittel, derer sich Andronikos bediente, um seine Reinigungsaktionen durchsetzen zu können, scheint es folgerichtig, dass er sich in geringerem Maße auf einheimische Palastwachen verließ als seine Vorgänger, um selbst nicht ähnlichen Methoden zum Opfer zu fallen. Nachdem er schon seine Axtträger verwendete, um die höchsten Richter gefügig zu machen, betont Niketas Choniates:693 »Κατὰ δὲ τὰ ἀρχεῖα γινόμενος ἀπὸ τῶν ἔξωθεν διατριβῶν τε καὶ διαχύσεων οὐκ ὀλίγου μὲν καὶ τὸ περὶ αὐτὸν εἶχε δορυφορικὸν, καὶ τοῦτο ἐκ βαρβάρων ᾿ιλῶν καὶ ἀνδρῶν λοιμῶν χαιρόντων ἀπαιδευσίᾳ καὶ τὰ πλεῖστα μηδ’ ἐπαϊόντων Ἑλληνίδος φωνῆς. καὶ τοὺς προκοίτους δὲ καὶ προφύλακας ἐξ ἀεὶ τοιούτων ἀναγώγων συνείληχεν ὁμηγύρεων.«

687 NC, Βασιλεία Αλεξίου τοῦ Κομνηνού, Βαςίλεια Ανδρονίκου τοῦ Κομνηνού 1, S. 273–276; Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 47–51; Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 92/ 94. 688 NC, Βαςίλεια Ανδρονίκου τοῦ Κομνηνού, S. 334–338. 689 Vgl. Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 190–200. 690 Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 54f.; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 162, S. 118f. 691 NC, Βασιλεία Ανδρονίκου τοῦ Κομνηνού 1, S. 296–302; Eustathios v. Thessalonike: Espugnazione, ed. Kyriakidis [1961], bes. S. 56–58. 692 Angold, The Road to 1204 [1999], S. 276; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 163, S. 119. Vgl. zu Isaakios auch Rüdt von Collenberg, L’empereur Isaac [1968]. 693 B78.

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»Wenn er [Andronikos Komnenos] von Orten des Zeitvertreibs und der Zerstreuungen zum Palast zurückkehrte, hatte er eine große Leibwache [doruphorikon] um sich, und diese bestand aus Barbareneinheiten und verkommenen Männern, die auf ihren Mangel an Bildung stolz waren und zum Großteil nicht einmal die hellenische Sprache verstanden. Auch die Palastwachen und Torwachen erwählte er grundsätzlich aus dieser rohen Bande.«

Hierbei muss es sich um Axtträger gehandelt haben; andere Barbaroi in der Leibwache der Basileis begegnen zu jener Zeit nicht,694 und des Andronikos Verhältnis zu anderen Lateinern, die just zu jener Zeit Krieg gegen ihn führten, war alles andere als einfach. Wenn man die Idee, es habe zu irgendeiner Zeit eine exklusive Warägergarde gegeben, weiter verfolgen möchte, so ist sie genau an dieser Stelle zu erkennen. Sprachlich und kulturell nicht komplett integrierte Gruppen, welche dem Herrscher persönlich verbunden sind, erweisen sich für Gewaltherrscher in Zeiten gewaltsamer Umstürze als zweckmäßig. Vor diesem Hintergrund ist es ganz folgerichtig, dass Andronikos’ Sturz im September 1185 eben durch die Abwesenheit seiner Axtträger möglich wurde. Zwar würdigt selbst Niketas Choniates seine harten, aber wirksamen Maßnahmen gegen Korruption, Ämterkauf und Willkür der Dynatoi sowie seine Achtung hoher Bildung, seinen Schutz der Orthodoxie und seine Zurückhaltung in Kirchenfragen.695 Sein Versuch indes, die Aristokratie, zumal die unter den Komnenoi ins Zentrum der Macht gerückte Militäraristokratie, quasi durch Massenmord praktisch auszulöschen, um sich wieder auf einen neu zu errichtenden Beamtenapparat stützen zu können, war nicht nur fehlgeschlagen, sondern hatte das integrierende personelle Band zwischen zunehmend als parasitär empfundener Hauptstadt und Provinzstädten auch ökonomisch zu Ungunsten der letzteren geschwächt, was abermals zur Desintegration beitrug.696 Zudem gelangten hierdurch in den letzten Jahrzehnten vor 1204 die Familien der Zivilaristokratie und mit ihnen die Bürokratie und die Eunuchen am Palast wieder zu größerer Bedeutung,697 was einerseits Parallelen zum 694 Die Wardariotai, die es offenbar im 12. Jh. gab, die aber zumindest nach dem (für das 12. Jahrhundert unsicheren) Eindruck aus Pseudo-Kodinos (B114, B118+B119) und einem Prostagma Michaels VIII. von 1272 (B91) als unbewaffnete Ordnungstruppe fungieren, werden als Byzantiner betrachtet, da sie auf im 10. Jh. umgesiedelte Angehörige eines Steppenvolkes zurückgeführt werden, also aus dem Reich selbst stammen (Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 271, 279f.). 695 NC, Βασιλεία Ανδρονίκου τοῦ Κομνηνού 2, S. 325–332; vgl. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates [1963], S. 326–329; Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 96–99. 696 Kazhdan/Constable, People and Power [1982], S. 136; Harvey, Economic Expansion [1989], S. 198–242; Hendy, Byzantium, 1081–1204 [1989], S. 46f.; Angold, The Road to 1204 [1999], S. 274–277. Zudem betont Magdalino, Constantinople [1991] die Entwicklung gravierender Mentalitätsunterschiede zwischen Hauptstadt und Provinz im späten 12. Jh. 697 Diese Tendenz war schon unter Manuel seit etwa 1166 zu beobachten: Angold, Imperial Administration [1993] ergänzt diesen Aspekt einer wieder erstarkenden Zivilaristokratie,

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chaotischen Jahrzehnt zwischen 1071 und 1081 nicht ganz zufällig erscheinen lässt und sich andererseits auch durch die Personen äußert, welche als Drahtzieher hinter den häufigen Machtwechseln jener Zeit stehen und mit den Warangoi darüber verhandeln.698 Als schließlich 1185 ein Wasserorakel, durchgeführt von Andronikos’ Günstling Stephanos Hagiochristophorites, nahelegte, der Name seines Nachfolgers beginne mit einem Iota, was zu einer Reihe entsprechender Verdächtigungen führte, geriet Isaakios Angelos, über die weibliche Linie ein Urenkel von Alexios I. Komnenos, in das Visier von Andronikos’ Anhängern, zumal er in eine Erhebung der Städte Nikaia und Prousa gegen den Basileus verstrickt gewesen war.699 Hagiochristophorites, der als Scherge des Andronikos berüchtigt war und laut Niketas von der Stadtbevölkerung Antichristophorites genannt wurde, wollte Isaakios am 9. September 1185 auf eigene Faust in Konstantinopel festnehmen, doch widersetzte sich Isaakios völlig unerwartet, erschlug Hagiochristophorites mit dem Schwert, galoppierte zur Hagia Sophia und bekannte dort öffentlich den Totschlag, wo er alsbald Gesellschaft verwandter Doukai erhielt, die ebenfalls um ihr Leben gefürchtet und bei der Bevölkerung um Solidarität geworben hätten. Niketas Choniates stellt Isaakios als einen verängstigten Aristokraten dar, der keinerlei Ambitionen auf den Purpur besessen habe. Erst die Abwesenheit jedweder Handlanger des Andronikos, sowohl der »axttragenden Barbaroi« (πελεκυφόροι βάρβαροι) als auch der »Scharlach tragenden rhabdouchoi« (Büttel), habe das anwesende Volk dazu ermutigt, Isaakios spontan zum Basileus zu akklamieren. Dass Andronikos und seine persönlichen Truppen in einem Palast außerhalb der Stadt weilten, habe den Machtwechsel ermöglicht. Eben diese überwiegend aus Barbaroi bestehenden Leibwächter des Andronikos stellten sich dem Lauf der Dinge offensichtlich nicht in den Weg; der in die Stadt zurückgekehrte Andronikos erklärte sich angesichts der Tatsache, dass der akklamierte Isaakios bereits mit dem Patriarchen von der Hagia Sophia zum Palast zog, zwar bereit, zu Gunsten seines Sohnes Manuel abzudanken, doch als der Mob den Großen Palast stürmte und plünderte, floh er.700 Von der Gegenwehr irgendwelcher Axtträger

die so gleichsam zum wichtigsten Nutznießer des Systemzusammenbruchs nach 1180 wird, was Lilie, Des Kaisers Macht [1984] nicht erwähnt. Vgl. auch Kazhdan/Constable, People and Power [1982], S. 136f. 698 So etwa bei beim Aufstand Ioannes Komnenos’ des Dicken 1201 (z. B. NC, B84, Mesarites, B63-B67) der Rückkehr Isaakios’ II. Angelos auf den Thron 1203 (NC, B86) und beim Sturz Alexios’ IV. Angelos 1204 (NC, B87). 699 Hier und im Folgenden B79. 700 NC, Βασιλεία Ανδρονίκου τοῦ Κομνηνού 2, S. 345–347.

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weiß Niketas nichts zu berichten. Andronikos wurde auf seiner Flucht in die Rus’ aufgegriffen; sein brutales und schmachvolles Ende wurde bereits erwähnt.701 Dass Isaakios sich ohne den Hintergedanken einer Usurpation zur Hagia Sophia begab, erscheint angesichts von Niketas’ Perspektive auf Andronikos keineswegs sicher; bemerkenswert ist jedoch, dass er die Abwesenheit der Waräger als entscheidende Voraussetzung für das Kippen der Stimmung und den Ausbruch einer offenen Revolte ansieht. Diese Argumentation hat angesichts der Ereignisse, die in den nächsten zwei Jahrzehnten folgen sollten, definitiv einen realistischen Hintergrund. Die Rolle der Skandinavier und Engländer erhält in Erzählungen über die Zeit nach Manuels Tod insoweit einen stärker politischen Charakter, als die Basileis seit Andronikos in wachsendem Maße auf Zwangsmittel gegenüber ihren Gegnern angewiesen waren. Dies änderte sich nicht unter der Herrschaft des gänzlich glücklosen Isaakios II., der zwar versuchte, durch geschickte Heiratspolitik und neue Verträge mit Venedig an Manuels Politik anzuknüpfen, jedoch militärisch chronisch erfolglos blieb. Hohe Abgabenlasten aufgrund seiner Diplomatie und Kriegsführung, aber auch der aufwendigen Hofhaltung und einer außerordentlichen Bautätigkeit führten unter anderem zur Rebellion in Bulgarien, wo 1185 unter den Asanes das Zweite Bulgarische Reich entstand, seine Konfrontation mit Friedrich Barbarossa während des Dritten Kreuzzugs wirkte sich für Byzanz äußerst unglücklich aus, sein Abweichen von der Norm kaiserlicher Freigiebigkeit gefährdete den Zusammenhalt in der Aristokratie, und nicht zuletzt seine Günstlingswirtschaft wird von Niketas Choniates angeprangert.702 Angewiesen war Isaakios auf die Warangoi, die hier spezifisch als »seine axttragenden Leibwachen« (οἱ πελεκυφόροι αὐτοῦ δορυφόροι) angesprochen werden, als er 1191 den Patriarchen Dositheos von Jerusalem entgegen dem Nomokanon zum Patriarchen von Konstantinopel machte und diesen Vorgang nach dessen erzwungener Abdankung gar wiederholte, womit er seit 1187 bereits drei Patriarchen abgesetzt hatte.703 Als die Metropoliten Dositheos absetzten, setzte Isaakios ihn wieder ein, ließ ihn aber, weil er so verhasst war, auf dem Weg in die Hagia Sophia von seinen Axtträgern bewachen.704 1191 fungieren sie also abermals als eine Art Polizei und sollen sicherstellen, dass es zu keiner Revolte, diesmal gegen den obersten Priester, kommt.

701 Ebd., S. 348–351; vgl. Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 72–74. 702 Vgl. die Charakterisierung, NC Βασιλεία Ἰσαακίου τοῦ Ἀγγέλου 3, S. 437–446; zu den o.g. Ereignissen und Einschätzungen weiterhin Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 113–116; Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 99–107; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], S. 434–440; Anca, Herrschaftliche Repräsentation [2010], S. 111–113. 703 B81. 704 Zum Kontext Angold, Church and Society [1995], S. 121–126.

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Solche Revolten zu verhindern, blieb auch unter Alexios III. Angelos, der seinen Bruder Isaakios 1195 im Heerlager einer gegen die Bulgaren aufgestellten Armee entmachtet hatte,705 die zentrale Aufgabe der Axtträger. In den Jahren 1200 und 1201 war dies gleich zweimal der Fall. Beim ersten Mal reagierte die Bevölkerung im Februar 1200 auf einen Skandal, als herauskam, dass Ioannes Lagos, der Leiter des Praetorium-Gefängnisses, seine Insassen zum planmäßigen Einbruch in Konstantinopolitaner Wohnungen benutzte, und wollte in der Hagia Sophia einen neuen Basileus akklamieren.706 Die Parallele zu den Ereignissen 1185 ist evident, doch hatte Alexios, den Niketas in seiner Ahnungslosigkeit über die Geschäfte eines byzantinischen Herrschers mit einem Bewohner der Thoule vergleicht,707 dafür gesorgt, dass genug ebensolche zur Verfügung standen: Zwar war er nicht selbst in der Stadt, doch hatten die πελεκυφόροι die Hagia Sophia zuverlässig abgeriegelt und konnten offenbar die Akklamation eines neuen Basileus verhindern, bis Alexios mit seinen Truppen in die Stadt kam. Des Alexios letzte Rettung waren seine Axtträger erneut, als am 31. Juli 1201708 eine revoltierende Partei am Hof Ioannes Komnenos den Dicken zum Basileus ausrief. Hinter der eher bedeutungslosen Figur, die aber mütterlicherseits eine passende Herkunft von Alexios, dem ältesten Sohn Manuels, vorweisen konnte, standen offenbar Aristokraten, die sich durch die Heiratsverbindung der Angeloi mit den Palaiologoi und Laskariden über die Töchter Alexios’ III. abgehängt sahen.709 Niketas Choniates berichtet nur sehr knapp von den Vorgängen, die der Usurpation Isaakios’ II. ähneln: Ioannes habe sich in der Hagia Sophia eine Krone aufgesetzt, sei draußen vor seine Anhänger getreten und mit einer großen Volksmasse, die ihn akklamierte, zum Großen Palast gezogen, dort ohne großen Widerstand eingebrochen und habe den Thron in Besitz genommen. Da seine Leute unvorsichtig gewesen seien und den Palast nicht abriegelten, hätten sich die Leute des Alexios, die mit dem Schiff vom Blachernai-Palast kamen, am Ufer beim Hodegon-Kloster mit den Axtträgern vereinigt, die offenbar am Großen Palast stationiert waren,710 gestürmt und Ioannes erschlagen; zeitnah entstandene Enkomia des Euthymios Tornikes und des Nikephoros Chrysoberges auf

705 NC Βασιλεία Ἰσαακίου τοῦ Ἀγγέλου 3, S. 449–452; Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 111–113; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 163, S. 119. 706 B83. Mglw. auch 1201, vgl. Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 194, S. 135f. 707 B82; vgl. Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 107–116. 708 NC, B84 datiert das Ereignis nach 1200, dagegen aber Mesarites (B63-B67 und folgendes Kapitel), Tornikes (B68) und Chrysoberges (B69); vgl. auch Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], Nr. 195, S. 136f. 709 So z. B. Alexios Doukas Mourtzouphlos, vgl. Angold, Byzantine politics [2005]. 710 Blöndal und Ellis Davidson (oben, S. 229 mit Anm. 653) stützen ihre Spekulationen über das Quartier der Waräger allein auf diese Stelle, nicht jedoch auf den im Folgenden besprochenen Bericht.

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Alexios III. Angelos, wobei letzteres den Aufstand des Ioannes als letztes Ereignis erwähnt, bestätigen Niketas’ Version.711 Das Warägerbild bei Nikolaos Mesarites Sehr viel Genaueres über die Revolte des glücklosen Komnenen erfährt man aus einem unmittelbar nach den Ereignissen entstandenen Augenzeugenbericht des Nikolaos Mesarites, der zu jener Zeit skeuophylax der Kirchen am Großen Palast, also zuständig für deren Einrichtung und Kirchenschätze war; er hatte damit im Zentrum des Geschehens gestanden.712 Bei ihm erreicht der autobiographische Zug, der nicht zuletzt infolge der verstärkten Antikenrezeption seit der Chronographia des Psellos unsere Quellen mehr oder weniger prägt, einen Höhepunkt.713 Nicht zuletzt deshalb bietet sein Text die einzige Belegstelle, an der ein Byzantiner von seiner persönlichen Interaktion mit Skandinaviern berichtet. Zunächst bestätigt er die Version des Niketas, Ioannes und seine Leute seien gegen den Willen der Geistlichen in die Große Kirche eingedrungen, und ein Bettelmönch habe ihn gekrönt, da der Patriarch sich versteckte. Auf dem Weg zum Palast hätten sie sich gleichsam für den Hintereingang über das Hippodrom und das von Makedonen bewachte Kareia-Tor entschieden, weil sie die Axtträger, welche das Haupttor bewachten, gefürchtet hätten:714 »καὶ δῆλον ὅτι μηδὲ δεδύνηντο τὸν διὰ τῆς τῶν πελεκηφόρων οι᾿κήσεως προοδεῦσαι χῶρον τὸν πρὸς τὰ βασίλεια ᾿ιθυτενῶς ἀπάγοντα τὸν βουλόμενον, δειλόσπλαγχνοί τινες ὄντες καὶ δειλοκάρδιοι καὶ δι’ ἔφεσιν ἡδυπαθείας αἴροντες ὅπλα καὶ οὐ δι’ ἀνδρείας ἐπίδειξιν.« »Und selbstverständlich konnten sie [Ioannes’ Männer] ihren Weg nicht durch das Gebäude der Axtträger nehmen, durch welches man gerade in den Palast kommt, weil sie ja so feige und furchtsam waren und die Waffen aus Streben nach Wohlleben erhoben hatten und nicht, um Mannhaftigkeit zu zeigen.«

Dass der »Haupteingang«, bei dem es sich allein um das Chalke-Tor handeln kann, hinter dem sich der triklinos der Scholai und der Exkoubita befanden, durch welche man zur Magnaura, aber auch in die übrigen Palastbereiche715 711 B63-B69. 712 Hunger, Literatur [1978], S. 127; Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel, ed. Grabler [1958], S. 267–269. 713 Kazhdan/Franklin, Studies on Byzantine Literature [1984], S. 247–255; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 400–404; Pietsch, Chronographia [2005], S. 23–40. 714 B63. 715 Mesarites Kap. 8, S. 25, ist uneindeutig bezüglich des Standorts des Throns, auf welchen Ioannes Komnenos nach dem Sturm auf den Palast gesetzt wurde, jedoch berichtet er später, er habe ihn im Triklinos Justinians II. im Süden der Anlage auf dem Thron gesehen (ebd., Kap. 11, S. 28). Die klassische Thronhalle für Empfänge im Großen Palast war die Magnaura

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gelangte, für Nikolaos mit οἴκησις τῶν πελεκυφόρων (»Sitz der Axtträger«) hinreichend genau bezeichnet ist, sagt bereits einiges über deren Präsenz am Großen Palast aus.716 Die Aussage korrespondiert darüber hinaus vollkommen bruchlos mit einer Passage bei Zonaras zum Jahr 1118, der besagt, die Warangoi seien bei den Exkoubitoi untergebracht, also direkt hinter dem Chalke-Tor, und sie hätten dieses Tor bewacht. Damit dürften sich anderslautende Spekulationen über das »Hauptquartier« der Waräger, die in Unkenntnis der etwas versteckten Edition durch August Heisenberg von 1907 angestellt wurden, erledigt haben.717 Dass man umgekehrt erst im 12. Jahrhundert vom Stationierungsort der Warangoi erfährt, unterstreicht die These, dass eine distinkte Einheit aus »Axtträgern« erst unter Alexios I. Komnenos geschaffen wurde. Von Warägern am Blachernai-Palast ist indes weder hier noch andernorts die Rede.718 Nachdem die Rebellen in den Palast eingedrungen sind und Ioannes auf den Thron gesetzt haben, was Nikolaos selbst beobachtet habe, und die kaiserliche Münze geplündert wurde, folgt ein ausführlicher Bericht über Plünderungsver-

(vgl. DC, S. 566–570; Liudprandi Cremonensis Antapodosis, ed. Chiesa [1998], 6,5, S. 147), jedoch ließ Manuel Komnenos im Boukoleon-Komplex im Süden des Großen Palastes den Mochroutas oder persikos domos errichten, wo die Männer des Alexios laut Mesarites später Ioannes Komnenos den Dicken vorfanden (Kap. 27, S. 44f.), genau am der Magnaura entgegengesetzten Ende der Anlage, nachdem sie den dem Boukoleon benachbarten Triklinos Justianians leer vorgefunden hatten. Sie kamen also von Norden her durch die Anlage. Zum Palast vgl. Janin, Constantinople byzantine [1964], S. 106–122; Schreiner, Konstantinopel [2007], S. 52–58. 716 Zum Chalke-Tor (»Bronzenen Tor«) vgl. Janin, Constantinople byzantine [1964], S. 110f.; Mango, The Brazen House [1959], bes. S. 21–35. 717 B55. Zonaras, der um die Mitte des 11. Jhs. schreibt, verortet die Βάραγγοι »bei den Exkoubitoi«, deren Triklinion direkt ans Chalke-Tor grenzt. Damit fügen sich ganz verschiedene Quellen des 12. Jhs. nahtlos zusammen. Zu den Spekulationen, die allein die kurze Bemerkung bei NC (B84) kennen, s. oben, S. 229. Schreiner, Konstantinopel [2007], S. 70 verortet die Waräger in seinem kurzen, nicht mit Anmerkungen versehenen Überblickswerk ebenfalls in die Umgebung des Chalke-Tors. 718 Vgl. die Aufzählung der Truppen aus den Blachernai bei Mesarites 25, S. 42, die über das Goldene Horn fahren, um am Hodegon zu landen und sich mit den Axtträgern zu vereinigen. Warangoi sind nicht unter ihnen. Das Bedeutet freilich nicht, dass die Basileis sich nicht auch durch Warangoi in ihre anderen Paläste innerhalb und außerhalb der Stadt begleiten ließen (vgl. Blöndal, S. 291–293/181f.), insbesondere Andronikos Komnenos (NC, B78). Doch ist in den Blachernai, dem wichtigsten Wohnpalast der Komnenoi zumal seit Manuel (Magdalino, Medieval Constantinople [2007], S. 78–84), vor Michael VIII. Palaiologos nach 1261 kein Quartier nachweisbar (vgl. Ps.-Kodinos, B122-B129; dies spricht gegen die anderslautende Annahme bei Shepard, Small Worlds [im Druck]). Man muss allerdings zugeben, dass die Informationen über den Blachernai-Palast durch die Abwesenheit von Zeremonienbüchern zwischen DC und Ps.-Kodinos sehr rudimentär sind. Das argumentum e silentio gegen Waräger im Wohnpalast besitzt kein allzu großes Gewicht. Die Sagas (NI 142) berichten, die Empfänge der skandinavischen Kreuzfahrer hatten in Laktjarnir stattgefunden, doch ist ihnen die Vorstellung einer zeremoniell gebrauchten Leibgarde ohnehin fremd, so dass sie hier nicht als Informationsquelle dienen können.

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suche der Kirche Θεοτόκος τοῦ Φάρου, der wichtigsten Palastkirche, und der Nea Ekklesia, beide im Süden der Anlage, deren Abwehr Nikolaos selbst organisierte.719 Er habe hierzu Byzantiner, die selbst zum Plündern gekommen seien, für den Schutz der dort aufbewahrten wichtigsten Reliquien und Kirchenschätze der Byzantiner gewonnen und mit ihnen gegen Lateiner aus Ioannes’ Gefolge, insbesondere Italoi, sowie Iberiai (Georgier) und lateinische Geistliche gekämpft, wobei er selbst das Handgemenge nicht gescheut habe und verwundet worden sei. Der zweite Teil des Berichts wechselt mit einer kurzen Rede an Alexios III., er möge berichten, wie er die Rebellion gemeinsam mit »Hausgenossen« und »Verwandten« (ὅσοι ἐκ τῆς σῆς συγγενείας καὶ τοῦ οἴκου τοῦ πατρικοῦ) und Leuten aus »dem streitbaren, stets die Axt auf den Schultern schwingenden Volk« (τὸ μάχιμον ἔθνος τὸ ἐπὶ τὸν ὦμον διόλου κραδαῖνον τὸν πέλεκυν) niederwarf,720 zunächst die Erzählperspektive auf die Truppen des Kaisers, die wie bei Niketas mit Schiffen von den Blachernai aus zum Aufenthaltsort der Waräger gebracht werden. Der Kommandeur Alexios Palaiologos habe letztere orientierungs- und ratlos vorgefunden, aber rasch mit seinen Truppen vereinigt. Sie seien dann gemeinsam in den Palast eingedrungen, doch seien, darauf legt Nikolaos besonderen Wert, die Rhomäer mutiger gewesen als die »Ausländer« (οἱ ἐξ ἐθνῶν);721 mit ihnen kann er nur die Axtträger meinen, denn er spricht von zwei Abteilungen unter des Palaiologos Kommando, den Vertrauten aus dem Blachernai-Palast, unter denen sich gemäß der Aufzählung zuvor kaum ἐθνικοί befanden, und den Warägern. Es fällt auf, dass die Waräger hier zwar die ihnen zugewiesene Aufgabe wahrnehmen, jedoch nicht aus eigener Initiative dem »legitimen« Herrscher Alexios III. beispringen, sondern scheinbar abwarten, was Mesarites ihnen als Feigheit ankreidet. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit war es ihm in seinem Bericht auch darum zu tun, die Tapferkeit der kaiserlichen »Hausgenossen« und Verwandtschaft zu preisen, doch angesichts der Tatsache, dass Nikolaos auch die Axtträger in ihrer Frömmigkeit und Freundlichkeit besonders schätzt und von daher keine Absicht erkennbar ist, ihrem Ansehen zu schaden, wird man seine Äußerung über ihr Zagen, als Alexios Palaiologos aus den Blachernai eintraf, nicht einfach als Chauvinismus ohne jedwede faktische Grundlage abtun können. Von irgendeiner »legitimistischen« Haltung, die den Warägern wiederholt zugeschrieben wurde,722 ist folglich auch hier nichts zu erkennen, ebenso wenig wie beim Aufstieg des Andronikos Komnenos, seinem Sturz oder 1203 beim Sturz Alexios’ III. Zwar standen die Axtträger dem Basileus 719 720 721 722

Mesarites, Kap. 12–24, S. 29–42 B64. B65. Blöndal, S. 188f./114; Shepard, The English and Byzantium [1973], bes. S. 67f.; Queller/ Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 107, 131. Vgl. auch oben, S. 160f. und bes. unten, S. 259ff.

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augenscheinlich zur Verfügung, doch verstanden sie es, bei geschehenen Usurpationen wie bei Ioannes, der bereits gekrönt auf dem Thron saß, oder bei der völligen Isolation des Basileus am Hof abzuwarten und im entscheidenden Moment opportun zu entscheiden – was sie auch hier taten. Ein solches Gespür für den Nutzen von Loyalität, das eine zuverlässig funktionierende Kognition der byzantinischen Umwelt belegt, nicht aber eine vermeintlich unbedingte, gleichsam »germanische« Nibelungentreue, war neben anderen Ursachen der Grund für den Erfolg und den Bedeutungszuwachs der Waräger im 12. Jahrhundert. Mit dieser Integration ging ein Sonderstatus einher, der dazu führte, dass die Axtträger beziehungsweise Warangoi nicht dem Misstrauen unterworfen waren, welches die Byzantiner den Kreuzfahrern beziehungsweise »Franken« entgegenbrachten. Jedenfalls werden Skandinavier nicht in den zahlreichen Kontexten erwähnt, welche Ressentiments gegen Lateiner ventilieren.723 Unbedingte Gefolgschaftstreue war jedoch nicht der Grund hierfür: Niemals gingen die Waräger kämpfend an der Seite ihres Herrn unter, wie es Schlachtenschilderungen byzantinischer Autoren und besonders ein germanophilromantisch, nicht zuletzt auch biologistisch angehauchtes Geschichtsbild des 20. Jahrhunderts weismachen wollen.724 Wer genau die Soldaten waren, welche den schlecht bewachten Ioannes auf seiner Flucht in Richtung des Hippodroms ergriffen, misshandelten und schließlich köpften, erfährt man bei Nikolaos Mesarites nicht; sowohl Euthymios Tornikes als auch Nikephoros Chrysoberges aber knüpfen in ihren Enkomia zum gleichen Anlass jeweils verschiedene sprachliche Bilder an die Tatsache, dass der fette Komnenos mit Äxten erschlagen wurde: Bei Tornikes fressen die Schwerter den Leichnam und saufen die Äxte das Blut des Erschlagenen,725 bei Chrysoberges wird der massige Ioannes von Axtträgern gefällt wie eine mächtige Libanonzeder von Holzfällern.726 Man darf angesichts solch elaboriert schauderhafter Beschreibungen der Wirkung, welche die Hiebwaffen erzeugten, von einer 723 Vgl. hierzu allgemein u. a. Angold, Fourth Crusade [2003], S. 28–47; Laiou, Byzantium and the Crusades [2005]; Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 40–54; Nicol, The Byzantine View [1967], S. 315–330; Beck, Byzanz und der Westen [1968]; Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 181–185. Letzten Endes bleibt die Unbesonnenheit im Kampf bei Anna Komnene (B44) die einzig spezifisch »lateinische«, negative Eigenschaft, welche den Skandinaviern zugeschrieben wird. 724 Perzeptionen des vormittelalterlichen Skandinavien stehen ganz im Schatten des Mythos, der sich mit dem – modernen – Begriff »Wikinger« verbindet und zahlreiche Facetten der modernen Rezeptionsgeschichte abrufbar bereithält, die sich auch beim »Waräger« nur allzu deutlich manifestieren. Vgl. hierzu allgemein Föller, Schiffe [2011]; Simek, Wikinger [1998], S. 7–10; von See, Barbar [1994], passim; Zernack, Anschauungen [1996]; Zernack, Altertum und Mittelalter [2005]; Wawn, Vikings [2000], S. 19–33, 183–207; Scheel, »Wikinger« und »Wikingerzeit« [2014]. 725 B68. 726 B69.

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Von Warangoi und Axtträgern

unmittelbaren Beteiligung der Warangoi an der Beseitigung des Usurpators ausgehen. Dass gleich zwei Enkomiasten offenbar der Ansicht waren, das Bild der Streitäxte im Einsatz erziele den gewünschten Gruseleffekt auf dem Höhepunkt des Dramas, lässt auf die Vertrautheit des höfischen Publikums mit der skandinavischen Langwaffe und ihrem verheerenden Wirkungspotential schließen. In anderer Hinsicht nochmals bedeutsamer ist bei Mesarites jedoch der dritte und letzte Teil von Nikolaos’ Bericht, der ausführlich von seiner Begegnung mit den Warägern erzählt. Eine ganze Schar von ihnen sei kurz nach dem Vorbeizug fliehender Parteigänger des Ioannes vor der Kirche erschienen. Sie wussten noch nicht, dass Ioannes bereits tot war:727 »οἱ πελεκηφόροι θυμοειδεῖς ἐφ’ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὸν οἶκον τὸν ἅγιον, ἐπιτάσσοντες ἄνοιξιν, θέσθαι φιλονεικοῦντες ἀναψηλάφησιν, παρασχεῖν τὸν Ἰοάννην αὐτοῖς ἐπιτάττοντες. τρόμος εἷλεν ἡμᾶς καὶ φόβος καὶ ἔκστασις τῆς βαρβαρικῆς ἐπῃσθημένους δυσφήμου φωνῆς. ἐπιζυγοῦν τούτοις τὰς θύρας ᾑρετισάμεθα, οἱ δὲ τὴν θύραν ἔκοπτον βιαιότερον. ἡμεῖς ὑπανεῴξαντες τὸ θυρίδιον τοῖς βαρβάροις ἱκέσιον διειλέγμεθα· ‹χαίρετε, ἀδελφοί, ἐπὶ καλῷ ἐληλύθατε ἀνδρικώτατα· πρὸ πολλοῦ ἡμεῖς ὑμᾶς ἐποθοῦμεν ᾿ιδεῖν. ἄχρι γὰρ τῆς ὥρας ταύτης καὶ κακῶς σφόδρα πάσχομεν καὶ περὶ τὸ ζῆν αὐτὸ κινδυνεύομεν.’ οἱ βάρβαροι ἱλεωτέρᾳ φωνῇ τὴν ἄνοιξιν παρεβίαζον. γνόντες οὖν αὐτοὺς ἀληθῶς τοὺς τοῦ χριστοῦ κυρίου ἀναδιφῶντας ἐχθρούς, δισταγμοῦ ἄτερ, ἄνευθεν φόβου καὶ τρόμου χωρὶς ἤραμεν πύλας καὶ τοῦ ναοῦ γεγόνασιν ἔνδοθεν. καὶ ἀνεδίφων τὸν τῆς ἐκκλησίας περίβολον, εἴ τινα καὶ θεάσαιντο τοῦ Ἰωάννου συνέριθον, ἀλλ’ οὐχ εὕρισκον οὐδαμοῦ.« »Zornige Axtträger stürmten gegen uns und das heilige Haus heran und befahlen uns, aufzumachen. Sie müssten die Kirche durchsuchen, schrien sie barsch und streitsüchtig, und wir sollten ihnen Ioannes übergeben. Zittern befiel uns, Furcht und Entsetzen, als wir die unheilverkündende Stimme der Barbaroi vernahmen. Vor ihnen das Tor zu verriegeln schien uns besser. Sie aber schlugen mit aller Macht an die Tür. Wir öffneten ein Fensterchen und sprachen flehend zu den Barbaroi: ›Seid gegrüßt, Brüder! Überaus tapfer seid ihr und gerade recht gekommen. Schon lange haben wir uns gesehnt, euch zu sehen, denn bis zu dieser Stunde ist es uns sehr schlecht gegangen und wir sind in Gefahr geschwebt, selbst unser Leben zu verlieren.‹ Die Barbaroi versuchten – schon mit freundlicherer Stimme – die Öffnung des Tores durchzusetzen. Da wir erkannten, dass sie tatsächlich die Feinde des Gesalbten des Herrn aufstöbern wollten, hoben wir ohne Bedenken, ohne Furcht und Zittern den Riegel, und sie kamen in die Kirche herein. Sie suchten den ganzen Umkreis ab, ob sie nicht irgendwo einen Mitkämpfer des Ioannes erblicken könnten, fanden aber niemanden.«

Damit beschreibt Nikolaos die ersten Fremden in seinem Bericht, die nicht in der Absicht des Plünderns zur Pharoskirche kamen. Ganz im Gegenteil: Unter den Leuten im Gebäude, möglicherweise mit den Axtträgern eingetroffen, befand

727 B66. Hieraus lässt sich freilich nicht schließen, dass bei der Tötung des Ioannes keine Axtträger anwesend waren, denn Alexios Palaiologos hatte sieben gemischte Abteilungen aus Warägern und anderen Männern aus dem Blachernai-Palast zusammengestellt.

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sich ein Deutscher (Alamanos), der zu den Bogenschützen des Alexios Palaiologos gehörte, Nikolaos über den Wert der Kirchenschätz ausfragte und dann das genau das tat, was aus byzantinischer Sicht Lateiner grundsätzlich zu tun pflegten:728 »ὅ δ’ ἐκ τῶν τοιούτων παρασχεῖν αὐτῷ τινά με παρεβιάζετο ἐποφθαλμίζων ἀγριωπότερον, καὶ λαβόμενος τῆς χειρὸς ἠπείλει φονεύσειν με πρόκωπον ἔχων τὸ ξίφος ὁ βάρβαρος. οἱ πελεκηφόροι δε βάρβαροι εὐσεβέστεροι ὄντες, γνόντες τὸ δρώμενον ὀργὴν κατὰ τοῦ Ἀλαμανοῦ δικαίαν ἀνθυποκρίνονται καὶ ἀπεκρούσαντο τὸν κατάρατον. ἐμοὶ δὲ τὸ μετὰ τοῦτο δάκρυα πλεῖστα κατέρρει τῶν ὀφθαλμῶν, οὐκέτι θρηνοῦντι ἀλλ’ ἡδομένῳ· οἶδε γὰρ καὶ ἀπαλλαγὴ κακῶν ει᾿ς δάκρυα καταφέρειν τὸν ἄνθρωπον. πολλούς δε τῶν βαρβάρων ἐπέγνωμεν πάλαι ὄντες γνωστοί, οἱ δὲ καὶ προσῄεσαν καὶ ἠσπάζοντο ὡς ἂν καὶ συνήθεις ὑπάρχοντες, καὶ παραλαβόντες αὐτοὺς αὐτοῦ που τῆς ἐκκλησίας διανεπαύσαμεν.« »Da wollte der Barbar mich zwingen, ihm etwas davon zu geben, und dabei sah er mich mit wilden, gierigen Augen an, packte mich am Arm und drohte, die Hand schon am Schwertgriff, mich zu erschlagen. Die axttragenden Barbaroi waren aber gottesfürchtiger, sie merkten, was vorging, fassten gerechten Zorn gegen den Alamanos und stießen den Verfluchten weg. Mir brach hierauf ein Tränenstrom aus den Augen, nicht vor Leid, sondern vor Freude; denn auch die Befreiung aus misslicher Lage vermag ja dem Menschen Tränen zu entlocken. Viele von den Barbaroi erkannte ich, da sie mir von früher her bekannt waren, sie kamen auch zu mir und begrüßten mich freundlich, weil wir ja einander vertraut und wohlgesinnt waren. Ich nahm sie beiseite und ließ sie dort in der Kirche ausruhen.«

Das Bild einer persönlichen Verbundenheit zwischen Warägern und einem Angehörigen des Palastklerus, der eine höhere Laufbahn eingeschlagen hatte, erscheint im Vergleich zum früheren Bild von den Skandinaviern und Angelsachsen äußerst bemerkenswert. Man vergleiche das hohe Lob des Mesarites, die Waräger seien »gottesfürchtiger« (εὐσεβέστεροι) als andere Barbaroi und freundlich, mit dem sprichwörtlich negativen Image bei Psellos729 oder mit der Selbstverständlichkeit, mit welcher sie beim Scylitzes continuatus ein Kloster plündern! 730 Keine andere Gruppe von Lateinern, welche die Waräger nach dem Eindruck mehrerer Quellen nach 1204 einwandfrei waren,731 erfreut sich einer solchen Wertschätzung, die sich hier vor allem auf ihre Funktion als stabilisierendes Element für die Herrschaft der Angeloi und ihre Disziplin im Umgang mit dem Reichtum der Stadt bezieht. Sie erscheinen im Gegensatz zu anderen Fremden, zu Italoi, Georgiern oder Deutschen, welche Mesarites wenig schmeichelhaft darstellt, verlässlich und besser integriert. Damit fasst man zugleich neue, erst nach Manuel wirksam gewordene Faktoren im skandinavisch-by728 729 730 731

B67. B1. B32. Vgl. unten, S. 256f.

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Von Warangoi und Axtträgern

zantinischen Verhältnis, wie sie sich schon seit Andronikos’ Herrschaft abgezeichnet hatten. Als durchgehendes Element hingegen bleibt eine besondere Nähe zum Basileus, die sich seit der Alexias beobachten ließ: Warangoi beziehungsweise ihre Kommandeure finden sich wiederholt in der Gruppe aus Verwandten und Verschwägerten, mit der sich die Basileis und auch die hohen Militärs im Feld umgeben. Im Gegensatz zu anderen ethnikoi in jenem Zirkel, etwa Normannen, werden sie dabei augenscheinlich nicht immer hellenisiert,732 sondern bleiben »axttragende Barbaroi«, was wiederum daraus resultiert, dass eine solche distinkte ethnische Gruppe seit Alexios I. Komnenos am Palast und im Heer präsent und als »fremde« Gefolgschaft des Basileus in die soziale Struktur eingebunden war.

3.5.

Der Vierte Kreuzzug

So knapp auch die Ressourcen geworden sein mögen, die Isaakios II. und Alexios III. Angelos mangels effektiver Kontrolle sowie aufgrund von Korruption noch aus den wirtschaftlich prosperierenden Provinzen des Reichs zur Verfügung standen, und so sehr ihre Diplomatie des Überflusses und ihre Günstlingswirtschaft auch die Finanzen ausgeblutet haben mag: In seine Axtträger jedenfalls hat Alexios III. erheblich investiert, wenn schon nicht in die übrige Armee. Dass er 1197 die Kaisergräber plündern musste, um Tributzahlungen an Heinrich VI. aufzubringen, der ihn von Sizilien aus bedrohte,733 besagt für sich genommen nichts über die Anziehungskraft, die Byzanz auf skandinavische Migranten nach wie vor ausübte; für Waräger schien sich die Verschwendung zu lohnen.734 Dies 732 Man denke an die beiden Senatoren, die ganz sicher hellenisiert waren. Anders dagegen die Militärangehörigen: Nabites kennen wir mit seinem »barbarischen« Namen, Kinnamos nennt den Kommandeur 1148 auf Kerkyra nicht namentlich. Ioannes Apokaukos nennt in einem Rechtsgutachten einen Theodoros, πριμμικήριος τῶν Βαράγγων in Ioannina (B89); bei Theodoros kann es sich auch um eine gräzisierte Form von Þórir handeln, die üblicherweise auch im Norden zu Theodoricus latinisiert wird. 733 NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ Ἀγγέλου 1, S. 479. Die Geldnot des Basileus ist bei Niketas weniger ein Resultat der Verarmung als vielmehr der Verschwendung; zudem sei Alexios vor weiteren Steuererhöhungen sowie der Entfremdung von Kirchengut zurückgeschreckt. 734 Zur finanziellen Situation unmittelbar vor 1204 liegen keine detaillierten Forschungsergebnisse vor (Angold, The Road to 1204 [1999], S. 272f.). Insgesamt prosperierte die Ökonomie im byzantinischen Raum, inwiefern jedoch die Zentralgewalt über sie verfügen konnte, inwiefern lokaler Wohlstand und Kooperation mit den italienischen Städten die so deutlichen separatistischen Tendenzen der letzten Jahrzehnte vor 1204 beförderte (so der Eindruck aus Lilie, Handel und Politik [1984], S. 59–68, 311–318), ist schwer abzuschätzen. Die positive Einschätzung der finanziellen Leistungskraft der byzantinischen Herrschaft stützt sich auf Hendy, Reappraisal [1971], bes. S. 45; Hendy, Studies [1985], S. 513–519, 570–590; Hendy, Byzantium, 1081–1204 [1989], S. 47f., der betont, dass gerade nach 1180 die merkantilen Schichten der Hauptstadt einen Aufschwung erfuhren, die ökonomische Leistungskraft gerade auch in den

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belegt nicht allein der in der zwischen 1185 und 1219 entstandenen Sverris saga belegte Chrysobull des Alexios von 1195 an die Könige von Dänemark, Norwegen und Schweden,735 sondern auch die Tatsache, dass die Teilnehmer des Vierten Kreuzzugs sich mit zahlreichen Dani auf den Mauern der Stadt konfrontiert sahen.736 Auf eine gute Bezahlung der Waräger deutet auch hin, dass sie gemäß Nikolaos 1201 keinen Plünderungsversuch unternahmen, sofern man nicht allein seiner Argumentation mit ihrer Gottesfürchtigkeit folgen möchte. Solche gezielten Anwerbungen im Westen waren freilich alles andere als ein Novum; das erste kaiserliche Schreiben an Skandinavier bezeugen schon die Annales Bertiniani zum Jahr 839, als eine rusische Gesandtschaft durch das Frankenreich nach Norden reiste, und möglicherweise ursprünglich hierzu gehörende Bleisiegel aus Dänemark. Nichtsdestoweniger demonstrieren die Ereignisse von 1204 im Gegensatz zu unserem Wissen über wikingerzeitliche Vorgänge, dass die Kommunikationswege rasch funktionierten und zuverlässig neue Soldaten nach Konstantinopel kamen. Dies war offensichtlich im gesamten 12. Jahrhundert seit dem Ersten Kreuzzug der Fall: Einerseits lässt sich eine konstante Aufmerksamkeit seitens byzantinischer Historiographen und Künstler nachweisen, andererseits hatte Manuel nach seiner Niederlage von 1176 an Henry II. von England geschrieben und anglophone Waräger zu ihm geschickt,737 ähnlich wie Alexios 1195 Hreiðarr inn víkverski nach Norwegen und Pétr illska nach Dänemark schicken sollte. Zwei Urkunden Valdemars des Großen aus dem Juli 1176, also vor Myriokephalon, und dem Jahr 1177 für das Kloster Esrom in Nordseeland zeigen stark an byzantinische Prooimia erinnernde Formulierungen in den Arengen,738 so dass man auch hier damit rechnen muss, dass der Kanzlei byzantinische Urkunden beziehungsweise deren lateinische Übersetzungen vorlagen. Saxo Grammaticus betont ganz am Ende seiner Gesta Danorum, die dänischen equites in byzantinischen Diensten hätten die Nachricht vom Sieg über die Wenden unter Bugislaw von Pommern im Jahre 1185 gefeiert.739 Der Gedanke,

735 736 737 738 739

Provinzen hoch war, dass aber exorbitante Besteuerung durch die parasitäre Zentraladministration nach 1180 die Fragmentierung des Reichs beschleunigte. Vgl. auch die ausführliche Untersuchung staatlicher »Wirtschaftspolitik« bei Oikonomides, Role of the State [2002], bes. S. 1050–1058, die ebenfalls zu einer positiven Einschätzung der ökonomischen Leistungskraft im späten 12. Jh. gelangt; ebenso Morrisson, Byzantine Money [2002], S. 958–962 und fig. 6.1– 6.15 bezüglich des Monetarisierungsgrades; allgemein Laiou, Overview [2002], S. 1150–1156; Laiou/Morrisson, The Byzantine Economy [2007], S. 164f.; Harvey, Economic Expansion [1989], S. 80–119; Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 24f. NI 37. So bei Hugo de St-Pol, Geoffrey de Villehardouin, Robert de Clari sowie der Ersten Novgoroder Chronik (unten, Anm. 752f., 766f., 771). Das begleitende Schreiben Manuels in lateinischer Wiedergabe ist überliefert in der Chronica Rogeri Houedene, ed. Stubbs [1869], S. 102–104. D10+D11. Vgl. dazu unten, S. 402f. D55.

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dass die Byzantiner nunmehr in der Valdemarenzeit mit den Warangoi auch Kavalleristen anwerben konnten, hat seinen Reiz,740 wird aber durch keinen Hinweis im byzantinischen Material unterstützt. Der großen Aufmerksamkeit bei Niketas Choniates und Nikoloas Mesarites stehen jedenfalls gewichtige Indizien für eine hohe Bedeutung der Waräger und der byzantinischen Verbindungen in deren Herkunftsregionen gegenüber, die sich inzwischen zur einzig maßgeblichen Gruppe fremder Palastwachen entwickelt hatten. Diese Bedeutung musste sich unter den Angeloi auch im Zahlenverhältnis ausdrücken, befand sich die Armee insgesamt doch in einem vernachlässigten Zustand. Man kann für die Zeit unmittelbar vor 1204 mit allerhöchstens 5000 Warägern in Konstantinopel in einem nicht rekonstruierbaren Verhältnis von Engländern und Skandinaviern rechnen, während zur Verteidigung der Stadt maximal 50.000 Einheimische zur Verfügung standen.741 Dass die Armee nicht optimal ausgebildet und ausgerüstet war und die hauptstädtischen, stehenden Truppen nunmehr zu einem erheblichen Teil aus Warägern bestanden, belegen sowohl die Chronik des Niketas Choniates, der aus byzantinischer Sicht einmal mehr die Hauptquelle für die Ereignisse der Jahre 1203 und 1204 darstellt,742 als auch verschiedene Berichte aus der Perspektive der Teilnehmer des Vierten Kreuzzugs.743 Die Gründe für dessen Umleitung nach Konstantinopel, vorder- sowie hintergründige, wurden vielfach und ohne breiten Konsens diskutiert und seien hier nur summarisch gestreift;744 letztlich brachte 740 Heebøll-Holm, Priscorum quippe curialium [2009], bes. S. 34–40, 50–55, 69; Heebøll-Holm, Saxo og krigskunst [2012], S. 116–119 argumentiert überzeugend, dass die Reiterei mit dem dazugehörigen Ethos der Kriegsführung sich in Dänemark kurz vor der Mitte des 12. Jhs. etablierte und sich in der Valdemarenzeit durchgesetzt hatte; vgl. auch Villads Jensen, Danmarks krigshistorie før 1600 [2008], S. 84f. und die Übersicht über bildliche Quellen in Dänemark bei Bengtsson, Hövisk kultur [2006], S. 204–209. 741 Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 106 mit Anm. 39 stützen sich auf ein Schreiben der Kreuzfahrer an Innocenz III. nach der Eroberung, das von insgesamt 60.000 Verteidigern spricht (Register Innocenz’ III. 6, ed. Hageneder/Moore u. a. [1995], Nr. 210 [211], S. 360). Dass Warangoi das größte Kontingent an Söldnern bildeten, zumindest nach der Flucht der Pisaner 1204, bestätigt Kolias, Military Aspects [2005], S. 129. 742 Der Bericht in der Chronik des Georgios Akropolites, des wichtigsten Historiographen für das Exilkaiserreich in Nikaia, ist für die hier zu behandelnden Details nicht informativ. Zum Verhältnis zwischen Niketas’ und Georgios’ Darstellung s. Macrides, Greek Sources [2005]. 743 S. unten, Anm. 767. 744 Vgl. auch im Folgenden die anschauliche Darstellung verschiedener, religiöser und merkantiler Motive unter nordalpinen Kreuzfahrern und Venezianern bei Angold, Fourth Crusade [2003], S. 50–71, welche byzantinischen Wahrnehmungen der »Lateiner« gegenübergestellt werden (ebd., S. 28–47) und so die politische Sackgasse verdeutlichen, in welche die transalpin-venezianisch-byzantinische Kulturverflechtung im frühen 13. Jahrhundert geführt hatte (ähnlich Lilie, Byzanz und die Kreuzzüge [2004], S. 165–170; Schreiner, Byzanz und der Westen [1992], S. 554–565, bes. 575–578; Schieffer, Zum lateinischen Byzanzbild [2008], S. 23–29; mit besonderem Focus auf die Rolle der Normannen in Konfrontation und Verbreitung negativer Byzanzbilder Kolia-Dermitzaki, The Norman Factor [2008]). Vgl.

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die relativ geringe Größe des Kreuzfahrerheeres, die nur gut ein Drittel der Erwartungen erreichte und damit die Venezianer unter finanziellen Druck setzte, die für den Transport einer größeren Armee erhebliche Investitionen getätigt hatten, die Kreuzfahrer und Venedig in Bedrängnis. Venedig selbst sah sich durch die Fixierung auf Byzanz im Levante-Handel, welche eine generelle Verlagerung des byzantinischen Reichs und seiner Wirtschaftszentren von Kleinasien nach Westen dokumentiert, von anderen Seerepubliken überflügelt, musste daher einerseits seine alte, 1171 empfindlich getroffene Machtposition im Byzantinischen Reich ausbauen und zugleich sicherstellen, dass ein erfolgreicher Kreuzzug neue Märkte auch östlich von Byzanz erschloss.745 Angesichts dieser Zwangslage sicherten die Kreuzfahrer gegen den Willen des Papstes zunächst Venedigs

auch die Literatur in Anm. 972. Zu den italienischen Städten Lilie, Handel und Politik [1984], S. 604–612, der auf der Basis einer erschöpfenden Analyse von Handelsverträgen die wirtschaftliche Abhängigkeit der Byzantiner von den Italienern bestreitet, aber gleichwohl deren wirtschaftliche und vor allem politisch-militärische Bedeutung angesichts der extremen byzantinischen Schwäche zur See hervorhebt; Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 195–221, sowie insbesondere zur langen Geschichte problematischer lateineuropäisch-byzantinischer Verflechtung im 12. Jh. Laiou, Byzantium and the Crusades [2005]. Weiterhin Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 40–54; Phillips, The Fourth Crusade [2004], S. 102–114; Phillips, Heiliger Krieg [2009], S. 284–302. Ältere Forschungsmeinungen, die den Dogen Enrico Dandolo als den hauptverantwortlichen Zuarbeiter des Bösen darstellen, welcher die Zwangslage der Kreuzfahrer von Anfang an bewusst herbeigeführt habe, um Konstantinopel ausrauben und brechen zu können (so z. B. bei Godfrey, Unholy Crusade [1980], S. 50; Nicolle, Byzantium and Venice [1988], S. 127), werden hier auch aufgrund der Verengung der Perspektive auf Venedig nicht weiter verfolgt. Harris, Byzantium and the Crusades [2003], S. 145–162 dagegen entwickelt die These, die wesentliche treibende Kraft neben dem Schisma und konkretem Geldbedarf sei Innocenz III. gewesen, der durch Drohung mit einer Wendung des Kreuzzugs gegen Byzanz die Kirchenunion befördern wollte. Seine Ansicht stützt sich auf Rechtfertigungen der Kreuzfahrer nach 1204 bzw. nach der Plünderung Zyperns sowie die spezifische Lesart eines Papstschreibens an Alexios III. Angelos von 1202. Abgesehen von der Zuspitzung auf ideologische Differenzen, zumal aus rechtfertigenden Selbstzeugnissen ex post, wird hier Venedigs Rolle ausgeblendet, vgl. Jacoby, Review Harris: Byzantium and the Crusades [2004]. Letztlich trugen die von Kindlimann, Die Eroberung von Konstantinopel [1969]; Ebels-Hoving, Byzantium in Westerse Ogen [1971], passim, bes. S. 260–269; Seidel, Byzanz im Spiegel [1977], S. 41–56 und Ní Chléirigh, The Impact [2011], bes. S. 180–182 behandelten Ressentiments der Lateiner, die sich seit den Chroniken des Ersten Kreuzzugs verbreiteten, erheblich zur Eroberung von 1204 bei; vgl. auch die Betonung byzantinischer Hilferufe als Auslöser der Kreuzzüge bei Frankopan, The First Crusade [2013], S. 87–100. Sich aber primär auf Mentalitäten als Ursache zu konzentrieren, verleugnet die komplexe Interaktion verschiedenster Faktoren im unmittelbaren zeitlichen Umfeld. 745 Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 309–320, 596–605 macht deutlich, dass die italienischen Seestädte, insbesondere aber Venedig, wirtschaftlich in viel höherem Maße vom Handel mit den byzantinischen Zentren v. a. auf dem Balkan anhängig waren als umgekehrt, da Byzanz eine agrarische Überproduktion vorzuweisen hatte und daher in höherem Maße autark war. Kleinasien, in der Zeit vor 1071 noch Gravitationszentrum des Reichs, hat in der Wirtschaftskonstellation der Komnenenzeit seine Bedeutung eingebüßt.

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Interessen in Dalmatien, was zur Plünderung Zaras führte, das unter der Herrschaft des ungarischen Königs der venezianischen Einflusssphäre entzogen worden war.746 Schließlich trug das Auftauchen des aus Byzanz geflohenen Alexios Angelos, des Sohnes des 1195 gestürzten Isaakios II. und Neffen von Alexios III. bei Philip von Schwaben, seinem Schwager, entscheidend zur Ablenkung des Kreuzzugs nach Konstantinopel bei. Philip stellte den Kontakt zum Anführer des Kreuzzugs her, seinem Vetter Bonifatius von Montferrat, dem Alexios für den Fall, dass die Lateiner seinen Anspruch durchsetzten, nicht nur die Begleichung der Schulden bei den Venezianern, sondern handfeste logistische und militärische Unterstützung auf dem Kreuzzug sowie die Kirchenunion zusagte.747 Die hierfür ursächliche, seit dem 11. Jahrhundert verfestigte byzantinische Vorstellung, man könne sich der zivilisatorisch und intellektuell unterlegenen westlichen Barbaroi unbeschadet eigener Interessen zu politischen und militärischen Zwecken bedienen,748 trug ihren Teil zur Umleitung des Kreuzzuges bei und fand in lateineuropäischen Ressentiments gegen verschlagene und verweichlichte Graeci und älteren Eroberungsabsichten angesichts gescheiterter, vermeintlich von den Byzantinern hintertriebener Kreuzzüge ihr Gegenstück.749 Endzeitprophetien waren schon bei früheren Kreuzzügen auf beiden Seiten mit ins Spiel gekommen.750 Im Juni 1203 begann die Belagerung der Stadt, nachdem Alexios Angelos der Eintritt verwehrt worden war, wobei es den Kreuzfahrern gelang, am 6. Juli den Galata-Turm zu stürmen und die Sperrkette an der Einfahrt zum Goldenen Horn zu zerstören.751 Beim Abwehrkampf, als es den Kreuzfahrern glückte, den in die Befestigung zurückweichenden Verteidigern durch das Tor nachzudrängen, kamen laut dem Augenzeugenbericht des Grafen Hugo von St-Pol Angli und Dachi/Dani neben Pisanern und Genuesen zum Einsatz.752 Die Belagerer konnten 746 Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 55–78; Phillips, The Fourth Crusade [2004], S. 118–126. 747 Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 82–99; Phillips, The Fourth Crusade [2004], S. 127–141. 748 Angold, Fourth Crusade [2003], S. 28–47, bes. 46f. Er bezieht sich auf ein Enkomion des Nikephoros Chrysoberges von Anfang 1204, das Alexios’ IV. schlaue »Benutzung« der Lateiner lobt, die ihnen zukomme. 749 Kindlimann, Die Eroberung von Konstantinopel [1969], bes. S. 183–185, 195–221; Laiou, Byzantium and the Crusades [2005], bes. S. 38–40. 750 Hierzu Brandes, Der Fall von Konstantinopel [2005]; Brandes, Konstantinopels Fall [2007]; Magdalino, Prophecies on the Fall [2005], S. 50–53. 751 Hierzu Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 101–118; Phillips, The Fourth Crusade [2004], S. 168–170; Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 236–239. 752 Chronica regia Coloniensis, ed. Waitz [1880], der Brief auf S. 203–208, hier S. 205. Hugo war als französischer Kronvasall aus der Picardie einer der hochrangigsten Teilnehmer des Vierten Kreuzzugs, nachdem er schon am Dritten teilgenommen hatte. Sein Brief an den Herzog Henri I. von Brabant, überliefert in den o.g. Annalen, in mehreren Varianten an

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nun ihre Angriffe auf das Blachernai-Viertel von Norden und die etwas schwächere Mauer zum Goldenen Horn hin zwischen dem Genuesenviertel und dem Blachernai-Palast koordinieren, und am 17. Juli gelang ihnen laut Niketas Choniates mit der Ramme der Durchbruch durch die Mauer im Blachernenviertel, den die Pisaner und die axttragenden Barbaroi jedoch heldenhaft abgewiesen hätten, was auch Geoffrey de Villehardouin bestätigt.753 Den Venezianern glückte die Einnahme eines Teils der Mauer am Goldenen Horn, die sie jedoch wieder aufgeben mussten, nachdem sie ein Großfeuer in der Stadt gelegt hatten, was ihnen leicht fiel, da gegen den Rat etwa des Kekaumenos Häuser von innen an die Mauer gebaut waren.754 Alexios III., der im Gegensatz zu seinem Schwiegersohn Theodoros Laskaris als quasi Unbeteiligter die Belagerung angesehen habe, habe nun handeln müssen und ein den Belagerern zahlenmäßig überlegenes Heer vor die Mauern geführt, sei jedoch vor der Schlacht zurückgeschreckt und unverrichteter Dinge in die Stadt zurückgekehrt, bevor er mit einem großen Teil des kaiserlichen Schatzes floh.755 Der Eunuch Konstantinos Philoxenites, der Verwalter des Schatzes, habe daraufhin die Initiative ergriffen, die Axtträger versammelt und mit ihnen sowie mit Anhängern des 1195 gestürzten und geblendeten Isaakios beraten, die zurückgebliebene Basilissa festzusetzen und Isaakios zum Basileus auszurufen.756 Selbstverständlich erwartete man sich hiervon das Ende der Belagerung, und Isaakios lud seinen Sohn umgehend in die Stadt ein, doch musste er zuvor die Zusicherung seines Sohnes

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verschiedene Adressaten versandt (eine Version an einen anonymen Empfänger, eine persönlichere Version an seinen Vasallen R. de Balues, eine verlorene, die als Vorlage für die Darstellung im Chronicon Anglicanum des Ralph von Coggeshall diente), entstand unmittelbar nach der ersten Eroberung im Juli 1203, nachdem Isaakios II. und Alexios IV. als neue Herrscher etabliert worden waren. Die in den Kölner Annalen überlieferte Version ist hier zitiert, da sie a) wohl die älteste ist und b) die Aufzählung der Fremden identisch ist, mit einer Ausnahme: Die anonyme Version zählt keine Angli auf, sondern Dani »und andere«. Zum Verhältnis der Versionen Pokorny, Zwei unedierte Briefe [1985] und die Einleitung sowie der kritische Apparat der Übersetzung: Andrea, Contemporary Sources [2000], S. 177–192 B85; Villehardouin: La conquête, ed. Faral [1938], Kap. 171, S. 172, Kap. 185, S. 188 nennt Englois et Danois, an letzterer Stelle auch a totes les haches, also mit Äxten bewaffnet. Kolias, Military Aspects [2005], S. 133; Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 122– 134; Phillips, The Fourth Crusade [2004], S. 173–184; Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 239–242. NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ Ἀγγέλου 2, S. 545; vgl. Kekaumenos (B9). Kolias, Military Aspects [2005], S. 136–138 unterstreicht, dass weniger militärisch-technische Unterlegenheit als vielmehr die Abwesenheit einer vernünftigen Führung die Eroberung durch die Lateiner erleichterten, zumal das komnenische Militärsystem die Position des Feldherrn stark in den Mittelpunkt gerückt hatte (so auch Birkenmeier, Komnenian Army [2002], S. 235). So beklagt sich NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ Ἀγγέλου 2, S. 546f. auch bitter über Alexios’ Verhalten im Moment der äußersten Krise. B86.

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Von Warangoi und Axtträgern

Alexios an die Kreuzfahrer bekräftigen. Am 1. August wurde Alexios (IV.) zum Symbasileus gekrönt. Die folgenden Monate schildert Niketas Choniates aus nachvollziehbaren Gründen als eine einzige Abfolge von Katastrophen: Isaakios habe die Kirchenschätze einschmelzen lassen, um die Lateiner zu befriedigen757 und sich ansonsten mit megalomanen Träumen von der Weltherrschaft beschäftigt,758 den von Alexios III. protegierten Amalfitanern und Pisanern ihre Privilegien entzogen und damit die letzten Lateiner auf byzantinischer Seite (außer den Axtträgern) in die Arme der Kreuzfahrer gedrängt,759 während sein Sohn sich mit den Lateinern gemein gemacht habe, die das Umland ausraubten. Im August 1203 kam es zur Plünderung der arabischen Niederlassung in Konstantinopel durch die Lateiner, wobei ein Großbrand einen erheblichen Teil der Stadt zerstörte.760 Um den in Philippopolis sitzenden Alexios III. zu besiegen, mussten für nochmals mehr Geld die Kreuzfahrer angeworben werden.761 Niketas zeichnet insgesamt das Bild einer Stadt, die sich samt ihren Herrschern gleichsam in der Geiselhaft der Kreuzfahrer befand.762 Bitten der Bevölkerung, etwas gegen die Lateiner zu unternehmen, hätten Isaakios und sein Sohn abgelehnt, so dass es am 25. Januar 1204 zu einem Volksaufstand kam, der am 28. aufgrund der Verweigerung in Frage kommender Aristokraten zur Erhebung eines gewissen Nikolaos Kannabos führte, während der erkrankte Isaakios II. im Sterben lag.763 Sein Sohn Alexios hätte eine letzte rote Linie überschritten, als er mit Bonifatius von Montferrat die Niederschlagung des Aufstands mit Hilfe der Lateiner plante. Deshalb habe sich der pro¯tovestiarios Alexios Doukas Mourtzouphlos mit dem Eunuchen Konstantinos Philoxenites zusammengetan, der schon zuvor Isaakios II. aus der Versenkung hervorgeholt hatte und nun die Axtträger überzeugt hätte, sich dem Doukas anzuschließen.764 Mit ihnen im Rücken sei er, der als oberster Finanzverwalter Zugang zum Palast hatte, nachts in den Blachernai-Palast gestürmt und habe Alexios IV. klargemacht, dass draußen der Mob und die Axtträger stünden, bereit, ihn zu töten, da er eine Marionette der Lateiner sei. Die vorgegebene Absicht, den Basileus retten zu wollen, erleichterte die Gefangennahme des Angelos durch die Bewaffneten, die dem Zusammenhang nach Waräger gewesen

NC, Βασιελεία δεύτερα Ισαακίου τοῦ Ἀγγέλου καὶ τοῦ υἳου αυτοῦ Αλεξίου, S. 551f. bzw. 555f. Ebd., S. 557f. Ebd., S. 552f. Ebd., S. 553–556. Ebd., S. 556. Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 135–147; Phillips, The Fourth Crusade [2004], S. 185–220. 763 NC, Βασιελεία δεύτερα Ισαακίου τοῦ Ἀγγέλου καὶ τοῦ υἳου αυτοῦ Αλεξίου, S. 561f. 764 B87. 757 758 759 760 761 762

Komnenoi, Kreuzfahrer und Warangoi

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sein müssen, und die Usurpation des Doukas. Abermals wiederholen sich Ereignisse und Muster ihrer Erzählung: Die Mischung aus dem Mob und den Warägern benutzte bei Niketas schon Andronikos 1182, um die Richter tou velou einzuschüchtern, und die Waräger wechseln hier seit 1180 zum vierten Male innerhalb der Stadt mit einem klaren Blick für die Realitäten bei einer Usurpation die Seiten. Abermals führte der Sturz zum Mord am ehemaligen Herrscher. Die Warägergarde, von der man mit einem gewissen Vorbehalt für die Zeit ab Andronikos sprechen darf, hatte zwar ihre Funktion oft genug erfüllt, so lange die Kräfteverhältnisse eindeutig waren, stellte aber weder für Andronikos Komnenos noch für Alexios IV. Angelos eine wirksame Lebensversicherung dar, ganz im Gegenteil. Mit der festen Einbindung skandinavischer und englischer Migranten in den Palastbetrieb stieg auch die Integration in die etablierten Mechanismen des gewaltsamen Machtwechsels.765 Da es unter Alexios V. zu keiner Einigung mit den Lateinern kam, wurde Konstantinopel erneut belagert, und am 12. April 1204 wurde die Stadt von Petria etwas südlich des Blachernenviertels her gestürmt, geplündert und brandgeschatzt. Robert de Clari beschreibt ähnlich wie später Salimbene von Parma Encles, Danois et Grius im Kampf auf der Mauer nahe dem Mangana-Palast;766 auch die Erste Novgoroder Chronik sieht varjagi auf den Mauern Konstantinopels kämpfen.767 Alexios V. Mourtzouphlos floh.768 Nachdem sich am kommenden Tag Theodoros Laskaris beim Wettstreit um die Nachfolge des Alexios in der Hagia Sophia durchgesetzt, jedoch laut Niketas keine Insignien angelegt hatte, habe er am Milion gemeinsam mit dem Patriarchen versucht, die Bevölkerung sowie die Axtträger zur Verteidigung zu motivieren. Den letzten Moment, in dem man für die nächsten Jahrzehnte von Warägern in einem byzantinischen Text liest, gestaltete Niketas Choniates sorgfältig in seiner Dramatik:769 Aus 765 Die hohe Funktionalität dieser Mechanismen nach dem Tode des Manuel Komnenos dokumentiert Cheynet, Pouvoir et contestations [1990] in seiner Auflistung der Umsturzversuche zwischen 1180 und 1204, ebd. Nr. 150–207, S. 110–145. 766 Robert de Clari: La conquête, ed. Lauer [1924], Kap. 74, S. 73, Z. 39–43; auch hier sind sie mit haches, Äxten, bewaffnet. Zum hohen ereignisgeschichtlichen Quellenwert der Augenzeugenberichte, auch desjenigen bei Villehardouin, der bei den Ereignissen von 1204 keine Danois erwähnt, vgl. Noble, Importance of Old French Chronicles [2001], bes. S. 414–416. Außerdem Salimbene v. Parma: Chronik, ed. Holder-Egger [1913], S. 23, Z. 34–36. 767 Erste Novgoroder Chronik, ed. Dietze [1971], fol. 69v, S. 81; zur Chronik als Quelle Freydank, Die altrussische Erzählung [1968]. 768 NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ Δούκα τοῦ καὶ Μουρτζούφλου, S. 569–571. Die vernichtende Charakterisierung (ebd., S. 565f.) relativiert Noble, Eyewitnesses [2002] durch die Kontrastierung mit Eindrücken aus Geoffrey de Villehardouin und Robert de Clari. 769 B88. Inhaltlich parallel die Erste Novgoroder Chronik, ed. Dietze [1971], fol. 69v – 70r, S. 81f. Auch dort versucht der Basileus vergeblich, seine Leute zum Widerstand zu bewegen, jedoch begegnen hier keine spezifischen Gruppen, und der Chronist kennt Theodoris Laskaris nicht, den er durch Alexios V. Doukas Mourtzouphlos ersetzt.

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Von Warangoi und Axtträgern

πελέκεις werden in der indirekt wiedergegeben Ansprache des Laskaris von den Schultern geschwungene ἀρεϊκὰ σιδῆρια, »areische«, kriegsgewaltige Eisenwaffen; ihre Träger werden als περιώνυμα τῆς βασιλέων φυλακῆς, »weithin berühmte Wächter der Basileis«, angesprochen und ihnen der Verlust dieses Status und ihres hohen Soldes angedroht, sollten sie nicht kämpfen; ein Ilias-Zitat beschließt die Passage. Die Darstellung zielt auf den Effekt, die Waräger als furchteinflößende, kampfstarke Krieger darzustellen, die im Straßenkampf zur Verteidigung des Palastkomplexes durchaus etwas hätten erreichen können. Sie hätten jedoch versucht, für einen solchen Einsatz mehr Sold zu erpressen, und als sich schließlich Lateiner in Angriffsformation zeigten, habe Theodoros Laskaris aufgegeben und sei nach Nikaia geflohen. Die Lateiner seien auf keinerlei Widerstand mehr gestoßen, woraufhin Niketas sich wieder ihrer Plünderung und ihren Gräueltaten zuwendet.770 Diese Darstellung deckt sich mit den Kreuzfahrerchroniken insofern, als diese berichten, die Kleriker der Engles und Danois sowie anderer Völker hätten sich nach dem Fall der Stadt am nächsten Morgen in einer Prozession zum Lager der Franken begeben, um Gnade gebeten und die Eroberer über die Flucht der reichen und mächtigen Byzantiner aus der Stadt informiert, eine Nachricht, welche die Eroberer freudig aufgenommen hätten. Es handelte sich bei diesen Klerikern offenbar um Lateiner wahrscheinlich aus ihren jeweiligen Heimatländern.771

770 NC, Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ Δούκα τοῦ καὶ Μουρτζούφλου, S. 572–582. Vgl. auch den folgenden autobiographischen Bericht über seine Eindrücke aus der Stadt nach der Einnahme, ebd. S. 587–591. 771 Robert de Clari: La conquête, ed. Lauer [1924], Kap. 80, S. 79: »Quant che vint l’endemain par mattin, si ne font mais el prestre et clerc revestu, Engles, Danois estoient et gens d’autres nations, si vienent il a l’ost as Franchois a pourchession, si leur creint il merchi, si leur disent tout ensi comme li Griu avoient fait, et si disent que tout li Grius’en estoient fiu ne n’avoit remés en le chité fors povre gent.« Erstens fehlt ebd. jedwede Feindseligkeit gegen Orthodoxe bei der Beschreibung der dänischen und englischen Geistlichkeit, zweitens bleiben die Warangoi in Konstantinopel (vgl. den folgenden Text), drittens sind die Franken laut Robert erfreut, als sie die Priester sehen und ihre Nachricht von der Flucht der Mächtigen hören. Inwiefern sich der Hinweis bei Bibikov, Byzantinoscandica [1996], S. 206, Mesarites betone die Orthodoxie der »Bogenschützen«, auf Axtträger bzw. Warangoi beziehen lässt, ist sehr zweifelhaft. Auch Blöndal, The Last Exploits [1939], S. 13 meint, die Waräger seien »orthodox« gewesen; vgl. dagegen aber mit Hinweis auf die o.g. Ereignisse Ciggaar, St. Thorlac’s [1979], S. 442. In diesem Kontext erklärt Blöndal, S. 256/167 Roberts Bericht für fehlerhaft, weil er sich nicht vorstellen kann, es habe angesichts des Schismas zahlreiche lateinische Priester in der Stadt geben können. Er glaubt, es müsse sich stattdessen um WarägerOffiziere gehandelt haben. Die eigene Vorstellungskraft, welche Blöndal andernorts höchst spekulative Aussagen etwa über die Waräger unter Basileios II. erlaubt, ist jedoch kein hinreichendes kritisches Kriterium, um leichthin einen Augenzeugenbericht zu verwerfen, dessen Quellenwert sich als sehr hoch erweist (vgl. Noble, Baldwin of Flanders [2007]).

Komnenoi, Kreuzfahrer und Warangoi

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Über die Eroberung hinaus Die Waräger kämpften also gemäß Niketas Choniates und den Kreuzfahrerberichten nicht mehr, nachdem die Lateiner in die Stadt eingedrungen waren, unabhängig zunächst davon, zu welchen Schlüssen moderne Rekonstruktionen des Hergangs auch gelangen mögen. Einmal mehr hatten Zuwarten und Seitenwechsel im rechten Moment die Gardeeinheit (und damit vor allem ihre Bezahlung) sowie das Leben ihrer Angehörigen gerettet. Nicht so aus byzantinischer Sicht: Die Drohung, welche Niketas Choniates den Theodoros Laskaris aussprechen lässt, die Waräger würden ihren Status verlieren, wenn sie nicht kämpften, wird in der Tat wahr – zumindest was das byzantinische Schrifttum angeht. Für die Zeit des byzantinischen Exilreichs in Nikaia findet sich für ein halbes Jahrhundert bis zum Ende der Herrschaft Ioannes’ III. Doukas Batatzes 1254 nicht ein einziger Beleg von Warägern, Axtträgern oder einer ähnlichen Palasteinheit aus westlichen Barbaroi, und dieser Beleg ist zudem unsicher.772 Georgios Akropolites, der hohe Ämter, schließlich dasjenige des μέγας λογοθέτης bekleidete, ein persönlicher Vertrauter Michaels VIII., des Rückeroberers von Konstantinopel war und daher als wichtigste und wohlinformierte Quelle für die Geschichte Nikaias gilt, weiß gar nichts über Waräger zu berichten.773 Nur sein Nachfolger Georgios Pachymeres, dessen Geschichte am Ende des 13. Jahrhunderts entstand, erst ab 1260 detailliert wird und eine genauere Kenntnis der Verhältnisse beziehungsweise von Dokumenten verrät, erwähnt zweimal vor 1260 ein Κελτικὸν πελεκυφόρον (»axttragende Lateiner [Keltoi]-Einheit«), welches den kaiserlichen Schatz bewacht habe. Es bleibt hier offen, ob es sich um einen Anachronismus handelt. Dass also die Byzantiner in Nikaia vor der Jahrhundertmitte eine Warägergarde besaßen, bliebe reine Spekulation ohne Grundlage. Zwar besagt die Erste Novgoroder Chronik, welche im Eintrag zu 1204 die Eroberung der Stadt ausführlich behandelt: »Griechen und Waräger, die geblieben waren, wurden aus der Stadt gejagt«, ohne mitzuteilen, wohin sie gingen. Angesichts der Tatsache, dass die Griechen nicht vertrieben wurden, ist die Äußerung wohl eher als Verdeutlichung der Feindseligkeit bei den Eroberern und nun kommender lateinischer Dominanz zu verstehen.774 Byzantinische Wandmalereien jener Zeit schildern »Axtträger« als Wachen etwa bei der Darstellung der Verhaftung Jesu, doch 772 B98. Vgl. unten, S. 271f. Die Überlegungen bei Blöndal, S. 259f./170 sind Spekulation. 773 Zu Akropolites und seinem Quellenwert George Akropolites: The History, ed. Macrides [2007], bes. S. 34–41, 71–75, zum Verhältnis zwischen Akropolites und Pachymeres auch Macrides, The Thirteenth Century [2003], S. 64–76, die Akropolites’ vermeintliche »Objektivität« und Verlässlichkeit nachdrücklich in Zweifel zieht. 774 Erste Novgoroder Chronik, ed. Dietze [1971], fol. 71r, S. 82. Gleichwohl ist der Bericht der Chronik über die Eroberung insgesamt gut informiert; vgl. auch Ciggaar, St. Thorlac’s [1979], S. 435; Freydank, Die altrussische Erzählung [1968], bes. S. 343.

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repräsentieren diese nicht wie der Madrid-Skylitzes nordeuropäische Streitäxte, sondern zeigen verblüffend kleine Axtköpfe mit gegenüberliegendem Hammer.775 Sie lassen darauf schließen, dass Wachmannschaften in der Vorstellungswelt der Zeitgenossen mit Äxten ausgestattet zu sein hatten, dass aber die Künstler mit dem Aussehen der »Dänenaxt« nicht vertraut waren. Zweifellos schwand das Bewusstsein um die Bedeutung, welche die Axtträger unter den Komnenoi und Angeloi besessen hatten, zu keiner Zeit. Dass es indes 1204 zu genau der Unterbrechung einer Warägertradition kam, welche Niketas Choniates wohlgemerkt aus der Perspektive eines nachher in Nikaia Schreibenden nahelegt, ist angesichts des Schweigens aller Akteure, die selbst in Nikaia eine Rolle spielten, sehr wahrscheinlich. Gerettet hatten sich die Waräger dennoch, denn es finden sich drei gewichtige Indizien für die Existenz einer Warägergarde am lateinischen Kaiserhof, zumindest im ersten Jahrzehnt nach der Eroberung: ein Papstschreiben, das Dani und Angli in Konstantinopel erwähnt, welche die Zahlung des Zehnts verweigerten,776 ein Wunder des soeben kanonisierten isländischen Bischofs Þorlákr in der Armee des Lateinischen Kaisers777 und gegenwartschronistische Notizen in den so genannten Bo˛glunga so˛gur über norwegische Auswanderer nach Konstantinopel nach 1204.778 Möglicherweise zeigt sich auch in der Vorgeschichte der Gesta Danorum, die von Kämpfen am Hellespont erzählt, ein Reflex auf die Schlacht von Adrianopel im Jahre 1205.779 Eine gewisse Anziehungskraft auch des 775 D’Amato, The Varangian Guard [2010], S. 12. Sein Beispiel, eine Wandmalerei aus Hagios Ioannes zu Arabissos (Karsi Kilise) von um 1212, ist daher eher als Repräsentation von Vergangenem und Fortführung einer ikonographischen Tradition zu bezeichnen denn als Wiedergabe von Alltäglichem. Die von D’Amato betonte Darstellung von Wachen mit hellem Haar tut ebenfalls nichts zur Sache; wie der Madrid-Skylitzes beweist, existiert in der byzantinischen Kunst keine solche biologistische Distinktion von Nord- und Südeuropäern. 776 Register Innocenz’ III. 11, ed. Hageneder/Sommerlechner u. a. [2010], Nr. 23, S. 28 (1208, um März 8: Innocenz III. an den Bischof von Gallipoli, den Dekan der H. Sophia und den Propst der Apostelkirche/Konstantinopel): Pisani, Lombardi, Langobardi, Amalfitani, Dani, Anglici und übrige nationes sollen durch Strafe gezwungen werden, den Zehnten zu leisten. Das Wortpaar Dani/Anglici, identisch mit den Kreuzfahrerberichten, deutet darauf hin, dass die Gruppen identisch sind und sich angesichts ihrer alten Privilegien nicht mit neuen westlichen Gepflogenheiten in der Stadt anfreunden können oder wollen. Vgl. Ciggaar, St. Thorlac’s [1979], S. 435f. 777 NI 61. 778 NI 66+NI 67. Blöndal, S. 256–259/167–170 bespricht allein das Þorláks-Wunder, dessen Quellenwert er für zweifelhaft erachtet, weil das Wunder den Kaiser Philip statt Henri nennt. Er ist der Ansicht, dass Waräger, falls sie denn im Lateinischen Kaiserreich existierten, lediglich als »óbrótnir liðsmenn« / »ordinary soldiers« eingesetzt wurden (S. 256/167). Dagegen aber Ciggaar, St. Thorlac’s [1979], S. 436f., die die Geschichte mit der Verteidigung der Burg Stenimachos durch Renier von Trit, den Herzog von Philippopolis, gegen Bulgaren und abgefallene Byzantiner 1206 in Verbindung bringt, die durch Henri von Flandern entsetzt wurde. 779 Riis, Einführung [2004], S. 17f. Er bezieht sich auf D29+D31; vgl. dazu näher unten, S. 413.

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lateinisch beherrschten Konstantinopel auf Skandinavier – abgesehen von immateriellen, in den skandinavischen Eliten sozial vermittelten push-Faktoren – ist durchaus vorstellbar, war doch die ökonomische Situation vor Ort keineswegs von Anfang an schlecht,780 und die lateinischen Kaiser brauchten kaum etwas dringender als Kämpfer. Es ist denkbar, dass mit dem Bedeutungsverlust und der Dekomposition des Lateinischen Kaiserreichs, dessen Herrscher in den 1210erJahren durchaus erhebliche Macht besessen hatte, die Waräger später wieder auf die byzantinische Seite wechselten;781 nach 1261 jedenfalls existiert eine gut dokumentierte, in ihrer Zusammensetzung aber schwer zu fassende Warägergarde am Hof der Palaiologoi in Konstantinopel. Das Verdikt über die geldgierigen Feiglinge von 1204 sollte sich also nur bedingt erfüllen.

3.6.

Dekonstruktion eines Mythos

Die »Warägergarde«, falls sie denn tatsächlich als eine solche existierte, erweist sich im Hinblick auf die byzantinische Wahrnehmung als ein ausgesprochen spätes Phänomen. Die Analyse aller Fundstellen von Warangoi, Axtträgern, Tauroskythai, Barbaroi vom Okeanos und ähnlicher Formulierungen zeigte, dass Skandinavier sich spätestens seit dem 10. Jahrhundert im byzantinischen Militär als Hilfstruppen befunden hatten, denen seitdem eine wachsende Bedeutung zukam. Am Hof als Bestandteil des Zeremoniells lassen sich Ῥῶς schon bei Konstantinos Porphyrogennetos, mit Äxten bewaffnete Skandinavier indes erst in Texten seit dem späteren 11. Jahrhundert fassen, jedoch keineswegs als ethnisch distinkte Gardeeinheit. Texte, die vor der Herrschaft Alexios’ I. Komnenos entstanden, sprechen grundsätzlich von verschiedenen Barbaroi am Palast, was die Hypothese stützt, dass auch die Skandinavier am Hof in die hetaireia, die persönliche Gefolgschaft der Basileis, integriert waren, die aus hochrangigen byzantinischen Aristokraten und einer Masse an ethnikoi bestand, welche für den persönlichen Schutz des Basileus mitverantwortlich waren. Wenn man sie unvoreingenommen von Sagatexten liest, die gerade für das 10. und 11. Jahrhundert kaum quellenkritisches Eigengewicht besitzen, stützen durchweg gut 780 Vgl. Jacoby, Economy [2005], S. 211–214. 781 Zum Lateinischen Kaiserreich, seiner Bedeutung und den Ursachen seines Niedergangs s. Angold, Fourth Crusade [2003], S. 129–148, bes. S. 129–135; zur gescheiterten Heiratspolitik seiner Kaiser Angold, The Latin Empire [2011], S. 64f. Weiterhin Harris, Byzantium and the Crusades [2003], S. 162–182; Phillips, The Fourth Crusade [2004], S. 304–309; Lock, Franks in the Aegean [1995], S. 162–172; zur militärischen Bedeutung unter den ersten beiden Kaisern Noble, Baldwin of Flanders [2007]. Die bemerkenswerte Indifferenz des lateinischen Westens gegenüber dem nun »fränkischen« Griechenland, die ihren Beitrag zum Verfall insbesondere des Lateinischen Kaiserreichs leistete, behandelt Barber, Western Attitudes [1989].

260

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informierte byzantinische Texte keineswegs die Annahme, es habe vor Alexios Komnenos oder gar schon seit 988 eine »Warägergarde« als Einheit existiert. Sie erweist sich als ein Mythos, welcher aus der Amalgamierung von Sagas des 13. Jahrhunderts mit byzantinischen Texten entstand, die häufig gegen ihre Eigenlogik interpretiert wurden, und der so Tatsachen schuf, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Erst in byzantinischen Texten, die seit dem letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts entstanden, lässt sich eine Veränderung in der rückblickenden Perspektive auf Ereignisse bis 1081 verfolgen, die nun ex post Warangoi am Werk sieht, wo zeitgenössische Texte unspezifisch blieben. Dieser Wandel lässt sich seit der Chronik des Skylitzes auch in der Umformung älterer schriftlicher Vorlagen derart konsequent verfolgen, dass man einen synchronen Hintergrund hierfür annehmen muss: Der radikale Wandel, welchen das byzantinische Militär und die Hofgesellschaft zwischen der Usurpation des Komnenen Alexios 1081 und dem Ersten Kreuzzug durchgemacht hatte sowie das Auftauchen von Warangoi als Senatoren festigen entscheidend die Annahme, dass Waräger, Skandinavier und Angelsachsen, als distinkte ethnische Gruppe am Hof erst zu seiner Zeit bedeutsam wurden – mit entsprechenden Konsequenzen für das Geschichtsbild und das Sprechen über Geschichte. Diese historiographische Entwicklung setzt sich fort und erreicht mit Anna Komnenes Alexias, der Chronike¯ die¯ge¯sis des Niketas Choniates und dem Erfahrungsbericht des Nikolaos Mesarites über eine Palastrevolte von 1201 ihren Höhepunkt, zeitgleich mit dem geographischen Wissen über die Herkunftsländer der Waräger. Einerseits ist die Wortpalette zur unterschiedslosen Benennung der anglophonen und skandinavischen Barbaroi als Βάραγγοι und πελεκυφόροι seit dem früheren 12. Jahrhundert ebenso verfestigt wie ihre Funktion als Begleiter des Basileus im Feld und seit 1118 als Palastwächter, andererseits werden sie nun sowohl durch die Funktion als auch durch sich hieraus ergebende Eigenschaften von anderen Barbaroi, insbesondere Lateinern, qualitativ abgehoben. Innerhalb dieses langen 12. Jahrhunderts besonders intensiver byzantinischskandinavischer Interaktion in Byzanz unterscheidet sich schließlich die Zeit nach Manuel Komnenos’ Tod 1180 nochmals markant von den vorangegangen Jahrzehnten: Durch den Zusammenbruch der Grundlagen, welche das komnenische Herrschaftssystem stabilisiert hatten und die hiermit einhergehende Destabilisierung der persönlichen Herrschaft kam den Axtträgern in Konstantinopel eine erheblich gewachsene Bedeutung zu, die sich in einer außerordentlich hohen Frequenz an Erwähnungen sowie der besonderen Wertschätzung ausdrückt, welche ihnen der Hüter des größten Kirchenschatzes zollt. Auch die Interaktion zwischen einflussreichen Byzantinern und Warägern scheint in der fraglichen Zeitspanne verdichtet. Auf der anderen Seite offenbaren die nun

Komnenoi, Kreuzfahrer und Warangoi

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dichtmaschig beobachteten und beschriebenen Waräger, die allein während der Gewaltherrschaft Andronikos’ I. Komnenos 1180–82 eine exklusive Leibgarde gebildet haben könnten, auch hier Eigenschaften, welche wie schon an anderen Stellen dem Warägermythos, der die Forschung weitgehend beherrscht, diametral entgegenstehen. Besonders anschaulich lassen sich dieser Mythos und seine sich selbst verstärkenden Elemente an gleichsam emblematisch wirkenden Feststellungen zum Beginn und zum Ende der Warägergeschichte in der mittelbyzantinischen Zeit illustrieren. So heißt es in der so intensiv rezipierten englischen Revision der »Væringjasaga« durch Benedikz zu den Ereignissen des Jahres 988 und ihren Folgen, als gemäß Michael Psellos zahlreiche »Tauroskythen« aus der Rus’ nach Byzanz kamen:782 »From this time onwards no hand was raised against Basil inside the Empire, nor could any hostile foreign power withstand him to the uttermost. There is no doubt that he revelled in his new-found domestic security, and that he ensured it through the creation of a life-guard which he knew to be exceptionally able, thoroughly dicipilined, and (most valuable of all) totally reliable. The new regiment relieved the Excubitores of the duties of personal guards to the Emperor, and from our available record of Basil’s many campains there is no doubt that wherever he went, they accompanied him and were the sperehead of many of his most successful ventures.«

Und etwas später:783 »[…] the [Varangian] regiment can be seen clearly as his specific creation in the military system, born partly out of chance, the provision of a large body of these tough, unscrupulous, but utterly loyal men at a moment of great decisiveness in Basil’s career, and partly out of his need for a permanent body of such men to surround him and give him that feeling of safety that his suspicious temper craved, and no Greeks could give him.«

Angesichts bisher festgestellter Differenzen zwischen dem außerhalb Islands und der Altnordistik praktisch nicht rezipierten Original und der englischen Revision überrascht es kaum, dass Blöndal selbst sich solcher Mythopoiesis enthielt. Er schreibt an Stelle des ersten Zitats:784 782 Blöndal (Benedikz), S. 45. So auch Benedikz, Varangian Regiment [1969], S. 23f. 783 Blöndal (Benedikz), S. 53, Hervorhebungen R.S. Diese merkwürdige Ansicht basiert möglicherweise auf seiner tendenziösen (Fehl-)Übersetzung einer Schlüsselstelle bei Psellos (B2), wo er die ἀγνωμοσύνη der Byzantiner mit »treacherous disposition« statt »Unbesonnenheit« wiedergibt (Benedikz, Varangian Regiment [1969], S. 23, vgl. auch unten, S. 268f.). Sinngemäß ähnlich Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 185–188; Shepard, The English and Byzantium [1973], S. 67f.; Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979], S. 71–74; Heath, Byzantine Armies [1979], S. 14–17. 784 Blöndal, S. 92, Übs. R.S. Über die Gründe, die Blöndal an einen Ersatz der Exkoubita durch die Warangoi unter Basileios denken lassen, kann man nur spekulieren. Möglicherweise bezieht er sich auf die Tatsache, dass Angehörige des Tagmas ab dem späten 10. Jh. auch in den Themata nachzuweisen sind, was indes nichts mit einer »Verlegung« aus der Hauptstadt

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Von Warangoi und Axtträgern

»Þetta var upphaf hinnar miklu sigursældar Basíls II. Upp frá þessu og þangað till hann dó (1025), má segja að hann ætti í stríði við nágrannaþjóðirnar allan tímann, og vann alltaf sigur. Innanlands var oftastnær góður friður, og ríkið efldist af velmegun. Það má telja víst, að hann hefur haft hinar mestu mætur á Væringjum, og látið sveit af þeim fylgja sér hvert hann fór. Líka verður að álíta, að það sé einmitt hann, sem hafi stofnað sérstaka lífvarðarsveit af Væringjum, og virðist svo að sú deild hafi tekið við af Excubitores-herdeildinni, en sú deild þá verið flutt frá Miklagarði í setuliðsstöðvar annars staðar.« »Dies war der Beginn der Unbesiegbarkeit Basileios’ II. Seitdem und bis zu seinem Tod (1025) kann man sagen, dass er sich ständig mit den Nachbarvölkern im Krieg befand und stets obsiegte. Im Land herrschte zumeist ein sicherer Frieden, und das Reich gedieh in Wohlstand. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass er die Waräger in höchstem Maße schätzte und sich von einer Truppe von ihnen begleiten ließ, wo immer er sich aufhielt. Ebenso ist anzunehmen, dass gerade er es war, der eine besondere Leibgarde-Einheit der Waräger begründete, und es scheint, dass diese Einheit das Excubitores-Tagma ablöste und letzteres aus Konstantinopel an einen anderen Standort versetzt wurde.«

Der zweite aus Benedikz zitierte Abschnitt, welcher das Kapitel über die Geschichte der Waräger vor Haraldr Sigurðarson mit einem Hinweis auf die Unzuverlässigkeit der »Griechen« beschließt, fehlt bei Blöndal ganz. Er stellt lediglich fest, die Armee habe sich zum Zeitpunkt von Haralds Eintreffen nach wie vor in einem sehr guten Zustand befunden. Benedikz kürzt hier eine ganze Reihe an Sachinformationen zu Gunsten eines im florissanten Stil evozierten, eingängigen, aber vom Original nicht autorisierten Bildes. Man sollte anmerken, dass keine der den Warägern zugeschriebenen, spezifischen Eigenschaften, weder »Skrupellosigkeit« noch »Loyalität«, aber auch nicht die im Original konstatierte Organisation als Leibgarde, nicht einmal der »mit Sicherheit anzunehmende« Einsatz bei allen von Basileios’ Militäraktionen eine verlässliche Quellenbasis besitzen, obschon genau dieser Eigenschaftskatalog den Warägern gemeinhin a priori zugebilligt wird. Wir wissen allein, dass den Rus’ in der byzantinischen Armee um die Jahrtausendwende eine wachsende Bedeutung als Infanterie, aber auch als Kavallerie zugekommen war. Dafür zeigt sich umso deutlicher eine Opposition zu den Eigenschaften der Byzantiner respektive »Griechen«, von denen Verrat, Usurpation und Intrigen ausgehen, gegen welche die »Warägergarde« einen effizienten Schutz bildet. Die in jenen Passagen enthaltenen Werturteile und Zuschreibungen sind zu Parametern geworden, welche die Interpretation von Texten in bemerkenswerter Weise lenken, insbesondere dann, wenn das Ziel des Erkenntnisgewinns nicht die zu tun hat, sondern mit der Verstärkung der Armee in den Themata vor Ort durch Elitesoldaten. Die Exkoubita ist zudem mindestens bis Alexios als Tagma nachzuweisen (Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 93–95, 103f.; Ioannes Zonaras [B55]).

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Geschichte der Waräger an sich ist, sondern letztere nur ein mehr oder weniger peripheres Element der eigenen Narration darstellt, die sich auf den Forschungsstand bezieht. So heißt es in einer anderen, erheblich jüngeren Publikation zum Vierten Kreuzzug und dem Ende der Kämpfe am 13. April 1204:785 »There, near the gilded arch of the milestone, stood the Varangian Guard, the only cohesive fighting force on which Constantinople could still rely. There was also a large number of citizens, some confused and frightened, others curious, others preparing for the next day’s ceremonies. Like Mourtzouphlos, Lascaris attempted to rally the people to support him. He joined them to fight the Latins, to resist those who had already done them such injury. But the people remained obdurate; not a single person responded to his exhortations. Lascaris then turned to the Varangians. The Guard was now accustomed to having its approval sought before a new emperor was installed. It is often assumed that the Varangians refused to fight for Lascaris, but that is not so. Although Nicetas has nothing but scorn for the corps during Byzantium’s darkest hour, he ist forced to admit that they agreed to fight after Lascaris agreed to pay them more money. Nicetas casts this as reprehensible extortion on the ax-wielders part, yet it was hardly that. The Varangians were, after all, mercenaries. If asked by an imeperial claimant what their conditions were for approval, increased pay would naturally come up. Besides, the imperial bodyguards were being asked alone to defend the entire city: they deserved more money. Having gained their assent, Lascaris sent the Varangian Guard off to engange the Latins on the morrow. To improve their resolve (which was granitic compared to the absent Greek soldiers), Lascaris reminded the Varangians that they fought not only as mercenaries but also for their own positions as well. If a Latin should seize the throne he would have no appreciation for the ›far-famed gifts of honour of the imperial guard,‹ nor would he pay the Varangians more than ›a hair’s worth.‹ The speech ended, the Guard marched away from the Milion toward what could only be a hopeless battle.«

Die ganze Darstellung, welche die Waräger nur als einen Nebenaspekt der Geschichte des Vierten Kreuzzugs behandelt und sich selbstverständlich bei diesem Nebenschauplatz auf den Forschungsstand beziehen muss, entfaltet emphatisch die Dramatik des Moments und sucht die Tendenz bei Niketas Choniates auszugleichen, indem sie die Perspektive der Waräger rekonstruiert. Sie stützt sich neben dem Vorwissen aus der »Væringjasaga« allein auf seinen Bericht, der schon besprochen wurde. Dort heißt es:786 »ἀλλὰ καὶ τοὺς σείοντας ἐξ ὤμων τὰ ἀρεϊκὰ σιδῆρια ἐς τὸν προκείμενον ἀγῶνα πέμπων ἐπώτρυνε, μὴ χρῶναι λέγων Ῥωμαίων ἔλαττον ἐκείνους τὸ ἀπολωλέναι δεδιέναι, ει᾿ πρὸς γένος ἕτερον τὰ Ῥωμαίων μεταρρέψουσι πράγματα· οὐ γὰρ μισθοφορήσουσιν ἔτι ἁδρῶς, οὐδὲ γέρα περιώνυμα τῆς βασιλέων φυλακῆς ἀπολήψονται, ἀλλ’ ἐν αἴσῃ καρὸς τετάξονται. καὶ ὁ μὲν πρὸς τούτοις ἦν· ὡς δ’ οὔτε τοῦ λεώ τις τῶν φωνῶν ἐπεστρέφετο, καὶ αὐτὸ δὲ τὸ πελεκυφόρον ἐπὶ μισθῷ τὴν σύναφσιν ἐπηγγέλλετο, ἐμπορίας καιρὸν 785 Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 190, Hervorhebungen R.S. 786 B88.

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ὑπούλως καὶ ἐπικλόπως τὴν ἀκμὴν τοῦ κινδύνου τιθέμενον, ἤδη δὲ καὶ κατάφρακτοι Λατινικαὶ προυφαίνοντο φάλαγγες, ἐκεῖθεν μεθίσταται καὶ τὸ σωθῆναι φθγῇ διατίθησιν.« »Er drängte auch diejenigen, die von ihren Schultern die kriegsgewaltige (areische) Eisenwaffe schwingen, in den Kampf. Er sagte, sie sollten nicht weniger als die Rhomäer ihren Untergang fürchten, sollte das Reich der Rhomäer an ein anderes Volk fallen; dann würden sie nicht mehr den dicken Sold erhalten und auch nicht die Ehre genießen, die berühmten Wachen der Basileis zu sein, sondern für gar nichts geachtet werden. So sprach er zu ihnen. Aber keiner vom Volk änderte seine Meinung, als er sprach, und seine Axtträger erklärten sich nur gegen Entlohnung zur Hilfe bereit, um tückisch und diebisch im kritischen Augenblick der Gefahr ein Geschäft zu machen, als sich bereits Reihen gepanzerter Lateiner zeigten, weshalb er sich abwandte und sein Heil in der Flucht suchte.«

Es geht unzweideutig aus Niketas’ Text hervor, dass die Axtträger mit Theodoros Laskaris feilschten bis genau zu dem Augenblick, als sich bereits (ἤδη) gerüstete Lateiner zeigten und der akklamierte Theodoros Laskaris sich zur Flucht wandte.787 Es ist nichts zu lesen von der angeblichen Einigung und einem Abmarsch der Waräger zum Kampf, weder in der Chronike¯ die¯ge¯sis, auf die sich obige Interpretation allein bezieht, noch in den Kreuzfahrer-Texten. Die Waräger kämpften nach dem Fall der Mauer nicht mehr. Warum und auf welche Weise es dennoch zu seiner solchen Interpretation der Quelle kommen konnte, welche eine Exkulpierung der von Niketas angeklagten Axtträger nach sich zieht und als fiktional, streng genommen als verfälschend bezeichnet werden müsste, verdeutlicht sich indes im Vergleich mit Blöndals und vor allem Benedikz’ Feststellungen über die edlen Eigenschaften der »Warägergarde«. Die Vorstellung von den rauen, harten, unbedingt treuen, legitimistisch eingestellten und absolut verlässlichen Kriegern der Byzantiner ist seit dem früheren 20. Jahrhundert gemeinsam mit anderen Vorstellungen über »Wikinger« zu einem Mythos geronnen. Er ruft so starke präreflexive Assoziationen hervor, dass die Quellen allem Augenschein nach ihr Vetorecht verlieren.788 Hinzu tritt im Falle der Waräger ein Dualismus, der sich letztlich nicht nur aus dem Germanenbild des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch aus Byzanzbildern der Kreuzfahrerhistoriographie speist: Hier der treue, tapfere, tatkräftige und edelmütige Germane, der sich zudem als Angelsachse, Däne, Isländer, Norweger oder Schwede nationalgeschichtlich vereinnahmen lässt, dort der verweichlichte Graecus perfidus.789 Aus

787 Textnah sind die Darstellungen von Angold, Fourth Crusade [2003], S. 100 und Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 258. Auch Blöndal, S. 254/166 hält sich an die Darstellung bei NC, was belegt, dass nicht eine bestimmte Narration, sondern ein »sekundäres semiologisches System« (Barthes, Mythologies [1957], S. 222) auf die Darstellung etwa bei Queller und Madden wirkt. 788 Vgl. Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit [1984], S. 204–207. 789 Zu Perzeptionen der »Griechen« in der lateineuropäischen Literatur im Zeitalter der

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den obigen Zitaten tritt jener Dualismus nicht in dieser Schärfe entgegen, und man wird keinem Forscher den Vorwurf intentionaler Germanentümelei machen wollen; nichtsdestoweniger ist aber der aufgezeigte Gegensatz als Bestandteil des Geschichtsbildes unverkennbar. Die »Griechen«, bemerkenswerterweise nicht die »Byzantiner«, können Basileios II. ab 988 nicht die nötige Sicherheit garantieren, sondern allein die »vollkommen verlässlichen« Waräger; 1204 erweisen jene sich gegenüber den »griechischen Soldaten« als »granithart«.790 Man kommt als Rezipient kaum umhin, sich gleichsam mit Tacitus im Hinterkopf den blonden, breitschultrigen Barbaren vorzustellen, der in seinen Umgangsformen vielleicht etwas simpel gestrickt, doch nicht in gleicher Weise von den Annehmlichkeiten und Verlockungen der Hochzivilisation angekränkelt ist wie der zeitgenössische Graeculus. Und in der Tat: Ein reich bebildertes populärwissenschaftliches Werk über die byzantinische Armee evoziert im Text und vor allem in den Abbildungen genau dieses Klischee (Abb. 4).791 Solche stark auf den »Volkscharakter« rekurrierende Deutungen beziehen sich nicht allein auf Schlüsselereignisse wie 988 und 1204, doch sie entbehren, wie eine sorgfältige Detailanalyse zeigen konnte, der Grundlage im byzantinischen Textmaterial. Sie sind aber als »sekundäres semiologisches System«792 derart im Bewusstsein des modernen Kollektivs verankert, dass des Niketas schlichte und vollkommen klare Äußerung, die Axtträger hätten auf die Aufforderung zum Kampf mit einer Diskussion um Solderhöhungen reagiert, bis die Lateiner am Milion eintrafen, zum Beleg für den heldenhaften Mut, die Kampfbereitschaft und den Einsatz der Warägergarde werden kann. Auf diese Weise ist der Forschungsdiskurs über die Waräger in einem Zirkelschluss gefangen, da sämtliche Quellen nur noch zur Bestätigung eines im Voraus vorhandenen Wissens um deren Eigenschaften dienen, das sich aus einem dominierenden Narrativ speist. Eine Konsequenz hieraus ist, dass die Kreuzzüge vgl. v. a. Carrier, Perfidious and Effiminate Greeks [2002]; Hunger, Graeculus perfidus – Ἰταλὸς ᾿ιταμός [1987]; Schreiner, Byzanz und der Westen [1992], S. 557–562, 577f.; vgl. auch oben, Anm. 744. 790 Ähnlich Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979], S. 73f., der die Tatsache, dass die Warangoi keinen der zahlreichen Herrschaftswechsel nach 1180 verhinderten, mit ihrer arglistigen Täuschung und Desorientierung in ihren perfiden Umfeld »entschuldigt«. Dabei werden wiederum explizite Äußerungen bei Niketas Choniates gegen ihre Eigenlogik interpretiert, nämlich dass Alexios Doukas Mourtzouphlos bei seinem coup d’état 1204 die Warangoi aus dem Palast fortgelockt hätte, um ungestört von der Garde Alexios IV. stürzen und ermorden zu können. In der Tat aber stützte sich seine Usurpation gerade auf die Warangoi, die er hinter sich gebracht hatte und die bereit waren, Hand an Alexios IV. Angelos zu legen, so zumindest die Beteuerung des Doukas (B87). 791 Heath, Byzantine Armies [1979], S. 14–17, s. außerdem daraus Abb. F (hier wiedergegeben), die auch den Titel des Buches ziert; weiterhin die Illustrationen in D’Amato, The Varangian Guard [2010], bes. Abb. B. 792 Barthes, Mythologies [1957], S. 222.

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Abb. 4: Angus McBride: Varangian Guardsmen, in Heath, Byzantine Armies [1979], Abb. F.

vermeintlichen Eigenschaften und Aktivitäten der Skandinavier in Byzanz über zwei Jahrhunderte lang trotz aller Umbrüche stabil erscheinen, obwohl sich auf der Basis des Sprachgebrauchs und der von den Historiographen beschriebenen Aktivitäten ein erheblicher diachroner Wandel erkennen lässt, gerade auch in

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den sie umgebenden Strukturen. Freilich, das sei nachdrücklich betont, stützt sich die von Blöndal begründete Sicht auf die Waräger ebenfalls auf Indizien, wenn auch im Wesentlichen auf nur zwei deutende Textstücke.793 Michael Psellos schreibt über die Revolte von Bardas Phokas und Bardas Skleros 988, Basileios II. sei sich der »Unbesonnenheit der Rhomaioi« (ἀγνωμοσύνη τῶν Ῥωμαίων) bewusst gewesen, doch habe er glücklicherweise kurz zuvor ein großes Kontigent an Tauroskythai erhalten, die er mit dem »übrigen fremden Heer« (ξενικὴν ἑτέραν δύναμιν) effizient einsetzen konnte. Psellos kritisierte mit der »Unbesonnenheit der Rhomaioi« keineswegs die selbstverständliche byzantinische Praxis der Verdrängung eines Basileus durch Usurpation, der, so der hier anschließende Mythos, Basileios II. mit Hilfe brutaler, aber ehrenwerter und eben zuverlässiger Waräger den Garaus gemacht habe. Hier werden hochmittelalterliche westliche Vorstellungen von der Unantastbarkeit der Herrscherperson, der ideellen wie der realen,794 Psellos untergeschoben. Er selbst war an der byzantinischen Praxis der Usurpation mehrfach maßgeblich beteiligt.795 Was Psellos als ἀγνωμοσύνη kritisiert, sind ungerechtfertigte und aussichtslose Usurpationsversuche wie derjenige des Phokas, welche das Byzantinische Reich schwächen. Ganz zweifellos wurden Waräger in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Basileis in Konstantinopel und Usurpatoren aus dem Militäradel im 11. Jahrhundert benutzt, doch fanden sie sich wie alle Truppen der Byzantiner auf beiden Seiten; man denke nur an die fehlgeschlagene Usurpation Nikephoros Bryennios’ des Älteren, der eine erhebliche Menge von ihnen nach Konstantinopel zu führen gedachte. Die zweite Grundlage des Warägermythos bildet eine bereits zitierte Passage bei Anna Komnene über die Eroberung Konstantinopels durch ihren Vater 1081.796 Sie schreibt:797 »[…] οἱ δέ γε ἐπὶ τῶν ὤμων τὰ ξίφη κραδαίνοντες πάτριον παράδοσιν καὶ οἷον παρακαταθήκην τινὰ καὶ κλῆρον τὴν ει᾿ς τοὺς αὐτοκράτορας πίστιν καὶ τὴν τῶν σωμάτων αὐτῶν φυλακὴν ἄλλος ἐξ ἄλλου διαδεχόμενοι τὴν πρὸς αὐτὸν πίστιν ἀκράδαντον διατηροῦσι καὶ οὐδὲ ψιλὸν πάντως ἀνέξονται περὶ προδοσίας λόγον.«

793 Michael Psellos zur Revolte des Phokas und Skleros 988 (B2); Anna Komnene zur Usurpation ihres Vaters (B41). 794 Vgl. Kantorowicz, The King’s Two Bodies [1957], S. 45–78, 314–346. 795 Vgl. Pietsch, Chronographia [2005], S. 103–112, 117–127; Hunger, Literatur [1978], S. 375– 377. 796 Unter anderem hierauf und auf Blöndal stützen auch Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 107 ihre Aussage, jeder Waräger habe einen nirgends in der byzantinischen Literatur belegten Eid geschworen, den Basileus zu schützen. (»Each member of the guard took a solemn vow to protect and obey the emperor. That vow ruled them for centuries; it should not be understimated.«) Ein solcher Eid ist nirgends belegt, sieht man von der stehenden Wendung ganga á mála (»in den Dienst treten«) in den Sagas, die auf einen eidlich besiegelten Vertrag hindeutet, ab. 797 B41.

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»[…] die anderen aber, die ihre Waffen [Schwerter] auf den Schultern schwingen, hätten als väterliche Tradition und gleichsam als Unterpfand und Erbe ihre Treue gegenüber den Kaisern und den Schutz ihrer Körper jeweils vom einen auf den anderen übernommen; sie hielten darum unerschütterlich an der Treue ihm gegenüber fest und würden auch das Reden über Verrat zweifellos schlicht ablehnen.«

Wie schon gezeigt, schildert Anna hier über ein halbes Jahrhundert nach dem Ereignis kein eigenes Erlebnis als Augenzeugin, sondern lässt zwei Gruppen, die Athanatoi und die Warangoi, die während der Herrschaft ihres Vaters und in der Gegenwart, in welcher der Text entstand, eine bedeutende Rolle spielen, völlig schuldlos aus einer Situation hervorgehen, in welcher der gestürzte Nikephoros Botaneiates verraten worden war. Es ist darüber hinaus nicht zu begründen, warum die ἀγνωμοσύνη τῶν Ῥωμαίων im um 1060 entstandenen Text des Psellos und die πίστις ει᾿ς τοὺς αὐτοκράτορας (»Treue zu den Basileis«) der Warangoi bei Anna, die nach 1137 schrieb, aus zudem zwei völlig verschiedenen Erzählzusammenhängen als Gegensatzpaar verstanden werden sollen.798 Darüber hinaus ist eine Übertragung von der Aussage in der Alexias, die unter bestimmten Konstitutionsbedingungen entstand und eine spezifische narrative Funktion erfüllt, auf die Situation etwa zwischen 1180 und 1204 nicht anders zu begründen als mit einer essentialistischen, überzeitlichen und damit letztlich volkstumsideologischen Vorstellung von Eigenschaften, welche die »Waräger« als Exponenten »germanischen Volkstums« besaßen. Gekämpft hatten die von Anna Komnene so gelobten Warangoi nicht gegen den Usurpator Alexios Komnenos, und so etwas taten sie eigentlich nie. Nur in einem Fall, als Romanos IV. Diogenes die Kaiserinwitwe in einer Nacht-undNebel-Aktion heiratete und sich so zum Basileus aufschwang, berichtet der Scylitzes continuatus von »Unruhe« (τάραχος) 799 bei den Warangoi entgegen der öffentlichen Meinung. Hier allerdings waren die Söhne der Basilissa, deren ältester bereits die Kaiserwürde besaß, am Palast anwesend und nicht entmachtet, so dass es wenig opportun schien, den Stiefvater ohne Konsens der Stiefsöhne und der übrigen Doukai zu akzeptieren, was für Angehörige der hetaireia auf die absehbare Zukunft unter einem Doukas hin riskant gewesen wäre. Bei anderen Gelegenheiten folgen die Waräger beziehungsweise ihre Vorläufer in der hetaireia dem entsprechenden Befehl eines Byzantiners.800 Zugleich finden sich Axt-

798 Zwar handelt es sich in beiden Kontexten um Usurpationen, doch betont Psellos, dass die »Tauroskythen« Basileios gerade zufällig zur Verfügung standen; allein Anna betont unter ganz anderen Umständen, nämlich direkten Verhandlungen mit einem Usurpator, die Treue der Warangoi. 799 B30 ( Januar 1068). 800 1. Bei der Erhebung des Theodosios Monomachos 1056 (SC, B28); 2. bei der Erhebung des Nikephoros Bryennios 1077/78 (Attaleiates, B13; SC, B43; Bryennios d.J, B38); 3. bei der

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träger auch auf der Seite der Usurpatoren als Bestandteil unter byzantinischen Einheiten, treten also auch hier im Gegensatz zu den Byzantinern nicht als selbstbestimmte Akteure hervor.801 Dem einen Fall »verlässlicher Treue« spezifisch der Warangoi, die im fraglichen Kontext Nikephoros III. nicht das Geringste half, weil sie keine Konsequenzen zeitigte, stehen nicht weniger als fünf dokumentierte Ereignisse entgegen, bei denen sie aktiv an Usurpationsversuchen beteiligt waren, von der Fügung in andere Situationen des Machtwechsels ganz abgesehen.802 Die Vorstellung, die »Warägergarde«, welche im 11. Jahrhundert als gesonderte Einheit überhaupt nicht existierte, sei von einem »legitimistischen« Corpsgeist geprägt gewiesen, erweist sich ebenfalls als Bestandteil ihres Mythos. Trotz allem zeigt sich in der Komnenenzeit, insbesondere bei Anna Komnene, Niketas Choniates und Nikolaos Mesarites eine Wertschätzung der Skandinavier und Engländer in byzantinischen Diensten; sie bezieht sich jedoch nicht auf die Eigenschaften, welche der Mythos ihnen zuschreibt, sondern bei Anna, Ioannes Kinnamos und Niketas zuallererst auf ihre militärischen Fähigkeiten im Feld. Als schwer bewaffnete Infanteriekämpfer, deren Kommandeure sich seit Alexios im unmittelbaren Umfeld der militärischen Berater des kaiserlichen Feldherrn befanden, waren sie in bestimmten Situationen gewinnbringend einzusetzen, zumal die Byzantiner über keine eigene schwere Kavallerie verfügten, die sich mit derjenigen der Lateiner messen konnte.803 Hinzu tritt ihre wahrscheinliche Funktion als Leibgarde des Niketas Choniates verhassten Andronikos Komnenos, der sich ganz auf Barbaroi zu seiner Bewachung verließ, und als Polizeikräfte in den turbulenten Jahren unter den Angeloi 1182–1204, als Mesarites lobt, wie sie die Ordnung herstellen, ohne wie andere Lateiner jede Gelegenheit zum Plündern zu nutzen. Auch in jener Zeit aber, als mehrere Usurpationsversuche und Volksaufstände mit Hilfe der Waräger abgewiesen werden, treten sie nur dann kämpfend in Aktion, wenn sie sich auf der Seite des Stärkeren befinden. So erweist sich bei näherer Analyse der byzantinischen Quellen eben jenes unfehlbare Gespür für die Zweckmäßigkeit von Loyalität oder Anpassung als die

Usurpation Ioannes Komnenos’ des Dicken (Mesarites, B63-B67; Tornikes, B68; Chrysoberges, B69; NC, B84). 801 So bei der Erhebung des Isaakios Komnenos 1057 (Psellos, B7+B8), des Nikephoros Bryennios 1077/78 (Attaleiates, B12; SC, B33+B34; Bryennios d.J, B38) und des Nikephoros Basilakes 1078 (SC, B35). 802 1. Als Angehörige der hetaireia beim Sturz des von den Seldschuken gefangenen Romanos IV. 1071 (Chronographia, B8; Bryennios d. J., B36); 2. ebenfalls in einer gemischten Gruppe beim Mordanschlag auf Nikephoros III. Botaneiates 1079/80 (Attaleiates B12; SC, B34; Zonaras B54; zur Problematik der Identifikation mit Warangoi beim SC und Zonaras s. oben, S. 176f.); 3. beim Sturz des Pro¯tosebastos Alexios und des Kinderkaisers Alexios II. Komnenos 1182 (NC, B75+B77); 4. bei der erneuten Erhebung Isaakios’ II. 1203 (NC, B86); 5. beim Sturz Alexios’ durch Alexios Doukas Mourtzouphlos 1204 (NC, B87). 803 Hierzu oben, S. 185.

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maßgebliche Eigenschaft der Waräger im 12. Jahrhundert, als ihre Bedeutung in Konstantinopel als Einheit sichtbar ist. Hinter diesem pragmatischen Sinn für das Machbare steht einerseits eine funktionale Integration in die sozialen Mechanismen des Hofs, welche die Einsicht in politische Wahrscheinlichkeiten und qualifizierte Entscheidungen ermöglicht, andererseits als prima causa das Streben nach Beute beziehungsweise besonders nach 1180, als in geringerem Maße und mit weniger Erfolg kriegerisch Politik betrieben wurde, nach guter Besoldung. Es rettet die Existenz der »Garde« durch alle wechselvollen Krisen auch über die Ereignisse im April 1204 hinaus ins Lateinische Kaiserreich. Zugleich ergibt sich hieraus ein Grund, warum das aus byzantinischer und aus heutiger Sicht einschneidende Ereignis von 1204 in keiner einzigen nordischen Quelle firmiert, weder in annalistischen noch in narrativen Texten. Unwissenheit kann es nicht gewesen sein: Über die Tatsache, dass 1204 ein Flame zum Kaiser gewählt worden war, war man im Norden genau orientiert, was angesichts der regen Kommunikation mit den lateineuropäischen Bildungszentren über gelehrte Netzwerke auch keineswegs überrascht.804 Andererseits waren die skandinavischen Oberschichten mit den Kreuzfahrereliten, die Byzanz erobert hatten, nicht verbunden, hatten also keinen Anteil an der Beute. Für die Erwerbsmöglichkeiten von Skandinaviern in Konstantinopel wiederum, auf dessen Seite sie bis 1204 gestanden hatten, bedeutete die Eroberung keinen unmittelbaren radikalen Einschnitt, und schließlich hatte man sich beim Übergang auf die Lateinerherrschaft keine »Ehre« (sœmð) bei Theodoros Laskaris erworben, von der üblicherweise bei Berichten über Byzanzaufenthalte in Sagas die Rede ist.805 Eingesteckte Niederlagen aber werden, insbesondere wenn sie zu einer Einigung mit dem Sieger führten, in der Historiographie Skandinaviens – und nicht nur dort – gerne verschwiegen und wären ohne nicht-historiographische oder fremde Quellen gar nicht mehr zu erschließen,806 abgesehen davon, dass der Vierte Kreuzzug langfristig generell keine große Resonanz in der lateineuropäischen 804 Jarteinabók Þorláks byskups o˛nnur, NI 61. 805 S. D24, D49 (hier lat. honor), NI 114, NI 143+NI 144, NI 170, NI 204+NI 205, NII 4; zu diesem Motiv vgl. Sverrir Jakobsson, Representations [im Druck]. 806 Als ein Beispiel sei das Schweigen aller skandinavischen Quellen über einen gescheiterten Heerzug des dänischen Königs Erik Lam nach England genannt; er ist aber in Sigeberti Gemblacensis chronica. Cont. Gemblacensis, ed. Bethmann [1843], S. 386 sub A.D. 1138 glaubhaft dokumentiert; den Hinweis hierauf verdanke ich einem Vortrag von Thomas K. Heebøll-Holm auf dem International Medieval Congress in Leeds 2014. Ein weiteres gutes Beispiel bietet die Affäre um die Aufhebung des Erzbistums Lund durch Innocenz II. 1137, als der spätere Erzbischof Eskil, damals noch Bischof von Roskilde, ein Scheitern seiner Ambitionen auf eine Verlagerung des Erzbistums nach Roskilde hinnehmen musste. Das just zu jener Zeit entstandene, von ihm in Auftrag gegebene Chronicon Roskildense und auch spätere Quellen verschweigen diese Zeit ganz einfach komplett und verschleiern seinen Gesichtsverlust, vgl. Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004]; Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 22–29.

Eine »palaiologische Renaissance«

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Historiographie erfuhr.807 So blieben die Waräger augenscheinlich unter Balduin I. und Henri von Flandern das, was sie unter den Komnenoi waren: Eine Palasteinheit von besonderer Bedeutung, die sich aus Sprechern anglophoner und nordgermanischer Dialekte zusammensetzte und deren Präsenz in der Hauptstadt und im Zeremoniell seit der Komnenenzeit zum festen Bestandteil der byzantinischen Kultur geworden war. Der Rest, lässt man die byzantinischen Quellen für sich stehen, ist Schweigen.

4.

Eine »palaiologische Renaissance«

4.1.

Nikaia

Das Schweigen der Historiographen prägt ebenfalls die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts, in welchen Nikaia den Zentralort der byzantinischen Herrschaft bildete, und es drückt mit großer Wahrscheinlichkeit die Abwesenheit einer Warangoi-Einheit aus, wie bereits betont wurde: Georgios Akropolites als wichtigster Historiograph jener Epoche kennt keine Waräger oder Axtträger, und nur sein Nachfolger Georgios Pachymeres weiß bei zwei Gelegenheiten vor der Wiedereinnahme Konstantinopels im Juli 1261 durch Alexios Strategopoulos von einem Κελτικὸν πελεκυφόρον, einer axttragenden Einheit aus »Keltoi« beziehungsweise »Lateinern«, zu berichten: 1254, als der Basileus Ioannes III. Doukas Batatzes im Sterben lag, habe sich der megas doux Michael Palaiologos, der spätere Kaiser Michael VIII., unter Vorspiegelung falscher Tatsachen aus dem kaiserlichen Schatz bedient, den ebenjene Axtträger bewacht hätten.808 Auch habe 1259, als Michael sich mit Zustimmung von Volk und Klerus zum Basileus krönen ließ und so den minderjährigen Ioannes (IV.) Laskaris verdrängte, die Furcht vor einem Aufbegehren zahlreicher Leute, darunter der Axtträger, dazu beigetragen, das Kind zu verschonen.809 Inwiefern Pachymeres hier etwa ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen die Vorgänge jener Jahre präzise wiedergibt oder er Verhältnisse seiner eigenen Lebenszeit beziehungsweise eine starke Assoziation Michaels mit Axtträgern zurückprojiziert, bleibt einmal mehr unklar; gegen die Authentizität spricht, dass Akropolites, dessen Darstellung

807 Vgl. die Quellenübersicht und Analyse bei Favreau-Lilie, Wahrnehmung des Vierten Kreuzzuges [2008], S. 215–222, 235f. 808 B98. 809 B99. Hierzu sei betont, dass Pachymeres’ komplizierter Stil die Aussage an dieser Stelle uneindeutig werden lässt. Es ließe sich auch eine gegenteilige Aussage herleiten, also dass die Axtträger Michaels Gegner einschüchterten. Zum Kontext vgl. Angold, Government in Exile [1975], S. 84–93; Nicol, The Last Centuries [1993], S. 30–32.

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Von Warangoi und Axtträgern

Michael VIII. ausgesprochen zugetan ist,810 die Garde seines Helden gar nicht erwähnt. Es ist durchaus denkbar, dass mit dem Zerfall des Lateinischen Kaiserreichs Waräger aus Konstantinopel nach Nikaia kamen. Unzweifelhaft belegt dagegen ist die Existenz einer Warägergarde erst etwas später, als Michael VIII. Palaiologos Konstantinopel zurückerlangt hatte.811 Eine einzige Urkunde aus dem nikaeisch kontrollierten Smyrna an der kleinasiatischen Westküste trägt ebenso wenig zu Klärung der Situation bei: Der Kaufvertrag über eine Mühle aus dem Jahr 1246 wurde unter anderen von einem Θεόδωρος ὁ Βαραγγίας besiegelt.812 Die Herkunft des Nachnamens bleibt ebenso im Dunkeln wie ein möglicher funktionaler Bezug. Dass sich indes seit dem 11. Jahrhundert Warangoi an verschiedenen Zentralorten des Byzantinischen Reichs aufgehalten hatten, deren Nachkomme jener Theodoros möglicherweise war, besagt noch nichts über die Verhältnisse nach 1204. Es scheint davon abgesehen aber wie gesagt nicht ausgeschlossen, dass die Waräger, welche nach 1204 im Dienst der lateinischen Kaiser gestanden hatten, mit dem Siegeszug der nikaeischen Basileis und dem Verfall des Lateinischen Kaiserreichs die Seiten gewechselt hatten; die Kirche der Maria Warangiotissa ist jedenfalls um die Mitte des 13. Jahrhunderts ein orthodoxes Heiligtum.813 Insbesondere seit den 1240er-Jahren gelang die Reintegration weiter europäischer Bereiche unter byzantinischer Kontrolle und die Eindämmung des Despotats Epiros.814 Es spricht indes nichts für eine kontinuierliche Warägertradition in Nikaia; die Bildtradition des früheren 13. Jahrhunderts deutet vielmehr das Gegenteil an.815

810 Hierzu George Akropolites: The History, ed. Macrides [2007], S. 39–41, 75. 811 Ähnlich vorsichtig äußert sich auch Geanakoplos, Michael Palaeologus and the West [1959], S. 43 mit Anm. 57, Angold, Government in Exile [1975], S. 187 akzeptiert Pachymeres’ Bericht als Tatsache, ebenso Blöndal, S. 261f./171; s. auch Ciggaar, St. Thorlac’s [1979], S. 435. 812 B90. 813 Janin, Géographie ecclésiastique [1969], S. 158. Die Aussagekraft dieser Feststellung ist freilich begrenzt, stützt sie sich doch allein auf den Namen der Kirche. Dass die Waräger 1204 über einen eigenen Klerus lateinischen Ritus’ verfügten, belegen indes Robert de Clari (Anm. 771) und ein Papstschreiben (Anm. 776), so dass, falls die Kirche ihre war, ihre Nutzung durch Orthodoxe auf die Abwesenheit von Warägern hindeutet. 814 Vgl. Angold, Government in Exile [1975], S. 279–296; Nicol, The Last Centuries [1993], S. 27–30. Zum Hintergrund der byzantinischen »Nachfolgestaaten« in Griechenland vgl. Magdalino, Between Romaniae [1989], S. 88–98; Prinzing, Epiros 1204–1261 [2011], S. 81–85. 815 S. oben, Anm. 775.

Eine »palaiologische Renaissance«

4.2.

273

Michael VIII. Palaiologos

Ganz anders stellt sich wiederum die Situation unter Michael VIII. in Konstantinopel dar: Im späten 13. und im gesamten 14. Jahrhundert begegnen Waräger allenthalben und mit einem Aufgabenprofil, das so unzweideutig umrissen ist wie zu keinem früheren Zeitpunkt. Eine Urkunde des Basileus Michael selbst von 1272 berichtet von ihren zeremoniellen Aufgaben in der Stadt, und insgesamt 21 Erwähnungen in fünf historiographischen Texten zu Ereignissen zwischen 1261 und 1358, das Testament eines verbannten Patriarchen, ein Wunderbericht, das briefliche Zeugnis eines hohen Beamten, zwei Rechtsgutachten, das Auftauchen von »Waräger«-Nachnamen in Urkunden und auf einem Kunstgegenstand, zwölf Passagen im Zeremonienbuch des Pseudo-Kodinos aus der Mitte des 14. Jahrhunderts sowie ein kaum datierbarer satirischer Text vermitteln ein klares Bild von den Aufgaben der Warangoi als Leibwachen der Basileis und im Zeremoniell, als Wachen am Palastgefängnis und prädestinierte Leute für die Disziplinierung oppositioneller Patriarchen und sonstiger Kleriker, welche in der Frage der Kirchenunion oder des Palamismus auf der jeweils inopportunen Seite stehen. Nicht zuletzt dank des Zeremonienbuchs ist die Frequenz der Fundstellen seit der Zeit des ersten Palaiologos ungebrochen hoch: Vierzig Okkurenzen oder knapp 31 % der Erwähnungen von Warangoi beziehungsweise Axtträgern entfallen auf die spätbyzantinische Zeit,816 ganz abgesehen von der nie dagewesenen Vielfalt der Textgattungen, in welchen Warangoi nun firmieren. Die Anzahl der Stellen repräsentiert das Doppelte derjenigen in Texten, welche vor der Usurpation des Alexios Komnenos 1081 verfasst wurden. Insbesondere Michael VIII. selbst (1259–1282) wird auch aus der Außensicht auf Konstantinopel mit dem Gebrauch der Warangoi assoziiert: Das Chronicon 816 Fast alle hier genannten Quellen erschließt Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 273–275. Blöndal, S. 261–277/171–176 stützt sich auf das Prostagma Michaels VIII. (B91), Pachymeres (B98-B104), das Chronicon Moreae (B106), zwei Stellen bei Kantakouzenos (B126+B128) und Ps.-Kodinos (B114-B125). Benedikz, S. 175 ergänzt eine Fundstelle aus Gregoras (B109), die er aber verliest. Außerdem verfälscht er an dieser Stelle Aussagen bei Blöndal, S. 268f., denn letzterer spekuliert lediglich über den Einsatz von Warägern an Textstellen, bei denen sie nicht erwähnt sind, während Benedikz irreführenderweise behauptet, dort agierten Warangoi oder Axtträger in den entsprechend angeführten Passagen, was nicht der Fall ist. Insgesamt entgehen Blöndal 17 Fundstellen, davon vier Urkunden mit Eigennamen (B90, B94, B95, B105) sowie 13 narrative Passagen (Arsenios-Testament [B93], Metochites [B96+B97], ein Athanasios-Wunder bei Theoktistos Stoudites [B107], Gregoras [B108-B113], ein Kydones-Brief [B129], ein Scholion zur Hexabiblos [B130], ein Rechtsgutachten [B131]), von denen drei (B107, B129, B130) zur Entstehungszeit des Originals noch nicht ediert waren. Geschmälert wird der Eindruck von Warägern in der spätbyzantinischen Zeit zudem dadurch, dass Blöndal Ps.-Kodinos, das Prostagma Michaels VIII. und Kantakouzenos (B127) vom Zeitrahmen löst und im Kapitel »Keisarinn og hirðin« (S. 278– 308) /»Emperor, Court, Guards and City« (S. 177–192) behandelt.

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Von Warangoi und Axtträgern

Moreae, eine in der wahrscheinlich griechischen Ursprungsversion zwischen 1326 und 1346 entstandene Geschichte der fränkischen Herrschaft auf der Peloponnes817 in volkssprachlichen Versen, von der auch eine französische, italienische und aragonesische Redaktion bewahrt sind,818 berichtet aus antibyzantinischer Perspektive von der Gefangennahme Guillaumes II. Villeharduoin (1246–1278) von der Morea durch Michael VIII. Er war in der Schlacht auf der Ebene von Pelagonien 1259,819 die er gemeinsam dem Despote¯s von Epiros und mit Unterstützung Manfreds von Sizilien gegen Michael schlug, unterlegen gewesen und in byzantinische Gefangenschaft geraten. Michael habe seine Freilassung gegen Lösegeld abgelehnt und ihn unter der Bewachung unter anderem von Warangoi drei Jahre lang eingesperrt, bis er einwilligte, drei entscheidende Festungen preiszugeben.820 Entgegen der Aussage der Chronik können sich die beschriebenen Szenen aus chronologischen Gründen nicht in Konstantinopel abgespielt haben, doch spricht das Bild vom nach Konstantinopel zurückgekehrten und von Warangoi umgebenen Michael Palaiologos für sich.821 Es wird beglaubigt durch das Testament des Patriarchen Arsenios Autoreianos (1255–1262). Er hatte auf die endgültige Übergehung der Rechte und die Blendung des minderjährigen Ioannes IV. Doukas Laskaris durch Michael VIII. nach der Rückeroberung Konstantinopels mit dessen Anathemisierung reagiert, woraufhin der Usurpator den bald als Heiligen verehrten Arsenios in die Verbannung geschickt und von Warangoi hatte bewachen lassen, über deren Schikanen sich der zwischen 1264 und 1273 Verstorbene beklagt.822 Folglich musste Michael spätestens nach der Wiedereinnahme der Stadt über Axtträger verfügen, wenn nicht schon, wie Pachymeres andeutet, etwas früher. Ebendiese Wächter waren übrigens laut letzterem kurz zuvor noch zur Rebellion gegen die Absetzung Ioannes’ IV. bereit gewesen; das Arrangement mit wechselnden Machtverhältnissen bildete dann eine Parallele zum beobachteten Verhalten der Warangoi des 12. Jahrhunderts.823 817 Hierzu Ilieva, Frankish Morea [1991], bes. S. 171–204, 241–246; Lock, Franks in the Aegean [1995], S. 21–24. Zur fränkischen Herrschaft in Griechenland allgemein ebd., S. 68–134. 818 S. Shawcross, The Chronicle of Morea [2009], zur mehrsprachigen Überlieferung S. 34–42, zum verlorenen gemeinsamen Vorläufer und seinem politischen Hintergrund im fränkischarkadischen Adel S. 31–52. 819 Geanakoplos, Michael Palaeologus and the West [1959], S. 47–74; Ilieva, Frankish Morea [1991], S. 151–154; Mihajlovski, Battle of Pelagonia [2006]. 820 B106. 821 Auch Geanakoplos, Michael Palaeologus and the West [1959], S. 43, Anm. 57 hält einen Anachronismus für die plausibelste Lösung. 822 B93. Zum Kontext Angold, Government in Exile [1975], S. 90–95. 823 S. B99. Diese Bereitschaft zum Seitenwechsel ist jedoch eher als Zeichen für die Integration in byzantinische Mechanismen der Macht denn als spezifische Eigenschaft anzusehen, aus der sich Kontinuitäten herleiten ließen; vgl. die Resultate aus dem vorangehenden Kapitel. Die Passage bleibt freilich aus sprachlichen Gründen uneindeutig und kann auch so gelesen

Eine »palaiologische Renaissance«

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Während die Chronik von Morea und Arsenios explizit von Βάραγγοι berichten, begegnen bei Georgios Pachymeres Κελτοί in der gleichen Rolle als Gefängniswärter; da er bei früheren Gelegenheiten von einem Κελτικὸν πελεκυφόρον spricht, kann man davon ausgehen, dass er hier die gleiche Gruppe meint, zumal ihr an keinem Ort abweichende Eigenschaften zugeschrieben werden. Ob der Terminus wie schon in der mittelbyzantinischen Zeit auf »Lateiner« beziehungsweise Westeuropäer verweist oder eine spezifischere ethnische Konnotation besitzt, muss angesichts des Sprachgebrauchs bei Pachymeres selbst zunächst offen bleiben,824 lässt sich jedoch über den Kontext der etwa gleich alten, so genannten Historia dogmatica des Georgios Metochites sowie der etwas jüngeren kirchengeschichtlichen Chronik des Nikephoros Gregoras näher klären.825 Die Keltoi bei Pachymeres dienen jedenfalls zur Bewachung des chartophylax Ioannes Bekkos, eines einflussreichen, aber der Kirchenunion mit Rom abgeneigten Klerikers, den der unionsfreundliche Michael 1273 arretieren und bewachen lässt.826 Ein solcher Einsatz der Waräger, welcher an frühere Ereignisse des 11. und 12. Jahrhunderts erinnert, zeigte bei Bekkos offenbar die gewünschte Wirkung, denn er war als Patriarch Ioannes XI. von 1275 bis 1282 einer der zentralen Akteure hinter der Kirchenunion zwischen Rom und Konstantinopel.827 Just diese Haltung sollte ihn jedoch nach dem Tode Michaels VIII. 1282, seinem Sturz und seiner formalen Verurteilung durch das Konzil von Blachernai 1285 erneut ins Gefängnis bringen, abermals bewacht von Keltoi und anderen kaiserlichen Gardisten.828 Dass es sich bei ihnen um Βάραγγοι handelte, bestätigt abermals die Historia dogmatica des Georgios Metochites, der zur unionistischen Entourage des Ioannes Bekkos zählte, mit ihm in Haft geriet und dort eine Geschichte des Schismas, seiner Überwindung und seiner erneuten Herstellung nach Michael VIII. verfasste.

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werden, dass die Waräger bereit gewesen seien, gegen die Absetzung Ioannes’ einzuschreiten. Ditten, »Germanen« und »Alamannen« [1985], S. 25f., 29f. belegt verschiedene Applikationsmöglichkeiten des antiken Ethnonyms. Vgl. auch Karlin-Hayter, Notes sur la ΛΑΤΙΝΙΚΟΝ [1972], die betont, dass der Begriff Φράγγοι für westliche Söldner in Nikaia praktisch verschwunden ist und die »Anderen« im Lateinischen Kaiserreich meint, während Lateinereinheiten gerne mit Ἰταλικόν oder Λατινικόν als Bezeichnung belegt werden, so dass Κελτοί als Bezeichnung für »Waräger« quasi frei bliebe. Metochites (B96) bezeichnet die gleichen Wachen wie die Keltoi bei Pachymeres (B100, folgende Anm.) als Warankoi. Gregoras (B113) bezeichnet die (nord-)westlichen Nachbarn der Litauer als Keltoi und Galatai, was die Möglichkeit, mit Keltoi Nordwesteuropäer zu bezeichnen, ebenfalls plausibel erscheinen lässt. B100. Zu Michael VIII. und der von ihm betriebenen Kirchenunion sowie ihren Folgen Geanakoplos, Michael Palaeologus and the West [1959], S. 237–245, 258–304. Zu Bekkos und seiner Rolle im Kontext der Kirchenunion Richter, Johannes Bekkos [1990], S. 180–211. Zur Union vgl. Roberg, Union [1964], bes. S. 107–116, 121–134, 207–222; zu ihrer erneuten Auflösung 1282 auch Laiou, Constantinople and the Latins [1972], S. 32–37. B104.

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Von Warangoi und Axtträgern

Metochites, der etwa zeitgleich mit Pachymeres in den Jahrzehnten um 1300 schreibt, bezeichnet die Wachen, die zwischen 1282 und 1285 sowie danach die Gefangenen mitunter drangsalieren, als Βάραγκοι und Παραμοναί, eine Palasteinheit, die auch in einer Urkunde Michaels VIII. und bei Peudo-Kodinos begegnet.829 Ähnlich wie schon bei Anna Komnenes Bericht über Alexios830 begegnen Keltoi bei Pachymeres und Warankoi bei Metochites auch als diejenigen Wachen, mit denen der Basileus erfolgreich politische Gegner einzuschüchtern pflegt. In der fraglichen Zeit sind dies vor allem Unionsgegner und nach Michael VIII. dann Unionsbefürworter, doch begegnen auch wie schon zu Annas Zeiten Verschwörungen gegen das Leben des Basileus. Während jedoch unter Alexios die Androhung der Folter durch die Axtträger zu Geständnissen führte, stirbt bei Pachymeres der verdächtige und daher bedrohte Mönch an seiner Angst.831

4.3.

Engländer oder Byzantiner?

Angesichts der Tatsache, dass skandinavische Quellen sich über Ereignisse in Byzanz beziehungsweise Realbegegnungen ab dem zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts ausschweigen, nachdem sich noch skandinavische Waräger im Dienste Balduins und Henris von Flandern befunden hatten,832 drängt die Frage nach der ethnischen Identität der spätbyzantinischen Warangoi. Hinweise auf Skandinavier finden sich an keiner Stelle, doch deuten mehrere Erwähnungen auf eine englische Herkunft der Axtträger hin: Das Prostagma Michaels VIII. für seinen Sohn von 1272 bezeichnet die Βάραγγοι bei einer zweiten Erwähnung als Ἐγκλινοβάραγγοι (Enklinowarangoi),833 und diesen Hinweis auf eine englische Herkunft unterstützt der wenige Jahrzehnte später schreibende Georgios Pachymeres zumindest indirekt, indem er einen Kommandanten der Wachen am Palast beziehungsweise am Gefängnis des Palastes als Ἐρρῆς ἐξ Ἐγκλίνων (Erres ex Enklino¯n) beim Namen nennt, da er als Protagonist bei der spektakultären Befreiungsaktion eines politischen Gefangenen aus Konstantinopel im Jahre 1299 auftritt:834 Er verhilft Michael Komnenos, dem sebastokrato¯r von Neopatras 829 Für nach 1285 B97; s. auch B96. Vgl. das Prostagma Michaels VIII (B91) und Ps.-Kodinos, B114+B119. 830 B47+B48. 831 B101. 832 Blöndal, S. 256–260/167–170 hält es für extrem unwahrscheinlich, dass nach 1204 überhaupt noch Skandinavier von und nach Konstantinopel zogen, weshalb er auch die Historizität des Þorláks-Wunders (NI 61) im Lateinischen Kaiserreich ebd. zurückhaltend bewertet. Ihm entgingen jedoch die gegenwartschronistischen Hinweise auf norwegische Byzanz-Migranten in den Bo˛glunga so˛gur (NI 66+NI 67). 833 B91. 834 B102.

Eine »palaiologische Renaissance«

277

und Sohn des despote¯s von Thessalien zur Flucht, der nach einer missglückten Machtergreifung in Thessalonike vom Basileus gefangen genommen worden war. Die Geschichte dieses Engländers namens Harry oder Henry bezeugt nebenbei, dass ein Barbaros in einer solchen Position sowie seine Begleitung sich völlig unbehelligt von anderen Wachen und Ordnungsorganen in der Stadt bewegen konnten. Auch gemäß dem Zeremonienbuch des Pseudo-Kodinos, das um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstand, sprechen die Warangoi »Englisch«.835 Hinweise auf andere Sprachen oder Herkunftsländer finden sich nicht, doch begegnen ebenso wenig englische Quellen, welche Migration von der Insel nach Byzanz im 13. und 14. Jahrhundert belegen, sieht man von einem Brief Ioannes’ VII. Palaiologos an Henry IV. of Lancaster aus dem Zeitraum zwischen 1399 und 1402 ab.836 Darüber hinaus berichtet lediglich ein englischer Rompilger nach 1400, ein Byzantiner habe ihn informiert, dass axttragende Landsleute sich im Dienste des Basileus befänden.837 Da sowohl eine Urkunde, ein Geschichtsschreiber als auch das Zeremonienbuch darauf hinweisen, dass es sich bei den Warangoi, Keltoi oder pelekyphoroi um Fremde handelt, muss man damit rechnen, dass es den Byzantinern bei aller Lateinerfeindlichkeit838 insbesondere nach dem Scheitern der Kirchenunion nach wie vor gelang, Migranten an sich zu binden. Dass die Renaissance der Waräger nach 1261 sich auf Einheimische stützte, die exotisierend mit Äxten und weiteren »barbarischen« Attributen ausgestattet wurden, ist nicht zu erkennen, wenn auch nicht grundsätzlich auszuschließen; man denke an die »Barbarenmäntel« (kabadion), welche die einheimischen Angehörigen der hetaireia im Kle¯torologion des Philotheos tragen.839 Immerhin berichten abgesehen von den beiden Zeugnissen um 1400 praktisch keine Texte in den potentiellen Herkunftsregionen von solchen Migranten. Es

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B118. Barker, Manuel II Palaeologus [1969], S. 500–503; vgl. auch unten, S. 284. Adam Usk: Chronicle, ed. Given-Wilson [1997], S. 198/200. S. unten, Anm. 885. Vgl. Ahrweiler, L’idéologie politique [1975], S. 103–128; Laiou, Constantinople and the Latins [1972], S. 85–127, 308–329; Angold, Church and Society [1995], S. 505–529; Angelov, Ideological Reactions [2005]. Zwar ist eine grundsätzliche und verschärfte antagonistische Haltung zu allem »Lateinischen« insbesondere seit dem Erstarken des Kaisserreichs Nikaia und der byzantinischen Restauration allenthalben zu beobachten, doch verschleiert diese zu einem gewissen Grad auch nach wie vor existierende Interaktion auch in Folge der räumlichen Nähe zu den Lateinerherrschaften in Griechenland, etwa durch Eheverbindungen (vgl. Origone, Marriage Connections [1996], bes. S. 240f.; Angelov, Ideological Reactions [2005], S. 305–310). Zudem war das Lateinerelement in der Armee, zumal in der Kavallerie, kontinuierlich und zumindest bis um die Mitte des 14. Jhs. von erheblicher Bedeutung (Angold, Government in Exile [1975], S. 187f.; Bartusis, A Note [1988]; Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 139–156), ganz abgesehen vom Abfärben lateineuropäischer Terminologie auf aristokratische Standesbezeichnungen (wie beim kavallarios, vgl. Bartusis, The Kavallarioi [1988]). 839 Oben, S. 132 mit Anm. 226.

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Von Warangoi und Axtträgern

scheint daher denkbar, dass die spätbyzantinische Warägergarde in gleichem Maße aus Migranten wie Einheimischen bestand, die sich möglicherweise als Nachkommen von Warangoi betrachteten.840 Der 1288 erwähnte Alexios Warangopoulos (Βαραγγόπουλος: »Warägersohn«), ein lokaler Herr aus Kos, erscheint jedoch keineswegs als Barbar und steht mit der Garde ebenso wenig erkennbar in Verbindung wie sein Namensvetter, der sebastos Georgios Warangopoulos, dessen Gold-Enkolpion aus dem 13. oder 14. Jahrhundert erhalten ist.841 Das gleiche gilt für einen 1295 erwähnten Μανoυὴλ ὁ Βαράγων, einen Kirchenbeamten aus Thessalonike;842 auch einfache Bauern können den Nachnamen Βάραγγος tragen,843 und im 15. Jahrhundert lässt sich der Warangos-Nachname auch in Trapezunt nachweisen.844 Michail Bibikov zählt in der spätbyzantinischen Zeit insgesamt 26 Personen mit »Waräger«-Nachnamen,845 und es finden sich in Steuerlisten und Urkunden auch Gehöfte oder Flurstücke mit Namen wie Βαράγκας oder Βαράγκου.846 Umgekehrt erscheint der blinde Sohn eines primmike¯rios der Warangoi, den gemäß seinem Translations- und Wunderbericht der Patriarch Athanasios in den 1310er- bis 1330er-Jahren heilte, keineswegs als Barbaros oder gar als nicht-orthodoxer Lateiner.847 Auch der Richter Adam848 und ein gewisser Simon,849 die um 1400 in Rechtstexten als Angehörige der Warägergarde angesprochen werden, sind nicht als Migranten erkennbar, was wiederum die Annahme stützt, dass zumindest lukrative Kommandoposten in der Garde auch an Einheimische, etwa an Rechtsgelehrte wie besagten Adam, vergeben wurden. Das Auftreten der Βάραγγοι am Palast als Barbaroi, das laut Pseudo-Kodinos das wesentliche identifikatorische Merkmal dieser Gardeeinheit bildet, ist davon freilich nicht betroffen.

840 So auch der Eindruck bei Adam Usk (Anm. 837). 841 Greek Treasures, ed. Georgoula [2005], Kat. Nr. 97, S. 140 (wie Anm. 543), dort auch die Inschrift. 842 Der Nachname ist freilich unsicher, da die Urkunde an der fraglichen Stelle kaum leserlich ist (B95). 843 So begegnet in der fiskalischen Liste eines Athosklosters um 1318 ein Bauer namens Θεόδωρος ὁ Βάραγγος (B105). Vgl. zur Möglichkeit der ländlichen Ansiedlung skandinavischer Migranten Kaplan, L’histoire agraire [1998]. 844 B134. 845 Bibikov, Byzantine Sources [2005], S. 22 mit Anm. 54, woraus allerdings nicht alle seine Funde hervorgehen. 846 So in Actes de Zographou, ed. Regel/Kurtz/Korablev [1907], Nr. 29, Z. 85, S. 71 (Steuerliste, 1333 Januar); Acta et diplomata 2, ed. Miklosich/Müller [1862], Nr. 375, S. 83 (Patriarchatsurkunde für das Doppelkloster Athanasios’ I. in Konstantinopel, 1383 März, hierzu Mitsiou, Das Doppelkloster [2008]). 847 Theoktistos Stoudites (B107). 848 B130. 849 B131.

Eine »palaiologische Renaissance«

4.4.

279

Das 14. Jahrhundert

Abgesehen von den vereinzelten ethnischen Identifikationen bleibt die Funktion jener Warangoi auch im 14. Jahrhundert konstant. Eben jener Michael Komnenos, der versucht hatte, mit der Hilfe des eben erwähnten Erres des Engländers aus seinem Gefängnis in Konstantinopel zu fliehen, wurde auf der Flucht gefangen und 1306 bei einem erneuten Ausbruchsversuch laut Pachymeres von des Kaisers pelekyphoroi erschlagen.850 Nikephoros Gregoras, ein bis zu seinem Sturz 1351 einflussreicher Geistlicher, der zwischen 1329 und seinem Tod um 1360 in mehreren Abschnitten eine äußerst umfangreiche byzantinische Geschichte nach 1204 verfasste, betont in der Narration zum 14. Jahrhundert mehrfach die Leibwächterfunktion jener Axtträger im Palast und bei der Auseinandersetzung um den Thron zwischen Andronikos II. Palaiologos und seinem Enkel Andronikos III. 1328.851 Des letzteren Mut und Gottvertrauen werden einmal in einer ihm in den Mund gelegten Rede und später in seinem Nachruf mit seinem häufigen Verzicht auf Leibwächter, insbesondere auf Axtträger, veranschaulicht.852 In den letzten Büchern seiner Ἱστορία Ῥωμαϊκή behandelt Gregoras ausführlich und aus autobiographischer Perspektive seine antipalamitische Rolle im so genannten Hesychastenstreit um die Frage, ob im meditativen Gebet Gott durch seine ungeschaffenen »Energien« sinnlich erfahrbar sei, wie es Gregorios Palamas lehrte.853 Auf dem ersten von zwei 1351 stattfindenden Konzilien, welches die Lehren des Palamas bestätigte und dessen Gegner, darunter Gregoras, verurteilte, berichtet dieser zweimal von gezielten Schikanierungen seiner selbst und seiner Anhänger durch Axtträger (πελεκυφόροι) auf Befehl des Kaisers Ioannes VI. Kantakouzenos.854 Wie schon zuvor im Falle des Patriarchen Ioannes Bekkos dienen die Axtträger der Einschüchterung oder Disziplinierung politischer Gegner, und auch in diesem Fall hatte eine Änderung der politischen Wetterlage den Theologen in eine aussichtslose Situation gebracht: Kantakouzenos, der Gregoras protegiert hatte, bevor er 1341 die Herrschaft an sich riss und einen bis 1347 andauernden Krieg gegen den von ihn verdrängten Kinderkaiser Ioannes V. und dessen Mutter begann, war auf die Anhänger des Palamas und seiner Lehre 850 Pachymeres, B103. 851 B108+B109. Zu Gregoras und seinem Werk vgl. Hunger, Literatur [1978], S. 454–465, zur komplexen Entstehungsgeschichte und Überlieferung van Dieten, Entstehung und Überlieferung [1975] sowie für o.g. Kontext die Einleitung in der Übersetzung Nikephoros Gregoras: Rhomäische Geschichte 2,1, ed. van Dieten [1979], S. 8–17. 852 B109. 853 Vgl. Nikephoros Gregoras: Rhomäische Geschichte 4, ed. van Dieten/Tinnefeld [1994], S. 1–6; zur Rolle des Gregoras Beyer, Nikephoros Gregoras als Theologe [1971], zu Palamas und seiner Energienlehre zuletzt Müller-Schauenburg, Religiöse Erfahrung [2011], S. 161–282. 854 B111+B112.

280

Von Warangoi und Axtträgern

angewiesen, obwohl oder gerade weil die von ihm besiegte politische Fraktion um die Basilissa Anna von Savoyen pro-palamitisch eingestellt war. Kantakouzenos selbst, der in seiner Auseinandersetzung mit den Palaiologoi in den 1340erJahren auch Türken in die innerbyzantinischen Konflikte eingebunden und so ihre Machtausdehnung auch auf der europäischen Seite des Bosporos entscheidend begünstigt hatte, verlor die Macht in einem erneuten innerbyzantinischen Krieg 1354, wurde Mönch und verfasste in den kommenden Jahrzehnten die Ἱστορίαι über den Zeitraum zwischen 1320 und 1356, die in politischer Hinsicht ein Gegenstück zur Geschichte des Gregoras und einen Rechenschaftsbericht darstellen.855 Darin beschreibt er die Beteiligung der Βάραγγοι, wie er sie nennt, an der Krönung Andronikos’ III. zum Symbasileus im Jahre 1325, die exakt der allgemeinen Darstellung der Krönungszeremonie im etwa gleich alten Zeremonienbuch des Pseudo-Kodinos entspricht.856 Man erfährt weiterhin, dass die Warangoi den Schlüssel von Burgen verwahren, in welchen sich der Basileus aufhält,857 und dass Kantakouzenos, bevor er in Gegensatz zur Partei der Basilissa geriet und sich zur Usurpation entschloss, die Söhne des sterbenden Andronikos III. 1341 im Palast zu deren Schutz unter anderem von Warangoi bewachen ließ.858 All diese Erwähnungen zeigen, dass spätestens seit der Wiedererrichtung der byzantinischen Herrschaft über Konstantinopel durchgehend eine Warägergarde unter dem direkten Befehl des Basileus existierte, die zugleich das kaiserliche Gefängnis beaufsichtigte und vom Basileus zur Disziplinierung politischer Gegner eingesetzt wurde. Dieses Bild ist demjenigen aus den Tagen der Komnenoi und Angeloi nicht unähnlich, jedoch wesentlich kohärenter und weicht zudem in mehrerlei Hinsicht ab: So werden kriegerische Leistungen im Feld nicht mehr erwähnt, obschon auch die spätbyzantinischen Chronisten zahlreiche bewaffnete Konflikte behandeln und auch lateineuropäische Söldner hierin eine bedeutende Rolle spielten.859 Im Feld begegnen diese Warangoi auffälligerweise nicht mehr, was einerseits daran liegen mag, dass ihre Rolle als gesonderte Einheit in der Armee hierfür nicht bedeutend genug war, wie es auch schon für die Komnenenzeit festgestellt wurde, andererseits an ihrer geringeren Zahl oder auch an der möglichen Tatsache, dass sie nicht ausschließlich aus Migranten bestanden und ihr Umgang mit der Axt sich auf den zeremoniellen Teil des Hofbetriebs beschränkte, so dass sie auch für den zeitgenössischen Be855 Zu Kantakouzenos Hunger, Literatur [1978], S. 465–476; Kazhdan, L’Histoire de Cantacuzène [1980], S. 319–327; Weiß, Joannes Kantakuzenos [1969]. 856 B126. Vgl. mit Ps.-Kodinos, B125. 857 B127. 858 B128. 859 Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 196–212; Angold, Government in Exile [1975], S. 185–196; Karlin-Hayter, Notes sur la ΛΑΤΙΝΙΚΟΝ [1972].

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obachter in der Armee aufgingen. Umgekehrt weiß man praktisch nichts über Details der Beteiligung der Skandinavier am Zeremoniell des 11. und 12. Jahrhunderts. Auch die scheinbar englische Herkunft der spätbyzantinischen Waräger zeigt nur eine begrenzte Schnittmenge zu ihren mittelbyzantinischen Vorgängern, wenn sie denn überhaupt durchgehend gegeben war. Weder Gregoras noch Metochites, Kantakouzenos oder auch Theoktistos Stoudites, der Hagiograph des Athanasios, spezifizieren die Herkunft der πελεκυφόροι beziehungsweise Βάραγγοι näher. Es liegt daher auch angesichts später historiographischer Erwähnungen nahe, in ihnen lediglich eine mit Äxten bewaffnete, jedoch nicht mehr primär aus Migranten bestehende Palasteinheit zu erkennen, in Analogie etwa zu den schon angesprochenen byzantinischen Angehörigen der hetaireia, die laut dem Kle¯torologion des Philotheos ihre rhoga gemeinsam mit den »Fremden« ausgezahlt bekamen und sich zu diesem Anlass wie Barbaroi kleideten. So groß die zeitliche Ferne zwischen dem Zeremonienbuch des Konstantinos Porphyrogennetos und dem 14. Jahrhundert auch sein mag, sei mit dem Vergleich lediglich die Möglichkeit aufgezeigt, dass »Barbareneinheiten« durch Appropriation auch ohne die Anwesenheit der hierfür eigentlich erforderlichen Barbaren bestehen bleiben konnten.

Pseudo-Kodinos Dass es sich bei ihnen wahrscheinlich zumindest teilweise doch um Engländer handelte, deutet im 14. Jahrhundert allein das Zeremonienbuch des PseudoKodinos an, das in Ermangelung komnenenzeitlicher Parallelen gern zur Rekonstruktion der Funktionen herangezogen wird, welche der »Warägergarde« zugewiesen waren.860 Man erfährt, dass die axttragenden Warangoi gemeinsam mit den Paramonai, den mit Keulen bewaffneten Tzako¯nes, den mit Bögen bewaffneten Mourtatoi und Kortinarioi sowie den Wardariotai zu den Palasteinheiten gehören, jedoch nicht wie die übrigen vor oder in der großen Halle Wache halten, sondern vor dem kellion, dem jeweiligen Schlafgemach des Basileus, und dem triklinos, dem kaiserlichen »Arbeitszimmer« und dem wichtigsten Emp860 So grundsäzlich Blöndal, S. 278–297/177–185, der alle hier besprochenen Stellen bei Ps.Kodinos ebenfalls behandelt, sie aber mit Stellen aus DC vermischt und nicht deutlich macht, dass Ps.-Kodinos die spätbyzantinische Hofordnung nach 1261 repräsentiert. Ein klassischer Anachronismus ist z. B. die unkritische Übertragung der Funktion des akolouthos aus Ps.-Kodinos auf die Vergangenheit, vgl. oben, S. 162f. Zu Ps.-Kodinos und den im Folgenden vertretenen Ansichten über seine Kontextbindung vgl. die Einleitung von Verpeaux, S. 28–40, sowie Grabar, Pseudo-Codinos et les cérémonies [1971] und PseudoKodinos, ed. Macrides/Munitiz/Angelov [2013], bes. S. 446–448, 451–453. Dort wird klar, dass Ps.-Kodinos zwar an bereits früher erwähnte Zeremonien anknüpft, sich dies aber nicht auf die beteiligten Gruppen und ihre Hierarchien bezieht.

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fangsraum des Blachernaipalastes.861 Erst hier, um die Mitte des 14. Jahrhunderts und in keinem früheren Text, erfährt man, dass die Warangoi grundsätzlich dem persönlichen Banner des Basileus, dem dibellion, folgen und dass der akolouthos an ihrer Spitze marschiert.862 Letzteres ist umso eindrucksvoller, als eine solche Zuständigkeit erst hier formuliert wird und nicht im Prostagma Michaels VIII., welches 1272 anlässlich der Erhebung seines Sohnes Andronikos Palaiologos zum Symbasileus dessen Rechte und Zuständigkeiten im Verhältnis zu denjenigen des Vaters genau regelt und im Wesentlichen mit den fraglichen Passagen bei Pseudo-Kodinos genau übereinstimmt.863 Die Abfolge aus vorangetragenem Banner und Warangoi gilt im Zeremonienbuch jedenfalls sowohl für die seit der Komnenenzeit existierende Zeremonie der prokypsis, die an Weihnachten und dem Fest der Epiphanie stattfand und bei welcher das Herrscherpaar dem Hof auf einer zunächst verhängten Plattform thronend enthüllt wurde,864 sowie für alle Gelegenheiten, bei denen der Basileus den Palast verlässt. Weiterhin werden die Aufgaben der Palasteinheiten zu verschiedenen Anlässen behandelt, ihre Parade gemeinsam mit anderen Palasttruppen und -beamten zu Weihnachten,865 ihre Segenswünsche für den Basileus, die sie auf Englisch zu Hochfesten gemeinsam mit anderen Lateinern in der Stadt und deren Vertretern darbringen,866 und ihre Begleitung des reitenden Basileus durch die Stadt an verschiedenen anderen Festtagen.867 Auch ihre Rolle im Rahmen des Krönungszeremoniells wird in praktisch wörtlicher Übereinstimmung mit Kantakouzenos’ Erzählung definiert.868 Nicht nur hier fügt sich das Bild der Warägergarde nahtlos mit demjenigen aus der spätbyzantinischen Historiographie und dem Prostagma Michaels VIII. zusammen. Abgesehen von der Tatsache jedoch, dass Warangoi sich am Palast aufhalten – freilich am Großen Palast und augenscheinlich nicht oder nicht im gleichen Maße am Blachernaipalast wie bei den Palaiologoi – und offenbar auch als Gefängniswachen verwendet wurden, finden sich keinerlei Übereinstimmungen mit unseren komnenenzeitlichen Quellen. Dies liegt selbstverständlich auch darin begründet, 861 B114. Die konkreten Räume im Balchernai-Palast sind anhand von Ps.-Kodinos und zeitgenössischen Historiographen kaum mehr zu identifizieren. Vgl. zu den Möglichkeiten Magdalino, Pseudo-Kodinos’ Constantinople [2007], S. 3–6. 862 B115+B116. 863 B91. Vgl. den Kommentar zur Edition von Heisenberg, S. 55–71. Das Prostagma bespricht die Belegleitung des Symbasileus bei dessen Umritt in Konstantinopel, den es in DC noch nicht gibt (ebd., S. 60f.). 864 Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 245–248; vgl. zur prokypsis und ihrer Bedeutung im byzantinischen Zeremoniell auch Kantorowicz, Oriens Augusti [1963], S. 159–162. 865 B117. 866 B118. 867 B121-B124. 868 B125; vgl. mit B126.

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dass zwischen De cerimoniis im 10. Jahrhundert und Pseudo-Kodinos kein Zeremonienbuch überliefert ist.869 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass schon unter Manuel I. Komnenos, unter dessen Herrschaft sich die prokypsis entwickelte, sowie unter den Angeloi Warangoi in das Zeremoniell integriert waren und den Basileus auch bei anderen Gelegenheiten begleiteten; man denke an Niketas Choniates’ Beschwerde über die Barbaroi, welche Andronikos I. Komnenos als Begleitung genommen habe,870 aber auch an die Stationierung im Chalke-Tor des Großen Palastes,871 die unzweideutig auf eine Verwendung bei zeremoniellen Vorgängen hindeutet, welche dort und nicht im Blachernai-Palast stattfanden. Letzten Endes weist schon die Verwendung von Axtträgern beziehungsweise Trägern der rhomphaiai bei Michael Psellos darauf hin,872 dass das spätbyzantinische Zeremoniell, wie es Pseudo-Kodinos beschreibt, an längere Traditionen anknüpft, über die man aber in Ermangelung einer vergleichbaren Quelle keine genaueren Aussagen zu treffen vermag als diejenigen, welche sich aus den behandelten historiographischen und panegyrischen Texten des 11. und 12. Jahrhunderts herleiten lassen. Die Beschreibungen des Zeremoniells im vier Jahrhunderte älteren Werk De cerimoniis lassen keinerlei Übereinstimmungen bezüglich skandinavischer oder axttragender Einheiten873 erkennen; die Ῥῶς dort haben mit den Βάραγγοι bei Pseudo-Kodinos nicht das Geringste gemein. Die Abwesenheit weiterer Überschneidungen zwischen dem vielgestaltigen Bild aus dem langen 12. Jahrhundert seit Alexios I. und den Eindrücken aus der spätbyzantinischen Zeit stellt indes die Zulässigkeit von einfachen Übertragungen aus dem 14. Jahrhundert auf die mittelbyzantinische Zeit nachdrücklich in Frage, zumal man 1204 mit einer Unterbrechung der Anwesenheit von Skandinaviern und Engländern in einer Funktion als Palastwachen rechnen muss. Insbesondere die Identifikation des akolouthos, den Pseudo-Kodinos als Inhaber der »Verantwortung« (ἔνοχος) für die Warangoi benennt, lässt sich weder auf die mittelbyzantinische Zeit zurückprojizieren noch eindeutig mit einer direkten Kommandofunktion verbinden: Schließlich finden im Rahmen kaiserlicher Festmähler πριμμικήριοι τῶν Βαράγγων Erwähnung,874 wie schon bei Ioannes Apokaukos um 1200 und etwas vor Pseudo-Kodinos bei Theoktistos Stoudites,875 die als die eigentlichen Kommandierenden anzusehen

869 Einen Vergleich zwischen beiden Texten, insbesondere ihren Bezugnahmen auf die Topographie der Paläste und der Stadt, bietet Magdalino, Pseudo-Kodinos’ Constantinople [2007]. 870 B78. 871 Mesarites, B63. 872 B4. 873 Vgl. oben, S. 282f. und Anm. 863 zum Prostagma Michaels VIII. 874 B119. 875 B89, B107.

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sind, zumal sie hier im Gegensatz zu anderen Zeremonien mit den übrigen Warangoi ohne den akolouthos auftreten.

Letzte Zeugnisse der Βάραγγοι Insgesamt sind die Warangoi nach dem übereinstimmenden Eindruck aus Zeremonienbuch und Historiographie in der spätbyzantinischen Zeit zwischen frühestens der Mitte des 13. Jahrhunderts, in jedem Fall aber ab 1261 bis in die Zeit um 1400 ausgesprochen präsent. Demetrios Kydones, ein Zeitgenosse von Kantakouzenos und Pseudo-Kodinos und als mesazo¯n der höchste Beamte unter Ioannes V. Palaiologos, beschwert sich in einem Brief an einen Freund über die Mühsal des Lebens in der Hauptstadt, darunter Warangoi, die für den Zutritt zum Palast Geld verlangten.876 Auch um 1400 noch muss es entgegen verschiedener Forschungsmeinungen die Garde gegeben haben,877 wie es aus zwei Urteilen hervorgeht, die in der Sammlung des Patriarchats Konstantinopel überliefert sind. Beim Kläger handelt es sich um ὁ ἀπὸ τῶν πιστοτάτων βαράγκων κύριος Σίμων, wobei die »allertreuesten Warankoi« aufgrund des Attributs mit großer Sicherheit die Palasteinheit und damit eine Funktion des Simon, nicht aber seine Herkunft meinen.878 Analoges gilt für den schon erwähnten Richters (καθολικὸς κριτής) Adam ἐκ Βαράγγων, in dessen Haushalt sich laut einem Scholion zur Hexabiblos, einer spätbyzantinischen Kompilation der Basilika, 1395 ein lange gesuchter Rechtstext fand.879 Dass der Garde zur gleichen Zeit nicht nur solch hochstehende Byzantiner angehörten, sondern auch Engländer, geht aus einem Brief Ioannes’ VII. Palaiologos an Henry IV. of Lancaster von 1402 hervor, in dem von nobiles nonnulli aus England die Rede ist, die sich in huius urbis defensione in Konstantinopel aufhielten.880 Sie waren mit großer Wahrscheinlichkeit als Reaktion auf die Reise Manuels II. Palaiologos nach Byzanz geschickt worden, der in jenem Zeitraum in Lateineuropa, unter anderem in London, um Unterstützung geworben und dessen Regentschaft in der von den Türken bela876 B129. 877 Blöndal, S. 272/175 behauptet, es existierten keine Zeugnisse aus dem Zeitraum nach Ps.Kodinos und Kantakouzenos und ist der Ansicht, Gardisten aus Kreta hätten die Waräger abgelöst, was er allein aus deren Brutalität als gemeinsamer Eigenschaft herleitet. Der Aussage eines Abbruchs im 14. Jh. folgt Godfrey, Defeated Anglo-Saxons [1979], S. 74. Die späteren Zeugnisse versammelte dagegen erstmals Bartusis, The Late Byzantine Army [1992], S. 274f. 878 B131. 879 B130. S. auch die Analyse in der Edition Fögen, Fontes minores V [1982], S. 223–225. 880 Barker, Manuel II Palaeologus [1969], S. 500–503, das Zitat auf S. 501. Die obige Interpretation und die Verknüpfung mit der Warägergarde stammt aus Kydones: Briefe 1,1, ed. Tinnefeld [1981], S. 273, Anm. 8, während Barker aufgrund der Unkenntnis über weitere Zeugnisse aus dem 14. Jh. die Idee einer Warägergarde für unwahrscheinlich hält.

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gerten Stadt unterdessen sein Neffe Ioannes VII. geführt hatte.881 Manuel hatte auf seiner Reise an verschiedene europäische Herrscher Reliquien geschickt und um Hilfe ersucht; auch Margrethe, die Herrscherin der Kalmarer Union, hatte im November 1402 ein Fragment der Tunika Christi erhalten, doch ist nichts von der Entsendung skandinavischer Söldner in das schwindende Byzantinische Reich bekannt.882 Die Garde existierte also mindestens noch bis in diese Zeit, und sie war auch für den Außenstehenden sichtbar. Dies dokumentiert der Porikologos, eine volkssprachliche Parodie auf das spätbyzantinische Hofzeremoniell,883 die eine Intrige bei Hofe behandelt und in welcher alle Akteure durch verschiedene Früchte repräsentiert werden. Die Warangoi sind hier keine reinen Wachen, sondern gehören zur Gruppe der Honoratioren etwa vom Schlage des oben genannten Adam. Sie begleiten die archontes und werden mit ihnen aufgezählt, so dass nicht klar ersichtlich wird, welche folgenden Früchte zu ihnen zählen. Eine zweite, kürzere Redaktion klassifiziert die Warangoi jedoch eindeutig als Nüsse. Auch die Wahrnehmung des Hofes jenseits gelehrter und unmittelbar involvierter Kreise jedenfalls, in welche der Porikologos und seine Übersetzungen in verschiedene andere Volkssprachen einen Einblick bieten, kennt die Warangoi als prominente soziale Gruppe.884 Das späteste, jedoch eher vage Indiz für die Existenz einer byzantinischen Palasttruppe, in der sich englische Migranten befanden, stammt schließlich aus der Chronik des Adam Usk, der 1405 am Papsthof in Rom von byzantinischen Gesandten über Axtträger mit angeblich englischen Vorfahren hörte, und dessen Aussage angesichts des Briefs an den ersten Lancaster-König glaubwürdig erscheint.885 Das einzige Bleisiegel, welches eine sichere Erwähnung der Warangoi 881 Barker, Manuel II Palaeologus [1969], S. 200–242. 882 Harris, Laskaris Kananos [2010], S. 175f. sieht hierin einen möglichen, wenn auch nicht besonders wahrscheinlichen Kontext für die Reise des Laskaris Kananos (unten, S. 290); s. außerdem Dennis, Two Unknown Documents [1968], S. 398–401; Mergiali-Sahas, Ultimate Wealth [2006], S. 271. 883 B132. Einen terminus post quem 1254 (entgegen Blöndal, S. 304/189, der ins 11. Jh. datiert) erhält man durch das Amt des μέγας ἄρχων, das Theodoros II. Laskaris einführte. Wahrscheinlich aber ist der kurze Text deutlich jünger, s. die Analyse bei Bartusis, The Fruit Book [1988], S. 205–208; Porikologos, ed. Winterwerb [1992], S. 51–55 bespricht auführlich ältere Datierungsversuche und grenzt den Zeitraum auf das frühe 14. Jh. vor 1329 ein. 884 Dies gilt freilich nicht für das mittelbyzantinische Epos Digenis Akritas. Entgegen Blöndals Behauptung (S. 304/189) begegnen Warangoi überhaupt nicht, nicht einmal eine Umschreibung, die sich mit ihnen in Verbindung bringen ließe. 885 Adam Usk: Chronicle, ed. Given-Wilson [1997], S. 198/200. Adam behauptet, er habe gehört, die gesamte Aristokratie stamme von Britones aus dem Gefolge Konstantins des Großen ab und trage deshalb Äxte im Gegensatz zu den anderen Byzantinern. Axtträger werden hier also nicht mit einer Garde assoziiert. Auch evoziert Adam eine Parallele zwischen dem von Sachsen eroberten Britannien und dem sicher alsbald an die Tartari und Turci fallenden Byzantinischen Reich.

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enthält, stammt ebenfalls aus diesen anderthalb Jahrhunderten zwischen dem Ende des Lateinischen Kaiserreichs und etwa 1400:886 Es gehörte einem gewissen Michael, πανσεβαστός, σεβαστός καὶ μεγαλοδιερμενευτὴς τῶν Βαράγγων. Das Amt des »großen Übersetzers der Warangoi« kennt Pseudo-Kodinos zwar nicht, doch nennt er den μέγας διερμενευτής unmittelbar vor dem akolouthos,887 so dass eine Zuordnung des μέγας διερμενευτής zu einer bestimmten, möglicherweise der bedeutsamsten fremdsprachigen Barbarengruppe, der Logik des Zeremonienbuchs nicht zuwiderläuft. Eine Parallele bildet das etwa anderthalb Jahrhunderte ältere Siegel von Sphenis, dem διερμενευτὴς τῶν Ἐνκλίνων,888 zu dem sich freilich keinerlei Kontinuität eines solchen »Amtes« konstruieren lässt, abgesehen von der Tatsache, dass sich am byzantinischen Hof kontinuierlich Dolmetscher befunden haben und dass zumal Kommandeure fremder Truppenverbände wie etwa Haraldr Sigurðarson, Nabites und seine Nachfolger bilingual gewesen sein müssen. Abgebildet ist auf dem Revers des spätbyzantinischen Siegels unterhalb der Schrift, folgt man der Umzeichnung bei Schlumberger,889 eine Stangenwaffe, die mit ihrer speerähnlichen, leicht hakenförmig gebogenen Spitze und der darunter befindlichen, langen, dünnen Klinge nur noch entfernt an eine Streitaxt und eher an eine Helmbarte erinnert. Wenn man sich der Deutung in Schlumbergers Corpus der byzantinischen Siegel anschließt, handelt es sich hierbei um die zeremonielle Waffe der Gardisten, was gerade im Vergleich zur etwa zwei Jahrhunderte älteren Illumination im Madrid-Skylitzes eine Lösung von direktem Einfluss und die Genese einer spezifischen lokalen Rezeption der »barbarischen« Waffe andeutet, obschon eine einzige, zudem unsichere Wiedergabe keine sichere Basis für eine realienkundliche Interpretation bilden kann. Somit schließt sich wiederum der Kreis zu den Eindrücken, die aus den Eigenschaften der Waräger in narrativen Texten, dem Prostagma Michaels VIII. für seinen Sohn, dem Zeremonienbuch und anhand von Nachnamen oder Beinamen entstanden: Die Anwesenheit von Migranten aus England und die Verflechtung Einheimischer mit der als »barbarisch« wahrgenommenen Garde 886 B92. Das Bleisiegel zeigt auf dem Avers den Erzengel Michael, auf dem Revers die Inschrift: Σφραγὶς τοῦ πανσε[β]άστου σεβαστοῦ καὶ μεγάλου διερμινευτοῦ τῶν Βαράγγων Μιχαήλ. Die genaue Identität des Michael ist nicht bekannt. Schlumberger, Sigillographie [1884], S. 351 ordnet das Siegel der Palaiologenzeit zu, Laurent datiert das Siegel in die Mitte des 13. Jhs. und bezieht sich auf bereits besprochene Erwähnungen von Axtträgern im Nikaia der 1250er-Jahre bei Pachymeres. Das Siegel selbst bietet indes keinen weiteren Anhaltspunkt für eine Datierung und wird auch aufgrund der Ähnlichkeit des Amtes zu demjenigen bei Pseudo-Kodinos der Zeit nach 1261 zugeordnet. Vgl. auch die Diskussion bei Blöndal, S. 293f./185. 887 Ps.-Kodinos, S. 184, Z. 17–19. 888 B24. 889 S. die Abbildung unter B92.

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erzeugen eine gemischte Struktur, die bei den Warangoi zweifellos schon im 12. Jahrhundert in Ansätzen gegeben war und in der spätbyzantinischen Zeit so weit entwickelt ist, dass die Grenzlinie zwischen »Fremden« und »Einheimischen«, die in der Komnenenzeit bei Skandinaviern und Engländern durchaus stabil bleibt, verschwunden ist.

5.

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Umso stabiler dagegen erscheint der Kanon an Eigenschaften, die jener Garde, welche diese Bezeichnung nun einwandfrei verdient, zugeschrieben werden. Die Aufgaben als Palastwachen, wenn auch nicht exklusiv, als Schmuck des Zeremoniells und der kaiserlichen Umritte in der Stadt, als Gefängniswärter und Einschüchterer politisch inopportuner Personen sind scharf umrissen und durch anderthalb Jahrhunderte verblüffend stabil, zieht man den Vergleich zu den ziemlich genau 123 Jahren, in denen die Komnenoi und Angeloi Byzanz beherrschten. Diese Klarheit und Eindeutigkeit des spätbyzantinischen Warägerbildes, das einige Schnittmengen mit mittelbyzantinischen Perzeptionen aufweist, freilich begrenzt auf den Palast und seine Umgebung, deutet zusammen mit der ethnischen Unbestimmtheit darauf hin, dass die späte Warägergarde eine bewusste (Neu-)Schöpfung darstellte, mit welcher Michael VIII. Palaiologos als »neuer Konstantin«890 1261 an Traditionen anzuknüpfen suchte, die er und seine Zeitgenossen mit dem komnenischen Konstantinopel verbanden. Übereinstimmungen zwischen seinem Prostagma für Andronikos II. von 1272 und PseudoKodinos etwa acht Jahrzehnte später unterstreichen, dass in der Tat der Wille Michaels nach der Wiederrichtung der byzantinischen Herrschaft über Konstantinopel ausschlaggebend für das späte Hofzeremoniell und die Warangoi hierin war.891 Seine Herrschaft ist auch in anderen Bereichen geprägt von der Rückkehr zur Tradition aus dem Zeitraum vor 1204 und dem Abbruch von Entwicklungen, die sich in Nikaia ergeben hatten. Dieses ostentative Anknüpfen an die Komnenoi, die Angeloi und ihre Zeremonien zeigt sich etwa bei der Wiedereinführung von Panegyrika an den Basileus zu Epiphanias und in einem Nachlassen des Protonationalismus, der sich im kleinasiatischen Exilreich gebildet hatte.892 890 Diese Selbstbezeichnung ist in genuesischen Annalen belegt, s. Geanakoplos, Michael Palaeologus and the West [1959], S. 121 mit Anm. 8. Auch im Folgenden Macrides, The New Constantine [1980]; Macrides, Komnenoi to Palaiologoi [1995], S. 271–273; Geanakoplos, Michael Palaeologus and the West [1959], S. 119–137. 891 So auch Pseudo-Kodinos: Traité des offices, ed. Verpeaux [1966], S. 39f. 892 Macrides, Komnenoi to Palaiologoi [1995], bes. S. 279–282; Angelov, Ideological Reactions

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Da das Bewusstsein um die Bedeutung der Warangoi, gerade in den letzten Jahrzehnten vor 1204, ungebrochen war, jedoch höchstwahrscheinlich keine personale Kontinuität existierte, scheint es angemessen, eher von einer »palaiologischen Renaissance« als einer »Restauration« zu sprechen. Die intentionale Neuerfindung und Definition einer Palastgarde, die aus nordwesteuropäischen Barbaroi bestand oder vorgab, aus solchen Migranten zu bestehen, erklärt, warum das Erscheinungsbild der spätbyzantinischen Waräger zugleich beinahe überdeutlich und im Vergleich zur facettenreichen Geschichte ihrer Vorgänger im langen 12. Jahrhundert verblüffend eindimensional, gleichsam überrestauriert, erscheint. Sie sind ein Zeugnis palaiologischer KomnenenRezeption und zugleich ein offensichtlich unverzichtbarer Gegenstand spätbyzantinischer Selbstvergewisserung. Daher kann auch von einem »Ghost of the Regiment« wie bei Benedikz eigentlich keine Rede sein,893 zumindest nicht angesichts der Aufmerksamkeit von Historiographen und Briefschreibern sowie der Fülle an Aufgaben, welche ihnen im Palast und der Hauptstadt insgesamt zukamen. Auch ihre Zahl muss beträchtlich gewesen sein und zumindest mehrere Hundert betragen haben, bilden sie doch einen erklecklichen Teil der 6000 Personen aus dem Palastpersonal, die laut Pseudo-Kodinos an Heiligabend vor dem Basileus paradieren.894 Dass Blöndals Erzählung dennoch den Eindruck erweckt, nach 1204 seien nur noch vereinzelte Wiedergänger einer einstmalig glorreichen Gardeeinheit anzutreffen, hängt damit zusammen, dass er mit dem Datum 1204 von einem synthetisierenden, anreichernden Erzählmodus für die mittelbyzantinische Zeit zu einer eher analytischen Auflistung von Erwähnungen übergeht. Der Verzicht auf das Kombinieren und Assoziieren byzantinischer mit skandinavischen Quellen hat freilich seinen Grund, da in Skandinavien entstandene Texte über keinerlei Ereignisse mehr in Byzanz berichten, die nach den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts in Konstantinopel stattfanden. Die verflechtende Erzählung, deren Problematik wiederholt betont wurde, stößt hier an ihre Grenzen, möchte sie nicht versuchen, spätmittelalterliche Originale Riddarasögur und Fornaldarsögur auf die synchrone spätbyzantinische Geschichte zu beziehen, wofür sich kaum Gründe plausibel machen lassen.895 Skandinavien beziehungsweise skandinavische [2005], S. 305f. Macrides, a. a. O. S. 274f. betont indes, dass das Anknüpfen an Konstantin zudem den Rückgriff präkomnenische Elemente zeigt sowie an Isaakios II. Angelos (ebd., S. 279f.). 893 So die Überschrift zum 7. Kapitel bei Blöndal (Benedikz), S. 167: »The Ghost of the Regiment: Varangian Evidences 1204–1453«. Im Original, S. 256, ist das Kapitel schlicht mit »Væringjar á tímabilinu 1204–1453« überschrieben, und auch die Einleitung weicht in ihrer Formulierung ab: Während Benedikz die geringe Zahl der Belegstellen betont, hebt Blöndal hervor, dass 1204 der Einsatz der Waräger im Kriegsdienst endete. 894 B117. 895 S. hierzu unten, S. 772ff. Das »Griechenland«-Bild der spätmittelalterlichen, fiktionalen

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Migranten spielen für die spätbyzantinische Geschichte ohnehin keine erkennbare Rolle mehr. Zwar finden sich aus dem späteren 13. und 14. Jahrhundert durchaus Berichte über die Reisen von Jerusalempilgern aus Skandinavien, doch führen diese nicht mehr nach Byzanz, was bei Ereignissen vor 1204 und in der fiktionalen Literatur praktisch immer der Fall ist: Weder der heilige Jerusalempilger Anders von Slagelse, dessen Vita am Ende des 13. Jahrhunderts entstand,896 noch der norwegische Magnat Andrés Nikulásson 1274/75897 oder der dänische König Valdemar IV. Atterdag, der um 1345 nach Jerusalem pilgert und am Heiligen Grab zum Ritter geschlagen wird,898 besuchen die »große Stadt«, von der zuvor solche Anziehungskraft ausgegangen war. Auch die Byzantiner, deren geographisches Wissen im 12. Jahrhundert durch die Anwesenheit von Skandinaviern modifiziert worden war, dokumentieren keinerlei Wissenstransfer solcher Art mehr: Nikephoros Gregoras äußert sich an einer Stelle über die Tatsache, dass die Litauer ihr Heidentum der verkommenen Orthodoxie der Gegenwart vorzögen und weiß zu berichten, dass Keltoi und Galatai in deren Nachbarschaft am Okeanos unweit der Insel Thoule lebten,899 doch stellt er keinerlei Bezug zu den Warangoi seiner Gegenwart her, wie es die geographischen Diskurse des 12. Jahrhunderts zu tun pflegten. Der so genannte »Russlandexkurs« des Laonikos Chalkokondyles belegt um die Mitte des 15. Jahrhunderts zwar eine gute geographische Kenntnis des russischen Raums bis an die Ostsee, jedoch nicht darüber hinaus.900 Insofern dokumentieren sowohl die byzantinischen als auch die skandinavischen Zeugnisse im Vergleich zur Komnenenzeit eine kulturelle Entflechtung seit dem frühen 13. Jahrhundert. Kontakte, die man wohl als eher sporadisch, aber durchaus funktional einzuschätzen hat, da sie Migranten nach Konstantinopel führten, existierten allein mit England. Diese Konzentration auf englische Verbindungen, die wie die skandinavischen eine lange Geschichte aufwiesen, lässt sich möglicherweise bereits mit einem Wandel der Warägergarde im Lateinischen Kaiserreich erklären. Unsere letzten Zeugnisse von Skandinaviern in den Diensten der Lateinischen Kaiser stammen aus der Zeit um 1210; geht man davon aus, dass gerade der erfolgreiche Henri von Flandern aufgrund seiner Herkunft bessere personale und zumal wirtschaftliche Beziehungen nach England als in

896 897 898 899 900

Sagas lässt keine Reflexe auf Herrschafts- und Raumkonstellationen des 14. oder 15. Jahrhunderts erkennen, sondern entspricht dem geographischen Wissen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts und bezieht auch immer wieder Formulierungen aus Texten dieser Zeitperiode. D90. NI 188. D87, D92-D95. B113. Ditten, Rußland-Exkurs des Cholkokondyles [1968]; vgl. Müller, Geschichte der antiken Ethnographie [1980], S. 489–499.

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die skandinavischen Regionen unterhielt, wäre ein Wandel in der Zusammensetzung der Warangoi bereits am Hofe der Lateinischen Kaiser denkbar, während die Kontinuität skandinavischer Migration nach Byzanz verhältnismäßig früh nach 1204 abbrach oder deren Ausgangspunkt sich zumindest zu den Britannien vorgelagerten Inseln hin verschob. Die Stabilisierung der politischen Verhältnisse in Norwegen nach der Beendigung der Königsfehden zwischen den Baglar und den Birkibeinar ab 1217901 und die rasche Expansion der dänischen Macht entlang der südlichen Ostseeküste unter Valdemar II. Sejr in den ersten zwei Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts902 mögen gemeinsam mit einer schrumpfenden Attraktivität Konstantinopels – in finanzieller und personaler Hinsicht – zum Schwinden skandinavischer Byzanzmigrationen beigetragen haben. Das einzige Zeugnis direkten Kontakts zwischen Byzanz und dem Norden nach dem frühen 13. Jahrhundert bleibt indes der hochinteressante Reisebericht eines gewissen Laskaris Kananos, der in Volkssprache von ethnographischen Eindrücken seiner Reise über Norwegen, Schweden, Livland, Preußen, Pommern, Schleswig, Dänemark, England nach Island berichtet, welches er wie schon geographische Diskurse im 12. Jahrhundert mit der Thoule identifiziert, nicht aber mit dem Herkunftsland von Warangoi, die ihm augenscheinlich nicht mehr geläufig sind. Es ist unklar, wann genau im 15. Jahrhundert entgegen dem Muster vorausgegangener Jahrhunderte der Byzantiner in den Norden reiste.903 Möglicherweise tat er dies erst nach dem Fall Konstantinopels als Flüchtling, der Lösegeld für seine Verwandten in osmanischer Gefangenschaft auftreiben musste, wie es sein Landsmann Demetrios Palaiologos 1468 bei Christian I. von Dänemark versuchte,904 so dass nunmehr der Norden Europas materielle An901 Vgl. Helle, Norge blir en stat [1974], S. 94–101; Bagge, Borgerkrig og statsutvikling [1986]; Jón Viðar Sigurðsson, Norsk Historie [1999], S. 120–125. 902 Vgl. Riis, Ostseeimperium [2003]; Villads Jensen, Korstog [2011], S. 186–198, 437–447; Fonnesberg-Schmidt, Korstogserobringer [2000]. 903 Laskaris Kananos, ed. Lundström [1902]; eine deutsche Übersetzung bietet Blomqvist, Ein Byzantiner im Norden [1989]. Zur literaturgeschichtlichen Einordnung vgl. Hunger, Literatur [1978], S. 519. Die jüngste Untersuchung zu möglichen Datierungen mit einer umfangreichen Besprechung der Forschungsgeschichte ist Harris, Laskaris Kananos [2010]. Kontextualisierungen von Kananos’ Reise sind u. a. abhängig von der Identifizierung seiner selbst mit anderen Personen, welche im 15. Jh. den Nachnamen Kananos tragen, sowie mit seinem Itinerar. Bisher wurde seine Reise zumeist im Kontext der russischen Delegation zum Konzil von Ferrara-Florenz gesehen, was aber die Reiseroute nicht erkläre (ebd. 174f.; so auch Hägg, En bysantiner besøker Bergen [1990], S. 222–224). Eine Identifikation des Laskaris Kananos mit dem Gesandten an Margrethe I. 1402 stünde wiederum im Widerspruch zum Itinerar (Harris, a. a. O. S. 175f.), so dass Harris zu dem Schluss kommt, dass Kananos wahrscheinlich ein Flüchtling vor den Osmanen aus Konstantinopel war, der in Nordeuropa Lösegeld für gefangene Verwandte suchte (ebd., S. 182–187; vgl. auch die folgende Anm.). 904 Harris, Laskaris Kananos [2010], S. 184 mit Anm. 37 verzeichnet die dänischen Quellen hierzu, darunter der Renaissance-Historiograph Arild Huitfeldt.

Fazit: Höhepunkt, Traditionsabbruch und eine notwendige Renaissance

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ziehungskraft auf den Byzantiner ausübte, nicht umgekehrt wie im Hochmittelalter. In jedem Fall bleibt der Reisebericht, der ein spätes Wiedersehen von Byzantinern und Skandinaviern unter veränderten Vorzeichen dokumentiert, ein kurioses Einzelphänomen. Nichtsdestoweniger waren den Byzantinern ihre Warangoi und den Skandinaviern die Nähe ihrer Vorfahren und Helden zu Byzanz in den Jahrhunderten zuvor unverzichtbar geworden. Es ist letztlich diese Interdependenz, die Einbeziehung der Skandinavier in das klassische byzantinische Netz »weicher« Machtausübung, die auch ferne Barbaroi und deren Kriegerressourcen diplomatisch-konsensual und materiell an sich zu binden suchte,905 welche es uns einerseits ermöglichte, der byzantinischen Aufmerksamkeit für die Fremden nachzugehen und andererseits eine überbordende Masse an Rezeptions- und Transferzeugnissen im Norden schuf. Sie stellen zugleich ein teilweise bewusstes Distinktionsmerkmal skandinavischer Kulturen im lateineuropäischen Kontext dar, und ihnen wenden wir uns im Folgenden zu. Das okzidentale Imperium, den gelehrten wie den weltlichen Eliten durch Bildungs- und Pilgerreisen bestens vertraut, bot den Skandinaviern nichts Vergleichbares. Zwar kann die Bedeutung der gelehrten Netzwerke zwischen Latein- und Nordeuropa in ihrer Wirkung kaum genug betont werden, auch und gerade in diesem Kontext, doch war die Anziehungskraft von Byzanz auf skandinavische Krieger und Pilger eben aufgrund gezielter byzantinischer Netzwerkbildung und »Immigrationspolitik« ohne Parallele in anderen Herrschaftsräumen. Hinzu tritt der Reiz des Fernen, Exotischen in seiner literarischen Präsentation, der bereits in gegenwartschronistischen Texten unverkennbar präsent ist. Die Kulturbeziehung entfaltete daher in der longue durée auch nach ihrem Abbruch erhebliche Konsequenzen. So ist die palaiologische Renaissance der Warägergarde ebenso ein Rezeptionszeugnis des Fremden in der eigenen Geschichte, eine Selbstvergewisserung über den eigenen Status, wie es die allgegenwärtigen Byzanzfahrten skandinavischer Vorzeit- und Ritterhelden in spätmittelalterlichen, fiktionalen Sagas sind. Eine jahrhundertealte Kulturbeziehung, die sich für die Byzantiner im Laufe des 12. Jahrhunderts auf einem relativ kurz anhaltenden Höhepunkt zu einer verblüffend engen Verflechtung entwickelt und entsprechende Aufmerksamkeit für die skandinavischen und englischen Fremden evoziert hatte, sollte ihre Wirkung für das kulturelle Selbstbewusstsein an beiden Enden eines weiten Weges behalten. Den Gründen für diese Verflechtung, ihre Entfaltung und ihre diachrone Wirkmächtigkeit wird nun aus skandinavischer Perspektive nachzugehen sein.

905 Vgl. Shepard, Byzantine Diplomacy 800–1204 [1992], S. 51–71; Shepard, Trouble-shooters and Men-on-the-Spot [2011], S. 715–723.

III.

Byzanz im Norden: Historiographisch-politische Zugänge

1.

Im Anfang war das Märchen: Haraldr Sigurðarson als Held im Exil – und als Träger von Transfer?

Die Geschichte der Væringjar beginnt mit Haraldr. Er war der Halbbruder des Norwegerkönigs Óláfr Haraldsson, der 1028 die Macht über die norwegischen Magnaten an Knud den Großen verloren hatte, über Schweden in die Rus’ zu Jaroslav dem Weisen geflohen und im Juli 1030 bei Stiklarstaðir im Trøndelag gefallen war, als er versuchte, seine Herrschaft zurückzuerlangen. Haraldr, der die Schlacht überlebte, floh mit seinen Leuten wiederum zu Jaroslav, zog nach einiger Zeit bei ihm nach Konstantinopel und befand sich von etwa 1034 bis 1043 in byzantinischen Diensten, wovon bekanntermaßen Kekaumenos berichtet.1 Sieht man von Fiktionen in späteren Íslendingasögur2 und einem bestimmten, späteren Typus von wikingerzeitlichen »weitgereisten« Pilgern (víðfo˛rlar) in der norrönen Literatur ab,3 ist Haraldr erzählchronologisch gesehen der erste Skandinavier, dessen Erlebnisse in Byzanz geschildert werden. Die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Versionen seiner Geschichte einerseits, motivlichen Querbezügen zwischen verschiedenen Darstellungen von Byzanzfahrten andererseits und ihre diachrone Entwicklung vor dem Hintergrund wechselnder Konstitutionsbedingungen sind ausgesprochen komplex. Der Versuch von Rückschlüssen auf extratextuelle Ereignisse verfängt sich daher ohne eine möglichst präzise philologische Analyse praktisch zwangsläufig in Unsicherheiten über die historische Aussagekraft der Quellen. Daher sei Haralds gerade von Historikern so intensiv rezipierte Geschichte in Byzanz einleitend und

1 B11; vgl. oben, S. 126ff. 2 S. NII 1-NII 26 und unten, S. 737ff. 3 Vgl. Óláfs Byzanzreise in Odds Óláfs saga Tryggvasonar (NI 22-NI 25), Yngvars saga víðfo˛rla (NI 26-NI 34), den Þorvalds þáttr víðfo˛rla in drei Versionen (NI 166, NI 204, NI 205), den Gauts þáttr víðfo˛rla (NI 200) und die Eiríks saga víðfo˛rla (NI 206-NI 209) sowie unten, S. 676ff.

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Byzanz im Norden: Historiographisch-politische Zugänge

gleichermaßen als Exposition der sich ergebenden Problematik von Byzanzbildern im Norden eingehender analysiert. Bereits der auf Latein schreibende norwegische Historiograph Theodoricus monachus berichtet um 1183/84 in einigen Zeilen von Haralds Kriegen gegen die Heiden in der Rus’ und in »Äthiopien«, von seiner Pilgerreise nach Jerusalem, seinen Heldentaten auf Sizilien in byzantinischen Diensten, seinem großen Ruhm, schließlich von einer Anklage gegen ihn vor dem Basileus, seiner Rache und seiner Flucht aus Byzanz. Auch das Ágrip af Nóregs konunga so˛gum, in vielerlei Hinsicht das vernakulare Gegenstück zu Theodoricus’ Historia de antiquitate regum Norwagiensium vom Ende des 12. Jahrhunderts, notiert knapp die Tatsache von Haralds Aufenthalt im Osten.4 Die ausführlichste Behandlung schließlich erfährt Haraldr in der Morkinskinna, dem ältesten volkssprachlichen Kompendium der norwegischen Königsgeschichte. Es wurde zwischen 1217 und 1222 von einem isländischen Autor wahrscheinlich im nordisländischen Kloster Munkaþverá fertiggestellt5 und behandelt den Zeitraum ab 1035, schließt also chronologisch an existierende Lebensbeschreibungen des Heiligen Óláfr Haraldsson an. Der nach seiner einzigen Handschrift aus dem späteren 13. Jahrhundert – dem »rotten Pergament« – benannte, mit Lakunen und ohne Schluss überlieferte Text wurde unlängst unter Berücksichtigung jüngerer Erkenntnisse über Zusammenhänge mit anderen Konungasögur-Handschriften von Ármann Jakobsson und Þórður Ingi Guðjónsson neu restituiert und ediert.6 Er ist in mehrerlei Hinsicht von zentraler

4 NI 111. Das Ágrip beruht außer auf Theodoricus auf der um 1170 entstandenen, nur fragmentarisch überlieferten Historia Norwegie (vgl. hierzu Boje Mortensen/Mundal, Erkebispesetet i Nidaros [2003], S. 369–373; Ulset, Det gentiske forholdet [1983], S. 92–94, 111– 114; Foote, Introduction [1998], S. XXf. S. zu Haralds Byzanzaufenthalt auch Adam III,13, S. 153 f. mit schol. 62, William of Malmesbury: Gesta regum Anglorum, ed. Mynors/ Thomson/Winterbottom [1998] 3,260, S. 478–480; vgl. Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 202. 5 Diese These prägte Andersson, Snorri Sturluson [1993], S. 15–20. Sie wird unten, S. 662ff., aufgegriffen. 6 Vgl. zur Morkinskinna grundlegend Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], hier S. 19–29 sowie seine Einleitung zur Edition, Msk. 1, S. VI–XIV und die Einleitung zur Übersetzung von Theodore M. Andersson, S. 5–11. Die Hs. GKS 1009 fol. bewahrt die Sprachform des späten 12./frühen 13. Jhs. mit Norwagismen, die auf eine Produktion auch für den norwegischen Markt hindeuten (Stefán Karlsson, Om norvagismer [1978], zur Treue der Abschrift gegenüber der Vorlage jedoch unlängst kritisch Speed Kjeldsen, Filologiske studier [2013], S. 391–423, 427f.). Der Name Morkinskinna stammt vom Gelehrten und Handschriftensammler Þormóðr Tórfason (Torfæus) im 17. Jh. Der Umfang des am Anfang verlorenen Textes ist nicht klar, doch setzt die Handlung mit Magnús Óláfsson im rusischen Exil ein. Mehrere Lakunen, in der früheren Ausgabe durch Finnur Jónsson immer mit dem Text der Flateyjarbók (GKS 1005 fol., 1387–94 und frühes 15. Jh.) gefüllt, schließen Ármann und Þórður nach jüngeren Erkenntnissen über die Beziehungen zwischen den Handschriften teilweise mit der Flateyjarbók, teilweise mit der Hulda (AM 66 fol., M. 14. Jh.) und der Fríssbók (AM 45 fol.,

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Bedeutung für unsere Frage nach Byzanzkonzeptionen im Norden: Einerseits sind spätere Kompendien norwegischer Königsgeschichte – die so genannte Fagrskinna und auch Snorri Sturlusons ungleich bekanntere Heimskringla – bezüglich der Byzanznarrationen komplett von jenen der Morkinskinna abhängig und ergänzen so gut wie nichts, wie noch zu zeigen sein wird. Insofern ist die Morkinskinna – gemeinsam mit der noch zu behandelnden Orkneyinga saga – nicht nur das älteste Zeugnis norröner Schrifttradition über Byzanz, sondern andererseits zugleich die Wurzel, aus der spätere Byzanznarrative sich speisen. Der Grund dafür, dass zahlreiche Studien zu Haraldr in Byzanz sich jedoch nahezu ausschließlich auf Snorris Heimskringla beziehen,7 die jedoch diesbezüglich eigentlich nur als Kompilation von Inhalten der Morkinskinna von Interesse sein kann,8 hängt damit zusammen, dass man letztere überwiegend aufgrund anachronistischer ästhetischer Vorstellungen schlicht nicht ernst nahm. Im Gegensatz zur sehr viel kürzeren Fagrskinna und auch zur Heimskringla nämlich enthält die Morkinskinna zahlreiche in den linearen Geschichtsund Erzählverlauf als Exkurse eingeschobene þættir, kurze Erzählungen über Personen, vor allem Isländer, die in der norwegischen Königsgeschichte auftauchen. Bis vor kurzem ist die Forschung davon ausgegangen, dass eine hypothetische »Älteste Morkinskinna«, möglicherweise schon um 1170 entstanden,9 ähnlich wie die späteren Kompendien frei von solch interpolierten, den narrativen ordo naturalis störenden Geschichten gewesen sein müsse. Diese Ansicht ist angesichts mittelalterlicher Erzählästhetik dahingehend isolationistisch, dass sie die isländische Literatur, zumal die Konungasögur, mindestens stillschweigend als den völlig autochthonen Ausdruck einer »reinen« Kultur auffasst, deren Ästhetik unbeeinflusst sei von derjenigen des »Kontinents«. Allein auf der Basis Anfang 14. Jh.), woraus ein besserer Eindruck von der wahrscheinlichen ursprünglichen Gestalt entsteht. Möglicherweise reichte der Text der Morkinskinna wie bei ihren Nachfolgern bis 1177, wo die Sv.s. beginnt, jedoch lässt sich dies nicht mehr klären. Der überlieferte Text bricht 1157 ab. Zur Msk.-Hs. vgl. v. a. Speed Kjeldsen, Filologiske studier [2013], bes. S. 425–430; zu weiteren, abhängigen oder verwandten Hss. s. Speed Kjeldsen, Filologiske studier [2013] Msk. a. a. O., Louis-Jensen, Kongesagastudier [1977], S. 62–94 sowie das Stemma ebd. S. 72. 7 Hendy, Michael IV and Harold [1970]; Morrisson, Le rôle des varanges [1981]; Grierson, Harold Hardrada [1979]; Bagge, Harald Hardråde i Bysants [1990]; Browner, Viking Pilgrimage [1992]; Shepard, Middle Byzantine Military Culture [2011]. Friedrichsen, Harald Sigurdsson [2001] analysiert Haralds Beschreibung in der Hkr. ohne ereignisgeschichtliches Interesse, jedoch auch ohne Seitenblick auf Msk. und Fsk. Zu Blöndal vgl. unten, S. 339f. 8 Dies erfordert freilich einen wertneutralen, nicht-pejorativen Kompilator-Begriff, vgl. Kolbrún Haraldsdóttir, Der Historiker Snorri [1998], S. 106–108; Glauser, Vom Autor zum Kompilator [1998], S. 42 f.; Trenter, Sturlunga saga [1987], bes. S. 223–236. Ebenso ist der moderne Autorbegriff als Gegenpol zu relativieren und die Bedeutung kreativer (Ab-)Schreibprozesse zu betonen (vgl. die Programmatik der »New Philology«: Nichols, Introduction [1990]; Cerquiglini, Éloge de la variante [1989], S. 18–29). 9 So Morkinskinna, ed. Finnur Jónsson, S. V–VII; vgl. Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 30–33.

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einer solchen Annahme, die letztlich auf nichts als der Prämisse beruht, dass Sagas der aristotelischen Vorstellung einer Einheit von Ort und Zeit in der Erzählung zu genügen hätten,10 wurde jahrzehntelang über die Identifikation von interpolierten þættir und die ursprüngliche Gestalt der so nirgends überlieferten »Ältesten Morkinskinna« diskutiert. Der einzige Fixpunkt und feste ästhetische Maßstab blieb dabei die Gestalt der späteren Kompendien, Fagrskinna und Heimskringla. Da sie unter anderem auf die Morkinskinna zurückgehen, schloss man von ihnen auf die Gestalt der »ursprünglichen« Morkinskinna. Abweichungen der Morkinskinna-Handschrift von ihnen schienen die Depravation eines kohärenten Textes zu einer Art enzyklopädischen Rumpelkammer zu indizieren; man ging davon aus, dass Kompilatoren in verschiedenen Stufen ursprünglich als Texte gesondert existierende þættir interpoliert hatten, eine Ansicht, die wiederum nicht aus beobachteten Überlieferungsbefunden, sondern aus einem spezifischen modernen Textbegriff resultierte.11 Da es sich bei der Interpolation um eine sekundäre Entwicklung handelte, wurde die Heimskringla folgerichtig als historiographische Quelle ernster genommen; der jüngere Text konnte so eine frühere Textstufe repräsentieren. Dass die Heimskringla in Übersetzungen zugänglich war, begünstigte diese Tatsache noch.12 10 Vgl. die Analyse des Problems und der Praxis verflochtener Erzählstränge auch in der norrönen Literatur bei Clover, The Medieval Saga [1982], bes. S. 102–104, 111–146; Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 63–68. 11 Hielt Finnur Jónsson, Oldnorske og oldislandske Litteraturs historie 2,2 [1901], bes. S. 627– 630, die Msk. noch für eine verunglückte Sammlung ursprünglich gesondert existierender Sagas und þættir, sprach sich Indrebø, Fagrskinna [1917], S. 20–40 dafür aus, dass die knappe, auf die Königsviten fixierte und weitgehend linear erzählende Fagrskinna die Form und Gestalt der »ursprünglichen« Morkinskinna (Ældste Morkinskinna) repräsentiere, also Rückschlüsse auf deren Gestalt und spätere »Interpolationen« bis 1275, der Entstehungszeit der Hs., erlaube. Diese Annahme, welche aufgrund der Prämisse, die Fagrskinna hätte aus ihrer Vorlage nichts Wesentliches eliminiert, aufgrund von Vergleichen mit anderen Texten und deren Einbindung in Msk. und Fsk., aufgrund von »Fehlern« des vermeintlichen Kompilators wie Wiederholungen, Brüchen in der Erzähllogik und anderen »unschönen« Phänomenen Rückschlüsse auf verschiedene interpolierte þættir erlaubt, übernahmen Finnur Jónsson und spätere Forscher, v. a. Bjarni Aðalbjarnarson, Norske kongers sagaer [1937], S. 151–172, der 16 þættir als sekundär identifizierte, und Gimmler, Die Thættir der Morkinskinna [1976], der 27 Interpolationen findet, woraus sich aufgrund der geringen Überschneidung 40 þættir ergeben. Louis-Jensen, Kongesagastudier [1977], S. 62–94, bes. 66–70 untersuchte die Handschriften mit dem Msk.-Text unter der Prämisse, dass es eine »Ældste Msk.«, wie sie Indrebø postulierte, gegeben habe, was bei der Konstruktion des Stemmas zum Zirkelschluss führt. Vgl. die forschungsgeschichtliche Analyse und die Zurückweisung dieser Argumente bei Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 30–54 sowie Msk. Bd. 1, S. XIX–XXXIII. Auch die interne Variation der Msk.-Hs. und damit der kodikologische Befund deutet nicht auf die Interpolation von þættir hin (Speed Kjeldsen, Filologiske studier [2013], S. 397–405–407, 428). 12 Eine Ausnahme aus dem Zeitraum vor der Neuedition bei der Behandlung von Haralds Geschichte bildet die Untersuchung von Haralds Byzanzaufenthalt bei Krag, Harald Hardrådes ungdomsår [1998], hier bes. S. 11–14. Eine englische Übersetzung auf der Basis von

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Es ist im Wesentlichen das Verdienst Ármann Jakobssons und Theodore M. Anderssons, die fragwürdigen Prämissen aufgezeigt zu haben, welche lange Zeit für eine Vernachlässigung der Morkinskinna gesorgt hatten. Mit ihnen stürzt die ganze Argumentation über eine Textverschmutzung durch Interpolationen in sich zusammen. Ármann zeigt nachdrücklich, dass der Text so, wie er auf uns kam, einen aus sich heraus plausiblen Aufbau besitzt, indem er norwegische Königsgeschichte mit der Historie der isländischen Magnaten durch amplificationes verflicht und damit zugleich einen enzyklopädischen Gegenentwurf zu älteren knappen Chroniken wie der Historia de antiquitate regum Norwagiensium oder dem Ágrip af Nóregs konunga so˛gum umsetzt.13 Bemerkenswerterweise ähneln sich dabei die lateinische Chronik Norwegens, welche die Forschung nachhaltig durch ihre eingefügten Exkurse irritierte,14 und die viel umfangreichere, volkssprachliche Morkinskinna in der Erzählstruktur. Der anonyme Autor, dessen Existenz angesichts der Stringenz des Textes und der Sprache unbestreitbar ist, folgt dabei nicht nur – wie auch Theodoricus monachus – der üblichen zeitgenössischen Rezeption antiker Rhetorik, welche den ordo artificialis explizit vorsieht, sondern, wie auch Snorri Sturluson nach ihm, kritischen Grundsätzen bei der Materialauswahl und der Interpretation zum Beispiel von Skaldenstrophen, wovon er selbst Rechenschaft ablegt.15

Finnur Jónssons Edition durch Theodore M. Andersson und Kari Ellen Gade erschien im Jahre 2000; ihre Einleitung, S. 12–24, 72–83 lehnt die These von der Interpolation nicht wie später Ármann Jakobsson ab, kritisiert aber den Blickwinkel der bisherigen Forschung und leitet ein Autorprofil aus dem Text selbst her. Problematische Konsequenzen hat die klassische Auffassung für die Analyse bei Kalinke, Sigurðar saga Jórsalafara [1984], bes. S. 152f., 164f.; sie unterstellt, die im Folgenden behandelten Passagen über Haraldr Sigurðarson in Byzanz und über Sigurðs Kreuzzug und seine norwegischen Nachwirkungen seien gegenüber der Heimskringla sekundär, die Entwicklung führe als von der »Historie« zur »Literatur«. 13 Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], bes. S. 102–106, 165–169, 223–238, 253–265, 283–287; s. auch Msk., S. LII–LIX, zum Autor auch Msk., übs. Andersson/Gade, S. 72–83. 14 Vgl. zu Theodoricus monachus und seinen Exkursen Bagge, Theodoricus Monachus [1989], S. 117–123 mit forschungsgeschichtlicher Übersicht auf S. 115; Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 99–101; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 165–176, 222f. 15 Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 260–264 mit Verweisen auf zahlreiche Stellen, an welchen der Autor seine Methoden zur Rekonstruktion der Geschichte – darunter die Auswertung von Skaldenstrophen – offenlegt und seine Quellen kritisiert. Zwar zeigt seine Verwendung nicht die gleiche zielgerichtete Auswahl an Belegstrophen wie Snorri, der im Bereich, in welchem die Msk. und Hkr. überlappen, etwa 50 % weglässt, doch ist dieser Unterschied quantitativ, nicht qualitativ. Snorri übernimmt und modifiziert auch hier ein schon existierendes Prinzip.

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Der »Norðbrikts þáttr«

Die Tatsache, dass die Morkinskinna in der überlieferten Form als das älteste der großen Kompendien ernst zu nehmen ist, hat unmittelbare Konsequenzen für das Bild von Haraldr Sigurðarson in Byzanz, denn der Bericht selbst ist als eingeschobener þáttr zu betrachten:16 Die Morkinskinna beginnt mit dem Exil von Magnús, dem Sohn des Heiligen Óláfr, in Garðaríki, genauer in Hólmgarðr – Novgorod – bei Jaroslav dem Weisen und dem Eintreffen einer norwegischen Delegation, welche den Sohn des Heiligen zurück ins Land holen will.17 Im Folgenden wird des Magnús Herrschaft beschrieben, seine Heiratsverbindungen nach Sachsen und seine kreuzzugsartig anmutende Schlacht gegen die heidnischen Wenden auf der Hlýrskógsheiðr, seine Kriege mit Svend Estridsen um die Herrschaft über Dänemark.18 Haraldr, der ja zu Beginn der Geschichte abwesend war, kommt erst mit seiner Rückkehr aus Byzanz über die Rus’ 1046 ins Spiel, als er in Schonen mit seinem Neffen Magnús zusammentrifft. Prosopographisch ausgesprochen geschickt wird die Überleitung zu einer langen Rückblende angebahnt: Haraldr, der mit einem überaus reich ausstaffierten Schiff aus dem Osten kommt, verkleidet sich und fragt Úlfr stallari, den Marschall Magnús’ des Guten, wie jener seinen heimkehrenden Oheim empfangen würde. Úlfr, der hier zur Entourage des Norwegerkönigs gehört, befand sich jedoch zuvor gemeinsam mit Haraldr, den er in seiner Verkleidung nicht erkennt, in byzantinischen Diensten.19 Haralds Auftauchen bietet den Anlass zum Rückblick auf sein zwischenzeitliches Leben nach dem Tode seines Halbbruders, das nun ausführlich erzählt wird, bevor die Handlung mit Streitigkeiten zwischen Magnús und Haraldr um die Teilung Norwegens wieder in den chronologischen Hauptstrang der Erzählung zurückkehrt. Der Exkurs umfasst nicht weniger als 38 Druckseiten, von denen sich über drei Viertel in Byzanz abspielen, und bildet damit den umfangreichsten Bericht über einen Byzanzaufenthalt im gesamten Corpus der skandinavischen Historiographie. Rasch wird indes klar, dass die Verbindung zwischen den historischen Ereignissen, auf welche die Morkinskinna zu rekurrieren vorgibt, und dem Text selbst nicht nur einen weiten chronologischen Raum von über anderthalb Jahrhunderten überspannt, sondern dass die Stränge mündlicher Tradition, 16 In der Tat hat die eigentliche Morkinskinna an dieser Stelle eine Lakune; der Text ist bis zur Eroberung der zweiten Stadt auf Sizilien (NI 116) aus der Flateyjarbók übernommen, die aber einwandfrei auf dem Msk.-Text beruht. 17 NI 106. Regesten zu Passagen aus den norwegischen Königsgeschichten, aus Msk., Fsk. und Hkr. sind grundsätzlich als Synopsen angelegt, die einen Überblick über die entsprechenden Stellen in den fraglichen Texten und ihre Differenzen im Inhalt vermitteln. 18 Msk. I, Kap. 2–9, S. 6–80; s. auch NI 107-NI 109. 19 NI 125.

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welche diesen Raum überbrückt haben müssen, ausgesprochen fragil, alles andere als geradlinig und vor allem sehr dicht mit hochmittelalterlicher Literatur verwoben sind: In Garðaríki – Kiev-Kœnugarðr kennen die Konungasögur nicht – dient Haraldr für einige Zeit gemeinsam mit Ro˛gnvaldr Brúsason, dem Jarl von den Orkneys, der zusammen mit Haraldr aus Norwegen fliehen musste, und erringt unter anderem einen Sieg über die Polen. Schließlich hält er um die Hand Ellisifs an, der Tochter Jaroslavs und Ingigerðs von Schweden, doch muss er sich ihrer zunächst würdig erweisen.20 Dies und nichts anderes bildet sein Motiv für die Byzanzfahrt, welche den Helden immer neuen Gefahren und Bewährungsproben aussetzt und so zumindest von der aventure angehaucht, wenn auch nicht von ihr durchdrungen ist.21 Haraldr reist nicht, wie das Kontextwissen des modernen Historikers es verlangt, von Kiev nach Konstantinopel, sondern aus dem Norden von Garðaríki über Vinðland (Polen) und dann wie ein Pilger des 12. Jahrhunderts über Saxland, Frakkland (Franken/Lothringen), Langbarðaland (die Lombardei) und Rom nach Miklagarðr, wo er sich unter dem Namen Norðbrikt einführt, seine königliche Herkunft verbirgt und bei den anderen Skandinaviern (Norðmenn), die sich Væringjar nennen, in byzantinische Dienste tritt.22 Obwohl also der Held seine wahre Identität verheimlicht, macht er alsbald von sich reden: Einerseits erweist er sich zugleich als weise und gerissen, als er eine schatzhütende Schlange vertreibt, die in einer Felshöhle bei Miklagarðr wohnt und nachts in Menschengestalt die Frau eines anderen væringi aufsucht. Zugleich zeigt Norðbrikts Charakter in kompletter Übereinstimmung mit demjenigen Haralds in Norwegen eindeutige Schattenseiten:23 Er zeigt prudentia und fortitudo, ist aber auch machtversessen, benimmt sich hochfahrend und arrogant gegenüber einem angesehenen isländischen Zeitgenossen;24 dass er auf die Forderung der Basilissa Zoe in ríka (»der Mächtigen«), er möge ihr eine Locke seines Haares überlassen, mit der Gegenforderung einer Locke aus ihrer 20 NI 111. 21 Vgl. Köhler, Ideal und Wiklichkeit [2002], S. 66–88; Ruh, Höfische Epik [1967], S. 16–23. 22 NI 112. Zum Pseudonym, das nur in der Msk. begegnet, formuliert Morkinskinna, ed. Andersson/Gade [2000], S. 426, Anm. 9 eine mutmaßliche Herleitung des zweiten Wortteils entweder von brigða (aufheben, verlassen), woraus sich eine Interpretation des Pseudonyms Norðbrikt als »Nord-Exilant« ergäbe, oder von f. brigð, dem »Lösungsrecht« auf verwirktes Land. Norðbrikt wäre also der »Nord-Prätendent« mit dem gerechten Anspruch auf das inzwischen von Sveinn Álfífuson, dem Sohn Knuds des Großen, beherrschte, aber durch den Mord an Óláfr inn helgi zugleich wieder verwirkte Norwegen. Auch eine Herleitung von breka (fordern, verlangen) wäre denkbar. Typisch erscheint jedenfalls, dass das Pseudonym die Identität zwar verschleiert, aber doch die Königlichkeit andeutet, die auch bei jeder einzelnen Aktion Norðbrikt-Haralds ins Auge fallen muss und deren Offenbarung auch in der Fremde das zentrale Element der ganzen Narration darstellt. 23 Vgl. Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], S. 272–278; Msk., S. LIX–LXVIII. 24 NI 112; es handelt sich um den Isländer Már Húnrøðarson.

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Intimbehaarung reagiert habe, sei vielleicht ein trefflicher Scherz, so äußert der Erzähler mit einem rhetorischen Augenrollen, aber doch dem Umgang mit der Herrscherin nicht angemessen gewesen.25 Haraldr fehlt jedes Maß, nicht nur in seinem Humor, sondern auch seinem Macht- und Rachedurst. Die charakterliche Unausgewogenheit des Protagonisten sorgt in Byzanz wie später in Norwegen und bis zu Haralds Schlachtentod bei Stamford Bridge für einen abwechslungsreichen Handlungsverlauf: So gerät der geheimnisumwitterte Skandinavier, der alsbald zum Anführer (ho˛fðingi) der Væringjar in byzantinischen Diensten aufsteigt, umgehend mit Gyrgir, dem Heerführer der Griechen, aneinander, doch er erweist sich ihm an Verschlagenheit und militärischem Können als überlegen.26 Gyrgir und Norðbrikt interagieren im Rangstreit miteinander wie skandinavische Magnaten; die Szene, in welcher sie sich um die Stellplätze ihrer Zelte streiten, könnte auch aus der späteren, spannungsgeladenen Geschichte von Haraldr und seinem Neffen Magnús in Norwegen stammen.27 Von einer Rezeption byzantinischen Hierarchiedenkens findet sich indes keine Spur. Schon bei ihrem ersten gemeinsamen Einsatz in der Ägäis schwingt sich Norðbrikt zum bedeutsamsten Höfding auf und zieht Byzantiner aus dem Gefolge von Gyrgir, mit dem offenbar Georgios Maniakes gemeint ist, in seine Armee, so dass er ein Heer aus Warägern, anderen Lateinern und Griechen führt.28 Er vollbringt Heldentaten in Serkland östlich des byzantinischen Reichs und in Afrika, wird im Krieg gegen die »Heiden«, also die muslimischen Gegner der Byzantiner, Zeuge eines Wunders des Heiligen Óláfr, das sehr ähnlich schon zuvor in Geisli, den Passio et miracula beati Olavi und weiteren Texten zu einem viel späteren Datum begegnete29 und zudem Elemente aus Óláfs Wunder in 25 NI 112. 26 NI 113. 27 S. den Rangstreit zwischen beiden um den Liegeplatz ihrer Flotten in Viken (Msk., Bd. 1, Kap. 16, S. 129f.). 28 NI 113. 29 NI 114. Vgl. die früheren Quellen unter NI 19 und das spätere Óláfswunder in Hkr., NI 155. Ciggaar, Harald Hardrada [1990] nimmt einen realen Hintergrund des Berichts in der Msk., spielt diese gegen Fsk. und Hkr. aus und postuliert daher, Haraldr habe gegen Kumanen oder Petschenegen gekämpft, doch argumentiert sie bloß mit dem Verhältnis zwischen Geisli und der Hkr., die zur Hkr. identischen zeitlichen Zuordnungen und motivlichen Parallelen der lateinischen und norrönen Óláfstradition in den Passio et miracula, dem Gamal norsk homiliebok sowie der Legendarischen Óláfs saga helga (NI 19), auf denen die Msk. beruht, behandelt sie nicht. Nach diesen zu urteilen, handelt es sich beim Wunder in der Msk. ebenso wie bei der folgenden Geschichte vom Kirchenbau um eine Fiktion ohne Ereignisgrundlage im fraglichen Zeitraum. Sandaaker, Miraklet på Pezina-vollane [1991] glaubt an eine Überlagerung einer »echten« Tradition aus Haralds Zeit, konkret dem Krieg gegen Peter Deljan (vgl. Kekaumenos, B11) mit dem späteren, in Geisli dokumentierten Wunder. Er meint, die »Pézinavellir«, nur in Hkr. und bei Geisli überliefert, seien eine Verballhornung des Flussnamens Pcˇinja und meinten die Ebene am Zusammenfluss mit der Kriva (ebd., S. 88), wo Haraldr 1041 gekämpft habe, womit er eine Idee von Munch, Kritiske undersøgelser [1873],

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Magnús’ Schlacht gegen die Wenden auf Hlýrskógsheiðr (Lyrksovshede) enthält, denn hier wie dort erscheint der Heilige auf einem weißen Pferd.30 Anschließend baut er seinem Halbbruder gegen den Willen des Basileus Mikael katalaktus31 eine Kirche. Da jener Mikael den Kult unterdrücken will, wofür der Heilige ihn später straft, verbietet er auch Festivitäten anlässlich des Wunders. Für das Fest S. 540f. aufgreift, übersieht aber dabei, dass die Herleitung eben auch von Griechisch Πατζινάκοι (Petschenegen) stammen kann, und dass die Msk. mit dem Haraldswunder gar keinen Ort nennt. Dass der Heidenkönig blind sei, hänge mit der Blendung Peter Deljans durch einen bulgarischen Feind vor einer Niederlage zusammen, dass er ein Heide und kein Christ sei wie der historische Peter, verdanke sich »epischer Überwucherung« im Warägermilieu (ebd., S. 95). Spätere »Assoziationsbrücken« hätten dann zu einer Identifikation der »ursprünglichen« Pézinavellir (die im »ursprünglichen« Kontext um Haraldr gar nicht begegnen!) mit Bitzina, dem griechischen Namen für den Fluss Kamtschia in Ostbulgarien in (sehr entfernter) Nähe zu Beroe geführt. Diese überaus komplizierte und spekulative Rekonstruktion hängt gänzlich in der Luft und hat allein zum Ziel, vor der Prämisse, die Geschichte in der Msk. besitze einen »überwucherten« historischen Kern, denkbare Verbindungen herzustellen. Ein hierzu herangezogenes Fragment aus der »Ältesten Óláfs saga helga«, das die Version der Hkr. (NI 155) zeigt, jedoch die Angreifer als Bolgar qualifiziert, besagt für das Alter und die Herkunft der Tradition nichts, denn das Fragment ist jünger als die Hkr. (Louis-Jensen, Syvende og ottende brudstykke [1970]) und zeigt keinen Bezug zu Haraldr wie die Msk. Sandaakers und Ciggaars Rekonstruktionen sind mangels Substanz abzulehnen und eine textbasierte Konstruktion vorzuziehen. Da die Msk.-Handschrift hier zudem eine Lakune aufweist und der Text aus der Flateyjarbók restituiert ist, besteht die Möglichkeit, dass es sich beim Óláfs-Wunder unter Haraldr um eine spätere Interpolation handelt. Vgl. für eine präzise Analyse der Textzusammenhänge Hagland, Olavslegender frå Bysants [1990]. 30 NI 114, dort erscheint Óláfr einem blinden König, der das heidnische Heer führt, auf der Lyrskovshede einem Freien in Magnús’ Heer (Msk. I, Kap. 6, S. 61). Weber, Saint Óláfr’s Sword [2001] sieht hierin eine Anspielung an zeitgenössisches Kreuzzugsdenken, Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 191 erkennt im heiligen Schimmelreiter ein byzantinisches Motiv. In der Tat ist die Verknüpfung mit byzantinischen Militärheiligen gegeben, die auf Schimmeln reiten, allerdings auch und gerade in der Kreuzfahrerliteratur (s. Gesta Francorum, ed. Hill [1962], S. 79, wo Georgios, Merkurios und Demetrios den Kreuzfahrern 1098 vor Antiochia erscheinen und Geoffrey Malaterra: De rebus gestis, ed. Pontieri [1928] 2,33, S. 43f., wo 1063 Georgios den Normannen bei Cerami/Sizilien gegen die Muslime erscheint; vgl. Shepard, Trouble-shooters and Men-on-the-Spot [2011], S. 715f.). Wie immer sind auch hier mehrere Wege des Transfers über die westliche Literatur denkbar; die byzantinischen Militärheiligen indes werden im Norden im Gegensatz zu den byzantinischen Nachbarräumen in der Rus’ und dem normannischen Sizilien niemals verehrt. Zudem findet sich der Schimmelreiter auch ganz einfach in Offb 19,11, und darauf gehen letztlich alle diese hagiographischen Elemente zurück. Es kann sich daher auch um eine Parallelerfindung im christlichen Norden handeln. 31 Der Beiname katalaktus/kátalaktús wurde von Vries, Normannisches Lehngut [1931], S. 63 und ihn rezipierenden Forschern als eine norröne Umformung des griechischen καταλλάκτης (»Geldwechsler«), eines Beinamens Michaels IV. gedeutet. In der Tat war Michael ein Bankier gewesen, doch sein Beiname in byzantinischen Quellen lautet Παφλαγών (Paphlago¯n), ein anderer ist nirgends belegt. Insofern hängt das norröne Epitheton in der Luft, deutet aber aufgrund der sehr engen phonetischen Übereinstimmung mit dem erschlossenen griechischen Vorbild, wenn auch unsicher, auf eine indigene mündliche Tradition hin.

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fehlendes Feuerholz ersetzt Norðbrikt daher mit Wrackteilen, Buschwerk und Walnüssen, ein Trick, den Guillaume de Jumièges den Normannenherzog Robert I. 1035 bei dessen Byzanzaufenthalt anwenden lässt,32 ebenso wie eine Translationslegende den Grafen Mangold von Wörth um 1025, der in Byzanz ein Kreuzfragment erhält.33 Von demselben Trick wird schließlich auch in der Morkinskinna selbst noch Sigurðr Jórsalafari Gebrauch machen, um Alexios Komnenos von seiner courtoisie zu überzeugen.34 Schließlich erobert Haraldr auf Sizilien, wieder in Kooperation mit dem völlig unfähigen und verzagten Gyrgir, drei Städte.35 Die Listen, welche er hierbei anwendet, indem er zum Beispiel Vögel als lebendige Brandsätze benutzt, um die Verteidiger abzulenken,36 oder seinen eigenen Tod fingieren lässt, um aus dem vermeintlichen Trauerzug einen Sturmangriff werden zu lassen,37 finden sich zum Teil auch in den Gesta Danorum in ganz anderen, vorgeschichtlichen Kontexten, in der Povest’ vremennych let, beim Armenier Stephan von Taron, aber auch in angelsächsischen, normannischen und französischen Texten und gehen ihrerseits auf griechischsprachige antike Vorbilder zurück.38 Solch mär32 Guillaume de Jumièges: Gesta Normannorum ducum, ed. van Houts [1995], S. 83–85. Vgl. hierzu Vries, Normannisches Lehngut [1931], S. 69–73 mit entsprechenden Verweisen auf Parallelstellen bei Wace (Roman de Rou), dem Versepos Aymeri de Narbonne und in der Geschichte des Kreuzerwerbs durch Mangold von Wörth von um 1150; White, Non-native Sources [2005], S. 108f.; die ausführlichste Dokumentation des Motivs, das in der Morkinskinna am stärksten entfaltet und nur hier in eine ganze Sequenz solcher höfischen Motive eingebunden ist, bei Hill, Burning Walnuts [2011], S. 195–202. van Houts, Scandinavian Influence [1983] erklärt diese und weitere motivliche Gemeinsamkeiten (unten, Anm. 38) entgegen den vorgenannten mit skandinavischer, mündlicher Vermittlung, die sich dann zuerst in anglonormannischen Texten niedergeschlagen habe, und argumentiert dafür mit wiederum in den Sagas bezeugten, anderthalb Jahrhunderte zurückliegenden Kontaktszenarien. Angesichts der Verbreitung auch jenseits dieser Räume und der im Folgenden zu zeigenden extremen Fragilität mündlicher Überlieferung, aber ganz klarer schriftlicher Vermittlungswege im Hochmittelalter ist diese These jedoch mehr als unwahrscheinlich. 33 Bertholdi Narratio [1888], S. 769. 34 NI 144. 35 NI 115-NI 117. 36 NI 116. 37 NI 117. 38 Zu den Vögeln als Brandbomben vgl. NI 116 mit der Vorgeschichte in Saxo, D29. Aufgrund der Motivgemeinschaft dieser Taktik sowie des vorgetäuschten Begräbnisses (vgl. NI 117 mit GD, D31 sowie GD 2,3,8) in griechischen, rusischen und skandinavischen Texten wurden – unter Ausblendung der Zeitschichtung – Rückschlüsse auf »warägischen« Kulturtransfer über den Ostweg gezogen (so v. a. Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 127–155; Stender-Petersen, La tradition hellespontiaque [1953], S. 201–204; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 215–217; van Houts, Scandinavian Influence [1983]). Es handelt sich jedoch um 1200 bereits um einen literarischen Allgemeinplatz, der längst in ganz anderen Kontexten auch in angelsächsischen, anglonormannischen und französischen Texten begegnet (Cam, Legend of the Incendiary Birds [1916] im Verweis auf den nur im Exzerpt erhaltenen chanson Gormond et Isembard über die Schlacht von Saucourt sowie auf Geoffrey of Monomouth;

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chenhafter und detailliert ausgebreiteter Erfolg freilich – schließlich nimmt Norðbrikt einen besiegten Stadtherrn in seinen Dienst und macht sich somit quasi zum Herrn der eroberten Gebiete39 – schafft Missgunst, so auch bei dem wiederholt geschulmeisterten byzantinischen Feldherrn. Während der Norweger noch in Sizilien im Feld steht, sich kurz darauf auf einen Kreuzzug nach Jerualem begibt, das Heilige Land kampflos seiner Herrschaft unterwirft, gegen Räuber vorgeht und die Straßen für Pilger sichert,40 behauptet Gyrgir, er habe Beute unterschlagen, und Zoe äußert den zutreffenden Verdacht, Norðbrikt pflege eine heimliche Affäre mit ihrer Schwestertochter Maria; Fagrskinna und Heimskringla machen aus ihr eine Brudertochter Zoes.41 Dass sich weder eine solche Verwandtschaftskonstellation noch eine Maria darin in byzantinischen Quellen ausfindig machen lassen, überrascht wenig. Zurück in Konstantinopel, überprüft der von den Neidern bearbeitete König Miklagarðs die Vorwürfe und stellt seinem fähigen Feldherrn Fallen, die entfernte Reminiszenzen an König Markes Verfolgung von Tristan und Isolde zeigen.42 Obschon Norðbrikt nicht überführt wird und seine Loyalität zum König unter Beweis stellen kann, wird er schließlich wegen Unzucht mit Maria angeklagt, nachdem er um sie angehalten hat. Insbesondere Zoe, die eigentlich selbst Interesse an Haraldr gehabt habe, so zumindest berichteten Byzanzfahrer von Waräger-Traditionen in der Gegenwart des Erzählers, habe den Helden zu Fall gebracht. Von den politischen Verwerfungen unter Michael V., der Zoes Macht zu brechen versuchte und nicht zuletzt deshalb einen Volksaufstand provozierte, als dessen Konsequenz er Herrschaft und Augenlicht verlor, findet sich nicht der

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White, Non-native Sources [2005], S. 99–109 im Verweis auf Guillaume de Jumièges, Guillaume von Apulien und Wace). Blöndal, S. 131–133/71–73 verweist zudem bezüglich der vorgetäuschten Beerdigung auf Dudo von St-Quentin, Matthew Paris und Otto von Freising; sie geht auf die Strategemata des Makedonen Polyainos aus dem 2 Jh. n. Chr. zurück (StenderPetersen, Die varägersage [1934], S. 150–153). Wie die Geschichte von den Walnüssen als Feuerholz können die Motive mit gelehrten Lateineuropa-Migranten in den Norden gelangt sein. Über Haralds Tätigkeit, auch als potentieller Transferent, besagen die Motive, bloß weil sie unter anderem in seiner Geschichte auftauchen, gar nichts. NI 117. NI 120. Zum historischen Hintergrund und zu den zu Grunde liegenden Skaldenstrophen des Stúfr blindi Föller, »… der den König selbst davon erzählen hörte.« [2011] und Föller, Wikinger als Pilger [2012], S. 294–297. NI 121. NI 121; vgl. den Tristan und Isolde auflauernden König Marke (etwa Tristrams saga, ed. Kölbing [1878], S. 69f.) Andersson, Skalds and Troubadours [1969], S. 33–41 äußert sich skeptisch zur Anwesenheit anderer Tristan-Stoffe als derjenigen in der Tristrams saga im Norden, die zu jener Zeit noch nicht geschrieben war (gegen weitreichende Annahmen französisch-höfischen Einflusses insbesondere auf die Liebesgeschichten in den Skaldensagas bei Bjarni Einarsson, Skáldsögur [1961] bzw. Bjarni Einarsson, The Lovesick Skald [1971]); doch ist eine mündliche Tradition, die zumindest das Motiv bekannt machte, auch nicht auszuschließen, woher auch immer die Geschichte gekommen sein mag.

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Hauch einer Spur, obwohl Blöndal Haraldr in diesem Konflikt eine ganz zentrale Rolle zuschreibt.43 Der für Norðbrikts Gefangennahme verantwortliche Herrscher ist jedenfalls nicht mehr wie zuvor Mikael (IV.) katalaktus, sondern ein gewisser Munak, offenbar Konstantinos IX. Monomachos. Norðbrikt wird zusammen mit Úlfr Óspaksson, dem späteren Marschall des Königs Magnús, dem Haraldr bei seiner Rückkehr in den Norden begegnet, und mit dem Isländer Halldórr Snorrason zusammen in ein schauerliches unterirdisches Gefängnis geworfen; auf dem Weg dorthin sieht er, wenn auch nicht auf einem Schimmel, am Standort der Óláfskapelle, die nach der Logik der Erzählung schon stehen muss, hier aber noch als zukünftig apostrophiert wird, seinen Halbbruder Óláfr. Im Gefängnis befindet sich eine gewaltige, menschenfressende Giftschlange, welche Haraldr jedoch gemeinsam mit seinen Kameraden unter Einsatz seines Gürtelmessers und mit dem Beistand seines heiligen Halbbruders tötet.44 Auch im Anschluss an den Kampf hilft ihnen der Heilige Óláfr: Er schickt eine Witwe, die er von einem Körperleiden geheilt hatte, zu ihrer Befreiung. Es folgt der so intensiv rezipierte Bericht von der Blendung des Basileus.45 Haraldr eilt zum Quartier der Væringjar, heißt sie, sich zu bewaffnen, dringt in das Schlafgemach Munaks ein und blendet den überrumpelten Herrscher. Der Erzähler selbst hält diese Geschichte zwar für unglaubwürdig, beruft sich aber auf die übereinstimmende Darstellung in der Skaldendichtung über Haraldr und zitiert selbst zwei Strophen als Beleg. Es folgt Haralds Flucht mit zwei Schiffen, von denen er eines erfolgreich über die Kette bugsiert, welche den Sæviðarsund – den Bosporos oder auch das Goldene Horn – sperrt,46 über das Schwarze Meer in das »Ostreich« (Austrríki) nach Hólmgarðr-Novgorod zu Jaroslav. Maria, die Haraldr entführt hatte, um seinen Sieg im Konflikt mit Zoe zu unterstreichen, wird freigelassen und zurückgeschickt, und es werden sechs von angeblich 16 Strophen aus den Gamanvísur wiedergegeben, in denen Haraldr seiner Braut Ellisif-Elisabeth seine Taten darlegt und die er auf seinem Weg nach Novgorod gedichtet habe. Zumindest eine der Strophen, in welcher der Held seine Fähig-

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Blöndal, S. 148–161/87–96. NI 122. Ebd. Dem Sprachgebrauch nach meint die Msk. mit »Sæviðarsund« hier in der Tat den Bosporus, über den erst unter Manuel Komnenos wahrscheinlich eine Sperrkette errichtet wurde (Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 444). Das Goldene Horn heißt zumindest im Spätmittelalter gewöhnlich Stólpasund (Dámusta saga, NII 62; Vilhjálms saga sjóðs, NII 89; Jarlmanns saga ok Hermanns, NII 94; in diesem Sinne auch Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 96 mit Anm. 4). Blöndal, Islandsk-dansk ordbog [1922–1924], S. 805 verzeichnet unter Stólpasund allein die Straße v. Gibraltar. Vgl. außerdem Blöndal, S. 161– 165/98–100. Die Tatsache der Denkbarkeit von Haralds Entkommen belegt indes noch nicht die Historizität der Geschichte; vgl. außerdem zu ähnlichen Kriegslistmotiven in anderen Literaturen, v. a. der rusischen, Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 95–104.

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keiten (íþróttir) aufzählt, entspricht ziemlich genau einer Strophe, die in der älteren Orkneyinga saga dem Heiligen Jarl Ro˛gnvaldr, ebenfalls einem Jerusalemund Byzanzfahrer, zugesprochen wird.47 Dies ist nicht der einzige intertextuelle Bezug zwischen Inhalten in diesen beiden Texten, die gerade auch im Hinblick auf Byzanzbilder korrespondieren. In Novgorod schließlich, wo sich Jaroslav und seine Gemahlin Ingigerðr in der fraglichen Zeit nicht aufgehalten haben dürften, erhält Haraldr Ellisif zur Frau und nimmt seine Schätze in Empfang, welche er in Byzanz erworben und nach Norden geschickt hatte, bevor er nach Nordwesten reist, um seinen Anteil an der norwegischen Herrschaft zu erlangen,48 womit sich der Kreis zur Begegnung mit seinem Neffen Magnús in Schonen schließt.

1.2.

Die Validität historischer Fiktion

Diese Erzählung, die am Anfang der »klassischen« Konungasögur steht und keineswegs das Zeugnis fortschreitender Kontamination einer autochthonen Literatur durch »Fremdes« darstellt, ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Sie präsentiert uns Haraldr als einen Ritter auf aventure, als Dämonenjäger, Held, taktisches Genie, Filou, Verführer, Kreuzfahrer und Drachentöter, und sie ist dadurch zugleich ein Zeugnis von Kulturverflechtungen und Transfers aus allen möglichen Richtungen: Die Geschichte nimmt nämlich Anleihen bei paneuropäischen Wandermotiven, normannischer Historiographie und westeuropäischer höfischer Literatur sowie selbstverständlich lateineuropäischer, im Norden längst etablierter Kreuzzugschronistik sowie synchronem, lokalem geographischen Wissen über Europa, das bemerkenswerterweise über den »Weg von den Warägern zu den Griechen« und die Geographie der Rus’ nicht oder kaum informiert scheint.49 Auf diese Weise trägt die älteste ausführliche Narration über Haraldr bereits deutliche Züge der lange Zeit als kulturelles Verfallszeugnis des isländischen Spätmittelalters betrachteten, so genannten »Originalen Riddarasögur« oder »Märchensagas«, die exotisierende Erzählelemente lateineuropäischer höfischer Literatur intensiv rezipieren, rekombinieren und weiterentwickeln.50 Erkennt man die Gültigkeit des Norðbrikts þáttr 47 NI 123. Die Strophe 4 der Gamanvísur (Msk. Str. 58) ähnelt sehr stark der íþróttir-Strophe des Jarls Ro˛gnvaldr Kali Kolsson (lv. 1) und ist im zweiten helmingr mit ihr identisch. Außer Str. 1 sind die übrigen nur in der Msk. überliefert; vgl. die Edition von Gade in SkP 2,1, S. 35–41. 48 NI 124-NI 126. 49 Vgl. hierzu Simek, Kosmographie [1990], S. 389 und die Abwesenheit Kœnugarðs in der hochmittelalterlichen Historiographie mit Ausnahme des Þorvalds þáttr víðfo˛rla in der Kristni saga (NI 166). 50 Vgl. Schier, Sagaliteratur [1970], S. 92–115; Kalinke, Bridal Quest Romance [1990]; Barnes,

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als kulturelles Zeugnis des frühen 13. Jahrhunderts an, ohne ihn vorschnell als historisch unbrauchbar beiseite zu schieben oder in »echte« und »unechte« Versatzstücke zu zerlegen, gelangt man in der Tat zu dem Schluss, dass am Anfang der uns noch zugänglichen Geschichte von Haraldr in Byzanz das Märchen steht. Dies zeitigt mehrerlei Konsequenzen, nicht allein für die frühe Geschichte und die Eigenschaften der »klassischen« Konungasögur als Literaturgattung im Gegensatz etwa zu fiktionaler Literatur, die oft einseitig an Snorris Heimskringla festgemacht wurde,51 sondern auch und gerade für die Aussagekraft hochmittelalterlicher Sagas über fern liegende historische Ereignisse. Ganz zweifellos enthält der Norðbrikts þáttr einen historischen Kern und das vielbeschworene Fünkchen Wahrheit:52 Es handelt sich um einen referentiellen Diskurs. Das beweist allein die intensive und kritische Benutzung der mündlichen skaldischen Überlieferung mit zahlreichen eingebundenen Strophenzitaten,53 aber auch die Kenntnis einiger wichtiger byzantinischer Interaktionspartner Haralds, wenn auch in norrön verballhornter Form,54 sowie des Kekaumenos Bericht über Haralds Einsätze in byzantinischen Diensten, insbesondere auf Sizilien. Genau die Tatsache eines immer wieder aufscheinenden referentiellen Bezugs in der Morkinskinna, aber auch in der auf ihr basierenden Fagrskinna und der Heimskringla, wurde indes zur wuchtigen argumentativen Axt, mit der man den Textzusammenhang sogleich in kleine Scherben zerschlug, um daraus »echte Geschichte« repräsentierende Stückchen nach eigener Erkenntnisabsicht herauszupicken und neu anzuordnen. Dies wurde naheliegenderweise insbesondere mit Skaldenstrophen unternommen, die ja aus Haralds Zeit in Norwegen stammten oder dies glaubhaft vorgeben – vor allem in Bezug auf problematisch

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Romance in Iceland [2000]; Glauser, Romance [2005]. Zum Verfallsmodell vgl. Vries, Altnordische Literaturgeschichte [1941], S. 495–499; Weber, Decadence of Feudal Myth [1986]. Das wird allein an der Masse der Publikationen deutlich, welche Snorri bzw. der Hkr. gewidmet sind, sowie der Anzahl an Übersetzungen in verschiedene, v. a. skandinavische Sprachen. Die national- und fachgeschichtlich äußerst wichtige neuzeitliche HeimskringlaRezeption kann hier indes nicht nachvollzogen werden. Vgl. dagegen zur Problematik eines einseitigen ästhetischen Bewertungsmaßstabs und dem Verhältnis der Erzähltechnik zwischen Hkr. und Msk. Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 81–85. Für gewöhnlich dient diese Feststellung der Abwehr vermeintlicher »Hyperkritik«, öffnet aber assoziativer Spekulation Tür und Tor; vgl. oben, S. 36ff. und bezogen auf Haraldr in Byzanz unten, S. 350ff. Hkr., Prologus, S. 7; zu den Formen der Einbindung von Skaldenstrophen in die Sagaprosa s. Fidjestøl, Skaldenstrophen in der Sagaprosa [1993]; zu ihren Implikationen für die mündliche Überlieferung hinter den Sagas von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981]; von See, Mündliche Prosa und Skaldendichtung [1981]. Die isländischen Annalen bewahren zwar nicht die Namen, berichten aber vom Tode des Romanos Diogenes (NI 190), eines Romano Panoia (mglw. Nikephoros Botaneiates?, NI 191), vom Regierungsantritt des Kirjalax (Alexios I., NI 192) und dem Tode von Manula (Manuel Komnenos, NI 194).

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erscheinende Deutungen von Orts- oder Völkernamen und auf Haralds Blendung des Basileus, die bekanntermaßen nicht Konstantinos IX. Monomachos beziehungsweise Munak getroffen haben konnte. Doch wurden auch andere Behauptungen aus der Sagaprosa wie etwa der Vorwurf, Norðbrikt/Haraldr habe Beute unterschlagen, zum Gegenstand nicht textbasierter Spekulationen.55 Viel bleibt indes von den 38 Druckseiten nicht übrig, wenn man das, was gemeinhin als »Ausschmückung« oder »Fiktion« bezeichnet wird, reduziert, insbesondere dann, wenn man der Heimskringla keine quasi-mystischen Zugänge zu »echten« mündlichen Traditionen zuschreibt,56 welche etwa die Morkinskinna nicht erkennen lässt. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Suche nach möglichen Kontrollzeugnissen zur Morkinskinna und dem von ihr begründeten Traditionsstrang außerhalb von Byzanz nicht die »echte« Geschichte, sondern ganz im Gegenteil märchenhafte Elemente der Erzählung validiert: Viel früher schon als in der Morkinskinna erwähnt William of Malmesbury, der im frühen 12. Jahrhundert schreibt, Haraldr habe im byzantinischen Exil, verurteilt wegen der Vergewaltigung einer vornehmen Dame und einem Löwen vorgeworfen, die Bestie mit den bloßen Händen erwürgt.57 Eine ganz ähnliche Geschichte dichtet das Chronicon Laudunense, fertiggestellt etwa zur gleichen Zeit wie die Morkinskinna, einem angelsächsischen Emigranten am Ende des 11. Jahrhunderts namens Hardigt an.58 Hier geraten die vor William dem Eroberer Geflohenen, die mit byzantinischer Zustimmung am Schwarzen Meer eine Kolonie erobert und gegründet hatten, in Konflikt mit Alexios Komnenos, woraufhin besagter Hardigt als Gesandter nach Konstantinopel geschickt wird. Er wird indes als Verräter dem Löwen vorgeworfen, tötet aber das Tier und jene zwei Griechen, die ihn als Verräter verleumdet hatten. Eine Rückbindung an in Skandinavien und England zirkulierende Geschichten scheint auch deshalb wahrscheinlich, weil sich in Laon 55 Vgl. v. a. zur Blendung und ihrer Kontextualisierung Munch, Kritiske undersøgelser [1873], S. 543–545; Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884], S. 383; Blöndal, S. 108–168/102– 54, aber auch die Literatur auf S. 295, Anm. 7 sowie Ciggaar, Harald Hardrada [1990]. 56 Dies geschah v. a. aufgrund der stilistischen Erscheinungsform, vgl. etwa Wolf, Snorris Wege [1993], S. 291–293. 57 William of Malmesbury: Gesta regum Anglorum, ed. Mynors/Thomson/Winterbottom [1998] 3,260, S. 478–480. 58 Chronicon Laudenense, ed. Ciggaar, Z. 95–109, S. 323. Der Name Hardigt zeigt einen deutlichen Anklang an Haralds Beinamen inn harðráði (»der hart Sprechende/Ratende/Herrschende«), den bereits Theodoricus monachus kennt und auch Fagrskinna und Heimksringla verwenden (Lind, Norsk-isländska personbinamn [1920–1921], Sp. 136). Fell, Saga of Edward [1973], S. 186–188 ist aufgrund der Variation eines Themas der Ansicht, es liege all diesen Erzählungen über Haraldr letztlich ein wahrer Kern zu Grunde. Sie unterscheiden sich aber gerade in der Übertragbarkeit vom Norweger auf den Angelsachsen Hardigtus uns ihrer Allgemeinheit nicht im Geringsten von anderen Wandermotiven. Belegt ist hiermit also nichts als eine lose Traditionsgemeinschaft.

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eine 1194 erstellte Genealogie der dänischen Könige des Abtes Vilhelm von Æbelholt fand59 und die in Überlieferungsgemeinschaft mit dem Chronicon Laudunense befindliche byzantinische Wundergeschichte vom Juden Abraham und dem Christen Theodoros sich in der norrönen Literatur wiederfindet.60 Eine wieder andere Variation des Helden Haraldr bieten die Gesta Danorum, die vermutlich etwas vor der Morkinskinna fertiggestellt wurden:61 Saxo berichtet in geringerer Abweichung als die westeuropäischen Texte, Haraldr sei wegen Mordes verurteilt und ins Gefängnis zu einem Drachen geworfen worden, habe ihn aber mit Hilfe eines Dieners mit seinem Rasiermesser getötet, woraufhin der Norweger begnadigt und ihm die Ausreise mit reichen Gaben gestattet worden sei. Der König Valdemar der Große sei im Besitz des Rasiermessers gewesen, habe diese Geschichte seinem Hof regelmäßig erzählt und das rostige Artefakt vorgezeigt. Den nachhaltigsten Eindruck, den Haralds Byzanzaufenthalt also im europäischen Westen hinterließ, war die Geschichte von einem siegfriedartigen Helden, welcher zu Unrecht verurteilt wurde und ein Untier bezwang, das nun einmal zum Helden gehört,62 ganz gleich ob Schlange, Drache oder Löwe.63 Die Morkinskinna ist hier wie bei Haralds Taktiken zur Eroberung sizilianischer

59 Vgl. D57+D58. Die Redaktion E der Genealogie findet sich in der Abschrift einer mittelalterlichen Handschrift aus Laon (AM 1030 4to), vgl. SM 1, S. 153–155. 60 Die byzantinische Wundergeschichte, in welcher der Jude auf Interzession Mariens hin Christ wird, findet sich in Lateineuropa in zwei Versionen sowie von lateineuropäischer Marienfrömmigkeit beeinflusst in Nachbarschaft zum Chronicon Laudunense (Ciggaar, L’émigration anglaise [1974], S. 304). Dieses Wunder wiederum enthält die um 1216–1236 entstandene Mariu saga, ed. Unger [1871], Kap. 15, S. 87–92, in anderer Fassung S. 1064–1067. Es ist ebenfalls behandelt in den fragmentarisch erhaltenen skaldischen Gyðingsvísur aus dem frühen 14. Jh., ed. Attwood, SkP 7,2, S. 515–526. Zwar ist hier die Zuordnung zu einer bestimmten Version nicht möglich, doch stimmt Miklagarðr-Konstantinopel als Ort mit den anderen Versionen überein. 61 D45. Die GD waren um 1185–1188, als Svend Aggesen seine Brevis historia regum Daciae verfasste, bereits begonnen gewesen, da er Saxo erwähnt, und wurden angesichts der Andeutungen im Prolog der GD auf königliche Kriegszüge über die Elbe 1208 oder 1216 fertiggestellt, als Valdemar II. Sejr jenseits der Elbe aktiv war. Die Gegenwartsgeschichte einschließlich der Nachricht über Haraldr in Buch 11 entstand zuerst im späten 12. Jh., da etwa der 1202 gestorbene Birger Jarl von Schweden als noch lebend erwähnt wird, danach die oft als typologischer Spiegel zur jüngeren Geschichte angelegte mythologische Geschichte (vgl. die Einleitung zu den GD von Friis-Jensen 2005; Christensen, Saxo og Sven Aggesen [1975], S. 132–137; Sterll, Belysning af stilistiske forskelle [1975]; zu typologischen Querbezügen Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], bes. S. 252f.; eine kompakte forschungsgeschichtliche Übersicht bei Leegaard Knudsen, Saxo-forskning [2012], S. 19–34). 62 Geschichten von Drachentötern stellen in der Mythologie indo-europäisches Gemeingut dar; der Held und der Drache bilden somit ein semiotisches Paar (Aarne, Types of Folktale [1964], S. 300). 63 Hierzu sei angemerkt, dass »Schlange« und »Drache« sich in der norrönen Überlieferung mitunter kaum unterscheiden (vgl. Acker, Death by Dragons [2012], S. 12–14, 16–18).

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Städte nur ein spätes Fragment eines quasi Lateineuropa übergreifenden Diskurses, der in Byzanz wiederum gar nicht zu erkennen ist.

1.3.

Die doppelte Theoriebindung skaldischer Tradition

Wenn unsere Schriftquellen also lebendige mündliche Tradition wiedergeben, dann hier, genau an einer Stelle, welche der Historiker zwangsläufig als Fiktion verwerfen muss. Im Anfang war das Märchen. Das zieht die Frage nach der Genese solcher Traditionen nach sich und verweist auf die Skaldik als die einzige zeitgenössische Überlieferung. Hierzu sei angemerkt, dass letztlich nichts anderes bleibt, als die Äußerungen Snorris, des Autors der Morkinskinna und anderer mittelalterlicher Verfasser zu akzeptieren, dass kvæði, insbesondere Skaldenstrophen, in der mündlichen Überlieferung stabil seien und daher, »richtig« interpretiert, wie schriftliche Überlieferung zur Geschichts(re)konstruktion herangezogen werden könnten.64 Letztlich verdankt sich die Überlieferung der Skaldendichtung abgesehen von der Snorra Edda und der geschlossenen Niederschrift hoch- und spätmittelalterlicher Gedichte wie Geisli allein der Praxis, historiographische Narrationen mit eingebundenen Skaldenstrophen zu validieren oder Szenen durch ihre Einbindung in Dialoge plastischer zu gestalten.65 Die Praxis einer Auswertung der skaldischen Tradition reicht zweifellos bis ins 12. Jahrhundert zurück und ist bereits im Ágrip und volkssprachlichen Heiligenviten der Könige Óláfr Haraldsson und Óláfr Tryggvason zu erkennen; Saxo Grammaticus gibt Inhalte eddischer Strophen in lateinischen Hexametern wieder.66 Die in den Konungasögur voll entwickelte Praxis wiederum hat ihre historische Wurzel möglicherweise in einer Pilgerfahrt und daraus resultierendem Kulturtransfer, wie noch zu diskutieren sein wird.67 Überprüfbar ist die Authentizität der angeführten Strophen freilich kaum; es bleibt allein das Argument, dass die starke metrische Bindung bei Auflösung der Syntax den Wortlaut stabilisierte und ein Historiograph kaum gegen das kollektive Gedächtnis der Eliten Hinzudichtungen unternehmen konnte, obwohl dies an ei64 Hkr., Prologus, S. 7: »En kvæðin þykkja mér sízt ór stað fœrð, ef þau eru rétt kveðin ok skynsamliga upp tekin.« »Lieder aber scheinen mir am wenigsten [von allen Überlieferungen] aus dem Sinn gebracht, wenn sie richtig vorgetragen und auf verständige Weise wahrgenommen werden.« 65 Vgl. zu den verschiedenen Typen der Gestaltung, welche das Prosimetrum erlaubt, Fidjestøl, Skaldenstrophen in der Sagaprosa [1993]; Nordal, Tools of Literacy [2001], S. 90–98. Speziell bezogen auf die »Skaldensagas«, eine Gruppe der Íslendingasögur, Tulinius, The Prosimetrum Form [2001], bes. S. 216f., der einen Zusammenhang zwischen dem ordo artificialis der verwobenen Erzählung und der verrätselnden Ästhetik der Skaldensdichtung erkennt. 66 Vgl. Friis-Jensen, Saxo Grammaticus as Latin Poet [1987], bes. S. 29–101, 176–179. 67 Vgl. unten, ff.

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nigen Stellen – jedoch im Genre der Íslendingasögur – sehr sicher der Fall war und auch Autoren und Schreiber des isländischen Hochmittelalters über die sprachlichen Fähigkeiten hierzu verfügten.68 Schiebt man diese Problematik mangels einer praktikablen Lösung beiseite, bleibt in den Handschriften der Konungasögur ein Corpus aus 21 Strophen zurück, das acht zeitgenössischen Skalden, darunter Haraldr selbst, zugewiesen wird und einen Bezug zu seinem Aufenthalt in Byzanz, dem Heiligen Land und seinen Heldentaten im Kampf gegen Moslems aufweist, so viele wie zu keinem anderen Byzanzfahrer;69 zu dieser Gruppe kommen noch vier weitere in der Snorra Edda als Beispiele für bestimmte kenningar überlieferte Strophen, von denen sich zwei sicher auf die angesprochene Gruppe an Ereignissen beziehen.70 Zwölf der 21 im Prosimetrum überlieferten Strophen enthält bereits die Morkinskinna,71 die ungleich kürzere Fagrskinna lässt sieben von ihnen fort,72 die Heimskringla sechs,73 wobei die Fagrskinna drei andere, in der Morkinskinna nicht enthaltene Strophen ergänzt, Snorri ebenso, jedoch mit einer anderen Auswahl.74 Drei weitere finden sich in späteren Handschriften, die auf die 68 Allgemein gelten metrisch gebundene, oral überlieferte Inhalte als nicht stabil (vgl. Ong, Oralität und Literalität [1987], S. 61–71); zur angenommenen Stabilität des Wortlauts der Skaldik von See, Skaldendichtung [1980], S. 86–92; Jesch, Skaldic Verse [2005]; Föller, »… der den König selbst davon erzählen hörte.« [2011], S. 51f. Typisch etwa im Falle von Haraldr in der Msk. ist die Migration von Haralds Str. 4 in den Gamanvísur aus der Orkneyinga saga (vgl. oben, S. 305 mit Anm. 47). Zu im Hochmittelalter gedichteten, wikingerzeitlichen Akteuren zugeschriebenen Strophen vgl. etwa Borgfirðinga so˛gur, ed. Nordal [1938], S. CXL–CXLIV. Die Ansicht, hochmittelalterliche Hinzudichtungen seien üblich, jedoch abermals primär bezogen auf »Skaldensagas«, also Íslendingasögur, vertreten Meulengracht Sørensen, The Prosimetrum Form [2001], S. 182–190; Ghosh, Kings’ Sagas [2011], S. 58–61. 69 Es handelt sich um folgende Strophen (vgl. zur Einbindung in die Prosawerke und den Fundstellen in der aktuellen Edition SkP auch im Folgenden Anhang 1.7): Haraldr Sigurðarson: Gamanvísur 1, lv. 10. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, lv. 4. Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 3, 4. Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 2, 3, 4, 5. Þórarinn Skeggjason: Haraldsdrápa 1. Valgarðr á Velli: 4. Þorgils fiskimaðr: lv. 3. Stúfr enn blindi Þórðarson kattar: Stúfsdrápa 2, 3. 70 Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 8. Valgarðr á Velli: 1; Str. 2 und 3 erwähnen unspezifisch das Niederbrennen einer Stadt und Eroberungen befestigter Orte. 71 Diese sind Haraldr Sigurðarson: lv. 10. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 2, 4, 7, lv. 4. Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 3. Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 2, 3. Þórarinn Skeggjason: Haraldsdrápa 1. Þorgils fiskimaðr: lv. 3. Stúfr enn blindi Þórðarson kattar: Stúfsdrápa 2, 3. 72 Aus dem Norðbrikts þáttr fallen in der Fsk. fort: Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 3. Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 2, 3. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 4. Aus einem späteren þáttr, den weder Fsk. noch Hkr. übernehmen, fallen weg: Haraldr Sigurðarson: lv. 10. Þjóðólfr Arnórsson: lv. 4. Þorgils fiskimaðr: lv. 3. Die Hkr. streicht außer den letzten drei noch Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 3. Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 3. 73 Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 2 fällt im Gegensatz zur Fsk. nicht weg, sonst sind die Kürzungen identisch. 74 Fsk. ergänzt Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 3. Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 4. Valgarðr á

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Morkinskinna zurückgehen, der so genannten Hulda und der Hrokkinskinna aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert.75 Abgesehen von einer Ergänzung in der Fagrskinna76 und einer in der Heimskringla77 bieten diese Zusätze jedoch kein neues Wissen, sondern lediglich Variationen bereits in anderen Strophen enthaltener Informationen. Einerseits bestätigt die Skaldik als zeitnahe Quelle teilweise Vorwissen aus Kekaumenos: Þjóðólfr Arnórsson bezeichnet Haraldr in seinem um 1066 entstandenen Loblied, der Sexstefja, als Bolgara brennir (»Verbrenner der Bulgaren«), was in der umgebenden Sagaprosa der Heimskringla, die allein jene Strophe bewahrt, indes keinen Reflex auslöst.78 Auch wird mehrfach unter anderem durch ihn selbst betont, dass Haraldr auf Sikiley (Sizilien) Großtaten vollbrachte,79 ferner in Serkland,80 dem »Land der Sarazenen«, sowie in Bláland81 (»Schwarzland«), in den Sunnlo˛nd (den »Südländern«) 82 sowie im Langbarðaland,83 dass er zahlreiche Städte in jenen Regionen eroberte,84 gegen den jo˛furr Afríka (»Herrn der Afrikaner«) kämpfte85 sowie gegen die Frakkar (»Franken«),86 dass er kampflos nach Jerusalem zog und im Jordan badete87 und schließlich, dass er den Herrscher der Griechen blendete88 und, so eine nur in der Fagrskinna überlieferte Strophe, dass er in diesem Zusammenhang eine ganze Einheit an Væringjar hängen ließ.89 Für sich genommen erscheinen diese Informationen verhältnismäßig mager, was seinen Grund im ästhetischen Charakter der Skaldik hat, diente sie doch einerseits nicht der Feststellung präziser historischer Tatsachen, sondern dem

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Velli: 4. Hkr. ergänzt wie Fsk. Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 4. Darüber hinaus Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 1, 6. Die beiden anderen Strophen auf Fsk. werden nicht übernommen. Hulda: AM 66 fol. (ca. 1350–75); Hrokkinskinna: GKS 1010 fol. (1. H. 15. Jh.). Zur Einordnung der Hss. vgl. Louis-Jensen, Kongesagastudier [1977], bes. S. 70–78. Ergänzt werden Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 5. Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 4, 5. Valgarðr á Velli: 4 berichtet im Kontext von Haralds Flucht aus Konstantinopel (NI 122) davon, wie er einen helmingr der Væringjar hängen lässt. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 1 (NI 111) nennt Haraldr einen Bolgara brennir und trifft sich daher mit Kekaumenos (B11). S. Anm. 76. Haraldr Sigurðarson: Gamanvísur 2. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 2, 3. Haraldr Sigurðarson: Gamanvísur 2. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 2. Þorgils fiskimaðr, lv. 3. Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 5. Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 4. Vgl. auch Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 4, wo Haraldr »südlich der See« (fyr sæ sunnan) unterwegs ist. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 5. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 2, 6. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 3. Illugi bryndœlaskáld: Haraldsdrápa 3. Stúfr enn blindi Þórðarson kattar: Stúfsdrápa 2, 3. Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 7, 8. Þórarinn Skeggjason: Haraldsdrápa 1. Valgarðr á Velli: 4.

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Herrscherlob. Andererseits ging ihr Reiz nicht vom Reichtum an Informationen oder vom narrativen Zusammenhang aus, sondern ganz im Gegenteil von der verrätselnden Sprache, die durch ein strenges Raster an Stab- und Binnenreimen bei Auflösung der syntaktischen Struktur sowie mehrgliedrige Umschreibungen und den Gebrauch von Synonymen ihren Inhalt erst dem intellektuell entsprechend geschulten Hörer preisgab.90 Hochmittelalterliche Historiographen jedoch reizte weniger der elitäre Zeitvertreib als vielmehr die Auswertung jener Strophen bezüglich ihrer Informationen über locus, personae und tempus vergangener Ereignisse. Diese Rückbindung an die mittelalterliche, lineare Geschichtstheorie führte immer wieder zu Lesarten, die mit der Eigenlogik der Strophen nicht zur Deckung zu bringen sind.91 So auch in unserem Zusammenhang, wo der Autor der Morkinskinna und Snorri insbesondere Ethnonyme und Ortsnamen anders auffassten, als sie dem Kontextwissen über Byzanz im 11. Jahrhundert gemäß gemeint gewesen sein müssen. Dies beginnt bereits bei Haralds Reiseroute aus der Rus’ nach Byzanz über die Pilgerwege der späteren Kreuzfahrer durch »Franken«, die Lombardei, über Rom und durch Apulien, von der allein die Morkinskinna berichtet. Hierfür führt der Autor als Beleg eine Halbstrophe (helmingr) aus Illugi bryndœlaskáls Haraldsdrápa an:92 »[…] ok vísar svá til í kvæði hans sem hann hafði farit með herinn austr um Vinðland ok svá til Saxlands ok allt vestr í Frakkland, sem Illugi kvað: 49. Opt gekk á frið Frakka, – fljótreitt at bý snótar vasa do˛glingi duglum – dróttinn minn, fyr óttu. | Þaðan fór hann í Langbarðaland ok síðan til Rómaborgar ok eptir þat út á Púl ok réð sér far til skipa ok fór þaðan til Miklagarðs á konungs fund, sem Bo˛lverkr segir: […]« »[…] und es zeigt sich in seinen Liedern, wie er mit seinem Heer im Osten durch Vinðland und dann nach Saxland und ganz in den Westen nach Frakkland zog, wie Illugi dichtete: 49. [Oft brach mein Herr den Frieden der Frakkar vor der Dämmerung. – Es war kein schneller Ritt für den fähigen Herrscher zum Ort der Frau.] Von dort zog der nach Langbarðaland und anschließend nach Rómaborg und danach nach Púll [Apulien]; er verschaffte sich eine Fahrgelegenheit zu Schiff und reiste von dort nach Miklagarðr zur Begegnung mit dem König, wie Bo˛lverkr sagt: […]« 90 Vgl. von See, Skaldendichtung [1980]; Clunies-Ross, A History [2005], S. 83–113. Zum intellektuellen Hintergrund vom 9. bis zum 11. Jh. vgl. Föller, Verflochtenes Denken [im Druck]. 91 von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981]; konkret auf diesen Zusammenhang bezogen Krag, Harald Hardrådes ungdomsår [1998], S. 14–20. 92 NI 111.

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Die Passage ist gleich in doppelter Hinsicht problematisch, denn Illugi kombinierte in seiner drápa in jeder Strophe die Lebensgeschichte Haralds im ersten und vierten Vers mit Elementen aus der Sage zu Sigurðr Fáfnisbani im jeweils zweiten und dritten Vers.93 Mit Ähnlichkeiten zwischen Haraldr, dessen Vater ja Sigurðr hieß, und dem Drachentöter wurde dem König also schon zu Lebzeiten von seinen eigenen Hofskalden geschmeichelt, was einen unschätzbaren Einblick in seine Selbststilisierung im unmittelbaren persönlichen Umfeld ermöglicht und einiges über die Ursprünge seiner späteren europaweiten Rolle als Löwen-, Drachen- oder Schlangentöter aussagt, die demnach ihren Kristallisationspunkt im Umfeld Haralds selbst besaß. Es fragt sich indes, wie der Autor der Morkinskinna diese Strophe auffasste und ob er an dieser Stelle erkannte, dass die Verse zwei und drei sich auf Sigurðs Weg zu Brynhildr beziehen. Die Gier der Historiographen nach Sachinformationen ließ auch Meister wie Snorri Sturluson so manche dunkle Formulierung missdeuten.94 Das einzige Stichwort, das hier auf ein Itinerar hindeutet (fljótreitt), für welchen die Strophe einen Beleg abgeben soll, stammt nämlich aus dem Teil, der nicht von Haraldr handelt. Es drängt sich daher der Schluss auf, dass der Autor der Morkinskinna den býr snótar, die »Stätte der Frau« nicht als den Ort verstand, an dem Sigurðr auf Brynhildr traf, sondern als »die Heimstatt Mariens«, als Kenning für Konstantinopel, denn dorthin führte ja Haralds unmittelbar vorher beschriebene Reise. Dass Konstantinopel im Norden seit dem 12. Jahrhundert eng mit Marienverehrung verbunden wurde, belegt bereits die frühe Óláfs-Hagiographie,95 aber auch Beschreibungen der Kirchenschätze Konstantinopels aus dem Kloster Munkaþverá, wo die Morkinskinna höchstwahrscheinlich entstand,96 und der dänischen Profectio Danorum kurz vor 1200.97 Auch die isländische Maríu saga kennt mehrere byzantinische Wunderberichte.98 Wenn nun die Strophe sich auf Haralds Itinerar beziehen musste, war dem Autor um 1200 klar, dass die »Franken«, welche Illugi nennt, in Frakkland zu suchen sein mussten, also dem oberdeutsch-lothringischen Raum. Haraldr musste ge93 Vgl. Gade in SkP 2,1, S. 282. 94 Dies demonstriert von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981], S. 465–484 anhand eindeutiger, durch eine radikal gewandelte Wahrnehmung von Geschichte provozierter Missverständnisse poetischer Bilder in der Skaldik als historische Fakten, aus denen ganze Genealogien norwegischer Magnaten fingiert werden können: So wird etwa Dags hríð, »Dags Sturm«, eine Schlachtkenning, zum Beleg der Anwesenheit eines Mannes namens Dagr. 95 NI 19. 96 NI 12. Vgl. zum Entstehungsort unten, S. 429. 97 D16. Vgl. unten, S. 308ff. 98 Die M.s. entstand um 1216–1236. Insgesamt finden sich 10 Marienwunder in Miklagarðr oder mit Bezug zum Ort, zum Teil in Variationen: S. Mariu saga, ed. Unger [1871], Kap. 15, S. 87–92; Kap. 16, S. 92–94; Kap. 43, S. 123f.; Kap. 46, S. 136f.; Kap. 47, S. 127–140; Kap. 48, S. 140–143; Kap. 74, S. 254, Kap. 75, S. 255f.; III, S. 438–444; XXVII, S. 555–566; CLIV, S. 922–924; CCV, S. 1032f. Vgl. zu möglichen Vermittlungsszenarien oben, S. 308 mit Anm. 60.

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reist sein wie etwa Nikulás, der spätere erste Abt von Munkaþverá auf seinem Weg nach Jerusalem,99 oder Erik Ejegod von Dänemark nach ihm auch.100 Dass ein solcher Deutungskomplex dem Zitat und der umgebenden Prosa zu Grunde lagen, mag der Grund dafür sein, dass Snorri Sturluson sie im Wissen um eine Verlesung des auf Sigurðr den Drachentöter bezogenen Teils nicht in die Heimskringla übernahm und über Haralds Reiseweg von Novgorod nach Konstantinopel schweigt. Schon P. A. Munch konnte 1874 gegen diese unbestechliche hochmittelalterliche Logik einwenden, dass die »Franken« bei Illugi mit den byzantinischen Φράγγοι identisch waren, der Skalde also mit ziemlicher Sicherheit auf Konflikte zwischen Haraldr im byzantinischen Heer und den Normannen im Mezzogiorno anspielte.101 Ein allein in den Handschriften Hulda/Hrokkinskinna in genau dem gleichen Kontext zitiertes Strophenfragment aus einem anderen Lobgedicht auf Haraldr, der Sexstefja des Þjóðólfr Arnórsson, erwähnt, dass Haraldr in das land Langbarða zog, welches auch die Prosa als norditalienische Durchgangsstation erwähnt. Gemeint war aber wohl die byzantinisch beherrschte Longobardia, also Süditalien.102 Damit hätte man der Skaldendichtung entgegen ihrer Auffassung durch die mittelalterlichen Autoren, aufgrund des Wissens um byzantinischen Sprachgebrauch eine bei Kekaumenos nicht enthaltene Information entwunden, nämlich dass Haraldr nicht nur auf Sizilien und in Bulgarien, sondern auch im Katepanat Italien eingesetzt wurde, vielleicht schon 1035, als Maniakes als strategos autokrato¯r in die Longobardia entsandt war, um in einem Konflikt im Emirat Sizilien Ahmed II. al-Akhal gegen den Usurpator Abd-Allah Abu Hafs zu unterstützen, oder in der kurzen Zeit 1042, in welcher Georgios Maniakes katepano¯ Italias war.103 Durch eine solche »Korrektur« von »Verlesungen« durch mittelalterliche Historiographen lassen sich auch andere, historisch inakzeptable Äußerungen der Konungasögur nachvollziehen. So kämpfte Haraldr ganz sicher nicht in Afrika, doch entstand dieser Bezug offensichtlich durch die dritte Strophe der Sexstefja, welche den jo˛furr Afríka als chancenlos gegen Haraldr bezeichnet. In 99 Leiðarvísir, NI 11. 100 Vgl. die Knud-Lavard-Ordinale, D7 und die Annales Ryenses, D81. Knýtlinga saga, NI 169. 101 Munch, Kritiske undersøgelser [1873], S. 534f.; Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884], S. 381f.; Blöndal, S. 111f./55f. 102 Vgl. das Toponym in etwa zeitgleichen schwedischen Runeninschriften (oben, S. 28 mit Anm. 37) sowie Krag, Harald Hardrådes ungdomsår [1998], S. 20; Munch, Kritiske undersøgelser [1873], S. 534f.; Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884], S. 381f. 103 Die Vorstellung bei Blöndal, S. 129f./70, die Strophen bezögen sich auf Einsätze unter dem katepano¯ Michael Dokeianos Ende 1040/Anfang 1041, ist chronologisch ausgeschlossen, da Haraldr nicht an zwei Orten zugleich gewesen sein kann. Er nahm nach Kekaumenos zu jenem Zeitpunkt am Feldzug Michaels IV. gegen den Bulgarenzaren Peter Deljan teil. Zu Maniakes vgl. Skylitzes, S. 398–400 (zu 1038) bzw. S. 422 (zu 1042).

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der Tat kamen die muslimischem Emire Siziliens, zur Zeit von Haralds Einsatz wahrscheinlich Abd-Allah Abu Hafs aus der Dynastie der Ziriden (1037–1040), aus Nordafrika, und Maniakes begegnete mindestens zweimal, 1035 in Süditalien und 1040 auf Sizilien, den Streitkräften eines gewissen Oumer (Umar), der mit Abd-Allah Abu Hafs alliiert war und den Skylitzes als τῆς Ἀφρικῆς ἄρχοντα und Karthager bezeichnet.104 Dies mag Haraldr und auch anderen zeitgenössischen Byzanzfahrern in Norwegen klar gewesen sein, die nicht mit der latinophonen Geographie des Mediterraneums vertraut waren, aber definitiv keinem der hochmittelalterlichen Historiographen 150 Jahre später, auch nicht dem zuerst um 1185 schreibenden Theodoricus monachus.105 Auf diese Weise lässt sich möglicherweise auch der Gebrauch von Serkland als Ort von Haralds Heldentaten in einer ihm selbst zugeschriebenen lausavísa erklären. Das »Land der Sarazenen« ist ein schillernder geographischer oder eher religiös-ethnographischer Begriff: Auf schwedischen Runensteinen, die den Zug Yngvars nach Südosten memorieren, meint Serkland das Samanidenemirat am Kaspischen Meer,106 in den hochmittelalterlichen Sagas dagegen vor allem Nordafrika.107 Grundsätzlich kann also jeder von muslimischen Herrschern kontrollierte Raum mit Ausnahme Palästinas ( Jórsalaland) gemeint sein, so dass man die Problematik aushebeln kann, dass keine byzantinischen Heeresaktivitäten Haraldr nach Afrika geführt haben können und Kekaumenos nicht von Haralds Beteiligung an Aktionen an der Ostgrenze zu berichten weiß, die es auch nicht gegeben haben kann, weil seit dem Tode des Kalifen al-Hakim 1021 keine größeren Auseinandersetzungen mehr stattfanden, welche wiederum die Skaldenstrophen zu suggerieren scheinen.108 Einsätze gegen die Petschenegen sind nicht auszuschließen, mit der skaldischen Überlieferung aber auch nicht zu erhärten.109 Am einfachsten

104 Skylitzes, S. 400 105 NI 111. Theodoricus spricht von Heldentaten in Æthiopia, quam nos materna lingua Blaland vocamus, und bezieht sich damit mglw. auf Bo˛lverks Drápa, Str. 5. 106 Die Runensteine sind aufgelistet unter NI 27. Vgl. außerdem Beck, Ingvar [2000]; Ellis Davidson, Viking Road [1976], S. 164–173; Shepard, Yngvarr’s Expedition [1985] bzw. unten, S. 697ff. Vgl. zu wikingerzeitlichen Belegen und ihrer Deutung sowie der Herleitung von Serkland Jesch, Ships and Men [2001], S. 104–107. 107 Orkneyinga saga, NI 51+NI 53; Msk., NI 148; vgl. Metzenthin, Länder- und Völkernamen [1941], S. 12. 108 Blöndal, S. 119f/63 legt nahe, dass Haraldr bei der Einnahme Edessas 1036 oder als akolouthos 1034 an der Ostgrenze eingesetzt gewesen sei. Das Argument jedoch ist hinfällig, weil der akolouthos mit den Warangoi nichts zu tun hat (oben, S. 87f.). Vgl. zur Situation an der Ostgrenze Felix, Byzanz und islamische Welt [1981], S. 71–107; bezogen auf Haraldr Föller, »… der den König selbst davon erzählen hörte.« [2011], S. 58. 109 Blöndal, S. 120/63 legt dies unter Berufung auf Adam 3,13, S. 154 nahe, wo sein Kampf gegen »Skythen« erwähnt ist. Der Wunderbericht in der Msk., auf den sich Ciggaar, Harald Hardrada [1990] unkritisch bezieht, besagt hierfür jedoch nichts (s. oben, S. 300 mit Anm. 29).

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scheint daher die Annahme, dass Serkland und die Sunnlo˛nd variierende Bezeichnungen für das Emirat Sizilien darstellen. Zusätzlich bleibt aus der Skaldik die Information aus der Stúfsdrápa, die nach Haralds Tod entstand, dass Haraldr nach Jerusalem zog und die Ufer des Jordan sicherte, womit die an sich verdächtige Narration der Morkinskinna, die ihn als Kreuzfahrer avant la lettre darstellt, zunächst entlastet scheint. Freilich kann der Norweger das Heilige Land nicht unter seine Kontrolle gebracht haben, aber es ist ohne weiteres möglich, dass Michael IV. ihn in einer frühen Phase seiner Karriere 1037 nach Abschluss eines Vertrages mit dem Kalifen als Teil einer stark gesicherten byzantinischen Karawane nach Jerusalem schickte, die byzantinische Mittel zum Wiederaufbau der 1009 vom Kalifen al-Hakim zerstörten Grabeskirche brachte, wie Daniel Föller in einer detaillierten und präzisen Analyse von Stúfs Strophen plausibel machen konnte.110 Einen Pilger respektive Kreuzfahrer, wie ihn die Sagas darstellen, macht dies noch nicht aus ihm; Föller konnte zeigen, dass wikingerzeitliche Pilger aus Skandinavien entgegen älterer Forschungsmeinungen ein absolutes Ausnahmephänomen darstellen.111 Die Umstände von Haralds Jerusalemreise wiederum erklären, weshalb Stúfr die in der Skaldik merkwürdige Tatsache betont, Haraldr sei abgesehen von der Bestrafung von Räubern, womit ziemlich sicher Beduinen gemeint sind, kampflos vorgegangen. Eine solche, gegenüber den Sagas umgekehrte Ereignisreihenfolge von Haralds Einsätzen in Byzanz legt auch Theodoricus monachus nahe, der Haraldr zuerst nach »Äthiopien«, dann nach Jerusalem und schließlich nach Sizilien ziehen lässt.112 Indem man gleichsam das mittelalterliche Fleisch von den wikingerzeitlichen Knochen schabt, lassen sich also historiographische Informationen aus dem Norden – oder vielmehr ihre Grundlage – bis zu einem gewissen Grad mit byzantinischem Wissen harmonisieren, wobei der in der Sagaprosa verschüttete

110 NI 111. S. oben, Anm. 40. 111 Föller, Wikinger als Pilger [2012], S. 283. Es finden sich nur zwei in Runeninschriften gesicherte Jerusalempilger: Øystæinn, der nach Jerusalem fuhr und »bei den Griechen« starb (U 135+U136, ca. 1020–1050; s. Föller in Lilie/Ludwig u. a., PmbZ [2013], #26176), und Ingiru¯n (U 605 †, ca. 1050–1080; s. Föller in Lilie/Ludwig u. a., PmbZ [2013], #22764), die vor ihrer Abreise einen Stein setzte. Die beiden zeitlich und örtlich eng beieinander liegenden Zeugnisse führen Föller, Wikinger [2012], S. 286f. zu dem Schluss, dass hier der Missionsbischof Adalward aus Bremen, dessen Erzbischof Adalbert und sein Historiograph Adam Jerusalempilger sehr schätzten, auf das schwedische Umfeld wirkte. Der Eindruck von häufigen »wikingischen« Pilgern entstammt der hochmittelalterlichen norrönen Literatur, die hier den Gesetzmäßigkeiten der Hagiographie über Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson folgt (vgl. dazu Föller, Wikinger als Pilger [2012], S. 287–293). Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 126–173 etwa wertete diese unkritisch aus, doch handelt es sich bei diesen hagiograhischen Texten um Produkte einer spezifischen politischen Konstellation in Norwegen und Island um 1200 (unten, S. 710f.). 112 NI 111.

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Transfer byzantinischer geographischer Vorstellungen zum Vorschein kommt.113 Diese Harmonisierung kann mit der Narration als Ganzes indes definitiv nicht gelingen. Viel weiter reichende Erkenntnisse zur Ereignisgeschichte werden dabei zudem nicht gewonnen: Im Wesentlichen erhält man Argumente dafür, dass Haraldr auch in Italien eingesetzt war und dass er ins Heilige Land entsandt wurde. Die Blendung eines Basileus durch ihn, dem byzantinischen Kontext nach Michaels V., ist ein anderer Fall, weil die drei hierzu überlieferten Strophen sich nicht mit dem rekonstruierbaren Verlauf von Michaels Sturz in Einklang bringen lassen, ganz gleich, wie tendenziös man sie im Hinblick darauf auch zu deuten versucht hat. Viel bedeutsamer ist im Hinblick auf unsere Fragestellung zunächst, dass mündliche Tradition jenseits der Skaldenstrophen außer ein paar Namen kaum etwas, erst recht keine Episoden, bewahrt hat. Das Ausmaß, in welchem der Norðbrikts þáttr sich auf Informationen aus Skaldenstrophen stützt, diese in ihren Aussagen über Orte und Völker radikal gegenwartsbezogen liest und weite narrative Sequenzen mit Variationen zirkulierender literarischer Motive ausfüllt, beweist, dass eine stabile, saga-artige mündliche Tradition, etwa als mehr oder weniger feste »Begleitprosa« der Skaldenstrophen, nicht existiert haben kann.114 Der Informationsbestand, auf den der Autor der Morkinskinna sich zu Haraldr stützen konnte, war außerordentlich dünn und reichte nicht hin, eine dem Ereignis angemessene, ausführliche Geschichte zu erzählen. Gleichwohl wollte er sie erzählen, und allein dies verlangt eine intensive Hinwendung zum Entstehungskontext. Die Narration wurde historiographisch und unter Zuhilfenahme synchronen Wissens um extrahierte Inhalte von Skaldenstrophen herum fingiert, wozu ausgesprochen heterogene Inhalte von Wandermotiven bis hin zu aktuellem Augenzeugenwissen aus und über Byzanz zum Einsatz kamen,115 was eine aus der Sicht der Zeitgenossen offensichtlich plausible und völlig akzeptable Rekonstruktion ergab, der man bloß aufgrund von Snorris Verän113 Vgl. zum geograophischen Wissen der Wikingerzeit auch die unlängst erschienene Studie von Föller, Der byzantinische Blick [2014], die sich eingehend mit o.g. wikingerzeitlichen Adaptionen auseinandersetzt. 114 Die These, die in den Konungasögur begegnende Sagaprosa sei aus einer mehr oder weniger festen »Begleitprosa« um die Strophen herum entstanden, das Prosimetrum der Sagas sei also ein orales Phänomen, vertraten v. a. Beyschlag, Möglichkeiten mündlicher Überlieferung [1953] und Hofmann, Vers und Prosa [1971], bes. S. 157–175. Dagegen wandte sich, gerade mit dem auch hier bekräftigten Argument, die überlieferte Prosa sei synchron zur Textgenese aus einer Auswertung der Skaldenstrophen mit Hilfe mittelalterlicher Hermeneutik entstanden, von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981]; von See, Mündliche Prosa und Skaldendichtung [1981]; von See, Skaldendichtung im europäischen Kontext [1999]. Vgl. in diesem Sinne auch Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 261– 264; Ghosh, Kings’ Sagas [2011], S. 25–100, bes. S. 70–100, mit einer reichen Literaturschau zu diesem Forschungsdiskurs. 115 Zum gleichen Schluss gelangt Krag, Harald Hardrådes ungdomsår [1998], S. 26–28.

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derungen keine geringere ästhetische und historiographische Qualität zuschreiben muss als späteren Kompendien.116 Die Erzählung der Morkinskinna an Plausibilitätsmaßstäben der Moderne zu messen, ist anachronistisch. Die geradezu reflexartige Erkenntnis »echter« Traditionen hinter Skaldenstrophen und »nichttopisch« erscheinenden Prosaelementen, basierend auf modernem Plausibilitätsempfinden, ist hinter eine sorgfältige Analyse der Konstitutionsbedingungen von allen historiographischen Informationen zurückzustellen. Mit der Skelettierung der Saga allein ist das Problem unüberbrückbarer Differenzen zwischen byzantinischer und skandinavischer Tradition nämlich noch nicht gelöst. Zwar mögen Haraldr und sein Gefolge byzantinische Geographiebezeichnungen in den Norden transferiert haben, die alsbald unter dem Einfluss lateineuropäischen Wissenstransfers anders verstanden wurden, doch legt auch eine zeitgenössische Skaldenstrophe von Bo˛lverkr Arnórsson nahe, die Zeitgenossen seien der Ansicht gewesen, Haraldr sei nach Bláland gezogen.117 Aus solchen Traditionen, die sich nicht mit dem Hinweis auf die Unkenntnis der mittelalterlichen Rezipienten fortwischen lassen, bezog schon Theodoricus monachus sein Wissen. Hier zeigt sich ebenso wie in der Geschichte von der Blendung des Basileus, dass die Informationen aus den Strophen eine doppelte Theoriebindung aufweisen:118 Nicht nur sind Auswahl, chronologische Anordnung und narrative Einbindung von den hochmittelalterlichen Autoren abhängig, sondern die enthaltenen Informationen an sich basieren auf der Erinnerung und Selbstauffassung von Haraldr und seinen Begleitern nach ihrer Rückkehr nach Norwegen, welche die Skalden – keiner von ihnen als Augenzeuge – zum eigenen Vorteil im heimischen Kontext panegyrisch zu spiegeln suchten.119 Das und nicht historische Präzision war ihre eigentliche Aufgabe. Allein deshalb ist 116 Vgl. zur Problematik einer Messung aller Sagas an Maßstäben der »klassischen« Genres Clunies Ross, Intellectual Complexion [1997], S. 450–452; zur Plausibilität als zu historisierender Kategorie Phelpstead, Fantasy and History [2012], der auf die für die Zeitgenossen offenbar unterschiedslose Genregleichheit der Óláfs saga Tryggvasonar Odds (Hagiographie/Historiographie) und der Yngvars saga víðfo˛rla (Fornaldarsaga/Fiktion) hinweist. Vgl. zu diesem Problemfeld der »Faktizität« auch Goetz, »Konstruktion der Vergangenheit« [2003]. 117 Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 5. Bláland (»Schwarzland«) meint in der hochmittelalterlichen Geographie Äthiopien (Theodoricus monachus, NI 111; vgl. Metzenthin, Länder- und Völkernamen [1941], S. 94f.), bleibt in der Skaldik aber vage: Sigurðr Jórsalafari: lv. 3 (NI 149) meint mit Bláland offenbar Outremer, Sturla Þórðarson: Hrynhenda 21 meint Nordafrika (s. Anhang 1.7) 118 Zum Begriff der doppelten Theoriebindung Fried, Gens und regnum [1994]. Er hat u. a. diese Erkenntnis später in Fried, Schleier der Erinnerung [2004] zu einer gedächtniskritischen Methodik entwickelt. Zu ihrer Applikation auf die Problematik der Skaldendichtung, der die folgenden Ausführungen methodisch eng verwandt sind, s. Föller, »… der den König selbst davon erzählen hörte.« [2011], passim. 119 Vgl. Krag, Harald Hardrådes ungdomsår [1998], S. 16f.; zu den gedächtniskritischen Implikationen Föller, »… der den König selbst davon erzählen hörte.« [2011], bes. S. 66f.

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der Versuch, die skaldische Tradition mit der byzantinischen zu harmonisieren anstatt sie zu konfrontieren, nicht nur aussichtslos, sondern auch wenig fruchtbar. Wissenstransfer und Informationsgenese jenseits von Mentalitätsgrenzen Haralds Möglichkeiten, seine Geschichte nach seiner Rückkehr »objektiv« und aus moderner byzantinistischer Sicht »angemessen« zu schildern, waren ausgesprochen beschränkt, wie bereits Sverre Bagge nachdrücklich betonte.120 Kulturen, deren Prozesse gerade in Bezug auf die Herrschaftspraxis sehr asynchron sind, erzwingen gleichsam aufgrund ihres semantischen Bestandes an Ausdrucksmöglichkeiten differierende Erzählungen, und das bereits am synchronen Ausgangspunkt. Haraldr hätte im agonalen norwegischen Umfeld, in welchem er sich neben seinem etablierten Neffen Magnús gegen erhebliche Widerstände in die Herrschaft drängte,121 zu keinem Zeitpunkt des Kekaumenos Version seiner Karriere wiedergeben können – wenn das Norröne ihm denn überhaupt die sprachlichen Mittel gegen hätte. Ein treuer Offizier, der sich freiwillig auch mit einem niedrigeren Rang als andere Standesgenossen zufriedengab, damit auf Einkünfte und Ansehen verzichtete und der sich zudem gegen den Befehl seines Herrn quasi bei Nacht und Nebel außer Landes schlich, wäre kaum zur Herrschaft geeignet erschienen. Die Ausreise Snorri Sturlusons aus Norwegen, der auch zu den lendir menn des Königs Hákon IV. Hákonarson gehörte, gegen den Befehl seines Herrn bot schließlich letzterem den ersehnten Vorwand, Snorri zum Tode verurteilen und auf seinem isländischen Hof töten zu lassen.122 Einer dagegen, der sich als Höfding über alle Standesgenossen erhob, gar dem einheimischen Anführer Gyrgir seinen Willen aufzwang, dem zu Unrecht am Zeug geflickt wurde, der seine Ehre durch fürchterliche Rache wieder herstellen konnte und damit als Sieger den fremden Ort verließ, empfahl sich als König.123 So wenig von der mündlichen Tradition auch im Norðbrikts þáttr und seinen Nachfolgern erhalten gewesen sein mag, könnte sich eben hieraus jedoch der semantische Grundtenor der ganzen Geschichte erklären: Im Gegensatz zu allen anderen Berichten von Byzanzfahrten im Norden ist Norðbrikt-Haralds byzantinisches Umfeld latent oder offen feindselig, was alle Hauptfiguren betrifft, sowohl Zoe als auch Gyrgir und die Kaiser Mikael und Munak. Das ist niemals sonst der Fall. Zwar stellen die Basileis auch die späteren Kreuzfahrer in Bezug auf ihre Kultiviertheit auf die Probe, was beispielsweise zur Wiederholung der 120 121 122 123

Bagge, Harald Hardråde i Bysants [1990], S. 179–191. Vgl. die Darstellung der Konflikte mit Magnús in den Kompendien, NI 126-NI 128. Sturlunga saga, ed. Kålund, Bd. 1, S. 552f. Vgl. das Konfliktschema der Íslendingasögur und das hierin zentrale Motiv der Ehrverletzung bei Andersson, The Icelandic Family Saga [1967], S. 3–30.

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normannischen Episode von den Walnüssen als Feuerholz-Ersatz führt, doch nirgends außer im Norðbrikts þáttr haben die stólkonungar, die auf dem alten römischen Kaiserthron (stóll) sitzen,124 auch nur die geringste negative Eigenart an sich, ebenso wenig in der fiktionalen Literatur. Bestes Einvernehmen zwischen Skandinaviern und Byzantinern ist ein geradezu konstitutives Merkmal skandinavischer Byzanzbilder, das nur hier ins Gegenteil verkehrt ist, und das hat seine Wurzel zweifellos auch in der skaldischen Tradition; man denke an die Blendung des Basileus. Leider lässt sich die reizvolle Frage, inwiefern Haraldr in der Lage war, seine beiden personae als byzantinischer Offizier und Höfling und als norwegischer Kriegsherr zusammenzuhalten, mit Hilfe der überlieferten Quellen nicht mehr klären. Es ist nicht mehr zu entscheiden, ob er seine Rolle in Byzanz im nordischen Umfeld und den Kategorien seiner Muttersprache nicht anders erinnern und kommunizieren konnte, oder ob er (auch) bewusst und zielgerichtet aufschnitt und einfach das Blaue vom Himmel erzählte.125 Riskant wäre letzteres Vorgehen kaum gewesen. Einerseits war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere in seiner zentralen Position in der »großen Hetaireia« nur von wenigen anderen Skandinaviern umgeben;126 eine Warägergarde existierte zu jener Zeit nicht, und gewöhnlich wurden Aufsteiger in dieser Position hellenisiert und dauerhaft an Byzanz gebunden.127 Zudem kehrte Haraldr nicht mit seinen 500 Mann, sondern nur mit kleinem Gefolge zurück. Seine Aussagen dürften also schwer überprüfbar gewesen sein. Zudem fragt sich, wer in der Lage gewesen wäre, den Herrscher und seine Entourage, etwa den Isländer Halldórr Snorrason, der Lüge zu zeihen, ohne seinen Kopf zu verlieren. Die enervierende Prahlerei heimgekehrter Kreuzfahrer und Byzanzfahrer, die aus ihrer Weltläufigkeit soziales Kapital zu schlagen suchen, ist den hochmittelalterlichen Autoren ein nur allzu vertrautes Phänomen: Die Morkinskinna lässt einen tödlichen Streit zwischen Haraldr und seinem alternden Magnaten Einarr þambarskelfir mit dem Zorn des Königs darüber beginnen, dass Einarr seinen Byzanzgeschichten nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt und einnickt.128 Der so genannte Halldórs þáttr Snorrasonar I aus dem 13. Jahrhundert spielt dann genau die Problematik der Bezichtigung durch: Ein Einheimischer beleidigt den Isländer Halldórr, welcher seiner Gastgeberin ausführlich davon berichtet, wie er mit Haraldr zusammen die Schlange im Gefängnis besiegte, woraufhin Halldórr ihn aufgrund der Ehr124 So erklärt die Veraldar saga im Kontext der translatio imperii auf die Franken den byzantinischen Herrschertitel (NI 18, vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 146). 125 Zu Deformierungen des autobiographischen Gedächtnisses vgl. Fried, Schleier der Erinnerung [2004], bes. S. 46–49. 126 Hierzu ausführlich oben, S. 130ff. 127 Man denke an die warägischen Senatoren in den Basilika, B51; vgl. auch oben, S. 201ff. 128 Msk. Bd. 1, Kap. 39, S. 214f.

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kränkung sofort erschlägt – mit den hieraus resultierenden sozialen Verwerfungen.129 Die norröne Enkomiastik der Skalden sollte cum grano salis gelesen und vor allem als primäres Zeugnis für vom König gewünschte Geschichtsbilder, nicht für Ereignisse in Byzanz aufgefasst werden.130 Wenn bereits Zeitgenossen wie Þjóðólfr Arnórsson ihn als Eroberer von achtzig Städten in Serkland und Sizilien priesen,131 was fernab der Wahrheit liegen musste, oder ihn Þjóðólfs Bruder Bo˛lverkr für eine Afrika-Expedition rühmt,132 wer wäre Haraldr gewesen, dem zu widersprechen? Wenn die Skaldenstrophen authentisch sind, sahen ihn offensichtlich schon die Zeitgenossen mit seiner Zustimmung als einen, der große Heldentaten in Byzanz und jenseits davon vollbrachte, als einen zweiten Sigurðr Fáfnisbani, womit sich der Kreis zum Märchenhaften und seiner Fundierung in Haralds eigenem Umfeld erneut schlösse.

1.4.

Das Ende von Haralds byzantinischer Karriere – ein Alternativszenario

In einem solchen Zusammenhang sind auch die drei überlieferten Strophen beziehungsweise Strophenfragmente über Haralds Blendung eines Basileus zu betrachten. An sich ist die Narration der Morkinskinna, auch die Einbindung der Strophen, völlig unmissverständlich, logisch und frei von inneren Widersprüchen: Norðbrikt-Haraldr rächt sich nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis für die angetane Schmach, indem er den Schlafenden überfällt und ihm beide Augen ausstechen lässt, bevor er mit reicher Beute das Weite sucht. Die Fagrskinna ergänzt im Rückgriff auf eine nur hier enthaltene Strophe des Valgarðr á Velli, Haraldr habe die anderen Væringjar, die sich ihm am Schlafgemach des Basileus in den Weg stellten, beseitigt und so deren Zahl verringert.133 Wie bereits mehrfach betont, hat die Forschung seit P. A. Munchs und Gustav Storms Rekonstruktion von Haralds Byzanzaufenthalt einen direkten Bezug der Skaldenstrophen, welche ja im Gegensatz zur Sagaprosa historische Wahrheit enthalten müssten, zur Blendung Michaels V. Kalaphates am 20. April 1042 lange vor Haralds Flucht aus Konstantinopel hergestellt und damit die gesamte Narration ignoriert. Insbesondere die Rekonstruktion in Sigfús Blöndals »Væringjasaga« hat hier eine wissenschaftliche Tatsache geschaffen, die als solche etwa in der 129 NI 202. 130 Ähnlich Ghosh, Kings’ Sagas [2011], S. 74f., ebenfalls bezogen auf die hier besprochenen Inhalte. 131 Þjóðólfr Arnórsson: Sexstefja 2, vgl. NI 113. 132 Bo˛lverkr Arnórsson: Drápa auf Haraldr 5, s. Anhang 1.7. 133 NI 122.

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aktuellen Edition der norrönen Skaldendichtung als selbstverständlich akzeptiert wird. In der Tat kam es 1042 zu einem allgemeinen Aufstand in Konstantinopel, weil Michael, der Neffe seines gleichnamigen Vorgängers und Adoptivsohn Zoes, mit der er gemeinsam herrschte, nach verschiedenen anderen einflussreichen Personen aus seiner eigenen Verwandtschaft in der Nacht vom 18. auf den 19. April auch Zoe verbannt und auf der Insel Prinkipos in Klosterhaft genommen hatte. Psellos, der als Augenzeuge von den Ereignissen berichtet, stellt Michael V. als den alleinschuldigen Tyrannen dar,134 jedoch hatte sich Zoe, der letzte Spross der Makedonendynastie, als eine ausgesprochen gefährliche Mitregentin erwiesen, die höchstwahrscheinlich ihren soeben verstorbenen zweiten Mann Michael benutzt hatte, um ihren ersten Mann Romanos III. zu ermorden.135 Insofern waren die Anklagen wegen eines vermeintlichen Mordkomplotts, aufgrund derer ihr Adoptivsohn sie einsperren ließ, möglicherweise nicht aus der Luft gegriffen und nur seinem eigenen Machtstreben entsprungen, wie Psellos meint.136 Unter der Masse der Aufständischen jedenfalls nennt er auch die »verbündeten Tauroskythen«, doch hat ihr Vorkommen in einer ellenlangen Aufzählung kaum Gewicht. Sie dient im narrativen Gefüge allein zur Verdeutlichung der Tatsache, dass jedermann in Konstantinopel Michael V. und seine Herrschaftspraxis verabscheut habe. Psellos geht in seinem ausführlichen Bericht nirgends sonst auf Skandinavier ein, wie bereits eingangs ausführlich besprochen wurde.137 Die einzig erhaltene Halbstrophe aus der Haraldsdrápa von Þórarinn Skeggjason, der möglicherweise nach Haralds Tod dichtete und die in Morkinskinna, Fagrskinna und Heimskringla zitiert wird, besagt nun, dass der Herrscher noch mehr Gold erhalten habe und der stólþengill Grikklands (»Thron-Herrscher Griechenlands«) durch die ihm zugefügte Verletzung »steinblind« geworden sei. Höchstwahrscheinlich bezieht sich die erste Herrschernennung auf Haraldr. Bei der zweiten Belegstrophe, die ebenfalls in allen drei Chroniken vorhanden ist, handelt es sich um Strophe 7 aus Þórmóðr Arnórssons Sexstefja: Haraldr habe dem stólþengill beziehungsweise stillir Girkja (»Herr der Griechen«) beide Augen ausstechen lassen und seinen Feind so entstellt. Allein die Snorra Edda enthält einen helmingr der folgenden Strophe 8, welche den Inhalt lediglich variiert.138 Die Ergänzung in der Fagrskinna um eine 134 135 136 137 138

Psellos: Chronographia V,41–43, Bd.1, S. 110–112. Chronographia III,26, Bd. 1, S. 50f. Chronographia V,17–24, Bd. 1, S. 96–101. Oben, S. 115ff.; vgl. B3. Vgl. Snorri zitiert den helmingr als Beispiel dafür, dass das Wort hertogi, mit dem hier Haraldr gemeint ist, auch als heiti (poetisches Synonym) für die Bezeichnung »König« stehen könne.

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Halbstrophe von Valgarðr, der berichtet, Haraldr habe eine Einheit (helmingr) der Væringjar hängen lassen, wurde bereits erwähnt. Ein Zusammenhang mit dem Inhalt der anderen Zitate lässt sich aus der Strophe heraus nicht ablesen. Die insgesamt sehr knappe Information, isoliert von ihrem Überlieferungskontext, öffnet hypothetischen Spekulationen naturgemäß Tür und Tor. Blöndal geht wie schon Munch und Storm unter Berufung auf Psellos fest davon aus, dass die »Waräger« und mit ihnen Haraldr sich von Anfang an unter dem Mob befunden hätten und erklärt vor diesem Hintergrund die folgenden Aktionen.139 Diese Annahme, getragen von einer unzutreffenden Assoziation der »Tauroskythen« mit einer vermeintlichen Palastwache,140 ist jedoch gerade aufgrund von Pellos’ Chronographia unhaltbar, denn dort findet sich der Hinweis, die letzten bei dem im Palast belagerten Michael, deren Loyalität zerbrach, hätten zu seiner »Fremdengruppe am Palast« (ταῖς αὐλαῖς ξενικόν) gehört.141 Es handelte sich also offenkundig um Leute aus der hetaireia. Wenn der spatharokandidatos Haraldr sich 1042 in Konstantinopel befand, was alles andere als sicher erscheint, dann war er wahrscheinlicher unter ihnen als unter dem Pöbel vor den Palasttoren. Jedenfalls, so Psellos, eilte Michaels Onkel, der nobelissimos Konstantinos und Bruder des unlängst Verstorbenen Michael IV. zum Palast, um seinem Neffen beizustehen; beide beschlossen, Zoe unverzüglich zum Palast zu bringen und der Menge zu präsentieren, damit der Aufstand ein Ende nähme. Dies hätten sie im Hippodrom getan, doch habe sich nicht der gewünschte Erfolg gezeigt.142 Der Mob, keineswegs von Zoes Sicherheit überzeugt, habe sich unter der Führung eines »Gefolgsmannes« (θεράπων) Michaels IV. fremder Herkunft, den Skylitzes als Konstantinos Kabasilas identifiziert, zum Petrion-Kloster begeben, um die dort befindliche Theodora, Zoes jüngere Schwester, zu entführen und zur Basilissa zu proklamieren.143 Als dies geschehen war, seien Michael V. und der nobellissimos Konstantinos per Schiff zum Stoudionkloster geflohen, um dort um Kirchenasyl zu ersuchen. Dort allerdings habe der Mob die beiden gestellt, weshalb Theodora den περὶ τὴν βασιλίδα φρουράν, den Kommandierenden ihrer Garde, zusammen mit Psellos umgehend dorthin entsandte, um die beiden Gestürzten zu bewachen, die sich in unmittelbarer Gefahr befunden hätten, gelyncht zu werden. Auch bei diesem Gardekommandanten handelte es sich nicht um Haraldr, sondern – abermals laut Skylitzes – um den eparcho¯n Nikephoros Kampanarios.144 Psellos schildert nun ausführlich seine Eindrücke von den bei139 Blöndal, S. 148–161/88–96; vgl. Storm, Harald Haardraade og Væringerne [1884], S. 383f. 140 Blöndal, S. 153/90. 141 Chronographia V,30, Bd. 1, S. 105. Sie haben mit den Tauroskythai im Mob, der vorher auftritt (V,25, Bd. 1, S. 102, s. B3) nicht das geringste zu tun. 142 Chronographia V,31–33, Bd. 1, S. 105f. 143 Chronographia V,36f., Bd. 1, S. 108f.; Skylitzes, Michael V., Kap. 1, S. 418f. 144 Chronographia V,38f., Bd. 1, S. 109f.; Skylitzes, Michael V., Kap. 2, S. 420.

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den bedrohten Männern und Michaels von der Menge abgewiesene Bitte, ihn und seinen Onkel in den Mönchsstand übertreten zu lassen, bevor ein weiterer, anonymer θεράπων Theodoras mit dem Befehl erschienen sei, die beiden an einen anderen Ort zu verbringen.145 Er habe schließlich dem Mob befohlen, sie zu ergreifen, und als sie durch die Straßen getrieben wurden, sei ihnen alsbald abermals ein Gefolgsmann unter dem Befehl Theodoras begegnet, der seine Order vorgezeigt gehabt habe, Michael und Konstantinos zu blenden, was er schließlich auch tat.146 Diesen »Mann aus dem Volk« beziehungsweisen »Büttel« (δήμιος) 147 identifiziert Blöndal mit Haraldr, was sich aber allein schon mit der Tatsache nicht verträgt, dass der Skalde Þórarinn Skeggjason Haraldr nicht die Drecksarbeit des Henkers zuschreibt, sondern ihn den Basileus blenden lässt, ihn also gleichsam an Theodoras Stelle setzt, welche die nordische Überlieferung gar nicht kennt. Dass Haraldr durch die Blendung Gold gewann, wie Þórarinn behauptet, lässt sich nicht einfach als Hinweis auf eine Entlohnung durch Theodora für treue Henkerdienste lesen.148 Die Skaldik lässt Haraldr niemals als Weisungsempfänger, sondern als Herrn der Lage auftreten. Die Erklärung von Valgarðs Halbstrophe über die gehängten Væringjar mit der Konjektur, Haraldr sei die Halsgerichtsbarkeit über jene »Waräger« zugefallen, die zu Michael V. gehalten hätten, hängt ebenfalls völlig in der Luft: Blöndal behauptet wiederholt, die »Warägergarde« hätte die Gerichtsbarkeit über die eigenen Leute zugestanden, selbst in Hochverratsprozessen, kann aber selbst nur Ausnahmen zu dieser nicht belegbaren These namhaft machen, also eigentlich den Gegenbeweis.149 Dass 1034 die Kameraden eines von seinem Opfer erschlagenen Vergewaltigers dessen Nachlass an die Geschädigte geben, beweist für die Vorgänge bei Hofe gar nichts,150 und in der Tat legt die um 1040 entstandene Peira, eine byzantinische Urteils- und Gutachtensammlung, nahe, dass man die Sitten von ethnikoi zwar respektieren solle, jedoch nicht in der Hauptstadt.151

145 146 147 148 149

Chronographia V,43–45, Bd. 1, S. 111–113. Chronographia V,47–49, Bd. 1, S. 113–115. So genannt in Chronographia V,47, Z. 1, Bd. 1, S. 115. Blöndal, S. 158f./94. Blöndal, S. 159–161/94–96. Ausnahmen von der »Regel« bietet die Affäre um den Warangos während des Aufstands Nikephoros Bryennios’ d. Ä. 1077, der die Warangoi in Nikephoros’ Gefolge zum Verrat anstiften wollte und dafür von Ioannes Bryennios betraft wurde, diesen 1078 aus Rache erschlug und ebenfalls nicht von seinen Leuten gerichtet wurde. S. Scylitzes continuatus, B33+B34 sowie zum unsicheren Zusammenhang dieser Tat mit einem (vermeintlichen) Warägeraufstand oben, S. 176ff. Vgl. dazu Blöndal, S. 193/118, der hier eine Ausnahme von ihrem – nirgends bezeugten – »Recht« (lög/laws) eigener Gerichtsbarkeit erkennt. 150 Blöndal, S. 119/62f. 151 Peira, ed. Zepos/Zepos [1931], S. 224, 47. Vgl. Shepard, Trouble-shooters and Men-on-theSpot [2011], S. 715 mit Anm. 80. Zur Peira Oikonomides, The »Peira« of Eustathios [1979].

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Die ganze Rekonstruktion, welche Haraldr auf die Psellos-Narration zu pfropfen sucht, passt nicht zusammen, und epistemologisch unterscheidet sie sich letztlich gar nicht vom Umgang der mittelalterlichen Historiographen mit den Strophen. Die politische Einordnung macht Munchs, Storms und Blöndals intensiv rezipierte Fiktionen auch nicht plausibler, ganz im Gegenteil: Wir wissen, dass Haraldr lange Zeit gemeinsam mit Georgios Maniakes – Gyrgir – eingesetzt wurde und sich dort seine Meriten verdiente. Maniakes aber war ein Günstling eben des geblendeten Michael Kalaphates. Entgegen dem Bild der Morkinskinna vom verzagten, nicht übermäßig begabten Gyrgir war Maniakes, vergleicht man die byzantinische mit der nordischen Überlieferung, aus ähnlichem Holz geschnitzt wie der aufbrausende und oft unbeherrschte Haraldr.152 Schon 1034, als er gerade aus Antiochia zum Statthalter in Armenien berufen worden war, hatte er den strate¯gos Romanos Skleros, dessen Güter in Anatolien an seinen eigenen Besitz grenzten, bei der Eskalation eines lang andauernden Streits um Land beinahe totgeschlagen.153 In Sizilien, wo er von 1038 bis 1040 unter anderem mit Haraldr und seinen laut Kekaumenos 500 Leuten154 sowie 500 Normannen als Teil seiner Armee dreizehn Städte erobern konnte,155 geriet er mit Stephanos, dem Schwager Michaels IV. Paphlagon und Vater des künftigen Michael V. aneinander, der bei seiner Aufgabe versagt hatte, dem schon genannten Umar aus Afrika nach einer Niederlage den Rückzug zu verlegen. Als der von Maniakes öffentlich Verhöhnte sich auf seine kaiserliche Verwandtschaft berief, verprügelte dieser ihn, was ihm eine Verratsanklage, die Enthebung von seinen Ämtern und Haft in Konstantinopel einbrachte.156 Erst Michael V. entließ ihn aus der Haft und machte Maniakes bald nach seinem Herrschaftsantritt um den Beginn des Jahres 1042 zum katepano¯ Italias.157 Haraldr, der außer bei der Niederschlagung der bulgarischen Revolte 1040, als Maniakes einsaß, lange Zeit und wohl nicht nur auf Sizlien mit ihm gedient hatte, wenn er auch gegen Phrangoi in der Longobardia kämpfte, kann sehr wohl zu seinem Gefolge gehört haben. Dass Maniakes und Haraldr verfeindet gewesen seien, schließt Benedikz allein aus dem hochfahrenden Charakter des Byzantiners, der einem freiheitsliebenden Skandinavier selbstverständlich zuwider gewesen sein müsse.158 Dass es ganz offensichtlich zwischen Konstantinos IX. 152 Vgl. seine Charakterisierung in der Chronographia VI,77, Bd. 2, S. 1f. Sogar die Barbaroi hätten ihn gefürchtet. 153 Skylitzes, Konstantinos IX., Kap. 3, S. 427. 154 B11. 155 Skylitzes, Konstantinos IX., Kap. 3, S. 425 (Truppenstärke) und Skylitzes, Michael IV., Kap. 11, S. 403 (13 Städte). 156 Skylitzes, Michael IV, Kap. 20, S. 406. 157 So Attaleiates, Kap. 4, S. 9f., dem als Zeitzeugen der Vorzug vor Skylitzes (Konstantinos IX., Kap. 3, S. 422) zu geben ist, der behauptet, Zoe hätte ihn gesandt. 158 Blöndal, S. 128f./69. Wie bereits mehrfach festgestellt (etwa oben, S. 159 mit Anm. 351),

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Monomachos und Haraldr zu Verwerfungen kam, die ja Kekaumenos andeutet, lässt sich dagegen plausibel über eine politische Rückbindung an Maniakes erklären, der 1042/43 versuchte, Konstantinos durch Usurpation zu verdrängen. Wenn Haraldr aber Maniakes begleitete, wäre jedwede Beteiligung am Sturze Michaels V. ausgeschlossen. Selbst wenn Haraldr aufgrund seiner Einbindung in das byzantinische Netzwerk der Macht keinerlei Grund hatte, Michael V. stürzen und blenden zu wollen, ließe sich spekulieren, ob er möglicherweise im Gegenteil dazu gezwungen wurde, um ihn als Anhänger des Gestürzten besonders zu demütigen, doch bietet Psellos hierfür keinen Anhaltspunkt. Dass Haraldr umgekehrt ein Mann Theodoras gewesen wäre, wird nirgends erwähnt. Die skaldische Tradition lässt sich nicht mit der byzantinischen zusammenbringen, ohne beide gegen ihre Eigenlogik zu deformieren, und als Beweis für Haralds Handlungen in Byzanz taugt sie nicht. Es fragt sich auch, was mit der ereignisgeschichtlichen Rekonstruktion von Haralds vermeintlicher Blendung Michaels eigentlich gewonnen ist. Es war nicht das Ziel der Skalden, die Neugier mittelalterlicher oder moderner, an transkulturellen Fragestellungen interessierter Historiker zu befriedigen, sondern dem Herrscher genehme Botschaften zu formulieren. Als solche erfüllen die Skaldenstrophen ihren Zweck sehr viel besser in der Morkinskinna als in Munchs, Storms und Blöndals Konstruktionen: Sie vermitteln die unzweideutige Botschaft, dass Haraldr in der Lage war, selbst dem mächtigsten Herrscher der Welt seinen Willen aufzuzwingen und seine Ehre gegen ihn zu behaupten. Die Tatsache dieser Aussage ist entscheidend und begründet ihre Gültigkeit, die Tatsache der physischen Handlung dagegen ist im skandinavischen Entstehungskontext der Information unwichtig. Damit sind wir erneut bei der Frage angelangt, ob der Autor der Morkinskinna, der Fagrskinna und Snorri die Strophen nicht doch so auffassten, wie sie auch ursprünglich gemeint waren. Es gibt keinen Grund, Haralds von den mittelalterlichen westlichen und skandinavischen Quellen behauptete Gefangenschaft der Zeit Michaels V. zuzuschreiben. Blöndal macht aus Haraldr aufgrund der unsicheren Interpretation eines einzigen Wortes (pólútasvarf) in der Heimskringla einen Steuereintreiber, der wegen Hinterziehung eingesperrt worden sei.159 Dass dies zu Zeiten Konstantinos Monomachos’ geschehen sei, wie die Sagaprosa unter Nennung des offenbar mündlich tradierten Kaisernamens behauptet, lehnt er ab, weil Haraldr nach seinem Ausbruch ja nicht ihn, sondern Michael geblendet hätte. Kekaumenos sei hier zu vernachlässigen, weil er nur von bemüht Benedikz auch hier auf imaginierten »wikingischen« Mentaliäten basierende Argumente, die im Original so nicht begegnen. Blöndal argumentiert damit, dass Haralds Loyalitäten, falls er in der Flotte eingesetzt war, eher Maniakes’ Gegner Stephanos gegolten hätten, der ja für die Flotte verantwortlich war, wenn auch unter Maniakes’ Oberbefehl. 159 Blöndal, S. 141–148/79–87. Vgl. unten, S. 338.

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einer Verweigerung der Ausreiseerlaubnis durch Konstantinos spreche. Die Narration der Saga wird also erst ausgehebelt und fragmentiert, dann aber doch zur Herstellung chronologischer Abfolgen genutzt, wenn es konveniert. Außerdem habe Michael V. sich mit »skythischen Sklaven« als Leibwache umgeben, was die Waräger ebenso verärgert habe wie Haralds Verhaftung.160 Dies stellt insofern einen Zirkelschluss dar, als sich zu jenem Zeitpunkt keine Warägergarde nachweisen lässt. Hält man sich aber an Kekaumenos, der Schwierigkeiten zwischen Konstantinos und Haraldr andeutet, bevor dieser sich davonstahl,161 gelangt man zu einer alternativen Hypothese. Von April bis Juni 1042 hatten Zoe und Theodora in einem spannungsgeladenen Verhältnis gemeinsam regiert, bis Zoe ihre jüngere Schwester durch die Heirat mit Konstantinos Monomachos, einem ihrer ehemaligen Liebhaber, am 11. Juni verdrängte. Mit ihm gelangte ein Todfeind des Maniakes in den innersten Kreis der Macht: Konstantinos hatte eine gewisse Maria Skleraina zur Mätresse, die Schwester des von Maniakes 1034 beinahe zu Tode geprügelten Romanos Skleros. Dieser überfiel Maniakes’ Güter, schändete dessen Frau und sorgte dafür, dass er im August 1042 selbst zum Nachfolger des wieder einmal sehr erfolgreichen Feldherrn als katepano¯ von Italien ernannt wurde.162 Dies zwang Maniakes zur Rebellion, der später die kaiserlichen Boten tötete, sich selbst zum Basileus ausrief, über die Adria setzte und erfolgreich auf Konstantinopel marschierte, bevor er im Frühjahr 1043 in der für ihn erfolgreichen Schlacht von Ostrobos unweit von Thessalonike tödlich verwundet wurde.163 Haraldr, der möglicherweise 1042 mit Maniakes nach Italien gezogen war, muss sich jedenfalls aus Gründen der Chronologie, soweit sie noch erkennbar ist, in Konstantinopel aufgehalten haben, als Maniakes auf die Hauptstadt vorrückte. Es ist denkbar, dass er für Maniakes als Agent unterwegs war, der die Lage nach dem Herrschaftsantritt Konstantinos’ im Juni 1042 sondierte und nach seiner Ablösung und folgenden Erhebung geeignete Maßnahmen zu seiner Unterstützung ergriff. Er hatte schließlich beste Beziehungen zu Jaroslav, mit dessen Tochter er verlobt war.164 Ganz kurz nach Maniakes’ Tod jedenfalls griffen die Rus’ Konstantinopel an.165 Es bleibt also die Konstellation aus einem revoltierenden Georgios Maniakes, einem durch Konstantinos IX. gegen seinen Willen festgehaltenen Haraldr und einer Bedrohung durch die Rus’ zur selben Zeit.166 Honi soit qui mal y pense. 160 161 162 163 164 165 166

Blöndal, S. 150/88. B11. Skylitzes, Konstantinos IX., Kap. 3, S. 426f. Skylitzes, Konstantinos IX., Kap. 3, S. 427f. NI 111. Chronographia VI,90, Bd. II, S. 8–12. Skylitzes, Konstantinos IX, Kap. 6, S. 430 gibt als Grund für den rusisch-byzantinischen

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Als Alternative zu der etablierten Konjektur, welche die ganze Geschichte von Gefangenschaft, Ausbruch und Blendung unter Michael V. vorverlagert und das von Kekaumenos erwähnte Ausreiseverbot damit erklärt, dass Konstantinos die »Warägergarde« unter Haraldr gegen den Usurpator benötigt hätte, bleibt also der naheliegende Schluss, dass der Stern von Haralds byzantinischer Karriere zusammen mit Maniakes sank. Das Verhalten der »Waräger«, die nach dem Sieg über den Usurpator im Triumphzug der kaiserlichen Truppen mitmarschieren, spielt hierfür keine zentrale Rolle,167 denn eine »Garde« existierte nicht, und Haraldr agierte als in die Hofgesellschaft integrierter ethnikos nicht als Anführer einer Kriegergruppe, sondern als Einzelperson mit entsprechenden Verbindungen; Axtträger gab es um die Mitte des 11. Jahrhunderts überall in den themata, so dass sich hieraus keine Erkenntnisse ableiten lassen.168 Wann genau nach Konstantinos’ Herrschaftsbeginn Haraldr in die Rus’ floh, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Es ist denkbar, dass er noch vor Maniakes’ Fall verschwand, um mit rusischen Kräften zurückzukehren, oder auch danach. Klar scheint jedoch, dass eine persönliche Verbindung zu dem streitbaren General die plausibelste Erklärung für Haralds Entscheidung liefert, seine byzantinische Karriere zu Gunsten sehr unsicherer Perspektiven im Norden aufzugeben. Remigration war schließlich nicht der Normal-, sondern der Ausnahmefall. Konstantinos IX. muss bewusst gewesen sein, dass Haraldr als enger Vertrauter des Maniakes eine Gefahr darstellte, und es entspräche gängiger byzantinischer Praxis, das persönliche Netzwerk eines Rebellen kaltzustellen und sich so den Rücken freizuhalten. Dasselbe geschah schließlich auch 1043 mit rusischen Händlern in der Stadt.169 Aus einem solchen Szenario, in welchem Haraldr einfach in das unterlegene politische Netzwerk eingebunden gewesen wäre, erklärte sich auch die semantische Besetzung der mündlich überlieferten Akteure in der Sagaprosa, die dank der Bedeutungsgenauigkeit des Gedächtnisses generell stabiler ist als episodische Inhalte,170 die sich kaum noch erkennen lassen: Zoe und Munak sind ihrem

167 168 169 170

Krieg den Mord an einem rusischen Kaufmann in Konstantinopel an, über dessen Kompensation man sich nicht einig geworden sei. Dies klingt eher nach einem Vorwand, und Psellos (wie vorige Anm.) spricht auch von solchen Vorwänden, wenn auch allgemein. B5. Vgl. oben, S. 154ff. Skylitzes, Konstantinos IX, Kap. 6, S. 430 konstatiert, dass die Rus’ aus der Stadt in die Provinzen deportiert wurden. Die Aussage ruht auf der Taxonomie des Gedächtnisses in der Psychologie, die ein Episoden memorierendes, höchst modulationsbereites Gedächtnis von einem stabileren semantischen Gedächtnis unterscheidet, das auf Bedeutungskerne reduzierte Inhalte bereitstellt (Schachter/Wagner/Buckner, Memory Systems [2000], S. 632–635; Welzer, Das kommunikative Gedächtnis [2002], S. 35–38). Zu den Implikationen für die Geschichtswissenschaft Fried, Schleier der Erinnerung [2004], S. 123–137, zu Effekten im kollektiven Gedächtnis Assmann, Das kulturelle Gedächtnis [2005], S. 48–56, der mit dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis und der damit einhergehenden Detailreduktion

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Wesen nach feindlich, Gyrgir-Georgios ist ein Versager, der allein nicht zurechtkommt – denn mit ihm scheiterte auch Haraldr. Wenn Haraldr nach Maniakes’ Freilassung durch Michael V. die ersten Monate in Italien an dessen Seite war, erklärte sich auch, warum der Sturz des Michael Kalaphates und Theodoras Herrschaft überhaupt nicht in der nordischen Tradition vorkommen. Letztlich aber ist dieses Szenario auch nicht besser beweisbar als dasjenige bei Storm und Blöndal, welches Informationfragmente auf die Tatsache der Blendung Michaels V. hin ausrichtet. Die Fruchtbarkeit der Alternative bezieht sich weniger auf den konkreten ereignisgeschichtlichen Verlauf, der nebulös bleiben wird, sondern auf Fragen des Wissenstransfers und der Genese historiographischer Nachrichten. Das hier durchexerzierte Szenario beruht erstens auf der Erkenntnis, dass Argumente, die auf Haraldr als Kommandeur einer »Warägergarde« bauen, aus byzantinistischer Sicht und streng genommen auch vor dem Hintergrund der Sagas hinfällig sind, denn Haraldr wird ja nie als Gardekommandant in ständiger Kaisernähe, sondern als Anführer einer Kriegergruppe stilisiert. Dadurch büßt die vorherrschende Rekonstruktion an Plausibilität ein. Zweitens sollte eine Hypothese erprobt werden, die Äußerungen der Skaldik nicht unkritisch als historische Tatsache, sondern als politische Äußerung und Ausdruck subjektiver Erinnerung im Umfeld eines Beteiligten liest. Drittens sollte die auffällige Übereinstimmung zwischen Kekaumenos und der Morkinskinna, dass Haraldr und Maniakes intensiv miteinander zu tun hatten und dass Konstantinos Monomachos beziehungsweise Munak Haraldr in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte, stärker betont werden.171 Viertens schließlich sollte die Möglichkeit mehr Gewicht erhalten, dass die Sagaautoren um 1200, welche die skaldischen Preisgedichte durchaus in ihrem ganzen Zusammenhang aus der mündlichen Überlieferung kannten,172 mit ihrer Version von Haralds Gefängnishaft, Ausbruch, Blendung des Feindes und Flucht am Ende seiner Karriere im Süden die nach außen getragene Erinnerung Haralds und seiner Enkomiasten im Norden im Wesentlichen korrekt wiedergaben. Wir wissen nichts über die ursprüngliche Anordnung der Strophen in den Liedern, ob sie historisch linear, thematisch oder nach anderen ästhetischen Kriterien geordnet waren, doch spricht nichts gegen

und Bedeutungsverdichtung den kollektiven Effekt der individuellen kognitiven Disposition des Menschen beschreibt. 171 Des Kekaumenos Hinweis (B11), dass Haraldr ein Freund der Byzantiner geblieben sei, hat gegen die Annahme einer Trennung im Konflikt, die er selbst ja verdeutlicht, kein allzu hohes Gewicht. Da Kekaumenos Haraldr als Vorbild für die rechte Position eines Barbaros in der byzantinischen Gesellschaft benötigt (oben, S. 128f.), kann er ihn nicht als Feind scheiden lassen. 172 von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981], S. 481f.

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Byzanz im Norden: Historiographisch-politische Zugänge

die Kontextverankerung durch die mittelalterlichen Autoren in Bezug auf die Strophen selbst. Alles Wissen um Haralds Taten in Byzanz jenseits von Kekaumenos geht, abgesehen von den reichhaltigen Adaptionen zirkulierender Erzählmotive, auf ihn und die wenigen Leute wie Halldórr Snorrason und Úlfr Óspaksson zurück, die dort in den gleichen Kreisen verkehrten und mit ihm zurückkehrten. Die Inhalte der fraglichen Skaldenstrophen enthalten jenseits einiger plausibler Ortsund Personennamen nichts, was in Bezug auf soziale Interaktionsmuster im byzantinischen Kulturraum irgendeinen Sinn ergäbe. In den Strophen wie der Sagaprosa agiert Haraldr-Norðbrikt wie ein hochmittelalterlicher norwegischer Magnat unter Norwegern, wenn er als Kriegsherr Städte erobert und deren Herren in seinen Dienst nimmt, der Basilissa gegenüber Anzüglichkeiten äußert, das Heilige Land unterwirft oder den Basileus Konstantinos blendet. Alles spricht dafür, dass ein solches Gedächtnis von Haraldr und seinem Hof selbst in die Welt gesetzt, das Wissen aus der Fremde von Beginn an radikal dem eigenen kulturellen Horizont und dem eigenen politischen Nutzen im Norden untergeordnet wurde: Haraldr war ein Herrscher und kein Ethnologe, der seine teilnehmende Beobachtung des Fremden zu Protokoll gab. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme völlig problemlos, dass Haraldr die Blendung Michaels V., mit der er möglicherweise gar nichts zu tun hatte, auf seine Person bezog und daraus soziales Kapital schlug.173 Sie bot ein plausibles und zudem ehrförderndes Gegenstück zum konfliktiven Ende seines Byzanzaufenthalts und seiner Flucht und ließ den von ihm erworbenen Schatz umso mehr als selbst angeeignete Beute eines Kriegsherrn erscheinen, nicht als Belohnung eines Gefolgsmannes. Illugi bryndœlaskálds Vergleich von Haraldr mit dem Drachentöter Sigurðr, im Norðbrikts þáttr mit Genuss zu einer Geschichte ausgebaut, die auch andere, teilweise ältere Texte des Hochmittelalters in Variationen kennen, validiert eine solche Interpretation. Geschichten von Byzanz im Norden an Haralds Hof, soweit man sie erahnen kann, waren Geschichten vom Norden als Byzanz.

1.5.

Morkinskinna – Fagrskinna – Heimskringla: textgenetische Fragen

Es hat sich gezeigt, dass der lange Prosatext des Norðbrikts þáttr sich nur auf eine außerordentlich dünne mündliche Tradition zu Haraldr stützen konnte, die jenseits der Skaldengedichte kaum mehr als ein paar Namen und einen simplen Plot bereitstellte. Hinzu tritt die Selbststilisierung des Migranten, so dass ei173 Zum hier unterlegten Begriff des kulturellen Kapitals und seiner sozialen Umwandlung Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1997], S. 59–75.

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nerseits fast keine brauchbaren Sachinformationen zum Geschichtsverlauf jenseits der kurzen Erwähnung bei Kekaumenos zu Tage treten, andererseits aber eine Narration entsteht, welche die synchrone Einbettung der norrönen Historiographie in die Literaturen Lateineuropas eindrucksvoll unterstreicht. Dies zeitigt weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit der Sagaliteratur auch aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Es ist unstrittig, dass die Fagrskinna, kurz nach der Morkinskinna offenbar als knappere Chronik für den norwegischen Hof produziert, auf letzterer basiert.174 Genauso basiert Snorris Heimskringla, die in den 1230er-Jahren entstand, auf der Morkinskinna und auch der Fagrskinna, die aufgrund dessen älter sein muss, wobei die unlängst geäußerte Hypothese, Snorri sei der Autor aller drei Kompendien, gerade aufgrund der im Folgenden zu behandelnden Differenzen in der politischen Aussage zu weit zu gehen scheint.175 Die Entwicklung geht also nicht von einem schlichten, vermeintlich der »Mündlichkeit« näher stehenden Text zur phantastisch aufgeblähten Kompilation, sondern nimmt genau bei dieser ihren Ursprung und entwickelt sich von dort zu rhetorisch und erzählerisch schlichteren Darstellungen, gleichsam von der lectio difficilior zur simpleren Lesart. Aufgrund des Vergleichs zwischen den drei Kompendien sind verschiedene mögliche schriftliche Vorläufer der Morkinskinna postuliert worden, jedoch nicht bezüglich der 174 Dies gilt selbstverständlich nur für den Zeitraum nach dem Tode Óláfs des Heiligen. Da die Fagrskinna jedoch bei Hálfdann enn svarti, dem Vater des halbmythischen »Reichseinigers« Haraldr enn hárfagri, beginnt, benutzt sie eine Vielzahl anderer Quellen, darunter frühe latinophone isländische Historiographie, die Óláfs saga Tryggvasonar des Oddr Snorrason, das Ágrip af Nóregs konunga so˛gum, Hagiographie über Óláfr enn helgi und eine ganze Reihe weiterer postulierter, so nicht überlieferter Texte (vgl. Indrebø, Fagrskinna [1917]; Fagrskinna, ed. Finlay [2004], S. 2–14 und die Liste bei Kolbrún Haraldsdóttir, Fagrskinna [1994], S. 145–148. Zur Produktion für den Königshof Indrebø, Fagrskinna [1917], S. 275– 284; Fsk., S. CXXVII–CXXXI. 175 Da der Zeitraum zwischen Entstehung der Fsk. und Hkr. nicht groß sein kann, wurde mitunter auch argumentiert, Fsk. und Hkr. verwendeten eine gemeinsame, verlorene Vorlage (etwa Finnur Jónsson, Oldnorske og oldislandske Litteraturs historie 2,2 [1901], S. 630f.). Wenn man aber vermeiden will, dass die Zahl der postulierten verlorenen Zwischenglieder bei einer eigentlich kleinen Zahl an Buchproduzenten ins Uferlose wächst, ist insbesondere angesichts funktionierender Kommunikationswege auch und gerade zwischen Island und Norwegen die These einer raschen Verbreitung viel plausibler, zumal die von Snorri früher verfasste Óláfs saga helga in sérstaka die Fsk. nicht kennt (Bjarni Aðalbjarnarson, Norske kongers sagaer [1937], S. 173–236; Indrebø, Fagrskinna [1917], S. 285; Fagrskinna, ed. Finlay [2004], S. 17–27). Die Hypothese einer durchgehenden Autorschaft Snorris stammt von Sigurjón Páll Ísaksson, Höfundur Morkinskinnu [2012], bes. S. 237–241, 278 und stützt sich v. a. auf die Ähnlichkeit des verwendeten Strophencorpus, die Technik seiner Deutung sowie nahe Übereinstimmungen im Wortlaut unter Ausklammerung der mitunter radikal differierenden politischen Deutungsschemata. Diese Beobachtungen belegen jedoch angesichts der folgenden Ausführungen zunächst nichts als enge intertextuelle Bezüge; auch sprechen gerade die feinen Unterschiede in der Interpretation der Skaldik (oben, S. 309ff.) gegen einen gemeinsamen Autor.

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hier relevanten Passagen.176 Beide jüngeren Kompendien benutzen den Text der Morkinskinna, für den kein Vorgänger in vergleichbarem Umfang erkennbar ist, verändern die Einbindung in ihre Narrationen, kürzen dabei zahlreiche Aspekte, fügen aber vereinzelt auch Details hinzu. Vereinfacht ließe sich sagen, dass die Fagrskrinna kürzt, während Snorri seine Vorlage ganz bewusst purifiziert.177 Erstere, die ihren Namen – das »schöne Pergament« – ebenfalls von der Bezeichnung eines Codex durch Þormóðr Tórfason hat, der aber eigentlich gar nicht mehr die Hauptgrundlage der aktuellen Edition des Chroniktextes bildet,178 berichtet im selben Druckbild wie die Morkinskinna auf etwa 10 Editionsseiten von Haralds Exil, was vom Umfang einem Viertel des Norðbrikts þáttr entspricht. Sie wurde wahrscheinlich von einem isländischen Autor für den König produziert,179 möglicherweise zum Anlass der Bestätigung Hákons IV. als König über ganz Norwegen auf einem reichsweiten Ding in Bergen 1223, die lange Jahrzehnte 176 Krag, Harald Hardrådes ungdomsår [1998], S. 22–26 hält die Existenz einer gesonderten Haralds saga seit dem späten 12. Jh. für wahrscheinlich, da die erste Begegnung zwischen Magnús und dem zurückkehrenden Haraldr, welche die Teile zusammenhält, ein gutes Einvernehmen zwischen beiden nahelege, wonach sie sich aber zerstreiten, Haraldr mit Svend Estridsen eine Allianz eingeht, bevor er sich mit Magnús erneut versöhnt. Diese »Ungereimtheit« ist jedoch nur ein ganz schwacher Hinweis auf konfligierende Schriftquellen dahinter, zumal Msk. und das Ágrip hier übereinstimmen; Krag übernimmt sie von Bjarni Aðalbjarnarson, Norske kongers sagaer [1937], S. 169–171, der aus ästhetischen Überlegungen heraus vom kompilatorischen Charakter der Msk. überzeugt ist. Auch komplizierte Geschichten können der Imagination eines Autors entsprießen. 177 Vgl. auch im Folgenden die Untersuchung von Krag, Harald Hardrådes ungdomsår [1998], S. 10–14, der die Kürzungen in Fsk. und Hkr. mit dem »Genrebewusstsein« der Autoren erklärt. 178 Überlieferte frühneuzeitliche Handschriften gehen auf zwei 1728 in Kopenhagen verbrannte Codices zurück, einmal auf die Fagrskinna aus der ersten Hälfte des 14. Jhs., einmal auf einen schon damals nur mit Lakunen vorliegenden Codex aus der Mitte des 13. Jhs. wohl aus dem Trøndelag, der eine frühere, etwas kürzere Fassung bietet und den Text als »Nóregs konunga tal« bezeichnet. Die aktuelle Edition nutzt letztere Version und ergänzt Lakunen aus dem Text der eigentlichen »Fagrskinna«. 179 Über die Identität des Autors wurden ergebnislose Debatten geführt; eine Entstehung im Trøndelag ist jedoch aufgrund der geographischen Perspektive des Erzählers und anderer Details wahrscheinlich (Indrebø, Fagrskinna [1917], S. 264–271; Kolbrún Haraldsdóttir, Fagrskinna [1994], S. 149). Norwegische Philologen, allen voran Indrebø, Fagrskinna [1917] und Jakobsen, Om Fagrskinna-forfatteren [1975], haben die Fagrskinna als norwegisches Produkt reklamiert, doch fehlen, so das wichtigste, allerdings begrenzte Gegenargument, im Gegensatz zu Island Hinweise auf eine norwegische Produktion anderer solcher Texte; zudem ist die Fagrskinna zwar straffer auf die norwegischen Könige ausgerichtet, zeigt aber die typisch »isländische« Perspektive auf die Interaktion von Magnaten und Königen (Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], S. 309). Die klassische kulturelle »Arbeitsteilung« der symbiotischen norwegisch-isländischen Verbindung, die auch andere Königsbiographien wie die Sverris saga und Hagiographie, etwa die Óláfs saga Tryggvasonar, hervorbrachte, legt in der Tat nahe, dass ein Isländer die Fsk. verfasste (Fsk., S. CXXXf.). Dies ist jedoch weder sicher noch bedeutsam – die drei Kompendien sind Teil eines zusammenhängenden Diskurses.

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von Königsfehden endgültig beendete.180 Der Text zeigt ganz im Gegensatz zur Heimskringla eine politische Tendenz zu Gunsten der Birkibeinar, deren Anführer Sverrir Sigurðarson und dessen Enkel Hákon IV. Hákonarson waren,181 und passt so ausgezeichnet zur spätestens 1219 fertiggestellten Biographie des Königs Sverrir Sigurðarson (1177–1202) aus dem nordisländischen Kloster Þingeyrar, die genau dort einsetzt, wo die Fagrskinna 1177 endet.182 Gerade zum Schluss hin häufen sich Spuren einer hastigen Fertigstellung.183 Dass König Hákon sich im Besitz dieses Textes befand, ist mehr als wahrscheinlich, denn er ließ sich gemäß seiner Biographie auf seinem Sterbebett aus einem Konungatal vorlesen, und so bezeichnen die Handschriften den Text selbst.184 Stringenz, Einheit und Klarheit der Erzählung bei Reduktion auf den zentralen Strang der norwegischen Königsgeschichte kennzeichnen die Fagrskinna, ganz im Gegensatz zur Morkinskinna.185 Das wirkt sich auch auf Haralds Geschichte aus: Haraldr behält seinen echten Namen, es fehlen praktisch alle Passagen mit direkter Rede der Figuren, und zahlreiche Details werden gestrichen, darunter Haralds Austreibung der schatzbewachenden Schlange aus ihrer Höhle, der Kampf gegen die Heiden mit dem Óláfswunder und dem anschließenden Kirchenbau, die Belagerung einer der drei Städte auf Sizilien und der abschließende Kampf gegen die Schlange im Gefängnis. Auch die an Tristan und Isolde erinnernde Affäre zwischen Haraldr und Maria, die beinahe durch Fallen des Basileus aufgedeckt wird und welche die Grettis saga ein Jahrhundert später ebenfalls mit Byzanz als Schauplatz, aber einem anderen Waräger als Akteur zu einer langen Geschichte ausbaut, findet sich so nicht wieder, sondern wird lediglich als Grund für Haralds Verhaftung angeführt. Sieben Skaldenzitate mit Byzanzbezug fallen weg, davon vier im Kontext der Geschichte selbst,186 und die Væringjar heißen mitunter víkingar, werden also als Plünderer außerhalb der eigenen Landesgrenzen verstanden.187 Dennoch löst sich der Autor niemals von seiner Vorlage. Obwohl die Fagrskinna sonst insbesondere Ereignisse außerhalb Norwegens besonders stark kürzt oder gar ganz weglässt, bleibt die Geschichte und auch ihre Einordnung als þáttr

180 Indrebø, Fagrskinna [1917], S. 173–177 kommt aufgrund der prosopographischen Informationen im Text zu dem Schluss, dass die Fsk. um 1222 fertiggestellt worden sein muss. 181 Kolbrún Haraldsdóttir, Fagrskinna [1994], S. 149. 182 Zur Sverris saga vgl. Holm-Olsen, Til diskusjon [1977]; Sverris saga 2007, ed. Þorleifur Hauksson [2007], S. XXII–LX; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 182–197. 183 Indrebø, Fagrskinna [1917], S. 222f. 184 Hakonar saga, ed. Vigfusson [1887], S. 354. 185 Vgl. Fagrskinna, ed. Finlay [2004], S. 13f.; Kolbrún Haraldsdóttir, Fagrskinna [1994], S. 145. 186 S. oben, S. 310f. mit Anm. 74. 187 NI 117; zur Semantik von víkingr in den Sagas Krüger, Rezeption [2008], S. 211–217.

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außerhalb der linear fortschreitenden Erzählung erhalten.188 Von besonderem Interesse sind die wenigen Zusatzinformationen, welche die übernommene Geschichte erweitern oder manipulieren: So werden wie in der Morkinskinna Mikael kátalaktús und Zóe in ríka (»die Mächtige«) genannt, jedoch spezifiziert die Fagrskinna, dass sie mit sieben verschiedenen Königen nacheinander herrschte.189 Die Zahl stimmt nicht, jedoch kommt deutlicher als bei der Morkinskinna heraus, dass die eigentliche Macht von Zoe ausging. Auch Gyrgis Name wird als Synonym zu Georgíús erklärt, und Munak-Monomachos heißt hier, etwas näher am Griechischen, Mónakús. Haralds Streit mit dem Feldherrn wird simplifiziert: Während Haraldr in der Morkinskinna seine Männer im Gesamtverband des Heeres zurückhält und nur zuschlägt, wenn sie allein kämpfen und der erworbene Ruhm auf ihn zurückfällt, ist er in der Fagrskinna weniger durchtrieben und kämpft mit seinen Leuten stets tapfer in vorderster Linie;190 sein Charakterbild ist nicht nur hier weniger ambivalent, was bei einem norwegischen König als intendiertem Leser beziehungsweise Hörer nicht überrascht. Zwei Strophen werden zudem ergänzt: Die erste enthält den Preis von Haralds Kampf gegen den jo˛furr Afríka, der als Beleg für Haralds Anwesenheit südlich des Mittelmeers gewertet wird, und die zweite, im Kontext seines Ausbruchs eingefügte Strophe den ebenfalls schon bekannten Helmingr des Valgarðr á Velli über Haralds Tötung anderer Væringjar.191 Schließlich kommt noch ein Ortsname auf Haralds Weg nach Hólmgarðr-Novgorod hinzu, nämlich Ellipaltar, die skandinavische Bezeichnung für den Mündungstrichter des Dnjepr in das Schwarze Meer.192 Es zeigt sich also, dass der Autor der Fagrskinna seiner Vorlage dicht, aber nicht sklavisch folgte und bloß kürzte; er fand weitere Skaldenstrophen relevant und integrierte sie mit entsprechenden Schlussfolgerungen. Auch gibt er andere Versionen der Namen von Maniakes und Konstantinos IX., was ihre Zirkulation in der mündlichen Tradition unterstreicht. Ansonsten aber bildet die Fagrskinna hier gewissermaßen eine Miniatur des ältesten Kompendiums. Nicht so bei Snorri, sofern man ihn als Autor der Heimskringla akzeptiert.193 Er hatte nachweislich die beiden anderen Kompendien zur Verfügung, griff aber 188 Es folgt also zuerst die Begegnung mit Magnús in Schonen (NI 125), bevor Haralds Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt aufgegriffen wird (NI 111–NI 124). 189 NI 112. 190 NI 113. 191 S. oben, S. 310f. mit Anm. 74. 192 NI 123. 193 Zweifel an Snorris Autorschaft, die lediglich in dänischen Übersetzungen des 16. Jhs. durch Laurents Hansson und Peder Claussøn Friis bezeugt ist, deren Handschriftenvorlagen möglicherweise eine solche Ansicht enthielten (Hkr. Bd. 2, S. VI–IX), äußerte Louis-Jensen, Heimskringla [1997], bes. S. 232, die aufgrund von paläographischen Befunden zum ältesten erhaltenen Handschriftenfragment (Kringlublaðið, um 1260) davon ausgeht, dass Óláfr

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gezielt und modifizierend in den Abschnitt ein, der bei ihm etwa halb so lang ist wie der Norðbrikts þáttr. Bereits die Einbettung in die Geschichtsnarration ist verändert: Haraldr wird nicht per Exkurs eingebunden, sondern die Geschichte von der Alleinherrschaft Magnús’ über Norwegen und Dänemark wird mit der Einigung zwischen Magnús und Edward dem Bekenner über konkurrierende Herrschaftsansprüche beendet, bevor Haralds Saga beginnt.194 Einen Zeitsprung kann selbstverständlich auch Snorri nicht umgehen, doch beginnt er hier die Haralds saga Sigurðarsonar, die auch nach Haralds Rückkehr fortgesetzt wird; der Exkurscharakter ist damit verschwunden. Wie in der Fagrskinna wird nichts Näheres über Haralds Reiseroute nach Byzanz gesagt, das Ausmaß direkter Rede ist stark zurückgenommen, und es fehlen im Prinzip die gleichen Bausteine des Norðbrikts þáttr wie in der Fagrskinna. Das Olafswunder bei der Schlacht gegen die Heiden findet sich etwas modifiziert später im Text und inhaltlich kaum eingebunden am Schluss der Hákonar saga herðibreiðs.195 Während die Morkinskinna dieses Wunder in der Schlacht auf den Pézinavellir, den »Petschenegenfeldern«, demjenigen König anhängt, der besonders intensiv mit isländischen Akteuren verbunden ist,196 führt Snorri es als kritischer Historiker auf die Zeit zurück, in welche es von Geisli, der Mirakelsammlung des Heiligen Óláfr und der Legendarischen Óláfs saga helga verortet wird, um den Preis einer fließenden Einbindung in die Geschichte eines Königs.197 Die in der Morkinskinna zweimal begegnende, aus der normannischen Historiographie adaptierte Geschichte vom Norwegerkönig, der in Byzanz mangels Feuerholz bei einem Bankett mit Walnüssen heizt und so seine höfische Findigkeit beweist,198 taucht jedoch in der Heimskringla nirgends auf. Bei der Skaldik folgt Snorri dem Trend der Fagrskinna und seiner eigenen, auch sonst erkennbaren Neigung, größere, antiquarisch anmutende Sammlungen an Strophen aus seiner Vorlage auszuschlanken. Er streicht sechs Strophen mit Byzanzbezug übereinstimmend mit der Fagrskinna,199 drei davon in einem späteren þáttr, der Haraldr in einem Skaldenwettbewerb darstellt.200 Im Gegenzug fügt er selbst drei andere hinzu,

194 195 196 197 198 199 200

Þórðarson hvítaskáld, Snorris Neffe, für die Gestalt des Textes verantwortlich ist, der somit jünger sei. Die Sturlunga saga ist bezüglich der literarischen Aktivitäten in Reykjaholt unspezifisch (s. S. 342 mit Anm. 229). Zur Handschriftenüberlieferung Hkr. Bd. 3, S. LXXXIII– CXII; sie zeigt Adaptionen an intendierte isländische oder norwegische Rezipientenkreise (Louis-Jensen, Kongesagastudier [1977], S. 20–23). Vgl. den Übergangspunkt in Hkr. Bd. 3, S. 65–68 mit NI 125/NI 111. NI 155. Msk., S. LXVf. Zu abweichenden, problematischen Forschungsmeinungen über einen historischen Kern s. oben, S. 300 mit Anm. 29. NI 114 bei Haraldr inn harðráði, NI 144 bei Sigurðr Jórsalafari. S. oben, S. 310 mit Anm. 73. NI 130.

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welche in der Tat die Inhalte etwas variieren, während er die Additionen der Fagrskinna bis auf eine Strophe nicht übernimmt.201 Hieraus ergeben sich keine gravierenden Veränderungen, jedoch greift Snorri, wie kaum anders zu erwarten war, in Darstellungen politischer Interaktion zwischen Figuren ein, welche er in der gesamten Heimskringla sehr bewusst und nach klaren ideologischen Prinzipien gestaltet. So legt er Haraldr im Rangstreit mit Gyrgir-Maniakes ein anderes Argument in den Mund: Während Norðbrikt in der Morkinskinna auf die Ranggleichheit des ho˛fðingi Girkja und des ho˛fðingi Væringja pocht, argumentiert Haraldr in der Heimskringla, Gyrgir habe ihm nichts zu befehlen, da die Væringjar allein dem König und der Königin »dienstschuldig« (þjónustuskyldir) seien.202 Bezogen auf Haralds historische Situation und generell auf die byzantinische Armee ist eine solche Aussage widersinnig,203 doch spiegelt sie möglicherweise die Situation der Axtträger am Palast unmittelbar vor 1204, die sich dauerhaft in unmittelbarer Nähe der Angeloi befanden.204 Viel wichtiger als dieser mögliche, aber arg konstruierte Bezug ist jedoch, dass Snorri Haraldr in diesem Kontext nicht nur qua Gerissenheit, sondern durch das Recht (réttr) der Waräger als überlegen darstellt; hiermit fügt sich diese Episode in die Gesamtaussage der Heimskringla, welche dem Recht eine zentrale Bedeutung einräumt.205 Das dahinter stehende Denkkonzept zeigt eine gewisse Analogie zum Status etwa der Templer, die allein dem Papst gehorchen, nicht aber zu erkennbaren byzantinischen Strukturen. Weiterhin modifiziert Snorri die ausführlichen Schilderungen von Norðbrikts Eroberung der drei sizilianischen Städte, indem er die Reihenfolge verändert und Elemente der List, den Tod des Feldherrn vorzutäuschen, auf zwei Belagerungen verteilt, so dass vier Städte erobert werden,206 wobei die Narration jedoch an Verständlichkeit verliert. Auch das Ende von Haralds Karriere wird umgestaltet: Zwar bleibt der ungerechtfertigte Vorwurf der Unterschlagung von Beute von Zoes Seite nicht aus, doch wird er ganz anders eingebunden. Haraldr besitzt einen eigenen Wunsch, in den Norden zurückzukehren, als er hört, dass sein Neffe Magnús nun Norwegen beherrsche, und sagt dem Grikkjakonungr den Dienst auf (sagði upp þjónustu). Erst daraufhin wird Zoe wie in Snorris Vorlage zornig, wirft ihm die Unter201 S. oben, S. 310f. mit Anm. 74. 202 NI 113. 203 Vgl. den Überblick über die Kommandostruktur bei Kühn, Die byzantinische Armee [1991], S. 47–56 und die Darstellung der Warangoi bzw. Axtträger in der byzantinischen Literatur generell (B1-B134). 204 Vgl. oben, S. 230ff. 205 von See, Snorris Konzeption [1993], S. 161–163; zur Rolle des Rechts für das isländische Selbstbewusstsein auch Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære [1993], S. 110–115. Vgl. auch unten, S. 344ff. 206 NI 115-NI 118, davon NI 118 nur in Hkr.

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schlagung von Beute vor, die er als Heerführer gewonnen habe, und verweigert ihm Marias Hand, zumal sie ihn für sich hätte haben wollen.207 Zunächst fällt natürlich die Ähnlichkeit zu Kekaumenos auf, der ebenfalls von einem Ausreisewunsch Haralds berichtet, doch wird man Snorri keinen Zugang zu besseren Sachinformationen unterstellen können, bleibt die Geschichte von anschließender Haft, Ausbruch und Blendung des Basileus doch unverändert.208 Auch ist die Motivation mit der Nachricht von Sveinn Álfífusons Tod und Magnús’ Herrschaftsantritt wenig glaubhaft. Dies geschah schon 1035, als Haraldr gerade in Byzanz eingetroffen war, acht Jahre vor den hier behandelten Ereignissen. Snorri lässt Haraldr vielmehr wie schon im Konflikt mit Gyrgir absolut selbstbestimmt auftreten. Während Norðbrikt noch das Opfer einer Intrige wird und in der Tat flieht, wenn auch als Herr der Situation und seiner eigenen Ehre, geht seiner ungerechten Behandlung in der Heimskringla ein klarer eigener Wille voraus, Byzanz zu verlassen. Damit ist eine letzte Spur seines Scheiterns getilgt, woraus sich allerdings kein neues quellenkritisches Potential ergibt. Der Basileus, der Haraldr einsperrt, heißt hier Konstantínús Mónomákús, zeigt also die restituierte griechische Sprachform, möglicherweise auf der Basis von Adams von Bremen Bistumschronik oder anderer auf Island bekannter lateineuropäischer Texte.209 Das folgende Ende der Erzählung bleibt einschließlich von Óláfs Hilfe bei der Flucht aus dem Gefängnis durch eine Witwe eng an der Morkinskinna, reduziert aber die Geschichte vom Drachen – ganz in Übereinstimmung mit Snorris eigener Aussage etwas später in der Haralds saga, er habe vitnislausar so˛gur (»unbezeugte Geschichten«) nicht in seine Schriften übernehmen wollen.210 Die Erweiterung der Fagrskinna um die Tötung gegnerischer Væringjar übernimmt Snorri nicht, dafür reagiert er auf die Kritik in der Morkinskinna, der Bericht über die Blendung sei unglaubwürdig, aber in der Skaldik verbürgt, und erklärt den Befund damit, Haraldr und seine Begleiter hätten diese Geschichte selbst mit in den Norden gebracht, unterstreicht also die Zuverlässigkeit der Skaldik, die jedoch von Haralds Version abhängig bleibt – was sich für unsere Fragestellung als höchst bedeutsam erwies. Eine Information schließlich, die in keiner der beiden Vorlagen begegnet, tritt in der Heimkringla hinzu, nämlich eine Erklärung für Haralds großen Schatz aus Gold und die zahlreichen Wertgegenstände, die er auf seinem Weg nach Norden in Hólmgarðr von Jarizleifr entgegennimmt: Snorri ist der einzige, der behauptet, dies sei der größte Schatz, der jemals im Norden gesehen worden sei, und erklärt seinen Umfang damit, dass die Væringjar in Byzanz das Recht besäßen, beim 207 NI 121. 208 Möglicherweise benutzt die Hkr. hier Adam von Bremen, der Haralds Rückkehr ähnlich motiviert (Adam 3,13, S. 154). 209 Adam 3,32, S. 174 nennt Konstantinos IX. Monomachus. 210 NI 122. Die Aussage zu den unbezeugten Geschichten in Hkr. Bd. 3, S. 119.

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Tode eines Basileus den Palast zu plündern. Dreimal habe Haraldr an einem solchen pólútasvarf (»Palastplünderung«) teilgenommen.211 Aus byzantinischer Perspektive ist eine solche Praxis völlig ausgeschlossen, und es starben auch keine drei Basileis während Haralds Aufenthalt. Es ist vor allem auf linguistische Weise versucht worden, die Grundlage für dieses Hapax legomenon und die Vorstellung in der Heimskringla ausfindig zu machen. Adolf Stender-Petersen erkannte im ersten Wortbestandteil, von Zeitgenossen des 12. und 13. Jahrhunderts als »Palast« aufgefasst,212 die norröne Wiedergabe des ostslawischen Worts pol’udije, »Tributsammlung«, welche er in De administrando imperio Konstantinos’ VII. wiederentdeckte, der hier von den Tributreisen der Rus’ berichtet:213 Sie gingen im November, nachdem sie Mesembria etwa 200 Kilometer nördlich Konstantinopels besucht hätten, »auf polydia, die Rundreise genannt wird« (ει᾿ς τὰ πολύδια, ὃ λέγεται γύρα).214 Das Kompositum pólútasvarf gebe genau diese Zusammensetzung wieder; folglich habe Haraldr sich wahrscheinlich in der Rus’ mit Jaroslav auf Tributsammlung begeben, sicherlich vor seinem Byzanzaufenthalt.215 Blöndal hält dies aufgrund seines Status vor 1034 und der kurzen Aufenthaltsdauer bei seiner Rückkehr für unwahrscheinlich und schlägt vor, das Wort habe sich quasi als »Waräger-Jargon« auf Aktivitäten als Steuereintreiber in Byzanz bezogen.216 So erhellend die Hypothese über die »warägische« Prägung des merkwürdigen Wortes bezüglich der skandinavisch-rusischen Geschichte auch erscheint, hat sie doch mit dem hochmittelalterlichen Wissen über Haraldr nichts zu tun. Snorri versteht das Wort unmittelbar und unzweideutig als »Palastplünderung«, unbeschadet dessen, was es einmal bedeutet haben und wo es hergekommen sein mag, analog etwa zur Veraldar saga, einer isländischen Weltchronik aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, welche die Bezeichnung stólkonungr für die Basileis als »Thronkönig«, König auf dem antiken Kaiserthron, erklärt.217 Dass das Kompositum ursprünglich relativ sicher aus dem Ostslawischen (stol’nji kn’az’) kam und aus einer Übertragung der Bezeichnung vom Kiever Herrscher auf den Basileus resultierte,218 war genau wie bei pólútasvarf in der Heimskringla längst vergessen. Ob das Wort in seiner rekonstruierten Bedeutung etwas mit Haraldr zu tun hatte, wird nirgends sonst erkennbar. Woher auch immer Snorri die Information genommen haben mag, glaubhafter 211 NI 124. 212 So im Leiðarvísir (Simek, Kosmographie [1990], S. 479–484) und in der Fsk. bei der Blendung Konstantins (NI 122, als palata). 213 Stender-Petersen, Le mot Varègue polutasvarf [1953], S. 157–163. 214 De administrando imperio, ed. Moravcsik/Jenkins [1949], Kap. 9, S. 62, Hervorhebungen R.S. 215 Stender-Petersen, Le mot Varègue polutasvarf [1953], S. 163f. 216 Blöndal, S. 145–148/84–87. 217 NI 18. 218 Stender-Petersen, Études Varègues V,2 [1946], S. 128.

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als die Geschichte von der Schlange im Gefängnis oder der Makedonin Maria als Geliebte ist sie nicht.219 Sie erfüllt indes ihre Funktion, indem sie einen Grund für den märchenhaften Reichtum Haralds liefert. Die so am Schluss stehende dritte Version der Kompendien, ungleich bekannter als die beiden anderen, wirkt abgesehen hiervon auf den ersten Blick glaubhafter, zuverlässiger und vor allem »nordischer«: Hatte die Fagrskinna schon Übernahmen von literarischen Wandermotiven und Aspekte getilgt, die nicht im strengen Sinne zum historiographischen Diskurs gehörten, übernahm Snorri verschiedene dort ausgelassene Details aus der Morkinskinna, mied aber alles kultur- und gattungsbezogen »Fremde«: Schlangen und sonstige Mythologie-Anklänge fehlen; die Geschichte von der heimlichen Affäre zwischen Norðbrikt und Maria mit ihren Tristan-Anklängen, später in einer der Íslendingasögur zu einer langen Erzählung ausgebaut, wurde getilgt. Die dem modernen Historiker deutlich »objektiver« entgegentretende Textoberfläche wurde eben aufgrund dieser Purifizierung und ihres von Latinismen befreiten, den Eindruck mündlicher Erzählung evozierenden Stils oftmals für im Kern zuverlässig gehalten. Sigfús Blöndal und mit ihm zahlreiche andere Historiker sind ganz im Einklang mit generellen Annahmen der damaligen Nordistik der Ansicht, man könne sie zur Rekonstruktion der Ereignisgeschichte in Byzanz verwenden, wenn man nur die offensichtlich aus Wandermotiven geschöpften Phantastereien fortlasse. Dabei kommen die textgenetischen Zusammenhänge gar nicht ins Bewusstsein; Blöndal spricht statt von der Morkinskinna von einer unabhängigen »Haralds saga«220 und benutzt auch nicht Finnur Jónssons Ausgabe, sondern die Edition in der Reihe »Fornmanna sögur« von 1831, die jüngeren, unter anderen auf der Morkinskinna basierenden vollständigen Handschriften den Vorzug gibt.221 So entsteht der Eindruck, diese »Haralds saga« repräsentiere eine stärker deformierte, weniger zuverlässige Tradition.222 Dem ist nicht so. Die dem modernen Menschen mitunter »rationaler« erscheinenden kausalen Zusammenhänge, welche sich aus der Narration der Heimskringla ergeben, etwa bei Haralds Wunsch zur Ausreise, basieren nicht auf besserem Faktenwissen aus einer wie auch immer gearteten oralen Tradition. Nirgends in Haralds Geschichte erschließt Snorri grundstürzend Neues etwa durch andere Skaldenstrophen. Er kürzt dagegen geschickt und gezielt und modifiziert Zu219 Vgl. auch die Rückschlüsse auf Snorris vermeintlich rein volkssprachliche Bildung bei Faulkes, The Sources of Skáldskaparmál [1993] und seiner besonderen Rückbindung an »reiche mündliche Tradition« bei Wolf, Snorris Wege [1993], S. 291–293. 220 Vgl. Blöndal 111f./55f., 149f./87f. sowie die knappe Aussage zur Glaubwürdigkeit der Heimskringla und ihre Herausstellung durch ein langes Zitat ebd., S. 167/101. 221 Fornmanna sögur 6 [1831] basiert zuerst auf Hulda und Hrokkinskinna, der Flateyjarbók, dann erst auf der Msk. (zu den Handschriften oben, S. 311). 222 Ähnlich auch noch Kalinke, Sigurðar saga Jórsalafara [1984], S. 152f.

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sammenhänge im Detail, so dass Aktionen von Einzelpersonen kausal stärker aufeinander bezogen werden.223 Dazu nutzt er bis auf eine Ausnahme an keiner Stelle von Haralds Geschichte in Byzanz Anderes als den Text der Morkinskinna und der Fagrskinna. Als Quelle für historische Ereignisse ist die Heimskringla daher nicht besser als die Morkinskinna, welche wiederum allzu deutlich zeigt, dass der Autor aus einer sehr dünnen Überlieferung und mit Hilfe seiner literarischen Bildung eine Geschichte formte. Deutungsschema und »Authentizität« in der Heimskringla Der subtile Gestaltwandel der Narration bei Snorri, der Objektivität und das bloße Rekurrieren auf mündliche, indigene Tradition suggeriert, ist das Produkt ganz gezielter Manipulation verfügbaren Wissens, die man als »Purifizierung« oder »Vernakularisierung« bezeichnen könnte. Snorri Sturluson (1178/79–1241), der jüngste Sohn des Sturla Þórðarson á Hvammi und seiner Frau Guðný Bo˛ðvarsdóttir, war in Oddi in Südisland am Hofe von Jón Loptsson, dem mächtigsten Isländer seiner Zeit, erzogen worden, wo eine Schule für angehende Priester existierte. Er ist der einzige heute als Autor bekannte Laie seiner Zeit; alle anderen Texte mit Ausnahme von zumeist jüngeren Íslendingasögur, die in ihrer Herkunft beabsichtigt anonym bleiben, lassen sich geistlichen Schriftzentren oder Klerikern als Autoren zuordnen.224 Snorri hatte also durch Kleriker eine umfassende literarische Bildung genossen, die verschiedentlich bestritten wurde, aus heutiger Sicht aber mit ziemlicher Sicherheit eine Unterweisung in den septem artes liberales einschloss.225 Ob er für eine geistliche Laufbahn vorgesehen 223 Bandle, Tradition und Fiktion [1993], S. 40–47. Vgl. auch die Forschungsergebnisse von Bagge, Society and Politics [1991], unten, Anm. 241. Ein Gegenstück zur Streichung intertextueller Bezüge über die Kulturgrenze hinaus bildet die Verhüllung des »Fremden« bis zur Unkenntlichkeit, die sich in der Tat als genrespezifisch für die »klassischen« Sagas, vor allem die Íslendingasögur, erweist (Heizmann, Die verleugnete Intertextualität [1999], S. 57–61). 224 Damit entspricht die norröne Literatur dem Gesamtbild in Europa; s. Boje Mortensen, Den formative dialog [2006], S. 261–269, der generell vor 1250 nicht mit Autoren volkssprachlicher Texte rechnet, die nicht auch lateinkundig waren. Zum lateinischen Bildungsstandard isländischer Kleriker und auch der regen Produktion nicht überlieferter lateinischer Texte Heizmann, Bildung und Ausbildung [2012], S. 182–196. 225 Lange Debatten über die Frage »kontinentalen Einflusses« auf Snorris Denken – und damit seine Bildung – entspannen sich weniger um die Ynglinga saga in der Heimskringla, sondern v. a. um Snorris Deutung der Ursprünge der nordischen Mythologie in seiner Edda, konkret um den Prolog und die Gylfaginning, wo eine göttliche Dreiheit dem Schwedenkönig Gylfi mythologische Inhalte schildert. Schon Nordal, Snorri Sturluson [1920], S. 62–65, 112f., besonders aber Baetke, Götterlehre der Snorra Edda [1952] sahen Prolog und Gylfaginning in Übereinstimmung miteinander und mit zeitgenössischen Vorstellungen von Euhemerismus. Holtsmark, Studier i Snorres mytologi [1964] erkannte eine Applikation von Dämonologie, also eine im 13. Jh. quasi politisch korrekte und nötige Verdammung des Heidentums. Dronke/Dronke, Prologue [1977], S. 169–176 erkennen angesichts von Snorris

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war, lässt sich nicht mehr erkennen. Dass dagegen im 12. Jahrhundert eine »säkulare« Ausbildung existierte, die keine oder kaum Berührungsflächen mit der universalen lateineuropäischen Bildung besaß, kann man ausschließen: Eine kurz nach 1200 entstandene Chronik des südisländischen Bistums Skálholt, entstanden unter Bischof Páll, dem Sohn von Snorris Ziehvater Jón Loptsson í Odda, spricht im Prolog unzweideutig vom zu behebenden Desiderat volkssprachlicher Chronistik, mit deren Hilfe gerade nicht Lateinkundige lo˛g, so˛gur und mannfrœði226 (Recht, Geschichte und genealogisches Wissen) lernen könnten. Der große Autor der isländischen und norwegischen Nationalgeschichte stand am Anfang der Entwicklung einer vernakularen norrönen Literatur, und seine Óláfs saga helga und Heimskringla profitierten von ihren ersten synchronem Bildungsnetzwerk (s. Anm. 228) plausible Einflüsse der Viktorinerschule im Prolog der Snorra Edda; vgl. auch Weber, Siðaskipti [1986]; Weber, Intellegere historiam [1987] zu Snorris Harmonisierungen von Heidentum und Christentum aus hochmittelalterlicher Perspektive. Zu Snorris gelehrtem Hintergrund anhand der Edda Clunies Ross, Skáldskparmál [1987], S. 12–15, 151–173, anhand seiner Prologe Sverrir Tómasson, Formálar [1988], S. 217f. Kritisch zur Euhemerismusthese äußerte sich u. a. Beck, Snorri Sturlusons Sicht [1994], S. 36–41, der die Analogien von Snorris Ausgestaltung der Gylfaginning zur christlichen Lehre und Heilsgeschichte hervorhebt. Massiver Widerspruch zu theologisierenden Deutungen kam von von See, Mythos und Theologie [1988], S. 13–30, der wie schon Heusler, Die gelehrte Urgeschichte [1908], S. 88–91 Snorris Autorschaft des von zeitgenössischem Denken durchdrungenen Prologs negiert. Faulkes, The Sources of Skáldskaparmál [1993] äußert auf der Basis einer Analyse von Stil und Attitüde in Snorris Werken gar Zweifel daran, dass er überhaupt eine lateinische Bildung genossen habe. Die ganze Debatte blieb insofern fruchtlos, als immer nur mit Argumenten für und wider die Applizierbarkeit eines bestimmten Denkmodells auf alle Textdetails gestritten wurde. Auch der Begriff des einmal geschaffenen, invariablen Werks wird der Überlieferung der Edda nicht gerecht. Snorri selbst bzw. seine Werkstatt kommen als Interpolatoren des eigenen, früheren Texts durchaus in Frage. Dass die Anforderung kompletter Widerspruchsfreiheit aller Teile eines Texts, wann immer sie entstanden oder hinzukamen, anachronistisch ist und Snorri in der Tat auf der Basis zeitgenössischen, aktuellen theologischen Basiswissens verschiedene Deutungsangebote offeriert, die seinen Interessen – einer Bewahrung des status quo der Isländer, ihrer politischen Rolle und ihrer Expertise in einer weitgehend meritokratischen norwegischen Gesellschaft – entsprechen, zeigen eindrücklich Wanner, Snorri [2008], S. 154–161 und van Nahl, Snorri Sturlusons Mythologie [2012], S. 53–89, 187–203, der ganz aktuelle Bezüge zur Lehre der Analogie von Schöpfer und Schöpfung plausibel machen kann, wie sie auf dem Vierten Laterankonzil 1215 in die Lehre der Kirchen aufgenommen wurde. Letztlich schrieb Snorri keinen theologischen Traktat, doch standen ihm hinreichend Ideen seiner Gegenwart zur Verfügung, um einen auch dem Gelehrten attraktiven Rahmen für die eigentlich wichtigen mythologischen Inhalte zu schaffen. Diese Multifunktionalität, welche gern zur Verleugnung gelehrter Hintergründe durch die moderne Forschung führt, ist typisch für die norröne Literatur des Hochmittelalters (vgl. Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 186–197). 226 Hungrvaka, Kap. 1 (Biskupa sögur II, ed. Ásdís Egilsdóttir [2002], S. 3f.). Allein deshalb laufen die Argumente von Faulkes, The Sources of Skáldskaparmál [1993] gegen Snorris Bildungshintergrund ins Leere (vgl. auch Heizmann, Bildung und Ausbildung [2012], S. 182–196); sie basieren allein auf Beobachtungen von Snorri zugewiesenen Textoberflächen.

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Früchten, der Óláfs saga Tryggvasonar, der Legendarischen Óláfs saga helga, der Morkinskinna und der Orkneyinga saga, die er alle selbst verarbeitete.227 Snorri unterhielt an seinem Hof in Reykjaholt eine Schule, ließ Bücher kompilieren und produzieren und band hierfür auch namentlich bekannte Gelehrte an sich.228 Inwiefern er genau in Prozesse der Textgenese involviert war, bleibt in der norrönen Gegenwartschronistik undeutlich.229 Entscheidend ist aber, dass er als isländischer Magnat in einer gesellschaftlichen Umbruchsphase eine klare politische Haltung einnahm. Sie zielte zunächst auf die Erweiterung seiner persönlichen Macht, und in der Tat wurde Snorri durch geschickte Heirats- und Allianzpolitik vom Sohn eines einflussreichen, aber nicht übermäßig mächtigen Magnaten zum reichsten Isländer überhaupt.230 Hand in Hand mit seinem Machtstreben zielten seine politischen Aktionen darauf, das überkommene gute Verhältnis zwischen isländischen und norwegischen Machthabern, das vor allem seit Sverrir Sigurðarson (1177–1202) ausgezeichnet war, und die Rolle der Isländer hierin, etwa als Hofskalden der Norwegerkönige, zu bewahren.231 Dies brachte ihn mit der Zeit beinahe zwangsläufig in Opposition zu 227 Zu Snorris Quellen oben, S. 331 mit Anm. 174. Die Msk. und möglicherweise auch die O.s. mag Snorri über seinen Neffen Sturla Sighvatsson erhalten haben, der in Grund im Eyjafjörður lebte. Zwar konstatiert die Sturlunga saga, ed. Kålund, Bd. 1, S. 421, Sturla habe bei einem Besuch in Reykjaholt 1230 umgekehrt Bücher aus Snorris Bestand kopieren lassen, doch kann er, wie Msk., übs. Andersson/Gade, S. 68 betont, ebenso Bücher aus Munkaþverá mitgebracht haben, zumal die Hkr. so früh wohl noch nicht existierte. Andersson, The Literary Prehistory [1994]; Andersson, Víga-Glúms saga [2006], S. 35–38 erkennt im Kloster Munkaþverá ein frühes Zentrum vernakularer Literatur, wo wahrscheinlich neben der Msk. auch früh um 1220 die Reykdœla saga, die Víga-Glúms saga und die gegenwartschronistische Guðmundar saga dýra über die größte Fehde in Island gegen Ende des 12. Jhs. entstanden. Die O.s., älter als die Msk., aber allein in einer Überarbeitung aus Snorris Umfeld erhalten (O.s., ed. Finnbogi Guðmundsson, S. V–XIVf.), zählt er nicht hierzu; die mögliche Rückbindung des Textes an diese Sphäre wird unten, S. 653ff., näher besprochen. 228 Bekannt sind der Bischof Guðmundr Arason von Hólar, den Snorri als Kirchenreformer wohl aus politischen Gründen unterstützte, weiterhin die Priester Þórarinn Vandráðsson als Verwalter und den im Benediktinerkloster Þingeyrar ausgebildeten Styrmir Kárason sowie die mit Snorri verwandten Diakone Vermundr Bárðason und Sturla Bárðason; sie alle waren als Angehörige der isländischen Oberschicht mit den politischen Vorgängen eng verknüpft und bildeten das Rückgrat der gelehrten Aktivitäten in Reykjaholt (Helgi Þorláksson, Reykholt som lærdomssenter [2006], S. 13–17). Augenscheinlich unterstützte Snorri die Augustiner auf Island, deren erstes Kloster Þykkvibær im Süden 1168 vom Heiligen Bischof Þórlakr Þórhallsson gegründet worden war: Snorri und Þorvaldr Gizurarson gründen 1225/26 das Augustinerkloster Viðey, dessen erster Prior Þorvaldr wurde, gefolgt von Styrmir. Zur Prosopographie und dem Netzwerk dahinter s. Helgi Þorláksson, Snorri Sturluson [2006]. 229 Sturlunga saga, ed. Kålund, Bd. 1, S. 421. Vgl. Kolbrún Haraldsdóttir, Der Historiker Snorri [1998], S. 106–108. 230 Nordal, Snorri Sturluson [1920], S. 66–74; Óskar Guðmundsson, Snorri [2009], S. 95–149, 330–338. 231 Diese Rollenverteilung prägt neben den þættir in der Msk. auch und gerade das Subgenre der

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Hákon IV. Hákonarson (1217–1263), der sich ganz gezielt an Frankreich als Vorbild für seine Herrschaft orientierte, die Herrschaftsform mit einem Erbkönigtum an westeuropäischen Formen ausrichtete und auch eine Öffnung zur höfischen Kultur Frankreichs in seinem Umfeld forcierte:232 Für 1226 ist erstmals die Übertragung eines französischen Versromans in norröne Prosa im Auftrage Hákons durch einen Mönch in Norwegen dokumentiert.233 Die Expertise isländischer Eliten in Sachen skaldischer und eddischer Dichtung brauchte es hierfür nicht. Snorri hatte sich von 1218 bis 1220 in Norwegen aufgehalten und war in ein Vasallenverhältnis zum damals noch minderjährigen Hákon und dem Jarl Skúli Bárðason getreten, der die Regentschaft führte. Im später entstehenden Machtkampf zwischen Hákon und Skúli ergriff Snorri Partei für den Jarl, zu dem er bei seinem zweiten Norwegenaufenthalt von 1237 bis 1239 eine enge Beziehung pflegte,234 welche sich noch nicht im Háttatal, einem Modellgedicht in der Edda auf Hákon und Skúli gleichermaßen, aber in der Heimskringla und einer lausavísa auf Skúli von 1238 äußert.235 Als Skúli, in einem früheren Vergleich mit Hákon zum ersten hertogi in Norwegen ernannt, 1239 einen Krieg gegen Hákon begann, hatte Snorri gegen dessen Verbot den König verlassen, was ihn letztlich sein Leben kosten sollte.236 Seine gesamte literarische Aktivität ist in diesem Kontext zu sehen: So dient die Snorra Edda als Skaldenlehrbuch nicht nur der Bewahrung von durch gesellschaftlichen Wandel bedrohtem Wissen, quasi als Zeitkapsel eines »nordischen Altertums« für spätere Generationen, sondern stellt in seiner Gegenwart vielmehr ein Manifest norrönen kulturellen Kapitals dar, welches Snorri in politisches Kapital umzuwandeln suchte.237 Sein essentialistisches Konzept einer »nordischen Sonderkultur« sowohl in der Edda als auch der

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»Skaldensagas« (Lindow, Skald Sagas in their Context [2001]); der Diskurs hierüber betrifft also nicht allein die Hkr. Vgl. Barnes, The ›Discourse of Counsel‹ [2007], S. 379–392; Kjær, La réception scandinave [1996], S. 57–59. Tristrams saga, ed. Kölbing [1878], S. 5. Óskar Guðmundsson, Snorri [2009], S. 413–421. Klingenberg, Hommage für Skúli [1998], S. 79–94; vgl. auch Klingenberg, Das Herrscherprotrait in Heimskringla 1993 [1993], S. 136f. Skúli wirkt, entsprechend den Darstellungen großer Herrscher in der Heimskringla, auch äußerlich größer und ho˛fðingligra als die Könige der Sverrir-Linie. Hinzu tritt, dass Snorri den von Sverrir verdrängten König Magnús und seinen Vater Erlingr besonders positiv schildert; Magnús Erlingsson besaß aber genau wie Skúli den Mangel, nur über die weibliche Linie von einem König abzustammen. Sturlunga saga, ed. Kålund, Bd. 1, S. 552f. Wanner, Snorri [2008], S. 154–161; Klingenberg, Hommage für Skúli [1998], S. 94 f.; Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære [1993], S. 101–110. Zum hier unterlegten Begriff des kulturellen Kapitals und seiner Umwandlung Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1997], S. 59–75.

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Heimskringla,238 die Veränderungprozessen unter der Sverrir-Dynastie, besonders aber am Hofe Hákons entgegengehalten wird, welche die isländisch-norwegische Rollenverteilung, die Bedeutung der Magnaten als Teilhaber konsensualer Herrschaft und die Machtposition von Isländern wie Snorri gefährden,239 kommt in der Heimskringla auf mehreren Ebenen zum Tragen. Dies macht sie, verborgen hinter der objektiv wirkenden Textoberfläche mit einem ganz zurückgenommenen Erzähler,240 zu einem zutiefst propagandistischen Werk: Einerseits schildert Snorri die norröne Welt der Vergangenheit als eine ganz und gar meritokratische Oligarchengesellschaft, in welcher die politischen Handlungen der Akteure, auf die er sehr stark focussiert, und das Recht eine absolut dominierende Rolle spielen. Das führt zu einer bemerkenswerten Reduktion heilsgeschichtlicher, typologischer, hagiographischer und überhaupt theoretischer, normativer Überlegungen zu Gunsten von personaler Interaktion. Die Handlungen der Akteure, ihr Erfolg oder Misserfolg, sind nicht nur Ausdruck der hinter ihnen stehenden Norm, sondern gleichsam selbst die Norm.241

238 Den Begriff prägte von See, Snorris Konzeption [1993], S. 141–158. Der Beobachtung, dass Snorri gezielt und bewusst alles »Christlich-Theologische« eliminiere, ist nachdrücklich zuzustimmen, allerdings mit der Modifikation, dass diese Tilgungstätigkeit sich kategorial eher auf »Fremdes« bezieht, womit generell offensichtlich gelehrte, z. B. typologische Deutungsschemata, ein kommentierender Gebrauch des Erzählers oder fremde Erzählmotive gemeint sind. Von See wehrt sich hier gegen theologisierende Interpretationen von Snorra Edda und Hkr. und spitzt daher (zu) sehr auf »Theologisches« im weitesten Sinne zu. Vgl. auch oben, Anm. 225. 239 Hierzu Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], S. 280–286; Wanner, Snorri [2008] (wie Anm. 237); von See, Snorris Konzeption [1993], S. 161–172; van Nahl, Snorri Sturlusons Mythologie [2012], S. 200–203. 240 Vgl. zu Snorris Stil Lie, Studier i Heimskringlas stil [1937], bes. S. 36–52; Whaley, Heimskringla [1991], S. 83–102; Boje Mortensen, Litterær teknik [2010], S. 119–128. Zur kulturellen Bedeutung des »Sagastils« für die Isländer im 13. Jh. Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære [1993], S. 73–78. 241 Vgl. die ausführliche und präzise Analyse politischer Interaktionen in der Heimkringla und des daraus entstehenden Bildes bei Bagge, Society and Politics [1991], bes. S. 109f., 156–158, 201– 208, 241–251. So wertvoll die Erkenntnisse aus der Strukturanalyse sind, betreffen doch erhebliche Zweifel die kulturelle Kontexteinbettung der Ergebnisse. Snorri erscheint als pragmatischer, auf narrative Kohärenz bedachter, säkular-anthropozentrischer, ideologiefrei beobachtender und kausal erklärender, spätere Generationen im Spiel der Politik anleitender Historiker, ganz im Gegensatz zu seinen kontinentalen Zeitgenossen, der so die Lebenswelt einer besonders laikal geprägten Gesellschaft spiegele. Dabei habe er seine Vorlagen lediglich in dieser Richtung geschärft, aber nicht eigentlich qualitativ verändert, so dass er als Kronzeuge für die historiographische norröne Literatur tauge (ebd., 232–237; vgl. auch Bagge, Icelandic Uniqueness [1997]). Was den Stil und die kausale Motivation von Aktionen betrifft, sei dies nicht verneint, doch zeigt sich gerade im Verhältnis zur Morkinskinna, aber auch zu anderen Texten, eine mitunter radikale und sehr zielgerichtete Veränderung der Vorlage (vgl. Nordal, Sagalitteraturen [1953], S. 220f.). Der Eindruck der »Ideologiefreiheit« und quasi ethnologischen »teilnehmenden Beschreibung« ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gewollt und selbst Ideologie, der ein anthropologischer Zugang nur allzu leicht aufsitzt. Ideologie

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Die geschichtliche Welt der Heimskringla ist insofern als ein großer und voll und ganz bewusster Gegenentwurf zu mittel- und westeuropäischen Gesellschaftskonzepten von Eliten zu verstehen, die man klassischerweise unter dem Schlagwort »Feudalismus« fassen würde und die sich begrifflich weniger problematisch mit der Etablierung vertikaler Herrschaftsstrukturen unter dem gesalbten und gekrönten König umschreiben ließe.242 Solche Strukturen gefährdeten das isländische, seinem Wesen nach akephale Gemeinwesen, das sich zudem durch die Bündelung lokaler Macht in der Hand einiger weniger Großer, die wiederum selbst »feudal« und territorial zu herrschen begannen, zu Snorris Zeit in der Krise befand.243 Seit dem frühen 13. Jahrhundert bespiegeln die Íslendingasögur, angesiedelt in der fernen Vergangenheit, genau diese Krise der isländischen Gesellschaft mit einer »guten alten Zeit«, ihren Formen der

drückt sich eben nicht nur durch Explikation, sondern in Sagas auch und gerade durch die Aktion der Figuren aus (vgl. von See, Rezension zu Sverre Bagge [1994]). Zuverlässige Informationen liefern so gesehen nicht exzeptionelle Höhenkämme wie Snorri, sondern allein die Masse der Literatur, und diese ist der kontinentalen viel ähnlicher, als die gewollt andersartige Hkr. suggeriert. 242 Die einflussreiche These von Koht, Sagaenes opfatning [1921], Snorri spiegele den Kampf der Aristokratie gegen das Königtum, sei hiermit nicht wiederbelebt; vgl. vielmehr die Analyse solcher Veränderungen im zeitgenössischen Dänemark bei Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 246–258. Unverkennbar ist aber, dass Snorris Bild einer meritokratischen Welt (vgl. die vorige Anm.) ebenso wie die Handlungsmuster der Íslendingasögur dem Bild von politischer Interaktion und ihrer Bewertung in der gegenwartschronistischen Sturlunga saga nicht entsprechen: Vgl. die Ergebnisse zur komplexen, gewaltsame Konflikte und ihre Urheber negativ bewertenden Gegenwartschronistik von Ármann Jakobsson, Sannyrði sverða [1994] und Nordal, Ethics and Action [1998], S. 220–227; schon Heusler, Zum isländischen Fehdewesen [1912] machte auf Differenzen zwischen Íslendingasögur und Sturlunga saga bei der Konfliktbewältigung aufmerksam; vgl. auch Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære [1993], S. 328–332. Jene Erkenntnisse stehen in frappantem Gegensatz zu einer einfachen anthropologischen Lesart von Geschichtsfiktion in den Íslendingasögur als simples Abbild der Interaktionsmuster in der Gegenwart wie etwa bei Miller, Bloodtaking and Peacemaking [1990], bes. S. 43–76, 297–308; vgl. dagegen die sehr präzis zwischen Konstitutionsbedingungen von Literatur und der in ihr fiktional verhandelten Verhaltensmuster distinguierende Studie von Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære [1993], bes. S. 312–332. Auch steht eine einfach anthropologische Lesart den erkennbaren Veränderungen unter Hákon IV., der Snorri töten ließ, diametral gegenüber. Snorris scheinbar so pragmatische Beobachtung gehört einer vergehenden und eigentlich schon vergangenen Welt an – falls diese jemals so aussah, wie die Hkr. dem Leser weismachen will. Auch ihre Ideologie ist von Erinnerung getragen, die Darstellungsweise durch diese Erinnerung gebrochen. 243 Vgl. Jón Viðar Sigurðsson, Frá goðorðum til ríkja [1989], S. 55–65 bzw. Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains and Power [1999], S. 11–14, 207–211; Hastrup, Island of Anthropology [1990], S. 29–66. Zum zeitgenössischen, politischen Hintergrund der »klassischen« Sagaliteratur und der in ihr entworfenen Bilder sowohl von persönlichen Eigenschaften als auch sozialen Strukturen zuletzt Hiltmann, Vom isländischen Mann [2009], S. 437–440, 467– 471.

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Machtteilhabe, Konfliktlösung und Herstellung eines fragilen Gleichgewichts,244 ebenso wie die Konungasögur auch das Verhältnis zu den Norwegerkönigen mit verschiedenen ideologischen Absichten behandeln, dies aber nach dem Verlust der Unabhängigkeit nicht mehr tun.245 Gefährdet war diese »Sonderkultur« also auch durch Magnaten wie Snorri selbst, der sich, glaubt man der gegenwartschronistischen, ihm nicht unbedingt freundlich gesinnten Sturlunga saga, keineswegs konform zu dem von ihm selbst in der Heimskringla entworfenen Muster verhielt, sondern einen durchaus kontinentalen Lebenswandel mit entsprechendem aristokratischem Standesbewusstsein und Machthunger an den Tag legte.246 Letztlich führte das Verhalten der Magnaten seiner eigenen Generation zur lehnrechtlichen Bindung der Akteure an Hákon IV. und schließlich zur Inkorporierung Islands in das norwegische Reich mit dem Verlust des »Freistaates« (eigentlich þjóðveldi, »Volksherrschaft«), dessen zentrales Merkmal die Abwesenheit jedweder Staatlichkeit war.247 Snorris historiographische Agenda indes lässt die Heimskringla »modern« wirken. Dies erklärt, warum sie bei Historikern wie Philologen immer wieder ein starkes Ähnlichkeitsbegehren weckte, für ein zuverlässiges kulturgeschichtliches Zeugnis mündlicher Traditionen gehalten wurde und eigentlich gegen die Masse der umgebenden norrönen Literatur zum einzig gültigen Maßstab für »klassische« Konungasögur und ihre »autochthonen« Geschichtskonzeptionen in scharfer gattungsbezogener und auch zeitlicher Abgrenzung von »fremden«, höfischen Riddarasögur oder Hagiographie avancieren konnte.248 Genau dies aber ist das intendierte Resultat der von Snorri beziehungsweise seiner Schreibwerkstatt in Reykjaholt geleisteten Textsäuberung, die sich hier im Entfernen von Elementen höfischer Literatur äußert, aber auch andernorts im Umgang mit Kreuzfahrer- beziehungsweise Byzanznarrationen ausdrückt: Besonders deutlich wird dies bei seiner Bearbeitung eines Abschnitts, in welchem der Kreuzfahrer Sigurðr Jórsalafri und sein daheim gebliebener Bruder Eysteinn ihre Fähigkeiten als Männer und Herrscher vergleichen.249 Während die Morkinskinna

244 Zu den Mechanismen vgl. Andersson, The Icelandic Family Saga [1967], bes. S. 3–30; Byock, Feud [1982], bes. S. 24–46, 205–208; Hiltmann (wie vorige Anm.). 245 Hierzu ausführlich Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], vgl. bes. S. 280–286, 300– 303. 246 Vgl. Óskar Guðmundsson, Snorri [2009], S. 233–246; Nordal, Snorri Sturluson [1920], S. 71– 81. 247 Jón Jóhannesson, Íslendinga saga 1 [1956], S. 72–109; Gunnar Karlsson, Inngangur að miðöldum [2007], S. 53–55. 248 Vgl. etwa Einar Ólafur Sveinsson, Age of the Sturlungs [1953], S. 38–42; Vries, Altnordische Literaturgeschichte, 2. Aufl. [1964], Bd. 2, S. 293–295; Schier, Sagaliteratur [1970], S. 15; Whaley, Heimskringla [1991], S. 83; Kersken, Geschichtsschreibung [1995], S. 414f., 429– 434. 249 NI 147.

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relativ rasch zu einer herrschaftstheoretischen Replik über den Sinn und Unsinn von kostspieligen Pilgerreisen sowie die Pflichten eines Herrscher im Lande kommt, in welcher sie den König Eysteinn über die Pflichten des Königs innerhalb des Landes monologisieren und das letzte Wort behalten lässt,250 streicht Snorri alle rhetorisch kunstvollen, formelhaft wirkenden Aspekte der direkten Rede, weil sie den Eindruck von Oralität stören.251 Auch die herrschaftstheoretischen Überlegungen fallen komplett unter den Tisch, wohingegen der Vergleich der körperlichen Fähigkeiten und der Taten mehr Raum erhält. Das Beispiel illustriert, dass Snorri, wenn er die Morkinskinna benutzt, nichts hinzufügt, sondern die Vorlage ändert und ganz gezielt Spuren des Kulturtransfers beziehungsweise der Aneignung »fremder« Ideen, Erzählmotive, Diskursformen und Sozialnormen – abgesehen von allgemeinen christlichen Vorstellungen – beseitigt, was eine umfassende Bildung und ein Verständnis des »Fremden« voraussetzt, das natürlich keineswegs fremd, sondern längst ein untrennbarer Teil der lokalen Kultur geworden war. Man kann nur tilgen, was man kennt und versteht, und das Resultat ist eine Schimäre. Nichtsdestoweniger basiert auf dieser Vorgehensweise der Eindruck von »Genuinität« und Autarkie der »klassischen« norrönen Literatur allgemein und der Heimskringla im Besonderen, welcher, textgenetisch betrachtet, ein Beweis für das genaue Gegenteil ist. Die hermetische Abdichtung der nordischen Vergangenheit gegen fremde »Einflüsse«, welche eine starke Betonung von kulturellen Kontinuitäten und Analogien über den Einschnitt der Christianisierung hinweg bedingt,252 kennzeichnet den Versuch, eine im 12. Jahrhundert in vielen Kulturbereichen verschwundene Kulturgrenze aufrechtzuerhalten und gerade im Bewusstsein der isländischen und norwegischen funktionalen Eliten zu schärfen. Die Opposition 250 Damit nimmt die Msk. Stellung gegen die Praxis der Herrschaftsverfestigung durch Aggression nach außen (Andersson, The Politics of Snorri [1994], S. 69–71; Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], S. 194f.), ein in der Heimskringla blindes Motiv. Die Kritik der Msk., geäußert durch Eysteinn, findet sich sich wiederum in der O.s. (Foote, Observations on Orkneyinga saga [1988]). 251 Zu den ästhetischen Implikationen vgl. Boje Mortensen, Litterær teknik [2010], S. 118–128. 252 Besonders deutlich wird dies in der Zeit des Übergangs zwischen Heidentum und Christentum, etwa in der Geschichte des christlichen Herrschers Hákon inn góði, der um des Konsenses Willen zum Apostaten wird (Hkr. Bd. 1, S. 169–193). Die Auflösung einer scharfen Bruchlinie zwischen Heidentum und Christentum bei Snorri betont v. a. von See, Mythos und Theologie [1988], S. 121–136; von See, Snorris Konzeption [1993], womit Snorri aber nur eine bereits seit der Íslendingabók bestehende Tradition in der norrönen Geschichtsschreibung (vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 133–144) auf seine Weise schärft. Hier sei typologisch-historiographisches Denken bei Snorri, wie es etwa Weber, Siðaskipti [1986] und van Nahl, Snorri Sturlusons Mythologie [2012], S. 53–89, 187–203 erkennen, keineswegs in Abrede gestellt (vgl. auch oben, S. 340 mit Anm. 225), sondern lediglich die Kommunikationsabsicht des Textes betont.

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zu den Veränderungen um Hákons Hof und auch zur Amalgamierung höfischer Literatur mit norröner Tradition ist unverkennbar. Dadurch wird die Heimskringla keineswegs in jeder Hinsicht zum Gegensatz der Morkinskinna; auch ihr ist um das Verhältnis zwischen isländischen Magnaten und norwegischen Königen zu tun, wie ja die zahlreichen und nur hier begegnenden þættir genau über dieses Thema belegen, und auch sie beschreibt, wie alle Konungasögur, politische Interaktion.253 Der feine, für eine synchrone Auswertung so bedeutende Unterschied jedoch bleibt die Tatsache, dass die Morkinskinna dem König eine bedeutendere Position einräumt,254 dass sie aktuelle höfische Sitten und Umgangsformen darstellt, dass sie klassische Königstugenden der mildi (clementia), gleði (hilaritas), lítillæti (humilitas) sowie styrkr (fortitudo), speki (sapientia) und málsnilld (eloquentia), die Tätigkeit der Friedenssicherung und der Erzeugung von Frohsinn am Hof (hirðgleði) durch Konsens, Ausgleich und Freigiebigkeit positiver und vor allem ausführlicher darstellt. Hierin ist sie sich mit der von der Forschung gleichfalls weniger beachteten Lex Castrensis des Dänen Svend Aggesen einig.255 Harte Herrscher mit einseitigen Tugenden wie Haraldr erhalten zwar großes Interesse und verleihen der Geschichte Würze, doch gilt ähnlich wie in der Orkneyinga saga das eigentliche Lob konsensual herrschenden Königen.256 Soziale Wettkämpfe, der mannjafnaðr, zeigen bei Eysteinn und Sigurðr Jórsalafari viel stärker eine verbal-argumentative als eine körperliche Komponente; ein Vergleich mit der gelehrten, bisweilen scholastischen Argumentation

253 Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], S. 288–290; Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 223–232. Lindow, Skald Sagas in their Context [2001] verdeutlicht, dass die þættir gewissermaßen die historiographischen Nachbarn der »Skaldensagas« darstellen, da Skalden grundsätzlich einen königlichen Patron benötigen. 254 Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 189 erkennt hier eine von der Hkr. abweichende politische Haltung zur aktuellen Samtherrschaft Hákons und Skúlis. Die Msk. kenne nur einen König unter Gottes Gnade. 255 Zur Msk. Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 191–218; Msk., S. LXIVf. und Bd. 2, S. Xf. Zu Königstugenden allgemein Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], S. 191–239; Goetz, Selbstdisziplin als Herrschertugend [2007], S. 347–351; Staubach, Königtum III [1990], S. 335–340. Zu ergänzen wäre zu obiger Liste die temperantia; gerade der Mangel hieran führt aber regelmäßig ins Desaster, so etwa bei Haraldr Sigurðarsons Versuch, England zu erobern, entgegen dem Rat seiner Leute und der Vernunft (Msk. Bd. 1, Kap. 53f., S. 299–323). Bemerkenswert erscheint, dass die Lex Castrensis von Svend Aggesen aus den 1180er-Jahren die gleichen Königstugenden fordert und insbesondere die hilaritas betont (Kap. 6, S. 74; vgl. zum Bild des Hofes bei Svend Aggesen Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 102–104). Zur synchronen Verbreitung höfischer Elemente anhand einer Analyse von Bildquellen vgl. Bengtsson, Hövisk kultur [2006]. 256 Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 165–169; speziell zur Person Haralds Ármann Jakobsson, The Individual [2000], S. 81–86; vgl. auch Andersson, The Politics of Snorri [1994], S. 58–66; zur Orkneyinga saga und dem adäquaten Bild der Jarle dort vgl. Foote, Observations on Orkneyinga saga [1988].

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des Königs Sverrir in seinen Reden, welche ihm die Sverris saga in den Mund legt, drängt sich auf.257 Auch tritt der homo interior der Figuren, emotionale Bindungen etwa zwischen König und Gefolgsmann, stärker hervor, genauso wie die Frage nach dem Seelenheil der Akteure.258 Der ewige Agon scheint hier zumindest normativ im Sinne der hochmittelalterlichen Zivilisation gedämpft. Die Morkinskinna zeigt die Verwerfungen einer komplexen isländisch-norwegischen Gesellschaft, spiegelt aber zugleich die längst geschehene Emergenz einer neuen Gesellschaftsordnung. Ferner, das zeigt sich gerade beim Norðbrikts þáttr, aber auch später bei König Sigurðs Kreuzzug deutlich, interessiert sich die Morkinskinna viel stärker für die Handlungen und das Prestige der Könige und ihrer Magnaten im Ausland, gerade auch in Byzanz. Damit bildet sie unter den drei Kompendien eine Ausnahme,259 ähnelt aber wiederum stark der Orkneyinga saga, die den Kreuzzug des Heiligen Jarls Ro˛gnvaldr sehr ausführlich behandelt.260 Hiermit verbindet sich, wie noch zu zeigen sein wird, eine bestimmte politische Gruppierung und ihre Haltung im nordatlantischen Machtgefüge. Die Vorliebe für Inszenierungen von Norðmenn in Outremer und Byzanz macht die beiden frühen Kompendien nicht nur in ihrem Herrscherbild, sondern auch diesbezüglich zu Geschwistern. Sie schlagen so eine Brücke zwischen Vergangenheit und von höfischer Kultur und Kreuzzugsdenken durchsetzter Gegenwart.261 Genau dieser Überbrückung verweigert sich die Heimskringla. Kulturgeschichtlich betrachtet stellt sie aufgrund der hochspezifischen Einbindung ihres Autors in die Geschehnisse in Norwegen und Island daher einen Sonderfall dar, was das Gewicht ihrer älteren Vorlage, der Morkinskinna, in Bezug auf skandinavische Byzanzbilder stark erhöht. Dies gilt auch aus quellenkritischer Perspektive. Hier stellt die größere Transparenz der Morkinskinna bezüglich ihrer verschiedenen Quellen optimistische Annahmen über den Aussagewert der Heimskringla zur Ereignisgeschichte, die ja für die Zeit nach Óláfr inn helgi nahezu komplett von der Morkinskinna abhängig ist, mehr als nachdrücklich in Frage. Letzterer und der Konstitution ihrer Nachrichten, ihrem literarischen und politischen Hintergrund gilt unter den Kompendien folglich die Hauptaufmerksamkeit. 257 Vgl. Loescher, Religiöse Rhetorik [1984]; Löbner, Reden und Träume [1992], S. 102–140; Ármann Jakobsson, Í leit að konungi [1997], bes. S. 270; Charpentier Ljungqvist, Kristen kungaidealogi [2006]. 258 Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 167–169. Hierin zeigt sich wiederum eine Parallele zu monastischen Konzepten in der Sverris saga (Scheel, Lateineuropa [2012], S. 192–194). 259 Msk. Bd. 2, S. XXXVf. 260 NI 45-NI 60. Dies betont auch Damico, The Voyage to Byzantium [1996], S. 60. 261 Das Menschen- und Gesellschaftsbild der Msk. behandelt ausführlich Ármann Jakobsson, Staður í nýjum heimi [2002], S. 109–159, 191–251; Msk. Bd. 2, S. XIX–XLVIII. Auf seinen Erkenntnissen beruht die obige Schilderung.

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Haraldr inn harðráði, Kulturtransfer im 11. Jahrhundert und die Historiographie

So wenig Verlässliches die hochmittelalterliche skandinavische Historiographie über Ereignisse des 11. Jahrhunderts auch auszusagen hat, ist die Tatsache doch unverkennbar, dass mit Haraldr ein Magnat, der bald ein Jahrzehnt in Byzanz gelebt hatte und dort sozial aufgestiegen war, später über zwanzig Jahre lang König in Norwegen war. Es scheint nur folgerichtig, wenn die Forschung davon ausging, dass der vorangehende Aufenthalt in der Fremde Konsequenzen für Haralds Herrschaftspraxis, das kulturelle Umfeld seines Hofs auch in materieller Hinsicht und sein Verhältnis zur romzentrierten Kirche Lateineuropas hatte. Das Gold der Menia Zwar berichten die Sagas nichts hierüber, doch begegnen an einigen Stellen Transferprozesse, die sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mit Haralds Rückkehr in Verbindung bringen lassen. So konnte Wolfram Brandes eindrucksvoll zeigen, dass die Riesenschwestern Menia und Fenia im eddischen Grottaso˛ngr262 sowie seiner Wiedergabe in der Snorra Edda auffällige Ähnlichkeiten zu Menia aufweisen, einer mit dem Riesen Tauros, einem Nachkommen des Nimrod verheirateten, Gold schaffenden mythischen Gründerin des Ortes Tauromenion (Taormina) auf Sizilien. Ihre Geschichte ist in der wohl im 7. Jahrhundert entstandenen Vita des Heiligen Pankratios von Tauromenion überliefert.263 Eine Aneignung des Namens Menia auf dem Sizilienfeldzug der Jahre 1038 bis 1040, etwa im Rahmen eines Festgottesdienstes, und seine spätere Integration in die Sage von der Mühle des mythischen Dänenkönigs Fróði, deren Kenntnis schon in älteren Skaldenstrophen bezeugt ist, scheint sehr wahrscheinlich, zumal das byzantinische Heer durch Taormina gezogen sein muss. Obwohl die Vita in Konstantinopel ebenfalls bekannt war, theoretisch also auch andere Rezeptionsszenarien, -zeiten und -wege etwa über die Normannen denkbar sind, drängt sich ein Bezug zur offensichtlichen Koinzidenz einer Anwesenheit am Ort der Vita auf. Eine spätere Integration in die eddische Dichtung aufgrund einer gehörten mythologischen Geschichte bietet sich daher als plausibelste Erklärung an, da man hier reale Begegnungsszenarien erblicken und aufgrund des Verlusts der byzantinischen Kontrolle über die Insel die Zeit der wahrscheinlichen Realbegegnungen stark eingrenzen kann. 262 Edda, ed. Neckel/Kuhn [1962], S. 297–301; von See/La Farge u. a., Kommentar zur Edda 3 [2000], S. 837–964; das Lied ist nicht im Codex regius der Liederedda überliefert, sondern im Codex regius und Codex Traiectinus der Snorra Edda und ist zudem im Prosatext der Skáldskaparmál selbst paraphrasiert. Vgl. zu Menia außerdem Schulz, Riesen [2002], S. 69f. 263 Brandes, Das Gold der Menia [2005], S. 188–196, 217–226.

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Münzen Aus Haralds Schatz ist leider nichts erhalten; zwar spricht die Morkinskinna von einigen Kostbarkeiten, die Haraldr an norwegische Getreue verschenkte, etwa an Steigar-Þórir, den Mann, der sich traute, ihn im Gudbrandsdalen zum König auszurufen.264 Die silber- und goldbeschlagene Wurzelholzschale und der purpurfarbene Mantel werden deshalb erwähnt, weil sie noch zu Zeiten der Textgenese im Besitz von Leuten waren, welche ihre Geschichte kannten. Bemerkenswert ist allerdings, dass keine oder kaum Münzen aus seinem Schatz auf uns gekommen sind, und dass die wenigen in Norwegen geprägten Münzen kaum einen Bezug zu Byzanz aufweisen.265

Abb. 5: Silberpfennig aus der Zeit des samkongedømme von Haraldr Sigurðarson inn harðráði und Magnús Óláfsson (um 1047), aus: Schive, Norges Mynter i Middelalderen [1865], Tab. 2.

In Horten, ganz überwiegend auf Gotland gefunden, stammen die jüngsten byzantinischen Münzen, nahezu ausschließlich aus Silber, ganz überwiegend von Basileios II. und Konstantinos VIII., was angesichts unserer Ergebnisse zum Status der Skandinavier in Byzanz und der Asynchronität zu den Griechenlandfahrersteinen aus dem 11. Jahrhundert ziemlich eindeutig auf eine Herkunft aus dem Handel hinweist, der indes niemals auch nur ansatzweise zu einem Silberstrom führte, der sich mit dem früheren aus dem Samanidenemirat messen

264 NI 127. 265 Nur eine Münze Haralds mit Magnús inn góði, geprägt in Odense 1045–1047, zeigt einen vagen byzantinischen Einfluss in Form einer Frontalbüste des Herrschers mit pendilienartigen Anhängern an der Krone; mglw. handelt es sich hier um die Nachahmung eines Tetarteron Romanos’ III. (Skaare, Heimkehr eines Warägers [1965], S. 108–111; Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 132); das Herrscherbild wird später in Århus und Hedeby rezipiert. Skaare betont, dass die frühe Münzprägung Haralds nicht sehr ausgeprägt gewesen sein kann; weiterhin Morrisson, Le rôle des varanges [1981], S. 137 und Skaare, Norges mynthistorie [1995], S. 45–51. Generell sind Haralds Münzen stark von englischen Vorbildern beeinflusst, und es finden sich auch englische Münzmeister (Skaare, Heimkehr eines Warägers [1965], S. 101–105). Vgl. Abb. 5 bzw. Schive, Norges Mynter i Middelalderen [1865], Tab. 2.

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Byzanz im Norden: Historiographisch-politische Zugänge

konnte.266 Der ausgesprochen dünne Fluss an byzantinischen Münzen in den Norden, auch durch den Zustand der Münzen gekennzeichnet, die außerhalb Gotlands und Bornholms überwiegend als Anhänger getragen und nicht geritzt oder als Hacksilber fragmentiert, also besonders wertgeschätzt und nicht zum Handeln genutzt wurden,267 endet deutlich vor Haralds Exil. Auch die Nachahmungen solcher byzantinischen Münzen am Ende des 10. Jahrhunderts unter dem Schwedenkönig Olof Skötkonung, die neben Imitationen angelsächsischer Vorbilder stehen, im Gegensatz zu den Originalen ganz überwiegend zum Handel gebraucht wurden und daher ein Zeichen auch für den symbolischen Wertgehalt der Bildprogramme darstellen, beziehen sich auf solche frühen Exemplare (Abb. 6 und 7).268

Abb. 6: Miliaresion von Basileios II./Konstantinos VIII. (977–989), aus: Audy, How were Byzantine Coins Used? Umzeichnung der Inschrift aus Malmer, Imitations of Miliaresia [1981], S. 10, Nr. 5/6.

Der Hort von Ocksarve auf Gotland dagegen enthält Münzen vor allem von Konstantinos IX., im Gegensatz zu älteren Münzen praktisch ohne Gebrauchs266 Piltz, Varangian Companies [1998], S. 92–97; Hammarberg/Malmer/Zachrisson, Byzantine Coins [1989], S. 14f. Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck], der insgesamt 660 im Norden gefundene byzantinische Silbermünzen zählt, verdeutlicht, dass unter Exklusion des Horts von Ocksarve/Gotland (Anm. 267) über 95 % der byzantinischen Münzen aus dem Zeitraum zwischen 945 und 989 stammen – vor der Etablierung der Herrschaftskonstellation unter Vladimir dem Heiligen und der Segmentierung des östlichen Handelswegs. Jankowiak, Byzantine Coins [im Druck] betont, dass Silber aus dem Harz im 10. Jh. die Rolle des arabischen Silbers übernimmt. 267 Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck]. 268 Malmer, Imitations of Miliaresia [1981], S. 9–18; Malmer, The Byzantine Empire [1981], S. 126; sie zählt ca. 40 solcher Nachahmungen. Vgl. etwa eine Nachahmung aus Sigtuna um 1000, die auf ein weit verbreitetes Miliaresion Basileios’ II. zurückgeht (Abb. 6 und 7). Eine entsprechende Nachahmungspraxis findet sich bei den in viel größerem Maße in den Norden gekommenen Dirhemen nicht. Zwar begegnen in den Horten zahlreiche Imitationen, doch scheinen diese nicht lokal entstanden, sondern mit den anderen importiert worden zu sein (vgl. Rispling, List of Coin Finds [2001]).

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Abb. 7: Imitation des Vorbilds in Abb. 6, gefunden in Mickels/När, Gotland, aus: Malmer, Imitations of Miliaresia [1981], S. 34, Nr. 22/23. Umzeichnung der Inschrift ebenda S. 12, Nr. 22/ 23.

spuren, die mit Haraldr in den Norden gekommen sein konnten. Nur zwei von ihnen finden sich andernorts.269 Viel wichtiger als die Silbermünzen aus Ocksarve jedoch ist paradoxerweise ein Befund aus der dänischen Münze in Lund: Hier entstand in den frühen Herrschaftsjahren Svend Estridsens ein Silberdenar, der eine ikonographisch verblüffend exakte, maßstäblich verkleinernde Reproduktion eines Goldhistamenon Michaels IV. von etwa 1041 und seines extrem ungewöhnlichen Bildprogramms darstellt.270 Auf dem Avers ist ein auf einem Thron ohne Rückenlehne sitzender Christus mit zum Segen erhobener rechter Hand und der Schrift in der Linken abgebildet, die umlaufende Inschrift lautet +IhSXISREX REGNANTIUM+. Auf dem Revers findet sich der Erzengel Michael, der dem Basileus ein Labarum überreicht, mit der umlaufenden Inschrift +mΙΧΑΗL ΔΕSΠΟΤ. Die Wiedergabe des Bildprogramms ist bis hin zu Details von Thron und Faltenwurf der Gewänder exakt, lediglich die benedictio graeca des thronenden Christus, die an den Münzrand stößt, ist nicht eindeutig wiedergegeben, und der Vollbart bei Christus und dem Herrscher ist durch ein glattrasiertes Kinn und den üblichen langen Schnurrbart

269 Der Hort enthält über 600 Silbermünzen, darunter 104 byzantinische, von denen ganze 98 von Konstantinos IX. stammen (Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 129f.; Audy, How were Byzantine Coins used? [im Druck]). 270 S. Abb. 8 und 9. Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 134f. ordnet die Münze noch Michael V. zu; dagegen aber Grierson, Catalogue of the Byzantine Coins 3,2 [1973], S. 721f., der eine bis heute gültige Zuordnung zu Michael IV. vornimmt. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ihn, Hendy, Michael IV and Harold [1970], S. 187–192 und Kromann/Steen Jensen, Fra Byzans til Lund [1995].

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Abb. 8: Goldhistamenon Michaels IV (um 1041), aus: Kromann/Steen Jensen, Fra Byzans til Lund [1995], S. 54, Fig. 1.

Abb. 9: Silberdenar Svend Estridsens aus Lund (vor/um 1050), aus: Kromann/Steen Jensen, Fra Byzans til Lund [1995], S. 60, Fig. 9.

ersetzt, der auch andere Rezeptionszeugnisse des 11. Jahrhunderts, etwa Bilder auf Kreuzanhängern, kennzeichnet.271 Die griechischen Inskriptionen sind ersetzt durch den Namen des Münzmeisters +WVLF ETON LV (Wulfet in Lund) auf dem Revers und den Herrschernamen +SEVIN (Svend) auf dem Avers.272 Fanden sich schon vor Haralds Rückkehr auf dänischen Münzen Hårdeknuds sowie auf Fundstücken aus Hedeby eher vage Byzantinismen, die auf ältere, stärker zirkulierende Silbermünzen Basileios’ II. und Konstantinos’ VIII. zurückgehen, die auch schwedischen Imitationen unter Olof Skötkonung als Vorlage dienten und damit eine gewisse Tradition besonderer Wertschätzung byzantinischer Münzen im ganzen Norden fortsetzen,273 ist Svends Silberdenar so nahe an seinem byzantinischen Vorbild wie keine andere Münze aus dem Norden und auch keine aus der Rus’ zu Jaroslavs Zeit. Und sie ist gewissermaßen nur die Spitze eines Eisbergs: Peter Hauberg und Philip Grierson zählten unter den insgesamt 77 Münztypen aus Svend Estridsens Herrschaft, geschlagen in Lund, 271 Vgl. etwa das so genannte Gåtebo-Kreuz aus dem späten 11. Jh. im Urnes-Stil (Staecker, Rex regum [1999], S. 180–184, 452–454 bzw. Abb. 17). 272 Hendy, Michael IV and Harold [1970], S. 187f., 195–197. 273 Hauberg, Dil’influence byzantine [1900], S. 50–54, 125–133, 213–225; Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 124, 131f.; vgl. Malmer, Imitations of Miliaresia [1981].

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Slagelse, Odense, Viborg, Ribe, Toftum und Hedeby, insgesamt 35 Münztypen mit Aversen und vier Typen mit Reversen, die elf ikonographisch verschiedene Christus-, Kreuz- und Herrscherdarstellungen enthalten, welche von byzantinischen Vorbildern übernommen sind,274 jedoch nicht so präzise wie bei unserem Beispiel, wo der Münzmeister das Original vor Augen gehabt haben muss.275 Sie stammen aus der früheren Periode von Haralds Herrschaft bis in die frühen 1060er-Jahre und belegen zugleich die Existenz byzantinischer Prägungen im Norden, die archäologisch (noch) nicht erschlossen sind. Die Münze in Lund dominiert diese Rezeption in Dänemark, die später vereinzelt nach Norwegen ausstrahlt – und nicht umgekehrt: 25 Typen mit byzantinisch geprägten Aversen und alle mit solchen Reversen stammen dorther, wobei der hier näher besprochene Silberdenar den Höhepunkt bildet, da beide Seiten der Münze vom gleichen goldenen Vorbild übernommen wurden. Die Darstellung des thronenden Christus wird auch in Odense, Viborg, Ribe und Hedeby übernommen.276 Da kaum byzantinische Goldmünzen in den Norden gelangten und bezeichnenderweise mit der Ausnahme Norwegen nur einen winzigen Bruchteil der Münzfunde byzantinischer Provenienz darstellen, hier aber eine solche unzweideutig als Vorlage gedient haben muss, ist eine Rückbindung an Haralds Schatz mehr als wahrscheinlich.277 Bemerkenswert ist dabei auch die kulturelle Aneignung: Die griechische Inschrift, etwa bei früheren schwedischen Nachahmungen von Miliaresia mit schriftähnlicher Ornamentik imitiert, wird durch lateinische Inschriften mit gewohntem Inhalt ersetzt. Hier äußert sich zugleich eine handwerkliche, ikonographische und literate Kompetenz, die es dem Münzmeister ermöglicht, Elemente ganz verschiedener Herkunft im Hinblick auf ihre lokale Funktion hin frei zu kombinieren, in diesem Fall das bevorzugte byzantinische Bild mit verständlicher lateinischer Schrift, welche die Münze im lokalen Kontext funktional macht. Es fragt sich nur, warum dieser Rezeptionsprozess in Svends dänischem Netzwerk stattfand und nicht in Haralds norwegischem. Dort entstand nichts Vergleichbares. Politische Konkurrenz dürfte eine Rolle gespielt haben: Zwar ging Haraldr nach seiner Rückkehr im Jahr 1045, als er sich mit seinem Neffen Magnús um die 274 Hauberg, Dil’influence byzantine [1900], S. 125–133; Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 130–137; Morrisson, Le rôle des varanges [1981], S. 137–140. 275 Auf die Entfernung vom Vorbild bei den übrigen Typen machen Hauberg, Myntforhold og Udmyntninger [1906], S. 214f.; Hendy, Michael IVand Harold [1970], S. 196f. aufmerksam. 276 Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 135. 277 So schon Hauberg, Myntforhold og Udmyntninger [1906], S. 50–52; Hendy, Michael IVand Harold [1970], S. 195–197; Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 137f.; Skaare, Heimkehr eines Warägers [1965], S. 108–111 äußert sich skeptisch über die Menge an Silbermünzen, die Haraldr mitführte, und über den Umfang seiner Münzprägungen. Dies stört aber nicht den Eindruck, dass Haraldr Goldmünzen mit sich führte, die denn auch für die exzeptionelle Nachahmung in Dänemark das Vorbild stellten.

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Teilung der Herrschaft stritt, mit dem von Magnús aus Dänemark verdrängten Svend Estridsen, auf den er im schwedischen Exil traf, eine Allianz ein, die jedoch alsbald brach.278 Der schriftlichen Überlieferung nach teilten Haraldr und Magnús den Schatz.279 Nach Magnús’ Tod 1047 in Dänemark, wo er angeblich seinen Feind Svend zum Nachfolger designierte, führten Haraldr und Svend beständig Krieg gegeneinander. Obwohl er militärisch wiederholt dem Norweger unterlag, konnte Svend sich in Dänemark halten, seine Macht stabilisieren und eine Phase andauernder Herrschaftsintensivierung einleiten: Der Schutz des Handels und der Wege, des Friedens, aber auch ein wachsender Einfluss auf die Städte, steigende fiskalische Einnahmen und ein königliches Münzmonopol sowie die Etablierung einer festen Bistumsstruktur verbinden sich mit seiner Herrschaft.280 Mit ihm, den das Nekrolog des späteren Erzbistums Lund als ersten rex catholicus Dänemarks würdigt,281 verbindet sich auch das Ende expansiver, auf England ausgreifender Politik und damit einhergehend eine Verlagerung des politischen Zentrums in die neue geographische Mitte, von Jütland nach Seeland. Umso faszinierender scheint es, dass sich in der Frühphase seiner Herrschaft Svend Estridsen offensichtlich symbolisch aneignet, was der Gegner Haraldr real besitzt, nämlich byzantinische Münzen. Über seine Motive lässt sich nur spekulieren: Dass er sich Haralds byzantinisches Kapital, zumindest seine immaterielle Seite, zu eigen machen wollte, um so Gleichrangigkeit vor seinen Leuten zu demonstrieren, ist eine denkbare und naheliegende Erklärung, doch mag dieser Schritt auch seiner Selbstdarstellung nach Süden gedient haben, zumal die Datierung der Münze nicht eindeutig ist.282 Dort sah Svend sich mit dem ehrgeizigen Erzbischof Adalbert von HamburgBremen und dessen Plänen für ein nordeuropäisches Patriarchat konfrontiert. Nach Adam von Bremen waren sich der Däne und der angehende Patriarch schon um 1040 begegnet, als Svend kurzzeitig Adalberts Gefangener war, und seitdem

278 279 280 281

NI 126+NI 127. NI 128. Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 36–58. So heißt es auf fol. 124r in der Königsliste von ca. 1135, die dem Memoriale fratrum von Lund im gleichen Codex unmittelbar vorangeht, einleitend: »Nomina regum catholicorum in Dania […]«. Der erste Eintrag ist dann derjenige für Svend Estridsen (Necrologium Lundense, ed. Kroman [1960], S. 249). 282 Der Silberdenar begegnet in Horten, die zwar zahlreiche von Magnús, aber nur wenige von Svend geprägte Münzen enthalten, was auf die ersten Jahre seiner Herrschaft hindeutet. Die Annahme, Svend habe in Lund vor Magnús’ Tod bereits Münzen geprägt (Hauberg, Myntforhold og Udmyntninger [1906], S. 51), ist unwahrscheinlich, die unmittelbare Bindung an einen sehr kurzen Zeitraum nach Svends Herrschaftsantritt bei Hendy, Michael IVand Harold [1970], S. 195 nicht zwingend, eine Entstehung bis in die 1050er-Jahre durchaus denkbar.

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freundschaftlich verbunden gewesen.283 Nach einem erneuten Konflikt um die Nahehe Svends kam es 1052/53 zu einer Aussöhnung mit Adalbert und auch zur Etablierung engerer Kontakte mit Heinrich III.284 Svend verstand es fortan, zugleich von den Personalressourcen zu profitieren, die Adalbert ihm für den notwendigen Ausbau der Kirchenstruktur erschloss, dessen Patriarchatspläne aber geschickt auszumanövrieren und die Kontrolle über die Kirche in seinem Land zu behalten, was gar Adam von Bremen anerkennend feststellt.285 In einem solch wichtigen, aber ambivalenten Verhältnis mit byzantinisierender Selbstdarstellung zu prangen, war ganz sicher funktional, behauptet doch Adam von Bremen, sein Auftraggeber habe in Korrespondenz mit Konstantinos IX. Monomachos gestanden, sich über Theophanou als Verwandter des Basileus verstanden und sei an einer Übernahme griechischer habitus und mores interessiert gewesen.286 Auch in England finden sich um jene Zeit zahlreiche Hinweise auf direkte Kontakte nach Byzanz; genannt seien nur die in London und andernorts gefundenen Bleisiegel,287 die verblüffend frühe Kenntnis der Siebenschläferlegende, die Edward dem Bekenner in seiner Heiligenvita zugeschrieben wird,288 aber auch fortgesetzte alte Rezeptionslinien, so vor allem im seit dem 10. Jahrhundert bekannten, von Knud dem Großen und auch von Edward dem Bekenner geführten Titel eines Anglorum basileus.289 Hier trifft sich eine verstärkte Antikenrezeption am salischen Hof, die über personale Netzwerke auch in England entsprechende Reflexe einer imitatio imperii und einer verstärkten Hinwendung auch zur alten einheimischen Überlieferung auslöst,290 mit existierenden synchronen Kontakten und älteren aus Byzanz adaptierten Traditionen. In einem solchen kulturellen Klima, mit einem ausgedienten byzantinischen Offizier als nördlichem Nachbarn, einem machthungrigen, byzanzbegeisterten Bischof im Süden und einem sich als Basileus titulierenden König in dem Land, auf das Svend Estridsen eigentlich einen Herrschaftsanspruch geltend machte, den sein Sohn Knud auch einzulösen versuchte, scheint der bewusste Rekurs auf byzantinische Münzbilder, der eine eher lockere Rezeption in akkurate Aneignung verwandelt, nur folgerichtig. Dem Einwand, dass sich kein programmatischer Einfluss Svends auf die Münzprägungen in Dänemark nachweisen lässt,291 283 284 285 286 287 288 289 290

Adam 2,75, S. 135. Adam 3,18, S. 161 bzw. 3,32, S. 174. Adam 3,74, S. 221 bzw. 72, S. 219f. Adam 3,32, S. 174. S. oben, S. 67 mit Anm. 171. Ciggaar, England and Byzantium [1982], S. 80–92, 96. S. oben, S. 53 mit Anm. 129 und Ciggaar, England and Byzantium [1982], S. 86f. Lawson, Cnut [1993], bes. S. 137, 144f.; Abrams, Anglo-Saxons [1995], S. 228; Bolton, Empire of Cnut [2009], S. 303–307. Zur Antikenrezeption Tyler, Trojans in Anglo-Saxon England [2014], S. 10–20. 291 Hendy, Michael IV and Harold [1970], S. 196; Grierson, Harold Hardrada [1979], S. 128f.

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steht die Übereinstimmung im Rekurs auf Byzantinisches an zahlreichen Münzstätten entgegen, die zudem bisweilen weit über die sonst übliche Rezeption hinausgeht. Solche »Modeerscheinungen« entstehen nicht grundlos, und die massenmäßige Bedeutungslosigkeit der byzantinischen Münzen spricht gegen eine gleichsam zufällige Rezeption.292 Es existiert eine spezifisch dänische Byzanzrezeption im Münzwesen, und ihr Zusammenhang mit der politischen Umwelt im Norden einerseits und Haralds Schatz andererseits ist unverkennbar. Lange überlebt hat sie indes nicht. Die jüngsten im Norden gefundenen byzantinischen Münzen stammen von Konstantinos IX. Monomachos, und nach den 1060er-Jahren ist auch keine Rezeption von Münzbildern mehr im Norden zu erkennen. Mit Änderungen im Migrationsverhalten hat dies freilich herzlich wenig zu tun.293 Schon die Analyse des byzantinischen Quellencorpus zeigte einen Höhepunkt der Masse an Skandinaviern in Byzanz und der byzantinischen Aufmerksamkeit für Byzantiner in der Zeit der Kreuzzüge. Dies unterstreicht deutlich, dass Prozesse des Kulturtransfers beziehungsweise der Rezeption fremder Ästhetik von lokalen sozialen Konstellationen und sich hieraus ergebenden Interessen abhängig sind, die am Beginn einheimischer Münzproduktion in Skandinavien, ganz besonders aber in Dänemark, anders gelagert waren als ein Jahrhundert später, wie für das Hochmittelalter noch eingehend zu zeigen sein wird. Pektoralkreuze Im 11. Jahrhundert jedenfalls erweist sich Dänemark als diejenige skandinavische Region, in welcher die Rezeption byzantinischer Gegenstände ihren höchsten Grad an Präzision in Bezug auf die Vorlage erreicht. Das gilt auch für die Aneignung von Pektoralkreuzen aus dem griechisch-christlichen Raum. Sie ist zwar nicht mit Haraldr in Verbindung zu bringen, da sie bis ins 12. Jahrhundert durchgehend präsent ist, stellt aber insofern eine Parallele zu Svends Münzen sehen aufgrund der großen ikonographischen Variation der dänischen Programme allein den Zufall am Werk, der dem Münzmeister Wulfet die Goldmünze in die Hände spielte, welche ihn allein aufgrund ihrer Ästhetik zur Nachahmung animierte. Dann hätte hier der Denar eine ganze Reihe an Imitationen auch an anderen Münzorten und von anderen byzantinischen Münzbildern in Gang gesetzt. Das erklärte aber nicht zufriedenstellend, warum der Effekt nur im dänischen Herrschaftsraum auftrat. 292 So erklären Kromann/Steen Jensen, Fra Byzans til Lund [1995], S. 59f. die Existenz gerade des hier besprochenen Silberdenars als eher zufälliges Beiprodukt der Distribution von Elementen aus Haralds Schatz. Die Frage, warum dies gerade und gehäuft in Dänemark passierte und nirgends sonst, kann damit nicht beantwortet werden. 293 Die Genese der protonationalen Münzsysteme vollzieht sich unter dem Einfluss der lateineuropäischen Nachbarregionen; daher ist das Münzsystem zur Zeit der Kreuzzüge so entwickelt, dass eine Offenheit wie im Zeitraum zwischen etwa 990 und 1060 nicht mehr gegeben ist (Morrisson, Le rôle des varanges [1981], S. 134).

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dar, als aus der großen Zahl an heimisch produzierten Kreuzanhängern praktisch nur in Dänemark unveränderte Übernahmen der Ikonographie vorzufinden sind. Nur hier findet sich mit dem Orø-Enkolpion ein Beispiel, bei dem der in Byzanz übliche Christus mortuus nicht in einen Christus vivus transformiert ist.294 Während die in Byzanz und der Rus’ übliche, rückseitige Maria orans bei mehreren Beispielen in eine zweite gekreuzigte Figur umgewandelt, also aufgrund ihrer erhobenen Hände als Christus und nicht als seine Mutter aufgefasst wird (Abb. 11), stammen Rezeptionszeugnisse, welche die Theotokos als solche erkennen, nur aus Dänemark (Abb. 10, 12).295 Ein möglicher Erklärungsansatz hierfür, parallel zum Phänomen bei den dänischen Münzen, liegt in den aus England und Sachsen verfügbaren Personalund Wissensressourcen, und in der Tat lassen sich hier auch vereinzelt Einflüsse ottonisch-salischer Kunst nachweisen.296 Ihre Auswirkung auf die lokale Kultur und ihre Wissensbestände, abgesehen von der politischen Konstellation, mag die heimische Rezeption byzantinischer Vorlagen attraktiver, leichter möglich und 294 Staecker, Rex regum [1999], S. 283f. stellt die Transformation als Regel bei einheimisch produzierten Kreuzanhängern fest. Abgesehen von einigen Gusskreuzen, deren Crucifixus einen schräggelegten Kopf aufweist (Staecker, Rex regum [1999], Kat. Nr. 29, S. 423 [Fyn]; Nr. 58, S. 450f. [Dörby/Öland]; Nr. 105, S. 506f. [Sigtuna]), zeigt allein das Goldenkolpion von Orø/Seeland einen Christus mortuus mit geschlossenen Augen (Abb. 10). Der Aussage bei Staecker, Rex regum [1999], Nr. 37, S. 431–433, die Augen seien geöffnet, ist zu widersprechen. Die rückseitige, frontal die Schrift vor der Brust haltende Maria zeigt durch eine mandelförmige Vertiefung wiedergegebene, offene Augen mit darüber liegenden, die Augen nicht berührenden Brauen. Die Augen Christi dagegen, dessen Kopf nach rechts geneigt ist, sind nur durch jeweils einen Strich repräsentiert, also geschlossen. Die Striche über den Augen berühren diese nicht und stellen die Brauen dar. Das Enkolpion zeigt vorderseitig links über dem Kreuzbalken die Inschrift ISΛCOI (< ΙΔΕ Ο ΥΙΟC CΟΥ: »Siehe, Dein Sohn!« [ Joh 19,26]; die Interpretation aus Danmarks middelalderlige skattefund, ed. Steen Jensen/ Bendixen u. a. [1992], S. 259) sowie unter den Kreuzbalken die Inschrift OLAFC VNVnCE (Olaf konunge, König Olaf). Da es in die Jahrzehnte um 1100 zu datieren ist, meint die Inschrift wahrscheinlich Oluf Hunger von Dänemark (1086–1096). Zum Kreuz Staecker a. a. O. und S. 164–170 mit entsprechender Forschungsübersicht, außerdem Lindahl, Orøkorset [1992]; Danmarks middelalderlige skattefund, ed. Steen Jensen/Bendixen u. a. [1992], S. 259f. 295 Eine in einen Crucifixus verwandelte Theotokos Blachernitissa zeigen das Silberkreuz aus Hurva Äspinge (Schonen, 1. H. 11. Jh.: Staecker, Rex regum [1999], 150–152, und Nr. 46, S. 439f.); das Silberkreuz aus Gullunge (Uppland, ca. 1100: ebd., S. 164–172, Nr. 112, S. 511– 513, vgl. Abb. 11); das Silberenkolpion aus Kjøpsvik (Tysfjorden/Nordnorwegen, ca. 1100: ebd., S. 164–172). Dies widerspricht zugleich der Idee weitreichenden byzantinischen Einflusses auf die wikingerzeitliche Frömmigkeit (oben, S. 65 mit Anm. 167). Ausnahmen bilden das Bronzeenkolpion von Råga Hörstad (Fragment, Schonen, 11 . Jh., regional produziert: Staecker, Rex regum [1999], S. 180–184, Nr. 44, S. 438f.), das eine Maria orans zeigt (Abb. 12), und das Goldenkolpion von Orø (vorige Anm.). Ein im September 2012 auf Bornholm gefundenes Silberenkolpion mit rückseitiger Maria orans (spätes 11./frühes 12. Jh.) stammt laut Poul Grinder-Hansen wohl aus Kiev oder Byzanz (Nationalmuseet, Relikviekors [2012]). 296 Staecker, Rex regum [1999], S. 277.

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Abb. 10: Goldenkolpion von Orø/Isefjord (um 1100, Nationalmuseet, København), Zeichnungen aus: Staecker, Rex regum [1999], Kat. Nr. 37, S. 432f.

damit wahrscheinlicher gemacht haben. Die kulturelle Verflechtung mit Lateineuropa stärkt so das Rezeptionspotential für Byzantinisches. Migranten aus Byzanz und Haralds »Kirchenpolitik« Letztlich sind die kulturellen Konsequenzen, welche sich aus Haralds Byzanzaufenthalt und seiner Rückkehr in der materiellen Kultur des Nordens und mit einiger Sicherheit in der Mythologierezeption nachweisen lassen, ausgesprochen dünn. Noch dünner nehmen sich, das wurde bereits deutlich, die Konsequenzen seines Byzanzaufenthalts in der Schriftkultur aus. Nichts in den Sagas oder den Gesta Danorum legt einen Transfer spezifisch byzantinischer Konzepte nahe; sein Aufenthalt in Byzanz wird als der eines Norwegers in einem skandinavischen Umfeld konzeptualisiert, ähnlich wie schon in den hier zitierten Skaldengedichten. Eine »Byzantinisierung« seines Umfelds ist weder hier gespiegelt noch in der materiellen Kultur erkennbar, abgesehen vielleicht vom Bildstein von Dynna.297 Daher wirken Versuche, bestimmte in Schriftquellen geäußerte Taten 297 Es handelt sich um einen stelenförmigen Runenstein mit Gedenkinschrift aus der Mitte des 11. Jhs., auf dem die drei Magi auf ihrem Weg nach Bethlehem abgebildet sind, wo sich die Heilige Familie in einer Grotte befindet; über ihnen schwebt Jesus auf dem Stern. Die Inschrift hat zwar nichts mit Haraldr zu tun, doch befand sich sein Machtbereich im Ringerike. Daher hält

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Abb. 11: Silberguss-Enkolpion aus Gullunge/Uppland (um 1100, Historiska Museet, Stockholm), Zeichnungen aus: Staecker, Rex regum [1999], Kat. Nr. 112a., S. 512f. Die umgedeutete Maria orans befindet sich auf der Rückseite (rechts).

Haralds mit seinem byzantinischen Hintergrund zu erklären, alles andere als zwingend und können oftmals die Beweislast nicht tragen, welche sie sich aufbürden. Sicher kann man nicht einfach ignorieren, welches Wissen um Organisationsund Herrschaftspraktiken, auch und gerade in Bezug auf die Kirchenorganisation, Haraldr mitbrachte. Inwiefern er jedoch davon im Norden Gebrauch machte, bleibt völlig offen.298 Wir wissen nicht einmal sicher, ob Ellisif-Elisabeth, die Tochter Jaroslavs, jemals Norwegen erreichte. Allein die Stúfsdrápa und ein Blindheim, Byzantine Influence [1981], S. 300f. einen Transfer der Ikonographie über Haraldr bzw. sein Umfeld für wahrscheinlicher als eine Vermittlung über die ottonischsalische Kunst. Dem wäre entgegenzuhalten, dass gerade im südlichen Norwegen durchaus deutsche Kleriker anwesend waren, die ebenfalls als Vermittler in Frage kommen (Helle, Organisation [1988], S. 46f.; Hellberg, Tysk eller engelsk mission [1986], S. 42–49; Jón Viðar Sigurðsson, Norsk Historie [1999], S. 99). 298 So untersucht Crumlin-Pedersen, Viking Warriors [2013], S. 311–313 Möglichkeiten des Kulturtransfers im nautischen Bereich zu Haralds Zeit, kommt aber zu dem Schluss, dass sich keinerlei Beeinflussungen nachweisen lassen, ebenso wenig wie in seiner Kriegsführung.

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Abb. 12: Enkolpion aus Råga Hörstad/Schonen (11. Jahrhundert, Fragment vom Revers mit Maria orans, Lunds Universitets Historiska Museum), Zeichnung aus: Staecker, Rex regum [1999], Kat. Nr. 44, S. 438.

Scholion bei Adam von Bremen bezeugen Haralds Ehe mit ihr,299 doch begegnet sie danach nicht mehr. Haraldr nimmt alsbald nach seiner Rückkehr nach Norwegen Þóra Þórbergsdóttir zur Frau, und mit ihr hat er die Söhne und Nachfolger Óláfr und Magnús.300 Aus welcher Verbindung seine beiden Töchter Ingigerðr und Máría hervorgingen, ist unklar. Máría wurde mit Eysteinn orri Þórbergsson verlobt, einem Bruder von Þóra, so dass zu Recht Zweifel daran geäußert wurden, dass sie Þóras Tochter gewesen sein könne, doch beweist dies im Ausschlussverfahren noch nicht die Mutterschaft und Gegenwart Ellisifs.301 Polygynie war eine völlig gängige Praxis,302 und es ist denkbar, dass Þóra eine frilla war, während Ellisif noch lebte, auch wenn die Morkinskinna etwas anderes behauptet, nämlich dass Ellisif gestorben war, Þóra die Frau und andere Personen die Mütter der beiden Töchter waren. Ein gewisses Indiz freilich bilden die 299 Stúfr enn blindi Þórðarson kattar: Stúfsdrápa 4, vgl. NI 124; Adam 3,13, schol. 62, S. 153. 300 Msk. Kap. 35, Bd. 1, S. 206. 301 Auf diese Weise scheint Snorri das Problem gelöst zu haben. Während Morkinskinna (Kap. 53, Bd. I, S. 303f.) und Fagrskinna Þóra, Máría und Ingigerðr Haraldr 1066 auf dem Heerzug nach England bis auf die Orkneys begleiten lassen, ersetzt Snorri die frilla Þóra durch Ellisif, wahrscheinlich um das Problem der Nahehe zu lösen (Hkr. Bd. 3, S. 178f.). Þóra hatte jedoch direkte Verwandtschaft unter den Jarlen der Orkneys, Ellisif nicht, und Þóra und Máría bleiben nach Haralds Tod dort. Es handelt sich daher in der Hkr. unverkennbar um eine Konjektur ohne Aussagewert für das 11. Jh. Snorri lässt Ellisif auch den jungen Óláfr Haraldsson zurück nach Norwegen begleiten (ebd., S. 197). 302 Rüdiger, Ægteskabet – fandtes det? [2010], S. 98–107, 112–115; Auður Magnúsdóttir, Frillor och fruar [2001]; Nordal, Ethics and Action [1998], S. 102–106.

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Namen der Töchter: Ingigerðr hieß Ellisifs schwedische Mutter, Maria ist ein um jene Zeit außerhalb des orthodoxen Raums nicht sonderlich verbreiteter Name.303 Es bleibt zu betonen, dass kein rusisches Netzwerk in irgendeiner Weise in Erscheinung tritt oder langfristig Spuren hinterlässt. Haraldr setzte auf seine norwegischen und englischen Beziehungen.304 Mit ihm in Verbindung gebracht wurde indes die Anwesenheit von drei als ermskir bezeichneten, höchstwahrscheinlich als »armenisch« aufzufassenden Missionsbischöfen, Petrus, Abraham und Stephanus, auf Island im 11. Jahrhundert.305 Sie sind in der Íslendingabók, einer in ihrer ersten Fassung zwischen 1122 und 1133 entstandenen Landesgeschichte und Chronik des südisländischen Bistums Skálholt erwähnt.306 Es ist denkbar, dass sie mit Haraldr in den Norden gekommen waren, jedoch ist dies nirgends sonst bezeugt, aus norwegischen Quellen ist nichts über sie bekannt, und außer auf Island haben sich auch nirgends in skandinavischen Rechtstexten Bestimmungen erhalten, die graecophonen Geistlichen die Arbeit zu Gunsten der lokalen bischöflichen Autorität erschweren. Solche Bestimmungen enthält allein die Grágás, die in Handschriften des späteren 13. Jahrhunderts überlieferte älteste Version des isländischen mittelalterlichen Rechts,307 und sie hängt wahrscheinlich mit der Anwesenheit solcher Fremden zusammen,308 die jedoch angesichts der fortgesetzten engen 303 Lind, Norsk-isländska dopnamn [1905–1915], Sp. 764. 304 Das beweist nicht nur seine auf England focussierte Kirchenpolitik, sondern auch die stark angelsächsisch beeinflusste Münzprägung jener Zeit (vgl. Skaare, Norges mynthistorie [1995], S. 38–51). 305 Der Begriff ermskir schillert: Einerseits meint er Menschen aus dem Ermland, weshalb Magnús Már Lárusson, The so-called ›Armenian‹ Bishops [1960], bes. S. 23–38 der Ansicht war, es handele sich um Flüchtlinge aus dem orthodox-katholischen Grenzraum an der Südküste der Ostsee. Andererseits bezeichnet die Veraldar saga, ed. Jakob Benediktsson [1944], S. 69 Leon V. Armenios als Leo inn ermski. Aufgrund der hohen Mobilität der Armenier in der Mitte des 11. Jhs. und aufgrund des geringeren Alters der Belegstellen für Ermland als Bezeichnung für die Region im Baltikum Metzenthin, Länder- und Völkernamen [1941], S. 22 ist Annahmen über eine armenische Identität der ermskir der Vorzug zu geben (Dédéyan, Les Arméniens en Occident [1979], S. 128; Dachkévytch, Arméniens en Islande [1987]; Hagland, Armenske biskoppar [2005]; Cormack, Irish and Armenian Ecclesiastics [2007]). 306 NI 3. Vgl. auch Hungrvaka Kap. 2 (Biskupa sögur II, ed. Ásdís Egilsdóttir [2002], S. 8f.). 307 NI 2. Überliefert ist der Text, abgesehen von Fragmenten des 12. Jhs., in der Konungsbók (GKS 1157 fol.) von ca. 1250–1260 und der Staðarhólsbók (AM 334 fol.) von ca. 1280. Der Zusammenhang mit der so genannten Hafliðaskrá, der gemäß der Íslendingabók im Winter 1117/18 verfassten ersten Rechtskodifikation, ist unklar (Ólafur Lárusson, Islands forfatning og lover [1960]). Sehr optimistisch bezüglich der Identität des überlieferten Textes mit der Hafliðaskrá äußert sich Hoff, Hafliði Másson [2012], S. 47–76, der nur explizit geäußerte Änderungen zwischen 1117 und der Entstehung der Handschriften gelten lässt, was ihn zum Schluss führt, dass die bemerkenswerten Einflüsse des römischen Rechts so früh über Byzanz vermittelt worden sein müssten. Vgl. dazu unten, S. 593ff. 308 Hiermit verbindet sich auch die kaum noch zu klärende Frage nach der Konfession jener

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Kontakte mit Byzanz das ganze 11. und 12. Jahrhundert hindurch mit zurückkehrenden Isländern auf die Insel gelangen konnten.309 Gerade armenische Exilanten aber waren nach der weitgehenden byzantinischen Annexion des armenischen Königreichs der Bagratiden 1044/45 in ganz Europa unterwegs, kamen auch nach Italien, an den Papsthof, nach Frankreich, in die Normandie und nach Flandern; Beziehungen zum Westen waren gegeben, und gerade nach der wechselseitigen Exkommunikation des Papstes und des Patriarchen 1056 wurden die Armenier für die römische Kirche interessanter.310 Eine Rückbindung der drei Armenier auf Island an Haraldr scheint daher zwar nicht unwahrscheinlich, aber eben auch nicht zwingend.311 Ebenso gut konnten sie über den Westen nach Island gelangt sein, wohin die Isländer gute Kontakte unterhielten:312 Ísleifr Gizurarson, der Sohn eines mächtigen Magnaten, wurde im früheren 11. Jahrhundert in Herford ausgebildet, wahrscheinlich durch Meinwerk von Paderborn zum Priester und 1056 von Adalbert zum ersten einheimischen Bischof für Island geweiht.313 Auch sein Sohn und Nachfolger Gizurr wurde in Sachsen ausgebildet, und lokale consuetudines besonders im südisländischen Bistum Skálholt sowie auf ganz Island belegen die frühe Rückbindung an die Ausbildung im römisch-deutschen Reich; daneben spielt in der frühen Schriftlichkeit die Anwesenheit englischer Missionare eine große Rolle.314 Auch

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Missionare. Dachkévytch, Arméniens en Islande [1987], S. 325f. hält ein chalcedonisches Bekenntnis für unwahrscheinlich, weil sie dann als »Griechen«, nicht separat als »Armenier« wahrgenommen worden seien, wie es auch die Grágás (NI 2) tut. Ob die ermskir und hermskir der Íslendingabók und Grágás identisch sind, steht dahin. Hier können wiederum »Ermländer« gemeint sein (vgl. Magnús Már Lárusson, The so-called ›Armenian‹ Bishops [1960], wie Anm. 305). Die Grágás bezieht sich ausdrücklich auch auf Priester, also auf das Personal in den von den lokalen Besitzern kontrollierten Kirchen. Dédéyan, Les Arméniens en Occident [1979], S. 124–133; Halfter, Papsttum und Armenier [1996], S. 110–121; Rennie, Weapons of Reform [2012], S. 342–347. Dachkévytch, Arméniens en Islande [1987], S. 326–331; Hagland, Armenske biskoppar [2005], S. 157–161 halten eine Rückbindung an Haraldr für wahrscheinlich. Der hier anzutreffenden Einschätzung eines hohen Einflusses Haralds und überhaupt der norwegischen Kirche auf Island ist zu widersprechen; die Isländer entzogen sich äußerer Steuerung gerade ihrer kirchlichen Angelegenheiten bis ins 13. Jh. gezielt und erfolgreich. Die Initiative, lokale Geistliche bei der Abreise aus Konstantinopel in das eigene Gefolge aufzunehmen, mochte zudem ebenso gut von Isländern wie etwa Halldórr Snorrason selbst ausgegangen sein. So auch Cormack, Irish and Armenian Ecclesiastics [2007], S. 232f., die auf das Grab eines armenischen Erzbischofs namens Gregorios in Niedernburg verweist. Hungrvaka, Kap. 4 (Biskupa sögur II, ed. Ásdís Egilsdóttir [2002], S. 14); Köhne, Bischof Isleif Gizurarson [1970] bzw. Köhne, Wirklichkeit und Fiktion [1987], S. 24–26; Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 211f. Sächsisch bzw. fränkisch beeinflusst ist die Vierteilung des Zehnten in Teile Arme, Bischof, Kirchen und Priester (Skovgaard-Petersen, Islandsk egenkirkevæsen [1960], S. 264) im Gegensatz zur Dreiteilung in Festlandskandinavien (Sawyer, Dioceses and Parishes [1988], S. 36–

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Kontakte mit dem lothringischen Raum sind bedeutend: So wurde Sæmundr Sigfússon inn fróði, der erste einheimische Historiograph in Südisland, dessen Werk jedoch nicht erhalten ist, in Frakkland, der mittleren Francia, ausgebildet und etablierte den Gerlandscomputus auf der Insel.315 Auch der Heilige Jón O ˛ gmundarson, der erste Bischof von Hólar, dem 1106 gegründeten nördlichen Bistum, studierte in Frakkland und Italien und griff auf »fränkische«, ziemlich sicher lothringische Personalressourcen zurück.316 Es waren also bereits im 11. Jahrhundert funktionierende westliche Wege der Migration von Schülern und Gelehrten aus dem Norden und in den Norden etabliert, auf denen auch die Armenier nach Island gelangt sein konnten. Sie hielten sich neben Engländern, Iren und Sachsen auf Island auf; Konflikte zwischen den ermskir und den übrigen Missionsbischöfen werden in der hochmittelalterlichen Überlieferung nicht erinnert. Allein die Vielfalt der Missionare zeigt, dass die Isländer auf Haralds Hofpersonal alles andere als angewiesen waren. Ganz im Gegenteil war Bjarnvarðr inn saxlenzki (Bernward der Sachse), von Adalbert wohl für das Bistum in Selja in Norwegen vorgesehen, von Haraldr alsbald nach dem Beginn seiner Herrschaft vertrieben worden, nach Island gegangen und hatte dort zwanzig Jahre lang gewirkt, wie die Hungrvaka, eine Chronik des Bistums von Skálholt vom Beginn des 13. Jahrhunderts, lobend hervorhebt.317 Ebendort erfährt man auch, dass Ísleifr jedoch nach seiner Weihe Hand in Hand mit Adalbert versuchte, den Primat als einheimischer Bischof durchzusetzen und die Aktivität von Missionsbischöfen auf der Insel zu beenden.318 Die Tatsache, dass Haraldr einen Sachsen aus Norwegen vertrieb, führte gemeinsam mit äußerst negativen Kommentaren über seine Person und seine Haltung in Kirchenfragen bei Adam von Bremen in der Forschung zur Annahme, dass er byzantinische Praktiken im Umgang mit der Kirche und ihrer Organi-

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40) sowie die Bestimmung zum Fasten an der Vigil zu Epiphanias (Paasche, Hedenskap og kristendom [1948], S. 81f.; Köhne, Wirklichkeit und Fiktion [1987], S. 25). Auf englische Einflüsse weisen die Schriftform in den frühesten Handschriften (The First Grammatical Treatise, ed. Hreinn Benediktsson [1972], S. 34–40) sowie das Vokabular für Lesen und Schreiben hin (Turville-Petre, Origins of Icelandic Literature [1953], S. 74–78; Hellberg, Tysk eller engelsk mission [1986], S. 42–46). Vgl. auch die Übersicht bei Scheel, Lateineuropa [2012], S. 127–130. Frakkland wurde bereits von spätmittelalterlichen isländischen Annalen und zahlreichen Forschern als »Frankreich« identifiziert, was zweifellos unzutreffend ist (Foote, Aachen, Lund, Hólar [1975], S. 68–73; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 129 mit Anm. 428). Zum Gerlandscomputus auf Island Scheel, Lateineuropa [2012], S. 181–183. Jóns saga ins helga, Kap. 8 (Biskupa sögur I,2, ed. Sigurgeir Steingrímsson/Ólafur Halldórsson/Foote [2003] , S. 217). Frakkland ist hier als »Franken« aufzufassen und nicht als »Frankreich« (Foote, Aachen, Lund, Hólar [1975], S. 60–65; Scheel, Lateineuropa [2012] , S. 129f. entgegen Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 217). Hungrvaka, Kap. 3 (Biskupa sögur II, ed. Ásdís Egilsdóttir [2002], S. 11–13). Hungrvaka, Kap. 2 (Biskupa sögur II, ed. Ásdís Egilsdóttir [2002], S. 8f.).

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sation nach Norwegen übertragen und gar »seine« Armenier nach Island geschickt habe, um die »absolutistischen« Tendenzen des »römischen Katholizismus« zu bremsen.319 Insbesondere eine Äußerung bei Adam, der tyrannus habe Adalberts Legaten im Zorne angebrüllt, er wisse nicht, wer die erzbischöfliche Gewalt in seinem Lande innehabe außer ihm selbst, wurde als Hinweis auf gleichsam »cäsaropapistische« Tendenzen gelesen.320 Einerseits basiert diese Annahme auf veralteten Vorstellungen über das Verhältnis von Basileus und Patriarch, andererseits auf einer ganz klaren politischen Haltung Adalberts und seines Historiographen. Ließe man das Argument gelten, müssten alle frühen christlichen Herrscher Skandinaviens mit Ausnahme der Isländer bei den Byzantinern geschult worden sein, denn jenseits Islands und Dänemarks, jedenfalls nach der Einigung zwischen Adalbert und Svend Estridsen, war der Primatsanspruch Adalberts höchst theoretischer Natur.321 Berücksichtigt man indes den Zusammenhang der Erzählung, wird deutlich, dass Adam in einer ausführlichen Tirade Haraldr zum Tyrannen, zum Entfremder von Kirchengut, zum Anhänger der malefici artes, also eigentlich einem Heiden, zum grausamen Unterjocher der Dänen und gar der Isländer stilisiert.322 Einer, der sich dem Primat HamburgBremens entzieht, kann kein Beförderer des Christentums sein, dabei geht aus dem Text selbst unzweideutig hervor, dass Haraldr Bischöfe in Anglia und Gallia weihen ließ,323 sich also lediglich den Patriarchatsplänen Adalberts entzog und sein kirchliches Personalnetzwerk auf England ausrichtete. Dass er etwa Island unterjochte oder heidnischen Praktiken huldigte, ist ganz einfach unwahr, dient aber der Erzeugung eines plastischen Negativbildes. Dass Adam sich als Informanten zudem auf Svend Estridsen stützte, der sich jahrzehntelang mit Haraldr herumschlug, tut ein Übriges. In der Tat aber unterstreicht auch ein von Adam in einem Scholion hinzugefügtes Papstschreiben Alexanders II. auf Adalberts Klage hin dessen Primat über den Norden.324 Dessen Missachtung ist das eigentliche Skandalon, auf welchem die Schimpftirade gegen Haraldr eigentlich beruht. Dass ein offenbar angelsächsischer Bischof namens Osmund in Schweden »wie ein Erzbischof« auftritt und sich ein Vortragskreuz vorantragen lässt, ist ebenfalls mit »orthodoxen Praktiken« und seiner möglichen Rückbindung an Kiev erklärt worden,325 319 So Dachkévytch, Arméniens en Islande [1987], S. 331. 320 So schon bei Munch, Kritiske undersøgelser [1873], S. 374. 321 Vgl. Abrams, Anglo-Saxons [1995], S. 232–237; Goetz, Constructing the Past [2006], S. 36– 40. 322 Adam 3,17, S. 159f. 323 Ebd. 324 Adam 3,17, schol. 69, S. 160f. 325 Adam 3,15, S. 156. Vgl. zur These einer Rückbindung Osmunds an die Rus’ Arne, Biskop Osmund [1947]; Schmid, Sveriges kristnande [1934], S. 61–66; Sawyer, Kings and Vikings [1982], S. 141.

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jedoch macht Adam unmissverständlich klar, dass Osmund als acephalus gezielt wie ein Hochstapler handelte, sich in Polen zum Bischof weihen ließ, in Schweden zielgerichtet über seine angeblich apostolische Mission log und für die Austreibung des aus Sachsen entsandten Kandidaten sorgte. Im weiteren historischen Zusammenhang sind Spekulationen über »byzantinischen Einfluss«, die aus Schriftquellen wie den Sagas oder Adam gewonnen sind, grundsätzlich unhaltbar, und es wäre hinzuzufügen, dass das Paterikon des Höhlenklosters in Kiev varjagi als Lateiner auffasst.326 Für Haraldr wie schon für Knud den Großen vor ihm war die ablehnende Haltung gegenüber Hamburg-Bremen kein Bekenntnis zu byzantinischen Praktiken, sondern der zielgerichtete Versuch, seinen (prospektiven) Machtbereich und die Kirchenstruktur zusammenzuhalten. Dieser Effekt mochte im Vergleich zu etwa Dänemark und Island desintegrativ wirken, weil sowohl auf der Insel als auch unter Svend Estridsen und seinen Söhnen sächsische, fränkische und angelsächsische Migranten zugleich ins Land kamen, die zusammen eine größere Bandbreite an Personal- und Wissensressourcen erschlossen, was sich produktiv auf die Genese der frühen einheimischen Literaturen um 1100 auswirkte.327 Sie ist in Norwegen erst frühestens fünfzig Jahre später zu erkennen; auch die Genese der Bistumsstruktur ist in Norwegen gegenüber Dänemark und Island verzögert.328 Dies mag wohl mit Haralds Abschottungspolitik gegenüber Adalbert zusammenhängen, doch war sie nicht das Resultat byzantinischen Denkens, sondern einer machtpolitischen, den Spuren Knuds des Großen folgenden Zielrichtung. Das demonstrieren im Übrigen auch seine Münzen, die sich teilweise an englischen Vorbildern Knuds des Großen orientieren und nur vereinzelt Rezeptionsspuren byzantinischer Münzbilder zeigen. Am ehesten mag noch die drastische Reduktion des Feingehalts der norwegischen Münzen unter Haraldr seit den späten 1050er-Jahren einen Wissenstransfer dokumentieren, fiel sein Aufenthalt in Byzanz doch in eine Zeit der Münzverschlechterungen.329 Parallelen hierfür finden sich aber wiederum, wenn auch nicht so ausgeprägt, in England.330

326 S. oben, S. 106. 327 Vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], bes. S. 153–157, 199–204. 328 Ortsfeste Bistümer entstehen vor 1093 in Niðaróss, um 1100 in Selja (dann Bergen) und Oslo, in Stavanger in den 1120er-Jahren (Helle, Organisation [1988], S. 49f.). 329 Malmer, The Byzantine Empire [1981], S. 128; zum möglichen byzantinischen Hintergrund, wo die Entwertung indes unter Michael IV. nicht so weit fortschritt wie später unter Haraldr, Hendy, Studies [1985], S. 233–236. Zur Entwertung in Norwegen, die zur Reduzierung des Silbergehalts auf etwa ein Drittel und partiell noch weniger führte, Skaare, Norges mynthistorie [1995], S. 49–51. Die weniger hochwertigen Münzen zeigen jedoch großteils sinnlose Inschriften, so dass bezüglich der königlichen Kontrolle des Silbergehalts Zweifel bestehen bleiben. Skaare verweist auch auf die Darstellung eines Streits über den zu geringen Silbergehalt des Lohns zwischen Haraldr und Halldórr Snorrason, seinem Gefolgsmann aus byzantinischen Tagen (Msk. Kap. 32, Bd. 2, S. 182).

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Skandinavisch-rusischer Kulturkontakt und seine Folgen Völlig unbeschadet der Tatsache, dass zahlreiche historische Konstrukte anzuzweifeln sind, welche Haralds Biographie als Migrant verschiedene transkulturelle Narrationen anzuhängen versuchen, um Einzelbefunde in eine attraktive narrative Struktur einbetten zu können, zeigen sich in Rechtstexten des 12. Jahrhunderts und der frühen Hagiographie des Nordens ganz unzweideutige Spuren kultureller Interaktion mit der ostkirchlichen Sphäre; so wissen die Passio et miracula beati Olavi um die Wundertätigkeit des Heiligen in Novgorod,331 und der frühe Clemens- und Nikolauskult in Skandinavien erreichte den Norden höchstwahrscheinlich über die Rus’.332 Umgekehrt gilt für den Óláfskult in der Rus’ oder das Paterikon des Höhlenklosters in Kiev dasselbe.333 Ildar Garipzanov machte in den Bestimmungen der norwegischen Borgarþingslo˛g zur Taufe Spuren »orthodoxer« Rituale ausfindig, welche die Migration von Klerikern über eine gänzlich unbedeutende »Konfessionsgrenze« hinweg plausibilisieren.334 Auch deuten Gemeinsamkeiten bei Erzählmotiven, die sich sowohl in der Povest’ vremmenych let und anderen altrussischen Texten als auch in den Konungasögur und Fornaldarsögur finden, auf Prozesse der Interaktion und des Transfers hin.335 Diese Liste ließe sich gerade angesichts der existierenden Forschungsliteratur fortsetzen. Anzumerken bleibt hierzu jedoch aus unserer Perspektive, dass klare Indizien für eine jahrhundertelang selbstverständliche und enge Kulturverflechtung Novgorods und seiner Herrscher mit Skandinavien, welche sowohl die skandinavische Historiographie als auch fiktionale Literatur in der ständigen Anwesenheit dieses austrvegr – nicht desjenigen nach Konstantinopel, der gar nicht so heißt336 – dokumentieren, zumindest dem Anspruch nach zu trennen sind von

330 Vgl. Metcalf/Northover, Sporadic Debasement [2002]; Petersson, Anglo-Saxon Currency [1969]. 331 NI 20+NI 21. Vgl. Jackson, The Cult of St Olaf [2010]. 332 Garipzanov, Novgorod and the Veneration [2010] bzw. Garipzanov, The Cult of St Nicholas [2010] und Garipzanov, The Journey [2013]. 333 S. oben, S. 106. 334 Garipzanov, Wandering Clerics and Mixed Rituals [2012], S. 11–17. 335 Stender-Petersen, Die varägersage [1934], bes. S. 77–244. 336 Zilmer, »He drowned in Holmr’s Sea« [2005], S. 291–293. Vgl. die zahlreichen Fundstellen von austrvegr in der norrönen Historiographie und ihren fast ausschließlichen Bezug auf den Ostseeraum und sein südliches sowie östliches Hinterland (so NI 8, NI 71-NI 77, NI 82, NI 84, NI 86, NI 88, NI 92, NI 93, NI 95-NI 98, NI 106, NI 111, NI 157, NI 168, NI 171, NI 195, NI 205). Ein Anklang an den Weg nach Byzanz, wie ihn die Povest’ vremennych let beschreibt, findet sich allein im Þorvalds þáttr víðfo˛rla (NI 204). Das Ágrip (NI 111) unterscheidet gar zwischen dem austrvegr, der Haraldr Sigurðarson nach Hólmgarðr-Novgorod führt, und seinem danach folgenden Weg nach Miklagarðr. Zu den fiktionalen Texten s. v. a. NII 58 sowie unten, S. 759ff.

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der direkten Beziehung mit Byzanz.337 Die Kontakte mit Novgorod sind nämlich keineswegs exklusiv an Haraldr Sigurðarson gebunden. Schon Óláfr Tryggvason vor ihm war in der Rus’ aufgewachsen,338 desgleichen war Óláfr Haraldsson 1028 zu Jaroslav geflohen.339 Diese Kontakte setzten sich durchgehend fort: Gyða, die Tochter Harold Godwinessons, wurde in die Rus’ verheiratet. Ihr Sohn mit Vladimir von Novgorod war Mstislav, der wiederum Kristín Ingadóttir von Schweden zur Frau nahm. Ihre Tochter Malmfred war zuerst die Frau des norwegischen Kreuzfahrerkönigs Sigurðr Magnússon Jórsalafari, dann des Dänenkönigs Erik Emune; eine weitere Tochter, Ingeborg, wurde die Frau Knud Lavards und damit die Mutter Valdemars (Vladimirs) des Großen, der wiederum Sophia von Minsk ehelichte.340 Diese skandinavisch-rusischen Ehen sind Teil einer Heiratspolitik seit Jaroslav, welche die Rus’ auch mit anderen Gebieten Lateineuropas verknüpft. Die Kontakte werden also mit der Zeit eher noch dichter als schwächer, und das belegen sowohl die Menge der über Novgorod in den Norden gelangten Handelswaren als auch die intensive rusische Prägung der Kirchenausmalungen auf Gotland im 12. Jahrhundert. Der Novgoroder Raum war ganz einfach ein Teil des Nordens; die niederdeutschen Kaufleute des 13. Jahrhunderts drangen nicht in Neuland vor, als sie Novgorod erreichten, sondern folgten einem uralten und funktionalen Netz des Handels. Zudem ist der Einfluss eines möglichen rusischen Personenumfelds an den skandinavischen Höfen im frühen 12. Jahrhundert viel handfester als zu Haralds Zeit. Während die Anwesenheit Ellisifs in Norwegen äußerst nebulös bleibt, wissen wir, dass Malmfred, Ingeborg und Sophia jahrzehntelang im Zentrum der Macht anwesend waren. Da sich die Spuren des Transfers erst in Texten des 12. Jahrhunderts oder später manifestieren, ist die Rückbindung an frühere konkrete Szenarien des Kontakts, die ständig auf ganz verschiedenen Ebenen der Gesellschaft existierten und von denen wir nur die Spitze des Eisbergs kennen, völlig offen und muss es bleiben. Zugleich sollten wahrzunehmende »konfessionelle« Einflüsse des griechischen Christentums nicht überbewertet werden: Zum einen spielte das »Schisma« von 1056 im Norden so lange keine Rolle, bis es zum politischen Argument im Streit zwischen Schweden und der Rus’ um ihre Interessensphären wurde,341 zum an-

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Vgl. dazu oben, S. 56ff. NI 78-NI 82. NI 98-NI 104. S. GD, D47, Knýtlinga saga, NI 171-NI 173, und die norrönen Kompendien, NI 146. Vgl. dazu Lind, De russiske ægteskaber [1992]; zu verbindenden Namenstraditionen Uspenskij, Dynastic Names [2003]. S. auch die Genealogien der norwegischen und dänischen Könige, Anhang 2.1. und 2.4. 341 Lind, Russian-Swedish Rivalry [1991], S. 284–294; Korpela, The Russian Threat [1997]; Sverrir Jakobsson, Schism that never was [2008], S. 184f.

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deren sind die Differenzen nicht so groß, dass sich bestimmte Elemente und Praktiken eindeutig als »römisch« oder »orthodox« kennzeichnen und sich hieraus ein bewusstes Bekenntnis der Beteiligten konstruieren ließe.342 Der monolithische Eindruck vom lateinischen Christentum entstammt dem 13. Jahrhundert.343 Insbesondere bezüglich bestimmter Erzählmotive, welche die byzantinischen, rusischen und skandinavischen Literaturen teilen, ist äußerste Vorsicht angezeigt. Gewöhnlich finden sie sich nämlich auch in lateineuropäischen Texten, und zwar deutlich vor der Entstehung unserer Kompendien, in Regionen, wo die gelehrten Skandinavier zur Schule gingen und aus denen sie ihre Lehrer und Bücher bezogen. Die Annahme, bestimmte Motive wie etwa die Vögel als Brandbomben oder die Walnüsse zur Feuerung müssten mit Haraldr in den Norden gekommen sein, bloß weil ein gelehrter Autor sie 150 Jahre später auf ihn projiziert, kennzeichnet einen archäologischen und zudem isolationistischen Reflex, der die synchrone europäische Vernetzung der hochmittelalterlichen Literatur verkennt. Unzweifelhaft ist es attraktiv, aus der Erde oder dem (vermeintlichen) Wust eines Textes geborgene, »byzantinisch« erscheinende Dinge einem bekannten Akteur zuzuordnen; ohne Akteursbezug kommt auch postmoderne Historiographie kaum aus. Die zeitliche und personale Engführung auf Haraldr, welche Elemente verschiedenster Zeitepochen miteinander verknüpft, führt jedoch zur Überbetonung seiner Rolle, zur Vernachlässigung dauerhafter Strukturen von Kulturbeziehungen, zur Verschleierung der Differenz zwischen direktem Kontakt mit Byzanz und indirekter Vermittlung über die Rus’ und zum Verschwinden der unendlich zahlreichen anderen Wege und Zeiten, auf beziehungsweise in denen Erzählmotive in hochmittelalterliche Texte sowie über den Osten vermittelte Praktiken und Inhalte in Rechtstexte und Kulte gelangt sein können. Der wiederholt begegnende Glaube an die Authentizität von Erzählkernen erledigt sich mitunter schon durch ihr wiederholtes identisches Auftreten im selben Kompendium. Eine präzise Analyse des modularen, eklektizistischen Aufbaus von Haralds Geschichte in Byzanz und ihrer wohlgemerkt literarischen, nicht oralen Entwicklung unterstreicht denn auch, dass »freimündliche« Traditionen jenseits der Skaldenstrophen praktisch keine Rolle spielten. Vor allem aber zeigt sich weder in den Strophen noch in der Prosa der Sagas ein Reflex auf die an ganz anderen Texten und Artefakten festgestellten, kaum datierbaren »orthodoxen« Einflüsse.

342 Dies betont Garipzanov, Wandering Clerics and Mixed Rituals [2012], S. 14–16. 343 Vgl. hierzu Bartlett, Die Geburt Europas [1996], bes. S. 309–337.

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1.7.

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Historiographie, ihre hochmittelalterliche Zeit und ihre erzählte Wikingerzeit

So ergibt sich als Erkenntnis auch aus zeitgenössischen Schriftquellen, dass klar fassbare Nachwirkungen von Haralds Byzanzaufenthalt auf die Wahrnehmung seiner Herrschaft ausbleiben – es sei denn, man wollte sein Epitheton inn harðráði, der »hart Herrschende«, ohne Grundlage in den Quellen als Hinweis auf einen byzantinisch angehauchten Herrscher-Habitus deuten. Umgekehrt benötigte man für die Deutung von Transfer in der materiellen Kultur und der Mythologierezeption die Sagas und die übrigen skandinavischen Quellen nicht. Für ein Verständnis der Menia und der dänischen Münzen genügten vollauf die Informationen aus Kekaumenos. Zweifellos bildete das von ihm mitgebrachte Edelmetall ein zentrales Element für die Stabilität seiner Herrschaft, half es doch, den skandinavischen Herrschern stets drohende »redistributive Krisen« zu vermeiden.344 Doch bleibt es höchst fraglich, ob und inwiefern sich Haralds byzantinische Erfahrungen im völlig anders gearteten norwegischen Kontext nutzen ließen, angefangen bei der anderen Form der Flotten- und Heeresorganisation über die Art der Kriegsführung bis hin zur Sozialstruktur und den Verteilungsmechanismen von Macht innerhalb der Eliten. Mangelnde kulturelle Kompatibilität beziehungsweise Synchronität setzte den Möglichkeiten zur Rekontextualisierung des Fremden enge Grenzen.345 Das gilt im 11. Jahrhundert auch jenseits von Haralds direktem Umfeld: Außer zeitgenössischen Segensformeln in schwedischen Runeninschriften spricht, abgesehen von der Verehrung etwa des Heiligen Clemens und kleineren rituellen Details, nichts für eine größere Eindringtiefe byzantinischen Denkens; die Ikonographie der lokal produzierten, auf griechisch-christliche Vorlagen zurückgehenden Kreuzanhänger spricht sogar dezidiert dagegen. Die Nachahmungen byzantinischer Münzen im 10. und frühen 11. Jahrhundert, abgesehen von den dänischen um die Jahrhundertmitte, spiegeln zwar ebenso wie die Nutzung der Originale als Anhänger das Prestige der Bilder, jedoch kein vertieftes Verständnis der hinter den Bildern stehenden Konzepte oder der Inschriften. Die Frage, was genau Haraldr in Byzanz geschah, welche Konsequenzen sein Aufenthalt in Byzanz dort und später im Norden hatte, lässt sich jenseits von Kekaumenos’ zeitnahem Text und eindeutigen Zeugnissen zeitgenössischen Transfers nicht mehr beantworten. Der Rückgriff auf hochmittelalterliche skandinavische Texte führt hier praktisch immer und unmittelbar zum Zirkelschluss, weil, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinerlei klare Berührungs344 Vgl. etwa Bagge, Borgerkrig og statsutvikling [1986], S. 156–164, 167f. Aus makrohistorischer Sicht gerade für jene Zeit Moore, The First European Revolution [2000], S. 39–55, 126– 140. 345 Zu Prozessen kreativer Einpassung des Fremden in das lokale kulturelle Ensemble oben, S. 67ff.

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punkte mit vorgefundenen Kulturgütern byzantinischen Ursprungs vorhanden sind und erst der suchende Historiker sie aktiv interpretierend herstellen muss. Dabei werden die Texte zwangsläufig fragmentiert, die Fragmente gegen die Eigenlogik der Texte ausgerichtet und ihre Aussage damit deformiert. Dies gilt oftmals sogar für zeitgenössische Skaldenstrophen, die etwa bei der Blendung des Basileus durch Haraldr bereits so stark lokal rekontextualisiertes Wissen enthalten, dass seine Rückbindung an Ereignisse in Byzanz nicht mehr eindeutig rekonstruierbar ist – was wiederum den hohen Grad der kreativen Transformation beim Überschreiten einer kulturellen Schwelle dokumentiert. Insofern illustriert die Geschichte von Haraldr Sigurðarsons Aufenthalt in Byzanz und seinen synchronen wie diachronen Konsequenzen einleitend zur Frage nach der Bedeutung von Byzanz im Norden sehr deutlich, dass die skandinavische Historiographie von ihrer erzählten Zeit zu lösen ist. Ihre Ausschlachtung im Hinblick auf bestimmte Bruchstücke an Informationen ist nicht nur in quellenkritischer Hinsicht bedenklich, sondern verstellt auch den Blick auf konsistente hochmittelalterliche Byzanzbilder, deren synchrone Genese sowie deren Wandel im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters sich sehr viel besser analysieren und begründen lassen, die bisher von der Forschung aber vernachlässigt wurden. Im literaten Raum bietet sich die Möglichkeit des Vergleichs zwischen unterschiedlichen Texten und Corpora verschiedener skandinavischer Regionen sowie mit der bereits etablierten Geschichte der byzantinischen Wahrnehmung von Skandinaviern und Skandinavien. Konjekturen lassen sich weitaus besser über synchrone Kontrollquellen absichern. Daher richtet sich das Erkenntnisinteresse, wie schon eingangs betont, auf die Emergenz von Byzanz in den Schriftquellen des Nordens, also nicht primär auf die Frage des Zusammenhangs zwischen beschriebenem Ereignis und Text, sondern auf die Konstitutionsbedingungen der Nachrichten im Text selbst und all die Faktoren, welche hierauf wirken. Hierbei rücken neben lokalen politischen und ästhetischen Faktoren vor allem Fragen synchroner Kontaktkonstellationen und Prozesse des Kulturtransfers, ihre mögliche Überlagerung, Amalgamierung und Überschreibung mit möglichen älteren Traditionen und anderweitig erlangtem Wissen in den Blick. Eine nach der erzählten, extratextuellen Zeit vorgehende Untersuchung, das beweist die eingehende Analyse von Haralds Geschichte, kann hierbei nicht ans Ziel führen. Stattdessen sind der spezifische Zeitpunkt der Emergenz eines kohärenten Byzanzbildes in der Historiographie und seine Entwicklung von diesem Punkt aus von höchstem Interesse. Vom Ort des geringsten Abstands zwischen Text und erzähltem Ereignis aus lässt sich schließlich der stetig wachsende Raum aus Geschichtskonstrukten aufspannen, welchen die zwei Fluchtlinien vorwärts schreitender historiographischer Gegenwart und rückwärts blickender Erzählungen konstituieren. Dabei wenden wir uns der dänischen Historiographie

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zuerst zu, lässt sich doch anhand der im Dänemark des 12. Jahrhunderts zeitlich recht gleichmäßig verteilten Texte die Gegenwart der Historiographen und ihr Wandel in relativ kleinen Schritten verfolgen und zudem mit Zeugnissen der lokalen romanischen Kunst kontrastieren.

2.

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2.1.

Das Schweigen der frühen Quellen

Es begann mit dem Ersten Kreuzzug. Der König Erik Ejegod, vierter Sohn und Nachfolger von Svend Estridsen, zog um das Jahr 1102 zum zweiten Mal während seiner seit 1095 währenden Herrschaft nach Rom und von dort weiter nach Konstantinopel, das er 1103 erreichte. Es sollte das erste Mal sein, dass ein byzantinischer Herrscher nicht einem Kriegsherrn, sondern einem skandinavischen König an der Spitze eines Heeres begegnete, über dessen Umfang man freilich nur spekulieren kann, das aber auf 14 byzantinischen Galeeren eingeschifft werden konnte.346 Glaubt man der Chronik des Albert von Aachen, war Erik schon sein Bruder Svend Svendsen mit zwei Bischöfen und einem Heer von 1500 Mann vorausgezogen, etwas später als das Hauptheer ebenfalls in Konstantinopel empfangen, jedoch bei Philomelion von den Türken besiegt worden und mit seinen Leuten gefallen;347 auch im Hauptheer des Ersten Kreuzzugs hatten sich Skandinavier befunden.348 Von alldem nehmen byzantinische His346 Vgl. Fledelius, Royal Scandinavian Travellers [1996], S. 214f. und oben, S. 108. Die Fundstellen zu Eriks Kreuzzug (D3, D4, D7, D9, D14, D49, D57, D60, D65, D68, D81, D85, D91, NI 170) werden im Folgenden ausführlicher behandelt. Møller Jensen, Denmark and the First Crusades [2007], S. 297 nennt einen Umfang von 3000 Mann, der sich aber in den von ihm angegebenen Quellen nicht verifizieren lässt. Die 14 Schiffe nennt Markús Skeggjason: Eiríksdrápa, Str. 24 (vgl. Kn.s., NI 169 bzw. Anhang 1.7). Geht man von einer Besatzungsstärke einer byzantinischen Galeere von maximal etwa 160 Mann aus (Pryor/Jeffreys, Age of the δρόμων [2006], S. 449f.), ergeben sich 2240 Mann Besatzung. Rechnet man mit einem Viertel einheimischer Besatzung, käme man auf eine Stärke des dänischen Heeres von ca. 1500 Mann. 347 Albert of Aachen: Historia Ierosolimitana, ed. Edgington [2007], I,5, S. 6–8, III,54, S. 222– 224, X,1, S. 718, X,7, S. 724; zu weiteren Fundstellen beim Annalista Saxo, Guillaume von Tyrus und in der Estoire de Eracles s. Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 279f.; Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 201–209. 348 Ekkehardi chronicon, ed. Waitz [1843] sub A.D. 1097, S. 208, Z. 46f. erwähnt Dani und Northmanni im Heer des Ersten Kreuzzugs unter Godefroy de Bouillon, doch begegnen jene Dani nicht an der entsprechenden Stelle bei Fulcheri Carnotensis Historia Hiersolymitana, ed. Hagenmeyer [1913], I,13, S. 203, der von Daci spricht, die Hagenmeyer als Donauanrainer begreift, was auch ihrer Position in der Aufzählung entspricht. Bei Henry v. Huntingdon: Historia Anglorum, ed. Greenway [1996], VII,6, S. 424 steht Dacia als Her-

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toriographen, bei denen der Erste Kreuzzug an sich einen nachhaltigen und durchaus nicht positiven Eindruck hinterlassen hatte,349 keine Notiz, und die frühe skandinavische Historiographie tut dies – das ist das eigentlich Überraschende – ebenfalls nicht. Von Svend wüssten wir ohne die Chroniken Alberts, des Annalista Saxo oder Rogers of Wendover gar nichts, und Eriks Kreuzzug wird bei Ælnoth von Odense, der den König so ausgiebig ob seiner Förderung des Kultes seines älteren Märtyrerbruders Knud lobt, gar nicht erwähnt. Obwohl Erik auf der Weiterreise von Konstantinopel nach Jerusalem auf Zypern starb, hat auch das 1138 entstandene Chronicon Roskildense, eine Bistums- und Königschronik, nicht mehr als einen lapidaren Satz für seine Reise und sein Ableben auf Zypern übrig,350 beklagt aber sehr ausgiebig etwa den Schlachtentod des Thronfolgers Magnus Nielsen, eines Neffen Erik Ejegods, in der Schlacht von Fodevig als Konsequenz von Konflikten in der Königsfamilie 1134.351 Auch der Bischof Svend Nordmand, der 1088 auf einer Pilgerreise nach Jerusalem auf Rhodos starb, erhält mehr Aufmerksamkeit.352 Weder die Tatsache der Kreuzfahrt noch der Kontakte mit Byzanz erzeugen in den frühen Zeugnissen der dänischen Historiographie größere Aufmerksamkeit. Dass der isländische Magnat und Skalde Markús Skeggjason vor 1107 eine drápa auf Erik Ejegod dichtete und dabei auch Interaktionen mit Alexios Komnenos in Byzanz schilderte, erfährt man erst aus der um die Mitte des 13. Jahrhunderts auf Island verfassten Knýtlinga saga.353 Saxo Grammaticus nutzt ihre Inhalte ein gutes halbes Jahrhundert früher; vor den 1160er-Jahren lässt kein Text aus Dänemark Anklänge an eine besondere skandinavisch-byzantinische Beziehung erkennen, was sich jedoch rapide ändert. Damit zeigt sich eine bemerkenswerte Synchronität zur byzantinischen Aufmerksamkeit für Axtträger, die seit Manuel Komnenos, besonders aber zwischen 1180 und 1204 ihren Höhepunkt erreicht.

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350 351 352 353

kunftsland der Kreuzfahrer zwischen Flandria und Saxonia, meint also sicher »Dänemark«. Vgl. auch Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 197–199, der jedoch Normannen und Skandinavier aufgrund des gleichen »Volkstums« vermischt. Vgl. zur byzantinischen Wahrnehmung der Kreuzfahrer Angold, Fourth Crusade [2003], S. 28–47; Laiou, Byzantium and the Crusades [2005]; Queller/Madden, The Fourth Crusade [1997], S. 40–54; Nicol, The Byzantine View [1967], S. 315–330; Beck, Byzanz und der Westen [1968]; Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 181–185. Sie schließt indes Skandinavier nicht ein, vgl. oben, S. 245. D3; zur Textgenese vgl. Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004], S. 198–214; Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 16–29. CR Kap. 15, S. 29. D2. NI 169+NI 170.

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Stumme Artefakte: Ørnetæppet und Dagmarkors Dem offensichtlichen Desinteresse der dänischen Historiographen stehen dabei bedeutende Artefakte gegenüber: Obwohl Erik nicht zurückkehrte, verdankt sich wahrscheinlich die Gegenwart sowohl des Seidentuchs, in welches die Gebeine seines Bruders Knud des Heiligen gewickelt waren (Abb. 14), als auch des so genannten Dagmarkreuzes (Abb. 13), eines Nationalkleinods des modernen Dänemark,354 der Begegnung zwischen Erik Ejegod und Alexios Komnenos.

Abb. 13: Byzantinisches Goldenkolpion mit Zellenemail, so genanntes Dagmarkreuz (spätes 11. Jahrhundert, Nationalmuseet, København), aus: Bangert, Dagmarkorset [2010], S. 266 (links) und 267 (rechts).

Das ursprünglich dunkelrot-purpurfarbene Seidentuch mit in Medaillons angeordneten, blauschwarzen Motiven eines Adlers, der einen Ring im Schnabel hält und ursprünglich wohl circa 2,3 auf 1,5 Meter maß, wurde in einem der beiden nach der Reformation geplünderten und mehrfach umgebetteten Sarkophage des 1086 ermordeten Knud des Heiligen und seines Bruders Benedikt gefunden, zusammen mit einem Seidenkissen mit Vogelmotiven. Ein Zusammenhang mit der ursprünglichen Beisetzung in Knuds Schrein ist sehr wahr354 Zur Rezeption zuletzt Bangert, Dagmarkorset [2010], S. 271–281.

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scheinlich.355 Lange Zeit hielt man das Adlertuch für eine Arbeit aus dem Mezzogiorno, möglicherweise auch aus dem muslimisch beherrschten Mediterraneum.356

Abb. 14: Ørnetæppet (»Adlertuch«) aus dem Sarkophag Knuds des Heiligen (um 1100, Odense Domkirke), aus: Hedeager Krag, Ørnetæppet [2010], Umschlagbild.

355 Riis/Riis, Knud den Helliges ørnetæppe [2004], S. 259–261; zur Ausstattung und Geschichte der Sarkophage Bøggild Johannsen/Johannsen, DK Odense Amt 2 [1995–1996], S. 431–458. 356 Abb. 14. Geijer, Sidenvävnaderna i Knuts helgonskrin [1935]; Geijer, Textilier [1975], S. 160; Østergaard, Nogle mønstrede silketøjer [1980], S. 91f. und Bøggild Johannsen/Johannsen, DK Odense Amt 2 [1995–1996], S. 436 halten auch aus stilistischen Gründen den Stoff für eine sizilianische Arbeit und Imitation byzantinischer Seidentuche, analog zum Mantel Rogers II. Muthesius, Byzantine Silks in Viking Hands [1996], S. 186–188 hält das Adlertuch aufgrund eines Vergleichs mit anderen byzantinischen Seidenarbeiten mit Adlermotiven, der Qualität der Webarbeit und aufgrund der verwendeten Farbstoffe für eine Arbeit aus dem muslimischen Spanien. Die ausführlichste Analyse findet sich bei Hedeager Krag, Ørnetæppet [2010], hier bes. S. 20–26. Sie kommt auch aufgrund neuer Farbanalysen zu dem Schluss, dass das Adlertuch aus einer byzantinischen Werkstatt stammt. Vergleichbare Adlertuche aus dem sind erhalten in Auxerre (von Hugo de Chalon, † 1039), Berlin (ursprünglich aus dem Grabe des Bfs. Calvo von Vic/Katalonien, das Tuch datiert um 1100), Brixen (von Bf. Albuin, † 1006), Salzburg und Stuttgart.

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Den Hintergrund hierfür bildete eine Äußerung in Ælnoths Gesta Swenomagni regis et filiorum eius et Passio gloriosissimi Canuti regis et martyris, Knuds Witwe Adela von Flandern habe als Frau des Herzogs Roger Borsa aus Apulien preciosi zur Ausstattung von Kunds Grab geschickt, die aber nicht näher spezifiziert werden.357 Zum Sprechen bringen hingegen konnten das Artefakt, das nur noch einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe besitzt, Thomas Riis und P. J. Riis, denen es gelang, die durch Beschädigungen nur schwer erkennbaren, etwa einen Zentimeter hohen griechischen Inschriften zu rekonstruieren, welche unter den Adlern angebracht sind. Eine mögliche Auflösung der bislang nur für Schriftimitation oder für unleserlich gehaltenen Abbreviaturen ergibt ἐπ’ Ἀλεξίου φιλοχρίστου δεσπότου (»unter dem Herrscher Alexios, Freund Christi«), was einen Zusammenhang mit Eriks Kreuzzug in der Tat wahrscheinlich macht.358

Abb. 15: Ørnetæppet, Detailaufnahme des Inschriftenbandes unter den Adlern von Annemette Bruselius Scharff, aus: Hedeager Krag, Ørnetæppet 2010, Fig. 4, S. 23.

Abb. 16: Ørnetæppet, Rekonstruktionsvorschlag der Inschrift von Riis/Riis, Knud den Helliges ørnetæppe [2004], Fig. 4, S. 264f.

Die Strophe 28 von Markús Skeggjasons zeitnah entstandener Eiríksdrápa spricht in der Tat davon, Erik habe ein klæði allvalds, ein Tuch des »allermächtigsten Herrschers«, erhalten, abgesehen von Gold und Kriegsschiffen.359 Im Wesentlichen sprechen zwei Argumente gegen eine Herkunft aus den kaiserlichen Werkstätten in Konstantinopel und damit gegen eine Verknüpfung mit Eriks Kreuzzug: die verwendeten Farbstoffe und die Webtechnik. Letztere entspricht qualitativ nicht den konstantinopolitanischen Tuchen, die in Brixen und

357 D1. 358 Riis/Riis, Knud den Helliges ørnetæppe [2004], S. 263–267; s. Abb. 15 und 16. 359 Eiríksdrápa, Str. 28. Vgl. NI 170 und Anhang 1.7.

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Auxerre gefunden wurden.360 Auf der anderen Seite sind jene Tuche etwa ein Jahrhundert älter und stammen damit aus der Zeit der makedonischen Renaissance; inwiefern die Krise des späten 11. Jahrhunderts sich auf die Qualität zeitgenössischer Produkte in Webtechnik und Färbung auswirkte und ob damit eine direkte Vergleichbarkeit mit den älteren Tuchen gegeben ist, bleibt eine offene Frage. Dass die rotvioletten Fäden für den Hintergrund der Adlermotive im Odenser Stück nicht mit echtem Schneckenpurpur, sondern mit Indigo oder Waid sowie Krapp und Brasilholz gefärbt sind,361 muss nicht gegen die byzantinische Provenienz sprechen, schließlich war der kaiserliche Farbstoff nicht im Überfluss vorhanden. Gerade Alexios kämpfte mit knappen Ressourcen, es wurden durchaus auch Ersatzstoffe verwendet, und man warf nicht das Teuerste vom Teuersten vor die Barbaren.362 Umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass etwa eine spanische Werkstatt die griechische Inschrift erfolgreich kopierte. Steht das Ørnetæppet oder Adlertuch ziemlich eindeutig in Zusammenhang mit Byzanz und wahrscheinlicha auch mit Eriks Kreuzfahrt, verhält es sich mit dem Dagmarkreuz etwas komplizierter: Es handelt sich um ein mit Zellenemail belegtes Goldenkolpion mit sich verbreiternden Kreuzarmen, die jeweils mit zwei Rundeln verziert sind. Gefunden wurde es 1683 in einem Frauengrab in der St. Bendts kirke zu Ringsted, in dem die Königin Dagmar von Böhmen, die Frau Valdemars II. (†1212) beigesetzt gewesen sein soll; es könnte sich indes auch um das Grab der Prinzessin Richiza († 1220) handeln.363 Dargestellt ist auf der Vorderseite der Kruzifixus als Christus mortuus mit S-förmig gebogenem Körper und nach rechts gelegtem Haupt, auf der Rückseite der Pantokrator, umgeben von den Heiligen Johannes dem Täufer und Maria an den Seiten, Basileios dem Großen oben und Ioannes Chrysostomos unten. Aufgrund der exzellenten Qualität wird es gemeinhin als hauptstädtisches Produkt aus Byzanz angesehen und der Sphäre diplomatischer kaiserlicher Gaben zugordnet; allein die stilistische und technische Einordnung führte zu widersprüchlichen Datierungen von 360 Geijer, Sidenvävnaderna i Knuts helgonskrin [1935], S. 104; Hedeager Krag, Ørnetæppet [2010], S. 24. Vgl. die Liste ähnlicher Tuche in Anm. 356. 361 Hedeager Krag, Ørnetæppet [2010], S. 44–52, bes. S. 52. 362 Muthesius, Byzantine Silks in Viking Hands [1996], S. 186, 191 argumentiert mit Färbestoffen, die in der muslimischen Welt vorkommen, und aufgrund des Vergleichs mit dem Tuch aus Vic für eine spanische Provenienz, doch wenden Riis/Riis, Knud den Helliges ørnetæppe [2004], S. 267 ein, dass die Abwesenheit des »echten« Farbstoffs gerade angesichts der Krise unter Alexios wenig Aussagekraft besitze. Auch Hedeager Krag, Ørnetæppet [2010], S. 20–22 spricht sich gegen eine Verortung nach Spanien aus. 363 Die umfangreiche Forschungsgeschichte zum Dagmarkreuz ist hier nicht nachzuvollziehen; die Erkenntnisse hier und im Folgenden stützen sich in erster Linie auf Lindahl, Dagmarkorset [1978]; Lindahl, Dagmarkorset, Orø- og Roskildekorset [1980]; Liebgott, Middelalderens emaljekunst [1986], bes. S. 14; Staecker, Rex regum [1999], S. 176–180, 433f. sowie Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], S. 129–141.

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um 1000 bis ins 13. Jahrhundert, die jedoch zuletzt eine Entstehung im späten 11. Jahrhundert nahelegten.364 Bemerkenswert ist der Zustand des ehemaligen Enkolpions: Man kann davon ausgehen, dass eine ursprünglich enthaltene Reliquie, naheliegenderweise ein Fragment des Wahren Kreuzes, entnommen wurde, da das Behältnis leer ist,365 das Schloss fehlt, die beiden Hälften des Enkolpions zusammengelötet, das Gewinde platt gehämmert und eine neue Aufhängung angebracht wurden.366 In diesem Zustand muss es lange Zeit hindurch getragen worden sein, wie diverse Verschleißspuren zeigen, bevor es mit einer Königin oder Prinzessin beigesetzt wurde. Wenn man nun beobachtet, dass Saxo berichtet, Erik habe ein Kreuzreliquiar erhalten und an die von ihm gebaute Kirche in seinem Geburtsort Slangerup geschickt und die Eiríksdrápa bestätigt, dass Erik Reliquien erhielt, wenn auch ohne genaue Angabe der Herkunft,367 fällt es schwer, sich der Annahme zu entziehen, dass das Dagmarkreuz der Behälter der Kreuzreliquie war, die Erik zusammen mit Gold und dem Adlertuch erhielt. Dass man im skandinavischen Norden keine Kreuzreliquie um den Hals trug, leuchtet angesichts der äußerst begrenzten Möglichkeit zum Erwerb ein. Die Heimskringla berichtet ausführlich von der Katastrophe, dass 1135 wendische Seeräuber die von Sigurðr Jórsalafari in Jerusalem erhaltene Kreuzreliquie aus der Königsfestung Konghelle gestohlen hätten.368 Die von Erik erworbene Reliquie, von der auch die norröne Überlieferung zu berichten weiß, wäre also folgerichtig aufgrund ihrer enormen Wertsteigerung infolge einer Verlagerung nach Skandinavien in einen Schrein in der Kirche zu Slangerup gewandert, das Enkolpion, nunmehr ein Kruzifix, als prestigeträchtiges und möglicherweise

364 Dalton, Byzantine Art and Archaeology [1911], S. 527 datiert das Kreuz aufgrund seines Fundkontextes in das spätere 12. Jh., ähnlich Wessel, Die byzantinische Emailkunst [1967], S. 187 aufgrund des Stilvergleichs mit anderen Emailarbeiten, der eine Entstehung um 1200 in Thessalonike nahelegt; mit demselben Zeithorizont rechnen Blindheim, Byzantine Influence [1981], S. 309, Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], S. 122f. und Bangert, Dagmarkorset [2010], S. 269–271. Lassen, Dansk kunsthistorie 1 [1972], S. 34 und Lindahl, Dagmarkorset [1978], S. 11 sprechen sich dagegen aufgrund anderer Vergleichsbezüge für eine Datierung um 1000 aus; dagegen vertreten Lindahl, Dagmarkorset, Orø- og Roskildekorset [1980], S. 7 und Liebgott, Middelalderens emaljekunst [1986], S. 14 eine zeitliche Verortung um 1100. Staecker, Rex regum [1999], S. 179f. spricht sich auf der Basis der Forschungsgeschichte und von Vergleichen insbesondere mit dem in äußerer Form mit Rundeln und Christus-Ikonographie extrem ähnlichen, ebenfalls in Zellenemail ausgeführten, nachträglich auf eine Monstranz montierten Kreuz von Gaeta aus dem späten 11. Jh. ebenfalls für eine vergleichbare zeitliche Einordnung aus, die auch angesichts der langen Nutzung vor der Beisetzung im frühen 13. Jh. am plausibelsten erscheint. 365 Röntgenaufnahmen zeigen, dass das Behältnis kein Holz enthält (Lindahl, Dagmarkorset, Orø- og Roskildekorset [1980], S. 9). 366 Lindahl, Dagmarkorset [1978], S. 13f. 367 GD, D49; Eiríksdrápa Str. 27, s. Anhang 1.7 und Knýtlinga saga, NI 170. 368 NI 151.

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wirkmächtiges Zeichen von Frömmigkeit und Status im Besitz der Königsfamilie verblieben. So verlockend diese Hypothese auch ist, muss man jedoch konzedieren, dass praktisch unendlich viele andere Möglichkeiten des Transfers in den Norden bestehen: Es ist denkbar, dass Dagmar das Kreuz aus Böhmen mitbrachte, dass es aus Kiever oder Minsker Besitz stammte und mit Malmfred oder Sofia nach Dänemark kam,369 dass es erst später von Manuel verschenkt wurde, dass es 1195 mit Alexios’ III. Bittschreiben um Soldaten nach Dänemark kam,370 oder dass es sich gar um Beute aus dem Vierten Kreuzzug handelte.371 Als Artefakt verdeutlicht es in Kombination mit unserem Wissen um die Realbegegnung zwischen Erik und Alexios jedoch, welche für die königliche Umgebung sichtbaren Konsequenzen die Begegnungen in Byzanz zeitigen konnten. Zudem wurde der Kreuztyp, den das Dagmarkors repräsentiert, im Norden rezipiert und nachgebildet, wie ein auf Öland gefundenes Silbergusskreuz (Abb. 17) und das Fragment der Rückseite eines Bronzegusskreuzes aus Råga Hörstad/Schonen (Abb. 12) sowie weitere Stücke mit ähnlicher Form belegen, die freilich nicht auf das Dagmarkreuz als direktes Vorbild zurückgehen müssen.372 Dass die beiden Gegenstände in ihrem dänischen Kontext um 1100 indes weitgehend stumm bleiben, ist eine Konsequenz aus der schriftlichen Überlieferung. Man kann einerseits keineswegs behaupten, dass skandinavisch-byzantinischer Kontakt nach Haraldr Sigurðarsons Rückkehr schwand. Ganz im Gegenteil führten die skandinavischen Kreuzzüge unter Erik Ejegod, Lagmaðr Goðrøðarson von Man und Sigurðr Jórsalafari zu massenhaften Begegnungen und Rekrutierungen durch die Byzantiner.373 Offensichtlich hätte Ælnoth andererseits,

369 Weiterhin findet sich die These einer späteren Ankunft mit Dagmar zuletzt bei Bangert, Dagmarkorset [2010], S. 269–271. 370 Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], S. 141 rechnet mit einer Entstehung im späteren 12. Jh. und hält daher den Kontext der Gesandtschaften von Alexios III. Angelos an die skandinavischen Könige, wie ihn die Sverris saga dokumentiert (NI 37), für plausibel. 371 Lindahl, Dagmarkorset [1978], S. 16 hält dies für eine Option. 372 Zum so genannten Gåtebo-Kreuz (Abb. 17) von um 1100 Staecker, Rex regum [1999], S. 180– 184 und 452–454, zum Fragment aus Råga Hörstad aus dem 11. Jh. ebd., S. 180–184 und 438; bemerkenswerterweise stimmt gerade hier die Ikonographie der Maria orans, während das Gåtebo-Kreuz das Bildprogramm des Dagmarkreuzes transformiert; formale und ikonographische Nähe zum Byzantinischen gehen hier Hand in Hand (vgl. oben, S. 359 mit Anm. 295). Staecker verzeichnet noch vier weitere Enkolpien dieses Typs mit abgerundeten Balkenenden und paarigen Rundeln und rückseitigen Medaillons im Zentrum sowie an den Balkenenden aus Schweden (11./12. Jh., S. 184–191), denen ein ikonographisch ähnlicher Fund mit rückseitiger Maria orans aus Bornholm vom September 2012 hinzuzufügen ist (Nationalmuseet, Relikviekors [2012]). 373 Zu Lagmaðr s. das Chronicon regum Manniae (NI 178), zu Erik Ejegod D3, D4, D7, D9, D14, D49, D57, D60, D65, D68, D81, D85, D91, NI 170, zu Sigurðr Jórsalafari NI 133-NI 145.

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Abb. 17: Silberguss-Enkolpion aus Öland (ohne Fundort), so genanntes »Gåtebo-Kreuz« (spätes 11. Jahrhundert, Historiska Museet, Stockholm), Vorderseite (links) mit Aufhängung aus: Historiska museet, Samlingarna: http://catview.historiska.se/catview/media/highres/18112 (02. 03. 2015). Rückseite mit Deesis (rechts) aus: http://catview.historiska.se/catview/media/highres/ 19067 (02. 03. 2015).

der über die Vorgänge in Odense bestens unterrichtet war und nur kurz nach Erik Tod schrieb, problemlos vom Erwerb des Grabschmucks berichten können, wenn er es denn für notwendig oder nützlich erachtet hätte. Genau dies scheint im frühen 12. Jahrhundert nicht der Fall zu sein. Ælnoth konzentriert sich auf die Geschichte Knuds des Heiligen, seiner idealen Herrschaft und derjenigen seines Vorläufers und Wegbereiters Svend Estridsen, auf königsspiegelartige Vergleiche solch guter und schlechter Herrscher, die Diskussion idealer christlicher Herrschaft sowie die Förderung des Klosters an der Diözese Odense und seines Knudskultes durch die Könige.374 Das Chronicon Roskildense, 1138 als Streitschrift beziehungsweise historisches Gutachten unter dem Bischof Eskil im Konflikt um die Zukunft des eben aufgehobenen dänischen Erzbistums verfasst, das er nach Roskilde verlegen wollte,375 zeigt eine beinahe ostentative Geringschätzung für Erik, sowohl in der 374 Vgl. Gad, Legenden i dansk middelalder [1961]; Gad, Legenden i dansk middelalder [1961], S. 154f.; Breengaard, Muren om Israels Hus [1982], S. 122–203; Boje Mortensen, Sanctified Beginnings [2006], S. 252–259; Gelting, Gelting 2011 [2011], S. 38f.; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 36–47 bzw. Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 8–16. 375 Diesen Zusammenhang zeigt Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004], bes. S. 198–214 aufgrund eines logischen Bruchs im Chronicon Roskildense, das den König Erik Lam zunächst als zweiten David aufbaut, ihn dann aber vernichtend kritisiert, der formalen Aufhebung der Erzbistümer Lund und Gnesen 1133, dem totalen Schweigen der historiographischen Quellen zwischen Erzbischof Assers Tod um Mai 1137 und Eskils Umzug nach Lund im August 1138 sowie Differenzen zwischen den Königswürdigungen in den zwei Lundenser Memorialbüchern, von denen eines zudem ein Massaker unmittelbar nach Pfingsten 1137 erwähnt, offenbar im Kontext der Wahl eines Nachfolgers für Asser. Of-

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Bewertung seiner Herrschaft als auch der Ignoranz gegenüber seinem Tod auf einer Kreuzfahrt.376 Die Hintergründe hierfür sind in erster Linie politischer Natur: Der Auftraggeber, Bischof Eskil von Roskilde, der alsbald als Erzbischof gegen seinen Willen nach Lund verpflanzt werden sollte, war in langjährigen Fehden zwischen zwei Zweigen der Königsfamilie ein Gegner der letztlich obsiegenden Partei gewesen: 1131 hatte Magnus, der Sohn von Erik Ejegods jüngerem Bruder und Nachfolger Niels, seinen Konkurrenten und Vetter Knud Lavard, den Sohn Erik Ejegods, ermordet. Knuds Macht im Raum um Schleswig und vor allem südlich davon entlang der Ostseeküste, wo er von den Abodriten 1129/30 als Herrscher (kn’az’) anerkannt und durch den befreundeten Lothar von Supplinburg entsprechend belehnt worden war, hatte augenscheinlich ein Ausmaß erreicht, das ihn für Magnus und auch seinen Vater, den König Niels, zur Bedrohung werden ließ, ganz unabhängig davon, ob Knud seinen Vetter durch entsprechende Machtdemonstrationen provoziert hatte oder nicht. Ein weiterer, entscheidend eskalativer Faktor war der Tod der Königin Margrethe Fredkulla im Jahre 1130; sie hatte nicht nur den verhältnismäßig schwachen König Niels durch ihre erheblichen schwedischen Ressourcen gestärkt, sondern durch die Verheiratung ihrer polnischen und rusischen Nichten mit Magnus Nielsen, Knud Lavard und Henrik Skadelår, die verschiedenen Linien der Königsfamilie miteinander verklammert und so den Frieden gesichert.377 Nach Knuds gewaltsamem Tod in Haraldsted Skov auf Seeland erhoben sich unmittelbar seine Halbbrüder Erik Emune und Harald Kesje gegen Niels und Magnus. Magnus fiel, als das königliche Heer 1134 in Fodevig in Schonen von Erik Emune und sächsischen Verbündeten überfallen wurde; Niels wurde wenig später in Schleswig, dem alten Zentrum von Knud Lavards Herrschaft, von den Bürgern erschlagen.378 1137 geriet der Bischof Eskil offenbar in Sachen des Erzbistums (sub titulo libertatis) in einen bewaffneten Konflikt mit dem neuen König Erik Emune,379 dessen Allianz die Verehrung von

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fensichtlich war vorübergehend der Bischof Rike von Schleswig Bischof von Lund (vgl. hierzu auch Scheel, Lateineuropa [2012], S. 54–67). CR Kap. 12, S. 25, s. auch D3. Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 92–119; Nyberg, Kong Niels [2007], S. 364– 367, 370–377, 385–387. Zwar bezeichnet Helmolds Slavenchronik, ed. Schmeidler [1937], Kap. 50, S. 98f., Margrethe als Anstifterin zum Mord an Knud, doch ist diese Ansicht gänzlich isoliert und möglicherweise einer Information durch Knuds Anhänger geschuldet. Ein Problem bildet indes die Tatsache, dass die Knud Lavard-Ordinale und die Annales Nestvdienses Margrethe schon 1117 sterben lassen, was Hermansons hier übernommene Revision des Todesdatums mit einer gewissen Unsicherheit behaftet (vgl. Nors, Rezension Hermanson [2001], S. 575–578). Vgl. Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 71–112; Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 92–138. GD 14,1,11.

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Knud Lavard nach Kräften beförderte.380 Der Etablierung eines solchen Heiligenkultes wiedersetzte sich Eskil jedoch auch später als Erzbischof nach Kräften, und dementsprechend unterdrückt das Chronicon Roskildense sowohl die Selbstheiligung Eriks durch seinen Kreuzzug als auch den Märtyrertod seines Sohnes Knud. Eskil blieb in dieser Sache jahrzehntelang unnachgiebig, natürlich nur aufgrund kirchenrechtlicher Bedenken, wie die spätere Knud Lavard-Liturgie mit kaum verhohlener Ironie anmerkt.381 1161 kam es indes aufgrund des Schismas zwischen den Päpsten Alexander III. und Victor IV. zum bewaffneten Konflikt Eskils mit dem König Valdemar, der seinem Lehnsherrn Friedrich I. folgte, und infolge dessen Eskil ins Exil gezwungen wurde.382 Der dänische Episkopat und am allerwenigsten Absalon von Roskilde waren bereit, dem Erzbischof gegen den König zu folgen.383 Letztlich erhielt Valdemar, der posthum geborene Sohn Knud Lavards, auf die Vermittlung dänischer Geistlicher im Auftrage Valdemars und Absalons sowie des Erzbischofs Stephan von Uppsala hin die Kanonisierung seines Vaters als Gegenleistung für seinen Wechsel in das Lager Alexanders III. nach Victors Tod 1164; Parallelen zur Kanonisation Edwards des Bekenners 1161 sind keineswegs allein politischer Natur, sondern reichen bis in den Wortlaut der Kanonisationsbullen.384 Die Zeremonie wurde 1170 in Ringsted zugleich mit der Krönung und Salbung seines Sohnes Knud wirksam in Szene gesetzt und bedeutete neben einem Befreiungssignal von römisch-deutscher Vorherrschaft385 zugleich eine eklatante politische Niederlage des machtbewussten Erzbischofs gegen das Haus des Kreuzfahrers Erik Ejegod und seiner Nachfahren sowie gegen den nunmehr mächtigsten Magnatenverbund in Dänemark, der sich um die Nachkommen des Seeländers Skjalm Hvide gebildet hatte. Man kommt kaum umhin, die Zeremonie von Ringsted als gezielte Demütigung Eskils und seines jütisch-schonischen Magnatenkollektivs zu lesen, zumal die Liturgie ja seine Blockadehaltung thematisiert; Alexander III. hatte Valdemar gar schriftlich garantiert, der spätestens während seines Exils zum Kirchenreformer gewordene Erzbischof werde

380 Zu Erik Emunes Zeit entstand in Ringsted an der Grablege Knuds eine Vita, verfasst von Robert von Ely (vgl. D4). 381 Offices and Masses of St. Knud Lavard, ed. Bergsagel [2010], In translatione lectio VI. 382 Vgl. auch im Folgenden die Analyse bei Qvistgaard Hansen, Regnum et sacerdotium [1966], S. 59–64 bzw. Qvistgaard Hansen, Pavestrid og europæisk storpolitik [1969]; Engels, Friedrich Barbarossa und Dänemark [1992], S. 375–379; Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 233–236. 383 GD 14,26,6. 384 Die Bulle (DD 1,2, Nr. 190, S. 346–348 vom 08. 11. 1169) nimmt ausdrücklich Bezug auf die Initiative Valdemars und Stephans von Uppsala. Zur Ähnlichkeit mit der Kanonisationsbulle für Edward vgl. Riis, The Historical Background [2010], S. XVIIIf. 385 So Skyum-Nielsen, Kvinde og slave [1971], S. 145–147; Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 187.

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sich fortan loyal zum König verhalten.386 Wie ein polemisches Gegenstück hierzu liest sich Valdemars zorniger Ausbruch in den Gesta Danorum zu den Ereignissen von 1161, Eskil sei es gewohnt, das Blut von Königen zu saufen und trachte nun nach seinem.387 Ein letztes großes, gescheitertes Mordkomplott gegen den Alleinherrscher Valdemar ging, glaubt man Saxos parteiischer Darstellung, in der Tat 1176 von einem Nachkommen Knuds des Heiligen über die weibliche Linie und von Eskils Klan, dem Trundkollektiv, aus, dessen Stern nun sank;388 praktisch alle verbliebenen Mitglieder des Trundkollektivs stürzten. Die Sukzession des Propstes Asser von Lund, eines Neffen Eskils, als Erzbischof war gescheitert, und Eskil zog sich 1177 nach Clairvaux zurück, um, so wiederum Saxo, »die Leiden seines Alters als Strafe anzunehmen«;389 das Trundkollektiv hatte ohnehin schon 1152/53 durch die Jerusalem-Pilgerreisen des Bischofs Svend Svendsen von Viborg und seines Bruders Eskil, zweier Vaterbrüder des Erzbischofs, an Bedeutung eingebüßt.390 Wer auch immer der eigentliche Aggressor in jenen Umwälzungen gewesen sein mag, sei mangels Kontrollquelle dahingestellt. Die verbliebenen Großen um Valdemar, seine Ziehbrüder Absalon, nunmehr Bischof der reichsten Diözese Roskilde und Erzbischof von Lund in einer Person, Esbern Snare und weitere seeländische Große, deren Macht beziehungsweise Allianznetzwerk sich auch auf andere Landesteile ausweitete, besetzten jedenfalls schon seit 1157 allmählich und nun endgültig den ganzen engsten Zirkel der Macht, was aus den Zeugenlisten der Königsurkunden jener Jahrzehnte deutlich hervorgeht.391 Sie repräsentieren als zahlenmäßig sehr kleine, politisch aber maßgebende Gruppe in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts jenes heute allein noch in schriftlichen Quellen fassbare Dänemark und seine spezifische Byzantinophilie.

386 DD 1,2, Nr. 167, hier S. 316 (1165/66) sichert Valdemar das Erbprinzip in der Königsherrschaft zu sowie Eskils Loyalität. 387 GD 14,26,8. 388 GD 14,54,1–37. Vgl. zum Hintergrund Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 237– 239. 389 GD 14,55,15. 390 D15. 391 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 187–205, 235–237 zeigt, dass die klassischen staatsgenetischen Erklärungsmodelle für die Geschichte des 12. Jhs. verschleiern, dass erfolgreiche Herrschaft grundsätzlich nicht auf Institutionen und Rechtsansprüchen, sondern auf horizontalen Allianzen mit weltlichen und geistlichen Magnaten durch natürliche oder gestiftete Verwandtschaft sowie Verschwörungen und Konsens in diesen Gruppen beruht; ein solches Bild vermittelt intentional auch Saxo als historiographisches Sprachrohr Absalons. Die Exklusivität des Skjalmkollektivs ermöglichte so erst die Stabilisierung und Institutionalisierung von Herrschaft in der Valdemarenzeit. Freilich beweisen die Zeugenlisten zugleich, dass Saxos Bild einer totalen Dominanz des Skjalmkollektivs überzogen ist (Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 248f.).

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Erik »der Zyprer«: Vom Märtyrervater zum Kreuzfahrerheiligen Die Aufwertung des Kreuzfahrers Erik indes begann im Lager seiner Söhne schon deutlich früher: Zwischen 1134 und 1137 verfasste Robert von Ely am Kloster in Ringsted, das Erik Emune 1135 am Begräbnisort Knuds gegründet hatte,392 eine Heiligenvita Knud Lavards, die jedoch nur in lateinischen Exzerpten des Gelehrten und Saxo-Übersetzers Anders Sørensen Vedel (1542–1616) überliefert ist.393 Hier findet erstmals Eriks Frau Bodil namentlich Erwähnung, die später auf der Pilgerfahrt in Jerusalem gestorben und am Ölberg beigesetzt worden sei.394 Auch wird der Kreuzzugsgedanke indirekt aufgewertet: Magnus habe seinen Konkurrenten Knud Lavard 1131 mit der Lüge in den Hinterhalt gelockt, er wolle sich auf eine Pilgerreise begeben und ihm die Sorge für Frau und Kind anvertrauen;395 damit wird er zum düsteren Antitypus des echten Kreuzfahrers Erik. Weiter aufgewertet wird Eriks Rolle im Zuge der überlieferten Knud LavardLiturgie, die zwischen der päpstlichen Kanonisationsbulle vom 8. November 1169 und der im Text noch nicht historisch beschriebenen Translationszeremonie am 25. Juni 1170 entstanden sein muss,396 welche die Verehrung von Knud Lavards Gebeinen mit der Krönung und Salbung des gleichnamigen Enkels in Ringsted vereinte. Zwar überstrahlte die von der Zeremonie und ihrer Beschreibung in der Historiographie ausgehende, auf den heiligen Leib des »Staates« focussierende Symbolwirkung in der modernen Wahrnehmung beträchtlich die tatsächlichen Konsequenzen für Valdemars notgedrungen konsensuale Herrschaftspraxis,397 doch diente sie unzweideutig der Herrschaftsbefestigung einer weitgehend konsolidierten Allianz um Valdemar den Großen. Dies verdeutlicht sich darin, dass es sich beim gewählten Translationstag, dem 25. Juni, um den Todestag des Königs Niels handelte, dessen Memoria hier gezielt verdrängt wurde.398 Der Märtyrer Knud Lavard war nämlich keineswegs ohne Konkurrenz geblieben: 392 393 394 395 396

DD 1,2, Nr. 65, S. 129f. Vgl. Jørgensen, Historieforskning og Historieskrivning [1931], S. 92–101 sowie D4+D5. D4. D5. Riis, The Historical Background [2010], S. XXVf. Der Text ist in einer ursprünglich seeländischen Handschrift aus dem späten 13. Jh. gemeinsam mit dem CR überliefert. The Medieval Danish Liturgy, ed. Chesnutt [2003], S. 61f. hält die gereimten Passagen im Rahmen der Liturgie für Ergänzungen aus dem 13. Jh. (in unserem Kontext relevant für D9, wo der Inhalt von D7 über Erik Ejegods Pilgerreise wiederholt wird). 397 Vgl. etwa Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 261–269; Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 154; Hoffmann, Königserhebung und Thronfolgeordnung [1976], S. 103–111. Zur Ideengeschichte Kantorowicz, Zwei Körper [1990], bes. S. 317–319, zur Einordnung in die Realität der Herrschaftspraxis Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 248–250. 398 Riis, The Historical Background [2010], S. XX verweist zudem darauf, dass die direkte Folge auf den Geburtstag Johannes des Täufers das Vorläufer-Vollender-Schema innerhalb der Valdemarendynastie unterstreicht.

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Hatte sich der Kult des 1086 erschlagenen Königs Knud außerhalb Odenses kaum verbreitet, gab es seit 1157 gleich drei Märtyrer mit demselben Namen, und der dritte war pikanterweise der Sohn von Magnus Nielsen, des Mörders von Knud Lavard. Nach der alleinigen Herrschaft von Erik Emune von 1134 bis 1137, der seinen einstigen Mitstreiter und Bruder Harald Kesje sowie dessen Söhne ermordet hatte, sowie einer brüchigen Stabilität unter der Herrschaft von Erik Lam (1137– 1146), einem Enkel Erik Ejegods, dessen Ehe jedoch kinderlos blieb, war die Entzweiung zwischen den Familienzweigen Erik Ejegods und Niels’ unmittelbar wieder aufgebrochen:399 In Ringsted wurde Svend, der Sohn von Erik Emune, zum König erhoben, in Viborg in Jütland eben jener Knud III., der Sohn von Magnus, dessen Unterstützer auch für den Totschlag an Knud Lavard 1131 und an Erik Emune auf dem Ding zu Ribe 1137 verantwortlich waren. So stand hinter Knud Magnussen unter anderen Knud, der Sohn von Henrik Skadelår, Magnus’ engstem Verbündeten, hinter Svend jedoch Valdemar und seine seeländischen Partner. Diese Anhänger Svends III. vollzogen noch 1146 die Erhebung der Gebeine von Knud Lavard in Ringsted, doch hatten sie wie schon Erik Emune den Erzbischof Eskil gegen sich, der 1147 kurzfristig in Gefangenschaft Svends III. geriet, bevor es zu einem brüchigen Ausgleich kam. In den folgenden Jahren besaß Svend aufgrund seiner gemeinsamen Erziehung mit dem späteren Kaiser Friedrich am staufischen Hof, den Holsteinern und Dithmarschern zwar die bessere Machtposition und auch das stärkere Heer, und Friedrich belehnte ihn 1152 mit Dänemark unter der Bedingung, dass Svend Knud III. mit einem angemessenen Lehen in Dänemark ausstatten solle.400 Letzten Endes aber verlor Svend nach 1150 den personalen Rückhalt beim Skjalmkollektiv und auch Eskils Trundkollektiv, was aus Pilgerreisen zweier wichtiger Nachkommen Trunds nach Jerusalem,401 vor allem aber aus Ressourcenproblemen resultierte sowie dem Versuch, diese neben einer Mehrbelastung der Allianzpartner durch die Einführung vertikaler Machtstrukturen nach staufischem Vorbild zu lösen und die Güter der Magnaten wie Lehen zu behandeln;402 Mechanismen der Hierar399 Hier und im Folgenden Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 209–232; Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 126–160. Vgl. die Genealogie in Anhang 2.1. 400 Regesta imperii IV,2,1, ed. Böhmer/Oppl/Mayr [1980], Nr. 87f., S. 21f.; Engels, Friedrich Barbarossa und Dänemark [1992], S. 371. 401 Es handelt sich um die schon erwähnten Brüder Svend von Viborg und Eskil Svendsen (D15). S. die Genealogien in Anhang 2.2. und 2.3. 402 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 212–223. Die Tatsache, dass Svend III. exzessiv hochmütig und habgierig geworden sei, berichten übereinstimmend Svend Aggesen: Brevis historia, Kap. 15, S. 134–136; Helmolds Slavenchronik, ed. Schmeidler [1937], Kap. 84, S. 167; sehr ausführlich GD 14,9,1–4; Knýtlinga saga, Kap. 108, S. 275. Dass Svend Grathe, der am Hofe Konrads III. gemeinsam mit Friedrich I. erzogen worden war, lehnrechtliches Denken geläufig war, scheint insofern plausibel, als sich auch nach aktuellem, gegnüber der klas-

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chisierung von Königsherrschaft zu Ungunsten reziproker Allianzen und entgegen dem Ideal königlicher Freigiebigkeit erzeugen hier wie auch später bis ins 13. Jahrhundert hinein einen Gegendruck, der sich auch in Gegensätzen zwischen Königsurkunden mit ihrer Betonung von Gottesgnadentum sowie Verfügungsgewalt über Ressourcen und historiographischer Modellierung ausdrückt.403 Dass Karl und Knud von Halland, Svends wichtigste Partner östlich des Öresunds, Svend III. 1153 zu einem hoch riskanten Heerzug gegen Schweden zwingen konnten, der prompt im Desaster und mit dem Tod der Magnaten endete, tat ein übriges, um die materiellen und personalen Ressourcen zu erschöpfen.404 Auch zerbrach so ein ausgleichendes Heiratsbündnis zwischen dem Erzbischof und den Anhängern Svends: Eskil hatte seine uneheliche Tochter mit Karl von Halland, einem Enkel Knuds des Heiligen mütterlicherseits, verheiratet. Sowohl das gesamte Skjalmkollektiv und Valdemar wechselten ebenso wie der Erzbischof, der sich seine Einigung mit Svend gut hatte entlohnen lassen, 1154 die Seiten, was Eskil auf der Rückreise von Rom 1156/57, wo er sich in Angelegenheiten eines schwedischen Erzbistums befunden hatte, die Gefangennahme auf Befehl Friedrich Barbarossas einbrachte, der so seinen Vasallen Svends III. schützte.405 Valdemar, geschickt den eigenen Vorteil suchend, verlobte sich mit Knuds III. Halbschwester Sophia von Minsk, erhielt ein Drittel von Knuds Erbe als Mitgift und ließ sich in Viborg gemeinsam mit Knud zum König ausrufen; Svend musste fliehen. Zwar kehrte er im Winter 1156/57 mit sächsischer Hilfe zurück, so dass die Großen eine Teilung der Herrschaft gemäß der drei Landesdinge aushandelten,406 doch versuchte offenbar er selbst, die Pattsituation durch Mord zu lösen: Bei einem Versöhnungstreffen der drei Herrscher in Roskilde am 9. August 1157 wurden von Svends Gefolge Mordanschläge auf die beiden Konkurrenten verübt.407 Knud kam ums Leben und wurde alsbald als

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sischen Verfassungsgeschichte kritischem Forschungskonsens mit der Herrschaft Friedrichs von Anfang eine intensivierte Rezeption in Italien zirkulierender Vorstellungen von Lehen und Vasallität sowie ein verstärkter Gebrauch lehnrechtlichen politischen Argumentierens verbindet (vgl. hierzu Deutinger, Kaiser und Papst [2010], S. 342–345; zum Lehnswesen im 12. Jh. allgemein Patzold, Lehnswesen [2012], S. 71–86; Weinfurter, Lehnswesen [2010], S. 446–458; Deutinger, Das hochmittelalterliche Lehnswesen [2010], S. 465–469). Vgl. Hermanson, Vertical Bonds [2011], S. 74–77; zur gerade in den narrativen Quellen ungebrochen hohen Bedeutung der Freigiebigkeit des Königs und der Großen Kjær, Gaver og gæstebud [2012], bes. S. 207–213. GD 14,12,6f. bzw. die Interpretation durch Hermanson, vorige Anm. Engels, Friedrich Barbarossa und Dänemark [1992], S. 372f. verweist daneben als weiteres Motiv auf anti-kuriale Absichten; vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 86. Helmolds Slavenchronik, ed. Schmeidler [1937], Kap. 85, S. 167. Svend erhielt Schonen, Knud Seeland, Valdemar Jütland; vgl. GD 14,17,1–15. Die ausführliche Darstellung in den GD (14,18,1–11) stilisiert Absalon zum alleinigen Helden; Malmros, Blodgildet i Roskilde [1979] weist indes nach, dass alle historiographischen Versionen außer den GD (eine verlorene Geschichte Dänemarks aus dem Lager Knuds

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Märtyrer verehrt; bemerkenswerterweise nennt später Saxo Grammaticus einen nahen Verwandten Knuds namens Konstantin als ein weiteres Opfer, der starb, nachdem er Absalon das Leben gerettet habe.408 Der griechische Name lässt angesichts seiner Einmaligkeit im skandinavischen Kontext aufhorchen, zumal er auch in der Rus’ im Herrscherhaus, zu dem Knud III. über seine Mutter Rikissa von Polen verwandtschaftliche Beziehungen besaß, nicht üblich war. Leider lässt sich über ihn und die Herkunft seines Namens nicht mehr in Erfahrung bringen. Valdemar jedenfalls wurde auf der »Blutgilde von Roskilde« verletzt, entkam aber. Ob in der Tat Svend III. den Mordanschlag plante oder seine Männer erfolgreich einem anderen Komplott zuvorkamen, lässt sich nicht mehr entscheiden, weil wir allein aus der Perspektive des endgültigen Siegers unterrichtet sind.409 Valdemar floh nach Jütland, ehelichte seine Braut Sophia und band so Knuds Anhängerschaft an sich, traf auf der Heide von Grathe am 23. Oktober 1157 auf Svends Heer und siegte; sein Überleben und Svends Tod brachte ihm die Alleinherrschaft durch Gottes Gunst, wie er in der Stiftungsurkunde für das Zisterzienserkloster Vitskøl von 1157/58 ausführlich darlegt.410 Der eben ermordete Knud III. hatte indes einen posthumen Sohn, Valdemar, der Jahrzehnte später noch als Herzog und gewählter Bischof von Schleswig seit 1182, als Erzbischof-Elekt von Bremen seit 1192 und als Usurpator in Dänemark 1193 erhebliche Schwierigkeiten verursachen sollte. Vom Heiligenkult um Knud III., der in Niels von Århus noch einen heiligen Sohn hervorbrachte,411 ist durch den Verlust einer »Knud Magnussens krønike« der dänischen Geschichte, die eine dem Knud Lavard-Zweig der Königsfamilie genau entgegengesetzte Tendenz zu Gunsten des Niels-Zweiges aufwies und durch Anne K. G. Christensen aus historiographischen Nachrichten in Radulphus Nigers Weltchronik und Auszügen in einem dänischen Königskatalog aus dem frühen 13. Jahrhundert erschlossen wurde,412 kaum etwas bekannt. Sie entstand offenbar unter Knud IV. und vor 1188 im Auftrage von Valdemar Knudsen, der damals Bischof-Elekt von Schleswig war. Diese Tradition, welche in ihrer erschließbaren Form auch prompt gegen den Text der Knud Lavard-Ordinale polemisiert,413 und das dahinter ste-

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III. bzw. dem Niels-Zweig der Königsfamilie, inhaltlich bewahrt in Radulfus Nigers Weltchronik, vgl. Kristensen, Knud Magnussens krønike [1968/1969], die Continuatio des CR und Svend Aggesens Brevis historia) auf die Arenga in Valdemars Stiftungsurkunde für das Zisterzienserkloster Vitskøl zurückgehen (DD 1,2, Nr. 120, S. 226f., von 1157/58). D52. S. Anm. 407. DD 1,2, Nr. 120, S. 226f. (von 1157/58). S. Gad, Legenden i dansk middelalder [1961], S. 177–179. Kristensen, Knud Magnussens krønike [1968/1969]. Vgl. Radulfus Niger: Chronica, ed. Krause [1985], bes. 3,4, S. 255–257; 4,1, S. 265–267 bzw. Series ac brevior historia regum Danie (D60), welche beide auf die verlorene Chronik zurückgehen. Kristensen, Knud Magnussens krønike [1968/1969], S. 443f.

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hende jütische Netzwerk mussten Valdemar dem Großen und seinen Leuten suspekt erscheinen, zumal sie dazu neigten, die Kaiserhörigkeit Svends III. und Valdemars zu betonen und auch den Großvater Niels zum in Schleswig unschuldig gemeuchelten, gerechten Herrscher und Vorläufer des Enkels zu stilisieren, während ebendieser seit Robert von Ely im Knuds-Zweig der Historiographie und Hagiographie einen extrem schlechten Ruf genoss. Ein solches Denken in Paaren aus Königsheiligen, die jeweils aus einem Vorläufer und einem Vollender in typologischer Analogie zu Johannes dem Täufer und Christus oder auch David und Christus bestehen, wurde im Verlaufe des 12. Jahrhunderts in Dänemark, Norwegen und Island ausgesprochen aktuell. Zu erkennen ist es bereits in Ælnoths Gesta et Passio, der Svend Estridsen in seinen Eigenschaften als Vorläufer seines heiligen Sohnes darstellt.414 Deutlich wird eine solche Doppelung auch im Verhältnis zwischen dem Bild vom perfekten Herrscher Knud bei Ælnoth und der Darstellung von Kund Lavard als Königsheiligem in seiner Liturgie – hier korrespondieren die Eigenschaften der namensgleichen Verwandten aus zwei Generationen der Königsfamilie.415 Auf Island schließlich vergleicht der Benediktiner Oddr Snorrason, der um 1190 eine lateinische, aber nur in norröner Volkssprache erhaltene Heiligenvita des Königs Óláfr Tryggvason (um 995–1000) verfasste, jenen ersten Bekehrerkönig und Vorläufer des Heiligen Óláfr Haraldsson (1015–1030) expressis verbis mit Johannes dem Täufer und lässt den früheren Óláfr auch als Taufpate des späteren auftreten.416 Auch in der Hungrvaka, einer um 1200 entstandenen Chronik des Bistums Skálholt, erscheinen die ersten Bischöfe Ísleifr Gizurarson (1056–1082) und sein Sohn Gizurr (1082–1118) nicht nur als Apostel und gleichsam Könige des königslosen Island,417 sondern Ísleifr zugleich als Vorläufer des Heiligen Þorlákr Þórhallsson (1178–1193), der immerhin zu Lebzeiten Wunder wirken konnte und sich gleichfalls durch spezifische Herrschertugenden auszeichnet.418 414 Vgl. Gesta et Passio, Kap. 3, S. 88f. (Svend Estridsen als David) mit Kap. 28, S. 120f. (Christomimese Knuds) sowie Scheel, Lateineuropa [2012], S. 37f. 415 Riis, The Historical Background [2010], S. XXVI stellt Entlehnungen der Herrschertugenden Knud Lavards bei den frühen angelsächsischen Heiligenkönigen fest, was mit dem Bild von der erstrebenswerten »Kultur des Politischen« um eine rex iustus Ælnoths Gesta et Passio perfekt übereinstimmt (vgl. Gad, Legenden i dansk middelalder [1961], S. 154f.; Hoffmann, Die heiligen Könige [1975], S. 118–124; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 38–40). 416 Zernack, Vorläufer und Vollender [1998]. 417 Zu Gizurr: »[…] ok var rétt at segja at hann var bæði konungr ok byskup yfir landinu meðan han lifði.« (»Und es war recht, zu sagen, dass er sowohl König als auch Bischof für das Land war, solange er lebte.« Hungrvaka, Kap. 4, Biskupa sögur II, ed. Ásdís Egilsdóttir [2002], S. 16). Zu den frühen einheimischen Bischöfen Islands in den Fragmenten der lateinischen Heiligenvita über den Bf. Þorlákr Þórhallsson: »Isti sunt precipui gregis dominici pastores et uerissimi patres patriae […].« (Latinubrot um Þorlák byskup I, Biskupa sögur II, ed. Ásdís Egilsdóttir [2002], S. 342). 418 Ísleifs Wunder in Kap. 2, S. 10.

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Solch subtile, in der Gegenwart der Produzenten und Rezipienten stets politisch funktionale Konstrukte reichen bis in die Ordnung der Textproportionen, die in Bischofs- und Landesgeschichten den jeweiligen Figuren zugewiesen werden.419 Und in der Tat wirkt sich dieses Denken auch auf die Darstellung Erik Ejegods in der Knud Lavard-Liturgie aus: Er wird zum Heiligen Erik von Zypern. Lectio I der Ordinale zum Passionstag am 7. Januar handelt vom Vater des Märtyrers, der in seinem Leben dreimal auf Pilgerreisen gegangen sei, davon einmal um 1098 nach Rom und einmal über Rom und Konstantinopel nach Zypern, wo er am 10. Juli 1103 auf dem Wege nach Jerusalem verstarb. Er habe auf diesem Weg über Rom endgültig die Herauslösung der dänischen und gesamten skandinavischen Kirche aus dem Bremer Erzbistum beim Papst erreicht. Seinen Tod und seine anschließende Wundertätigkeit auf Zypern habe er vorausgesehen. Auf der Insel nämlich habe der Erdboden bis zu Eriks Bestattung keine Leichname aufgenommen, sondern sie immer wieder ausgeworfen; erst die Anwesenheit von Eriks sterblichen Überresten habe die Erde der Insel zu einer angemessenen Ruhestätte gemacht.420 Im byzantinischen Zypern also ruht der heilige Kreuzfahrer, Vater des gleichfalls heiligen Knud Lavard und Großvater des 1157 gekrönten und gesalbten Valdemar,421 dessen Linie göttlich besonders begnadeter Herrscher sich 1170 mit der Krönung und Salbung Knuds IV. in der vierten Generation fortsetzt. Die Ordinale versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass dem Seeländer Skjalm Hvide die Aufgabe zukam, den jungen Knud Lavard aufzunehmen, ebenso wie sein Sohn Asser Rig später den jungen Valdemar aufnahm.422 Wir erhalten also in der politisch höchst parteiischen Liturgie eine ganze Reihe neuer Informationen, nämlich dass Erik über Rom nach Zypern reiste, dabei die Erhebung des Bischofs Asser von Lund zum Erzbischof durch-

419 Vgl. die triptychonartige Gestalt der Heimskringla um das Zentrum der Óláfs saga helga, ähnlich in der Knýtlinga saga (Knytlinga saga, ed. Hermann Pálsson/Edwards [1986], S. 12), aber auch die Konstruktionen bei Ælnoth (Scheel, Lateineuropa [2012], S. 37f.) und Theodoricus monachus (Scheel, Lateineuropa [2012], S. 165f.). 420 D7. Als Todesort geben die späteren Quellen inkl. GD (D49) und dem Leiðarvísir (NI 11) sowie die Knýtlinga saga (NI 170) zwar Paphos auf Zypern an, doch gelangt Riis, Where was Erik Buried? [2000] zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich im Kloster Stavrovouni beigesetzt wurde. 421 Die Krönung und Salbung erwähnt nur die Continuatio der CR, Kap. [20], S. 33. Demnach müsste es sich bei Valdemars Krönung 1170 um eine Festkrönung handeln. Zwar ist die vom Continuator behauptete Anwesenheit Eskils als Coronator 1157 zeitlich nicht möglich, doch steht dies der Basisinformation nicht im Wege; mit Valdemars Herrschaft verbindet sich ein ganz neues, von hierokratischen Vorstellungen durchdrungenes monarchia-Konzept, das auf eine Rezeption der ottonischen Krönungsordines schließen lässt. Vgl. die Wendung totius regni monarchia in DD 1,2, Nr. 123, S. 232, Z. 6 (von 1157/64). Zu Valdemars Berufung auf die Gnade Gottes, gerade im Zusammenhang mit der Blutgilde, s. Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 252; Qvistgaard Hansen, Regnum et sacerdotium [1966], S. 57f. 422 D7.

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setzte, und dass er für wundertätig gehalten wurde. Weder Ælnoth, der allein die Kanonisation des Königs Knud 1101 verzeichnet,423 noch das Chronicon Roskildense, welches die Wahl des Ortes Lund für das Erzbistum als zu korrigierenden Unfall darzustellen sucht,424 interessieren sich für diese Tatsachen. Ihre Langzeitwirkung ist indes kaum zu überschätzen: Nicht weniger als zwölf mittelalterliche Chroniken, Annalenwerke und Genealogien, davon neun nach der Ordinale, registrieren Eriks Tod in Paphos auf Zypern, ebenso die in den 1250er-Jahren entstandene isländische Knýtlinga saga.425 Eine Genealogie der dänischen Könige, erstellt 1194 vom einflussreichen Abt Vilhelm von Æbelholt, bezeichnet Erik gar als Ericus Cyprius.426 Den Hintergrund bildet hier ein politischer Konflikt um die Ehe von Valdemars des Großen Tochter Ingeborg mit Philip II. Auguste von Frankreich, die Vilhelm als Kanoniker aus Ste-Geneviève in Paris mit eingefädelt hatte. Philip jedoch verstieß seine Frau im Jahre 1193 unmittelbar nach der Eheschließung, und die Genealogie diente der Beweisführung beim Papst gegen eine behauptete zu enge Verwandtschaft. Sie wurde augenscheinlich in Laon fortgeführt und dort notiert, dass über Karl den Guten von Flandern und seinen Vater Knud den Heiligen mit Balduin und Henri von Flandern auch die Lateinischen Kaiser von den Dänenkönigen abstammen.427 Damit erweist sich Laon als Kontaktpunkt, der möglicherweise auch für die Informationsübertragung über angelsächsische Byzanzmigration und byzantinische Marienwunder in die norröne Literatur als Drehscheibe diente.428 In diesem dänisch-französischen Kontext jedenfalls dient »Erik der Zyprer« als Aushängeschild dem Prestige der dänischen Könige nicht nur im Land gegen politische Konkurrenten, sondern auch im europäischen Kontext. Dieses Prestige hält bis heute an: Obwohl kein byzantinischer Text Eriks Tod auf Zypern erwähnt, wurde 2008 in Paphos eine Straße nach dem dänischen Kreuzfahrer benannt.429 In Dänemark ist dabei nicht allein die Wundertätigkeit als Vater Knud Lavards relevant, sondern auch seine Eigenschaft als bewaffneter Pilger: Erik war ein

423 Gesta et Passio, Kap. 33f., S. 131f. 424 Vgl. S. 381 mit Anm. 375. 425 1. CR (D3), 2. Vita Knud Lavards (D4), 3. Knud Lavard-Ordinale (D9), 4. Svend Aggesen, Brevis historia (D14), 5. GD (D49), 6. Vilhelm v. Æbelholt, Genealogia regum Danorum (D57), 7. Series ac brevior historia (D60), 8. Incerti auctoris genealogia regum Danie (D65), 9. Vetus chronica Sialandiae (D68), 10. Annales Ryenses (D81), 11. Annales Slesvicenses (D85), 12. Reges Danorum (D91), 13. Knýtlinga saga (NI 170). 426 D57, wiederholt in D60. 427 Zur Eheaffäre vgl. Riis, Autour du mariage [1982]; Conklin, Ingeborg of Denmark [1977]. Zur Überlieferung der Genealogie Gertz, SM Bd. 1, S. 152–155 bzw. D58 zur Herkunft der lateinischen Kaiser. 428 S. hierzu oben, S. 308 mit Anm. 60. 429 Republic of Cyprus, Foreign Minister to visit Cyprus [2008].

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Kreuzfahrer, und sein Sohn Knud, der Herrscher der Sclavia,430 ist nicht nur wie Knud der Heilige ein rex iustus in Anlehnung an die frühen angelsächsischen Heiligenkönige, obwohl er eigentlich gar kein König war, sondern seine Märtyrerkrone ist zugleich Symbol des Beistands für die Dänen gegen die gentes.431 Knud Lavard wird zum Patron der kreuzzugsähnlichen dänischen Expansion und Heidenbekehrung südlich der Ostsee: Das Zisterzienserkloster Dargun, eine Tochter von Esrom in Mecklenburg, wird 1172 gegründet, und Valdemars Statut für die Knudsgilden unter dem Schutz Knud Lavards 1177 ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen.432 Auch als Kreuzfahrer war Erik Ejegod von Zypern Vorläufer seines Sohnes, und allein in diesem Kontext sind sein Tod in Byzanz und seine Wundertätigkeit im Norden funktional.

2.2.

Feinde der Römer und Nachbarn der Griechen in grauer Vorzeit

Interaktionen zwischen dänischen Großen und Byzantinern, gerade im Kontext von Eriks Reise, erhalten jedoch erst deutlich später, während der letzten zwei Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts, in Saxos Gesta Danorum und einer höchst aufschlussreichen Kreuzzugschronik Aufmerksamkeit. Eine Konzeptualisierung der byzantinisch-dänischen Kulturbeziehung lässt sich dagegen deutlich früher in der fernen mythologischen Vorgeschichte konstatieren. Sie verbindet sich, wie nicht anders zu erwarten, mit Absalon, der 1158 Bischof der reichsten dänischen Diözese Roskilde geworden war. Zu seiner Zeit entstand eine Continuatio des 1138 verfassten Chronicon Roskildense, welche die von Eskil geprägte politische 430 1129 war Knud durch Lothar von Supplinburg mit der Herrschaft über die Abodriten ausgestattet worden (Helmolds Slavenchronik, ed. Schmeidler [1937], Kap. 49, S. 97; vgl. Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 115–117). Helmold, Kap. 50, S. 98f., lässt Knud seinen königsgleichen Status seinem Konkurrenten Magnus gegenüber zu Schau stellen, die Knud-freundliche dänische Tradition (Ordinale, In passione lectio IVf.; GD 13,5,8–13) tut dies nicht. 431 Riis, The Historical Background [2010], S. XXVII; Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 174–177 verweist auf das zeitgenössische Dreikantrelief über dem Südportal (»Kathoveddør«) des Doms zu Ribe, welches das Königspaar mit Maria und Knud Lavard als Schutzheilige der dänischen Kreuzfahrer zeige. Vgl. zur Deutung Knuds als Schutzpatron eines dänischen »Kreuzfahrerstaates« v. a. Villads Jensen, Danmark som en korsfarerstat [2000], S. 54–65; Villads Jensen, Danske korstog [2004], S. 263–277; Villads Jensen, Korstog [2011], S. 374–376. 432 DD 1,3, Nr. 63, S. 93–95 (Valdemar tritt der Knudsgilde der Gotlandfahrer in Ringsted bei und trifft Verfügungen über den Gebrauch der Einnahmen der Gilde). Üblicherweise wurden die Knudsgilden in verschiedenen Städten als Kaufmannsverschwörungen betrachtet (vgl. etwa Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 257–260); dagegen betont Villads Jensen, Danmark som en korsfarerstat [2000], S. 59f. bzw. Villads Jensen, Korstog [2011], S. 371–376 den militärischen Charakter und die entsprechenden Pflichten der Mitglieder in den frühen Gildebestimmungen.

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Tendenz gegen Erik Emune und den vermeintlich gar zu schwachen Erik Lam, der sich Eskils bei den Seeländern unpopulären Plänen für eine Erneuerung des 1137 aufgehobenen nordischen Erzbistums in Roskilde verweigerte, konsequent herumdreht und als einzige Quelle die Tatsache von Valdemars Krönung und Salbung nach seinem Sieg 1157 feststellt.433 Das Chronicon Lethrense Als vorgeschichtliches Gegenstück zum Chronicon Roskildense, wahrscheinlich noch vor dessen Fortsetzung, entstand unter dem Eindruck der Verhältnisse in den 1160er-Jahren das Chronicon Lethrense, eine Geschichte der ursprünglich aus Schweden stammenden mythologischen Könige Dänemarks, die in Lejre saßen, einem prähistorischen, in der Landschaft durch zahlreiche Grabhügel klar hervortretenden Zentralort auf Seeland unweit Roskildes, dessen Gründung von Lejre aus die Chronik ebenfalls behandelt. Die Königsreihe, welche Ähnlichkeiten zu derjenigen des Háttalykill, eines etwas älteren, modellhaften Skaldengedichts des Jarls Ro˛gnvaldr aufweist,434 reicht vom heros eponymos Dan, der zu Zeiten des Augustus herrschte und Dänemark vor diesem verteidigte, bis in die Zeit der mythologischen Bråvallaschlacht, in welcher der mächtige Dänenkönig Harald Hildetand fiel. Seine Nachfolgerin Hethæ, eine Schildmaid aus Haralds Gefolge und Gründerin Hedebys, beschließt die Reihe aus 14 Königsgenerationen analog zu den 14 Generationen des Chronicon Roskildense und der Einteilung der Heilsgeschichte im Matthäus-Evangelium in jeweils 14 Generationen je Weltalter.435 Die Vorgeschichte ist, das beweisen auch die Typen guter und böser Könige, als ein typologischer Spiegel zur jüngeren Geschichte angelegt, berührt sich mit ihr aber nicht: Alle drei Textzeugen, universalgeschichtlich angelegt, lassen auf eine Geschichte des Volkes Israel oder eine Weltchronik das Chronicon Lethrense und auf dieses die Annales Lundenses folgen, die mit einem Eintrag zur translatio imperii im Jahr 768 beginnen.436

433 CR, Continuatio Kap. [20], S. 33. Hier ergibt sich indes ein zeitliches Problem, da Eskil zum behaupteten Krönungsjahr 1157 als Coronator kaum anwesend gewesen sein kann; er wurde erst nach dem Reichstag von Besançon aus seiner seit 1156/57 währenden burgundischen Gefangenschaft, in die er wohl auf Befehl Friedrich Barbarossas zum Schutze seines Vasallen Svend III. genommen worden war, entlassen (vgl. Anm 1152). Eskils erste datierte Urkunde aus Lund danach ist aus 1158 August 8 (DD 1,2, Nr. 127, S. 242–244). 434 Lukman, Sagnhistorien hos Saxo [1975], S. 121. Zum Háttalykill unten, S. 623f. 435 CL, Kap. 9, S. 53. Zum 14-Generationen-Schema, das auch im CR begegnete und ebenfalls von Svend Aggesen genutzt wird, Scheel, Lateineuropa [2012], S. 76–78, 217 bzw. Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 29–32. 436 Gertz, SM, Bd.1, S. 37–41; vgl. auch D6 und Leegaard Knudsen, Den danske fortid [2000], S. 5–7, der betont, dass die Chronik offenbar erst durch ihre Verbindung mit den Annalen Verbreitung fand und möglicherweise auch zur Aufnahme in die Annalen bestimmt gewesen

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Die Lejrekrønike stellt damit die früheste skandinavische Behandlung einheimischer mythologischer Geschichte in einem Erzähltext überhaupt dar, sieht man von der mythologischen Königsgenealogie in der nur fragmentarisch erhaltenen Historia Norwegie ab, die möglicherweise ähnlich alt, wahrscheinlich aber etwas jünger ist.437 Die Ausrichtung dieser Vorgeschichte auf die Vergangenheitsgeschichte hin formt dabei die Verarbeitung mündlicher Traditionen entscheidend, wie Vergleiche der Herrschaftsfolgen und Inhalte mit späteren »Gesamtdarstellungen« der dänischen Geschichte bei Svend Aggesen und Saxo Grammaticus, aber auch in der nur in Fragmenten und in lateinischen Auszügen erhaltenen isländischen Skjo˛ldunga saga belegen.438 Umso relevanter erscheinen die gegenwartspolitischen, völlig unmissverständlichen Lehren, welche die lakonisch und schmucklos, sehr objektiv erzählte dänische Vorgeschichte dem Rezipienten auf den Weg gibt: Das dänische Reich, zu Zeiten König Davids noch von Kleinkönigen beherrscht, wird von Lejre aus unter dem dortigen regulus Dan geeint, nachdem es ihm gelungen war, Augustus am Danewerk abzuwehren und Dänemarks Unbesiegbarkeit sicherzustellen. Außer bei Ludwig dem Frommen, der mit der Taufe Harald Klaks das Christentum gebracht habe, habe sich die regio des Königs Dan und seiner Nachfahren niemals dem Willen der Kaiser gebeugt.439 Diese unmissverständliche Botschaft, die jedwede historische Rechtfertigung römisch-deutscher Lehnshoheit oder sonstiger Einflussnahme auf Dänemark negiert, geht Hand in Hand mit dem Verhalten des Teutonicus Hjarvard, des comes von Schonen. Er ist verheiratet mit Skuld, der Halbschwester des Königs Rolf Krake, den er in Lejre ermordet, womit er zugleich die männliche Linie der Könige auslöscht, bevor er selbst der Rache eines Einheimischen anheimfällt.440 Die Deutschen beziehungsweise Römer und ihr Machtstreben sind gefährlich, doch Dänemark unter starken Königen ist vor ihnen sicher, das ist neben der Gegenüberstellung tyrannischer und gerechter Herrscher und ihrer Schicksale die zentrale politische Botschaft der Chronik, welche mythologische

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sei. Dagegen spricht jedoch die stringente typologische Ausrichtung auf das Chronicon Roskildense (Scheel, wie vorige Anm.). Historia Norwegie, ed. Ekrem/Boje Mortensen/Fisher [2003], S. 21–24; Boje Mortensen, Historia Norwegie and Svend Aggesen [2011]. Ari Þorgilssons Íslendingabók enthält mit seiner Genealogie am Schluss dem Werks (S. 28) ebenfalls eine mythologische Genealogie der Norwegerkönige, auf welche der Autor sich zurückführt. Ynglingatal und Háleygjatal sind sehr wahrscheinlich weitaus älter, werden hier aber nicht zur Historiographie gezählt. Vgl. die Kommentare von Krøniker, ed. Olrik [1900–01], S. 9–22. CL, Kap. 2, S. 44f. Vgl. Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 129–131, 136f.; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 75, 78f. CL, Kap. 8, S. 52.

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Figuren in die glorreiche Geschichte der Dania integriert und so ein heimisches Altertum erschließt.441 Das in unserem Zusammenhang entscheidende Element, das über diese defensive Botschaft hinausreicht, ist das dominium maximum des letzten Königs Harald Hildetand in der 13. Generation: Alle Länder bis hinab ans mare mediterraneum seien ihm tributpflichtig gewesen.442 Das Dänemark der Vorzeit erhält hier erstmals einen eigenen geographischen Zugang zur Zivilisation des Mittelmeerraumes, wird so in eine Reihe mit den antiken Imperien gestellt und erscheint damit nicht mehr als eine periphere, lange Zeit isolierte Region der christlichen Welt, als welche Ælnoth die regna aquilonis noch expressis verbis bezeichnet hatte.443 Auf die Überwindung des peripheren Status durch die lokale Manifestation des Heiligen bei Ælnoth folgt hier die Überwindung durch typologische Analogien zwischen heidnischer und christlicher Geschichte sowie aktive, dominante Teilhabe an der Geschichte des europäischen Raums; Dänemark war niemals ein Appendix des römischen Reiches, weder vor noch nach dem Übergang der Herrschaft auf die Franken oder Sachsen. Einerseits ist dieser Prozess auf eine Defizienzerfahrung unter den dänischen Eliten selbst zurückzuführen, die ihrem Herrschaftsverband eine im europäischen Kontext vorzeigbare Tradition und einen Machtanspruch sui generis verleihen, andererseits stellt diese Defizienzbewältigung selbst eine Konsequenz hoch problematischer Verflechtungen mit kaiserlicher Herrschaft im 12. Jahrhundert dar. Diese Verflechtungen reichten zur Entstehungszeit des Chronicon Lethrense bereits weit zurück; auf die Taufe Harald Klaks in Mainz spielt der Text selbst an,444 der Feldzug Ottos II. bis an den Limfjord 974 bildet ein weiteres Element.445 Viel schwerwiegender hatten sich auf die Konstitutionsbedingungen der Chronik indes die kaiserlichen Interventionen während der Königsfehden zwei Generationen nach Svend Estridsen ausgewirkt: Der 1131 ermordete Knud Lavard war ein Vasall Lothars von Supplinburg gewesen, und Magnus und Niels drohte nicht allein die Fehde mit Knuds Halbbrüdern im Lande, sondern auch eine militärische Intervention von Süden; König Niels musste Geiseln stellen, sein Sohn Magnus Lothar einen Treueid (hominium) leisten.446 Dass es 1133 zu Übergriffen auf Deutsche etwa nach der Eroberung Roskildes durch Niels kam, möglicher-

441 Vgl. zum Deutschenbild in der dänischen Historiographie des 12. Jhs. allgemein Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 121–134; zum CL Scheel, Lateineuropa [2012], S. 75–80. 442 CL, Kap. 9, S. 53. 443 Gesta et Passio, Kap. 1, S. 82. 444 CL, Kap. 2, S. 44. 445 Thietmar: Chronik, ed. Holtzmann [1935] III,6, S. 102. 446 Helmolds Slavenchronik, ed. Schmeidler [1937], Kap. 49f., S. 96–100, das hominium S. 100; vgl. auch Regesta imperii IV,1,1, ed. Böhmer/Petke [1994], Nr. 284–286, S. 181–183. Zur (um diese Zeit ausgesprochen vagen) lehnrechtlichen Konnotation des hominium vgl. Anm. 452.

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weise auch andernorts,447 machte die Situation noch bedrohlicher, als Lothar von einem zwischenzeitlichen Italienzug zurückkehrte, auf dem er die zunächst formale Aufhebung der Erzbistümer Lund und Gnesen sowie ihre Unterordnung unter Hamburg-Bremen und Magdeburg erreicht hatte.448 Zu Ostern 1134 erschien Magnus in Halberstadt, wurde im Beisein Lothars zum König von Dänemark gekrönt, der sich die Zustimmung zu künftigen Königswahlen vorbehielt, und trug quasi als Reichsfürst bei der Osterprozession das Reichsschwert.449 Lothar trieb zudem scheinbar ein doppeltes Spiel und unterstützte 1138 Magnus’ Feind Erik Emune mit sächsischen Rittern;450 bei ihm, aber auch bei den späteren Kontrahenten Knud III. und Svend III. spielten deutsche Söldner eine wichtige und sehr problematische Rolle, von der uns Saxo einen Eindruck vermittelt. Sie drängten in die Sphäre der dänischen Magnaten, lösten simultan entsprechenden Hass unter ihnen und zugleich einen Wandel hin zur höfischen Kultur aus sowie das Bedürfnis, sich als einheimische Ritter sozial und kulturell gegen solch geldgierige Eindringlinge abzuschotten, was wiederum Saxos Kriegerideologie und Svend Aggesens Vorstellungen vom rechten Zusammenleben des Königs mit seinem Hof spiegeln.451 Zudem sollte Dänemark bis in Valdemars Zeit in einem möglicherweise seit Lothar und Magnus, spätestens aber seit Valdemar lehnrechtlich konnotierten Abhängigkeitsverhältnis452 bleiben: Erik 447 CL, Kap. 14, S. 27; GD 13,11,2. Zu den deutschen Quellen, die eine konzertierte Aktion gegen Deutsche in Dänemark nahelegen, vgl. Bernhardi, Lothar von Supplinburg [1879], S. 538. 448 Seegrün, Papsttum und Skandinavien [1967], S. 133–137; Breengaard, Muren om Israels Hus [1982], S. 237–240; sehr ausführlich und ergiebig bezüglich der Konsequenzen in Dänemark Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004], S. 184–192. 449 Regesta imperii IV,1,1, ed. Böhmer/Petke [1994], Nr. 392, S. 247f. 450 Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004], S. 189. 451 Zur höfischen Ideologie bei Svend Aggesen s. Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 102–104; zur Problematik deutscher Söldner in Saxos Konzept einer höfischen Gesellschaft Kjær, Gaver og gæstebud [2012], S. 207–211; Heebøll-Holm, Saxo og krigskunst [2012]. Zum sehr negativen Bild der Sachsen und Deutschen insgesamt bei Saxo, das ihnen zwar besondere militärische Fertigkeiten, zugleich aber verweichlichten höfischen Luxus zugesteht, Leegaard Knudsen, Absalon and Danish Policy [2000], bes. S. 30–35; Groh, Deutschenbild [2004]; Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 121–134. 452 Neueste Forschungen in Reaktion auf die wirkmächtige Studie von Reynolds, Fiefs and Vassals [1994] zeigen, dass man für das 12. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres von einem fest etablierten »Lehnswesen« sprechen kann. Insbesondere lässt sich im früheren 12. Jh. vom hominium nicht auf die Vergabe eines beneficium und bestimmte »vasallitische« Pflichten und auf eine entsprechende Unterordnung schließen (so Auge, Hominium, tributum, feudum [2010], S. 197–207 für das zeitlich analoge Verhältnis der Kaiser und Heinrichs des Löwen zu den wendischen Fürsten, die freilich ihrerseits eine andere politische Ordnung vertreten als die dänischen Könige; allgemein Deutinger, Das hochmittelalterliche Lehnswesen [2010], S. 465–467; Weinfurter; Patzold [wie Anm. 402]). Inwiefern also die Vorgänge um Magnus Nielsens Eidesleistung und spätere Krönung unter Lothar III. bereits eine »Lehnsäbhängigkeit« des dänischen Königs im engeren Sinne begründen, bleibt unsicher. Dass sich Valdemar der Große aber nach dem noch zu behandelnden Sieg über

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Emune datierte seine Urkunden nach Lothars und seinen eigenen Herrschaftsjahren und rührte augenscheinlich im Konsens mit dem Kaiser keinen Finger gegen die Unterordnung Lunds unter Hamburg-Bremen, was vor Assers Tod 1136 oder Anfang 1137 zum Aufstand des Bischofs Eskil von Roskilde und des seeländischen Magnaten Peder Bodilsen führte und nach dem Tode Assers einen bewaffneten Konflikt um die Wahl des Nachfolgers in Lund provozierte.453 Wenn auch die Kassierung des nordischen Erzbistums nicht von Dauer war, blieb die Rolle des Kaisers als Schlichter in der zweiten Phase der Königsfehden erhalten, indem Friedrich Barbarossa 1152 als Schiedsrichter zwischen Svend III. und Knud Magnussen auftrat454 und 1156 oder 1157 Eskil von Lund festsetzen ließ.455 Ein besonderer Einsatz der dänischen Könige Erik Emune und Svend III. Grathe für die Unabhängigkeit der nordischen Kirchenprovinz ist nicht festzustellen. Auch Valdemar sah sich offensichtlich genötigt, sich von Friedrich als König anerkennen zu lassen, und ganz unabhängig davon, wie unvorteilhaft Saxo den Staufer später im Vergleich zum ungleich königlicheren Valdemar dastehen lässt, musste dieser 1162 zum Reichstag in Saint-Jean-de-Losne und Besançon erscheinen, wo er einen Lehnseid schwor. Im seit 1159 herrschenden Schisma zwischen Alexander III. und Victor IV. folgte Valdemar der staufischen Partei, was wiederum zum bewaffneten Konflikt mit Eskil und dessen langjährigem Exil führte. Dass indes weder Valdemar noch Absalon aus innerer Überzeugung, sondern in pragmatischer Anerkennung der politischen Realitäten und der Gegnerschaft zu Eskil den Schismatikern folgten, ist allein daran zu erkennen, dass sowohl das Skjalmkollektiv als auch der König nach Kräften die Zisterzi-

seine Gegner 1157 in einer Zwangssituation befand und dem Kaiser Friedrich wohl oder übel folgen und sich von ihm anerkennen lassen musste, wird nicht zu bestreiten sein. Dass Valdemars Sohn Knud 1182 Heinrich VI. den Lehnseid verweigerte, deutet ebenfalls an, dass es sich bei der eidlichen Bindung zumindest potentiell um mehr handelte als eine rein formale Lappalie. 453 Den Aufstand Eskils und Peders erwähnen die GD 14,1,11, die Rekonstruktion einer kanonischen Wahl Rikes von Schleswig, des Kapellans von Erik Emune, zum Bischof von Lund stammt von Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004], S. 190–197, der auf die 1137 erfolgte kanonische Wahl des in Bremen geweihten Occo in Schleswig verweist. Er stützt sich zudem auf zwei Gruppen von Memorialnotizen, eine gemeinsam mit dem im Mai verstorbenen Asser, eine Gruppe von pro iustitia gefallenen Laien am 1. und 2. Juni 1137 im Memoriale fratrum von Lund (Necrologium Lundense, ed. Weibull [1923], S. 70f., 74 und Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004], S. 208–210) und erklärt Differenzen in der Bewertung von Königen zwischen den beiden Memorialbüchern aus Lund in Folge von Rasuren aus der Anlage des jüngeren Liber daticus Lundensis unter Rike und seiner Zensur etwas später unter Eskil (ebd., S. 202–208). Zur Forschungsgeschichte Scheel, Lateineuropa [2012], S. 56–59. 454 Regesta imperii IV,2,1, ed. Böhmer/Oppl/Mayr [1980], Nr. 87f., S. 21f. 455 Vgl. Engels, Friedrich Barbarossa und Dänemark [1992], S. 372f.; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 86.

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enser förderten und über sie diplomatische Kanäle zum Papst Alexander offenhielten.456 Der Befreiungsschlag erfolgt erst nach dem Tode Victors IV. und Friedrichs erfolglosem Italienzug 1164, als Valdemar, sicherlich auch bestärkt durch seine Allianz mit dem mächtigen Nachbarn Heinrich dem Löwen, in das Lager Alexanders wechselt.457 Einerseits erreichten Valdemar und Absalon hiermit ein Optimum, war doch die Isolation im Schatten des Staufers gebrochen, ebenso zugleich die Macht des Erzbischofs Eskil, der zwei schismatische, in Bremen geweihte Bischöfe und die Kanonisation des von ihm bekämpften Knud Lavard als heiligem Stammvater der Valdemaren hinnehmen musste und dessen Geschlecht, einstmals das mächtigste in Dänemark, an Bedeutung verloren hatte; Alexander selbst hatte für Eskils Wohlverhalten gebürgt.458 Andererseits endete mit dem Heraustreten aus Friedrichs Schatten eine lange Phase der Abhängigkeit von mächtigen Kaisern und ihrer harten, unmittelbar spürbaren Macht. Die Bewältigung dieses Traumas durch die Berufung dänischer Größe in der Vorgeschichte drückt sich im Chronicon Lethrense deutlich aus;459 ebenso mag die Evozierung einstiger dänischer Größe auf die beginnende Expansion jenseits der Ostsee verweisen, die mit der Eroberung Rügens 1168 eingeleitet wurde.460 Auch der erbliche Anspruch auf die Königsherrschaft durch den Sohn, welchen das Chronicon Lethrense formuliert,461 ist abgebildet in der Verdrängung aller übrigen Mitglieder der Königsfamilie aus den Zeugenlisten: Seit dem Usurpationsversuch von Buris, einem weiteren Sohn von Henrik Skadelår, im Jahre 1167 sind Königsverwandte verschwunden.462 Genau diese Gesamtsituation der späten 1160er-Jahre, wahrscheinlich vor der Zeremonie von Ringsted 1170, die das Mitkönigtum des Nachfolgers institutionalisierte,463 spiegelt das Geschichtsbild der Lejrekrønike, woraus sich ein An456 Den Bruch zwischen König und Erzbischof im Jahre 1161 motiviert Saxo (GD 14,26,1–10) weniger mit kirchlichen Gründen als mit Eskils Hass auf Valdemar. Zum Schisma und seinen Auswirkungen auf Dänemark vgl. die detaillierten Analysen von Qvistgaard Hansen, Regnum et sacerdotium [1966], S. 59–72; Qvistgaard Hansen, Pavestrid og europæisk storpolitik [1969]. Er beweist, dass Valdemar trotz des konsequenten Festhaltens an Victor und den teilweise in Hamburg geweihten schismatischen Bischöfen die diplomatischen Kanäle zu Alexander offen hielt. So förderten er und vor allem Absalon von Roskilde weiterhin die Zisterzienser, welche auch 1165 für die Vermittlung des Übergangs zu Alexander sorgten, sowie die Kartäuser. 457 Vgl. oben, S. 383 mit Anm. 384. 458 DD 1,2, Nr. 167, S. 316. 459 Vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 78–80. 460 Hierzu Lind/Selch Jensen u. a., Danske korstog [2004], S. 72–89, zur Datierung S. 77. 461 CL, Kap. 3, S. 46. 462 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 236–241. 463 Vgl. Hoffmann, Coronation and Coronation Ordines [1990], S. 131f. Das CL, Kap. 2, S. 45 betont hingegen die Herrschaftserrichtung und -ausübung im Konsens mit den principes uel

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haltspunkt für eine jedoch nicht sichere Datierung ergibt. In diesem Umfeld einer relativ stabilen, sich emanzipierenden Königs- und Magnatenherrschaft erschließt die Chronik nicht allein die Vorgeschichte als Element zur politischen Argumentation im typologischen Diskurs mit der jüngeren Geschichte und mithin einen höchst kreativen Transferprozess aus Lateineruropa, sondern eröffnet zugleich den Zugang zu Byzanz in der Vorgeschichte, denn das dänische dominium war schon in heidnischer Urzeit ein Nachbar der Griechen und Römer.

Von ultima Tyle bis zum Imperium der Griechen Gegen diese Deutung, gewonnen aus einigen wenigen Zeilen am Ende der Chronik, ließe sich freilich mit Fug und Recht der Vorwurf der Überinterpretation erheben, wenn dieser einmal formulierte Gedanke eines dänischen dominium maximum sich nicht in der folgenden Jahrzehnten in exakt dieser Weise weiterentwickelt hätte. Svend Aggesen, einer der letzten Überlebenden des Trundkollektivs nach dessen weitgehender Beseitigung 1176 und Kanoniker in Lund,464 verfasste wohl in den frühen 1180er-Jahren die Lex Castrensis, ein auf Knud den Großen projiziertes Hofrecht, das auf eine knappe volkssprachliche Sammlung an relevanten Informationen durch Absalon und seinen nutricius Knud IV. zurückgehe.465 Der Text, welcher in historiographischer Form an Beispielen brandaktuelle Strategien der Konfliktvorbeugung und -bewältigung unter Magnaten und Herrschern durch die Schaffung und Anwendung von Gesetzen behandelt und dabei eine historische Entwicklung der Interaktionsmuster vom rigor iustitiae hin zu einer höfischen, disziplinierten Gesellschaft aus Rittern (von curiales zu milites) demonstriert, in welcher der König clementia üben kann und die körperliche Strafe durch Kompensation abgelöst wird,466 stilisiert Knud den Großen, den Urheber der Gesetze, als Herrscher über ein riesiges Imperium. Es habe von ultima Tyle bis zum Grecorum imperium gereicht und England, Norwegen, die Sclavia und Semlandia eingeschlossen.467

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exactores, in Übereinstimmung mit dem Herrschaftsideal in den Gesta Danorum (Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 243–249; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 78f.). Vgl. zu Svend Aggesen, über den wir nur aus seinen Werken informiert sind, Christiansen, Works of Sven Aggesen [1992], S. 18–27; Skovgaard-Petersen, Sven Aggesen [2005]; Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 108–110; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 100– 103 bzw. Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 43–46. S. auch Anhang 2.3. Lex Castrensis, Proœmium, S. 64. Es ist hier wie bei allen Werken Svend Aggesens in SM die von Gertz restituierte Rezension X anzuwenden; vgl. Christensen, Om overleveringen [1978], S. 27–64 bzw. D12. Die Einschätzung basiert auf Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 98–105. D12.

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Damit wird dieses Dänemark mit den von ihm unterworfenen Regionen zum dritten Imperium neben dem griechischen und dem römischen. Mit den realen Zuständen zur Zeit Knuds des Großen hat diese Aussage trotz einer unzweideutigen imitatio imperii in seinem angelsächsischen Umfeld herzlich wenig zu tun, ebenso wie die bei Svend Aggesen formulierten Rechtsnormen eine inventio darstellen.468 Umso relevanter und klarer erscheint die gegenwartsbezogene Kommunikationsabsicht: Mit dem dänischen Imperium ist eine Gleichrangigkeit zu Rom ausgedrückt, welche in der mehr oder weniger frei erfundenen dänischen Rechtsgeschichte mit der massiven Applikation kanonischen Rechts, römischen Rechts und ciceronischer Ethik einhergeht.469 Kulturtransfer und eine Schärfung der für die eigene Identität wichtigen Grenze gehen hier einmal mehr Hand in Hand.470 Svend Aggesen baut diese Idee eines Großreiches, das Knud beherrschte, in seiner Brevis historia regum Daciae weiter aus: Hier unterwirft er in der mehr oder weniger gleichen Formulierung zwischen ultima Tyle und dem Grecorum imperium neben den oben genannten Ländern auch Hybernia, Gallia, Italia, Longobardia und Teotonia, also das römisch-deutsche Reich selbst.471 Dem geht bereits in einer Zeit verdunkelter Erinnerung zwischen der sich nicht berührenden Vorgeschichte und der eigentlichen Geschichte eine vergleichbare Leistung Olufs des Eroberers voraus, der den gesamten Raum südlich Dänemarks bis sieben Tagesreisen südlich der Donau erobert habe.472 All dies passt zum antideutschen, besser noch anti-staufischen Tenor dieser ersten »Gesamtdarstellung« dänischer Geschichte vom ersten König bis in die Gegenwart: Schon der Vorzeitkönig Uffe besiegt im Zweikampf den besten Kämpen des Dänemark bedrohenden Kaisers sowie den Thronfolger selbst, verspottet die von Natur aus aufgeblasenen Teotonici und verteidigt den honor regni.473 Thyra, die Frau des letzten heidnischen Königs Gorm, hält Otto den Großen, der sie als Konkubine zu sich nehmen will, zum Narren und verdeutlicht seinen Boten in einer Rede, dass 468 Zur Kaiserimitation bei Knud vgl. oben, S. 357 mit Anm. 290. Als inventio ohne jede historische Aussagekraft über die eigentlichen Verhältnisse in Dänemark bezeichnet MünsterSwendsen, Saxos skygge [2012], S. 110–112 die Lex Castrensis, in Ablehnung älterer nationalgeschichtlicher Vorstellungen (ebd., S. 94–97). 469 Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 105. 470 Vgl. zu diesem Phänomen Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 134–150, der typologische Verähnlichungen bzw. Vergleiche Dänemarks mit dem römisch-deutschen Reich bei den dänischen Historiographen, insbesondere Saxo, behandelt; zur Dialektik von kultureller Aneignung und gleichzeitiger Abgrenzung Gerogiorgakis/Scheel/Schorkowitz, Kulturtransfer vergleichend betrachtet [2011], S. 417–419. 471 D13. 472 Brevis historia, Kap. 4, S. 106: »Qui proxime successit, Olaus, hic omnes circumiacentes regiones strenue subiugauit, adeo etiam, ut ultra Danubium septem dietas triumphando pergeret.« 473 Brevis historia, Kap. 2f., S. 98–104, der honor regni findet sich auf S. 102.

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sie als Königin von Dänemark in ihrem Lande das gleiche Recht genieße wie der Kaiser in seinem: Rex imperator in regno suo.474 Da sie eine Heidin ist und zudem das Danewerk an der deutschen Grenze ausbaute, ebenso wie Valdemar es getan habe,475 ist hier auch das Argument der Bekehrung durch den Kaiser Ludwig aus dem Chronicon Lethrense obsolet geworden; Dänemark ist souverän.476 Knud der Große schließlich muss gar seinem Schwiegersohn Heinrich III. auf dessen Romzug durch Unterwerfung der Römer den Weg ebnen und ihn gleichsam auf dem Thron installieren:477 Letzten Endes ist sein dänisches Imperium das zweite neben dem »griechischen«, also dem byzantinischen. Dieses Verhältnis stellt Svend Aggesen lediglich fest, ohne deshalb näher auf dänisch-byzantinische Interaktion einzugehen, was indes der etwa gleichzeitig mit seinem ungleich längeren Schreibprozess beginnende Saxo ausführlich tut, wenn auch nicht im Kontext Knuds des Großen, sondern in der ferneren Vorgeschichte und dem Zusammenhang der Kreuzzüge.478 Alle zentralen Elemente aus Svend Aggesens vorgeschichtlicher Erörterung des deutsch-dänischen Verhältnisses übernimmt er, verlagert aber etwa den Diskurs über die Souveränität des Königs in seinem Reich in die Gegenwartsgeschichte, als Knud IV. Friedrich 1182 den Lehnseid verweigert.479 Die Entwicklung vom Chronicon Lethrense mit Harald Hildetands Imperium über Svend Aggesen hin zu Saxo ist unverkennbar, denn selbst wenn Svend Aggesen bezüglich innerdänischer Verhältnisse einer der letzten überlebenden Gegner des Skjalmkollektivs war und eben deshalb in seinen Werken zu Saxo

474 Brevis historia, Kap. 5, S. 108–114, Thyras Rede auf S. 112/114. Svend zitiert zwar nicht den erst um 1201–1210 vom Kanonisten Alanus Anglicus und in der Papstbulle Per venerabilem von 1202 formulierten Satz Rex imperator in regno suo (s. Fontes historiae iuris gentium, ed. Grewe [1995], S. 427, 432–436), doch wird das Prinzip hinreichend deutlich. 475 Brevis historia, Kap. 6, S. 112 (Thyra) und Kap. 18, S. 138 (Valdemar). 476 Zum Entstehungshintergrund der Brevis historia zwischen dem Beginn der Machterweiterung südlich der Ostsee auf Kosten der Staufer 1185 und vor Friedrichs Kreuzzugs ab 1188 Scheel, Lateineuropa [2012], S. 96–103; zum Verhältnis zwischen Deutschen und Dänen sowie besonders zwischen dem dänischen und römischen Reich Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 128–141 und die Literatur in Anm. 1534. 477 Brevis historia, Kap. 9, S. 122. 478 Svend äußert, durch den Ebf. Absalon auf die Tätigkeit Saxos aufmerksam gemacht worden zu sein (Brevis historia, Kap. 10, S. 124). Zu Saxos Verarbeitung dänischer Macht in der Vorgeschichte vgl. den folgenden Text sowie D28-D43, besonders D33 zu Frode Fredegods Riesenreich, zu Kontakten mit Byzanz in der jüngeren Geschichte D49, D55. 479 GD 16,3,2–5. Arnoldi Chronica slavorum, ed. Pertz [1868] 3,2, S. 70f. motiviert die Ablehnung mit dem Zorne Knuds über Heinrichs Sturz, mit dessen Tochter er verheiratet war – freilich hatte der 1182 verstorbene Valdemar eifrig daran mitgewirkt. Zum gescheiterten Ehebündnis zwischen einer Tochter Knuds und Friedrich von Schwaben Weller, Heiratspolitik [2004], S. 131–135.

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graduell verschiedene Vorstellungen von idealer Königsherrschaft formuliert,480 teilen seine Chronik ebenso wie das Chronicon Lethrense und Saxo eine markante Feindseligkeit und diskursive Abwehrhaltung gegenüber den römischen Kaisern und den Deutschen, welche sich auf diese Kaiserwürde stützen. Der konkrete politische Hintergrund nimmt sich in den 1180er-Jahren aber nochmals brisanter aus als zuvor, hatte doch Knud IV. nach Valdemars Tod 1182 Friedrich Barbarossa den Lehnseid verweigert, damit zugleich ein valdemarischstaufisches Ehebündnis torpediert, das 1187 endgültig scheiterte,481 und 1185 mit dem Sieg über Bugislaw von Pommern und der Unterwerfung Heinrich Borwins I. und Niklot Borwins von Mecklenburg Leute des Kaisers zu seinen Abhängigen gemacht482 – was alles in allem nicht nur eine Bedrohungssituation schuf, sondern angesichts der ständigen Abwehrgesten »deutschen« Einflusses im Chronicon Lethrense, der Brevis historia und den Gesta Danorum offenbar auch nicht den selbstverständlichen Konsens unter allen dänischen Großen fand, wenngleich unter all jenen, die uns schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben. Svend Aggesens Brevis historia, die just mit jenen Ereignissen endet, billigt und rechtfertigt dieses Vorgehen auch legistisch und beruhigt gleichsam die Gemüter angesichts der Möglichkeit eines Zurückschlagens der »Deutschen« mit historischen Beispielen; offenbar entstand sie vor Friedrichs Kreuzzug. Engmaschige, organisierte Kontakte Auch wenn die byzantinische Verbindung hier neben der seit alters her bestehenden »Nachbarschaft« zu den Byzantinern nicht funktionalisiert wird, müssen die Kontakte doch unter den Eliten augenfällig gewesen sein, nicht allein aufgrund der mit byzantinischen Ikonographie-Elementen ausgestatteten Kirchen, sondern auch im Urkundenwesen: Zwei im Esrombogen, einer Privilegiensammlung des nordseeländischen Zisterzienserklosters, überlieferte Urkunden Valdemars des Großen aus dem Juli 1176 und aus der Zeit um 1177, in denen er der Abtei Ländereien in Halland überträgt und die Achtung der Rechte des Klosters in Halland anmahnt, zeigen im lateineuropäischen Kontext merkwürdige Arengen.483 Sie enthalten klassische Elemente byzantinischer Prooimia, denn Valdemar spricht von seiner humanitas (φιλανθρωπία), von seiner paterna providentia für die devotio sowie seiner Sorge für das Seelenheil (salus) der von ihm Beherrschten.484 Es ist möglich, dass sich hier die Kanzlei vom lateinischen 480 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 206–209; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 100– 103, 114. 481 S. Anm. 479. 482 Brevis historia, Kap. 20, S. 140; GD, 16,5,1–11. 483 D10+D11. 484 Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 75, 77 mit den folgenden Verweisen: Zur

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Text vorliegender Chrysobullen inspirieren ließ oder gar Remigranten, die Einblick in die »Übersetzungsabteilung« in Konstantinopel erlangt hatten, als Vermittler fungierten.485 Ein reger schriftlicher Austausch ist nur noch in ganz vereinzelten Fällen fassbar, etwa in Manuel Komnenos’ Schreiben an Henry II. unmittelbar nach der Schlacht von Myriokephalon 1176, die als Bestandteil der Chronik Rogers von Hoveden überliefert ist.486 Dennoch stellen gerade die Arengen der dänischen Urkunden einen guten Indikator direkter Kontakte dar, denn die große Aufmerksamkeit, welche den Axtträgern bei Niketas Choniates, Nikolaos Mesarites, Euthymios Tornikes und Nikephoros Chrysoberges sowie den Chronisten des Vierten Kreuzzugs zuteil wird,487 erfordert angesichts von Verlusten bei Myriokephalon und sonstigem Verschleiß unter Manuels kriegerischer Herrschaft eine gleichbleibend hohe oder gesteigerte Migration von skandinavischen Söldnern nach Byzanz, die durch Agenten vor Ort entsprechend organisiert werden musste. Thomas Riis erkennt einen hiermit zeitlich sehr gut übereinstimmenden, generellen Trend in der Königsideologie der Valdemarenzeit bei Saxo, in den Urkunden, aber auch in den Bildmedien, der über eine imitatio imperii hinaus christomimetische Aspekte der Königsherrschaft betont und ihr quasi eine imitatio kaiserlich-byzantinischer Vorbilder zur Seite stellt.488 Einen Einblick in die Funktionsmuster solcher Anwerbung im späten 12. Jahrhundert durch Skandinavier in byzantinischen Diensten vermittelt die Sverris saga,489 eine etwas frühere lateineuropäische Parallele findet sich in der besonderen Beziehung des Grafen Stephan von Blois und mit ihm verbundenen hochrangigen Klerikern zu Alexios Komnenos.490 Dass wahrscheinlich insbe-

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philanthropia Hunger, Prooimion [1964], S. 143–153, zur humanitas Fichtenau, Arenga [1957], S. 46–48. Die paterna providentia weist mehr byzantinische als lateinische Parallelen auf (Hunger, Prooimion [1964], S. 92–94; Fichtenau, Arenga [1957], S. 241). In D11 spricht Valdemar von der Sorge für die Gottesfurcht, dazu Hunger, Prooimion [1964], S. 206f. Vgl. zur Anfertigung von Ausslandsschreiben in Byzanz Kresten/Müller, Auslandsschreiben [1994]; Gastgeber, Die lateinische Übersetzungsabteilung [2005]. Chronica Rogeri Houedene, ed. Stubbs [1869], S. 102–104. Vgl. oben, S. 230ff. Riis, Einführung [2004], S. 161. NI 37. Stephan von Blois legt in seinen Briefen wiederholt Zeugnis von seiner Hofierung durch Alexios ab und berichtet vom Wunsche Alexios’, einen Sohn an seinen Hof zu schicken (Kreuzzugsbriefe, ed. Hagenmeyer [1901], Nr. 4, S. 138 und Nr 14f., S. 138f.). Die Bedeutung solcher Netzwerke, die Agenten vor Ort (»men-on-the-spot«) platzieren und den Byzantinern Ressourcen erschließen, erarbeitet Shepard, Trouble-shooters and Men-on-the-Spot [2011], S. 715–723, in diesem Zusammenhang bes. 720–722. Guillermus von Cormery, spätestens ab 1102 Bischof von Salpi, sowie sein Bruder Gausbertus, Prior von Saint-Martin de Chamar, einer Tochter von Marmoutier, hatten sich lange Jahre schon vor dem Ersten Kreuzzug in Alexios’ Gefolge aufgehalten; sie waren dem Grafen Stephan persönlich eng verbunden, und Guillermus beschenkte Cormery, Stephan Marmoutier reich mit in Byzanz erworbenen Reliquien. Ausführlicher hierzu Shepard, St James the Persian’s Head [2005],

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sondere seeländische Magnaten um die Nachkommen Skjalm Hvides, deren Kirchen ja mit byzantinisierenden Malereien ausgestattet und großzügig mit Lapislazuli ausgemalt wurden,491 für den dänischen Nachschub sorgten, deuten nicht nur Pretiosen wahrscheinlich byzantinischer Herkunft in Absalons Testament an,492 sondern auch Arvebog og Orbodemål, Regelungen zum Erbrecht, die in Valdemars Sjællandske Lov enthalten sind. Dessen ältere Redaktion entstand im Zeitraum zwischen 1216 und 1241, die fraglichen Bestimmungen aber stammen selbst schon aus der Zeit um 1170 und sind in schonischer Sprachform überliefert:493 Auch wenn die Regelungen zum Erb- und Prozessrecht für ganz Dänemark gegolten haben mochten,494 finden sich nur in Valdemars Sjællandske Lov und einer jüngeren Fassung, Eriks Sjællandske Lov, Regelungen für den Fall, dass der Erbnehmer oder Erblasser sich im Ausland aufhält oder dort stirbt.495 Entsprechende Passagen existieren weder im Skånske Lov noch im Jyske Lov, sondern allein in den wahrscheinlich im früheren 12. Jahrhundert kodifizierten norwegischen Gulaþingslo˛g496 und den um 1220 bis 1225 verschriftlichten Äldre

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S. 314–318; vgl. zu den Grafen von Blois und Byzanz auch Ciggaar, Western Travellers [1996], S. 184; Cheynet, L’implantation des Latins [2002], S. 123. Den Zusammenhang zwischen Kontakten des 12. Jhs. und der romanischen Kunst Dänemarks, der unten, S. 447ff. näher behandelt wird, erschließt der Aufsatz von Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], von dem die Untersuchung zu Dänemark und Byzanz wesentlich inspiriert ist. Das Testament (D25) legt fest, dass Knud IV. eine Goldschale mit Moschus erhalten solle. Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], S. 129 versammelt Belege dafür, dass Moschus sehr wahrscheinlich über Byzanz gehandelt wurde. Strauch, Sjællandske Love [2005], S. 535–539; Andersen, Lærd ret [2006], S. 75–87, 129–147. Die Annales Ryenses konstatieren zu A.D. 1170: »Leges Danorum edite sunt«, was Fenger, Jydske Lov [1991] zu dem Schluss führte, hiermit seien Arvebog og Orbodemål gemeint; vgl. auch Vogt, Slægtens funktion [2005], S. 215–227. Gelting, Pope Alexander III and Danish Laws [2005], S. 91 verortet jenen Vorgang nach 1169, Strauch, Sjællandske Love [2005], S. 536 hingegen an den Beginn von Valdemars des Großen Herrschaft. Dass nicht nur das Erbrecht um 1170, sondern danach in mindestens einer weiteren Stufe 1184 (GD 16,4,2) auch das Prozessrecht überabeitet wurde, betont Andersen, Lærd ret [2006], S. 80–85. Vgl. die Fundstelle D27. Fenger, Jydske Lov [1991], S. 47. D27 (Valdemars Sjællandske Lov) und D64 (Eriks Sjællandske Lov). NI 1. Zum Alter der Gulaþingslo˛g, die in zwei Redaktionen überliefert sind, welche auf Óláfr inn helgi und Magnús Erlingsson zurückgeführt werden, der Geschichte ihrer Verschriftlichung und der Überlieferung, die nur für die Magnús-Fassung komplett ist, Gulaþingslo˛g, ed. Eithun/Rindal/Ulset [1994], S. 9–12, die eine extrem frühe schriftliche Fixierung bald nach 1000 für denkbar halten; Helle, Gulatinget og Gulatingslova [2001], S. 20–23 hält gerade aufgrund der Voraussetzung ortsfester Bischöfe eine Datierung ins späte 11./frühe 12. Jh. für wahrscheinlicher, Boje Mortensen, Den formative dialog [2006], S. 255f. datiert aufgrund eines ansonsten völlig isolierten Status ohne irgendeine lokale, literarische Parallele ebenfalls ins 12. Jh.; vgl. auch Strauch, Gulaþingsbók [1999]. Ders., a. a. O., S. 185 hält die Griechenlandfahrer-Bestimmung den historischen Verhältnissen des 10. (!) Jhs. für angemessener, ähnlich Hertzberg, Nedskrivelsestid [1905]. Hierfür spricht jedoch gerade im hiesigen Vergleichskontext nichts als die Konzentration der Konungasögur und Íslendingasögur auf

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Västgötalagen,497 dort jedoch jeweils im expliziten Bezug auf Griechenlandfahrer, der in Arvebog og Orbodemål nicht gegeben ist. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Griechenlandfahrer aus Västergötland während ihrer Abwesenheit nicht erbberechtigt sind, während im dänischen Recht der Erbteil des Abwesenden zu berücksichtigen und ihm bei seiner Rückkehr zu übergeben ist, was für verschiedene Verwandtschaftskonstellationen durchgespielt wird. Die Gulaþingslo˛g regeln allein die Rechtsfürsorge für Güter von Griechenlandfahrern. Dänische Byzanzmigranten scheinen so im Vergleich mit anderen Skandinaviern besonders geschützt. Dies verwundert kaum, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zu jener Zeit sehr wahrscheinlich eine nicht unerhebliche Anzahl an Freien aus der Einflusssphäre des Skjalmkollektivs nach Byzanz zog, worauf noch näher einzugehen sein wird. Die Parallele zwischen der Bedeutung von Byzanz in der dänischen Historiographie, regen Kontakten und den Bestimmungen im Erbrecht ist unzweideutig, und sie verweist auf eine besondere Funktionalität dieser Bestimmungen gerade im Seeland des späten 12. Jahrhunderts; sie waren mehr als nur das Relikt vergangener Fahrten auf dem Ostweg. Dass zu jener Zeit offensichtlich auch skandinavische Kleriker die Truppen begleiteten, wie Robert de Clari in seinem Bericht über die Eroberung hervorhebt,498 erhöhte die Chance von Kulturtransfer in Bereichen der Schriftlichkeit und der Kunst in jenen Jahrzehnten erheblich. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch ein gemeinsames staufisches Feindbild: Friedrich Barbarossa hatte mit Heinrichs des Löwen Sturz 1181 direkten Einfluss auf das unmittelbare dänische Hinterland einschließlich Lübecks gewonnen, die folgenden Verwerfungen durch die Verweigerung des Lehnseides und die Ausdehnung über die Ostsee wurden bereits erörtert. Die Byzantiner ihrerseits wurden von Friedrich auf seinem Kreuzzug konfrontiert,499

frühere Zeiten; die Bestimmungen waren im 12. Jh. vollkommen funktional und kein Relikt, was etwa die Heimkehr von König Sverris Bruder Eiríkr aus Byzanz 1181 beweist. 497 S1, vgl. zum Rechtstext selbst Strauch, Västgötalag [2006] mit entsprechenden Literaturhinweisen, der auf eine Beeinflussung des Verfassers und Rechtsprechers Eskil Magnusson, eines Bruders von Birger Jarl, durch norwegische Vorbilder über die eigene Verwandtschaft verweist sowie auf die Empfehlung des Ebfs. Anders Sunesen von Lund, Gewohnheitsrecht zu kodifizieren. Beckman, Äldre Västgötalagen [1924], S. 39 ist der Ansicht, es handele sich um eine allgemeine Formulierung, die Pilgerreisen meine, denn der Militärdienst sei aufgrund des damit verbundenen Riskos für Leib und Leben ausgeschlossen. Vgl. auch Blöndal, S. 346f./223. 498 S. oben, S. 256 mit Anm. 771. 499 Vgl. zur Konfrontation zwischen Alexios III. Angelos und Friedrich Brand, Byzantium confronts the West [1968], S. 113–116; Lilie, Des Kaisers Macht [1984], S. 99–107; Cheynet, Pouvoir et contestations [1990], S. 434–440; Anca, Herrschaftliche Repräsentation [2010], S. 111–113. Das Verhältnis zwischen den Kaisern war schon zu Manuels Zeiten gerade in Fragen der Italienpolitik geprägt von Bündnissen mit Hintergedanken und Konfrontatio-

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gerieten etwas später jedoch unter massiven Druck durch Heinrich VI., der 1194 Sizilien erobert hatte. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich die Feindbilder bei Svend Aggesen und dem knapp zwei Jahrzehnte später schreibenden Niketas Choniates gleichen. Niketas berichtet von Verhandlungen zwischen Heinrich VI. und Alexios III. Angelos 1196/97 und der Erleichterung über Heinrichs Dahinscheiden:500 »ἀντεπιστείλαντος δὲ πρὸς ταῦτα τοῦ βασιλέως καὶ ἄνδρα τῶν οὐκ ἀσήμων πρεσβευτὴν στείλαντος, πρέσβεις ἐκεῖθεν ἀφίκοντο, ὧν ἅτερος βαρὺς ἦν τὴν ὀφρὺν καὶ περιττὸς τῷ παιδοκομῆσαι τὸν ῥῆγα. ἦν δὲ καὶ τὰ δι’ αὐτῶν πρεσβευόμενα χρημάτων ἀποδόσεις πολυταλάντων ἀλαζονεῖαί τε καὶ κόμποι καὶ αὐχημάτων ἐγχωρίων κατάλογοι, δι’ ὧν καταπολιτεύονται οἱ ἀκούοντες.« »Der Basileus antwortete mit einem Schreiben und sandte an ihn [Heinrich VI.] einen sehr vornehmen Mann, worauf wiederum Gesandte kamen, von denen einer buschige Augenbrauen hatte und bemerkenswert dafür war, dass ihm die Erziehung des Königs [Heinrich] im Kindesalter übertragen worden war. Ihre Verhandlungen konzentrierten sich auf die Zahlung riesiger Geldsummen [viele Talente werter Besitztümer], Prahlereien und Selbstbeweihräucherung, sowie auf die Aufzählung der Ruhmestaten ihrer Landsleute, womit sie die Zuhörer einschüchtern.« »οὐ Ῥωμαίοις δὲ μόνον πολυέραστος οὗτος γεγένηται, ἀλλὰ καὶ τοῖς ἑσπερίοις τρισασπάσιος ἔθνεσιν, ὅσα τε πρὸς ἑαυτὸν ἐκεῖνος βίᾳ πλέον ἤπερ πειθοῖ ἐπεσπάσατο καὶ ὅσα μετελθεῖν μελέτην ἐτίθετο, ἀεὶ μερίμναις κατατεινόμενος καὶ πρὸς ἅπασαν ἀντίξους ὁρώμενος ἡδυπάθειαν, ὅπως μοναρχίαν περιβαλεῖται καὶ κύριος ἐσεῖται τῶν κύκλῳ δυναστειῶν, τοὺς Ἀντωνίνους καὶ Αὐγούστους Καίσαρας τῷ διανοητικῷ φανταζόμενος καὶ πρὸς τὴν ἐκείνων ἀρχὴν ἐκτείνων τὴν ἔφεσιν, καὶ μικροῦ φθεγγόμενος κατ’ Ἀλέξανδρον ‘τὰ τῇδε καὶ τὰ τῇδε πάντα ἐμά’, […]« »Nicht bloß den Rhomäern war er [der Tod Heinrichs VI.] sehr erwünscht, auch all den westlichen Völkern war er dreifach willkommen, besonders denjenigen, die er mehr durch Macht als durch Konsens an sich gezogen hatte, sowie jenen, die zu bekämpfen er sich anschickte. Denn er war gegen jeden Luxus und sorgte sich die ganze Zeit, wie er eine monarchia errichten und die Herrschaft über alle Reiche ringsum erreichen könnte. Er stellte sich den Antoniten und Caesares Augusti gleich und trachtete danach, bis zu ihrer Machtsphäre die seine auszudehnen, und fast sprach er wie Alexander: ›Hierhin und dorthin ist alles mir untertan.‹«

Prahlerei, Selbstbeweihräucherung und Einschüchterungstaktik sind genau die Strategien, welche Svend Aggesen dem römisch-deutschen Kaiser und seinem Sohn in der Vorgeschichte zuschreibt, der in einem Moment der vermeintlichen Wehrlosigkeit mit einem altersschwachen Dänenkönig entweder Tributzahlunnen: Lilie, Manuel und Friedrich [1992]; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 83–95 und oben, S. 228 mit Anm. 651. 500 Das erste Zitat: NC Βασιλεία Ἀλεξίου τοῦ Ἀγγέλου Kap. 1, S. 476, Z. 60–65, das zweite ebd., S. 479, Z. 46–480, Z. 54.

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gen oder einen Zweikampf um die Herrschaft im Land fordert. Die Deutschen, von Svend mitunter auch mit dem französischen pars pro toto als Alamanni bezeichnet,501 besitzen einen quasi angeborenen Hang, sich vor dem Gegenüber aufzublähen und es so einzuschüchtern. Er lässt den nachher siegreichen Königssohn Uffe, flankiert von ein- und ausleitenden Vergil-Zitaten, sprechen:502 »Non nos minacie moueant lascentium, cum ea Teotonice turgiditati innata sit conditio, ut uerborum ampullositate glorientur minarumque uentositate pusillanimes et imbecilles calleant comminitatione consternare.« Auch später, als Thyra Ottos Ansinnen, sie zur Konkubine zu nehmen, hintertreibt, inzwischen das Danewerk ausbaut und ihn dann zurückweist, heißt es:503 »Sicque Teotonice turgiditati mulieris illusit uersutia.«

Die auffällige Ähnlichkeit des byzantinischen mit dem dänischen Negativbild des von turgiditas, ampullositas und furor504 beherrschten Deutschen, bei Svend Aggesen durch die Rezeption von Feindbildern und Konzepten aus seiner Ausbildung in Frankreich geprägt,505 muss nicht auf einen direkten Bezug zwischen den Texten hindeuten. Unverkennbar ist jedoch, dass die Byzantiner, die in ihrer Anwerbungsstrategie für ständig in großer Zahl benötigte Söldner gute Beziehungen zu Machthabern auch in entfernten Regionen pflegten, über das einigende Feindbild der Staufer bestens unterrichtet waren, sei es über die italienischen Städte, über Frankreich oder Dänemark oder aus mehreren Richtungen zugleich. Der gemeinsame Feind in Person der römischen Kaiser, deren »harte« Machtausübung dänische Könige, weltliche und kirchliche Magnaten wiederholt 501 Brevis historia, Kap. 2, S. 98, Kap. 3, S. 104 (zweimal). 502 Brevis historia, Kap. 2, S. 100. Die Geschichte von Uffes Kampf findet sich auch in den GD 4,4,1–11, dort aber ist der Sachsenkönig, nicht der Kaiser der Gegner, die Affäre also weniger universalgeschichtlich-dramatisch als hier und auch im Kampf Dans gegen Augustus im CL (oben, S. 393). Johannesson, Saxo Grammaticus [1978], S. 329–331 weist darauf hin, dass hierfür ein Wandel im Verhältnis zum südlichen Nachbarn verantwortlich ist. Saxo geht es nicht darum, die dänische Unabhängigkeit zu verteidigen und historisch zu rechtfertigen, sondern auf den verderblichen Einfluss der Sachsen insgesamt auch am Königshof hinzuweisen; vgl. auch Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 128–132. Es besteht ein Zusammenhang mit angelsächsischen Offa-Traditionen etwa im Widsith (Honegger/Scharer, Offa [2002]). 503 Brevis historia, Kap. 6, S. 114. 504 Furor: Brevis historia, Kap. 2, S. 98. Ampullositas: Kap. 2, S. 100 (zweimal), und Kap. 3, S. 104. 505 Scheel, Lateineuropa [2012], S. 98–100 bzw. Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 41–43: Svend rezipiert hier das Konzept der arrogantia, die ampullositas und einen tumor des Geistes bedingt, aus Alani Liber de planctu naturæ [1872], S. 494, der nur wenig früher entstand; von Alanus übernahm Svend auch das römische lustrum ( Jahrfünft) als chronologische Einheit. Das Konzept des furor Teutonicorum stammt von John of Salisbury, Ep. 152 von 1165 an Thomas Becket: Letters of John, ed. Millor/Brooke [1979], S. 50–56, hier S. 54. Vgl. zur deutsch-französischen Beziehung Galland, Les relations [1996], S. 77–82.

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in Zwangslagen versetzt und Machtverhältnisse in Dänemark manipuliert hatte, findet bei Svend sein Gegenstück in der Parallelisierung des einstigen dänischen mit dem byzantinischen Imperium, dessen »weiche« Macht506 im fernen Norden eine ganz andere Anziehungskraft besaß. Gute Beziehungen zum »echten« Imperator – dem Komnenen und Angelos, nicht dem Salier und Staufer, dem man sich qua geschichtlicher Ereignisse überlegen weiß – sind hier nur ganz schwach angedeutet, sollten aber in jenem politischen Klima des späten 12. Jahrhunderts durch dem Skjalmkollektiv nahe stehende Historiographen und für sie arbeitende Malerwerkstätten entscheidend ausgebaut werden.

Der Byzantiner Odin und Heldentaten auf dem Ostweg Dies geschah bei Saxo, soweit man den Entstehungsprozess der Gesta Danorum verfolgen kann, produktionsästhetisch gesehen wahrscheinlich zuerst in der jüngeren Geschichte und erst danach in der mythologischen Vorgeschichte: Svend Aggesen verweist darauf, dass Saxo dabei sei, ein größeres Geschichtswerk zu verfassen;507 da beide Werke mit der Unterwerfung Pommerns und Mecklenburgs 1185 enden, in der Gegenwartsgeschichte aber kaum Überschneidungen aufweisen und zudem der 1202 verstorbene Birger Jarl in Buch 11 der Gesta Danorum noch lebt, kann man mit Vorbehalten davon ausgehen, dass die späteren Bücher zuerst entstanden. Die Vorgeschichte, oftmals als typologischer Spiegel zur späteren Geschichte angelegt, wurde im Anschluss bis 1208 oder spätestens bis um 1216 verfasst.508 Zahlreiche erweiternde Überarbeitungen, wie sie das Angers-Fragment Nks 869 g 4to, wahrscheinlich ein Autograph beziehungsweise Arbeitsexemplar Saxos, demonstriert, machen eine unzweideutige textgenetische Einteilung freilich unmöglich.509 Wenn hier gleichsam rezeptionsästhetisch der Erzählung des Textes gefolgt wird, hat dies trotz einer umge506 Zum Konzept byzantinischer »soft power« Shepard, Trouble-shooters and Men-on-the-Spot [2011], S. 722f. Vgl. auch die Feststellung bei Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 105: »The chief instruments of Manuel’s imperialism were the gold-sealed charter of concessions, the low throne for the honoured guest, and offers of gold that no-one could refuse.« Hierzu wäre anzumerken, dass die skandinavische Historiographie stets Wert auf die Ranggleichheit und die gleiche Thronhöhe legt, das Prinzip also erkennt, es aber für ihre historischen Helden exklusiv außer Kraft setzt (s. zu Dänemark unten, S. 423ff., zum norrönen Sprachraum S. 643ff.). 507 Brevis historia, Kap. 10, S. 124. 508 Zur Entstehungszeit Christensen, Saxo og Sven Aggesen [1975], S. 133–137; Friis-Jensen, Saxo Grammaticus [2004], S. 550; Riis, Einführung [2004], S. 14–18 sowie die Literatur in Anm. 1149. Der Terminus ante quem orientiert sich an der rühmenden Erwähnung eines Kriegszuges Valdemars II. über die Elbe, womit entweder ein Ereignis des Jahres 1208 oder wahrscheinlicher noch 1216 gemeint sein kann. Typologie als Aufbauprinzip behandelt besonders ausführlich Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], bes. S. 95–177, 252–255. 509 Vgl. Johannesson, Saxo Grammaticus [1978], S. 308f.

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kehrten Genese der schriftlichen Informationen jedoch den wesentlichen Vorteil, dass bewusst angelegte typologische Bezüge deutlich herauskommen. In Saxos nordischer Weltchronik, die mit Dan nicht zu Augustus’ Zeiten, sondern weit vor Christi Geburt einsetzt, machte Inge Skovgaard-Petersen ein Kompositionsprinzip in vier Zeitschichten ausfindig (1. vor Christi Geburt, 2. von Christi Geburt bis zur Erkenntnis des Christentums aus eigener Kraft, 3. vor dem nordischen Erzbistum, 4. unter dem nordischen Erzbistum), die jeweils vier Bücher der Geschichte umfassen;510 Sigurd Kværndrup machte darauf aufmerksam, dass die ersten neun Bücher zudem in fünf Blöcke zu jeweils zwölf heidnischen Königen zerfallen, wobei mit jedem vollen Dutzend eine besonders herausragende Sagengestalt auftritt.511 Saxo appliziert des Orosius Verknüpfung von Heilgeschichte und römischer Geschichte auf das nordische Imperium und weist dabei bemerkenswerte Parallelen in Chronologie und Typologie zu Otto von Freising auf,512 wenn er ihn auch niemals zitiert und bewusst eine ganz andere Sprach- und Erzählform wählt.513 Innerhalb der ersten neun Bücher, dessen letztes den Übergang zum Christentum nach Karls des Großen Sachsenmission und Kaiserkrönung behandelt, begegnen nicht weniger als 16 Ereigniskomplexe, die sich im Osten zwischen der Ostsee und Byzanz abspielen.514 Von entscheidender Bedeutung ist hier vor allem in den ersten drei Büchern die Herkunft des euhemeristisch als zauberkräftigen Menschen eingeführten Odin aus Bizantium, die von einer Charakterisierung Odins analog zu Augustinus’ und Ottos Vorstellung über Hermes Trismegistos als historische Person sowie weiteren literarischen Motiven aus der griechischen Antike flankiert wird.515 Er 510 Kompakt formuliert bei Skovgaard-Petersen, Gesta Danorums genremæssige placering [1975], S. 26; vgl. auch Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 253–255. Kværndrup, Tolv principper hos Saxo [1999], bes. S. 62–71, kritisiert insbesondere die Trennungslinie zwischen heidnischer und christlicher Geschichte zwischen dem achten und neunten Buch und betrachtet letzteres selbst als Übergangsbericht. Kritik an einer Übernahme der Büchereinteilung gemäß der Editio princeps übt Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 20–28 bzw. Riis, Einführung [2004], S. 34–39, der sich dafür ausspricht, bei Differenzen der Textorganisation des Compendium Saxonis zu folgen. Hieraus ergäbe sich eine andere ideologische Gewichtung, und an Stelle von Skovgaard-Petersens viertem Abschnitt unter dem Erzbistum träte so ein vierter Abschnitt seit der Geburt Valdemars des Großen. 511 Kværndrup, Tolv principper hos Saxo [1999], S. 92–96. Das erste Dutzend überdeckt die Bücher 1 und 2, das zweite 3 bis 4, das dritte 6 und 7, das vierte Buch 8, das fünfte Buch 9. Hierdurch ergibt sich eine andere Einteilung der vorchristlichen Geschichte als bei Skovgaard-Petersen, wobei sich beide Deutungen nicht ausschließen müssen, sondern durchaus ergänzen können. 512 Zum engen ideengeschichtlichen Verhältnis zwischen Saxo und Otto Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 196–203. 513 Skeptisch äußert sich etwa Friis-Jensen, Saxo Grammaticus’s Study [1992], S. 71f. 514 Vgl. D28-D43. 515 Hier und im Folgenden Skovgaard-Petersen, Way to Byzantium [1981]; Skovgaard-Petersen,

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verhilft dem Dänenkönig Hadding zum Sieg über die Hellespontici, die Herrscher in Duna urbs, also wohl an der Düna,516 wird in Uppsala als Gott verehrt, weshalb die Könige des Nordens ein goldenes Götzenbild nach Byzanz schicken,517 und wird durch die Tötung seines Sohnes Balderus selbst in Konflikte verwickelt, in welchen er Schande über sich und die Götter bringt, was zu seiner zeitweiligen Verbannung aus Byzanz führt.518 Der Ort wird also gewissermaßen mit Ásgarðr identisch, und die alte Religion besitzt eine byzantinische Wurzel. Damit modifiziert Saxo scheinbar zu jener Zeit existierende Vorstellungen von der Herkunft der ohnehin mobilen Asen, wie sie sich in Snorri Sturlusons Ynglinga saga und dem wahrscheinlich von ihm oder seiner Werkstatt verfassten Prolog der Snorra Edda finden. Dort liegt Ásgarðr in Asien östlich des Don nahe Tyrklands beziehungsweise ist mit Troja identisch.519 Auf eine solche Tradition bei Dudo von St-Quentin bezieht sich auch Saxo ganz zu Beginn der Gesta Danorum, als er die Ansicht referiert, die Dänen stammten von den Danaern ab, also den Griechen, mit denen Dudo jedoch die Trojaner meint.520 Diese Ansicht macht er sich indes nicht zu eigen, ebenso wenig wie Odin als identisch zu Merkur angesehen wird: Weder sind die Dänen mit den Griechen noch deren Götter miteinander identisch;521 vielmehr geht es um eine seit jeher existierende Kulturverbindung und Analogien beziehungsweise Parallelen zwischen beiden Kulturen.522

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Tidernes herre [1987], S. 81–87, 197–199; Kværndrup, Tolv principper hos Saxo [1999], S. 71–73. Vgl. zur Antikenrezeption, bezogen v. a. auf Boethius und Martianus Capella, auch Johannesson, Saxo Grammaticus [1978], S. 36–59. D29. D30. D32. Vgl. die Ynglinga saga (NI 69+NI 70), die Ásgarðr östlich des Tanakvísl bzw. Vanakvísl nahe Tyrkland verortet; Heusler, Die gelehrte Urgeschichte [1908] rechnet mit einer Entlehnung aus Fredegar. Vgl. weiterhin den Prolog der Snorra Edda (NI 163) mit der Verortung nach Troja und die Genealogie der Ynglingar in der Íb. (Íslendingabók, ed. Jakob Benediktsson [1968], S. 27f.), in der Ari selbst sich auf Yngvi Tyrkjakonungr zurückführt. Vgl. die Untersuchung von Damico, The Voyage to Byzantium [1996], bes. S. 65f. zu dem Migrationsmuster und seiner Spiegelung späterer Byzanz- und Jerusalemfahrer. D28. Zur Funktion der Dudo-Rezeption Skovgaard-Petersen, Way to Byzantium [1981], S. 131f. Die Dänen-Griechen Verbindung steht ganz am Anfang der Geschichte, die Rezeption von Paulus Diaconus’ Geschichte von der Langobarden-Herkunft am Beginn der römisch-christlichen Geschichte, die Zitate sind also bewusst als strukturierende Elemente gesetzt (Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 87). D35. Vgl. zum Verhältnis zwischen den griechischen und nordischen Göttern SkovgaardPetersen, Way to Byzantium [1981], S. 130f. Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 84f. betont – abgesehen von der expliziten Ablehnung einer Identität von Merkur-Hermes und Odin – typologische Übereinstimmungen zwischen den drei Odin-Figuren der GD und Hermes Trismegistos bei Augustinus, Hugo von St. Viktor und Otto von Freising. So auch Kværndrup, Composition of the Gesta Danorum [2004], S. 34.

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Die »Odinisierung« des Königs Hadding durch einen Migranten aus Byzanz, von dessen Rat und Beistand er abhängig ist, nimmt dabei innerhalb der nordischen Heilsgeschichte eine Schlüsselposition ein: Der falsche heidnische Gott verhindert einerseits eine tiefere Schöpfungserkenntnis Haddings, der zwar mächtig und erfolgreich ist, zugleich aber Menschenopfer bringen muss und sich am Ende selbst tötet, vermittelt aber andererseits als Gott des Wissens die scientia der griechischen Antike in den Norden523 und steht so am Anfang einer autochthonen Entwicklung des nordischen Universums parallel zum mediterranen, welche Fortschritte in der philosophia moralis, der philosophia rationalis und der philosophia naturalis ohne Fremdes zutun erlaubt.524 Die nordische und die hellenische Antike werden auf diese Weise eins, das Fortschreiten der Geschichte begründet sich aus den Kardinaltugenden525 und der Herrschaft fähiger Könige.526 Figuren wie die Königstochter Svanhvita, die in einer der Philologia und ihren sieben Helferinnen vergleichbaren Rolle begegnet, wie sie Martianus Capella in De nuptiis Philologiae et Mercurii beschreibt, befähigen die Akteure zur schrittweisen Emanzipation von der magischen Umwelt, die sie nicht zu durchschauen vermögen.527 Der Tod des Halbgottes und Odinssohns Balderus von der Hand des sterblichen, auf seine eigenen Kräfte vertrauenden Hotherus, des Enkels von Svanhvita, etwa markiert durch den Bruch der Göttermacht einen Übergang;528 ein Racheversuch Odins führt zu dessen Vertreibung aus Byzanz; seine Bedeutung ist ab dem fünften Buch geschwunden. Die Verbindung zu Byzanz in der Urgeschichte erfüllt also die absolut zentrale Funktion, eine Verbindung zur mediterranen Zivilisation vor der Christianisierung herzustellen.529 Sie ist die conditio sine qua non für die weitere Entwicklung

523 Skovgaard-Petersen, Way to Byzantium [1981], S. 131f.; Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 83–87. 524 Johannesson, Saxo Grammaticus [1978], S. 85. Zum Ideenhintergrund Augustinus: De civitate Dei, ed. Dombart/Kalb [1955] 8,4, S. 220 bzw. 11,25, S. 344, wozu jedoch anzumerken ist, dass Johannesson, bes. S. 38, Saxo eher in der Tradition eines Boethius denn als Exponent mittelalterlicher Augustinus-Rezeption sieht, weil Saxo fortuna hierfür eine zu gewichtige Rolle einräume. Kværndrup, Tolv principper hos Saxo [1999], bes. S. 289f., 331–333 hebt in seinem close reading der ersten neun Bücher der GD zwar stark Saxos Originalität hervor, die Johannesson unterbetone, doch erkennt auch er eine Entwicklung menschlicher Erkenntnis auf dem Fundament der ersten zwei Bücher, die er mit den Lebensstadien eines Individuums vergleicht. 525 Johannesson, Saxo Grammaticus [1978], S. 19–27. 526 Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 207–210. 527 GD 2,2,1–9. Vgl. Johannesson, Saxo Grammaticus [1978], S. 55–59; Skovgaard-Petersen, Way to Byzantium [1981], S. 126f. Charakteristisch für diese Entwicklung ist auch die Verspottung Odins durch den Helden Bjarke (GD 2,7,25–27). 528 GD 3,3,4–7. Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 126f. 529 So auch Damico, The Voyage to Byzantium [1996], bes. S. 64–66, in Bezug auf die norröne Überlieferung, insbesondere die Snorra Edda. Sie erkennt in Odins Wanderung ein Mi-

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des nordischen Universums, denn das dänische Volk migriert nicht, es sendet lediglich mit den Langobarden Migranten aus.530 In Saxos Programm, das nordische Universum als dem römischen in jedem Belang mindestens gleichwertig,531 in Kriegertum, Disziplin, einer gerechten, konsensualen Herrschaftsform und Rechtgläubigkeit aber überlegen zu schildern,532 ist jene Verbindung zum frühen Griechenland zentral. Nach dem Untergang der heidnischen Welt in der Bråvallaschlacht sind die Dänen aus eigener Kraft in der Lage, die Wahrheit der christlichen Offenbarung zu erkennen;533 sie bedürfen niemals der Kulturvermittlung durch die südlichen Nachbarn und wenden sich Rom als Zentrum des christlichen Glaubens, nicht des Kaisertums, aus freien Stücken zu. Dass das alte Griechenland weit vor Christi Geburt hier nicht Gre˛cia, sondern anachronistisch Bizantium heißt, verweist noch einmal in aller Deutlichkeit auf die Gegenwartsrelevanz jenes Kulturraums für die Zeitgenossen: Der Begriff ermöglicht die Parallelisierung etwa mit dem Byzanzaufenthalt Erik Ejegods534 oder den Verweis auf die Anwesenheit zahlreicher dänischer equites in Byzanz ganz am Ende der Gesta Danorum.535 Kontakte mit dem Osten erschöpfen sich freilich nicht in den Aktivitäten und Wanderungen des Byzantiners Odin. Einerseits wird der mehr oder weniger deutlich als rusisch zu erkennende Osten gräzisiert, indem an vier Stellen die Düna-Region als Hellespont und ihre Anwohner als Hellespontici bezeichnet werden, gegen die Hadding mit Odins Hilfe sowie später die Könige Jarmerik und Regner Lodbrog mit Erfolg kämpfen.536 Mit der Ortsbezeichnung meinen zeit-

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grationsmuster, das in umgekehrter Richtung spätere Byzanz- und Jerusalemfahrten präfiguriert. GD 8,13,2. Johannesson, Order in Gesta Danorum [1981], S. 328–331; Friis-Jensen, Saxo Grammaticus’s Study [1992]; Kersken, Geschichtsschreibung [1995], S. 479f.; Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 134–150. Dies arbeitet Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 169–171 am Beispiel des Vorzeithelden Starkad heraus; vgl. zum Diskurs über Herrschaft und Gehorsam in Abgrenzung von den Deutschen Starkads Rede in GD 6,9,3–20, zum deutschen Aberglauben in diesem Falle an Valdemars »Königsheil« bei seinem Zug zum Reichstag 1162 GD 14,28,2. Das Schisma unter Friedrich Barbarossa wird für Saxo zum Anlass eines distinktiven, für die Deutschen alles andere als schmeichelhaften Vergleich (Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 143–145). GD 8,14,20–8,15,10 behandelt die Reise des Helden Thorkil zum vermeintlichen Gott Udgårdsloke, die mit der Einsicht in dessen Nichtigkeit und der Anrufung des wahren Schöpfers in Seenot endet. Zur Selbstbekehrung und Kontinuität zwischen heidnischer und christlicher Zeit über die Grenze des achten Buchs der GD hinaus Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 213–232. D49. D55. D29 (Hadding), D39 ( Jarmerik), D40+D42 (Regner Lodbrog). Zur Begriffswahl StenderPetersen, La tradition hellespontiaque [1953], bes. S. 216. Er vermutet der hinter dem Begriff

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genössische Historiographen wie etwa Henry of Huntingdon oder Guillaume von Tyrus üblicherweise den Bosporos,537 und in der Tat meint Saxo an einer fünften Stelle, wo er in Regner Lodbrog im ganzen Mittelmeer bis zum Hellespont siegreich Schlachten schlagen und die Römer bezwingen lässt, unzweideutig eine Meerenge im östlichen Mediterraneum in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Wortgebrauch.538 Thomas Riis hält es gar für möglich, dass es sich beim Königsnamen Andvanus und seinem Herkunftsort Duna urbs um Verballhornungen der Ortsnamen Adrianopolis und Didymoteichon handelt, dass Saxo hier also Nachrichten über die Schlacht bei Adrionopel von 1205 verarbeitet, bei welcher der Kaiser Balduin von Flandern gefangen genommen wurde539 – was auch angesichts unserer Feststellungen über Waräger in Konstantinopel nach 1204 plausibel erscheint, aber andererseits nicht weiter zu erhärten ist. Der Raum zwischen Dänemark und Byzanz jedenfalls, das imperium Orientis,540 befindet sich mehrfach seit Hadding und seinem Sohn in dänischer Hand oder unter dänischer Oberhoheit, so auch unter Frode Fredegod, der als typologisches Gegenstück zur pax Augustea zur Zeit von Christi Geburt ein fünfzig Reiche umfassendes Imperium beherrscht und befriedet und unter anderem in Holmgardia-Novgorod und Cønogardia-Kiev Tributherrscher einsetzt;541 gewissermaßen nimmt er so die Stelle Knuds des Großen bei Svend Aggesen ein.

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Hellespontus bei Saxo und der Bezeichnung Ellipaltar in Fsk. und Hkr. im Kontext der Heimreise Haraldr inn harðráðis (NI 123) für die Mündung des Dnjepr eine gemeinsame »warägische« Version der gotischen Ermanarich-Sage (zur entsprechenden norrönen Tradition in Guðrunarhvo˛t und Hamðismál von See/La Farge u. a., Kommentar zu den Liedern der Edda 7 [2012], S. 697–701, 816–826) und damit eine historisch korrekte Verortung ans Asovsche Meer, zumal Jarmerik als Dänenkönig von Saxo ebenfalls mit dem Hellespont in Verbindung gebracht wird (D39). Die gemeinsame Sage leitet er aus Vergleichen mit Jordanes und überlieferten Fornaldarsögur sowie der Gutasaga (S2) her, muss jedoch die fragliche rein mündliche, nirgends bezeugte Fornaldarsaga, die er als Saxos Vorlage postuliert, im textleeren Raum herbeikonstruieren. Motivliche Gemeinsamkeiten zwischen Saxos Hellespontici und Figuren im vielgestaltigen Ermanarich-Stoff sowie zwischen Saxos Vorzeit und Haralds Geschichte (unten, S. 416) erklärt er mit der dahinter stehenden letztlich gotischen Tradition, doch sind die motivlichen Gemeinsamkeiten so dünn und allgemein, die Differenzen im Plot der Geschichten, dem Ort und der Zeit so groß, dass diese Hypothese gegenüber der Annahme einer bewussten, gräzisierenden Begriffswahl und Motivwahl aus der Aeneis bei entsprechender Ästhetisierung durch den Hochliteraten Saxo (so Skovgaard-Petersen, Way to Byzantium [1981], S. 128f.) zurückzuweisen ist. Vgl. auch die These einer unmittelbaren Beeinflussung durch rezente Ereignisse bei Riis, Einführung [2004], S. 17f. bzw. im folgenden Text. Henry v. Huntingdon: Historia Anglorum, ed. Greenway [1996] 7,6, S. 422–424; Willelmi Tyrensis Chronicon, ed. Huygens [1986] 1,22, S. 149; 16,19, S. 742; 16,23, S. 747; 22,14, S. 1024. D43. Riis, Einführung [2004], S. 17f. Er bezieht sich auf D29+D31. D32 (über Frode Haddingsens Krieg gegen die Ruteni und seine Herrschaft im Osten). D33. Zur »pax Frodeana« GD 5,15,3 bzw. Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 54– 60.

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Auch andere Könige zwingen den Völkern im Osten ihre Herrschaft auf oder leben gar für einige Zeit im rusischen Exil,542 ein Bild, welches die nur in Fragmenten überlieferte isländische Skjo˛ldunga saga, die wohl im frühen 13. Jahrhundert entstand, bestätigt.543 Starkad, der mit großen charakterlichen, kriegerischen und dichterischen Begabungen und einem dreifach verlängerten Leben ausgestattete, jedoch von Odin zu drei großen Schandtaten verfluchte Held der Bücher sechs bis acht in den Gesta Danorum und in vielerlei Hinsicht die Präfiguration des Erzbischofs Eskil,544 vollbringt Heldentaten nicht nur in Ruscia, sondern auch in Byzanz, wo er einen bedrohlichen Riesen erschlägt.545 Die um 1250 entstandenen Annalen des Zisterzienserkloster Ryd an der Flensburger Förde, welche in einer kommentierten Liste von Vorzeitkönigen die meisten dieser Informationen aus den Gesta Danorum verarbeiten und ebenfalls gemeinsam mit den Schleswiger Annalen die Größe von Frode Fredegods Reich usque ad Greciam hervorheben,546 lassen die Griechen ihre römischen Feinde gar nur mit dem Bild »ihres« Helden und Riesenbezwingers Starkad abschrecken.547 Das Bild, welches sich hieraus ergibt, baut genau die Andeutungen konsequent aus, welche sich bereits im Chronicon Lethrense und bei Svend Aggesen erkennen ließen. Im Ausgangspunkt extrem bedeutsame, hernach über den »Ostweg« kontinuierlich fortgesetzte Kontakte spiegeln eine selbstverständliche Beziehung in der jüngeren und jüngsten Geschichte, die abgesehen von der kirchlichen Struktur insgesamt bedeutender erscheint als jene mit Rom, mit den bekannten politischen Implikationen. Kompliziert wird diese Feststellung indes durch die 542 Fridlev Frodesen lebt in Ruscia (D34), der Kg. Halfdan Hareskår schützt die Russen gegen die Schweden (D38). 543 NI 161. Die Skjo˛ldunga saga ist in einer lateinischen, mit weiterem Material wie der Jómsvíkinga saga interpolierten Nacherzählung auf Latein von Arngrímur Jónsson aus dem Jahr 1596 erhalten (Rerum Danicarum fragmenta), die sich jedoch selbst auf einen lückenhaften Text stützt und für Byzanz und die Rus’ unergiebig ist. Die hier relevanten Sögubrot af fornkonungum auf 6 Blättern repräsentieren eine Textstufe vor etwa 1250 im Stil einer Fornaldarsaga. Das ursprüngliche Alter der Skjo˛ldunga saga ist unklar; da Snorri sie benutzt, Kompendien aber erst mit der O.s. und der Msk. greifbar werden, scheint eine Datierung ins frühe 13. Jh. plausibel (vgl. zu Überlieferung und Datierung die Einleitung zur Edition (Danakonunga sögur, ed. Bjarni Guðnason [1982], S. XII–LII). Insgesamt zeigt sich im Vergleich zwischen den GD und den Resten der Skjo˛ldunga saga eine klare Differenz bezüglich der Fixierung auf den Osten Europas, die in den GD viel ausgeprägter erscheint. Zu Kœnagarðr-Kiev in den So˛gubrot (NI 162) s. oben, S. 43 mit Anm. 93 544 Zum typologischen Verhältnis zwischen Starkad in der Vorzeit und dem Erzbischof Eskil in Buch 14 der GD ausführlich Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 95–178, bes. 169– 178 und die Anmerkungen zu ihrer politischen Brisanz bei Scheel, Lateineuropa [2012], S. 108–111. Zu den Grenzen einer typologischen Lesart der GD vgl. Kværndrup, Tolv principper hos Saxo [1999], S. 67–73. 545 D36 (in der Rus’) und D37 (in Byzanz). 546 D72-D80, Frodes Reich in D76 und ebenso in den Annales Slesvicenses (D84). S. auch die dortigen Querverweise auf Inhalte in den GD. 547 D78.

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mythologischen Hintergründe der Vorgeschichte: Saxo verarbeitet und synthetisiert einen ungeheuren Reichtum an verschiedensten schriftlichen und mündlichen Überlieferungen divergierender Herkunft.548 Entsprechend umfangreich ist die hier nicht zu behandelnde religionsgeschichtliche beziehungsweise folkloristische Forschung, die oftmals vergleichend mit der norrönen Schriftlichkeit, aber auch anderen Literaturen mögliche Vorlagen von Saxos Versionen behandelt, insbesondere beim von Odin verfluchten Starkad, dabei aber die reiche Erzählung der Gesta Danorum selbst implizit als mehr oder weniger lästige, jedenfalls nachgeordnete lateinische Verdrehung eines genuin nordischen Mythos behandelt.549 Da in unserem Zusammenhang jedoch weniger die lokalen Vorlagen interessieren als vielmehr die Funktionalität von Saxos Werk selbst, bleiben Fragen nach mythologiehistorischen und religionshistorischen Implikationen in unserem Zusammenhang außen vor, womit keine Stellungnahme gegen ihre Berechtigung und Bedeutung verbunden sei; entscheidend ist hier, dass sowohl die erzählerische Gestaltung in lateinischer Prosa und Verspassagen als auch die Anordnung der Geschichten bis ins Detail konsequent Saxos Gesamtkonzept einer nordischen Universalgeschichte untergeordnet sind.550 Sie bezieht Akteure der Vorgeschichte und der Geschichte typologisch aufeinander, nutzt also Ereignisse und Akteure der Vorgeschichte zur Verdeutlichung und Akzentuierung des Geschichtsbildes, und lässt eine spezifisch skandinavische Version der universalen Heilsgeschichte gezielt fortschreiten. Die Sprachform demonstriert dabei gerade einem nicht-dänischen, gelehrten Publikum Ebenbürtigkeit mit der mediterranen Antike, und sie alludiert in den Verspassagen unzweideutig an antike Klassiker und bestimmte Geschichten der klassischen Antike.551 548 Vgl. die tabellarische Übersicht über Figuren in den GD und Quellengruppen aus verschiedenen europäischen Regionen, die Saxo als Vorlage gedient haben können oder Parallelen aufweisen, bei Lukman, Sagnhistorien hos Saxo [1975], S. 119–122. 549 So rekonstruierten Olrik, Danmarks Heltedigtning 1 [1903], S. 46–59 und Edda 1, ed. Genzmer [1912], S. 188–194, die nur in kleinen norrönen Fragmenten überlieferten eddischen Bjarkamál wohl aus dem 10. Jh. über den Tod Rolf Krakes und den Untergang Lejres, die ihrerseits hinter der Hrólfs saga kraka stehen müssen (vgl. Marold, Bjarkamál [1978]), aus einem langen Hexametergedicht bei Saxo (GD2,7,4–28), das jedoch seinerseits ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten der lateinischen Dichtung folgt, die völlig übersehen wurden und die Friis-Jensen, Saxo Grammaticus as Latin Poet [1987], S. 29–101, 176–179 eingehend untersuchte. Seine Ergebnisse stellen die Verwendbarkeit des Gedichts für die Rekonstruktion des »echten« Eddalieds in Frage. Vgl. zum Starkad-Mythos im Kontext indoeuropäischer Mythen v. a. Dumézil, Mythe et épopée 2 [1993], S. 25–58, 125–132. Zu Starkad weiterhin die Übersicht mit Literatur bei Naumann, Starkaðr [2005], zu Hadding Amory, The Viking Hasting [1979]. 550 Hierzu ausführlich Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], bes. S. 169–178, 252f., sowie Skovgaard-Petersen, Amleds rolle [2004], S. 26–28. 551 Zur Reichweite und den Möglichkeiten solcher Anspielungen, die nicht allein Dänemark und die römische Antike, sondern auch dänische Vorgeschichte und Gegenwartsgeschichte

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Stoffgeschichte: eine »Warägersage«? Bemerkenswert scheint jedoch stoffgeschichtlich, dass bei der Schilderung von Heldentaten auf dem Ostweg Erzählmotive auftauchen, die uns schon im Zusammenhang mit Haraldr Sigurðarson in Byzanz beziehungsweise auf Sizilien begegneten; so benutzt Hadding beim Krieg gegen die Hellespontici Vögel als Brandsätze,552 und Frode Haddingsen lässt bei der Belagerung von Paltiska (wohl Polotsk) seinen Tod fingieren, um eine Öffnung der Stadttore zu erreichen.553 Diese und 15 andere Motive, in erster Linie Kriegslisten, die sich in wieder gänzlich anderen Zusammenhängen auch in der altrussischen Chronistik finden und letztlich auf Vorbilder in der byzantinischen Literatur zurückgehen, hat Adolf Stender-Petersen versammelt,554 verglichen und als Elemente einer »Varägersage« aufgefasst, die sich durch Migration skandinavischer Eliten in der Wikingerzeit zwischen Byzanz, der Rus’ und Skandinavien bis nach England verbreitet habe. Neben den Gesta Danorum bezieht er vor allem Fornaldarsögur in seine 1934 veröffentlichte, vergleichende Studie ein, der kleinere Untersuchungen mit einem ähnlichen methodischen Zugriff folgten.555 Demnach hätte Saxo also exklusiv nordisch-rusisches Erzählgut wiedergegeben, was er in alter mündlicher Tradition vorfand. Getragen ist Stender-Petersens Rekonstruktion einer gemeinsamen Sagenwelt jedoch von äußerst problematischen Prämissen. Zwar entspricht sein dezidiert normannistischer Ansatz, der eine am Weg »von den Warägern zu den Griechen« sozial durchlässige, skandinavisch geprägte Elite annimmt, dem heutigen Forschungskonsens, auch wenn seine Annahme über eine sehr stark skandinavisch geprägte Oberschicht als Gegengewicht zur Slawisierung in der Rus’ bis in das 12. Jahrhundert bei weitem übertrieben erscheint.556 Das gleiche gilt für die Annahme, dass die Povest’ vremennych let in einer »varägischen blüte« der druzina, die Stender-Petersen auch terminologisch kurzerhand mit der norrönen hirð gleichsetzt,557 entstanden

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verklammern, v. a. Friis-Jensen, Saxo Grammaticus as Latin Poet [1987], S. 79–101, 133–151, 179; Friis-Jensen, Saxo Grammaticus’s Study [1992]; Friis-Jensen, Saxo Grammaticus’s Portrait [2000], S. 177–179. D29. Das Motiv begegnet bei Saxo außerhalb des östlichen Kontexts noch zweimal (vgl. Santini, Intelligenza [1992], S. 305f.; Kuhn, Fabulous Childhoods [2000], S. 83). D31. Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 37f., zu den gedachten Mechanismen der Verbreitung über soziale Netzwerke S. 23–35. Stender-Petersen, La tradition hellespontiaque [1953] [zuerst 1940]; Stender-Petersen, Le mot Varègue polutasvarf [1953] [zuerst 1940]; Stender-Petersen, La conquête danoise [1953] [zuerst 1942]; Stender-Petersen, The Byzantine Prototype [1953] [zuerst 1945]. Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 19–23; vgl. den aktuellen Forschungsstand zu zurückgehender skandinavischer Präsenz und skandinavischen Kulturspuren in der Rus’ ab etwa 1000 (oben, S. 23ff.). Das Zitat und die Gleichsetzung bei Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 35.

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sei. Insbesondere aber greift der Schluss zu kurz, dass in diesem Falle gemeinsame Erzählmotive in Byzanz, in der Nestorchronik und den skandinavischen Literaturen die Existenz einer Warägersage einwandfrei bewiesen.558 Die unausgesprochene Voraussetzung hierfür ist nämlich eine totale Isolation etwa von Saxos mythologischer Geschichte von den Literaturen Lateineuropas. StenderPetersen folgt hierin der zeitgenössischen Forschung, welche die ersten neun Bücher der Gesta Danorum als eine Sammlung genuiner Fornaldarsögur in lateinischer Form betrachteten und auswerteten; dahinter steht die problematische Annahme, zumindest eine mehr oder weniger feste mündliche »Begleitprosa« habe um die festen Kerne eddischer Lieder entweder schon immer existiert oder sich im Laufe der Zeit gebildet, und Saxo habe sie ebenso wie norröne Schreiber in eine Buchform gebracht.559 Dass Saxo als Hochliterat in Paris oder Reims studiert hatte560 und wie sein Zeitgenosse Svend Aggesen über eine breite Kenntnis anderer Historiographen verfügte, spielt hierbei 558 Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 41. 559 Hinter dieser Annahme und ihrer Problematik steht letztlich die im früheren 20. Jh. geführte Debatte zwischen »Freiprosalehre« und »Buchprosalehre« in der Altnordistik und damit die Frage, ob und in welchem Ausmaße norröne Prosatexte, zu denen die GD bei StenderPetersen lediglich eine lateinische Parallele bilden, in ihrer überlieferten Form bereits im mündlichen Milieu als stabile Texte existierten. Die These einer »freimündlichen« Entstehung vertraten v. a. Heusler, Anfänge [1914], S. 6–8, 34–38, 54–74, der auch die o.g. Begriffe prägte, jedoch die Íslendingasögur als älteste freimündliche Gattung vor den Fornaldarsögur bezeichnete; ähnlich aufgrund des Vergleichs mit rezenten mündlichen Traditionen aus Festlandskandinavien, die auch Stender-Petersen in seinem Œuvre wiederholt heranzieht, Liestøl, Upphavet [1920], S. 144–153 bzw. 227–233. Die These, die »Wikingersagas« als Untergruppe der Fornaldarsögur stellten die älteste Gattung der Sagaliteratur dar, vertraten hingegen Olrik, Nordisk Aandsliv [1907], S. 54f., 79–81 und Bugge, Entstehung und Glaubwürdigkeit [1909], S. 28–32, 37f. Die Vorstellung einer festen mündlichen Begleitprosa zu Versüberlieferungen (so schon Heusler: Der Dialog [1943], S. 634) findet sich erneut unter dem Einfluss der oral poetry-Forschung bei Hofmann, Vers und Prosa [1971], S. 158–170; vgl. aber die Gegenargumente bei von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa [1981] bzw. von See, Problem der Erzählprosa [1981], welche sich vor allem auf die Tatsache stützen, dass allein Verse bzw. Lieder den hochmittelalterlichen Autoren als mündlich tradierte Autorität gelten, nicht aber andere Traditionen, die folglich keine feste Form besessen haben können. Zuletzt argumentierte Gísli Sigurðsson, Saga and Oral Tradition [2004], bes. S. 329–333, für eine hohe Stabilität »alter« mündlicher Überlieferungen, die allein die Andersartigkeit der norrönen Literatur erklären könnten, und eine praktisch völlige Unabhängigkeit der säkular geprägten Literatur der Sturlungar von »fremden«, »kirchlichen« Einflüssen. Auch hier leiten indes die Aussageabsicht und eine überscharfe, anachronistische Dichotomie von »Kirche« und »Welt« die Selektion von Argumenten. Verweigert man sich holistischen Annahmen »reiner«, »genuiner« und gänzlich autochthoner Kulturen sowie einer scharfen Trennung von Latein und Volkssprache (wobei Stender-Petersen u. a. Saxo der »Volkssprache« zuschlagen), stürzen die Prämissen über den immakulaten Charakter oraler Tradition in der hochmittlalterlichen Literatur; vgl. hierzu Boje Mortensen, Den formative dialog [2006], S. 229–233, 267f. 560 Friis-Jensen, Saxo Grammaticus as Latin Poet [1987], S. 17f. hält einen Studienaufenthalt in Reims für die plausibelste Möglichkeit.

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keine Rolle. Vergegenwärtigt man sich jedoch, dass es sich bei mehreren Motiven aus der »Warägersage« um paneuropäische Gemeinplätze handelt, die auch in der kontinentaleuropäischen Literatur begegnen,561 und dass die Wurzeln mitunter in der Bibel liegen,562 besagen die Motivgemeinschaften viel weniger, als es den Anschein haben mag. Saxo stützt sich zumal offensichtlich auf eine Mehrzahl an kontinentaleuropäischen Texten, welche die Wikingerzüge etwa Regner Lodbrogs in Friesland und der Normandie erinnern, seine Darstellung hängt also auch in der Vorgeschichte von intertextuellen Bezügen ab.563 Es handelt sich bei den »warägischen« Gemeinsamkeiten zudem niemals um kompakte Geschichten mit identischen Akteuren, sondern immer nur um Motive beziehungsweise Stoffe, die wie gesagt großteils ebenfalls aus lateineuropäischen Texten gewonnen werden konnten. Sie sind in Geschichten eingebunden, die sich zu ganz verschiedenen Zeiten an völlig unterschiedlichen Orten mit beliebigen Personen abspielen. Die Übertragbarkeit von Haraldr Sigurðarsons Taktiken in Sizilien 1038 auf den mythologischen König Hadding vor Christus an der Düna ist ein gutes Beispiel hierfür, die große zeitliche und örtliche Differenz zwischen der Entstehung der Nestorchronik, der Morkinskinna und den Gesta Danorum ein weiteres. Die skandinavischen Texte sind durchweg weitaus jünger als die Nestorchronik und die lateineuropäischen normannischen, englischen, französischen und deutschen Texte, welche entsprechende Parallelen aufweisen, so dass Annahmen über einen bestimmten östlichen Übertragungsweg in zahlreichen Fällen eine reine Glaubensfrage bleiben; angesichts der gerade von der folkloristischen Forschung oft ignorierten, extrem engen Verflechtung mit Lateineuropa über gelehrte Netzwerke seit dem 11., besonders aber im 12. Jahrhundert und der gleichzeitigen Heiratsverbindungen der Königshäuser mit der Rus’564 ist eine höhere Plausibilität für den einen oder anderen Vermittlungsweg nicht mehr zu erzeugen. Skandinavien befand sich nur geographisch an der Peripherie Europas; versuchte man, transkulturelle Beziehungen und Netzwerke losgelöst von Landmassen zu kartographieren, läge der Norden möglicherweise zentraler als der Westen, und entsprechend groß ist die Zahl der Wege, auf denen Informationen transferiert worden sein können.

561 Vgl. die Auflistung der Motivparallelen oben, S. 300ff. 562 So registriert Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 156–175, dass die Motive vom Zweikampf mit dem Riesen, die auch etwa bei Starkad gegen Visin und Tanne (D36+D37) begegnen, auf die Geschichte von David und Goliath Bezug nehmen. Für Bibelkenntnis indes benötigten weder Rus’, Dänen noch Isländer eine Warägersage. 563 Die lateineuropäischen Querbezüge analysiert Lukman, Sagnhistorien hos Saxo [1975], S. 122–126, der von einer regelrechten »Normannenromantik« bei Saxo spricht. 564 Vgl. hierzu oben, S. 369 mit Anm. 340.

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Der durch jüngere Forschungsergebnisse nachhaltig erschütterte Glaube an die Stabilität mündlicher Traditionen,565 die sich als jahrhundertelang ungestörte Traditionsschichten in einer extrem durch Transferprozesse geprägten Literatur niedergeschlagen haben sollen, lässt die Ausblendung großer Zeitabstände zwischen Übertragungsszenario und dem Zeitpunkt der »Verschriftlichung« umso zweifelhafter erscheinen. Umgekehrt erzwingt die auch nach Stender-Petersen etwa von Marina Mundt aufgrund eingehender Motivvergleiche erhobene Schlussfolgerung, es habe ein massiver Transfer orientalischer Erzählmotive, ja teilweise gar von Wortstämmen in den kulturellen Horizont des wikingerzeitlichen Skandinavien stattgefunden, dass man die Fornaldarsögur als literarische Gattung radikal rückdatiert.566 Sie müssten, um glaubhaft einen frühen, für Skandinavien im europäischen Kontext exklusiven orientalischen Einfluss zu bewahren, damit als Kunstform eine von der übrigen norrönen Literatur völlig isolierte, im Heuslerschen Sinne »freimündliche« Entwicklung genommen und in voller Blüte gestanden haben, während Ari Þorgilsson noch mit dem Erzählen von Geschichte in Volkssprache rang. Die Einsicht in die synchrone Interdependenz verschiedener Textgattungen, in die Zeitbedingtheit menschlichen Denkens und Erinnerns und in die multidirektionale Durchlässigkeit von Kulturgrenzen indes nährt gerade angesichts der geringen Anzahl konkret schreibender Personen um 1200 den Zweifel an einer ungestörten Sedimentation »alter« Geschichten und Motive aus einer spezifischen, längst vergangenen historischen Kontaktkonstellation. Lässt man

565 Vgl. Vollrath, Typik oraler Gesellschaften [1981]; Assmann, Das kulturelle Gedächtnis [2005], bes. S. 48–86 zur Mobilität kollektiver mündlicher Erinnerung; Fried, Schleier der Erinnerung [2004], S. 80–152 zu auch hinter individuellen Erinnerungsleistungen stehenden kognitiven Leistungen des menschlichen Gehirns und ihren Konsequenzen für historiographische Informationen, zu Konsequenzen für den Umgang mit Sagenstoffen bes. S. 255– 277. Übereinstimmend hängen sowohl beim Individuum als auch beim Kollektiv Erinnerungen sehr stark von den gegenwärtigen Bedingungen in ideengeschichtlicher und soziopolitischer Hinsicht ab und unterliegen der selbstverständlichen Wechselwirkung mit anderen Informationen. 566 Mundt, Adaption orientalischer Bilder [1993] geht in ihrer Untersuchung »orientalischer« Motive fest davon aus, dass auch Erzählmotive aus dem indischen Raum durch direkten Kulturkontakt in der Wikingerzeit in mündlich überlieferte Fornaldarsögur gelangten. Die von ihr postulierte »kurze Motivkette« (S. 266) verlangt indes, dass etwa die O ˛ rvar-Odds saga aus dem späten 13. Jh. in die gleiche Zeit umdatiert werden muss wie Aris Íslendingabók, ebenso andere Fornaldarsögur (S. 258f.). S. dagegen die These von Tulinius, La »matière du Nord« [1995], bes. S. 43–64, 261–265, der die Fornaldarsögur als Produkte des 13. Jhs. als lokalspezifische Ausprägung einer ganz Lateineuropa umfassenden Literaturentwicklung sieht. Vgl. zu methodischen Einwänden, gerade in Bezug auf die Isolation von anderen Genres und den fehlenden Vergleich mit lateineuropäischen Traditionen Taylor, Rezension Mundt: Adaption orientalischer Bilder [1998]. Vor allem erlaubt die hier widerlegte, veraltete Grundannahme eines Kontaktabbruchs im »Osten« im 11. Jh. es nicht, verschiedene Zeitschichten aufgrund von Motiven voneinander zu isolieren. Dazu auch unten, S. 790ff.

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dem gestaltenden Willen des Autors Raum, steht eine kaum mehr zu überblickende Vielzahl an Entlehnungsoptionen auch aus der latinophonen Literatur zur Verfügung, die Saxo unzweideutig gerade zur Gestaltung der dänischen Vorgeschichte nutzte. Ruft man sich zudem die rusische Herkunft dänischer und norwegischer Königinnen im 12. Jahrhundert in Erinnerung, ebenso wie das mögliche Exil des jungen Valdemar des Großen in der Rus’,567 die allesamt als Transferenten mehr oder weniger fester Geschichten in Frage kommen, wird der »warägische«, wikingerzeitliche Charakter von wohlgemerkt erst für das Hochmittelalter beweisbaren Motivgemeinschaften obsolet, von den Möglichkeiten des späten Transfers und der Verbreitung durch Kaufleute im Ostseeraum entlang der Warenströme aus und nach Novgorod ganz zu schweigen. Die gemeinsamen Motive sind als Module für den Verfasser völlig frei applizierbar und besagen folglich weniger über Entlehnungsrichtungen bei Traditionsgemeinschaften oder kompakte Mythen als über die Intention des Autors, welche wiederum eine Rückbindung an die soziopolitischen Konstitutionsbedingungen von Historiographie erlaubt und auch erfordert. Dabei ist gar nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil sehr wahrscheinlich, dass die dänischen Vorstellungen einer Herrschaft über den Ostweg in der Vorzeit Reflexe auf wikingerzeitliche Verhältnisse in Altrussland darstellen, doch bleiben diese eben völlig unspezifisch und bilden lediglich den Rahmen für die Applikation verschiedener Wandermotive und mythischer Genealogien. Sogar extrem seltene, verblüffend konkrete Übereinstimmungen etwa zwischen Jordanes und der Auswanderungsgeschichte der Gotländer in der Gutasaga aus dem 13. Jahrhundert568 verblassen rasch: Einerseits spielen hier abermals Wandermotive eine Rolle,569 andererseits existiert der Weg von der Ostsee nach Byzanz bis in die Entstehungszeit des Textes selbst. Drittens hat auch der altgutnische Text, der wie alle anderen skandinavischen Geschichtsschreiber um jene Zeit frühe Kontakte zum Zentrum der Christenheit über auf dem Ostweg nach Je-

567 Lind, De russiske ægteskaber [1992] betont, dass eine entsprechende Äußerung der Knýtlinga saga (NI 172) im Widerspruch zu Saxo ernst zu nehmen sei. 568 Vgl. S2 mit Iordanis Romana et Getica, ed. Mommsen [1882], S. 59. 569 Stender-Petersen, Die varägersage [1934], S. 56–60 verweist auf eine »Dreibrüdersage«, welche das durch Einwanderer erschlossene Land auf drei Brüder aufgeteilt sein lässt und sich auch in der Nestorchronik (mit Rjurik, Sineus und Truvor) sowie ostskandinavischen, mündlichen Lokaltraditionen finde, sowie auf eine Hungersnot als Motivation für die Auswanderung. Auch eine Version der Logothetenchronik (Theophanes Continuatus etc., ed. Bekker [1838], S. 707, vgl. oben, S. 81 mit Anm. 28) aus der zweiten Hälfte des 10. Jhs. berichte von diesem Grund für die Migration der Ῥῶς. Abermals sollte jedoch betont werden, dass es sich bei dieser Motivation für Migration um einen absoluten Allgemeinplatz handelt, der sich z. B. auch in Versionen der Langobardengeschichte findet und für die Feststellung genetischer Zusammenhänge zu unspezifisch bleibt. Das Wandermotiv, welches letztlich auf Herodot zurückgeht, analysierte Weibull, En forntida utvandring [1943].

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rusalem pilgernde Missionsbischöfe postuliert,570 als chronikalische Erweiterung des gutnischen Rechts seine konkrete politische Bewandtnis:571 Er flankiert einen gutnischen Unabhängigkeitsanspruch im schwedischen Herrschaftsgefüge in Kirchen- und Rechtssachen und beansprucht ganz ähnlich wie die Gesta Danorum eine dominante Rolle der »Goten« sowie ihre frühe Rechtgläubigkeit. Umso problematischer scheint die Harmonisierung nur ganz vage assoziierbarer »Ostweg-Geschichten« aus verschiedenen Traditionen: Bezüge von Ereignissen, die sich nach Saxos Chronologie vor oder um Christi Geburt abgespielt haben sollen, zum Überfall der Rus’ auf Konstantinopel 860, wie sie etwa Omeljan Pritsak herstellt,572 bedürfen der Zerstörung der Narration und der deformierenden Ausrichtung von Bruchstücken auf das Vorwissen aus anderen Quellen, womit die Vorgeschichte als solche im literarischen Kunstwerk wiederum ihren Eigenwert einbüßt. Es bleibt daher festzuhalten, dass die Byzantinisierung Odins, die »Warägisierung« des Ostwegs, die Applikation von Motiven, die möglicherweise über die Rus’ vermittelt wurden, und die Gräzisierung des Ostwegs als Hellespont Saxos Eigenleistung darstellen sowie folglich dem Rezipienten eine bewusst gewählte Botschaft vermitteln, nämlich dass das nordische, dänische Imperium seit jeher Kontakte zur griechisch-byzantinischen Zivilisation besaß und die gegenwärtige Expansion in den südlichen und östlichen Ostseeraum angesichts der dänischen Geschichte eine Selbstverständlichkeit darstellt. In der eddischen Überlieferung konnte Saxo solche Aussagen ebenso wenig wie in der skaldischen finden; kein einziges eddisches Lied, sofern es sich nicht definitiv um hochmittelalterliche Kompositionen handelt, spricht vom Ostweg, der Rus’ oder Byzanz.573 Andererseits scheint Saxo der frühe Exponent eines Entwicklungstrends zu sein, der seit dem 13. Jahrhundert auf eine »Warägisierung« der nordischen Mythologie hinausläuft. Erkennbar ist dies beispielsweise in der Vo˛lsunga saga und der Þiðreks saga af Bern, wo mythologische Figuren wie der Drache Fáfnir und Personennamen in norröner Form mit dem Relativsatz er Væringjar kalla (»den die Væringjar … nennen«) eingeführt werden.574 Weltweiter Ruhm wird mit der Ortsangabe fyrir norðan Grikklandshaf (»nördlich des Griechenland570 S3. Bei wikingerzeitlichen Pilgern in der hochmittelalterlichen Literatur handelt es sich generell um Fiktionen, wie Föller, Wikinger als Pilger [2012] nachwies (vgl. dazu oben, S. 316 mit Anm. 111). 571 Vgl. Svenska landskapslagar 4, ed. Wessén/Holmbäck [1943], S. LXXI; Mitchell, On the Composition [1984], S. 174. 572 Pritsak, Origin of Rus’ [1981], S. 164–182. Vgl. dazu oben, S. 38f. 573 Eine hochmittelalterliche Ausnahme bildet die jüngere Ævidrápa O ˛ rvar-Odds in seiner Saga (NII 48) aus dem 13. Jh.; vgl. zur Überlieferung auch NII 43 und Eddica minora, ed. Heusler/ Ranisch [1903]. 574 Vo˛lsunga saga: NII 27; Þiðreks saga: NII 29, NII 31, NII 0, NII 37, NII 38, NII 39, wobei NII 27 und NII 38 mit praktisch wörtlich identischen Wendungen Sigurðr Fáfnisbani beschreiben.

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meeres/der Ägäis«) ausgedrückt,575 und zahlreiche Orte, an denen sich Heldentaten abspielen, etwa in der O ˛ rvar-Odds saga,576 liegen in Grikkland oder der Nachbarschaft hierzu; nur hier in der mythologischen Vorgeschichte beziehungsweise in eindeutig fiktionalen Texten, niemals in der Vergangenheitsgeschichte,577 begegnen wie bei Saxo Orte jenseits von Novgorod, zum Beispiel Polotsk und Kiev.578 Norröne Texte des 13. und 14. Jahrhunderts entnehmen sie eindeutig der lokalen enzyklopädischen Literatur,579 und bei Saxo dürfte ihre Herkunft ähnlich begründet sein. Es existierte also sehr wohl eine »Warägersage« insofern, als im Bewusstsein der hoch- und spätmittelalterlichen Autoren die mythologischen Inhalte wie die Asen selbst aus dem griechischen Osten oder dem hieran angrenzenden Raum, aus Trója oder Tyrkland, kamen;580 erstmals fassbar wird diese Ansicht aber bei Saxo, nicht im definitiv älteren Verscorpus und auch nicht in der älteren Historiographie, selbst wenn sie vom »Ostweg« spricht. Es handelt sich um eine gelehrte Konstruktion, die einerseits einen im europäischen Kontext exklusiven Weg der mythologischen Überlieferung konstituiert, andererseits ein rückwärtsgerichtetes typologisches Anknüpfen an Byzanzfahrten und Kreuzfahrten der jüngsten Geschichte ermöglicht, sehr markant etwa in der O ˛ rvar-Odds saga, aber auch in vielen späteren »Originalen Riddarasögur« beziehungsweise Märchensagas. Konstruktionen der Vorgeschichte wie bei Saxo erweisen sich auf Dauer als ausgesprochen wirkmächtig; das Compendium Saxonis, eine um 1342 in einem jütischen Franziskanerkloster entstandene, knappe Zusammenfassung der Gesta Danorum in zeitgemäßerem Latein, kürzt den Text auf einen Bruchteil zusammen, behält aber praktisch alle Informationen über Byzanz und den Ostweg in der Vorgeschichte bei, ebenso die Annales Ryenses von nach 1288.581 Die alte östliche Verbindung mit Byzanz war ein wesentliches Element des kulturellen Gedächtnisses und einer dänischen Identität geworden. Politisch bedeutsam 575 Vo˛lsunga saga (NII 27); Sigurðar saga þo˛gla (NII 63); Saulus saga ok Nikanors (NII 70); Egils saga einhenda ok Ásmundar berskerkjabana (NII 72); Jarlmanns saga ok Hermanns (NII 93). 576 NII 43, NII 44, NII 45, NII 48. 577 Die einzige Ausnahme bildet die Kristni saga aus der Mitte des 13. Jhs. (NI 166). 578 Vgl. den fiktionalen Eymundar þáttr Hringssonar wahrscheinlich aus dem 14 Jh. (NI 213), zu den Fundstellen von Kœnugarðr oben, S. 43 mit Anm. 93. 579 Grundlage aller Behandlungen Kiev-Kœnugarðs und anderer Städte in der Rus’ bildet die Kosmographie in der Hauksbók vom Anfang des 14. Jhs. (Edition in Simek, Kosmographie [1990], Text 12, S. 449–453). 580 Vgl. oben, S. 410 mit Anm. 519. 581 Zum Compendium Saxonis D56 bzw. die Verweise bei den entsprechenden Saxo-Stellen (D28-D55), zu den Annales Ryenses D72-D83. Sie beruhen auf einer im ganzen Norden verbreiteten Annalenversion; auf ihnen oder einer gemeinsamen Vorlage beruht z. T. auch das Compendium Saxonis, an welches sich die 1342–1346 verfasste Chronica Jutensis anschließt. Vgl. hierzu Leegaard Knudsen, Saxostudier og rigshistorie [1994], S. 9–12.

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indes war sie zur Entstehungszeit der Gesta Danorum, als enge Verbindungen mit Byzanz existierten und gegen den Hegemonialanspruch der westlichen Kaiser und für den eigenen historiographisch positioniert wurden. Erst auf diese Weise, unter spezifischen Konstitutionsbedingungen im Norden, die einen besonderen soziopolitischen Nutzen ihrer Darstellung versprechen, rücken seit Jahrhunderten ununterbrochene Kontakte auf für uns nachvollziehbare Weise in das Zentrum der schriftlichen Tradition. Das Chronicon Lethrense, Svend Aggesens Werke, die Gesta Danorum und ihre Konstitutionsbedingungen im späteren 12. Jahrhundert stellen insofern den Fluchtpunkt einer lang andauernden Rezeptionsgeschichte dar.

2.3.

König, Ritter und Kreuzfahrer in Byzanz: Kontakte in der jüngeren Geschichte

Danorum fidem Gre‚cie‚ conciliauit: Erik Ejegod bei Saxo Das konkrete historische Gegenstück zu antiken Wegen nach Byzanz bildet bei Saxo schließlich der Kreuzzug des Königs Erik Ejegod; hier und in der etwa gleich alten Orkneyinga saga wird erstmals die Begegnung eines skandinavischen Herrschers mit einem Basileus ausführlich behandelt.582 Eriks Kreuzfahrt wird an dieser Stelle mit dem Totschlag an vier Männern begründet, den er im Rausch begangen habe. Interessanterweise lässt Saxo als einziger mittelalterlicher Autor den König nicht über Rom, sondern durch die Rus’ nach Konstantinopel reisen; die zeitnähere Knud Lavard-Ordinale, die Annales Ryenses und die spätere Knýtlinga saga widersprechen dieser Annahme,583 und die Saga baut hierzu auf die unmittelbar nach Eriks Tod entstandene Eiríksdrápa des Markús Skeggjason, die in der Strophenanordnung im Text ebenfalls einen westlichen Reiseweg des Kreuzfahrerheeres nahelegt und Saxo ebenso bekannt gewesen sein muss wie die Knud Lavard-Überlieferung.584 Auch die Logistik spricht gegen einen östlichen 582 D49. Vgl. die Darstellung von Ro˛gnvalds Kreuzzug in der Orkneyinga saga (NI 47-NI 59, bes. NI 58). 583 Ordinale (D7), Annales Ryenses (D81), Knýtlinga saga (NI 169+NI 170). 584 S. Str. 24, 26 und 27 in Anhang 1.7. Ganz sicher ist das skaldische Zeugnis freilich nicht, da Erik zweimal nach Rom reiste. Zwar legt der Stropheninhalt von Str. 27 einen Bezug zur Pilgerreise nahe, doch wird dies nicht expliziert, und der innere Zusammenhang der Strophen ist nicht gänzlich sicher. Vgl. zu Eriks Romreisen auch Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 177f., der jedoch die damals noch nicht gesondert edierte Ordinale nicht berücksichtigt. Dass die Knýtlinga saga Erik sowohl mit Heinrich IV. und Philip I. zusammentreffen lässt (NI 169), resultiert allein aus den Informationen von Str. 24, die jedoch anachronistisch verlesen werden: Frakklands stýrir, der »Herrscher des Frankenlandes«, ist nicht der französische König, sondern der Salier Heinrich, der in der Strophe auch als keisari und César bezeichnet wird, die folglich allein von ihm handelt (so Foote,

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Reiseweg Eriks, der sich um 1098 in Sachen der Heiligsprechung seines Bruders Knud und der Errichtung eines nordischen Erzbistums erstmals in Rom aufgehalten hatte und nach Bari gepilgert war.585 Die 1103 erfolgte Einrichtung des Erzbistums sicherte Erik laut der Ordinale und den Annales Ryenses 1102 auf der Durchreise durch Rom. Es ist möglich, dass er erst jetzt und nicht schon fünf Jahre zuvor Geld für die Versorgung skandinavischer Pilger in Lucca stiftete und in Piacenza ein Hospital einrichtete, wie der Leiðarvísir, ein isländisches Jerusalemitinerar aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, berichtet.586 Saxo lässt Erik jedoch in Sachen des Erzbistums um 1101 Boten aussenden587 und den »Ostweg« nach Konstantinopel nehmen. Führt man sich die absichtliche Abweichung von der früheren, gut informierten Knud Lavard-Überlieferung und den Skaldenstrophen bei gleichzeitiger Verkomplizierung der Interaktionen mit Rom vor Augen sowie die Tatsache, dass spätere Texte Saxo hier nicht folgen, dass aber Eriks Itinerar in den Gesta Danorum den alten Verbindungsweg der Vorgeschichte beschreibt, wird klar, dass die Manipulation des Inhalts abermals primär aus einer politischen Aussageabsicht resultiert. Eriks Pilgerreise ist eine Postfiguration früherer dänisch-griechischer Interaktion;588 der Weg zu den christlichen Zentren im Osten, nach Byzanz und Jerusalem, führt nicht über Rom, weder konkret noch symbolisch. Die Dänen haben ihren eigenen, immediaten Zugang. Besonderheiten im Umgang zwischen Byzantinern und Skandinaviern sind es denn auch, welche die folgende, ausführliche Passage über Eriks Byzanzaufenthalt zu zeigen bemüht ist:589 Der imperator Alexios fürchtet sich vor den Absichten des hünenhaften Königs, ist zudem besorgt, seine dänische Leibwache (custodia regis) könne sich eventuellen Plünderungsabsichten des Barbarenherrschers anschließen, und verweigert Erik daher den Eintritt, obwohl er den Wunsch äußert, die Heiligtümer der Stadt besuchen zu dürfen. Überzeugt von der Treue und Loyalität der Dänen wird Alexios erst durch einen bilingualen Waräger, den er als Spion aussendet, um die Begegnung zwischen dem Dänen-

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Aachen, Lund, Hólar [1975], S. 68–73; vgl. auch SkP 2,1, S. 453f.). Eine größere Nähe zu Frankreich und seinen Bildungszentren seit dem späteren 12. Jh. überlagert hier den früheren Sprachgebrauch bei Markús Skeggjason. GD 12,5,1–2; Ordinale (D7); Annales Ryenses sub A.D. 1098; Knýtlinga saga, Kap. 74f.; zu weiteren Quellen Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 177f. NI 11. GD 12,6,6. Möglicherweise orientiert sich Saxo hier an Ælnoths Bericht über die Delegation, welche die Kanonisation Knuds des Heiligen um 1100 erreichte (Gesta et Passio, Kap. 33f., S. 131f.), wobei jedoch ein Zusammenhang mit der Erzbistumsfrage allein aus zeitlichen Gründen nicht gegeben sein kann. Die Rekonstruktion bei Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 218f., der Erik über Gotland in die Rus’ ziehen lässt, ist hinfällig, weil er einen in ganz anderem Kontext geschilderten Gotland-Aufenthalt Eriks in der Kn.s. aufgrund der Information aus Saxo einfach in die Reise implantiert. Vgl. Kværndrup, Composition of the Gesta Danorum [2004], S. 34. Vgl. die detaillierten Verweise auf Abschnitte unter D49.

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könig und den Leibwachen zu belauschen. Eriks Worte indes hinterlassen tiefen Eindruck, denn er lobt die Tätigkeit der Dänen um des honor Willen und fordert sie auf, vorbildlich ihre Pflicht zu tun, Mäßigung im Trunk und Tapferkeit im Kriege an den Tag zu legen. Vor allem aber versichert er »Griechenland« der fides Danorum.590 Diese uneigennützige Handlungsweise des fremden Herrschers, welche im Übrigen ganz generell dem Ideal des asketischen, aber kriegsgewaltigen Dänen in den Gesta Danorum entspricht,591 beeindruckt Alexios so sehr, dass er spontan den byzantinischen Vorsprung an sapientia vor anderen Völkern in Frage stellt. Erik wird wie in einem Triumphzug in die geschmückte Stadt eingeholt, ihm wird ein Palast zur Verfügung gestellt, der nach seiner Abreise in Erinnerung an ihn niemals wieder bewohnt wird, und Alexios lässt aus Bewunderung ein Bild von ihm malen. Hochinteressant erscheint gerade im Vergleich mit anderen lateineuropäischen Schilderungen von Herrscherbegegnungen in Byzanz die Freundschaft und Ranggleichheit Eriks mit Alexios: Reliquiengeschenke für die Kathedralen in Lund und Roskilde, darunter Gebeine des Nikolaus sowie ein Kreuzsplitter für die Kirche in Eriks Geburtsort Slangerup, sind hochwillkommen; das Gold, welches auch die Eiríksdrápa erwähnt,592 zwingt Alexios ihm gegen seinen Willen auf. Während dies für gewöhnlich den Gabentausch vereitelt, weil der Beschenkte seinerseits nichts Adäquates zu bieten hat, und dies durch den Gesichtsverlust des Rangniederen zugleich eine Ursache von Konflikten werden kann,593 hatte Erik wohlweislich vorgesorgt und ein barbarum munus mitgebracht. Wir erfahren nicht, um welchen dem imperator gefälligen Schatz es sich handelte, den die Griechen kaum je zu Gesicht bekommen hätten, doch gelingt es dem Dänenkönig hier, sich als ebenbürtig zu erweisen und den Basileus dadurch zu erfreuen. Wie in der Eiríksdrápa erhält Erik schließlich Kriegsschiffe und Proviant und segelt 590 »His atque consentaneis modis uniuersos affatus propensam Danorum fidem Gre˛cie˛ conciliauit« (GD 12,7,2). 591 So besonders nachdrücklich Skovgaard-Petersen, Tidernes herre [1987], S. 170; vgl. auch Johannesson, Saxo Grammaticus [1978], S. 329–333; Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 123–134; Groh, Deutschenbild [2004]. 592 Eiríksdrápa, Str. 28, erwähnt als Gaben eine hálfa lest (halbe Schiffslast=6 skippund à 125– 150 kg) Goldes, ein Stück Tuch sowie 14 Schiffe als Gabe; s. Anhang 1.7 und oben, S. 373 mit Anm. 346 zur sich daraus ergebenden Heeresgröße von etwa 1500 bis maximal 2000 Mann. 593 Ausführlich untersucht das Konfliktpotential solcher Begegnungen zwischen westlichen Kreuzfahrern und den Basileis, die stets auf eine Überwältigung der Beschenkten setzen, Anca, Herrschaftliche Repräsentation [2010], bes. S. 103–113, 173–196. Vgl. zu diesem Funktionsprinzip der Blendung des Barbaren, das NC, Manuel Komnenos Kap. 3, S. 118 im Kontext der Planungen für einen Umzug im Rahmen des Empfangs für den Sultan Kiliç Arslan 1162 auch offen formuliert, in der byzantinischen Diplomatie auch Shepard, Byzantine Diplomacy 800–1204 [1992], bes. S. 51–55, 64–71; Haldon, ›Blood and Ink‹ [1992], S. 281– 290; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 105; zum Hintergrund des Gabentausches als totales soziales Phänomen Mauss, Die Gabe [2004] [zuerst 1924].

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nach Zypern, wo er einer Krankheit erliegt; der Bericht über das Wunder, dass erst nach Erik Beisetzung Erdbestattungen auf der Insel möglich werden, entspricht inhaltlich der Knud Lavard-Ordinale. Bemerkenswert erscheint an Saxos Bericht vor allem, wie genau er die Funktionsmechanismen der byzantinischen Diplomatie durchschaut, wie sie auch aus anderen Schilderungen von Begegnungen seit dem Ersten Kreuzzug sowohl aus dem Westen als auch Byzanz aufscheinen: Barbarenherrscher wurden äußerst zuvorkommend behandelt und hofiert, zugleich aber durch die Größe kaiserlicher Schenkungen und die Herrschaftsinszenierung bei Hofe gezielt überwältigt.594 Asymmetrische Beschenkungen brachten den Beschenkten in eine soziale Schuld gegenüber dem Stärkeren und banden ihn so an den Basileus, und genau dies führt mitunter zu Abwehrreaktionen seitens der Beschenkten und zu Konflikten, wenn etwa Heinrich der Löwe kein Gold von Manuel Komnenos annehmen will oder die Gesandten Heinrichs VI. verächtlich statt beeindruckt auf byzantinische Prachtentfaltung reagieren.595 Genauso realistisch registriert Saxo einen spezifisch byzantinischen Überlegenheitskomplex gegenüber Barbaroi, als welche die fragliche Passage die Dänen auch indirekt bezeichnet.596 All dies und hieraus resultierende Probleme lassen die Gesta Danorum Erik höchst elegant umschiffen. Er schafft es durch seine Geradlinigkeit, Ehrbarkeit und sein Erscheinungsbild, Alexios zur Hinterfragung des byzantinischen Kulturchauvinismus zu veranlassen. Er hat zudem mit »barbarischen« Gegengaben vorgesorgt, die der byzantinischen Freude am Exotischen, die gerade in der Komnenenzeit am Hof ausgeprägt war,597 in einer Weise schmeicheln, dass diese eine angemessene Gegenleistung für erhaltenes Gold darstellen. Merkwürdig erscheint auch der Verweis darauf, Alexios habe ein gemaltes Bild von Erik in stehender und sitzender Haltung anfertigen lassen. Zwar diente dieses Bild laut Saxo der Erinnerung an die enorme Körpergröße des Dänenherrschers, doch fragt sich, ob sich hinter der gemalten Bildtafel zumal angesichts von Eriks späterer Wundertätigkeit nicht eine Allusion an byzantinische Ikonen verbirgt. In jedem Fall besitzen die Byzantiner bei Saxo ein Bildnis des Heiligen. Insgesamt ist die Differenz zu anderen lateineuropäischen Berichten von Herrscherbegegnungen unverkennbar: Einerseits versteht Erik sein byzantini594 Hier und im Folgenden wie Anm. 593. 595 Über Heinrich berichtet Arnold von Lübeck (Anca, Herrschaftliche Repräsentation [2010], S. 103f.), zur Reaktion der Deutschen auf Alexios’ III. Prachtentfaltung 1196 NC, Alexios Angelos Kap. 1, S. 476–478 bzw. Anca, Herrschaftliche Repräsentation [2010], S. 184–190. 596 »Sed donis eius pretium nouitas fecit, barbarumque munus hoc imperatori carius, quo Gre˛cie˛ rarius fuit.« (GD 12,7,5). 597 Vgl. Kazhdan/Epstein, Change in Byzantine Culture [1985], S. 181–183; Magdalino, Empire of Manuel Komnenos [1993], S. 118f. Vgl. auch die lange Tradition der optisch manifesten Einbindung »barbarischer« Elemente in das Militär (oben, S. 132 mit Anm. 226 zu DC, wo das Tragen von »Barbarenmänteln« zu zeremoniellen Anlässen vorgesehen ist).

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sches Gegenüber, andererseits findet sich von der perfidia der Griechen, die seit dem Ersten Kreuzzug immer wieder durch Kreuzfahrerchroniken geistert,598 keine Spur; ganz im Gegenteil spricht Saxo immer wieder von der perfidia Anglica, Norvagica, Suenoniana und Theutonica.599 Alexios ist vorsichtig und gewitzt, doch völlig frei von Hintergedanken und bewertet Erik nach dem, was er sieht. Er verschenkt Reliquien und ermöglicht Erik eine gut ausgestattete Weiterreise. Das Einvernehmen, basierend auch und gerade auf der fides Danorum, welche der König daselbst verkörpert, könnte also nicht besser sein. Dabei ist äußerst zweifelhaft, ob abgesehen von der reichen Beschenkung Eriks, verbürgt in der Eiríksdrápa, irgendwelche Details die historische Realität des Jahres 1103 angemessen repräsentieren. Die Byzantiner waren nicht hinreichend beeindruckt, um Erik auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Umso wichtiger ist, dass Saxo Erik als einen Herrscher auftreten lassen kann, der seine byzantinische Umwelt versteht und in ihr auf ganz außergewöhnliche Weise zu reüssieren weiß. Ob dies in der Tat der Fall war, ist nicht mehr zu entscheiden; allein das offensichtlich gute Funktionieren des Söldnernachschubs nach Byzanz im 12. Jahrhundert deutet in die Richtung eines tatsächlich guten Einvernehmens. Erik aber in dieser Weise imaginieren konnte nur einer, der sowohl an einer solchen Darstellung interessiert als auch selbst genau über die byzantinischen Verhältnisse informiert war. Hier kommen Augenzeugen ins Spiel, die in den letzten zwei Jahrzehnten vor und dem ersten Jahrzehnt nach 1200 aus byzantinischen Diensten in der skandinavischen Leibgarde zurückgekehrt waren, die seit Manuel oder spätestens nach seinem Tode existierte. Just zu der Zeit, als umgekehrt die byzantinische Aufmerksamkeit für Axtträger und ihre Herkunftsregionen am größten ist, entsteht Saxos einsichtsvolle Schilderung. Ganz am Schluss der Gesta Danorum liefert dann Saxo selbst den Hinweis auf existierende Kontakte, die einen schnellen Informationsaustausch in beiden Richtungen ermöglichen: Wie ein Lauffeuer habe sich die Nachricht vom Sieg über den Pommernherzog Bugislaw 1185 zu den dänischen equites nach Byzanz verbreitet, welcher zugleich der Schlussstrich unter Barbarossas Begehrlichkeiten im Norden wurde.600 Rückkehrer aus Byzanz hätten hiervon berichtet. Es ist schwer vorstellbar, dass Saxo hier tatsächlich berittene Krieger meint; die Wortwahl bezieht sich wahrscheinlich auf den aristokratischen Stand und Ver598 Vgl. zur Wahrnehmung der »Griechen« im Lateineuropa der Kreuzzüge Carrier, Perfidious and Effiminate Greeks [2002]; Hunger, Graeculus perfidus – Ἰταλὸς ᾿ιταμός [1987]; Schreiner, Byzanz und der Westen [1992], S. 557–562, 577f. bzw. oben, S. 427 mit Anm. 744. 599 GD 10,21,6 (Engländer), 10,21,2 (Norweger), 14,8,3 (Schweden), Bücher 14–16, passim (Deutsche). Dazu Foerster, Vergleich und Identität [2009], S. 130. 600 D55. Zu den Ereignissen des Jahres, mit welchen sowohl Saxo als auch Svend Aggesen die Narration ihrer Chroniken schließen, und ihren Konsequenzen Engels, Friedrich Barbarossa und Dänemark [1992], S. 383f.; Riis, Ostseeimperium [2003], S. 43–48.

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haltenscodex der Dänen, welche den Basileis dienten. Sie waren mehr als bloße, nur auf Beute fixierte Söldner wie etwa deutsche »Mietheere« (conductitius exercitus) in Dänemark, die in den Gesta Danorum einen erheblichen Störfaktor der sozialen Ordnung darstellen, was ja auch das Verhalten Eriks und der Leibwächter 1103 bestätigt.601 Blickt man auf die Beschreibung der Axtträger bei Nikolaos Mesarites und auch die Perspektive der Kreuzfahrer von 1204, kann man Saxo diesbezüglich nicht einmal widersprechen. Erst Situationen wie erfolgreiche Usurpationen oder der Fall Konstantinopels 1204 markieren die Grenze der fides Danorum.602 So kreuzen sich in der Nachricht über das Jahr 1185 alle Stränge der politischen Botschaft, die durch das Verhältnis der Dänen zu Byzanz seit Odin zum Ausdruck kommt: Dänemark steht in weltlicher Hinsicht Byzanz näher als Rom; in Glaubensfragen glänzen Grenzziehungen, wie sie in der kontinentaleuropäischen Historiographie begegnen, durch Abwesenheit. Zwischen den Dänen und dem imperator im Osten herrscht ein Einvernehmen, das es mit keinem Supplinburger oder Staufer, keinem römischen Kaiser jemals geben konnte. Das Scheitern Friedrich Barbarossas und seines pommerschen Vasallen führt zum Jubel in Dänemark sowie Byzanz. Und mehr noch: Die Byzantiner können sich der unerschütterlichen Treue der Dänen gewiss sein, eine Formulierung, die in Übereinstimmung mit Sigfús Blöndals Bild von der »Warägergarde« steht,603 in der Tat aber nirgends formuliert wird außer in den Gesta Danorum – und einer gleichzeitigen dänischen Kreuzzugschronik. Die Historia de profectione Danorum in Hierosolymam oder Byzanz als Jerusalem Im Jahre 1191 verließ eine dänisch-norwegische Kreuzfahrerflotte den Hafen von Bergen. Die Aussichten, im Verbund mit den Heeren des Dritten Kreuzzuges etwas zur Befreiung Jerusalems auszurichten, standen aufgrund des späten Zeitpunkts ihrer Abreise schon nicht mehr allzu günstig. Zu allem Überfluss gerieten die dänischen Schiffe zudem in einen schweren Sturm, eines sank, die anderen wurden an die friesische Küste getrieben, und die Kreuzfahrer setzten 601 Zum Transfer ritterlicher Verhaltensweisen nach Dänemark im 12. Jh. Heebøll-Holm, Priscorum quippe curialium [2009], S. 34–40, 50–55, 69 und Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 102–104. Fremde, deutsche Söldner, die in dänischen Magnatenkreisen einen erheblichen Störfaktor darstellten, bezeichnet Saxo als peregrini milites (GD 14,2,5) oder conductitius exercitus (GD 14,17,1, 14,5,4, 14,7,2); hierzu Kjær, Gaver og gæstebud [2012], S. 207–211 und Heebøll-Holm, Saxo og krigskunst [2012], S. 131f. Die Treue der dänischen milites in byzantinischen Diensten hingegen legt eine bewusste konzeptuelle Abgrenzung ihrer Rolle von gewöhnlichen Söldnern nahe. 602 Vgl. die ausführliche Diskussion oben, S. 242ff. 603 Vgl. die Zitate aus Blöndals »Væringjasaga« und Benedikz’ Überarbeitung oben, S. 261f.

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ihre Reise über die Landroute nach Venedig fort, von wo sie nach Akkon übergesetzt wurden. Zu diesem Zeitpunkt indes, offenbar nach dem September 1192, hatte Richard Löwenherz bereits einen Waffenstillstand mit Saladin geschlossen.604 Man pilgerte also zu den heiligen Stätten und kehrte schließlich über Byzanz 1193 nach Dänemark zurück. Der vor Absalons Tod 1201 schreibende anonyme Chronist sah sich angesichts dessen, dass Angehörige der vornehmsten Familien des Landes weder in Bezug auf das eigentliche Ziel irgendetwas erreicht noch mit navigatorischen Glanzleistungen aufgewartet hatten, einer ausgesprochen undankbaren Aufgabe gegenüber:605 Wie würde man den heimischen Magnaten oder Fremden das kostspielige und offenbar groß inszenierte Unternehmen als Erfolg verkaufen, wie aus ihr politisches Kapital schlagen können? Der Schlüssel zu einer Antwort sollte einmal mehr in Byzanz liegen. Überliefert war die Chronik zum Zeitpunkt ihrer ersten Edition in nur einer heute verlorenen Handschrift norwegischer Provenienz aus dem 13. Jahrhundert, die sich im 17. Jahrhundert in Lübeck befand sowie damals mehrfach abgeschrieben und ediert wurde.606 In jener Handschrift fand sich auch die Historia de antiquitate regum Norwagiensium des Theodoricus monachus. Der norwegische Kontext ist hierbei kein Zufall, denn der Autor, der sich im Widmungsbrief an einen dominus K als frater X bezeichnet, hatte nach eigener Aussage lange Zeit in Tønsberg gelebt; norröne Formen von Ortsnamen sowie eingebundene norröne Sprichwörter deuten ebenfalls auf eine norwegische Identität hin. Spekulationen über den Adressaten des Widmungsbriefes607 führten zu verschiedenen Vorschlägen; Eirik Vandvik dachte aufgrund der stilistischen Ähnlichkeiten etwa zu Svend Aggesens Werken an den Abt Vilhelm von Æbelholt, Arne Odd Johnsen aufgrund des Buchstabens K (ursprünglich C?) an den Abt Crismannus von Tommarp in Schonen.608 Am wahrscheinlichsten erscheint jedoch aufgrund der sich überlappenden norwegisch-dänischen Netzwerke der Bischof von Børglum, bei dem sich auch der Autor aufgehalten haben dürfte: Das Prämonstratenserstift in Tønsberg war eine Tochter von Børglum, und Åge, der Schwestersohn eines ehemaligen Bischofs von Børglum, zählt zu den fünf führenden dänischen 604 Phillips, Heiliger Krieg [2009], S. 272f. 605 Zum Entstehungshintergrund der Profectio Danorum, auch im Folgenden, Kålund, Kan Historia de profectione regnes [1896]; Holm-Olsen, Ulv fra Lauvnes [1951]; Vandvik, Om Skriftet De profectione [1955]; Skånland, Einige Bemerkungen [1957]; Skånland, Einige Bemerkungen II [1960]; Backmund, Geschichtsschreiber des Prämonstratenserordens [1972], S. 244–251; Kraggerud, Normannen Ulv [1985]; Johnsen, Ny tolkning [1976]; Skovgaard-Petersen, Journey [2001]. 606 Zur Überlieferung Gertz in SM 2, S. 444–456, vgl. D16. Kritische Anmerkungen zu Gertz’ Edition bei Skånland, Einige Bemerkungen II [1960]. 607 Profectio, Epistola auctoris, S. 457. 608 Vandvik, Om Skriftet De profectione [1955], S. 24f., 33f.; Johnsen, Ny tolkning [1976], S. 519–522.

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Teilnehmern des Kreuzzugs.609 Über kirchliche Netzwerke erklärte sich auch das verblüffend entspannt wirkende norwegisch-dänische Verhältnis. Tatsächlich befand sich seit 1190 der Erzbischof von Niðaróss, Eiríkr Ívarsson, aufgrund eines langjährigen Konflikts mit dem König Sverrir um die Verfügungsgewalt über Kirchengut, um den Status der Kirche gemäß norwegischem Recht und nicht zuletzt aufgrund seiner Unterstützung der gegnerischen politischen Partei im dänischen Exil, wo Vilhelm von Æbelholt ihn gegen den im Kirchenbann befindlichen Sverrir unterstützte;610 von dänischen Magnaten wurden Sverris Fehdegegner unterstützt und auch ein Gegenkönig unter Vorspiegelung einer nicht existenten Königsverwandtschaft entsandt. Hierfür war gar einer der dänischen Kreuzfahrer, Svend Torkelsen, verantwortlich gewesen.611 Trotzdem ist die Kooperation zwischen Dänen und dem aus Sverris Lager stammenden Úlfr frá Laufnes, der die norwegische Flotte führt, reibungslos.612 Sverrir selbst, der auch in mitfühlender Weise als aller Welt verhasst dargestellt wird, genießt das Wohlwollen des norwegischen Autors und zeigt in Übereinstimmung mit der von ihm selbst in Auftrag gegebenen Sverris saga ein besonderes Redetalent und große Milde auch gegenüber seinem alten Gegner Svend Torkelsen.613

609 Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 7f.; ähnlich auch Backmund, Geschichtsschreiber des Prämonstratenserordens [1972], S. 245f. Zu Åge D18. 610 Vgl. zum Konflikt zwischen König und Erzbischof, der sich unter anderem um Änderungen des Bußrechts in Kirchensachen unter König Magnús Erlingsson und das Patronatsrecht von Laien drehte, sowie den politischen Fraktionen hierin Bagge, Den heroiske tid [2003], S. 72–75. Einen Schlüssel zu Sverris Position bietet Sverris »Rede gegen die Bischöfe« (Tale mot biskopene/Ræða gegn biskupum: Sv.s., S. 287–288). Zur Programmatik dieser Schrift Gunnes, Kongens ære [1971], bes. S. 226–229, 352–366. 611 Die Kulfungar, eine Oppositionsgruppe zu Sverrir, hatte mit Jón Kuflungr einen angeblichen Sohn des verstorbenen Königs Ingi Sigurðarson, zu ihrem Anführer erhoben, der jedoch 1189 im Kampf gegen Sverrir gefallen war (Sv.s., Kap. 109, S. 167–169). Die nach Dänemark geflohenen Kuflungar kehrten 1190 mit einem angeblichen Sohn des Königs Magnús Erlingsson unter der Führerschaft von Símun Kárason und Svend Torkelsen nach Norwegen zurück und wurden Várbelgi genannt, doch töteten die Freien in Tønsberg ihre Anführer (Sv.s., Kap. 114, S. 173f.). Die Profectio berichtet hiervon und von Sverris Pardon für Svend Torkelsen in Kap. 13f., S. 478–480. 612 Sie wird ausführlich in Profectio, Kap. 8–17, S. 471–482, beschrieben. Dies und die Tatsache, dass Úlfr dazu rät, vor der Abreise noch Sverrir in Bergen zu treffen, was der Chronist mit dem »schlechten« Rat Huschais an Abschalom vergleicht, mit der Ermordung seines Vaters David noch zu warten, was Abschalom gemäß dem Willen des Herrn ins Unglück gestürzt hätte (2 Sam 17 bzw. Profectio Kap. 10, S. 475), führte Holm-Olsen, Ulv fra Lauvnes [1951], S. 575 zu dem Schluss, der Autor deute hier an, Úlfr habe in Übereinstimmung mit Sverrir das dänische Unternehmen bewusst verzögert und hintertrieben. Dagegen Kraggerud, Normannen Ulv [1985], S. 100–106, der auf mangelnde Substanz für eine solche Deutung in der eigentlichen Erzählung hinweist und betont, dass die Anspielung auf Huschais Rat lediglich auf Gottes Wille hinter der verzögerten Abreise verweise. 613 Vgl. zu Sverris Reden in der Sv.s. Knirk, Oratory [1981], S. 99–125; Loescher, Religiöse Rhetorik [1984], S. 12–18; Löbner, Reden und Träume [1992], S. 102–140; Þorleifur

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Zudem wird Sverrir als konkurrenzloser Alleinherrscher über ein prosperierendes Norwegen dargestellt, was angesichts der Konflikte mit den Baglar zu jener Zeit, wie die Sverris saga sie darstellt, nicht stimmt.614 Es ist daher auszuschließen, dass der Autor zum Zirkel der Baglar oder Kuflungar und der sie unterstützenden norwegischen Geistlichen zählt, die von Sverrir ins Exil gedrängt worden waren, was Arne Odd Johnsen zu dem Schluss führte, die Profectio sei um 1200 in Norwegen von einem Parteigänger Sverris verfasst worden, und der Focus auf die dänischen Kreuzfahrer diene allein der Beschwichtigung dänischer Bedrohung.615 Dies scheint jedoch allein angesichts der komplett dänischen Perspektive des Berichts bei zweifellos markanten, schönfärberischen Informationen über Norwegen abwegig, zumal die Rede eines dänischen Magnaten die Oberherrschaft über den ganzen Norden evoziert. Zudem hätte die recht dick aufgetragene Hofierung des Königs Sverrir kaum zur Beschwichtigung dänischer Gegner beigetragen – falls denn wirklich alle Dänen vor Hass auf das verleumdete Unschuldslamm Sverrir nach seinem Sturz lechzten, wie es die Sverris saga uns glauben machen will.616 Zwar kämen für den Informationstransfer aus Byzanz, der im Folgenden den dänischen Akteuren der Chronik zugeschrieben wird, auch Leute wie des Königs Sverrir Halbbruder Eiríkr jarl in Frage, der 1180 aus byzantinischen Diensten zurückgekehrt und 1190 verstorben war,617 doch fragt sich dann, warum die Taten der Norweger nach dem Auslaufen aus Bergen nicht die geringste Erwähnung erfahren.

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Hauksson (Sv.s., S. LXVI–LXXV) mit dort verzeichneter weiterer Literatur; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 185f. Sverris Rede in der Profectio Kap. 14, S. 479. Hierauf macht besonders Johnsen, Ny tolkning [1976], S. 509–519 in einem Vergleich mit Informationen aus der Sverris saga aufmerksam. Johnsen, Ny tolkning [1976], S. 518f. Er betont, dass Absalon zwar erwähnt werde, aber keine besondere Würdigung genieße, und dass sein Neffe Alexander aufgrund seines Geizes kritisiert werde. In der Tat erscheint Alexander jedoch auch in der übrigen dänischen Überlieferung als problematische Persönlichkeit (Kræmmer), so dass eher Sachinformationen denn politische Aussageabsicht hinter seiner keineswegs durchgehend negativen Beschreibung stehen. Die These einer Entstehung in Norwegen vertreten auch Kålund, Kan Historia de profectione regnes [1896] und Kraggerud, Normannen Ulv [1985], S. 86, dagegen aber betonen Vandvik, Om Skriftet De profectione [1955] und Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 75f. die insgesamt rein dänische Perspektive: »On the one hand it is clear that the enterprise was Danish; it resulted from an assembly of the Danish king and his magnates, and the five leaders of whom it is said that they proceed with Abraham to the Promised Land are all Danish magnates; the Norwegian leader Ulf is not placed within the biblical frame.« (Skovgaard-Petersen a. a. O.). Die Überlieferung besagt über den Entstehungsort nichts. Sv.s., Kap. 121, S. 186f. Die Frage, wer genau hinter den Aktionen des Erzbischofs Eiríkr von Niðaróss im dänischen Exil stand und inwiefern Leute wie Vilhelm von Æbelholt oder auch Absalon von Lund jeden seiner Schritte gegen Sverrir bewerteten, muss weitgehend offen bleiben. NI 36; vgl. auch Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 175f.

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Umso deutlicher zeigt sich hingegen, dass hinter der Chronik zwar nicht Absalon selbst, aber doch just sein politisches Netzwerk steht, was die Gruppe der fünf Anführer und ihre Würdigung verdeutlicht:618 Toke von Børglum (1146-vor 1179) war den Hvide und dem Zirkel um Valdemar eng verbunden; er hatte 1167 die Verschwörung zur Usurpation durch Buris Henriksen gegen Valdemar aufgedeckt, zu Absalons engsten Beratern gehört,619 und sein Neffe Åge gehört zu den Anführern des Kreuzzugs. Ein zweiter Åge, der Sohn des Jüten Stig Hvide († 1151), der Knud Lavards Tochter Margrethe geheiratet, das Kloster Essenbæk gestiftet und auf Svend Grathes Seite gegen Knud III. gekämpft hatte, war eine ganz zentrale Figur des Skjalmkollektivs, was aus seiner Beschreibung in den Gesta Danorum hervorgeht, ein Held der frühen Wendenzüge und Sachwalter der Interessen seines Zirkels in Schonen, wenn er auch nicht nachweislich zu den Nachkommen Skjalm Hvides, dafür aber Knud Lavards zählte.620 Der Beiname »Hvide« (der »Weiße«) ist zu jener Zeit noch kein Geschlechtername und deutet nicht zwingend auf Verwandtschaft hin;621 entscheidend ist die aus Saxo aufscheinende politische Allianz. Einen Angehörigen des später so genannten »Hvideslægt« selbst greift man mit Alexander Pedersen, dessen Mutter Absalons Schwester Ingefrid war, und der gemeinsam mit Åge Stigsen ein Schiff bauen ließ. Das Elternpaar hatte Absalon nach der »Blutgilde von Roskilde« aufgenommen und ihm so das Leben gerettet; Alexander wurde später der Verwalter von Absalons Testament.622 Peder Pallesen Hvide lässt sich nicht eindeutig zuordnen,623 begegnet aber auch auf einer schwer zu deutenden Verbrüderungsliste (Broderliste) in einem Teil des so genannten »Valdemarschen Erdbuchs« (Kong Valdemars Jordebog), die Überschneidungen mit der Gruppe der Kreuzfahrer und eine gewisse Affinität zu den Hvide aufweist. Sie enthält in jedem Fall Angehörige einer Allianz um 1200; ob diese jedoch dem Zweck der Herrschaftsstabilisierung galt oder möglicherweise eine Verschwörung im Zuge der kreuzzugartigen Expansion südlich der Ostsee spiegelt, lässt sich nicht mehr klären.624 Der bereits erwähnte Svend Torkelsen ist der fünfte im Bunde; auch

618 D18. Zu den Personen im Folgenden Skovgaard-Petersen, De Profectione Danorum [2006], S. 242–245; Lund, Lið, leding og landeværn [1996], S. 238–241. 619 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 199. 620 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 205; GD 14,40,11. Zu seinem sehr wahrscheinlichen, doch nicht mit absoluter Sicherheit identifizierten Vater Stig Hvidelæder (Stígr hvítaleðr) s. Knýtlinga saga, Kap. 93, S. 256. Klassischerweise wird als Stigs Vater Toke, ein Sohn von Skjalm Hvide, angegeben, doch ist dies eine Konjektur aufgrund des Beinamens. 621 Vgl. zu den nicht eindeutigen genealogischen Zusammenhängen zwischen Personen mit dem Beinamen »Hvide« Kræmmer, Efterslægtstavle for Skjalm Hvide [2011], S. 526–528. 622 Vgl. zu Alexander Kræmmer, Den hvide klan [1999], S. 155–159. 623 Kræmmer, Efterslægtstavle for Skjalm Hvide [2011], S. 528. 624 Faksimile und Edition: Broderliste, broderskab, korstog, ed. Møller Jensen [2006], S. 247– 256, Peder Pallesen Hvide auf S. 252 unter der syssel (Bezirk) Thiud (heute Thy) in Nord-

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weitere Juniorpartner im Flottenprojekt, die sich nicht näher in die politische Landschaft einordnen lassen, werden erwähnt. Unzweifelhaft jedoch stand das Skjalmkollektiv hinter dem Kreuzzug und der Chronik ebenso wie hinter den Gesta Danorum, das belegt allein die Überschneidung der positiv bewerteten Personen. Da die Profectio Danorum indes Saxos zum damaligen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenes Werk nicht kennt, scheinen Übereinstimmungen inhaltlicher Natur gerade im Byzanzbild umso auffälliger, lassen sie sich doch vor diesem Hintergrund auf eine gemeinsame politische Haltung des Auftraggeberkreises zurückführen. Als Kreuzzugschronik an sich ähnelt die knappe, etwa 35 Editionsseiten umfassende Darstellung dem üblichen Kreuzzugsdiskurs aus päpstlichem Aufruf, Vorbereitungen, die vom Widersacher gestört werden, und der theologisierenden Beschreibung der Ereignisse auf dem Zug selbst, wie er etwa in den Gesta Dei per Francos des Guibert de Nogent oder der Historia Iherosolimitana des Robert von Reims aufscheint;625 besonders groß sind die Ähnlichkeiten zu parallel entstandenen Chroniken über Friedrich Barbarossas Kreuzzug, der Historia de expeditione Friderici imperatoris und der Historia peregrinorum, wobei wir aber nicht von Abhängigkeiten, sondern von einem gemeinsamen Bildungshintergrund der Autoren ausgehen müssen.626 Die Nachricht vom Fall Jerusalems, dargestellt in einer kontrahierenden, möglicherweise aus dem Gedächtnis erstellten Paraphrase der Bulle Audita tremendi Gregors VIII.,627 erreicht den

westjütland. Da die Liste nur nach sysler geordnete Namen von Großen enthält, ist sie kaum sicher zu deuten. Der Codex ex-Holm. A 41 (»Kong Valdemars Jordebog«) enthält neben einem Verzeichnis königlicher Einnahmen eine Vielzahl ganz verschiedenartiger Texte, darunter die »Bruderliste« (zur kontroversen Geschichte um die Deutung der Handschrift Holmqvist-Larsen, Kong Valdemars Jordebog [2006], bes. S. 48–55, zur Liste im Kontext des Codex Nyberg, Kong Valdemars Jordebog [2006]). Die These einer herrschaftsstabilisierenden Verschwörung der Genannten vertritt Hermanson, Vänskap, brödraskap och maktsystem [2006], bes. S. 176–182, die These einer Vereinigung zum Zwecke des Kreuzzugs Villads Jensen, Broderliste, Vederlov [2006], S. 213f. bzw. Møller Jensen, Broderskaber og korstog [2006], S. 230–236. Eine gewisse Affinität zum Skjalmkollektiv um die Hvide stellt Holmberg, Personnavnene i Broderlisten [2006], S. 134–140 fest. 625 S. die detaillierte Analyse bei Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 19–36; zu den Kreuzzugschroniken vgl. die Übersicht bei Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur 3 [1931], S. 413–439. 626 Die Historia de expeditione Friderici imperatoris (Quellen zur Geschichte des Kreuzzugs Friedrichs, ed. Chroust [1928], S. 1–115) ist in zwei späteren Überarbeitungen einer Sequenz aus drei aufeinanderfolgenden Berichten eines Augenzeugen überliefert, wobei die erste Redaktion bis 1190, die zweite bis 1197 reicht; die um 1194 entstandene, 1190 abbrechende Historia peregrinorum (Quellen zur Geschichte des Kreuzzugs Friedrichs, ed. Chroust [1928], S. 116–172) benutzt die verlorene ursprüngliche Redaktion der Historia de expeditione. Zum Vgl. zwischen dem theologischen Rahmen dieser Texte und der Profectio Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 64–72. 627 Die Paraphrase bleibt bei Allgemeinplätzen, einige zentrale Aspekte der Bulle, so vor allem

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dänischen Hof in Odense an Weihnachten 1187, wo zu jener Zeit eine Reichsversammlung stattfand. Aus dem Schockzustand löst sich als erster nicht Knud IV., sondern – analog zum tatkräftigen Politiker Absalon bei Saxo – dessen Bruder Esbern Snare. Ihm, dem weisen Mann, der hoch in der Gunst des Königs stehe, wird eine lange Exhortationsrede in den Mund gelegt, die ein ganzes Kapitel umfasst und Reminiszenzen etwa an die Predigt Urbans in Clermont und andere Aufrufe sowie große Ähnlichkeiten zu derjenigen des Bischofs Heinrich von Straßburg in der Historia peregrinorum zeigt:628 Das Haupt (Rom) brauche nun selbstverständlich seine Glieder, doch wendet die Figur Esbern sich sogleich Dänemark selbst und den eigenen Vätern (patres nostri) zu:629 Aus alten Zeiten, als mit einem auf Augustinus zurückgehenden Bild tranquillitas und fertilitas geherrscht hätten, weil die Vorfahren – wie in den Gesta Danorum – iustitia und veritas miteinander vereinten, wisse die ganze Welt von den Danorum gloriosa tropea; man müsse den Niedergang durch Speichellecker (adulatores) und Heuchler (hypocrite), die Herrschaft von fraus und violentia überwinden, um wieder in diesen Zustand zu gelangen. Es folgt eine Liste der regna, bei denen die Dänen der alten Zeit Eindruck hinterlassen hätten, deren Bedeutung aus unserer Perspektive nicht zu hoch eingeschätzt werden kann: Die Longobardia heiße nach dem siegreichen dänischen Volk, von dessen Auswanderung man bei Saxo später mehr erfährt, Rom sei erzittert vom terror gentis nostre, die Normandie habe man verwüstet, England, Norwegen und alles vom Ende der Welt bis hin zu den Finnen, den Samländern, den Slawen und Holsten habe man unterworfen. Dieser Liste siegreicher Plünderungszüge und Eroberungen steht ganz am Anfang nur ein unbesiegtes Land entgegen, und es handelt sich um Grecia. Esberns als Eröffnung dieser Studie zitierte Satz: »Si Greciam consulis, nostrorum audacia se defensari clamitabit.« erhält hierdurch programmatischen Charakter. Es zeichnet sich eine ganz klare Zweiteilung im imaginierten historischen Gebrauch dänischer Weltmacht ab, welche die im Chronicon Lethrense begonnene gedankliche Linie auf einen Höhepunkt führt: Mord, Totschlag und Einschüchterung für das ganze westliche und nördliche Europa, Schutz für Byzanz. Beide begründen dänischen Ruhm und auch den Kreuzzug. Wenn die Altvorderen bloß dilatande fame nominis und ad perpetuam gloriam solche Taten vollbracht hätten, wie sehr erst verlange dann ein Ziel diuine religionis intuitu große Kraftanstrengungen? An sich stellt die Exhortation über die Taten der Väter einen Gemeinplatz dar; Guibert de Nogent und auch die Historia de expeditione Friderici imperatoris die Schutzgarantie für das Gut der Kreuzfahrer und das Heilsversprechen, fehlen (Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 27–36. 628 D16. Vgl. Quellen zur Geschichte des Kreuzzugs Friedrichs, ed. Chroust [1928], S. 123f. (Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 68–72). 629 Alle folgenden Zitate in diesem Zusammenhang stammen aus Profectio Kap. 5, S. 466f.

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sprechen von den Taten der Makkabäer, die es nun noch zu übertreffen gelte.630 Die Profectio setzt kurzerhand die heidnischen Dänen der Wikingerzeit funktional mit ihnen gleich; hier wie schon bei der souveränen heidnischen Königin Thyra631 wird die vorchristliche Geschichte auch für die Gegenwart als Heilsgeschichte voll gültig. Dadurch geht das Heilige Land als bindendes Element verloren, doch es wird unter anderem durch Byzanz ersetzt, und das nicht nur in dieser Rede, sondern in der Chronik insgesamt. Eine solche Argumentation, wonach die Dänen außer den Byzantinern niemandes Freund sind und die zumal einem Haupt des Skjalmkollektivs zugeschrieben wird, unterstreicht die Erik Ejegod von Saxo zugeschriebene Rede von der »Treue der Dänen« zu den Byzantinern. Am Ende des 12. Jahrhunderts war sie ganz offensichtlich mehr als nur eine Phrase und ergab im Rahmen einer Kreuzzugsbegründung im Zirkel des Skjalmkollektivs hinreichend Sinn: Ähnlich wie die zeitgenössischen »TemplerFamilien« etwa in Frankreich, die als soziale Netzwerke zunächst den Kreuzzug, aber auch ihre eigene Macht und diejenige des Ordens als Teil ihrer politischen Agenda fördern,632 äußert sich in Dänemark so etwas wie ein »Byzanz-Kollektiv«. Der größte Teil der folgenden Narration konzentriert sich auf die Vorbereitung des Kreuzzugs. Zwar finden sich nach Esberns Worten 15 Magnaten spontan bereit, Schiffe auszurüsten, doch dünnt die Wirkung des Widersachers ihre Zahl auf die fünf Bekannten aus,633 die insgesamt vier Schiffe ausrüsten. Sie segeln von Hals an der östlichen Einfahrt des Limfjords aus über den Skagerrak nach Konghelle, wo sie auf Úlfr frá Laufnes aus dem Trøndelag treffen, einen Mann des Königs Sverrir und Anführer eines norwegischen Kontingents mit 200 Mann, dem gemeinsam mit den Dänen das Kommando über die vereinigte Flotte zukommen sollte.634 Mit ihm verlegte die Flotte über Tønsberg nach Bergen, wo Úlfr Abschied von König Sverrir nahm, der sich nach einem an die Sverris saga erinnernden Monolog mit Svend Torkelsen aussöhnt und die Flotte ausrüstet. Dänisch-norwegische Harmonie und die Gerechtigkeit des offenbar zu Unrecht 630 Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 37f. 631 Vgl. oben, S. 401. Diese Beobachtung widerspricht der Feststellung bei Tyerman, Invention of the Crusades [1998], S. 31f., in Dänemark sei um jene Zeit Kreuzzugsrhetorik weitgehend unbekannt. Die Konstruktion der Rede ist keineswegs »tentative and stumbling« (ebd., S. 32), sondern greift in ihrer Abwandlung des zentraleuropäischen Musters bewusst und gekonnt das Selbstverständnis der fraglichen Gruppe auf. 632 Schenk, Templar Families [2012], bes. S: 31f., 174–177, 245–265 analysiert soziale Strukturen in der aristokratischen Laienwelt Lateineuropas hinter der Versorgung des Templerordens mit finanziellem und humanem Kapital, wobei familiäre Netzwerke mit gemeinsamen politischen Interessen deutlich hervortreten. Eine Parallelisierung mit der dänisch-byzantinischen, genauer der seeländisch/schonisch-byzantinischen Beziehung drängt sich daher auf. 633 Profectio Kap. 6, S. 468f. Im Wirken Satans liegt abermals eine Parallele zur Historia peregrinorum, vgl. Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 44–47. 634 Kap. 8, S. 471–473.

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verhassten Königs Sverrir bilden wie schon betont einen wichtigen Bestandteil der Chronik, doch spricht dies keineswegs gegen einen dänischen Entstehungskontext im Umkreis des Skjalmkollektivs;635 wie sich Absalon und die weltlichen Großen in den 1190er-Jahren zu Sverrir stellten, wissen wir gar nicht. Absalon beherbergte den Exilanten, was seiner Macht auch in kirchlichen Dingen nur nutzen konnte. Den Schriftverkehr mit der Kurie in Sachen des Streits zwischen dem Erzbischof Eiríkr und Sverrir besorgte jedoch allein der Abt Vilhelm von Æbelholt,636 und nach Sverris Erfolgen gegen die Kuflungar 1189 und 1190 mag eine Entspannung, wie sie Svend Torkelsen und Sverrir demonstrieren, auch Vertretern des Skjalmkollektivs ratsam erschienen sein, zumal unter den Prämonstratensern, die ja ähnlich wie die Zisterzienser in Dänemark zur Zeit des Schismas zwischen Alexander III. und Victor IV. mit dem lokalen Herrscher und den Birkibeinar klarkommen mussten.637 Orden vor Ort benötigten ganz pragmatisch stabile Verhältnisse und eine entsprechende weltliche Schutzmacht, die allen Rückschlägen zum Trotz nur Sverrir gewähren konnte und nicht dahergelaufene Pseudo-Königssöhne wie Vikar, den Símun Kárason und Svend Torkelsen 1190 aus dem Hut gezaubert hatten. Die politische Haltung der gesamten Chronik, nicht allein, aber auch im norwegischen Kontext, ergibt aus dänischer Perspektive mehr Sinn als aus norwegischer, wenn man sich von der Annahme eines simplen norwegisch-dänischen Antagonismus und eines mehr oder weniger fanatischen Zerwürfnisses zwischen »der Kirche« und »dem Königtum« in zudem knappen Passagen der Sverris saga löst. Nicht die gesamte dänische Elite musste des Abtes Vilhelm Haltung im Konflikt zwischen Sverrir und dem Erzbischof Eiríkr teilen, zumal zwischen Augustinern in Æbelholt und Prämonstratensern in Børglum diesbezüglich Differenzen bestanden haben mögen. Es sei nur am Rande erwähnt, dass der päpstliche Aufruf zum Kreuzzug gegen Sverrir in Schweden wie in Dänemark638 gänzlich folgenlos blieb. Insgesamt erscheint der Norwegenaufenthalt als eine Reihe von Verzögerungen bis in den Herbst 1191, so dass die Dänen bis auf Svend ohne die Nor-

635 So aber bei Johnsen, Ny tolkning [1976], S. 518f. Vgl. zu Sverris Charakterisierung Profectio, Kap. 13f., S. 478f. 636 S. den Schriftverkehr zwischen Vilhelm in Eiríks Namen und Innocenz III., der sich an ihn, die nordischen Bischöfe und Könige wendet (Diplomatarium Norvegicum 6,1, ed. Lange/ Unger [1863], Nr. 3–9, S. 4–14); vgl. Johnsen, Ny tolkning [1976], S. 510f. 637 Eine ähnliche, Sverrir gegenüber diplomatische Haltung nimmt die Historia de antiquitate regum Norwagiensium von 1183/84 ein, die im Auftrage des Sverrir ursprünglich feindlich gesinnten Erzbischofs Eysteinn Erlendsson von Niðaróss entstand, der jedoch nach der Niederlage des von ihm gekrönten und gestützten Königs Magnús Erlingsson offenbar pragmatisch den Ausgleich und eine klare Abgrenzung der bischöflichen und königlichen Interessensphären suchte (Scheel, Lateineuropa [2012], S. 169–174). 638 Diplomatarium Norvegicum 6,1, ed. Lange/Unger [1863], Nr. 6, S. 10–12.

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weger in See stechen.639 Svend schließlich bricht doch kurz vor den Norwegern auf, und die folgende Schilderung konzentriert sich auf das Martyrium des Schiffbruchs, das seine Leute in einer Nacht von Freitag auf Sonnabend erleiden; heilig ist also bereits der Kampf mit den Wellen der Nordsee,640 und auch der Vergleich mit der Duchquerung des Roten Meeres fehlt nicht.641 Die überlebenden Schiffbrüchigen erreichen mit dem beschädigten Rest der dänischen Flotte Stavoren in Friesland, wo sie sich zum Verkauf ihrer Schiffe entschließen und die via publica den Rhein hinauf über Köln bis nach Venedig reisen, von wo aus sie sich nach Akkon einschiffen.642 Úlfr und seine Leute befanden sich, ohne Schaden genommen zu haben, unter den Dänen, wenn man Vegard Skånlands Korrekturen von Gertz’ Textrestitution folgt, wovon man aber nichts weiter erfährt; sie gingen dann in der Gruppe der Dänen gänzlich auf.643 Der geplante Seeweg durch die Biskaya und die Straße von Gibraltar, den die Norweger laut Gertz’ Edition nahmen, war den Skandinaviern seit etwa 1100 bekannt;644 er ist sowohl in Orkneyinga saga und Morkinskinna beschrieben als auch in einer Sammlung aus Itineraren in Kong Valdemars Jordebog.645 Die Geschichte der dänischen Kreuzfahrer von der Landung in Stavoren an ist äußerst knapp erzählt; sie benötigt bis zur Abreise aus dem Heiligen Land ganze drei Seiten. Tatsächlich konnten die Kreuzfahrer angesichts des Waffenstillstands, den die Chronik lobt, nur noch unter muslimischer Bewachung zum Heiligen Grab und zum Jordan pilgern. Der Frust gerade jener Skandinavier, die schon einmal im Jerusalem vor seinem Fall gewesen waren, sei riesig gewesen.646 Auf dem Rückweg schließlich seien die Kreuzfahrer zu allem Überfluss in Akkon von König Richards Engländern (Anglici) überfallen worden, die sie für Byzantiner (Greci) gehalten hätten und aufgrund eines Streits mit ihnen hätten töten wollen. Zum Glück habe sich die Angelegenheit aufgeklärt.647 Auch wenn der Grund für den Konflikt zwischen Byzantinern und Kreuzfahrern aufgrund

639 Profectio, Kap. 16, S. 480f. 640 D17+D18; vgl. zu theologischen Implikationen Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 56– 60, die feststellt, dass sich hier bereits die Aufforderung zur Nachfolge der Märtyrer in Esberns Rede erfüllt. 641 Das Motiv findet sich ebenso bei Robert von Reims und Guibert de Nogent (SkovgaardPetersen, Journey [2001], S. 60–62). 642 D18. 643 Skånland, Einige Bemerkungen II [1960], S. 111f. kritisiert die entsprechende Lesart bei Gertz (Profectio, Kap. 18, S. 482 mit dem kritischen Apparat zu Z. 23). Vgl. auch Kraggerud, Normannen Ulv [1985], S. 97–100. 644 Die ersten Pilger auf diesem Seeweg (im Jahre 1102) nennt Snorri Sturluson (NI 132). 645 O.s. (NI 47-NI 55); Msk. (zu Sigurðr, NI 133-NI 140) und Hkr. (bereits zu einer Pilgerreise des Jahres 1102, NI 132); Jordebog (D63). 646 D19. 647 D20.

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angeblicher Vorfälle auf Sizilien nebulös bleibt,648 ist es bezeichnend, dass Skandinavier von anglonormannischen und französischen Kreuzfahrern offenbar gleichgesetzt wurden mit byzantinischen Agenten. Eine solche Assoziation konnte nicht von ungefähr kommen und fügt sich in das Bild einer besonders dichten skandinavisch-byzantinischen Beziehung. Anschließend sei eine Gruppe der Kreuzfahrer direkt über Apulien nach Dänemark gereist, eine andere indes über Konstantinopel, um die dort verehrten Heiligen zu besuchen. Der Basileus habe sie honeste empfangen, sie beschenkt, ihnen Gastmähler ausgerichtet und sie gedrängt, zu bleiben und in seinen Dienst zu treten, doch hätten ihre familiären Bindungen an die Heimat überwogen;649 fraglos war für Magnaten wie Åge Stigsen Hvide oder Alexander Pedersen bei ihrer Position in Königsnähe ein längeres Exil weniger lohnend als für Freie mit weniger guten Ausgangschancen wie etwa den Isländer Sigurðr Oddsson grikkr (den »Griechen«) zur gleichen Zeit, von dessen prekärem Sozialstatus nach seiner Rückkehr die Sturlunga saga berichtet.650 Bevor der Rückweg der Pilger über Ungarn und Sachsen beschrieben wird,651 folgt jedoch die theologische Schlüsselstelle der gesamten Chronik: Der Autor wendet sich einem Beispiel aus den zahllosen scrupulosa et superstitiosa prodigia zu und beruft sich hierzu auf die Bestätigung durch Augenzeugen,652 ganz gleich wie unglaubwürdig das folgende klinge:653 »Habetur namque illic, uti dignum est, in ueneratione summa dei genitricis imago, que Grecorum more pulcherrimo decore picta continetur in tabula; quam ›Eudoxam‹, id est: Bonam Gloriam, suo appellant idiomate, uulgari autem uocabulo ›Odigitriam‹654 dicunt. Singulis autem diebus, ut asserunt, a uico defertur in alium, comitantibus utriusque sexus turbis innumeris cum incenso, ut uapor cremati thuris in altas uideatur auras euolare. Pro sanctitate uero et reuerentia mixta timori hane nemo, qui hoc seculum diligit, suis presumit gestare manibus, uerum e cellulis solitariam uitam agentes uiri religiosi educuntur, ut eam baiulent. Tertia namque feria singulis septimanis angelico motu circumacta in conspectu totius uulgi, uelut quodam rapta turbine, sui ipsius portitorem eodem impetu secum circumuenit, ut oculos intuentium mira celeritate pene fallere uideatur, cunctis more suo pectora tundentibus et 648 Richard hatte 1190 Messina im Rahmen von Auseinandersetzungen erobert; der Eroberung waren Konflikte um den Rechtsstatus seiner Schwester als Königinnenwitwe von Sizilien vorausgegangen. Entscheidender für die Spannungen mit Byzanz dürfte indes seine Eroberung Zyperns 1191 gewesen sein, das zuvor seit 1185 vom Usurpator Isaakios Komnenos beherrscht worden war, der sich der Kontrolle durch Konstantinopel entzogen hatte. 649 D21. 650 Guðmundar saga dýra (NI 62-NI 64); Íslendinga saga (NI 189). 651 D24. 652 D22. 653 D23. 654 Gertz emendiert hier aus Eidideram, einer wahrscheinlichen Verballhornung von [Odigitria] < Ὁδηγήτρια.

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clamantibus: ›Kyrie eleison, Christe eleison‹. — Copia siquidem suppetit plura referendi; sed ne prolixitas fastidium afferat audienti, cetera supprimere magis eligo quam narrare; quia quandoque humana curiositas plus uanitate quam religione delectatur.«

Die Geschichte von den Dienstagsprozessionen der Hodegetria-Ikone, die der Apostel Lukas selbst gemalt haben sollte, die seit Ioannes II. Komnenos eine besondere Bedeutung im Krieg und für den Schutz der Stadt bedeutete, darin die Blachernitissa-Ikone verdrängte und Konstantinopel etwa 1186 vor einer Usurpation bewahrte,655 ist zweifellos zutreffend. Auch die Tatsache, dass nur auserwählte Kleriker die Ikone tragen durften, wird von anderen Texten und auch späteren Bildern bestätigt:656 Abgesehen von byzantinischen Berichten informieren der elaboriertere Bericht eines lateineuropäischen Pilgers aus dem späten 11. Jahrhundert, der so genannte Anonymus Tarragonensis und der Anonymus Mercati, selbst beruhend auf einer byzantinischen Vorlage, über die Tatsache der Dienstagsprozessionen.657 Problematischer erscheint die dort nicht beglaubigte Vorstellung vom Wunder, dessen Zeuge die Beobachter dienstags würden, dass nämlich die Ikone mit seinem Träger von einer Art Wirbelwind ergriffen und herumgeführt wird. Sie trifft aber anscheinend als mit Abstand ältestes Zeugnis genau die Vorstellung vom regelmäßig aufgeführten Wunder der Hodegetria, das sich offensichtlich in der Komnenenzeit nach der Entstehung der lateinischen Pilgerberichte entwickelt hatte und dienstags präsentiert wurde:658 Ein Pilger-

655 Die verlorene Ikone der Hodegetria (»Wegweiserin«) zeigt die Gottesmutter mit Christus auf dem linken Arm, während sie mit der rechten Hand auf den Heiland deutet. Die Marienverehrung gewann eine verstärkt militärische Komponente unter den Makedonenkaisern; Ioannes I. Tzimiskes führte erstmals eine Marienikone auf einem Triumphzug mit. Zum Bedeutungszuwachs der im Hodegon-Kloster aufbewahrten Ikone und ihrer Legende, nach der sie vom Apostel Lukas selbst gemalt wurde, gegenüber etwa dem Marienbild im Blachernai-Palast mag dazu beigetragen haben, dass ab 970 der Patriarch von Antiochia seine konstantinopolitanische Residenz im Hodegon-Kloster hatte und laut Symeon Metaphrastes auch der Apostel Lukas als Maler der Ikone aus Antiochia stammte (Pentcheva, Icons and Power [2006], bes. S. 109–143, 173–177). Einen weiteren Schub der HodegetriaVerehrung brachte die Herrschaft Ioannes’ II. Komnenos und Manuels, die ihr den Platz auf dem Triumphwagen überließen und sie in Prozessionen zu den Gräbern der Basileis einbanden. In der Komnenenzeit wurde die Hodegetria so zur »Staatsikone« und Beschützerin der Stadt, was auch auf andere Städte wie Thessalonike abfärbte (Weyl Carr, Court Culture [1994], S. 86–98; Pentcheva, Icons and Power [2006], S. 173–191). 656 Lidov, The Flying Hodegetria [2004], S. 283–285, 291–295. 657 Anonymus Tarragonensis: Ciggaar, Anonymus Tarragonensis [1995], S. 127; Anonymus Mercati: Ciggaar, Une Description de Constantinople [1976], S. 249. Die Handschrift mit dem Text des Anonymus Mercati wiederum enthält auch das byzantinische Marienwunder vom Juden Abraham und dem Christen Theodoros, welches sich im Chronicon Laudunense und in der norrönen Tradition wiederfindet (oben, S. 308 mit Anm. 60). 658 Zum Dienstagswunder, auch im Folgenden, Lidov, The Flying Hodegetria [2004], S. 274– 286.

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bericht aus Novgorod um die Mitte des 14. Jahrhunderts sowie ein spanischer Pilgerbericht von 1437 beschreiben, wie die auf einem großen Platz präsentierte Ikone Besitz von ihrem Träger ergreift und ihn auf dem Platz herumführt.659 Alexei Lidov erkennt hierin ein Reenactment der Belagerung Konstantinopels im Jahre 626, als die Theotokos gemäß der Predigt des Theodoros Synkellos vom Patriarchen auf den Mauern umhergeführt wurde und die Stadt rettete, was just an einem Dienstag geschah.660 Damit ist das obige Zitat eine plausible Wiedergabe ganz aktuellen Augenzeugenwissens und unser ältestes Zeugnis überhaupt für das später gut dokumentierte Dienstagswunder der Hodegetria. Dies wiederum korreliert exzellent mit unserer Feststellung guter dänischer Kenntnisse der byzantinischen Diplomatie zu gleichen Zeit. Die Dänen sind nicht nur die Beschützer von Byzanz und werden im Mediterraneum von Fremden auch für solche gehalten, sondern verfügen zudem über aktuelles Wissen. Dass dieser Bericht im Gefüge der Chronik zentral sein muss, begründet sich schon aus seiner Merkwürdigkeit im knappen Erzählgefüge, das den Hauptakzent auf die Vorbereitungen, auf norwegisch-dänischen Ausgleich und den Schiffbruch der Dänen legt und die Reise jenseits Stavorens nur ganz knapp behandelt. Der Exkurs ist jedoch deshalb funktional, weil eben jene wundertätige Ikone das nicht erlangte Jerusalem ersetzt und so den fehlgeschlagenen Kreuzzug zumindest allegorisch zum Erfolg werden lässt. Er bietet nämlich das wundertätige Gegenstück zu einer Allegorie im sechsten Kapitel, wo die Anführer genannt werden, die das Land zurückerobern wollten, wo Milch und Honig fließen.661 Dass jenes den Vätern verheißene Land wiederum eine Muttergottes-Allegorie darstelle, wird in einem anschließenden Exkurs näher erklärt. Die Milch aus dem Fleisch der Gottesmutter stehe für die menschliche Natur Christi, der Honig für seine göttliche: »Manat ergo terra promissionis lac et mel, id est: Virgo Maria generat deum et hominem.«662 Es begegnet also eine doppelte Allegorisierung: Das gelobte Land des alten Bundes ist das Heilige Land der Christen, eine allgemeingültige Vorstellung der Kreuzfahrerchronistik,663 und Maria ist zugleich eine Allegorie des Heiligen Landes. Diese Vorstellung findet sich nicht in Kreuzzugschroniken, jedoch in einem Sermo bei Alanus ab Insulis, der auch Konzepte in Svend Aggesens

659 Der russische Bericht findet sich im so genannten Pilgerbuch Stephans von Novgorod (Majeska, Russian Travelers to Constantinople [1984], S. 36), der Bericht des Spaniers Pero Tafur von 1437 in Andanças é viajes, ed. Bellini [1986], S. 174f. (besprochen bei Lidov, The Flying Hodegetria [2004], S. 281–283). 660 Lidov, The Flying Hodegetria [2004], S. 285f. 661 Profectio, Kap. 6, S. 469. 662 Profectio, Kap. 7, S. 470. 663 Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 49f.

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Werken beeinflusste, und bei Richard von St-Victor.664 Der norwegisch-dänische Chronist nutzt also in kreativer Weise aktuelle, über etablierte Wissensnetzwerke vermittelte theologische Konzepte, löst sich dabei von möglichen Vorlagen und verflicht hierdurch gerade den Transfer lateineuropäischer Gelehrsamkeit mit der politischen Aufwertung von Byzanz und der Bedeutung des byzantinischskandinavischen Kontakts. Die Dänen erlangen das Heilige Land, das Gott und Mensch zugleich hervorbrachte, durch das wundertätige Bild der Dei genetrix.665 Byzanz ersetzt so durch Maria, gleichermaßen Beschützerin Konstantinopels wie der Kreuzfahrer,666 das verlorene Jerusalem. Der Kreuzzug, den man spontan als peinlichen Fehlschlag zu bezeichnen geneigt wäre, wird zum Erfolg, denn er beinhaltet das Martyrium beim Versuch, die heiligen Stätten zu befreien – wenn auch im Kampf gegen Naturgewalten und nicht gegen »Heiden« – und er bringt die Kreuzfahrer allegorisch in Besitz des Heiligen Landes, dessen Erde gar nicht mehr bedeutend erscheint. In dieses Bild fügt sich, dass im Gegensatz zur ähnlichen Historia de expeditione Friderici imperatoris das Byzanzbild genau umgedreht ist. Wird der Basileus den Deutschen zum Hinderer der Kreuzfahrer und einem zweiten Pharao,667 sind er und die Weringæ in seinem Dienst die Freunde der Dänen und das Parameter von Loyalitätszuordnungen in Outremer. Schließlich organisieren die Landsleute vor Ort die Ausreisegenehmigungen für die Kreuzfahrer und rüsten sie für ihre Heimreise aus. Byzanz ist also nicht allein der Ort, an welchem sich die Pilgerfahrt erfüllt, sondern auch ein sicherer Hafen, in dessen Genuss andere Lateiner nicht kommen. Insgesamt handelt es sich bei der Profectio Danorum in der Tat um die von einem dänisch-norwegischen Sonderbewusstsein668 geprägte Erfolgsgeschichte eines Kreuzzugs, der in seiner Anlage offenbar als Konkurrenzunternehmen des

664 Zur Rezeption einer in der Kreuzzugschronistik unüblichen Verknüpfung von Maria und dem Heiligen Land Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 53–56; die Fundstelle bei Alanus ab Insulis: In adventu Domini [1855], 217. Richard de Saint-Victor: Allegoriae, ed. Châtillon [1958] 3,1, S. 248 erläutert das Land, wo Milch und Honig fließen, als Allegorie der beiden Naturen Christi sowie des ewigen Lebens. Zur Rezeption von Konzepten bei Alanus durch den Zeitgenossen Svend Aggesen oben, S. 407 mit Anm. 504. 665 Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 62f. 666 Vgl. zur Marienverehrung bei den dänischen Kreuzfahrern gerade in Lettland Villads Jensen, Korstog [2011], S. 380–385, zur militaristischen Komponente der TheotokosVerehrung in Byzanz Pentcheva, Icons and Power [2006], S. 90–97. 667 Quellen zur Geschichte des Kreuzzugs Friedrichs, ed. Chroust [1928], S. 33–40; dazu Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 64. 668 Das Sonderbewusstsein erhält hier einen ganz anderen Ausdruck als etwa in der Heimskringla, der jedoch gerade in Esbern Snares Rede unverkennbar ist, vgl. oben, S. 434. Man kann Skovgaard-Petersen, Journey [2001], S. 75f., die den Text als Ganzes keineswegs als von Patriotismus oder Protonationalismus durchdrungen betrachtet, durchaus widersprechen. Auffallend sind gerade distinktive Parallelen zu den staufischen Kreuzzugschroniken, die aufgrund einer gleichzeitigen Entstehung umso aussagekräftiger erscheinen.

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tonangebenden Zirkels in der dänischen Politik zum Kreuzzug Friedrichs angelegt war. Angesichts der beschränkten Größe – man wird bei der dänischen Mannschaft auf vier Schiffen ungefähr von der gleichen Stärke ausgehen dürfen wie bei der norwegischen, also von ungefähr 200 Mann669 – und Hinweisen auf Skandinavier im Hauptheer des Dritten Kreuzzugs verschleiert dieser Kreuzzugsbericht die Tatsache, dass sehr zahlreiche Dänen und andere Skandinavier rechtzeitig nach Outremer gelangt sein müssen: Eine Flotte aus Skandinaviern und Nordseeanrainern, vor allem Friesen, die gemäß einem Papstschreiben an Isaakios II. Angelos 55 Schiffe umfasste, kam schon 1188 auf den westlichen Seeweg, bekämpfte Muslime in Portugal, vereinigte sich in Messina mit anderen Kreuzfahrern und erreichte im Herbst 1189 Akkon, das belagert wurde. Das nordeuropäische Kreuzfahrerheer vereinigte sich dort mit den französischen, englischen und deutschen Kontingenten und erhielt gemäß dem Itinerarium regis Ricardi offenbar nochmals Verstärkung durch 400 Daci unter einem anonymen nepos regis Daciae.670 Man könnte angesichts der Zahl geneigt sein, eine falsche chronologische Zuordnung von Informationen aus der Profectio zu vermuten – immerhin war Åge Stigsen ein Neffe Knud Lavards – doch bliebe dies reine Spekulation und widerspräche direkt dem Zeugnis der Profectio, nach dem die Dänen (und Norweger?) militärisch keinerlei Beitrag mehr leisten konnten. Nach der Vereinigung der Kreuzfahrerheere vor Akkon jedenfalls werden Dänen und Friesen nicht mehr erwähnt. Im Vergleich zur Aufmerksamkeit in zahlreichen von Paul Riant versammelten Quellen jedenfalls, die jener frühen, ungleich größeren Flotte zuteil wurde, nimmt sich das Unternehmen in der Profectio ziemlich lächerlich aus. Doch ist die skandinavische Erinnerung an die frühere Flotte verschwunden, ob nun ein Spross königlichen Geblüts an ihr teilnahm oder auch nicht. Was blieb, ist das »nationale« Projekt der wirklich Mächtigen. Das »Dänemark« des ausgehenden 12. Jahrhunderts, das aus der Profectio und den Gesta Danorum zu uns spricht, besteht folgerichtig nur aus einem ganz begrenzten, ausgesprochen mächtigen Magnatenverband, dessen Kern die seeländischen Nachkommen Skjalm Hvides mit dem König bildeten. Für dieses »Dänemark« spielten die Verbindungen mit Byzanz eine zentrale Rolle, ähnlich wie für die Grafen von Blois oder wie der Templerorden für bestimmte französische Kollektive jener Zeit,671 in unserem Fall besonders in der Selbstdefinition als Kulturgemeinschaft nach außen, gerade gegenüber den römisch-deutschen Kaisern und Deutschen überhaupt, deren kultureller Einfluss erheblich war. 669 Vgl. zur Mannschaftsstärke von 50 bis maximal etwa 100 Mann pro Schiff oben, S. 91f. mit Anm. 73. 670 Vgl. zu diesen Vorgängen Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 385–398; Runciman, Kingdom of Acre [1954], S. 3–33. 671 Zu den Grafen von Blois und Byzanz oben, S. 403, Anm. 490, zu den Templer-Familien Schenk, Templar Families [2012] (wie S. 435, Anm. 632).

Zwischen zwei Imperien: Dänemark im 12. und frühen 13. Jahrhundert

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Zudem rechtfertigt die Selbstverortung zwischen Byzanz und Lateineuropa in beiden Texten, so fiktional sie auch sein mag, das imperiale Ausgreifen jenseits der Ostsee, wobei die Profectio Akteure der von Kurt Villads Jensen und anderen Forschern als Kreuzzüge aufgefassten Wendenzüge seit der Mitte des 12. Jahrhunderts672 zugleich zu »echten« Kreuzfahrern, zu Jerusalempilgern macht. Die Profectio und die in ihr und bei Saxo anzutreffende byzantinische Verbindung dienen dabei zugleich der Abgrenzung von anderen dänischen Magnatengruppen, die etwa mit den Friesen gemeinsam in Outremer etwas ausrichteten, deren Stimmen im politischen Diskurs indes verklungen sind. Dies manifestiert sich nicht nur in Texten, sondern findet seinen Ausdruck auch im Bauwesen. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang nämlich, dass es auch allein das Skjalmkollektiv und der König sind, die Rundkirchen beziehungsweise Zentralbauten errichten lassen, welche Reminiszenzen an das Heilige Grab darstellen. Den auffälligsten von ihnen, die Kirche zu Kalundborg auf Seeland mit ihren fünf Türmen, weithin sichtbar über dem Fjord errichtet und eine unzweideutig lateineuropäische Interpretation orientalischer Zentralbauen in romanischer Backsteinarchitektur, ließ eben jener Esbern Snare errichten, der die Dänen als Beschützer der Byzantiner inszeniert haben soll.673 Solche Zentralbauten, die in Lateineuropa an verschiedenen Orten gerade von Kreuzfahrern errichtet wurden,674 begegnen nur in jenem Zirkel und hauptsächlich auf Seeland.675 672 Vgl. Villads Jensen, Danmark som en korsfarerstat [2000]; Lind/Selch Jensen u. a., Danske korstog [2004]; Møller Jensen, Sclavorum expugnator [2003]; Villads Jensen, Korstog og kolonisering [2003]; Møller Jensen, Danmark og den hellige krig [2000]; Etting, Crusade and Pilgrimage [2005]; Lind, Puzzling Approaches [2005]; Broderliste, broderskab, korstog, ed. Møller Jensen [2006]; Villads Jensen, Denmark and the Second Crusade [2006]; Møller Jensen, Denmark and the First Crusades [2007]; Villads Jensen, Korstog [2011]. Für einen kritischen Überblick über die Verbreitung des Kreuzzugsdenkens in Lateineuropa und seine Applikation auf andere Regionen als Outremer vgl. Tyerman, Invention of the Crusades [1998], S. 8–49. Anzumerken ist, dass eine päpstliche Sanktionierung vor den Kreuzzügen ins östliche Baltikum nur für den Wendenkreuzzug von 1147 nachzuweisen ist, an dem sich die Dänen beteiligten (vgl. Herrmann, Wendenkreuzzug [2010], S. 151–155). 673 Zu Kalundborg Jørgensen/Johannsen/Vedsø, DK Holbæk Amt 5 [1994], S. 3016–3298, hier 3285–3293, bes. S. 3047f. zu den divergierenden Deutungen der besonderen Bauform, außerdem 3096–3099. Smidt, Kalundborg [1936] sah v. a. ein Vorbild in den fünf Türmen über dem Vierungskreuz der Kathedrale zu Tournai – was jedoch nicht die Frage klärt, warum man eine solche Bauweise adaptieren und welche Aussage sie transportieren sollte. Zur umgebenden Festung vgl. Hertz, Kalundborg [1990], zum Bau und seiner Datierung in Esbern Snares Zeit außerdem Nawrocki, Der frühe dänische Backsteinbau [2010], S. 193– 202; auch die Granitsäulen im Inneren unterstreichen die Anleihen bei östlichen Kirchenbauten. Vgl. Abb. 102. 674 Vgl. zu Nachbauten des Heiligen Grabes in Lateineuropa Morris, The Sepulchre of Christ [2005], S. 219–245. Eine interessante, wohl mit dem Dritten Kreuzzug in Zusammenhang stehende Parallele zu den dänischen Zentralbauten bietet eine Gruppe an oktogonalen Zentralbauten in Tauberfranken (Grünsfeldhausen, Oberwittighausen, Standorf, Gauret-

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Byzanz im Norden: Historiographisch-politische Zugänge

Die Erfolgsnarration des Skjalmkollektivs, angesichts der Übereinstimmungen zwischen Saxo und der Profectio Danorum offenbar beeinflusst vom Willen der Auftraggeber, ist maßgeblich auf Byzanz ausgerichtet. Das bestätigen nicht allein die Texte selbst und die markante Anwesenheit von Zentralbauten. Die Dänen brachten die Theotokos Hodegetria, welche für die Kreuzfahrer das Heilige Land ersetzt und Byzanz beschützt, wie es die Dänen selbst tun, nach Hause mit: In der nördlichen Seitenaltarnische der Kirche zu Måløv in Nordseeland, erbaut auf dem Grund der Hvide, findet sich eine ikonographisch außergewöhnlich präzise Wiedergabe eben jener wundertätigen Ikone, die in der Profectio Danorum eine so wichtige Bedeutung besitzt. Die im Kreuzfahrerumfeld verbreitete Marienverehrung erhält hier eine dezidiert byzantinische Komponente.676 Die Text- und Bildwelt der Nachkommen Skjalm Hvides und ihrer Partner greifen hier ineinander und unterstreichen wechselseitig ihre soziopolitische Validität, unabhängig davon, ob nun der Text ein Bewusstsein erzeugte, welchem das Bild folgt, oder ob das Bild der ältere Ausdruck kollektiven Wissens ist, das sich später im Text manifestiert.

2.4.

Zwischensumme: Byzanz in der dänischen Historiographie

Mithin steht fest, dass die seit langer Zeit ungebrochen bestehende Kulturbeziehung zu Byzanz, Wissen über Byzanz und über Interaktion mit Byzantinern in Dänemark seit dem Ende der Königsfehden in politischen Diskursen funktional wird und so Prozesse des Kultur- beziehungsweise Wissenstransfers anstößt und beschleunigt; sie sind grundsätzlich verwoben mit anderen synchronen Interaktions-, Aneignungs- und Abwehrprozessen, mit gelehrtem Wissenstransfer aus Westeuropa und einer engen, problematischen Verflechtung mit den Staufern und deutschen Akteuren in dänischen Netzwerken. Kontakte zu Byzanz, Konfrontation mit dem römisch-deutschen Reich und Machtzuwachs des Skjalmtersheim [†]; vgl. Heckmann, Romanische Achteckanlagen [1941]), wo ein ähnlicher architektonischer Diskurs unter lokalen Magnaten bzw. Kreuzzugsteilnehmern vorauszusetzen ist. 675 Weitere Zentralbauten sind die Rundkirchen zu Bjernede, Store Heddinge und Pedersborg (†) in Seeland, die alle mit dem Skjalmkollektiv zu verbinden sind, weiterhin Thorsager in Jütland und Horne auf Fünen bei Königshöfen; vgl. die beigefügte Faltkarte und unten, S. 567ff. 676 Vgl. das dreieckige Giebelrelief über dem Südportal der Kathedrale zu Ribe, der so genannten Kathoveddør (»Katzenkopfportal«), aus den 1170er-Jahren: Es zeigt unter dem thronenden Christus Valdemar den Großen und Sophia sowie Knud Lavard und die Muttergottes, möglicherweise als Schutzpatrone der Kreuzzüge (Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 174–177; Møller, DK Ribe Amt 1 [1979], S. 673 datiert das Relief hingegen in die ersten Jahrzehnte des 13. Jhs.).

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kollektivs dynamisieren sich hier gegenseitig, und empfundene Defizienzen an kulturellem Kapital werden im Rekurs auf Byzanz (über-)kompensiert. Diese dänische Byzantinophilie des späten 12. Jahrhunderts ist insofern als das Resultat einer hoch spezifischen Konstellation aus sozialen und politischen Faktoren zu betrachten, die wiederum ganz spezifische Funktionen erfüllt. Vor der Etablierung dieser Konstellation bleiben Auswirkungen der Kulturbeziehung ausgesprochen blass, so dass die in der Forschungsgeschichte immer wieder begegnende stillschweigende Prämisse, östlicher »Einfluss« sei durch westlichen substituiert und gleichsam abgeschnitten worden, einiges an Plausibilität einbüßt. Streng genommen findet genau das Gegenteil statt, indem etwa das Wissen aus lateinischen Weltchroniken und lateinischer Antikenrezeption Saxo das Konzept eines mythologischen Anknüpfens an Byzanz ermöglicht oder die Marienallegorie des Alanus ab Insulis dem Autor der Profectio erlaubt, das Heilige Land mit der Theotokos Hodegetria zu substituieren. Auch byzantinische Verbindungen zur Wahrung eines dänischen honor regni funktionieren nicht ohne die negative Rezeption des staufischen honor imperii.677 Transferprozesse als Vorgänge von Kognition, Aneignung und kreativer Applikation im heimischen Kontext sind kein Selbstzweck, sondern folgen vielmehr einer bestimmten Funktion im sozialen Umfeld der Vermittler und Rezipienten. Nie waren sie fruchtbarer als in jenen Jahrzehnten Valdemars des Großen und Knuds IV., nicht zuletzt weil eine gewachsene kulturelle Synchronität bei optimalen Kommunikationswegen es den Eliten ermöglichte, kulturelles und damit politisches Kapital in die gleiche Währung umzumünzen wie die lateineuropäischen Nachbarregionen. Man besaß die Kompetenz zur subtilen Manipulation und zur freien Wahl unter Kulturgütern divergierender Herkunft, und man nutzte sie gezielt, ebenso wie man jedwede Byzanz- oder Orthodoxiefeindlichkeit, welche Gelehrte wie unser frater X aus Tønsberg gekannt haben mussten, komplett ignorierte. Dass dies auch beim Partner nicht ohne Auswirkungen blieb, demonstriert die Geschichte byzantinischer Wahrnehmung der Skandinavier und Skandinaviens, die seit Manuel und besonders zwischen 1180 und 1204 ihren Höhepunkt erreicht. Die vergleichsweise intensive Präsenz des jeweils Anderen erweist sich als synchron und erbringt auch zur gleichen Zeit den jeweils größten Nutzen, weshalb es vor diesem Hintergrund gerechtfertigt erscheint, zu fragen, ob nicht das Skjalmkollektiv als bedeutender, wenn nicht der bedeutendste Agent der Komnenoi und Angeloi in Skandinavien zu gelten hat. Die Basileis setzten systematisch auf solche Leute vor Ort und investierten in die Verbindungen, welche ihnen einen entsprechenden Zustrom an Kämpfern sichern konnten, wovon die Gesta Danorum für das Jahr 1185 ja auch eindeutig berichten. Offenbar byzan677 Vgl. dazu Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas [2001], bes. S. 364–377.

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Byzanz im Norden: Historiographisch-politische Zugänge

tinische Wertgegenstände im Nachlass des Erzbischofs Absalon, eine auffällige Zurschaustellung byzantinischer Ikonographie in seeländischen und schonischen Kalkmalereien sowie eine bemerkenswert großzügige Verwendung qualitativ hochwertigen Lapislazulis hierfür ebenso wie die Wahrnehmung von Dani auf den Mauern Konstantinopels 1204 liefern gewichtige Indizien. Möglich war dies freilich nur bis zu diesem Datum oder etwas darüber hinaus, an dem gemäß dem gesamten skandinavischen Textcorpus des Mittelalters jedoch nichts geschah. Dass Saxo hierüber nicht spricht, zumal er nach 1185 nur noch im Prolog auf Ereignisse anspielt, und auch die Komposition seines nach 1204 fertiggestellten Werkes nicht ändern konnte, leuchtet ein. Nach den Gesta Danorum geht jedoch dieses spezifische Byzanzbild des späten 12. Jahrhunderts in eine historiographische Rezeptionsphase über. Neue Informationen über Byzanz kommen trotz regelmäßiger Pilgerreisen ins Heilige Land, wo gar der Heilige Anders von Slagelse und auch Erik Plovpenning Wunder erfahren beziehungsweise wirken,678 nicht mehr hinzu, doch bleiben die alten funktional, indem etwa die Annales Ryenses oder das Compendium Saxonis sie im Geschichtsbewusstsein bewahren und teilweise ausbauen. Obschon Jerusalempilger wie Valdemar IV. Atterdag im 14. Jahrhundert Konstantinopel nicht mehr aufsuchen,679 hatten die Politik der Mächtigen im 12. Jahrhundert und ihre Medien Byzanz fest im Norden verankert, Byzanz zu einem Teil des Nordens gemacht, welcher der historischen Stadt nicht mehr bedurfte.

678 Anders v. Slagelse: D90; Erik Plovpenning: D65. 679 D87, D93-D95.

IV.

Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

An diesen diskursiven Prozessen des 12. Jahrhunderts, die Byzanz im heimischen Kontext eine spezifische Bedeutung verliehen und so Byzantinisches zugleich zum politischen Argument werden ließen, war die Kunst ganz ohne Frage beteiligt. Dies belegt allein die Koinzidenz einer besonderen Aufmerksamkeit für die Hodegetria-Ikone, des frühesten Belegs für ihr dienstägliches Wunder und ihrer zentralen konzeptionellen Einbindung in die Profectio Danorum mit ihrer ikonographisch präzisen Wiedergabe in einer Kalkmalerei: Das Brustbild befindet sich in der nördlichen Seitenaltarnische der Kirche zu Måløv in Nordseeland. Dass diese Nische jahrhundertelang zugemauert war, begründet den verhältnismäßig guten Erhaltungszustand. Zahlreiche ursprünglich trocken aufgemalte Binnenkonturen sind erhalten.1 Übliche lateineuropäische Umdeutungen oder Ergänzungen der Ikonographie, etwa in Form einer Krone, glänzen durch völlige Abwesenheit, auch wenn die Malerei selbst unzweideutig von einer einheimischen Werkstatt durchgeführt wurde, die noch zahlreiche weitere Byzantinismen in ihr ikonographisches Programm integrierte. Die Hodegetria jedenfalls bleibt unter den erhaltenen romanischen Wandmalereien ohne Parallele, wie Øystein Hjort feststellt:2 »Den byzantinske indflydelse spøger stadig, men det er vigtigt at fastslå, at hvor vi end møder noget, der kan tolkes som en byzantinsk påvirkning, foreligger den kun i forvansket eller udtyndet form, fordi den er filtreret gennem tysk – ottonsk og romansk – kunst, i enkelte tilfælde vel også italiensk kunst. Undtagelser? Måske netop Madonna med barnet i Måløv. Hvad vi har her er nemlig en typisk og stort set uforvansket version af den såkaldte Hodegetria-type, vi kender fra byzantinske (og byzantinsk påvirkede) ikoner.« »Der byzantinische Einfluss spukt ständig herum, doch es ist wichtig festzuhalten, dass er, wo immer etwas begegnet, das sich als byzantinische Beeinflussung deuten lässt, nur in modifizierter oder ausgedünnter Form vorliegt, denn er ist durch den Filter deut-

1 S. die Verweise unter Nr. 19, Måløv, unten, S. 503f. 2 Hjort, Madonna med barnet [1986], S. 166.

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Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

scher – ottonischer und romanischer – in Einzelfällen wohl auch italienischer Kunst gegangen. Ausnahmen? Vielleicht gerade die Madonna in Måløv. Was wir hier antreffen, ist nämlich eine typische und im Großen und Ganzen unveränderte Version des so genannten Hodegetria-Typus, den wir aus byzantinischen (und byzantinisch beeinflussten) Ikonen kennen.«

Diese Sonderstellung gilt, soweit sich feststellen ließ, für den ganzen Westen Europas,3 und sie ist lediglich die Spitze eines Eisbergs an stilistischen und ikonographischen Besonderheiten von Wandmalereien in ostdänischen Kirchen, die teilweise wie die Hodegetria herausragen, teilweise plausibler in einen weiteren Kontext byzantinischer Beeinflussung der romanischen Wandmalerei einzuordnen sind. Intention oder Zufall, direkt oder indirekt? Als schwerwiegendes methodisches Problem dräut indes im Hintergrund die »byzantinische Frage«, die Frage also, wie »Einflüsse« – oder besser Transferprozesse – in Stil und Ikonographie der romanischen Kunst zu erklären sind, ob sie direkt oder über Zwischenstationen stattfanden, ob sie als Ausdruck intentionaler Entlehnung interpretiert werden dürfen und welche Wirkung auf die Realästhetik sie entfalteten.4 Gerade stilistische Einflüsse, die im Vergleich oft nur erlauben, vage Gemeinsamkeiten mit möglichen byzantinischen Vorbildern aufzuzeigen und deren Analyse zudem konkret durch den Erhaltungszustand der dänischen Kalkmalereien extrem erschwert sind, prägen die gesamte romanische Kunst des 12. Jahrhunderts und besagen für sich genommen weder etwas über Entlehnungswege noch über Intentionen der Künstler oder Auftraggeber oder die Wahrnehmung von Byzantinischem als byzantinisch; insbesondere Anthony Cutler forderte nachdrücklich, verschiedene Indizien für byzantinischen Einfluss nach ihrer Aussagekraft zu klassifizieren und Befunde aus der Kunst an historisches Wissen aus Schriftquellen rückzubinden.5 Aufgrund dieser Klassifizierung bleiben unspezifische, denkbare, aber keineswegs zwingende oder zwingend direkte Übernahmen byzantinischer Vorbilder in diesem Zusammenhang auch außen vor, etwa die ungefähr 400 so genannten »Lilien3 Haastrup, Byzantine Elements [1981], S. 326 verweist auf ein ähnliches, etwa gleich altes Hodegetria-Relief in San Michele zu Pavia. Eine weitere Parallele in der Wandmalerei, zu finden auf einem Pfeiler des Schiffs in Sant’ Ambrogio (Mailand), ist jünger (frühes 13. Jh.). 4 Auswirkungen auf die Realästhetik macht Cutler, Byzantine Art and the North [1996] zur Bedingung eines Sprechens über Rezeptionsprozesse und damit eine Bedeutung des Fremden. Vgl. auch die methodischen Anmerkungen von Horn Fuglesang, A Critical Survey [1996], S. 140f., bes. 147–152 Vgl. zur byzantinischen Frage Demus, Byzantine Art [1970]; Weitzmann, Various Aspects [1966]; Kitzinger, The Byzantine Contribution [1966]. 5 Cutler, Misapprehensions and Misgivings [2000], S. 488–504, 507f; vgl. auch Koenen, Knotenpunkt und Schmelzpunkt [2012], S. 782f.

Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

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steine« in Götaland, auf denen Lilienornamente oder Stabkreuzornamente abgebildet sind, deren Herkunft, Datierung und Kontextualisierung aber gänzlich offen bleiben,6 oder auch die Fünten des Meisters »Byzantios«, der byzantinische Einflüsse verarbeitet, jedoch nicht hinreichend aus der Masse byzantinisch beeinflusster Kunst in Lateineuropa hinausragt.7 Auch die Kalkmalereien in gotländischen Kirchen und auf den Planken gotländischer Holzbauten werden nicht näher behandelt, denn die sind zwar hinsichtlich ihrer Rückbindung an letztlich byzantinische Bilddiskurse herausragend, doch wurden diese einwandfrei über die Rus’ durch Migranten im Kontext reger Handelsverbindungen und nicht direkt aus Byzanz vermittelt, und sie entfalten in Skandinavien keine sichtbare transregionale Vorbildwirkung.8 Auch byzantinische Einflüsse auf den Stil der dänischen Wandmalereien sind plausibel mit der Vermittlung über italienische und deutsche Vorbilder erklärt worden,9 ebenso wie der Bauplan der bereits erwähnten, überwiegend seelän6 Vgl. v. a. den Sammelband Liljestenar, ed. Jonsson [2001] und Nitenberg/Nyqvist Thorsson/ Bernhoft, Liljestenar och Stavkorshällar [2007] sowie Nitenberg, Liljestenar och stavkorshällar [2009] mit dort besprochener älterer Literatur; zum Mangel an hinreichend handfesten Anhaltspunkten Bågenholm, Framgångsrikt liljestensseminarium [2000]. Für eine Herkunft des Lilienmotivs aus Byzanz und eine frühe Datierung der Steine ins 10. oder frühe 11. Jh. sprechen sich u. a. Andersson, Något om lijestenar [2001]; Rhodin/Gren/Lindblom, Liljestenarna och Sveriges kristnande [2000]; Rhodin/Gren, Liljestenarnas bysantinska bakgrund [2001]; Claesson/Lindblom, Liljestensproblematikken [2001]; Johanson, Jämförelse av liljestenarnas ikonografi [2001] aus, dagegen Carling, Liljestenar med runor [2001]; Claesson, Romanska kyrkor och liljestenar [2001]; Dahlberg, Liljestenarna [2001]; Hyenstrand, Ju större gåte desto enklare [2001]; Nordgren, Liljestenar [2001]; allein Svanberg, Liljestenar, romanska stenmästare [2001] rechnet mit der Möglichkeit der hochmittelalterlichen Übernahme aus Byzanz. Festzuhalten ist, dass keinerlei sichtbarer Zusammenhang mit den »Griechenlandfahrersteinen« besteht. Die Argumente für eine byzantinische Herkunft beziehen sich entweder in zirkulärer Weise auf die Plausibilität eines byzantinischen Kontextes im Zuge von Kontakten auf dem »Ostweg« sowie Parallelen in der byzantinischen Ornamentik, Argumente für eine Datierung in das Hochmittelalter und eine lateineuropäische Vermittlung stützen sich u. a. auf die geographische Verteilung, die Rückbindung an Gemeindestrukturen und Kirchenbauten. Nitenberg, Liljestenar och stavkorshällar [2009], S. 106–122 lehnt in der bisher gründlichsten Untersuchung die Herleitung von wikingerzeitlichen byzantinischen Vorbildern ab und sieht die Entstehung der Symbolsteine im Kontext mit dem Wachstum von Königs- und Kirchenmacht in Götaland sowie der wachsenden Abgrenzung zwischen Freien und Magnaten ab etwa 1100; die Liliensteine kennzeichneten also als Grabmale eine soziale Differenzierung. Eine Herleitung von byzantinischen Vorbildern wird folglich als unplausibel betrachtet, eine Inspiration durch Kreuzfahrer aber für möglich gehalten. 7 Den Meister taufte Roosval, Byzantios [1916] aufgrund seines Stils. Dagegen bestreitet Cutler, Sculpture and Sources [2000] einen herausragend »byzantinischen« Charakter seiner Werke. 8 Hierzu v. a. Lagerlöf, Bysantinsk måleri [1984]; Lagerlöf, Ryskbysantinska målningsrester [1989]; Lagerlöf, Gotland och Bysans [1999]; Vasilyeva, Byzantinska traditioner [2009]. 9 Dies ist der klassische Ansatz, vgl. etwa Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 111f.; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 46–51; Kaspersen, Catalogue of WallPaintings 4 [1982], S. 16; Fleischer, Korbuefigurernes stil [1986]; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 101f. Auf Möglichkeiten direkten Einflusses durch transportable Medien verweisen

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Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

dischen Rundkirchen von einem wagrischen Typus hergeleitet wurde.10 Problematisch wird das Paradigma linearer, quasi osmotischer Diffusion von Byzantinischem in der Kunst indes, wenn ikonographische Besonderheiten wie unsere Hodegetria, für die sich kein Vermittler in Lateineuropa namhaft machen lässt, über verlorene Zwischenglieder etwa in Sachsen erklärt werden.11 Unbestreitbar stellt das heute erhaltene Corpus der romanischen Kalkmalereien nur noch einen Bruchteil des ursprünglichen dar; andererseits führt das konsequente Postulieren verlorener Zwischenglieder ähnlich wie in der Sagaforschung dazu, dass ein immer größer werdendes Stemma entsteht, dessen angenommene Überlieferungsstufen einer imaginierten, gleichsam genormten Schrittlänge linear gedachter Innovation entsprechen.12 Auf diese Weise jedoch verschwindet bei Texten die Möglichkeit der zielgerichteten Intervention des kompetenten Schreibers in den »unfesten« Text, in der Kunst die Möglichkeit sprunghafter, auf den ersten Blick als unwahrscheinlich einzustufender Entlehnungen, Veränderungen und Entwicklungen durch den Willen menschlicher Akteure.13 Damit aber ist die Gretchenfrage, ob die dänische Kunst zu ihren Byzantinismen gelangte wie die Hodegetria zu ihrem Kind oder aber durch den Willen von regional und kulturell extrem mobilen Auftraggebern, nicht gelöst, sondern lediglich ausgeblendet, zusammen mit dem kulturellen Kontext, der, wie etwa die Profectio Danorum, aber auch die Geschichtsbilder der dänischen Chroniken im 12. Jahrhundert zeigen, bei gegebenen direkten Kontakten durchaus als bewusst byzanzaffin eingeschätzt werden sollte.14

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Haastrup, Byzantine Elements [1981], S. 331; Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 43–45 und Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], S. 138–140, die als Grundlage unserer Überlegungen zu den Byzantinismen in der Wandmalerei von zentraler Bedeutung sind. Nawrocki, Der frühe dänische Backsteinbau [2010], S. 139–143 verweist auf Parallelen zur im 19. Jahrhundert abgerissenen Rundkirche in Schlamersdorf, welche die gleichen Maße und ebenfalls vier Mittelsäulen aufwies, jedoch keine Oberkirche besaß, die in Bjernede aus Backsteinen gemauert wurde; vgl. zu Bjernede Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 351–360. So etwa bei Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 16: »The stringent, ascetic style of the Finja workshop is reminiscent of 11th century Byzantine art, for example, the mosaics in Hosios Lukas in Greece. The iconography is also very influenced by that of Byzantium, clearly demonstrated for example, in the Nativity, where the Virgin lies on a sloping mattress (kline) and Jesus is bathed by midwives […]. The workshop’s direct source must be sought in Germany.« Die Denkfigur des Stemmas und die in ihr enthaltenen, oft völlig unbewussten Prämissen zogen vor allem Vertreter der »New Philology« in Zweifel, so etwa Cerquiglini, Éloge de la variante [1989], bes. S. 73–101. Vor einer Inflation postulierter Zwischenglieder warnt auch Weitzmann, Various Aspects [1966], S. 22f. angesichts der großen Zahl direkter Kontakte zwischen Byzanz und dem Westen. Weitzmann, Various Aspects [1966], S. 23 spricht sich zudem dagegen aus, alle Spuren by-

Das Corpus

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In unserem Zusammenhang jedoch wird Kunst als Element eines politischen Diskurses aufgefasst, in dem die Verbindung zu Byzanz eine elementare Rolle spielt; auf die Rückbindung der fraglichen Malereien an das gleiche soziale Milieu, das die Schriftquellen prägte, wird noch ausführlich einzugehen sein. Folgerichtig werden Besonderheiten in der Ikonographie, die auf byzantinische Vorbilder verweisen, als genau das aufgefasst, was sie sind, und es wird die Möglichkeit einer bewussten Übernahme in Kenntnis der Herkunft zumindest prinzipiell eingeräumt, ohne dass jeder Byzantinismus automatisch als bewusstes und obendrein von Rezipienten verstandenes »Labelling« durch den Auftraggeber aufgefasst oder die typisch westliche Eigenlogik der Bildprogramme an sich geleugnet würde. Dass sich das im Wesentlichen dreizonige Bildprogramm überwölbter byzantinischer Zentralbauten mit Narthex15 nicht in einschiffige dänische Dorfkirchen übertragen ließ und auch angesichts liturgischer Differenzen wenig Sinn ergab, leuchtet ein. Erweist sich jedoch die Rückbindung vereinzelter, als solche auffälliger Byzantinismen an den schriftlich überlieferten Diskurs als erfolgreich, wäre Cutlers Postulat erfüllt, Phänomene in der Kunst mit dem kulturhistorischen Kontext abzugleichen:16 »The problem is not so much whether we can discern the effect of a particular work of medieval Greek art upon a specific Latin manuscript or wall-painting, but rather whether in that specific work or series of works we can recognize an act of preference, be it the painter’s choice from among available models and traditions or evidence of taste on the part of the patron – in other words, the impact of Byzantine art in its historical context rather than in an aesthetic vacuum.«

1.

Das Corpus

Insgesamt finden sich in Dänemark bis an die Wende zum 13. Jahrhundert in 34 Kirchen Malereien, deren Überreste oder Dokumentationen verlorener Fresken, die als signifikant einzustufende byzantinische Züge in ihrer Ikonographie und/ oder ihrem Stil aufweisen. Dabei handelt es sich praktisch ausschließlich um Ausstattungen von einschiffigen romanischen Kirchen aus Stein, von denen seit dem späten 11. Jahrhundert, vor allem aber während des 12. Jahrhunderts in ganz Dänemark etwa 2000 Exemplare entstehen.17 Als Gemeindekirchen sind gerade zantinisch-westeuropäischen Transfers Kontakten des früheren 12. Jahrhunderts zuzuschreiben, und spricht von einer »Unterströmung« fortlaufender Übernahmeprozesse. Eine solche Annahme wird auch hier zu Grunde gelegt. 15 Vgl. zum dreizonigen Programm Demus, Byzantine Mosaic Decoration [1955], S. 11–29. 16 Cutler, Misapprehensions and Misgivings [2000], S. 508. Im gleichen Sinne äußert sich Klein, Aspekte der Byzanz-Rezeption [1998], S. 153. 17 Vgl. zum Kirchenbau Nygård, Det begyndte med en trækirke [1983]; Fenger, Kirker rejses alle

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Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

die frühen, oft sehr kleinen Vertreter nicht ohne weiteres anzusprechen, sondern sie wurden wohl eher als Taufkirchen von lokalen Großen errichtet und führten ihrerseits dazu, dass zuvor geringfügig mobile Dörfer ortsfest wurden und bildeten so selbst erst Kristallisationspunkte für Gemeinden; eine endgültig feste Gemeindestruktur entwickelte sich wahrscheinlich erst nach dem Vierten Laterankonzil.18 Diese Kirchen sind, meist mit gotischen An- und Ausbauten in Form von Gewölben, Türmen und Vorhallen versehen, großteils erhalten. Anders steht es naheliegenderweise mit den Domkirchen, aus denen kein romanisches Ausmalungsprogramm überliefert ist, was seinerseits die Beurteilung der Kathedralbauten als mögliche Schrittmacher von Entwicklungen und damit vor allem die Datierung der Kalkmalereien nach kunsthistorischen Gesichtspunkten weiter erschwert. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Bauten, in welchen bis heute romanische Kalkmalereien vor etwa 1275 erschlossen wurden, auf deutlich über 100, viel mehr als das Doppelte dessen, was 1895 dem Restaurator Julius MagnusPetersen in seinem Corpuswerk bekannt war,19 wovon etwa 35 auf Schonen, Halland und Blekinge entfallen, der Rest auf das heutige Dänemark.20 Da die historische, bauhistorische beziehungsweise kunsthistorische Dokumentation der Kirchenbauten in Dänemark in der äußerst umfangreichen Serie »Danmarks kirker« sehr weit fortgeschritten ist, scheinen Neuentdeckungen zwar keineswegs ausgeschlossen, doch dürfte man inzwischen den Großteil der romanischen Kalkmalereien kennen, die meist Jahrhunderte unter anderen Malereischichten oder Gewölben verborgen lagen und nicht gänzlich zerstört worden waren. Angesichts des geringen Anteils der erhaltenen romanischen Bauten mit romanischen Kalkmalereien von etwa fünf Prozent kann man selbst bei der Annahme eines Verlusts der ganz überwiegenden Mehrheit ausschließen, dass alle romanischen Kirchen primär mit flächendeckenden Malereien ausgestattet gewesen sein müssen; auch zahlreiche Kirchen mit Malereien oder Resten davon waren allein in Apsis, Chor und auf der Triumphwand bemalt, nicht aber im Schiff. Diese Tatsache unterstreicht auch die Verteilung, die ganz unzweideutige geographische Schwerpunkte aufweist, welche sich durch bloßen Überlieferungszufall nicht erklären lassen. Von insgesamt 97 Kirchen mit Kalkmalereien, die in den Zeitraum bis um 1200 datiert werden, entfallen 22 auf Jütland,

vegne [2002], S. 100–110; Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 21f. Vgl. zur Anzahl der Kirchen in Dänemark um die Mitte des 11. Jhs. Adam 4,7, S. 234f. (300 Kirchen in Schonen, 150 in Seeland, 100 auf Fünen). 18 Zu den Kirchen im Kontext der Gemeindeformation Anglert, Kyrkor och herravälde [1995], S. 11–20; zur Gemeindeformation Sawyer, Dioceses and Parishes [1988]. 19 Beskrivelse og Afbildninger, ed. Magnus-Petersen [1895] kennt 43 Monumente aus dem Zeitraum vor 1250. 20 Vgl. die Überblicke bei Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 22f.; Haastrup, Danske kalkmalerier 1175–1275 [1987], S. 16–18.

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überwiegend auf die alten Zentrallandschaften an der Ostküste Mitteljütlands um Jelling, drei auf Fünen, 39 auf Seeland, 33 in Schonen; eine in unserem Kontext relevante und mit seeländischen Parallelen aufs engste verbundene Kirche fand sich in Småland in Schweden. Bei den westdänischen Malereien, unter denen sich die ältesten Vertreter dänischer Kalkmalereien überhaupt befinden, spielt Transfer letztlich aus Byzanz stammender Elemente jenseits direkt aus Sachsen übernommener Vorbilder überhaupt keine Rolle,21 von zwei späten Ausnahmen abgesehen. Geballt zeigen sich dagegen ikonographische Einflüsse im Osten, was der Blick auf eine Karte der frühen Kalkmalereien auch visuell eindrucksvoll unterstreicht: Unser Corpus aus 34 byzantinisierenden Kalkmalereien entfällt mit 17 Vertretern, also der Hälfte, auf seeländische Kirchen, 13 Monumente finden sich in Schonen. Die höchste Dichte byzantinischen Einflusses zeigt demnach die zentrale Insel, genauer drei Schwerpunkte in Mittelseeland, im Nordwesten zwischen Kalundborg und dem Isefjord sowie im Nordosten nördlich von Roskilde, wo die Nachkommen Skjalm Hvides und ihre Verbündeten zumindest nach Valdemars Sieg 1157 ihre Besitz- und Machtzentren hatten.22 Hier weist etwa die Hälfte aller romanischen Kalkmalereien bis etwa 1200 signifikante byzantinische Einflüsse auf, gefolgt von einer etwas geringeren Dichte in Schonen. Hierbei handelt es sich abermals nicht um einen Überlieferungszufall, sondern um das Wirken dreier Werkstätten, die nach ihren Hauptmonumenten Vä (Schonen), Finja (Schonen) und Jørlunde (Seeland) benannt sind und im 12. Jahrhundert für seeländische und schonische Große sowie die Könige tätig waren. Im Folgenden seien die Kirchenbauten, die Kalkmalereien und ihre Besonderheiten als Grundlage ihrer weiteren Besprechung aufgelistet, wobei relevant erscheinende Elemente mit fetten Aufzählungszeichen hervorgehoben sind. 21 Es handelt sich um eine Gruppe aus Kalkmalereien in Jelling, Ørreslev, Raasted und Horslev, die in den Zeitraum um 1080–1100 datiert wird, vgl. Haastrup, Jellingværkstedets forbilleder [1986]; Haastrup, Triumfvæggens billeder [1986]. 22 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 19–46, 88 bemerkt in seiner grundlegenden Untersuchung, dass durch das Sorø Klosters Gavebog und die Testamente der Hvide deren Gut so präzise wie das keiner anderen Familie einzuschätzen sei. Extrapolierte man die bekannten Besitztümer von Absalon und seinem Bruder Esbern Snare, hätten die Hvide etwa 50 % der Fläche Seelands besessen, was aber zu hoch geschätzt sein dürfte. In jedem Fall war der Besitz gut arrondiert und kaum verstreut; im 12. Jh. dominierten Großgüter noch weitgehend über die wenig verbreitete Hufenbewirtschaftung durch Pächter (so Ulsig, Oldest Documented Manors [2011], S. 218–221). Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 39f. macht folgende Orte als Kerne der Hvide-Güter ausfindig: Læssøholm und Holbæk (Nordwestseeland), Pedersborg (Mittelseeland), Hårlev (Ostseeland), Knardrup (Nordostseeland) und Bjernede (Mittelseeland), was ausgezeichnet mit dem Verteilungsmuster unserer Kalkmalereien harmoniert, vgl. die Faltkarte. S. auch die Liste der Güter bei Halding/ Johansen, Thi de var af stor slægt [2001] und Kræmmer, Efterslægtstavle for Skjalm Hvide [2011], S. 538–540.

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Die Vä-Werkstatt 1. Vä, Nordostschonen: Es handelt sich um eine verhältnismäßig große Kirche auf einem Königshof, die wohl bald nach dem Beginn von Valdemars Alleinherrschaft 1157 an den Dompropst Simon von Lund überging, der 1158 Bischof von Odense wurde und sie seinerseits noch vor dem Exil des Erzbischofs Eskil ab 1161 an die Prämonstratenser übertrug.23 Die Baugeschichte, für uns vor allem aufgrund der Datierungsproblematik von zentraler Bedeutung, ist kompliziert;24 begonnen wurde der Steinbau mit 1804 abgerissenen Westtürmen wahrscheinlich im Osten an eine ältere Holzkirche anschließend,25 mit einem quadratischen Chor mit geradem Abschluss, der offensichtlich ein auf Säulenvorlagen ruhendes Kreuzgratgewölbe erhalten sollte, im frühen 12. Jahrhundert; der früheste Bauabschnitt zeigt sich vom Baustil des 1145 geweihten Doms zu Lund noch unbeeinflusst. Nach der Fertigstellung des restlichen Steinbaus im Westen wurde dieser Chor, dessen Kreuzgratgewölbe wahrscheinlich nicht fertiggestellt wurde und der stattdessen eine Holzdecke erhalten hatte, mit einer Rundapsis erweitert, die wiederum Querbezüge zu Lund aufweist, und erhielt in diesem Zuge ein Tonnengewölbe; offenbar bei Integration in das Kloster, dessen heute verschwundene Gebäude nach der Erweiterung des Chores entstanden, wurde in die Südwand des Chores eine Verbindungstür gebrochen. Als sich das Gebäude in diesem Zustand befand, wurde es mit Kalkmalereien versehen, die in der Apsis und im Chor fragmentarisch erhalten sind, wobei wie überall in Dänemark die oberen Wandpartien und die weniger von Temperaturschwankungen betroffene Nordseite des Gebäudes einen besseren Erhaltungszustand aufweisen. Die Malereien in der Apsis waren bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt, der Rest wurde bei Restaurierungen 1963 bis 1966 entdeckt. Weitere Reste stilistisch identischer Malereien fanden sich in der 23 Es existieren 2 Stiftungsbriefe ohne Datum, einer von Simon nach seiner Erhebung zum Bischof (DD 1,3, Nr. 12, S. 12–14), in welcher er mit des Erzbischofs Eskil und des Königspaars Valdemar und Sophia Zustimmung die in seinem Besitz befindliche Kirche als Kern des Klosters schenkt, und einer von Eskil (ebd. Nr. 13, S. 14–16), der weitere Besitztümer überträgt. Beide wurden von Skyum-Nielsen, De ældste privilegier [1952], S. 3–8 in den Kontext des Krönungsfestes von Ringsted 1170 verortet. Datieren kann er jedoch allein Eskils Urkunde aufgrund der umfangreichen Zeugenliste in den Zeitraum 1167–1172; dass Simons Schenkungsbrief gleichzeitig sein muss und nicht älter sein kann, ist angesichts der total verschiedenen Inhalte eine bloße Konjektur. Der Zeuge Stephan von Uppsala ist in ersterem Privileg zudem noch episcopus, nicht archipesicopus, die Zeugenlisten beider Urkunden stimmen bis auf Eskil nicht überein, was gegen eine so späte Datierung von Simons Stiftungsbrief spricht und für eine Datierung nach 1158, jedenfalls vor den Beginn von Eskils Exil aufgrund des Schismas 1161 (Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 59–61; Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], S. 120f.). 24 Zur Baugeschichte s. auch im Folgenden die ausführliche Untersuchung von Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 15–74; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 58–63. 25 Zu dieser Möglichkeit Ochsner: Bygget kring mysteriet [1992], S. 53–55.

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Abb. 18: Vä kyrka, Äußeres im späten 20. Jahrhundert aus Südosten, aus: Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], Fig. 4, S. 12.

Abb. 19: Vä kyrka, Äußeres um die Mitte des 12 Jahrhunderts aus Süden (Rekonstruktionsversuch durch Henrik Græbe), aus: Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], Fig. 14, S. 21.

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Abb. 20: Vä kyrka, hypothetische Rekonstruktion des Bauzustands um 1120 mit einem an eine Stabkirche angebauten Steinchor, aus: Ochsner, Drottningarnas Vä [1991], S. 105.

westlichen Empore, die wahrscheinlich im Zuge der Übertragung an die Prämonstratenser von einer ursprünglichen Herrschaftsgalerie in eine Kapelle umgebaut wurde, wobei die mittlere von drei Arkadenöffnungen zugemauert und zu einer Altarnische umgestaltet wurde. Das Ausmalungsprogramm, anspruchsvoll ausgeführt vor einem lapislazuliblauen Hintergrund im italo-byzantinischen Stil, der seine Parallelen vornehmlich im Lateineuropa des früheren 12. Jahrhunderts findet,26 zeigt in der Apsiskonche eine Maiestas Domini mit sechsflügeligen Wesen; Christus thront auf einem Regenbogen. Im abschließenden Bogen finden sich sieben Medaillons mit Tugendpersonifikationen als Brustbilder. Unter der Maiestas sind nördlich eines zentralen, ursprünglichen Fensters a) Reste eines Engels, wohl des Erzengels Michael, in geringfügig abgewandelter byzantinischer Hoftracht zu identifizieren,27 sowie eine Marienfigur in roter Kleidung mit Maphorion erhalten (Abb. 22). 26 Zu den in den 1960er-Jahren entdeckten Kalkmalereien Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 74–94; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 64–67; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of WallPaintings 3 [1976], S. 192–197; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 7–10; Lindell-Andersson, Afdækning og restaurering [1986]; Kaspersen, Majestas Domini [1986]; Kaspersen, Italo-byzantinsk stil [1986]; Ochsner: Drottningarnas Vä [1991]; besonders Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 97–105. Während Græbe in den Zeitraum um 1170 datiert, vertritt besonders Kaspersen aufgrund von Stilvergleichen eine frühe Datierung in die 1120er-Jahre. 27 Haastrup, Byzantinsk klædte ærkeengle [2014], S. 7–12: Die Erzengel sind im Gegensatz zu den übrigen Engeln nicht in einfarbige Gewänder, sondern in gemusterte Seidenstoffe gehüllt und tragen rote Schuhe, wofür eine byzantinische Ikonographie wie auf der Limburger Staurothek (10. Jh.) als Vorbild fungierte; sie tragen Lilienszepter oder ein Labarum sowie eine Kosmoskugel. Zwar fehlt ihnen der in Byzanz übliche Loros, welchen der Basileus und die höchsten Würdenträger zu Hochfesten anlegen, doch scheint diese edelstein- und perlenbesetzte Schärpe umgedeutet zu sein zu einer Art Gürtel mit herabhängendem Ende. Ähnliche Erzengeldarstellungen finden sich auch in Råsted und Hvorslev in Jütland bei

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Abb. 21: Vä kyrka, Chor und Apsis, aus: Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], Fig. 68, S. 75.

Michael als Drachentöter sowie in Alsted, Sønder Jernløse, Hagested, Butterup, Holme Olstrup, Slaglille und Vester Broby in Seeland sowie in Hofterup in Schonen bei Erzengeln, welche die Maiestas Domini in der Apsis mit Maria und Johannes dem Täufer flankieren.

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Abb. 22: Vä kyrka, nördlicher Teil der Apsiskuppel (Detail: ein Erzengel und eine Maria orans) aus: Haastrup, Byzantinsk klædte ærkeengle [2014], Fig. 2, S. 10.

Zwei weitere Heilige, möglicherweise Peter und Paul, sind aufgrund des nachträglichen Einbaus eines Fensters nicht mehr zu erkennen. Nördlich des zentralen Fensters sind keine Reste vorhanden; Søren Kaspersen geht davon aus,

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dass Maria durch Johannes den Täufer gegenüber gespiegelt wurde.28 Im mit Sternen verzierten Tonnengewölbe findet sich in einer für Dänemark einmaligen Komposition eine bildliche Umsetzung des Te Deum: In 24 Medaillons, angeordnet in sechs Reihen, finden sich im Scheitel je paarweise Engel, Cherubim und Seraphim, in den jeweils unteren vier Reihen wieder paarweise Propheten und Märtyrer, die Spruchbänder mit dem Text de Te Deum halten; wiederum tragen die Erzengel byzantinische Hofkleidung. Sie werden ergänzt durch die Apostel im Westen des Chores oberhalb des Triumphbogens. Auffallend sind b) eine Theotokos Blachernitissa beziehungsweise Maria orans mit vor der Brust nach außen gewandten Handflächen als Brustbild in einem Medaillon, das sich an der Ostwand des Chores oberhalb des Scheitels des Apsisbogens befindet (Abb. 23); es ist flankiert von zwei Medaillons mit Engeln. Das Bild im Medaillon ähnelt damit der Rezeption der byzantinischen Blachernitissa in Mosaiken und Kleinkunst der venezianischen Lagune; mutatis mutandis ähnelt ihre Position als Intercessorin in der Nähe des Pantokrators derjenigen in byzantinischen Kirchen, doch befindet sie sich dort unterhalb Christi.29 Auffälliger jedoch sind c) die Bilder zweier nicht näher identifizierter königlicher Stifter, die sich auf gleicher Höhe wie das heilige Bildpersonal an der Ostwand des Chores jeweils rechts und links der Öffnung zur Apsis befinden, wobei die Königin auf der linken Seite das Kirchenmodell hält, während der König augenscheinlich als Mitdonator auftritt und einen Reliquienschrein präsentiert (Abb. 24–26). Die Stifter weisen – ganz im Gegensatz zu üblichen Stifterbildern in der Wandmalerei – den gleichen Größenmaßstab auf wie die Heiligen in der Apsis und die benachbarten Prophetenfiguren im Apsisbogen selbst. Sie werden ohne Intercessoren abgebildet, wenn man von der byzantinisch inspirierten Maria orans oberhalb des Scheitels am Tribunbogen absieht. Lebensgroße oder nur minimal verkleinerte Stifter jedoch begegnen, mit Ausnahme der byzantinisch inspirierten Malerei in der Silvesterkapelle zu Goldbach bei Überlingen aus dem späten 10. Jahrhundert,30 außerhalb der byzantinischen Kunst nicht.31 In Dänemark dagegen ist Vä nur eines von vielen Beispielen und 28 Kaspersen, Majestas Domini [1986], S. 98. 29 LCI 3, Sp. 166f., 181. 30 Hier befinden sich die inschriftlich als Ihltepurc (nördlich) und Winidherre (südlich) identifizierten Stifter mit den Intercessoren Martin und Priscinianus ganz oben an der Triumphwand zu beiden Seiten einer Maiestas-Darstellung; vgl. Hecht/Hecht, Die frühmittelalterliche Wandmalerei [1979], S. 48f. sowie Abb. 61–72, S. 401–411; Reichwald, Die Sylvesterkapelle in Goldbach [1998], S. 204f.; zur Einordnung in die Geschichte des Stifterbildes Lipsmeyer, The Donor and His Church Model [1981], S. 68f.; Jäggi, Überlegungen zu Stifterdarstellungen [2002], S. 109f. 31 Weder Demus, Romanische Wandmalerei [1968] noch das LCI (s. Dedikationsbild: 1, Sp. 491– 493) oder Lipsmeyer, The Donor and His Church Model [1981] verzeichnen romanische

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Abb. 23: Vä kyrka, Triumphbogen vom Chor aus gesehen (Detail: Theotokos Blachernitissa im Medaillons) aus Græbe: SK Skåne 3,1 [1971], Fig. 87, S. 85.

der Repräsentant eines ostdänischen Stiftertypus, der grundsätzlich gleich groß wie die Heiligen dargestellt ist und ohne Intercessor auskommt. Jenseits der stark

Parallelen zu diesem Phänomen. Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 100 sehen Parallelen in Byzanz, Sizilien und der Rus’, an letzteren beiden Orten aber nur mit Intercessores, etwa in Monreale, wo Guillaume II. in einem Mosaik an einem Pfeiler der Kathedrale Maria ein Kirchenmodell reicht; vgl. auch Haastrup, Danske kalkmalerier 1080– 1175 [1986], S. 58–60. Vgl. zur Entwicklung des Stifterbildes im Westen, v. a. in der Portal- und Sepulchralskulptur, Lipsmeyer, The Donor and His Church Model [1981], bes. S. 105–110; Jäggi, Überlegungen zu Stifterdarstellungen [2002].

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Abb. 24: Vä kyrka, Anordnung der Stifterbilder im Chor nördlich und südlich des Tribunbogens, Zeichnung aus: Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], Fig. 50, S. 52

beschädigten Stifterbilder an der Ostwand sind die Malereien an den Wänden des Chores nicht mehr zu deuten; das gleiche trifft für die Westwand unterhalb der Aposteldarstellung zu. Die Malereien in Vä gelten stilhistorisch betrachtet als Hauptwerk der frühesten ostdänischen Wandmalerei. Die übrigen sechs Kirchen der Vä-Werkstatt sowie vier stilistisch verwandte Vertreter, die aufgrund ihrer Ornamentik von Susanne Stangier gruppiert und von Søren Kaspersen eingehend als Produkte einer Werkstatt analysiert wurden,32 befinden sich jedoch 32 Kaspersen, The Vä Master [2003] zählt die Malereien in Gundsømagle, Sæby ved Tissø, KirkeHyllinge, Skibby, Vejby und Valby zur Gruppe, wobei in letzteren beiden nur kleine Frag-

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Abb. 25: Vä kyrka, Ostwand des Chores (Detail nördlich des Bogens: Fragmente einer königlichen Stifterin mit Kirchenmodell), aus: Haastrup/Lind, Royal Family Connections [2013], Fig. 4, S. 388.

mente erhalten sind. Stilistisch ähnlich sind Tybjerg und Sønder Jernløse sowie Tveje Merløse und Kirkerup, wobei die letzteren beiden einen stilistischen Übergang zur späteren JørlundeGruppe markieren. Erhebliche Unsicherheiten stilistischer Zuschreibungen offenbart beispielsweise die Zuordnung der Malereien in Skibby, die von Kaspersen zu den frühen Vertretern gerechnet werden, die aber Hjort, Majestas Domini og Dommedag [1986], S. 172f. zeitlich analog zur Jørlunde-Gruppe sieht. Vgl. dazu unten, S. 511f. Aufgrund der Ausstattung der Chorbögen mit Medaillons vor einem Prismenstabhintergrund gruppiert Stangier, Ornamentstudien [1995], S. 278 Gundsømagle, Kirke-Hyllinge, Sæby ved Tissø, Kirkerup, Kirke-Hyllinge, Tybjerg und Valby.

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Abb. 26: Vä kyrka, Ostwand des Chores (Detail südlich des Bogens: Fragmente eines königlichen Stifters mit Schrein), aus: Haastrup/Lind, Royal Family Connections [2013], Fig. 5, S. 389.

durchweg recht weit entfernt in Seeland, zeigen dort aber eine verblüffende Rückbindung an das Skjalmkollektiv, sofern sich die Gutsstrukturen des Hochmittelalters noch nachvollziehen lassen. Der Kirche zu Vä kommt in der Analyse auch deshalb eine zentrale Bedeutung zu, weil stilhistorische, auf eine frühe Entstehung verweisende und bauhistorische, für eine spätere Datierung sprechende Anhaltspunkte sich hier scheinbar entgegenstehen und das Stifterpaar mit der königlichen Hauptstifterin weitere Anhaltspunkte für eine Rückbindung liefern kann. Unter anderem mit ihr steht und fällt die Frage, ob man Elemente wie die lebensgroßen Stifter zeitlich und soziopolitisch im Zusammenhang mit der Byzantinophilie der Schriftquellen sehen kann, und in welche

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Jahrzehnte man aus historischer Sicht die Tätigkeit der Malerwerkstätten zu verorten hat.33 2. Gundsømagle, Nordostseeland: Das Kirchengebäude, errichtet ohne Einbeziehung eines Vorgängerbaus, stammt gemäß Dendrodatierung aus dem frühen 12. Jahrhundert; ein Bohrkern aus einem über dem Chorgewölbe liegenden Balken, der zur ursprünglichen flachen Holzdecke gehört, freilich ohne erhaltene Waldkante, lässt auf eine Errichtung um 1100 oder etwas danach schließen, ebenso Proben aus den Sparrenschuhen im Chor.34 Die verhältnismäßig dünnen Mauern von etwa 75 bis achtzig Zentimeter Stärke aus Travertin und Findlingen sind typisch für dänische Kirchenbauten vor etwa 1150;35 die ursprünglich runde Apsis ist verloren. Als Stifter kommen definitiv die Hvide in Frage, die hier über ausgedehnte Besitztümer verfügten. 1171 bestätigt Absalon dem Abt Vilhelm eine alte Schenkung von Grund und Boden in Gundsømagle an das Kloster Eskilsø, das nach der Augustinerregel reformiert und 1167 nach Æbelholt verlagert worden war.36 Die Reste der Malereien in der Kirche gelten als das früheste bekannte Werk der Vä-Werkstatt und die ältesten ostdänischen Wandmalereien überhaupt, sowohl in stilistischer wie auch in technischer Hinsicht:37 Der Malputz ist hier ohne ausgleichende Schicht direkt auf den grobkörnigen, mit Holz- und Kohlestückchen durchsetzten Fugenmörtel aufgetragen, der seinerseits zum Verschließen der durchgehenden Gerüstlöcher in den Mauern und zur Herstellung einer deckenden Putzschicht benutzt sowie vom Maurer mit einem Fugenmuster versehen wurde. Wann die Kalkmalereien angefertigt wurden, ist bautechnisch nicht mehr festzustellen. Zwar interpretieren Ulla Haastrup und John Lind die Tatsache der durchgehenden Gerüstlöcher dahingehend, dass die Kalkmaler das gleiche Gerüst wie die Maurer benutzten und unmittelbar nach ihnen arbeiteten.38 Demnach hätten die oberen Partien der al fresco gemalten Bilder angefertigt worden sein müssen, bevor die Gerüstlöcher vom Maurer verschlossen wurden, was sich nicht recht mit der Tatsache verträgt, dass eine geschlossene Fläche aus ein und demselben Fugenmörtel vor dem Auftrag des Malgrunds die Wand bedeckte. Auch widerspricht der Auftrag des Malgrunds direkt auf den 33 Die Diskussion folgt unten, S. 538ff. 34 Zum Bau und der Ausstattung allgemein Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 2 [1946], S. 774–785, zum aktuellen Erkenntnisstand nach einer Restauration von 1987 inkl. der Dendrodatierung Græbe/Als Hansen/Stiesdahl, Gundsømagle kirke [1990]. 35 Gemäß der Typologie, welche Anglert, Kyrkor och herravälde [1995], S. 78–85 für schonische Kirchen entwickelt. 36 DD 1,3, Nr, 20, S. 24–28, hier S. 27 (s. Guthensø). 37 Vgl. zur stilistischen Einordnung v. a. Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 111–114 sowie Græbe/Als Hansen/Stiesdahl, Gundsømagle kirke [1990]. 38 Haastrup/Lind, Royal Family Connections [2013], S. 385–387; so auch schon Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 23f.

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Mörtel der üblichen Verfahrensweise, bei der zunächst mindestens eine weitere grobe Putzschicht als Träger der Kalkmalereien aufgetragen und dann zwecks besser Haftung des Intonaco behauen wurde, oft auch eine weiße Kalkschicht, auf welcher die Unterzeichnungen angebracht werden.39 Dass die Schicht aus Fugenmörtel deckend war und von den Malern als hinreichende Unterlage aufgefasst wurde, muss nicht unbedingt für eine noch primitive Technik sprechen, sondern kann auch bedeuten, dass die Maurer bewusst eine optisch hochwertige Wandfläche hinterließen, weil deren Bemalung zum Erbauungszeitpunkt noch nicht in Aussicht stand. Das Alter der Kirche bietet also weiterhin keinen Anhaltspunkt außer einem terminus post quem. Die Annahme einer grundsätzlichen Gleichzeitigkeit der Malereien mit den Gebäuden muss Spekulation bleiben, ist aber in vielen Fällen, etwa bei der später arbeitenden JørlundeGruppe, angesichts des stilistischen Wandels, der eine diachrone Abfolge belegt, zu verneinen, sind doch die Gebäude etwa gleich alt. Dennoch hat man die Kalkmalereien in Gundsømagle in Zusammenhang mit dem Bildprogramm der schon im Mittelalter durch einen Nachfolgerbau ersetzten Travertin-Kathedrale zu Roskilde gebracht, die unter dem Bischof Svend Nordmand errichtet worden war, der auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem Byzanz erreichte und 1088 auf Rhodos starb.40 Deren Ausmalungen hatte gemäß dem Chronicon Roskildense Svends Nachfolger Arnold (1088–1124) erneuern lassen (renovavit),41 und in diesem Zusammenhang lassen sich die Malereien in Gundsømagle und ihre Byzantinismen frühestens sehen. Auf diese Weise ließe sich ein spekulativer Kontext einerseits zu den Reliquien und ornamenta herstellen, die Svend Nordmand laut Saxo aus Byzanz nach Roskilde schickte, und andererseits über den deutschen Bischof Arnold sowie möglicherweise über die Gaben, die Erik Ejegod erhielt und ins nahe Slangerup schickte,42 ein Konnex zur ersten Welle byzantinischen »Einflusses« auf den Westen nach dem Ersten Kreuzzug und spezifisch dänisch-byzantinischen Verbindungen. Erhalten sind im Triumphbogen a) drei sehr stark restaurierte, nimbierte Büsten in Medaillons (Abb. 27); nach einem Brand im Jahre 1987 wurden außerdem b) an der Nord- uns Südwand des Chores Reste von Aposteldarstellungen gefunden, die stilistisch mit den Mosaiken in Hosios Loukas (um 1050) verglichen wurden, jedoch im Vergleich mit Vä als frühere Arbeit derselben Werkstatt eingeschätzt wurden (Abb. 28–29).43

39 Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 28–32. 40 So Græbe/Als Hansen/Stiesdahl, Gundsømagle kirke [1990], S. 149. Vgl. zum Hintergrund D2, D48, D67. 41 CR, Kap. 11, S. 25. 42 Dazu oben, S. 379 mit Anm. 367. 43 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 113. Die Maltechnik bei Gesichtern in der byzantinischen

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Abb. 27: Gundømagle kirke, Triumphbogen (Detail: nimbierte Büsten), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/ gundsoemagle-4000/gun4000krb007.JPG (03. 03. 2015).

und romanischen Kunst behandelt ausführlich Winfield, Middle and Later Byzantine [1968], S. 127–131.

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Abb. 28 und Abb. 29: Gundsømagle kirke, Nordwand des Chores (Details: Fragmente von Aposteln), aus: Kaspersen, The Vä Master [2003], Fig. 11a-b, S. 112.

»The physiognomies of the apostles in Gundsømagle Church are clearly based on Byzantine models – even traces of olive green shadings were found, and they are executed with such mastery that the artist may have come directly from one of the ItaloByzantine centers in southern Europe.«

Henrik Græbe, Birgit Als Hansen und Hans Stiesdahl halten es dagegen für möglich, dass es sich hierbei bereits um eine selbständige dänische Malereitradition handeln könne, die sich seit dem 11. Jahrhundert anhand byzantinischer und byzantinisch beeinflusster deutscher Vorbilder entwickelt habe,44 sich aber nirgends mehr greifen lässt. Hierzu bleibt anzumerken, dass die ältesten jütischen Kalkmalereien, die definitiv am Ende des 11. Jahrhunderts oder um die Jahrhundertwende entstanden, keinerlei stilistische oder ikonographische Querbezüge zu den ostdänischen aufweisen,45 und dass eine derartige Frühdatierung Probleme mit anderen Kirchenbauten ergibt, die nicht so früh errichtet oder entsprechend fertiggestellt worden sein können, so dass man die Arbeit der

44 Græbe/Als Hansen/Stiesdahl, Gundsømagle kirke [1990], S. 149. 45 Haastrup, Jellingværkstedets forbilleder [1986].

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Vä-Werkstatt gerade im Falle Väs selbst auf vier bis fünf Jahrzehnte strecken müsste.

Abb. 30: Sæby ved Tissø, Apsis. Fotografie: Roland Scheel (2011).

3. Sæby ved Tissø, Westseeland: Die Kirche steht bei einem in prähistorische Zeit zurückreichenden, herrschaftlichen Hofkomplex, wo auch ein byzantinisches Bleisiegel des 9. Jahrhunderts gefunden wurde, das zwar für den byzantinischen Einfluss im Mittelalter nichts besagt, jedoch die kontinuierlich hohe Bedeutung des Ortes unterstreicht.46 Zwar verfügen wir nicht mehr über hochmittelalterliche Zeugnisse bezüglich des Besitzers, doch konstatiert der Renaissance-Historiograph Arild Huitfeldt, dass kein anderer als der bekannte Esbern Snare hier gelebt habe, der nicht unweit in Kalundborg gegen Ende des 12. Jahrhunderts seine fünftürmige Kreuzfahrerkirche errichten ließ. Man kann also davon ausgehen, dass der Hof sich schon früher im Besitz der Hvide befand, als die Kirche in Sæby ausgestattet wurde. Offenbar ersetzte die Steinkirche aus

46 Zur Kirche Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 2 [1982], S. 893–939, zum Siegel oben, S. 25f. mit Anm. 25.

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Abb. 31: Sæby ved Tissø, Triumphbogen (Detail: eines von fünf Medaillons mit Darstellungen der Tugenden), aus: kalkmalerier.dk, Archivnr. 907 (22. 11. 2013).

Travertin und Feldgranit im 12. Jahrhundert, die etwas dickere Mauern aufweist als Gundsømagle, sukzessive einen Vorgänger aus Holz; der Chor mit Rundapsis war zunächst im Westen mit dem Holzbau verbunden, bevor auch dieser durch ein Schiff aus Stein mit wenig später angebautem, schmalem Westturm und Herrschaftsgalerie umbaut und abgelöst wurde. Da sich Reste der frühesten Kalkmalereien auch auf der Triumphwand fanden, gehören diese zum fertigen Steinbau.

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Die Malereien,47 ebenfalls von der Vä-Werkstatt ausgeführt, jedoch auf einer weiteren Putzschicht liegend, zeigen unter einer Maiestas Domini in der Rundapsis vor einem lapislazuliblauen Hintergrund, außerdem, ihm zugewandt, a) eine Maria orans, wie sie in Byzanz oft unterhalb des Pantokrators begegnet (Abb. 30). B) finden sich im Triumphbogen fünf Medaillons mit Brustbildern von Tugenden, die als byzantinische Prinzessinnen ohne Glorien dargestellt sind (Abb. 31): Sie tragen langes Haar, lange Ohrringe mit Perlen und Kronen, ähnlich wie sie in Byzanz auf Münzen, Gemmen, Emails oder auch Diademen dargestellt werden.48 4. Kirke-Hyllinge, Nordseeland: Die Travertinkirche mit Rundapsis besaß ursprünglich im Westen eine Doppelturmfassade und zählt gemeinsam mit Tveje Merløse zu den frühesten Vertretern dieses Bautyps.49 Der einzig bekannte Großhof des Mittelalters in jener Gegend zwischen Isefjord und Roskildefjord lag im Kirke-Hyllinge benachbarten Sæby und gehörte um 1250 Anders Pincerna, dessen Frau Cecilie die Urenkelin des Sune Ebbesen aus dem Hvidegeschlecht war;50 die äußerlich ähnliche Kirche zu Tveje Merløse mit ihrer seltenen Doppelturmfassade stand definitiv bei einem großen Besitzkomplex des Hvide. Auf einer Putzschicht, die offenbar von den Maurern innen wie außen aufgebracht wurde, findet sich die Malschicht; hiervon ist lediglich die Ausstattung im Triumphbogen erhalten.51 Dieser enthält wie Sæby eingebettet in eine Prismenstabborte Medaillons, aufgrund der geringeren Größe der Kirche jedoch nur drei von ihnen: Im Scheitel findet sich a) eine byzantinisierende Maria orans sehr ähnlich derjenigen oberhalb des Apsisbogens in Vä, zu den Seiten zwei Brustbilder männlicher Heiliger. 5. Tybjerg, Mittelseeland: Die im 15. Jahrhundert im Bereich des Schiffs und des Turms erheblich umgebaute Kirche ohne erhaltene Rundapsis wurde um 1175 aus Kalkstein erbaut.52 Da der Tybjerggård als größte Besitzeinheit am Ort den Hvide gehörte, ist ein Zusammenhang der Kirchenausschmückung mit

47 Hier und im Folgenden Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 25, S. 40f., 81–85, 102–108; Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 2 [1982], S. 906–910; Haastrup, Motiver i korbuer [1986]; Kjær, Apsis og restaureringshistorie [1986]; Bolvig, Kalkmalerier i Danmark [1999], S. 175; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 108–111. 48 LCI 4, Sp. 365; Haastrup, Motiver i korbuer [1986]. 49 Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 2 [1982], S. 905–920. 50 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 25f., 56, 66f. 51 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 81f., 102f.; Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 2 [1982], S. 909–912; Haastrup, Motiver i korbuer [1986]; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 110f. 52 Jensen/Hermansen, DK Præstø Amt 2 [1933–1935], S. 607–610.

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Abb. 32: Kirke-Hyllinge kirke, Triumphbogen (Detail: Medaillon mit Theotokos Blachernitissa im Scheitel), Fotografie von Konservator Eigil Rothe unmittelbar nach der Freilegung 1912, aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang, S. 102.

ihrem Auftrag wahrscheinlich.53 Erhalten war neben Fragmenten im Chor abermals lediglich die Malerei im Triumphbogen mit drei Medaillons, die im Scheitel das Lamm Gottes zeigen, flankiert von a) zwei gekrönten weiblichen Heiligen oder Tugenden mit Nimben, welche eine typisch byzantinische Orantenhaltung zeigen (Abb. 33). Zwar wurden die Malereien in den 1880er-Jahren von Jacob Kornerup sehr stark restauriert – im Chor kann man von einer kompletten Rekonstruktion beziehungsweise Neuschöpfung sprechen, die hier nicht berücksichtigt ist – doch vergleicht Søren Kaspersen ihren Stil mit demjenigen der Vä-Werkstatt, macht

53 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 23–27, 36–40, 77.

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Abb. 33: Tybjerg kirke, Triumphbogen (Detail, Norsdseite), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/tybjerg-4160/tyb 4160krb010.jpg (23. 11. 2013).

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aber auf eine lineare Darstellung der Gewandfalten aufmerksam, die von der VäGruppe abweicht.54 6. Sønder Jernløse, Nordwestseeland: Der Kirchenbau aus Granit und Travertin an Fenstern und Türen mit primärem Westturm ist mit Hilfe des östlichsten Balkens der ursprünglichen Holzdecke im Schiff auf die Zeit um 1125 datiert; der frühen Datierung entspricht die Abwesenheit eines Sockels an den Außenmauern und von Verzierungen im Mauerwerk gerade der Apsis unterhalb der Traufkante.55

Abb. 34: Sønder Jernløse kirke, Äußeres, aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/soender-jernloese-4420/soen4420e1. jpg (03. 03. 2015)

Die Besitzverhältnisse zum Erbauungszeitpunkt der Kirche sind hier unklar, doch befindet sich 1286 der große Knabstrubgård in der Gemeinde im Besitz der Hvide; Sønder Jernløse liegt zudem in einem Raum, in welchem die Hvide über einen Besitzschwerpunkt verfügten.56 Wem der ergrabene, reiche Hofkomplex 54 Jensen/Hermansen, DK Præstø Amt 2 [1933–1935], S. 610–614; Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 39; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 113–115; Jensen, Tre restaureringer [1986]. 55 Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 1 [1979], S. 129–159, die Datierung Hylleberg Eriksen, Nationalmuseets Naturvidenskabelige Undersøgelser, rapportblad [2007]. 56 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 76.

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direkt bei der Kirche gehörte, ist indes nicht mehr festzustellen, doch verweisen eine dort gefundene Porphyrplatte und ein Pilgerzeichen mit Petrus und Paulus auf eine erhebliche Mobilität und mögliche direkte Kontakte mit Byzanz im 12. Jahrhundert.57

Abb. 35: Sønder Jernløse kirke, Apsis, aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/soender-jernloese-4420/soen4420 ashb007.jpg (03. 03. 2015).

Die Kalkmalereien58 der ursprünglich auch mit farbigen Glasfenstern ausgestatteten Kirche zeigen sich nicht nur stilistisch sehr stark byzantinisch beeinflusst. Die a) Maiestas Domini, bei der Christus auf einem Regenbogen thront, zeigt ihn mit Schriftrolle, er erhebt die Rechte mit der benedictio graeca vor der Brust, die bei keiner anderen Maiestas-Darstellung in unserem Corpus begegnet (Abb. 35–36). Flankiert war die Maiestas b) von einer bei unseren ostdänischen Kirchen recht häufig begegnenden Deesis-ähnlichen Konstellation, indem nördlich

57 Vgl. Liebgott, Jernløsegård [1980]. 58 Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 1 [1979], S. 137–142; Fleischer, Korbuefigurernes stil [1986]; Hjort, Majestas Domini [1986]; Haastrup, Apostlen Thomas’ helgenlegende [1986]; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 115f; Haastrup, Byzantinsk klædte ærkeengle [2014], S. 14–16.

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Abb. 36: Sønder Jernløse kirke, Apsis (Detail: thronender Christus), aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 108.

Maria dargestellt ist und sich südlich wohl Johannes der Täufer befand, außen flankiert von Erzengeln in byzantinischer Hofkleidung, von denen der nördliche bewahrt ist. Diese Ikonographie begegnet außer in Vä noch bei der FinjaWerkstatt in Slaglille, Alsted, Vester Broby in Seeland und Hofterup in Schonen

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sowie bei der Jørlunde-Werkstatt in Hagested, Butterup, Vester Broby sowie in Fragmenten auf der Triumphwand in Holme-Olstrup in Seeland.59 Weiterhin finden sich im Triumphbogen vier männliche Heilige, von denen sich einer als Thomas identifizieren lässt. Über ihnen ist c) eine Blachernitissa in einem Medaillon als Brustbild zu sehen; sie erhebt ihre Hände nicht wie in der Vä-Gruppe vor der Brust, sondern seitlich der Schultern (Abb. 37).

Abb. 37: Sønder Jernløse kirke, Triumphbogen (Detail: Theotokos Blachernitissa im Medaillon), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/soender-jernloese-4420/soen4420krb002.jpg (23. 11. 2013).

Außerdem fand sich möglicherweise d) auf der Triumphwand, dem Schiff zugewandt, eine Darstellung des Jüngsten Gerichts, wie sie in den Kirchen der Finja-Werkstatt häufig begegnet und dort behandelt wird; dies ist ein völlig unüblicher Ort für Gerichtsdarstellungen in lateineuropäischen Kirchen. Dass sich im Chor weiterhin Reste von Szenen aus der Geschichte des Apostels Thomas fanden, ist unter den Ausmalungsprogrammen, die ganz überwiegend Bibelszenen darstellen, ebenfalls selten. Ulla Haastrup sieht einen Zusammenhang mit dem nahen, 1104 gegründeten und Thomas geweihten Kloster zu Eskilsø, das 1167 nach Æbelholt verlagert wurde.60 Sollte ein Bezug der Kirche zu den Stiftern 59 Haastrup, Byzantinsk klædte ærkeengle [2014] (wie Anm. 27). 60 Haastrup, Apostlen Thomas’ helgenlegende [1986].

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bestehen, verwiese das wie schon bei Gundsømagle (Nr. 2) abermals auf die Hvide. Die schlanken, elongierten Figuren der technisch besonders sorgfältig ausgeführten Malereien und der Faltenwurf der Gewänder verweisen ebenso wie die Tracht der Erzengel auf byzantinisch beeinflusste Vorlagen oder auch auf byzantinische Kleinkunst etwa in Emailarbeiten vor dem Durchbruch des so genannten »dynamischen Stils« in Byzanz. Damit ähneln sie trotz Differenzen im Detail der Vä-Gruppe.61 7. Skibby, Nordseeland: Die aus Travertin und vereinzelt Kalkstein gebaute Kirche mit ursprünglich umlaufendem Sockel und mit Bogenfries und Pilastern verzierter Außenwand der Apsis stand gemäß Kong Valdemars Jordebog auf Königsgut.62 Ihre Malereien werden als Übergangsphänomen zwischen der Vä- und der späteren Jørlundegruppe angesehen, möglicherweise mit einer chronologischen Lücke zwischen früherer Apsisausmalung und den Resten des Programms auf der Triumphwand. Die Maiestas Domini gehört zu den am frühesten entdeckten und daher extrem restaurierten romanischen Kalkmalereien; Kaspersen rechnet die ursprüngliche Ausführung der Vä-Werkstatt zu.63 Auf der Triumphwand, heute durch nachträglich eingezogene Gewölbe partiell verdeckt, fand sich a) eine Weltgerichtsdarstellung in drei horizontalen Zonen. Im unteren Teil erheben sich die Toten aus ihren Gräbern, darüber findet sich nördlich des Triumphbogens Abraham in einem Gehäuse, dem himmlischen Jerusalem, flankiert von zwei Heiligen. Diese halten ein Tuch, in welchem drei Seelen ruhen;64 gegenüber auf der südlichen Seite fanden sich schwache Spuren einer nicht klar erkennbaren Höllendarstellung. In der obersten Zone oberhalb des Triumphbogens schließlich thronte zentral der Richter, möglicherweise als Deesis, flankiert von den Erlösten und den Verdammten; ganz im Süden oberhalb des Gewölbes ist das Haupt eines Teufels zu erkennen. Es zeigen sich gerade in der symmetrischen Anordnung deutliche Parallelen zu zeitgenössischen byzantinischen Darstellungen etwa in Hosios Loukas und insbesondere zum Mosaik mit der von Byzantinern ausgeführten Weltgerichtsdarstellung in fünf 61 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 115. Fleischer, Korbuefigurernes stil [1986] sieht hier den möglicherweise stärksten byzantinischen Einfluss auf den Stil der dänischen Wandmalerei überhaupt, wobei man Gundsømagle (Nr. 2) nicht vergessen sollte. Er erklärt sich die Vermittlung möglicherweise über die Rus’ oder Gotland, wozu anzumerken ist, dass technisch keine erkennbaren Gemeinsamkeiten mit den rusischen Malereien auf Gotland bestehen (dazu unten, S. 552). 62 Jørgensen/Johannsen, DK Frederiksborg Amt 4 [1975], S. 2641–2703; Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 30. 63 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 105f., 120; vgl. weiterhin Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 5, S. 107–110; Jørgensen/Johannsen, DK Frederiksborg Amt 4 [1975], S. 2658–2667; Haastrup, Majestas Domini og Dommedag [1986]. 64 Zum Motiv mit den Seelen im Schoß Haastrup, Abraham med sjæle i skødet [1980].

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Abb. 38: Skibby kirke, Rekonstruktionszeichnung der romanischen Malereien auf der Triumphwand nach ihrer Aufdeckung durch C. O. Zeuthen (1856), aus: Danske kalkmalerier 1080– 1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 173.

Zonen an der Westwand der Kathedrale in Torcello, die ins spätere 12. Jahrhundert datiert wird.65 Reste wohl zweier ikonographisch ähnlicher Holzschnitzereien finden sich übrigens auch in Nordisland.66 Bei den dänischen Malereien findet sich ebenfalls der seit dem 11. Jahrhundert in Byzanz übliche, zum Aufstieg aus der Hölle gewandte Descensus, der Adam am Handgelenk ergreift und zu ihm zurückblickt, so in Vrigstad (Nr. 24), doch ist das Bild in Skibby zu schlecht erhalten, um hierüber eine Aussage zu treffen. Während die Zoneneinteilung in Byzanz selbst auch aufgrund der architektonischen Differenzen nicht vorhanden ist, bei westlichen Darstellungen jedoch schon beim Weltgericht in Müstair um 800 erscheint, ist allerdings die Platzierung des Gerichts an der Ostwand, wie bereits angesprochen, in Lateineuropa ganz unüblich. Sie findet indes ihr Äquivalent in Byzanz, wo Weltgerichte an der Ostwand des Narthex 65 Hjort, Majestas Domini og Dommedag [1986], S. 175; vgl. LCI 2, Sp. 323–325; LCI 4, Sp. 513– 516 und Hecht/Hecht, Die frühmittelalterliche Wandmalerei [1979], S. 323–328. 66 Unten, S. 716f.

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abgebildet werden, genau dort, wo sich auch Stifterbilder finden.67 Beide finden sich in Ostdänemark an der Triumphwand. Ruft man sich ins Gedächtnis, dass der Narthex bei byzantinischen Kirchen der Pflege der Totenmemoria und der Taufe diente,68 scheint abgesehen von ikonographischen Übereinstimmungen eine funktionale Ähnlichkeit auf, diente doch das Schiff der romanischen Kirchen im Norden denselben Zwecken.69 Die noch bei vielen weiteren Vertretern begegnende Abweichung von der lateineuropäischen Praxis, Weltgerichte auf der Westwand des Schiffes darzustellen, wäre jedenfalls durch einen solchen Übertragungsprozess von in Byzanz Gesehenem erklärbar und wird durch die lebensgroßen Stifter am selben Ort unterstrichen, welche die Auftraggeber gleichfalls im Narthex verschiedener Kirchen in Byzanz beobachten konnten. In der Vä-Gruppe ist diese Weltgerichtsdarstellung indes einmalig; sie findet sich gehäuft bei der etwa zeitgleich arbeitenden Finja-Werkstatt sowie in der sehr eng an das Skjalmkollektiv gebundenen Jørlunde-Werkstatt, zu welcher Skibby möglicherweise einen Übergang bildet.70 Insgesamt erscheint die Vä-Gruppe als möglicherweise früheste ostdänische Vertreterin durchaus eng an die Hvide oder deren Partner gebunden; bis auf die wenigen Reste in den Kirchen zu Vejby und Valby, ebenfalls auf Seeland, weisen sie alle signifikante Byzantinismen auf.71 Datierten Egmont Lind und Poul Nørlund die Monumente hiervon, welche ihnen 1944 bekannt waren, noch in die frühere Valdemarenzeit zwischen etwa 1150 und 1175,72 sieht die kunsthistorische Forschung der letzten Jahrzehnte diese Kalkmalereien vor allem aufgrund stilistischer Vergleiche mit anderen europäischen Monumenten sehr früh: Die aktuelle Datierung in den Zeitraum zwischen etwa 1100 und 1130, mit Ausnahme der vielleicht etwas späteren Malerei in Skibby, löst zwar veraltete Annahmen von 67 LCI 4, Sp. 513–522. Ob man eine Korrespondenz der dänischen Weltgerichte zu den im 12. Jahrhundert in Frankreich entstehenden Plastik der Westportale annehmen darf, ist auch aus ikonographischer Sicht zweifelhaft. 68 Vgl. Theis, Narthex [2005], bes. S. 878f. 69 Fünten standen nach archäologischen Erkenntnissen oft mitten im Schiff, vgl. etwa Haastrup/ Als Hansen, Kalkmalerier og kirkearkæologi [1986] sowie Græbe/Als Hansen/Stiesdahl, Gundsømagle kirke [1990], S. 145 am Beispiel Gundsømagles bzw. Ochsner, Bygget kring mysteriet [1992], S. 78f. für schonische Kirchen. 70 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 107f. rechnet sie zur Vä-Gruppe, doch zählt Stangier, Ornamentstudien [1995], S. 212 sie in ihrer erschöpfenden, vergleichenden Studie der Ornamentik sie aufgrund ebendieser zur Jørlundwerkstatt. 71 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 116–119 behandelt die beiden Kirchen. Sie stehen ebenfalls mit den Hvide in Verbindung; gerade Vejby als besonders frühe, in ihrer Struktur heute fast komplett verschwundene bzw. umgebaute Kirche aus schonischem Sandstein mit Türmen und Herrschaftsempore aber (Moltke/Møller, DK Frederiksborg Amt 2 [1967], S. 1289) unterstreicht die Rückbindung der Malereien an die Großen. Aufgrund des äußerst fragmentarischen Erhaltungszustandes sind die Malereien dieser Kirchen hier nicht berücksichtigt. 72 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 102–107.

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einer kulturellen »Verspätung« der Peripherie gegenüber dem Zentrum bei Nørlund und Lind ab, die sich im Malstil ausdrücke,73 jedoch wirft sie gerade im Falle Väs, aber auch bezüglich zeitlicher Berührungspunkte mit der späteren Jørlunde-Werkstatt neue chronologische Probleme auf, auf die im Anschluss an die Auflistung einzugehen sein wird.

Die Finja-Werkstatt Insgesamt sind elf Kirchen mit Werken dieser Werkstatt erhalten, neun in Schonen und drei in Seeland,74 die auf ein verhältnismäßig klares Bildprogramm spezialisiert war, das sie maßstabsgetreu an die verschiedenen Größen der Kirchengebäude anpasste;75 zum Programm zählen in unserem Kontext vor allem Weltgerichte an den Triumphwänden sowie Stifterbilder in voller Größe, aber auch Szenen aus dem Leben Jesu in den Chorräumen. Unter den neun hier relevanten Kirchen befinden sich alle drei seeländischen Vertreter, der Rest weit verstreut in Schonen; auch ist eine Rückbindung an ein Magnatenkollektiv, wie es bei der Vä-Werkstatt wahrscheinlich und bei der späteren Jørlundwerkstatt unzweideutig ist, nicht so deutlich aufzuweisen, jedoch auch hier eine Bindung an die Hvide, zumindest auf Seeland unzweifelhaft, insgesamt als plausibel betrachtet worden.76 Zudem ist die Forschungslage bezüglich der schonischen Kalkmalereien aufgrund des so genannten »Skåneregistranten«, eines breit angelegten Katalogwerkes,77 zwar als ausgezeichnet zu betrachten, doch sind detaillierte gebäudetechnische Informationen über einen Großteil der schonischen Kirchen nicht so gut verfügbar wie für diejenigen im heutigen Dänemark, da das Corpuswerk Sveriges kyrkor für Schonen nicht sonderlich weit gediehen ist. 9. Finja, Nordschonen: Die Kirche, deren Ausmalung gemeinsam mit derjenigen in Finja als Hauptmonument der Werkstatt gilt, liegt an einem Zentralort am Finjasee an einem bedeutenden Handelsweg nahe weitgehend unbewohnter, 73 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], bes. S. 111f. Die Ablehnung des Paradigmas und die methodischen Grundlagen der Umdatierung sind zusammengefasst bei Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 23–26; s. auch die Vergleiche von Werken der Vä-Werkstatt Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 100–105. 74 Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 26. Ulla Haastrup zählt aktuell außer den 12 in Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 202 genannten (Fjenneslev, Slaglille, Soderup, Stävie, Flädie, Asmundtorp, Vallkärra, Hofterup, Finja, Västra Vemmerlöv, Gualöv [?], Lyngsjö) nach mündlicher Auskunft noch weitere vier Vertreter: Kirke Sonnerup, Førslev, Alsted, Vester Broby. Vgl. auch Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 30f., 85–89; Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979]. 75 Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 35–37. 76 So bei Halding/Johansen, Thi de var af stor slægt [2001], S. 107. 77 Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 1 [1976], S. 7–12; Banning/Brandt/ Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976]; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 3 [1976]; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982].

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rohstoffreicher Waldgebiete, der seit der Eisenzeit besteht und im frühen und hohen Mittelalter die Basis für eine nach Norden gerichtete Kolonisierung bildete.78 Der Bau, wahrscheinlich um 1200 mit einem breiten sekundären Westturm ergänzt und möglicherweise mit einer Galerie im Westen ausgestattet, befand sich augenscheinlich auf königlichem Besitz; zu einem nicht mehr zu bestimmenden Zeitpunkt bis zum 13. Jahrhundert ging dieser Besitz an den Erzbischof von Lund über;79 angesichts der ständigen Konflikte zwischen Eskil und den Königen Erik Emune, Erik Lam, Svend Grathe und Valdemar scheint eine frühe Übertragung nicht allzu wahrscheinlich, zumal nicht an einem Ort, an welchem die Könige sich ohnehin schon mit lokalen Großen um die Kontrolle der Ressourcen auseinandersetzten.80 Auch erhielten die Hvide wahrscheinlich schon früh, möglicherweise vor 1200, ebenfalls Land an weiteren Orten und erschlossen die reichen Naturressourcen um den Finjasee.81 Möglicherweise ist die Ausstattung mit dem Turm um 1200 oder etwas früher im Kontext eines Übergangs auf den Erzbischof, in diesem Falle Absalon, zu sehen; in jedem Fall zeigen die Kirchen in Brönnestad und Farstorp, das definitiv den Hvide gehörte, den gleichen Grundriss.82 Neben einer Maiestas Domini sind die Malereien im Triumphbogen erhalten, die drei Medaillons mit Brustbildern von segnenden Engeln enthalten sowie Bilder zweier heiliger Bischöfe; unterhalb des Bogens sind zwei weitere nimbierte männliche Figuren in Orantenhaltung dargestellt. Von zentralem Interesse sind jedoch a) die Reste der Weltgerichtsdarstellung in zwei Zonen auf der Triumphwand, die wie immer im Norden besser bewahrt sind und sich auf der Nordwand des Kirchenschiffs fortsetzen. Zentral oberhalb des Triumphbogens, die abschließende Mäanderborte durchbrechend, findet sich der Richter als Brustbild in einem Medaillon, über dessen Rand er seine Hände nach beiden Seiten ausstreckt, flankiert von zwei Posaunen blasenden Engeln.83 Nördlich hiervon in der oberen Bildzone hält eine Figur in byzantinischer Hofkleidung, wahrscheinlich Helena,84 das Kreuz, das bis oben an die

78 Ödman/Ödman, Händelser längs en väg [2012], bes. S. 216–228. Die archäologischen Ergebnisse beziehen sich auf Untersuchungen in Hovdala am Finjasee, aber der Abgleich mit einer Probegrabung in Finja bestätigt die Ergebnisse für die Region (ebd., S. 185–188). 79 Ochsner, Helgonen i Finjakyrkan [1991], S. 74f.; Ochsner, Bygget kring mysteriet [1992], S. 139–145; Ödman/Ödman, Händelser längs en väg [2012], S. 189–192. 80 Ödman/Ödman, Händelser längs en väg [2012], S. 189–216. 81 Ödman/Ödman, Händelser längs en väg [2012], S. 163–170. 82 Ödman/Ödman, Händelser längs en väg [2012], S. 189 mit Abb. 211. 83 Zu den Malereien Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 10–34, 56–62; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 30–38, 85; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 15–16; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976], S. 106– 109; Eriksson, Dommedagen i Finja [1986]; Ochsner, Helgonen i Finjakyrkan [1991]. 84 Im Gegensatz zur Literatur in voriger Anm. überlegt Haastrup, Byzantinsk klædte ærkeengle [2014], S. 20, ob es sich bei der Figur in byzantinischer Tracht nicht um einen Erzengel wie bei

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Abb. 39: Finja kyrka, Triumphwand und Chor, aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/ Egevang [1986], S. 112.

Mäanderborte reicht. Hierin besteht möglicherweise eine Anspielung auf die Hetoimasia in byzantinischen Weltgerichten, den leeren Thron des Heilands, wie er mit den Leidenswerkzeugen seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts Bestandteil der Ikonographie geworden war, die jedoch im Westen mit Ausnahme des venezianischen Raums und eines Vertreters in Grottaferrata nicht nachzuweisen ist.85 Die weiteren heiligen Zeugen des Gerichts sind nicht alle identifizahlreichen zeitgenössischen Maiestas-Darstellungen handeln könnte, dessen Flügel aufgrund des Erhaltungszustandes nicht mehr zu erkennen sind. 85 LCI 4, S. 305–312; die Parallele stellt Eriksson, Dommedagen i Finja [1986] her; vgl. auch Lagerlöf, Etimasia [1980], der das Motiv auf schonischen Fünten aus der 2. Hälfte des 12. Jhs. und einem gotländischen Beispiel behandelt.

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zierbar, doch befindet sich Petrus unter ihnen. Unter einer schlichten Borte, auf welcher nördlich des Triumphbogens ERECTIONE MUNDI zu lesen ist, befinden sich weitere Heilige im Dreiviertelprofil, zuvorderst zwei Bischöfe und ein weiterer Kleriker, mit akklamierenden Handgesten, welche die Auserwählten repräsentieren. Zu ihren Füßen erheben sich die Toten aus ihren Gräbern, die hier im Gegensatz etwa zu Skibby keine eigene Bildzone erhalten. Von der gegenüberliegenden Darstellung der Verdammten und einer wahrscheinlichen Höllendarstellung ist praktisch nichts erhalten. Stilistisch erinnern die extrem strengen, geradezu steif und monumental dastehenden Figuren an frühchristliche Kunst etwa in Ravenna.86 Die hier zu vertretende These lautet, dass dieser Effekt gewünscht war und bewusst herbeigeführt wurde, denn in anderen Kirchen der Werkstatt, etwa in Fjenneslev finden sich auch gezielte ikonographische Übernahmen aus spätantiken Vorbildern. Daneben sind stilistische Reminiszenzen an die byzantinisch beeinflusste ottonenzeitliche Kunst vorhanden, die gleichfalls nicht über ein linear-osmotisches Prinzip internationaler Stiltrends erklärbar sind; dafür sind die Kirchenbauten zu jung.87 Zudem reichte der Horizont der Skandinavier über den deutschen Raum hinaus, wie ikonographische Besonderheiten zeigen, so dass eine provinzielle Nachahmung alter Monumente gleichfalls nicht als Erklärung in Frage kommt. Das Problem einer merkwürdigen, ja extremen Altertümlichkeit sowohl im Stil als auch partiell der Ikonographie wird sich durch Rückdatierungen nicht komplett lösen lassen; andererseits lassen solch wahrscheinlich intentionale Merkwürdigkeiten Konjekturen über mögliche diskursive Absichten zu. 10. Fjenneslev, Mittelseeland: Die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts aus Granit errichtete, ungewöhnlich hohe Kirche, gelegen direkt beim Hof von Skjalm Hvide und seinem Sohn Asser Rig, ist ein Nationalkleinod des modernen Dänemark, steht sie doch am Geburtsort Absalons und enthält oft abgedruckte Stifterbilder eines Hvide-Paares.88 Die Malereien wurden 1873 von Jacob Kornerup und 1910 von Eigil Rothe nach dem Abriss der gotischen Gewölbe und der Wiederherstellung einer dem Ursprungszustand entsprechend flachen Holzdecke entsprechend stark restauriert und ergänzt.89

86 Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 138 spricht von einer »äußerst veraltete[n] Ikonographie und […] starken byzantinischen Einschläge[n] darin«. Ähnlich Eriksson, Dommedagen i Finja [1986], S. 113. 87 Vergleiche des Stils etwa mit Hosios Loukas, die auch bei der Vä-Werkstatt angestellt wurden (vgl. Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 113 mit Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 16), irritieren angesichts der deutlichen Differenzen zwischen Vä- und FinjaWerkstatt. 88 Zum Bau und seiner Geschichte Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 324–340. 89 Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 122–127; Hermansen/ Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 330–332.

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Abb. 40: Fjenneslev kirke, Äußeres von Nordosten, aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/fjenneslev-4173/fje417 3e2.JPG (23. 11. 2013).

Ursprünglich ein schlichter, turmloser Bau mit Rundapsis, wurde die Kirche zwischen etwa 1160 und 1200 architektonisch erheblich aufgewertet: Auf das Westende des Schiffes wurde eine Turmfassade aus Backsteinen gesetzt, die sich ab der Höhe des Firsts über dem Schiff in zwei Türme teilt; die hierbei nötig werdenden Granitsäulen, welche die Ostseite der Turmfassade stützen, tragen eine zugleich eingebaute Herrschaftsgalerie mit drei Arkadenöffnungen zum Schiff. Architektonisch orientierte man sich augenscheinlich an der etwas älteren Doppelturmfassade der Kirchen zu Tveje Merløse und Kirke-Hyllinge, die ihrerseits Kathedralbauten zitierten, wie sich im Vergleich mit Lund nachweisen lässt. Die Zwillingstüme sind im oberen Teil rekonstruiert, da der südliche bereits im 16. Jahrhundert teilweise eingestürzt war (Abb. 40). Es wurde davon ausgegangen, dass die Kalkmalereien der Finja-Werkstatt mit dem Umbau hinzukamen, was aber stilgeschichtlich in Zweifel gezogen wurde. Als weiteres Argument für eine Frühdatierung der Malereien wird angeführt, dass der Malputz bis unter die Unterkante eines erhöhten Fußbodenbelages im Chor aus Backsteinen reicht, der augenscheinlich im Zuge des Umbaus verlegt

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wurde,90 was aber nur einen terminus ante quem und keinen Beleg für ihre Gleichzeitigkeit mit dem Ursprungsbau bringt. Dass man einen neuen, zumal offenporigen Bodenbelag anschließend beim Aufbringen der Malereien verschmutzte, ist ohnehin nicht sehr wahrscheinlich, sondern eher ein umgekehrtes Vorgehen, also ein Auslegen nach Beendigung der Malarbeiten. Von der ursprünglichen Maiestas Domini waren nur sehr schwache Reste erhalten, restauriert wurde lediglich die unten abschließende Mäanderborte, der Rest neoromanisch neu bemalt, inzwischen aber wieder weiß überkalkt. Im Chor fand sich an der Nordwand mit Joseph die Spur einer Geburtsdarstellung, die auch in Kirchen der Vä-Gruppe mit weiteren Byzantinismen zu finden ist, im Triumphbogen wie in Finja im Scheitel ein Medaillon mit Engel, darunter zwei Bischofsheilige.91 Auch fanden sich Reste der farbigen Hintergründe, die aus chemischen Gründen mit Bindemitteln al secco aufgetragen worden und bei späterer Überkalkung dekomponiert waren: Über einem breiten grünen Streifen aus Malachit oder auf Kupferbasis befand sich auf einem mit Ruß geschwärzten Hintergrund eine dicke Schicht aus Lapislazuli, was einen leuchtend blauen, ausgesprochen kostspielig zu erstellenden Hintergrund ergab.

Abb. 41: Fjenneslev kirke, Triumphwand, aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/fjenneslev-4173/fje4173hbt008.JPG (23. 11. 2013).

90 Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 122–124; Lyckegaard, Stifterbilledet og Hvideslægten [1986], S. 122. 91 Zu den Kalkmalereien Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 330–332; Nørlund/ Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 31, S. 42, 72, 86–92, 106; Lyckegaard, Stifterbilledet og Hvideslægten [1986]; Haastrup, Tre udgaver [1986]; Bolvig, Kalkmalerier i Danmark [1999], S. 67–69.

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Am wichtigsten sind in ikonographischer Hinsicht a) eine Darstellung der drei Magoi oben an der nördlichen Triumphwand (Abb. 41). Sie ist zweifelsfrei vom ikonographischen Typus inspiriert, der sich im Mosaik in San Vitale zu Ravenna aus der Zeit um 600 findet.92 Die drei Magoi, in kurze Gewänder und etwa knielange Mäntel gehüllt, die ersten beiden bärtig, der dritte bartlos, welche Phrygien statt Kronen tragen, bewegen sich von links im Knielauf auf die Madonna zu, die auf einem Podest in einer baldachinartigen Architektur dargestellt ist. Ihre Gaben recken sie Christus in vasenartigen Gefäßen entgegen. Von den Goldenen Altären hingegen aus dem Zeitraum zwischen etwa 1135 und dem frühen 13. Jahrhundert zeigen das Exemplar aus Broddetorp (1175–1190) und die Reste aus Tamdrup (1200–1225) eine ähnliche Ikonographie, freilich mit gekrönten Königen, der Rest in Übereinstimmung mit zeitgenössischen lateineuropäischen Parallelen.93 Dass die Restauratoren im Falle Fjenneslevs keine Überinterpretation in Richtung einer spätantiken Ikonographie vornahmen, bestätigen gut erhaltene Reste dieser Szene in anderen Kirchen der FinjaWerkstatt. Unter den Magoi befinden sich in gleicher Größe und Ausrichtung, jedoch aufrecht in leichter Schrittstellung b) zwei Stifter ohne Intercessoren (Abb. 42), ein unbewaffneter Laie mit einer kappenartigen Kopfbedeckung im knielangen Gewand mit langem Mantel, der ein Kirchenmodell mit Rundapsis und Doppelturm trägt, sowie nördlich von ihm eine Frau im bodenlangen Gewand mit einer Kopfbedeckung, von der nach hinten ein Schleier herabhängt, die einen großen Goldring emporreckt;94 aus der Borte um den Triumphbogen unterhalb der Mariendarstellung ragt segnend die dextera Dei hervor; nach links wird das Bild von einer schachbrettartig gemusterten Säule begrenzt. Die genaue Identität der Hvide, die hier abgebildet sind, ist nicht festzustellen. Je nach Datierung wären drei Generationen vom ersten Stifter Skjalm Hvide über Asser Rig bis Esbern Snare denkbar. So große Stifter, zumal ohne Intercessoren, finden sich zu jener Zeit jedenfalls ausschließlich an den Ostwänden des Narthex byzantinischer Kirchen, gerade in der Hagia Sophia, dort auch über dem südwestlichen, von den Basileis genutzten Eingang zum Narthex selbst und auf der südlichen Empore, die der kaiserlichen Familie vorbehalten war und wo sich Runeninschriften fanden.95 Bildprogramme in Mosaiken und Wandmalereien in Rom und Italien hingegen, von denen unzweideutig die Magoi in Fjenneslev inspiriert sind, zeigen Stifter als deutlich verkleinerte Personen etwa in Fortsetzung von Apostelreihen in der Apsis, eine Ikonographie, die sich bis ins Hoch-

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Vgl. zur Ikonographie LCI 1, Sp. 539–543; Haastrup, Tre udgaver [1986]. Nørlund, Gyldne altre [1968], S. 34–36. Vgl. zu den Darstellungen auch Nørlund, Stormandstyper [1935]. S. oben, S. 183 mit Anm. 464. Zu den Stifterbildern der Hagia Sophia vgl. Abb. 90 und 91.

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Abb. 42: Fjenneslev kirke, Triumphwand (Detail: die drei Magoi und zwei zeitgenössische Stifter), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/ lpilot/churchfresco/fjenneslev-4173/fje4173hbt009.JPG (23. 11. 2013).

mittelalter durchzieht; Ausnahmen bilden abermals byzantinisch beeinflusste Stifterbilder in Sizilien, etwa in der Kathedrale von Monreale. Eine ikonographische Parallele im nordalpinen Westen bietet die abermals an byzantinischen Vorbildern orientierte Magdeburger Elfenbeintafel, wo Otto der Große ohne

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Intercessor ein Kirchenmodell hält.96 Auf der Triumphwand lateineuropäischer Kirchen findet sich eine bereits angesprochene Parallele in der Silvesterkapelle zu Goldbach aus dem späten 10. Jahrhundert, wo ebenfalls ein Laienpaar abgebildet ist, dort jedoch mit Intercessoren. Ansonsten verbreiten sich Stifterbilder mit Kirchenmodellen während des 12. Jahrhunderts im Westen rasch in verschiedene Medien, vor allem in die Buchmalerei und die Steinskulptur mit Grabplatten, Kapitellen und vor allem Tympana über Portalen, wo Stifter unterhalb der Maiestas Domini abgebildet werden, zumeist maßstäblich verkleinert, ähnlich den spätantiken römischen Apsisprogrammen. Bei der Skulptur überwiegt zudem der Bezug auf Gründer beziehungsweise lokale Heilige, so dass der in Fjenneslev und andernorts in Dänemark gegebene Dedikationskontext verschwindet und das Kirchenmodell eher zum Attribut wird.97 Verstorbene Stifter finden sich auch im Corpus der dänischen Malereien, doch sind sie gewöhnlich ikonographisch als solche gekennzeichnet, etwa indem sie eine Kerze halten, und sie sind sich in der Minderzahl.98 Auch in Altrussland existiert kein direktes Vorbild: Zwar sind in der Sophienkathedrale zu Kiev Reste einer ganzen Familiendarstellung zu finden, doch sind diese oberhalb der Arkadenzone im Westen des Schiffs angebracht, unterhalb der Öffnungen einer ehemals vorhandenen Herrschaftsempore, und erstrecken sich von dort auf die Wände des Schiffs, wo Reste erhalten sind.99 Eine sekundäre Entlehnung aus diesem Bildprogramm ist ebenso wenig wahrscheinlich. Insofern sind die Stifterbilder, wie sie bisher in Vä und Fjenneslev begegnen, in ihrer Kombination aus Größe und Positionierung als einmalig zu bezeichnen. Ein Rückbezug auf byzantinische Vorbilder scheint gerechtfertigt, auch wenn er noch historisch zu plausibilisieren bleibt. Die ziemlich genaue architektonische Übereinstimmung des Kirchenmodells mit dem Äußeren der Kirche zu Fjenneslev nach ihrem Umbau gibt zudem einen Datierungsanhalt, zumal das Modell nicht wie in lateineuropäischen Wandmalereien des 12. Jahrhunderts üblich, schematisiert ist. Eine präzise architektonische Wiedergabe im Modell findet sich abgesehen von der zeitgenössischen Steinskulptur zudem gerade bei byzantinischen Stifterbildern.100 96 Lipsmeyer, The Donor and His Church Model [1981], S. 30–110, hier bes. S. 107. Zum folgenden Beispiel Goldbach s. oben, Anm. 30. 97 Lipsmeyer, The Donor and His Church Model [1981], S. 78–110. 98 So etwa in Vallkärra (Nr. 15) und Førslev (Nr. 28) sowie in Gualöv; dazu Ahlstedt Yrlid, Kalkmalerier som sjælegaver [1986]. 99 Sie stammen aus der Zeit um 1045, da die Töchter, später Königinnen von Norwegen, Frankreich und Ungarn, keine Kronen tragen. S. Lazarev, Old Russian Murals & Mosaics [1966], S. 47f. sowie 236f. mit Fig. 26 u. 27. 100 Zum Kirchenmodell Lipsmeyer, The Donor and His Church Model [1981], bes. S. 187–192; mit dem Bau identifizieren Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 332; Nørlund/ Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 14, 100 die Abbildung; dagegen sprechen sich Lyckegaard, Stifterbilledet og Hvideslægten [1986], S. 122 und Bolvig, Kalkmalerier i

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Im Süden der Triumphwand in Fjenneslev finden sich gegenüber der Magoi Fragmente einer Flucht nach Ägypten, der Rest daneben und darunter ist verloren. Man kann indes spekulieren, ob nicht ein weiteres Stifterpaar abgebildet gewesen sein kann, wie es im benachbarten Slaglille der Fall ist, möglicherweise eine weitere Generation der Hvide oder geistliche Angehörige des Geschlechts, zum Beispiel Absalon. 11. Slaglille, Mittelseeland: Die unweit Fjenneslevs gelegene, ursprünglich turmlose, aus Granit, Kalkstein und um die Maueröffnungen aus Travertin errichtete Kirche, deren Apsis auswendig mit Lisenen und einem Rundbogenfries verziert ist, wurde wahrscheinlich von Trued Lille erbaut, der eng mit den Hvide verbunden war. Das Gut der Lille geht Ende des 12. Jahrhunderts an die Abtei Sorø über.101 Das Ausmalungsprogramm entspricht, soweit erkennbar, auf kleinerem Raum demjenigen Fjenneslevs, hier jedoch von den noch vorhandenen gotischen Gewölben teilweise überdeckt.102 In der Apsis fanden sich a) Reste einer Maiestas, die von Maria und einem Erzengel in byzantinischer Hofkleidung an der Nordseite der Apsis flankiert war (Abb. 43); im Süden dürften sich Johannes der Täufer und ein weiterer Erzengel befunden haben. An der Ostwand des Chores sind zu beiden Seiten des Apsisbogens Kain und Abel dargestellt, im Chor selbst Überreste von Aposteldarstellungen; der Triumphbogen weist die üblichen Bischofsheiligen auf, darüber befindet sich jedoch im Medaillon eine Darstellung des Rads der Fortuna. Die Gestaltung der Triumphwand ist identisch zu Fjenneslev; oberhalb der Gewölbe sind b) nördlich die Unterzeichnungen für eine Darstellung der drei Magoi zu erkennen (Abb. 44), südlich die Flucht nach Ägypten. Darunter befindet sich c) aus Platzgründen auf jeder Seite des Triumphbogens je ein Stifter (Abb. 45). Der Mann im Süden, ähnlich gekleidet wie in Fjenneslev mit einem knielangen Gewand, jedoch ohne Mantel, dessen Kopf von Gewölbeansatz verdeckt wird, hält ein turmloses Kirchenmodell in Dreiviertelansicht, dessen Optik wiederum dem Erscheinungsbild des konkreten Kirchenbaus ähnelt. Die Männerfigur im Norden mit ihren längeren Kleidern wurde bei der harten Restaurierung

Danmark [1999], S. 69 aus, jedoch ohne vergleichende Begründung und allein aus stilistischen Erwägungen. 101 Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 341–350; Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 34. 102 Zu den Malereien Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 344–346; Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 32, S. 91f., 106; Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 107–116; Haastrup, Tre udgaver [1986]; Jensen, Tre restaureringer [1986]; Bolvig, Kalkmalerier i Danmark [1999], S. 164f.; Haastrup, Byzantinsk klædte ærkeengle [2014], S. 18f.

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Abb. 43: Slaglille Kirke, Apsis (Detail: Maria orans und Erzengel am nördlichen unteren Rand der Maiestas Domini), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen. euman.net/lpilot/churchfresco/slaglille-4173/sla4173ash002.jpg (23. 11.2013).

Magnus-Petersens 1894 missgedeutet, zumal die Umrisse gut mit der Stifterin in Fjenneslev zu vergleichen sind: Es handelt sich um eine Frau, die einen Kelch hält. 12. Soderup, Nordseeland: Gemäß dem Jordebog des Bistums Roskilde verfügt der Bischof über große Besitztümer am Ort; wie diese zeitlich zurückreichen, ist jedoch ungewiss. Der Chorbereich der relativ kleinen, auf einem umlaufenden Sockel ruhenden romanischen Kirche aus Travertin mit primärem, im 18. Jahr-

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Abb. 44: Slaglille Kirke, nördlicher Teil der Triumphwand oberhalb des Gewölbes (Detail: Unterzeichnung einer Darstellung der drei Magoi), aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 119.

hundert eingestürztem und ersetztem Turm wurde im 15. Jahrhundert gänzlich umgestaltet, so dass sich lediglich im Schiff Überreste der romanischen Malereien erhalten haben.103 Am ehemaligen Ostrand des Schiffs fand sich im oberen Teil der Südwand eine a) Darstellung der drei Magoi; die Madonna ist nicht erhalten. Sie entsprechen ikonographisch denjenigen Fjenneslevs und Slaglilles, doch halten sie Kästchen statt Vasen, und der Hintergrund besteht aus einer arkadenartigen Architektur mit marmorierten Säulen. Demnach befanden sich Sze-

103 Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 1 [1979], S. 277–303; zu den Malereien ebd., S. 284– 286; Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 116–122; Haastrup, Tre udgaver [1986].

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Abb. 45: Slaglille kirke, Triumphwand mit Fragmenten zweier Stifterfiguren, Fotografie Roland Scheel (2009).

Abb. 46: Soderup Kirke, Südwand des Chores (Detail: die drei Magoi), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/soderup4340/sod4340hbv001.jpg (23. 11. 2012).

nen mit Christi Geburt an der Südwand des Schiffes. An der Ecke zur verschwundenen Triumphwand fand sich auf dem Putz unterhalb des Intonaco die Vorzeichnung eines Teufels; demnach zeigte die Triumphwand b) das Weltgerichtsprogramm, welches sich in Finja erhalten hat.

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13. Asmundtorp †, Westschonen: Beim Abriss der Kirche in den 1890er-Jahren, die auf Königsgrund errichtet worden war, kamen Reste eines typischen Programms der Finja-Gruppe zum Vorschein:104 Neben einer Maiestas Domini, Darstellungen der Petrus-Geschichte im Chor und Szenen aus der Kindheit Christi im Schiff wie in Soderup war a) die Triumphwand mit einem Weltgericht bemalt. Einer der hier dargestellten Heiligen trägt eine Mitra, was in der früheren Romanik völlig unüblich ist und einen Anhaltspunkt für eine spätere Datierung gibt.105 Szenen waren wie in Fjenneslev durch schachbrettartig gemusterte Säulen getrennt, die sich auch in Finja und Lyngsjö finden. 14. Lyngsjö, Nordostschonen: In Lyngsjö, wo der König über ausgedehnte Besitztümer verfügte, entstand im 12. Jahrhundert eine Kirche mit heute verlorener Rundapsis, einer ähnlich wie in Vä zur Kapelle umgestalteten Herrschaftsgalerie und einem für Schonen typischen, die ganze Gebäudebreite überdeckenden rechteckigen Westturm.106 Ausgemalt waren lediglich Chor und Apsis sowie die Triumphwand.107 Im Triumphbogen finden sich die typischen Engelmedaillons, über dem Triumphbogen im Medaillon ein Engel mit segnend erhobener Hand und weit über den Medaillonrand hinausragenden, ausgebreiteten Schwingen, flankiert von Resten weiterer Engel. An der Nordwand des Chores finden sich, stark fragmentiert, a) Reste einer Badeszene im Kontext der Geburt Christi. Der Säugling wird von einer Frau in einem kelchförmig aussehenden Gefäß gebadet. Die Darstellung basiert auf den apokryphen Evangelien des PseudoJakobus und Pseudo-Matthäus sowie letztlich der hieraus entwickelten postikonoklastischen byzantinischen Ikonographie. Eine Szene mit zwei Hebammen, deren eine nicht an die Jungfräulichkeit Mariens glaubt und der daraufhin die Hand abstirbt, ist hier in eine Badeszene transformiert und Bestandteil des szenenreichen Kanons von Geburtsdarstellungen geworden. Sie findet sich außer in Lyngsjö auch auf sechs gotländischen und zwei schonischen Fünten des 12. Jahrhunderts, jedoch immer mit zwei Frauen; gerade im Falle Gotlands ist eine Vermittlung über die Rus’ denkbar.108 Vergleiche mit westlichen Bildern, 104 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 20–41; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 31–34; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976], S. 18–21; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 14f.; Ahlstedt Yrlid, To forsvundne billedprogrammer [1986]; Ochsner, Helgonen i Finjakyrkan [1991], S. 74–79. 105 Ochsner, Helgonen i Finjakyrkan [1991], S. 75. 106 Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], S. 124–128. 107 Zu den Malereien Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 132, 135; Borelius, Finjamästaren och Lyngsjö [1958]; Eriksson, Kristi första dop [1980]; Banning/ Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976], S. 278–281; Eriksson, Om Jesubarnets bad [1986]; Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], S. 127f. 108 Eriksson, Kristi första dop [1980], S. 73–78. Eriksson möchte gern eine rusische Vermittlung des Motivs plausibel machen, doch findet es sich nirgends in den Malereien rusisch-ro-

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Abb. 47: Lyngsjö kyrka, nördliche Wand des Chores, westliches Ende (fragmentiertes Detail: Jesus wird nach der Geburt gebadet), aus: Eriksson, Kristi första dop [1980], Fig. 5, S. 73.

etwa mit einem Mosaik in der Capella Palatina zu Palermo, zeigen keine Parallelen.109 Gerade die Reduktion von zwei Hebammen auf eine wiederum findet aber Parallelen in der byzantinischen Kunst selbst.110 Die Kirche zu Lyngsjö erscheint auch deshalb besonders interessant, weil hier einer der so genannten Goldenen Altäre, ein offenbar aus Sachsen importiertes Antependium aus feuervergoldeten Kupferplatten erhalten ist sowie eine Steinfünte, die einen Anhaltspunkt für eine Datierung gegen kann. Während der Goldene Altar stilistische Bezüge etwa zu einem Gegenstück in Großcomburg aus der Zeit kurz vor 1150 aufweist und sich in der Gestaltung stark von den einheimischen jütischen Antependien unterscheidet,111 zeigt die Fünte das Marty-

manischer, gotländischer Malereien oder auf dem Festland, sondern nur auf den genannten Fünten mit anderer Ikonographie. 109 Eriksson, Kristi första dop [1980], S. 67 bzw. Eriksson, Om Jesubarnets bad [1986], S. 115. Dort wird das Bad vorbereitet, in Lyngsjö und auf den Fünten ist es in vollem Gange. 110 LCI 2, Sp. 95–101. 111 Nørlund, Gyldne altre [1968], S. 138f., 211f.

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rium des Thomas Becket, kann also nicht vor etwa 1174 fertiggestellt worden sein. Da üblicherweise Taufbecken zur Erstausstattung der Kirchen gehören, liegt hierin ein Indiz für eine Spätdatierung des Kirchenbaus und seiner Malereien,112 die hier wohl gleichzeitig mit dem Bau angefertigt wurden: Normalerweise orientieren sich die Stoßfugen des Malputzes, der rechteckig in Tagewerken aufgebracht und in feuchtem Zustand bemalt wurde, vertikal an den Bildzonen, in diesem Falle jedoch an den Gerüstebenen der Maurer, die sich anhand der Gerüstlöcher nachvollziehen lassen.113 15. Vallkärra, Westschonen: Anfang des 13. Jahrhunderts schenkt ein Kanoniker am Erzstift Lund, wahrscheinlich ein Hvide, dem Bistum drei Höfe vor Ort. Von der überwiegend aus Granit gebauten Kirche, die sekundär einen romanischen Turmanbau erhielt, sind heute nur noch Chor und Apsis erhalten, der Rest wurde im 19. Jahrhundert komplett umgebaut.114 Fragmentarische Reste der Kalkmalereien, darunter a) eines werkstatttypischen Weltgerichts auf der Triumphwand, wurden 1907 abgenommen und befinden sich in Lunds Universitets Historiska Museum. Abermals fanden sich hier b) Stifterbilder von Laien in voller Größe ohne Intercessoren in Resten, jedoch nicht auf der mit dem Gericht besetzten Triumphwand, sondern im Triumphbogen: auf der Nordseite eine Frau, die eine Kerze hält, auf der Südseite ein männlicher Laie, der ein Kirchenmodell mit Turm hält. Es ist daher analog zu Fjenneslev anzunehmen, dass die Malereien im Zuge des Turmanbaus angefertigt wurden. 16. Flädie †, Westschonen: In Flädie fanden sich Besitztümer des Königs; schon Knud der Heilige schenkte hier Land an das Erzbistum.115 Die romanische Kirche wurde 1886 abgerissen, doch sind Reste der Kalkmalereien dokumentiert.116 Sie zeigten neben einer Maiestas Domini an der Nordwand des Chores a) die Heilige Helena sowie im Triumphbogen Engelmedaillons. Reste an der Triumphwand waren nicht mehr identifizierbar; möglicherweise befand sich hier ein Weltgericht.117 Dass die Kirche der Tradition nach Helena geweiht war, wird auch durch zwei mittelalterliche Prozessionskreuze aus Flädie plausibel, eines

112 Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], S. 124f. 113 Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 137f.; vgl. Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 30–33. 114 Zum Besitz Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 28, 118; zur Kirche und ihren Malereien Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 14–31; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 36f.; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 3 [1976], S. 172–174; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 14f. 115 Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 35. 116 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 24–34; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 40–45; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976], S. 122– 124; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 14f. 117 Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 45 interpretiert Reste einer sitzenden Figur an der südlichen Triumphwand als eine Darstellung Konstantins.

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mit einer Darstellung der Konstantinslegende, eines mit Helena;118 möglicherweise besaß die Kirche ein im Rahmen von Kreuzzügen und/oder Byzanzfahrten erworbenes Fragment des Heiligen Kreuzes. 17. Stävie †, Südwestschonen: Durch den Umbau des Chores der romanischen Kirche 1880 gingen die Reste der Kalkmalereien verloren, doch ist a) eine Badeszene im Anschluss an die Geburt Christi an der Nordwand des Chores wie in Lyngsjö in einem Aquarell dokumentiert (Abb. 48).119 Wahrscheinlich befand sich an der Triumphwand b) ein Weltgericht.

Abb. 48: Stävie kyrka, nördliche Wand des Chores (Detail: Jesus wird nach der Geburt gebadet), Aquarell von N. G. Bruzelius (1880), aus: Eriksson, Kristi första dop [1980], Fig. 4, S. 72.

Insgesamt erscheint das Bildprogramm der Finja-Werkstatt, angepasst an Kirchen ganz verschiedener Größe, relativ homogen. Ihre herausstechendsten Merkmale bleiben ein sehr altertümlicher Stil und ein Ikonographie-Eklektizismus, die eine bewusste Suche nach antiken Vorbildern beziehungsweise Darstellungen nahelegen, welche an als zentral wahrgenommenen Orten verbürgt sind – wie eben Konstantinopel. Insbesondere die Weltgerichte an den Triumphwänden sowie die Stifterdarstellungen lassen ein Rekurrieren auf byzantinische Ausmalungsprogramme als Möglichkeit erscheinen. Plausibel wird dies jedoch erst durch historische Kulturverflechtungen. Die Tatsache, dass Weltgerichte an so prominenter Stelle auftauchen, wurde auf verschiedene Weise interpretiert, einerseits als programmatische Aussage seitens des Erzbistums im Kampf mit den Aristokraten120 – wobei einerseits das Dreieck aus König, Kirche 118 Sie befinden sich heute in Lunds Universitets Historiska Museum (Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 42). 119 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 30, 35–38; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 38–40; Eriksson, Kristi första dop [1980], bes. S. 72 mit Abb. 4; Banning/ Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 3 [1976], S. 122–124; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 14f. 120 Ochsner, Helgonen i Finjakyrkan [1991], S. 83f.

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und Aristokraten eine anachronistische Einteilung darstellt,121 zumal eine Rückbindung an den Erzbischof Eskil nicht sonderlich plausibel erscheint, denn es treten gerade weltliche Magnaten prominent als Stifter auf. Andererseits wird der Teufel in den Gerichtsszenen, wo er noch zu erkennen ist, gebunden dargestellt, worin Inger Ahlstedt Yrlid eine optimistische Botschaft erkannte,122 was aber aufgrund der Verbreitung in der Gerichtsikonographie unsicher scheint. Wollte man dies als Reflex auf eine spezifische historische Situation auffassen, wäre eine Datierung in die Zeit der Königsfehden zwischen 1131 und 1157 wenig plausibel – gerade das Chronicon Roskildense von 1138 etwa wird getragen von einem apokalyptischen Pessimismus angesichts der Aufhebung des Lundenser Erzbistums und der Verstrickung der Bischöfe in Konflikte innerhalb der Königsfamilie,123 deren konkurrierende Vertreter zudem Allianzpartner im Kampf um die Macht materiell auf das Äußerste belasteten.124 In der Teufelsdarstellung liegt also ein zugegebenermaßen schwaches Indiz für eine Datierung in den Zeitraum nach 1157. Die konkreten Lebensumstände der weltlichen Auftraggeber wiegen hier viel schwerer, deuten aber in dieselbe Richtung. Zwar lässt sich die Finja-Werkstatt nicht so deutlich wie die Vä-Werkstatt oder gar die spätere Jørlunde-Werkstatt einem Magnatenkollektiv zuordnen, was vor allem mit ihrem Verteilungsschwerpunkt in Schonen zusammenhängt, wo Informationen zu den Gutsstrukturen noch deutlich dünner sind als für das Seeland der fraglichen Zeit.125 Immerhin aber stehen die drei Kirchen auf Seeland mit dem Skjalmkollektiv in Zusammenhang; bei zweien, Fjenneslev und Slaglille, ist dieser Zusammenhang über jeden Zweifel erhaben. In Schonen waren immerhin vier Kirchen wahrscheinlich königlich; eine mögliche Rückbindung mindestens 121 Die Idee eine tripartiten Gesellschaft aus Königtum, Kirche und den »Großen« oder, liberal gedacht, dem »Volk«, war jahrzehntelang beherrschend, wobei verschiedene Ergebnisse erzielt wurden (vgl. Arup, Land og folk [1925], S. 208f.; Koch, Kongemagt og kirke [1963], S. 287; Christensen, Kongemagt og aristokrati [1945], S. 22–42, 521; Hoffmann, Königserhebung und Thronfolgeordnung [1976], S. 171–178; Breengaard, Muren om Israels Hus [1982], S. 21f., 71; Ulsig, Højmiddelalder [1999], S. 28; Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 126–159); der Dualismus zwischen regnum und sacerdotium stammt von Weibull, Nekrologierna från Lund, Roskildekrönikan och Saxo [1928], bes. S. 84–95, der letztlich ein Konfliktmuster aus dem so genannten Investiturstreit transferiert. Kritik am Denken in institutionellen statt akteursbezogenen »Parteien« wie etwa Magnatenallianzen mit einem Gegenentwurf übt Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], bes. S. 17–44, 251–258; vgl. auch Hermanson, Makten, individen och kollektivet [2004]. 122 Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 85–93. 123 Hierzu ausführlich Breengaard, Muren om Israels Hus [1982], S. 71, 122–203. 124 Zu diesem Verhalten und der Reaktion gerade der Hvide darauf unter Svend III. Grathe Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 218–222, der Saxos Begründungen für den Parteiwechsel der Hvide von Svend III. zu Knud III. analysiert. Ehrenrühriger Geiz bzw. Habgier, geboren freilich aus der Not des Königs, ist dort eine wesentliche Begründung für den Entzug der Treue. 125 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 27–30.

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zweier, wenn nicht mehrerer Kirchen an das Skjalmkollektiv ist denkbar, aber nicht mehr zu erhärten.126 Auch sonst ist eine Zuordnung zu Magnaten als Bauherren naheliegend, man denke an die aufwendige Ausstattung mit Herrschaftsgalerien, Glasfenstern, bebilderten Fünten und Goldenen Altären, wie er in Lyngsjö erhalten und zum Beispiel in Fjenneslev und Alsted in Kirchen der Hvide dokumentiert ist.127 Man erfasst mit so ausgestatteten Kirchen ganz sicher nicht den repräsentativen Durchschnitt der 2000 romanischen Dorfkirchen in Dänemark, sondern stormandskirker, deren Ausstattungen selbst diskursiver Bestandteil der »Kultur des Politischen«128 zu ihrer Entstehungszeit waren.

Die Jørlunde-Werkstatt Umso deutlicher wird dies bei den Werken der Jørlundewerkstatt, die, von einer Ausnahme in Småland abgesehen, praktisch ausschließlich in Seeland für das Skjalmkollektiv arbeitete und in ihren Bildprogrammen augenscheinlich stark von Einflussnahmen der Stifter abhängig war; auch passte sie ihr Bildprogramm an verschiedene Kirchenräume mit und ohne Rundapsis an.129 Sie gilt stilchronologisch als Nachfolger der Vä-Werkstatt; Kaspersen machte auf Übergangsphänomene zwischen beiden aufmerksam, auch im Hinblick auf die Ornamentik der Borten, welche die Bilder umgeben.130 Insgesamt umfasst die Werkstatt etwa zwanzig Monumente, die bis auf Vrigstad alle in Seeland liegen.131 Die Ausführung der Malereien ist handwerklich ausgesprochen aufwendig auf einer weiß gekalkten 126 Halding/Johansen, Thi de var af stor slægt [2001], S. 107 vertreten die Ansicht, die Hvide ständen als Hauptauftraggeber hinter der Werkstatt. Wenn man die seeländischen Werke als die ältesten betrachtet (so Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 138), erscheint dies nicht unplausibel. 127 Zur Ausstattung des Kirchenraums insgesamt vgl. auch Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 50–53; Ochsner, Bygget kring mysteriet [1992], S. 53–88. Goldene Altäre wurden zu Massen aufgrund ihres Materialwerts in der Reformation zerstört, so auch in Fjenneslev und Alsted (Nørlund, Gyldne altre [1968], S. 7f.). 128 Vgl. dazu oben, S. 70. 129 Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 26f., 47f., 56f. Die Werkstatt und ihre so deutliche Rückbindung an die Hvide identifizieren bereits Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 63–65. 130 Haastrup, wie vorige Anm.; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 120f. Zur Ornamentik Stangier, Ornamentstudien [1995], S. 271–279. 131 Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 202 nennen Alsted, Butterup, Gundsømagle, Hagested, Herstedøster, Roskilde St. Ib, Jørlunde, Kildebrønde, Kirkerup, Kvanløse, Kyndby, † Munke-Bjergby, Måløv, Rye, Skibby, Tveje Merløse, Vester Broby (?), † Vrigstad, † Kirke Værløse. Nach heutiger Erkenntnis sind zu streichen Gundsømagle (Nr. 2), Skibby (Nr. 7); Merløse wird von Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 121 als Übergangsphänomen gewertet. Ulla Haastrup zählt nach eigener Auskunft aktuell die Malereien in Herslev, Bavelse, Holme-Olstrup und mglw. Ørsted der Werkstatt hinzu, so dass sich eine Zahl von etwa 20 Werken ergibt.

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Grobputzlage mit sehr sorgfältig geglättetem Intonaco.132 Zahlreiche Details der Figuren, vor allem Nimben, aber auch Gewandkanten und Gegenstände sind in Stuck modelliert und vergoldet, die Hintergrundfarbe ist Lapislazuliblau. Hier häufen sich Aneignungen byzantinischer Ikonographie bei einzelnen Motiven wie bei keiner anderen Werkstatt;133 folglich variieren die Bildprogramme erheblich. 18. Jørlunde, Nordostseeland: Die Hvide hatten vor Ort schon um 1140 erhebliche Besitztümer. Die sicher von einem von ihnen gebaute Kirche aus Travertin mit Mauerfüllungen aus Granit und umlaufendem Sockel besitzt die ursprüngliche Rundapsis nicht mehr; der romanische Turm, etwas schmaler als der Kirchenbau selbst, wurde zwischen etwa 1200 und 1250 ergänzt, wobei nur die untere Partie weitgehend unverändert überdauert hat.134

Abb. 49: Jørlunde Kirke, Triumphwand, aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/joerlunde-3550/jor3550hbt048.JPG (23. 11. 2013).

Im 19. Jahrhundert wurden auf der Triumphwand, im Triumphbogen und an der Nordwand des Chores Kalkmalereien entdeckt, die teilweise von den im 14. Jahrhundert eingezogenen Gewölben verdeckt sind; das Schiff besaß keine romanischen Malereien.135

132 Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 30; Bøllingtoft, Teknologi [1986]. 133 Haastrup, Byzantine Elements [1981], S. 318–331. 134 Jørgensen/Johannsen, DK Frederiksborg Amt 4 [1975], S. 2233–2284; Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 41, 61. 135 Zu den Malereien Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 4, S. 102, 109f.; Jørgensen/Johannsen, DK Frederiksborg Amt 4 [1975], S. 2251–2258; Haastrup, Fristelsen i Jørlunde [1975]; Haastrup, En rekonstruktion [1986]; Kruse, Brylluppet i Kana [1986]; Haastrup/Smalley, Engle med Gudslammet [1986].

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Abb. 50: Jørlunde kirke, Triumphwand (Detail: Hochzeit zu Kana), Fotografie Roland Scheel (2009).

Auf der Triumphwand oben nördlich des Bogens befindet sich eine teilweise verdeckte a) Erweckung des Lazarus, bei der sich Maria und Martha in Proskynesis befinden, im Süden der Judaskuss (Abb. 49). Darunter ist die Kreuzigung dargestellt, nördlich gegenüber b) die Hochzeit zu Kana: Während diese in westlichen Zyklen in drei Phasen repräsentiert wird, ist sie hier wie in der mittelbyzantinischen Kunst in einem Bild geschildert (Abb. 50).136 Links des sigmaförmigen, nicht wie im Westen üblich eckigen Tisches steht Christus mit vergoldetem, in Stuck modelliertem Nimbus, der in byzantinischen Bildern gewöhnlich mit am größeren Tisch sitzt, und streckt die rechte Hand einem Pokal entgegen, den eine männliche Person in der Linken hält, während sie die Rechte offenbar in einem Verwunderungsgestus erhebt. Am gedeckten Tisch zur Rechten, am Bildrand eingerahmt von einem Gehäuse, befindet sich ein Paar, das sich einander zuwendet; die Gesten deuten auf eine Konversation hin. Der Mann trägt einen hohen, aufwendigen Kopfschmuck. Links von Christus, 136 LCI 2, Sp. 299–303.

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Abb. 51: Jørlunde Kirke, Nordwand des Chores, westlicher Teil (Detail: Einzug in Jerusalem), Fotografie Roland Scheel (2009).

verdeckt vom Gewölbeansatz, aber an einer ausgestreckten Hand erkennbar, befand sich wohl eine Mariendarstellung. Weitere auffällige Szenen finden sich an der Nordwand des Chores, wo c) die untere Hälfte eines Einzugs nach Jerusalem erhalten ist (Abb. 51). Jesus sitzt hier unzweideutig in byzantinischer Manier auf dem Esel; beide Beine befinden sich auf der dem Betrachter zugwandten Seite.137 Rechts neben einer Fensteröffnung setzt sich die byzantinische Ikonographie d) mit einer Darstellung des Abendmahls fort (Abb. 52): Statt wie üblich mit Christus in der Mitte zu Tisch zu sitzen und Johannes schlafend zu zeigen, sitzt der Heiland hier in antiker beziehungsweise byzantinischer Bildtradition am rechten Ende eines Stibadions; Johannes lehnt sich gegen seinen Rumpf. Daneben befindet sich ein weiterer Apostel; am rechten Bildrand, den abermals eine Gewölbeansatz bildet, ist möglicherweise die Hand Judas’ zu erkennen, der nach dem Fisch greift.138 Auch die unten e) anschließende Borte ist bemerkenswert (Abb. 53). Sie besteht aus Prismenstäben, Palmetten und weißen Vögeln und umrahmt hier drei eckige »Ikonen«, in denen sich streng frontale

137 Das im oberen Teil beschädigte Bild wurde falsch ergänzt; die rechts stehende Mutter mit Kind ist wohl ein Zaungast und erhielt zu Unrecht einen Nimbus (Haastrup, En rekonstruktion [1986]); zur Reithaltung auch LCI 1, Sp. 596f. 138 Vgl. LCI 1, S. 10–17.

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Abb. 52: Jørlunde kirke, Nordwand des Chores, östlicher Teil (Detail: Fragment des Letzten Abendmahls), Fotografie Roland Scheel (2009).

Brustbilder von Heiligen befinden; einer hält ein kleines Kreuz, möglicherweise ein Pilgerkreuz, auf das er deutet, zwei tragen Märtyrerpalmen in der Rechten.139 Gegenüber an der Südwand des Chores befand sich wohl eine Darstellung der drei Versuchungen, wie ein Fragment an der Südseits der Triumphwand zum Chor hin nahelegt. Offenbar war das Bildprogramm typologisch aufgebaut, stellte den Einzug in Jerusalem, das Abendmahl und möglicherweise die Verklärung den Versuchungen gegenüber sowie die Hochzeit zu Kana der Kreuzigung.140

139 Hierzu Haastrup, En rekonstruktion [1986]; Stangier, Ornamentstudien [1995], S. 272. Die »Ikonen« in den Borten begegnen in Alsted, Hagested, Jørlunde, Kvanløse, Munke-Bjergby und Vrigstad. 140 Haastrup, En rekonstruktion [1986].

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Abb. 53: Jørlunde kirke, Nordwand des Chores (Detail: Ikonenborte), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/joerlunde3550/jor3550krv028.JPG (04. 03. 2015).

Abb. 54: Jørlunde kirke, Triumphbogen (Detail), aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 158.

Darin hat es nichts Byzantinisches; Übernahmen beschränken sich auf ikonographische Bestandteile. Im Triumphbogen findet sich, umrahmt von einer Zickzackborte, im Scheitel ein Lamm mit Kreuzfahne im Medaillon, das von zwei Engeln gehalten in beinahe tänzelnder Haltung getragen wird (Abb. 54). Bei einem ist die äußerst feine Zeichnung der Gewandfalten um die Körperkonturen gut erhalten. 19. Måløv, Nordostseeland: Der ganze Ort gehört um 1300 den Hvide, als er dem Bistum Roskilde übertragen wird. Die relativ kleine, aus Findlingen mit Maueröffnungen und -ecken aus Kalkstein und Travertin errichtete Kirche besaß keine Rundapsis, sondern lediglich eine kleine Altarnische im geraden Chorabschluss sowie ursprünglich sehr wahrscheinlich eine Doppelturmfassade. Später eingezogene gotische Gewölbe wurden auch aus statischen Gründen 1936 entfernt,141 so dass die oberen Partien der Malereireste sichtbar sind.142 141 Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 1 [1944], S. 620–631. 142 Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 1 [1944], S. 623–626; Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 9, S. 66–72, 97f., 109f.; Bøllingtoft, Teknologi [1986]; Falcon Møller, Den spillende ›engel‹ [1986]; Hjort, Madonna med barnet [1986]; Haastrup, Et mærkeligt billedforløb [1986].

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Abb. 55: Måløv Kirke, Triumphwand, aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S.168.

Von den Kalkmalereien der Jørlundewerkstatt, welche die ganze Kirche zierten, sind Reste auf der Triumphwand, im Triumphbogen sowie auf der Nordwand des Schiffs erhalten. Im sehr kleinen Triumphbogen befinden sich Bilder von Königen, die anhand von Inschriften und ihren Kopfbedeckungen – möglicherweise Judenhüten? – als David und Salomon zu erkennen sind. Das Programm im Schiff und an der Triumphwand hing zusammen: Zwischen den nördlichen Fenstern in der oberen der zwei Bildzonen ist zu erkennen, wie Christus nach Osten weggeführt wird, während Pontius Pilatus, an einem Tisch sitzend, sich die Hände wäscht; weiter östlich jenseits des Fensters, dessen Erweiterung eine dazwischen befindliche Szene zerstörte, sind Reste des Judaskusses zu erkennen, während ein Soldat, dessen Unterzeichnung noch erkennbar ist, Christus abermals an den Händen nach Osten davonzerrt. Die Figuren, ja die ganzen Szenen im oberen Bildfeld der Nordwand erscheinen hier gerade im Vergleich zur Finja-Werkstatt stark in Bewegung nach rechts; ihre Körper sind sförmig gekrümmt. Merkwürdig erscheint die Inversion im Programm – erst die Verurteilung, dann die Verhaftung – denn die Passion setzt sich im oberen Teil der Triumphwand fort. In ihrem Nordteil ist die Kreuzigung dargestellt; außer Longinus und Stephaton findet sich hier eine sehr frühe Darstellung der Ecclesia

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als Sponsa Christi, die das Blut aus der Seitenwunde in einem Kelch aus vergoldetem Stuck auffängt.

Abb. 56: Måløv Kirke, Triumphwand (Detail: nördliche Seitenaltarnische, Theotokos Hodegetria), Fotografie Roland Scheel (2009).

Im Zentrum der Triumphwand befindet sich a) die einzige Deesis in der dänischen romanischen Wandmalerei; der Pantokrator thront auf einem Regenbogen (Abb. 55). Südlich davon ist b) die Auferstehung dargestellt, wo

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Abb. 57: Theotokos Hodegetria, getriebene, vergoldete Kupferplatte (Torcello, um 1200), Victoria and Albert Museum, London, aus: Early Christian and Byzantine Art [1949], Abb. 18.

Christus wohl in byzantinischer Manier auf seinem Sarkophag steht, eine Darstellung, die sich erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Italien findet; aufgrund der Beschädigung des Bildes wäre es auch denkbar, dass er auf den geborstenen

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Abb. 58: Theotokos Hodegetria, Elfenbeinskulptur (11.–12. Jahrhundert Jahrhundert), Victoria and Albert Museum, London, aus: Early Christian and Byzantine Art [1949] Abb. 19.

Höllenpforten steht, gleichfalls eine byzantinische Ikonographie.143 Flankiert wird er von zwei männlichen Heiligen. Altertümlich wirkt der Kreuzstab, der 143 LCI 1, Sp. 201–208; zu den Höllendarstellungen LCI 2, Sp. 322–328.

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gewöhnlich im 12. Jahrhundert bereits von einer Kreuzfahne abgelöst ist. Neben der kleinen Öffnung des Triumphbogens befinden sich zwei Seitenaltarnischen; im Norden ist ein Heiliger Bischof abgebildet, im Süden c) die uns bekannte, im Verhältnis zu den restlichen Malereien sehr gut erhaltene Theotokos Hodegetria mit zahlreichen erhaltenen Binnenkonturen, ikonographisch im Gegensatz zu anderen lateineuropäischen Werken kaum akklimatisiert (Abb. 56).144 Die Muttergottes mit im Verhältnis zum Körper dünnem, langem Hals und kleinem Haupt und Christus sind einander mit den Köpfen zugewandt, ähnlich wie auf einer vergoldeten Kupferplatte mit griechischer Inschrift des späten 12. Jahrhunderts, die in der Kathedrale zu Torcello gefunden wurde und sich im Victoria and Albert Museum findet, dort allerdings ganzfigurig (Abb. 57).145

Abb. 59: Måløv Kirke, Nordwand des Schiffs (Detail: Pontius Pilatus und Christus nach dem Urteil), Fotografie Roland Scheel (2009).

Weitere Reste der unteren Bildzone an der Nordwand des Schiffs zwischen den Fenstern unterhalb von Pontius Pilatus sowie an der Ecke zur Triumphwand sind sehr stark beschädigt und schwer zu deuten (Abb. 59), offenbaren aber einen höchst interessanten Eingriff in das Malprogramm seitens der Auftraggeber: Die 144 Haastrup, Byzantine Elements [1981], S. 325f.; Hjort, Madonna med barnet [1986]. 145 Early Christian and Byzantine Art, ed. Victoria and Albert Museum [1949], Abb. 18. Frühere Hodegetria-Darstellungen zeigen diese Interaktion zwischen Muttergottes und Christus nicht, vgl. Early Christian and Byzantine Art, ed. Victoria and Albert Museum [1949], Abb. 19 bzw. hier Abb. 58 sowie ein Elfenbeinrelief des 10./11. Jhs. mit der Hodegetria ebenfalls ohne Interaktion aus dem Rijksmuseum in Utrecht bei Klein, Aspekte der ByzanzRezeption [1998], 129, S. 135.

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Abb. 60: Nordwand des Schiffs (Detail: Fragmente einer Stifterin mit goldener Kopfbedeckung und rechts davon eines Stifters, links daneben eine abweichende Unterzeichnung), aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 164.

mehrfach durchscheinende Unterzeichnung lässt Bäume und eine auf einem Saiteninstrument musizierende Person erkennen, wahrscheinlich Musikanten an König Davids Hof. Darüber gemalt wurde jedoch etwas ganz anderes, nämlich ein Weltgericht mit Stifterbildern.146 Westlich der Musikanten-Unterzeichnung findet sich ein Rest von Abraham mit den Seelen im Schoß, d) östlich eine Stifterin, deren kappenförmige Kopfbedeckung in vergoldetem Stuck ausgeführt war, unter der ein Schleier vor der Schulter herabhängt, mit gemustertem Kleid und langem Mantel, die in der rechten Hand wohl einen Ring oder etwas Ähnliches hielt (Abb. 60). Ihre Kleidung, insbesondere die Kopfbedeckung, ähnelt derjenigen der Königin, die in Vä dargestellt ist, weshalb es sich aber nicht um eine Königin handeln muss. Vor ihr, nur noch an den Umrissen der Beine zu erkennen, stand ein ähnlich wie die Hvide-Männer in Fjenneslev und Slaglille gekleideter Stifter. Ganz schwache Reste des Richters, flankiert von Engeln, sind weiter im Osten zu erkennen, ebenso Reste eines leeren Kreuzes, eine e) Anspielung an die Hetoimasia wie in Finja (Abb. 61).

146 Falcon Møller, Den spillende ›engel‹ [1986].

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Abb. 61: Måløv Kirke, Nordwand des Schiffs (Detail: Judaskuss, darunter Fragmente eines leeren Kreuzes und des Richters), aus Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S.169.

Die Platzierung des Gerichts in der unteren Bildzone, gedrängt in den Osten der Nordwand ohne Platz für die Verdammten, erscheint gänzlich abwegig, und das war es wohl auch. Dies belegt die Änderung des Programms. Sie zeigt aber

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zugleich, dass wahrscheinlich die Auftraggeber sich als Stifter vor dem Richter und unweit der Hodegetria repräsentiert wissen wollten, und dass sie ihren Willen bekamen. Man kann von einer potentiell erheblichen Einflussnahme der Magnaten auf die Bilder in »ihren« Kirchen ausgehen, gerade bei der JørlundeWerkstatt. 20. Kirkerup, Nordostseeland: Über die Besitzstruktur am Ort lassen sich nur Konjekturen anstellen; er kam im Laufe des Mittelalters an das Bistum Roskilde. Die Rundapsis der überwiegend aus Granit erbauten Kirche, die einen spätromanischen Westturm erhielt, steht nicht mehr.147 Von den Malereien, die zu den frühen Vertretern der Jørlunde-Werkstatt gerechnet werden,148 sind a) drei Medaillons mit nimbierten Darstellungen von Fides, Spes und Caritas in Orantenhaltung erhalten (Abb. 62). Diese Ikonographie ist tyisch für die Vä-Werkstatt, die Zierformen in den Borten mit Rosetten und Palmetten hingegen deuten ebenso wie Malerei-Reste oberhalb der sekundären Gewölbe auf eine Ausführung durch die JørlundeWerkstatt hin. 21. Hagested, Nordwestseeland: Gemäß Kong Valdemars Jordebog verfügt der König hier über Eigengüter, doch gilt dies in geringerem Umfang auch für den Roskilder Bischof; ein Stifterbild mit einem Laien verweist möglicherweise auf das Skjalmkollektiv. Der bis in die Spätgotik turmlose Kirchenbau aus Travertin mit Rundapsis und umlaufendem Sockel, aufgrund einer Holzprobe aus einem Fensterrahmen auf 1133/34 dendrodatiert, war wohl ursprünglich verputzt, aber nicht ausgemalt.149 Kalkmalereien, mit denen der ganze Kirchenraum ausgemalt war, wurden schon 1862 entdeckt und von Jacob Kornerup entsprechend dem Zeitgeist stark restauriert beziehungsweise partiell neugemalt.150 Hierzu gehört eine Maiestas Domini mit Christus auf einem Thron, flankiert von zwei Heiligen und zwei Engeln in der Apsis, im oberen Bereich der Nordwand des Chores eine Verkündigung an Maria und ein Marientod, im Triumphbogen zwei Bischofsheilige unter einem Lamm Gottes im Medaillon. Reste an der Nordwand des Schiffes lassen sich nicht mehr deuten; erhalten ist unter anderem eine in Stuck modellierte Königskrone. Generell existiert keine zweite, untere

147 Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 2 [1946], S. 745–762. 148 Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 2 [1946], S. 750–752; Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 12, S. 84f.; Haastrup, Fragmenternes skønhed [1986]; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 120f. 149 Jørgensen/Johannsen, DK Holbæk Amt 1 [1979], S. 525–559. 150 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 24, S. 86f., 109f.; Jørgensen/ Johannsen, DK Holbæk Amt 1 [1979], S. 533–541; Kjær, To Majestasmotiver [1986]; Falcon Møller, Tuba-engle [1986]; Haastrup, Jomfru Marias død [1986]; Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], passim; Haastrup, Byzantinsk klædte ærkeengle [2014], S. 16.

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Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

Abb. 62: Kirkerup Kirke, Triumphbogen (Detail: S. Fides im Medaillon), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/ kirkerup-4000/kir4000krb017.jpg (23. 11. 2013).

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Abb. 63: Hagested Kirke, Apsis, Aquarell von Jacob Kornerup (1862), aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 146.

Bildzone wie etwa in Måløv, sondern im unteren Bereich fand sich Draperiemalerei.151 Signifikant sind a) eine von Maria und Johannes dem Täufer sowie zwei Erzengeln in byzantinischer Hoftracht flankierte Maiestas Domini (Abb. 63), weiterhin b) teilweise von Gewölbeansätzen verborgene Reste einer Weltgerichtsdarstellung auf der Triumphwand in drei Zonen (Abb. 64): Über dem Bogen thront Christus in einem Medaillon, wie bei der FinjaWerkstatt im Norden flankiert von den Erlösten, die teilweise sichtbar sind, während sich von den Verdammten auf der Südseite keine Reste finden. Darunter befanden sich auf beiden Seiten Posaunen blasende Engel, welche die Toten wecken. Unterhalb der Abschlussborte auf der Seite der Erlösten ist c), erheblich beschädigt, ein unbewaffneter, edel gekleideter bärtiger Stifter im FjenneslevTypus abgebildet, der einen Gegenstand, wahrscheinlich einen Schrein, der dextera Dei entgegenstreckt. 151 Zu den Draperien Haastrup, Malede draperier [1986].

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Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

Abb. 64: Hagested Kirke, Triumphwand mit Fragmenten einer Weltgerichtsdarstellung, nördlich ein Stifter mit Kirchenmodell, aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/hagested-4300/hag4300hbt018.jpg (23. 11. 2013).

Über ihm, nur in Fragmenten oberhalb des Gewölbes bewahrt, befand sich neben dem Engel ein Heiliger mit Stuckglorie und Krone, möglicherweise ein Heiligenkönig oder der Heilige Knud Lavard (Abb. 65). Es findet sich also eine Kombination aus ikonographischen Elementen, die schon bei der Finja-Werkstatt begegnen, des Gerichts auf der Triumphwand wie in Finja und des Stifterbildes ebendort wie in Fjenneslev und Slaglille. Unterhalb der Malereien etwa im Chor findet sich aber d) wie in Jørlunde eine »Ikonenborte« (Abb. 66). Die durchaus als Ausdruck auf Erlösung aufzufassende Platzierung unterhalb beziehungsweise bei den Erlösten und möglicherweise unterhalb eines lokalen Heiligen aus dem Königshaus korrespondiert wiederum dem Gericht, das in die untere Bildzone der Nordwand in Måløv integriert wurde. Kaspersen rechnet die Malereien zu den frühen, noch von Vä geprägten Vertretern der Werkstatt in Nachfolge etwa Skibbys, das ebenfalls eine Weltgerichtsdarstellung aufweist.152 22. Kildebrønde, Ostseeland: Die ursprünglich turmlose Travertinkirche, deren mit Lisenen und Rundbogefries verzierter Chor mit rechteckigem Abschluss im 19. Jahrhundert neu gebaut wurde, gehörte zumindest im Spätmittelalter dem Stift in Roskilde.153 Oberhalb der um 1400 eingezogenen Gewölbe 152 Kaspersen, The Vä Master [2003]. 153 Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 2 [1946], S. 977–995.

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Abb. 65: Hagested Kirke, Triumphwand oberhalb des Gewölbes, nördliche Seite (Detail: Fragmente eines Hauptes aus der Gruppe der Erlösten, als einzige davon mit Spuren von Krone und Nimbus in Stuck: ein Heiligenkönig? Knud Lavard?), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/churchfresco/hagested-4300/hag4300 sko026.jpg (23. 11. 2013).

Abb. 66: Hagested Kirke, Nordwand des Schiffs (Detail aus dem zweiten Fach: Ikonenborte), aus: Kalkmalerier i danske kirker, Nationalmuseet, København: http://nitrogen.euman.net/lpilot/ churchfresco/hagested-4300/hag4300hbv024.jpg (23. 11. 2013).

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finden sich am Ostende der Nord- und Südwand a) Reste einer Darstellung der törichten und klugen Jungfrauen ohne Glorien mit Diademen aus vergoldetem Stuck (Abb. 67), ähnlich wie die Darstellung der Tugenden in Sæby ved Tissø; die klugen Jungfrauen im Norden sind besser erhalten.154

Abb. 67: Kildebrønde Kirke, Triumphwand oberhalb des Gewölbes, nördlicher Teil (Detail: die klugen Jungfrauen, darüber die Vorzeichnung für eine perspektivische Mäanderborte), aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 135.

154 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 17, S. 102, 109f.; Moltke/ Møller/Schultz, DK Københavns Amt 2 [1946], S. 982; Franck, De forstandige og de uforstandige jomfruer [1986]; Christensen, Teknologi og pigmenter [1986].

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Sie halten in Übereinstimmung mit der antiken Bildtradition brennende Lampen, die wie kleine Amphoren aussehen. Im Fehlen der Nimben besteht eine Parallele zur byzantinischen Kunst.155 Ähnliche Darstellungen, die freilich keine direkten Vorbilder sein können, begegnen auch im Kapitelsaal des Konvents in Brauweiler und in Idensen. Im Zentrum der Darstellung, verdeckt durch den Gewölbescheitel, befand sich sicher eine Christusdarstellung, die von zwei nimbierten Figuren flankiert war, was eher an eine Deesis als eine Schilderung der Ecclesia und der Synagoge denken lässt. In der Kirche zu Vrigstad fand sich das Motiv bei deren Abriss ebenfalls. In Kildebrønde sind zudem Reste des ursprünglichen Lapislazulihintergrundes dokumentiert. 23. Tveje Merløse, Nordwestseeland: Absalon überträgt 1199 den Ort Merløse an das Kloster Sorø, es handelt sich also um ein Gut der Hvide. Der überwiegend aus Granit, teilweise aus Travertin mit Rundapsis errichtete Kirchenbau ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die ursprüngliche Doppelturmfassade extrem gut erhalten ist. Sie weist eine große optische Ähnlichkeit zu derjenigen des Doms in Lund vor ihrem neoromanischen Neubau im 19. Jahrhundert auf. Wahrscheinlich löste der Steinbau eine Stabkirche ab, deren Material am Bau verwendet wurde. Ein Wechsel des Materials von Granit-Feldsteinen zu Travertin an den Wänden des Schiffs könnte auf eine Verzögerung am Bau nach der Fertigstellung von Chor und Apsis hindeuten; möglicherweise besteht auch eine Zeitdifferenz zwischen den Kalkmalereien im Ostteil des Gebäudes und dem Schiff, sicher ist dies jedoch nicht.156 Am westlichsten Fenster der Nordseite barg man einen originalen Eichenrahmen, der aus einem allerfrühestens 1133 gefällten Stamm hergestellt worden sein kann, aufgrund der fehlenden Waldkante aber sehr wahrscheinlich später, so dass sich eine Datierung um die Jahrhundertmitte ergibt. Die Kirche besaß eine Herrschaftsempore im Westen mit drei Öffnungen, von denen jedoch die äußeren noch 1200 geschlossen und die mittlere umgestaltet wurden; in diesem Zustand erhielt das Schiff seine Kalkmalerein. Die sekundären Gewölbe wurden 1893/95 entfernt.157 In der Apsis ist die Nordseite einer Maiestas Domini gut erhalten, bei der Christus auf einem Regenbogen thront (Abb. 70).158 Auf der Nordseite ihm zugewandt befindet sich a) eine Maria orans wie in Sæby ved Tissø. Frontal als Brustbild mit erhobenen Händen begegnet sie b) in einem Medaillon im Scheitel des Triumphbogens (Abb. 71), ebenso wie bei der Vä-Gruppe, darunter befinden sich zwei Bischofsheilige.

155 LCI 2, Sp. 458–463. 156 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 121. 157 Jørgensen/Johannsen/Vedsø, DK Holbæk Amt 5 [1994], S. 2953–3011; Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 36, 76.

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Abb. 68: Tveje Merløse Kirke, Äußeres von Westen, Fotografie Roland Scheel (2009).

Während die Ikonographie sich also an der Vä-Werkstatt orientiert, stammt die Ornamentik der Borten einwandfrei von der Jørlunde-Werkstatt. Die Kalkmalereien im Schiff, von denen unterhalb der Herrschaftsempore im Westen Reste erhalten sind, zeigen einen Kampf, wahrscheinlich handelt es sich um eine Psychomachie-Darstellung. Auf der Nordwand des Schiffs befinden sich Reste einer Darstellung der Thomas-Legende. Bei den jüngeren Malereien findet sich mit vergoldetem Stuck zudem eine typische Technik der Jørlunde-Werkstatt. Es ist anzunehmen, dass die Werkstatt am Beginn ihrer Tätigkeit die Maiestas anfertigte, Jahre oder Jahrzehnte später die Ausstattung des Schiffs. 24. Vrigstad †, Småland: Als die aus Granit und Sandstein errichtete, große Kirche mit erbauungszeitlichem Westturm 1865 abgerissen wurde, kamen erhebliche Reste der romanischen Ausmalung auf der Triumphwand und im Chor

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Abb. 69: Tveje Merløse Kirke, Äußeres von Osten, Fotografie Roland Scheel (2009).

Abb. 70: Tveje Merløse Kirke, Apsis, Fotografie Roland Scheel (2011).

158 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 20, S. 86f., 99, 107f.; Kjær, To Majestasmotiver [1986]; Larsen/Falcon Møller, Vestpartiets kalkmalerier [1986]; Jørgensen/Johannsen/Vedsø, DK Holbæk Amt 5 [1994], S. 2974–2983.

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Abb. 71: Tveje Merløse Kirke, Triumphbogen (Detail: Theotokos Blachernitissa im Medaillon), Fotografie Roland Scheel (2011).

zum Vorschein, die in sechs Aquarellen dokumentiert wurden.159 In der Apsis befand sich die übliche Maiestas Domini, darunter auch aufgrund der großzügigen Platzverhältnisse eine Apostelreihe. An der Ostwand des Chores fanden sich in der oberen Zone wie in Kildebrønde im Schiff die klugen und törichten Jungfrauen, darunter im Norden, durch eine Inschrift identifiziert, der Heilige Nikolaus. An der Westwand des Chors waren oben Reste einer Schilderung der Opfer von Kain und Abel zu erkennen. Die Triumphwand zeigt ein in der Jørlundewerkstatt einmaliges Passions-Bildprogramm in drei Zonen: Oben fand sich ein Szenenablauf vom Judaskuss bis zur Auferstehung, nördlich darunter das letzte Abendmahl, jedoch nicht wie in Jørlunde in byzantinischer, sondern im Westen üblicher Ikonographie mit sitzenden Gestalten. Das Bild in der untersten Zone war nicht mehr erkennbar. Im Süden dagegen

159 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 41; Ullén, En svensk kirke [1986]; Ullén, De romanska målningarna i [1995].

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Abb. 72: Tveje Merløse Kirke, Inneres nach Westen gesehen, Fotografie Roland Scheel (2009).

zeigt sich a) eine Darstellung der Anastasis in byzantinischer Ikonographie:160 Christus steigt hinab in die Hölle und packt Adam beim Handgelenk; hinter ihm sind weitere Väter zu sehen. Der Teufel befindet sich rechts daneben. Eine solche Ikonographie ist auch bei Weltgerichtsdarstellungen der Vä- und Finja-Werkstatt denkbar, die jedoch gerade auf der Südseite meist nicht mehr erkennbar sind, von denen wir aber etwa aus der Vorzeichnung in Skibby wissen, dass sich dort ein Teufel befand. Auf der dritten Ebene im Süden des Triumphbogens befand sich eine Schilderung des ungläubigen Thomas. Christus hält hier b) ein Spruchband, dessen Inhalt mit IhCXPCN wiedergegeben wird: Ἰησοῦς Χριστὸς Νικᾶ.161 Dokumentiert ist auch c) das typische gemalte »Ikonenfries« an der Oberkante der Triumphwand. Marian Ullén sieht die Tätigkeit der Jørlunde-Werkstatt so weit von Seeland entfernt in Verbindung mit den Bischöfen Gisle (spätestens 1139 bis etwa 1170) oder Stenar von Linköping (1170er-Jahre), die gute Beziehungen zum Erzbistum in Lund unterhielten und sich regelmäßig dort aufhielten; 1143 hatte Gisle das Zisterzienserkloster Nydala in der Nähe gegründet.162 160 Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst 4,2 [1980], S. 47–56. 161 Ullén, De romanska målningarna i [1995], S. 163. 162 Ullén, De romanska målningarna i [1995], S. 171–173.

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Abb. 73: Vrigstad kyrka (†), Aquarell von C. F. Lindberg (1865), aus: Danske kalkmalerier 1080– 1175, ed. Haastrup/Egevang [1986], S. 176.

25. Roskilde, St. Ib, Nordostseeland: Die turmlose romanische Kirche aus Travertin im Nordosten der Stadt am Handelsplatz Vindeboder wurde um 1100 errichtet und besaß zwei Vorgängerbauten aus Holz. Bereits im frühen 19. Jahrhundert als Hospital genutzt, wurde sie 1816 verkauft, bis auf das Schiff abgebrochen und bis 1884 als Lagerhalle genutzt. Heute steht nur noch das Schiff ohne die sekundären Gewölbe;163 Jacob Kornerup dokumentierte die Reste von Kalkmalereien, die er auf der Triumphwand und im Triumphbogen vorfand, um 163 Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 1 [1944], S. 47–57.

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die Jahrhundertwende in einem Aquarell; Reste von ihnen sind heute noch sichtbar.164

Abb. 74: St. Ibs Kirke, Roskilde, Triumphwand. Aquarell von Jacob Kornerup (1900), Fotografie Ib Rasmussen (2006), aus: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/14/Sankt_Ibs_ Kirke_Roskilde_Denmark_drawing.jpg (23. 11. 2013).

Demnach befand sich auf der Triumphwand ein Weltgericht in aus den dänischen Werkstätten bekannter Ikonographie, das an der Südseite teilweise romanisch übermalt wurde mit einer Kreuzigung und einer Maiestas Domini ganz im Süden, hier unter Anwendung von vergoldeten Stuckglorien. Die zur primären Ausmalung gehörende, oben abschließende Borte jedoch zeigt a) bereits die für die Jørlunde-Werkstatt typischen »Ikonen«. Im Triumphbogen auf der nördlichen Seite befand sich b) ein nicht heiliger König, offensichtlich ein Stifter, der sich der Figur im Scheitel zuwendet (Abb. 75). Da er nicht erhalten ist und Wiedergaben in Aquarellen sich widersprechen, ist nicht mehr zu entscheiden, wie er im Detail aussah. Man kann aber mit einer gewissen Vorsicht davon ausgehen, dass die Kaufmannskirche vom König gestiftet wurde und dies entsprechend sichtbar war. Im 13. Jahrhundert besitzen auch die Hvide Land an dieser Stelle. Insgesamt zeigt die Jørlunde-Werkstatt, von der noch zahlreiche weitere Malereien erhalten sind, die jedoch keine in unserem Kontext relevanten By164 Moltke/Møller/Schultz, DK Københavns Amt 1 [1944], S. 53f.; Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 109f.; Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 59f.

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Abb. 75: St. Ibs Kirke, Roskilde, Triumphbogen (Detail: königlicher Stifter), aus: kalkmalerier.dk, Archivnr. 3010.

zantinismen aufweisen, nicht zuletzt aufgrund ihres fragmentarischen Zustands, die größte Varianz bei den Bildprogrammen, welche von einer erheblichen Einflussnahme der Auftraggeber zeugen. Hinzu treten die auffälligsten ikonographischen Elemente byzantinischer Herkunft bei gleichzeitig extrem enger Bindung an das Skjalmkollektiv. Weitere Kirchen 26. Vinslöv, Nordostschonen: Kalkmalereien sind in der Apsis und dem Chor der ansonsten seit dem Spätmittelalter wiederholt stark umgebauten Kirche zu erkennen.165 Unterhalb der Maietas Domini mit Christus auf dem Regenbogen in 165 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 74–86, 97–103; Banning/Brandt/

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der Apsiskonche, der ein geöffnetes Buch hält, befindet sich auf der Nordseite unterhalb die Darstellung einer Grablegung, möglicherweise derjenigen Christi. Im Triumphbogen sind in Medaillons Kain und Abel dargestellt, die ihre Opfer emporhalten, im Scheitel das Lamm Gottes. An der Nordwand des Chores oberhalb des Gewölbes fanden sich a) Reste einer Darstellung der drei Magoi in einer ähnlichen Ikonographie wie bei der Finja-Werkstatt. Bei der Maiestas Domini findet sich ein vergoldeter Stucknimbus, wie er bei der Jørlunde-Werkstatt üblich ist. Stilistisch bestehen Ähnlichkeiten zu den byzantinisch geprägten Malereien der Vä-Werkstatt, gerade bei der Maiestas Domini, jedoch ist die Ausführung einfacher, was auch die Ornamentik der Borten betrifft; zeitlich wird Vinslöv parallel zu den Werken der Finja- und Vä-Werkstatt gesehen. Die gleiche Werkstatt arbeitete auch in Östra Sallerup und Södra Åsum;166 Stangier schreibt ihr aufgrund der Zierformen auch Lyngsjö (Nr. 14) zu.167 27. Östra Sallerup, Mittelschonen: Absalon verfügt in seinem Testament über den Ort. In der Kirche finden sich Reste der romanischen Kalkmalereien im Triumphbogen ähnlich denjenigen in Vinslöv, Reste einer Apostelreihe und der verlorenen Maiestas Domini sowie an der Westwand des Chors Reste a) einer Darstellung der drei Magoi in der bekannten Ikonographie.168 Aufgrund stilistischer Datierungen vor die Jahrhundertmitte ist eine Assoziation mit Absalon oder den Hvide in Abrede gestellt worden.169 28. Førslev, Südseeland: Die Kirche aus Granitsteinen, bei einem großen Hofgut gelegen, dessen Eigentümer im Hochmittelalter nicht mehr festzustellen sind, verlor bereits im Spätmittelalter ihre Apsis bei einer Vergrößerung des Chors, wurde nach Westen verlängert und mit einem Turm versehen.170 Auf der Triumphwand sind, teilweise von sekundären Gewölben verdeckt, verschiedene Heilige dargestellt, im Triumphbogen selbst a) zwei Stifter, südlich ein Geistlicher, der ein turmloses, von Kornerup jedoch fehlrestauriertes Kirchenmodell hält, nördlich ein Laie in bodenlangen Kleidern, der in der rechten Hand ein

166 167 168 169

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Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 3 [1976], S. 178–182; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 85; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 11–13; Lindgren, Apsisudsmykningen i Vinslöv kirke [1986]. Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 11–13; Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 36f. Stangier, Ornamentstudien [1995], S. 270. Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 3 [1976], S. 280f.; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 11–13. Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 90. Dies geschieht jedoch allein aufgrund der stilhistorischen Einordnung der Malereien in den Zeitraum vor 1150, als die Bedeutung der Hvide in Schonen geringer war. Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 533–540.

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Schwert und in der Linken einen länglichen Gegenstand (eine Kerze, ein Szepter?) hält (Abb. 76–77).171

Abb. 76 und Abb. 77: Førslev Kirke, Triumphbogen (Details: zwei Stifter), aus Danske kalkmalerier 1175–1275, ed. Haastrup/Egevang [1987], S. 86.

Sein langes Gewand entspricht nicht der Kleidung anderer Laienstifter, so dass erhebliche Zweifel an der Identität bleiben. Möglicherweise handelt es sich um 171 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 36, S. 99f.; Lyckegaard, En verdslig og en gejstlig stifter [1987].

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die Darstellung eines Verstorbenen. Falls nicht ein König gemeint sein soll, was angesichts des schlechten Erhaltungszustands des Kopfes nicht zweifelsfrei zu entscheiden ist, könnte es sich um zwei Angehörige einer Magnatenfamilie handeln, möglicherweise einen Roskilder Domkanoniker und seinen Verwandten. Über ihnen befindet sich im Medaillon Christus mit segnend ausgebreiteten Armen, unter den Stiftern jeweils ein Medaillon mit Engeln, die ihre Hände segnend vor der Brust erhoben haben. Auf der Triumphwand findet sich b) das von der Jørlunde-Gruppe her bekannte »Ikonenfries«. Man kann davon ausgehen, dass die Malereien als späte Vertreter Impulse aus den drei großen Werkstätten aufnehmen. 29. Mårslet, Ostjütland: Der Kirchenbau aus Granit mit umlaufendem Sockel bestand aus Schiff und rechtwinklig abschließendem Chor. Der König besaß zumindest im Spätmittelalter das Patronatsrecht für die Kirche.172 Auffällig an den in die Zeit um 1200 datierten Kalkmalereien ist vor allem die byzantinische Kleidung und der Schmuck der dargestellten Figuren; an der Nordwand des Chors, abermals partiell von gotischen Gewölben verdeckt, befinden sich Reste einer prachtvollen Ausstattung.173 Das Kronfries zeigt in Bildfeldern Männer in starker Schrittstellung; der erste hebt einen Baumstamm, der zweite entfernt sich rasch von seinem gefallenen Pferd. Zwei andere Bildfelder zeigen galoppierende Pferde und einen Ritter, von West nach Ost findet sich die Hochzeit in Kana; am rechten Tischrand sitzt der Teufel mit drei Steinkugeln, offenbar bereits Bestandteil einer benachbarten, von einer Säulenvorlage verdeckten Darstellung der ersten Versuchung Christi. Die schwer zu deutende Szene östlich davon zeigt wahrscheinlich ein Heilungswunder Christi. Im untersten, deutlich niedrigeren Bildfeld befinden sich Reste einer nicht eindeutig zu bestimmenden Heiligenlegende; der Protagonist mit Tonsur und Nimbus wird bei seiner Verhaftung weißhaarig dargestellt, möglicherweise handelt es sich um Szenen aus der Petruslegende. Auffällig ist a) vor allem der byzantinische Schmuck der Braut mit hohem Diadem, halbmondförmigen Ohrringen und aufwendigen, mit Seide verbrämten Kleidern.174 Die heftige Bewegung der Figuren zeigt ähnlich wie die Jørlunde-Gruppe Einflüsse des »dynamischen« Stils, der sich in Byzanz im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts durchsetzt. Auch b) die streng frontale Darstellung Mariens am Tisch neben dem Brautpaar verweist auf byzantinische Vorbilder. Klare stilistische Parallelen zu anderen dänischen Kalkmalereien bestehen nicht. 172 Fine Licht/Michelsen/Poulsen, DK Århus Amt 5 [1983–87], S. 2253–2282. 173 Fine Licht/Michelsen/Poulsen, DK Århus Amt 5 [1983–87], S. 2262–2266; Græbe/Trampedach/Jensen, Kalkmalerierne i Mårslet kirke [1986]; Jensen, Bag gardinet [1987]; Trampedach, Maletektnik [1987]; Haastrup, Kristi undere [1987]; Lindahl, Smykker, kroner og skåle [1987]; Plathe, Stofmønstre [1987]. 174 Lindahl, Smykker, kroner og skåle [1987].

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Abb. 78 und Abb. 79: Mårslet Kirke, Nordwand des Chores, westliches und östliches Fach, aus: Danske kalkmalerier 1175–1275, ed. Haastrup/Egevang [1987], S. 64 und 65.

Da Mårslet dicht bei Århus liegt, Århus aber mit Peder Vagnsen und später seinem Bruder Skjalm ab 1190 Bischöfe aus dem Skjalmkollektiv hatte, ist eine Vermittlung des byzantinischen Einflusses über die Kreise, welche auch die Profectio Danorum prägten, sehr gut denkbar. Einflüsse ritterlicher Kultur zeigen sich dagegen in den Bildern des Kronfrieses.175 Auch hier wird Lapislazuli verwendet, zudem jedoch Ägyptischblau, das im 13. Jahrhundert Lapislazuli als blaues Pigment ersetzt.176 Möglicherweise ist das Auftreten beider Pigmente im gleichen Werk als Anzeichen einer beginnenden Verknappung des teuren Halbedelsteins aufzufassen. 30. Hörby †, Mittelschonen: Die ursprüngliche Kirche, im Spätmittelalter zum Erzbistum Lund gehörig, wurde kurz vor 1900 erheblich umgebaut und erweitert; vorgefundene Kalkmalereien sind lediglich in Aquarellen dokumentiert, die aber im Vergleich mit Lackalänga bestätigt werden.177 Die a) Maiestas Domini mit Resten einer Apostelreihe darunter, deren Gewänder sehr »weich« gezeichnet sind, zeigt bei der Gestaltung der Gesichter mit ihren runden dunklen Augen 175 Haastrup, Danske kalkmalerier 1175–1275 [1987], S. 38. 176 Mündliche Auskunft von Ulla Haastrup (2013). 177 Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976], S. 206; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 20f.; zu den Besitzverhältnissen Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 49.

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auffällige Gemeinsamkeiten mit byzantinischen Emailarbeiten, wie sie etwa in die Pala d’Oro integriert wurden. Solche Kleinkunst ist hier unmittelbar als Vorlage denkbar. Die Ornamentik der Bildbegrenzungen – Akanthus und Weinranken – findet Parallelen etwa in Sindbjerg/Jütland (nach 1175); stilistisch sehr ähnlich sind die Malereien in Lackalänga, Nr. 31, und Fornåsa/Östergötland. 31. Lackalänga, Westschonen: Die Granitkirche wurde um 1200 durch Einbau eines Gewölbes im Chor umgestaltet, als wahrscheinlich auch die Malereien entstanden.

Abb. 80: Lackalänga kyrka, Apsis (Detail: Maiestas Domini), aus: Riksantikvarieämbetet: http:// kmb.raa.se/cocoon/bild/show-image.html?id=16000200056760 (23. 11. 2013).

Es sind eine Maiestas Domini erhalten mit Spuren flankierender Heiliger, wahrscheinlich Maria und Johannes der Täufer (Abb. 80–81), sowie a) ein bischöflicher Stifter, wahrscheinlich Absalon (Abb. 82). Darunter findet sich eine

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Abb. 81: Lackalänga kyrka, Apsis (Detail: Apostelreihe), aus: Riksantikvarieämbetet: http://kmb. raa.se/cocoon/bild/show-image.html?id=16000200056758 (23. 11. 2013).

Apostelreihe. Der »Emailstil« mit den streng schematischen Gewandfalten und Gesichtszügen ist hier besonders ausgeprägt.178 32. Stehag, Mittelschonen: Die Sandsteinkirche mit nicht erhaltenem Turm, gebaut um 1150–1175 von Johannes »Stenmästare«, der sich an verschiedenen Stellen verewigte, erhielt um 1200 Kalkmalereien, deren Stifter inschriftlich erwiesen König Knud IV. und sein Erzbischof – der 1201 verstorbene Absalon oder dessen Neffe Anders Sunesen – waren.179 Im Chor sind Fragmente einer Dio-

178 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 30f.; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976], S. 252–254; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 21. 179 Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 3 [1976], S. 94–96; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 52–57; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 25; Ahlstedt Yrlid, Et kongeportræt [1987].

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Abb. 82: Lackalänga kyrka, Apsis (Detail: bischöflicher Stifter), aus: Riksantikvarieämbetet: http://kmb.raa.se/cocoon/bild/show-image.html?id=16000200056763 (23. 11. 2013).

nysius-Darstellung erhalten, dem die Kirche wohl geweiht war, auf der Triumphwand ist im Norden eine Darstellung der Madonna und Johannes des Täufers zu erkennen, teilweise vom Gewölbeansatz verdeckt, im Süden Reste einer Vertreibung aus dem Paradies. Im Triumphbogen befinden sich a) unter einem Lamm Gottes im Medaillon die beiden Stifter (Abb. 83–84): Knud IV., dessen Name KANVT R noch lesbar und dessen ikonenhaft schmales Gesicht mit seinen Binnenkonturen hervorragend erhalten ist, wird streng frontal mit buschig fallendem, nackenlangem Haar und kurzem Vollbart im hellen Gewand mit rotem, pelzgefüttertem Mantel vor einem lapislazuliblauen Hintergrund dargestellt (Abb. 85). Auf den Kopf trägt er eine im Durchmesser recht kleine, hoch sitzende Reifkrone mit vier kugeligen Verzierungen, in den Händen Szepter und Reichsapfel.

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Abb. 83 und 84: Stehag kyrka, Triumphbogen (Details: König Knud IV. [links] und ein bischöflicher Stifter: Absalon oder Anders Sunesen), Fotografie Carsten Jahnke (2010).

Ihm gegenüber befindet sich ein schlechter erhaltener Erzbischof mit relativ flacher Mitra, der ebenfalls einen kurzen Vollbart trägt, in einer Hand den Krummstab hält, während er die andere segnend erhebt. Seine Identität ist nicht durch eine Inschrift belegt; Argumente gegen eine Identifizierung mit Absalon, der als Förderer der Zisterzienser ein vermeintlicher Bilderfeind gewesen sei, verfangen ebenso wenig wie der Hinweis auf das Dionysiuspatrozinium, das mit Anders Sunesens Studium in Paris in Verbindung gebracht wird. Absalon hatte ebenfalls in Paris studiert und war ebenso gelehrt wie sein Neffe und Nachfolger, die Kontakte mit Frankreich waren älter. Insofern ist die Frage nach der Identität des bischöflichen Stifters nicht mehr zu entscheiden. 33. Staby, Westjütland: Die aus regelmäßig behauenen Granitquadern errichtet Kirche besitzt eine für frühe jütische Vertreter eher untypische Rundapsis

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Abb. 85: Stehag kyrka, Triumphbogen (Detail: König Knud VI.), aus: Danske kalkmalerier 1175– 1275, ed. Haastrup/Egevang [1987], S. 104.

mit umlaufendem Sockel und auswendiger Verzierung mit Lisenen und Rundbogenfries. Von der romanischen Malereiausstattung, die in das erste Viertel des 13. Jahrhunderts datiert wird, ließ sich nach ihrer Entdeckung durch Eigil Rothe 1908–1910 nur ein kleiner Rest aus der Apsis abnehmen und erhalten; ursprünglich fand sich hier ein klassisches Programm mit einer Maiestas Domini, flankiert von Johannes dem Täufer und Maria sowie wahrscheinlich Petrus und Paulus, darunter eine Apostelreihe. Das konservierte Fragment mit Maria und Johannes befindet sich heute an der Nordwand des Chores.180 Auffällig ist, dass hier nicht nur eine Rundapsis wie bei den seeländischen Kirchen vorhanden ist, sondern auch die Nimben in vergoldetem Stuck ausgeführt wurden. Øystein Hjort erkennt a) eine sehr starke stilistische Prägung durch byzantinische Vorbilder, sieht diese aber sekundär vermittelt und vergleicht die Ausführung mit Werken des Nicolas von Verdun, etwa dem Klosterneuburger Altar, oder den Miniaturen des Psalters von Königin Ingeborg, der unmittelbar nach der 180 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], Kat. Nr. 75; Kaspersen, Majestas domini 2 [1985]; Hjort, Byzantinske påvirkninger [1987].

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Hochzeit verstoßenen dänischen Frau Philips II. Auguste. An der Nordseite des Triumphbogens, zum Schiff gewandt, findet sich b), nur mit einfachen Linien in den Granit geritzt, die Darstellung eines stehenden Königs mit neben dem Kopf erhobenen Händen; möglicherweise ist hier eine Orantenhaltung angedeutet. Das Relief befindet sich an der Triumphwand unmittelbar nördlich des Triumphbogens an der Stelle gemalter Stifterbilder; fasst man das Bild als Memorialbild auf, handelt es sich bei Staby also möglicherweise um eine Königskirche. 34. Gualöv, Nordostschonen: Eine Sonderstellung nehmen die Malereien der turmlosen Kirche ein.181

Abb. 86 und Abb. 87: Gualöv kyrka, Triumphbogen (Details: der Stifter Olitos und die Stifterin Hialmsvith [rechts]), aus: Danske kalkmalerier 1080–1175, ed. Haastrup/Egevang, S. 186 und 187.

Hier haben sich im a) Triumphbogen zwei Stifterbilder sehr gut erhalten, umgeben von zwei segnenden Engeln in Medaillons darunter und einem Engel im Medaillon im Bogenscheitel, der ein Inschriftenband mit komplett leserlicher Inschrift hält und den Mann als Stifter der Malereien identifiziert. Nicht nur dies 181 Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 27f., 92f.; Banning/Brandt/Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 2 [1976], S. 152–156; Johnsen, Om erkebiskop Øysteins [1951], S. 16f.; Ahlstedt Yrlid, Kalkmalerier som sjælegaver [1986].

Das Corpus

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macht sie einmalig, sondern auch die Tatsache, dass der im Dreiviertelprofil abgebildete männliche Stifter im Norden als einziger des Corpus bewaffnet und gerüstet ist. Er trägt wie der Hvide-Stifter in Fjenneslev einen langen Mantel, der auch ähnlich fällt, über einem knielangen grauen Kleidungsstück – einem Ringpanzer? – unter dem ein etwas längeres, helles Gewand hervorschaut. Das Muster des Pelzfutters ist erkennbar. Dazu hält er in der Rechten ein Schwert am Griff und in der Linken einen Speer mit einer langen, unterhalb der Spitze befestigten, im Wind wehenden Fahne. Dazu trägt er einen bis etwa zu den Ohren reichenden, runden Helm mit rundem Knauf und spitz zulaufende Schuhe. Dem Umriss des Gesichts nach trägt er einen kurzen Vollbart und nackenlanges Haar. Gerade der Helm ist demjenigen, welchen die Palastwachen der bekannten Illumination im Madrid-Skylitzes tragen, ausgesprochen ähnlich, auch wenn der Nackenschutz aus Kettenringen fehlt; das Gleiche gilt für den Speer mit Fahne.182 Ihm gegenüber befindet sich eine Frau, bekleidet mit einem Schleier, der von einem Goldreif gehalten wird, mit einem langen Kleid mit langen, von den Handgelenken herabfallenden Stoffborten und darüber einem pelzgefütterten, außen diagonal gemusterten und mit Perlen besetzten Mantel. Sie hält eine Kerze in der Linken und ein aufgeschlagenes Buch in der Rechten. Möglich wird die Deutung durch die Inschrift, die Inger Ahlstedt Yrlid folgendermaßen entzifferte: »TU UCITUS HANC BASILICAM PICTURA DEORNASTI PRO ANIMA CONIUGIS TUE HIALMSVITH OB SPEM VITE ETERNE«. Es handelt sich also um eine Seelengabe für die Verstorbene, die mit einer Kerze abgebildet ist. Nach einer unlängst erfolgten Reinigung der Malereien steht jedoch fest, dass der ungewöhnliche Name Ucitus nicht zutrifft. Man erkennt völlig unzweideutig den ebenso merkwürdigen Namen OLITOS, der sich allein im Lexikon des Hesychios von Alexandria wiederfindet.183 Hierfür bietet sich vorläufig keine andere Erklärung an als diejenige, dass der Stifter Ole/Oli hieß und seinen Namen bewusst gräzisiert wiedergeben ließ. Diese Gräzisierung könnte das Resultat eines Byzanzaufenthaltes sein, ebenso wie der abgebildete Helm, doch bleibt dies reine Spekulation. Hieraus ergäbe sich ein weiterer Anhaltspunkt für die These, dass die großen Stifterbilder ohne Intercessoren sich bewusst an byzantinischen Vorbildern orientieren, und eine Erklärung für den merkwür182 Vgl. Bruhn Hoffmeyer, Military Equipment [1966], Fig. 12,13–14 (Helme) und Fig. 18, 1–3 (Speere mit Fahnen). 183 Hesychios: Lexikon, ed. Schmidt [1862], S. 323: »Ὠλιτός · ὁ Νηρεὺς ἥρος«. Olitos wird hier also als Meeresgott Nereus aufgefasst, und so emendiert auch Hesychios: Lexicon, ed. Hansen/Cunningham [2009] den Text der einzigen Handschrift zu ὡλίτης etc. (< ὁ ἀλίτης, wörtlich »der Gesalzene«). Das ändert aber nichts an der Schreibweise der Handschrift aus dem 15. Jh. und ihrer mittelbyzantinischen Vorläufer. Die chronologische Verortung des Hesychios ist schwierig, doch hält Hesychios: Lexikon, ed. Latte [1953], S. VIIf. eine Entstehung im 6. oder 5. Jh. für wahrscheinlich; vgl. auch Schultz, Hesychios von Alexandreia [1913].

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Abb. 88: Gualöv kyrka, Triumphbogen (Detail: Medaillon mit Engel und Inschriftenband im Scheitel), Fotografie Konservator Herman Andersson, Tollarp (2012).

digen Helm des Ritters, über den sonst keine Informationen verfügbar sind. Dass die Darstellung als Bewaffneter vom »Hvide-Schema« in den anderen Malereien abweicht, eröffnet die Möglichkeit eines parallelen, aber von den anderen Werkstätten unabhängigen Transfers. Stilistisch zeigt die Malerei Ähnlichkeiten zur Finja-Gruppe; andererseits verweist das Kleid mit seiner Ärmelzierde auf die Mode am Ende des 12. Jahrhunderts, weshalb die Malereien in die Zeit um 1150 bis 1175 datiert werden, möglicherweise auch später.

2.

Byzanz, Skjalm Hvides Nachkommen und die Kalkmalereien

Nach einem Überblick über jene dänischen Malereien, die heute noch greifbare Byzantinismen in Ikonographie und Stil aufweisen, sollte deutlich geworden sein, dass diese nur einen Teil dessen abbilden, was ursprünglich vorhanden war; gerade bei Kirchen, die nachweislich von einer der drei großen Werkstätten ausgestattet wurden, wird man mit weiteren verlorenen Elementen rechnen müssen, zumal bei der Jørlunde-Werkstatt. Nichtsdestoweniger ist das Corpus, wie es heute existiert, signifikant: Die Häufung von Kalkmalereien in Ostdänemark, Schonen und ganz besonders Seeland ist bei einer gleichmäßigen Verteilung erhaltener romanischer Kirchenbauten über das ganze Land so deutlich, dass Überlieferungszufall als Erklärung ausscheidet. Das Gleiche gilt für die

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Konzentration auffälliger Elemente byzantinischer Herkunft auf Seeland und in Schonen, insbesondere für die unbestreitbare Rückbindung von Kalkmalereien im Allgemeinen und Byzantinismen im Besonderen an die Besitzschwerpunkte der Hvide und ihrer Partner in Mittel-, Nordwest- und Nordostseeland. Abgesehen von stilistischen Prägungen sind bei der Vä- und Finjawerkstatt insbesondere Brustbilder der Maria orans sowie ebenfalls Darstellungen von Tugenden oder Heiligen in byzantinischer Ikonographie in Medaillons auffällig;184 mit den klugen und törichten Jungfrauen in Kildebrønde setzt sich die IkonographieTradition in die spätere Jørlunde-Gruppe fort; auch die Marienikonographie findet sich bei allen Werkstätten.185 Bemerkenswert sind ebenfalls die Weltgerichte auf der Triumphwand mit verschiedenen byzantinischen IkonographieElementen, von denen sich neun Exemplare erhalten haben, vor allem in der Finja-Gruppe, die darüber hinaus Darstellungen vom Bad Jesu nach seiner Geburt aus der byzantinischen Kunst übernimmt. Das Weltgericht begegnet aber auch in der Vä-Gruppe, wenn man Sønder Jernløse zu ihr rechnet, sowie bei den späten Vertretern.186 Gerade die gänzlich unübliche Position im Osten des Kirchenraums findet ihre Parellele in byzantinischen Weltgerichten an der Ostwand des Narthex.187 Weiterhin relevant sind viermal begegnende Darstellungen der Magoi in einer Ikonographie, die spätantike mit byzantinischen Elementen kombiniert.188 Besonders hervorzuheben sind jedoch insgesamt elf Stifterbilder in voller Größe ohne Intercessoren in Vä, Fjenneslev, Slaglille, Vallkärra, Måløv, Hagested, Roskilde (St. Ib), Førslev, Lackalänga, Stehag und Gualöv, mithin ebenfalls bei allen Werkstätten, wobei Gualöv mit seiner abweichenden Ikonographie für sich steht. Gleichartiges findet sich weder in Skandinavien noch in anderen lateineuropäischen Wandmalereien jener Zeit, besitzt jedoch Parallelen in der byzantinischen Kunst, gerade in den Kaiserbildern in der Hagia Sophia.189 Einen späten Höhepunkt bezüglich der Integration byzantinischer Ikonographie-Elemente in die Bildprogramme bilden schließlich die Kirchen zu Jørlunde mit der Darstellung der Hochzeit zu Kana, dem Einzug in Jerusalem und dem letzten Abendmahl sowie in Måløv mit seinem Weltgericht, der Hodegetria, einer 184 Medaillons mit Marien- und Tugendbildern in Vä, Kirke-Hyllinge, Sæby ved Tissø, Gundsømagle, Tybjerg, Sønder Jernløse (Vä-Werkstatt), Kirkerup und Tveje Merløse ( Jørlunde-Werkstatt). Bei der Finja-Gruppe besitzen fast alle Kirchen Engelmedaillons im Triumphbogen. 185 Vä, Kirke-Hyllinge, Tveje Merløse, Sønder Jernløse, Staby. 186 Finja-Werkstatt: Soderup, Finja, Asmundtorp, Vallkärra, Stävie; außerdem Hagested, Skibby, Måløv, Sønder Jernløse. Einen Grenzfall bildet die große Triumphwand von Vrigstad, wo das Gericht nur einen Teil des Programms ausmacht. Die Badeszene begegnet in Lyngsjö und Stävie. 187 Dazu oben, S. 479 mit Anm. 67f. 188 Fjenneslev, Slaglille, Vinslöv, Östra Sallerup. 189 S. unten, S. 545.

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Deesis, der Darstellung der Auferstehung und dem typischen Stifterbild. Diese Konjunktur des Byzantinischen wird flankiert von den »Ikonenborten«, welche sich in vier Kirchen der Jørlunde-Gruppe und zwei weiteren erhalten haben.190 Auch Reste griechischer Inschriften wie in Vrigstad sind bei der JørlundeWerkstatt dokumentiert. All diese Elemente als Bestandteil romanischer Wandmalerei sind exklusiv für die ostdänischen Werkstätten, die wiederum eng an die regionalen Eliten und damit an das Skjalmkollektiv sowie das Königshaus gebunden sind, die sich ihrerseits als lebensgroße Stifter entsprechend in Szene setzen wie keine andere soziale Gruppe jener Zeit. Zählte man weitere Kirchen hinzu, deren Malereien sich zwar unseren drei großen Werkstätten und deren Ausläufern zuordnen lassen, welche aber zu fragmentiert für eine klare Aussage sind, würde dieses Bild einer von Anfang an gegebenen, mit der Zeit zunehmenden Übernahme byzantinischer Elemente an Schärfe eher noch gewinnen, wie der Blick auf die Karte zeigt.

Datierungsmethoden und Kontexte Es scheint daher auf den unmittelbar plausibel, die Kalkmalereien als Bestandteil ein und desselben Diskurses zu betrachten, der sich in den Schriftquellen der Valdemarenzeit seit den 1160er-Jahren verfolgen lässt und von weiteren Phänomenen einer lebhaften Kulturbeziehung wie etwa Rezeptionsspuren in Urkunden und Modifikationen des Rechts begleitet wird. Insbesondere die übereinstimmende regionale und soziale Zuordnung der schriftlichen und bildlichen Quellen spricht hier eine deutliche Sprache. Einer solchen Assoziation und Erweiterung um die bildliche Dimension steht jedoch die Datierung der Malereien im Wege, und man bewegte sich in einem perfekten Zirkel, wollte man den vorgefunden schriftlichen Diskurs als Datierungshilfe nehmen, um die Kunst schließlich vor dem Hintergrund dieses Diskurses zu interpretieren. Es fragt sich also, in welchen chronologischen und sozialen Kontext die Kalkmalereien aufgrund ihrer Eigenlogik zu verorten sind. Während die zeitliche Abfolge – erst die Vä- und Finja-Werkstatt, danach die Jørlunde-Werkstatt und verwandte Malereien – unstrittig ist, verschob sich die stilhistorische Einordnung um etwa drei bis fünf Jahrzehnte rückwärts. Ordneten Nørlund und Lind 1944 noch die frühesten ihnen bekannten Monumente wie Sæby ved Tissø und Kirke-Hyllinge in den Zeitraum zwischen etwa 1150 und 1175, die Jørlunde-Werkstatt am Ende des 12. Jahrhunderts ein, sprach sich Ulla Haastrup 1986 für eine Datierung der Finja-Werkstatt in das zweite und der 190 Roskilde (St. Ib), Hagested, Måløv, Søstrup, Övraby, Førslev (Stangier, Ornamentstudien [1995], S. 87–89).

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Jørlunde-Werkstatt in das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts aus.191 Die frühesten Zeugen wie Gundsømagle und vor allem die Malereien in Vä, die Nørlund und Lind noch nicht kannten, werden in die 1120er-Jahre oder noch früher datiert.192 Neben Neuentdeckungen in Dänemark und zwischenzeitlichen Umdatierungen von stilistischen Parallelen in Lateineuropa gründet sich die neue, frühere Datierung vor allem auf die Ablehnung von drei Prämissen Nørlunds und Linds, nämlich dass (1.) die dänischen Malereien nicht bewusst und gezielt in feuchten Putz gemalt worden seien, dass (2.) die Kalkmalereien auch aufgrund der Kosten zumeist nicht zeitgleich mit dem Bau entstanden seien und dass (3.) grundsätzlich mit einer stilistischen »Verspätung« der Peripherie gegenüber den impulsgebenden Zentren zu rechnen sei.193 Es ist unbestreitbar, dass die Meister der Zeit al fresco malten, doch brachten sie den Intonaco nicht wie in der Renaissance üblich in Figurumrissen, sondern in rechteckigen Feldern auf,194 weshalb Nørlund und Lind nicht die erwarteten Stoßfugen fanden, die aber vorhanden sind. Daraus leitet Haastrup wiederum die Regel ab, dass die Kalkmalereien grundsätzlich genauso alt wie die Gebäude sein müssten und die Maler das gleiche Gerüst benutzten wie die Maurer.195 Folglich zwingen Dendrodatierungen der Gebäude wie in Gundsømagle oder Tveje Merløse zur Rückdatierung. Zwingend ist diese Argumentation jedoch keineswegs. Auch wenn es praktisch erscheint, ein einmal stehendes Gerüst zu benutzen, haben auch spätere Generationen von Kalkmalern offenbar leichtere Gerüste errichtet, die nicht auf Löcher in der Mauern angewiesen waren,196 zumal sie ja geringere Lasten tragen mussten als Maurergerüste. Nørlunds und Linds zweite Prämisse ist hiermit nicht widerlegt, sondern es wird lediglich ein terminus post quem zu einer Datierung erhoben. Gerade die Verzierung der nackten Mauern mit einem Quaderfugenmuster durch die Maurer197 legt nahe, dass die Wände in der Tat nach der Fertigstellung der Kirche nackt bleiben konnten, zumal die Gerüstetagen, von Ausnahmen abgesehen, nicht dem horizontalen Format der Bildfelder entsprechen; auch 191 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 102–110; dagegen Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 23–27; ähnlich auch schon Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 46–75 bezüglich der schonischen Malereien. 192 Græbe/Als Hansen/Stiesdahl, Gundsømagle kirke [1990]; zu Vä Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 59–67; Lindell-Andersson, Afdækning og restaurering [1986]; Kaspersen, Italobyzantinsk stil [1986]; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 100–105. 193 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 4–29. 194 Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 28–33. Die in Byzanz verwendete Technik ist identisch (Winfield, Middle and Later Byzantine [1968], S. 69–71). 195 Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 132; Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 29f. 196 Eine Orientierung der Putzflächen an den Gerüstlagen statt den Bildzonen findet sich nur bei Lyngsjö (Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 137f.; vgl. Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 30–33). 197 Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 28f.

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entspricht dem kohärenten Bildprogramm etwa der Finja-Werkstatt kein jeweils kohärenter Gebäudetypus; die Größen der Kirchen und die Gestaltung des Mauerwerks variieren sehr stark. Der Zurückweisung von Nørlunds und Linds dritter Prämisse hingegen ist nichts entgegenzuhalten. Gerade in der Ideengeschichte widersprechen alle Erkenntnisse der jüngeren Forschung der Vorstellung einer kulturellen Phasenverschiebung bloß aufgrund einer geographisch randständigen Lage, sowohl bezüglich der theoretischen Konzeption von Herrschaft als auch der Rechts- oder Politikgeschichte.198 Die Hauptbasis der Neudatierung überwiegend in die erste Jahrhunderthälfte bilden ausführliche Stilvergleiche. Ähnlichkeiten etwa in der Gestaltung der Gewänder und der Komposition zu den Werken der Vä-Werkstatt werden in den Malereien von San Pietro al Monte bei Civate am Ende des 11. Jahrhunderts gesehen, in Castel Sant’Elia und Santa Pudenziana in Rom um 1100, in der ursprünglich zu Cluny gehörenen Kirche in Berzé-la–Ville, deren Datierung ins frühe oder auch mittlere 12. Jahrhundert unsicher ist, sowie in der St Gabriel’s Chapel zu Canterbury, deren Datierung um 1130 oder 1160 ähnlich wie bei Berzé-la–Ville unsicher ist.199 Ähnlichkeiten zur Ausmalung in Idensen, der Grablege des Bischofs Sigwart von Minden aus den 1120er-Jahren, sind dagegen nicht besonders ausgeprägt.200 Für eine Datierung vor die Jahrhundertmitte spreche zudem der »weichfließende Stil«, wie zum Beispiel die Fresken in Schwarzrheindorf und Brauweiler aus der Zeit um 1150 bis 1175 ihn aufweisen, der aber bei den Werken der Vä-Werkstatt nicht zu erkennen ist.201 Für diese frühen Malereien verwiesen zudem schon Nørlund und Lind auf Parallelen bei der Maiestas-Darstellung in St. Peter und Paul zu Niederzell auf der Reichenau, dessen Ausmalung jedoch inzwischen von den 1160er-Jahren an den Beginn des 12. Jahrhundert vordatiert wurde,202 und in Knechtsteden bei Dormagen. Die vergleichende Datierung der Finja-Werkstatt mit ihrer stark parzellierenden Wiedergabe der Gewänder und ihrer Falten in den Zeitraum zwischen 1125 und 1150 ist mit einer gewissen Unsicherheit behaftet; Vergleiche werden

198 Vgl. Gelting, Europæisk feudalisme [1988], S. 3–17; Gelting, Odelsrett [2000]; Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 35–49, 251–258; Saxo og hans samtid, ed. Andersen/ Heebøll-Holm [2012], darin bes. Vogt, Saxo og kanonisk ret [2012], S. 49f., Andersen, Saxo og Vederlovens procesret [2012], S. 88–90 und Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 94–104; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 114f., 186–204. 199 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 101–105; Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 28–31; vgl. auch Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 83–85. 200 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 103 widerspricht hierin Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 54, welche die Dekorationen in Sønder Jernløse, die Kaspersen ebenfalls der Vä-Werkstatt zuordnet, aufgrund dessen um 1125 einordnet. 201 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 105. 202 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 107f.; Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 24f.

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vor allem mit Buchmalereien aus Helmarshausen gezogen, was auch plausibel erscheint, finden sich doch aus der Zeit um 1150 zwei Helmarshausener oder jedenfalls stark von den Helmarshausener Schule geprägte Evangeliare in Lund sowie der Nachweis einer Verbrüderung.203 Dennoch wird eine zeitgleiche Entwicklung des Stils postuliert und damit eine Entstehung der Malereien vor der Jahrhundertmitte, wobei nicht zu übersehen ist, dass gerade die Finja-Gruppe auffällige Ähnlichkeiten zur »klassischen« mittelbyzantinischen Kunst des 11. Jahrhunderts, zu den Malereien in St. Georg in Oberzell/Reichenau aus dem späten 10. Jahrhunderte in der Gestaltung der Hintergründe mit einem grünen Streifen und einem blauen darüber sowie der perspektivischen Mäanderborten um die Bilder und der monumental-strengen Wirkungen ihrer Figuren überhaupt zur ottonenzeitlichen Kunst aufweist.204 Bei der Jørlunde-Gruppe wurden schon von Nørlund und Lind Vergleiche zu den Maiestas-Darstellungen in St. Gereon zu Köln und St. Patroklus zu Soest gezogen, die von 1156 beziehungsweise 1166 stammen; Kaspersen sieht bei der Werkstatt Einflüsse des »dynamischen Stils«, der sich in Byzanz ab den 1160er-Jahren verbreitet.205 Eine Rückdatierung der Werkstatt vom Ende des 12. Jahrhunderts auf den Zeitraum ab etwa 1150 bis 1175, wie sie Haastrup vornimmt, hat ihren Grund vor allem darin, dass, wie bereits geschildert, Übergangsphänomene zwischen Vä- und Jørlundewerkstatt erkennbar sind und daher eine größere zeitliche Lücke zwischen beiden ausgeschlossen erscheint.206 Letzten Endes lassen sich stilistische Parallelen zu einzelnen Elementen, wie sie gerade in der Vä-Werkstatt, aber auch der Finja-Wekstatt begegnen, vorwiegend in der romanischen Wandmalerei des früheren 12. Jahrhunderts ausfindig machen. Hierauf und auf der Tatsache, dass Kirchen wie Gundsømagle zu dieser Zeit bereits standen, basiert in erster Linie die rein kunsthistorische Einordnung in Jahrhundertviertel. Sie bezieht ihre Plausibilität daraus, dass die dänischen Meister ihre Maltechnik und Ausführung entweder durch Reisen zu den »Zentren« oder durch migrierende Fremde gelernt haben müssen, eine gewisse Synchronität also gegeben sein muss. Hierzu bleibt jedoch anzumerken, dass die Vergleiche zwar Parallelen in Details zu Tage förderten, nicht aber ein klares 203 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 78–83; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 14–16; Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 34f.; Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 25f.; Kaspersen, Helmarshausen oder andere Quellen? [1992]. 204 Zu den byzantinischen Parallelen Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 16; zu den ottonischen Eriksson, Dommedagen i Finja [1986]. 205 Nørlund/Lind, Danmarks romanske Kalkmalerier [1944], S. 76, 106f.; Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 37–42. 206 Haastrup, Fristelsen i Jørlunde [1975]; Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 26. Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 40f. kritisiert eine Datierung in die Zeit vor etwa 1160.

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Vorbild namhaft machen konnten. Kaspersen konstatiert, es fänden sich wohl Parallelen in der »Grammatik«, nicht aber in der »Syntax« der Malereien, und das gilt gleichermaßen für byzantinische wie auch für lateineuropäische Werke.207 Überlieferungsschwund muss nicht die Ursache sein, denn dieser Mangel an eindeutigen Vorbildern scheint ein universales Phänomen des gar nicht so »peripher« erscheinenden skandinavischen Mittelalters darzustellen: Schon Ælnoths merkwürdige Kombination einer Chronik mit einer Heiligenvita am Anfang der skandinavischen Historiographie ist das Resultat freier, manipulierender Kombination römisch-deutscher und englischer Traditionen; das vermeintliche kontinentaleuropäische Florilegium, auf dem die Veraldar saga, eine isländische Weltchronik des 12. Jahrhunderts, basiert, hat wahrscheinlich nie existiert, sondern der Autor suchte seine Informationen selbständig und gezielt aus ganz verschiedenen Texten zusammen.208 Genau diesen auf eine spezifische Aussage zugespitzten Eklektizismus finden wir etwa in der Finja-Werkstatt, wenn die drei Magoi in einer völlig veralteten Ikonographie dargestellt werden oder sich Reminiszenzen an die byzantinisch beeinflusste ottonenzeitliche Malerei zeigen. Es fragt sich daher, wie zwingend stilistische Datierungen sind, die aus einer völlig berechtigten und notwendigen Suche nach westeuropäischen Parallelen hervorgehen, aber sehr wahrscheinlich aus guten Gründen keine eindeutigen Vorbilder, sondern nur partielle Parallelen namhaft machen können. Hinzu tritt, dass konkrete personale Verbindungen zu Zentralorten der Kunstgeschichte, etwa zwischen Lund und Helmarshausen, erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts festzumachen sind. Die pragmatische Einteilung der Stilgeschichte in etwa gleich große Zeitabschnitte, wie sie auch zur Datierungen von Runensteinen angewendet wird,209 im vorliegenden Falle in Jahrhundertviertel, konstituiert zugleich für Historiker beziehungsweise für die kulturhistorische Einordnung das Problem, dass die dänische Geschichte selbst der Zeiteinteilung nicht folgt und die Jahre 1125 und 1150 keine Bruchlinien der Geschichte markieren, ebenso wenig 1175; die Einschnitte liegen 1131, als unmittelbar nach dem Mord an Knud Lavard ein offenbar fragiles Gleichgewicht kippt und praktisch unmittelbar ein langer Konflikt losbricht, der gerade die Auftraggeberschicht der Malereien im direkten Umfeld konkurrierender Könige mit radikaler Konsequenz betrifft, unter Erik 207 Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 101, 105. 208 Vgl. zu Ælnoth Scheel, Lateineuropa [2012], S. 36–47 bzw. Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 10–16; zur Veraldar saga Marchand, Allegories in the Veraldar saga [1975], S. 109–112; Svanhildur Óskarsdóttir, Um aldir alda [2005], S. 111–114, 122–127; Würth, Die mittelalterliche Übersetzung [2007], S. 29–32; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 144–152. 209 Vgl. Gräslund, Runstenar – om ornamentik [1991]; Gräslund, Runstenar – om ornamentik [1992].

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Lam zwar für einige Jahre unterbrochen wird, sich mit seinem Tod jedoch übergangslos fortsetzt und erst mit Valdemars Alleinherrschaft 1157 in eine zunächst noch relativ labile Dominanz seiner Alliierten übergeht.210 Einer linearen Entwicklung der romanischen Malereien in dieser Zeit stehen also ganz konkrete Ressourcenprobleme der Großen entgegen, abgesehen davon, dass die fraglos im Zentrum stehende Auftraggebergruppe – das Skjalmkollektiv – ihre herausragende, ja dominierende Position nicht von Beginn an innehatte, sondern sie erst durch Allianzpolitik und Fortune mit Valdemars Sieg erreichte. Durch die Rückdatierung der Malereien jedoch entsteht eine Lakune just im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts, als das Skjalmkollektiv seinen Machtzenit erreicht, während die Zeit der Königsfehden besonders produktiv erscheint. Ein wiederholt bemühter, rechtfertigender Notbehelf für den vermeintlichen Schwund entgegen wachsender Prosperität und Einfluss der Auftraggeber lautet, Absalon sei ein Bilderfeind gewesen, weil er die Zisterzienser gefördert habe.211 Dies ist ein argumentum e silencio, das angesichts der nicht erhaltenen Dekorationen in Roskilde und Lund nichts besagt; Fünten weisen auch in definitiv von ihm ausgestatteten Kirchen Bilder auf. Zudem fragt sich, welchen Orden Absalon zu jener Zeit wohl sonst hätte fördern sollen; dass indes der Erfolg der Zisterzienser Europa bilderfeindlich gemächt hätte, wäre eine extrem gewagte These, und ebenso wenig besagt die völlig ungewisse Haltung eines Geistlichen etwas über Attitüden seiner weltlichen Verwandten und Verbündeten, die ja völlig offensichtlich massenhaft Ausmalungen ihrer Kirchen in Auftrag gaben. Auf das Problem der Kontextbindung wird später einzugehen sein. Epistemologisch liegt das Problem jedoch zunächst im gedachten Ausbreitungsmechanismus byzantinischen »Einflusses« auf Lateineuropa: Zwar hat man sich von der Vorstellung befreit, Skandinavien als hinterste Provinz Europas werde von allen Neuerungen Dezennien später erreicht, doch bleibt die klassische, etwa von Otto Demus begründete Vorstellung im Wesentlichen unangetastet, dass diese »Einflüsse« sich linear von bestimmten vermittelnden Zentren wie Sizilien und Venedig über den Westen nach Norden ausbreiteten.212 Die hierzu verwendeten sprachlichen Bilder sind deutlich: In Italien liegen die radiation centres, die gateways für byzantinischen Einfluss, der dann in zwei 210 Vgl. zu diesem Ereignissen oben, S. 382ff. 211 Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 22f.; Haastrup, Danske kalkmalerier 1175–1275 [1987], S. 16f. Ahlstedt Yrlid, Et kongeportræt [1987], S. 105 betont, dass die von Absalon gestiftete Kirche zu Norra Åsum keine Malereien besessen habe, was aber auf die Masse der Kirchen bezogen, über die er verfügte, keine Aussagekraft besitzt. 212 Koehler, Byzantine Art in the West [1940]; Demus, Byzantine Art [1970], bes. S. 129–188; Kitzinger, The Byzantine Contribution [1966]; Kitzinger, Norman Sicily [2003]. Den Begriff des »Einflusses« in unserem Kontext problematisiert Koenen, Knotenpunkt und Schmelzpunkt [2012], S. 761f., 781–783 am Beispiel in den Westen gelangter Objekte des Kunsthandwerks aus Byzanz bzw. dem östlichen Mediterraneum.

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großen Wellen über Lateineuropa spült, einer stilistisch »klassischen« Welle in der ersten Hälfte und einer »dynamischen« Welle im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts.213 Folglich erscheint Lateineuropa als eine Art Insel, eine Festung; die Kreuzzüge, die venezianisch-byzantinischen und sizilianisch-byzantinischen Beziehungen führen dann zu Deichbrüchen, und durch die eingerissenen Lücken in Italien ergießt sich eine byzantinische Flutwelle in das kulturelle Tiefland, die notwendigerweise die entlegenen Winkel zuletzt erreicht. Einen Sonderfall bildet allein die Kreuzfahrerkunst im östlichen Mediterraneum, die in einem Raum unmittelbarer und dauerhafter Interaktion in beiden Richtungen entsteht.214 In der Tat hatten die Dänen die Technik der Kalkmalerei im 11. Jahrhundert von ihren südlichen und westlichen Nachbarn genauso übernommen wie die lateinische Literalität; doch bedeutet das Verhältnis an einem aus heutiger Sicht epochalen Übergang für sich genommen noch nicht, dass sich hieraus eine dauerhafte Abhängigkeit, ein perpetuiertes bestimmtes Muster kultureller Entlehnungen und ein bestimmter Status der geographischen Peripherie und ihrer Funktionsmuster im hochmittelalterlichen Geflecht der Kulturen herleiten ließe.215 Demus äußert über die romanische Wandmalerei Skandinaviens am Beispiel gotländischer Kirchen:216 »The cultural and artistic distance between the painter and his patrons or the beholders, was too great for this isolated work to have had any significant effect. The same may be said of the Greek or Byzantine-trained, possibly Russian, painter who in the twelfth century executed the frescoes of Garde in Gotland: he, too, was a voice in the wilderness, and it took another two generations for Byzantine influences to establish themselves for good in Scandinavia.«

Dies ist ein glattes Fehlurteil. Es schmälert nicht Demus’ Verdienst, dessen Interesse auch gar nicht der skandinavischen Kunst gilt, erweckt aber den methodisch fatal wirkenden Eindruck, der Norden fungiere nur als passiver Rezipient, der mitunter und zudem eigentlich folgenlos von den Ausläufern byzantinischer »Wellen« erreicht werde. Das eigentlich kulturchauvinistische Denkmuster leistet zudem im weiteren Kontext dem Eindruck Vorschub, der Norden verkomme von einer wikingerzeitlichen, frühen Hochkultur zur kul213 Die Terminologie bei Demus, Byzantine Art [1970], S. 129, 139f., 148–152; Kitzinger, The Byzantine Contribution [1966], S. 41–43. 214 Vgl. Weitzmann, Icon Painting [1966]; Demus, Byzantine Art [1970], S. 160f.; Kühnel, Crusader Art [1994]; Folda, Crusader Art [2008]. Mit entstehenden Verschmelzungen lateineuropäischer und ostmediterraner Elemente in der Kunst des Mediterraneums beschäftigen sich u. a. Ousterhout, The French Connection? [2004]; Mersch/Ritzerfeld, ›Lateinisch-griechische‹ Begegnungen [2009]. 215 Einen solchen Eindruck einer vom Zentrum aus forcierten Angleichung vermittelt für Dänemark etwa das bekannte Werk von Bartlett, Making of Europe [1993], S. 325–376, bes. 347–350. 216 Demus, Byzantine Art [1970], S. 24.

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turellen Provinz des europäischen Mittelalters.217 Weite Strecken auf der Landkarte besagen aber jenseits unmittelbarer Nachbarschaften nicht das Geringste über kulturelle Nähe oder Distanz. Hält man sich dagegen die Kulturverbindungen zwischen den skandinavischen Regionen und Byzanz sowie die wechselseitige Wahrnehmung im Laufe des 12. Jahrhunderts vor Augen, wird deutlich, dass dem Paradigma linearer, nicht-intentionaler, sondern strukturell angelegter Ausbreitung byzantinischen »Einflusses« durch stumpfe Nachahmung eine Unzahl an mobilen Akteuren gerade aus den Eliten entgegensteht, die unser Bild vom Dänemark des 12. Jahrhunderts prägen. Die Tatsache, dass maßgebliche Akteure die immer wieder genannten klassischen byzantinischen Monumente, aber auch Stätten wie die Grabeskirche mit eigenen Augen gesehen hatten, teilweise sogar mehrmals, lässt die Möglichkeiten intentionaler Entlehnung und Aneignung, die sich zudem mit einer möglicherweise lineareren Diffusion handwerklicher Techniken überlagert, so zahlreich und unberechenbar werden, dass die Vorstellungen einer Ausbreitung in »Wellen« obsolet wird. Die Stifterbilder mögen hierfür als gutes Beispiel dienen: Auf der einen Seite lässt sich kein lateineuropäisches Zwischenglied und direktes Vorbild benennen, auf der anderen Seite hatten die Axtträger am Palast in Konstantinopel die kaiserlichen Stifterbilder ohne Intercessoren ständig vor Augen: Seit 1118 bezeugen die byzantinischen Historiographen ihre Stationierung am Chalke-Tor;218 Nikolaos Mesarites bezeichnet den dahinter befindlichen Komplex schlicht als »WarangoiGebäude«.219 Just auf der anderen Seite des Augustaion befand sich der südliche Eingang zum Narthex der Hagia Sophia, durch welchen der Basileus die Vorkirche betrat und wo er den Patriarchen zum gemeinsamen Einzug in die Hagia Sophia an Festtagen traf,220 wobei er sehr wahrscheinlich auch von Axtträgern begleitet wurde. Über diesem Eingang befindet sich eines der kaiserlichen Stifterbilder, in welchem Justinian einer thronenden Madonna ein Modell der Hagia Sophia und Konstantin ein Modell der Stadt präsentieren (Abb. 89). Auch die Stifterbilder von Zoe und Konstantinos IX. sowie Ioannes II. Komnenos und Eirene auf der südlichen Empore müssen Skandinaviern, die in Byzanz gedient hatten, vor Augen gestanden haben (Abb. 90–91).221 Nicht zuletzt Runeninschriften in diesem offenbar der Kaiserfamilie vorbehaltenen Bereich belegen, dass skandinavische Angehörige des Hofs hier Zutritt hatten. Es dürfte die Abstraktionsfähigkeit des dänischen Byzanzfahrers oder seines unmittelbaren Umkreises, wie er uns etwa in der Profectio Danorum entgegen217 218 219 220 221

Vgl. zu diesem Problem oben, S. 36f. Oben, S. 242f. B63; vgl. B55. Mainstone, Hagia Sophia [1988], S. 231. Vgl. zu diesen Mosaiken Whittemore, The Mosaics of St Sophia 2 [1936]; Oikonomides, The Mosaic Panel [1978].

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Abb. 89: südwestlicher Eingang zum Narthex (Detail: Mosaik im Tympanon), aus: http://commons. wikimedia.org/wiki/File:Hagia_Sophia_Southwestern_entrance_mosaics_2.jpg (03. 03. 2015).

tritt, kaum überfordert haben, wenn er bei den Malern der von ihm ausgestatteten Kirche ein ähnliches, großes Stifterbild in zeremonieller Kleidung mit vergleichbarer Platzierung im Kirchengebäude in Auftrag gab, ganz abgesehen davon, dass Remigranten beziehungsweise Byzanzfahrer auch Kleinkunst mit sich führten. Sieht man jedoch in den Akteuren mehr als unverständige Nachahmer aktueller Trends, ergibt sich neben dem direkten Transfer außerdem die Möglichkeit eines bewussten, selbständigen Rückgriffs auf bestimmte, als »klassisch« wahrgenommene Vorbilder in Byzanz und damit einer stilistischen Inversion, die Demus den Kontinentaleuropäern auch zutraut222 und die sich für die dänischen Kunstwerke bei der Ikonographie zweifelsfrei beobachten lässt.223 Die stilistische Ähnlichkeit von Werken der Finja-Werkstatt zur ottonenzeitlichen Kunst ist ein weiteres Indiz für die Suche nach »klassischen« Formen. Somit bringt die Option verständiger, kulturell und geographisch mobiler Auftraggeber und Künstler ein gerütteltes Maß an Chaos in die stilistisch-chronologische Ordnung.224 Insbe222 Demus, Byzantine Art [1970], S. 138; viel deutlicher bezüglich der Möglichkeiten direkter Entlehnungen durch mobile Akteure ist Weitzmann, Various Aspects [1966], S. 22f. 223 Vgl. die Weltgerichte (v. a. Finja, Nr. 9), die Badeszenen Christi (Lyngsjö, Nr. 14 und Stävie, Nr. 17) sowie insbesondere die Übernahmen in Jørlunde (Nr. 18) und Måløv (Nr. 19). 224 Dies konzediert auch Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 101: »The Western artist yearning for a specific idiom like the ›classic‹ one could be receptive to any source of this kind, old or new.«

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Abb. 90: Hagia Sophia, südliche Empore (Detail: Stifterbild von Zoe und Konstantinos IX. Monomachos), aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Empress_Zoe_mosaic_Hagia_ Sophia.jpg (03. 03. 2015).

Abb. 91: Hagia Sophia, südliche Empore (Detail: Stifterbild von Ioannes II. Komnenos und Eirene), aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Comnenus_mosaics_Hagia_Sophia.jpg (03. 03. 2015).

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sondere aber verlieren für Skandinavien die gateways Venedig und Sizilien in dem Augenblick an Bedeutung, wenn man die personalen Netzwerke betrachtet. Die Verwandten und Verschworenen der Dänen, Isländer, Norweger und Schweden saßen nicht wie diejenigen der Westeuropäer in Outremer oder Sizilien, sondern in Konstantinopel selbst. Obschon Pilgerreisen nach Süditalien ebenfalls eine Rolle spielten, bleibt das komnenische Byzanz der wichtigste Anlaufplatz für Skandinavier im Mediterraneum. Das betraf gerade im späten 12. Jahrhundert auch skandinavische Geistliche mit entsprechender Bildung, wovon nicht nur die Teilnehmer des Vierten Kreuzzugs, sondern gerade auch die Profectio Danorum beredt Zeugnis ablegen. Sie hatten direkten Zugang zu Monumenten, aber auch zu transportabler Kleinkunst wie Ikonen, zu Handschriften, Modellbüchern oder Zeichnungen daraus.225 Folglich waren sie ebenfalls in der Lage, stilistische Anleihen ebenfalls bei den Werken der lateineuropäischen Nachbarn zu steuern beziehungsweise die lokalen Werkstätten dahingehend zu beeinflussen. Hat diese These Bestand, fasst man sowohl in der Kunst als auch in der Historiographie eine spezifische Form der Defizienzbewältigung, der Überkompensation eines subjektiv erfahrenen und gerade von den südlichen Nachbarn herangetragenen peripheren Status nach dem Ende der Königsfehden, die mit den Kalkmalereien und anderen romanischen Werken wie den frühen Monumentalkruzifixen, mit der Erschließung der mythologischen Vorgeschichte und Saxos Latein eine eigene dänische »Klassik« hervorbringt.

Konkrete Datierungen: Vä als Kirchenbau und Kloster Paradigmatischen Erwägungen zur Validität, die Stilvergleiche für Datierungen besitzen, steht indes ein ganz konkreter Anhaltspunkt gegenüber, der für das komplette relative Chronologiegerüst der Kalkmalereien von größter Bedeutung ist. Als die Kirche zu Vä 1963 bis 1966 renoviert wurde, fanden sich nicht nur die besprochenen Malereien in Chor, Apsis und Westempore,226 sondern auch Reliquien aus dem ursprünglichen Altar der Kirche: Innerhalb eines abgerissenen gemauerten Altars von 1674 fand sich der mittlere Teil einer älteren Altarplatte 225 Zu diesen Möglichkeiten Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 43–45; Hjort, Madonna med barnet [1986]; Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], S. 129f.; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 20f. Modellbücher aus Dänemark sind nicht erhalten, jedoch existiert ein isländisches aus dem 15. Jh., welches aber alte einheimische, romanische und gotische Traditionen nebeneinander als Materialsammlung bewahrt (En islandsk tegnebog, ed. Fett [1910], S. 12–28). Hier ist auch eine in der Ikonographie der Hodegetria sehr ähnliche, thronende Madonna im hochgotischen Stil überliefert (ebd., Pl. 5) sowie eine klar auf romanische Vorbilder zurückgehende, in gotischem Stil gezeichnete Maiestas Domini (ebd., Pl. 33). Vgl. auch die Studie von Scheller, Exemplum [1995], Cat. Nr. 22, S. 241–249. 226 Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 74–91.

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aus Stein mit einem intakten Reliquiar. Eingewickelt in eine Bleiröhre waren Stoffreste aus Seide, Knochenfragmente und Reste eines beschriebenen Pergamentzettels, die jedoch sehr stark beschädigt waren.227

Abb. 92: Fragmente eines Pergamentzettels aus einer Reliquienkapsel im Altar der Kirche zu Vä mit Schriftfragmenten und römischen Ziffern (Riksarkivet, Stockholm), aus: Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], Fig. 34, S. 63.

Nur teilweise verblasste Reste einer Zeile erwiesen sich als halbwegs lesbar. Sie enthalten einwandfrei eine römische Zahl, deren Deutung jedoch unklar bleiben muss. Zwei Lesarten werden angeboten: Entweder man liest m. c. xx. i oder mccxxxi. Henrik Græbe, der die Malereien aufgrund von Skyum-Nielsens problematischer Datierung der Stiftungsbriefe für das Kloster Vä in die Zeit um 1170 datiert,228 war der Ansicht, man könne die Zahl aufgrund der Unsicherheit der Lesart und des verlorenen Begleittextes nicht zu Datierungszwecken gebrauchen.229 In stilistisch wohl begründeter Ablehnung einer so späten Datierung der Malereien jedoch, die keine Spuren der »zweiten Welle« byzantinischen »Einflusses« aufweisen,230 entschlossen sich Kunsthistoriker, die erste Lesart 1121 als Einweihungsdatum des primären Altars zu akzeptieren und zu belasten.231 Auf diese Weise wurde Vä zum frühen Hauptwerk der ältesten ostdänischen Werkstatt, die folglich in den 1120er-Jahren aktiv gewesen sein musste, wozu sich die 227 228 229 230

Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 48–50; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 59–67. Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 45–48, 91–94; vgl. zu den Quellen oben, S. 454 mit Anm. 23. Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 50. Zum dynamischen Stil und der »zweiten Welle« byzantinischen Einflusses Kitzinger, Byzantium and the West [1970]. 231 So Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 62f.; Kaspersen, Catalogue of Wall-Paintings 4 [1982], S. 7–10; Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 28f.; Kaspersen, Italo-byzantinsk stil [1986]; Kaspersen, The Vä Master [2003], S. 100f.; Haastrup/Lind, Royal Family Connections [2013], S. 387.

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übrigen Werkstätten chronologisch relativ platzieren ließen. Die dargestellten Stifter waren nun nicht mehr Valdemar und seine Frau Sophia, sondern Niels († 1134) und Margrethe Fredkulla († 1130) oder auch Niels’ Sohn Magnus († 1134) und seine Witwe Rikissa. Da jedoch die Kalkmalereien wie bereits besprochen auf der Oberfläche eines umgebauten Chorraumes und einer veränderte Westempore liegen,232 ergeben sich aus der Frühdatierung problematische Annahmen für die Baugeschichte. Die Kirche wurde mit einem quadratischen Chor begonnen, der ein Kreuzgratgewölbe erhalten sollte. Hiervon sind noch die Eckkapitelle erhalten, doch kam das Gewölbe augenscheinlich nie zur Ausführung. Farbunterschiede im Putz an der Westwand des Chores deuten auf eine flache Holzdecke hin, unterhalb derer der Bau verputzt, aber nicht bemalt war. An diesen im Bauprozess vereinfachten Chor wurde das Schiff mit den beiden Westtürmen angebaut, deren Architektur sich an sächsischen Vorbildern orientiert.233 Das Schiff, die Türme, die drei Baldachinportale im Westen, Süden und Norden sowie die Erweiterung des Chors um eine Rundapsis und das Tonnengewölbe, das in die Bemalung eingebunden ist, bilden eine stilistische und bautechnische Einheit, die im Gegensatz zum rechteckigen Ursprungschor klare Parallelen zur Kathedrale in Lund aufweisen. Gerade die Portale mit Gewändesäulen und Archivolten sind in Stil und handwerklicher Ausführung der lombardisch geprägten Kapitellornamentik des Doms so ähnlich, dass hier die gleichen Handwerker gearbeitet haben können. In jedem Fall findet sich hier ein Datierungsanhalt in die Zeit um beziehungsweise nach 1145, als in Lund der Hochaltar eingeweiht wurde.234 Man muss demnach davon ausgehen, dass der ursprungliche Chor im früheren 12. Jahrhundert begonnen wurde, möglicherweise als Anbau zu einer Stabkirche235 oder neben einer solchen, die Steinkirche jedoch erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts fertiggestellt wurde. Zudem wurde die Herrschaftsempore im Westen in eine Kapelle umgebaut und dann erst bemalt.236 Versteift man sich indes primär aus stilistischen Gründen auf eine Frühdatierung in die 1120er-Jahre, muss man unplausible Modifikationen der Baugeschichte in Kauf nehmen: Demnach wäre der rechteckige Chor im frühen 12. Jahrhundert entstanden und fertig gebaut, jedoch nach weniger als 10 Jahren erneut umgebaut worden, ebenso wie die Empore. In diesem Falle wäre nicht Lund der Impulsgeber der Architektur, sondern die Kirche zu Vä mit ihrer Architektur und ihren für die Jahrhundertmitte typischen Zierformen ginge dem Dom zu Lund über zwei Jahrzehnte voraus. Warum man indes genau zu diesem Zeitpunkt die eben fertiggestellte Empore zur Kapelle 232 233 234 235 236

Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 94. Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 59f. Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 22. Vgl. Ochsner, Bygget kring mysteriet [1992], S. 53–55. Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 60–63, 94.

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umbauen sollte, bleibt rätselhaft. Ein Stift lässt sich in Vä vor Ort nicht vor der Übertragung an die Prämonstratenser nachweisen;237 auch die Stiftungsbriefe sprechen nicht davon, sondern nur von der Kirche selbst. Die Byzantinismen der frühesten ostdänischen Wandmalereien haben Friedrich Ochsner, Ulla Haastrup und John Lind, die einer Frühdatierung den Vorzug geben, vor abweichenden historischen Hintergrundszenarien mit Kontakten der Königsfamilie in die Rus’ erklärt. Ochsner geht davon aus, dass die unsichere Jahreszahl 1121 das Weihedatum des Chors zu Vä wiedergebe, dass aber die Kirche als Ganzes jünger sei. Er spekuliert, Rikissa, die aus Polen stammende Frau Magnus Nielsens, habe Vä mit der dazugehörigen Kirche als Morgengabe erhalten. Auf diese Weise habe sie nach den Ereignissen des Jahres 1134, als ihr Mann Magnus, der den Mord an Knud Lavard geplant und ausgeführt hatte, in der Schlacht bei Fodevig gefallen war, den Zugriff auf Vä behalten.238 In der Tat heiratete Rikissa 1135 einen rusischen Fürsten, wahrscheinlich Volodar von Minsk und Polotsk, mit dem sie die Tochter Sophia, die spätere Frau Valdemars des Großen, bekam, und nach der Auflösung dieser Ehe um 1145 Sverker von Schweden.239 Dass Sophia gemäß den Stiftungsbriefen 1157/58 über Vä verfügt, erklärt er damit, dass ihr 1157 bei der Blutgilde von Roskilde ermordeter Halbbruder Knud III. damals über keinen legitimen Erben verfügt habe, so dass es an sie fiel. Rikissa habe also aus dem rusischen Exil um 1140 die Ausstattung Väs mit Kalkmalereien veranlasst und es mit Kanonikern ausgestattet, weshalb die Empore im Westen in eine Kapelle umgebaut worden sei; schließlich habe sie sie nicht mehr benötigt. Folglich seien die abgebildeten Stifter Magnus und Rikissa, eine Meinung, die auch Inger Ahlstedt Yrlid schon entgegen der historischen Plausibilität allein mit Stilargumenten vertrat.240 Die Malerwerkstatt sei, über Lund vermittelt, technisch von Helmarshausen und ideell mit ihrer apokalyptischen Darstellung durch den eben erst nach Lund versetzten Eskil und seine hierokratischen Ideen geprägt; Helmarshausener Verbindungen lassen sich jedoch erst nach der Mitte des 12. Jahrhunderts fassen.241 Generell hat Ochsners Hypothese vor allem die politischen Ereignisse und Koalitionen zumal in Schonen zur Zeit des Königs Svend III. Grathe gegen sich,

237 Ein solches postuliert Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], S. 109. 238 Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], bes. S. 112–122. 239 Fsk., Kap. 77, S. 295 nennt als Vater Sophias Valaðr kunungr á Púlinalandi, ebenso die Knýtlinga saga; zur Identifikation Volodars Lind, De russiske ægteskaber [1992], S. 256–261; Uspenskij, Dynastic Names [2003], S. 37f. 240 Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], S. 117–122; Ahlstedt Yrlid, Och i hopp [1976], S. 60–67. 241 Ochsner: Drottningarnas Vä [1991], S. 115; zu den Helmarshausener Verbindungen Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 34 f.; Kaspersen, Helmarshausen oder andere Quellen? [1992].

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der bis zum Verlust seiner Partner und seiner Flucht nach Sachsen 1154 Schonen kontrollierte.242 Dass die Mutter seines Todfeindes eine Kirche in von ihm kontrollierten Feindesland mit reichen Gütern ausstatten konnte und dies vor allem aus ihrem rusischen Exil aus tun wollte, ist zwar rechtlich denkbar, praktisch aber mehr als unwahrscheinlich. Abgesehen davon arbeitete die gleiche Werkstatt wie in Vä sonst praktisch ausschließlich für die Hvide, die in der Zeit zwischen 1145 und 1152 geschlossen hinter Svend III. standen und seine Schlachten gegen Rikissas Sohn Knud schlugen, womit sich Ochsners Hypothese nicht verträgt. Haastrup und Lind hingegen sehen die 1130 verstorbene Margrethe Fredkulla und den König Niels als Stifter, gehen also aufgrund oben erwähnter stilistischer Erwägungen davon aus, dass das Gebäude in den 1120er-Jahren komplett fertiggestellt wurde. Byzantinischer Einfluss wird erklärt durch ein heute verlorenes rusisches Evangeliar aus dem Besitz des Domstiftes Roskilde, das Stephanius im Vorwort zu seiner Edition von Saxos Gesta Danorum 1644 erwähnt und in dem Margrethe als Stifterin genannt sei.243 Da sich zwischen Vä den von Rus’ bis 1150 ausgeführten Kalkmalereien und Holzmalereien auf Gotland keinerlei signifikante stilistische Parallelen aufweisen lassen, scheidet der Transfer der Byzantinismen nach Vä durch rusische Künstler aus. Zudem war Schonen bezüglich der Einbindung in Warenströme und Handelsnetze, die sich in der materiellen Kultur ausdrücken, geteilt; der dichter besiedelte westliche Teil orientiert sich wie die dänischen Inseln nach Mittel- und Westeuropa, so dass man nicht wie auf Gotland mit der ständigen Präsenz von Händlern und ihren Begleitern aus der Rus’ rechnen kann.244 Plausibilisiert wird eine Vermittlung über die Rus’ zu Margrethes Zeiten durch den Import solcher Handschriften wie der eben genannten. Zudem verweisen Haastrup und Lind auf das mächtige und weit verzweigte personale Netzwerk hinter Margrethe, der Tochter des Schwedenkönigs Inge, die als Mitgift ganz Västergötland erhalten hatte, in der Tat durch Verheiratung ihrer Nichten die konkurrierenden Zweige der dänischen Königsfamilie verklammerte und so die fragile Macht ihres Mannes Niels zu ihren Lebzeiten stabilisierte, was sich auch durch ihren Namen auf Münzen und Urkunden ausdrückt.245 Margrethes Schwester Kristina war die Frau Mstislavs von Novgorod; zwei ihrer Töchter, Ingeborg und Malmfred, wurden bekanntermaßen nach Dänemark und Norwegen verheiratet.246 Über dieses rusische Netzwerk seien 242 Vgl. Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 212–214; Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 136–140. 243 Hier und im Folgenden Haastrup/Lind, Royal Family Connections [2013], S. 381f. 244 Anglert, Kyrkor och herravälde [1995], S. 48–51; Roslund, Brosamen [1998], S. 332–335, 357–370. 245 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 92–119; Nyberg, Kong Niels [2007], S. 364– 367, 370–377, 385–387. 246 Oben, S. 369 mit Anm. 340.

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byzantinische Einflüsse auf die Malereien in Vä und der Werkstatt zu erklären. Dass diese Werkstatt so früh arbeitete, bestätigten eine Runenritzung im Putz unter dem Bild des Königs sowie die Dendrodatierung der Kirchengebäude in Gundsømagle und Sønder Jernløse, die jedoch vom Baustil und der (abwesenden) Ornamentik her ganz anders aussehen als diejenigen in Vä. Auch die Assoziation eines offensichtlichen Grafitto, der sich gar nicht im Malputz befindet, sondern darunter, mit den vermuteten Auftraggebern des Malereien kann nicht vollauf überzeugen.247 Man hätte mit einer Frühdatierung insgesamt das Problem, dass die komplexe Baugeschichte in Vä auf wenige Jahre zusammengedrängt und weit vor der ähnlichen Kathedrale stattgefunden haben müsste. Lässt man zudem Vä mit den beiden anderen Vertretern am Beginn der ostdänischen Wandmalereien stehen, hätte der Schwerpunkt der Entwicklung just in den Königsfehden gelegen. Ein historischer Kontext wurde hier aufgrund der stilhistorischen Datierung und einer bestimmten Lesart des Pergamentzettels gesucht und gefunden. Vom historischen Kontext ausgehend ergibt sich die viel einfachere und in praktisch jeder Hinsicht plausiblere Lösung jedoch aus einem anderen Szenario der Jahre um 1160: Wir wissen aus dem undatierten Stiftungsbrief des Bischofs Simon von Odense, dass er die Kirche von Sophia und Valdemar übertragen bekommen hatte;248 die Nennung beider Herrscherpersonen belegt, dass es sich hierbei um einen Teil des beträchtlichen Guts handelte, welches Sophia in die Ehe eingebracht hatte: Immerhin hatte Knud III. Magnussen Valdemar ein Drittel seines Erbes als Mitgift für seine Halbschwester Sophia zusichern müssen, damit dieser Svend III. verließ und auf seine Seite wechselte.249 Aus der Tatsache, dass Sophia die eigentliche Donatorin des von ihr ererbten Grundes ist, erklärt sich auch, warum ausgerechnet der Schleswiger Bischof und spätere Usurpator Valdemar 1182 selbst Vä Land überträgt und die früheren Schenkungen an Vä bestätigt. Er war als Sohn des 1157 ermordeten Knud III. der Neffe Sophias und erklärt hier folgerichtig seinen Verzicht auf übergangene Erbansprüche.250 Aus all dem ergibt sich die einfachste Erklärung dafür, dass die Königin das Kirchenmodell hält und der König als Mitdonator »nur« einen Schrein. Auch wenn man davon ausgeht, dass rusische Handschriften und ähnliche Medien bedeutsam waren für die 247 Haastrup/Lind, Kongelige familieforbindelser [in Vorb.] lesen den Inschriftenabschnitt »ræhni… (k) kristina« als Regnald und Kristina. Gemeint seien Margrethes Bruder und ihre Schwester, für deren Kinder Margrethe Fredkulla laut GD 2,13,1–4 gute Eheverbindungen vermittelt und an welche sie Anteile an ihrem Erbe verteilt habe. Falls diese ganz unsichere Identifikation hält, da es sich hier um keine »offizielle« Inschrift handelt, sondern einen Grafitto, bleibt rätsehalft, warum sie sich unter dem Bild des Königs und nicht der Königin befindet. 248 Oben, S. 454 mit Anm. 23. 249 GD 14,14,2. 250 Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 46f.

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Abb. 93: Vä kyrka, Ostwand des Chores, Runenritzung im Grobputz unterhalb des königlichen Stifters (»ræhni… (k) kristina : s??ns… | guþ : ok: uor: fruha..m…«), aus: Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], Fig. 95, S. 93.

Vermittlung byzantinischer Elemente in Stil und Ikonographie, ergäbe sich mit Sophia Volodarovna und ihrer rusischen Herkunft251 eine bessere kulturelle Vermittlerin als mit Margrethe Fredkulla, der schwedischen Schwiegermutter ihrer Mutter Rikissa; außerdem kam auch Valdemars Mutter Ingeborg selbst aus der Rus’, daher auch sein danisierter rusischer Name. Eine solche Kontextualisierung der Kalkmalereien mit der Zeit unmittelbar nach Valdemars Sieg 1157 steht zudem in besserer Übereinstimmung mit der Baugeschichte und der Tatsache, dass hier eine Malerwerkstatt am Werk war, die augenscheinlich für die

251 Es besteht keine Sicherheit über den Ort, an dem Sophia Volodarovna aufwuchs: 1129/30 nimmt Mstislav von Kiev die Fürsten von Polotsk gefangen und verbannt sie nach Byzanz. Nachweisbar ist der hiervon betroffene Volodar in Minsk erst wieder 1159, so dass eine gewisse Unsicherheit über Sophias Aufenthaltsorte vor ihrer Vermählung mit Valdemar bleibt (Lind, De russiske ægteskaber [1992], S. 245–248).

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Hvide und ihr seeländisches Umfeld arbeitete, eben jene Gruppe, die am engsten mit Valdemar kooperiert hatte und seinem Sieg ihren weiteren Aufstieg verdankte. Aus all diesen Anhaltspunkten ergibt sich, dass unmittelbar nach Valdemars Sieg auf der Heide von Grathe 1157, dem Beginn seiner Alleinherrschaft und seiner Eheschließung mit Sophia die Kirche an den Dompropst Simon von Lund, den baldigen Bischof von Odense, überging, dem die Einrichtung eines Klosters überlassen wurde, und in diesem Zuge in königlichem Auftrag mit Malereien ausgestattet wurde. Auf einen solchen Kontext, eine Anlage der Malereien für eine Kirche mit Kanonikerstift, deutet nicht nur der Umbau der Westempore hin, sondern auch und gerade die Platzierung der Stifterbilder. Sie finden sich in Dänemark immer auf der Triumphwand oder im Triumphbogen, sichtbar für die Laien, nur in Vä im Chor selbst seitlich des Apsisbogens. Wenn jedoch den königlichen Stiftern klar war, dass der Chor regelmäßig von Kanonikern frequentiert werden würde, ist eine Anbringung der Stifterbilder zum Zwecke der Memoria an dieser Stelle nur folgerichtig. Letzten Endes handelte es sich bei Vä zudem um Güter, die aufgrund der Königsfehden lange Zeit dem Zugriff der königlichen Erben entzogen gewesen waren und deren größter Nutzen für Valdemar weniger in großen Einnahmen als vielmehr darin bestand, die Herrschaft durch Gaben an hohe Geistliche, an Stiftskirchen und Klöster zu stabilisieren. Eine solche Vorgehensweise fügt sich zudem perfekt in Valdemars ausgleichende Politik der ersten Jahre nach 1157, die zudem auf eine Verbreiterung seiner Allianzen zielte.252 Sein Selbstverständnis in der durch Gottes Barmherzigkeit neu errichteten monarchia gerade auch im Verhältnis zu den Klöstern wird in der Stiftungsurkunde für das jütische Zisterzienserkloster Vitskøl von 1157/58 sehr deutlich.253 Es ist also keineswegs nötig, die Klostergründung in Vä auf die Zeit um 1170 zu verschieben, wie Skyum-Nielsen und nach ihm Græbe es taten. Der Zeitraum zwischen Eskils Rückkehr aus staufischer Gefangenschaft 1158 und seinem Exil ab 1161 als Gründungsdatum ist absolut plausibel,254 ja aufgrund der Bezeichnung des späteren Erzbischofs Stephans von Uppsala als episcopus plausibler als eine spätere Datierung, und damit fällt zugleich der berechtigte kunsthistorische Einwand fort, dass um 1170 eigentlich zumindest Spuren des »dynamischen Stils« sichtbar sein sollten, die in Vä abwesend sind. Auch Kaspersen hält sich, obwohl er aus stilistischer Sicht für eine frühe Datierung der Malereien in Vä

252 Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 226–232. 253 DD 1,2, Nr. 120, S. 226f. (von 1157/58). Hierzu schon oben, S. 388. 254 Oben, S. 454 mit Anm. 23. Dass Simon gemäß seinem Brief schon lange (diu) ein Kloster gründen wollte, kann mit seiner Verhinderung durch die Weihe zum Bischof von Odense zusammenhängen und auch nur auf eine kurze Verzögerung etwa von 1157 bis 1158 oder 1159 hindeuten.

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pladiert, die Möglichkeit einer kunsthistorisch akzeptablen Einordnung in die Zeit um 1157 als spätmöglichste Option offen.255 Der Pergamentzettel-Überrest aus dem Altar gibt keinerlei abweichenden Anhaltspunkt, weil völlig unklar ist, was die nicht eindeutig lesbare Zahl besagen soll. Liest man 1121 als Einweihungsdatum für den Altar, besagt dies nichts über die weitere Baugeschichte und ihren Abschluss; liest man 1231, könnte ein Bezug zu Umbaumaßnahmen im Mittelschiff bestehen, das mit Gewölben versehen wurde.256 Liest man indes 1131, was ebenfalls möglich scheint, ergäbe sich ein Bezug zum Todesjahr Knud Lavards, und man könnte in den Überresten Reliquien des Heiligen aus dem Königshaus vermuten; dann könnte man spekulieren, ob nicht der männliche Stifter, der einen Schrein hält, für eine Übertragung von Knudsreliquien an die Marienkirche durch Valdemar steht. Auch vor seiner Kanonisierung 1169/70 wurde Knud von seinen Nachkommen und Anhängern bereits als Heiliger verehrt. Der Phantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt, und genau deshalb ist die Zahl, welche auch immer es gewesen sein mag, völlig unbrauchbar. Weder hier noch bei den Dendrodatierungen der Kirchengebäude in Gundsømagle, Sønder Jernløse oder Tveje Merløse sollte ein terminus post quem, in diesem Fall gar ein extrem fragwürdiger, einfach zu einer fixen Datierung umgewandelt werden.

Óláfr Haraldsson und Knud der Heilige in der Geburtskirche zu Bethlehem Für eine Datierung Väs und seiner Werkstatt, ebenso wie der Finja-Werkstatt, in die Jahre um 1157 spricht umso mehr, dass sich zu jener Zeit konkrete Wege des Transfers greifbar machen lassen: Einerseits bestehen um diese Zeit greifbare Kontakte zu Helmarshausen, welche die Vermittlung konkreter handwerklicher Fertigkeiten sowie romanischer Kunst erklären können. Auch öffnen sich um die Jahrhundertmitte Parallelen der frühen Malereien zur lokalen Buchmalerei: Aron Borelius vergleicht die Bilder der Finja-Werkstatt mit den Evangelistenbildern in einem Evangeliar aus Lund von um 1150.257 Andererseits finden sich ab hier auch Auswirkungen skandinavischer Präsenz auf das östliche Mediterraneum und seine Kunst: Auf den Säulen der Geburtskirche in Bethlehem, einer im Kern antiken Basilika,258 deren Ausstattung in den 1150er- und 1160er-Jahren gemeinsam von Manuel sowie Balduin III. und Amalrik von Jerusalem durch byzantinische Mosaizisten sowie byzantinische und lateineuropäische Maler 255 Kaspersen, Italo-byzantinsk stil [1986], S. 101. 256 Græbe, SK Skåne 3,1 [1971], S. 37f., 49. 257 Borelius, Skånes medeltida monumentalmåleri [1954], S. 66, 78–83. Die Bilder in Cod. Thott. 21 4to sind wahrscheinlich lokal angefertigt, aber stark von der Helmarshausener Malschule geprägt (s. oben, S. 541 mit Anm. 203). 258 Zur Baugeschichte Bagatti, O.F.M., Gli antichi edifici sacri [1952], S. 2–54.

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erneuert wurde, finden sich neben 27 weiteren Heiligendarstellungen, alle auf den Säulen zwischen Haupt- und Seitenschiffen, auch Bilder von Óláfr Haraldsson von Norwegen und dem König Knud dem Heiligen (Abb. 94–96).259 Sie sind durch Inschriften identifiziert, und es sind ihre ältesten Darstellungen außerhalb Skandinaviens überhaupt. Die mit Ölfarben direkt auf den polierten Stein gemalten, ganzfigurigen Heiligen passen ein byzantinisches Programm an den Raum der Basilika und das soziale Umfeld an, indem Bischöfe, Diakone, die Kreuzfahrerheiligen Georg und Leonhard, die Asketen und Eremiten, die Anargyroi, die beiden skandinavischen Heiligenkönige und Frauen jeweils in Gruppen angeordnet sind. Die Auswahl und Anordnung ist also planvoll und gezielt geschehen. Lediglich die Heiligen Leonhard, Fusca, Catald, Knud und Óláfr gehören nicht zum klassischen byzantinischen Kanon, doch folgt auch ihre Darstellung byzantinischer Ikonographie mit vereinzelten, mitunter fehlgedeuteten westlichen Elementen wie Mitra, Manipel und Jakobsmuschel.260 Die etwa anderthalb Meter hohe, frontale Gestalt Knuds vor blauem Hintergrund ist wie die zeitgenössischen Bilder stehender Basileis ohne Rüstung in byzantinischen Zeremonialkleidern mit bodenlanger Tunika und einem langen, hermelingefütterten Chlamys abgebildet, der mit einer perlenbesetzten Fibel zusammengehalten wird und sein rechtes Knie freilässt, das aufgrund der Kontrapost-Haltung leicht angewinkelt ist.261 Zu den Zeremonialkleidern jedoch hält Knud abweichend von der byzantinischen Ikonographie, die entweder den gerüsteten und bewaffneten oder den waffenlosen Basileus in Zeremonialgewändern zeigt, mit der Rechten einen Speer und stützt die Linke auf einen spitz zulaufenden, langen Schild. Vom wohl bartlosen Gesicht ist nichts mehr außer dem Umriss zu erkennen, ebenso von der im Durchmesser kleinen, recht hoch sitzenden Krone. Den Kopf umgibt ein sehr breiter Nimbus. Die Darstellung Óláfs, zu dessen Füßen eine Pilgerin kniend dargestellt ist,262 ähnelt Knud stark, 259 Generell Kjær, St. Knud [1932]; Kühnel, Wall Painting [1988], zu den Säulenmalereien allgemein ebd. S. 5–14, 121–147, zu den Königen 112–118. Eine Mosaikinschrift in der Bema ergibt für die Neuausstattung als Ganzes den terminus ante quem 1169 (ebenda, S. 4f.). 260 Kühnel, Wall Painting [1988], S. 127f. 261 Zu Knud Kühnel, Wall Painting [1988], S. 112–116; zur byzantinischen Herrscherikonographie, die entweder den Feldherrn oder den unbewaffneten Basileus zeigt, Grabar, L’empereur dans l’art [1971], S. 23. 262 Insgesamt finden sich bei nur drei Heiligen Pilgerdarstellungen, außer bei Óláfr bei der Theotokos Glykouphilousa und bei Jakobus dem Älteren. Es handelt sich durchweg um Kompostellpilger (Kühnel, Wall Painting [1988], S. 126f.). Zu Óláfr ebd., S. 116–118 und Lidén, Olav den helige [1999], S. 50–52. Lidén, Nordisk stenskulptur med Olavsmotiv [1998], S. 77 bzw. Lidén, Bilden av Sankt Olav 1997 [1997], S. 51, 266–268 identifiziert die Dargestellte als Kristín Sigurðardóttir, die Tochter des norwegischen Jerusalemfahrers; sie habe das Óláfsbild und auch das Knudsbild stiften lassen im Zusammenhang mit der Einrichtung des norwegischen Erzbistums 1152/53 und der Geburt ihres Sohnes 1156. In der Tat befand sich ihr Mann Erlingr skakki mit Ro˛gnvaldr 1152 in Outremer, seine Frau aber wahr-

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Abb. 94 und 95: Darstellung des Heiligen Königs Knud Svendsen von Dänemark (links) und des Heiligen Königs Óláfr Haraldsson von Norwegen (Bethlehem, Geburtskirche, Säulen des Hauptschiffes [um 1154–1169], Details), aus: Kühnel, Wall Painting [1988], Tf. 32 bzw. 34.

jedoch ist hier die Mittelpartie des gerade dastehenden Königs schlechter, der Kopf dafür besser erhalten. Die Kleider sind identisch, jedoch gibt der Chlamys bei ihm die ganze rechte Körperhälfte von der Schulter abwärts frei. Das schmale, lange scheinlich nicht (O.s. NI 55). Zudem verfälscht Lidén Kristíns Rolle, wenn sie ihr Handeln in voller machtpolitischer Übereinstimmung mit ihrem Mann Erlingr und ihrem Sohn Magnús sieht: Kristín hatte laut der Hkr., unserer einzigen informativen Quelle, eine inzestuöse Beziehung zu ihrem Neffen Sigurðr munnr, aus der ein Sohn hervorging, den ihr Mann töten ließ. Sie pilgerte später nicht nach Byzanz, sondern emigrierte und nahm sich einen neuen Mann, mit dem sie Kinder hatte (wohl in den 1170er-Jahren, Hkr. NI 157). Die Nachricht über ihren Tod A.D. 1187 im Konungsannáll (s. NI 157) heißt nicht, dass sie zurückgekehrt sein musste, sie kann auch in Byzanz gestorben sein. Eine aus diesem Exil mglw. resultierende Jerusalempilgerschaft dürfte aber angesichts der Datierung des Ausmalungsprogramms zu spät sein, um sie als Stifterin anzusehen. Die Identifikation bleibt also höchst fragwürdig.

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Gesicht mit der dünnen Nase ist mit einem langen Oberlippenbart, möglicherweise auch einem kurzen Vollbart und etwa schulterlangen, etwas gebauschten Haaren umgeben und ähnelt hierin wie auch in der Wiedergabe der Krone entfernt dem vier bis fünf Jahrzehnte jüngeren Stifterbild Knuds VI. im Triumphbogen der Kirche zu Stehag.263 Die kleine, edelsteinbesetzte, zylindrische Reifkrone mit gezahntem oberen Rand ihrerseits ähnelt dem Fund aus dem Grab des Heiligen Erik von Schweden und der Beschreibung der Krone, mit der Magnus Nielsen 1134 in Halberstadt zum König von Dänemark gekrönt wurde.264 Neben dem Schild hält Óláfr einen nicht eindeutig identifizierten Gegenstand in der Rechten: Schräg nach rechts über die rechte Schulter ragt ein Holzstiel, der sich auf der anderen Seite über die Brust nach unten verfolgen lässt, sich dann aber im schlecht erhaltenen Mittelteil des Bildes verliert. Die dunkle Struktur am oberen Ende dieses Stiels neben Óláfs Kopf ist vor dem blauen Hintergrund nicht eindeutig zu erkennen,265 doch ist der Stiel kurz unterhalb seines Endes durch diese Struktur unterbrochen. Insgesamt ähnelt Knud, wie er den Speer hält und die Linke auf dem Schild ruhen lässt, durchaus der Darstellung Basileios’ II. in voller Rüstung,266 mit dem besagten Unterschied jedoch, dass er keine Rüstung trägt. Kühnel deutet den Speer, welchen Óláfr jedoch nicht trägt, als Herrschaftsattribut, in der Tat aber handelt es sich um die Waffe, mit der Knud laut Ælnoth getötet wurde.267 Óláfr dagegen hält den langen Stiel ähnlich wie Manuel Komnenos das Labarum in einem Doppelporträt mit Maria von Antiochia in einer Handschrift der Bibliotheca Vaticana schräg über der rechten Schulter (vgl. Abb. 96 mit Abb. 97). Wenn es sich indes bei Knuds Speer beziehungsweise Lanze um ein Attribut handelt, ist der Schluss erlaubt, dass Óláfr ebenfalls mit einem solchen abgebildet war, also mit einer Streitaxt. Die Überreste der Darstellung legen nahe, dass die Waffe derjenigen sehr ähnlich war, die sich im Madrid-Skylitzes findet, Óláfr also eine Axt mit schlanker Öse und breiter Klinge hält, über welche der Stiel ein kleines Stück hinausragt. Genau so deutete auch Taddeus Rychter die damals 263 Vgl. Abb. 94 und 95 mit Abb. 85. 264 Kühnel, Wall Painting [1988], S. 114f. Zur Krone aus dem Grabe Knut Erikssons des Heiligen Thordeman, Erik den heliges kungakrona [1954]; zu ihrer Beschreibung als »Reif« (circulus) Annales Magdeburgenses [1859], S. 184; Chronicon Montis Sereni, ed. Ehrenfeuchter [1874], S. 144. 265 Kühnel, Wall Painting [1988], S. 117: »The hand is holding a baton whose exact form and extant we are unable, unfortunately, to follow further. At its upper end, on the blue background, there is a rather odd and indistinct drawing in blue too, of something resembling a cross.« 266 Cod. Marc. gr. 17, fol. 3r. 267 Kühnel, Wall Painting [1988], S. 124; vgl. dagegen Gesta et Passio, Kap. 28, S. 120f. Zur Knuds-Ikonographie, die auch eine Lanze umfassen kann, vgl. Kofod-Hansen, Knud den Hellige [1986], bes. S. 66. Es finden sich jedoch verhältnismäßig wenige und späte Darstellungen, und die Lanze entwickelt sich im Norden nicht zum eindeutigen Attribut.

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Abb. 96: Darstellung des Heiligen Óláfr Haraldsson von Norwegen (Bethlehem, Geburtskirche, Säule des Hauptschiffes [um 1154–1169], Detail, Gouache von Taddeus Rychter, 1930), aus: Lidén, Olav den helige [1999], S. 6.

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Abb. 97: Cod. Vat. gr. 1176, fol. 2r (Detail: Stifterbild von Manuel Komnenos und Maria von Antiochia), aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Manuel1_Marie.jpg (03. 03. 2015).

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noch besser erhaltene Darstellung, als er 1930 eine Gouache-Zeichnung im Maßstab 1:1 anfertigte (Abb. 96).268 Die Streitaxt wird jedenfalls später Óláfs Attribut in den erhaltenen skandinavischen Zeugnissen;269 falls sich die Darstellung in Bethlehem in die Ikonographie einordnen lässt, wäre sie die erste. In jedem Fall, das belegt zumindest Knuds eindeutiges Beispiel, waren die Maler über die von ihnen in byzantinischer Ikonographie mit westlichen Anleihen abgebildeten Könige informiert: Die Lanze, die kleinen Reifkronen, wahrscheinlich auch die Axt zeigen, dass skandinavische Kenner ihrer Geschichten sie informierten, dass also auch im Bereich der Kunst kulturelle Interaktion Folgen zeitigte. Dass mit Knud dem Heiligen zudem ein völlig unpopulärer Heiliger in Bethlehem abgebildet ist,270 erlaubt sogar eine Eingrenzung des möglichen Informantenkreises. In der Tat hatte sich der Óláfskult schon im 11. Jahrhundert in Skandinavien und auf den britischen Inseln verbreitet, was nicht nur Funde seiner Liturgie, sondern auch Kirchenpatrozinien belegen;271 der Knudskult dagegen blieb im Wesentlichen auf Odense und die Königsfamilie sowie wahrscheinlich deren rusische Verwandtschaft beschränkt.272 Während die Verehrung Óláfs in Bethlehem also eher wenig verwundert, fragt sich, wer in den 1150er- oder zu Beginn der 1160er-Jahre als Vermittler Knuds in Frage kam. Hier drängen sich Mitglieder des Trundkollektivs auf; im Gegensatz zu den Anhängern Knud Lavards, dessen Popularität den König Knud rasch in den Schatten stellte, hatte Eskil von Roskilde und Lund seine Tochter mit Karl

268 S. Abb. 96 aus Lidén, Olav den helige [1999], S. 6; Kjær, St. Knud [1932]. Lidén, Olav den helige [1999], S. 50–52, 215 bestreitet dies und deutet den Gegenstand in Anlehnung an Kühnel (Anm. 265) als Kreuzstab; dies ist Teil einer generellen Skepsis gegenüber der Axt als Attribut romanischer Óláfsdarstellungen, weil auch bei Schnitzarbeiten das Attribut nie erhalten ist (ebd. S. 215f.); das ist aber kein Gegenbeweis. Sie verweist darauf, dass Kjær (a. a. O.) Rychters Bild nach dem Abfotografieren für seine Publikation retuschieren ließ, doch ändert dies nichts an dem, was Rychter selbst sah, und dies scheint deutlich genug. 269 Zur Óláfs-Ikonographie Lidén, Olav den helige [1999], S. 214–219. Vgl etwa die Darstellung Óláfs im isländischen Modellbuch (En islandsk tegnebog, ed. Fett [1910], Pl. 2). 270 Jenseits von Odense war der Kult kaum verbreitet (Fenger, Kirker rejses alle vegne [2002], S. 80–86); zum Knudskult am Erzbistum Lund Wallin, Knudskulten i Lund [1986]. 271 Abrams, Anglo-Saxons [1995], S. 248; Boje Mortensen, Anchin Manuscript [2000], S. 170; Jirousková, Textual Evidence [2010]. Óláfr wurde zudem in Novgorod verehrt (NI 20+NI 21); vgl. dazu zudem Jackson, The Cult of St Olaf [2010]. 272 So weist Lind, The Martyria of Odense [1990] darauf hin, dass in einer altrussischen Litanei die Heiligen Óláfr, Magnús (wohl von den Orkneys), Knud, Benedikt und Alban begegnen. Bei den letzten drei handelt es sich um den in Odense ermordeten König Knud, seinen Halbbruder Benedikt und den ebenfalls in Odense verehrten Alban. Für eine entscheidende Rolle der Vermittlung nach Bethlehem, die im Folgenden behandelt wird, scheinen die Eheverbindungen zwischen der Rus’ und Skandinavien (v. a. durch die Töchter Mstislavs von Kiev) in der ersten Hälfte des 12. Jhs. aber relativ zur Zeit der Bildentstehung zu früh zu sein.

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von Halland, einem Enkel Knuds des Heiligen über dessen Tochter, verheiratet.273 Seine hartnäckige Abwehr der Kanonisation Knud Lavards fügt sich gut in das Schema, in welchem Eskil als bedeutendster Vertreter des Trundkollektivs einen anderen Zweig der Königsfamilie stützt. Just zu jener Zeit, in den Jahren 1152/53, waren Eskil Svendsen und der Bischof Svend von Viborg, beides Vaterbrüder Eskils von Lund, nach Jerusalem gepilgert und im Heiligen Land gestorben.274 Sie kommen chronologisch und auch aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit als Vermittler des recht exklusiven Knudskultes in Frage, auch wenn sie ganz sicher nicht die einzigen waren. Es ist ebenso gut denkbar und sehr wahrscheinlich, dass andere Anhänger derselben politischen Partei in Dänemark aus dem jütischen Umfeld Knuds III., die Gegner Svends III. und des Knud Lavard-Zweiges waren, sich in byzantinischen Diensten und im Gefolge der byzantinischen Meister befanden, welche die Ausstattung der Geburtskirche anfertigten.275 Analogien zu Haraldr inn harðráði, der offensichtlich ein gutes Jahrhundert zuvor die Gesandtschaft begleitet hatte, welche Mittel zum Wiederaufbau der Grabeskirche brachte,276 sind auch angesichts der inzwischen gestiegenen Bedeutung der Axtträger leicht vorstellbar, mit dem Unterschied, dass sie in Bethlehem auch bildliche Spuren hinterließen. Dieses Resultat transkultureller Kommunikation zeigt, dass spätestens um diese Zeit dasselbe auch umgekehrt funktionieren konnte – obgleich dies allein im Umkreis der Nachkommen Skjalm Hvides und nicht in Jütland geschah. Hieraus resultiert wiederum ein Anhaltspunkt für eine mögliche späte Datierung der dänischen Kalkmalereien, zumal in den 1150er-

273 GD 14,54,1. Eine zum Skjalmkollektiv entgegengesetzte Bündnistrategie des Trundkollektivs erkennt hierin Christiansen, Works of Sven Aggesen [1992], S. 144. 274 Exordium magnum Cisterciense, D15. 275 Zu den Handwerkern Kühnel, Wall Painting [1988], S. 145–147. Er sieht eine Werkstatt aus Byzantinern und Lateinern, die sich an ihnen orientieren, am Werk, ist aber der Ansicht, dass Knud und Óláfr von Lateinern gemalt wurden (ebd. S. 125), dies aber nicht aufgrund des Stils, sondern aufgrund der Attribute, über die Lateiner etwa aus Sizilien aber nicht besser informiert gewesen sein müssen als Byzantiner. Auch hier wird ohne Grund nicht mit direktem Transfer gerechnet. Die Annahme bei Lidén (Anm. 262), bei der Stifterin auch des Knudsbildes handle es sich um die norwegische Königin Kristín, weil sie mit dem König Valdemar dem Großen verwandt war, ist aus ebd. genannten Gründen fragwürdig und unwahrscheinlicher als eine direkte dänische Auftraggeberschaft. Einen gänzlich anderen Kontext der Bilder schlägt Mayer, Kanzlei der lateinischen Könige [1996], S. 133–135 vor: Die Bilder seien ein Gestus der Danksagung des Bethlehemer Bischofs Radulf an den Papst Hadrian IV., der als Kardinallegat Nicholas Breakspeare das Erzbistum Niðaróss begründet hatte. Mayer folgt hier zudem der kaum begründbaren Spekulation bei Riant (S. 639 mit Anm. 251), man verdanke dem Kardinal Nicholas die Entsendung des Kreuzzugs Ro˛gnvalds von den Orkneys, der an der Befreiung Askalons mitgewirkt habe. Um so viele Ecken zu denken, scheint als Erklärung für die Präsenz skandinavischer Heiliger in Outremer unnötig, bedenkt man den Grad der Mobilität und Kommunikation. Außerdem kann die Anwesenheit Knuds so nicht zufriedenstellend erklärt werden. 276 S. oben, S. 316f.

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Jahren, in denen Gustav Kühnel die Säulenbilder entstehen sieht,277 der »dynamische Stil« mit überlängten, stark bewegten Figuren und intensiv um die Körperkonturen knitternden Gewändern noch keinerlei Spuren hinterlässt.278 Die frontale, »klassische« Monumentalität der Heiligen in Bethlehem erinnert entfernt an die statische Strenge der Figuren, wie die Finja-Werkstatt sie malte, was zweifellos auch aus der Einzeldarstellung auf den Säulen resultiert, jedoch ebenso verdeutlicht, dass die früh datierten dänischen Werkstätten auch zu jener Zeit, als Valdemar sich als Alleinherrscher etabliert hatte, ohne weiteres aktuelle Vorbilder im »klassischen« mittelbyzantinischen Stil in Byzanz wie auch der sehr stark byzantinisch geprägten »Kreuzfahrerkunst« vorfinden konnten, zumal an Orten, wo wir den Einfluss von Skandinaviern explizit fassen können. Stilistische Anleihen im Norden und das Eindringen skandinavischer Königsheiliger in die ostmediterrane Kunst werden zudem von sprachlichen Anleihen flankiert, auch wenn man nur noch vereinzelte Spuren erkennen kann wie die sehr wahrscheinlich griechische Inschrift, die in Vrigstad vorgefunden wurde, und die Gräzisierung eines skandinavischen Namens zu Olitos in der einzig komplett erhaltenen Inschrift zu Gualöv, die einen Stifter näher identifiziert. Das Skjalmkollektiv und sein Status im 12. Jahrhundert Ein weiteres Argument gegen eine Datierung der Vä- und Finja-Werkstatt in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts liegt in der unzweideutigen Kopplung der byzantinisierenden Kunst an die Nachkommen Skjalm Hvides und die ihnen durch Verschwörung, Gevatterschaft und Ehe verbundenen seeländischen Großen. Zwar ist ihre Bedeutung schon vor dem Beginn von Valdemars Alleinherrschaft groß, zumal Valdemar der Große bei Asser Rig aufwuchs. Der Übergang Valdemars der Hvide von Svend III. zu Knud III. 1152 bedeutet eine Katastrophe.279 Nichtsdestoweniger existierten aber im frühen 12. Jahrhundert mächtigere Adelskollektive. Das Trundkollektiv mit jütischen Besitztümern war eines hiervon, aber auch auf Seeland selbst finden sich potentere Gruppen wie etwa um die Nachkommen Bodils im Süden der großen Insel.280 Auch wenn man aus Stiftungsverzeichnissen, Historiographie und Urkunden über keinen Clan und seine Besitztümer so gut informiert ist wie über die Hvide, was natürlich zur Überschätzung ihrer Bedeutung verleitet, ist es unbestreitbar, dass etwa die Nachkommen Bodils vor 1150 das von ihnen geförderte Kloster in Næstved mit einem Mehrfachen dessen an Land ausstatten konnten, was die Hvide dem später so 277 278 279 280

Kühnel, Wall Painting [1988], S. 144f. Hierzu grundlegend Kitzinger, Byzantium and the West [1970]. Vgl. Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 214–224. Vgl. Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 35–46; Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 89–92.

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reichen Sorø oder Eskilsø überlassen konnten.281 Der Laie Peder Bodilsen konnte 1123 eine Verfolgung verheirateter Priester auf Seeland ins Werk setzen, ohne dass der Bischof Arnold irgendetwas dagegen tun konnte;282 auch der König war offenbar von ihm stärker abhängig als etwa von Eskil, als Peder beschloss, Eskils Plan einer Verlagerung des Erzbistums nach Roskilde zu hintertreiben.283 Von den Hvide fehlt hier jede Spur. Der enorme Ressourcenreichtum eines Absalon, eines Esbern Snare oder Sune Ebbesen, den das Sorø Gavebog, aber auch andere Quellen erahnen lassen,284 reicht offensichtlich nicht in diese frühe Zeit zurück. Bemerkenswerterweise jedoch spiegelt sich diese für das frühere 12. Jahrhundert gültige Konstellation weder in der Verteilung der erhaltenen Kalkmalereien an sich noch in der Dichte der Byzantinismen; beide bleiben in gleichem Maße spezifisch für das Skjalmkollektiv sowie in geringerem Maße für Besitztümer des Königs. Der historische Kontext, sowohl bezüglich der konkreten materiellen Möglichkeiten als auch der Logik des Diskurses an sich, spricht daher für eine Datierung zumindest der Mehrzahl auch der früheren Malereien in die Valdemarszeit. Einerseits dominierte das Skjalmkollektiv davor nicht in einer Weise, welche den von ihm in Auftrag gegebenen Malereien korrespondierte, andererseits brachten die Königsfehden mit ihren fortlaufenden bewaffneten Konflikten einen wachsenden Ressourcenverbrauch und eine Ressourcenverknappung mit sich, die ein paralleles Erblühen der Kalkmalerei negiert: Die konkurrierenden Könige sahen sich zu jener Zeit nicht in der Lage, mit ihren eigenen Großen die Kontrolle aufrecht zu erhalten und waren zunehmend vor allem auf deutsche Söldner angewiesen; Überläufer mussten kostspielig geködert werden. Die hieraus resultierende »redistributive Krise«285 ging so weit, dass Svend III. sich mit dem Schweden-Feldzug von 1152 auf ein ausgesprochenes Hasardspiel einließ und begann, offenbar entgegen der Gewohnheit das Erbe verstorbener Magnaten als Lehen zu betrachten und einzuziehen.286 Es war, so legt Saxo selbst nahe, das Risiko des materiellen Verlusts, des Verlusts des Status und damit 281 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 22f.; Kræmmer, Efterslægtstavle for Skjalm Hvide [2011], S. 538–540. 282 CR, Kap. 13, S. 25f. 283 Gelting, Da Eskil ville være ærkebiskop [2004], bes. S. 223f. 284 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 24f., 35–46, 85–88 belegt zudem, dass die Besitzkomplexe, abgesehen von denen des Königs, verhältnismäßig geschlossen waren. 285 Zu diesem Phänomen in Dänemark konkret Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 216–221; allgemein zum Mechanismus der »redistributiven Krise« Bagge, Borgerkrig og statsutvikling [1986]; Moore, The First European Revolution [2000] (wie S. 371, Anm. 344). 286 Zum Hintergrund des Feldzugs GD 14,12,1–7; seine Habgier betonen übereinstimmend Svend Aggesen: Brevis historia, Kap. 15, S. 134–136; Helmolds Slavenchronik, ed. Schmeidler [1937], Kap. 84, S. 167; Knýtlinga saga, Kap. 108, S. 275; GD 14,9,2 mit einer entsprechenden, zeitnahen Schmähstrophe Einarr Skúlasons. Die Deutung eines Agierens Svends III. nach staufischem Muster stammt von Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 218–220.

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verbunden des honor, welches ein Mitglied des Skjalmkollektivs nach dem anderen, Valdemar eingeschlossen, zum Parteiwechsel nötigte.287 Es ist evident, dass der persönliche Historiograph Absalons den Aspekt der Gier nach Macht und Gut bemäntelt, doch ist ebenso unbestreitbar, dass er seine Narration und die Argumente, welche er den Protagonisten in den Mund legt, im zeitgenössischen Diskurs für tauglich hielt. Sollten aber Magnatenkollektive, die in einer Spirale der Kostenexplosion und Verknappung gefangen sind, sich gerade nun der aufwendigen Ausstattung ihrer Kirchen zuwenden? Fernerhin fragt sich, welche soziale Funktion aufwendige, prestigeträchtige und materialintensive Malereiprogramme, begleitet von Glasfenstern und Goldenen Altären, in einer Gesellschaft erfüllen, die ihren Diskurs um Herrschaftsteilhabe mit dem Schwert in der Hand führt. Hält man sich dagegen die Situation ab 1157 vor Augen, als eine zunächst labile Vorherrschaft Valdemars als Alleinherrscher und seiner engsten Verbündeten etabliert ist, scheint der nach außen sichtbare Ausbau etwa der Kirche zu Fjenneslev mit zwei Türmen sowie die Ausstattung mit aufwendigen Malereien innen nur folgerichtig. Es galt nun, den mit dem Sieg gewonnenen Vorsprung gegenüber anderen Großen auszubauen, die Nähe zum König augenfällig zu machen und die eigene Präsenz auch im arrondierten Besitz zu visualisieren. Zudem wachsen durch das Ausgreifen der Hvide nach Schonen288 die ostdänischen Landesteile enger zusammen, was seinerseits die Gemeinsamkeiten seeländischer und schonischer Wandmalereien besser erklärt als die Besitzkonstellationen vor der Jahrhundertmitte. Das gilt auch für die Turmformen, welche die fraglichen Kirchen zum Teil besitzen: In Schonen waren Turmfassaden verbreiteter als in Seeland, wo nur etwa 10 Prozent aller romanischen Kirchen einen ursprünglichen Westturm besaßen, und überdeckten zumeist die ganze Gebäudebreite.289 Doppelturmfassaden oder schmalere, quadratische Türme, wie sie in Seeland den Bestand dominieren und oft in Verbindung mit reich ausgestatteten Kirchen der Hvide oder des Königs begegnen, sind in Schonen an sich selten, dominieren aber die ausgemalten Kirchen.290 Dies stützt die Annahme, dass sowohl die Ähnlichkeiten im Bau als auch 287 GD 14,16,5 enthält die Begründung für Sune Ebbesens Weigerung, Svend III. einen erneuten Treueid zu leisten; Svend habe gegen das Recht paternae villae Sunes Erbe an sich gezogen. Damit hatte er Svends Ehre gekränkt. 288 Ulsig, Danske adelsgodser i middelalderen [1968], S. 27–30. 289 Anglert, Kyrkor och herravälde [1995], S. 78–85; er rechnet zudem damit, dass etwa die Hälfte der 40 % an Kirchen mit romanischen Westtürmen diese auch ursprünglich besaß. Zum Verteilungsmuster und der Häufigkeit der Turmformen die Übersichten bei Jacobsen, Romanske vesttårne [1993], S. 22, 26. 290 Zu Seeland Jacobsen, Romanske vesttårne [1993], S. 22, 26; zur Kopplung mit Magnatenkirchen Stiesdahl, Tidlige sjællandske og lollandsk-falsterske [1983], S. 30–32; Schultz, Bidrag [1935]. Zu quadatrischen und doppelten Türmen in Schonen und den Kalkmalereien Anglert, Kyrkor och herravälde [1995], S. 78.

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in der Malerei auch mit einem politischen Netzwerk dahinter zusammenhängen, das zumindest in Seeland und wahrscheinlich auch in Schonen von den Hvide dominiert war. Einerseits sind die stormandskirker mit ihren besonderen Merkmalen gleichmäßig über die seeländischen, aber auch schonischen Besitzkomplexe der Hvide und in geringerem Maße des Königs verteilt und so auch für Durchreisende stets als Landmarken erkennbar.291 Andererseits haben die Signale, die von den Kirchenausstattungen mit ihren keineswegs zufällig lebensgroßen Stifterbildern, ihren Byzantinismen und ihrem verschwenderischen Gebrauch von Lapislazuli und später auch Goldstuck ausgehen, in Zeiten des Friedens viel bessere Aussichten, die ihnen zugedachte Wirkung innerhalb der Eliten auch zu entfalten. Sie zielte darauf, sich gegenüber einheimischen Magnaten, aber auch gegenüber immer einflussreicher werdenden Fremden, vor allem Sachsen, abzugrenzen, im Rekurs auf Byzanz, aber auch auf eine Kreuzfahrerindentität, die im hochmittelalterlichen Skandinavien stets mit einer besonderen Byzanznähe einhergeht, wie nicht nur die dänischen, sondern auch die norrönen Texte zeigen. Rundkirchen und Lapislazuli Für eine solche Kontextverankerung in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts sprechen zudem die Rundkirchen und Zentralbauten, welche wiederum exklusiv für das Skjalmkollektiv und die Königsfamilie sind: Die Rundkirche in Bjernede, wie Fjenneslev in Kompositbauweise aus Granit mit einem Obergeschoss aus Backstein errichtet, wurde gemäß einer Stifterinschrift von Sune Ebbesen gebaut, einem Neffen ersten Grades von Absalon; es ergibt sich eine Datierung in die Jahrzehnte zwischen 1160 und 1180.292 Als Rundbau mit angebautem Chor gehört sie in die Reihe der Bauten, die auf das Heilige Grab anspielen (Abb. 98–99).293 Mit ihren vier zentralen Säulen, welche die Oberkirche tragen, und einer aufgesetzten kleinen Rotunde unterscheidet sie sich grundlegend von den wehrhaften Rundkirchen Bornholms sowie der ebenfalls zu diesem Typ zu rechnenden Rundkirche in Valleberga in Südostschonen und findet, wie bereits besprochen, bautechnisch ihre Parallele in Schlamersdorf in Wagrien.294 Bjernede ist, obschon im Obergeschoss stark re291 Vgl. die beigefügte Faltkarte. 292 Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 351–368; Nawrocki, Der frühe dänische Backsteinbau [2010], S. 138–143. Vgl. Abb. 98 und 99. 293 Vgl. Morris, The Sepulchre of Christ [2005], S. 219–245. 294 Nawrocki, Der frühe dänische Backsteinbau [2010], S. 139–143. Die vier Rundkirchen in Bornholm und diejenige in Valleberga, alle ebenfalls aus dem 12. Jh., dienten zugleich als Befestigungen möglicherweise gegen Piratenüberfälle. Hier folgt die Form mit einer massiven Mittelsäule also einer anderen Funktion. Eine weitere Rundkirche in Helsingborg aus

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Abb. 98: Bjernede Kirke, Äußeres, Fotografie Roland Scheel (2010).

konstruiert, die einzige ganz erhaltene Rundkirche dieses Typus. Im sehr nahen Pedersborg hatte Peder Torstensen, ein Schwiegersohn Skjalm Hvides, bei seiner

dem 12. Jh. ist erschlossen, aber nach der Schleifung der Festung Helsingborg im 17. Jh., in welche die Kirche integriert worden war, nicht mehr nachzuweisen. Daher ist auch keine Zuordnung zu einem der Typen mehr möglich.

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Abb. 99: Bjernede Kirke, Grundriss, aus: DK Sorø Amt 1 [1936], S. 352.

Burg um die Jahrhundertmitte ebenfalls eine Rundkirche im gleichen Durchmesser errichten lassen, von der jedoch lediglich noch Grundmauern erschlossen sind, in direkter Nachbarschaft übrigens zu einem achtkantigen Burgturm.295 Weitere Rundkirchen wie in Bjernede befinden sich in Horne auf Fünen bei einem Königshof aus der Zeit Valdemars, in der Gotik in zwei Richtungen verlängert und stark umgebaut, sowie in Thorsager in Djursland in Form eines Backsteinbaus vom Ende des 12. Jahrhunderts. Sie wurde möglicherweise errichtet vom König, der hier Güter besaß, oder auch unter Anleitung des HvideBischofs Peder Vagnsen von Århus, der seinerseits in Thorsager aufgewachsen war und diesen Bautyp kannte.296 Auffallender noch ist der um 1200 wiederum bei Königsgut errichtete, ursprünglich achteckige Zentralbau aus Kreidestein in Store Heddinge in Ostseeland, der unzweideutig seine Parallelen in anderen Kreuzfahrerkirchen findet, etwa der angesprochenen unterfränkischen Gruppe 295 Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 281f. Zum Burgturm s. unten, Anm. 298. 296 Nawrocki, Der frühe dänische Backsteinbau [2010], S. 292–294; Rasmussen, Thorsager kirke [2012].

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vom Ende des 12. Jahrhunderts, aber auch in Templerkirchen im Westen und letztlich im Felsendom.297 Auch oktogonale Burggebäude sind nachweisbar: Reste eines achtkantigen Turms befinden sich in Pedersborg in Seeland aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, wohl wie die Rundkirche errichtet von Peder Torstensen,298 darüber hinaus in Skeingeborg im dünn besiedelten Norden Schonens; die Burg diente dem Schutz eines Handelswegs und der in der Region erwirtschafteten Rohstoffe und Güter. Die Errichtung in der auffälligen Form am Ende des 12. Jahrhunderts wird mit Absalons und Knuds IV. Sicherung der Region in Verbindung gebracht.299 Das bedeutendste Monument sowohl bezüglich seiner Lage als auch des architektonischen Aufwandes stellt schließlich die Kirche zu Kalundborg auf der Burg Esbern Snares mit ihren fünf ineinandergeschachtelten, je oktogonalen Türmen dar, desjenigen, der in der Profectio Danorum die Dänen zu den Beschützern der Byzantiner erklärt. Hier verschmelzen romanische Backsteinarchitektur und der Transfer des Zentralbaus miteinander (Abb. 100–102).300 Abermals zeigt sich die Konizidenz auffälliger Reminiszenzen an ostmediterrane Bauformen mit dem Skjalmkollektiv und der Königsfamilie, und sie ist in diesem Fall eindeutig der Valdemarenzeit zuzuordnen. Leider ist in keiner der fraglichen Kirchen ein romanisches Ausmalungsprogramm erhalten, nicht zuletzt aufgrund der äußerst wechselvollen Baugeschichten,301 doch spricht das Zusammenfallen der schriftlichen und architektonischen Diskurse abermals für eine Rückbindung an die Geschichte des Skjalmkollektivs seit Valdemars Sieg und die parallele Entwicklung der dänisch-byzantinischen Kulturbeziehung. Für den Transfer des Zentralbaus spielte sehr wahrscheinlich das Wissen aus eigener Anschauung im fraglichen Kollektiv und das Ziel, dieses Wissen nutzbar zu machen, die gleiche Rolle wie bei den Kalkmalereien. Kehrt man nun zu den Wandmalereien zurück, die mit ihren byzantinischen Anleihen so gesehen ein Gegenstück zu den auffälligen Zentralbauten darstellen, lässt das in allen Werkstätten sehr großzügig verwendete, nur in Persien vorkommende blaue Pigment Lapislazuli aufhorchen. Der Halbedelstein gelangte seit jeher über Byzanz und Venedig in den Westen; in der Geschichte der Abtei Petershausen auf der Reichenau wird das Pigment als Graicus color, qui vocatur 297 Hermansen, Store-Hedinge Kirke [1937]. 298 Egevang/Frandsen, Det ottekantede tårn [1985], S. 81–87; Ziegel im Fundament geben den Datierungsanhalt. 299 Ödman, Skeingeborg [2005], bes. S. 100f. 300 Dazu oben, S. 443 mit Anm. 673. 301 So war in Kalundborg 1827 der Mittelturm eingestürzt ( Jørgensen/Johannsen/Vedsø, DK Holbæk Amt 5 [1994], S. 3292f.), Bjernede war stark umgebaut und rekonstruiert worden (Hermansen/Nørlund, DK Sorø Amt 1 [1936], S. 360–363 erwähnen vorgefundene Reste »einfacher« Kalkmalereien), alle übrigen Zentralbauten sind komplett umgebaut oder verschwunden.

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Abb. 100: Kalundborg Kirke, Äußeres. Fotografie Claude David (2006), aus: http://commons. wikimedia.org/wiki/File:04–08–29-b2-copie_2_Vor_Frue_kirke,_Kalundborg.jpg (24. 11. 2013).

lazur bezeichnet und die Kostbarkeit einer solchen Ausstattung besonders hervorgehoben.302 Im 12. Jahrhundert dürfte das Pigment auch über Outremer gehandelt worden sein. Konkrete Preise sind erst deutlich später bekannt; im 15. Jahrhundert wurde das gereinigte Pigment mit Gold aufgewogen.303 Ganz so hoch dürfte der Preis von lazur damals nicht unbedingt gelegen haben, denn man findet Lapislazuliblau etwa in Handschriftenilluminationen des 12. Jahrhunderts 302 Casus monasterii Petrishusensis, ed. Abel/Weiland [1868], Kap. 2, S. 632. 303 Krischel, Geschichte des venezianischen Pigmenthandels [2002], S. 119f.

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Abb. 101: Kalundborg Kirke, Grundriss von Heinrich Hansen (1859), aus: DK Holbæk Amt 5 [1994], Fig. 44, S. 3055.

auch diesseits aufwendiger Prachtexemplare, freilich nicht in großen Mengen.304 Auf der anderen Seite sind leuchtend blaue Hintergründe, die sich aus der transluziden, mit Bindemittel auf den trockenen Putz aufgetragenen kristallinen Farbschicht ergeben,305 in der Wandmalerei Lateineuropas nicht als Regelfall anzusehen. Auch in Byzanz scheint der blaue Hintergrund äquivalent zum Goldhintergrund bei Mosaiken zu sein.306 Für große Flächen benötigt man aufgrund der Tatsache, dass die Farbschicht lichtdurchlässig ist, nicht unerhebliche 304 Fuchs/Oltrogge, Neue Untersuchungen [1995], S. 333f. 305 Hierzu Haastrup, Danske kalkmalerier 1080–1175 [1986], S. 37f.; Christensen, Teknologi og pigmenter [1986]; Raft, About Theophilus’ Colour [1968], S. 2f.; Kurella/Strauß, Lapislazuli und natürliches Ultramarin [1983], S. 36. 306 Bender, Color caelestis [1990], S. 87–90.

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Abb. 102: Kalundborg Kirke, Inneres, aus: DK Holbæk Amt 5 [1994], Fig. 89, S. 3091.

Mengen. Wohl begegnen in der romanischen Wandmalerei blaue Partien, doch bleiben großflächige Hintergründe reichen Kirchenbauten vorbehalten; man denke etwa an Berzé-la–Ville oder Idensen, die Grablege des Bischofs Sigward von Minden sowie reiche Kathedralen allgemein.307

307 Zu Berzé und den Kirchen in Cluny (Bau Nr. III), Tournus, Le Villars, Nevers und Autun, um die Mitte des 12. Jhs., Rollier-Hanselmann, Peintures et couleurs [2005], S. 122–126. Weitere

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Dass wie im nördlichen Seeland eine kleine Kirche neben der anderen geradezu verschwenderisch mit blauen Hintergründen versehen wurde, ist als unüblich zu betrachten. Zudem ist das Pigment der dänischen Kirchen, soweit erkennbar, gereinigt.308 Bei diesem Prozess werden wasserlösliche Farbpigmente und lipophile Bestandteile des zermahlenen Halbedelsteins voneinander auf verschiedene Weise, am besten in basischem Milieu, getrennt, wodurch die Farbintensität erheblich zunimmt. Nicht gereinigter, zermahlener Lapislazuli wirkt im Vergleich je nach Ausgangsqualität deutlich grauer.309 Dass die dänischen Wandmalereien wie im übrigen auch flämische im Gegensatz etwa zu Idensen ein reineres Pigment enthalten, deutet auf eine Einführung des Farbstoffs in diesem Zustand hin; dass man diese Technik um jene Zeit im Westen beherrschte, ist nicht nachzuweisen, woraus sich wiederum ein Indiz für eine direkte byzantinische Herkunft ergibt.310 Dass die Byzantiner ihre dänischen Agenten im Skjalmkollektiv möglicherweise auf deren Nachfrage hin auch mit Gaben wie etwa Lapislazuliblau entlohnten, erklärte die merkwürdige Tatsache, dass das Pigment den ostdänischen Werkstätten ganz offensichtlich im Überfluss zur Verfügung stand, ebenso wie byzantinische Ikonographie-Vorlagen und Preziosen byzantinischer Herkunft in Absalons Testament.311 Wenig wahrscheinlich ist hingegen, dass die Kaufkraft der Dänen etwa in Outremer oder Venedig bezüglich des Pigments diejenige der anderen Lateineuropäer übertroffen haben sollte. Ihre Quelle war eine andere. Wozu außer zur Malerei aber sollte man Lazur verwenden, und zu welchem anderen Zweck sich für das Pigment interessieren? Die losen Enden auch dieses Befunds treffen sich abermals in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Zwar

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mit Lapislazuli ausgestattete Kirchen aus dem 12. Jh. finden sich in Idensen (1120er-Jahre, Raft, About Theophilus’ Colour [1968], S. 2f.), St. Michael zu Hildesheim (um 1200, Denninger, Examination of Pigments [1969]), St. Baafs zu Gent (um 1175, Raft, About Theophilus’ Colour [1968], S. 3f.), Kapellen St. Anselm und St. Gabriel an der Canterbury Cathedral, wohl 1160erJahre (alle folgenden englischen Beispiele aufgelistet bei Tracy/Woodfield, The Adisham ›Reredos‹ [2003], S. 67, zur Datierung in diesem Fall Kahn, Structural Evidence [1948]), in Durham (Sepulchre Chapel, um 1175), Glastonbury Abbey (1187), Norwich Cathedral (um 1190), Lincoln Cathedral (um 1140), St Mary’s Abbey zu York (1180–85), S. Saba zu Rom (1. Hälfte 8. Jh., Gaetani/Santamaria/Seccaroni, Egyptian Blue and Lapis Lazuli [2004], die früheste bekannte Malerei aus Lateineuropa mit dem Pigment). Raft, About Theophilus’ Colour [1968], S. 2. Zu Extraktionstechniken und ihren bekannten Rezepten Kurella/Strauß, Lapislazuli und natürliches Ultramarin [1983], S. 37–42; Becker, Blau als Pigment [1990], S. 36–39; Raft, About Theophilus’ Colour [1968]. Der Theophilus-Traktat wohl aus Helmarshausen kennt die Reinigung des gemahlenen Lapislazuli noch nicht, erste Rezepturen sind aus dem 13. Jh. bekannt. Die These der Herkunft aus Byzanz vertreten Raft, About Theophilus’ Colour [1968], S. 2 und Ciggaar, Denmark and Byzantium [2000], S. 138–140; Handel über Venedig ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu verifizieren. S. oben, S. 400 mit Anm. 473.

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bestand das byzantinische Interesse an manpower aus dem Norden ununterbrochen, und auch Svend Nordmands Gefolge und die Leute Erik Ejegods mögen solche Gaben nach Dänemark gebracht haben. Eine Intensivierung des skandinavisch-dänischen Truppennachschubs indes brachte die Herrschaft des Manuel Komnenos und seine kriegerisch-offensive Politik ab 1143, wie sich deutlich zeigen ließ.312 Er hinterließ seine Spuren im Skandinavienbild der byzantinischen Historiographen am Ende des 12. Jahrhunderts und auch im Grad der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. Der Aufstieg des Skjalmkollektivs, die Abkömmlichkeit, ja wahrscheinlich Überflüssigkeit von Kriegern nach dem vorläufigen Ende der großen Konflikte in Dänemark, ausgesprochen vorteilhafte Bestimmungen für Migranten und ihr Erbe im seeländischen Recht, das byzantinische Bedürfnis nach Truppen, byzantinische Auswirkungen auf die Urkunden Valdemars des Großen und die zentrale Einbindung dänisch-byzantinischer Beziehungen in historiographische und auch architektonische Konzepte – all dies hat sicherlich seinen Vorlauf, gehört bezüglich der greifbaren Auswirkungen und ihrer Urheber aber in die Valdemarenzeit und damit in eine Konstellation, in welcher ganz verschiedene Faktoren produktiv interagieren und sich diese Elemente kombiniert in politisches Kapital umwandeln ließen.

Die Maiestas Domini als politisches Barometer Die Darstellungen der Maiestas Domini, wie sie in unseren ostdänischen Kirchen, nicht aber in ganz Dänemark üblich sind, bilden einen weiteren bedeutsamen Baustein dieser politischen Konstellation. Zwar handelt es sich hierbei um ein im Karolingerreich etabliertes und von hier aus über Lateineuropa verbreitetes Motiv, doch konnte Søren Kaspersen in einer ausführlichen vergleichenden Studie zeigen, dass sein Vorkommen und seine Ausbreitung jenseits des karolingisch beherrschten Raums an die Etablierung göttlich sanktionierter Königsherrschaft rückgebunden ist;313 das bekannte Bild Ottos III. im LiutharEvangeliar,314 wo der Herrscher an der Stelle des Maiestas-Bildes in einer sehr ähnlichen Ikonographie abgebildet ist, illustriert die enge Verknüpfung. Diese imitatio sacerdotii schwindet im Laufe des 11. Jahrhunderts wieder, erhalten aber bleibt eine enge Rückbindung des Maiestas-Motivs gerade in Handschriften an kaisernahe oder herrschernahe Zirkel beziehungsweise an die Rezeption der karolingischen Salbungstradition, sei es im Reich einschließlich Norditaliens, in 312 In diesem Zusammenhang kann man möglicherweise auch das gehäufte Auftauchen von Lapislazuli in England (s. Anm. 307) ab etwa 1150 erklären. 313 Kaspersen, Majestas domini 1 [1981], S. 104–125; ähnlich schon für karolingische und ottonische Kunst Schrade, Die romanische Malerei [1963], S. 11–84. 314 Kaspersen, Majestas domini 1 [1981], S. 112.

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England, in Böhmen oder in Polen.315 Auch für das 12. Jahrhundert, als sich die Maiestas Domini einer großen Verbreitung erfreut, könne sie als eine Art »ideologisches Barometer« für Positionen im Konflikt zwischen Kaisern und Päpsten betrachtet werden sowie als Indikator für die Ausbreitung der Krönungs- und Salbungstradition nach Skandinavien.316 Nach den bisherigen Ergebnissen dürfte es inzwischen kaum überraschen, dass es die Kirchen des Skjalmkollektivs und des Königs in Seeland und Schonen sind, deren Mehrzahl Kalkmalereien mit einer Maiestas Domini in der Apsis aufweisen oder aufgrund des Malprogrammes der Werkstätten bestimmt aufwiesen und andererseits auch den erhaltenen Bestand extrem deutlich dominieren. Auch dies lässt sich am besten auf der Karte visuell nachvollziehen.317 Die Rückbindung des Maiestas-Bildes mit dem thronenden Christus in der Mandorla, der von den vier apokalyptischen Tieren umgeben ist,318 an den seit Valdemar tonangebenden Zirkel erscheint auch aufgrund der Netzwerke folgerichtig: Schon Knud Lavard stand in enger Verbindung mit Lothar von Supplinburg, Svend III. war gemeinsam mit Friedrich Barbarossa erzogen worden, und Liutgard, die Frau Erik Lams, war die Tochter des Markgrafen Rudolf von Salzwedel. Auffällig ist aber auch hier die Exklusivität des Motivs: Unter den Kalkmalereien bis etwa 1200 findet sich in Jütland nur eine dokumentierte, nicht erhaltene Maiestas-Darstellung in Vellev aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts; die Kirche wurde bezeichnenderweise sehr wahrscheinlich von den Hvide im 13. Jahrhundert an das Bistum Århus übertragen, die hier über erhebliche Besitztümer verfügten.319 Die Maiestas in Staby (Nr. 33), das entgegen der jütischen Bautradition eine Rundapsis aufweist, stammt vom Beginn des 13. Jahrhunderts und befindet sich in einer wahrscheinlich vom König ausgestatteten Kirche. Auch unter den Goldenen Altären, die mit der Ausnahme des Importstücks von Lyngsjö/Schonen alle aus Jütland stammen, weisen erst nach 1150 entstandene Exemplare eine Maiestas Domini-Darstellung im zentralen Bildfeld auf. Der älteste Vertreter aus Lisbjerg, dendrodatiert in die Zeit um 1135, besitzt eine Madonnenfigur, wie sie wohl auch auf anderen frühen Antependien zu finden war.320

315 Kaspersen, Majestas domini 1 [1981], S. 116–121. 316 Kaspersen, Majestas domini 1 [1981], S. 125; zur Applikation auf Dänemark Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], bes. S. 61–63. 317 Vgl. abermals die Faltkarte. 318 LCI 3, Sp. 136–142; Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst 3 [1971], S. 233–249. 319 Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 50. 320 Vgl. hierzu Nørlund, Gyldne altre [1968], S. 46–48, 215. Eine weitere Madonnenfigur wurde im Randersfjord gefunden (ebd., S. 26, 48, 226). Zur Datierung der Altäre ebd., S. 205–213; eine spätere Dendrodatierung ergab für den Lisbjergaltar ein Fälldatum des verwendeten Holzes um 1135 (Stemann-Petersen/Kaspersen u. a., Guldets tale [2007], S. 136).

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Abb. 103: Antependium des Goldenen Altars von Lisbjerg (Nationalmuseet, København), aus: Harald Langberg, Gyldne Billeder fra middelalderen, København 1979, S. 2.

Auch auf Fünten finden sich keine Maiestas-Bilder vor der Jahrhundertmitte; das gleiche gilt für Handschriften.321 Die ältesten dänischen Kalkmalereien aus der Jelling-Werkstatt zeigen an der Triumphwand oberhalb des Bogens, einer aufgrund der nicht vorhandenen Rundapsis funktional ähnlichen Stelle, eine Traditio legis, eine urrömische, papstfreundliche Ikonographietradition, wie sie auch in seltenen jütischen Rundapsiden auftreten konnte und etwa in Berzé-la– Ville mit Christus in der Mandorla begegnet.322 Die Existenz einer Rundapsis, wie sie auch die frühen Kathedralen aufwiesen, erzwingt also auch in Dänemark keine Maiestas-Darstellung; sie bleibt exklusiv in einer bestimmten Gruppe ostdänischer Malereien. Kaspersen nutzt diese Befunde als Indiz für eine Rekonstruktion der politischen Ideengeschichte in Dänemark, gebraucht dabei aber die stilistisch begründete Frühdatierung von Monumenten wie Vä als Argumentationsgrundlage, die zum Postulat eines frühen Transfers der karolingischen Salbungs- und Krönungstradition nach Dänemark führt.323 In der Tat fand die früheste schriftlich bezeugte und 321 Fünten: Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 56; Handschriften: ebd., S. 59. 322 Jelling-Werkstatt mit Råsted und Hvorslev: Haastrup, Triumfvæggens billeder [1986]; die Malereien befinden sich über dem Triumphbogen. Die heute in Hvorslev zu sehende Maiestas ist das Resultat einer Fehlrestaurierung. Schwache Reste einer Traditio um 1125–1150 in einer Rundapsis finden sich in Vrigsted/Jütland (Nyborg/Poulsen, DK Vejle Amt 3 [2010], S. 1316–1320; Trampedach/Plathe/Bech-Jensen, Vrigsted kirke [2002], S. 13).Vgl. außerdem zur Traditio LCI 4, Sp. 347–351. 323 Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 59–63.

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von der Forschung üblicherweise ignorierte Krönung und Salbung eines dänischen Königs in Dänemark 1157 statt. Die unter Absalon oder Anders Sunesen in Lund entstandene Continuatio des Chronicon Roskildense, die eine ganz andere politische Orientierung aufweist als die als Streitschrift unter Eskil entstandene eigentliche Chronik, berichtet, dass Valdemar 1157 nach seinem Sieg durch Eskil gesalbt und gekrönt worden sei.324 Bezüglich des Coronators ist das mit einem Vorbehalt zu versehen, denn Eskil muss sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu jener Zeit noch in Gefangenschaft in Burgund befunden haben.325 Möglicherweise handelt es sich bei der Identifizierung um eine Überblendung mit der Krönungs- und Kanonisationszeremonie von Ringsted 1170, die Eskil leitete und welche gemeinhein als die erste gilt,326 doch bietet das keinen hinreichenden Grund, die Tatsache der Krönung und Salbung an sich zu bezweifeln. Dass Valdemar 1170 bereits gekrönt war, verbietet nicht, dass in Ringsted eine Festkrönung im Rahmen der Krönung und Salbung seines Sohnes stattfand. Für frühere Krönungen als 1157 jedoch, von der Krönung Magnus’ 1132 in Halberstadt abgesehen,327 findet sich kein positiver Beleg. Zwar benutzen die Könige Niels, Erik Emune, Erik Lam und Svend III. die Intitulatio Dei gratia oder divina favente gubernans,328 doch besagt dies nicht zwingend etwas über eine Krönungs- und Salbungstradition, oder dass beides nach karolingischem beziehungsweise römischem oder französischem Vorbild zusammentrat. Sie wird erst unter Valdemar fest etabliert. Gerade seine Stiftungsurkunde für das Kloster Vitskøl ist ein Schlüssel zu einem neuen herrscherlichen Selbstverständnis und einer neuen Konzeption des von Gott unmittelbar gewollten und durch die wundersame Rettung in Roskilde gleichsam direkt verliehenen Königtums mit entsprechenden Konsequenzen für die Herrschaftsausübung, die sich ab hier in Arengen der Urkunden ausdrückt.329 Hinzu tritt erst unter Valdemar noch ein christomimetischer

324 CR, Continuatio Kap. [20], S. 33. 325 S. oben, S. 393 mit Anm. 433. 326 Vgl. zum Forschungsstand Hoffmann, Coronation and Coronation Ordines [1990], S. 131f. mit dort verzeichneter Literatur sowie Skyum-Nielsen, Kvinde og slave [1971], S. 145–147; Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 187; Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], S. 246–249. 327 Regesta imperii IV,1,1, ed. Böhmer/Petke [1994], Nr. 392, S. 247f. 328 Erik Emune: DD 1,2, Nr. 63, S. 123 von 1135; Nr. 65, S. 129 von 1135. Erik Lam: DD 1,2, Nr. 91, S. 175 von 1145. Svend Grathe: DD1,2, Nr. 101, S. 187 von 1148. 329 Vgl. DD 1,2, Nr. 120, S. 226 für Vitskøl von 1157/8; Nr. 123, S. 232 von 1157–64 mit Steuerbefreiung für die Pächter von Veng Kloster (»quoniam Deo disponente quamuis meritis nostris minime exigentibus totius regni monarchiam suscepimus; ob id scilicet uniuersis. et diuinis. et humanis, quantum domino opitulante«); Nr. 128, S. 246 von 1158–60 für Esrom Kloster; weiter Nr. 131, S. 252 von 1158–62. Vgl. auch den Überblick bei Riis, Les institutions politiques centrales [1977], S. 66–85 bzw. Riis, Einführung [2004], S. 143–146.

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Aspekt königlicher Selbstdarstellung, der auf die Adaption byzantinischer Vorbilder verweist.330 Das erstmalige Auftreten der Devotionsformel bei Niels zwischen 1104 und 1117 kann man dagegen im Zusammenhang mit der Kanonisation seines Bruders Knud und dessen Rolle als rex iustus in seiner Passio und Ælnoths Chronik sehen.331 Eine entsprechende Argumentation findet sich auch im Widmungsbrief Ælnoths an Niels, der darauf verweist, Niels sitze durch die Gnade seines Bruders auf dessen Thron.332 Vom König als Gesalbtem ist nicht die Rede, doch fungiert der heilige Bruder als Mittler göttlicher Gnade, so dass sich der Schluss aufdrängt, dass der Heiligenkönig als direkter Verwandter und Intercessor die Salbung zunächst substituiert, wie es in verschiedenen Regionen jenseits des (post-)karolingischen Raums der Fall war.333 Eine solche Konstellation musste zudem die Stellung etwa Odenses gegenüber dem König, aber auch dem jungen Erzbistum stärken.334 Dass das Konzept des christus Domini auch in der ersten Jahrhunderthälfte geläufig und Bestandteil des politischen Diskurses wurde, scheint plausibel, doch wehrte sich andererseits gerade der Erzbischof Eskil offensichtlich gegen solche Tendenzen; nicht nur behinderte er die Kanonisierung Knud Lavards, sondern das von ihm beauftragte Chronicon Roskildense bekämpft generell jede Vorstellung einer göttlich sanktionierten Königsherrschaft.335 Andererseits findet sich auf dem Kreuz aus Walrosselfenbein, das um 1150 für Helena-Gunhild, eine Tochter des Königs Svend III., angefertigt wurde, eine Maiestas-ähnliche Darstellung des thronenden Christus,336 doch bleiben komplette Maiestas-Darstellungen auf datierbaren Stücken der zweiten Jahrhunderthälfte vorbehalten, wo sie indes zahlreich in verschiedenen Medien von der Buchmalerei bis zur Skulptur fassbar sind.337 Hieraus ergibt sich nicht nur ein Anhaltspunkt für eine Datierung, sondern auch für eine Rückbindung an die soziale Gruppe hinter dem Knud Lavard-Zweig der Königsfamilie, die den heiligen Ahn ja später selbst zum christus Domini stilisiert;338 etwas Vergleichbares findet sich in der Partei Knud Magnussens nicht, auch nicht in den bei Radulphus Niger bewahrten Resten der Knud Magnussens Krønike. Der Durchbruch und die Ausbreitung der Maiestas Domini in den Kirchen der Anhänger und Nachfahren Knud Lavards sind im Zu330 331 332 333 334 335 336 337 338

Riis, Einführung [2004], S. 161. Vgl. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 40–42. Gesta et Passio, Epistola ad regem, S. 81. Geary, Historiography and the Holy [2006], S. 327f. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 42 bzw. Scheel, Romerriget, Vesteuropa og Skandinavien [2012], S. 14f. Vgl. oben, S. 383ff. Langberg, Gunhildkorset [1982]. Vgl. die Übersicht bei Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 37–61. Riis, The Historical Background [2010], S. XXVII.

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sammenhang mit ihrem Aufstieg und Sieg von 1157 zu sehen. Gerade Absalon, der wahrscheinlich in Reims studiert hatte, am Krönungs- und Salbungsort der französischen Könige, wo die karolingische Salbungstradition sich just zu dieser Zeit einer besonderen politischen Bedeutung erfreute, kommt als Transferent der Ideen in Frage.339 So ist es keineswegs ausgeschlossen, dass erste MaiestasDarstellungen, etwa in den Kirchen zu Gundsømagle oder Sæby ved Tissø, bereits vor dem Ende der Königsfehden entstanden, doch ist ihr massenhaftes Auftreten und ihre sehr zügige Verbreitung über ganz Ostdänemark und dann auch nach Westdänemark angesichts des politischen Aussagegehalts im Kontext von Valdemars monarchia Dei gratia, ihrer Absicherung und ihrem Ausbau zu sehen, und in diesen Kontext gehören auch die Byzantinismen in denselben Ausmalungsensembles. Die Maiestas ist, geht man von der ihr im europäischen Vergleich innewohnenden Botschaft aus, der Ausdruck einer engen Allianz zwischen der nunmehr theokratisch aufgefassten Königsherrschaft und kirchlichen Machthabern wie Absalon oder Simon von Odense, die zuvor gerade unter Eskil, aber auch unter direkter Abhängigkeit von den Kaisern eben nicht gegeben war. Auf diese Weise deutet auch der Zusammenhang zwischen der Bildausstattung, ihrer Symbolik und dem soziopolitischen Kontext auf eine Assoziation mit den Jahrzehnten, in welchen Valdemar der Große und seine Verbündeten zu dominieren begonnen hatten.

Zwischensumme Nimmt man all die hier versammelten Teilaspekte zusammen, die Verteilung der Malereien und ihre Rückbindung an einen Auftraggeberkreis, die Baugeschichte der Kirchen, die historische Einbettung von Zentralbauten, die Konjunktur der byzantinisch-skandinavischen Kulturbeziehung, skandinavische Auswirkungen auf die Kunst in Outremer, die Geschichte Dänemarks im 12. Jahrhundert allgemein und den Status der Auftraggeber sowie seine Entwicklung im Besonderen, die Ideengeschichte und konkrete technische Aspekte der Malereien, ergibt sich aus kulturgeschichtlicher Sicht ein alternatives Datierungsangebot für die byzantinisierenden Kalkmalereien: Der Beginn von Valdemars Alleinherrschaft 1157 markiert hier einen zentralen Wendepunkt, an den sich die Ausstattung der Kirche zu Vä unmittelbar knüpfen lässt. Einige wenige seeländische Vertreter dieser Werkstattgruppe mögen etwas früher entstanden sein, doch setzt mit der Herrschaft Valdemars und dem rasanten Aufstieg der Hvide eine ebenso rasante Entwicklung der byzantiniserenden Kalkmalereien ein. In diesem Kontext, also 339 Zu Reims als Studienort Friis-Jensen, Saxo Grammaticus as Latin Poet [1987], S. 17f.; zu Reims als Krönungsort Giesey, Inaugural Aspects [1990], S. 36–38; Le Goff, A Coronation Program [1990].

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in den späten 1150er- und 1160er-Jahren, wird die Finja-Werkstatt verortet, deren recht straffes Bildprogramm in »klassischem« Stil auch nahelegt, dass die Malereien in einem relativ knappen Zeitraum angefertigt wurden.340 Den Höhepunkt sowohl bei byzantinischen Ikonographie-Anleihen als auch beim Einfluss der Stifter auf die Bildprogramme schließlich markiert die JørlundeWerkstatt mit ihrer praktisch exklusiven Bindung an das Skjalmkollektiv, die in das letzte Drittel des 12. Jahrhunderts zu verorten wäre;341 angesichts der Vielgestaltigkeit der Bildprogramme scheint eine weite zeitliche Streckung plausibel. Übergangsphänomene zwischen Vä- und Jørlunde-Gruppe in der Ornamentik sowie durchgehende Motive wie Weltgerichte auf der Triumphwand und lebensgroße Stifter belegen, dass bereits früh einheimische Traditionen begründet wurden, die durch weitere Byzantinismen erweitert und modifiziert werden konnten – was wiederum für eine gewisse Kontinuität der Stifterkreise, ihrer Interessen und ihrer Kommunikationsabsichten spricht. Auch die nicht zu den großen Werkstätten gehörenden Ausschmückungen lassen sich hier einordenen. Gestützt wird eine relativ späte Datierung gerade der Jørlunde-Werkstatt auch durch Anleihen beim »dynamischen Stil«, der sich zwischen 1160 und 1180 im byzantinischen Commonwealth und Sizilien etabliert.342 Er ist gekennzeichnet durch eine stärkere Bewegung und vor allem Interaktion der Bildfiguren; Gewänder erscheinen im Faltenwurf weniger linear und knittern stärker um die Körperkonturen. All dies ist bei der Jørlunde-Werkstatt mit der »dramatischen Bewegung« ihrer Figuren343 im Gegensatz zu den früheren zu beobachten: Man denke an die Verhaftung Christi und seine Abführung zur Kreuzigung in Måløv, wo alle Figuren um den davongezerrten Christus s-förmig gebogen sind und zur Triumphwand hin streben, an die Kampfszene auf der Westwand der Kirche in Tveje Merløse oder an die tänzelnden Engel im Triumphbogen von Jørlunde mit ihren aufwendig gefältelten, um die Knöchel flatternden Gewändern.344 Auch die Hodegetria im Måløv mit ihrem kleinen Kopf und überlangen Hals fügt sich gut in die dynamische Stilphase, zumal sie durch die wechselseitige Zuwendung der

340 Eine Datierung direkt nach 1150 vertrat ursprünglich auch Haastrup, Die seeländischen romanischen Wandmalereien [1979], S. 138–140. 341 Diese Datierung der Jørlunde-Werkstatt stimmt überein mit Kaspersen, Majestas domini 2 [1985], S. 42, der sie in den Zeitraum zwischen 1158 und 1191 verortet. 342 Vgl. Kitzinger, Byzantium and the West [1970]. 343 So Jørgensen/Johannsen/Vedsø, DK Holbæk Amt 5 [1994], S. 2981: »[…] Måløv, Jørlunde og Søstrup tillige giver de bedste paralleler til den dramatiske bevægelse i flere af udsymkningens skikkelser«. »[…] Måløv, Jørlunde und Søstrup stellen die besten Parallelen dar zur dramatischen Bewegung bei mehreren der Figuren in der Ausschmückung [in Tveje Merløse].« 344 Abb. 54 und 72.

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Köpfe mit dem Christuskind interagiert, was bei älteren Darstellungen so nicht der Fall ist.345 Mit einer solchen Datierung überwiegend in die zweite Jahrhunderthälfte kehrt man nicht etwa zu der ursprünglichen Einordnung durch Nørlund und Lind zurück, welche Fjenneslev um 1175 datieren und die Grenze zwischen Finjaund Jørlundewerkstatt um 1180 ziehen; man benötigt auch nicht ihre Prämisse, die Peripherie sei gegenüber dem Zentrum »verspätet«. Nichtsdestoweniger bleibt zur rein kunsthistorischen Datierung eine Aporie bestehen sowie eine Lakune: Während die stilhistorische Argumentation, die ein Historiker und Philologe mangels eigener Expertise zu akzeptieren hat, keinen befriedigenden historischen Kontext anbieten kann, es sei denn, sie datiere alles vor die Königsfehden ab 1131, vermag eine auf mehreren Ebenen in den kulturhistorischen Kontext einbettende Datierung stilgeschichtlich nicht durchgehend zu befriedigen. Beide Versionen verknüpfen die Kalkmalereien in einer relativen Chronologie miteinander, wobei jedoch entweder das frühe 12. Jahrhundert ohne Kalkmalereien bleibt oder just die Valdemarenzeit ausgesprochen arm an romanischen Fresken wäre. Auf diese Weise bleiben beide Modelle, das kunsthistorische und das hier etablierte, hypothetisch. Keines ist zum gegebenen Zeitpunkt falsifizierbar. Künftige Dendrodatierungen weiterer Kirchengebäude können lediglich frühe Datierungen umstoßen, falls eines der Gebäude einer frühen Werkstatt nachweislich aus der Valdemarenzeit stammen sollte; umgekehrt funktioniert dies nicht. Dass hier ein Gegenentwurf zu den aktuell dominierenden Frühdatierungen versucht wurde, resultiert ursprünglich aus der Frage, ob die Kalkmalereien als Bestandteil eines Diskurses aufgefasst werden dürfen, dessen Entfaltung sich in den Schriftquellen gut verfolgen lässt, oder ob sie chronologisch und soziopolitisch hiervon isoliert sind. Aus der Sicht des Historikers auf mögliche Entstehungskontexte der Malereien ist eine Verortung in das gleiche Milieu, das mit dem Alleinherrscher Valdemar Dänemark dominierte und bewusst die Anknüpfung der eigenen Geschichte an Byzanz suchte, wohl begründet, ohne dass man in zirkulärer Weise einen Zusammenhang zwischen Text und Kunst bloß aufgrund inhaltlicher Überschneidungen konstruieren müsste. Die Hodegetria in der Kreuzzugschronik und das Bildnis von ihr in der Altarnische in Måløv bespiegeln sich vor dem gleichen Hintergrund gegenseitig. Kunsthistorischen Einwänden steht dabei vor allem die Fähigkeit der Rezipienten entgegen, Vorbilder zu wählen und Aneignungsprozesse zu steuern, sich also unvorhergesehen zu verhalten. Für Dänemark spielte, vom Transfer ganz konkreter Maltechniken abgesehen, sekundäre Vermittlung über die klassischen »Einfallstore« wie Venedig und Sizilien, aber auch über die Rus’ keine so große Rolle, wie es bisher 345 S. oben, S. 508 mit Anm. 145.

Fazit: Byzanz und eine dänische »Klassik« in der Valdemarenzeit

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angenommen wurde. Einerseits war Konstantinopel selbst sehr nahe angesichts der Migrationsmuster, die sich insbesondere im späteren 12. Jahrhundert abzeichnen, während die typisch lateineuropäischen Verbindungen zu den Kreuzfahrerstaaten und nach Sizilien nicht gegeben waren. Andererseits ist eine Vermittlung über die Rus’ gerade angesichts der Eheverbindungen im Königshaus gut denkbar; ein Mechanismus wie auf Gotland, wo enge Handelsverbindungen zur kontinuierlichen Präsenz von Rus’ einschließlich rusischer Maler führte, ist aber in Dänemark abgesehen von Ostschonen nicht feststellbar und auch kunstgeschichtlich unplausibel. Vom Handel und der materiellen Kultur her orientieren sich die dänischen Inseln sowie das westliche Schonen zudem nach Zentral- und Westeuropa, so dass ein Diffundieren von Byzantinismen aus Osteuropa mit Migranten wie auf Gotland ausgeschlossen werden kann. Letztlich ist die Frage, ob bestimmte Motive und Stilimpulse direkt aus Byzanz übertragen wurden oder vom geographischen Nachbarn übernommen wurden, nicht in jedem Einzelfall zu entscheiden. Gewiss ist aber, dass die Auftraggeber, ihre soziale Umgebung und die Künstler schon aufgrund bestehender, ständiger Kontakte Byzantinisches oder auch Antikes in der Kunst als solches erkennen konnten. Dies wirkte sich ganz offensichtlich auf Selektions- und Aneignungsprozesse aus, welche die gezielte Übernahme des Gesuchten auch aus der romanischen und rusischen Kunst ermöglichten. So entstand etwa ab der Jahrhundertmitte eine ganz spezifisch dänische, zu einem guten Teil absichtsvoll stark byzantinisch geprägte dänische Wandmalerei.

3.

Fazit: Byzanz und eine dänische »Klassik« in der Valdemarenzeit

Poul Nørlund schloss sein Werk über die Goldenen Altäre in Dänemark mit der Feststellung, die Kunst der Valdemarenzeit sei ebenso wie die Werke des gelehrten Erzbischofs Anders Sunesen und Saxos »von europäischem Format, und doch dänisch«.346 Angesichts der kulturellen Verflechtungen und der Rolle, die Byzanz und Byzantinisches sowohl in der Historiographie als auch der Kunst spielen, muss man dieses Diktum modifizieren: Dänische Historiographie und Kunst sind von europäischem Format, gerade weil sie dänisch sind. Die feste Integration in gelehrte lateineuropäische Netzwerke etablierte sich parallel zu engen, beiderseits bedeutsamen Verbindungen zu Byzanz besonders seit dem Ersten Kreuzzug, die eine rege Migration von Kriegern und Pilgern hervorbrachten und sich so vor allem in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts 346 Nørlund, Gyldne altre [1968], S. 213: »De var begge af europæisk format, og dog danske.«

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zugleich weiter verdichteten. Diese Konstellation ermöglichte es den dänischen Eliten, nach dem Ende römisch-deutscher Dominanz bei gleichzeitig vielgestaltiger kultureller Annäherung Grenzen zu ziehen, eigene Identitäten zu schärfen, sich aus Hierarchien zu befreien und das Verhältnis zu den südlichen und westlichen Nachbarn vor dem Hintergrund neuer Machtverhältnisse und beginnender Expansion zu definieren. Die Verteidigung eines dänischen honor regni gegen den staufischen honor imperii, die Feindseligkeit gegenüber dem römisch-deutschen und die Freundschaft der Kreuzfahrer mit dem byzantinischen Kaiser, die Abwesenheit jedweder Orthodoxiefeindlichkeit und die Berufung der Dänen zum Schutz von Byzanz, die Herkunft Odins aus Byzanz und alte Verbindungen des nordischen Imperiums mit dem »griechischen« durch Osteuropa bei Saxo gehen hier Hand in Hand. Zugleich findet dieser Diskurs nicht im Raum zwischen »Nationen« statt, die sich allein durch personale Verflechtung gar nicht klar trennen lassen, sondern dient auch der Distanzierung und Machtsicherung des bedeutsamsten seeländisch-schonischen Magnatenkollektivs im dänischen Rahmen, das 1157 mit seinem Kandidaten Valdemar die Vormacht errungen hatte. Das Skjalmkollektiv besaß besonders gute Verbindungen nach Konstantinopel und suchte zugleich gezielt die Abgrenzung von sächsischem Einfluss am Königshof. Dieses Selbstbewusstsein einer spezifischen Gruppe spiegeln auch die ostdänischen Kalkmalereien; sie bilden die bereits etwas früher fassbare ästhetische Parallele zum Byzanz-Diskurs, der sich seit den 1160er-Jahren in der Historiographie entfaltet. Gemeinsam kann man sie als Ausdruck einer spezifischen Defizienzbewältigung betrachten: Hatten die Königsfehden erhebliche Ressourcen gebunden, die Entwicklung der Klöster gehemmt, die Kontrahenten zur Bildung von Allianzen über Dänemark hinaus genötigt, auf diese Weise die Unabhängigkeit der dänischen Kirche in Frage gestellt und zudem die Kaiser wiederholt in die Position von Schiedsrichtern und schließlich Lehnsherren gebracht, sahen sich Valdemar und sein Umfeld mit einem Missverhältnis aus Potential und Realität konfrontiert: Einer gewissen Stabilität, gewachsenem Gut und Reichtum der Magnaten, insbesondere des Skjalmkollektivs, einer zunehmenden Zahl an Reformklöstern, Kontakten praktisch in die ganze Welt und einer erheblichen Zahl an Gelehrten und Gereisten mit entsprechendem Horizont stand die Abwesenheit sichtbarer eigener Traditionen entgegen, die dem Vergleich mit dem antiken Erbe standhalten konnten, auf das gerade die Staufer sich in den fraglichen Jahrzehnten beriefen.347 Folglich erschloss man im Chronicon Lethrense die vorchristliche Geschichte des eigenen Imperiums und elaborierte ab hier seine uralten Verbindungen mit dem Mediterraneum. Saxos antikisierender Stil schließlich zeigt den ästhetischen Aspekt des Strebens nach 347 Vgl. zur staufischen Kunst Sauerländer, Die bildende Kunst [1977].

Fazit: Byzanz und eine dänische »Klassik« in der Valdemarenzeit

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einer auch nach außen prestigefördernden eigenen, »klassischen« Tradition in der Valdemarenzeit. Vieles spricht dafür, dass auch die romanische Kunst diese Suche nach klassischen Ausdrucksformen spiegelt. Der »veraltete«, streng monumentale Stil der Finja-Werkstatt mit seinen Reminiszenzen an ottonenzeitliche Kunst und die Integration spätantiker Ikonographie wie bei den drei Magoi ist kein isoliertes Phänomen. Auch jenseits byzantinisierender Kunst lässt sich eine bemerkenswerte Neigung zur Adaption von Formen erkennen, die im synchronen Vergleich altertümlich wirken: Die jütischen Goldenen Altäre, deren Ikonographie im Gegensatz zu den etwa gleichzeitigen ostdänischen Malereien keine so auffälligen Byzantinismen aufweist, besitzen durchgehend eine hohe Zahl verhältnismäßig kleiner Bildfelder in drei oder vier horizontalen Reihen; das zentrale Bild mit einer Madonna oder später einer Maietas Domini ist verhältnismäßig klein. Nachweislich synchrone Antependien aus Mittel- und Westeuropa jedoch besitzen ebenso wie das Importstück aus Lyngsjö nur eine bis zwei Reihen.348 Parallelen zu den dänischen Stücken indes finden sich beim Paliotto in Sant’Ambrogio zu Mailand aus dem 9. Jahrhundert und dem Antependium im Aachener Dom aus dem frühen 11. Jahrhundert. Dass diese Altertümlichkeit keineswegs einen Zufall darstellt, sondern eine bewusste Orientierung bezeugt und daher auch nicht durch Rückdatierungen zu lösen ist, zeigt sich auch bei den frühen romanischen Holzkruzifixen. So wurde das Kruzifix aus Åby (Abb. 104), von dem das Kreuz verloren, der mit vergoldetem Kupfer beschlagene Corpus aber hervorragend erhalten und im Nationalmuseum ausgestellt ist, grundsätzlich für besonders alt, wenn nicht für das älteste erhaltene Kruzifix Dänemarks gehalten und entsprechend in den Zeitraum um 1050 datiert,349 was an sich nicht verwundert. Es handelt sich um ein Viernagel-Kreuz, der Christus vivus mit übergroßen Händen steht streng frontal und gerade, Details wie etwa die Rippen oder Bauchmuskeln, aber auch der Lendenschurz sind ornamentalisiert beziehungsweise in geometrische Formen aufgelöst.350 Es finden sich weitere Holzkreuze in Norwegen und metallbeschlagene in Dänemark, welche diese Merkmale teilen. Martin Blindheim konnte indes zeigen, dass ihre Ikonographie sich vom Kruzifix aus Lundø herleitet, das stilistisch mit dem Christus mortuus, seinem nach rechts geneigten Kopf, den angewinkelten Armen und Knien und den fein gearbeiteteten Details ganz anders wirkt.

348 Nørlund, Gyldne altre [1968], S. 17f. 349 Fine Licht/Michelsen, DK Århus Amt 3 [1976], S. 1442–1444. 350 Blindheim, En gruppe [1980], bes. S. 50f.

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Abb. 104: Åbykors (Nationalmuseet, København), Fotografie: Jens Bruun, aus: Danmarks middelalderlige altertavler: http://asp.altertavler.dk/Images/AR.02.03.01.1.jpg (24. 11. 2013).

Es wird als die in Dänemark entstandene Arbeit eines englischen, stark von ottonischen Stiltraditionen beeinflussten Künstlers betrachtet.351 Entscheidend ist, dass insbesondere die Gestaltung des Lendenschurzes von hier aus in die einheimische Kunst übernommen wird; die »archaisch« wirkenden Kruzifixe wie dasjenige aus Åby sind also sehr wahrscheinlich jünger als das Lundø-Kruzifix. Blindheim konstatiert:352 »Det kan være bra å ha klart for seg, at et arkaisk utseende ikke nødvendiggvis er ensbetydende med tidlig utførelse. Det motstatte vil som regel være tilfelle.«

351 Blindheim, En gruppe [1980], S. 51–55; Langberg, The Lundø Crucifix [1992], bes. S. 41–44. S. Abb. 105 352 Blindheim, En gruppe [1980], S. 61.

Fazit: Byzanz und eine dänische »Klassik« in der Valdemarenzeit

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Abb. 105: Lundøkors (Nationalmuseet, København), aus: Langberg, The Lundø Crucifix [1992], Abb. 1.

»Es kann vorteilhaft sein, sich klar zu machen, dass ein archaisches Aussehen nicht notwendigerweise gleichbedeutend ist mit früher Entstehung. Das Gegenteil wird üblicherweise der Fall sein.«

Damit ist nicht gesagt, dass das Åby-Kreuz in die Valdemarenzeit zu datieren wäre. Allein bezüglich des Vorbilds aus Lundø herrscht schon große Unsicherheit, ob es nun ins späte 11. Jahrhundert oder die Zeit Erik Lams (1137–1146) zu datieren ist.353 Es zeigt sich aber ein bestimmter Mechanismus der Archaisierung und der Genese einer eigenen »Klassik«, der sich auf verschiedene Weisen manifestieren konnte. Der Rekurs auf Byzanz, der diese dänische Klassik im Wort wie im Bild in Lateineuropa exklusiv werden lässt, ist dabei nur eine mögliche 353 Vgl. den Widerspruch zwischen Blindheim, der früh datiert, und Langberg (wie Anm. 351).

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Ästhetik und das Politische: Byzanz in ostdänischen Wandmalereien

Option, auf die nur das Skjalmkollektiv setzte, und das mit Erfolg. Byzanz wird so als Anknüpfungs- und Fluchtpunkt für die eigene Geschichte sowie als Lieferant authentischer Bildtraditionen im politischen Diskurs der dänischen Eliten funktional. Hier treffen sich die Hodegetria-Ikone, in deren wundertätiger Gegenwart sich die Pilgerreise der Dänen erfüllt, und ihre bildliche Repräsentation in Måløv erneut, auch wenn sie nicht exakt zum selben Zeitpunkt entstanden sein mögen, sondern das Bild dem Text wohl etwas, aber nicht weit vorangeht. Die konkrete dänisch-byzantinische Ereignisgeschichte trifft sich mit byzantinisierenden Elementen in der Kunst des Skjalmkollektivs, die zugleich eine etikettierende Funktion erfüllen und sich gegenseitig amplifizieren. Ihre Rückbindung an ein und denselben Diskurs ist freilich von Konjekturen getragen. Folgt man der etablierten kunsthistorischen Datierung der Kalkmalereien, liegen mindestens eine bis zu drei Generationen zwischen früherem Bild und späterem Text, und man müsste aufgrund der Übereinstimmung der Personengruppe erwägen, ob die Bilder dann nicht die bereits Generationen früher existierende Stufe eines byzanzbezogenen Identitätsdiskurses darstellten. Wenn jedoch an dieser Stelle die These vertreten wird, dass der Kontext beider Medien soziopolitisch und chronologisch übereinstimmt, liegt dies im sich quasi selbst ergebenden Schnittpunkt zahlreicher ganz verschiedener Indizien begründet. Später indes treten Text und Bild wieder auseinander: Während sich byzantinische Elemente in der romanischen Kunst nach 1200 verlieren und sich Adaptionen französischer Gotik geltend machen,354 bleiben die schriftlichen Narrationen auf Dauer lebendig. Im Zeitraum zwischen 1157 und etwa 1210 aber bilden sie gemeinsam eine Narration der Sieger in den innerdänischen Konflikten der vorangegangenen Jahrzehnte, die in einer Phase enger dänisch-byzantinischer Beziehungen ihre Distinktion nach innen und nach außen zu kommunizieren und abzusichern suchen. Auf diese Weise wird Byzanz das unverzichtbare Element einer spezifisch dänischen »Renaissance« des 12. Jahrhunderts.

354 Vgl. Nyborg, Anders Sunesens helligtrekongersgruppe [2008]; Nyborg/Thomsen, Fra Paris til Sneslev [1993].

V.

Zwischen zwei Parteien: Norröne Historiographie um 1200

Begibt man sich auf die Suche nach Spuren des Byzantinischen in Dänemark und folgt ihnen durch Texte und Bilder, so wird recht rasch und nachdrücklich ein roter Faden, ein durchgehendes Narrativ sichtbar, das den Rekurs auf Byzanz als Schlüsselelement benötigt. Seine Kohärenz, sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch in Bezug auf seine »Erzähler«, erhält es durch die dahinterstehende soziale Gruppe, eine Allianz aus Siegern. Da allein ihre Stimme in den Diskursen jener Zeit nicht verstummt ist, fällt es zudem leicht, das so in seinen Dimensionen gut überschaubare »Dänemark« als Etikett zur Orientierung zu verwenden. Eine solche Kohärenz und Überschaubarkeit ist bei der norrönen Literatur kaum zu erwarten; zu groß ist die schiere Zahl der überlieferten Texte, die Fülle ihrer Varianten, die Diversität der Textgattungen, die dauerhafte Produktivität insbesondere fiktionaler Genres. Hinzu tritt die symbiotische Beziehung zwischen Island, Norwegen und den Atlantikinseln, sowohl in politischer als auch in kultureller Hinsicht; daher verbietet es sich, einer Analyse von Byzanz in Dänemark einen Abschnitt über Island oder Norwegen entgegenzustellen. Zweifellos nimmt die Entwicklung der einheimischen Literatur in Norwegen ähnliche Wege wie in Dänemark: Frühe Texte wie die fragmentarisch überlieferte Historia Norwegie, die Passio et miracula beati Olavi oder Theodoricus monachus’ Historia de antiquitate regum Norwagiensium legen nahe, dass Latein die Historiographie komplett dominierte, ebenso wie die früheste isländische Historiographie.1 Eine Verschmelzung zwischen der im 12. Jahrhundert in der sehr stark 1 Vgl. zu Norwegen Boje Mortensen, The Nordic Archbishoprics [2000]; Boje Mortensen, Den formative dialog [2006], S. 254–268; Boje Mortensen/Mundal, Erkebispesetet i Nidaros [2003], S. 363–373; zur Historia Norwegie als wahrscheinlich frühestem, aber schwer zu datierenden und verortenden Werk Ekrem, Historia Norwegie og erkebispesetet [1998]; Historia Norwegie, ed. Ekrem/Boje Mortensen/Fisher [2003], S. 21–24; Boje Mortensen, Historia Norwegie and Svend Aggesen [2011]. Das Ágrip af Nóregs konunga so˛gum, um 1190 in Norwegen entstanden, zeigt als übersetzende Kompilation aus Theodoricus und Historia Norwegie auffällige Latinismen im Gegensatz zu den isländischen Texten (Ulset, Det gentiske forholdet [1983], S. 92–94, 111–114, 149–151; vgl. auch Andersson, Kings’ Sagas [1985], S. 201; Foote, Introduction [1998], S. XXf.). Das früheste isländische, verlorene und von Ari Þorgilsson in der

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Zwischen zwei Parteien: Norröne Historiographie um 1200

laikal geprägten isländischen Gesellschaft entstandenen Praxis, religiöse und gelehrte Texte in Volkssprache zu verfassen und zu »übersetzen«,2 und in Norwegen geführten Diskursen bahnte sich erst unter dem König Sverrir an. Erst im Konflikt zwischen Erzbischof und König im Zeitraum zwischen etwa 1185 und 1200, der zu jener Zeit in Dänemark gerade beendet und von engster Kooperation abgelöst war, fand der Transfer isländischer Historiographie nach Norwegen statt und band isländische Autoren dauerhaft an den norwegischen Königshof.3 Auch gattungsbezogene Differenzen erschweren den Vergleich mit den dänischen Befunden: Einerseits begegnen rein fiktionale oder den Regeln des historiographischen Diskurses entzogene Texte, andererseits ist die mythologische Vorgeschichte zwar partiell, aber nicht durchgehend in das Korsett einer Geschichtserzählung geschnürt wie bei Saxo, wenn man etwa die Snorra Edda betrachtet.4 Bildmedien mit Byzanzbezug aus jener Zeit existieren im Gegensatz zu Dänemark kaum, sieht man von geschnitzten Holzplanken aus Flatatunga und Bjarnarstaðahlíð in Nordisland ab.5 Die Vernakularität der Texte erschwert ebenfalls den Vergleich, erzeugt sie doch aufgrund des intendierten Publikums und entstehender Gattungskonventionen, etwa durch den Eindruck mündlicher Unmittelbarkeit mit zurückgenommenem Erzähler, ganz andere Textoberflächen.6 Selbst wenn sich die Deutungsschemata darunter gar nicht wesentlich von den zeitgenössischen lateinischen Texten unterscheiden, wie sich eingangs am Beispiel von Haraldr inn harðráði in Byzanz zeigen ließ, bieten sich die eigentlich aussagekräftigen Möglichkeiten zum Vergleich doch erst auf einer Metaebene. Zwar finden sich zu bestimmten Ereigniskomplexen, insbesondere den Kreuzzügen, auch inhaltliche Schnittmengen oder gar intertextuelle Bezüge, doch interessieren in erster Linie die Einbindung von Byzanz in die Makrostruktur der

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Íslendingabók erwähnte lateinische Werk über norwegische Königsgeschichte stammte von Sæmundr Sigfússon († 1133). Dass norröne Historiographie auch auf Island um 1200 noch nicht dominant war, belegt der Prolog der Hungrvaka (oben, S. 341). Die Bedeutung dieser Praxis als Grundlage für die Entwicklung einer einheimischen Literatur hebt besonders Turville-Petre, Origins of Icelandic Literature [1953], S. 70–87 hervor; vgl. dazu auch Nordal, Sagalitteraturen [1953], S. 185–203. Zum gesellschaftlichen Hintergrund, der vor allem durch eine dichte Verschränkung zwischen Laien- und Kirchenbesitz geprägt war, anfangs auch durch vereinzelte Priesterweihen der weltlichen Gerichtsherren, der Goden, vgl. Magnús Stefánsson, Staðir og staðamál [2000], S. 12–18 bzw. die dt. Zusammenfassung 217– 219; Skovgaard-Petersen, Islandsk egenkirkevæsen [1960], S. 271–287, 295f. Zur Kirchengeschichte allgemein Jón Viðar Sigurðsson, Island og Nidaros [2003], S. 121–129; Gunnar Karlsson, History of Iceland [2000], S. 38–43. Scheel, Lateineuropa [2012], S. 182–204, bes. 196f. Vgl. dort die Genealogie der Asen und die Geschichte ihrer Herkunft (NI 163), doch auch die historiographische Einbindung in der Hkr. (Ynglinga saga, NI 69+NI 70); dazu auch oben, S. 410. Dazu unten, S. 716ff. Das Verhältnis von Textoberfläche, Deutungsschema und erzähltem Ereignis wurde oben, S. 340ff., am Beispiel der Geschichte Haraldr Sigurðarsons in Byzanz eingehend analysiert.

Das 12. Jahrhundert

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Texte und im Anschluss wiederum mögliche Wechselwirkungen zwischen dem jeweiligen Text und seinen Konstitutionsbedingungen, dem verfügbaren Wissen und dem umgebenden politischen Diskurs.

1.

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Bevor man sich jedoch auf einzelne Texte einlässt, bleibt bei aller Differenz eine auffallende Übereinstimmung der zeitlichen Konjunktur von Byzanz im Norden festzustellen: Zwar existiert mit der Íslendingabók und der Landnámabók, von der im frühen 12. Jahrhundert bereits eine Redaktion entstand, die so nicht überliefert ist, sowie mit den lateinischen Werken aus Norwegen eine frühe lokale Geschichtsschreibung, doch spielen Informationen über Byzanz beziehungsweise Handlungen in Byzanz hier keinerlei Rolle. Die Íslendingabók registriert überhaupt keine Verbindung zu Byzanz; es begegnen allein die Todesdaten zweier byzantinischer Basileis als Datierungshilfen, die Ari Þorgilsson aber offensichtlich aus der lateineuropäischen Schrifttradition übernahm. Analoges gilt für die Datierung von Islands Erstbesiedlung in der Landnámabók.7 Dieses umfangreiche, mit historiographischen Kommentaren versehene Register der Landbesitzer, ihrer landnehmenden Vorfahren und Geschichte der großen Besitztümer und Familien des Landes, ist in fünf verschiedenen Redaktionen überliefert. Sie spiegeln die Entwicklung des »unfesten« Textes seit dem 13. Jahrhundert, doch weist die überlieferte Form der Íslendingabók selbst auf die Existenz eines solchen Registers schon zu Aris Zeiten hin.8 Umso bemerkenswerter scheint es, dass keinerlei Byzanzfahrer Erwähnung finden, obwohl Informationen über Migranten in den Genealogien durchaus enthalten sind: So erfährt man von Novgorodfahrern, von Leuten, die í austrveg geheert hätten, und von Nachkommen der schwedischen und rusischen Herrscher, die auf der Insel Land nahmen.9 Dass jedoch dieser »Ostweg« identisch sei mit dem Weg »von den 7 NI 4+NI 5; sie beziehen sich auf das Todesjahr des Kaisers Phokas († 610), das aus Beda übernommen wurde (Ólafia Einarsdóttir, Studier i kronologisk metode [1964], S. 24–30), und Alexios’ I. Komnenos († 1118). 8 Zur Überlieferung der Landnámabók in drei zum Teil fragmentarisch erhaltenen mittelalterlichen und zwei frühneuzeitlichen Redaktionen Sveinbjörn Rafnsson, Studier i Landnámabók [1974], S. 80–82; Sveinbjörn Rafnsson, Sögugerð Landnámabókar [2001], S. 14f. Dass schon zu Aris Zeiten solche Register existierten und er sie möglicherweise selbst anfertigte, belegen die Genealogien der »wichtigsten« Familien in der erhaltenen Form der Íslendingabók (Kap. 2, S. 6); vgl. Sveinbjörn Rafnsson, Studier i Landnámabók [1974], S. 88–92 mit Verweisen auf die ältere Forschung. Mundal, Íslendingabók, ættar tala [1984], S. 258–266 argumentiert überzeugend, dass die Íslendingabók ursprünglich als historiographische Einleitung zu einem folgenden Landnehmerkatalog angelegt war. 9 NI 8-NI 10.

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Warägern zu den Griechen« in der Povest’ vremennych let, wird nirgends ersichtlich. Die Helden später entstandener Íslendingasögur wie Þorsteinn VígaStyrsson, Víga-Barði Guðmundarson, Gríss Sæmingsson oder Bolli Bollason, über deren Byzanzaufenthalte und Erlebnisse bei den Væringjar berichtet wird, begegnen auch in der Landnámabók,10 doch findet sich dort nirgends ein Hinweis auf ihre »Waräger«-Karriere. Ähnlich verhält sich das Bild in der frühen norwegischen Historiographie: Óláfr Tryggvason, der erste Bekehrerkönig Norwegens, und sein mysteriöser Ertrinkungstod in der Seeschlacht von Svo˛lðr 999 oder 1000 gegen eine norwegisch-schwedisch-dänische Flotte werden zwar seit der Historia Norwegie durchgehend erwähnt und die Möglichkeit seines Entkommens und seiner späteren Selbstheiligung gleichsam als Bekenner in der Fremde diskutiert.11 Dass er aber über Byzanz ins Heilige Land entkam, wovon seit den 1190er-Jahren seine Heiligenviten sehr ausführlich handeln,12 wird davor nicht erwähnt. Dass Óláfr Haraldsson inn helgi auf seinen Heerfahrten entlang der Küsten Westeuropas zu Beginn des 11. Jahrhunderts die Absicht hatte, während der Heerfahrten seiner Jugend quasi als Kreuzfahrer und danach erneut aus seinem rusischen Exil nach Jerusalem zu pilgern, findet sich gleichfalls nicht in der frühen Hagiographie, dafür aber in den Sagas seit Beginn des 13. Jahrhunderts.13 Die Karriere Haraldr Sigurðarsons, deren Erzählungen einleitend zur Geschichte von Byzanz im Norden vergleichend analysiert wurden, zeigt eine analoge chronologische Entwicklung von der lakonischen Notiz in den 1180er-Jahren hin zur motivreichen, semantisch kohärenten und zugespitzten Narration im frühen 13. Jahrhundert.14 Analoges gilt für Berichte über den Kreuzzug von Sigurðr Magnússon.15 Byzanz und Byzantinisches, so bleibt festzuhalten, ist in norrönen Erzähltexten vor der Wende zum 13. Jahrhundert weitgehend ein blindes Motiv, ganz ähnlich wie in Dänemark, wenngleich etwas länger. Auffällig ist auch, dass bei der Vernakularisierung früher lateinischer Texte in Norwegen – etwa beim Ágrip af Nóregs konunga so˛gum – entsprechende Sachinformationen zu Haraldr harðráði und Sigurðr Jórsalafari eher noch schwinden als zunehmen.16 Einen austrvegr als »Weg nach Byzanz« scheint es gar bis weit ins 13. Jahrhundert nicht zu geben: Weder die frühen Texte noch die großen Kompendien der Konungasögur

10 Landnámabok, S. 113–115 (Þorsteinn Styrsson); S. 228 (Barði Guðumundarson); S. 224 (Gríss); S. 123, 142, 173 (Bolli). Zu ihrer Identität als (vermeintliche) Byzanzfahrer vgl. NII 1NII 26. 11 NI 89. 12 Vgl. dazu die Ó.s.T.Odds (NI 23-NI 25). 13 NI 91+NI 101 ( jeweils Fsk., Hkr., Ó.s.h.s.). 14 S. NI 111-NI 124. 15 Vgl. die Synopse bei NI 111-NI 124 sowie oben, S. 293ff. 16 S. neben den in voriger Anm. genannten Stellen die Synopse bei NI 134.

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kennen die Rus’ jenseits von Hólmgarðr-Novgorod. Der oft begegnende »Ostweg« über Schweden und die Südostküste des Baltikums scheint dort oder auch am Weißen Meer zu enden.17 Die kognitive Karte der alten, frühen Verbindungswege bleibt völlig stumm. Rechtstexte als Zeugen früher Migration? Etwas anders als mit historiographischen Konzeptionen verhält es sich mit Rechtstexten, die bereits im Kontext von Haralds Rückkehr aus Byzanz zur Sprache kamen. Entfernt verwandte Bestimmungen zu den dänischen Arvebog og Orbodemål sowie dem Äldre Västgötalagen enthalten bekanntlich die Gulaþingslo˛g.18 Sie bestimmen als einziges norwegisches Landesrecht, dass derjenige, welcher das Land verlässt, für drei Jahre einen Sachwalter über den eigenen Besitz und Rechtssachen ernennen müsse und spezifiziert, im Falle einer Reise nach Grikkland müsse dies der Erste in der Erbfolge sein. Zweifellos drückt sich hier aus, dass die Reise nach Grikkland für den weitestmöglich entfernten Aufenthalt mit ungewissen Rückkehrchancen steht, und dass dies häufig genug vorkam, um stellvertretend für Reisen ins östliche Mediterraneum zu stehen. Die Gulaþingslo˛g gehören zu einer älteren Fassung des Rechts, das vom König Magnús Erlingsson (1162–1184) reformiert wurde und aus der Zeit vor der Einführung des Zehnts in Norwegen um 1120 bis 1160 stammt. Schriftquellen wie die Íslendingabók behaupten, sie hätten schon zu Zeiten der Besiedlung Islands im frühen 10. Jahrhundert existiert,19 der Rechtstext selbst führt sich auf Óláfr zurück, doch bleibt der Zeitpunkt seiner Verschriftlichung und damit auch das Alter der Bestimmung völlig ungewiss. Zwar neigt die Forschung dazu, die Grikkland-Regelung für ein Relikt der Wikingerzeit zu halten, doch besteht hierzu nicht der geringste Anlass, wie die byzantinischen Quellen, aber auch Skaldenstrophen zeigen. Letztendlich aber belegt der Rechtstext die fortwährende Existenz von Migration, die freilich in hagiographischen Konzeptionen vorerst folgenlos bleibt.

17 Vgl. Sverrir Jakobsson, Við og veröldin [2005], S. 219–223, 234–243. Jackson, The North of Eastern Europe [1993], S. 42–45 parallelisiert die zwei Zeitschichten der Literatur, von denen nur die spätere, fiktionale weitere Regionen der Rus’ kennt, mit zwei historischen Erfahrungsschichten der »Waräger«. Die These ist jedoch problematisch, weil dann historische Erfahrungen des 8. und 9. Jahrhunderts sich in der frühen Konungasögur um 1200 manifestierten, während Erfahrungen des 10. und 11. Jahrhunderts sich im 13. und 14. Jahrhundert zeigten. Ein solcher Mechanismus lässt sich nicht plausibilisieren; vgl. dagegen die Herleitung der Orte jenseits von Novgorod aus der enzyklopädischen Literatur bei Simek, Kosmographie [1990] (wie Anm. 93 auf S. 43). 18 NI 1. S. auch zur folgenden Diskussion um Datierungen oben, S. 404 mit Anm. 496. 19 Íb., Kap. 2, S. 7.

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Ähnliche Probleme der Datierung und Kontextualisierung gibt die Grágás auf, eine Kodifikation des isländischen Rechts aus dem 13. Jahrhundert. Sie legt Latein als Liturgiesprache fest, beschneidet explizit die Rechte armenischer und rusischer und/oder griechischer Geistlicher im Jurisdiktionsbereich der beiden isländischen Bischöfe und belegt so ebenso wie die Íslendingabók und später die Hungrvaka ihre Anwesenheit auf Island zumindest im 11. Jahrhundert, möglicherweise auch noch danach.20 Remigranten konnten durchaus Geistliche in ihrem Gefolge haben; auch im späten 12. Jahrhundert gelangte etwa byzantinische Seide nach Island.21 Problematisch erscheint zudem die unlängst formulierte These, man könne die Grágás selbst als ein Zeugnis byzantinisch-skandinavischen Kulturtransfers auffassen.22 Die Feststellung beruht auf einer sehr gründlichen Analyse zahlreicher möglicher Einflüsse des römischen Rechts auf das isländische, die bisher von der Forschung so nicht gesehen wurden, weil seine »Genuinität« a priori akzeptiert war.23 Ist gegen die an sich sehr wertvolle Feststellung einer Rezeption römischen Rechts gerade angesichts der Bildungsnetzwerke im 12. Jahrhundert nichts einzuwenden, so provoziert doch die Annahme zum Widerspruch, der Text der überlieferten Handschriften aus dem späteren 13. Jahrhundert, wohlgemerkt »privater« Rechtsbücher, gebe zuverlässig bis ins Detail den festen und unveränderlichen Text der ersten Kodifikation des isländischen Rechts wieder; sie fand gemäß der Íslendingabók im Winter 1117/18 unter Hafliði Másson statt,24 dem Sohn eines Byzanzfahrers und Warägers. Nur explizit benannte Novellen und »einige erklärende Erläuterungen« seien gegenüber der Urfassung hinzugekommen, und Feststellungen Aris und der isländischen Annalen über Rechtsänderungen auch in der vorschriftlichen Zeit werden unkritisch als Fakten akzeptiert.25 Auf dieser Basis wird festgestellt, dass zu einer so frühen Zeit ein Transfer aus den sich erst entwickelnden Rechtsschulen, allen voran Bologna, nicht plausibel sei, die Rezeption des römischen Rechts sowohl bezüglich bestimmter Begriffe, der gesetzlichen Ordnung, der Regelungstechnik oder der Prozessvorschriften folglich über rechtsgelehrte »Waräger« aus Byzanz übernommen worden sein müsse.26 Einerseits jedoch erfolgt der Vergleich nicht auf

20 NI 2; vgl. zu den möglichen Migranten, die zu der Bestimmung Veranlassung gaben, oben, S. 363f. 21 Piltz, Middle Byzantine Court Costume [1994], S. 45. 22 Hoff, Hafliði Másson [2012], bes. S. 136–175, 375–382. 23 Vgl. etwa Graugans, ed. Heusler [1937], S. XXVIII–XXX; Naumann, Sprachstil und Textkonstitution [1979], bes. S. 173. 24 Íb., Kap. 10, S. 23f. 25 Hoff, Hafliði Másson [2012], S. 128. Vgl. zur Kritik hieran auch Johansson, Rezension Hoff [2013], S. 200. 26 Hoff, Hafliði Másson [2012], S. 177–275.

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der Basis des griechischen Wortlauts,27 und in der Tat lassen sich Gräzismen weder in der Grágás noch im Norrönen vor der Orkneyinga saga überhaupt nachweisen.28 Der Verfasser des so genannten Ersten Grammatischen Traktats, der sich um 1125 bis etwa 1150 mit der angemessenen Wiedergabe des isländischen Lautbestands mit Hilfe lateinischer Buchstaben auseinandersetzt,29 ist sich zwar der Existenz griechischer und hebräischer Schriften bewusst,30 doch besagt dies nichts über Sprachkenntnisse jenseits dessen, was man in den Schulen in England, im Reich oder Frankreich erfuhr. Die Abwesenheit jedweder Einflüsse der griechischen Sprache oder Schrift mutet etwas merkwürdig an, wenn man im byzantinischen Recht geschulte Isländer am Werk sehen will. Andererseits ist die Etablierung eines solchen Konnex als abenteuerlich zu bezeichnen: Hafliðis Vater war zwar jener Már Húnrøðarson, den die späteren Sagas als einen Zeitgenossen Haraldr Sigurðarsons in Byzanz bezeichnen,31 doch besagt dies nichts darüber, dass auch der Sohn dort gewesen wäre. Genau dies wird aber von der Forschung postuliert und darüber hinaus noch Hafliði ohne Grundlage mit Nabites identifiziert, dem Kommandanten der Warangoi unter Alexios Komnenos.32 Jener Heißsporn, der Alexios zu fatalen taktischen Fehlleistungen anstiftete,33 wird so zugleich neben einem Militärkommandanten zu einem Rechtsgelehrten in griechischer sowie norröner Sprache und auf diese Weise zu einer Art Allzweckwerkzeug des Kulturtransfers. Weist man jedoch solche Hypothesen mangels Substanz zurück, zumal sie allein aus der Suche nach

27 Hoff, Hafliði Másson [2012], S. 179–181. 28 Vgl. Beck, Wortschatz der altisländischen Grágás [1993]. 29 The First Grammatical Treatise, ed. Hreinn Benediktsson [1972]; der Hrsg. datiert in den Zeitraum zwischen etwa 1125 und 1175 (ebd., S. 23–33), die Orthographie der Veraldar saga ist jedoch vom Traktat geprägt (V.s., S. LIV), so dass ein etwas früherer terminus ante quem plausibel erscheint. 30 The First Grammatical Treatise, ed. Hreinn Benediktsson [1972], S. 206. Vgl. dazu auch allegorische Auslegungen des hebräischen Alphabets (McDougall, Foreigners and Foreign Languages [1989], S. 199–201). 31 NI 112. 32 Hoff, Hafliði Másson [2012], S. 156–161; die Spekulation, das anlautende [h] von Hafliði könne durch ein [n] und das [f] durch ein [p] substituiert worden sein, so dass sich Ναμπίτης (Nabite¯s) ergibt, ist unplausibel und wird gerade durch die Transliteration Óláfr > Ἱούλαβος (Hioulavos) und Haraldr > Ἁράλτης (Haralte¯s) bei Kekaumenos (B11) widerlegt. Auch die Spekulationen über das hierzu notwendige Alter Halfiðis sind problematisch (ebd., S. 147), ebenso das Argument, eine byzantinische Rechtsgelehrsamkeit des Warägerkommandanten resultiere aus dessen Gerichtshoheit über seine Leute (ebd., S. 165). Hoff übernimmt hier unkritisch Resultate aus Blöndal, welche dieser aber nicht belegen kann (vgl. oben, S. 324 mit Anm. 149); zudem verweist der einzige Bericht über warägische Rechtsfindung in Byzanz (Skylitzes, B25) auf die Fremdartigkeit ihres Verhaltens, also genau auf das Gegenteil einer byzantinischen Rechtskenntnis. 33 Zu Nabites B43+B44, B46 und oben, S. 210f.

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einem Akteur zu einem Quellenbefund mit folgender Konjektur resultieren, fragt sich, warum ausgerechnet Byzanz als Quelle des römischen Rechts auf Island fungiert haben soll, wenn das nirgends sonst im Norden der Fall war. Zwar ist es sehr gut möglich, dass Skandinavier gesellschaftlich integriert werden und aufsteigen konnten – man denke an die Senatoren zu Alexios’ Zeit34 – doch wurden solche Personen eben eingebunden, hellenisiert und kehrten nicht zurück. Kann man die Evidenz eines zurückgekehrten Warägers als Schriftgelehrten nicht aufrechterhalten, fällt auch die These direkten Transfers komplexer Rechtsvorstellungen oder gar konkreter Termini. Betrachtet man hingegen die Rezeption römischen Rechts zwischen den ältesten und jüngeren dänischen Landschaftsrechten in ihren zeitlich aufeinander folgenden Redaktionen,35 aber auch etwa bei Svend Aggesen und Saxo,36 oder auch die sehr gründliche kanonistische Fundierung in König Sverris »Rede gegen die Bischöfe« vom Ende des 12. Jahrhunderts,37 die sehr gut unter Mitwirkung von Isländern am Sverris Hof entstanden sein kann, fragt sich, ob nicht auch die Grágás in der vorliegenden Form und Sprache das Resultat eines Wandels der schriftlichen Rechtssammlung zwischen der uns nur dem Namen nach bekannten Hafliðaskrá und den uns überlieferten Handschriften darstellt.38 Die Wandelbarkeit des Rechts demonstriert aber nicht nur zum Beispiel Valdemars Sjællandske Lov im Vergleich zum Jyske Lov in Dänemark; gerade im Vergleich zwischen Gulaþingslo˛g und Grágás sind die Unterschiede groß,

34 Vgl. die Basilika (B51). 35 Vgl. Strauch, Mittelalterliches nordisches Recht [2011], S. 13–15, 104–107; Andersen, Kanonisk Rets Indflydelse [1941] zum Einfluss im 1241 angenommenen Jyske Lov. 36 Vgl. Vogt, Saxo og kanonisk ret [2012], S. 49f.; Andersen, Saxo og Vederlovens procesret [2012], S. 79–90 auch im Bezug auf die zum kanonischen Recht parallele Entwicklung des Prozessrechts in den Landschaftsrechten; Münster-Swendsen, Saxos skygge [2012], S. 98–101. 37 In Sv.s., S. 287–299 (»Ræða gegen biskupum«); vgl. zum kanonistischen Hintergrund Salvesen, En tale mot biskopene [1956]; Gunnes, Kongens ære [1971], S. 24–114; Krag, Sverre [2005], S. 174–182. 38 Wie sich die »Privataufzeichnungen« in den beiden Hss. der Grágás aus dem späten 13. Jh. zum eigentlichen Rechtscorpus verhalten, ist offen; sie gehen freilich trotz ganz unterschiedlicher Organisation des Materials auf gemeinsamen Stoff zurück. Maurer, Island [1874], S. 68 bezweifelt einen direkten Zusammenhang mit der Rechtspraxis, doch setzte sich diese Auffassung nicht durch (vgl. Óláfur Lárusson, Grágás og lögbækurnar [1923]). Differenzen zwischen dem geschriebenen Recht und der Rechtspraxis in Saganarrationen sind aber unbestreitbar (vgl. etwa Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains and Power [1999], S. 18). Aufgrund von sprachhistorischen Erwägungen datiert Naumann, Sprachstil und Textkonstitution [1979], S. 32f. eine gemeinsame Vorlage der Hss. in den Zeitraum um 1180, so dass auch eine Vermittlung des römischen Rechts über die Rechtsschulen möglich ist. Nicht umsonst rechnet Wolf, Gesetzgebung und Kodifikation [1981], S. 146–153 weder Hafliðaskrá und Grágás zu den »Kodifikationen«; sie sind vielmehr zu den anpassungsfähigen und wandelbaren »privaten Rechtsbüchern« zu zählen (ebd., S. 147f.).

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allein schon im Umfang, obwohl Ari Þorgilsson schreibt, das isländische Recht sei aus ersteren entstanden.39 Ein Punkt freilich ist nicht von der Hand zu weisen:40 Den Isländern war im späteren 12. Jahrhundert bewusst, dass Justinian, der Erbauer der Hagia Sophia, eine Sammlung der Kaisergesetze anfertigen ließ, die sich gegenwärtig in Gebrauch befand.

Enzyklopädisches Wissen im späteren 12. Jahrhundert Diese Information findet sich in der Veraldar saga, einer breit überlieferten, offensichtlich sehr verbreiteten norrönen Weltchronik, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zur Zeit Friedrich Barbarossas offensichtlich in Südisland am Bistum Skálholt entstand.41 Gemeinhin wird sie als Kompilation aus den universalgeschichtlichen Werken Isidors von Sevilla und Bedas sowie einer römisch-deutschen Vorlage aufgefasst,42 doch ist sie mehr als das: Einerseits enthält sie exegetische Kommentare zu den ersten fünf Weltaltern, denen ihre Einteilung folgt, zudem behandelt sie parallel zur Geschichte des Volkes Israel die römische Geschichte unter Rezeption von Dares Phrygius, Sallust und Lukan.43 In den exegetischen Kommentaren werden die Verwendung mehrerer Bibelkommentare und vor allem der Einfluss der Victorinerschule deutlich.44 Es treffen sich also zahlreiche Rezeptionslinien, und obschon man dem Autor nicht die Kenntnis jedes »Originals« zuschreiben muss, so ist doch die Annahme nicht zu halten, es handele sich – analog zu den Kalkmalereien – lediglich um die »Übersetzung« einer verlorenen lateineuropäischen Vorlage.45 Die freie und kompetente Informationswahl betrifft nämlich auch und gerade Informationen über Byzanz, und insofern stellt die Veraldar saga einen Schlüssel zur ganz selbstverständlichen Verflechtung lateineuropäischer Gelehrsamkeit mit Wissen aus und über Byzanz dar, wie auch in dänischen Texten zu erkennen war und wie sie ebenso in Island den großen Sagaerzählungen zeitlich vorangeht. Rezipiert 39 Íb., Kap. 2, S. 7. 40 Hoff, Hafliði Másson [2012], S. 166–168. 41 NI 16; Friedrich ist der letzte genannte Kaiser. Zu den 13 Textzeugen V.s., S. V–XXXV; zur Wirkung auf die sehr verbreitete enzyklopädische Literatur in norröner Sprache Svanhildur Óskarsdóttir, Um aldir alda [2005] bzw. Svanhildur Óskarsdóttir, Prose of Christian Instruction [2005]. 42 V.s., S. XLV–LII; Marold, Geschichtsschreibung [1998], S. 496. 43 Hofmann, Accessus ad Lucanum [1986]. 44 Vgl. Marchand, Allegories in the Veraldar saga [1975]; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 148f. 45 Zur breiteren Quellengrundlage und Selbständigkeit der vernakularen Adaption Würth, Die mittelalterliche Übersetzung [2007], bes. S. 18f.; Svanhildur Óskarsdóttir, Um aldir alda [2005], S. 111–114, 122–127; Svanhildur Óskarsdóttir, World and its Ages [2004], S. 1–7; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 144–152.

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wird vor allem die Vorstellung von der translatio imperii auf die Franken und die Sachsen, die durchaus etwa aus Frutolfs von Michelsberg Weltchronik übernommen worden sein konnte:46 »A dogvm þessa keisara [Leon IV., Konstantin VI., Eirene, Konstantin VII., Nikephoros I., Michael I. Kouropalates, Leon V. Armenios, Michael II. Psellos] gengv Langbarþar ok margar þiodir adrar yfir Rvmveria riki. þeir beiddv opt keisara þa er varo i Miclagardi ser lidveizlo. En þeir mato eigi Rvmveriom at lidi verþa fyrir þvi at þeir hofdv sva mikit vandrædi at travt mattv þeir hallda sinv riki fyrir heidnvm þiodvm er a hendr þeim gengv þvi sidr mattv þeir odrvm at lidi koma. þadan fra sottv þeir travst þeirra hofdingja er fyrir nordan fiall varo a Fraclandi ok siþan er Pipinvs tok konvngdom yfir Rvmveriom at vilia Stephani pafa þa hvrfo Rvmveriar vndan Miclagardz konvngom. havfvm ver þadan engar sanligar savgvr siþan Rvmveriar hvrfo vndan þeim. siþan kallaz hvarr þeirra odrum meiri stolkonvngr i Miklagardi ok keisari a Saxlandi. þesir erv langfedgar Karls ins mikla keisara. […]« »In den Tagen dieser Kaiser [Leon IV., Konstantin VI., Eirene, Konstantin VII., Nikephoros I., Michael I. Kouropalates, Leon V. Armenios, Michael II. Psellos] kamen die Langobarden und viele andere Völker über das ríki der Römer. Sie baten oft die Kaiser um Hilfe, die in Miklagarðr waren. Aber sie konnten den Römern nicht zur Hilfe eilen, weil sie so große Probleme hatten, dass sie ihr ríki kaum gegen die heidnischen Völker halten konnten, die gegen sie anstürmten. Daher konnten sie schwerlich anderen zur Hilfe kommen. Seitdem suchten sie [die Römer] die Hilfe der Höfdinge, die nördlich des Gebirges in Frakkland waren, und später, als Pipinus das Königtum über die Römer nach dem Willen des Papstes Stephanus nahm, da wandten sich die Römer von den Königen von Miklagarðr ab. Wir haben von dort keine zuverlässigen Berichte, seit die Römer sich von ihnen abwandten. Seitdem nennt sich jeder von ihnen jeweils eher stólkonungr [Thronkönig] in Miklagarðr und keisari [Kaiser] in Saxland. Dies sind die Vorfahren von Kaiser Karl dem Großen. […]«

Bemerkenswert ist vor allem die etymologische Erklärung des Titels stólkonungr, die mit der gut möglichen, ursprünglichen Adoption des Wortes aus dem Slawischen47 gar nichts zu tun hat, aber unzweideutig das Bewusstsein eines Ranggefälles transportiert; genau dieses kehren die dänischen Texte ins Gegenteil um. Zwar wird diese Trennung in der norrönen Historiographie nicht konsequent durchgehalten – der Basileus ist mal Grikkjakonungr oder Garðskonungr, mal keisari, mal stólkonungr, in der früheren Skaldik auch schon stólþengill – doch lässt sich das Wissen um die zwei Kaiserreiche nicht einfach abtun. Dass zudem die Päpste den moralischen Primat besitzen, wird auch explizit ausgesprochen.48 Zugleich transportiert der Titel des stólkonungr aber auch eine solche 46 NI 18. Vgl. Ekkehardi chronicon, ed. Waitz [1843], S. 169, 175. Andererseits ist es auch möglich, dass Adams von Bremen Idee, die summa imperii Romani weile bei den populi Teutonum (Adam 1,10, S. 11), die Vorlage bildet. 47 Vgl. Stender-Petersen, Études Varègues V,2 [1946], S. 128. 48 NI 17.

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Würde, dass er laut Snorri als heiti für Jesus Christus gebraucht werden kann.49 Entscheidend hierfür mag das möglicherweise schon im 11. Jahrhundert verankerte50 Wissen darum sein, dass der antike Kaiserthron (stóll) sich in Konstantinopel befand:51 »Constantinvs keisari setti at allir byskvpar skylldo lyda pafa sva sem konvngar keisara ok hann gaf alla Rvmaborg vnfir pafa velldi. Siþan let hann gera mikla borg ok af hans nafni heiter sv borg Constantinopolis. þar er keisara stoll. sv er æzt allra borga i Austrriki.« »Der Kaiser Konstantin legte fest, dass alle Bischofe dem Papst gehorchen sollten wie die Könige dem Kaiser, und er gab ganz Rom in die Macht des Papstes. Danach ließ er eine große Stadt bauen, und nach seinem Namen heißt diese Stadt Constantinopolis. Dort befindet sich der Kaiserthron. Sie ist die herausragendste von allen Städten im Austrríki [Ostreich].«

Das hier rezipierte Constitutum Constantini52 begründet zugleich, dass zwar das Kaisertum auf die Franken überging, der eigentliche Thron aber, die antike Tradition, in Konstantinopel verblieb. Dass Informationen über den Palast mit dem Thron und auch die Hagia Sophia in der Veraldar saga sich direkt und mündlich nach Island tradiertem Augenzeugenwissen verdanken, ist sehr wahrscheinlich. Ebenso verhält es sich mit dem Codex Iustinianus, den die Veraldar saga gleichfalls kennt,53 doch verweist der Gebrauch dieses römischen Rechts im Suðrríki, dem »Südreich«, eben nicht auf Byzanz, das im gleichen Text als Austrríki firmiert. Mit dem »Südreich« dürfte dagegen Italien gemeint sein, und gelehrte Leute wie zum Beispiel ein Gizurr Hallsson aus dem Haukadalur, den die Veraldar saga explizit als Gewährsmann angibt und der vor 1152 nach Rom und Bari pilgerte, werden die Praxis der frühen Rechtsschulen gekannt haben.54 Abermals schneiden sich also verschiedene Linien des Wissenstransfers. Analoges gilt auch für kosmographische Texte, die wie die Veraldar saga grundsätzlich in Handschriften enzyklopädischen Inhalts eingebettet sind.55 Kurz nach 1150 pilgerte Nikulás Bergsson, ein Mönch aus der nordisländischen Abtei Þingeyrar, über Norddeutschland, das Rheintal, den St. Bernhard und 49 NI 164. 50 Das heiti stólþengill für den von Haraldr geblendeten Basileus bei Þjóðólfr Arnórsson (Sexstefja, Str. 7) und Þórarinn Skeggjason (Haraldsdrápa, Str. 1, vgl. Anhang 1.7 und NI 122) legt nahe, dass schon zu Haralds Zeiten die slawische Wurzel des Wortes vergessen war. 51 NI 15. 52 Zur karolingerzeitlichen Genese des Constitutum Constantini und zur mittelalterlichen Rezeption und seiner Transformation zur »Schenkung« vgl. Fried, Donation of Constantine [2007], S. 11–23, 39–49, 111–114. 53 NI 16. 54 Hungrvaka, Kap. 9, S. 35; vgl. Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 159; dies spricht gegen die Schlussfolgerung bei Hoff, Hafliði Másson [2012], S. 166–168. 55 Simek, Kosmographie [1990], S. 272–276.

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Italien nach Jerusalem und verfasste nach seiner Rückkehr mit einem Italienaufenthalt 1154, als er Abt des vom Bischof von Hólar gegründeten Klosters Munkaþverá geworden war, eine Wegbeschreibung in das Heilige Land.56 Sie umfasst zwei Alternativrouten über Dänemark oder von den Niederlanden aus über das Rheintal, nicht aber über die ebenfalls von Skandinaviern besuchte Reichenau,57 und Rom ins Mezzogiorno und von dort per Schiff entlang der Küste des Peloponnes und durch die Ägäis, über Kleinasien und Zypern nach Akkon. Neben zahlreichen norrönen Formen byzantinischer Ortsnamen werden auch Stationen Erik Ejegods auf seiner Pilgerreise erwähnt.58 Nikulás fuhr zwar allem Anschein nach nicht nach Konstantinopel, doch erwähnt er auch, wie man dorthin gelangt, und er gibt abschließend genaue Zeitabschnitte für alle Reisen an; insgesamt beträgt die reine Reisedauer nach seinen Angaben gut hundert Tage.59 Entscheidend ist aber, dass sich an die sehr konkrete, pragmatische Wegbeschreibung mit ganz knappen Schilderungen der Heiligen Stätten, die dem isländischen Itinerar das abwertende und klischeehafte Qualitätsurteil eines »Icelandic guide for the perplexed«, also für kulturell im Mediterraneum völlig isolierte Pilger einbrachte,60 in allen Handschriften ein Verzeichnis der Gna56 Leiðarvísir (NI 11). Vgl. zu diesem Reisebericht, der ganz überwiegend in Bezug auf seine Daten und den Grad der Faktizität behandelt wurde (Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 108–125; Kålund, En islandsk vejviser [1913]; Magoun, The Pilgrim-Diary of Nikulas [1944]; Springer, Medieval Pilgrim Routes [1950]; Gelsinger, The Mediterranean Voyage [1972]; Westergård-Nielsen/Kedar, Icelanders in Jerusalem [1979]; Uecker, Altnordische Reiseliteratur [1992]; Møller Jensen, Vejen til Jerusalem [2004]), v. a. Hill, From Rome to Jerusalem [1983]. Im Kontext der norrönen Kosmographie behandelt ihn Simek, Kosmographie [1990], S. 262–280; vgl. zur Bedeutung für die Enzyklopädik auch Johansson, Om nordiskt och lärt [2006], bes. S. 169–172. Zur Identität Nikulás’ Møller Jensen, Vejen til Jerusalem [2004], S. 294–328; seine fälschliche Identifikation als Abt von Þingeyrar bei Ciggaar, Western Travellers [1996], S. 112f. beruht auf einem veralteten Forschungsstand (vgl. etwa Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 109 und die damals zur Verfügung stehenden Editionen). Das Patronym ist unsicher; verschiedene Abtslisten widersprechen einander diesbezüglich (DD 3, Nr. 12, S. 28–31; Nr. 114, S. 150–154; Nr. 255, S. 310–312). Eine weiter östlich gelegene Alternativroute über Braunschweig, Eisenach, Würzburg, Augsburg, Brixen, Bozen, Verona und Bologna bietet ein anderes Itinerar wohl aus dem 13. Jh. (Simek, Kosmographie [1990], S. 280–284, Edition S. 491–496). 57 S. das Namensregister sub hislant terra in Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, ed. Autenrieth/Geuenich/Schmid [1979], fol. 159. Zu den etwa 670 skandinavischen Namen im Verbrüderungsbuch und ihrer Interpretation Jørgensen/Finnur Jónsson, Nordiske Pilegrimsnavne i Broderskabasbogen [1923], zu methodischen Problemen, etwa der geographischen Zuordnung, die auch England einschließt, und der zeitlichen Eingrenzung Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 83f. Die Reichenau wird freilich nicht nur vom Leiðarvísir umgangen, sondern auch vom östlichen Alternativweg, den enzyklopädische isländische Hss. enthalten (vorige Anm.). 58 NI 11. 59 Leiðarvísir in Simek, Kosmographie [1990], S. 490. 60 Westergård-Nielsen/Kedar, Icelanders in Jerusalem [1979], S. 203. Das Itinerar prunkt in der Tat nicht mit historischem Kontextwissen, welches in das Verzeichnis der Gnadenorte (NI 12)

Das 12. Jahrhundert

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denorte in Rom, anderen Orten vorwiegend in Italien, in Byzanz und dem Heiligen Land anschließt.61 Es ist derart verzahnt mit dem Leiðarvísir an sich, dass man von einem gemeinsamen Autor ausgehen muss; ohne den Leiðarvísir ergibt die Behandlung der heiligen Stätten und Gegenstände keinen Sinn, und umgekehrt sind die Angaben des Leiðarvísir etwa zu Jerusalem extrem knapp, was an eine intentionale Auslagerung hagiographischer Informationen denken lässt. Byzanz durfte hier nicht fehlen, obwohl Nikulás sich nicht auf eigene Erkenntnisse stützen konnte, was auch ein Wechsel im Sprachduktus zwischen den Abschnitten bestätigt; es fehlen der Aufzählung hier die üblichen Kommentare. Es liegt nahe, dass Nikulás auch für die übrigen Teile neben seiner Autopsie schriftliche Quellen heranzog,62 doch stützte er sich für die Beschreibung der Reliquien in Byzanz offensichtlich auf den Pilgerbericht des Anonymus Mercati, aus dem er exzerpiert.63 Etwa ein Zehntel der im Gnadenorteverzeichnis aufgezählten Stücke sind dort nicht enthalten, was die Möglichkeit einer mündlichen Information durch Byzanzfahrer eröffnet.64 Dass Byzanz also im Verzeichnis der wichtigen Pilgerorte ergänzt wird, obschon der Autor nicht dort war, ist bereits an sich aussagekräftig. Wahrscheinlich noch im 12. Jahrhundert entsteht eine weitere, sehr knappe Wegebeschreibung (»Leiðir«), die den Weg nach Byzanz über Ungarn und den Balkan erwähnt; sie findet sich in der gleichen enzyklopädischen Handschrift wie der Leiðarvísir auch.65 Wiederum aus dem gleichen Überlieferungsstrang stammt eine kurze Kosmographie, welche die älteste, ins 12. Jahrhundert zu datierende Zeitschicht norröner Weltbeschreibungen repräsentiert und sicher durch den Leiðarvísir einen entscheidenden kosmographischen Entwicklungsimpuls erhielt.66 Sie ist im Vergleich zu zeitgenössischen Weltbeschreibungen hochaktuell,

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ausgelagert ist. Die Tatsache, dass pragmatische Hinweise das Auffinden z. B. des Polarsterns am dortigen Firmament erleichtern (Simek, Kosmographie [1990], S. 490) und so das Itinerar im Gegensatz zu anderen praktisch brauchbar machen, ist indes kein Hinweis auf kulturelle Isolation in Outremer. NI 12. Den verbreiteten lateinischen Plan von Jerusalem (Situs Jerusalem), der auch in norröner Form überliefert ist, kennt Nikulás noch nicht (Simek, Kosmographie [1990], S. 276, 297– 315). Simek, Kosmographie [1990], S. 272–276, 285–292. Vgl. Ciggaar, Une Description de Constantinople [1976]. Simek, Kosmographie [1990], S. 288f. überlegt, ob eine vollere Variante der Beschreibung im Anonymus Mercati die Vorlage gebildet haben könnte, doch scheint Augenzeugenwissen ebenfalls denkbar. NI 13. Die Handschrift AM 194 8vo von 1387 ist zugleich eine der zwei Handschriften mit dem Leiðarvísir, die Texte liegen jedoch im Buch weit auseinander; vgl. Simek, Kosmographie [1990], S. 284. Simek, Kosmographie [1990], S. 273–276. Die enzyklopädischen Sammelhandschriften AM 194 8vo von 1387 und AM 736 I 4to (frühes 14. Jh.), in denen auch der Leiðarvísir überliefert

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zeigt aber nichts Besonderes, mit Ausnahme Europas, dessen Geographie ausführlicher behandelt wird als irgendwo sonst.67 Das gilt natürlich besonders für den Nordwesten bis in den arktischen Raum, doch auch Osteuropa wird anders beschrieben als etwa bei Adam von Bremen. Statt der Bezeichnung als »Skythien« findet sich eine Beschreibung aus spezifisch skandinavischer Perspektive, die auch und gerade Byzanz einschließt:68 »Europa heitir enn þridi lutur iardar. hann er or beggia ett uestrs oc utnordrs oc tekr i landnordr. I austanuerþrí europa er gardauelldi þar er holmgardr oc palltekia oc smalenskia [AM 194 8vo: Kenugardr & holmgardr pallteskia smaleskia]. Nest garda uelldi bar ril sudrs er grekia konungs velldi. hauf rikis þes er constantinopolis heitir. er uer kaullum miklagarde I miklagardi er kirkia su er adra lyzko heitir agiosofia oc nordrmen calla agisif. Su er kirkia itarligust allra kirkna i heimi at giord oc at uexti. undir grekia konungi er bolgare land oc fioldi eyía þeira er greklandz eyiar eru kalladar. krit. oc kípr ero agetastar | greklandz eyia. Sikil ey er mikit riki. & huerfr i þann lut heinins er europa heitir.« »Europa heißt der dritte Teil der Erde. Er erstreckt sich aus Westen und Nordwesten nach Nordosten. Im Ostteil Europas liegt das Garðaveldi; dort sind Hólmgarðr (Novgorod) und Pallteskja (Polotsk) und Smáleskja (Smolensk) [AM 194 8vo: Kœnugarðr (Kiev) und Hólmgarðr, Pallteskja, Smáleskja]. Anschließend an das Garðaveldi erstreckt sich nach Süden das Reich des Grikkjakonungr. Das Haupt jenes ríki heißt Constantinopolis, welches wir Miklagarðr nennen. In Miklagarðr ist die Kirche, die nach einer anderen Gewohnheit Agiosofia heißt, doch die Nordleute nennen sie Agisif. Diese Kirche ist die herrlichste aller Kirchen auf der Welt in ihrer Ausführung und ihrer Größe. Unter dem Grikkjakonungr sind Bolgaraland (der Peloponnes) und jene Inselgruppe, die Grikklandseyjar genannt werden (die Ägäis). Krít (Kreta) und Kípr (Zypern) sind die herausragendsten | Grikklandseyjar. Sikiley (Sizilien) ist ein großes ríki und gehört zu dem Erdteil, der Europa heißt.«

Hier schneidet sich die Geographie mit Informationen über Byzanz, die auch in der Veraldar saga zu finden sind. Sie alle begegnen im 12. Jahrhundert, belegen Wissen, das auf Realbegegnungen basiert, schlagen aber noch nicht in der synchronen Historiographie zu Buche.69 Dafür bilden sie bis ins Spätmittelalter die

ist, repräsentieren insgesamt einen frühen Bestand an kosmographischen Texten. Die kurze Weltbeschreibung (NI 14) ist hierfür das Hauptzeugnis. 67 Simek, Kosmographie [1990], S. 391f. 68 NI 14. 69 Pritsak, Origin of Rus’ [1981], S. 537 hält die Erwähnung der Städte in der Rus’, die in späteren Texten noch um Murom, Rostov und Suzdal anwächst (Hauksbók, ausführliche Weltbeschreibung, in Simek, Kosmographie [1990], hier S. 452), für eine Spiegelung der Handelsrouten des 9. und 10. Jhs., kann dafür aber außer ihrer Reihenfolge keine Argumente vorbringen. Es bleibt dabei, dass die Aufmerksamkeit für die Rus’ jenseits Novgorods ein spätes Phänomen darstellt.

Orkneyinga saga und Morkinskinna als Schlüssel zu Byzanzbildern

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Grundlage fiktionaler Texte und der auch bei Saxo anklingenden »Warägisierung« der mythologischen Geschichte.70 Einstweilen lässt sich jedenfalls analog zu Dänemark feststellen, dass Byzanz bei einer zeitlich ähnlich getakteten Entwicklung der lokalen Geschichtsschreibung zunächst keine Rolle spielt, jedoch nach der Jahrhundertmitte zunehmend präsent wird, an Bedeutung gewinnt, und dass auch hier die Rezeption lateineuropäischer Gelehrsamkeit und Geschichtsbilder der Konzeptualisierung von Byzanz vorangeht. Eine solch ähnliche Entwicklung, die abermals synchron zur Genese byzantinischer Perzeptionen von Skandinaviern im 12. Jahrhundert verläuft, bestätigt als tertium comparationis den Eindruck, dass der Zeitraum zwischen dem Beginn von Manuels Herrschaft und 1204 den maßgeblichen Dreh- und Angelpunkt der Kulturbeziehung zwischen Byzanz und dem Norden darstellt.

2.

Orkneyinga saga und Morkinskinna als Schlüssel zu Byzanzbildern

Die Orkneyinga saga Innerhalb dieses Zeitraums bildet die Orkneyinga saga den Ort des geringsten Abstands zwischen Text und erzähltem Ereignis. Sie ist das älteste Kompendium der Konungasögur, das Landesgeschichte als eine Reihe von Herrscherviten behandelt und zugleich der älteste norröne Text, der ausführlich von skandinavisch-byzantinischer Interaktion handelt. Der Kreuzzug des später kanonisierten Jarls Ro˛gnvaldr Kali Kolsson von 1151 bis 1153 lag zu dem Zeitpunkt, als die Geschichte der Jarle verfasst wurde, etwa ein halbes Jahrhundert zurück, so dass vereinzelte Augenzeugen noch leben konnten und im kommunikativen Gedächtnis durchaus noch Informationen zirkulierten, die wiederum die Geschichtsfiktion des Autors einhegten – was bei der Geschichte Haraldr Sigurðarsons eindeutig nicht der Fall war. Mithin ist die Ausgangsposition, der Genese vom Byzanzbild in der norrönen Historiographie auf die Spur zu kommen, an dieser Stelle am günstigsten. Eine ursprüngliche Version der Geschichte der Jarle, die aus Mœrir in Mittelnorwegen stammen, reicht von der Eroberung der Inseln durch den Norwegerkönig Haraldr inn hárfagri im 9. Jahrhundert bis 1171 und entstand bereits um 1200;71 sowohl die Morkinskinna als auch die Fagrskinna und Heimskringla 70 Dazu unten, S. 759ff. 71 Einen terminus post quem bildet die Kanonisation des Jarls Ro˛gnvaldr im Jahre 1192. Die im Folgenden behandelte Textgeschichte ist unsicher, da man über die ursprüngliche Textform nur mehr oder weniger gut begründete Konjekturen anstellen kann; vgl. dazu die Einleitung

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nehmen Bezug auf Jarla so˛gur. Umgekehrt wiederum rekurriert der überlieferte Text der Orkneyinga saga, der komplett nur in der Flateyjarbók erhalten und dort abschnittsweise mit anderen Textbausteinen zur norwegischen Königsgeschichte verwoben ist,72 wiederum auf Textabschnitte der Morkinskinna oder der Heimskringla,73 und Handschriften verbreiten sich mit Snorris Werken von Reykjaholt aus.74 Man geht fest davon aus, dass schon zuvor ein Kompendium existierte, dass jedoch sehr wahrscheinlich Snorri beziehungsweise seine Werkstatt dieses Kompendium überarbeiteten, insbesondere indem sie eine mythologische Vorgeschichte mit einer entsprechenden Genealogie der Herrscherfamilie voranstellten und den Schluss ergänzten. Letztlich lassen sich über das Verhältnis zwischen dem uns noch zugänglichen, um 1230 entstandenen und auch danach noch modifizierten Text und der »Urfassung« aber keinerlei gesicherte Erkenntnisse mehr erzielen. Sieht eine Reihe von Forschern den Textkern gerade aufgrund von Differenzen zur Heimskringla in Stil und Inhalt und des Vergleichs mit anderen, fragmentarischen Handschriften als nicht grundsätzlich revidiert an, wobei es noch nicht einmal sicher ist, ob nicht doch einige Textzeugen direkt auf die »Urfassung« zurückgehen, so entzündet sich doch aufgrund logischer »Inkonsistenzen« die Diskussion, inwiefern Snorri oder sein zur Edition von Finnbogi Guðmundsson, S. VII–XIVf., CVII–CXXVI; Würth, Orkneyinga saga [2002]. Jesch, Orkneyinga saga [2010], bes. 169–173, die sich mit Textvarianten in der Überlieferung beschäftigt, betont sehr stark den mosaikhaften Charakter der klassischen Edition durch Finnbogi und den »unfesten« Status der Saga mit ihren verschiedenen historiographischen und hagiographischen Bestandteilen und bevorzugt die Edition durch Sigurðr Nordal von 1913, die sich enger, aber nicht konsequent an der Flateyjarbók als Leithandschrift orientiert. Andererseits besagt die Tatsache einer fehlenden kompletten Handschrift (außer einer frühen dänischen Übersetzung) für sich noch nichts, und die Erkenntnis anhand der Morkinskinna, dass auch Texte, die einem an der Hkr. geschärften ästhetischen Bewusstsein als »Sammelsurium« erscheinen, deswegen noch lange keine Kompilation sein müssen, die auch von den Zeitgenossen als »unfest« wahrgenommen wird (oben, S. 295ff.), gilt auch für die Orkneyinga saga. 72 Dies geschieht in vier Abschnitten, die mit der Óláfs saga Tryggvasonar und der Óláfs saga helga verbunden sind, wobei der Text besonders bei Verweisen auf andere Texte, aber auch bezüglich hagiographischer Bestandteile gekürzt wird (O.s., S. CXIII–CXV); Jesch, Orkneyinga saga [2010], S. 153–169. 73 O.s., Kap. 21, S. 56. Der Verweis auf eine saga Magnúss konungs bezieht sich lt. Nordal und Finnbogi Guðmundsson auf die Hkr. und stammt von Snorri (O.s., S., XXXI; Nordal, Om Orkneyingasaga [1913], S. 42–49), doch ist dies nicht sicher: Zwar stimmen manche Textdetails zwischen der O.s. in der überlieferten Form und der Hkr. gegen die Msk. überein, doch ist dies mitunter auch umgekehrt (unten, S. 671 mit Anm. 388). Erklärbar wird dies durch die Bearbeitung der O.s. in Snorris Werkstatt. Es ist auch ein Rückbezug auf textuelle Vorstufen zur Msk. denkbar (unten, S. 671f.); das Gleiche gilt für den Bezug auf eine Saga über Erlingr skakki (Kap. 89, S. 237). Vgl. auch Jesch, Orkneyinga saga [2010], S. 160–162, die darauf hinweist, dass frühere Hs.-Fragmente bereits eine ganze Reihe an Quellenverweisen enthalten, welche die Schreiber der Flb. nicht übernahmen. Man kann davon ausgehen, dass eine ganze Reihe solcher historiographischen Verweise verloren gegangen sind. 74 O.s., CXXVf.

Orkneyinga saga und Morkinskinna als Schlüssel zu Byzanzbildern

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Umfeld auch in die politische Aussage eingriffen.75 Dies betrifft aber einerseits nicht die für uns wichtigsten Abschnitte; andererseits führt die eigentlich ästhetisch und durch moderne Vorstellungen formaler Logik motivierte Feststellung, man dürfe den restituierten Text nicht als kohärentes Ganzes betrachten, letztlich zu einer Tabuisierung anderer als neuphilologischer Betrachtungsweisen und damit zur Überkompensation einer Vernachlässigung der Überlieferungsgeschichte.76 Auffällig ist zunächst, dass die Leben zweier heiliger Jarle den eigentlichen Kern der Saga ausmachen: Das Zentrum des Textes basiert auf der lateinischen Heiligenvita über den Märtyrer Magnús Erlendsson, die wahrscheinlich aus der Feder des Robert of Cricklade stammt, der auch eine Thomas Becket-Legende verfasste.77 Seine Märtyrergeschichte als Bericht über einen idealen, gerechten und beliebten Herrscher, der 111778 in seiner arglosen Art durch einen machtgierigen Verwandten hintergangen, überfallen und ermordet wird, zeigt strukturelle Parallelen zur dänischen Knud Lavard-Legende.79 Ihre Rezeption ist in der

75 Zu Snorris Überarbeitungen bzw. Hinzufügungen Nordal, Om Orkneyingasaga [1913]; O.s., S. IX–XVI, XXVII–XXX, LXXVIII–LXXXI; sie betreffen abgesehen von Anfang und Schluss v. a. eine Interpolation aus der Óláfs saga helga und Modifikationen des Verhältnisses zwischen Norwegerkönigen und Jarlen in der frühen Geschichte, wo sich Wechselwirkungen mit dem Bild aus der Hkr. ergeben. Dabei ist es gar nicht so sicher, ob nicht die Fragmente unter Signatur AM 325, IIIa und IIIb 4to (um 1300) die »Urfassung« repräsentieren, wenn die Bezüge auf eine *Magnúss saga nicht als Rekurs auf die Hkr. angesehen werden ( Jesch, Orkneyinga saga [2010], S. 160f.). Im Großen und Ganzen als Zeugnis der »ursprünglichen« Saga sprechen Berman, Political sagas [1985]; Foote, Observations on Orkneyinga saga [1988]; Jesch, »Political Sagas« [1993]; Würth, Orkneyinga saga [2002] den Text an; Jesch, Narrating [1992], S. 350f. (vgl. Jesch, Orkneyinga saga [2010]) äußert sich zwar skeptisch bezüglich der Reichweite einer Interpretation bezüglich des »Urtexts«, stellt aber fest, dass der »historisch-kritische« Erzählstil, der seine Quellen weitgehend offenlegt und Meinungen zur Disposition stellt, sich durch alle Abschnitte, offensichtlich überarbeitete wie andere, ziehe. Die Polemik bei Tomany, Destination Viking [2004], S. 174–179 gegen Foote, Observations on Orkneyinga saga [1988] richtet sich prinzipiell gegen alle Interpretationen, die sich auf das Gesamt des restituierten Textes der O.s. stützten, der inhärent keinen Sinn ergäbe und voller logischer Brüche sei. Da hier aber ein anachronistisches modernes Empfinden über die auch ideologische »Einheit« eines Textes sowie die Hkr. als Idealbild das Urteil motivieren, ist diese Einschätzung als überzogen zurückzuweisen. In dem von uns behandelten Abschnitt über Ro˛gnvaldr bestehen gar keine inneren Widersprüche. 76 Vgl. Tomany (vorige Anm.) und Jesch, Orkneyinga saga [2010], die aber v. a. einen Wandel des Erzählstils und damit des Textcharakters bei der Übernahme in die Flateyjabók behandelt, also einen späten Wandel. 77 Haki Antonsson, St. Magnús of Orkney [2007], S. 64–67; O.s., S. XLV–XLVII. 78 Haki Antonsson, St. Magnús of Orkney [2007], S. 77f. 79 O.s., Kap. 47–50, S. 105–111; vgl. Haki Antonsson, St. Magnús of Orkney [2007], S. 24–27. Die Parallelen zu Knud Lavard mögen sich gemeinsamen englischen Vorlagen verdanken, aber auch direkter Kenntnis des dänischen Kults durch den Autor der O.s. (vgl. zudem die Übereinstimmung in der Bewertung von Sigurðr slembidjákn mit den dänischen Quellen, unten, S. 621f.). Auch das Zögern des Bf. Vilhjálmr in der Anerkennung der Heiligkeit von

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Orkneyinga saga geschickt verbunden mit dem Leben des zweiten Heiligen, indem im Kontext der Elevation der Gebeine 113580 ein Wunderkatalog aus der lateinischen Legende in sie eingebunden wird, welcher den Erzählfluss unterbricht. Er wurde, weil er einen Fremdkörper im Text darstellt, für eine spätere Interpolation gehalten, doch spricht hierfür nichts außer dem modernen ästhetischen und gattungsspezifischen Empfinden.81 In der Tat ist es denkbar, dass der genau im Zentrum platzierte Wunderkatalog eine Art Kristallisationspunkt des Werks abbildet,82 denn von diesem Umweg in die Hagiographie springt der Text direkt zur Kindheit eines gewissen Kali Kolsson, eines Schwestersohns des Heiligen Magnús, der in Agder in Norwegen aufwächst. Dieser Neffe des Heiligen gerät in seiner Jugend unverschuldet in eine Blutfehde, die letztlich durch den Schiedsspruch des Königs Sigurðr Magnússon Jórsalafari beigelegt wird, wobei Kali die halbe Herrschaft über die Orkneys verliehen bekommt sowie den Namen Ro˛gnvaldr nach Ro˛gnvaldr Brúsason, dem angesehensten Jarl der Geschichte, der einst gemeinsam mit Óláfr inn helgi bei Stiklarstaðir gekämpft hatte und danach mit Haraldr Sigurðarson in die Rus’ geflohen war.83 Die Durchsetzung dieses Anspruchs bedarf noch einiger Jahre, da nach König Sigurðs Tod die konkurrierenden Nachfolger Ro˛gnvalds Würde zunächst nicht bestätigen, bevor der Jarl sich in mühsamer, jahrelanger Kriegs- und Verhandlungstätigkeit seinen Anteil an den Inseln sichern kann und schließlich durch den Verrat anderer an seinem Konkurrenten Páll Hákonarson Alleinherrscher wird.84 Dieser Prozess setzt genau dort ein, wo die Erzählung mit der Erhebung von Magnús’ Gebeinen unterbrochen worden war. Die Herrschaft der beiden Heiligen wird so, obwohl zwischen dem Tod des einen und dem Erscheinen des anderen 19 Jahre liegen, miteinander verbunden, und das nach Kapitelzahlen genau in der Mitte des Textes.85 Historiographischer

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Magnús (Kap. 52, S. 112f., Kap. 56, S. 122) findet seine Parallele in Eskils Verhalten (oben, S. 383). Haki Antonsson, St. Magnús of Orkney [2007], S. 77–79; die innere Chronologie der Saga (Kap. 57, S. 122–129) ergäbe 1137/38. O.s., Kap. 57, S. 122–129. Vgl. ebd., S. CVIIf., CXIIf.; Nordal, Om Orkneyingasaga [1913]. Ähnlich Jesch, Orkneyinga saga [2010], S. 169, die ein wachsendes historiographisches »Genrebewusstsein« konstatiert: Während Snorri Wunder des Heiligen Óláfr »säkularisiert«, löscht der Kompilator der Flateyjarbók zahlreiche hagiographische Passagen der O.s. Der Trend verläuft also genau entgegengesetzt der klassischen Vorstellung ständigen enzyklopädischen Wachstums durch Kompilation. O.s., Kap. 58–62, S. 129–142. O.s., Kap. 63–75, S. 142–170. Einen Schlüssel zu Ro˛gnvalds Erfolg bildet seine Hinwendung zum Heiligen Jarl Magnús, dem »rechtmäßigen Herrscher« der Orkneys (Kap. 68, S. 159). Magnús starb 1117, Ro˛gnvaldr erschien erstmals 1136 auf den Inseln. 1138 wird Ro˛gnvaldr durch das Verschwinden des Jarls Páll, für das die Saga zwei widersprüchliche Gründe berichtet, Alleinherrscher. In der Tat liegt das Kap. 57 der Edition genau in der Mitte der hypothetischen ursprünglichen

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und hagiographischer Diskurs greifen auch hier ineinander, und die Struktur, wie sie auch schon in Ælnoths Chronik angelegt ist, mag auf die späteren Kompendien mit ihren Heiligenkönigen gewirkt haben;86 zudem kommt hier ein zweites historiographisch-typologisches Muster aus Vorläufer und Vollender analog zu Johannes dem Täufer und Christus zum Tragen, wie es sich gleichfalls bei Ælnoth mit Svend Estridsen und Knud dem Heiligen, in der Sverris saga mit Óláfr inn helgi und Sverrir oder in der Óláfs saga Tryggvasonar mit Óláfr Tryggvason und Óláfr inn helgi zeigt.87 Zudem verbindet sich mit dieser zentralen Stelle der Orkneyinga saga ein weiterer Übergang, da ab hier die Ereignisse deutlich ausführlicher als zuvor und Jahr für Jahr behandelt werden; ab hier ist die Chronologie konsistent.88 Die Zeit, welche Ro˛gnvalds Vita überdeckt, umfasst 51 der ursprünglich wohl insgesamt etwa einhundert Kapitel oder sechzig Prozent (!) des Textumfanges.89 Damit ist er nicht nur der zweite heilige Jarl und Nachfolger von Magnús, sondern gemeinsam mit dem Magnaten Sveinn Ásleifarson, der ein Gewährsmann des Autors oder seines Umfelds war, zugleich auch die dominierende Person der jüngeren gegenwartschronistischen, intensiv und detailliert geschilderten Geschichte der Orkneys.90 Diese handelt wie auch die späteren Kompendien von politischen Interaktionen und verhandelt so auf eine Weise, welche der Morkinskinna stark ähnelt, Normen, Werte und historisches Prestige bestimmter Magnatengruppen.91 Dies tut sie abgesehen von der vorangestellten mythologischen Genealogie der Jarle von Mœrir durchgehend auch in der ferneren Geschichte, doch merkt man deutlich, dass vor dem späteren

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98 Kapitel, die sich aus der Substraktion der Vorgeschichte (Kap. 1–3), des erweiterten Schlusses (Kap. 109–112) sowie der aus der Ó.s.h.s. interpolierten Kap. 13–19 ergibt, denn dann wäre der Wunderkatalog das 50. von 98 Kapiteln. Eine solche Vorgehensweise ist ganz hypothetisch, doch kann sie zeigen, dass der Eindruck der Zentralität auch bezüglich der Proportionen sowohl in der vorliegenden restituierten Form als auch der hypothetisch rekonstruierten »Urfassung« des Textes bestand hat. Vgl. zum Bewusstsein der dänischen und norrönen Autoren für solche Text- und Zahlenproportionen Scheel, Lateineuropa [2012], S. 34, 37, 188f. Vgl. Whaley, Heimskringla [1991], S. 110f.; Knytlinga saga, ed. Hermann Pálsson/Edwards [1986], S. 12; Scheel, Lateineuropa [2012], S. 37, 166. Zernack, Vorläufer und Vollender [1998], bes. S. 88–92; vgl. auch Scheel, Lateineuropa [2012], S. 37. Vgl. O.s., S. LXXXVI–XC; Jesch, Narrating [1992], S. 340; Würth, Orkneyinga saga [2002], S. 212. O.s. Kap. 58–104, S. 129–283. Die hypothetische Ursprungsform lässt den Beginn, das Ende und eine Interpolation in der Saga fort (vgl. Anm. 2198). Vgl. Jesch, Narrating [1992], S. 342–345. Zu einem moralischen Konzept, das zumindest für diesen größeren, späten Abschnitt der O.s. trägt, wenn auch nicht zwangsläufig für alle früheren Textdetails, Ciklamini, Saint Ro˛gnvaldr [1970]; Foote, Observations on Orkneyinga saga [1988], S. 190–203. Gegenüber stehen sich der begabte, aber hochmütige und unbeherrschte ójafnaðarmaðr (homo iniquus) und der selbstdisziplinierte Konsensherrscher; vgl. dazu oben, S. 348f. sowie die folgende Analyse.

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11. Jahrhundert die mündliche Überlieferung ausgesprochen lückenhaft war. Die frühe Geschichte orientiert sich ganz an den Inhalten von Skaldenstrophen und ähnelt daher mitunter im Charakter »Skaldensagas«;92 zudem intervenierten spätere Überarbeiter in Snorris Umkreis hier stärker in den Text.93 Einen Übergang markiert in diesem Zusammenhang die Zeit seit Haraldr Sigurðarsons Tod 1066, als die Fülle an lokalspezifischen Informationen erheblich zunimmt. Ro˛gnvalds Kreuzzug Abgesehen davon, dass Pilgerfahrten der Jarle nach Jerusalem eine besonders große Rolle spielen – nirgends finden sich so viele Pilger unter den Herrschern eines skandinavischen Landes wie auf den Orkneys94 – bildet im ausführlichen, späteren Abschnitt über Ro˛gnvaldr dessen Kreuzzug einen elementaren Teil des Herrscherbildes sowie das Zentrum seiner Geschichte. Mit fünf sehr langen Kapiteln, die über 15 Prozent des Gesamttextes entsprechen, widmet die Orkneyinga saga ihm im Verhältnis so viel Raum wie kein anderes Kompendium.95 Dies lässt einerseits ein besonderes konzeptuelles Interesse an der Thematik erkennen, belegt aber andererseits zugleich, dass der Autor aus einer Fülle zirkulierender Informationen schöpfen konnte.96 Dabei spielt Byzanz schon bei der Handlung, welche die Kreuzzugsvorbereitungen erst auslöst, eine zentrale Rolle: Als Ro˛gnvaldr sich 1148 in Bergen am Hofe des Königs Ingi krokryggr aufhält, trifft er auf einen byzantinischen Agenten. Eindriði ungi, der lange Zeit in byzantinischen Diensten stand und in der Óláfshagiographie als Zeuge für dessen

92 So Holtsmark, Orknøyingenes saga [1970], S. 8. Zu den Skaldensagas (Kormáks saga, Hallfreðar saga, Bjarnar saga Hítdœlakappa, Gunnlaugs saga, am Rande des Genres Fóstbrœðra saga und Egils saga Skalla-Grímssonar, vgl. Clunies Ross, Skald Sagas as a Genre [2001]), welche die Biographie des Protagonisten um seine Strophen anlegen, Skaldsagas, ed. Poole [2001], darin v. a. Gade, Dating and Attributions [2001], S. 70–74; Poole, The Relation [2001], S. 171; Finlay, Skald Sagas in their Context 2 [2001], S. 231–245; Meulengracht Sørensen, The Prosimetrum Form [2001], passim; Tulinius, The Prosimetrum Form [2001], S. 212–217. 93 Nordal, Om Orkneyingasaga [1913], S. 36–43. Er bezieht sich auf Interaktionen im früheren 11. Jh., als dem König Óláfr inn helgi eine Schiedsrichter- und Lehnsherrenrolle im Kampf zwischen konkurrierenden Jarlen um die Orkneys zukommt. 94 NI 42+ NI 43; vgl. außerdem die Romreise des Jarls Þorfinnr im frühen 11. Jh. (O.s., Kap. 31, S. 79–81; vgl.Waßenhoven, Skandinavier unterwegs [2006], S. 292f.). 95 Kap. 84–89, S. 193–237. 96 Dies gilt für den ganzen Abschnitt über Ro˛gnvalds Herrschaft. Vgl. Meulengracht Sørensen, Historiefortælleren Sturla Þórðarson [1988], der Ähnlichkeiten im Erzählstil zur gegenwartschronistischen Íslendinga saga aufzeigt; aufschlussreich ist auch die Analyse von Kap. 74–76, S. 167–174 bei Jesch, Narrating [1992], S. 340–351 bzw. in weiterem Vergleichsrahmen Jesch, »Political Sagas« [1993]: Der Erzähler der O.s. legt in diesem Teil sich widersprechende Aussagen dem Publikum offen vor und erzählt nicht wie spätere klassische Sagas scheinbar nur, »wie es eigentlich gewesen«.

Orkneyinga saga und Morkinskinna als Schlüssel zu Byzanzbildern

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Wunder unter den Warägern firmiert,97 schmeichelt dem Jarl und rät ihm zu einer Jerusalemfahrt:98 »Þat þykki mér undarligt, jarl, er þú vill eigi fara út í Jórsalaheim ok hafa eigi sagnir einar til þeira tíðenda, er þaðan eru at segja. Er slíkum mo˛nnum bezt hent þar sakar yðvarra lista; muntu þar best virðr, sem þú kemr með tignum mo˛nnum.« »Es scheint mir merkwürdig, Jarl, dass du nicht hinaus nach Jórsalaheimr fahren und nur Berichte über die Begebenheiten hören willst, die von dort zu erzählen sind. Dort ist der rechte Platz für solche Leute angesichts Eurer Fähigkeiten; du wirst dort am höchsten geachtet werden, wenn du mit edlen Männern kommst.«

Das Motiv – der Erwerb von virðing – bleibt also rein säkular, obschon den Autoren der Konungasögur der Aspekt der Selbstheiligung durchaus bewusst ist.99 Ähnlich wie in der Profectio Danorum werden die Vorbereitungen, der Flottenbau, aber auch Verzögerungen beim Zusammenziehen der Schiffe erschöpfend behandelt, obschon sie kein solches Übergewicht wie im dänischen Text erhalten.100 Letztlich segelt eine Flotte aus 15 Schiffen im Sommer 1151 von den Orkneys ab. Es wird berichtet, dass die Schiffe mit Ausnahme von Ro˛gnvalds Schiff über nicht mehr als dreißig rúm (Riemenpaare) verfügen sollten, man kann also die Größe der Mannschaft auf etwa 1000 bis 1500 Mann einschätzen, etwas weniger als bei Erik Ejegod und ein Drittel bis ein Viertel von Sigurðs Flotte.101 Die Magnaten, welche sich unter Ro˛gnvalds Führung zusammenschlossen, stammten zu einem nicht unerheblichen Teil aus Norwegen; unter ihnen befand sich der spätere Jarl Erlingr Ormsson, ein Schwiegersohn des Königs Sigurðr Jórsalafari, dessen Sohn Magnús König von Norwegen werden sollte, sowie der Waräger Eindriði ungi, der sich mit zwei Schiffen anschloss. Neben den weltlichen Magnaten begleitete der Bischof Vilhjálmr von den Orkneys die Reise, auf dessen französische Sprachkenntnisse besonders verwiesen wird.102 Im Laufe des Jahres 1151 kommen die Kreuzfahrer nach Narbonne, 97 Er wird explizit genannt im hagiographischen Skaldengedicht Geisli (vgl. NI 19). 98 NI 44. 99 Er begegnet etwa in der Msk. bei Sigurðr, nicht aber in der Hkr. (vgl. NI 133). In Reaktion auf die aktuelle Kreuzzugsforschung, welche die Aufmerksamkeit wieder der lange Zeit stark vernachlässigten religiösen Motivation zuneigt, betont Nedkvitne, Why Did Medieval Norsemen go? [2005] die säkularen Motive für solche Unternehmungen, insbesondere auch den Erwerb von Ansehen an den Höfen in der Fremde. Seine berechtigten Argumente, die gegen monokausale Erklärungen für Kreuzzüge sprechen, leitet er v. a. aus den hier behandelten Berichten ab. 100 NI 45+NI 46. 101 Zur Schiffsgröße NI 44, zum Flottenumfang NI 47. Die Größenberechnungen basieren auf den Überlegungen oben, S. 91 mit Anm. 73. Zur Berechnung der zwängsläufig sehr hypothetischen Heeresgröße bei Erik Ejegod auf der Basis der ihm von Alexios zur Verfügung gestellten 14 Schiffe oben, S. 373 mit Anm. 346, zu Sigurðr oben, S. 92f. 102 Vgl. die Liste der Anführer in NI 45.

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offensichtlich vom Atlantik aus über die Garonne und die Via Tolosana,103 um ihren Überwinterungsort in Galizien zu erreichen. Nachdem sie dort einen tyrannischen Herrscher gestürzt haben, der zugleich Nachschubprobleme für die Flotte erzeugte,104 und Verwüstungen bei den Heiden in Spanien anrichten,105 durchqueren sie nach einem schweren Sturm die Straße von Gibraltar. Danach spaltet Eindriði ungi die Flotte und segelt mit sechs Schiffen über Marseille und die Nordküste des Mittelmeers direkt nach Miklagarðr;106 dass er zum Verräter werden würde, kündet sich im ganzen Verlauf der Geschichte bereits an: So baute er ursprünglich zu große und prunkvolle Schiffe, verletzte also die Sozialordnung, hielt die Flotte durch angeberische nautische Manöver mit folgendem Schiffbruch seinerseits vor den Shetlands auf und machte sich der Konspiration mit dem galizischen Tyrannen verdächtig.107 Der Rest der Flotte nimmt den Weg entlang der afrikanischen Nordküste. Er stößt dabei auf ein großes Schiff mit muslimischer Besatzung, das erobert und versenkt wird.108 Hierbei gerät ein afrikanischer Edelmann in Gefangenschaft, der sich später für seine Freilassung in einem nordafrikanischen Hafen, Tunis oder Bizerta, erkenntlich zeigt.109 Über Kreta110 wird Akkon erreicht, doch ist den Orkadiern und Norwegern ebenso wenig Glück beschieden wie später den Dänen, denn ein Großteil von ihnen fällt einer Epidemie zum Opfer, so dass die Überlebenden gemäß dem Text keine großen Kampfesleistungen vollbringen, sondern als Pilger die heiligen Stätten besuchen.111 Von Akkon aus führt der Weg schließlich und unvermeidlich nach Konstantinopel, doch erfährt man hierüber mehr Details als in der Profectio Danorum. Im Spätsommer pausiert die Flotte für längere Zeit in einem Hafenort, der Imbólar genannt wird,112 von wo sie später nordwärts nach Engilsnes113 segelt und bei günstigem Wind weiter nach Miklagarðr.114 Die Identifikation bloß anhand eines Namens ist zwar kaum mehr möglich, doch mangelt es angesichts eines verständlichen Interesses am Reiseweg nicht an Spekulationen: Ausgehend von ähnlich klingenden griechischen oder romanischen Ortsnamen wurde vorgeschlagen, die Flotte sei über Amphipolis/Imbolum115 in Makedonien ganz im 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115

NI 47. Die Rekonstruktion der Reise ist umstritten, vgl. dazu unten, S. 626ff. NI 48+NI 49 beschreiben die Belagerung einer Burg. NI 50. NI 51. NI 46 zu Eindriðis Verhalten bei den Vorbereitungen, NI 48+NI 49 legen eine Konspiration zwischen Eindriði und dem belagerten Herrn in Galizien nahe. NI 52. NI 53. NI 54. NI 55. NI 56. NI 57. NI 58. Riant, Skandinavernes Korstog [1868], S. 362.

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Norden der Ägäis gesegelt, über die Insel Imbros/Gökçeada nordwestlich der Einfahrt in den Hellespont,116 oder aber, der Name bedeute nichts anderes als »in der Stadt« (ἔμπολις) oder »Arkaden« / »Basar« (ἔμβολαι) und der Erzähler meine damit vielleicht einen Vorort Konstantinopels oder auch einen gar nicht mehr zu konkretisierenden Ort.117 Obige Identifikationen mit existierenden Orten aber führen dazu, dass man die Richtungsangaben des Textes verwerfen oder ignorieren müsste; stattdessen suchte Helen Damico nach einer passenden Ortsbezeichnung auf dem plausiblen Weg, den auch der Leiðarvísir beschreibt, der über Zypern entlang der kleinasiatischen Südküste durch die Ägäis zum Hellespont führen musste, und wurde auf Kalymnos fündig.118 Der in einem fjordartigen Tal gelegene Hafenort Βαθύς/Vathys, dessen enges Tal im lokalen Dialekt auch Ἔμβολας/Embolas (