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German Pages 280 Year 2014
Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit
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Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung – Fiktion – Narration
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ralph Bartholomew Jr., Untitled, 1954, Gelatinesilberabzug, 26,7 x 34,1 cm, Los Angeles County Museum of Art, Gift of the Bartholomew family, courtesy Keith deLellis Gallery, © 2009. Digital Image Museum Associates/LACMA/Art Resource NY/Scala, Florence Lektorat & Satz: Lars Blunck Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1369-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT
Fotografische Wirklichkeiten LARS BLUNCK 9 Was ist ›inszenierte Fotografie‹? Eine Begriffsbestimmung MATTHIAS WEISS 37 ›Inszenierte Fotografie‹, ›Inszenierende Fotografie‹ und ›Fotografierte Inszenierung‹ – am Beispiel von Schauanordnungen für lebende und tote Tiere CHRISTIAN JANECKE 53 Im Spannungsfeld von Dokumentation und Inszenierung. Fotografie in installationsbezogenen Künstlerbüchern ALEXANDER STREITBERGER 71 Bilder, die nichts zeigen. Inszenierter Krieg in der künstlerischen Fotografie WOLFGANG BRÜCKLE 87 Binnenschauplätze. Einige Anmerkungen zu Theater und Fotografie STEFANIE DIEKMANN 105 Inszeniertes Selbst? Der Fall Samuel Fosso INGRID HÖLZL 117
In Oszillation zwischen Authentizität und Fiktion. Zur Fotokunst von Nan Goldin PAMELA C. SCORZIN 129 Fotografie und Fiktionalität JENS SCHRÖTER 143 Bayards Leichnam. Zu einem Exemplum des fotografischen ›Als-ob‹ LARS BLUNCK 159 Da tut sich was! Überlegungen zur Semiotik narrativer Fotografien SANDRA MARIA GESCHKE 173 Narreme, Unbestimmtheitsstellen, Stimuli – Erzählen im fotografischen Einzelbild BARBARA J. SCHEUERMANN 191 Komposition, Suggestion, Imagination: Henry Peach Robinsons Fading Away MAGDALENA BUSHART 207 Die Aneignung der Orientmalerei. Europäische Atelierfotografie in Nordafrika im 19. Jahrhundert SILKE FÖRSCHLER 227 Flora und Köchin. Inszenierte Fotografien aus Berlin um 1860 SIGRID SCHULZE 239
Schiffbruch mit Erzähler. Bemerkungen zum Verhältnis von Fotografie und Erzählung bei Jean Le Gac STEFANIE RENTSCH 255 Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis 267 Autorinnen und Autoren 273
Fotografische Wirklichkeiten LARS BLUNCK
Vor einigen Jahren erschien in einem dem Ende der Fotografie gewidmeten Themenband des Kunstforum International ein Aufsatz des Amerikanisten Christoph Ribbat mit dem ebenso gewitzten wie programmatischen Untertitel Wie ich lernte, über Fotografie zu schreiben, ohne Roland Barthes zu zitieren.1 In der Tat fällt dies schwer: fototheoretische Überlegungen anzustellen, ohne sich auf den französischen Semiologen und dessen, wie sich mit Bernd Stiegler ironisch pointieren ließe, »letztgültige, allgemein anerkannte und überall zitierte Ausformulierung«2 der Fototheorie zu beziehen. Entsprechend kommen auch die folgenden Überlegungen, die ganz bewusst keine klassische Einleitung sein wollen, nicht umhin, Barthes mehrfach als Referenzfigur aufzurufen – freilich einzig zum Zweck, die von Barthes forcierte Verabsolutierung der deiktischen (und damit der indexikalischen) Referenz von Fotografien zu relativieren, um der Fototheorie Perspektiven auf andere, will sagen: ikonische Aspekte zu eröffnen.
Indexikalität und Ikonizität Barthes hat in seinem notorisch gewordenen Buch Die helle Kammer bekanntlich konstatiert, dass die Fotografie »mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber« deute und »an diese reine Hinweis-
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Siehe Ribbat, Christoph: »Smoke gets in your eyes, oder: Wie ich lernte, über Fotografie zu schreiben, ohne Roland Barthes zu zitieren«. In: Kunstforum International, Bd. 172, Ruppichteroth, September bis Oktober 2004, S. 39-42. Stiegler, Bernd: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München, 2001, S. 18. Vgl. auch Holzer, Anton: »Barthes’ Bilder: 30 Jahre Helle Kammer«. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 29, Heft 114, Marburg, Winter 2009, S. 3: »Das bekannteste Buch der Fototheorie, Roland Barthes’ Helle Kammer […].«
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Sprache gebunden«3 sei.4 Im Zusammenhang dieser »langage déïctique«5 hielt er den linguistischen Begriff der »Referenz« beziehungsweise den des »Referenten« bereit. »Référent«,6 das meint nach Barthes das »Bezugsobjekt« der Fotografie, das, »was sie darstellt. […] ›Photographischen Referenten‹ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild [...] verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objekt plaziert war und ohne die es keine Photographie gäbe.«7 Nun ist zwar zweifelhaft, ob sich linguistische beziehungsweise sprachphilosophische Theoreme überhaupt bildtheoretisch analogisieren und auf Bilder übertragen lassen (etwa die Ausdrucks-Bezugnahme in eine Bild-Bezugnahme),8 das heißt, es stünde ganz grundsätzlich zur Diskussion, ob es so etwas wie eine unmittelbare »Bezugnahme von Bildern«9 überhaupt geben kann oder ob bei der Frage nach bildlicher Referenz nicht »stärker auf Aspekte ihres kommunikativen Einsatzes, d.h. auf pragmatische Aspekte«10 eingegangen werden müsste. Doch wie immer man über diese Frage denkt: Barthes zufolge würden Fotografien direkt Bezug nehmen, wenngleich weniger durch das, was sie darstellen, als durch die Weise, wie sie darstellen, nämlich eben deiktisch beziehungsweise indexikalisch. Entscheidend ist dabei, dass Barthes diese Referenz als unmittelbar gedacht zu haben scheint, jegliche vermittelnde Instanz ist verschwunden, das, »was sie darstellt«,11 ohne jegliche Semio-Pragmatik visuell präsent. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [frz. 1980]. Übers. v. Dietrich Leube. Frankfurt a.M., 1989, S. 13. Barthes galt die Fotografie »letztlich als exakte, empirische Kunst, die gänzlich im Dienste der Authentizität, der Realität und der Objektivität« stehe. Barthes, Roland: »Wilhelm von Gloeden« [frz. 1978]. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn [frz. 1982]. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a.M., 1990, S. 204-206, hier S. 204. 4 Zu der jüngst vermehrt vorgetragenen Kritik an der Verabsolutierung der deiktischen Funktion der Fotografie siehe Elkins, James (Hg.): Photography Theory. New York u. London, 2007, S. 136-139. 5 Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris, 1980, S. 16. 6 Barthes 1980 (wie Anm. 5), S. 16. 7 Barthes (1980) 1989 (wie Anm. 3), S. 13 u. 86. Vgl. auch Krauss, Rosalind: »Anmerkungen zu Index: Teil 1« [amerik. 1976]. In: Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M., 2002, S. 140-157, hier S. 151. 8 Siehe hierzu Harth, Manfred: »Bezugnahme bei Bildern«. In: SachsHombach, Klaus (Hg.): Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen. Magdeburg, 2001, S. 41-53. 9 Harth 2001 (wie Anm. 8), S. 42. 10 Harth 2001 (wie Anm. 8), S. 42. 11 Barthes (1980) 1989 (wie Anm. 3), S. 13. 3
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Mit der Formulierung einer solchen »Referenz« als, wie Barthes schrieb, »Grundprinzip der Photographie [l’ordre fondateur de la Photographie]«12 variierte er bekanntlich – zumindest in Teilen – die Fotografie-Auffassung des amerikanischen Semiotikers Charles Sanders Peirce. Peirce hatte bereits 1893 bezüglich der Zeichenfunktion der Fotografie bemerkt: »Photographien, besonders Momentaufnahmen [instantaneous photographs], sind sehr lehrreich, denn wir wissen, daß sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen.«13 Scheint Peirce in diesem Satz noch versucht, die Fotografie der Zeichenart des Ikon zuzuordnen (Peirce unterschied ja in seiner Zeichentaxonomie »drei Arten von Zeichen«14 beziehungsweise »drei Zeichenklassen«,15 nämlich Ikons, Indizes und Symbole), so zögert er im nachfolgenden Satz nicht, die Fotografie aufgrund des kausal-physikalischen Konnexes zwischen Fotografie und Referent16 der Zeichenart des Index zuzuschlagen, da beim Index das »indizierte Objekt [...] tatsächlich vorhanden sein«17 müsse. So sei die ikonische Zeichenfunktion der Fotografie »davon abhängig, daß Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen. In dieser Hinsicht gehören sie also zu der zweiten Zeichenklasse, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind«,18 also Indizes. Nun sollte man diese Textpassage allerdings nicht dahingehend missverstehen, dass Peirce eine definitive Entscheidung bezüglich der Frage zu fällen gedachte, ob ein Foto der Zeichenart des Index oder des Ikons zugehöre. Im Gegenteil: Es gilt, worauf kürzlich François Brunet hingewiesen hat: »Indexicality [...] is introduced here as a restriction to iconicity, presented as the most intuitive characteristic of photographs [...]. Furthermore, what appears from this passage is that photographs are brought up, not so much as a
12 Barthes (1980) 1989 (wie Anm. 3), S. 87. 13 Peirce, Charles S.: »Die Kunst des Räsonierens« [1893]. In: Ders.: Semiotische Schriften. Bd. 1. Hrsg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape. Frankfurt a.M., 2000, S. 191-201, hier S. 193. 14 Peirce (1893) 2000 (wie Anm. 13), S. 193. 15 Peirce (1893) 2000 (wie Anm. 13), S. 193. 16 Interessanterweise spielt der Referenz-Begriff im Gegensatz zum Begriff der Relation bei Peirce eine verschwindend geringe Rolle. 17 Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen. Hrsg. v. Helmut Pape. Frankfurt a.M., 1983, S. 65. Joel Snyder geht sogar davon aus, dass die Indexikalität von der Ikonizität abhängt: »You have to get to the index by way of the icon. There is no way to get there without it.« Joel Snyder zit. in Elkins 2007 (wie Anm. 4), S. 148. Vgl. auch Green, David: »Indexophobia«. In: Elkins 2007 (wie Anm. 4), S. 244-253, hier S. 246. 18 Peirce (1893) 2000 (wie Anm. 13), S. 193.
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prime example of indexicality (or, for that matter, of iconicity), but as an example of semiotic impurity and the triadic dynamics of semiosis.«19 Ähnlich hat bereits Philippe Dubois argumentiert, als er vollkommen zutreffend darauf hinwies, dass sich Ikon und Index keineswegs ausschließen würden: »Die Hauptsache beim Ikon ist die Ähnlichkeit mit dem Objekt, ob dieses nun existiert oder nicht; die Hauptsache beim Index liegt darin, daß das Objekt wirklich existiert und mit dem von ihm ausgehenden Zeichen in Berührung steht [...]. Mit anderen Worten: es kann durchaus indexikalische Ikons und ikonische Indizes geben.«20 Oder mit Ruth Maurer-Horak formuliert: »[...] Indexikalität und Ikonizität stehen sich nicht gegenüber, sondern werden im Medium der Fotografie vermittelt.«21 Und dennoch hat die Betonung des Indexikalischen bei Peirce, vor allem aber seine Verabsolutierung durch Barthes (und durch dessen Exegeten und Epigonen) zu einer fototheoretischen Vernachlässigung der ikonischen Aspekte von Fotografie geführt.22 Entsprechend verbindet sich mit dem in und mit diesem Buch unterbreiteten Vorschlag, das, was man die Ikonizität von Fotografien nennen kann, fototheoretisch stärker zu akzentuieren, gewiss nicht das Anliegen, ihren Index-Status in Frage zu stellen; dies wäre töricht. Vielmehr geht es darum, eine Konsequenz aus Dubois’ vollkommen zutreffender Feststellung zu ziehen, nämlich jener, dass man angesichts des fototheoretischen Beharrens auf und Verharrens bei der Indexikalität meinen könnte, »die Fotografie sei durch diese Einschreibung des Referenten gewissermaßen blockiert, als ob jede Fotografie zwangsläufig und eigensinnig nur auf ihre Referenz 19 Brunet, François: »›A better example is a photograph‹: On the Exemplary Value of Photographs in C.S. Peirce’s Reflection on Signs«. In: Kelsey, Robin; Stimon, Blake (Hg.): The Meaning of Photography. Williamstown, 2008, S. 34-49, hier S. 35f. Brunet geht noch weiter, wenn er bemerkt, dass Peirce Fotografien dort niemals als Beispiel anführe, wo er die Definition des Index erkläre: »This suggests that, precisely because of their marked impurity, photographs are not good examples of indexicality.« Ebenda, S. 47, Anm. 7. Brunet hat auch darauf hingewiesen, dass es schwierig sei, eine Indextheorie der Fotografie auf den Texten Peirces aufzubauen, »insofar as the photographic example most often comes up in his writing as an illustration of the pragmatic coupling of icon and index«. Ebenda, S. 34. Vgl. auch Elkins 2007 (wie Anm. 4), S. 131. 20 Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv [frz. 1983]. Übers. v. Dieter Hornig, hrsg. v. Herta Wolf. Amsterdam u. Dresden, 1998, S. 65f. 21 Maurer-Horak, Ruth: »Vorwort«. In: Hofleitner, Johanna; Horáková, Tamara; Maurer, Ewald; Maurer-Horak, Ruth (Hg.): Image:/images. Positionen zur zeitgenössischen Fotografie. Wien, 2001, S. 11-16, hier S. 12. 22 Zu wichtigen, jüngeren Revisionsansätzen siehe Elkins 2007 (wie Anm. 4), S. 129-203.
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stoßen könnte und uns keine andere Möglichkeit ließe, als diese unübersteigbare Evidenz zu konstatieren«.23 Ebendies ist, wie die Beiträge dieses Bandes anschaulich belegen, nicht der Fall. Wer nun die ikonischen Aspekte von Fotografie stärker ins Spiel bringen will, ist gut beraten, zu klären, was denn dies meint: Ikonizität, zumindest wenn es nicht darum gehen soll, den Begriff der Ikonizität im Sinne jener »Allzweckkategorie« in Anschlag zu bringen, als welche Umberto Eco ihn 1975 in seiner Kritik der Ikonizität ausgemacht hat, eine Kategorie, in der, so Eco, »viele Phänomene untergebracht« würden, »so wie im Mittelalter das Wort ›Pest‹ vermutlich eine Menge verschiedener Krankheiten bezeichnete«.24 Nicht der schlechteste Weg hierzu ist es, sich noch einmal die Peirceschen Überlegungen zum Ikon ins Gedächtnis zu rufen. Peirce fasste das Ikon ja als jene Zeichenart auf (worauf uns auch Dubois hingewiesen hat), die auf »Ähnlichkeit«25 beruhe, wobei er – dies sei nachdrücklich betont – Zeichen definierte als etwas, das für jemanden für etwas stehe.26 Peirce ging mithin von einer triadischen, nicht von einer zweigliedrigen Zeichenrelation aus: Etwas ist nicht ein Zeichen (gleich ob Ikon oder Index), sondern etwas wird für jemanden zum Zeichen; nichts sei ein Zeichen, so Peirce, wenn es nicht als Zeichen interpretiert werde.27 Dies gilt in besonderer Weise für das Ikon, das, anders als der Index, keine existentielle Referenz zu seinem Objekt aufweist, das mithin nichts denotiert: »Das Ikon steht nicht eindeutig für dieses oder jenes existierende Ding, wie dies der Index tut. Sein Objekt kann, was seine Existenz angeht, eine reine Fiktion sein.«28 Mit Umberto Eco lässt sich sagen, dass ein
23 Dubois (1983) 1998 (wie Anm. 20), S. 86. »If indexicality and iconicity are inseparably bund together within the photograph, we must ask what is at stake in the move to suppress one of these terms so as to promote the other. [...] Clearly one response to this crisis is to attempt to deny the importance of indexicality to an understanding of the photograph and to stress instead its iconicity or, more preferably, its reading as ›a picture‹.« Green 2007 (wie Anm. 17), S. 246. 24 Eco, Umberto: »Kritik der Ikonizität« [ital. 1975]. In: Ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Hrsg. v. Michael Franz u. Stefan Richter. Leipzig, 1989, S. 54-88, hier S. 76 u. 87. 25 Peirce (1893) 2000 (wie Anm. 13), S. 193. 26 »A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity.« Hartsthorne, Charles; Weiss, Paul (Hg.): Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Bd. VII. Cambridge, 1958, Nr. 2.228. 27 Siehe Peirce 1958 (wie Anm. 26), Nr. 2.308. 28 Peirce, Charles S.: »Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus«. In: Ders.: Semiotische Schriften. Bd. 3. Hrsg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape. Frankfurt a.M., 2000, S. 132-192, hier S. 136.
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Ikon ein Zeichen ist, »das seinem Gegenstand nicht deshalb ähnelt, weil es ihn reproduziert«,29 sondern weil es, wie Peirce selbst formuliert, »eine Idee wachruft, die naturgemäß mit der Idee verbunden ist, die das Objekt hervorrufen würde«,30 für welches das Ikon ein Zeichen ist.31 Nicht die bildliche Darstellung und ihr Objekt sind demnach ähnlich, sondern das, was Peirce »eine Idee« des Objekts und »eine Idee« der bildlichen Darstellung nennt; an anderer Stelle schreibt er auch statt von »Idee« sehr viel treffender vom Ikon als einem »Vorstellungsbild«.32 Das in der sprachanalytischen Philosophie viel zitierte Bild eines Einhorns ist also nicht unbedingt einem Einhorn ähnlich, sondern dem Vorstellungsbild, das wir von einem Einhorn haben. Will man nun eingedenk eines solchen pragmatischen IkonBegriffs der Ikonizität des fotografischen Bildes – die wir mit Eco nunmehr als jenen Modus der »Zeichen-Erzeugung«33 auffassen können, für den die ›Ähnlichkeit‹ von ›Vorstellungsbildern‹ eine »konstitutive Bedingung«34 ist – fototheoretisch gerecht(er) werden, muss es gelten, dort anzusetzen, wo der Index gleichsam »endet«, denn dieser, so Dubois, »endet mit dem das ist gewesen, das er nicht zu einem das besagt auffüllt«.35 Immerhin zeigen Fotografien
29 Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte [ital. 1973]. Übers. v. Günter Memmert. Frankfurt a.M., 1977, S. 66. 30 Peirce, Charles S.: »Kurze Logik. Kapitel I« [1895]. In: Peirce 2000 (wie Anm. 13), S. 202-229, hier S. 205. 31 Bei den Ikons sei »deren Relation zu ihren Objekten eine einfache gemeinsame Teilhabe an einer Qualität [...] und diese Darstellungen kann man Ähnlichkeiten nennen«. Peirce, Charles S.: »Eine neue Liste der Kategorien« [1867]. In: Peirce 2000 (wie Anm. 13), S. 147-159, hier S. 155. 32 »Strenggenommen«, so Peirce, sei es nicht die bildliche Darstellung von etwas, sondern das »Vorstellungsbild im Bewusstsein, das ein Ikon« sei. Peirce, Charles S.: »Kategoriale Strukturen und graphische Logik (H)«. In: Ders.: Semiotische Schriften. Bd. 2. Hrsg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape. Frankfurt a.M., 2000, S. 98-165, hier S. 113: »Ein reines Ikon kann nur in der Phantasie existieren, wenn es streng genommen überhaupt existiert. […] Jedes materielle Bild, wie z.B. ein Gemälde, repräsentiert sein Objekt hauptsächlich auf konventionelle Art und Weise.« Peirce 1983 (wie Anm. 17), S. 64. 33 Eco (1975) 1989 (wie Anm. 24), S. 88. Vgl. auch Eco (1973) 1977 (wie Anm. 29), S. 67. Siehe auch Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute [2005]. 2. Aufl. München, 2006, S. 49-54. 34 Eco (1975) 1989 (wie Anm. 24), S. 83. 35 Dubois (1983) 1998 (wie Anm. 20), S. 88 (Herv. L.B.). Ingrid Hölzl hat dies sehr genau benannt: »Der ›blinde Fleck‹ der Indextheorie liegt in ihrer Definition der Fotografie als Autografie, als Selbst(ein)schreibung des Refe-
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Abb. 1: Ralph Bartholomew Jr., ohne Titel, 1954 nicht nur, frei nach Barthes, deiktisch auf etwas Gewesenes wie ein Finger auf einen Gegenstand; sie führen zugleich etwas vor Augen, das sich unserer Interpretation überantwortet – und dabei bisweilen ein ganz eigenes Dasein zu gewinnen vermag: eine eigene Bildwirklichkeit.
Bildwirklichkeiten Den Einband dieses Buches ziert eine Fotografie (Abb. 1). Sie zeigt einen aufwendigen, von ausgeklügelter Lichttechnik überwölbten Kulissenbau im Stil eines amerikanischen Diners. Man könnte sich an einem Filmset wähnen: Kabel winden sich über den Fußboden, ein Stativbein ragt ins Bildfeld, Darsteller verkörpern Personal und Restaurantgäste im Moment eines bewaffneten Showdowns, ganz im Stil des Film noir der 1940er und 50er Jahre. Kein Zweifel: Das Foto zeigt eine Inszenierung, gibt diese nach Art einer Set-Aufnahme bildlich wieder. Die in ihm vermittelte Wirklichkeit scheint hingegen – so könnte man jedenfalls prima facie meinen – nicht inszeniert zu sein. renten auf den fotografischen Bildträger: [...] Die Spurenhaftigkeit oder Indexikalität der Fotografie ermöglicht zwar den Existenzbeweis des fotografierten Objekts, nicht aber dessen Signifikation.« Hölzl, Ingrid: Der au-
toporträtistische Pakt. Zur Theorie des fotografischen Selbstporträts am Beispiel von Samuel Fosso. Zugl.: Berlin, Humboldt Univ., Diss., 2007. Berlin, 2008, S. 122 u. 128f.
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Doch diese Annahme ist ein Trugschluss. Denn das Bild ist 1954 vom amerikanischen Werbefotografen Ralph Bartholomew Jr. für eine (vermutlich niemals realisierte)36 Anzeigenkampagne für Eastman Kodak angefertigt worden. Somit wurde hier nicht beiläufig die Mise en scène eines ›Kriminalstücks‹ fotografiert, sondern die Inszenierung wurde aufwendig inszeniert, so tautologisch dies klingen mag. Wenn denn unter dem ubiquitären Schlagwort von der ›Inszenierten Fotografie‹ zu verstehen sein soll, dass eine, wie es in der für das Thema einschlägigen Sekundärliteratur heißt, »Bildidee«37 in einer »szenische[n] Ausstattung«38 unter Einsatz von »Schauspielern, Kostümen, Licht, Requisiten usw.«39 umgesetzt werde, dann wird man Bartholomews Foto wohl tatsächlich als inszeniert zu bezeichnen haben. Denn die Wirklichkeit wurde mit dieser Fotografie nicht bloß abgelichtet, sondern zum Zwecke ihrer fotografischen Ablichtung allererst hervorgebracht, eben inszeniert.40 Das Foto, genauer: die Umstände seiner Produktion lösen folglich durchaus ein, was der amerikanische Fotohistoriker A.D. Coleman bereits 1976 zum Hauptkriterium ›Inszenierter Fotografie‹ erhoben hat, als er schrieb: »Hier erzeugt der Fotograf bewußt und intentional Ereignisse aus dem einzigen Grund, davon Bilder zu machen. 36 Trotz umfangreichster Recherchen war es mir leider nicht möglich, eine entsprechende Anzeige aufzufinden. So muss es weiteren Forschungen vorbehalten bleiben, diese Frage endgültig zu klären. 37 Vogel, Fritz Franz: The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005. Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 2005. Köln, Weimar u. Wien, 2006, S. 30; Köhler, Michael: »Arrangiert, konstruiert und inszeniert – vom Bilder-Finden zum Bild-Erfinden«. In: Ders. (Hg.): Das konstruierte Bild. Fotografie – arrangiert und inszeniert. Kilchberg u. Zürich, 1989, S. 15-46, S. 15. Vgl. Walter, Christine: Bilder erzählen! Positionen
inszenierter Fotografie: Eileen Cowen, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood. Zugl.: München, Univ., Diss., 2001. Weimar, 2002, S. 60. 38 Walter 2002 (wie Anm. 37), S. 61. Vgl. Weiermair, Peter: »Zum Problem der inszenierten Fotografie im 19. und 20. Jahrhundert. Wechselwirkung zwischen Kunst und Fotografie«. In: Alte und neue Kunst, Jg. 30, Heft 200, Innsbruck, 1985, S. 28-37, hier S. 29. Bezüglich einer möglichen Binnendifferenzierung zwischen ›inszenierender‹ und ›inszenierter‹ Fotografie siehe Vogel 2006 (wie Anm. 37), S. 30. 39 Walter 2002 (wie Anm. 37), S. 61. Vgl. Hefting, Paul: »Les Souvenirs d’Art«. In: Ausst.-kat. Groningen Museum: Fotografia Buffa. Staged Photography in the Netherlands. Oktober bis November 1986 (Red.: Poul ter Hofstede). Groningen, 1986, S. 66-69, hier S. 67. 40 »The contexts of the photographs have no function except to be photographed.« Edward, Kathleen A.: »Melodrama and Photography«. In: Dies. (Hg.): Acting Out. Invented Melodrama in Contemporary Photography. Iowa City, 2005, S. 6-16, hier S. 16.
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Dies kann geschehen, indem er in den Verlauf ›realer‹ Ereignisse eingreift oder indem er Tableaus stellt – auf jeden Fall geschieht etwas, das ohne die Beteiligung des Fotografen nicht geschehen würde.«41 Wie gesagt: Dieses Kriterium scheint auch auf Bartholomew zuzutreffen – und doch liegt der Fall bei ihm noch deutlich komplizierter.
Abb. 2: Ralph Bartholomew Jr., ohne Titel, 1954 Denn im Katalogbuch Retail Fictions. The Commercial Photography of Ralph Bartholomew Jr. aus dem Jahr 1998 findet sich diese Fotografie in einem deutlich anderen Bildausschnitt abgedruckt (Abb. 2).42 Das gemäßigte Querformat ist hier in ein geradezu cinemaskopisches Breitwandformat überführt, wobei leider ungeklärt bleiben muss, ob dieses Format einem Bildausschnitt entspricht, wie er womöglich für die Werbeanzeige vorgesehen gewesen sein mag. Wie auch immer, beiden Bildern liegt die gleiche Fotografie zugrunde – und doch zeigt jedes der Bilder eine jeweils andere Wirklichkeit: hier einen Blick auf die Szenerie (Abb. 1), dort einen Blick in die Szene (Abb. 2). In der beschnittenen Variante sehen wir nicht mehr den Set einer Diner-Szene (nicht mehr eine Inszenierung, genauer: nicht mehr die Mise en scène), sondern die Diner-Szene selbst (also das Inszenierte). Das Bild wirkt, als handelte es sich um einen Still aus jenem Gangsterfilm, von dem wir beim Blick auf die Szenerie noch annahmen, dass er allenfalls das Modell für die werbefotografische Mimikry abgegeben habe, ganz im Sinne Marshall McLuhans, der 1964 über die Werbefotografie der 50er Jahre lamentierte, »that all ads in magazines and the press had to look like scenes from a mo-
41 Coleman, A.D.: »Inszenierende Fotografie. Annäherung an eine Definition« [amerik. 1976]. In: Kemp, Wolfgang (Hg.): Theorie der Fotografie III. 19451980 [1983]. Neudruck. München, 1999, S. 239-243, hier S. 241. 42 Siehe Wride, Tim B. (Hg.): Retail Fictions. The Commercial Photography of Ralph Bartholomew Jr. Los Angeles, 1998, Tf. 99.
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vie«.43 Kurzum: Wir vermeinen in diesem zweiten Bild nicht mehr (wie noch eingangs angesichts des großzügigeren Bildausschnitts) die Set-Wiedergabe einer Filmproduktion zu sehen und auch nicht mehr (wie sodann im Bewusstsein des werbefotografischen Entstehungskontextes) die Nachempfindung eines solchen Film-Sets zum Zwecke ihrer fotografischen Ablichtung; wir vermeinen vielmehr das Standbild beziehungsweise eine Produktionsaufnahme eines Kriminalfilms zu sehen.44 Wenn also Susan Sontag 1977 in ihrer notorischen Essaysammlung Über Fotografie bemerkte, »Fotografien schildern Wirklichkeiten, die bereits existieren«,45 und wenn sie weiterhin annahm, ein »gefälschtes Foto« würde »die Wirklichkeit«46 verfälschen (siehe hierzu sogleich noch das Fallbeispiel William H. Mumler), dann wird man angesichts der Aufnahme Bartholomews ergänzen müssen, dass Fotos Wirklichkeiten nicht nur zu »schildern« oder zu »verfälschen« vermögen, sondern sich mit ihnen Wirklichkeiten auch entwerfen lassen, Wirklichkeiten, ohne »Anspruch auf Referenzialisierbarkeit«:47 fiktive Wirklichkeiten. Nun lässt sich die Divergenz der Wirkungen unterschiedlicher Bildausschnitte ein und derselben Fotografie weder durch gängige fototheoretische Dispositive hinreichend begründen (da ›die‹ Fototheorie, wie gezeigt, von einer Fokussierung auf die Indexikalität der Fotografie geprägt ist und dies – nochmals – unter Vernachlässigung von ikonischen Aspekten), noch ist diese Divergenz durch den bloßen Verweis auf die Inszeniertheit hinreichend erfasst. Denn dem soeben dargelegten Verständnis nach erfasst der Begriff der fotografischen ›Inszenierung‹ lediglich den Modus Operandi der Bildproduktion, der Herstellung mancher Fotografien; die »Bildwirklichkeit«48 wird einem solchen Verständnis nach als deckungsgleich mit der bildvorgängigen, gleichwohl inszenierten Wirklichkeit angenom-
43 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. New York, 1964, S. 231. 44 Siehe grundlegend zu Filmstandbildern Pauleit, Winfried: Filmstandbilder – Passagen zwischen Kunst und Kino. Zugl.: Berlin, Univ. d. Künste, Diss., 2000. Frankfurt a.M. u. Basel, 2004. 45 Sontag, Susan: Über Fotografie [amerik. 1977]. Übers. v. Mark W. Rien u. Gertrud Baruch. 13. Aufl. Frankfurt a.M., 2002, S. 118. 46 Sontag (1977) 2002 (wie Anm. 45), S. 85 u. 166. 47 Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart, 1975, S. 18. 48 Brock, Bazon: »Fotografische Bilderzeugung zwischen Inszenierung und Objektivation« [1972]. In: Kemp (1983) 1999 (wie Anm. 41), S. 236-239, hier S. 237. Vgl. Honnef, Klaus: »Die Welt als Vorstellung - Die Vorstellung als Welt«. In: Kunstforum International, Bd. 84, Ruppichterroth, Mai bis Juli 1986, S. 72-183, hier S. 72.
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men, mithin als bloßes Abbild eines »außerbildlichen Geschehens«49 aufgefasst, das vor dem Kameraobjektiv stattgefunden hat. In dieser Logik müssten sich ›Inszenierte Fotografie‹ und die sogenannte ›Dokumentarische Fotografie‹ – gerade wegen des Tertium Comparationis der ›Wiedergabe‹ bildvorgängiger Wirklichkeit – komplementär zueinander verhalten.50 Denn während im Fall der ›Dokumentarischen Fotografie‹ dem landläufigen Verständnis nach die »außerbildliche Realität«51 oder sagen wir neutraler: die bildvorgängige Wirklichkeit weitgehend unabhängig vom Akt des Fotografierens existiert, besteht Wirklichkeit in der ›Inszenierten Fotografie‹, wie Michael Köhler schreibt, »allein vor der Kamera«,52 und man muss Köhler ergänzen: allein für die Kamera.53 Folglich haben beide, die ›Inszenierte Fotografie‹ wie auch die ›Dokumentarische Foto-
49 Keppler, Angela: »Fiktion und Dokumentation. Zur filmischen Inszenierung von Realität«. In: Wulf, Christoph; Zirfas, Jörg (Hg.): Ikonologie des Performativen. München, 2005, S. 189-200, hier S. 190. 50 Es ist allerdings mitnichten so, dass ›Dokumentationen‹ frei von – hier freilich nicht theaterwissenschaftlich aufzufassenden – Inszenierungen wären. Fast unnötig darauf hinzuweisen, dass Fotos natürlich niemals die Wirklichkeit wiedergeben, wie sie ist, sondern allenfalls Aspekte einer Wirklichkeit. Siehe hierzu auch Seel, Martin: »Fotografien sind wie Namen« [1995]. In: Ders.: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt a.M., 1996, S. 82-103, hier S. 92. Entsprechend existieren Trennungsunschärfen und fließende Übergänge zwischen ›dokumentarisch‹ und ›inszeniert‹. Siehe hierzu auch Schultz, Tanjev: »Alles inszeniert und nichts authentisch? Visuelle Kommunikation in den vielschichtigen Kontexten von Inszenierung und Authentizität«. In: Knieper, Thomas; Müller, Marion G. (Hg.): Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten. Köln, 2003, S. 10-24; Holschbach, Susanne: »Im Zweifel für die Wirklichkeit – Zu Begriff und Geschichte der dokumentarischen Fotografie«. In: Grebe, Stefanie; Schneider, Sigrid (Hg.): Wirklich Wahr! Realitätsversprechen von Fotografien. Ostfildern-Ruit, 2004, S. 2330. 51 Keppler 2005 (wie Anm. 49), S. 191. 52 Köhler 1989 (wie Anm. 37), S. 15. 53 Manfred Schmalriede spricht von einer »inszenierte[n] Wirklichkeit«. Schmalriede, Manfred: »Inszenierte Wirklichkeit«. In: Ausst.-kat. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund: Inszenierte Wirklichkeit. 4. November bis 30. Dezember 1989 (Ausst. u. Kat. Kurt Wettengl). Dortmund, 1989, S. 5-12, hier S. 6. Renate Wiehager wiederum führt den Begriff der »›erfundenen‹, im Foto dokumentierten ›Wirklichkeiten‹« an. Damisch-Wiehager, Renate: »Vorwort«. In: Schmalriede, Manfred (Hg.): 2. Internationale Foto-Triennale Esslingen 1992. Erfundene Wirklichkeiten. Stuttgart, 1992, S. 9-12, hier S. 9. Nochmals: Über eine Bildwirklichkeit, die sich gegebenenfalls von der wie auch immer gearteten, vor der Kamera statthabenden Wirklichkeit unterscheidet, ist mit diesen Begriffen noch nichts gesagt.
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grafie‹ ihren Referenten in der, mit Rudolf Arnheim gesprochen, »wirkliche[n] Wirklichkeit«,54 sie referenzieren jeweils auf das, mit Barthes, »buchstäblich Wirkliche«.55 Und doch kann es, wird man angesichts des Beispiels Bartholomew eingestehen müssen, neben der fotografisch wiedergegebenen »wirklichen Wirklichkeit« (und sei diese auch inszeniert) auch eine andere, eine ausschließlich diegetische Wirklichkeit geben.
Abb. 3: William Lake Price, Don Quixote in His Study, 1857 Indem ich den in der Kunstgeschichte längst einschlägigen,56 indes ursprünglich aus der Filmwissenschaft stammenden Begriff der Diegese an dieser Stelle einführe, beziehe ich mich auf Überlegungen, die der Filmwissenschaftler Etienne Souriau 1951 bezüglich
54 Arnheim, Rudolf: »Die beiden Authentizitäten der photographischen Medien« [1993]. In: Ders.: Die Seele der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk. Hrsg. v. Helmut H. Diederichs. Frankfurt a.M., 2004, S. 56-63, hier S. 56. 55 Barthes, Roland: »Die Fotografie als Botschaft« [frz. 1961]. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn [frz. 1982]. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a.M., 1990, S. 11-27, hier S. 12. 56 Siehe Kemp, Wolfgang: »Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz«. In: Belting, Hans; Dilly, Heinrich; Kemp, Wolfgang; Sauerländer, Willibald; Warnke, Martin (Hg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung. Berlin, 1986, S. 241-258, hier S. 247.
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der Struktur des filmischen Universums angestellt hat.57 Souriau argumentierte dafür, all das als diegetisch zu bezeichnen, was im Film (und wir dürfen analogisieren: im Foto) dargestellt sei »und was zur Wirklichkeit« gehöre, die der Film beziehungsweise das Foto »in seiner Bedeutung voraussetzt«; als da wäre: »Alles, was die Diegese betrifft, d.h. alles, was sich laut der vom Film [und laut der vom Foto] präsentierten Fiktion ereignet und was sie implizierte, wenn man sie als wahr ansähe«.58 Wir werden auf den uns hier (etwas beiläufig) begegnenden Begriff der Fiktion sogleich zurückkommen, wollen aber zuvor festhalten, dass mit ›Diegese‹ »das raumzeitliche Universum der Erzählung« (in unserem Fall: die Wirklichkeit des Dargestellten, nicht des Darstellenden) gemeint ist und mit ›diegetisch‹ »das, was zur Geschichte gehört, sich auf sie bezieht«.59 Allerdings ist mit einer Begriffsübertragung auf die Fotografie mindestens ein Vorbehalt verbunden: Denn mit dem Begriff der Diegese verbindet sich nicht zwangsläufig eine »Erzählung« oder »Geschichte«, sondern zunächst einmal lediglich eine bildimmanente Wirklichkeit (gleichwohl zu fragen wäre, wann dies der Fall ist: dass Fotos Geschichte erzählen – und eben u.a. dieser Frage geht der vorliegende Band nach). Veranschaulichen wir uns – bevor sogleich die Frage nach Fiktion und Narration in der Fotografie angegangen werden soll – die Divergenz zwischen einer fotografisch vermittelten buchstäblichen Wirklichkeit und einer fotografisch erzeugten Bildwirklichkeit noch einmal an einem anderen Bildbeispiel: William Lake Prices Albuminabzug Don Quixote in His Study aus dem Jahr 1857 (Abb. 3). Indexikalisch referenziert das Bild zwar auf eine Wirklichkeit, die einmal stattgefunden hat, eine »buchstäbliche Wirklichkeit«, nämlich auf einen Mann, der in einer mit diversen Gegenständen gefüllten Raumecke im Lehnstuhl sitzt. Das Foto gibt einen Aspekt einer faktualen Wirklichkeit wieder, es bildet diesen Aspekt ab. Es denotiert (wenn man, wie gesagt, gewillt ist, die sprachphilosophische Axiomatik auf Bilder zu übertragen) den Darsteller des »Hidalgo de la triste figura«, aber nicht Don Quixote selbst. Denn Don Quixote kann nicht denotiert werden, wie sich mit Nelson Goodman sagen lässt: »Gemalte oder geschriebene [und wir ergänzen: fotografische] Schilderungen von Don Quixote [...] denotieren Don Quixote nicht – 57 Siehe Souriau, Etienne: »La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie«. In: Revue internationale de Filmologie, Jg. 2, Nr. 7-8, Paris, 1951, S. 231-240, dt.: Ders.: »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie« [frz. 1951]. In: montage/av, Jg. 6, Nr. 2, 1997, S. 140-157. 58 Souriau (1951) 1997 (wie Anm. 57), S. 151 u. 156. 59 Genette, Gérard: Die Erzählung. Übers. v. Andreas Knop. 2. Aufl. München, 1998, S. 313.
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der nicht denotiert werden kann, weil es ihn einfach nicht gibt.«60 Doch nimmt das Foto hier dennoch nicht ausschließlich Bezug auf die fotografisch fixierte, einstmalige, buchstäbliche, faktuale Wirklichkeit, sondern es stellt zugleich etwas dar, das sich mit dem Denotierten nicht deckt: eben Don Quixote. Don Quixote wird nicht als reale Person denotiert, das heißt unmittelbar abgebildet, sondern es wird – wie auch in der Malerei – die fiktive Figur Don Quixote ikonisch konnotiert, eine Figur, wie sie durch den Bildtitel (der sich im Übrigen auf dem Original-Passepartout des Abzugs angegeben findet), aber auch durch die Diegese aufgerufen wird. Kurzum: Indexikalisch gibt das Foto etwas wieder, das einstmals stattgefunden hat, ikonisch aber stellt es etwas dar, das es nicht zwangsläufig geben muss und im vorliegenden Fall auch niemals gegeben hat: Don Quixote.61 Eine solche Divergenz zwischen ›wirklicher‹ und diegetischer Wirklichkeit findet sich bei Barthes zwar immerhin bedacht, für die Fotografie aber als unmöglich beschieden. Denn zwar könne beispielsweise die Malerei, so Barthes, »eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben«, aber »anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist.«62 Gewiss, etwas muss dagewesen sein, eine reale Sache oder eine tatsächliche Person, ein Darsteller, der den Don Quixote verkörpert – und dies ist schlichtweg nicht zu übersehen. Wohl aber muss, wenn der Malerei das Potential zu fingieren zugestanden wird, auch der Fotografie zugestanden werden, Realität fingieren zu können, »ohne sie gesehen zu haben«, schließlich hat, um Barthes zu paraphrasieren, die Fotografie den spanischen Edelmann, der sich bei Price ganz unverkennbar dargestellt findet, niemals »gesehen«. Er ist niemals »da gewesen«. Und doch stellt das Foto Cervantes’ fiktive Romanfigur dar. Wäre dem nicht so, müsste auch ein Standbild aus Peter Yates’ Spielfilm Don Quixote (Abb. 4) ausschließlich die Schauspieler John Lithgow und Bob Hoskins bei der Arbeit zeigen, nicht aber die beiden Protagonisten der (fast überflüssig zu betonen) fiktiven Spielfilmhandlung.63 60 Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung [amerik. 1978]. Übers. v. Max Looser. Frankfurt a.M., 1990, S. 128. 61 Zum Problem der Bezugnahme bei Fiktionen und »Repräsentationen-als« siehe auch Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie [amerik. 1968]. Übers. v. Bernd Philippi. Frankfurt a.M., 1995, S. 31-37. 62 Barthes (1980) 1989 (wie Anm. 3), S. 86. 63 Es sei nicht verschwiegen, dass Jörg Huber auf einen zentralen Unterschied zwischen Standbildern und Film hingewiesen hat: »Die Unmittelbarkeit des Erlebnisses im Kinosaal und der durch die filmische Bewegung simulierte ›live‹ Aspekt treten zurück zugunsten der Darstellung, des Vorzeigens. Die
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Abb. 4: Don Quixote (Standbild), USA, 2000, Regie: Peter Yates In diesem Zusammenhang ist es höchst erstaunlich, dass Barthes die Konsequenzen nicht weiter bedacht hat, die sich für seine Überlegungen aus einem von ihm selbst gezogenen Vergleich ergeben. Um die Besonderheit des »Ça-a-été«64 der Fotografie hervorzuheben, stellte er einen Vergleich zum Film an, »denn beim (fiktionalen) Film« würde »das ›Es-ist-so-gewesen‹ des Schauspielers und das seiner Rolle«65 vermengt. Der fiktiven Figur und damit allen Ereignissen in der filmischen Handlung (sprich: in der Diegese) müsste nach Barthes also ebenfalls ein »Es-ist-so-gewesen« zukommen.66 Wenn dem im Film aber so sein soll, dann fragt sich, warum es eine
Figuren lösen sich aus dem Handlungszusammenhang und verweisen auf sich selbst. Sie zeigen ihr Zeigen. In ihrem Gestelltsein stellen sie sich dem Blick, der Aneignung der Bildbetrachtenden zur Verfügung [...].« Huber, Jörg: »The Big Sleep und das Erwachen. Standbild und ›staged photography‹: Aspekte gestellter Fotografie«. In: Hürlimann, Annemarie; Müller, Alois Martin (Hg.): Films Stills. Emotions Made in Hollywood. OstfildernRuit, 1993, S. 61-62, hier S. 61. 64 Barthes 1980 (wie Anm. 5), S. 120 u. 124. 65 Barthes (1980) 1989 (wie Anm. 3), S. 89. Barthes bezog diese »Vermengung« des »Es-ist-so-gewesen« auf das, was er »zwei Posen« nannte, er schreibt auch von einer »›posierende[n] Haltung‹«. Laut Barthes nehme man, sobald man sich des Fotografiertwerdens bewusst werde, automatisch eine solche posierende Haltung ein und verwandele sich »im Voraus zum Bild«. Gleiches gelte für den Schauspieler im Film, nur dass bei, wie Barthes selbst sagt, »fiktionalen« Filmen das Posieren des Dargestellten hinzukomme. Barthes (1980) 1989 (wie Anm. 3), S. 19. Siehe auch Barthes (1961) 1990 (wie Anm. 55), S. 17f. 66 Nebenbei bemerkt scheint es mir sinnvoll, die deutsche Übersetzung von »Ça-a-été« in »Dies-ist-gewesen« zu ändern, um den deiktischen Aspekt dieser Formel noch deutlicher zu machen. In einer solchen Übersetzung zitiere ich Barthes denn auch in meinem Beitrag Bayards Leichnam in diesem Band.
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solche »Vermengung« prinzipiell (und das heißt nicht unbedingt: in gleicher Weise) nicht auch in der Fotografie geben können soll. Es stellt sich damit folgende Frage: Wenn sich im Spielfilm Don Quixote das »Es-ist-so-gewesen« der Schauspieler John Lithgow und Bob Hoskins mit dem »Es-ist-so-gewesen« der dargestellten Figuren Don Quixote und Sancho Panza »vermengt«, warum soll dies dann nicht auch in Prices fotografischer Aufnahme und vor allem in Bartholomews Diner-Szene der Fall sein können? Eine Antwort auf derartige Fragen bleibt Barthes in Die Helle Kammer schuldig. Sie deutet sich aber in seinem Essay Rhetorik des Bildes aus dem Jahr 1964 an. In diesem sieht Barthes einen »grundsätzlichen Gegensatz« zwischen Fotografie und Film darin begründet, dass Erstere einen vergangenen Augenblick festhalte, während Letzterer ein bildliches Geschehen vergegenwärtige. Im fiktionalen Film verschwinde »das Dagewesensein zugunsten eines Daseins der Sache«.67 Dass Barthes dem Foto eine dem Film analoge Möglichkeit des »Daseins« einer Sache absprach, dürfte wohl daran gelegen haben, dass er lediglich fotografische Bilder in seinen Erwägungen bedachte, die einen im weitesten Sinne ›dokumentarischen‹ Charakter haben – und damit vornehmlich auf Vergangenes referenzieren. Anders formuliert: Barthes begriff Fotografie ausschließlich vom »Dagewesensein« der in ihr wiedergegebenen Sache her, klammerte dabei aber jene Bildpraxis und Bildpragmatik aus, die es in der Fotografie immer schon gegeben hat: die fotografische Fiktion.
Fiktion und Narration Aus alltäglicher Erfahrung, etwa von der Lektüre des Cervantes-Romans oder vom Anschauen des Spielfilms Don Quixote, ist uns vertraut, dass fiktionale Texte und fiktionale Filme wahrgenommen werden wollen, als ob sie eine Wirklichkeit wiedergeben. Gleichwohl ist diese vermeintliche Wiedergabe natürlich keine täuschende, andernfalls es sich eben nicht um Fiktion, sondern um Täuschung oder Trug handeln würde. Fälle fotografischen (Be-)Trugs sind uns heute gewiss geläufig; weniger geläufig ist vielleicht, dass sie bereits in der Frühzeit der Fotografie begegnen. Man denke lediglich an den Fall des Pioniers der Geisterfotografie,68 William Howard Mumler, 67 Barthes, Roland: »Rhetorik des Bildes« [frz. 1964]. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn [frz. 1982]. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a.M., 1990, S. 28-46, hier S. 40. 68 Siehe hierzu grundlegend Cloutier, Crista: »Mumler’s Ghosts«. In: Apraxine, Pierre; Canguilhem, Denis; Chéroux, Clément; Fischer, Andreas; Schmit, Sophie (Hg.): The Perfect Medium. Photography and the Occult.
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Abb. 5: William H. Mumler, Master Herrod and his double, ca. 1870 der seit März 1869 ein prosperierendes Fotostudio am New Yorker Broadway betrieb und dort fotografische Porträts mit Geisterapparitionen anbot (Abb. 5). Mumler gab vor, eine unsichtbare, aber existente Wirklichkeit fotografisch visualisieren zu können, woraufhin er im April 1869 des Betrugs angeklagt und unter reger Anteilnahme von Öffentlichkeit und Presse der Prozess eröffnet wurde. Die Anklage wurde seinerzeit von der New York Daily Tribune auf den Punkt gebracht, als sie rapportierte: »The specific charge against Mumler is that by means of what he termed spiritual photographs, he has swindled many credulous persons, his representations leading the victims to believe that by means of communication with the spirit land, it was possible not only to bring back the departed spirit, but to photograph their immaterial forms […].«69 In der teilweise polemisch, bisweilen auch wechselseitig missionierend geführten öffentlichen Kontroverse um Echtheit und Fälschung der Mumlerschen Geister-
New Haven u. London, 2004, S. 20-23, hier S. 20; Leja, Michael: »Mumler’s Fraudulent Photographs«. In: Ders.: Looking Askance. Skepticism and American Art. From Eakins to Duchamp. Berkeley, Los Angeles u. London, 2004, S. 21-58; Kaplan, Louis: The Strange Case of William Mumler Spirit Photographer. Minneapolis, 2008. 69 Anonym: »Spiritualism in Court«. In: New York Daily Tribune, 22. April 1869, S. 2, hier zit. in. Kaplan 2008 (wie Anm. 68), S. 185f.
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Fotos standen sich, wie Louis Kaplan es jüngst formuliert hat, »the rational forces of the scientific faithful« und »the supernatural believe in the wonders of spirit photography«70 unversöhnlich gegenüber. Dabei lieferten die unzähligen, ausnahmslos erfolglosen Versuche, Mumler über eine intensive Inspektion seiner Technik auf die Schliche zu kommen, den Spiritualisten die besten Argumente dafür, dass, wo keine technische Manipulation nachzuweisen sei, auch kein Betrug vorliegen könne. Schlussendlich sah sich denn auch der vorsitzende Richter, John Dowling, gegen seine eigene Überzeugung gezwungen, Mumler aus Mangel an Beweisen freizusprechen, da diesem, so die Urteilsbegründung, der Betrug technisch nicht nachzuweisen sei.71 Aus dem Fall Mumler hat Jennifer Mnookin eine überaus aufschlussreiche Konsequenz gezogen: »The tremendous variation in the understanding of these images as constituting proof of ghosts, proof of fraud, or no proof at all reminds us that we cannot assume that a photograph has a singular and unproblematic meaning.«72 Gleich nun, welche Bedeutung Mumlers Geisterfotos damals zugeschrieben wurde, und gleich, ob sie als täuschend oder authentisch angesehen wurden, als eines hat man sie offenkundig nicht aufgefasst: als fiktional. Denn im Fall von Fiktionen scheint die in ihnen zur Anschauung gelangende Wirklichkeit zwar als solche binnenlogisch überzeugend zu sein, sie steht aber immer unter dem »Vorzeichen« ihres »Fingiertseins«.73 Anders als Täuschungen verdanken sich Fiktionen also gerade des (gleichsam wohlwollenden) Gewahrseins der Fiktivität der in ihnen zur Anschauung gelangenden Wirklichkeiten, andernfalls sie nicht als Fiktionen, sondern als Fakten, nicht als fiktive Wirklichkeiten, sondern als faktuale (oder auch vorgetäuschte) Wirklichkeiten aufgefasst würden. In Bartholomews Diner-Szene (Abb. 2) beispielsweise wird ein Geschehen ansichtig (ein bewaffneter Showdown), das offenkundig »nie oder nie so stattgefunden hat«74 und wohl im Regelfall auch nicht wahrgenommen wird, als habe es tatsächlich stattgefunden, 70 Kaplan 2008 (wie Anm. 68), S. XVI. 71 Vgl. auch Kaplan 2008 (wie Anm. 68), S. 27. 72 Mnookin, Jennifer: »The Image of Truth: Photographic Evidence and the Power of Analogy«. In: Yale Journal of Law and Humanities, Jg. 10, Nr. 1, New Haven, 1998, S. 1-74, hier S. 30. 73 Iser, Wolfgang: »Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text«. In: Henrich, Dieter; Iser, Wolfgang (Hg.): Funktionen des Fiktiven. München, 1983, S. 121-151, hier S. 139. 74 Keppler 2001 (wie Anm. 49), S. 14. Vgl. auch Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivi-
tät, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1999. Berlin, 2001, S. 14.
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obgleich das Foto, gerade weil es als Foto wahrgenommen wird, gewissermaßen noch am »Versprechen indexikalischer Referentialität«75 parasitiert, mit der Folge wiederum, dass es dieses Geschehen wiederzugeben scheint. Ich möchte vorschlagen, diese eigentümliche Wirkungsweise als fotografische Fiktion und derartige Bilder als fiktionale Fotos zu bezeichnen. Ihre Bezeichnung als fiktional meint gleichwohl nicht, dass das Foto an sich fiktional ist, das wäre Unsinn, ebenso wenig ist ein Spielfilm an sich fiktional.76 Und überdies wird mit dem Begriff der fotografischen Fiktion auch keine »gattungskonstitutive Kategorie«77 eröffnet, sondern eine bildpragmatische Konstellation benannt, die sich zuallererst im Zusammenspiel von Bild, Bildkontext und Bildlektüre einstellt. Entsprechend ist die Fiktionalität eines Fotos und die Fiktivität78 seiner Diegese nicht an
75 Wortmann, Volker: »Die Magie der Oberfläche. Zum Wirklichkeitsversprechen der Fotografie«. In: Grebe/Schneider 2004 (wie Anm. 50), S. 11-21, hier S. 19. Mit Wortmann lässt sich sagen, dass ein Foto »immer auch gleich den Hinweis auf seine Entstehung mit sich trägt«, entsprechend sei diese Form der »Legende«, eine unsichtbare Legende, »längst stillschweigender Bestandteil unseres alltäglichen Umgangs mit fotografischen Bildern« geworden. Ders.: »Das kultische und das technische Bild. Legenden authentischer Darstellungen«. In: Berg, Jan; Hügel, Hans-Otto; Kurzenberger, Hajo (Hg.): Authentizität als Darstellung. Hildesheim, 1997, S. 132154, hier S. 135. Wortmann hat aber auch eingewandt, dass die »Evidenz« solcher »apparativ generierten Bilder« zwar »schlagend« sei, »und doch ist dieses Versprechen kein technisches, es ist ein kulturell gewordenes, der Geschichte der Fotografie sozusagen abgerungen«. Wortmann 2004 (wie oben), S. 11. 76 Es ist dabei ein gern wiederholter Unsinn, dass Bilder prinzipiell fiktional seien, bspw. wenn Kendall Walton bemerkt: »Pictures are fictions by definition.« Walton, Kendall L.: »Mimesis as Make-Believe: On the Foundations of the Representational Arts«. In: Philosophy and Phenomenological Research, Jg. 51, Nr. 2, Hoboken, 1991, S. 379-382, hier S. 351. Wer derlei behauptet, müsste a) der abwegigen Behauptung zustimmen, dass die allabendliche Nachrichtensendung im Fernsehen fiktional sei, und/oder b) eine Differenzierung zwischen der Fiktionalität des Mediums und der Fiktionalität des Mediatisierten einführen, andernfalls der Begriff der Fiktionalität seine Distinktionsfähigkeit verlöre. Siehe auch Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute [2005]. 2. Aufl. München, 2006, S. 229. 77 Keitz, Ursula von: »Vorwort«. In: Hoffmann, Kay; Keitz, Ursula von (Hg.):
Die Einübung des dokumentarischen Blicks. Fiction, Film und Non Fiction Film zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 18951945. Marburg, 2001, S. 9-14, hier S. 10. 78 Die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie siedelt die »Fiktionalität auf Ebene der Erzählung« und die »Fiktivität auf Ebene der Geschichte« an: »Fiktivität und Fiktionalität können im Hinblick auf ihre Bedeutung und ihr
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eine Ontologie der Fotografie und genauso wenig an eine »Ontologie der Fiktion«79 gebunden. Vielmehr resultiert ›Fiktion‹, wie gesagt, aus einem spezifischen Modus der Bildpragmatik,80 welche durch das Bild und/oder seinen Kontext inspiriert ist. Die Einnahme einer besonderen Rezeptionshaltung gegenüber dem Dargestellten ist demnach die »notwendige Konstitutionsbedingung«81 von Fiktionen.82 Jean-Luc Godard hat dies auf die einfache, vielleicht auch etwas vereinfachende Formel gebracht: »Der Blick macht die Fiktion.«83 Der amerikanische Philosoph Gregory Currie nennt diese fiktionskonstituierende Rezeptionshaltung auch ein »So-tun-als-ob-Spiel«,84 ein »game of make-believe«,85 wobei Spiel hier selbstredend nicht im Sinne einer infantilen Handlung, sondern eher im Sinne Johan Huizingas als »Aktivität mit einer eigenen Tendenz«86 verstanden werden sollte. ›So-tun-als-ob‹, ›Sich-glaubenmachen-dass‹ heißt, das fotografisch Dargestellte so wahrzunehmen, als ob es unmittelbar auf eine bildvorgängige Wirklichkeit referenziert, als ob ›wirkliche Wirklichkeit‹ wiedergegeben sei – indes immer im Bewusstsein der Tatsache, dass dies nicht der Fall ist.87
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jeweiliges Bezugsfeld klar unterschieden werden; sie sind jedoch eng miteinander verknüpft und bedingen sich in gewisser Weise gegenseitig.« Zipfel 2001 (wie Anm. 74), S. 165. Inwagen, Peter van: »Fiktionale Geschöpfe« [amerik. 1977]. In: Reicher, Maria E. (Hg.): Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Paderborn, 2007, S. 73-93, hier S. 74. Vgl. auch Anderegg, Johannes: »Das Fiktionale und das Ästhetische«. In: Henrich/Iser 1983 (wie Anm. 73), S. 153-172, hier S. 155. Henrich, Dieter; Iser, Wolfgang: »Die Entfaltung der Problemlage«. In: Henrich/Iser 1983 (wie Anm. 73), S. 9-14, hier S. 12: »Wo Fiktion nicht als solche verstanden werden kann, liegt sie nicht vor.« Vgl. auch Iser 1983 (wie Anm. 73), S. 138. Godard, Jean-Luc: Einführung in die wahre Geschichte des Kinos [frz. 1980]. Übers. v. Frieda Grafe u. Enno Patalas. München u. Wien, 1981, S. 127. Currie, Gregory: »Was ist fiktionale Rede?« [amerik. 1985]. In: Reicher 2007 (wie Anm. 79), S. 37-53, hier S. 41. Siehe auch Searle, John R.: »Der logische Status fiktionaler Rede« [amerik. 1974/75]. In: Reicher 2007 (wie Anm. 79), S. 21-36. Currie, Gregory: The Nature of Fiction. Cambridge, 1990, S. 70. Huizinga, Johan: Homo Ludens: Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur [1938]. Amsterdam u. Basel, 1944, S. 13. Vgl. Zipfel 2001 (wie Anm. 73), S. 248. Zipfel hat diese fiktionsspezifische Rezeptionshaltung mit Currie als »charakteristische Doppelstruktur des Sich-Einlassens auf das Spiel einerseits und des Spielbewusstseins andererseits« beschrieben: Zum »make-believe-Spiel« gehöre »auch die distanzierte und distanzierende Beobachtung dieses Spiels. Oder anders gesagt: zum make-believe-Spiel gehört – wie zu jedem Spiel –, daß der Leser nicht
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In einer solchen fiktionskonstituierenden Rezeptionshaltung, in einer solchen »fiktivisierenden Lektüre«88 also, wird – dies ist der kardinale Punkt – »die unmittelbare Referenzialisierung«89 auf die bildvorgängige Wirklichkeit suspendiert. Es erscheint sodann eine Wirklichkeit eigenen Rechts, eine fiktive Wirklichkeit, die indes nicht in einem Oppositions- sondern in einem Differenzverhältnis zur bildvorgängigen Wirklichkeit steht.90 Sieht man nun jene fotohistorischen Publikationen durch, die Fotos mit einer solchen – sich je unterschiedlich ausprägenden – Differenz zwischen bildvorgängiger und diegetischer, zwischen ›wirklicher‹ und fiktiver Wirklichkeit behandeln (unter anderen begrifflichen Prämissen freilich), fällt auf, dass diesen Fotos immer wieder eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wird: die Eigenschaft zu erzählen – eine Zuschreibung, die sich nirgends so sehr verdichtet findet wie im Titel eines für das Thema einschlägigen Buches: Christine Walters Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie.91 Erstaunlicher- und bedauerlicherweise entbehren die Behauptungen fotografischer Bilderzählung aber allzu oft einer begrifflichen
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nur das Spiel spielt, sondern sich dessen bewußt ist, daß er ein Spiel spielt, und sich insofern selbst beim Spielen beobachten kann.« Mitspielen und Beobachten seien dabei »zwei komplementäre Haltungen, die zu einer adäquaten Rezeption fiktionaler Texte notwendig sind. [...] Die Betonung einer der beiden Perspektiven kann zwar die andere zurückdrängen; so wird das ständige Bewußthalten, dass man es mit einem Spiel zu tun hat, wohl die Partizipation am make-believe-Spiel stören [...]. Im Allgemeinen jedoch existieren beide Perspektiven nebeneinander [...]. Diese Spannung zwischen Mitspielen und Beobachten des Spiels ist ein integraler Bestandteil der Fiktions-Rezeption und Teil des fiktionsspezifischen Vergnügens an der Rezeption fiktionaler Texte.« Ebenda, S. 258f. u. 278. Odin, Roger: »Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre«. In: Blümlinger, Christa (Hg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien, 1990, S. 125-146, hier S. 132. Anderegg 1983 (wie Anm. 73), S. 156. Man könnte auch von Bildern ohne »unmittelbaren Realitätsbezug« sprechen. Grebe, Stefanie; Schneider, Sigrid: »Wirklich wahr. Fotografien und die Sehnsucht nach dem echten Leben«. In: Grebe/Schneider 2004 (wie Anm. 50), S. 7-10, hier S. 7. Vgl. Heller, Heinz-B.: »Dokumentarfilm als transitorisches Genre«. In: Hoffmann/Keitz 2001 (wie Anm. 77), S. 15-26, hier S. 18. Walter 2002 (wie Anm. 37). Siehe auch Bartram, Michael: The PreRaphaelite Camera. Aspects of Victorian Photography. Boston, 1985, S. 154-180; Hoy, Anne: Fabrications: Staged, Altered, and Appropriated Photographs. New York, 1987, S. 8-58; Köhler 1989, S. 28f. u. 38-41; Pauli, Lori: »Setting the Scene«. In: Dies. (Hg.): Acting the Part. Photography as Theatre. London u. New York, 2006, S. 13-71, hier insb. S. 58-68; Vogel 2006 (wie Anm. 37), S. 28f.
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Grundlegung wie auch der argumentativen Begründung. Denn zum einen bleibt immer wieder ungeklärt, was eigentlich unter ›Bilderzählung‹, unter ›Narration‹ und ›Narrativität‹ zu verstehen sein soll; häufig genug wird das Prädikat ›Bilderzählung‹ mithin verliehen, ohne nachvollziehbar zu machen, was genau damit eigentlich warum ausgezeichnet werden soll. Und zum anderen (und mit ersterem zusammenhängend) bleibt immer wieder ungeklärt, worin denn nun eigentlich die Narrativität sich bildlich manifestiere. Fast scheint es beispielsweise so, als adaptierten die Exegeten des Spiritus Rector der sogenannten ›Inszenierten Fotografie‹, Jeff Wall, bloß dessen Selbsterklärung, dernach er in Bezug auf die Fotografie an, so Wall, »der Idee einer Geschichten erzählenden, philosophischen Kunst«92 interessiert sei. Walls Aussage wird geradezu unreflektiert übernommen und auf seine Fotos projiziert, wenn diesen (wie gesagt: begrifflich unfundiert und ohne Anführung weiterer Argumente) attestiert wird, sie würden erzählen – eine Behauptung, die bisweilen sogar in der (vermeintlichen) Feststellung kulminiert, das »eigentliche Anliegen« Walls sei »das ›Geschichtenerzählen‹«.93 Hans Belting geht angesichts der fotografischen Tableaus Walls sogar so weit, zu behaupten, dass der Spielfilm »seine Erzählaufgabe« an die zeitgenössische Fotografie ausleihe, Fotografien würden nunmehr »eine ganze Story in einem einzigen Bild repräsentieren«.94 Allein, es fragt sich: Welche Story wird bei Wall repräsentiert, welche Geschichte in Bartholomews Diner-Szene erzählt (wenn denn eine erzählt wird)? Eine ähnliche Zuschreibungs-Praxis lässt sich in den einschlägigen Publikationen zu Cindy Sherman ausmachen, deren Auskünfte immer wieder willfährig aufgegriffen und beispielsweise auf Fotos aus ihrer Serie der Untitled Film Stills projiziert werden – Auskünfte, die besagen, sie wolle »Fotos machen, die als einzelne Fotos für sich funktionieren, aber trotzdem Geschichten erzählen«.95 Und auch bei Gregory Crewdson lässt sich Ähnliches beobachten, wenn dessen Erklärungen in der Sekundärliteratur ebenfalls repetiert und unkritisch auf seine Fotos angewendet werden, beispielsweise die Auskunft, er versuche, »eine Geschichte zu erzählen«:96 92 Wall, Jeff: »Meine photographische Produktion«. In: Joly, Jean-Baptiste (Hg.): Die Photographie in der zeitgenössischen Kunst. Stuttgart, 1990, S. 57-82, hier S. 69. 93 Walter 2002 (wie Anm. 37), S. 110. 94 Belting, Hans: Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft [2001]. 3. Aufl. München, 2006, S. 233. 95 Neven DuMont, Gisela; Dickhoff, Wilfried: Cindy Sherman (im Gespräch mit Wilfried Dickhoff). Köln, 1995, S. 22. 96 Gregory Crewdson zit. in Mobley-Martinez, T.D.: »Contorted Dreams and Everyday Crisis«. In: The Albuquerque Tribune, Albuquerque, 2. März 2001, S. C1 (Übers. L.B.).
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»What I’m after, what I’ve always been after […] is a picture that tells a story.«97 Was aber erzählen die Fotos Walls, Shermans, Crewdsons und anderer Bildautoren (wenn sie denn etwas erzählen)? Und vor allem: Wie erzählen sie? Derlei Fragen deuten an, dass sich der vorliegende Band einem Unbehagen verdankt: dem Unbehagen daran, dass derart simple und zugleich ganz elementare Fragen (Wie und was wird erzählt?) häufig genug weder gestellt noch beantwortet werden, sondern ›Narrativität‹ kurzerhand behauptet wird. Wer Antworten auf diese Fragen sucht, steht also vor der Erfordernis, zu leisten, was ich soeben als Versäumnis beklagt habe, nämlich einen tragfähigen Narrativitäts-Begriff zu finden und dessen Anwendbarkeit zu überprüfen. Der Literaturwissenschaftler Wolf Schmidt hat 2005 aus der Perspektive einer interdisziplinären Narratologie vorgeschlagen, dass jene Repräsentationen ›narrativ‹ (in einem weiten Sinne wohlgemerkt) genannt werden könnten, »die die Veränderung eines Zustands oder einer Situation darstellen«.98 Als »Minimalbedingung für Narrativität«99 ergibt sich für Schmidt, »dass mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird. Die Veränderung des Zustands und ihre Bedingungen brauchen nicht explizit dargestellt zu werden. Für die Narrativität ist hinreichend, wenn die Veränderung impliziert wird […].«100 Ein Foto muss demnach eine Zustandsveränderung nicht etwa explizit darstellen, es wäre bereits narrativ, wenn es eine Zustandsveränderung lediglich impliziert.
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Grant, Annette: »Lights, Camera, Stand Really Still. On the Set with Gregory Crewdson«. In: New York Times, New York, 30. Mai 2004, S. AR20. Licht, Schatten und Farbe – das sei »die Palette, mit der ich meine Geschichten erzähle«. Gregory Crewdson zit. in Girst, Thomas: »Auf Furchtbarem Boden«. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 44, München, Oktober 2002, S. 26-31, hier S. 27. Schmidt, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin, 2005, S. 13. Zu einer alternativen Definition einer Minimalbedingung von Narrativität siehe Wolf, Werner: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«. In: Nünning, Ansgar; Nünning, Vera: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, 2002, S. 23-103, hier S. 73. Ich beziehe mich in der folgenden Argumentation ausschließlich auf Einzelbilder. Zu einer Typologie mono- und pluriszenischer Einzelbilder und Bilderreihen siehe Kibédi Varga, Aron: »Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität«. In: Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild, Bild und Text, DFG-Symposium 1988. Stuttgart, 1990, S. 356-367. Schmidt 2005 (wie Anm. 98), S. 13. Schmidt 2005 (wie Anm. 98), S. 13.
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Abb. 6: Anthony Suau, Cleveland, Ohio, 26. März 2008, 2008 Machen wir die Probe aufs Exempel: Bei einem ersten Blick auf Bartholomews Diner-Szene könnte man dieses Foto tatsächlich für narrativ halten, ist doch kaum vorstellbar, dass die Figuren in ihren, mit Barthes gesprochen, »Posen« auf ewig verharren. Der mit einer Pistole bewaffnete Mann im hellen Trenchcoat scheint gerade erst durch die Hintertür des Diners einzutreten, vielleicht auch einen Moment innezuhalten, um den Raum wachen Auges zu durchmustern, während die Belegschaft und die Gäste am Tresen offensichtlich im Moment erst zu registrieren beginnen, was sich dort am Hintereingang tut. Der Mann im Bildvordergrund indes scheint die bedrohliche Situation bereits erfasst und sich just von seinem Stuhl erhoben zu haben, um einen Revolver unter seinem Sakko hervorzuziehen und – ja was eigentlich zu tun? Es ist wohl absehbar, dass im nächsten Moment irgendetwas passieren wird. Nur was? Zwar impliziert das Bild in der Binnenlogik seiner Diegese eine Zustandsveränderung, nicht aber welcher Art diese Zustandsveränderung sein wird, zumindest so lange, wie es sich nicht um ein »Ereignisbild«101 handelt, welches immer »in Relation zu einer a priori schon bekannten Geschichte«102 steht. Man sollte über diesen feinen Unterschied nicht leichtfertig hinweggehen: Das Bild impliziert, dass es zu einer Zustandsveränderung kommen wird, gewiss; es impliziert aber keine konkrete, ganz bestimmte Veränderung eines Zustandes (keine einsetzende Schießerei oder dergleichen), sondern lässt offen, ja muss naturgemäß offen lassen, welcher Art diese Veränderung 101
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Imdahl, Max: »Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos« [1973]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 2: Zur Kunst der Tradition. Hrsg. v. Gundolf Winter. Frankfurt a.M., 1996, S. 180-209, hier S. 180. Imdahl (1973) 1996 (wie Anm. 101), S. 180.
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Abb. 7: Jeff Wall, Eviction Struggle, 1988 sein wird. Ob man eine solche Implikation nun als narrativ bezeichnet, hängt davon ab, wie großzügig man unsere arbeitshypothetische Minimaldefinition von ›Narrativität‹ auszulegen bereit ist. Würde dann aber nicht jedes Foto immer schon eine Zustandsveränderung implizieren, weil jedes Foto offenkundig einen ›Schnitt‹ durch einen (zugegeben: je unterschiedlich dramatischen) Geschehensverlauf darstellt und somit immer ein ›Vorher‹ und ›Nachher‹ impliziert? Wenn die Implikation einer Zustandsveränderung die Conditio sine qua non für Narrativität ist, müssten dann nicht auch viele viele andere ›dramatische‹ Fotos ebenfalls ›erzählen‹, etwa das World Press Photo 2008, Anthony Suaus Aufnahme von einer Zwangsräumung am 26. März 2008 in Ohio im Zuge der U.S.-Immobilienkrise (Abb. 6)? Doch wird vermutlich niemand auf die Idee kommen, dieses ›dokumentarische‹ Foto (genauer: dieses Foto, das wir im Regelfall kraft seines Kontextes einer »dokumentarisierenden Lektüre«103 unterziehen) als ›erzählend‹ oder ›narrativ‹ zu inkriminieren – und man vergleiche hierzu bloß Jeff Walls Räumungsklagen-Tableau Eviction Struggle aus dem Jahr 1988 (Abb. 7), eines jener Leuchtkasten-Diapositive, für deren Interpretation immer wieder der Topos ›Bilderzählung‹ bemüht worden ist, etwa wenn Homay King 2003 im Katalog der Wiener Wall-Retrospektive schreibt: »[…] ein Wall-Bild impliziert stets eine Geschichte: eine zeitliche Abfolge von Ereignissen […].«104
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Odin 1990 (wie Anm. 88), S. 132. King, Homay: »Der lange Abschied: Jeff Wall und die Filmtheorie«. In: Ausst.-kat. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien: Jeff Wall. Photographs. 22. März bis 25. Mai 2003 (Red.: Gerald Nestler). Köln, 2003, S. 118-139, hier S. 118. Siehe zu Wall auch der Beitrag von Barbara J. Scheuermann in diesem Band.
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Wenn aber nun Fotos, die das Eintreten einer Zustandsveränderung implizieren, nicht immer zugeschrieben wird, zu erzählen, dann drängt sich meines Erachtens eine Frage auf (abgesehen davon, dass man natürlich fragen könnte, ob der in Anschlag gebrachte Narrativitäts-Begriff wirklich trägt): Es fragt sich nämlich, ob die Implikation einer Zustandsveränderung überhaupt jenes Kriterium ist, das die Praxis der Erzählbehauptung dominiert und die entsprechenden Zuschreibungen motiviert, oder ob insgeheim nicht doch ganz andere Kräfte wirken, die glauben lassen, bei Wall und auch bei Bartholomew würde bildlich erzählt, während Suaus Foto bildlich zeigt, berichtet, wiedergibt oder was immer sonst es leistet. Mir scheint jedenfalls, dass es nicht allein die Implikation von Zustandsveränderungen ist, die in Walls und Bartholomews Bildern ›Erzählung‹ und ›Story‹ erblicken lässt. Vielmehr scheint es das Zusammenspiel a) der Wahrnehmung dieser Fotos als Fiktionen mit b) dem nachgerade anthropologischen Reflex zu sein, das uns Fotos als bildliche ›Schnitte‹ durch einen »vormedialen Geschehensfluss«105 begreifen lässt. Auf eine Kurzformel gebracht: Wir erkennen bei Wall, Bartholomew und Co. zwar, dass die Bildwelt fiktiv ist, machen uns aber glauben, da wir gewissermaßen gewohnt sind, fotografische Wirklichkeiten in einen Geschehensfluss irgendwie einzubetten, dass es auch hier einen ›bildvorgängigen‹ Geschehensfluss in der fiktiven Welt gibt, aus dem die Fotos gleichsam einen Ausschnitt darstellen und auf den die Fotos eben qua ihres Charakters als Fotos deiktisch zu verweisen scheinen. Mögen solche Fotografien auch noch so sehr unter dem Verdacht manueller Retusche oder digitaler Kompilierung stehen, mögen wir noch so sehr um ihre ›Inszeniertheit‹ wissen, ihre ›Lebendigkeit‹ speist sich doch aus jenem (auch heute noch) vorhandenen Restglauben an eine Wirklichkeitsreferenz von Fotografie, an ihr indexikalisches Vermögen, ihre deiktische Kraft – ein Glaube, der ihnen in einem »game of make believe« reflexhaft selbst dort einen gewissen Bezug zu einem bildvorgängigen Geschehensablauf unterschiebt (und sei dieser auch bloß fiktiv), wo wir wissen, dass es einen solchen nicht gibt. Unser Blick auf Fotografien ist es also, der den Aufnahmen Walls und Co. nach wie vor einen besonderen, nämlich durch das historisch verbürgte Prinzip fotografischer Indexikalität geprägten Bildstatus sichert. Anders formuliert: Diese Bilder wollen wahrgenommen werden, als ob sie Ausschnitte dieser Wirklichkeit wiedergeben würden (ohne uns allerdings über das Als-ob zu täuschen). Und dies lässt uns spekulieren, was es denn für eine Wirklichkeit
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Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart, 2003, S. 129.
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ist, der diese Ausschnitte jeweils zugehören. Die gesuchte Referenz aber auf einen (schlichtweg nicht zu greifenden) bildvorgängigen Geschehensverlauf ist nichts anderes als eine große Leerstelle – eine Leerstelle, an der die Imagination partizipierend einspringen und das Bild um etwas ergänzen kann, was es gar nicht zeigt, ja bisweilen nur sehr bedingt impliziert.106 Insofern sind die in derartigen Fotos fotografisch zur Darstellung kommenden Augenblicke »fruchtbar« im Sinne Lessings, der bekanntlich in seinem viel zitierten Laokoon schrieb: »Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt.«107 Diesen, der Imagination überantworteten Anteil an der Bildwirkung und Bildwirklichkeit hat Alberto Manguel auf den Punkt gebracht: »Wenn wir Bilder lesen […], verleihen wir ihnen vorübergehend einen narrativen Charakter. Wir ergänzen das, was durch einen Rahmen begrenzt ist, um ein Vorher und ein Nachher […].«108 Manguel spricht auch davon, dass wir dem Bild – und ich meine: in besonderer Weise dem Foto – »eine Geschichte abrin-
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Vgl. auch Kibédi Varga 1990 (wie Anm. 98), S. 356-367, hier S. 365. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie [1766]. Stuttgart, 2006, S. 23f.: »Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.« Der »fruchtbare Augenblick« muss allerdings nicht zwangsläufig jener Moment einer verbildlichten Geschichte sein, der die stärksten und/oder umfangreichsten Implikationen vorheriger und nachfolgender Ereignisse in sich trägt. (Tatsächlich ist in dieser Passage Lessings auch gar nicht so sehr von Handlungsverläufen die Rede, als von Affektdarstellung und vor allem von der Anregung der Einbildungskraft). Der »fruchtbare Augenblick« muss also nicht zwangsläufig ein »prägnanter Augenblick« sein, zumal sich das Adjektiv »fruchtbar« bei Lessing auch gar nicht auf die Geschichte bezieht, sondern »fruchtbar« meint »fruchtbar« im Hinblick auf die Einbildungskraft des Rezipienten, im Hinblick auf eine Imagination, welche die bildliche Darstellung anzureichern vermag. Diese Erkenntnis leugnet gleichwohl nicht die Tatsache, dass Lessing sich dann doch (und zwar 13 Kapitel später erst) sehr explizit zur Darstellung eines bestimmten Moments im Handlungsverlauf äußert und vorschreibt: »Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muss daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.« Ebenda, S. 115. Dieser prägnante Augenblick, wie man ihn entsprechend Lessings Formulierung mit Shaftesbury nennen könnte, ist aber, so meine ich, nicht automatisch gleichzusetzen mit dem, was Lessing den »fruchtbaren Augenblick« nannte. Manguel, Alberto: Bilder lesen [engl. 2000]. Übers. v. Chris Hirte. Berlin, 2001, S. 19.
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gen«109 würden. Wer in den Fotos Walls, Bartholomews und Co. ›Erzählung‹ und ›Geschichte‹ zu vernehmen meint, unterliegt einem Trugschluss, einer Selbsttäuschung, mal mehr, mal weniger bewusst. Er legt seine Erzählstimme gewissermaßen bloß in das Bild hinein, wie ein Bauchredner seine Stimme einer Puppe leiht,110 und lässt sich dann von der Puppe die tollsten Geschichten erzählen.
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Manguel (2000) 2001 (wie Anm. 108), S. 20. Ich entlehne die Metapher der Bauchrednerpuppe bei Mitchell, W.J.T.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur [amerik. 2005]. Übers. v. Achim Eschbach, Ann-Victoria Eschbach u. Mark Halawa. München, 2008, S. 124. Natürlich ist nicht nur jenen Fotos, die ich als fiktional bezeichne, die Fähigkeit eigen, die Imagination ihrer Rezipienten anzuregen. Gleiches gilt für ›dokumentarische‹ Fotos, insbesondere wenn, wie Sontag sagt, ihre »Vertäuung mit der Wirklichkeit sich im Laufe der Zeit löst«, wenn also das Foto in eine »gedämpft abstrakte Vergangenheit« driftet, »in der es jede mögliche Interpretation (und auch jede Zuordnung zu anderen Fotos) erlaubt«. Sontag (1977) 2002 (wie Anm. 45), S. 73.
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Was ist ›inszenierte Fotografie‹? Eine Begriffsbestimmung MATTHIAS WEISS
Seit den späten 1970er Jahren lässt sich im Bereich der Kunstfotografie eine Abkehr von veristischen Bildkonzeptionen beobachten, die in den Arbeiten von Cindy Sherman oder Jeff Wall nicht nur zwei frühe, sondern auch zwei ihrer wohl prominentesten Vertreter fand. Unter Subsumierung einer Vielzahl disparater künstlerischer Ansätze und Strategien belegte die Kunstkritik diese Strömung mit Begriffen wie ›inszenierende‹ oder ›inszenierte Fotografie‹, wobei sich vor allem letzterer bis heute gehalten hat, ohne dass seine Tragfähigkeit je ernsthaft hinterfragt worden wäre – im Gegenteil: Bis dato wurde er allenfalls heuristisch, nicht aber systematisch fundiert oder theoretisch reflektiert eingesetzt. Dementsprechend gibt es schon im deutschen Sprachgebrauch eine Reihe synonym verwendeter Begriffe, wie etwa konstruierende respektive konstruierte Fotografie, erweiterte Fotografie oder arrangierte Fotografie.1 Interna1
Von den vielen Diskussionsbeiträgen seien hier stellvertretend genannt: Brock, Bazon: »Fotografische Bilderzeugung zwischen Inszenierung und Objektivation« [1972]. In: Kemp, Wolfgang (Hg.): Theorie der Fotografie III, 1945–1980. München, 1983, S. 236–239; Molderings, Herbert: »Argumente für eine konstruierende Fotografie« [1980]. In: Amelunxen, Hubertus von (Hg.): Theorie der Fotografie IV, 1980–1995. München, 2000, S. 106– 114; Wiener Secession (Hg.): 5. Internationale Biennale. Erweiterte Fotografie. Wien, 1981; Weiermair, Peter: »Zum Problem der inszenierten Fotografie im 19. und 20. Jahrhundert. Wechselwirkung zwischen Kunst und Fotografie«. In: Alte und neue Kunst, Jg. 30, Heft 200, Innsbruck, 1985, S. 2837; Honnef, Klaus (Hg.): »Inszenierte Fotografie Teil I«. In: Kunstforum International, Bd. 83, Ruppichteroth, März bis Mai 1986, S. 79–149; Honnef, Klaus (Hg.): »Inszenierte Fotografie Teil II«. In: Kunstforum International, Bd. 84, Ruppichteroth, Juni bis August 1986, S. 71–197; Köhler, Michael (Hg.): Das konstruierte Bild. Fotografie – arrangiert und inszeniert. Kilchberg u. Zürich, 1989; Müller-Pohle, Andreas (Hg.): »Die fotografische Dimension«. In: Kunstforum International, Bd. 129, Ruppichterroth, Januar bis April 1995, S. 73–164, insb. S. 76–139; Amelunxen, Hubertus von: »In-
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tional gebräuchlich sind Formulierungen wie ›staged photography‹, ›directorial photography‹, ›fabricated photography‹, ›constructed photography‹ oder ›cinematography‹.2 Mag der im deutschen Sprachraum vermutlich am häufigsten verwendete Begriff ›inszenierte Fotografie‹ seinerzeit das von ihm Verlangte geleistet haben, so scheint er aus heutiger Sicht denkbar unscharf, und zwar insbesondere bezüglich des hier adjektivisch verwendeten Teilbegriffs ›Inszenierung‹. Deshalb sollen der nachfolgend vorgeschlagenen Begriffsbestimmung einige begriffsgeschichtliche Überlegungen vorangestellt werden. Ein erster Nachweis einschließlich ausführlicher Diskussion findet sich bei August Lewald, und zwar in dessen Zeitschriftenartikel In die Szene setzen aus dem Jahre 1838. Lewald definiert hier: »›In die Szene setzen‹ heißt, ein dramatisches Werk vollständig zur Anschauung bringen, um durch äußere Mittel die Intention des Dichters zu ergänzen und die Wirkung des Dramas zu verstärken.«3 ›Inszenierung‹ wird von Lewald demnach recht eingeschränkt verwendet, und zwar bezüglich der Arbeit auf dem Theater, wobei sich in
szenierende Fotografie«. In: Butin, Hubertus (Hg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln, 2002, S. 130–134; Vogel, Fritz Franz: The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005. Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 2005. Köln, Weimar u. Wien, 2006. 2
3
Ebenfalls nur in Auswahl genannt seien aus der englischsprachigen Debatte Coleman, A.D.: »The Directorial Mode. Notes Toward a Definition«. In: Artforum, Jg. 15, Nr. 1, New York, 1976, S. 55–61, dt.: Ders.: »Inszenierende Fotografie. Annäherungen an eine Definition« [1976]. In: Kemp 1983 (wie Anm. 1), S. 239–243; Coke, Van Deren (Hg.): Fabricated to be Photographed. San Francisco, 1979; Hofstede, Poul ter (Hg.): Fotografia buffa. Staged Photography in the Netherlands. Groningen, 1986; Hoy, Anne H.: Fabrications. Staged, Altered, and Appropriated. New York, 1987; Brett, Andrea Rose: Decomposition. Constructed Photography in Britain. London, 1991; Pauli, Lori (Hg.): Acting the Part. Photography as Theatre. London u. New York, 2006. Den Begriff »cinematography« hat Jeff Wall in die Diskussion eingebracht. Siehe Wall, Jeff: »Frames of Reference«. In: Vischer, Theodora; Naef, Heidi (Hg.): Jeff Wall. Catalogue Raisonné 1978–2004. Göttingen, 2005, S. 454–457, hier S. 456–457, dt.: Ders.: »Frames of Reference (Bezugsrahmen) 2003«. In: Ebenda, S. 446–450, hier S. 449–450. Lewald, August: »In die Szene setzen«. In: Allgemeine Theater-Revue, Nr. 3, Stuttgart, 1838, S. 251–257, gekürzter Wiederabdruck in Lazarowicz, Klaus; Balme, Christopher (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart, 1991, S. 306–311. Für die unmittelbare Durchsetzung des von Lewald vorgestellten Begriffs spricht der Eintrag in ein entsprechendes Fachwörterbuch nur drei Jahre später. Siehe Schneider, Louis: »Inscenesetzen«. In: Blum, R.; Herloßsohn, K.; Marggraff, H. (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon
oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Bd. 4. Altenburg u. Leipzig, 1841, S. 284–288.
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Was ist ›inszenierte Fotografie‹?
seinen Ausführungen das textbasierte beziehungsweise textzentrierte Theaterverständnis des 19. Jahrhunderts spiegelt. Bemerkenswert ist zudem, dass Lewald auf die Zuschauerposition zumindest anspielt und im Fortgang seiner Argumentation die Rolle des Regisseurs betont, dessen Berufsbild sich gerade erst zu formen beginnt. Ein weiterer wichtiger Aspekt seiner Ausführungen ist, dass er auf die Vorgeschichte des Begriffs im französischen Sprachraum hinweist. Er beruft sich auf den Ausdruck ›mise en scène‹, der seinerzeit aus dem Französischen ins Deutsche übernommen wurde und den Lewald der etwas holprigen deutschen Übersetzung ›In die Szene setzen‹ ausdrücklich vorzieht. ›Mise en scène‹ und verwandte Begriffe sind in Frankreich laut verschiedener etymologischer Wörterbücher bereits ab 1660 greifbar.4 Erwähnenswert scheint hier, dass die Formulierung ›mettre quelq’un, quelque chose sur la scène‹ nicht auf das Theater beschränkt bleibt, sondern auch auf andere künstlerische Ausdrucksformen wie zum Beispiel Literatur bezogen wird. Der Begriff wird also im Französischen deutlich weiter gefasst verwendet als im Deutschen. Gleiches gilt für die im 18. Jahrhundert sich durchsetzende Formulierung ›mettre en scène‹, wie sie etwa Diderot in seiner Auseinandersetzung mit der Malerei – also mit zweidimensionalen Bildern – verwendet.5 Als Zeitraum, in dem ›mettre en scène‹ durch die bis heute gebräuchlichere Variante ›mise en scène‹ ersetzt wurde, sind die Jahre um 1820 anzusetzen.6 Wichtiger als die jahrgenaue Datierung ist allerdings, dass ›mise en scène‹ im Französischen ganz allgemein verstanden wird als ein Modus der Repräsentation, und zwar bis zum heutigen Tag. Denn dort bezeichnet der Begriff nicht nur die Aufführungspraxis auf dem Theater, sondern wird beispielsweise auch angewendet auf die Kinematografie und die von ihr erzeugten Bewegtbilder. Doch zurück ins deutsche Sprachgebiet, wo der Begriff ›Inszenierung‹ und das wörtlich aus dem Französischen übertragene ›InSzene-Setzen‹ synonym verwendet werden und wo beide seit den 4
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Wartburg, Walther von (Hg.): Französisches Etymologisches Wörterbuch. Basel, 1964, S. 294 (Lemma »scena«); Rey, Alain (Hg.): Dictionnaire Historique de la Langue française. Paris, 1994, S. 1892 (Lemma »scène«). So etwa in der Besprechung von Pierre-Antoine Baudouins La force du sang oder Jean-Baptiste Le Princes Pastorale russe. Diderot, Denis: Salon de 1765. Essais sur la peinture. Beaux-Arts I. Edition critique et annotée. Hrsg. v. Else Marie Bukdahl. Paris, 1984, S. 167–171 u. 225-226, hier S. 169 u. 226. Veinstein, André: La Mise en scène théatrale et sa condition esthétique. Paris, 1955, S. 11. Lewald will den Begriff ebenfalls »um [18]18 in Wien gehört« haben. Lewald 1838 (wie Anm. 3), S. 251; Lazarowicz/Balme 1991 (wie Anm. 3), S. 306.
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Tagen Lewalds einschneidende Veränderungen erfahren haben. Franz von Akáts zum Beispiel ordnete bereits 1841 in seiner Abhandlung Kunst der Scenik in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht die Inszenierung den bildenden Künsten zu, weil sie »die Darstellung ästhetischer Ideen durch Bilder«7 beabsichtige. Radikale Ausweitungen des Inszenierungsbegriffs erfolgten allerdings erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Notwendig schien dies zum einen aus theaterhistorischer Sicht, nämlich unter Rückbindung an die Umwälzungen auf dem Theater seit 1900, die auf eine Loslösung vom erwähnten Textprimat zielten und ›Inszenierung‹ nicht länger als Darstellungsmodus einer literarisch vorformulierten Idee, sondern als Erzeugungsmodus eines Kunstwerks von eigenem Rang verstanden. Nötig schien dies zum anderen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, nämlich mit Blick auf eine Dominantenverschiebung, die das Performative, Ereignishafte aller Kulturleistung in den Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses rückte. Diesem neuen methodischen Vorgehen gilt das Theater als Leitmodell aller beteiligten Disziplinen, ›Inszenierung‹ wird in dieser Debatte zu einem Leitbegriff. Eine umfängliche Klärung, die den Terminus allerdings zugleich an die Grenzen des Operablen führt, erfolgte durch Erika FischerLichte, die ›Inszenierung‹ in eine ästhetische und eine anthropologische Kategorie scheidet.8 Als ästhetische Kategorie meint der Begriff ihr zufolge alle Kulturtechniken und Praktiken, mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird. Das Resultat ist eine ästhetische oder ästhetisierte Wirklichkeit. Im Zuge der Rezeption kann die Inszenierung als solche (mit) wahrgenommen werden oder nicht. Wird sie nicht wahrgenommen, ist das Inszenierungsziel beziehungsweise das Inszenierungsresultat das Authentische.9 Der Begriff ›Kulturtechnik‹ wird von Fischer-Lichte in diesem Zusammenhang nicht näher bestimmt, sondern gezielt offen gehalten. Er kann Stadt- und Landschaftsplanung meinen, Design, Mode, Werbung und so weiter
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Akáts, Franz von: Kunst der Scenik in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht theoretisch, praktisch und mit Plänen […] erläutert. Wien u. Leipzig, 1841, S. IV. Fischer-Lichte, Erika: »Theatralität und Inszenierung«. In: Fischer-Lichte, Erika; Pflug, Isabel (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen u. Basel, 2000, S. 11–27. Konzentriert findet sich das dort Ausgeführte in Dies.: »Inszenierung«. In: Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris; Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart u. Weimar, 2005, S. 146– 153. Dem dort Zusammengetragenen folgt die oben referierte Begriffsentwicklung im Wesentlichen. Authentizität ist demnach nicht in Opposition zu, sondern als kausale Abhängigkeit von Inszenierung zu begreifen. Fischer-Lichte 2000 (wie Anm. 8), S. 23.
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Was ist ›inszenierte Fotografie‹?
– bezieht also auch die Fotografie mit ein. Unter Bezugnahme auf Martin Seel betont Fischer-Lichte außerdem, dass Inszenierung ein Vergegenwärtigen, das heißt ein Herstellen und Herausstellen von Gegenwart ist, die sich vor Publikum vollzieht und auf dieses ausgerichtet ist.10 Als anthropologische Kategorie wiederum wird ›Inszenierung‹ von Fischer-Lichte unter Berufung auf Wolfgang Iser als »Institution menschlicher Selbstauslegung«11 definiert, das heißt Inszenierung ist notwendig, um sich und anderen im doppelten Wortsinn eine Vorstellung von sich zu geben. In diesem Kontext ist ein jedes Subjekt Inszenierender und Inszenierter zugleich, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist.12 Aus solch einer Perspektive ist die Inszenierung auf dem Theater nichts weiter als ein Sonderfall allgemeinen, unabdingbaren Inszenierungsverhaltens. Was aber meint nun vor diesem Hintergrund der Terminus ›inszenierte Fotografie‹? Begonnen sei mit bisherigen Ansätzen: Wie erwähnt, bezog sich der von der Kunstkritik Ende der 1970er Jahre eingeführte, heuristisch verwendete Begriff auf Kunstfotografie und wurde als Antonym zu veristischen Bildkonzepten verstanden, wie sie in der direkten Fotografie (›straight photography‹) oder der Reportage Gestalt annahmen. Den ersten dezidierten »Versuch einer Definition« – so die entsprechende Kapitelüberschrift – legte Christine Walter vor.13 Walters Begriffsklärung bezieht sich ebenfalls auf eine künstlerisch intendierte Fotografie, bleibt eng an einen auf das Theater und den Film bezogenen Inszenierungsbegriff gekoppelt und bezieht die frühe Begriffsbildung durch Lewald mit ein, womit sie bereits in die richtige Richtung weist. In Ergänzung und Erweiterung dieser Position sei an dieser Stelle vorgeschlagen, die oben dargelegten Überlegungen in die Begriffsbildung mit einzubeziehen und von einem sehr weit gefassten Inszenierungsbegriff auszugehen
10 Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«. In: Früchtl, Josef; Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der In-
szenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a.M., 2001, S. 48–62, hier S. 50 u. 53. 11 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt a.M., 1991, S. 512. Iser wiederum beruft sich auf Plessner, Hellmuth: »Zur Anthropologie des Schauspielers« [1948]. In: Ders.: Gesammelte Schriften VII, Ausdruck und menschliche Natur. Hrsg. v. Günter Dux. Frankfurt a.M., 1982, S. 399–418. 12 Dieses Argument deckt sich mit soziologischen Positionen wie etwa Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München, 1969. 13 Walter, Christine: Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie: Eileen
Cowen, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood. Zugl.: München, Univ., Diss., 2001. Weimar, 2002, S. 52–63.
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– und zwar im vollen Bewusstsein darum, dass solch ein weit gefasster Begriff auf den ersten Blick sehr wenige Differenzkriterien aufzuweisen scheint. Zu betonen ist jedoch zunächst, dass solch ein Vorgehen nicht nur in der hier angestellten Begriffsarbeit, sondern auch aus fotografiegeschichtlicher Perspektive begründet ist. Denn Inszenierung und Fotografie stehen nicht nur in der Kunstfotografie des späten 20. Jahrhunderts in unmittelbarem Zusammenhang, sondern waren von Anbeginn intrinsisch miteinander verbunden. Dies soll eine mehr oder minder beliebige Auswahl von Aufnahmen vor Augen führen, die in großzügigen Schritten durch die Fotografiegeschichte eilt. Nicht berücksichtigt ist in folgendem Überblick die sehr frühe Fotografie. Dass lange Verschlusszeiten ausgeklügelte Vorbereitungen inklusive apparativer Sistierung der Modelle erforderten, darf als Gemeinplatz gelten und ist auch nur bis etwa 1880 von Bedeutung, denn mit Einführung der Bromsilbergelatine-Platte sanken die Belichtungszeiten auf weit unter eine Sekunde, was sogar ein Arbeiten ohne Stativ ermöglichte.14 Unberücksichtigt bleiben außerdem der weite Bereich der Theaterfotografie und die von Cindy Sherman in die Kunstfotografie eingeführten Film Stills, bei denen sich der Zusammenhang zwischen Inszenierung und Fotografie recht unmittelbar erschließt. Bemerkt sei lediglich, dass besagte Fotografie in der Regel nicht (nur) die Inszenierung Dritter – sei es nun des Theater- oder des Filmregisseurs – dokumentiert, sondern enorme Verdichtungsarbeit leistet.15 Ertragreicher scheint hier ein Blick auf die frühe wissenschaftliche Fotografie, wie etwa eine Chronofotografie des Physiologen Etienne-Jules Marey aus dem Jahre 1886 (Abb. 1). Sie zeigt eine bühnenartig aufgebaute Experimentalsituation im Bois de Boulogne, in der das Aufprallverhalten eines Balls ergründet wird, und veranschaulicht zugleich, dass die Fotografie weitaus mehr leistet, als das Statthaben oder Gelingen eines Experiments zu bezeugen, weil nur das Foto sichtbar machen kann, was mit bloßem Auge nicht oder nur schwer nachvollziehbar ist: Die parabolische, nach jedem Bodenkontakt rapide kleiner werdende Flugbahn 14 Gautrand, Jean-Claude: »Spontanes Fotografieren. Schnappschüsse und Momentaufnahmen«. In: Frizot, Michel (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln, 1998, S. 232–241. 15 Anhand der Film Stills herausgearbeitet hat dies Pauleit, Winfried: Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt a.M. u. Basel, 2004. Das Spektrum dessen, was unter Theaterfotografie subsumiert wird, ist deutlich breiter. Es reicht von Schauspieler- über Rollenporträts und gestellte Szenenbilder bis hin zu Aufnahmen, die in eigens anberaumten Fotoproben angefertigt wurden. Eine systematische Erschließung des ebenso umfangreichen wie heterogenen Materials steht bislang aus. Siehe hierzu auch den Beitrag von Stefanie Diekmann in diesem Band.
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Abb. 1: Etienne-Jules Marey, Aufprallverhalten eines Balls auf dem Boden, 1886 des weißen Balls nämlich, den eine außerhalb des Bildes stehende, aber mit dem Arm in den Bildausschnitt reichende Person auf das Pflaster geworfen hat. Die Kamera und die mit ihrer Hilfe hergestellte Aufnahme sind also integraler Bestandteil einer Inszenierung, in welcher dem fotografischen Bild epistemische Qualität zukommt.16 Auch im Falle des zweiten Beispiels versucht der Fotograf, etwas sichtbar zu machen, das sich unserem Auge eigentlich entzieht. Es handelt sich um eine Aufnahme des belgischen Surrealisten Paul Nougé aus den Jahren 1929–30 (Abb. 2). Das Bild zeigt eine durch den Titel als Jongleurin ausgewiesene Frau mit dunklem Haar, die den Kopf und die ausgebreiteten Arme auf einen Tisch gelegt hat, als würde sie schlafen.17 Gegen diesen Eindruck spricht allerdings, dass sie beide Hände auf die Handkanten gestellt hat, so dass zwischen ihren Handflächen immer winziger werdende Bälle zu einem halbkreisförmigen Bogen geordnet werden konnten. Die Aufnahme ist von einer eigenwillig spröden Poesie durchdrungen und thematisiert in zweierlei Hinsicht das vom Künstler eingesetzte Bildgebungsverfahren, nämlich die Fotografie. Dies gelingt zum einen
16 Zum Verhältnis von Inszenierung und Wissensproduktion siehe einführend Krifka, Sabine: »Schauexperiment – Wissenschaft als belehrendes Spektakel«. In: Holländer, Hans (Hg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Stu-
dien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin, 2000, S. 773–788. 17 La Jongleuse ist Auftakt einer Serie, die zu ihrer Entstehungszeit unveröffentlicht blieb. Ein Kollege Nougés publizierte sie Ende der 1960er Jahre. Siehe Mariën, Marcel: Subversion des images. Brüssel, 1968.
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Abb. 2: Paul Nougé, La Jongleuse, aus der Serie Subversion des images, 1929–30 durch das Arretieren der mit ebenso kunstfertiger wie rasanter Bewegung assoziierten Jonglage und zum anderen durch die Berührung von jonglierender Frau und planer Fläche, die auf die Vorstellung von Fotografie als Abdruck anspielt, zumal der weiße Tischbehang mit seinen Kniffen und Falten kaum zufällig an das Schweißtuch der Veronika und damit an die durch das Aufdrücken des Gesichts erfolgte Bildwerdung Christi erinnert – an die zwischen Repräsentation und Präsenz oszillierende Vera Ikon also, die bisweilen als eine Art mythisches Urbild der Fotografie angesehen wird.18 Der enorme Reiz dieser Aufnahme jedoch liegt vor allem darin begründet, dass sie mit der Wiedergabe eines unseren Sehgewohnheiten entgegenstehenden Motivs zugleich den Faktizitätsanspruch des Mediums Fotografie in Frage stellt und damit in Übereinstimmung mit den Forderungen des Surrealistischen Manifests19 keine Realität im Sinne von Alltagswirklichkeit abbildet, sondern deren Versatzstücke neu ordnet, um eine jenseits unserer Alltagserfahrung lokalisierte ›Surrealität‹ ins Bild zu setzen.
18 Die hier angenommene Anspielung auf die Vera Ikon wird dadurch verstärkt, dass der aus Bällen gebildete Bogen an einen Nimbus erinnert. Zur Vera Ikon als Urbild der Fotografie siehe u.a. Maynard, Patrick: »The Secular Icon: Photography and the Functions of Images«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Jg. 42, Nr. 2, Hoboken, Winter 1983, S. 155–169; Mitchell, William J.: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the PostPhotographic Era. Cambridge, 1998, S. 28. 19 Breton, André: »Erstes Manifest des Surrealismus« [1924]. In: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg, 1977, S. 9–43.
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Abb. 3: Gustav von Estorff, Ballgymnastik, aus dem Bildband Wir Arbeitsmaiden, 1940 Auf eine veränderte Wirklichkeit zielt auch das dritte Beispiel, das dem Bereich der angewandten Fotografie zugehört, nämlich der nationalsozialistischen Propaganda (Abb. 3). Gustav von Estorff fertigte die Aufnahme 1940 für einen Bildband über den Einsatz weiblicher Arbeitsdienstler in der Landwirtschaft an.20 Sie zeigt vier sogenannte Arbeitsmaiden bei der Ballgymnastik, die vergleichsweise statische Komposition ist subtil dynamisiert: Die Kamera war nicht frontal vor den in Reih und Glied stehenden Mädchen positioniert, woraus sich zwei das untere Bilddrittel durchmessende Diagonalen ergeben. Die in die Luft geworfenen Bälle fliegen nicht gleich hoch und zeigen Bewegungsunschärfen. Der Anschnitt rechts sorgt ebenfalls für eine leichte Asymmetrie. Dennoch machen die identische Sportkleidung mit dem Hakenkreuzemblem über dem Brustbein und die auf Gleichförmigkeit zielende Leibesertüchtigung deutlich, dass es hier um die uniformierende Zurichtung junger Frauen geht, wobei die wie in einem Adorantengestus erhobenen Arme das gesamte Bild beinahe sakral aufladen, was zumindest vage auf eine von den Protagonistinnen geteilte, ›höhere Idee‹ verweist. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die gesamte angewandte Fotografie durch ein intrikates Verhältnis zur Inszenierung gekennzeichnet ist. Dies gilt insbesondere für die Modefotografie, die hier durch eine Aufnahme von Horst P. Horst aus dem Jahre 1941 (Abb. 4) vertreten sein soll. Horst hatte Deutschland aufgrund nationalsozialistischer Repressalien verlassen und in den Vereinigten Staaten Karriere gemacht. In der für seine Arbeiten charakteristischen Stili20 Estorff, Gustav von: Wir Arbeitsmaiden. Berlin, 1940.
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Abb. 4 und 5: Horst P. Horst, Aufnahme für ein Titelblatt der US-amerikanischen Modezeitschrift Vogue, 1941, und Titelblatt der entsprechenden Ausgabe vom 15. Mai 1941 sierung zeigt die Studiofotografie vor weißem Hintergrund und auf weiß verhängtem Podest eine weiß gekleidete Badeschönheit, die lesend auf dem Rücken liegt und mit gekreuzten Beinen einen großen roten Ball stützt, wobei das Licht hinter der Frauengestalt besonders hell erscheint, während es rechts und links des Motivs diskret vervielfachende Schatten wirft. Weitere, von der Studiosituation unabhängige Inszenierungsschritte erfährt diese Fotografie im Rahmen ihrer Weiterverarbeitung zum Titelblatt der Modezeitschrift Vogue vom 15. Mai 1941 (Abb. 5), allem voran durch das Hinzufügen oder Überlagern mit Schrift, was auch zu Sinnverschiebungen führt. Denn hier ist die Frau nicht länger eine Lesende. Sie fordert auf zu lesen, indem sie mit der Linken, die zuvor ein Heft oder ein mittig gefaltetes Blatt Papier gehalten hat, ein schwarzes Band zu sich herabzieht. Dieses Band bildet den ersten Buchstaben des Zeitschriftentitels, während der große rote Ball den zweiten füllt. Als inszeniert bezeichnen lässt sich auch die Konzeptkunst von John Baldessari, der sich in ganz besonderem Maße als Regisseur erweist, insofern er nämlich das Kunstwerk nicht materialiter, sondern in Form einer Handlungsanweisung erzeugt: Pier 18 aus dem Jahre 1971 (Abb. 6) entstand für eine Gruppenausstellung gleichen Titels. Die Künstler waren eingeladen, auf einer verlassenen Anlegestelle zwei renommierte Fotografen zu treffen, um gemeinsam mit ihnen ein Fotoprojekt zu gestalten. Diese Vorgabe unterlief Baldessari, indem er Harry Shunk und John Kender bat, einen vom Boden aufspringenden, roten Ball so zu fotografieren, dass er sich genau in der Mitte des Bildausschnitts befand – und sie so zwang, komposi46
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Abb. 6: John Baldessari, Pier 18, 1971 torische Erwägungen außer Acht zu lassen. In der hier präsentierten Reihe wiederum nimmt sich die von Baldessari lediglich initiierte Fotografie fast wie ein Rekurs auf die Experimente Mareys aus, die im Kunstkontext allerdings ad absurdum geführt werden, weil Baldessari seine Vorgaben so formulierte, dass sie weder zu erfüllen waren noch einen Erkenntnisgewinn in Aussicht stellten. Wieder einer anderen Logik folgt das von David Hurn festgehaltene Ballspiel von 1994 (Abb. 7). Als Mitglied der Agentur Magnum sieht sich Hurn den Regeln der direkten Fotografie verpflichtet, und dennoch lassen sich auch seine Bilder als inszeniert beschreiben: Wie die anderen Fotografen entschied Hurn über eine ganze Reihe von Inszenierungsschritten, aus denen das von ihm aufgenommene Bild resultiert. Zu nennen sind unter anderem die Auswahl des Filmmaterials, das Festlegen von Bildausschnitt, Belichtungsmoment und Belichtungszeit, die nachherige Entscheidung über das in Umlauf gebrachte Foto und so weiter. Mindestens ebenso viele Entscheidungen, die ihrerseits als Inszenierung einzustufen sind, wurden allerdings von anderen Personen getroffen: Der Junggesellinnenabend, zu dem sich die Frauen aufgemacht und in einer nach bestimmten Konventionen eingerichteten Bar versammelt haben, um zu fortgeschrittener Stunde einen bereits vollständig entkleideten Stripper mit Sprühsahne oder ähnlichem einzureiben, folgt einer mehr oder minder festgelegten Dramaturgie. Zudem handelt es sich beim Striptease um eine althergebrachte Theaterform, in der Darsteller und Zuschauerinnen zumindest anfänglich klar voneinander getrennt sind. Entscheidender Unterschied zu den vorangegangenen Aufnahmen ist also, dass all die benannten Inszenierungen nicht allein der Verantwortung des Fotografen, sondern auch 47
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Abb. 7: David Hurn, Hen Night, USK, 1994 dem Inszenierungswillen des Strippers, der Frauen und nicht zuletzt des Barbesitzers unterliegen. Der Fotograf, der vor allem mit Hilfe der Kameraposition eine unmittelbare Teilnahme suggeriert, ist in dieser Konstellation lediglich ein geladener oder geduldeter Gast, der bestimmte Inszenierungsleistungen vorfindet und uns in weiteren Inszenierungsschritten zugänglich macht. Abgeschlossen werden soll die Bildergalerie mit einer weiteren Modefotografie, und zwar mit den Ball spielenden Mädchen aus der 2004 entstandenen Serie Together von Achim Lippoth (Abb. 8), die gleichsam die Positionen von Estorff und Horst, von Propaganda und Mode in sich vereint. Mit besagter Aufnahme zitiert Lippoth die Aufnahme Estorffs, ja er radikalisiert sowohl Komposition als auch Motiv, indem er ausschließlich blond bezopfte Mädchen zeigt, die aus der Landschaft sich ergebenden, unregelmäßigen Horizontalen in die wie mit dem Lineal gezogenen Waagerechten einer Stadiontreppe überführt und die roten Bälle wie Seifenblasen über den Kinderköpfen schweben lässt. Lippoths Werbeaufnahme lässt sich als fahrlässige, um Aufmerksamkeit heischende Übernahme eines nationalsozialistisch kontaminierten Bildvokabulars abtun oder als durchaus subversiver Kommentar lesen, der eine Diskussion über das Verhältnis von Werbung und Propaganda, von Normierung und Bekleidungsindustrie, von Diktatur und Mode anstoßen will.21 Unabhängig davon ist Lippoths Fotografie an dieser Stelle von Interesse, weil die offenkundige Re-Inszenierung der Aufnahme von Estorff 21 Hierzu ausführlich Pilling, Barbara: »Des Führers neue Kleider? Zur Inszenierung von Kindermode in der Fotostrecke Together von Achim Lippoth«. In: Krüger, Klaus; Weiß, Matthias; Crasemann, Leena (Hg.): Um/Ordnungen. Fotografische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion. München, 2010, S. 251–266.
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Abb. 8: Achim Lippoth, Ball spielende Mädchen, aus der Modestrecke Together, 2004 durch die Aufnahme von Lippoth das Moment der Inszenierung doppelt herausstreicht. Zusammenfassend ließe sich also sagen, dass es in der Auseinandersetzung mit Fotografie nicht um die Frage geht, ob sie inszeniert ist oder nicht.22 Es geht vielmehr um die Frage, in wessen Verantwortung welcher Inszenierungsschritt fällt und inwiefern diese Inszenierungsleistungen dem fotografischen Bild eingeschrieben sind. Die Fragen, die sich aus dieser Schlussfolgerung ergeben, lauten freilich: Wenn alles und jedes ein Inszeniertes ist, was leistet dann der Begriff ›inszenierte Fotografie‹? Oder anders gewendet: Wenn sich Fotografie wie jede andere Kulturtechnik auch notwendig einer Vielzahl inszenatorischer Strategien bedient, inwieweit ist dann die Rede von einer ›inszenierten Fotografie‹ überhaupt sinnvoll oder statthaft? Oder, noch einmal anders formuliert: Wenn alle Fotografie inszeniert ist, wie lässt sich dann die eigens so benannte
22 Ausdrücklich abzugrenzen ist die hier geführte Diskussion demnach von Fälschungsdebatten, wie sie etwa um Robert Capas Death of a Loyalist Militiaman (1936) oder Robert Doisneaus Le Baiser de l’Hotel de Ville (1950) geführt werden – zwei Inkunabeln direkter Fotografie, von denen nachweislich zumindest letztere gestellt ist. Einen Überblick über den jeweiligen Kenntnisstand geben Heinick, Angelika: »Ein Kuß geht um die Welt«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 15, Frankfurt a.M., 17. April 2005, S. 66; Cáceres, Javier: »Im Moment der Wahrheit. Neue Vorwürfe: Was ist eigentlich noch echt am berühmten Foto ›Loyalistischer Soldat im Moment seines Todes‹ von Robert Capa?« In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 164, München, 20. Juli 2009, S. 9.
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›inszenierte Fotografie‹ von einer vermeintlich nicht inszenierten unterscheiden? Als Resultat des bis hierher Dargelegten sollen zwei Definitionskriterien vorgeschlagen werden. Erstes Bestimmungsmerkmal ›inszenierter‹ Fotografie ist, dass das Bild in allen seinen Teilen und Entstehungsschritten dem Gestaltungswillen einer einzelnen Person oder einer überschaubaren, miteinander und aufeinander abgestimmt agierenden Gruppe unterworfen ist. Der Fotograf entscheidet über die Wahl und die Einrichtung des Ortes, die Verpflichtung, Herrichtung und Führung der Personen, den Einsatz des Lichts und so weiter. Der inszenierende Fotograf ist demnach tatsächlich am ehesten einem Theater- oder Filmregisseur zu vergleichen. Er ist Arrangeur. Er ist Bilderproduzent. Er bestimmt soweit als möglich über alle zum Einsatz gebrachten künstlerischen Mittel, das heißt, er ist diskurssetzend und diskursbeherrschend. Zweites Bestimmungsmerkmal ist, dass die Inszenierung allein und ausschließlich im Hinblick auf das Fotografiertwerden erfolgt – im Gegensatz etwa zur Dokumentation des Striptease durch David Hurn. Erklärtes Inszenierungsziel ist demnach das zweidimensionale Bild. Inszenierungsadressat ist zunächst die Kamera und erst in einem nächsten Schritt der Betrachter, sei es nun ein Museums- oder Galeriebesucher, ein Zeitschriftenleser und so fort. Kategorialer Unterschied zwischen einer inszenierten und einer vermeintlich nicht inszenierten Fotografie ist demnach, dass die nicht inszenierte Fotografie die von ihr eingesetzten inszenatorischen Strategien im Hinblick auf das Inszenierungsziel Authentizität verhüllt oder gar leugnet, während die inszenierte Fotografie die verwendeten Mechanismen gerade offen legt und damit zugleich thematisiert. Bei inszenierter Fotografie geht es demnach um ein Ausstellen der eigenen Mittel, um die Ent-Deckung ihres Inszeniertseins, das heißt, die Bildwerdung und das Bildsein treten stärker in den Mittelpunkt des Interesses als im Falle nicht inszenierter Fotografie, was sich in Begriffen wie ›Selbstreflexion‹, ›Selbstmarkierung‹ oder ›Autoreferenz‹ weiterdenken ließe. Analytisch herauszupräparieren sind demzufolge vier Aspekte. Erstens die Inszenierung vor der Kamera inklusive der Frage, ob es sich um eine vorgefundene oder vom Fotografen im Hinblick auf die Fotografie und ihr Publikum veranlasste Inszenierung handelt. Zweitens die Inszenierung mit der Kamera, das heißt die Fähigkeit der Fotografie, den Einsatz der Kamera und der ihr eigenen technischen Möglichkeiten als zusätzliche Inszenierungsebene vorzuführen; zu nennen sind hier zum Beispiel das Stillstellen, das Übertragen vom Drei- ins Zweidimensionale, das Lenken des Blicks durch die Auswahl des Bildausschnitts, durch Schärfen und Unschärfen und so weiter. Mit einzubeziehen sind außerdem drittens ikonogra-
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fische Konventionen und rekursive Strategien wie das Bildzitat, denn gerade im Moment der Konventionserfüllung oder der augenfälligen Nach-Bildung wird das Inszeniertsein einer Aufnahme besonders evident. Hinzu kommt viertens die Inszenierung des fotografischen Bildes als Bild, das heißt, ein umfassend angelegter Begriff ›inszenierter Fotografie‹ muss auch den jeweils spezifischen Modus der Präsentation mit berücksichtigen, also den Ort und die Art und Weise der Konfrontation von Fotografie und Betrachter, der über die Wahrnehmung und Einordnung des jeweiligen Bildes als ein wissenschaftliches, künstlerisches, propagandistisches und so fort entscheidend mitbestimmt. Abschließend sei der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis ›inszenierte Fotografie‹ und das Paradigma des Performativen stehen. Überlegungen des Fototheoretikers Philippe Dubois und anderer fortführend,23 macht es die hier vorgeschlagene Definition ›inszenierter Fotografie‹ unumgänglich, Fotografie durch das Einbeziehen produktionsästhetischer, medienspezifischer und rezeptionsästhetischer Parameter nicht nur als materialiter vorhandenes Artefakt, sondern als Kondensat einer Vielzahl performativer Praktiken oder Handlungsabfolgen zu begreifen, die allesamt der Fotografie als Artefakt ein- oder angelagert sind. In diesem Sinne ist Fotografie als ein vielschichtiger Prozess des Sichtbarmachens zu verstehen, der an der Schnittstelle von Visualität und kultureller Praxis – von Materialisierung des Imaginären einerseits und Generierung, Stimulierung oder Modellierung von Imaginiertem andererseits – zu verorten ist. Die Fotografie als Artefakt nimmt in dieser Konstellation eine Art Scharnierfunktion ein. Oder, um noch einmal die bereits vielfach bemühte Sprache des Theaters zu verwenden: Im fotografischen Bild materialisiert sich Diderots Idee einer »vierten Wand«,24
23 Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam u. Dresden, 1998; Kolesch, Doris; Lehmann, Annette Jael: »Zwischen Szene und Schauraum – Bildinszenierungen als Orte performativer Wirklichkeitskonstitution«. In: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt a.M., 2002, S. 347–365, insb. S. 354–365; Wittmann, Mirjam: »›Man steigt nie zweimal in denselben Fluß‹. Erste Überlegungen zur Performanz des Fotografischen«. In: Schwarte, Ludger (Hg.): Bild-Performanz. Die Kraft des Visuellen. München, 2010 (bei Red.-schluss im Erscheinen). Zu überprüfen wären auch Anknüpfungsmöglichkeiten an die Bildakttheorie, wie sie derzeit etwa Horst Bredekamp erarbeitet. 24 Diderot, Denis: »De la Poésie dramatique«. In: Ders.: Œuvres Esthétiques.
Textes établis, avec introductions, bibliographies, chronologie, notes et relevés variantes. Hrsg. v. Paul Vernière. Bordas u. Paris, 1988, S. 177–287, hier S. 231, dt.: Ders.: »Von der dramatischen Dichtkunst« [1758]. In: Diderot, Denis: Ästhetische Schriften. Erster Band. Hrsg. v. Friedrich Bassen-
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die Darsteller und Betrachter allerdings nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich voneinander trennt und dennoch im Sinne Martin Seels Gegenwart herstellt. In der Verschränkung von ästhetischen und anthropologischen Aspekten der Inszenierung erweist sich ›inszenierte Fotografie‹ allerdings auch insofern als performativ, als dass sie in je spezifischer Weise in die Wirklichkeit eingreift, ja Wirklichkeit nachgerade herstellt oder zumindest herzustellen versucht, sei es nun die Chronofotografie eines Marey, die auf Wissenserzeugung zielt; sei es die surrealistische Fotografie eines Nougé, die gewohnte Wahrnehmungsmuster durch ungewohnte ersetzen möchte; sei es die Propagandafotografie von Estorff oder die Modeaufnahme von Horst, die in je unterschiedlicher Stoßrichtung und Tragweite einen neuen Menschen erzeugen wollen – der eine für tausend Jahre, der andere für nur eine Saison. Bezogen auf die im Kunstkontext seit den 1970er Jahren entstandenen Fotografien von Sherman, Wall und anderen wiederum ist das hier Zusammengetragene dahingehend zu verstehen, dass diese nicht als ein von vornherein zum Scheitern verurteilter Versuch der Sistierung oder Eternisierung von etwas wesentlich Ephemerem, nämlich von Performance, zu begreifen sind, sondern sich weitaus treffender als Einholung oder Rückbindung von Performance in das fotografische Bild beschreiben lassen. Diese Einholung oder Rückbindung von Performance in das Bild aber verfolgt kein geringeres Ziel, als in Revision der Positionen der 1960er und 70er Jahre dem im Zuge von Happening, Installation und Aktionskunst proklamierten, von Laszlo Glozer nur allzu treffend formulierten »Ausstieg aus dem Bild«25 entgegenzuwirken und das fotografische Bild durch seine performative Aufladung gleichsam neu zu legitimieren.
ge. Berlin u. Weimar 1967, S. 239–333, hier S. 284. Die angegebene Textstelle gilt als Epizentrum von Diderots Gedanken zur »vierten Wand«, auch wenn er den Ausdruck selbst nicht verwendete. Siehe Lehmann, Johannes Friedrich: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg i.Br., 2000, S. 13–14, Anm. 2. 25 Glozer, Laszlo: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939. Köln, 1981, S. 234–238.
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›Inszenierte Fotografie‹, ›Inszenierende Fotografie‹ und ›Fotografierte Inszenierung‹ – am Beispiel von Schauanordnungen für lebende und tote Tiere∗ CHRISTIAN JANECKE
Die Kunstgeschichte ist irreführende Ismen gewohnt. Dass der Fauvismus nichts Wildes und der Kubismus keine Würfel hervorgebracht hat, rief kaum Bedenken hervor. Vergleichbar entspannt könnte man dem seit einigen Jahrzehnten eingebürgerten Begriff einer ›Inszenierten Fotografie‹1 begegnen. Denn man legt statt einer buchstäblich theatralen eine eher übertragene Bedeutung des Inszeniertseins zugrunde; und niemand nimmt die exakte Beziehung von Attribut und Substantiv für bare Münze, um ›Inszenierte Fotografie‹ allen Ernstes auf bereits vorhandene Fotografien, die vielleicht mittels eines Plüschrahmens inszeniert würden, zu beziehen – oder auf einen via Bühne buchstäblich inszenierten Vorgang des Fotografierens. Vielmehr ist allgemein akzeptiert, dass es um fotografische Aufnahmen bereits arrangierter Situationen geht – oder seit der unaufwendig möglich gewordenen digitalen Manipulation von Fotografie auch um eine entsprechende Fügung von Bildinhalten im Computer, welche das spätere Bild dennoch so zeigt, als ob
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Herzlicher Dank an: Dipl. Bibl. Christa Scheld (Offenbach) für prompte Beschaffung schwer zugänglicher Kataloge, Dr. Hans-Jürgen Lechtreck (Essen) sowie Nathalie Grenzhaeuser (Frankfurt a.M.) für wertvolle Hinweise zu Beispielen, Dr. Amalia Barboza (Frankfurt a.M.) für Übersetzung aus dem Spanischen, schließlich Sonja Braas (New York) und Paula Anta (Madrid) für Bereitstellung von Informationen und Abbildungsmaterial. Zu dieser ›Einbürgerungsgeschichte‹ vgl. Walter, Christine: Bilder erzählen!
Positionen inszenierter Fotografie: Eileen Cowen, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood. Zugl.: München, Univ., Diss., 2001. Weimar, 2002, S. 22-43.
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diese bildliche Konstellation Sujet einer Fotografie geworden sei.2 Mit anderen Worten, niemand moniert, dass das, was wir gemeinhin als ›Inszenierte Fotografie‹ bezeichnen, mit mehr Recht genau umgekehrt ›Fotografierte Inszenierung‹ oder noch präziser: ›Fotografie des für die Fotografie Inszenierten‹ heißen müsste, und dass man es mit dem Begriff der Inszenierung nicht so genau nehmen darf. Dennoch will ich besagte Kompromisse ein wenig auseinandernehmen – gleichviel ich befürchte, der Begriff ›Inszenierte Fotografie‹ werde nicht mehr aus den Angeln zu heben sein, weil seine Verwender sich immerzu einreden: Never change a winning team! Meine Beispiele beschränke ich auf die Tierwelt, und meist aus Zoo und Museumsdiorama – denn kaum etwas ist aufschlussreicher im Hinblick auf Fotografie und Inszenierung als Sujets zwischen Lebendigkeit und Erstarrung, zwischen Schauanordnung und Fürsichsein. Die jeweils sich fast wiederholende Exposition in der Anlage dieser Beispiele erlaubt es zudem, kleine, aber hoffentlich wichtige Unterschiede herauszuarbeiten. Was schließlich den von mir zunächst hartnäckig unhinterfragt belassenen Begriff des ›Inszenierten‹ (und zwar in sämtlichen Wortformen) betrifft, so vertraue ich auf die sukzessive Schärfung durch meine Nutzungskontexte und komme gegen Ende darauf zurück.
Fotografie des Inszenierten Was bislang unter ›Inszenierte Fotografie‹ fällt, müsste, wie gesagt, eigentlich ›Fotografie des Inszenierten‹ und genauer noch ›Fotografie des für die Fotografie Inszenierten‹ heißen. Sucht man nach Fotografien dioramenähnlicher Situationen, für die das Motiv eigens hergerichtet wurde, so stößt man im 19. Jahrhundert auf die merkwürdige Praxis, Tierpräparate als Hilfsmittel zur Vortäuschung lebender Tiere einzusetzen und sie etwa auf einer zum Herkunftsland
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Deswegen muss man auch nicht – wie Walter 2002 (wie Anm. 1), S. 26 unter Berufung auf weitere Autoren nahelegt - von manipulierter Fotografie sprechen. Denn für den Status des Inszeniertseins ist es unerheblich, ob bestimmte Änderungen vor der Aufnahme wirklich requisitär oder anderweitig arrangiert wurden oder dies erst im Nachhinein durch digitale Bildbearbeitung geschah. Das gilt umso mehr, je ausgefeilter digitale Werkzeuge werden. Martin Liebschers Selbstvervielfachungen zählen ja zur ›Inszenierten Fotografie‹ (nach herkömmlicher Terminologie) – aber wie anders, wenn nicht durch digitale Manipulation und Montage sollten diese ›Familienbilder‹ zustande kommen?!
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Schauanordnungen für lebende und tote Tiere
des entsprechenden Tieres nicht ohne weiteres passenden Wiese zu platzieren.3 Für die heutige Zeit und zumal für den Kunstkontext denkt man vielleicht an Olivier Richons4 Fotografien gepflegter Allegorien und Stilleben mit ausgestopften, teils lebenden Tieren oder an Nadin Maria Rüfenachts Paragone mit dem klassischen Stilleben der Malerei, wo surreale Effekte eng benachbarter Tücher, Früchte, Affen und Hunde sich weniger deren unverhoffter Begegnung, denn vielmehr der notorischen Indiskretion des alle Motive und Zustände zur hochglänzenden Kopräsenz zwingenden fotografischen Mediums verdanken.
Abb. 1: Karen Knorr, When Will You Ever Learn?, 2001 Am ehesten wären noch Karen Knorrs5 outrierte Rätselbilder (Abb. 1) zu nennen: Ausgestopfte Vögel flattern effektvoll und wie in Überschreitung der ästhetischen Grenze vor Bildern des Rokoko; Affen zeigen an einer marmornen Liegenden im Museum begehrliches Interesse; Füchse und weitere Fabeltiere treten in Herrenhäusern und
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Lechtreck, Hans-Jürgen: »Fotografie und Tierpräparation komplementär. Anmerkungen zur gemeinsamen Geschichte zweier zoologischer Aufzeichnungsmedien des 19. Jahrhunderts«. In: Eskildsen, Ute (Hg.): nützlich, süß und museal – das fotografierte Tier. Essen, 2005, S. 70-95, hier S. 77f. Vgl. Sarah James’ Rezension einer Ausstellung des Künstlers bei IBID Projects, London, in frieze, Heft 123, London, Mai 2009, unter: http://www. frieze.com/issue/review/olivier_richon/ (Stand: 13. Dezember 2009). Vgl. Knorr, Karen: Genii loci. The Photographic work of Karen Knorr. London, 2002.
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Schlössern an die Stelle heutiger Besucher. Ohne jene Historizität, welche dioramatischer oder trophäenartiger Schaustellung anhaftet, erscheinen Knorrs Tiere wie aus der Zeit gefallen. Sie warten uns auf, wie sie es auch vor Jahrhunderten hätten tun können, als die von ihnen in Besitz genommenen Enfiladen von Schlössern noch ganz neu waren und man sich auch den gelehrten Analogien von Fabeln noch unverdrossen hingab. Künstlerfotografen machen sich sonst aber kaum die Mühe, Motive aus Diorama und Zoo zu arrangieren, vermutlich weil es sich um per se schon hochgradig inszenierte Artefakte und Kontexte handelt. Dennoch ist dies auch Hinweis auf eine allgemeine Entwicklung. Die programmatisch postmodernen 1980er Jahre mit ihrem Faible für verblüffend konstruierte fotografische Bilder (an die leider auch Richon und Knorr erinnern!) liegen doch weit zurück. Aus heutiger Warte sehen wir, dass sie eine gewisse Konjunktur in die 1990er Jahre wohl nur hatten hinüberretten können dank immer leichter und unaufwendiger werdender digitaler Bildmanipulation. Mittlerweile jedoch spaltete sich die Tüftelei der Motivarrangeure eher auf in andere Richtungen: Da sind die modellbauenden Fotografen wie Thomas Demand oder Oliver Boberg, bei denen nun partout jede Bildstelle den Reiz des Spiels mit manipulierter Maßstäblichkeit und artifizieller Oberfläche auskostet, da ist eine geschickt auf verbale Kontextualisierungen (Tracey Moffat) oder auf filmische respektive zeitbasierte Effekte (Cindy Sherman, Sam Taylor-Wood) setzende Dramatisierung von Fotografie, und schließlich gibt es eine eher semikünstlerische6 sowie eine ausufernde hobbyfotografische Praxis in den Foren des Internets, für die aktive Dilettanten keinen Aufwand scheuen. Das Gros jüngerer künstlerischer Positionen hingegen hält sich an die Fotografie ohnehin schon inszenierter Konstellationen. Der Künstlerfotograf schlägt dabei nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe: Er gibt sich abgeklärt, sachlich, nüchtern und streicht dennoch die Meriten des Bizarren, Absonderlichen, Verfremdeten ein. Er kombiniert so das unverdient Phantasievolle (welches ihm sein Sujet sozusagen gratis einbringt) mit klassisch fotografischen Authentizitätsversprechen. Dieser Trend7 6
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In ästhetischen Nachhutgefechten hat minutiöse Ausstaffierung ungebrochene Konjunktur. Ein willkürliches Beispiel geben die Wiesbadener Fototage mit ihrem »Festival für zeitgenössische Fotografie – inszenierte Fotografie« (12.9.-27.9.2009), einer Ausstellung, die randvoll war mit abgegriffen theatralischen, oft am Rande des Kitsches sich situierenden Effekten. Ein aktueller Katalog zu entsprechenden Positionen im Palazzo Strozzi zu Florenz (25.9.2009-17.1.2010) heißt denn auch »Realtà manipolate«, lässt also im Titel offen, auf wessen Konto die Inszenierungen eigentlich gehen (nämlich meist auf das Konto vorgefundener Manipulationen).
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bildet sich auch bei meinen weiteren Beispielen ab – was übrigens nicht von Nachteil ist, weil solcherart die Feinheiten einer je nachdem mehr dem Sujet, mehr der Verbildlichung oder dem genuin fotografischen Vorgang sich verdankenden ›Inszenierung‹ in den Blick treten.
Abb. 2: Sonja Braas, You are here #23, 1998 Die kleinen Vögel auf kahlen Zweigen in Sonja Braas’ You are here #23 (1998) (Abb. 2) wirken, als habe die Künstlerin sie dort für die Aufnahme versammelt oder in der Phase der Postproduction digital hineinkopiert. Die unvermittelte Überlagerung reich durchwirkten Vordergrundes und diffuser Fernlandschaft erinnert an altmodische Postkartenmotive, an die unfreiwillige Kulissenhaftigkeit früher Farbfilme und auch an lieblos hergerichtete Dioramen aus Naturkundemuseen. Tatsächlich entstand die Aufnahme im New Yorker Bronx Zoo. Die folglich lebenden Tiere, afrikanische Karminspinte (Merops nubicoides), besetzen ein schmales Proszenium vor einem als Savanne bemalten Wandhintergrund. Zoos hatten früh damit begonnen, die für Museumsdioramen typische Nachstellung von Habitats zu übernehmen, also lebende nach dem Muster der toten, wenngleich als lebendig vermeinten Tiere zu zeigen. Damit reagierte der Zoo bereits auf das Abgehalfterte der dioramatischen Illusion. Denn im Naturkundemuseum mochten die Besucher zwar staunend die ihnen servierte Illusion erblicken, was sie indes sahen – nämlich binokular, räumlich zweifelsfrei durch Vitrine oder Wandeinnischung begrenzt und gerade ob der Starre des jeweiligen Ensembles 57
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gespenstisch abstechend von ihrer eigenen Lebensgegenwart als Besucher –, das war alles andere als überzeugend. Im Zoo hingegen, wo man die Tiere ohnehin nicht davon abhalten kann, sorgsam konstruierte und komprimierte Schichten bühnenräumlicher Tiefenillusion zu sabotieren, indem sie vielleicht an der Rückwand schnuppern (und demnach groß wie Monster sein müssten), sind entsprechende Landschaftshintergründe abwaschbar, senken die Unzufriedenheit sentimentaler Tierfreunde und liefern gleich noch eine den Lebensraum des Tieres zeigende Schautafel mit.
Abb. 3: Candida Höfer, Zoologischer Garten Washington DC IV, 1992 Die Fotografie wiederum verschleiert mühelos die verräterischen Ränder der Illusion, dank monokularer Bildinformation setzt sie die Überprüfbarkeit räumlicher Distanzen außer Kraft. Und den Eindruck des Mortifizierten kassiert das fotografische Bild, indem es als per se starres Repräsentationsmedium hier in Kongruenz mit seinem (teils) starren Sujet tritt. Obwohl Braas Wert darauf legt, sie arbeite nur analog, führe den Betrachter also nicht durch irgendwelche Nachbesserungen hinters Licht,8 ist doch offenkundig, dass besagte Vorzüge der Fotografie hier sämtlich in Anschlag gebracht werden – freilich innerhalb eines Kunstkontextes, dessen versierte Betrachter heute auf vakante Illusionsbrüche geradezu geeicht sind. Während die Pointe bei Braas darin liegt, das ohnehin Inszenierte des Sujets dezent zu überspielen respektive davon zu profitieren, dass reale, fingierte und manipulierte Natur bereits in unserer alltäglichen Erfahrung und zumal in der bildlichen Repräsentation komplottieren, legt es Candida Höfer9 in Zoologischer Garten Wa8 9
Entsprechende Angaben erhielt der Verfasser mehrfach durch E-Mails der Künstlerin. Vgl. Höfer, Candida: Zoologische Gärten. München, 1993, o.S., Abb. 29.
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shington DC IV (1992) (Abb. 3) darauf an, solche Unklarheiten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die von ihr fotografierte Giraffe befindet sich in einem illusionistisch bemalten Panoramagehege, dessen obligate Kontraste aus gemeinter Fernsicht (Savanne) und gemeinter Nahsicht (Gehegebegrenzungen) es nicht nur aufgegeben haben, die Zoobesucher angenehm täuschen oder auch nur in der Phantasie entführen zu wollen, sondern die nicht einmal taugen für jene günstigeren Illusionsbedingungen, welche ein unbewegliches Bild zu stiften in der Lage wäre. Die überlangen Gliedmaßen ausgerechnet einer Giraffe in dem verhältnismäßig engen Raum kommen erschwerend hinzu. Mag sein, dass Höfer angesichts dieser in sich bereits höchst unstimmigen Trouvaille aus der Not die Tugend machte, in jedem Falle passt es vorzüglich zu ihrer Becherschen Nüchternheitsprogrammatik, jegliche Mittäterschaft an dieser geschmacklosen (ihre Geschmacklosigkeit freilich als postmodernes Zitat kenntlich machenden und dadurch Vergebung des Betrachters heischenden) Illusion der Zoobetreiber zurückzuweisen. Nur geschieht dies nicht über jene verführerisch farbenfrohe, ins nahezu Quadratische gefügte Bildlichkeit, die etwa Lucinda Devlin10 ihren Nahsichten auf Habitate zoologischer Gärten abgewinnt, und ebenso wenig mit jener Art Parteinahme, die uns von Christina Zücks11 motivisch durchaus ähnlichen Fotografien zugemutet wird, indem die Tiere uns dort zur geheimen Komplizenschaft drängen, sie wenigstens unsere Zeugenschaft12 fordern angesichts ihres bizarren Schicksals, in Kulissen vegetieren zu müssen. Die für Höfer und ihre fotografische Herkunft vielmehr charakteristische Gleichwertigkeit aller Elemente des Sujets (die in gewissem Sinne die »qualitative Unterscheidungsunfähigkeit der photographischen Aufnahme«13 veredelt) verlangt also nicht, sondern erlaubt bestenfalls unser Räsonnement über die Inkommensurabilität von interniertem Tier und Internierungsrahmen. Was landläufig unter ›Inszenierter Fotografie‹ firmiert und mit mehr Recht ›Fotografierte Inszenierung‹ heißen müsste, zeigt sich 10 Vgl. die Abbildungen in Kraft, Peredita von (Hg.): Krokodil und Schwein.
Fotosafari in der Großstadt. Lucinda Devlin, Wilmar Koenig, Jochen Lempert, Christina Zück. Cottbus, 2002, S. 9-13. 11 Abbildungen unter: http://www.consciousart.de/galleries/herausforderung/ christina-zuck.php (Stand: 13. Dezember 2009). Vgl. auch die Abbildungen in Kraft 2002 (wie Anm. 10), S. 21-25. 12 Bezeichnend die empathischen, das beinahe Anthropomorphisierende in den Arbeiten Zücks benennenden Kommentare bei Carmen Schliebe. Siehe Schliebe, Carmen: »Die Großstadt – ein Platz für ›wilde‹ Tiere?«. In: Kraft 2002 (wie Anm. 10), S. 30-35, hier 31f. 13 Loock, Ulrich: »Zoologische Gärten. Landschaft als Interieur«. In: Höfer 1993 (wie Anm. 9), S. 73-76, hier S. 77.
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also in den selteneren Fällen als jene klassische Variante, derzufolge der Künstler selbst das Sujet arrangiert für seine spätere Aufnahme (›Fotografie des für die Fotografie Inszenierten‹), sondern, jedenfalls in jüngerer Zeit häufiger als ein Profitieren des Fotografen von bereits inszenierten Ensembles der Wirklichkeit. Im Unterschied zu der im folgenden Abschnitt verhandelten ›Inszenierenden Fotografie‹ waren es die Auspizien nicht primär des genuin fotografischen, denn allgemeiner des bildlichen Transformationsprozesses, unter denen die inszenatorische Wirkung sich erhielt oder verstärkte.14
Inszenierende(s) Fotografie(ren) Sorgt für das Inszenatorische im Wesentlichen die Übersetzung in eine Fotografie, so könnte man von ›Inszenierender Fotografie‹ oder ›Inszenierendem Fotografieren‹ sprechen. Subjekt des Inszenierens wäre im ersten Fall eine Fotografie im Sinne des fotografischen Bildes, im zweiten Fall der Vorgang des Fotografierens. Schon wird man sich fragen, wie ausgerechnet eine Fotografie etwas sollte inszenieren können. Der Blick auf Beispiele kann erhellen, was gemeint sein könnte. In den späten 1970er Jahren beginnt Hiroshi Sugimoto,15 die Dioramen des New Yorker Museum of Natural History (Abb. 4) zu fotografieren, mit einer Großbildkamera, bei langer Belichtungszeit und mit großer Detailgenauigkeit. Einerlei indes, wie der Künstler zum Beispiel einen Eisbären vor einem erjagten Pinguin und einem Loch im Eis nun genau, das heißt aus welchem Blickwinkel genau er ihn fotografiert – die viel ältere und starre dioramatische Inszenierung als solche verantwortet längst das Sujet und damit auch weitestgehend die Komposition: eine uns mittlerweile vertraute Exposition. Denn auf eine spektakuläre Ansichtsseitigkeit16 in reliefartiger Komprimierung der so verräterischen Tiefenachse wurde die 14 Das gilt auch für Wilmar Koenigs Ansichten von Dioramen aus Naturkundemuseen. Vgl. die andere Sicht bei Schliebe 2002 (wie Anm. 12), S. 33f. 15 Vgl. Brougher, Kerry; Müller-Tamm, Pia (Hg.): Hiroshi Sugimoto. Ostfildern, 2007. 16 Genau hierin liegt die Parallele zwischen Diorama und fotografischem Bild, während die von Brougher betonte Klassifizierungs- und Kategorisierungsleistung eher dem naturkundlichen Treiben überhaupt eignet, jedoch kaum das Diorama auszeichnet, welches ja eher unterkomplexe naturkundliche Einsichten nur publikumswirksam umsetzen sollte. Deswegen ist Sugimotos Aufnahme auch kein »Bild von uns, die wir versuchen, die Welt zu verstehen«. Brougher, Kerry: »Unmögliche Fotografie«. In: Brougher/MüllerTamm 2007 (wie Anm. 15), S. 21-31, hier S. 23.
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Abb. 4: Hiroshi Sugimoto, Polar Bear, 1976 Szenerie bereits durch die Dioramengestalter festgelegt.17 Die großen, das Sujet nachgerade elegisch ausbreitenden Schwarzweißabzüge im Museum hingegen sind es, von denen meines Erachtens eine unverhoffte, gewaltige Suggestionskraft ausgeht. Indem Sugimoto das, was ihm damals – und wohl auch manch anderem sensiblem Besucher – als extrem brüchige, starre, mortifizierte Szenerie erschien, durch das Schwarzweiß der fotografischen Aufnahme noch des letzten Restes an Lebenswahrscheinlichkeit beraubt,18 gelingt ihm die paradoxale Verwandlung: Im Museum, in der Ausstellung steht man wie gebannt vor diesen Bildern, in denen alles Stillhalten der tierischen Protagonisten in ein Luftanhalten umgedeutet scheint, eben so, als posierten statt der tatsächlich toten Tiere, die Lebendigkeit mimen, nun lebende Tiere, die sich aus unerfindlicher Loyalität mit der Fotografie als tote bloß darbieten. Angesichts dieses Grenzfalls könnte man also sagen, das fotografische Bild selbst entfalte, indem es auf unheimliche Art jenes Leben in das Mortifizierte zurücktrage, welches es doch durch die reine Lichtbildhaftigkeit des Schwarzweiß gründlich getilgt haben sollte, inszenatorische Kraft. In aller Regel wird aber kein fotografisches Bild, sondern bestenfalls der fotografische Vorgang inszenierend wirken können. Man 17 Freilich rekurrieren Dioramen ihrerseits auf (Vor-)Bilder, etwa der Landschaftsmalerei! 18 Dies gilt trotz Broughers guter Beobachtung, dass mit Eisbär, Pinguin, Eisloch usw. eben »Schwarz-Weiß-Geschöpfe dargestellt [werden] in einer schwarz-weißen Welt«. Brougher 2007 (wie Anm. 16), S. 22.
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denkt unwillkürlich an ein Posieren für die Kamera, ja aufgrund ihres Tätigwerdens.19 Also bereits der Umstand, dass fotografiert wird beziehungsweise werden soll, kann aufseiten des Motivs beträchtliche Umstellungen provozieren, was so weit führen kann, dass nicht nur der/die/das Fotografierte, sondern eigentlich auch das Fotografiertwerden selbst Bildgegenstand wird. Schließlich vermag der Fotografiervorgang20 seinerseits aufführenden Charakter anzunehmen – etwa beim Blitzlichtgewitter.
Abb. 5: Tabea Sternberg (Bea Be), Gesture II. 3, 1997 Bei der hier abgebildeten Fotografie (Abb. 5), einer Lichtkastenarbeit von 1997, scheint sich all das zu finden, was man an Jeff Walls Bildsprache der 1990er Jahre schätzen gelernt hatte: allem voran eine im Beiläufigen getarnte Symbolik samt subtiler Referenzen auf Strategien und Kniffe der Bilderzählung in älteren Werken der europäischen Malerei. Würde man, um deutungshungrigen Kunsthistorikern einen Streich zu spielen, diese Arbeit als ein bislang unbekanntes Werk von Jeff Wall ausgeben, so dürfte man sich gefasst machen auf Beschreibungen wie in etwa die folgende (von mir ersonnene): »Der kanadische Fotokünstler gibt hier im Gewand alltäglicher, tierpflegerischer Arbeit im modernen Zoo eine Darstellung, beziehungsweise genauer eine Paraphrase der Heiligen Familie: mit einer aktiven Maria links, einem typisch verhaltenen Joseph rechts,
19 Barthes spricht von einer der Kamera korrespondierenden, posierenden Haltung, der Verwandlung »im Voraus zum Bild«. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M., 1985, S. 19. 20 »Eine Fotografie ist nicht nur das Ergebnis der Begegnung zwischen einem Ereignis und einem Fotografen. Eine Aufnahme zu machen, ist selbst schon ein Ereignis […]«. Sontag, Susan: Über Fotografie. 3. Aufl. München u. Wien, 1989, S. 16.
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nicht wissend, ob er eintreten oder sich doch besser wieder seiner Arbeit zuwenden und die Szenerie verlassen soll, einem belebt aus dem Bild sich heraus wendenden Christuskind (Äffchen), Stroh vorne, der (stählernen) Krippe hinten und vertikal rhythmisch das Bild gliedernden Balken des Stalls (Klettergestänge), schließlich mit himmlisch entsandtem Licht durch das offene Dach in Bethlehems ärmlichem Stall (Oberlicht in modernen Tiergehegen).« Wissend freilich, dass es sich nicht um eine Arbeit Walls handelt, ließe sich gut lästern über die Verstiegenheit einer solchen Lesart, und doch wäre die Übersetzung dieser anschaulich profan-zeitgenössischen in die berühmte, zweitausend Jahre alte religiöse Szene (oder das, was die Bildende Kunst daraus im Zuge Jahrhunderte währender Kanonisierungsprozesse prototypisch gemacht hat) ziemlich stichhaltig – zumal wenn man sie mit jenem disguised symbolism vergleicht, den in echten Werken Walls zu entdecken uns zahllose Deutungen aufgrund wesentlich wackligerer Indizien dennoch nahelegen. Nun handelt es sich bei dieser Arbeit nicht nur nicht um ein Werk von Jeff Wall, sondern auch nicht um ein Beispiel für ›Fotografie des für die Fotografie Inszenierten‹ (in alter Terminologie: ›Inszenierte Fotografie‹). Wenn man nämlich von der jegliche Fotografie auszeichnenden Trivialbestimmung absieht, dass der genaue Auslösezeitpunkt und die Ausschnittwahl gewisse die Bildaussage verändernde Entscheidungen implizieren, so ist für diese Fotografie seitens der Berliner Künstlerin und Filmemacherin Tabea Sternberg (Bea Be) eigentlich gar nichts arrangiert worden: Die Tierpfleger sind keine Schauspieler, der Raum wurde nicht eigens ausgestattet, die Lichtsituation nicht präpariert; das Äffchen war weder ausgestopft noch dressiert. Die Aufnahme entstand beileibe nicht in exklusivem Rahmen. Wie stets bei Tierfütterungen drängelten sich unzählige Touristen um die Szene, so dass es sogar mehr als wahrscheinlich ist, dass ganz ähnliche Motive auf anderen Fotografien uns unbekannter Zoobesucher in irgendwelchen Alben schlummern. Es handelt sich, respektlos gesagt, um wenig mehr denn einen guten Schnappschuss. Dass eine frappante Ähnlichkeit zu hochgradig inszenierten Szenerien besteht, hat daher andere Gründe. Erstens ist der Zoo generell, und zwar auch noch der moderne, nachgerade programmatisch enttheatralisierte Zoo, den wir hier exemplarisch vorfinden, eine Schauvorrichtung: angefangen von der Gehegeaufteilung als solcher, der für Bühnen oder Spielstege typischen Exponierung durch Erhöhung, über den oftmals auf Reduktion und Verdichtung basierenden Charakter etlicher Dinge, Klettervorrichtungen, Sockel und so weiter (welche damit einen unfreiwillig stellvertretenden, an Requisiten erinnernden Charakter annehmen), bis hin zur fehlenden Vierten Wand, also der verglasten Schauseite
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zum Publikum hin. Innerhalb einer theatral derart prädestinierten Konstellation bedarf es kaum schauspielerischen Elans, ja es reichen geringfügig über schiere Funktionshandlungen hinausgehende Gesten, um wenigstens aus der Warte der Besucher21 eine ›theatrale‹ Situation zu provozieren. Zweitens aber verleiht erst das entfesselte Fotografieren durch die Besucher den eher beiläufig-alltäglichen Verrichtungen im Zoo eine andere Dimension: Obwohl die routinierten Tierpfleger sich ersichtliche Mühe geben, nicht in die Objektive der Kameras zu blicken und möglichst unbekümmert das Äffchen zu versorgen, figurieren sie zwangsläufig: Spontan und natürlich gemeintes Handeln spreizt sich auf unterm Blitzlicht, funktionale Handlungen werden expressiv. Der kollektive Akt des Fotografierens macht aus Verrichtungen Aufführungen. Dieser Akt ist, wenn man so will, selbst Auslöser für Inszenierung – in diesem Falle unfreiwillige Inszenierung.
Abb. 6: Paula Anta, FAUNIA 05, 2009 Die spanische Künstlerin Paula Anta22 hat für ihre Serie FAUNIA (Abb. 6), benannt nach einem jüngeren Zoo bei Madrid, Terrarien nachtaktiver Tiere fotografiert. Die Besucher kommen tagsüber, so dass den Tieren in genau diesem Zeitraum mittels weitgehender Verdunkelung eine Nacht (und des nachts mittels durchgehend starker künstlicher Beleuchtung ein Tag) vorgegaukelt wird. Der Schutz der biorhythmisch lebenslänglich erfolgreich genarrten, in
21 Gemäß Elizabeth Burns liegen Theaterqualitäten nicht primär in der Situation selbst, sondern im Auge des Betrachters – was für den Alltag bezweifelbar, für die Schaustätte Zoo jedoch plausibel wäre. Siehe Burns, Elizabeth: Theatricality. A study in convention in theatre and social life. London, 1972. 22 Meine Informationen beruhen auf Gesprächen mit der Künstlerin vom November 2009 in Frankfurt a.M. sowie auf schriftlichem Austausch.
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nahezu völliger Dunkelheit sich munter bewegenden Tiere verlangt ein Fotografieren ohne Blitzlicht, was eine sehr lange Belichtungszeit erfordert – und wiederum zur Folge hat, dass die Aufnahmen schlussendlich gar keine Tiere zeigen, falls letztere sich nur hinlänglich bewegt hatten (obwohl die Tiere genau genommen gar nicht verschwunden sind, da sie dank ihrer Bewegung eine eben nur sehr lang gezogene, dadurch aber sehr schwache, für unsere Augen nicht mehr erkennbare Spur auf dem Negativ hinterlassen haben). Der Vorgang des Fotografierens selbst ist es also, der sich mit abbildet – ein nachgerade klassisches Prinzip Konzeptueller Fotografie,23 wiewohl es ja bekanntermaßen am Anfang der Fotografie überhaupt steht, wenn man an die vermutlich zahlreichen Menschen denkt, die auf Daguerres berühmter Aufnahme vom Boulevard du Temple in Paris (1839) nicht sichtbar sind, weil sie der langen Belichtungszeit lebend und agil ein Schnippchen schlugen. Bei Paula Anta, so könnte man sagen, besteht der per Fotografie erst initiierte Effekt in einer inszenierten Privation. Die total, nämlich biopolitisch und vom Ausstellungsdispositiv her, auf Sichtbarmachung angelegte, zudem noch wie psychedelisch mit buntem Licht aufgepeppte Schauanordnung wird zu einem Bühnensteg, dessen Akteure in die Bedingungen des fotografischen Mediums emigriert sind. Zusammenfassend für diesen Abschnitt sei festgehalten, dass ›Inszenierende(s) Fotografie(ren)‹ den entscheidenden Impuls erhalten konnte durch suggestive Effekte des ausgestellten Fotoabzuges (Sugimoto), durch die Auswirkung des Umstandes, dass fotografiert wird, auf die Fotografierten (Sternberg/Be), schließlich durch apparative Bedingungen des Fotografierens selbst (Anta).
Inszenierte Fotografie (vormals: Inszenierte Darbietungsweisen von Fotografie) ›Inszenierte Fotografie‹ dürfte, wörtlich genommen, nichts anderes heißen, als dass nun Fotografie – nicht im Sinne des Mediums als solchem, sondern einer fotografischen Aufnahme – selbst Gegenstand einer Inszenierung würde. Dafür gibt es nicht nur abwegige, sondern auch plausible Beispiele: So werden Fotoabzüge häufig per Rahmen hervorgehoben, wird innerhalb eines Albums oder an ausgesuchten Stellen eines privaten Zimmers oder eines Ausstellungsraumes eine Hängung beziehungsweise Ausbreitung von Fotografien vorgenommen, deren Gesamtzusammenhang uns inszeniert er-
23 Vgl. Niemeyer, Thomas: You press the button. Konzeptkunst und Fotografie. Zugl.: Kassel, Univ., Diss., 2004. Frankfurt a.M., 2004, insb. Teil II, S. 75ff.
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scheint. Fotografische Bilder werden seit jeher in spektakuläre Kontexte eingerückt, häufig im Zuge der Werbung oder für Reportagen. Begleitende Texte machen aus den Bildern bisweilen etwas völlig anderes – was namhafte Vertreter der Konzeptuellen Fotografie bereits in den 1970er Jahren dazu bewogen hatte, genau diese Transformation beziehungsweise Inszenierung, welche bereits vorhandenen Fotografien widerfahren kann, zu thematisieren.24 Heute gehört es zur hobbyfotografischen Folklore, auf Webportalen wie fotocommunity unter Rubriken wie »Sprechblasen« oder »Tieren in den Mund gelegt« entsprechende Fotos der eigenen Mehrbeiner zu platzieren und durch Kommentare mehr oder weniger originell zu verfremden. Für Stock Photography wurde die Einsicht in die Umkodierbarkeit bildlicher Bedeutung durch fast modulartig austauschbare Kontexte geradezu Voraussetzung flexibler Mehrfachnutzung. Beispielsweise soll ein- und dieselbe Abbildung eines Schäferhundes je nachdem Wachsamkeit, Freundschaft zwischen Tier und Mensch oder diffusen Naturbezug konnotieren. Schließlich können Fotografien Teil einer Ostentation werden – etwa in den Händen eines Tierschützers in der heimischen Fußgängerzone. Der beglaubigende, Dringlichkeit kommunizierende Charakter solcher Darbietungen profitiert von der Kombination aus Performance und Dokument. Man ersieht daran auch, dass das buchstäbliche Medium einer (buchstäblich verstandenen) ›Inszenierten Fotografie‹ latent aufführender Art ist. Das ist es übrigens noch dort, wo das emaillierte Foto auf dem Grabstein des Hundefriedhofs zum Angedenken auffordert. Roni Horn25 hat für Dead Owl (1998) (Abb. 7) eine ausgestopfte Eule zweimal fotografiert, und sie zeigt die Abzüge in Ausstellungen jeweils als Paar, nicht eigentlich diptychal, sondern einfach nur eng benachbart. Da das Federkleid von Vögeln es Präparatoren verhältnismäßig leicht macht, einen lebenswahren Eindruck zu erhalten, können Betrachter bereits vor Originalen oft nicht auf Anhieb einschätzen, ob es sich um lebende oder tote Tiere handelt, und erst recht nicht anhand einer fotografischen Abbildung. Die Besonder24 Exemplarisch genannt seien in diesem Zusammenhang: Victor Burgin (in Auseinandersetzung mit Werbung), Jochen Gerz (in skeptischer Absicht gegenüber Repräsentationsansprüchen des Bildes), John Hilliard (in Betonung der (Kon-)Textbezogenheit fotografischen Bedeutens, etwa bei Bildtiteln oder -unterschriften). 25 Vgl. die Abbildungen in Horn, Roni: Roni Horn aka Roni Horn. Göttingen, 2009, S. 118-121 (Catalogue), S. 27 u. 50 (Subject Index). Vgl. auch Ebner, Florian: »Affe wie Eule. Neue Gesichter für ein altes Genre«. In: Eskildsen, Ute (Hg.): nützlich, süß und museal – das fotografierte Tier. Essen, 2005, S. 171-178, hier S. 176f.
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Abb. 7: Roni Horn, Dead Owl, 1998 heit bei Horn ist nun die merkwürdige Doppelung, denn angesichts solcher hinsichtlich ihrer Lebendigkeit latent ungeklärter Objekte ruft sie in uns aufgeregte bis sentimentale Spekulationen wach: Geringfügige Differenzen zwischen dem, was die Abzüge zeigen, so meinen wir, gehen womöglich nicht allein auf das Konto leicht verschobener Kameraperspektive oder auch nur um Nuancen veränderter Lichtverhältnisse dank kurz aufeinander folgender Aufnahmezeitpunkte – sondern sie werden uns Indiz einer auch noch so kleinen Regung des Lebendigen. Und so ist es keine der beiden einzelnen fotografischen Aufnahmen als solcher, sondern erst deren von der Künstlerin vorgenommene In-Nachbarschaft-Setzung, welche in uns »a sense of déjà vu« auslöst, »a visual echo, a stereo-optical effect in which an image is both repeated and reiterated, effectingly making its point twice«.26 Wenn ›Inszenierte Fotografie‹ bedeutet, mit Fotografien etwas anzustellen, was inszenatorische Auswirkungen hat, so könnte man in Carsten Höllers und Rosemarie Trockels Ein Haus für Schweine und Menschen (1997)27 eine Art unfreiwilliges Modell für diese Option sehen. Natürlich handelt es sich faktisch nicht um Fotografie, sondern um eine zooähnliche Installation, und dennoch verhielten sich die Besucher vor dem entspiegelten Spionglas wie vor einem hinter Glas befindlichen Foto – einem in Realzeit über die einhundert documenta-Tage sich transformierenden höchst zelebrierten ›Foto‹ schweinischer Existenz, mittels riech-, hör- und sichtbarer 26 Higgs, Matthew: »Dead Owl«. In: Horn 2009 (wie Anm. 25), S. 35-36, hier S. 36. 27 Höller, Carsten; Trockel, Rosemarie: Ein Haus für Schweine und Menschen. Köln, 1997.
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wirklicher Tiere auf der Rückseite der Anlage gleichsam seinen indexikalischen Anspruch wie durch ein Unterpfand bestätigend.
Schluss mit Inszenierung Was auf dem Feld der Fotografie den Begriff der Inszenierung über alle Bedenken erhebt gegenüber seiner zweifellos oft nur ungefähren oder bloß metaphorischen Verwendung, ist etwas im Zuge des Inszenierungsbooms28 oftmals Vergessenes: dass nämlich Inszenierung grundsätzlich etwas bereits Vorhandenem widerfährt, und zwar als eine Art, es als etwas (anderes oder als es selbst) hervorzubringen.29 Im Unterschied nun zur Literatur oder Malerei, deren Urheber je nach Phantasie und Begabung sehr wohl einen König Artus so darstellen können, dass uns nicht das Gefühl beschleicht, er werde von der beschriebenen oder gemalten Figur nur gespielt, führt die Fotografie immer schon das vor der Linse Vorhandene im Gepäck; sie kann gar nicht umhin, auch denjenigen Herrn Meier oder Schulze mit zu zeigen, der den Artus mimt. Die unfreiwillige Komik manch alter Fotografien von Tableaux vivants (bei denen es später bezeichnenderweise auch vorkam, dass das eigentlich durch Lebendnachstellung zu honorierende Bild wiederum nur Vorwand wurde für kostümierte Porträts der Aufführenden)30 rührt ja genau daher, dass die irreduzible Kontingenz individueller Gesichter oder Körperlichkeiten partout nicht abzuschütteln war. Unter diesen Vorzeichen wird klar, warum die Geburtsstunde einer ›Fotografie des für die Fotografie Inszenierten‹ (gemeinhin: einer ›Inszenierten Fotografie‹) Ende der 1970er Jahre just in dem Augenblicke schlägt, da es akzeptabel erscheint, diesen Malus zum Bonus zu wenden, indem Künstler wie Jeff Wall, Cindy Sherman oder später Gregory Crewdson beginnen, aus der lästigen Unvermeidlichkeit des nur gespielt Wirkenden Profit zu schlagen. Dass dies am Fuße einer Postmoderne geschieht, die sich damals auch in den übrigen bildnerischen Medien anschickt, gegenständlich figürliche, sogar mythologische und historienbildliche Darstellung zurückzuerobern, verschafft den führenden Vertretern einer ›Fotogra28 Vgl. Früchtl, Josef; Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a.M., 2001; Willems, Herbert; Jurga, Martin (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen u. Wiesbaden, 1998. 29 Vgl. Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«. In: Früchtl/Zimmermann 2001 (wie Anm. 28), S. 48-62, hier S. 57. 30 Vgl. Reissberger, Mara: »Das Lebende Bild und sein ›Überleben‹. Versuch einer Spurensicherung«. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 14, Heft 51, Marburg, 1994, S. 3-18.
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fie des für die Fotografie Inszenierten‹ Geltung und Ansehen. Denn deren Tableaus wohnt nun sozusagen von Haus aus jenes inszenatorische Moment inne, welches eine der modernen Antitheatralität sich zu entwinden trachtende Malerei und Plastik der 1980er Jahre oft nur durch angestrengte Zitate, Gelehrsamkeiten und Attitüden des Doppelbödigen ersetzen kann. Mit Blick freilich auf die in den letzten Jahren neuerlich auftrumpfende pathetische Figürlichkeit in der Malerei, beispielsweise der Neuen Leipziger Schule, lässt sich dann aber auch erkennen, dass viele, und vielleicht nicht die schlechtesten Künstlerfotografen sich eher wieder auf die (auch in meinem Beitrag dominierende) Möglichkeit besinnen, bereits seitens der Wirklichkeit inszenierte Motive zu wählen. Damit scheint die angestammte, genuin fotografische Perspektive auf die Welt – nur eben eine im Inszenierten sich hervorbringende und sprachkräftig werdende Welt – wieder mehrheitlich eingenommen worden zu sein. Dieser zurückhaltendere Umgang mit unmittelbar inszenatorischen Eingriffen durch den Fotografen impliziert indes keineswegs ein erkaltetes Verhältnis von Fotografie und Inszenierung überhaupt. Nur gilt es, wie mein Beitrag vorführte, dann auch wirklich kategorial unterschiedliche Verhältnisse31 von Fotografie und Inszenierung ins Licht zu rücken: Nicht nur also, dass der Fotograf das Motiv arrangieren kann, sondern eben auch, dass der Akt des Fotografierens selbst inszenierend wirken, dass die fotografische Aufnahme einer Inszenierung unterliegen oder eine solche eröffnen kann, schließlich, dass der gelungene Schnappschuss am rechten Ort zur rechten Zeit gleichsam schlummerndes inszenatorisches Potential des Alltags auf den Plan zu rufen vermag – all dies gewährt der künstlerischen Fotografie breitere Spielräume zwischen Fotografie und Inszenierung, als sie, meist terminologisch mutlos, in Kunstkritik und Kunstgeschichte kolportiert werden.
31 Dies völlig auszublenden und stattdessen nur ›Inszenierte Fotografie‹ (nach herkömmlichem Verständnis) isoliert zu betrachten, unternimmt mit großem Fleiß Walter 2002 (wie Anm. 1).
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Im Spannungsfeld von Dokumentation und Inszenierung. Fotografie in installationsbezogenen Künstlerbüchern ALEXANDER STREITBERGER
Es geht im Folgenden nicht darum zu bestimmen, was dokumentarische von inszenierter Fotografie unterscheidet, noch soll eine präzise Definition von Dokumentarfotografie und Inszenierter Fotografie vorgeschlagen werden. Dies alles ist an anderer Stelle hinreichend erörtert und untersucht worden.1 Ziel dieses Aufsatzes ist vielmehr, der Frage nachzugehen, auf welche Weise die Verwendung fotografischer Bilder in Installationen und in diese begleitenden Künstlerbüchern die definitorischen Grenzen solcher Begrifflichkeiten unterwandert und sie bisweilen austauschbar erscheinen lässt. Voraussetzung dafür ist freilich, Fotografie nicht als Objekt mit spezifischen Eigenschaften zu betrachten, sondern ihren chimärenhaften, kontext- und funktionsabhängigen Status anzuerkennen. Diesbezüglich scheint es sinnvoll zu sein, die These, dass sich die Bedeutung einer Fotografie lediglich innerhalb eines konkreten Kontextes konstituiert, zuzuspitzen und mit Victor Burgin vorzuschlagen, dass Fotografien stets als Umgebung, als ›Environment‹, wahrgenommen und wirksam werden.2
1
Zur Dokumentarfotografie verweise ich auf die Texte von Lugon, Olivier: Le style documentaire. D’August Sander à Walker Evans. Paris, 2001, sowie Solomon-Godeau, Abigail: »Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie«. In: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M., 2003, S. 53-74. Zur Inszenierten Fotografie siehe Walter, Christine: Bilder erzählen! Positionen
inszenierter Fotografie: Eileen Cowen, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood. Zugl.: München,
2
Univ., Diss., 2001. Weimar, 2002. Siehe im Übrigen auch die Beiträge insb. von Matthias Weiß und Christian Janecke im vorliegenden Band. Siehe Burgin, Victor: »Modernism in the Work of Art«. In: Ders.: The End of Art Theory. Criticism and Postmodernity. Hampshire, 1986, S. 20.
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Alexander Streitberger
Fotografie als ›Environment‹ Wenn in diesem Zusammenhang von Fotografie als ›Environment‹ die Rede ist, scheint es zunächst notwendig, zwischen dem allgemeinen Begriff der ›Umgebung‹ und dem kunstspezifischen Begriff der Installation zu unterscheiden. Der Einfachheit wegen soll im Folgenden ›Environment‹ mit ›Installation‹ gleichgesetzt werden, also nicht die im Europäischen übliche, im Angelsächsischen jedoch wenig gebräuchliche Unterscheidung gemacht werden zwischen ›Installation‹ als Gestaltung eines gegebenen Raums unter Einbeziehung des Betrachters und ›Environment‹ als konstruierte Raumstruktur, die weitgehend kontextunabhängig ist.3 ›Environment‹ wird hier also nicht im engeren Sinne der Tableaux von Edward Kienholz verstanden, sondern allgemeiner gefasst als »künstlerisch inszenierte Raumgestaltung«.4 Der Begriff der Inszenierung taucht in einschlägigen Definitionen zur Installation tatsächlich wiederholt auf, betrifft jedoch selbstverständlich nicht die Inszenierung im Bild, sondern die Inszenierung heterogener Elemente im Raum. Es versteht sich von selbst, dass Fotografien, die in solchen artifiziellen Raumgebilden auftauchen, in Hinblick auf eine räumliche Umgebung – ein ›Environment‹ – in Szene gesetzt werden, was natürlich nicht ausschließt, dass das, was auf ihnen zu sehen ist, ebenfalls für das Bild inszeniert ist. Es ist also angebracht, zwischen bildimmanenter Inszenierung und kontextueller Inszenierung zu unterscheiden. Dafür scheint es mir sinnvoll zu sein, Andreas Müller-Pohles ›aktivisch‹ gebrauchten Terminus der »inszenierenden Fotografie«5 für intentionale Bildkonstruktionen zu verwenden, wohingegen die passive Formulierung ›inszenierte Fotografie‹ für den ›environmentalen‹ Gebrauch von Bildern innerhalb eines spezifischen Raum-Zeit-Gefüges stehen soll. Natürlich kann es diesbezüglich zu Überschneidungen und Verschiebungen kommen. So kann eine inszenierende Fotografie ohne Weiteres in Installationen zur inszenierten Fotografie werden. Das ist weniger trivial, als es zunächst erscheinen mag, da sich mit dieser Verlagerung eben auch Bedeutung, Wirkung und Funktion verändern können, was wiederum Auswirkungen darauf hat, ob wir ein fotografisches Bild als authentisches Dokument oder als fiktionales Element wahrnehmen.
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Vgl. Stahl, Johannes: »Installation«. In: Butin, Hubertus (Hg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln, 2002, S. 122-126. N.N.: »Environment«. In: Prestel Lexikon. Kunst und Künstler im 20. Jahrhundert. München, 1999. Müller-Pohle, Andreas: »Inszenierende Fotografie«. In: European Photography, Jg. 9, Nr. 34, Göttingen, März/April/Mai 1988, S. 14.
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Im Spannungsfeld von Dokumentation und Inszenierung
Ich werde darauf noch zurückkommen, möchte nun aber die zweite Definition des fotografischen ›Environments‹, auf die im Folgenden zurückgegriffen wird, näher vorstellen. Wenn Victor Burgin in seinem Text Modernism in the work of Art die Fotografie als wahrgenommenes ›Environment‹ bezeichnet, bezieht er sich keineswegs auf künstlerische Fotografie und schon gar nicht auf die Kunstform des ›Environments‹, sondern hat das Auftreten und die Wirkung von Fotografie in unserem durch die Massenmedien geprägten Alltagsleben im Auge. Fotografie, so Burgin, sei eben kein klar bestimmbares Objekt wie die Malerei, deren Rolle sich weitgehend auf das Bezugssystem Kunst beschränkt, sondern ein alle gesellschaftliche Schichten und Seinsbereiche durchwirkendes Medium, das die tagtägliche Begegnung mit den visuellen Kontexten, in denen wir uns bewegen, entscheidend mitprägt: »While films and paintings readily constitute themselves as objects, thus facilitating critical attention, photography, as constituted in the mass media, is received as an environment and passes relatively unremarked. Photography is encountered, in most aspects of daily life, as a fragmented or partial object: photojournalism, amateur, advertising, documentary …, and so on. Semiotically, these cannot be said to be the manifestations of a single fact. There is no single signifying system (as opposed to technical apparatus) upon which all photographs depend, in the sense in which all texts in English ultimately depend, in the sense of langue. There is rather a heterogeneous complex of codes upon which photography may draw.«6 Dieses Zitat ist natürlich in seinem zeitlichen Kontext – das heißt Mitte der 1970er Jahre – zu verstehen. Aufgrund ihrer heterogenen Verwendung in den verschiedensten Bereichen, ihrer Kontextabhängigkeit und ihres Alltagsgebrauchs wird die Fotografie von einer ganzen Generation von Künstler-Theoretikern (außer Burgin auch andere wie Allan Sekula oder Martha Rosler) als geeignetes Mittel begrüßt, um der im angelsächsischen Kunstdiskurs und in der Kunsterziehung noch stark vorherrschenden modernistischen Kunstauffassung und ihrer auf Schlagworten wie ›Spezifizität‹, ›Original‹ und ›Authentizität‹ basierenden Rhetorik eine Alternative entgegenzustellen.7 Interessant ist in diesem Zusammenhang in erster Linie, wie Burgin die berühmte Frage Benjamins, ob »die Beschrif-
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Burgin 1986 (wie Anm. 2), S. 20. Vgl. z.B. Burgin, Victor: »Why photography«. In: Ausst.-kat. Palazzo Reale, Mailand: Arte Inglese Oggi 1960-76. Februar bis März 1976. Mailand, 1976, S. 360-367; Sekula, Allan: »Dismantling Modernism, Reinventing Documentary (Notes on the Politics of Representation)«. In: The Massachusetts Review, Jg. 19, Nr. 4, Amherst, Winter 1978, S. 859-883.
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tung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme«8 werde, mit einer Vervielfachung des Einsatzes beantwortet. Nachdem er in seinem früheren Text Photographic Practice and Art Theory bereits auf Benjamins Vorschlag erwidert hat, die Beschriftung sei lediglich ein Element des fotografischen Textes, der als Diskurs die Fotografie konfiguriere,9 führt er nun ins Feld, dass sich ihre Wahrnehmung – und damit auch ihre Qualität als Bildmedium – nur über die Umgebung, in der sie uns entgegentritt, erklären lasse. Gerade weil sich die Fotografie in verschiedenen Bereichen gleichermaßen verbreitet hat und inzwischen sowohl in der Kunst als auch im täglichen Leben allgegenwärtig ist, scheint es angebracht, die beiden kurz vorgestellten unterschiedlichen Definitionen von ›Environment‹ als ›künstlerisch inszenierte Raumgestaltung‹ und als ›alltäglicher Wahrnehmungsraum‹ miteinander in Bezug zu setzen, besonders dann, wenn es um den Stellenwert der Fotografie in Kunstprojekten geht, bei denen Fotoinstallationen als Formen der Inszenierung von Publikationen begleitet werden, die einerseits dokumentierende Funktion haben, andererseits aber auch – und dies im Unterschied zu herkömmlichen Katalogen – einen autonomen Status als Künstlerbücher einfordern. Auch wenn es sich zugegebenermaßen um ein recht spezielles Phänomen im Kunstgeschehen handelt, ist es durchaus möglich, davon ausgehend die Brauchbarkeit recht statischer theoretischer Begriffspaare wie ›Inszenierung‹ versus ›Unmittelbarkeit‹ oder ›Dokumentation‹ versus ›Fiktion‹ in Frage zu stellen, um ein flexibleres Modell vorzuschlagen, welches, Parameter wie Kontext und Funktion einbeziehend, von gleitenden Begriffsverschiebungen ausgeht.
Fotografie in Künstlerbüchern Bereits zu Beginn der 1960er Jahre entdeckten Künstler wie Ed Ruscha und Daniel Spoerri das Buch als Ausdrucksmedium, um sich von herkömmlichen ästhetischen, ökonomischen und institutionellen Strategien abzusetzen.10 Das Kunstwerk war nicht mehr ein Original, das zu teuren Preisen auf dem Kunstmarkt gehandelt wurde, sondern ein vielfach reproduziertes, billig zu erstehendes Objekt, das sich über alternative, für den Kunstbetrieb unkonventionelle Verteilernetze wie Verlage, Buchhandel oder Postsendungen verbreiBenjamin, Walter: »Kleine Geschichte der Fotografie«. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M., 1977, S. 45-64, hier S. 64. 9 Siehe Burgin, Victor: »Photographic Practice and Art Theory«. In: Ders. (Hg.): Thinking Photography. Hampshire u. London, 1982, S. 82. 10 Vgl. Moeglin-Delcroix, Anne: Sur le livre d’artiste. Marseille, 2006, S. 71ff. 8
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Abb. 1: Duane Michals, Things are Queer, 1973 ten ließ. Wichtig für unseren Zusammenhang sind vor allem zwei Aspekte. Zunächst ist festzuhalten, dass diese Bücher nicht lediglich Informationsträger waren, auch wenn der Informationsbegriff in der Kunst der 1960er Jahre eine wichtige Rolle spielte und mit ein Grund war für die Wahl des Buchs als Kunstform. Vielmehr handelt es sich um eigenständige, die konzeptuellen, materiellen und medialen Gegebenheiten des Buches reflektierende Erzeugnisse.11 Das hat natürlich Konsequenzen auf die Rezeption, wie Ulises Carrión in seinem wegweisenden Essay Die neue Kunst des Büchermachens von 1975 feststellt: »um neue kunst lesen zu können, muß man das buch als struktur begreifen, seine Elemente erkennen und seine funktion verstehen.«12 Anders formuliert, das Buch ist kein linear und kontinuierlich erschließbarer Informationsträger, sondern »eine folge von räumen«, ein ›Environment‹, das sich aus heterogenen Bild-Text-Elementen zusammensetzt und diese in einem Ganzen aufgehen lässt. Für die Verwendung von Fotografien in Künstlerbüchern bedeutet dies, dass sie nur in Hinsicht auf das gesamte Raum-Zeit-Gefüge des Buches interpretiert und verstanden werden können. Damit wird ihr Status hinsichtlich der Frage nach Inszenierung, Dokumentierung und Fiktion jedoch ambivalent, wie am Beispiel von Duane Michals Things are queer von 1972 veranschaulicht werden soll (Abb. 1). 11 Drucker, Johanna: The Century of Artist’s books. New York, 2004, S. 3. 12 Ausst.-kat. Neues Museum Weserburg: Other books and so. Ulises Carrión/Die neue Kunst des Büchermachens. 15. März bis 24. Mai 1992 (Konz.: Guy Schraenen). Bremen, 1992, o. S.
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Das erste Foto des unprätentiösen Büchleins zeigt gänzlich unspektakulär und in gut dokumentarischer Manier den Ausschnitt eines Badezimmers. Wenn auf der folgenden Seite in eben diesen Ausschnitt ein überdimensionales Männerbein ins Bild tritt, entpuppt sich das zuvor als reale Raumsituation wahrgenommene Badezimmer als Miniaturkonstruktion. Die Dokumentaraufnahme erweist sich als inszenierende Fotografie, die objektive Wiedergabe der Realität als Fiktion. Beim Weiterblättern erweist sich die Bild(re)konstruktion als zusehends verzwickter. Das Foto wird als Illustration eines Buches erkannt, welches von einem Mann gehalten wird, der durch eine dunkle Gasse geht. Eben diese Szene hängt als gerahmtes Bild über dem Waschbecken, das wir als Accessoire des bereits bekannten Badezimmers wiedererkennen. Auf der letzten Seite schließt sich endlich der Kreis, wir sind wieder beim ersten Bild angelangt. Das letzte Bild, das mit dem ersten identisch zu sein scheint, ist, wie Bernd Stiegler richtig bemerkt hat, »ein neues altes Bild, eine Photographie, die nicht dieselbe geblieben ist«,13 weil sich zwischen beiden Bildern eine rätselhafte Geschichte entwickelt hat, im Laufe derer der Status der Fotografie als Evidenz des Sichtbaren ins Wanken gerät. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Effizienz dieses raffinierten Vexierspiels wesentlich der Struktur des Buches, welche die inszenierende Fotografie in Szene setzt und somit zur inszenierten Fotografie werden lässt, zu verdanken ist. Denn allein durch das Umblättern der Seiten ergeben sich die erwünschten Überraschungseffekte, die sich bei einer musealen Präsentationsform als Serie nicht – oder nur abgeschwächt – einstellen würden. Die formalen Eigenschaften des Buchs tragen somit zur Sinnstiftung des Werks entscheidend bei und bestimmen mit, wann und ob die abgebildeten Aufnahmen als dokumentarisch oder inszeniert wahrgenommen werden.
Der Katalog als Werk Im Zuge der Entwicklung des Künstlerbuchs als eigenständiges künstlerisches Medium werden um 1970 auch die bis dahin klar abgesteckten Grenzen zwischen Werk, Ausstellung und Katalog radikal hinterfragt. Als einer der Ersten stellt Seth Siegelaub das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Katalogbeitrag geradezu auf den Kopf. Im Einleitungstext des Katalogs der von ihm organisierten Ausstellung January 5-31,1969 (Barry, Huebler, Kosuth, Weiner) bemerkt er lapidar: »The exhibition consists of (the ideas communi-
13 Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie. München, 2006, S. 369.
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cated in) the catalog; the physical presence (of the work) is supplementary to the catalog.«14 Ganz im Sinne der Konzeptkunst wird hier Kunst auf die Idee reduziert, auf kommunizierbare Information, anders formuliert: auf das, was herkömmlich im Katalog zu finden ist. Konsequenterweise ersetzt der Katalog in bestimmten Fällen die Ausstellung und enthält oft die einzige visuelle Manifestation eines Kunstwerks. In einem Interview mit Charles Harrison bemerkt Siegelaub folgerichtig: »But when art concerns itself with things not germane to physical presence its intrinsic (communicative) value is not altered by its presentation in printed media. The use of catalogues and books to communicate (and disseminate) art is the most neutral means to present the new art. The catalogue can now act as primary information for the exhibition, as opposed to secondary information about art in magazines, catalogues, etc., and in some cases the ›exhibition‹ can be the ›catalogue‹.«15 In ihrem Text Du catalogue comme œuvre d’art et inversement hat Anne MoeglinDelcroix diese Umkehrung auf den Punkt gebracht, wenn sie von »devenir-œuvre du catalogue« und »devenir-catalogue de l’œuvre«16 spricht. Dass die Fotografie aufgrund ihrer Reproduzierbarkeit und ihrer dokumentarischen Qualitäten neben der Sprache als privilegiertes Kommunikationsmedium aufgefasst und verwendet wurde, braucht an dieser Stelle kaum erwähnt werden. Die hier angedeuteten Verschiebungen in der Bewertung von Original und Reproduktion wie auch von Ausstellung und Katalog haben allerdings entscheidende Folgen für die Bedeutung, Funktion und Wahrnehmung der Fotografie. Das von Marian Goodman 1970 anlässlich einer Ausstellung in ihrer New Yorker Galerie herausgegebene Multiple Artists and Photographs (Abb. 2) ist ein wahres Miniaturkabinett der Kunst der 1960er Jahre, führt es doch das gesamte Spektrum des Einsatzes der Fotografie in Pop Art, Land Art, Conceptual Art und Happening vor. Eine Art tragbares Museum in der Tradition der Boîte en valise von Duchamp, enthält diese Schachtel Einzelbeiträge von 19 Akteuren, die allesamt zu Hauptfiguren der fotografischen Kunst gehören und nicht selten auch zu den Pionieren des Künstlerbuchs, wie zum Bespiel Ed Ruscha und Sol LeWitt. Im der Schachtel beigefügten Begleittext unterstreicht Lawrence Alloway die Vielfalt der vorhandenen Arbeiten folgendermaßen: »The present exhibition/catalogue 14 Ausst.-kat. January 5-31,1969. Barry, Huebler, Kosuth, Weiner. Hrsg. v. Seth Siegelaub. New York, 1969, o. S. 15 Harrison, Charles: »On exhibitions and the world at large: Seth Siegelaub in conversation with Charles Harrison«. In: Studio International, Jg. 178, Nr. 917, London, Dezember 1969, S. 202. 16 Moeglin-Delcroix, Anne: »Du catalogue comme œuvre d’art et inversement«. In: Moeglin-Delcroix 2006 (wie Anm. 10), S. 206.
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Abb. 2 und 3: Artists and Photographs, Multiples. New York 1970 (links) und darin: Robert Morris, Continuous project altered daily, 1970 (rechts) clarifies with a new intensity the uses of photography, in a spectrum that ranges from documentation to newly-minted works. Some photographs are the evidence of absent works of art, other photographs constitute themselves works of art, and still others serve as documents of documents.«17 Interessant ist hierbei, dass Alloway keine Unterscheidung zwischen Ausstellung und Katalog trifft. In der Tat ist das Verhältnis von Ausstellung und Katalog kein hierarchisches. Alloway selbst stellt fest, dass »the contents of the catalogue are variants of the items in the exhibition, not reproductions.«18 Andy Warhol zum Beispiel der in der Ausstellung mit einem im Siebdruck-Verfahren hergestellten Selbstportrait vertreten war, steuerte zur Schachtel ein Konvolut von acht Reproduktionen eigener Werke bei. Unter dem Titel Portraits sind hier vereint: das in der Galerie ausgestellte Selbstporträt, ein Texaner, Marilyn, Elvis, Jackie Kennedy, Liz Taylor als Kleopatra, Mona Lisa und – der Kuhkopf eines Tapetendesigns. Diese Reproduktionen sind natürlich nicht als Dokumente der Gemälde gedacht. Vielmehr entwickeln sie eine eigene Logik, die einerseits den Unterschied zwischen Original und Reproduktion noch drastischer in Frage stellt als es die Gemälde ohnehin schon tun, andererseits durch die eigenwillige und ironische Zusammenstellung der Porträts Warhols Indifferenz und Gleichgültigkeit gegenüber kulturellen Hierarchien deutlich zur Schau stellt. Die dokumentarische Funktion der Reproduktion wird hier überlagert von einer ironisch aufgeladenen Rhetorik, die weniger das Abgebildete als die Sichtweise des Künstlers auf die Relation von Kunst und massenmedialer Kultur zur Disposition stellt.
17 Alloway, Lawrence: »Artists and Photographs«. In: Goodman, Marian (Hg.): Artists and Photographs, Multiples. New York, 1970, S. 3. 18 Alloway 1970 (wie Anm. 17), S. 4.
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Robert Morris’ Beitrag bezieht sich auf das prozessuale Kunstwerk Continuous project altered daily (Abb. 3). Vom 1. bis zum 22. März 1969 inszenierte Morris im Leo Castelli Warehouse eine Art Baustelle, in der er die Materialien Erde, Wasser, Fett, Plastik, Fell, Holz, Licht, Faden, Fotografien und Sound täglich neu konfigurierte und den jeweiligen Zustand fotografisch dokumentierte. Die daraus entstandene Fotoserie wurde in der Gallery Marian Goodman ausgestellt und fand in Form eines Leporellos Eingang in die Schachtel. Nun zeigen aber die Fotografien, die Morris als integrale Bestandteile der Installation an die Wand des Castelli Warehouse geheftet hat, ebenfalls vorige Zustände des ständig wechselnden Arrangements. Somit fungiert die Fotografie einmal als Element einer prozessualen Material-Inszenierung, deren temporalen Charakter sie als Dokument eines früheren Zustandes reflektiert, einmal als Beweisstück der inzwischen abgeschlossenen Aktion, wobei, wie Alloway bemerkt, eine Verdopplung der Dokumentation eintritt, wenn auf den Bildern des Leporellos unter anderem auch die in die Installation integrierten Fotografien zu sehen sind. Dieser komplexe mise-enabyme-Effekt, in dem sich Raum und Zeit ziehharmonikaartig auseinanderziehen und zusammenfalten, findet im Leporello eine kongeniale formale Gestaltung, die das inszenierte Dokument zur dokumentarischen Inszenierung umschlagen lässt. Vorübergehend lässt sich also festhalten: Wenn von Fotografie in Künstlerbüchern die Rede ist, reicht es nicht aus, den Begriff der Inszenierung einseitig auf das Bild anzuwenden, wie dies in den meisten Texten zur ›inszenierenden‹ oder ›inszenierten‹ Fotografie geschieht. Es ist darum unerlässlich, in inszenierende Fotografie (im Sinne von den Bildinhalt inszenierende) und inszenierte Fotografie (im Sinne von in einer Umgebung inszenierte) Fotografie zu unterschieden. Diese Unterscheidung ist dann allgemeingültig für Fotografie, wenn man davon ausgeht, dass Fotografie eher als ›Environment‹ denn als Objekt wahrgenommen wird. Gerät der Katalog zum Werk bzw. das Werk zum Katalog, fallen Dokumentation und Kunstwerk, Original und Reproduktion in Eins. Das Spannungsverhältnis von Dokumentation und Inszenierung einer Fotografie ergibt sich in solchen Fällen in erster Linie aus der Funktion des Buches als Werk, als Katalog oder als beides zusammen. Innerhalb des Buches wird Fotografie als Teil eines ›Environments‹, im Sinne von raum-zeitlicher Umgebung, wahrgenommen, innerhalb dessen sie verschiedene Rollen und Bedeutungen annehmen kann.
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Fotografische ›Environments‹ Raumgreifende Fotoinstallationen sind uns in der Kunst bereits aus den Zeiten der Avantgarde der 1920er Jahre bekannt. Von Hanne Bergius als »Experimentationsraum«19 bezeichnet, kann die Erste Internationale Dada-Messe in Berlin (1920) durchaus als eine Art in den dreidimensionalen Raum projizierte Fotocollage bezeichnet werden, womit sich Allan Kaprows Behauptung, das ›Environment‹ habe sich aus den Techniken der Collage und der Assemblage entwickelt, auch für die Fotografie bewahrheitet.20 Auch hat die Verbindung von visuell gestaltetem Buch und raumgreifender Installation bereits eine längere Tradition. Nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten konnte zum Beispiel Herbert Bayer seine Erfahrungen, die er zuvor mit der Gestaltung von Büchern unter anderem am Bauhaus gemacht hatte, auf den dreidimensionalen Raum anwenden. Im Auftrag von Alfred Stieglitz war er maßgeblich beteiligt an der Gestaltung der Ausstellung Road to Victory, die 1942 im MoMA in New York stattfand und den Amerikanern den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten schmackhaft machen sollte.21 Dass spezifisch für einen Ort entworfene Fotoinstallationen von künstlerisch gestalteten Büchern begleitet werden, die diese nicht lediglich dokumentieren, sondern, mit den Worten Alloways, eine Variante dazu anbieten, ist allerdings tatsächlich ein recht junges Phänomen, das sich erst im Laufe der 1980er Jahre vollständig entfaltet.22 Christian Boltanski, der seit 1969 Künstlerbücher herstellt und seit den 1970er Jahren zunehmend raumgreifende Installationen konzipiert, ist sicherlich einer der wichtigsten Protagonisten dieses Pas à deux, bei dem der Raum des Buches und der Installationsraum eine fruchtbare wechselseitige Verbindung eingehen. Indem er komplexe, sich durchdringende Bezugssysteme schafft, nur um sie anschließend wieder gegeneinander auszuspielen, führt er uns die Unmöglichkeit, Fotografie auf eindeutige Begrifflichkeiten festzunageln, vor Augen. Im Rahmen der 42. Biennale von Venedig realisierte Boltanski eine Installation, die sich aus zwei Teilen zusammensetzte. Unter dem Titel Leçons de ténèbres war in einem der beiden Ausstellungsräume eine Art magisches Theater zu sehen, in dem die 19 Bergius, Hanne: Montage und Metamechanik. Dada Berlin, Artistik der Polaritäten. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-schr., 1992. Berlin, 2000. 20 Siehe Kaprow, Allan: Assemblage, Environment and Happening. New York, 1966. 21 Vgl. hierzu Lugon, Olivier: »Edward Steichen. Scénographe d’exposition«. In: Ausst.-kat. Jeu de Paume, Paris: Steichen. Une épopée photographique. Oktober bis Dezember 2007 (hrsg. v. Todd Brandow u. William Ewing). Paris, 2007, S. 267-273. 22 Siehe Moeglin-Delcroix 2006 (wie Anm. 16), S. 204.
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Abb. 4: Christian Boltanski, Monuments. Leçons de ténèbres, Palazzo delle Prigione, Biennale Venedig, 1986 Schatten von fantastischen, marionettenartigen Gestalten an die Wände projiziert wurden. Der andere Raum, um den es hier gehen soll, präsentierte unter dem Titel Monuments zahlreiche fotografische Porträts von Kindern, einzeln über die Wand verteilt oder altarbzw. monumentähnliche Gebilde krönend (Abb. 4). Die Fotos waren in schlichte Metallrahmen gefasst und mit einem schmalrandigen Passepartout in Form von fotografischen Reproduktionen von glitzerndem weihnachtlichem Geschenkpapier versehen. Von nackten Glühbirnen umgeben, waren die Kinderbildnisse in ein aureolenhaftes Licht getaucht, das sie in dem ansonsten komplett abgedunkelten, düsteren Raum des ehemaligen Gefängnisses wie Wesen aus einer anderen Welt erscheinen ließ. Als Bildmaterial liegen die Lieblingsfotografien von Schülern einer Oberschule in Dijon zugrunde, mit denen Boltanski 1973, also 13 Jahre zuvor, die Wände des Kollegs gepflastert hatte. Zwei Zitate mögen verdeutlichen, wie sich die Fotografie vom persönlichen Familiendokument zum anonymen Universalsymbol für Tod und Religion gewandelt hat. Nach Donald Kuspit mutieren die Kinderfotos, durch ihre Zurschaustellung im Gefängnis an das Kellerversteck von Boltanskis jüdischem Vater während des Zweiten Weltkriegs erinnernd, zu »representations of himself, or rather his psychic state in the prison of his childhood and his split identity«.23 Zu dem altarartig in Szene gesetzten Porträt bemerkt er weiter: »The person whose photograph is placed on the 23 Kuspit, Donald: »In the Cathedral Dungeon of Childhood: Christian Boltanski’s Monument: The Children of Dijon«. In: Smin, Didier (Hg.): Christian Boltanski. London, 1997, S. 100.
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Venetian altar, a place of privilege – he or she in effect becomes the Christ-like centre of it – has in emotional terms no more importance than any other person pictured in the installation. He or she is a surrogate for all of them; implicitly they all take turns on the cross.«24 In ihrer Einleitung des die Ausstellung begleitenden Buchs bläst Suzanne Pagé ins gleiche Horn, wenn sie verlauten lässt: »Dans la première salle, les Monuments s’ordonnent à partir de photos comme instants morts, moments de vie gelés. Echantillonnage d’humanité, la photo est anonyme d’où sont extraits ces visages qui sont ceux des élèves du C.E.S. de Lentillères à Dijon en 1973. Epinglés tels des papillons dans leur essor juvénile, sages comme des ›images‹, figés et éclairés comme des icônes, ces visages – comme un seul – c’est le mien, le vôtre, celui de l’enfant mort en chacun de nous. […] Mémoriaux à l’enfance, dérisoires et graves, ils nous entraînent du côté du merveilleux, de l’archaïque et du sacré dans un rapport d’évocation très synchrétique (cimetières italiens, églises byzantines, fêtes juives … etc.)«25 Doch die Kette der Inszenierung beginnt bereits bei der Aufnahme der zugrunde liegenden Fotografie. Schließlich ist bekanntermaßen die Herstellung eines fotografischen Porträts an sich ein komplexer Vorgang des In-Szene-Setzens, den Roland Barthes eindrucksvoll durchdekliniert, indem er »vier imaginäre Größen« bestimmt, die sich überschneiden, aufeinanderstoßen und verformen: »Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.«26 Resigniert bemerkt er anschließend, er habe jedes Mal, wenn ein Porträt von ihm gemacht werde, das Gefühl des Unechten – eine häufig zitierte Grundbedingung des Inszenierten. Enger gerahmt und in einen anderen Kontext versetzt, erfahren diese individuellen Erinnerungsbilder in der venezianischen Installation eine Apotheose, sie werden universale Bildnisse, die geheimnisumwoben in diffusem Licht von religiösen und existentiellen Grunderfahrungen orakeln – oder vielmehr orakeln lassen, wie wir erfahren haben. Hier wird mit aller Drastik deutlich, dass Fotografien tatsächlich als Environment wahrgenommen werden – einerseits das Familienalbum, andererseits die künstlerische Inszenierung –, da sie keinem einzelnen, spezifischen System angehört, sondern ihre Bedeutung
24 Kuspit 1997 (wie Anm. 23), S. 103f. 25 Pagé, Suzanne: »Leçons de ténèbres«. In: Boltanski, Christian: Monuments. Leçons de ténèbres. Paris, 1986, o.S. 26 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M., 1989, S. 22.
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immer erst durch die funktionale und räumliche Umgebung aufgebaut wird. Gleichwohl ist der Fall bis dahin noch recht überschaubar: hier das persönliche Familiendokument mit inszenierter Pose, dort das in Szene gesetzte anonyme Symbolbildnis. Das zur venezianischen Ausstellung erschienene Künstlerbuch erst zeigt, dass sich die verschiedenen Funktionen und Bedeutungen, die eine Fotografie annehmen kann, nicht so einfach je nach Erscheinungskontext auseinanderdividieren lassen. Zugleich Katalog und eigenständige Künstlerpublikation, besteht das Buch aus der bereits zitierten Einleitung von Suzanne Pagé, die sich gleichermaßen auf Ausstellung und Buch bezieht. Es folgen einige Abbildungen von früheren Ausstellungen der Monuments, eine Fotografie der Dijoner Arbeit, auf die Monuments zurückgeht, und schließlich die ganzseitig in engem Ausschnitt präsentierten Gesichter der Schüler (Abb. 5).
Abb. 5: Christian Boltanski, Monuments. Leçons de ténèbres, Paris 1986 Aufgrund der transparenten Beschaffenheit des Papiers – Bibelpapier, wie wir in dem von Bob Calle herausgegebenen Catalogue raisonné der Künstlerbücher Boltanskis erfahren27 – scheint wie eine Erinnerungsspur auf der linken Seite das Porträt der vorigen Seite durch, als ob die Vergänglichkeit der Jugend auf fatale Weise mit dem Umblättern der Seite zusammenhinge. Die materiellen und strukturellen Eigenschaften des Buches bestimmen folglich auch hier ganz offensichtlich unsere Wahrnehmung der Fotografien. In Bezug auf das Buch lassen sich letztlich zwei verschiedene Grade der Dokumentation ausmachen: Ganz einem konventionellen Kata27 Siehe Calle, Bob: Christian Boltanski: Artist’s Books 1969–2007. Paris, 2008.
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log entsprechend, folgt auf den Einleitungstext eine Dokumentation von früheren Installationen, die dem aktuellen, bei Drucklegung wahrscheinlich noch nicht fertig gestellten Werk entsprechen. Hier dient die Fotografie ausschließlich dokumentarischen und illustrativen Zwecken. Lediglich die Tatsache, dass den Bildern keine Legenden beigefügt sind, weist darauf hin, dass es Boltanski nicht um die Evidenz des Gewesenen, sondern um die Evokation des Kommenden geht. Die anschließende monotone Akkumulation der Dijoner Porträts hat dokumentarischen Charakter nur insofern, als sie dieselben Kinder wie die Ausstellung zeigt. In ihrem Einleitungstext weiß Suzanne Pagé selbst nicht recht, was sie nun mit dem Buch anfangen soll. So bezeichnet sie es in einem Atemzug als Monument, als Katalog, wie auch als Meditationsbuch, um anschließend wortgewaltig seine Funktion als Epitaph der Jugend zu beschwören: »Monument lui-même, le catalogue, livret de méditations, s’est voulu une ›masse de mort‹ et l’accumulation morne de visages d’adolescents, cadavres anonymes, comme autant d’images d’intercession au refus de grandir, au refus de mourir.«28 Aufgrund ihres doppelten Bezugs, einerseits auf die individuellen Kinderporträts von Dijon, andererseits auf die anonymen Ikonen der Installation, dokumentieren diese Fotografien beide und keine zugleich. Zum komplett eigenständigen Kunstwerk wird die Publikation allerdings erst in dem Moment, als 1991 unter dem Titel Livres eine Schachtel erscheint, die sämtliche bis dahin von Boltanski produzierten Künstlerbücher enthält.29 (Abb. 6) Der Ausstellungscharakter dieser Koffer-Retrospektive wird dadurch unterstrichen, dass den größtenteils faksimilierten Büchern ein Katalog beigefügt ist, der sie auflistet, klassifiziert und beschreibt. Über Monuments erfährt man, dass es sich nicht um Faksimiles oder Reproduktionen, sondern um Originalexemplare handele.30 Konsequenterweise werden im Anschluss an den Texteintrag zwei der im Buch enthaltenen Kinderporträts als Illustrationsmaterial reproduziert. Diese Fotos sind Dokumente, wenn auch Dokumente dritten, wenn nicht vierten Grades. Sie repräsentieren weder die Kinder von Dijon, noch beziehen sie sich auf die Porträts der Installation, sondern sie dokumentieren ausschließlich die Fotos des Künstlerbuches. Sie sind Elemente des funktionalen und räumlichen Kontextes Schachtel-alsAusstellung-plus-Katalog, der zur Inszenierung der Fotografien des Buches Monuments beiträgt und unsere Wahrnehmung derselben wesentlich mitbestimmt. Wenn man dieses Umkehrspiel nun auf die 28 Pagé 1986 (wie Anm. 25), o.S. 29 Boltanski, Christian: Signierte Kassette mit 28 Publikationen von 19691991. Paris, Köln u. Frankfurt a.M., 1991. 30 Siehe Boltanski, Christian: Catalogue. Books, Printed Matter, Ephemera 1966-1991. Hrsg. v. Jennifer Flay. Köln u. Frankfurt a.M., 1991, S. 155.
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Im Spannungsfeld von Dokumentation und Inszenierung
Abb. 6: Christian Boltanski, Livres, Paris, Köln, Frankfurt a.M., 1991 Ausgangsfrage bezieht, wird klar, dass Dokumentation und Inszenierung in Bezug auf die Fotografie nicht nur relative Begriffe sind, sondern dass sie bisweilen koexistieren, in einen engen Kreislauf eintreten, der uns permanent von einem zum anderen wirft, bis zu dem Punkt der Ununterscheidbarkeit. Die Frage lautet darum weniger, ob eine Fotografie dokumentarischen oder inszenierenden bzw. inszenierten Charakter hat, sondern wie sich Fotografie als ›Environment‹ und in wechselnden künstlerischen und alltäglichen ›Environments‹ konstituiert, indem sie verschiedene Modalitäten von Dokumentation und Inszenierung aktualisiert.
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Bilder, die nichts zeigen. Inszenierter Krieg in der künstlerischen Fotografie WOLFGANG BRÜCKLE
Es ist nicht leicht, einen Anfang der inszenierten Fotografie festzulegen. Damit meine ich hier nicht ihren zeitlichen Anfang, der mit der Erfindung des Mediums unmittelbar einhergeht, sondern ihren Ort in unserem Kategoriensystem. Wo, so könnte man deutlicher fragen, ist ihr Ursprung zu suchen? Bei welcher Fotografie oder bei welchen Erscheinungen auf Fotografien können wir ohne schlechtes Gewissen aufhören, von ihrer Inszenierung zu sprechen? Es ist eine inzwischen allgemein geläufige Auffassung, dass es keinen Nullpunkt des Stils gibt, und bei dieser Formfrage fängt die Inszenierung schon an. Ein gutes Lehrstück bildet in dieser Hinsicht der 2001 entstandene Dokumentarfilm War Photographer, in dem der schweizerische Regisseur Christian Frei den Journalisten James Nachtwey bei der Arbeit verfolgt. Alles in diesem Film scheint uns zu beweisen, dass uns Nachtweys Werk Schnappschüsse im besten Sinn dokumentarischer Momentaufnahmen der Wirklichkeit, wie sie ist, vor Augen stellt. Dennoch erkennt man in seinen Bildern eine hohe Stillage, die das Verfassersubjekt bestätigt oder, je nach Betrachtungsweise, verrät: eine routinierte Professionalität, eine dramatische Rhetorik, eine künstlerische Behandlung und am Ende Bücher und Galerieformate. In einer Ausstellung können diese Fotografien ein regelrechtes Unwohlsein hinterlassen, verwandt mit der Abneigung, die Roland Barthes angesichts der aufdringlichen Mitteilungssucht von ›Schockfotografien‹ bekundet hat.1 Otto Karl Werkmeister glaubte sogar, dass auf einem Bild von Nachtwey ein Wachsoldat »statuarisch wie ein Legionär über besiegte Barbaren 1
Siehe Barthes, Roland: »Schockphotos« [frz. 1957]. In: Ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M., 1964, S. 55-58, wo auf S. 56 von einem »Willen zur Sprache«, der sich der freien Aneignung durch den Betrachter entgegensetzt, die Rede ist. Siehe außerdem Brückle, Wolfgang: »Welt-Bilder«. In: Camera Austria, Jg. 23, Nr. 92, Graz, 2005, S. 80-81, hier S. 81 (über Nachtweys Fotografien).
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auf einem römischen Triumphalbild« posiere, und in einem von demselben Fotografen fotografierten Leichentransport fand er den Widerhall von Caravaggios Grablegung Christi.2 Er versichert uns, dass auch Nachtwey selbst die Ähnlichkeit aufgefallen sein müsse, und zumindest ist Werckmeister mit dergleichen Lesarten von Fotografien, die als dokumentarische Mitteilungen in den Bilderkreislauf gelangen, in der Tat nicht allein. Nachtwey mag zwar durchaus ohne die ihm unterstellte Plünderung des abendländischen Bilderschatzes ausgekommen sein. Aber auch in der Besprechung einer New Yorker Fotografie-Ausstellung hieß es über das Bild eines Leichnams aus dem Irak-Krieg, er erinnere an die Tradition der Darstellung des toten Christus: In dieser Verallgemeinerung geht die Beherrschung der Weltwahrnehmung durch das Klischee sogar noch über Werckmeisters ikonografischen Einzelfall hinaus.3 Wird in ihr das Bild zu Unrecht unserer Bildung gefügig gemacht? Andernorts hat jedenfalls die Überzeugung, dass die Welt eine Bühne für die Aufführung von Repertoire-Theater sei, unleugbare Folgen für die bildliche Erzeugung von Schockeffekten gehabt. Auf diese Grundlage stellte nämlich der Fotograf Eric Baudelaire eine sorgfältig arrangierte Szene aus dem Irak-Krieg, aufgebaut in wochenlanger Arbeit mit den Hilfsmitteln der Filmindustrie. Unter Zusammensetzung von achtzehn einzeln fotografierten Bildern entstand so ein Diptychon, auf dem, wie wir nach genauerer Betrachtung feststellen können, jede einzelne Figur auf einem für seine mehr oder minder trügerische Authentizität bekannten Vorbild aus dem scheinbar unendlichen Archiv der Bilder gründet (Abb. 1 und 7).4 Gewisser-
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Werckmeister, Otto Karl: Der Medusa-Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001. Berlin, 2005, S. 33 u. 43f. Siehe Heartney, Eleanor: »A War and Its Images«. In: Art in America, Jg. 92, Nr. 9, New York, 2004, S. 51-55, hier S. 53. Vgl. auch Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten [amerik. 2003]. München u. Wien, 2003, S. 89: »Wenn man in Fotos aus Kriegs- und Katastrophenzeiten gelegentlich den Pulsschlag der christlichen Ikonographie zu spüren glaubt, so ist das keine sentimentale Projektion.« Sontag sagt nicht, was es stattdessen sei. Vielleicht doch eine Projektion, nur eben nicht sentimental? Besprechungen von Baudelaires Diptychon bringen Poivert, Michel: »Théâtre des dernières guerres«. In: Vacarme, Jg. 10, Nr. 37, Paris, 2006, S. 41-44; Zaoui, Pierre: »La fresque aux icônes. À propos de ›Dreadful Details‹ d’Éric Baudelaire«. Ebenda, S. 45-48 (ausführliche Beschreibung); Baqué, Dominique: »L’Image fixe pour repenser le monde«. In: Art Press, Jg. 29, Nr. 350, Paris, 2008, S. 52-59, hier S. 58. Baudelaires Titel ist einer Bildlegende aus Alexander Gardners Photographic Sketchbook of the War (2 Bde. Washington, D.C., 1866, Bd. 1, Nr. 36) entlehnt, woher auch mehrere seiner Figuren stammen. Vgl. hierzu auch Abb. 6 und 7.
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Abb. 1: Eric Baudelaire, The Dreadful Details, 2006 maßen macht Baudelaire hier eine Probe auf die Behauptung, dass kein Drama nicht in Szene gesetzt ist. Trotzdem bleibt im Fall der Fotografie die Frage nach der Sichtbarkeit des wirklichen Schreckens hinter den Floskeln, zusammen mit der nach ihren medialen Voraussetzungen, bestehen. Diese Frage ist natürlich nicht neu. Von Anfang an hat die Begeisterung über die Fähigkeit der Fotografie, mehr oder andere als von ihrem Urheber vorgesehene Einzelheiten aufzuzeichnen, eine Rolle gespielt, und Barthes betont sogar, dass ihn überhaupt nur solche Einzelheiten, die der Fotograf nicht beabsichtigt hat, zu fesseln vermögen.5 Der Diskurs der Fotografie hat dieses Lob einer mediengeleiteten Idiosynkrasie auf Seiten des Betrachters dankbar aufgenommen, aber die Anwendung gelingt nicht immer überzeugend; naturgemäß tut sich die Bildauslegung mit Inszenierungen leichter als mit dem Zufall. Ein Beispiel dafür finden wir in einem Aufsatz von Rosalind Krauss.6 Sie berichtet darin im Zuge des Versuchs, die Medienspezifik fotografischer Ansätze in der Gegenwartskunst zu bestimmen, von einem eigentümlichen Kinoerlebnis. Krauss sah einen Dokumentarfilm von Henri Cartier-Bresson, entstanden 1945 unter anderem in Dessau. Eine der Szenen mündet in ein Bild, das sie, wie viele von uns, als Fotografie desselben Urhebers schon kannte. Entlassene Lagerinsassen, die um einen Tisch herum stehen, um ihre für die Heimkehr nötigen Papiere in Augenschein nehmen zu lassen; eine auf die Abwicklung ihres 5
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Siehe Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [frz. 1980]. Frankfurt a.M., 1985, S. 57 u. passim, sowie zuvor Barthes 1964 (wie Anm. 1), S. 55. Siehe Krauss, Rosalind: »›... And Then Turn Away?‹ An Essay on James Coleman«. In: October, Nr. 81, Cambridge, 1997, S. 5-33, hier S. 11f.
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Abb. 2: Henri Cartier-Bresson, Dessau, Germany, 1945. In einem Flüchtlingslager wird eine Gestapo-Informantin, die sich als Flüchtling ausgegeben hatte, von einer Lagerinsassin erkannt und bloßgestellt, 1945 Falls wartende Frau in der Mitte; rechts eine weitere Frau im Begriff, sie zu schlagen; die Umstehenden drängen sich heran, um nichts zu versäumen: Hier wird eine Kollaborateurin vor unseren Augen entlarvt (Abb. 2). Im Film geht die Szene so schnell vorbei, dass Krauss nicht recht erfassen kann, was eigentlich passiert. An die Prägnanz der Fotografie erinnert sie sich aber gut. Sie schließt daraus zunächst, dass der neben der laufenden Filmkamera stehende Cartier-Bresson, als er dieselbe Szene fotografierte, wohl etwas an der Darstellung verändert haben müsse, so dass sie anders als seine Filmszene die Choreografie und die formalen Effekte, die dem Bild seine Heftigkeit und Einprägsamkeit verleihen, zur Geltung bringen konnte. Aber das ist nicht der Fall, wie sie tags darauf bei Prüfung der Fotografie feststellen muss. Die Bilder zeigen jeweils genau dasselbe. Nur die Unbeweglichkeit der Szene gibt Krauss im Fall der Fotografie eine bessere Möglichkeit, das Durcheinander aufzunehmen. Dabei fallen ihr beziehungsreiche Details ins Auge, in denen sie erkennen will, was Barthes als ›dritten Sinn‹ und später, bei veränderter Gewichtung, als Punctum bezeichnet hatte. Wichtig ist festzuhalten, dass Krauss fasziniert die Leistung des Standbilds herausstreicht: Unter ihren Augen beginnt es mehr zu erzählen, als der Film preisgegeben hatte. So weit, so gut. Dieselbe Gedankenfigur finden wir natürlich bei anderen Autoren auch. Krauss nimmt außerdem zunächst an, der Vorzug der Fotografie müsse im Arrangement des Bildes gelegen haben, folglich in der Inszenierung des Tatbestands durch den Fotografen. Dieser von ihr anfangs gehegte Verdacht erweist sich aber nicht nur als unbegründet, sondern im Zusammenhang mit ihrem Gedankengang als geradewegs fehlgelei90
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tet. Denn Krauss verweist, indem sie sich auf den ›dritten Sinn‹ beruft, auf gerade die Eigenschaften, die der Fotograf keinesfalls hätte bewusst gestalten können: Eine Inszenierung muss damit als Grund für die besondere Wirkung der Szene auf unserem Bild entfallen. Andererseits scheint mir aber, dass Krauss hier über das Ziel hinausschießt. Denn die Einzelheiten, die sie als bedeutsam hervorhebt, wirken allesamt auf die diegetische Ebene der Bilderzählung ein, jedenfalls wenn man von einem angeblich das Modell von Barthes bestätigenden, in der Beschreibung von Krauss aber eigentlich völlig unnützen Hinweis auf den verknautschten Reißverschluss an der Seite der Jacke einer der abgebildeten Personen absieht.7 In Wahrheit spricht sie genau die Bildeigenschaften an, die Cartier-Bresson selbst als Produktivkräfte in der Erzeugung des ›entscheidenden Augenblicks‹ wahrgenommen hätte, und damit die Bildeigenschaften, von denen sich Barthes vermutlich gelangweilt gefühlt haben würde: die Dramatik der Szene und die Teilnahme der Umstehenden, unterscheidbar in ihrer historiografisch aussagekräftigen Kleidung, ein flüchtiger, das Ereignis schlüssig zusammenfassender Augenblick.8 Ist hier wirklich eine dem Fotografen unzugängliche Zufälligkeit am Werk? Offensichtlich ist es nicht immer leicht zu bestimmen, was genau beabsichtigt war. Zumindest in theoretischer Hinsicht betritt Krauss mit ihrem Verweis auf Barthes schwankenden Boden, zumal jener selbst nach Durchsicht einiger Aufnahmen von Koen Wessing einräumt, dass der Effekt, der ihn an einer von ihnen gereizt hatte, auch auf anderen zu entdecken ist; mit Rücksicht darauf müsste er auf den Fotografien eigentlich Stil oder Strategie und damit eben die Theatralik oder Inszenierung entdecken, die er ablehnt.9 Trotzdem liegt auf der Hand, was Barthes gemeint hat: den Funken Zufall, der uns sagt, dass der Fotograf wenigstens teilweise nur Zeuge und nicht Regisseur war. Kürzlich unterzog Michael Fried Die Helle Kammer, worin sich dieser Gedanke findet, einer neuen Lektüre; er entdeckte dabei eine enge Verwandt-
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Damit haben sie Teil an der ›Entwicklung‹, die, als Bestandteil des klassischen Diskurses, von Barthes gerade nicht als Movens der fotografischen Erfahrung betrachtet wird. Vgl. Barthes 1985 (wie Anm. 5), S. 52, sowie zuvor Barthes, Roland: »Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins« [frz. 1970]. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M., 1990, S. 4766, insb. S. 61f. Der Hinweis auf den Reißverschluss findet sich bei Krauss 1997 (wie Anm. 6), S. 12. Siehe Cartier-Bresson, Henri: »Der rechte Augenblick« [frz. 1952]. In: Ders.: Auf der Suche nach dem rechten Augenblick. Aufsätze zur Photographie und Erinnerungen an Freunde. Berlin u. München, 1998, S. 11-29, insb. S. 13 u. 15 (mit einer Apologie seiner eigenen Praxis). Vgl. Barthes 1985 (wie Anm. 5), S. 31.
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schaft von Barthes’ Vorlieben mit einer Tradition antitheatralischer Malerei in Europa.10 Diese Malerei sieht entsprechend der von Fried seit langem durch die Kunstgeschichte verfolgten Leitdifferenz eine Unterdrückung aller theatralischen Momente durch eine scheinbare Absorption der Figuren in das Handlungsgefüge der Bilderzählung vor und lässt sich, wie Fried meint, bis in die Gegenwartsfotografie hinein verfolgen. Sogar offenkundig inszenierte Bilder können seiner Auffassung nach diese Tugend verkörpern, wenn ihre Dramaturgie nur völlig von den ästhetischen Grundsätzen der antitheatralischen Tradition durchdrungen ist.
Abb. 3: Jeff Wall, Dead Troops Talk (a vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986), 1992 Das gilt folgerichtig sogar für ein Bild wie Jeff Walls Dead Troops Talk (a vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986) von 1992 (Abb. 3). Es gehört zu den bekanntesten Werken des Künstlers, was zum Teil an seinem für die Werkentwicklung bedeutsamen Zustandekommen mithilfe von Montageprozessen am Rechner liegt; es stellt somit ein Paradebeispiel für den von Wall selbst als ›kinematografisch‹ bezeichneten Zweig seines Gesamtwerks dar.11 Bekanntlich hat Wall die Szenen in Ein-
10 Siehe Fried, Michael: Why Photography Matters as Art as Never Before. New Haven u. London, 2008, S. 95ff., sowie mit Einwänden Brückle, Wolfgang: »Absorption Revisited« [Besprechung von Fried, Photography]. In: Art History, Jg. 33, Nr. 4, Oxford, 2010 (bei Redaktionsschluss im Erscheinen). 11 Vgl. die Angaben zu Kat.-Nr. 46 in Vischinger, Theodora; Naef, Heidi (Hg.): Jeff Wall. Catalogue raisonné 1978-2004. Göttingen, 2005, S. 337-338, hier S. 338. Unter Hinweis auf Walls Selbstverortung zwischen ›regelrechter‹ und kinematografischer Fotografie handelt über das Bild Brougher, Kerry: »Der Fotograf des modernen Lebens«. In: Ausst.-kat. Museum of Contemporary Art, Los Angeles: Jeff Wall. 13. Juli bis 5. Oktober 1997
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zelaufnahmen festgehalten und dann zusammengefügt; sogar die Wunden wurden erst nachträglich mit den Körpern der fröhlich miteinander plaudernden Untoten verbunden. Allerdings ist diese Tatsache für die Bildwirkung nicht unmittelbar von Bedeutung, denn die Szene hätte sich fraglos, wenn auch mit größerer Mühe, ohne digitale Hilfsmittel ähnlich fotografieren lassen. Unleugbar dagegen ist der Werkstattcharakter der Szene: Es ist nicht zu übersehen, dass hier eine erfundene Begebenheit vorliegt. Siegfried Kracauers Beschreibung der Fotografie als »Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt«, drängt sich auf: ein Fragment, wie er sagt, weil sie den Sinnzusammenhang der Bestandteile des Bildes nicht einbegreift.12 Zwar meint Kracauer den Zusammenhang ›hinter‹ den Erscheinungen, nicht auf der Ebene der Erscheinungen selbst. Aber schon mit dem Hinweis, dass dieser Zerfall der Welt in Einzelteile einem Traum, in dem die Tagesreste durcheinanderkommen, nahekommt, lässt an Walls Afghanistan-Montage denken, hat sie doch der Künstler seinerseits mit Rücksicht auf ihre eigentlich sinnwidrige Zusammenstellung von Einzelszenen als eine ›Vision‹ bezeichnet. Das hielt andererseits Susan Sontag nicht davon ab, dem Bild eine Schlüsselstellung in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten einzuräumen. Sie rückt es ans Ende einer mäandrierenden Erörterung der Vor- und Nachteile bildlicher Aufarbeitung und Verbreitung von Schrecken und Leid, worin das Bild eine paradoxe Botschaft auszugeben scheint. Die Figuren auf dem Bild sprechen miteinander, obwohl sie ausweislich des Titels und ihrer grässlichen Wunden tot sind. Sie sprechen aber, wie Sontag meint, nicht mit uns; sie haben uns nichts mitzuteilen. Hier liegt scheinbar ein Paradox vor, denn die Entzifferung des Bildsinns scheint Sontag nicht schwer zu fallen. Allerdings kann man, wenn man es genau nimmt, nicht von einer Entzifferung sprechen. Vielmehr allegorisiert Sontag die Szene, die doch eigentlich, indem sie die Soldaten nur miteinan-
(hrsg. v. Kerry Brougher).. Zürich, 1997, S. 13-42, hier S. 38f. Sein Verhältnis zum Kino kommentiert Wall u.a. in Pelenc, Arielle: »Correspondence With Jeff Wall«. In: Duve, Thierry de; Groys, Boris; Pelenc, Arielle (Hg.): Jeff Wall. London, 1996, S. 8-23, hier S. 9ff. u. 22, sowie in Wall, Jeff; Chevrier, Jean-François: »A Painter of Modern Life« [zuerst als »At Home at Elsewhere« (1998/2001)]. In: Ausst.-kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M.: Jeff Wall: Figures and Places. Selected Works from 1978-2000. 28. September 2001 bis 3. März 2002 (hrsg. v. Rolf Lauter). München u. London, 2001, S. 168-185, hier S. 173ff. Die konzeptuellen Verschiebungen in Walls Standpunkt behandelt Brückle, Wolfgang: »Almost Merovingian: On Jeff Wall’s Relation to Nearly Everything«. In: Art History, Jg. 32, Nr. 5, Oxford, 2009, S. 977-995, hier S. 979f. u. passim. 12 Kracauer, Siegfried: »Die Photographie« [1927]. In: Ders.: Aufsätze 19271931 (= Schriften Bd. 5.1). Frankfurt a.M., 1990, S. 83-98, hier S. 86.
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der und nicht mit uns beschäftigt zeigt, den hergebrachten Gepflogenheiten einer absorptiven Erzählkunst folgt. Sontag wünscht, dass uns gerade diese Vernachlässigung des Betrachters verstören möge. Wir sollen uns aufwühlen lassen von dem Schrecken, dessen wirkliches Gegenstück wir nicht kennen und uns auch nicht ausmalen können.13 Zugleich wäre fraglich, wie das Bild eine solche Wirkung entfalten könnte, wenn es den Schrecken nicht doch vorstellbar machen würde. Bei Sontag steht es nicht so, aber man muss ihrem Gedankengang entnehmen, dass diese Doppelleistung gerade durch die Künstlichkeit der Inszenierung verständlich gemacht werden soll: Vermittels der Inszenierung zeigt das Bild, dass es nicht zeigen kann, was es uns dennoch vor Augen führt. In einer überraschenden Wendung nimmt Sontag am Ende einer Klage über die Schwierigkeit der bildlichen Übermittlung echter Erfahrung an, dass diesem Bild eine Lektüre zugutekommt, die ihr bei der Betrachtung von dokumentarischer (also nicht inszenierter) Fotografie als vergeblich erscheinen würde.14 Fried hat diesen Gedanken aufgegriffen, aber dabei verwandelt. Er stellt in seinen Augen eine Bestätigung dafür dar, dass Wall das Ideal einer antitheatralischen Kunst erfüllt, dass also ihre Erzeugnisse in Unkenntnis der Existenz eines Betrachters wie eine geschlossene Welt (statt wie eine Bühne) zu bestehen scheinen. Und er sieht die große Chance der Fotografie darin, dass sie, anders als das Kino, das theatralische, für die Kunst bedrohliche Moment nicht nur flüchten, sondern sogar überwinden kann. Es ist kein Wunder, dass er auch Walls Dead Troops Talk in diesem Zusammenhang anführt: Dass die Figuren ins Gespräch vertieft sind, ist für ihn ein Zeichen für die Anwendung eines bis auf Denis Diderot zurückgehenden ästhetischen Paradigmas.15 Er vernachlässigt dabei allerdings den grotesken Charakter der anekdotischen Schilderung, die keine erzählerische Kohärenz entfaltet und gewissermaßen wirkt, als sei das Schauspiel unterbrochen worden: Das lässt eigentlich Glaubwürdigkeit und damit ein Eintauchen des Betrachters, wie es die antitheatralische Tradition ermöglicht, nicht zu. Vielleicht deshalb hat umgekehrt Krauss dieselbe Fotografie als Bei13 Vgl. Sontag 2003 (wie Anm. 3), S. 133f. u. 136. Pierre Zaoui eignet sich diese Auslegung für seine eigene Darstellung von Baudelaires Dreadful Details fast wörtlich, aber ohne Hinweis auf seine Quelle an. Siehe Zaoui 2006 (wie Anm. 4), S. 47f. 14 Man kann einen Schritt weitergehen und mit Fried annehmen, dass die offene Künstlichkeit des Bildes es in Sontags Augen vor der Bedrohung einer unangemessenen Ästhetisierung, der die dokumentarische Fotografie im Bilderkreislauf allenthalben ausgesetzt ist, gerade beschützt. Siehe Fried 2008 (wie Anm. 10), S. 34f. 15 Vgl. Fried 2008 (wie Anm. 10), S. 102.
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spiel für ein angebliches Scheitern von Wall herangezogen. Sie hat, obwohl sie wie Fried von der Rolle der Fotografie in der Debatte um die Legitimität der Gegenwartskunst überzeugt ist, zu Wall lange geschwiegen. Als sie sich schließlich äußerte, quittierte sie seine Afghanistan-Szene mit der Verachtung, die sich, als ihre einzige nennenswerte Äußerung über sein Werk, wie eine lange fällige Endabrechnung ausnimmt: Baron Gros? Géricault? Krauss weist auf diese üblichen Vergleichsgrößen aus dem Bestand der Historienmalerei nur hin, um ihnen entgegenzuhalten, dass Walls Bild sie selbst eher an den pompösen Salonmaler Ernest Meissonier erinnere, und fügt ziemlich giftig hinzu, dass noch dazu Meissonier wenigstens habe zeichnen können.16 Offen gesagt: Es ist nicht leicht zu begreifen, was sie mit dieser Spitze meint. Will sie sagen, dass Wall nicht fotografieren könne? Ist die digitale Manipulation des Mediums grundsätzlich unstatthaft, Zeugnis eines Mangels an Kompetenz? Es ist in der Tat möglich, dass sie darauf hinauswill. Denn die Verurteilung Walls steht in demselben Text, der Cartier-Bressons Dessauer Fotografie untersucht, und seinen eigentlichen Schwerpunkt hat er in dem Versuch von Krauss, mediengerechte künstlerische Aktivitäten für eine Zeit, in der programmatische Mediengerechtigkeit keine Kernfrage mehr bildet, auf neuer Grundlage zu bestimmen. Wall scheitert ihrer Meinung nach an dieser Aufgabe, weil er der Malerei nacheifert und »sprechende Bilder« schafft: Bilder, deren narrative Qualitäten, wie sie sagt, in ihrer Geschwätzigkeit das Hier und Jetzt der Fotografie unendlich zu dehnen erlauben.17 Aber das Argument wirkt nicht ganz überzeugend. Denn natürlich will Wall gar nicht dieses Hier und Jetzt bewahren, schon weil die Fotografie nicht sein einziges Bezugsmedium darstellt, und außerdem könnte CartierBressons Bild demselben Vorwurf ausgesetzt werden: Deutet nicht Krauss, indem sie seine erzählerische Leistung sogar höher einschätzt als die des gleichzeitig entstandenen Filmmitschnitts, eben eine solche Dehnung des Augenblicks in der Nacherzählung des Ereignisses an? Einerseits ja, aber andererseits hat Cartier-Bresson bei ihr den Kredit des unmittelbaren Realitätsbezugs. Die gattungsspezifischen Leistungen der Fotografie, zu denen sie unter anderem das berichtende Bild zählt, entgehen in Krauss’ Augen ihrer Kritik an der Narrativität, in der die Ansichten ihres einstigen Lehrers Cle-
16 Siehe Krauss 1997 (wie Anm. 6), S. 28. 17 Siehe Krauss 1997 (wie Anm. 6), S. 29. Sie beruft sich, ohne eine Quelle zu nennen, auf Wall selbst. Möglicherweise bezieht sie sich dabei auf Pelenc 1996 (wie Anm. 11), S. 10. Die Bezeichnung von Walls Werken als »Talking pictures« (zu Deutsch auch: Tonfilme) spielt zugleich auf seinen Hang zum Kinematografischen an.
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ment Greenberg widerhallen.18 Nun sieht auch Walls Fürsprecher Fried durchaus die Schwierigkeit, die sich für eine Verteidigung der inszenierten Fotografie aus medientheoretischer Sicht ergibt. Er hat deshalb gelegentlich auf ein Punctum hingewiesen, dass er in einem Lichtreflex auf Walls Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona zu entdecken glaubte, sowie auf eine Äußerung von Wall, derzufolge die unkontrollierbaren Momente, die sein Apparat einfängt, zu den wesentlichen Bestandteilen seiner Kunst gehören.19 Der Hinweis auf Barthes, schon bei Krauss nicht völlig überzeugend, geht hier aber zweifellos an der Sache vorbei. Walls Bilder sind derartig streng konstruiert, dass etwaige Zufälle nur auf eine Laxheit in der Werkstatttätigkeit verweisen könnten und nicht auf eine fotografisch vermittelte Außenwelt: Man mag dergleichen ein Punctum nennen, aber man wird nicht leicht verständlich machen können, wie sich daraus eine Befreiung aus dem durchorganisierten Guckkastentheater ergeben sollte. Ein unachtsam gesetzter Farbklecks auf einem Gemälde von Gros oder Géricault hätte etwa dieselbe Bedeutung. Letztlich entfaltet Walls Afghanistan-Szene wohl eher gerade deshalb Wirkung, weil der Betrachter die Künstlichkeit gar nicht in Frage stellt. Werckmeister glaubt zu beobachten, dass die gegenwärtig aus den Informationsmedien verdrängten Schrecken, ins Groteske gesteigert, über die Kunst wiederkehren.20 In Dead Troops Talk haben wir ein Beispiel, das seine Behauptung stützen könnte und, wenn wir ihr folgen, das unterdrückte ›Reale‹ als Bezugsgröße zu rekonstruieren erlaubt.
18 Wir vernachlässigen hier die Verzerrung, die mit Krauss’ Zuweisung von Reklame- und Modefotografie unter das ›Dokumentarische‹ einhergeht: Um diese Gattungen in einem Atemzug mit der Dokumentarfotografie im engeren Sinn nennen zu können, muss man, als gemeinsamen Nenner, Eigenschaften des Apparats an die Stelle einer sozialen Gebrauchsweise setzen und den Hang zur Inszenierung, der in Reklame- und Modefotografie gleichermaßen vorherrscht, verschweigen. Auch die Behauptung von Krauss, Wall habe zwar ein Medium erfunden, sei dessen Besonderheiten jedoch nicht gerecht geworden, stellt wohl sogar vor dem Hintergrund ihrer Theorie eine gedankliche Unmöglichkeit dar. Siehe Krauss 1997 (wie Anm. 6), S. 29. 19 Vgl. Fried 2008 (wie Anm. 10), S. 74, und Walls eigene, von Fried angeführte Äußerung in Estep, Jan: »Picture Making Meaning: An Interview with Jeff Wall«. In: Bridge Online, Jg. 2, Nr. 1, 2003, S. 1-4, hier S. 3. Mir scheint allerdings nicht, dass das von Wall ebenda in Anspruch genommene »unpredictable something« mit Barthes’ Punctum zwangsläufig identisch sei; es kann sich auch auf den Verlauf des schöpferischen Prozesses beziehen. 20 Vgl. Werckmeister 2005 (wie Anm. 2), S. 16. Er spricht von der »Bildkultur«, meint aber mit diesem vagen Begriff vor allem Kunstäußerungen in den populären Medien.
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Aber unser Problem ist damit noch nicht vom Tisch, denn dieses ›Reale‹ sagt nichts über den Zwiespalt zwischen Inszenierung und Dokumentarismus in der Fotografie aus. Das geht aus dem Vergleich von Walls Dead Troops Talk mit einer künstlerischen Tradition, die bisher im Zusammenhang mit seinem Werk keine Beachtung fand, deutlicher hervor. Im Ersten Weltkrieg arbeitete für die australische Berichterstattung der Fotograf Frank Hurley. Er nahm seinen Auftrag ernst, stand betreffs seines Verständnisses von den damit verbundenen Aufgaben aber nicht im Einklang mit seinem Vorgesetzten Charles Bean. Der verlangte von ihm, im Dienst an der historiografischen Treue nur unbearbeitete Fotografien abzuliefern. Einerseits hatte Hurley auch durchaus den Anspruch, festzuhalten, was ihm vor Augen stand. Aber er sah andererseits seine Arbeitsbedingungen und die Beschränkungen der Technik als ein unüberwindliches Hindernis an. Vergeblich versuchte er, auf einem Negativ die tatsächlich zugleich erfolgenden Ereignisse zu vereinen. Der große Maßstab der Kampfhandlungen – »weit verstreute Menschen, eine von Dunst und Rauchwolken getrübte Luft, Granaten, die nicht zur rechten Zeit explodieren wollten« – machte ihm das unmöglich: Alle Bestandteile für ein Bild waren da, aber wenn er die Aufnahmen abends entwickelte, war er enttäuscht, weil sie sich darauf nicht zusammenbringen ließen.21 Vermutlich hätte er mit Sontag in der Auffassung übereingestimmt, dass der wirkliche Schrecken mit den Mitteln der Fotografie nicht zu erfassen ist: Einen Ausweg sah Hurley in der Nachbearbeitung flauer Bilder und schließlich im Kombinationsdruck von mehreren Negativen, wie wir sie aus der Kunstfotografie des 19. Jahrhunderts kennen, hier wohlgemerkt mit dem Anspruch, einen dem Medium anders unzugänglichen Wirklichkeitseindruck nachzubilden. Dass er auf Geheiß von Bean nicht einmal Wolken in seine Bilder einspeisen durfte, schien ihm abwegig, zumal andere Kriegsberichterstatter ebenfalls mit den von ihm ins Auge gefassten Techniken arbeiteten, und er drohte mit einer Kündigung, um wenigstens für Ausstellungszwecke weiter an seinen Montagen arbeiten zu dürfen, was ihm denn auch gestattet wurde.22 Damit war freilich auch eine klare Grenze zwischen die Verwendungsweisen seiner Bilder gezogen: hier die Dokumentation, dort die Kunst. Hurley hätte diese Unterscheidung wohl nicht aus 21 Hurley, Frank: »War Photography«. In: The Australasian Photo-Review, Jg. 26, Nr. 2, Sydney, 15. Februar 1919, S. 164-165, hier S. 164. Die Schlüsselpassage des an entlegenem Ort veröffentlichten Texts wird in wohl jeder Veröffentlichung über Hurley zitiert; vgl. z.B. Millar, David P.: From Snowdrift to Shellfire. Capt. James Francis (Frank) Hurley 1885-1962. Sydney, 1984, S. 51. 22 Vgl. McGregor, Alasdair: Frank Hurley. A Photographer’s Life. London, 2004, S. 170f.
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Abb. 4: Frank Hurley, A wave of Infantry going over the top to resist a counter attack, Zonnebeke, 1917 freiem Willen vorgenommen; er wollte Dokumentation und Kunst aneinander stärken. Bernd Hüppauf weist deshalb seinen Bildern einen dem modernen Kriegsgeschehen nicht angemessenen, vor der echten Erfahrung zurückschreckenden Anspruch auf die komplette und kontinuierliche Wirklichkeit zu, aber damit ist er wohl nicht im Recht.23 Zumindest war es Hurley seinem eigenen Zeugnis nach gerade um die Wiedergabe der authentischen, von der Fotografie nicht erfassten Erfahrung zu tun. 1917 entstand auf diese Weise A wave of Infantry going over the top to resist a counter attack, Zonnebeke, wovon ein 1918 in London ausgestellter, gut sechs Meter breiter Abzug schon wegen seiner schieren Größe leicht neben Walls Kriegsszene bestehen kann (Abb. 5 und 6).24 Wir sehen die Schützengrä23 Siehe Hüppauf, Bernd: »Hurleys Optik. Über den Wandel von Wahrnehmung«. In: Hickethier, Knut; Zielinski, Siegfried (Hg.): Medien/Kultur.
Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation. Knilli zum Sechzigsten. Berlin, 1991, S. 113130, insb. S. 116 u. 122, sowie Ders.: »Experiences of Modern Warfare and the Crisis of Representation«. In: New German Critique, Jg. 20, Nr. 59, Durham, 1993, S. 41-76, insb. S. 53. Beide Beiträge vertreten die Auffassung, dass der moderne Krieg modernistische Darstellungsformen notwendig macht. 24 Ein Abzug trägt zusammen mit Hurleys Unterschrift das Datum 1917, das sich aber auch auf das dargestellte Ereignis beziehen könnte. In London wurde das Bild ausdrücklich als »composite picture«, später aber verschiedentlich ohne diesen Hinweis gezeigt. Es tauchte in Ausstellungen und Druckerzeugnissen auch als Over the Top, The Raid, An Episode After the Battle at Zonnebeke auf. Ausweislich einer Tagebuchaufzeichnung von
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Abb. 5: Frank Hurley, Australische Truppen beim Vormarsch, Okt. oder Nov. 1917 ben im zerschossenen, von Stacheldrahtverhauen durchzogenen Feld, hier und da Einschläge von Geschützfeuer, im Vordergrund zum Angriff übergehende australische Infanterie, darüber einen Fliegerangriff, also alles, was Hurley tatsächlich gesehen, aber nicht auf eine Platte hatte bringen können. Für dieses Bild griff er deshalb auf zwölf einzelne Fotografien zurück. Hüppauf befand 1993, dass uns die Frage nach der Berechtigung dieses Vorgehens nicht mehr wichtig erscheinen müsse. Aber vielleicht ist angesichts der Entwicklung unserer Bildmedien seine Ansicht ihrerseits überholt. Walls Dead Troops Talk, entstanden etwa zur selben Zeit wie Hüppaufs Beitrag, gilt als ein hervorragendes Beispiel für seine Neigung zur Verschränkung der Medien Fotografie, Malerei und Kino. Man kann bei Hurley etwas Ähnliches am Werk sehen. In anderen Riesenfotografien, die, teilweise sorgfältig eingefärbt, während des Ersten Weltkriegs für Ausstellungszwecke geschaffen wurden, hat man »Techniken der humanistischen Historienmalerei, die Reise des Films auf dem fliegenden Teppich, den Illusionismus des Stereoskops« miteinander wetteifern sehen, und Hurley schloss mit seinem monumentalen Bild, das ebenfalls »kinematographisch« genannt wurde, unmittelbar an diese Versuche an. Gewiss sind Zweifel daran, dass wirklich eine stereoskopische Raumillusion mit diesen Aufnahmen verbunden werden könne, berechtigt, und auch die Hurley maß der Londoner Abzug 6,1 x 4,6 m; vgl. Jolly, Martyn: »Australian First-World-War Photography. Frank Hurley and Charles Bean«. In: History of Photography, Jg. 23, Nr. 2, London, 1999, S. 141-148, hier S. 142. Obige Abbildung bezeugt allerdings eher ein Verhältnis von 7 zu 4.
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Lesbarkeit der voranstürmenden Soldaten auf Hurleys Schlachtenpanorama als eine Folge zweier aufeinander folgender Zeitabschnitte der Handlung ist mit Vorsicht aufzunehmen. Aber den Vergleich mit einem Kinoerlebnis lassen der Maßstab und die Choreografie des noch dazu vielleicht teilweise gestellten Bildes dennoch kaum weniger plausibel erscheinen als bei Wall, so sehr bei jenem auch die rückwärtige Beleuchtung an der Wirkung Anteil hat und, jedenfalls zu Beginn, mit einem medienkritischen Anspruch einherging (übrigens zeigte auch Hurley in seiner Londoner Ausstellung farbige Lichtbilder von der Front, und in den Schauräumen spielte täglich eine Militärkapelle auf).25 Insofern ist das Argument schon der Struktur nach bemerkenswert. Denn es stellt eine Vorwegnahme der medientheoretischen Selbstverortung von Wall dar, wenn auch unter Abzug von deren geschichtlichen Dimensionen. Es besagt in der Zuspitzung, dass diesen Fotografien ein ästhetisches Sondermerkmal vermittels der hybriden Einverleibung anderer Ausdrucksmittel zuwächst. Damit hätten beide Künstler ein Medium ›erfunden‹, wie sich mit Krauss sagen ließe, oder wenigstens an seiner Entwicklung Anteil und müssten nicht schon wegen ihrer diesbezüglichen Konzepte als Irrläufer eingeordnet werden. Das heißt nicht, dass wir beider Künstler Bilder deshalb als gleichermaßen gelungen anzusehen hätten. Hurleys Ausstellungsinszenierung hat in einem unzweideutigeren Sinn als Walls Leuchtkästen Anteil an einer Gesellschaft des Spektakels.26 Überhaupt sind seine Kompositionen und die von ein paar gleichgesinnten Zeitgenossen 25 Vgl. Jolly, Martyn: »Composite Propaganda Photographs During the First World War«. In: History of Photography, Jg. 27, Nr. 2, London, 2003, S. 154-165, hier S. 162 (über die Mediensymbiose der Riesenfotografien). Jolly vermutet in Teilen der Angriffsszene eine bloße Übung hinter den Linien. Siehe Jolly 1999 (wie Anm. 24), S. 144. Dixon empfindet Hurleys Bild als »cinematic«, weil die beiden Angriffswellen aufeinander folgende Einstellungen zu zeigen scheinen; das Bild erinnert ihm zufolge auch an Dioramen, Bühnen und Filmkulissen, wie sie nach dem Krieg auf Museumsausstellungen Einfluss hatten. Siehe Dixon, Robert: »Travelling Mass Media Circus: Frank Hurley’s Synchronized Lecture Entertainment«. In: Nineteenth Century Theatre and Film, Jg. 33, Nr. 1, Manchester, 2006, S. 60-87, S. 74. Mehr kuriositätshalber sei erwähnt, dass Migaryou Walls Dead Troops Talk als eine Parabel auf den Ersten Weltkrieg bezeichnete, allerdings ohne diese Beziehung näher zu erläutern. Siehe Migayrou, Frédéric: Jeff Wall. Simple indication. Brüssel, 1995, S. 147. 26 Gegen eben diese Gesellschaft des Spektakels richtet sich (unter Übernahme des Begriffs von Guy Debord) der Versuch von Krauss, den Medienbegriff einer Neubewertung zu unterziehen. Siehe Krauss, Rosalind: »Reinventing the Medium«. In: Critical Inquiry, Jg. 25, Nr. 2, Chicago, 1999, S. 289-305, insb. S. 291 u. 301ff., und zuvor andeutungsweise Krauss 1997 (wie Anm. 6), S. 5, 9f. u. 20.
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wohl eher ein ästhetischer Fehlschlag gerade wegen der großen künstlerischen Geste, die in ihnen zum Ausdruck kommt: wegen ihrer umstandslosen Fortsetzung von Bildanordnungen des 19. Jahrhunderts und ihres Wetteiferns mit dem theatralischen Massenschauspiel. Sie kommen insofern Meissonier sicher näher als Wall, auch wenn man, mit etwas gutem Willen, in der willkürlichen Aufreihung zweier Ansichten desselben Schützengrabens auf unserem Beispiel (worin man einen Anhaltspunkt für dessen ›kinematografische‹ Wirkung gesehen hat) einen auf die Künstlichkeit der gesamten Darstellung hinweisenden Fingerzeig erkennen könnte: Wenn man so will, haben wir hier einen Ansatzpunkt für die Offenlegung eines inszenierten Spuks oder, mit Rücksicht auf Walls Dead Troops Talk gesprochen, einer ›Vision‹. Diese Auslegung wäre wohl kaum in Hurleys Sinn gewesen, und bisher ist auch niemand sonst auf sie verfallen. Trotzdem muss man fragen, wieso auch sein Bild nicht wirkt wie eine Fotografie. Eine Antwort darauf muss die Eigenschaften einbeziehen, die wir dem Medium zuzuschreiben gewohnt sind, also seine indexikalische Verbindung mit der Wirklichkeit. Barthes verfocht ein besonderes Verhältnis des Betrachters zu fotografischen Bildern unter Hinweis darauf, dass wirklich gelebt habe, wer darauf zu sehen ist, und Peter Geimer sagte unter Berufung auf ihn in einem Aufsatz über Bilder, die man nicht zeigt (auf diesen Titel spiele ich in meinem eigenen an), die gelegentliche Unterdrückung solcher Bilder in der Presseberichterstattung sei auf das von den Verantwortlichen vorausgesetzte Bewusstsein des Publikums davon, dass die Menschen wirklich gelebt haben, zurückzuführen.27 Wenn das aber gilt, wenn also die Fähigkeit der Fotografie, einen Abdruck des wirklich gewesenen Lebens zu erzeugen, den Skandal und den Wert der Bilder darstellt, dann müsste das grundsätzlich auch für Hurleys Kompositionen gelten. Offenkundig hat er in seine Bilder eingegriffen. Aber die Bestandteile seiner großflächigen Werke sind fotografisch entstanden und zeigen etwas, das wirklich gewesen ist: nicht in dieser Zusammenstellung, nicht im selben Augenblick, aber immerhin in seinen Teilen, von dramatischen Beleuchtungseffekten einmal abgesehen, und mit eben jener innigen Verbindung zwischen Bild und Referent, die der Fotografie in den Augen von ontologisch argumentierenden Befürwortern des Mediums ihre Sonderstellung verschaffen. Warum, so müssen wir also fragen, haben die Solda27 Vgl. Geimer, Peter: »Bilder, die man nicht zeigt«. In: Derenthal, Ludger; Ruelfs, Esther; Sykora, Katharina (Hg.): Fotografische Leidenschaften. Marburg, 2006, S. 245-257, hier S. 254 u. passim. Auch Hurley sah sich, passend zu Geimers Ausführungen, dem im Übrigen damals für die gesamte Bildberichterstattung geltenden Verbot einer fotografischen Abbildung von Gefallenen aus den eigenen Reihen ausgesetzt; vgl. Millar 1984 (wie Anm. 21), S. 52.
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ten, von denen die Hälfte die Schlacht von Ypern nicht überlebt haben mag, nicht dieselbe Faszination für ihre Betrachter wie die fotografischen Bilder, in denen Barthes eine ›Realpräsenz‹ vermittelt findet? Offenbar schafft der indexikalische Charakter der Fotografie allein keine ausreichende Grundlage für ihren ästhetischen Realitätseffekt. Nehmen wir versuchsweise an, Hurleys Schlachtenszene gründe nur auf ein Negativ: Wir würden sie mit völlig anderen Augen sehen. Wenn wir das voraussetzen, hat die große oder kleine Wirkung ebenso viel mit der Integrität eines fotografischen Bildes zu tun wie mit der Referenzialität jener einzelnen Bestandteile, die uns vor allem gefangen nehmen. Ausschlaggebend wäre dann nicht die Person, die gelebt hat, sondern der Moment im Ganzen, insofern er gewesen ist. Man könnte hinzufügen: nicht eine erratische Präsenz des versprengten Augenblicks, sondern dessen Verbindung mit einer kontinuierlichen Geschichte, die, wenn auch undurchsichtig, bis in die Gegenwart des Betrachters reicht. Kracauers Behauptung, die Fotografie enthülle den fragmentarischen Charakter der Realität, ist vor diesem Hintergrund als irreführend anzusehen. Es ist auf dieser Grundlage auch nicht mehr ganz leicht, zwischen Studium und Punctum noch zu unterscheiden: Krauss ›studiert‹ das Dessauer Bild, beruft sich aber auf dessen durch ein Punctum abgesicherte Autorität. Und Barthes steuert vielleicht selbst auf die Überlagerung von Studium und Punctum zu, wenn er die epische Dehnung des Moments auf der Fotografie eines Jungen, von Barthes selbst durch eine Frage nach dessen späterem Verbleib hervorgerufen, mit dem Ausruf quittiert: »Welch ein Roman!«28 Ist diese Fotografie nicht ›geschwätzig‹, wenn sie ein Roman ist? Sie ist es nicht im Sinne eines inszenierten Narrativs, wohl aber mit Rücksicht auf die Einladung, sie als Fragment eines größeren Zusammenhangs zu betrachten. Anscheinend können wir daraus schließen, dass nicht das Punctum allein den Authentizitätserweis für die Gesamtdarstellung gibt, also deren Theatralik entgegenwirkt oder den Verdacht, sie könnten inszeniert sein, unterläuft. Vielmehr müssen wir annehmen, dass umgekehrt die historische Integrität der Gesamtdarstellung für die Authentifizierung des Bildes sorgt, in der wir nur auf dieser Grundlage nach dem vielberufenen Funken Zufall zu suchen geneigt sind (ungefähr so scheint es Krauss angesichts des Dessauer Bildes ergangen zu sein). Deshalb halten wir nicht in Baudelaires Szene aus dem Irakkrieg danach Ausschau, obwohl die Zu28 Barthes 1985 (wie Anm. 5), S. 95. Es ist leicht einsichtig, dass er das ›Romanhafte‹ nicht als zwangsläufig mit der literarischen Gattung verbunden sieht. Barthes betont diese Voraussetzung im Zusammenhang mit seiner Untersuchung von Eisenstein-Einzelkadern. Siehe Barthes 1990 (wie Anm. 7), S. 64.
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Abb. 6 und 7: Alexander Gardner, Home of a Rebel Sharpshooter, 1863 (links) und Eric Baudelaire, The Dreadful Details (Detail), 2006 (rechts) sammenstellung der Figuren auf den ersten Blick allemal so seltsam wirkt wie etwa Wessings Nicaragua-Schnappschuss: Sie würde uns verblüffen, wenn wir in die Integrität der Fotografie Vertrauen setzen würden, aber sie dient hier umgekehrt der Zerrüttung dieser Integrität. Unsere Unlust, nach diesem Zufall als einem Ausweis der Wirklichkeit in den überarbeiteten Fotografien von Hurley und Wall zu suchen, stellt eine Bestätigung desselben Sachverhalts dar. Barthes mystifiziert in gewisser Hinsicht sein persönliches Verhältnis zur Fotografie, weil er der Tatsache entkommen will, dass wir uns über unser Verständnis von der Wirklichkeitsgemäßheit der Bilder in einem fortwährenden Diskurs verständigen. Auch Hurleys Bilder wurden ihm ausgesetzt, als sich Besucher seiner Londoner Ausstellung darüber beschwerten, dass einige offenkundig gestellte Aufnahmen ihr Vertrauen in alle anderen damals gezeigten Fotografien zersetzten.29 Zweifellos befand sich unser Beispiel unter den Bildern, an denen sie Anstoß nahmen, und vor Baudelaires Dreadful Details mögen Betrachter ähnliche Bemerkungen machen. Aber wie vermutlich schon 1918 in London, so ist auch in seinem Fall der Kollateralschaden begrenzt. Denn durch seinen Angriff auf die allgemeine Floskelhaftigkeit unseres Bilderhaushalts wird unser Verhältnis zu seinen Vorbildern nicht grundsätzlich verändert. Nehmen wir Alexander Gardners Fotografien von den Grausamkeiten des amerikanischen Bürgerkriegs (Abb. 6). Sie behalten alle wirklichkeitsstiftenden Merkmale auch nach der Aneignung durch Baudelaire (Abb. 7). Dass auch sie zum Teil arrangiert waren, indem Gardner und sein Mitarbeiter Timothy O’Sullivan Leichen hier- und dorthin verlagerten, ändert an dieser Tatsache nicht viel. Der tote, in einem Schützenstand liegende Konföderierte ist in Wahrheit an 29 Siehe den am 25. Mai 1918 auf der Grundlage von Besucherklagen verfassten Bericht von Capt. John Linton Treloar, zit. in Jolly 2003 (wie Anm. 25), S. 165.
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anderer Stelle gefallen und vom Fotografen an einen für die Aufnahme vorteilhafteren Ort des Schlachtfelds getragen worden. Diese Vorgeschichte gehört zu dem Bild, wie es sich uns heute darstellt: auch dies ein Roman, wenngleich nicht ganz derselbe, den Gardner in seiner Bildlegende erzählt.30 Er zeugt davon, dass, der Inszenierung zum Trotz, die fotografische Referentialität noch Wirkung entfalten kann. Was bleibt vor diesem Hintergrund von Wall, was bleibt von Baudelaire? Keiner von beiden ist bestrebt, die dokumentarische Fotografie überflüssig zu machen. Beider Werke können, insofern sie als Satire zu lesen sind, wohl auch nur als einmalige Stellungnahmen erfolgreich sein, wobei Walls Beitrag die größere Komplexität durch seinen Bezug auf ein Gesamtwerk, das verschiedene Grade von Inszenierung durchläuft, entfaltet. Krauss bleibt von diesem Beziehungsgeflecht unbeeindruckt, weil der Mediengebrauch durch diese Unterschiede nicht beeinflusst wird, während sich für Fried die Frage, ob sich die Zurichtung von Fotografie zum großen Historienbild lohnt, wegen seiner grundsätzlichen Befürwortung von antitheatralischen Formeln letztlich erübrigt. Die voraussetzungsreichen Urteile, die sich daraus ergeben, müssen uns hier nicht weiter beschäftigen; stattdessen wähle ich am Ende dieser skizzenhaften Erörterung des Inszenierungsproblems einen anderen Gesichtspunkt: Oft wird behauptet, die Fotografie habe ihren medienontologischen Kredit durch die Möglichkeit der digitalen Überarbeitung verspielt. Wall und Baudelaire könnten dafür als Zeugen angeführt werden; Hurley wäre in diesem Sinne ihr Lehrherr. Aber man kann auch umgekehrt sagen, dass ihre Arbeiten in medienästhetischen Debatten überhaupt nur deshalb der Rede wert sind, weil wir zwar wissen, dass Fotografien inszeniert und konstruiert werden können, aber dass die Fotografie, über fließende Grenzen hinweg, auch anders kann.
30 Die Aufnahme (Abb. 6) erscheint im Sketchbook als Nr. 41. Vgl. Young, Elizabeth: »Verbal Battlefields«. In: Young, Elizabeth; Lee, Anthony W.: On Alexander Gardner’s »Photographic Sketchbook« of the Civil War. Berkeley, Los Angeles u. London, 2007, S. 52-106, insb. S. 54. Das Bild wird mit Rücksicht auf einen Ausstellungskatalog von 1863 auch Timothy O’Sullivan zugeschrieben. Vgl. Frassanito, William A.: Gettysburg. A Journey in Time. New York, 1975, S. 192. Zaoui behauptet von Baudelaires Dreadful Details, dass darin Klischees in Ikonen verwandelt würden. Siehe Zaoui 2006 (wie Anm. 4), S. 48. Beide Begriffe sind schlecht gewählt.
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Binnenschauplätze. Einige Anmerkungen zu Theater und Fotografie STEFANIE DIEKMANN
Die Theaterfotografie ist ein etwas diffuser Gegenstand oder jedenfalls ein ziemlich vielgestaltiger. Was unter dem Stichwort ›Theaterfotografie‹ produziert, publiziert, archiviert wird, ist ein großes Arsenal fotografischer Bildbestände: Atelieraufnahmen aus dem 19. Jahrhundert (das Fotografieren der Gesten und Posen von Theaterschauspielern spielt sich lange Jahre vor allem in Fotostudios ab, wo im Gegensatz zum Theater eine adäquate Beleuchtung installiert ist),1 außerdem Architekturfotos, Rollen- und Schauspielerporträts, Tanzfotografie, Szenen- und Probenfotos, Backstage-Fotografie, nicht zu reden von Theaterplakaten und Theaterprogrammen, in denen noch sehr viel mehr – und sehr verschiedenartiges – fotografisches Material Verwendung finden kann. Vielgestaltigkeit ist also das erste Stichwort. Das zweite: Unübersichtlichkeit, denn so verschiedenartig sich die Spielarten der Theaterfotografie präsentieren, so verschieden sind die Orte, an denen sie in Erscheinung tritt. Neben den erwähnten Theaterplakaten und -programmen kann es sich um Zeitungen und Zeitschriften handeln, um Dokumentationen zu einzelnen Theaterhäusern oder
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»Mit Einführung der elektrischen Beleuchtung – im Jahre 1882 präsentierte die Deutsche Edison-Gesellschaft auf der 3. Elektrizitätsausstellung in München eine Theaterbeleuchtungsanlage – sind nicht nur die Sicherheitsverhältnisse im Theater enorm verbessert und sicherer. Vielmehr sind nun die Weichen für künftige Kameraaufnahmen innerhalb des Gebäudes gestellt.« Balme, Christopher; Leonhardt, Nicole: »Fotografie und Theater im 19. Jahrhundert«. In: Grivel, Charles; Gunthert, André; Stiegler, Bernd (Hg.): Die Eroberung der Bilder. Photographie in Buch und Presse, 1816-1914. München, 2003, S. 102-121, hier S. 118. Ungeachtet dieser relativ frühen ›Weichenstellung‹ dauert es tatsächlich noch etwa ein halbes Jahrhundert, bis sich die Szenenfotografie im Theater wirklich etabliert.
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Kompanien,2 um Monografien über Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner,3 auch: um Kataloge oder Bildbände zum Werk einzelner Fotografen (ein ›Porträt von Sarah Bernhardt‹ ist auch ein Fotoporträt aus dem Studio von Nadar oder Sarony), um illustrierte Schauspiellehrbücher4 oder um die Darstellung eines spezifischen Theaterprojekts, wie beispielweise Peter Steins Orestie-Projekt in Moskau.5 Ein wenig erinnert diese Heterogenität an eine Passage aus Douglas Crimps Buch On The Museum’s Ruins, in der zwei Modi der Verfügbarkeit von fotografischen Bildern beschrieben werden. Zum einen die Verteilung quer durch die Publikationen und Wissensgebiete, die darin begründet ist, dass Fotos als Illustration in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung finden können; zum anderen die Entdeckung der Fotografie selbst als eigenes Sammlungs- und Forschungsobjekt, das sich auf einmal als Gegenstand eines neuen, rein ästhetischen Interesses instituiert findet.6
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Drei Beispiele: Die Dokumentation Die Münchner Kammerspiele (hrsg. v. Sabine Dultz. München u. Wien, 2001), der Bildband Getanzte Augenblicke:
Ursula Kaufmann fotografiert Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal (Wuppertal 2005) sowie Bernd Uhligs Theater und Fotografie (Berlin, 2000),
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in dem es, anders als der Titel vermuten ließe, allenfalls indirekt um die Beziehung von Theater und Fotografie und sehr viel mehr um die Vorstellung verschiedener prominenter Theaterkompanien geht. Mit Blick auf die zahlreichen Publikationen, die gerade in den letzten Jahren über Bühnenbildnerinnen und -bildner wie Anna Viebrock, Bert Neumann, Jan Pappelbaum und Katrin Brack erschienen sind, könnte man von einer kleinen Renaissance der Bühnenbildfotografie sprechen, die um 1900 als ein Vorläufer der Szenenfotografie entstand. Zur Entwicklung der fotografischen Illustration von Schauspiellehrbüchern vgl. Löffler, Petra: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik. Bielefeld, 2004 (dort v.a. Kapitel 7.2 u. 7.3) sowie Dies.: »Das Schauspiel der Fotografie. Posieren vor der Kamera – die Lehrbücher von Carl Michel und Albert Borée«. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Heft 101, Marburg, 2006, S. 17-30; außerdem: Holschbach, Susanne: »Von den Theaterleidenschaften zu den Alltagsdramen – Karl Michels fotografische Gebärdenlexika von 1886 und 1910«. In: Derenthal, Lutger; Ruelfs, Esther; Sykora, Katharina (Hg.): Fotografische Leidenschaften. Marburg, 2006, S. 57-72. Hahn, Dagmar; Hahn, Jochen (Hg.): Die Orestie des Aischylos. Dokumentation der Inszenierung von Peter Stein in Moskau 1994. Mit Fotogr. v. Bernd Uhlig. Berlin, 1994. »Photography will hereafter be found in departments of photography or divisions of art and photography. Thus ghettoized, it will no longer serve the purposes of information, documentation, evidence, illustration, reportage. The formerly plural field of photography will henceforth be reduced to the single, all-encompassing aesthetic.« Crimp, Douglas: On the Museum’s Ruins. Cambridge u. London, 1993, S. 75.
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Wer die entsprechende Passage kennt, weiß, dass Crimp die Institutionalisierung der Fotografie als Gegenstand einer kunsthistorisch geprägten Würdigung mit einiger Reserve kommentierte. (So heißt es in dem Kapitel The Museum’s Old, the Library’s New Subject: »[I]n order for this new aesthetic understanding to occur, other ways of understanding photography must be dismantled and destroyed.«7) Entsprechend kann es im Umgang mit dem Teilgebiet der Theaterfotografie nicht darum gehen, eine Erschließung nach ›Epochen‹ oder eine Suche nach Meistern und Meisterwerken einzufordern. Vielmehr interessiert das, was Crimp im Zuge einer musealisierenden Rezeption der Fotografie aus dem Blick geraten sah: die Entstehungsbedingungen fotografischer Produktion, die Orte und Kontexte der Publikation, die diskursive Rahmung fotografischer Bilder in verschiedenen Verwendungszusammenhängen etc., und über Crimp hinaus: die ikonografischen Bezüge, die intermedialen Korrespondenzen (zum Beispiel die zwischen Szenenfoto und Film Still), und nicht zuletzt: die Konzeptionen, von Theater, von Fotografie, aber auch: von Expressivität (Schauspielerfotos), von Exemplarität (Theaterfotos als Werbe- und Pressematerial), von Evidenz (diese Perspektive, dieser Augenblick etc.), die sich einem fotografischen Motiv einschreiben.
Perspektiven Es existieren Ansätze zu einer solchen Betrachtung einzelner fotografischer Konvolute. (Zwei Beispiele: Susanne Holschbachs Studie über die Atelieraufnahmen der Bühnendiven Charlotte Wolter und Clara Ziegler, Petra Löfflers Untersuchungen zur Verwendung fotografischer Gesichtsstudien im Interferenzbereich von Theater und Wissenschaft um 1900.8) Es gibt aber auch die Tendenz, die fotografische Produktion im Umfeld von Theaterarbeit oder Theaterinszenierungen im Rekurs auf Kategorien wie der des Œuvres, des Künstler-Fotografen, des Sammlungskataloges zu präsentieren oder ihr, wie es etwa in dem Band Theaterfotografie geschieht, verschiedene Sub-Genres (zum Beispiel: das Rollenporträt, das Standfoto, das Szenenfoto) zu bestimmen, was ein wenig an jene Verlegen-
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Crimp 1993 (wie Anm. 6), S. 75. Siehe Holschbach, Susanne: Vom Ausdruck zur Pose. Theatralität und Weiblichkeit in der Fotografie des 19. Jahrhunderts. Berlin, 2006; Löffler 2004 (wie Anm. 4), v.a. Kapitel 2 u. 4; Löffler, Petra: »Fabrikation der Affekte. Fotografie von Leidenschaft zwischen Wissenschaft und Ästhetik«. In: Derenthal/Ruelfs/Sykora 2006 (wie Anm. 4), S. 40-56.
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heitsgesten der Klassifizierung erinnert, die Roland Barthes zu Beginn seiner Bemerkungen zur Photographie beschrieben hat.9 Gleich, auf welche Perspektivierung ihrer Gegenstände sich die verfügbaren Publikationen verlegen: Es ist auffallend, dass die Theaterwissenschaft selbst mit fotografischen Bildbeständen aus dem Umfeld von Theaterproduktionen, historischen wie aktuellen, nicht unbedingt etwas anzufangen weiß, jedenfalls nicht über die Gewohnheit hinaus, sie zur Bebilderung von Monografien, Vorträgen, Aufsätzen zu verwenden.10 Das ist umso bemerkenswerter, als innerhalb dieser Wissenschaft durchaus einige Überlegungen zum Umgang mit Bildaufzeichnungen und Bilddokumenten formuliert worden sind (darauf, wie sie zu betrachten und wie sie zu gebrauchen wären); aber diese richten sich in erster Linie auf Film- und Videoaufzeichnungen, bewegte Bilder also, deren Verhältnis zum aufgezeichneten Bühnengeschehen gewöhnlich als das einer defizitären oder ›mittelbaren‹ Wiedergabe gefasst wird.11 Zu den sehr umfangreichen fotografischen Beständen an ›Theaterfotografie‹, die in entsprechenden Archiven und Sammlungen aufbewahrt werden, hat die Theaterwissenschaft dagegen ein durchaus ungeklärtes Verhältnis. Weder gibt es eine Auseinandersetzung darüber, ob man sich überhaupt für diese Bestände interessieren sollte, noch, in welchem Umfang, noch, unter welchen Voraussetzungen, was in der Tat keine ganz einfache Frage ist, die sich durch die Entstehung von Kategorien wie ›Inszenierte Fotografie‹, ›directed photography‹, ›staged photography‹ noch verkompliziert hat. (Mit diesen Kategorien verbunden ist eine gewisse Verunsicherung in Bezug auf Zuordnungen und Zuständigkeiten. Offensichtlich ist seit einigen Jahren mehr als eine Disziplin mit der Frage befasst, was als ›inszeniertes fotografisches Bild‹ zu betrachten sei. Umgekehrt irritiert die Appropriation theatraler Begrifflichkeiten für die Beschreibung von durchaus unterschiedlichen fotografischen Motiven die Reflexion über das Verhältnis zwischen der Theaterkunst und ihren fotografischen Restbeständen.) Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M., 1989, S. 11-12: »Vom ersten Schritt an, dem der Klassifizierung [...], entzieht sich die PHOTOGRAPHIE. So sind die Einteilungen, denen man sie unterwirft, de facto entweder rein empirische (BERUFSPHOTOGRAPHEN/AMATEURE) oder rein rhetorische (LANDSCHAFTEN/GEGENSTÄNDE/PORTRÄTS/AKTE) oder rein ästhetische (REALISTISCHE PHOTOGRAPHIE/KUNSTPHOTOGRAPHIE)«. 10 Ein Beispiel: Die Illustrationen einzelner Aufsätze in Schoenmakers, Henri; Bläske, Stefan; Kirchmann, Kay; Ruchatz, Jens (Hg.): Theater und Medien /
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Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld, 2008. 11 Vgl. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin, 2001, S. 31; Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft. Köln, 2005, S. 261.
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Binnenschauplätze
›Inszenierung‹ Im Rahmen einer Publikation über »Inszenierung, Fiktion, Narration« (in) der fotografischen Wirklichkeit ist die Theaterfotografie nicht zuletzt deshalb interessant, weil hier ein Feld fotografischer Aktivität existiert, in dem der Begriff der Inszenierung auf den ersten Blick nicht unbedingt ein Problem darstellt. Anders formuliert: Es gibt, im Umgang mit Theaterfotografie, wenigstens zwei Optionen, ›Inszenierung‹ zu definieren. Auf der einen Seite als Begriff, der sich über den Kontext der Theaterforschung hinaus auf seine »Validität«12 und seine theoretischen Implikationen hin befragen lässt. Auf der anderen Seite als Gegenstand: ›Die Inszenierung‹ als Werk, auf das eine fotografische Produktion bezogen ist (und bleibt, indem sie später als ›Dokument‹ der Inszenierung oder als ›Anschauungsmaterial‹ Verwendung findet). Für den alltäglichen Umgang des Theaterbetriebs mit fotografischem Material spielt dieses sistierte, stabilisierte Konzept der Inszenierung-als-Werk nach wie vor eine zentrale Rolle. Das zeigen die Theaterfotos in Schaukästen, die Fotos in Pressemitteilungen, in Theaterprogrammen, in Theaterjahrbüchern, ebenso die Fotos in Theaterzeitschriften und in der Tagespresse, wo sie meist in Verbindung mit Rezensionen auftauchen. Zugleich befindet sich das Konzept ziemlich offensichtlich in Konflikt mit einem zentralen Wert, man könnte auch sagen: einem Fetisch, des Theaterdiskurses, nämlich der Idee des Transitorischen, Flüchtigen, das immer wieder als das konstitutive Moment der Theaterkunst adressiert worden ist.13 Der Diskurs des Transitorischen privilegiert die Aufführung gegenüber der Inszenierung, die Einmaligkeit gegenüber der Wiederholung, das Ereignis gegenüber dem Werk,14 und was er impliziert, ist unter anderem, dass sich der ›Inszenierung‹ genannte Bezugsgegenstand fortwährend in einem Zustand der potentiellen Veränderung befindet. Eben diese Idee des ›jeden Abend anders‹ und ›jeden Abend neu‹ grundiert Statements wie das von Brechts Mitar-
12 Vgl. das Programm zur Tagung Inszenierung, Fiktion, Narration. Begriffsnavigationen im Feld des Fotografischen, Technische Universität Berlin, 17. und 18. Juli 2009: »[D]as erklärte Ziel dieser Tagung [ist es], die Begriffe ›Inszenierung‹, ›Fiktion‹ und ›Narration‹ zur Diskussion zu stellen und ihre fototheoretische Validität sowie fotohistorische Bonität zu prüfen.« 13 Vgl. das Vorwort in Fischer-Lichte, Erika; Risi, Clemens; Roselt, Jens (Hg.): Kunst der Aufführung, Aufführung der Kunst. Berlin, 2004, S. 7-9. 14 Vgl. Ruchatz, Jens: »Zeit des Theaters/Zeit der Fotografie. Intermediale Verschränkungen«. In: Schoenmakers/Bläske/Kirchmann/Ruchatz 2008 (wie Anm. 10), S. 109-116, hier S. 114-115.
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beiterin Ruth Berlau, die erklärte: »Nur während der Aufführung gemachte Aufnahmen vermitteln wahre Eindrücke.«15 In einer kurzen, sehr aufschlussreichen Skizze hat der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz darauf hingewiesen, dass die Antwort auf den potentiellen Konflikt zwischen dem Konzept der Inszenierung-als-Werk und dem der Aufführung-als-Ereignis in Schriften zur Theaterfotografie oft darin besteht, sehr emphatisch die Idee des entscheidenden (alternativ: des prägnanten) Augenblicks zu profilieren, in dem sich das, was ›Theater‹ im je spezifischen Fall ausmacht, gewissermaßen verdichtet zeige. Mit dem Kult der Momentanität verbunden ist ein relativ konventionelles Recherchegebot, i.e. der Auftrag, sich mit einer Inszenierung umfassend vertraut zu machen, mehrere Aufführungen oder Durchläufe zu sehen, da erst unter diesen Voraussetzungen die Fähigkeit ausgebildet werde, den entscheidenden Augenblick zu erkennen und festzuhalten, wenn er sich denn einstellt.16 So heißt es in einem Handbuch zur Bühnenfotografie: »Die geistigen Vorbereitungen des Fotografen zu den Aufnahmen sind ebenso wichtig und ebenso unerläßlich [...]. Erst die genaue Kenntnis von Werk und Inszenierung gibt ihm die Möglichkeit, das ›Wann und Wo‹ zur Aufnahme vorher zu bestimmen, und zwar so, daß es sich für die Bildgestaltung auswirkt. Ich werde also auf der Fotografierprobe nicht vom [...] zufälligen, glücklichen Augenblick überrascht.«17 Was sich im Verweis auf die »Fotografierprobe« andeutet, ist, dass die Arbeitsrealität der Theaterfotografen zu der diskursiven Privilegierung des entscheidenden Moments, für den es sich nach Auskunft des Handbuchs zu präparieren gilt, in gewissem Widerspruch steht. Erstens, weil Theaterfotografie im fotojournalistischen Arbeitsalltag fast immer ein Arbeitsfeld unter mehreren ist (es existieren kaum mehr Fotografen, die ausschließlich im Bereich der
15 Berlau, Ruth: »Theaterfotografie«. In: Dies. et al. (Red.): Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Dresden, 1952, S. 341-345, hier S. 341. 16 Für einen gegensätzlichen Blick vgl. die Lektüren von Roland Barthes, in denen die Brechtsche Szene als proto-fotografische erscheint, die bereits auf der Bühne nach dem Modus der Verdichtung funktioniert und in sich so weit abgeschlossen ist, dass sie gewissermaßen einen Rahmen um sich selbst gezogen hat. Barthes, Roland: »Diderot, Brecht, Eisenstein«. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M., 1990, S. 94-102, hier S. 95-99, sowie Ders.: »Sieben Modellphotos von ›Mutter Courage‹«. In: Ders.: »Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin«. Schriften zum Theater. Berlin, 2001, S. 203-224. 17 Starnberger, Gerhard: Bühnenfotografie. Gestaltung und Technik. Halle, 1959, S. 16.
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Binnenschauplätze
Theaterfotografie tätig sind), so dass im Wechsel zwischen den Arbeitsorten und -aufträgen die umfassende Vorbereitung, die hier eingefordert wird, kaum bewerkstelligt werden kann. Zweitens, weil die fotografische Dokumentation von Inszenierungen nur sehr selten während einer Aufführung stattfindet, sondern bei anderen Gelegenheiten: in den späten Probenphasen, während der letzten Durchläufe, manchmal auf der so genannten ›Fotoprobe‹ oder zu einem eigens angesetzten Termin. So betrachtet, eignet dem Szenenfoto eine gewisse strukturelle Affinität zum Film Still, das in der gängigen Betrachtung als ›Ausschnitt‹ des Films figuriert (was es technisch so gut wie nie ist), de facto jedoch ebenfalls von außerhalb des Films kommt und keineswegs zum selben Zeitpunkt wie die Filmaufnahme entsteht, selbst wenn auf dem Set und in den Filmkulissen fotografiert wird. Wie das Film Still markiert das Inszenierungsfoto einen Binnenschauplatz der Mise en scène: zu anderer Zeit, an anderem Ort, so dass sich in bestimmtem Sinne sagen ließe, dass sich die Theaterfotografie immer schon anderswo befindet als ihr nomineller Bezugsgegenstand.
Andernorts: der Auftritt im Atelier Historisch ist interessant, dass ihre Geschichte in jedem Fall andernorts beginnt, das heißt: nicht im Theater, sondern im Fotoatelier. Dieser Umstand ist zuallererst den Lichtverhältnissen auf den Bühnen des 19. Jahrhunderts geschuldet, denn was dort an Kunstlicht verfügbar ist (und die Aufführungen und die Theaterräume erhellt), reicht nicht aus, um Fotos zu machen, weder solche von den Bühnenauftritten und -handlungen noch von den Bühnenkünstlern und -künstlerinnen.18 Stattdessen begeben sich die Theaterkünstler ins Atelier, um dort, vor der Kamera, jene Figuren in Szene zu setzen, die mit ihren Namen und Auftritten verbunden sind. Die Durchsetzung dieser Praxis (die übrigens bis in die 1920er Jahre vorherrschend ist und bis in die 1950er in Gebrauch bleibt) hat, abgesehen von den technischen Gegebenheiten, viel damit zu tun, dass das Theater des 19. Jahrhunderts, Oper wie Sprechbühne, wesentlich ein Rollentheater ist, nicht so sehr ein Ensemble-, viel weniger noch ein Regietheater. Diese Schauspielerin in dieser Rolle: Das ist die Attraktion, die im Studio rekreiert wird (sie zu rekreieren dabei eine Sache der Posen und Gesten sowie der Kostüme, Requisiten, Ausstattungsobjekte), wobei die Beziehung zwischen der Mise en scène auf der Theaterbühne und der Mise en
18 Balk, Claudia: Theaterfotografie. München, 1989, S. 12f.
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scène im Fotostudio weniger als eine imitative denn als eine komplementäre, unter Umständen sogar als eine konkurrenzielle zu betrachten wäre. Mit dem Auftritt vor der Kamera des Fotografen, der im Fall von Schauspielerinnen wie Bernhardt, Duse, Wolter, Ziegler und anderen Theaterdiven keine einmalige Angelegenheit, sondern eine der vielfachen Besuche (und Versuche) ist, verwandelt sich das Atelier in einen zweiten Schauplatz, auch: einen zweiten Ort der Darstellungskunst, abseits der Bühne und von kaum geringerer Bedeutung für die öffentliche Wahrnehmung der Schauspielerin. (Es ist eine größere Klientel, die die fotografischen Auftritte zur Kenntnis nimmt; auch sind die bleibenden Bilder der Rolleninterpretation eben diejenigen, die im Atelier entstehen.) Unter allen Bildbeständen, aus denen sich die äußerst heterogene Kategorie ›Theaterfotografie‹ zusammensetzt, sind die Atelierfotos der Bühnendiven des 19. Jahrhunderts ein Lieblingsgegenstand der fotohistorischen Forschung, in verschiedenen Studien genauer untersucht und kommentiert,19 dicht gefolgt von den in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen Tanzdarstellungen aus den Studios von Fotografinnen wie Charlotte Rudolph und Lotte Jacobi. (Zu den aufschlussreichsten Beobachtungen, die ich gemacht habe, als ich vor einigen Jahren ein Heft der Zeitschrift Fotogeschichte zum Thema »Theater und Fotografie um 1900«20 herausgegeben habe, gehörte die, dass alle Beiträge sich mit Fotos befassten, die nicht auf der Bühne, sondern im Atelier entstanden waren. Das galt für die Fotos der Theaterdiven und die Tanzfotografie der 1920er, aber auch für die um 1900 populären Gesichtsstudien für Schauspiellehrbücher21 oder die Fotosessions von Bertolt Brecht beim Augsburger Fotografen Konrad Reßler.) Dieser Umstand: dass es vor allem Atelierfotos sind, denen mit so viel Aufmerksamkeit begegnet wird, ist einigermaßen auffallend. Als wäre die Etablierung des anderen Auftrittsorts, die Mise en scène auf einem zweiten Schauplatz eine Bedingung dafür, die jeweiligen Fotos ›für sich‹ betrachten zu können, das heißt: nicht länger auf eine Theateraufführung bezogen oder wenn, dann nur auf Umwegen und nicht, indem nach dem ›dokumentarischen Wert‹ oder der ›adäquaten Wiedergabe‹ im fotografischen Bild gefragt wird. 19 Balk, Claudia: Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit. Clara Ziegler – Sarah Bernhardt - Eleonora Duse. Basel u. Frankfurt a.M., 1994; Holschbach 2006 (wie Anm. 8); außerdem das Kapitel zu Sarah Bernhardt in Bronfen, Elisabeth; Straumann, Barbara: Diva. Eine Geschichte der Bewunderung. München, 2002. 20 Diekmann, Stefanie (Hg.): Theater und Fotografie 1880-1930. Themenheft der Zeitschrift Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Heft 101, Marburg, 2006. 21 Vgl. Anm. 4.
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Binnenschauplätze
Das Szenario ist hier das einer relativ übersichtlichen Separierung. Hier das Fotoatelier, dort das Theater, dort ein Bühnengeschehen, hier ein Geschehen vor der Kamera, das unter Umständen sehr ähnliche Posen, Requisiten, Kostüme involviert, sich aber doch in einer anderen Konstellation entfaltet, die nicht zuletzt eine der veränderten Blickordnung ist. (Es fehlen das Proszenium, die Rampe, i.e. jene Architekturelemente, die die theatrale Szene mit definieren und sie gleichzeitig noch von den vordersten Zuschauerreihen abgrenzen. Das Dispositiv der Studiofotografie ist vielmehr der exklusive Blick oder sogar Blickkontakt mit den Akteuren vor der Kamera. Auch probt man in diesen Aufnahmen bereits die Effekte der Nahsicht; die Großaufnahme bereitet sich vor, überhaupt die Ausrichtung auf eine neue Situation, in der die »Kunstleistung« der Schauspieler, »dem Publikum durch eine Apparatur präsentiert« wird.22)
Ikonografien Das Stichwort also: Emanzipation der fotografischen Mise en scène von der theatralen. So ließen sich die Atelierfotos der Schauspieler und Tänzer beschreiben, nur dass sich die Emanzipation in diesem Fall als ein Initialzustand, das heißt: ein Zustand aus der Frühgeschichte der Fotografie, darstellt, der durch die weitere technische und diskursive Entwicklung im Feld der Theaterfotografie immer mehr in eine Konstellation der problematischen Annäherung verwandelt wird. Problematisch vor allem deshalb, weil der Wechsel vom Atelier ins Theater zur Folge hat, dass die Funktion der Fotografie auf die Wiedergabe von ›entscheidenden Momenten‹ und ›großen Augenblicken‹ des Bühnengeschehens verengt wird. Eben diese Idee determiniert die Perspektive in dem Band Theaterfotografie von Claudia Balk,23 nach wie vor konkurrenzlos als Überblicksdarstellung, aber auch darauf ausgerichtet, die Szenenfotografie als »Telos einer Fortschrittsgeschichte«24 zu instituieren, in der die Mise en scène im Atelier in erster Linie als Ausweichmanöver oder als Be22 Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: Ders.: Medienästhetische Schriften. Frankfurt a.M., 2002, S. 351-383, hier S. 364. Der »optische Test«, von dem an derselben Stelle die Rede ist, findet bereits in den Fotostudios der 1870er und 1880er Jahre statt, nicht erst vor den Filmkameras, die die Theaterschauspieler um 1900 zu konfrontieren beginnen. 23 Balk 1989 (wie Anm. 18), S. 34: »Die Identität zwischen dem Spielmoment auf der Bühne und dem Augenblick, in dem der Fotograf den Auslöser betätigt, ist erst ein halbes Jahrhundert später versuchsweise zu erreichen.« 24 Ruchatz 2008 (wie Anm. 14), S. 111.
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Stefanie Diekmann
helfskonstruktion erscheint, von der aus die Entwicklung über Bühnenbildaufnahmen, Standfotos, Szenenfotos in Richtung der Momentfotografie verläuft. In den Termini, mit denen sich die vorliegende Publikation befasst, könnte man sagen, dass eine solche Konzeption der Theaterfotografie wesentlich durch das Paradigma der zeitlichen Indexikalität bestimmt ist: eine sehr betonte Akzentuierung des ›damals‹ und ›genau dann‹ und ›in eben diesem Augenblick‹.25 Was ich abschließend als Gegenentwurf zu einer solchen Sichtweise vorschlagen möchte, sind einige Fragestellungen, die eher ikonografisch orientiert sind – und es erlauben könnten, die Beziehung zu den fotografischen Reservoirs der Theater- und Tanzarchive zu reaktivieren: 1) Wenn der Diskurs des Momentanen, Flüchtigen eine so große Rolle in der Verständigung über die Theaterfotografie spielt – gibt es dann eine ästhetische Entwicklung, die der diskursiven entspricht? Eine solche Entsprechung wäre weniger als ›Erfüllungsgeschichte‹ zu denken denn als eine Untersuchung möglicher Korrespondenzen. Indizien dafür, dass solche Korrespondenzen bestehen, sind unter anderem die sich ausbildende Ästhetik der Unschärfe und der Verwischungen in der Tanzfotografie ab den 1920er Jahren sowie, komplementär dazu, das besondere Interesse für das Motiv des ›eingefrorenen‹ Sprungs (Signum absoluter Momentanität), das aus der Tanzfotografie des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken ist. 2) Angesichts des Phänomens einer repetitiven, rekurrenten Motivik ließe sich, in Anlehnung an Warburgs Bild- und Gedächtnistheorie, die Frage nach der Formelhaftigkeit der Theaterfotografie entwickeln, allerdings weniger unter dem Vorzeichen der ›Pathos-‹ als vielmehr dem der ›Theaterformel‹. Immer wieder die Arabeske der Tänzerin, immer wieder der Sprung des männlichen Tänzers; immer wieder Hamlet mit dem Totenschädel, Romeo und Julia auf dem Totenbett, Shylock mit dem Messer in der Hand etc. Als würde die jeweilige fotografische Szene durch eine lange Vorgeschichte, die wesentlich eine Geschichte der Bilder und der ikonografischen Sistierungen ist, modelliert. 3) Ebenso ist die Geschichte der Theaterfotografie auch eine der wiederholten Wechsel von Aufnahmedistanzen und Einstellungsgrößen (die Halbtotalen der Studiofotografie, die Totalen nach dem ›Umzug‹ ins Theater und der Aufnahme kompletter Bühnenszenarien, die Halbnahen späterer Rollen- und Studioporträts, noch später die fortschreitenden Experimente mit Aufnahmewinkeln, unkonventionellen Perspektiven etc.) Eine Technikgeschichte dieser Wech-
25 Zur Fotografie als Zeitindex vgl. Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 88; Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam u. Dresden, 1998, S. 157-163.
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Binnenschauplätze
sel hätte sich, ähnlich wie in anderen Zusammenhängen der Fotografieforschung, mit dem teils sehr engen Zusammenhang von technischen Entwicklungen und ästhetischen Neuerungen zu befassen (in mancher Hinsicht ›macht‹ Technik die Fotoästhetik). Mediengeschichtlich hingegen interessiert nicht zuletzt die Frage, wie weit bestimmte ästhetische Veränderungen in der Theaterfotografie erst vor dem Hintergrund intermedialer Beziehungen (Stichwort: Mimikry an der Setfotografie) verständlich werden.
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Inszeniertes Selbst? Der Fall Samuel Fosso INGRID HÖLZL
Noch vor der Etablierung des poststrukturalistischen Denkens der Realität als Konstruktion und der Abbildung der Realität als Konstruktion zweiten Grades hat sich die Meinung durchgesetzt, dass kein Fotograf die eigene Subjektivität beziehungsweise Subjektposition völlig ›ausschalten‹ kann. Selbst die automatisierte Fotografie kann zwar objektiv aufzeichnen, aber nicht objektiv gelesen werden.1 Auch die Fotografierten wissen zumeist, dass sie fotografiert werden: Weder der Fotograf noch die Fotografierten sind ›unschuldig‹. Wie aber den subjektiven Anteil einer fotografischen Aufnahme herausrechnen, wo doch die subjektive Sicht des Fotografen, die Darstellungsleistung der Fotografierten und die objektive Aufzeichnung des fotografischen Apparates zu einem Bild verschmelzen, das nicht in seine subjektiven und objektiven Bestandteile zerlegt werden kann? Alles am Bild ist objektiv, weil chemisch-physikalisch bedingt; alles am Bild ist subjektiv, weil vom subjektiven Gestaltungswillen des Fotografen und der Fotografierten wesentlich beeinflusst.2 Dubois spricht im Fotografischen Akt3 vom Produktions- und Rezeptionsakt, nicht aber vom performativen Akt des Fotografierens
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Vgl. Wolf, Herta: »Die Divergenz von Aufzeichnen und Wahrnehmen«. In: Dies. (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M., 2003, S. 427-455. Die Debatte um die Programmierung und damit Gestaltung automatisierter Fotografien soll hier ausgeklammert bleiben. Vgl. Kracauer, Siegfried: »Fotografie«. In: Ders.: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M., 1960, S. 25-50. Kracauer (und nach ihm Arnheim) betont das Zusammenspiel von »gestalterischen Kräften« und Abdruck »ungestellter Realität« in jeder fotografischen Aufnahme. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam u. Dresden, 1998.
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und Posierens. Dies ist weniger auf ein Versäumnis des Fototheoretikers zurückzuführen als darauf, dass die von ihm übernommene indextheoretische Definition der Fotografie die gestalterische Arbeit des Fotografen hinter der Kamera und die aktive Darstellungsleistung vor der Kamera einfach ausblendet,4 obwohl gerade die von Krauss in Notes on the Index I erwähnten Travestie-Fotografien Duchamps explizit performative Züge aufweisen.5 Inszeniert ist ein Foto dann, wenn der ›pro-fotografische Raum‹ nicht bloß im entscheidenden Augenblick, sondern in Hinblick auf eine bestimmte Bildidee zugerichtet als entscheidender Augenblick fotografiert wird. Im Falle menschlicher Motive ist auch eine SelbstZurichtung möglich: das Einnehmen einer aufgetragenen oder frei gewählten Pose. Darüber hinaus sind auch andere Aspekte wie Kos-
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Zur Kritik am Indexbegriff in Hinblick auf das fotografische Selbstporträt siehe Hölzl, Ingrid: Der autoporträtistische Pakt. Zur Theorie des fotografischen Selbstporträts am Beispiel von Samuel Fosso. München, 2008, Kap. 4.3. Zur Indexdebatte generell vgl. Elkins, James (Hg.): Photography Theory. New York u. London, 2007, insbesondere das »Assessment« von Martin Lefebvre, der auf Basis der Peirceschen zehn Zeichenklassen eine umfassende semiotisch-pragmatische Neubestimmung von Fotografie, Malerei und Computergrafik liefert. Lefebvre weist darauf hin, dass jedes Objekt der Welt Zeichen sein kann und jedes Zeichen indexikalisch sein muss, um verstanden werden zu können: Malerei ebenso wie Sprache. Der Unterschied von fotografischem und gemaltem Porträt besteht nicht, wie vielfach angenommen, in der Natur des Referenten, sondern in der Art des Verweisens: Ein gemaltes Porträt verweist indirekt, durch Beigabe des Namens oder »kollaterales Wissen« (Kenntnis der Porträtsituation), die Fotografie direkt, auch ohne Namensnennung und allein vermittels der Kenntnis des fotografischen Abbildungsprozesses auf den Porträtierten. Vgl. Lefebvre, Martin: »The Art of Pointing: On Peirce, Indexicality, and Photographic Images«. In: Elkins 2007 (wie oben), S. 220-244. Wenngleich ich die Differenzierung von direkter und indirekter Indexikalität für sinnvoll halte, gehe ich mit Lefebvres Schlussfolgerung nicht konform: Ohne kollaterales Wissen (um die Porträtsituation) ist auch ein fotografisches Bild eines Menschen nicht als Porträt interpretierbar. Referent und Bildgegenstand können, aber müssen in der Fotografie nicht identisch sein – speziell im Modellporträt sind sie es nicht. Auch die Kenntnis des fotografischen Prozesses ist ein kollaterales Wissen – wie sehr sich die Bedeutung einer Fotografie wandelt ohne dieses Wissen, ist bekannt. Vgl. Iversen, Margaret: »Following Pieces: On Performative Photography«. In: Elkins 2007 (wie Anm. 4), S. 91-108. Vgl. auch den Beitrag von Matthias Weiß im vorliegenden Band, der in Rückgriff auf Fischer-Lichte von anthropologischer Performanz und ästhetischer Performanz spricht, erstere im alltäglichen, zweitere im künstlerischen Sinne beziehungsweise in Hinblick auf ein Bildwerden des Selbst gedacht. Auch hier stellt sich die Frage: Sind diese beiden Ebenen nicht notwendigerweise ineinander verschränkt?
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Inszeniertes Selbst?
tüm, Maske, Licht, Dekor (nach Barthes das Positionieren von Objekten)6 und Prospekt (Hintergrund) beziehungsweise Setting bei Außenaufnahmen Bestandteil der Inszenierung. Die Wahl der Kamera, des Objektivs und des Aufnahmematerials, die Kameraeinstellungen, der Einsatz von Blitzlicht und Filtern sowie die nachträgliche Bildkorrektur in der (virtuellen) Dunkelkammer gehören streng genommen nicht zur Inszenierung, sondern zu den allgemeinen bildgestalterischen Mitteln der Fotografie, die auch in der dokumentarischen Fotografie Verwendung finden. Aller ›Gestelltheit‹ zum Trotz behält die inszenierte Fotografie die notwendige Verbindung zur Realität bei: Gestellte Realität ist immer noch eins: Realität. Zum Bild wird nur das, was vor der Linse (wenn auch nur für den Moment der Aufnahme) existierte. Die Grenzen zwischen Fotografien, die mehr oder weniger direkt auf eine (gestellte oder ungestellte) Realität verweisen und solchen, die aufgrund von Fotomontage, Retusche oder computergrafischen Elementen nur indirekt auf Realität verweisen, sind jedoch unscharf. Letzten Endes ließe sich fragen, ob nicht auch computergrafische Kompositionen als (virtuelle) Inszenierungen gelten können.7 Bei Porträtaufnahmen, so Kracauer, »verfließen die Grenzen zwischen gestellter und ungestellter Realität«.8 Das Porträt stellt einen Grenzfall zwischen inszenierter und nicht-inszenierter Fotografie dar: Seine ästhetische »Mindestforderung« (Kracauer) besteht im Vorhandensein einer Porträtsituation, das heißt eines aktiven Bildwerdens des Porträtierten (gleich ob dieser in die Kamera blickt oder Versunkenheit vortäuscht).9 Ein nicht-inszeniertes Porträt gibt es nicht. Thomas Ruffs Porträts aus den 1980er Jahren sind hierfür ein schlagendes Beispiel: Ihre vorgebliche Nicht-Inszenierung übernimmt lediglich einen gebrauchsfotografischen Standard der Inszenierung: die frontale, ausdruckslose Selbstdarstellung für das
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Vgl. Barthes, Roland: »Rhétorique de l’image«. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. I (1942-1965). Paris, 1993, S. 1417-1429.. Während Fotomontagen und Retuschen Zurichtungen eines bestehenden fotografischen Raums sind, kann mittels Computergrafik ein (virtueller) fotografischer Raum generiert werden, in dem die (ebenso virtuelle) fotografische Inszenierung stattfindet, die (wiederum virtuell) fotografiert und als materielles Bild ausgegeben werden kann. Vgl. Kracauer 1960 (wie Anm. 2). Vgl. auch Hug, Catherine; Matt, Gerhard; Ruff, Thomas (Hg.): Thomas Ruff. Oberflächen, Tiefen. Wien, 2009. Vgl. hierzu Campanys Interpretation von Gisele Freunds Porträt Walter Benjamins als »in Gedanken versunkener« Denker. Campany, David: »Posing, Acting, Photography«. In: Green, David; Lowry, Joanna (Hg.): Stillness and Time: Photography and the Moving Image. Brighton, 2006, S. 97-112.
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Passfoto im Brustbildformat, das scheinbar ›nackte Gesicht‹, das immer noch ein soziales ist.10 Wenn aber jedes, auch das scheinbar nicht-inszenierte Porträt inszeniert ist, verliert der Begriff der fotografischen Selbstinszenierung an Relevanz, handelt es sich beim Porträt, insbesondere beim Selbstporträt doch per se um eine als solche intendierte Selbstdarstellung vor der Kamera und nicht etwa um ein ›geraubtes Bild‹. In diesem Sinne wäre Benjamins Interpretation der Aufnahmen aus Sanders Antlitz der Zeit (1929) als Nicht-Porträts zu widersprechen. Wenngleich die Einzelbilder (und die ihnen Modell stehenden Weimarer Bürger) in einer Typologie aufgehen, einem Übungsatlas »zur Schärfung der physiognomischen Auffassung«, wie Benjamin in der Kleinen Geschichte der Fotografie schreibt, sind sie einzeln und für sich betrachtet auch ohne konkrete Namensnennung Porträts: Bilder von Menschen, die für die Kamera posiert haben. Demgegenüber sind die von Beat Streuli oder Philip-Lorca diCorcia im öffentlichen Raum heimlich geschossenen und monumentalisierten Aufnahmen zwar Bilder von Menschen, aber keine Porträts.11 Das Porträt ist immer ein vom Porträtierten mit-intendiertes Bild; ohne sein Einverständnis ist kein Porträt möglich. Beim Selbstporträt liegen die Dinge anders: Hier fallen (zumindest im prototypischen Selbstporträt mit Selbstauslöser und Bildkontrolle per Spiegel) die beiden Instanzen des Porträtisten und des Porträtierten in eins: Der Fotograf hat alle Aspekte der Bildgestaltung – vor wie hinter der Kamera – unter Kontrolle. Die physische Identität von Autor, Fotograf und Fotografiertem ist aber weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für ein Selbstporträt. Entscheidend ist vielmehr die Namensidentität des Autors mit dem im Bild Dargestellten. Auch eine nicht vom Autor gefertigte und diesen nicht abbildende Fotografie kann als Selbstporträt in Anspruch genommen werden. Umgekehrt ist ein Bild bei Fehlen eines entsprechenden Selbstbezugs im Titel oder Paratext trotz der Identität von Fotograf und Fotografiertem eine Selbstfotografie und kein Selbstporträt.12
10 Dies trifft auch für das heimlich geschossene Bild zu, das in den meisten Fällen nicht die unbewusste Natur eines Menschen, sondern nur dessen soziale Maske enthüllt. Tatsächlich ›nackt‹ im Sinne von unbewusst ist nur das Gesicht eines Schlafenden oder eines Toten. 11 Dass die Bilder von Streuli und diCorcia von Porträts im Modus der Abwesenheit (und teilweise auch des direkten Kamerablicks) ununterscheidbar sind, ist ein rezeptionsästhetisches Problem. Meine Definition des Porträts ist jedoch eine radikal produktionsästhetische: Sie basiert auf der Intention des Autors, nicht auf der Interpretation des Betrachters. 12 Zur Selbstporträtsignatur vgl. Hölzl 2008 (wie Anm. 3), Kap. 3.7 u. 4.4.
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Inszeniertes Selbst?
Abb. 1: Heinrich Riebesehl, 2/23/71, 31.7.1971, aus der Serie Selbstdarstellungen, 1971 In Heinrich Riebesehls Selbstdarstellungen (1971) referiert das ›Selbst‹ nicht auf den Fotografen, sondern auf die Fotografierten: Jugendliche, die in einem von Riebesehl im Rahmen einer Jugendveranstaltung improvisierten Fotostudio ein einziges, repräsentatives Bild von sich selbst machen, das Auslöserkabel fest in der Hand (Abb. 1). Nicht der Fotograf hat die Kontrolle über den Moment des Auslösens, sondern die Porträtierten selbst: Die Grenzen zwischen Selbstbild und Fremdbild, die im Studioporträt immer schon fließend waren, scheinen hier völlig aufgehoben. Obwohl der Fotograf die fotografische Situation hergestellt und die Inszenierung vorgegeben hat, zieht er sich im fotografischen Akt zurück und überlässt das Auslösen den Fotografierten. Dennoch handelt es sich bei den Selbstdarstellungen um keine Selbstporträts der ›Selbstdarsteller‹. Der Fotograf hat zwar die Regie und den Moment des Auslösens an die Porträtierten abgegeben, nicht aber die anderen Aspekte der Bildgestaltung und Inszenierung: Wahl der Kamera, des Objektivs, des Blickwinkels, der Kameraeinstellung, Einrichtung des Lichts und des Studios. Dementsprechend liegen die Urheberrechte auch bei ihm: Die Fotografien werden unter seinem Namen und nicht unter dem Namen der jeweiligen ›Selbstdarsteller‹ veröffentlicht. Bei Riebesehls mit versteckter Kamera aufgenommener Serie Menschen im Fahrstuhl (1969) kommt die Frage Porträt oder Selbstporträt erst gar nicht auf (Abb. 2): Genauso wie die von Streuli und diCorcia fotografierten Menschen wissen die Fotografierten nicht einmal, dass sie fotografiert werden: Die 121
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Abb. 2: Heinrich Riebesehl, 6/5/69, 20.11.1969, aus der Serie Menschen im Fahrstuhl, 1969 Bilder sind keine bewussten Selbstdarstellungen der Fotografierten und damit auch keine Porträts. Der bildgestalterische Spielraum liegt folglich, wie bei Menschen im Fahrstuhl, entweder ganz beim Fotografen oder wird zumindest teilweise an die Fotografierten abgegeben, weil der Fotograf mehr an der fotogenen Seite einer Person interessiert ist als an der Aufdeckung ihres alltäglichen oder gar unbewussten Selbst. Zwischen den beiden Extremen, gestohlenem Bild und Selbstdarstellung der Porträtierten bewegt sich jede Art von fotografischer Menschendarstellung. Aber ist nicht jedes Porträt im indexikalischen Sinne Selbstabbildung des Referenten beziehungsweise des Porträtierten, im performativen Sinne Selbstdarstellung des Porträtierten und im erweiterten Sinne Selbstporträt des Porträtisten, entsprechend der Derridaschen Definition des Selbstporträts als »alles, was mir zustößt und durch das ich affiziert werde oder mich affizieren lasse«?13 Und könnte es sein, dass Selbstporträt und Selbst weniger in einer kausalen denn in einer performativen Relation stehen, und die Selbstporträtintention nicht nur die Wirkung (das Selbstporträt), sondern retroaktiv auch dessen Ursache, den Selbstporträtist, hervorbringt? Festzuhalten bleibt, dass nicht jede Menschenabbildung ein Porträt und nicht jede Selbstfotografie ein Selbstporträt ist: Erst die Porträtsituation macht aus einer Menschenabbildung ein Porträt, und erst die Selbstporträtintention macht aus einer Selbstfotografie ein Selbstporträt.14 13 Vgl. Derrida, Jacques: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München, 1997, S. 67. 14 Vgl. hierzu die bekannte Passage in der Hellen Kammer, in der Barthes das Porträt als »geschlossenes Kräftefeld« zwischen der Intention des Fotografen und des Fotografierten beschreibt. Vgl. Barthes, Roland: Die Helle
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Inszeniertes Selbst?
Die Serie African Spirits (2008) von Samuel Fosso, erstmals auf den Rencontres d’Arles 2008 im Rahmen einer retrospektiven Einzelausstellung präsentiert, ist ein Beispiel für Selbstfotografie ohne Selbstporträtintention: Sie besteht aus vierzehn Imitationen fotografischer ›Ikonen‹ der afrikanischen Unabhängigkeiten, der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der schwarzen Kultur.15 Während auch eine nicht selbst gefertigte und mit der eigenen Person in keinem abbildlichen Zusammenhang stehende Fotografie als Selbstporträt appropriiert werden kann, ist umgekehrt eine Selbstfotografie im doppelten Genitiv des vom Künstler selbst gefertigten und diesen selbst abbildenden Bildes nicht notwendigerweise auch eine Selbstrepräsentation: Ohne die (im Titel oder Paratext einbekannte) Selbstporträtintention ist die Selbstfotografie lediglich ein Porträt, eines allerdings, das keinen kausalen Bezug zwischen abgebildeter Person und Bild voraussetzt: ein Modellporträt. Im Modellporträt sind fotografiertes Objekt und Bildsubjekt nicht identisch: Der Künstler steht Modell für eine Bildfigur, deren Referent nicht die eigene Person ist. Dieser Referent kann faktischer, virtueller (möglicher) oder kontrafaktischer (unmöglicher) Natur sein. Im Fall von African Spirits greift Samuel Fosso auf die faktische Referenzebene zurück: die vierzehn Modellporträts sind historischen Porträts von Nelson Mandela, Patrice Lumumba, Angela Davis und anderen minutiös nachgestellt. Die Bilder selbst sind jedoch kontrafaktisch: Sie zeigen Menschen, die nicht länger (wie auf dem historischen Vorbild) von sich selbst dargestellt sind, sondern von einem anderen. Dass sie Jahrzehnte später wie zum Zeitpunkt der ursprünglichen Aufnahme erscheinen, fügt eine neue Dimension der ›unheimlichen Verbindung‹ von Vergangenheit und Zukunft in die Porträt-Fotografie ein. Referenten, die im Laufe der Zeit ge-
Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M., 1985, Kap. 5, S. 18-24. Zur rückwirkenden Legitimation des Selbstporträtisten durch das von ihm hervorgebrachte Selbstporträt vgl.: Derrida, Jacques: Otobiographies. L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre. Paris, 1984, S. 22. 15 Charakteristikum ›ikonischer‹ Persönlichkeiten ist ja gerade das Verschmelzen von Person und Abbild zu einem idealisierten Bild, einem Ikon, das keiner objektweltlichen Referenz mehr bedarf. Die Selbstähnlichkeit der massenhaft vervielfältigten Ikonen überlagert die kausale Beziehung von Objekt und Index. Während die Galerie von fotografischer ReInszenierung spricht, verwende ich den Begriff ›Imitation‹ oder ›nachgestelltes Porträt‹. Wenn, wie oben gezeigt, der Begriff des inszenierten Porträts tautologisch ist, kann er auch nicht in Bezug auf ein nachgestelltes Porträt in Anspruch genommen werden. Inszeniert in Hinblick auf eine Bildidee sind Fossos Selbstfotografien allerdings: Die Bildidee ist jedoch bereits ein Bild.
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storben oder zumindest gealtert sind, erscheinen nicht als fotografisch ›Einbalsamierte‹, sondern als fotografisch Reanimierte.
Abb. 3 und 4: Samuel Fosso, African Spirits, L 002853, 2008 (links), und Esquire-Cover, April 1968 (rechts) In einer Doppelreihe zu je sieben Silbergelatineprints im Format 110 x 85,5 cm posiert Fosso in verschiedenen Dekors und Kostümen, mit jeweils leicht veränderter Frisur, mit oder ohne Bart und Brille. Die meisten der Bilder lassen sich problemlos ihrer fotografischen Vorlage zuordnen: Léopold Senghor als Académicien, Martin Luther King als charismatischer Redner, Tommie Smith mit zur Black-Panther-Faust erhobenen rechten Hand,16 Haile Selassie, der letzte Kaiser Äthiopiens und Kwame N’Krumah, Panafrikanist und erster Premierminister Ghanas, in offizieller Staatstracht (in Uniform der eine, in traditionellem afrikanischen Tuch der andere). Bekannt ist auch die Vorlage zu der Arbeit, die Fosso als Muhammad Ali als Heiligen Sebastian zeigt (Abb. 3): ein Esquire-Cover von 1968 mit dem Titel The Passion of Muhammad Ali (Abb. 4), gestaltet von George Louis und fotografiert von Carl Fischer in Anspielung auf Alis Verurteilung wegen Wehrdienstverweigerung im Zuge seiner Konvertierung
16 Im Gegensatz zu Fossos Arbeit zeigt die bekannte historische Fotografie nicht nur Tommie Smith, den Gewinner des 200-Meter-Laufs bei den Olympischen Spielen in Mexiko City 1968, der während der Siegerehrung die schwarz behandschuhte und zur Faust geballte rechte Hand zum Schwarzen-Panther-Gruß hob, sondern auch Peter Norman (Silber) und Smiths US-Kollege John Carlos (Bronze), die linke Hand zum Gruß erhoben – Carlos hatte seinen Handschuh vergessen und borgte sich den linken Handschuh von Smith.
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zum Islam. Der von einem unbekannten Fotografen aufgenommene ›mug shot‹ von Matin Luther King nach seiner Gefangennahme im Februar 1956 während des Montgomery Bus Boycott dürfte weniger bekannt sein (Abb. 5). Er wurde 2004 in einem Lagerraum einer Polizeistation in Montgomery entdeckt.17
Abb. 5 und 6: Mug shot von Martin Luther King, Montgomery, 1956 (links), und Samuel Fosso, African Spirits, L 002783, 2008 (rechts) Der Vergleich der beiden letzterwähnten historischen Aufnahmen mit ihren Pendants aus der Serie African Spirits macht deutlich, dass Fosso bei aller Akribie der Imitation, was Dekor, Kostüm und Pose betrifft, in einigen Punkten signifikant vom Vorbild abweicht: Im Falle von Fosso als Muhammad Ali als Heiliger Sebastian betrifft dies die Abbildungsgröße (bildfüllend statt fast bildfüllend), die Farbe (schwarzweiß statt Farbe), und die Ausrichtung des Kopfes (rechts statt links). Im Falle von Fosso als inhaftierter Martin Luther King (Abb. 6) finden sich Unterschiede im Bildausschnitt (zentral statt seitlich angeschnitten), der Aufschrift (weggelassen) sowie in der Stärke und Ausrichtung des Blitzlichts (von links unten statt frontal): In African Spirits erscheint Martin Luther King dunkler, bedrohlicher, mit deutlich sich über dem Kopf abzeichnenden Schlag17 Siehe www.thesmokinggun.com/mugshots/mlkingmug1.html (Stand: 5. Januar 2010). Es ist unklar, wann die Aufschrift »DEAD 4-4-68« auf dem Abzug hinzugefügt wurde: Es handelt sich um den Tag, an dem Martin Luther ermordet wurde – und um den Monat, in dem das Esquire-Cover mit Muhammad Ali erschien.
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schatten. Die Kleider erscheinen hingegen – für einen ›mug shot‹ etwas unpassend – wie neu. Je nach Bildgedächtnis der Betrachter bleiben die historischen Referenzen und die Differenzen zwischen Vorbild und Imitation entweder opak oder führen eine historische und komparative Bedeutungsebene in die Serie ein. Die Galerie selbst nennt zwar in der Pressemitteilung die Namen aller von Fosso dargestellten Persönlichkeiten, verzichtet aber auf die konkrete Zuordnung von Name und Bild und stärkt damit die Kontinuität zu Fossos bisherigem selbstfotografischen Werk, das – mit Ausnahme der Serie Tati (1997) – in enger Relation zur eigenen (wenn auch kostümierten) Person, zum eigenen (un-)gelebten Leben steht und daher als eine Art »diachroner Selbstvergleich eines Individuums« (Boehm) gedeutet werden kann. Während Fossos bisheriges Werk zwischen Selbstporträt, Selbstdarstellung als anderer (Kostümporträt) und Darstellung eines anderen (Modellporträt) oszilliert, ohne den Selbstbezug jemals ganz aufzugeben, besteht die Serie African Spirits aus Darstellungen eines bestimmten Anderen im Modus des nachgestellten Porträts, wobei der Reiz der Bilder weniger in der »Theatralität der Pose« denn in der »Theatralität der Nachstellung« der als Nachstellung ausgestellten Porträts liegt. Damit verlässt Fosso endgültig den intimen Bereich des sich selbst mittels Selbstauslöser porträtierenden Fotografen und nähert sich der konzeptuellen Praxis der Selbstfotografie ohne Selbstporträtintention an. Er repräsentiert keine eigene Identität, sondern ›borgt‹ sich eine Identität, in die er sich physisch und mental hineinversetzt. Indem er die Namen der Dargestellten nicht nennt, eignet er sich jedoch zugleich deren Persönlichkeit und Leistung als Teil seiner eigenen kulturellen Identität an. In ihrer Gesamtheit kann die Serie folglich auch als kulturelle Selbst-Repräsentation betrachtet werden – Césaire, Dichter und Begründer der Négritude-Bewegung, befindet sich ebenfalls in Fossos 14-köpfigem ›Pantheon‹ der schwarzen Kultur.18 Politiker, Bürgerrechtler, Musiker und Sportler sind hier auf einer Ebene vereint: alle dargestellt von Samuel Fosso, der sich – obwohl immer derselbe – mittels Kostüm und minimaler Requisite zu einem jeweils anderen wandelt. Der primäre Narzissmus der Selbstbewunderung und der sekundäre Narzissmus des Bewundertwerden-Wollens, die Fossos gesamtes Werk durchziehen, treten in den Hintergrund: In African Spirits hat Fosso die fotografische Beziehung zu sich selbst endgültig objektifiziert und präsentiert sich in
18 Martin Luther King tritt zweimal auf: als Verbrecher mit Gefängnisnummer und als charismatischer Redner.
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Inszeniertes Selbst?
Form eines heterogenen Ensembles charismatischer Persönlichkeiten, die bis heute als Leitfiguren schwarzer Identifikation fungieren. Einige Bilder lesen sich darüber hinaus als Verweis auf Fossos bisherige autoporträtistische Ikonografie: Das Bild als Nelson Mandela mit Telefon und Boxhandschuh zum Beispiel erinnert an ein Selbstporträt aus den 1970er Jahren, auf dem Fosso ebenfalls mit einem Telefonhörer posiert. Auch der Dandy ist eine Figur, die schon in früheren Arbeiten auftaucht – in den Selbstporträts der 1970er Jahre ebenso wie in Fosso Fashion (2000). Die Bilder, deren historische Vorlage bekannt ist, lassen hingegen – ungeachtet der Nennung von Autor und Werktitel und der oben angesprochenen Differenzen von Vorbild und Imitation – an simple Nachdrucke der historischen Porträts denken: Fosso übernimmt nicht nur Kostüm und Pose der von ihm dargestellten Persönlichkeiten, sondern auch deren Charisma und Fotogenie: die ihnen jeweils eigene Art, zum Bild zu werden. Selbst im Gesichtsausdruck, dem Ausdruck von Individualität par excellence, stimmen sie mit ihren historischen ›Modellen‹ überein. Im Gegensatz zu Bazins These der (halluzinatorischen) Identität von Fotografie und ihrem Modell, der Wirklichkeit, steht hier die Fotografie Modell für eine (ihr identische) Reproduktion der Wirklichkeit, die wiederum nur als deren fotografische Reproduktion verfügbar ist.19 Die nachgestellte Fotografie ist ihrem Modell, der historischen Fotografie, nicht nur täuschend ähnlich, sondern ersetzt sie gewissermaßen: Die halluzinatorische Identität von Modell und Abbild betrifft nicht mehr die Realität und ihr Abbild, sondern das ursprüngliche Abbild und dessen Imitation. Indem Fosso für die Inszenierung bedeutender afrikanischer und afroamerikanischer Persönlichkeiten historische Porträtaufnahmen als Vorlagen benutzt und sich diese in Form von Modellporträts aneignet, fügt er den Bildern der Serie African Spirits eine komplexe temporale Tiefenstruktur hinzu. Gleichzeitig erweitert er den Spielraum der Selbstfotografie ohne Selbstporträtintention entscheidend und betritt ein bereits von Cindy Sherman in ihren History Portraits (1989-90) ausgelotetes Feld der inszenierten Fotografie: das nachgestellte Porträt.
19 Eine besondere Spielart der Wirklichkeit als Modell ist die Fotografie von Wirklichkeitsmodellen: ›Modellfotografien‹ von David Levinthal, Laurie Simmons und anderen spielen mit der üblichen Größendifferenz zwischen der Wirklichkeit und ihrer fotografischen Reproduktion. Nur diese Größendifferenz, so Benjamin im ›Kunstwerkaufsatz‹, erlaubt uns, die Realität des Kunstwerks zu erfassen: als dessen fotografische Miniatur.
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In Oszillation zwischen Authentizität und Fiktion. Zur Fotokunst von Nan Goldin PAMELA C. SCORZIN
Am Fallbeispiel des fotokünstlerischen Werkes von Nan Goldin (Jg. 1953), die seit Ende der 1960er Jahre unaufhörlich ihr bewegtes Leben in verschiedenen Subkulturen und Underground-Milieus mit einer analogen Leica-Kamera aufzeichnet, würde ich gerne aufzeigen, dass – frei nach Jean Baudrillard1 – Fotografien nie ganz wahr oder ganz falsch, oder (wider einer bestimmten Vorstellung der vorherrschenden Fototheorie) nie ganz dokumentarisch oder gänzlich inszeniert, authentisch oder fiktiv sind, sowie damit auch nach konventionellen Vorstellungen nie entweder nur wahr und wirklich oder eine Lüge und eine Dichtung sind, sondern vielmehr in vieler Hinsicht immer in unterschiedlichen Graden zwischen diesen Dichotomien oszillieren. Von Relevanz ist dabei, die Fotografie nicht lediglich als ein geschlossenes und differentielles Bildsystem, sondern vielmehr als ein besonderes Anschauungsobjekt zu verstehen, das in Handlungszusammenhängen beobachtet wird. Nan Goldins inzwischen schon legendäre Ballade von der sexuellen Abhängigkeit bildete Mitte der 80er Jahre den fulminanten Auftakt zu einer fotografischen Weltkarriere, die zuletzt in der Auszeichnung mit dem Hasselblad-Award 2007 ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.2 Seit 1978 führte Goldin regelmäßig – zu-
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Siehe Jean Baudrillard zit. In: Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.): Siemens-Medienkunstpreis 1995. Karlsruhe, 1995. Siehe die Begründung der Jury: »Nan Goldin is one of the most significant photographers of our time. She has been documenting her own life and that of her friends – her extended family – for more than 30 years, focusing on the urban scene in New York and Europe in the 1970s, 80s and 90s, marked so dramatically by HIV and AIDS. Her work, while based on the direct esthetics of snapshot photography, presents her personal life as work of arts; intimate, formally beautiful, and with intense use of color. The presentation of her work in the form of slide shows resonates in the work of photographers of more than one generation. Her use of photography as
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Pamela C. Scorzin
nächst noch im kleineren privaten, geselligen Freundeskreis, etwas später dann aber auch in einem größeren, öffentlichen, etwa in verschiedenen New Yorker Szene-Clubs – eine ca. 50-minütige FarbdiaProjektion aus mehr als 700 Einzelaufnahmen ihrer fotografischen Arbeit vor, die in den darauf folgenden 80er Jahren von ihr immer wieder neu sortiert, variiert, ergänzt und aktualisiert wurde – zuletzt im Sommer 2009 auf dem Fotofestival Les Rencontres d’Arles (7. Juli bis 13. September 2009). Zudem wurden dabei ihre mündlichen Kommentierungen mehr und mehr durch Vignetten und einen vorbereiteten Soundtrack, eine persönliche Kompilation aus klassischen Melodien, Lieblingsstücken und populären Popsongs unterschiedlichster Provenienz ergänzt und ausgetauscht. Das dabei entstehende dramatische Zusammenspiel von Bildern, Tönen und (Song-)Texten verlieh den Bildfolgen bisweilen eine völlig neue Note, die vom Sentimentalen bis zum Sarkastischen reichen konnte. Die Projektionen dieser Ton-Dia-Schau glichen dabei einer künstlerischen Performance, die in jüngerer Zeit, so beispielsweise 2008, auch von anderen Künstlern wie zum Beispiel dem britischen Musiker und Kultstar Patrick Wolf aufgegriffen und fortgeführt wird (Abb. 1). The Ballade of Sexual Dependency war und ist damit ein kontinuierliches fotografisches work-in-progress. Die Zusammenstellung der Fotografien barg somit von Anfang an explizit einen hohen inszenatorischen Aufführungscharakter, extremen Schauwert wie auch enormen Unterhaltungswert. Die Dia-Installation wurde außerdem als Video dokumentiert, bevor sie schließlich 1986 ihre vorläufig abgeschlossene mediale Gestalt in Form eines eigenständigen Künstlerbuches gewonnen hat, nachdem sie zuvor von der Aperture Foundation in einer New Yorker Galerie ausgestellt worden war. Das mit einer Einleitung und Danksagung versehene Fotobuch wurde zunächst bei Aperture für den US-amerikanischen Markt editiert, jedoch kurze Zeit später schon in preiswerten identischen Ausgaben in viele weitere Sprachen übersetzt – die erste deutschsprachige, heute bereits vergriffene Original-Ausgabe erschien bereits 1987 im Versandverlag Zweitausendeins (Abb. 1). Diese fotografische »Soap zwischen Buchdeckeln«3 (Barbara Lange) erreichte überdies schnell
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a memoir, as a means of protection against loss and as an act of preservation responds to the needs of our times.« Unter: http://www.hasselblad foundation.org/nan-goldin/en/ (Stand: 13. Dezember 2009). Siehe auch Ritchey, Jack (Hg.): Nan Goldin – The Beautiful Smile. The Hasselblad Award 2007. Göttingen, 2007. Lange, Barbara: »Soap zwischen Buchdeckeln: Nan Goldin. Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit (1986)«. In: Schade, Sigrid; Thurmann-Jajes, Anne (Hg.): Buch – Medium – Fotografie. Köln, 2004, S. 119-128, hier S. 119.
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In Oszillation zwischen Authentizität und Fiktion
Abb. 1: Nan Goldin, The Ballad of Sexual Dependency, 1986 ungeheure Popularität und enormen Kultstatus außerhalb der eigentlichen Kunstszene bei einem Publikum, das sich ansonsten eher an massenkulturellen Produktionen und populären Formaten orientiert. Als Pseudo-Fotoroman bot es eine Unterhaltung mit massenkultureller Thematik von universellem Gehalt. Das Fotobuch als künstlerisches Multiple gehört hingegen bis heute zu den populärsten Künstlerbüchern des 20. Jahrhunderts. Für jene hat sich seit einigen Jahren ein regelrechter Sammlermarkt entwickelt. Goldins Werk gelang damit ein bemerkenswertes Crossover zwischen den bislang getrennten Kulturen, wie sie noch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule um Adorno für die Moderne diagnostiziert hat, heute aber mit künstlerisch-gestalterischen Arbeiten wie von Nan Goldin doch als überholt gelten muss. Im Vergleich zur ›kunsthafteren‹ Version als veritables Fotobuch, die dem multi-medialen work-in-progress erst seinen definitiven Werktitel mit einem beziehungsreichen Zitat aus der Dreigroschenoper verliehen hat, ergibt sich aber auch eine neue, andere Rezeptionsweise für die fotografischen Bilder. Denn die Fotokünstlerin stellt damit, wie Elisabeth Sussman bereits festgehalten hat, bewusst eine Analogie her zwischen ihrem Werk (das formal zwischen Fotografie und Medienoper angesiedelt ist und inhaltlich das von Sex, Drogen, Verfall und Underground-Kultur beherrschte Manhattan der 70er und 80er Jahre porträtiert) und nicht minder dem berühmten Bühnenstück von Brecht und Weill (das 1928 eine furiose Aufführung im Berlin der Weimarer Zeit feierte). »Die Dreigroschenoper, die auf der von John Gay im 18. Jahrhundert verfassten Betteloper basiert, spielt in den Slums und Bordellen von London. Die Songs mit ihren Anklängen an Jazz und Oper waren bissige Kommentare zu dem Geschäft mit der Liebe, dem organisierten Ver131
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brechen und der Prostitution. Balladen, Tangos und Klagelieder sind rund um eine Sexgeschichte angeordnet. Goldins Diashow dokumentiert die Dekadenz eines späteren Zeitalters – die Punk-Subkultur der großstädtischen Bohème.«4 Mit dem kodifizierten Buchformat wird die nun nicht mehr variierbare Sequentialisierung, Addition und Reihung der Einzelfotografien in der Ballade von der sexuellen Abhängigkeit zu einer strukturierten (Pseudo-)Erzählung gefestigt, indem die Einzelbilder in eine neue Syntax gesetzt werden. Der Eindruck eines »sub-narrativen« Foto-Romans manifestiert sich hiermit auch formal weiter. Die komponierte Abfolge der Bilder ist im Fotobuch auf die Anzahl von lediglich 125 Einzelaufnahmen reduziert und in ihrer Serie genau festgelegt. Überdies wurden sie mit deskriptiven Untertiteln versehen sowie mit aphoristischen Kapitelüberschriften nochmals neu gegliedert. Die Ballade enthält nun mit der Einführung von Nan Goldin insgesamt zehn Kapitel von recht unterschiedlichem Umfang, die ihrerseits mehrheitlich verschiedene Sequenzen mit assoziativen Titeln beinhalten, angelehnt an bekannte Songtitel, zum Beispiel von The Velvet Underground & Nico. Anders als bei den früheren Versionen als Ton-Dia-Schau (mit der Anwesenheit der live vorführenden und persönlich kommentierenden Künstlerin) oder als Videoprojektion haben die Rezipienten aber nun bei diesem von Nan Goldin zusammen mit Marvin Heiferman, Mark Holborn und Suzanne Flechter herausgegebenen Fotoband das Tempo und die Richtung der Betrachtung beim Durchblättern des Foto-Albums selbst wortwörtlich in der Hand.5 Mit der Wahl des jeweiligen Publikationsmediums, das heißt einerlei ob als Installation in Form einer Live-Dia-Show oder als Multiple in Buchform, wird das darin gezeigte Private unweigerlich öffentlich. Die Veröffentlichung tendiert aber dazu, den essentiellen Kern des Privaten zu transformieren. Dies führt zu einer paradoxen Entdifferenzierung. Wie etwa im zeitgenössischen ›Reality TV‹ der
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Sussman, Elisabeth: »Nan Goldin: Zeitbilder«. In: Sussman, Elisabeth; Armstrong, David (Hg.): Nan Goldin – I’ll be your mirror. Frankfurt a.M., 1998, S. 25-44, hier S. 34. Lange 2004 (wie Anm. 3), S. 119: »Sie bestimmen auch die Situation der Lektüre, die bei der Ton-Dia-Show durch den Kunstbetrieb vorgegeben ist. Die Intimität, die durch diese Rezeptionssituation entstehen kann, ist relativ. Während in der Ton-Dia-Show Duplikate der Originalaufnahmen gezeigt werden, haben wir es im Fotobuch mit Reproduktionen der Originale in einem anderen Medium zu tun. Aus dem Foto wurde technisch gesehen ein farbiger, am Ursprungsdia orientierter Druck, dessen Format sich aus dem Buchformat ergibt. Mit der Transformation in ein anderes Medium erfolgte zugleich die Eingliederung der Fotos in den Kontext einer spezifischen visuellen Kultur.«
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Privatsender wird Intimes und Persönliches, das in Szene gesetzt und zur Schau gestellt werden möchte, gleichsam dann am Ende nur noch für die Kamera performt und inszeniert. Auch die Autorenfotografin Goldin scheint hier gewisse Zugeständnisse zu machen, indem sie ihre Ballade nicht zuletzt als ihr »public visual diary« herausstellt, das ihr Publikum lesen darf. Nan Goldins fotografische Arbeiten nehmen überdies stets Rücksicht auf die Empfindlichkeiten ihrer (Selbst-)Darsteller, deren Einverständnis für die Veröffentlichung sie daher immer vorab einholt. Die Künstlerin unterzieht sich darin aber auch einer freiwilligen Selbstzensur. So sind ihre privaten Tagebuch-Aufzeichnungen tatsächlich bislang nicht zur öffentlichen Einsicht und medialen Verbreitung gedacht. Nan Goldin geht es im Gegensatz zu den kommerziellen Massenmedien offensichtlich nicht um eine verletzende Bloßstellung und reine Vorführung ihres außergewöhnlichen Milieus. Das Fotografische unterscheidet sich in dieser Hinsicht bei Goldin erheblich von Susan Sontags Überzeugung, die in der Kamera immer nur auch eine Waffe zu erkennen glaubte.6 Mit einer Veröffentlichung des Privaten beginnt aber wie bei Autobiografien bereits auch der Moment der Fiktionalisierung. Denn dass hier das mediale Format mitunter den Gehalt und den Charakter des Vorgeführten mitbestimmt und konstituiert, zeigt gerade auch die spezielle Auswahl, die Goldin aus ihren unzähligen fotografischen Aufnahmen jeweils unternimmt. Hier wählt offensichtlich nicht nur der intuitive wie geschulte Blick einer langjährigen Autorenfotografin, sondern gleichsam auch ein universales Bildgedächtnis mit aus, das durch die eigene Kunst- und Kulturgeschichte, durch die Hochkunst wie durch die Populärkultur (Film), visuell hegemoniert ist. Insbesondere Einzelfotografien aus der berühmten Ballade, die, mittlerweile zu Ikonen der Fotogeschichte stilisiert, immer wieder ohne Verweis auf ihren ursprünglichen Kontext in Medien und Publikationen repetiert werden, lassen sich leichter Dinge auf das bekannte stereotype Bildvokabular der euro-amerikanischen Kunst- und Kulturgeschichte rückbeziehen. So erscheint auch das mutmaßlich ungestellte Cover-Foto der Ballade, das Nan mit ihrem damaligen Lover Brian in einer intimen Schlafzimmerszene zeigt (Nan and Brian in bed, New York City, USA, 1983) und dabei psychologisierend den Zustand ihrer komplizierten Paarbeziehung festhält (Abb. 2), als eine Paraphrase des bekannten neusachlichen Paarbildnisses von Christian Schad. Ebenso lassen sich die Fotografien Self-Portrait in Kimono with Brian, New York City, 1983, Greer and Robert on the bed, New York, 1982 (Abb. 3) oder Janet and Richard in Chicago, 1977 und Joana and Aurele in bed, 1999 in
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Siehe Sontag, Susan: Über Photographie. München, 1978.
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Abb. 2: Nan Goldin, Nan and Brian in Bed, New York City, 1983 die kunstgeschichtliche Tradition des spätestens mit Schads situativem Selbstbildnis mit Modell (1927, Tate Modern London) etablierten Bildmusters für problematische und konfliktvolle Paarbeziehungen stellen – aufgezeichnet nun jedoch aus der Sicht einer Frau, die sich in ihrer pessimistischen und resignativen Diagnose aber nach etlichen Jahrzehnten nicht weiter von der des Künstlers zu unterscheiden scheint. Für den Bildbetrachter ist Goldins visuelles Tagebuch am Ende ein einziges, über die Jahre monumental gewachsenes Selbstporträt aus Zigtausenden von Aufnahmen – eine visuelle Autobiografie, die über ein außergewöhnliches Leben erzählt. Die Künstlerin schafft über die jahrelange Aufzeichnung ihres persönlichen Milieus eine umfassende Selbstcharakterisierung, wobei sich die Einzelbilder wie kleine Mosaiksteinchen zu einem beeindruckenden monumentalen Gesamtwerk zusammenfügen lassen, das eine popkulturelle Geschichte erzählt. Mit dieser Strategie steht es in der besonderen kunstgeschichtlichen Tradition eines erweiterten Porträts, des »Milieus als Charakterporträt«,7 wiewohl es dieses gleichzeitig in den Dimensionen sprengt und selbst ausgewiesene umfangreiche Selbstinszenierungen wie die 89-teilige Ton-Dia-Schau All By Myself (1993-97) noch fulminant überbietet. Musikalisch unterlegt von dem gleichnamigen Song Eartha Kitts oszilliert das Werk zwischen reiner Fotografie, stakkatohafter Dia-Installation und einer Medienoper und gewinnt durch die absichtlich unprofessionelle Unentschiedenheit wie auch durch den Charakter einer improvisierten heimischen Dia-Schau eine ungeheure emotionale Intensität, erzäh7
Chapeaurouge, Donat de: »Das Milieu als Porträt«. In: Wallraf-RichartzJahrbuch, Nr. 22, Köln, 1960, S. 137-158.
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Abb. 3: Nan Goldin, Greer and Robert on Bed, New York City, 1982 lerische Qualität und atmosphärische Dichte. Die Betrachter erfahren darin die Abwesenheit der Künstlerin als eine mysteriöse Gegenwärtigkeit, die das alte Versprechen der Fotografie am Ende doch noch zu erfüllen scheint, nämlich etwas oder jemanden über Raum und Zeit hinweg wirklich Dauer und Präsenz zu garantieren. Wir erblicken also immer wieder Nan, wie wir sie dann längst vertraut beim Vornamen nennen, und rätseln dabei über das Geheimnis unserer eigenartigen Beziehung zu ihr – auch diese scheint schließlich in faszinierender Oszillation zwischen völlig vertraut und völlig fremd. Ein Großteil der Live-Fotografien von Nan Goldin handeln überdies hinter grellstichigen Farben von der Angst des Verlierens und Vergessens sowie dem Trauma eines schmerzvollen Verlusts, der durch das Medium Fotografie bewahrt respektive kompensiert werden soll. So künden viele Goldin-Portfolios vom Tod als Interruptus von Beziehungen – ein universales Thema, das Nan Goldin in sehr persönlichen, privaten und intimen Geschichten aus ihrem Leben über die Jahrzehnte hinweg immer wieder fotografisch schildert. Vom frühen Tod der älteren Schwester Barbara Holly 1965 durch Selbstmord, einem Tabuthema ihrer biologischen Familie, das Goldin in der 3-Screen-Multimedia-Installation Soeurs, Saintes et Sibylles8 erst gut 40 Jahre später künstlerisch verarbeitet hat, bis hin zum heimtückisch schleichenden und gesellschaftlich stigmatisierten AIDS-Tod Vieler aus Goldins weitläufiger Wahlfamilie aus Gleichgesinnten und Geistesverwandten wird die Thematik immer wieder neu durch fotografisch festgehaltene Einzelschicksale neu 8
Siehe Festival d’Automne à Paris (Hg.): Nan Goldin. Soeurs, Saintes et Sibylles. Paris, 2005.
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berührt. Die Bilder geraten zu fotografischen Erinnerungsmonumenten des Lebens der Anderen, von denen wir oftmals nur wenig mehr als ihre Vornamen erfahren, die jedoch über den Bildtitel persönliche Vertrautheit suggerieren: Immer wieder erblicken wir David, Suzanne, Bruce, Guido, Joey, Brian und andere. Oder wir sehen Nans Partnerin, enge Vertraute und langjährige Freundin Cookie in einem großen fotografischen Lebensbogen als strahlend junge Frau, Kranke, Sterbende und Tote (The Cookie Mueller Portfolio, 1992). Doch so, wie uns Nan Goldin das alltägliche Leben, Lieben, Leiden und Sterben ihrer großen ›Wahl-Familie‹ en passant vorführt und über Jahrzehnte hinweg eindringlich fotografisch dokumentiert, berührt es, ohne kitschig, übersentimental oder gänzlich pathetisch zu wirken. Ihre Sympathie für die Gezeigten überträgt sich als Empathie der Betrachter. Diese benutzen Goldins Bilder zum Betrachten anderer Menschen und um jene mit ihrem eigenen Leben zu vergleichen. So werfen die Porträts von Fremden uns wieder auf das Eigene und das Vertraute unmittelbar zurück, und gewähren doch gleichzeitig einen faszinierenden ›Schlüssellochblick‹ in alternative Milieus und schillernde Szenen, in andere Möglichkeitsräume gesellschaftlichen Zusammenlebens, die jedoch gleichwohl ihre eigenen Banalitäten des Alltags beherbergen. Dennoch wird dabei auch das Interesse eines kuriosen respektive voyeuristischen Blicks geweckt. Dafür ist das aufgezeichnete Milieu aus Cliquen gesellschaftlicher Außenseiter und marginalisierter Freaks, das uns Goldin als stets in die Szene involvierte Augenzeugin fotografisch schildert, bisweilen für ein gutbürgerliches WASPPublikum immer noch viel zu exotisch, zu schrill, zu trashig, sprich zu spektakulär. Obszönität und Vulgarität liegen aber immer auch im interpretierenden Auge des jeweiligen Betrachters, sind als Kategorien eine moralische und ethische Einschätzung, ein durch die jeweilige Kultur bestimmtes soziales Werturteil und keine Eigenschaften der Bilder per se. Gleichwohl gewinnen die Genres und Sujets von Goldins zeitgenössischen Milieufotografien mit ihrer Skandalisierung auch eine besondere Aufmerksamkeit, ganz so wie sie auch für die populären Massenmedien der zeitgenössischen Privatsender funktioniert, die sich Richard Sennetts »Tyrannei der Intimität« seit Jahren fest ins Programm geschrieben zu haben scheinen. Durch ihre Zugehörigkeit hat Goldin aber mehr noch als vielleicht etwa Heinrich Zille zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in Berlin eine starke emotionale Verbundenheit mit jenem Milieu, das sie selbst fotografisch begleitet. Es gibt für sie keine Trennung zwischen Leben und Arbeit. Weder geht es ihr um einen massenpopulären Voyeurismus noch um einen sozialkritischen Realismus. Nach ihrem Verständnis zeigt
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sie uns lediglich ihr ganz persönliches »visuelles Tagebuch«9 respektive ein sentimental zusammengestelltes privates Fotoalbum, in das wir immer wieder hineinschauen dürfen. Wie gesagt, ein Buch voller Privatheit und ein Album der Intimität. Durch diese veröffentlichten Vertraulichkeiten entsteht Vertrauen und Wahrhaftigkeit gegen den Verdacht des Dilettantismus und der Scharlatanerie, obwohl Goldins Stil auf den ersten Blick doch unprofessionell und informell, roh und krude, bisweilen verwackelt und unscharf, grell und direkt erscheint. Das signalisiert aber für Viele letztlich auch Authentizität und Glaubwürdigkeit und beansprucht den Status des unvermittelt Dokumentarischen, wo auf subtile Weise aber doch mit den Strategien von biografischer Personalisierung, manischer Obsession und tiefer Emotionalisierung szenografisch gearbeitet wird. Tatsächlich fotografiert die 1953 in Washington, D.C. geborene Fotokünstlerin nun seit Jahrzehnten ausschließlich mit analogen Kleinbildspiegelreflexkameras in ihrem unmittelbaren persönlichen Lebensumfeld, einem sehr spezifischen zeitgenössischen Milieu aus Künstlern, Darstellern, Tänzern, Modellen und Schriftstellern an den Rändern der etablierten modernen westlichen Gesellschaft, in dem sie sich als involvierte Augenzeugin und Akteurin ganz selbstverständlich bewegt. Die Leica-Kamera fungiert dabei als drittes Auge, das unentwegt registriert und einfach aufzeichnet, impressionistische Momente aus dem modernen Leben mit einem mitfühlenden Blick festhält – und dabei über die Jahre hinweg eine besondere Sensibilität und ein besonderes Gespür für die Mikrogesten sozialer Beziehungen entwickelt hat. Aus dieser manischen Obsession für das unmittelbare Aufzeichnen der Realität heraus erwächst auch Goldins fester Glaube an die unverfälschte Wahrhaftigkeit und das dokumentarische Zeugnis des fotografischen Abbildes.10 Mit dieser
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Siehe Holborn, Mark: »Nan Goldin’s Ballad of Sexual Dependency. Interview with Mark Holborn«. In: Aperture, Nr. 103, New York, Sommer 1986, S. 3847; Goldin, Nan: Die Ballade von der Sexuellen Abhängigkeit. Frankfurt a.M. 1987, S. 6: »Die Ballade von der Sexuellen Abhängigkeit ist das Tagebuch, das ich andere lesen lasse. Meine geschriebenen Tagebücher sind privat. Sie bilden ein geschlossenes Dokument meiner Welt und erlauben mir die Distanz, sie zu analysieren. Mein visuelles Tagebuch ist öffentlich. Von seiner subjektiven Basis verbreitert es sich durch das, was andere einbringen. Die Fotos mögen eine Einladung in meine Welt sein, doch ich habe sie gemacht, um die Menschen in ihnen sehen zu können. Wie ich zu einer Person stehe, weiß ich manchmal erst dann, wenn ich ein Foto von ihr mache. Ich suche mir Menschen nicht aus, um sie zu fotografieren: ich fotografiere direkt aus meinem Leben heraus. Meine Fotos entstehen aus Beziehungen, nicht aus Beobachtung.« 10 Vgl. Nan Goldin: »Modern technology has so often perverted what I believe in as art. So much of what is called art is faked that very few people believe
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romantisch eingefärbten Überzeugung scheint Goldin sich nun seit Jahren schon auf die Suche nach der verlorenen Authentizität der Fotografie begeben zu wollen, so als hätte es nie wirklich eine digitale Wende gegeben. Völlig folgerichtig erscheint daher auch, dass sie als Autoren-Fotografin bis heute keine digitalen Aufzeichnungsgeräte verwendet und keine computergestützten Bildbearbeitungsprogramme für ihre Arbeit einsetzt. Beim Fotografieren behält Goldin eine äußerst spontane, direkte und im besten alten Sinne ›dilettantische‹ Ästhetik bei, die bereits ihre ersten frühen Schwarzweißaufnahmen aus der Schulzeit charakterisierte. Die ästhetische Kluft zwischen der kruden Amateurfotografie und der professionellen Studiofotografie mit ihren versteckten Bildbearbeitungstechniken verführt überdies immer dazu, dem bewusst rauen fotografischen Realismus einer ›straight photography‹ etwas mehr Glaubwürdigkeit und Wahrheit zu schenken und amateurhaften fotografischen Elementen wie hartem Blitzlicht, grell-satten Farben oder verwackelten Unschärfen erst einmal eine viel größere Authentizität und NichtInszenierung zuzusprechen. Goldins Arbeiten entsprechen somit einer ästhetischen Repräsentationsform, die als spontan, unmittelbar, ungeschönt und uninszeniert gilt, als subjektiv und aus einer echten Erfahrung heraus wahrgenommen werden will, obgleich auch sie deutlich bildkompositorische Muster und bildnerische Formeln einsetzt. Zusammen mit Larry Clark, dessen berühmt-berüchtigtes Fotobuch Tulsa (1971) Goldin selbst stark beeinflusste, wird sie damit zur Vorreiterin einer Fotografie, die seit den 90er Jahren mit Fotokünstlern wie Wolfgang Tillmans, Boris Mikhailov, Nobuyoshi Araki und Richard Billingham international auf den Kunstmärkten und bei Sammlern enorme Erfolge feiert. Nan Goldin ging es aber nie um die Etablierung eines persönlichen fotografischen Stils, sondern immer nur um eine besondere Haltung, eine persönliche Intention und idiosynkratische Motivation, die sie zur Fotografie geführt hat. Wollte man sie dennoch in eine Genealogie der Fotogeschichte fest einschreiben, so müssten im gleichen Zuge als ihre eigenen Vorbilder und Vorläufer so bekannte Künstlerfotografen wie August Sander, Lisette Model, Diane Arbus, Weegee, Robert Frank und William Eggleston genannt werden. Abschließend möchte man also auch im Fall Goldin gerne behaupten: Eine Einzelfotografie trifft eine Aussage, zwei Fotografien that a photograph can be real any more. The search for reality, rather than the creation of a virtual reality, is essential to me. Reality is mysterious enough. It is the exploration of mystery that makes this work intense. These photographers are willing to explore the unknown, to take risks and put themselves on the line.« Kuratorisches Statement der Künstlerin, Les Rencontres d’Arles 2009, März 2009, unter: http://www.rencontres-arles. com/A09/C.aspx?VP3=CMS&ID=A09P398 (Stand: 13. Dezember 2009).
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dagegen beginnen schon einen Dialog und erzählen bereits eine kleine Geschichte. Mit ihrer Auswahl, Sortierung, Zusammenstellung, Ordnung und Reihung beginnt aber bereits auch ihre Fiktionalisierung. Goldins Fotografien werden gewöhnlich in Reihen, Serien, Gittern, Rastern und Gruppen inszeniert; immer wieder aus einer Vielzahl von Aufnahmen neu ausgewählt, jeweils neu sortiert, variiert und erneut zusammengestellt, gereiht und arrangiert, etwa für eine Präsentation als Dia-Show,11 Videoclip oder als Fotobuch. Dafür mit deskriptiven oder assoziationsreichen Bildtiteln versehen, zu mit Leitmotiven geordneten Sequenzen strukturiert oder in Kapiteln gruppiert, mit oder ohne Kommentierung und/oder mit einem atmosphärischen oder suggestiven Soundtrack unterlegt, werden Goldins Bilder jeweils für ihre öffentliche Präsentation auf- und vorbereitet. Rhetorisch derart rhythmisiert, ergeben sich bei der Betrachtung dann bereits narrative, oder wie Arthur C. Danto formuliert hat, »sub-narrative« Zusammenhänge. Goldins strukturierte Fotosequenzen beginnen in der Tat zu erzählen, von der »Geschichte ihres Lebens als eine mit dem Leben ihrer Freunde verflochtene – eine eindrückliche Geschichte, beinah romanesk, voller gefährlicher Liebschaften, sexueller Experimente, Drogen, Gewalt, Krankheit und Tod. Die Geschichte berührt uns derart, dass sie unsere Reaktion auf jedes weitere Bild, das wir zu sehen bekommen, beeinflusst.«12 Nan Goldin (melo-)dramatisiert die Einzelfotografie, indem sie mehrere Bilder in das variable Gefüge eines visuellen Reimes bringt, in die Komposition einer universaleren Erzählstruktur fügt, die den essentiellen Stoff hergibt für eine jeweils neue performative Aufführung vor einem Publikum. So entsteht ein langer, bislang unabgeschlossener Fotoroman, zusätzlich unterlegt mit einer Tonspur, der wie Chris Markers La Jetée (1962) die Grenze zum Film berührt.13
11 Zum Einsatz des Diapositivs in der Kunst des 20. Jahrhunderts vgl. Alexander, Darsie (Hg.): Slide Show. Projected Images in Contemporary Art. Baltimore, 2005. 12 Danto, Arthur C.: »Zwischen den Welten. Nan Goldins neue Fotografien«. In: Parkett, Nr. 57, Zürich, 1999, S. 80-84, hier S. 80. 13 Vgl. Nan Goldins Tendenz zum Film: »For years I hated photography. I believed anyone could do it. All you had to do was point the camera, maybe focus it, and there it was, a picture. Especially with the advent of digital cameras and phones there was an onslaught of pictures everywhere. I have always felt that I was being lazy, using photos as my major art form while what I really wanted to do was to make films, an art form that incorporated photography, narrative, literature, and music. Film is the great influence on my life, my greatest field of knowledge, what I most respect and learn the most from. That is the reason I make slide shows, which are similar to films made out of stills.« Goldin 2009 (wie Anm. 10).
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Mit der dialektischen Unterscheidung zwischen dokumentarisch oder inszeniert, authentisch oder fiktiv, fiktional oder non-fiktional hängt außerdem immer noch auch die Frage nach der Wahrheit und Wirklichkeit zusammen, obwohl doch nach Jacques Rancière gerade die Besonderheit des repräsentativen Regimes der Kunst darin besteht, die Vorstellung der Fiktion von der Vorstellung der Lüge getrennt zu haben.14 Es wäre also auch in unserem Zusammenhang zu fragen, ob nicht im Hinblick auf die Bedeutung und Aussage der Fotografie in Goldins Werk etwas als wahr und gültig angesehen werden müsste und nicht bloß in Hinblick auf die Ebene ihrer Repräsentation, die stets in einem engen Bezugsrahmen von Technik, Medium und Kontext (zum Beispiel der Tradition und Geschichte der Bilder) bleibt. Abgesehen davon wäre zu überlegen, welches Medium heute überhaupt die (eine) Wahrheit zu repräsentieren vermögen würde? Was, wann und wie können Fotografien überhaupt über diese (eine) Wirklichkeit erzählen? Und von welcher Art Fotografie sprechen wir dabei eigentlich? Gibt es heute nicht – wiederum mit Baudrillard gesprochen – viele fraktale Wahrheiten und Wirklichkeiten, die sich für den Betrachter einer Fotografie jeweils subjektiv als fragiles temporäres Konstrukt konstituieren? Und sollte nicht auch die künstlerische Fotografie sich eher diesen Modalitäten ganz verschreiben? Das künstlerisch herausstechende indexikalische Einzelbild ist doch ohnehin vom Künstler bewusst oder unbewusst immer auf eine Ikonizität mit inszenierten respektive fiktionalen Anklängen angelegt, weil damit letztlich auch sein Kunstcharakter markiert wird. Das heißt, anstelle immer nur die Operation des Fingierens und Inszenierens zu unterstellen, wenn die Darstellung von objektiven Fakten mit subjektiven Formen und
14 Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hrsg. v. Maria Muhle. Berlin, 2006, S. 57: »Die Besonderheit des repräsentativen Regimes der Künste besteht darin, die Vorstellung der Fiktion von der Vorstellung der Lüge getrennt zu haben. Dieses Regime sondert die Formen der Künste ab von der Ökonomie der gemeinsamen Beschäftigungen und von der Gegen-Ökonomie der Trugbilder, die unter das ethische Regime der Bilder fallen. Genau darum geht es in der Poetik des Aristoteles. Aristoteles entzieht die Formen der poetischen mimesis Platons Verdacht gegenüber der Beschaffenheit und Bestimmung der Bilder und behauptet so, dass Handlungen in Form eines Gedichts anzuordnen nicht bedeutet, ein Trugbild herzustellen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein Wissensspiel, das sich auf einen bestimmten Zeit-Raum beschränkt. Fingieren bedeutet nicht, Illusionen hervorzurufen, sondern verständliche Strukturen zu entwickeln. Die Poesie braucht über die ›Wahrheit‹ dessen, was sie sagt, keine Rechenschaft abzulegen, weil sie prinzipiell nicht aus Bildern und Aussagen besteht, sondern aus Fiktionen, das heißt aus dem Anordnen von Handlungen.«
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In Oszillation zwischen Authentizität und Fiktion
strukturellen Modellen des Verstehens kombiniert wird, beispielsweise durch die Verwendung von tradierten Bildformeln und Bildmotiven, kann am Beispiel Nan Goldin demonstriert werden, wie über ein freies Zitat, eine Bildparaphrase oder die Adaption einer bestimmten medialen Bildtradition in der fotografischen Indexikalität gleichzeitig auch bildliche Ikonizität aufgerufen wird, die in symbolischer Universalität und transzendenter Exemplarität den Wahrheitscharakter der fotografischen Repräsentation strategisch und taktisch ver- oder bestärkt. Wie überhaupt Fotografien weniger als Dokumentationen denn als Gestalt nehmende Wirklichkeiten mit symbolischem Wahrheitsanspruch verstanden werden müssen. Wahrheit und Wirklichkeit müssen im Akt des Fingierens und Inszenierens eben nicht unbedingt durchkreuzt und negiert werden, sondern können vielmehr auf eine höher kodierte, symbolische Ebene, auf eine ikonische Realität, transportiert werden, deren Differenz zur realen Realität schließlich Voraussetzung für eine Einbettung in das Kunstsystem wird, wenn man Niklas Luhmann folgen möchte. So beanspruchen Nan Goldins Fotoarbeiten demnach auch den gleichen Wahrheitsgehalt wie den von Romanen. Fiktion und Narration stellen sich bei Nan Goldin aber erst über die Gebrauchs- und Rezeptionsweisen hinaus in ihren Fotografien ein. Die Fiktionalisierung der Einzelbilder beginnt zuvörderst in ihrer Auswahl und Anzahl, ihrer Zusammenstellung, Anordnung und gestalterischen Strukturierung, beispielsweise für einen Fotoband, den man in den Händen hält, oder für eine auch immersiv zu erfahrende ton- und textunterlegte Dia-Installation. Narration und Fiktion entstehen demnach nicht allein in der Repräsentation der Fotografie, sondern vielmehr erst etwa durch eine bewusste Sequentialisierung, Strukturalisierung und Serialisierung im Modus der Präsentation. Sie ist ein Effekt des inneren und äußeren In-Szene-Setzens. Die Frage nach der zwischen ›inszeniert‹ und ›ungestellt‹ oszillierenden Fotografie muss folglich entschieden von der Ebene der Repräsentation auf die der Präsentation verschoben werden – auf die Frage nach ihrer inner- und/oder außerbildlichen Szenografie. Denn die szenografische Wahrheit und Wirklichkeit einer Fotografie bezieht sich immer nur auf die Wahrnehmung und Erfahrung, auf das Erlebnis und die Erkenntnis, die mit ihr verbunden werden (folgerichtig muss das für Nan Goldin etwas völlig anderes sein als für ihr Publikum), und nicht umgekehrt auf das, was darin vordergründig dargestellt wird, ob dies etwa mit irgendeiner vergangenen oder gegenwärtigen Realität strukturähnlich respektive irgendwie glaubwürdig übereinstimmt. Des Weiteren wäre zu fragen, welche Imaginationen und Projektionen der Betrachter am Fiktionalisierungsprozess beteiligt sind. Schließlich rekonstruieren die Betrachter gerade aus
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Pamela C. Scorzin
den visuellen Leerstellen und Lücken zwischen den einzelnen Bildern, die in den ausgewählten Präsentationsformaten besonders erkenntlich werden, jeweils eine eigene Geschichte heraus. Hier nimmt die Imagination und Phantasie der Betrachter den Faden der fragmentarischen Erzählung auf und spinnt ihn jede(r) auf seine/ihre Weise fort.15 Damit löst aber auch Nan Goldins Werk16 eine, nämlich ihre eigene, Geschichte am Ende in viele, unterschiedliche Geschichten der Betrachter auf.
15 Vgl. Hans Dieter Hubers Konzept in Huber, Hans-Dieter: »Schnittstelle Imagination«. In: kritische Berichte, Heft 4, Marburg, 2008, S. 54-59. 16 Siehe Scorzin, Pamela C.: »Nan Goldin. Auf der Suche nach der verlorenen Authentizität der Fotografie«. In: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Nr. 83, Heft 16, 2008; Wineberg, Jonathan; Robinson, Henri (Hg.): Fantastic Tales: The Photography of Nan Goldin. London, 2005.
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Fotografie und Fiktionalität JENS SCHRÖTER »Photographers, especially, can easily be unaware of fictional truths generated by their works.«1 Kendall L. Walton
Die Fragen, um die es hier gehen soll, sind einfach formuliert: Kann eine Fotografie etwas Fiktionales zeigen oder nicht? Und wenn ja, was sind die Bedingungen dafür? Diese Fragen schlüssig zu beantworten, ist allerdings schwierig und zwar mindestens aus zwei Gründen: Erstens scheint die Fotografie ein Medium zu sein, welches stärker als alle anderen Medientechnologien (die analoge Tonaufzeichnung vielleicht ausgenommen) an das konkrete Objekt oder den konkreten Prozess, welche aufgezeichnet werden, gebunden ist. In Anlehnung an Peirces Begriff des Index als eines über Kausalität bezeichnenden Zeichens wird das fotografische Bild in einer Reihe fototheoretischer Positionen als Spur der realen Objekte und Prozesse verstanden, die im Moment der Belichtung vor der Kamera waren. Diese Bindung an ein gewesenes konkretes Dieses scheint die Möglichkeiten für Fiktionalität im fotografischen Bild mindestens einzuschränken, wenn nicht – wie einige Autoren argumentiert haben – unmöglich zu machen. Zweitens ist der Begriff der ›Fiktion‹ schwierig zu definieren. Es gibt, vor allem in der Literaturwissenschaft und der Philosophie, eine ganze Reihe unterschiedlicher Versuche, den Begriff und die für die Gegebenheit einer ›Fiktion‹ relevanten Faktoren zu bestimmen. Die Bandbreite der Ansätze und ihrer wechselseitigen Kritiken ist so groß, dass sie in einem Aufsatz, ja selbst in einem Buch, kaum zu entfalten ist. Es scheint unvermeidlich, eine Entscheidung für einen Ansatz zu fällen und diesen dann anzuwenden. Es bietet sich an, einen Zugang zu wählen, der von seiner Anlage her nicht zu sehr auf ein der Fotografie ferner stehendes Medium – in der Regel ist dies
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Walton, Kendall L.: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge u. London, 1990, S. 88.
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Jens Schröter
die ›Literatur‹, soweit diese als Medium verstanden werden kann – zugeschnitten ist.
Die Fotografie, der Index und das gewesene Dieses Zunächst sei Fotografie auf eine belastbare Weise definiert: Zur Fotografie zählt jedes technische Verfahren, bei dem bestimmte Wirkungen elektromagnetischer Strahlung durch einen Sensor gespeichert werden (in der Regel die Amplitude und die Farbwerte, aber nur in der Holografie die Phase des Lichts). Diese Definition ist a) indifferent gegenüber der Frage, ob eine Linsenoptik zum Einsatz kommt oder ob es sich um eine Art von Fotogramm handelt; b) ist sie indifferent gegenüber der Frage, ob die Strahlung dem für Menschen sichtbaren Ausschnitt des elektromagnetischen Spektrums entspricht, so zählt auch die Aufzeichnung zum Beispiel ultravioletten Lichts dazu; c) gilt sie keineswegs nur für chemische Aufzeichnung – der allgemeine Begriff des Sensors bezeichnet hier jede Materie, die sich durch elektromagnetische Strahlung verändern lässt und die Veränderung auch aufzubewahren erlaubt (was man in der klassischen Fotografie die ›Fixierung‹ nennt) – also zum Beispiel auch elektronische Sensoren wie in frühen Videokameras oder quanten-elektronische Sensoren wie das heute in Digitalkameras übliche CCD; d) schließlich ist sie indifferent gegenüber der Frage, ob diese Aufzeichnung analog, also durch (Quanteneffekte unberücksichtigt) kontinuierliche Veränderung der betroffenen Materien oder digital, also durch diskretes Sampling und Quantisierung, vor sich geht.2
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Insbesondere der letzte Punkt mag – gerade wenn es um Fotografie und Fiktionalität – geht, irritieren, war (und ist) doch ein Vorurteil, digitale Fotografien seien qua ihrer digitalen Aufzeichnung (und ihrer leichteren, da mathematischen Manipulierbarkeit) weiter vom aufgezeichneten Realen entfernt und daher irgendwie ›fiktionaler‹. Vgl. zum Beispiel Batchen, Geoffrey: »Ectoplasm. Photography in the Digital Age«. In: Squiers, Carol (Hg.): Over Exposed. Essays on Contemporary Photography. New York, 2000, S. 9-23, hier S. 15: »The main difference seems to be that, whereas photography still claims some sort of objectivity, digital imaging is an overtly fictional process.« Diese Einschätzung in einem erstmals (leicht verändert) 1994 publizierten Text findet – wie in vielen anderen Texten aus etwa derselben Zeit – vor dem Hintergrund einer durch bestimmte ›postmodernistische‹ Positionen (vor allem im Werk von Jean Baudrillard) beschriebenen (oder verursachten?) epistemologischen Krise statt, die durch eine tendenzielle Auflösung des Realitäts-Begriffs gekennzeichnet ist. In diesem Sinne schreibt Batchen: »[W]e are entering a time when it will no longer be possible to tell any original from its simulations.« Batchen 2000
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Fotografie und Fiktionalität
Aus der Definition der Fotografie als einer Aufzeichnung eines Dieses über die von diesem Diesen emittierte Strahlung wurde abgeleitet, die Aufzeichnung sei indexikalisch. Der Begriff stammt aus der differenzierten Semiotik von Charles Sanders Peirce und bezeichnet Zeichen, die über Kausalität bezeichnen.3 Das fotografische Zeichen bezeichnet danach unter anderem indexikalisch, weil es kausal über die Strahlung mit der aufgezeichneten Szene verbunden ist.4 Es ist in diesem Sinne eine Spur. Und: Fotografie bedeutet ›Schrift des Lichts‹, nichts daran legt fest, wie diese Aufzeichnung vonstattengegangen ist, ob nun chemisch, analog-elektronisch (wie bei Video) oder digital. Das indexikalische Potential bleibt also von der Art der Aufzeichnung logisch unberührt. Für die Frage nach der Möglichkeit der Fiktionalität der Fotografie ist die Unterscheidung analog/digital prinzipiell irrelevant. Die natürlich analog wie digital mögliche Manipulation des Bildes werde ich hier bewusst ausklammern. Auch bei der digitalen Aufzeichnung der Strahlung einer Sze-
(wie oben), S. 10. Eine konzise Darstellung der Debatte zum Fiktionsbegriff vor dem Hintergrund dieser Tendenz zur ›Panfiktionalisierung‹ liefert Pfeiffer, K. Ludwig: »Zum systematischen Stand der Fiktionstheorie« [1987]. In: Ders.: Von der Materialität der Kommunikation zur Medienanthropologie.
Aufsätze zur Methodologie der Literatur- und Kulturwissenschaften 19772009. Hrsg. v. Ingo Berensmeyer u. Nicola Glaubitz. Heidelberg, 2009, S.
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87-108. Ich habe in verschiedenen Texten versucht zu zeigen, dass die Vorstellung, das digitale Bild sei qua seiner Digitalität weiter von einem ›Realen‹ entfernt (und insofern ›fiktionaler‹), sowohl prinzipiell als auch historisch jeder Grundlage entbehrt. Vgl. Schröter, Jens: »Das Ende der Welt? Analoge vs. digitale Bilder – mehr und weniger ›Realität‹?«. In: Schröter, Jens; Böhnke, Alexander (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Geschichte und Theorie einer Unterscheidung. Bielefeld, 2004, S. 335-355, und Schröter, Jens: »›Wirklichkeit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie konstruiert‹ (Andreas Gursky)«. In: Heßler, Martina; Mersch, Dieter (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld, 2009, S. 201-218. So hat Peirce bereits 1903 den indexikalischen Aspekt der Fotografie betont. Vgl. Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt a.M., 1983, S. 65. Vgl. zu den Schwierigkeiten der Berufung auf Peirce bei der Konzeptualisierung der Fotografie Brunet, François: »›A better example is a photograph‹: On the Exemplary Value of Photographs in C. S. Peirce’s Reflection on Signs«. In: Kelsey, Robin; Stimson, Blake (Hg.): The Meaning of Photography. Williamstown, 2008, S. 34-49. Nach Peirce enthält aber jedes Zeichen indexikalische, ikonische und symbolische Momente und so ist auch ein Foto nie nur indexikalisch, bzw. hängt es von der Pragmatik ab, welcher Aspekt hervortritt. Vgl. Brunet 2008 (wie Anm. 3), S. 36, und Lefebvre, Martin: »The Art of Pointing: On Peirce, Indexicality, and Photographic Images«. In: Elkins, James (Hg.): Photography Theory. New York u. London, 2007, S. 220-244, hier S. 222.
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ne muss man nicht nachbearbeiten und kann gerade dann wieder die grundsätzliche Frage stellen, inwiefern die Aufzeichnung bestimmter Effekte der Strahlung einer Szene fiktional sein kann. Aus den indexikalischen Aspekten der fotografischen Aufzeichnung wurden allerdings – typisch für Diskurse, die nach ›Medienspezifik‹ suchen5 –, eine Reihe von Konsequenzen abgeleitet, die für die Frage nach der Fiktionalität in der Fotografie unmittelbar relevant sind. a) Fotografien zeigen immer nur ein singuläres Dieses – man kann nicht ›das Pferd‹ im Allgemeinen fotografieren, das man vielleicht malen kann,6 sondern nur dieses Pferd, welches gerade in dem Moment vor der Kamera stand. Roland Barthes schreibt: »Eine Photographie [...] sagt: das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts.«7 Und dies impliziert natürlich, dass das Dieses ein reales Dieses ist, eben eines, das Strahlung reflektieren kann. Daraus folgt: b) Fotografien zeigen immer nur Vergangenes – eben weil sie ein Dieses zeigen, das in der Vergangenheit Strahlung reflektiert hat. Im Blick auf das Fernsehen etwa könnte man maximal sagen, dass im weitesten Sinne fotografische Verfahren Gegenwärtiges woanders zeigen (Live-Übertragung). Doch da ich in meiner Definition der Fotografie die Aufzeichnung eingeschlossen habe – um der ›Grafie‹ Rechnung zu tragen –, sind solche Übertragungen, wenn nicht ausgeschlossen, so doch äußerste Randfälle.
Roger Scruton: Die ›fictional incompetence‹ der Fotografie Der Bezug auf ein vergangenes Dieses scheint die Fotografie einerseits für im weiteren Sinne dokumentarische Darstellungen in Wissenschaft, Polizei, Militär, Medizin und nicht zuletzt Journalismus ideal geeignet zu machen, während er andererseits jede fiktionale Nutzung verunmöglicht. So hat zum Beispiel Roger Scruton in seinem schon 1983 erschienenen Essay Photography and Representation argumentiert. Ausgehend von der – eben erläuterten – Bestim5
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Vgl. Doane, Mary Ann: »Indexicality and the Concept of Medium Specificity«. In: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, Jg. 18, Nr. 1, Durham, 2007, S. 128-152. Sie hat überdies bemerkt, dass Peirce’ Begriff des Index die beiden ganz verschiedenen Aspekte der Spur und der Deixis umfasst. Meines Erachtens schließt die Bestimmung des Indexes als eines über Kausalität bezeichnenden Zeichens aber beide ein. Aber muss man sich nicht auch beim Malen eines Pferdes zum Beispiel für ein braunes Pferd entscheiden, was automatisch alle weißen Pferde auszuschließen scheint? Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie. Frankfurt a.M., 1989, S. 12. Vgl. Doane 2007 (wie Anm. 5), S. 133.
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mung »that the relation between a photograph and its subject is a causal relation« schließt er: »Of course I may take a photograph of a draped nude and call it Venus, but insofar as this can be understood as an exercise in fiction, it should not be thought of as a photographic representation of Venus but rather as the photograph of a representation of Venus. In other words, the process of fictional representation occurs not in the photograph but in the subject: it is the subject which represents Venus; the photograph does no more than disseminate its visual character to other eyes. This is not to say that the model is (unknown to herself) acting Venus. It is not she who is representing Venus, but the photographer, who uses her in his representation. But the representational act, the act which embodies the representational thought, is completed before the photograph is ever taken.«8 Die Lage ist also klar: Die Fotografie ist nach Scruton durch eine prinzipielle »fictional incompetence«9 gekennzeichnet. Die Fotografie eines als Venus verkleideten, Venus verkörpernden Mädchens fügt dieser Szene nichts hinzu. Scruton behauptet eine Äquivalenz – McIver Lopes wird dies in einem gleich zu diskutierenden Kommentar zu Scruton ›equivalence thesis‹ nennen – des fotografischen Bildes mit der fotografierten Szene. Die Fotografie übernimmt hier keine andere Funktion, als die Szene an die Augen eines temporal entfernten Beobachters zu übertragen – ähnlich wie ein Spiegel. Scruton beruft sich dabei auf Sir Oliver Wendell Holmes’ viel zitierte Beschreibung der Fotografie als »mirror with a memory«.10 Offenkundig ist die Gleichsetzung der fotografierten Szene mit der Fotografie der Szene problematisch, obwohl das Argument von Scruton nicht einfach zu widerlegen ist. Scruton argumentiert, dass eine Fotografie als Fotografie zu verstehen, eben bedeutet, zu verstehen, dass das Bild kausal mit der Szene, die es abbildet, verbunden ist. Das entspricht der in verschiedenen gegenwärtigen Ansätzen üblichen Beschreibung des fotografischen Zeichens als Index. Man muss also eine Argumentation finden, die zeigt, dass eine Fotografie als Fotografie zu verstehen, mehr und/oder anderes bedeutet, als zu verstehen, dass sie kausal, indexikalisch auf eine Szene verweist.
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Scruton, Roger: »Photography and Representation« [1983]. In: Carroll, Noël; Choi, Jinhee (Hg.): Philosophy of Film and Motion Pictures. Malden u.a., 2006, S. 19-34, hier S. 25. Siehe auch ebenda S. 29. 9 Scruton 2006 (wie Anm. 8), S. 25. 10 Holmes, Oliver Wendell: »The Stereoscope and the Stereograph«. In: Atlantic Monthly, Jg. 3, Nr. 20, Boston u. London, Juni 1859, S. 737-748, hier S. 739.
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Dominic McIver Lopes’ Ästhetik der Transparenz – Fotografie, Fiktion. Es gibt in Reaktion auf Scrutons Position eine komplexe Diskussion, die ich hier nur abgekürzt wiedergeben kann. Das meines Erachtens wichtigste Gegenargument wurde 2003 in einem Aufsatz von Dominic McIver Lopes entwickelt. Auch seine Argumentation kann ich hier nur umreißen. Er bezieht sich auf Kendall Waltons Begriff des ›Seeing-Through‹, des Hindurchsehens.11 Durch Fotografien sieht man hindurch auf den Gegenstand, sie sind in diesem Sinne transparent. Er schreibt: »To say that photographs are transparent is to say that we see through them. A person seeing the photograph of a lily, literally sees a lily.«12 Das klingt eigentlich genauso wie Scrutons Argument, aber nach ein paar Argumentationsschritten betont der Autor: »Seeing an object through a photograph is not identical to seeing it face-to-face. The transparency claim shows only that the interest one may properly take in seeing a photograph as a photograph is necessarily identical to the interest one may properly take in seeing the photographed object through the photograph. [...] Seeing through the surface does not block seeing the surface itself: photographic transparency is not photographic invisibility.«13 McIver Lopes betont ausdrücklich – und teilt mit Scruton – die Auffassung, dass eine Fotografie als Fotografie zu betrachten bedeutet, den Gegenstand zu betrachten. Eine Fotografie nur abstrakt, zum Beispiel hinsichtlich ihrer formalen Struktur zu betrachten, heißt, sie nicht als Fotografie zu betrachten. Doch eine Fotografie als Fotografie zu betrachten, bedeutet auch die Differenz zwischen dem fotografierten Gegenstand und dem Gegenstand selbst zu beachten. Eine Differenz, die uns Aspekte am Gegenstand zu erschließen vermag, die wir in direkter Begegnung mit dem Gegenstand nicht wahrnehmen könnten – in diesem Sinne könnte man Benjamins viel zitierte Formel vom ›Optisch-Unbewussten‹ verstehen. McIver Lopes beschreibt fünf Aspekte dieser Differenz – und es sind Aspekte, die uns in vielen Punkten banal vorkommen, aber das zeigt eben nur, dass es sich um die alltägliche Wahrnehmung einer Fotografie als Fotografie handelt. Diese Punkte sind: a) Fotografien fixieren einen Moment (jedenfalls wenn kurz genug belichtet); b) Fotografien zeigen uns den Gegenstand in seiner Abwesenheit; c) Fo-
11 Vgl. Walton, Kendell: »Transparent Pictures: On the Nature of Photographic Realism«. In: Critical Inquiry, Jg. 11, Nr. 2, Chicago, Dezember 1984, S. 246-277. 12 McIver Lopes, Dominic: »The Aesthetics of Photographic Transparency«. In: Carroll/Choi 2006 (wie Anm. 8), S. 35-43, hier S. 38. 13 McIver Lopes 2006 (wie Anm. 12), S. 40.
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Fotografie und Fiktionalität
tografien isolieren den Gegenstand mehr oder weniger von seinem Kontext – und rücken ihn bei der Ausstellung des Fotos in einen neuen Kontext; d) Fotografien zeigen den Gegenstand in der Regel in der Präsenz der Kamera, was insbesondere bei Fotografien von Personen eine Rolle spielt und schließlich e) Fotografien zeigen den Gegenstand und zugleich sich selbst (zum Beispiel in der Absenz der Farbe oder in der veränderten Größe des Objekts). Ausgehend von dieser Liste an Differenzen versucht McIver Lopes eine Ästhetik der Fotografie zu begründen – was an Arnheims Versuche erinnert, die Ästhetik des Films gerade auf dessen Differenz zur alltäglichen Wahrnehmung zu gründen.14
Kontextualisierung und Fiktion? Doch hier interessiert eine andere Frage: Kann man ausgehend von dieser Argumentation etwas zur Möglichkeit von Fiktionalität in der Fotografie sagen? McIver Lopes tut das leider nicht, tatsächlich spricht er nur von »documentary aesthetics«.15 Mir scheint, dass, wenn überhaupt, der Weg nur über den Punkt c), das heißt die Deund Rekontextualisierung führen kann. Nehmen wir als Beispiel das Foto eines Zebras (Abb. 1): Ich kann durch das Foto hindurch dieses vergangene Tier sehen und es zum Beispiel wegen seiner Schönheit bewundern. Doch: Ich kann auch einen Wikipedia-Eintrag zur Tierart ›Pferd‹ anlegen und eben dasselbe Foto als Illustration für diesen Artikel nehmen. Durch diese De- und Rekontextualisierung passiert etwas Merkwürdiges: Das Foto des Zebras (Abb. 2), da es einen Artikel über das ›Pferd‹ im Allgemeinen illustriert, bezeichnet erstens nicht mehr allein dieses Zebra, sondern auch alle weißen Pferde etc. Es wird vom singulären (mindestens auch) zum generellen Bild. Dies bedeutet aber zweitens, dass es nicht mehr nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft bezeichnet.16
14 Vgl. Arnheim, Rudolf: Film als Kunst. Berlin, 1932. 15 McIver Lopes 2006 (wie Anm. 12), S. 41. Vgl. den Versuch, eine solche Ästhetik empirisch zu begründen in Espe, Hartmut: »Realism and the Semiotic Functions of Photography«. In: Borbé, Tasso (Hg.): Semiotics Unfolding.
Proceedings of the Second Congress of the International Association for Semiotic Studies Vienna, July 1979. Vol. III. Berlin u.a., 1984, S. 14351442. 16 Vgl. aber schon Barthes 1989 (wie Anm. 7), S. 106: »Das punctum aber ist dies: er wird sterben.« In seiner Beschreibung des Fotos eines zum Tode verurteilten Verbrechers aus dem 19. Jahrhunderts, sieht Barthes die Möglichkeit, dass das Foto auch eine Zukunft bezeichnet. Allerdings ist diese Zukunft erst aus der Zukunft heraus lesbar, während im Falle der ›Genera-
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Abb. 1 und 2: Foto eines Zebras (links) und Screenshot des Wikipedia-Eintrags »Pferde« (rechts) Denn selbstverständlich erhebt ein Artikel über das Pferd im Allgemeinen inklusive seiner Illustrationen auch den Anspruch, alle Pferde zu bezeichnen, die noch geboren werden. Im Übrigen gilt das für viele, nicht alle17 Fotografien im Kontext der Werbung: Es ist der Zweck von Werbung, mehr oder weniger unspezifische Personengruppen zu adressieren. Zum Beispiel soll ein blonder großer Mann in einer Werbung für Versicherungsprodukte auch alle kleinen dunkelhaarigen Männer bedeuten. Jedenfalls: Dieses Potential der Desingularisierung verbindet Edward Branigan nun ausdrücklich mit der Möglichkeit, Fotografien fiktional zu gebrauchen: In dem Kapitel ›Fiction‹ aus seiner Studie Narrative Comprehension and Film schreibt er: »A person in a photograph can be simultaneously both specific and (fictionally) nonspecific in the same way a photograph of a tiger in a dictionary can be both a specific tiger and many tigers [...].« Und weiter: »The object photographed seems to testify its own existence. Nevertheless, when the photograph is construed as a fictional entity, it becomes a picture of a nonspecific object. Our interpretation is not constrained by the particularity of detail in the photograph but acts to hold reference open while building complex predicates about what the photograph pictures.« 18 Es deutet sich eine Möglichkeit der Antwort auf Scrutons vernichtendes Urteil der ›fictional incompetence‹ an: Selbst ein Foto eines Objekts oder Prozesses, die gar nicht eine Fiktion verkörpern, darstellen oder aufführen sollten (wohingegen in Scrutons Beispiel des Fotos des Mädchens, das Venus verkörpert, eine Szene fotografiert wird, die eine Fiktion darstellen soll), können unter bestimmten Bedingungen dennoch als Darstellung einer fiktionalen Entität verstanden werden. These: Wenn es gelingt, den Nachweis zu führen,
lisierung‹ eines Fotos dieses schon in der Gegenwart eine Zukunft bezeichnen kann. 17 Eine Fotografie eines bekannten Stars in einer Werbung soll genau diese Person bezeichnen. 18 Branigan, Edward: Narrative Comprehension and Film. London u. New York, 1992, S. 198.
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dass eine Fotografie als Fotografie qua ihres Potentials zur De- und Rekontextualisierung das Foto eines nicht-fiktional intendierten Objekts in das Foto eines fiktional lesbaren Objekts verwandeln kann, dann ist Scruton widerlegt und gezeigt, dass die Fotografie eine genuine fiktionale Kompetenz besitzt. Allerdings wirft Branigans Formulierung neue Fragen auf. Was heißt es denn, wenn »a photograph is construed as a fictional entity«? Offenbar spielt ein kognitiver Prozess der »interpretation« hier eine Rolle, in dem es um »building complex predicates about what the photograph pictures« zu gehen scheint. Was heißt das?
Fiktion Es sei zunächst auf den offenbar zentralen Punkt der De- und Rekontextualisierung des fotografierten Objekts zurückgekommen. Wenn die Frage nach der möglichen fiktionalen Kompetenz der Fotografie daran hängt, dass eine Fotografie das fotografierte Objekt de- und dann wieder anders re-kontextualisiert, dann hängt die fiktionale Kompetenz offenbar nicht allein an einer Fotografie, sondern an einer (oder mehreren) Fotografie(n) in einem spezifischen Kontext. Eine isolierte Fotografie, von was auch immer, ist an sich weder fiktional noch nicht-fiktional.19 Das kann man auch gegen Scrutons Argument zur fiktionalen Inkompetenz der Fotografie wenden: Sein Argument, die Fiktionalität eines Fotos-eines-Mädchens(-alsVenus) hinge an der präfotografischen Szene des Mädchen-alsVenus, setzt bereits implizit einen spezifischen Kontext voraus. Nämlich einen solchen zum Beispiel, in welchem das Foto nicht als Dokument eines historischen Mädchen-als-Venus-Verkleidungsstils aufgefasst wird (was ja keineswegs ein kurioser Spezialfall, sondern das alltägliche Brot von Kunst- und Medienhistorikern ist). Das heißt, negativ kann man die oben geforderte These bestätigen: Keine Fotografie einer fiktionalen Szene kann von sich aus garantieren, dass die Szene auch als fiktional verstanden wird. Was umgekehrt suggeriert, dass keine Fotografie garantieren kann, auch als Spur oder Dokument verstanden zu werden – das zeigt sich sowohl an der Interpretationsbedürftigkeit von Fotografien im journalistischen oder wissenschaftlichen Einsatz20 wie auch am Phänomen der ›Do19 Vorausgesetzt, man könne sie isolieren, denn jeder Akt der Isolation ist nur wieder die Überführung der Fotografie in einen neuen Kontext. Vgl. zur Irreduzibilität des ›Kontexts‹ immer noch Derrida, Jacques: »Signatur, Ereignis, Kontext«. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien, 1988, S. 291-314. 20 Vgl. Lefebvre 2007 (wie Anm. 4), S. 222: »Yet indexicality only becomes important when a sign (a photograph) is interpreted in such a way that its
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cufiction‹, also fiktionalen Pseudo-Dokumentarfilmen.21 Das heißt, die Frage nach der fiktionalen Kompetenz der Fotografie muss reformuliert werden zu der Frage, welche De- und Rekontextualisierungen eine, sagen wir: fiktionale Lesart einer gegebenen Fotografie zumindest nahelegen. Und diese Frage impliziert natürlich eine weitere, nämlich diejenige, was ›fiktionale Lesart‹ überhaupt bedeutet. Wir haben schon einen Hinweis erlangt – und kehren damit zu Edward Branigan zurück. Er schrieb, dass wenn »a photograph is construed as a fictional entity, it becomes a picture of a nonspecific object«. Branigan stützt sich dabei auf eine spezifische Interpretation des Begriffs der Fiktion, wie er 1987 von Hartley Slater vorgeschlagen wurde und der deswegen hier so interessant ist, weil er – im Kontrast zur anfänglichen Bestimmung der Fotografie – betont, dass fiktional verstandene Referenz partiell determinierte Referenz sei.22 Branigan: »Interpreting a symbol fictionally requires that one qualifies the immediacy of the symbol itself: its material presence must not imply an immediate reference, nor a simple reference to something atomic, nor indeed any reference at all, much less one that is true of false in our familiar world. Further information and calculation is required. [...] A fiction does not determine exactly epistemic value is understood to rely chiefly on its existential connection to what it stands for.« Dies zu sagen bedeutet keineswegs, den indexikalischen Aspekt der chemischen wie quantenelektronischen Fotografie in Frage zu stellen. Das Foto ist und bleibt (auch) eine Spur eines Objekts oder Ereignisses. Doch dass ein gegebenes Foto eine Spur ist, bedeutet noch nicht, dass BetrachterInnen verstehen, was das Foto zeigt, ja nicht einmal, dass es als Spur verstanden wird. Oft sind Bildbeschriftungen oder andere Ergänzungen (zum Beispiel der rote Kreis des investigativen Journalismus) vonnöten, um zu verstehen, auf was die fotografierte Spur verweist. Dies kann auch am Einsatz der Fotografie in Naturwissenschaften gesehen werden. Das Foto wird dort verwendet, weil es tatsächlich eine Spur eines realen Objekts oder Ereignisses festhält, nichtsdestotrotz benötigt das Foto Interpretation, um verstanden werden zu können. Vgl. zum Beispiel zu ›Reading Regimes‹ von Fotografien in der Geschichte der Teilchenphysik Galison, Peter: Image and Logic. A Material Culture of Microphysics. Chicago, 1997, S. 370-384. 21 Vgl. Rhodes, Gary Don; Springer, John Parris (Hg.): Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking. Jefferson u. London, 2006. Vgl. eine ›semio-pragmatische‹ Argumentation bezüglich des ›dokumentarischen Status‹ von Dokumentarfilmen bei Eitzen, Dirk: »Wann ist ein Dokumentarfilm? Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus«. In: montage/av, Jg. 7, Nr. 2, Berlin, 1998, S. 13-44, und Kessler, Frank: »Fakt oder Fiktion? Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder«. In: montage/av, Jg. 7, Nr. 2, Berlin, 1998, S. 63-78. 22 Vgl. Slater, Hartley: »Fictions«. In: The British Journal of Aesthetics, Jg. 27, Nr. 2, 1987, S. 145-155.
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which object or objects it represents, and this openness is what distinguishes fictional reference from other sorts of reference.«23 Anders gesagt: Ein Foto eines Pferds ist einerseits das Foto dieses spezifischen Pferds, jedoch fiktional gelesen – zum Beispiel im Kontext einer bebilderten Geschichte über einen Landadligen – wird es andererseits das Bild eines Pferdes. Aber anders als das generelle Pferde-Bild in einem Lexikon ist der Kontext nicht »overwhelmingly denotative and acts to limit and confine the range of possible referents to a specific class«,24 sondern im Laufe der Geschichte sind wir als BetrachterInnen und LeserInnen angehalten, erst herauszufinden, welche Attribute dem Pferd zukommen. Ist es nur ein Pferd, auf dem der Adlige reitet? Ist es eine Art Gefährte oder ein Symbol für Freundschaft? Stellt sich vielleicht heraus, dass es ein verzauberter Prinz ist? Fiktional ist also nicht, was als fiktional interpretiert wird – das wäre eine Tautologie –, sondern fiktional ist, was prozessual als Form partiell determinierter Referenz interpretiert wird – und das hängt vom Kontext ab, nicht davon, ob eine bereits inszenierte Szene aufgenommen wurde. Branigan bezieht Fiktion auf einen spezifischen kognitiven Prozess,25 in dem Schritt für Schritt eine anfänglich indeterminierte Referenz angereichert wird.26 Dieser Prozess muss gelernt werden. Branigan betont, dass einigen Studien zufolge Kinder erst ab ca. sieben Jahren verstehen können, was eine Fiktion ist. Der Prozess der Fiktionsbildung wird in der Regel durch konventionalisierte Markierungen ausgelöst (in der Literatur zum Beispiel ›Es war einmal‹),27 die gleichwohl keine fiktionale Lektüre garantieren, zumal
23 Branigan 1992 (wie Anm. 18), S. 194. 24 Branigan 1992 (wie Anm. 18), S. 198. 25 Vgl. auch Harding, D.W.: »Psychological Processes in the Reading of Fiction«. In: The British Journal of Aesthetics, Jg. 2, Nr. 1, Oxford, 1962, S. 133-147. 26 Diese Beschreibung scheint auch mit einigen anderen fiktionstheoretischen Positionen kompatibel zu sein. So ist der von Walton 1990 vorgeschlagene Ansatz auch einer, der die Möglichkeit von Fiktion in einem geregelten ›Make-Believe‹-Spiel ansetzt, also ebenfalls auf der Seite der Rezeption verortet. Selbst Wolfgang Iser spricht vom ›Akt des Fingierens‹, wiewohl er diesen eher auf die Produktionsseite bezieht. Siehe Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M., 1993. 27 Branigan 1992 (wie Anm. 18), S. 200f. Branigan zählt verschiedene Beispiele für solche Markierungen im Film auf. In der Fotografie kann man etwa auf solche Beispiele wie die auffällige und der Bühnenbeleuchtung des Theaters entlehnte Lichtregie in den ansonsten wie ›dokumentarische‹ Straßenfotos wirkenden Fotografien von Philip-Lorcia diCorcia verweisen. Vgl. diCorcia, Philip-Lorca: Philip-Lorca diCorcia. New York, 2003.
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Markierungen des Dokumentarischen vorgetäuscht werden können (nochmal das Beispiel der ›Docufiction‹). Ein an dieser Stelle interessantes Beispiel dafür findet sich bei Douglas Crimp, dem – einer Kommentatorin zufolge – »erste[n] Theoretiker der inszenierten Fotografie«.28 Zum Untitled Film Still #21 (Abb. 3) von Cindy Sherman schrieb Crimp 1979: »Here is a picture: It shows a young woman with close-cropped hair, wearing a suit and hat whose style is that of the 1950s. She looks the part of what was called, in that decade, a career girl, an impression that is perhaps cued, perhaps merely confirmed by the fact that she is surrounded by the office towers of the big city. But those skyscrapers play another role in this picture. They envelop and isolate the woman, reinforcing with their dark-shadowed, looming facades her obvious anxiety, as her eyes dart over her shoulder ... at something perhaps lurking outside the frame of the picture. Is she, we wonder, being pursued? But what is it, in fact, that makes this a picture of presentiment, of that which is impending? Is it the suspicious glance? Or can we locate the solicitation to read the picture as if it were fiction in a certain spatial dislocation – the jarring juxtaposition of close-up face with distant buildings – suggesting the cinematic artifice of rear-screen projection?«29 Crimps Lektüre des Fotos von Cindy Sherman zeigt genau den Prozess einer Interpretation hin auf eine partiell determinierte Referenz (»to read the picture as if it were fiction«). Er stellt sich Fragen, was genau zu sehen ist. Und: »We do not know what is happening in these pictures, but we know for sure that something is happening, and that something is a fictional narrative. We would never take these photographs for being anything but staged.«30 Wir wissen nicht genau, was passiert, aber versuchen es herauszufinden – und das konstituiert ein »fictional narrative«. Shermans Betitelung als ›Untitled Film Still‹ lässt offen, was für ein Film es ist, aus dem dieses Still stammt oder natürlich genauer, auf welchen Film angespielt sein könnte. Es wird auch offengelassen, ob es überhaupt einen Film gibt, der als Muster gedient hat. Genau dieses Offenlassen markiert einen Einstieg in die fiktionale Lektüre des Fotos als nur partiell determiniert. Wir versuchen interpretierend eine Diegese um das Bild herum zu entwerfen, die uns eine hinreichend konsistente Erklärung gibt. Natürlich wird das Beispiel Untitled Film Still einen 28 Hammerbacher, Valeria Antonia: Das arrangierte Bild. Strategien malerischer Fiktion im Werk von Jeff Wall. Zugl.: Stuttgart, Univ., Diss., 2004. Stuttgart, 2004, S. 210, unter: http://elib.uni-stuttgart.de/opus/volltexte/ 2006/2483/pdf/Dissertation.pdf (Stand: 22. Juli 2009). 29 Crimp, Douglas: »Pictures«. In: October, Jg. 8, Boston, 1979, S. 75-88, hier S. 80 (Herv. J.S.). 30 Crimp 1979 (wie Anm. 29), S. 80 (Herv. von ›fictional narrative‹ J.S.).
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Abb. 3: Cindy Sherman, Untitled Film Still #21, 1978 Skeptiker vom Schlage Scrutons nicht überzeugen, denn wieder ist die prä-fotografische Szene selber inszeniert – wenn auch kaum in jenem Maße, wie das Mädchen-als-Venus-verkleidet. Dennoch ist es leicht, sich ein ›dokumentarisches‹ Foto einer Straßenszene vorzustellen, das genauso aussieht31 und durch seine Betitelung und seinen Kontext dennoch nicht als Dokument dient (oder dienen soll), sondern einen Prozess der Befragung der Referenz initiiert. Der Kontext hier, bei Crimp, ist der Film, der Bereich, aus dem auch Branigan seine vorwiegenden Beispiele entnimmt. Das verweist auf ein grundlegendes Problem der fiktionalen Lektüre von Fotografien – und auch anderen statischen Bildern. Fludernik bemerkt: »Fictionality typically surfaces in narrative form (including narrative poetry, drama and film); it is not generally employed to define poetry, sculpture or music, and in painting is restricted to specifically narrative representations.«32 In der Regel ist Fiktion mit dem Prozess der Narration verbunden und zwar deswegen, weil in diesem Prozess Schritt für Schritt Annahmen über den referentiellen Status der präsentierten Objekte gebildet, bestätigt oder verworfen werden können.33 Für ein selbst temporal nicht ausgedehntes
31 Die anderen Aspekte an Shermans Werk, die insbesondere auf ihrer Selbstinszenierung beruhen, seien hier ausgeklammert. 32 Fludernik, Monika: Towards a ›Natural‹ Narratology. London u. New York, 1996, S. 39. 33 Zur Narrationstheorie am Beispiel des Films vgl. natürlich generell Branigan 1992 (wie Anm. 18) und zum Unterschied von Narration und Fiktion speziell ebenda S. 192.
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Gebilde wie ein Gemälde oder eben ein Foto ist dieser Prozess schwieriger herstellbar, einzelne Fotos können weniger leicht Geschichten erzählen, folglich sind sie schwieriger als fiktional beschreibbar. Aber wie das oben gegebene Beispiel schon nahelegt, sind Strategien denkbar, in denen dieser Mangel an genuiner temporaler Ausdehnung kompensiert wird: Die Serie, die Bildergeschichte, installative Anordnungen, welche Fotografien enthalten.34 Solche Verfahren erleichtern die Möglichkeit fiktionaler Lektüren von Fotografien.
Medium und Zeichen Abschließend will ich auf eine letzte Konsequenz eingehen, auf die die Frage nach der Fiktionalität in der Fotografie stößt. Offenkundig ist diese Frage ein vorzüglicher Punkt, an dem sich die Differenz von Medium und Zeichen zeigt.35 Unterschwellig war ich oben von der Frage nach dem fotografischen Medium – obwohl es mit einem semiotischen Begriff als Index bestimmt wurde – zur Frage nach Bezeichnungsprozessen, also der Semiose übergegangen. Medial, medientechnisch scheint die Fotografie nur zum Spezifischen, Singulären, Vergangenen fähig zu sein; nichtsdestotrotz kann sie Unspezifisches, Generelles, Zukünftiges bezeichnen. Mit Wolfgang Iser könnte man sagen, dass im »Akt des Fingierens [...] die wiederkehrende Realität zum Zeichen«36 wird. Wenn dem aber so ist, hat das ruinöse Konsequenzen für das Konzept der ›Medienspezifik‹, vorausgesetzt man akzeptiert erstens dieses Konzept überhaupt und versteht zweitens unter ›Medienspezifik‹, dass aus der eindeutig beschreibbaren technischen Struktur eines gegebenen Mediums positive Konsequenzen für das damit Mögliche folgen oder daraus sogar normative Forderungen für die wünschenswerten ästhetischen Strategien abgeleitet werden (wie im Falle des an Clement Greenbergs kunstkritischen Texten orientierten High Modernism in der Malerei). Eher scheint Medienspezifik negativ abzugrenzen, was nun wirklich nicht 34 Die Tatsache, dass installative Anordnungen (wie auch Skulpturen oder Plastiken) aufgrund ihrer Dreidimensionalität in einem selbst stärker zeitlich ausgedehnten Betrachtungsprozess erfahren werden müssen, erlaubt wieder eher die Entfaltung narrativer Strukturen und daher auch potentieller fiktionaler Lektüren. Vgl. dazu einige der Beiträge in Winter, Gundolf; Schröter, Jens; Spies, Christian (Hg.): Skulptur – zwischen Realität und Virtualität. München, 2006; Winter, Gundolf; Schröter, Jens; Barck, Joanna (Hg.): Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen. München, 2009. 35 Vgl. Venus, Jochen: Masken der Semiose. Zur Semiotik und Morphologie der Medien. Berlin, 2009. 36 Iser 1993 (wie Anm. 26), S. 20.
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mit einem gegebenen Medium möglich ist (zum Beispiel eignet sich eine Fotografie nicht für das Empfangen von Radioprogrammen), während unterdeterminiert bleibt, welche Arten von semiotischen Prozessen mit einem gegebenen medialen Träger produziert werden können. Gerade am Beispiel der Fotografie zeigt sich, dass die möglichen Semiosen in Widerspruch zu der vermeintlich aus der medialen Spezifik ableitbaren Limitation solcher Semiosen treten können. Branigan benutzt eine Formulierung, die auf Fotografien, die in bestimmten Kontexten fiktional gelesen werden, besonders zuzutreffen scheint: »[T]o interpret a symbol fictionally is to operate in a precarious, intermediate zone between sets of possible references [...] and a specific reference.«37 Daraus könnte man – augenzwinkernd – doch eine Art normative Ästhetik ableiten. Wenn eine gegebene Fotografie immer in der Spannung zwischen ihren medientechnischen Limitationen und den offeneren Semiosen existiert, dann wäre keineswegs eine Fotografie, die sich auf die Ausstellung der indexikalischen Beziehung zur Welt reflexiv konzentrierte, ein besonders gelungenes Beispiel für eine Ästhetik der Fotografie. Vielmehr wären gerade die inszenierte Fotografie, die Fotoserie, die Fotobildgeschichte, die Installation mit Fotografien (also Fotografien, die fiktionale Lektüren ermuntern) geeignete Strategien, um diese Spannung zwischen Medium und Zeichen auszustellen, zu bearbeiten und in immer neuen Formen zu entwickeln. Eben das zeigt Cindy Sherman: Sie fotografiert sich selbst, das heißt im richtigen Kontext ist die abgebildete Person sehr spezifisch als Cindy Sherman zu identifizieren, zugleich inszeniert sie sich selbst in verschiedenen, relativ kontextunspezifischen – und darum eben Untitled – Film Stills. Crimp schreibt ja »to read the picture as if it were fiction«. Er schreibt nicht, dass das Untitled Film Still fiktional sei, sondern, dass wir es lesen (können), als ob es fiktional sei – und verweist damit pointiert auf diese Oszillation. Letztlich kann diese Oszillation aber gar nicht verwundern: »In order to be intelligible, fictional or imaginary universes have to be related to the world. An embodied sign, for instance a work of fiction or a painting, that is totally disconnected from – or better yet, ›unconnectable‹ to – our world is not only an impossibility but also would be beyond intelligibility. In this sense the ultimate object of our representations, including fiction, can only be reality (the one and only).«38 So gesehen kann man eine noch radikalere Conclusio ziehen: Gerade weil die Fotografie ein besonderes indexikalisches Potential besitzt, kann man sie zur Konstruktion elaborierter Fiktionen einsetzen. Der fiktionale Film – solange er auf fotografischen Verfahren
37 Branigan 1992 (wie Anm. 18), S. 194. 38 Lefebvre 2007 (wie Anm. 4), S. 232.
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beruht – operiert auf eben diese Weise. Weil er auf (auch) indexikalischen fotografischen Bildern beruht, können die mit ihm hervorgebrachten Fiktionen so überzeugend, bedrückend, beklemmend sein. Scruton hat das nicht verstanden, Cindy Sherman hingegen zeigt es auf das Deutlichste.
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Bayards Leichnam. Zu einem Exemplum des fotografischen ›Als-ob‹ LARS BLUNCK
Der Begriff der Fiktion hat einen schweren Stand in der Fototheorie. Dies mag damit zusammenhängen, dass es (anders als beim Spielfilm, das heißt beim fiktionalen Film) bei einem Foto bisweilen schwer fällt, von seiner indexikalischen Referenz auf die, mit Rudolf Arnheim gesprochen, »wirkliche Wirklichkeit«1 abzusehen. Und doch könnte ein theoretisch fundierter und an Fallbeispielen erprobter Fiktions-Begriff geeignet sein, viele Phänomene, die uns im weiten Feld des Fotografischen begegnen, besser zu begreifen. Entsprechend will der vorliegende Text einen Beitrag dazu leisten, den Begriff der Fiktion (sowie die Begriffe Fiktionalität und Fiktivität)2 in der fototheoretischen Diskussion zu etablieren – und dies an einem einzigen, indes aufschlussreichen Beispiel: Hippolyte Bayards sogenanntem Autoportrait en noyé. Diese Ikone der frühen Fotogeschichte bietet sich auch deshalb als Fallbeispiel an, weil sie in der foto-
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Arnheim, Rudolf: »Die beiden Authentizitäten der photographischen Medien« [1993]. In: Ders.: Die Seele der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk. Hrsg. v. Helmut H. Diederichs. Frankfurt a.M., 2004, S. 56-63, hier S. 56. Fiktion möchte ich mit Angela Keppler als »Repräsentation eines Geschehens, das nie oder nie so stattgefunden hat«, definieren. Keppler, Angela: »Fiktion und Dokumentation. Zur filmischen Inszenierung von Realität«. In: Wulf, Christoph; Zirfas, Jörg (Hg.): Ikonologie des Performativen. München, 2005, S. 189-200, hier S. 191. Repräsentation umfasst dabei immer zwei Seiten, die für jemanden aufeinander bezogen sind: das Repräsentierende und das Repräsentierte (für Darstellung entsprechend das Darstellende und das Dargestellte). Fiktivität ist auf der Ebene des Repräsentierten respektive Dargestellten, Fiktionalität auf der Ebene des Repräsentierenden respektive des Darstellenden angesiedelt. Mit anderen Worten: Etwas Dargestelltes ist fiktiv, das Darstellende fiktional.
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historischen Literatur bereits als »fiction photographique«,3 ja als »erste fiktionale Fotografie überhaupt«4 bezeichnet worden ist,5 allerdings ohne entsprechende Erläuterungen, was denn dies ist: fotografische Fiktion und fiktionale Fotografie, das heißt, ohne dass eine Theorie fiktionaler Fotografie auch nur in Ansätzen entwickelt wäre.
Bayard als Leichnam Vermutlich im frühen Herbst des Jahres 1840 fertigte Hippolyte Bayard (1801-1887), ein Beamter im französischen Finanzministerium und Pionier der Fotografie, mindestens drei dasselbe Thema variierende fotografische Aufnahmen an. Von diesen Fotos sollte vor allem eines unter dem nachträglichen Titel Autoportrait en noyé in die Fotografiegeschichte eingehen (Abb. 1).6 Es zeigt einen entkleideten, lediglich partiell in ein helles Tuch gehüllten Mann mittleren Alters. In sich zusammengesackt sitzt er auf einer Holzbank, den Kopf hat er seitlich angelehnt, die Hände ruhend aufeinander gelegt. Seine Augen sind geschlossen, der Gesichtsausdruck ist mild entspannt. Zu seiner Rechten hängt an der Wand ein voluminöser Strohhut, zur Linken befindet sich eine kleine Keramikvase, neben seinen Füßen steht eine (lediglich in den anderen beiden Aufnahmen eindeutig zu erkennende) Statuette.7 Alles in allem und verglichen mit zeit-
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Poivert, Michel: »Hippolyte Bayard en ›suicidé de la société‹. Le point de vue du mort«. In: Art press, Nr. 278, Paris, Dezember 2002, S. 22-25, hier S. 22. Vgl. auch Ders.: »Hippolyte Bayard et la prehistoriographie de la photographie«. In: Revue de l’art, Nr. 141, Paris, Herbst 2003, S. 25-30, hier S. 29. Siehe auch Pauli, Lori: »Setting the Scene«. In: Dies. (Hg.): Acting the Part. Photography as Theatre. London u. New York, 2006, S. 13-71, hier S. 13. Frizot, Michel: »Hippolyte Bayard: Der Ertrunkene«. In: Ders. (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie [frz. 1994]. Köln, 1998, S. 30. Vgl. auch Poivert, Michel: Hippolyte Bayard. Paris, 2001, o.S. (S. 10); Vogel, Fritz Franz: The
Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005. Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 2005. Köln, Weimar u. Wien, 2006, S. 40. 5
Zu einem frühen Versuch über das Verhältnis von Fiktion und Fotografie siehe Poivert, Michel: »Fiction et photographie: brève histoire d’un contrat«. In: Art press, Nr. 278, Paris, Dezember 2002, S. 15-21.
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Reproduktionen der beiden anderen Fotos finden sich in Gautrand, JeanClaude (Hg.): Hippolyte Bayard. Naissance de l’image photographique.
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Amiens, 1986, S. 219. Zu Bayards metaphorischem Gebrauch von Statuetten siehe Ballerini, Julia: »Recasting Ancestry: Statuettes as Imaged by Three Inventors of Photogra-
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Bayards Leichnam
gleichen fotografischen Aufnahmen eine doch recht eigentümliche Bildanlage.
Abb. 1: Hippolyte Bayard, Autoportrait en noyé, 1840 (recto) Auf der Rückseite dieses Fotos findet sich ein autografischer, auf den 18. Oktober 1840 datierter Nekrolog (Abb. 2), der gleich im ersten Satz den fotografisch Dargestellten namentlich identifiziert und die Aufnahme als eine postmortale ausweist: »Der Leichnam des Herrn, den sie umseitig sehen, ist der des Herrn Bayard.«8 Wer war dieser (hier als verstorben annoncierte) Bayard?
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phy«. In: Lowenthal, Anne W. (Hg.): The Object as Subject. Studies in the Interpretation of Still Life. Princeton, 1996, S. 41-58, hier S. 44-47. Dt. zit. n. Jammes, André: Hippolyte Bayard. Ein verkannter Erfinder und Meister der Photographie. Luzern u. Frankfurt a.M., 1975, S. 39: »Le cadavre du Monsieur que vous voyez ci-derrière est celui de M. Bayard. Inventeur du procédé dont vous venez de voir ou dont vous allez voir le merveilleux résultat. À ma connaissance, il y a à peu près trois ans que cet ingénieux et infatigable chercheur s’occupait de perfectionner son invention. L’Académie, le Roi, et tous ceux qui ont vu ses dessins, que lui trouvait imparfaits, les ont admirés comme vous les admirez en ce moment. Cela lui fait beaucoup d’honneur et ne lui a pas valu un liard. Le gouvernement, qui avait beaucoup trop donné à M. Daguerre, a dit ne pouvoir rien faire pour M. Bayard et le malheureux s’est noyé. Oh! Instabilité des choses humaines! Les artistes, les savants, les journaux se sont occupés de lui pendant longtemps et aujourd’hui qu’il y a plusieurs jours qu’il est exposé à la Morgue, personne ne l’a encore reconnu, ni réclamé, Messieurs et
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Abb. 2: Hippolyte Bayard, Autoportrait en noyé, 1840 (verso) Seine fotografiehistorische Stellung ist rasch umrissen. Seit 1837 hatte Hippolyte Bayard an der Entwicklung eines fotografischen Direktpositivverfahrens auf Papier gearbeitet und seine Anstrengungen 1839, unmittelbar nach Bekanntgabe der Erfolge Louis Jacques Mandé Daguerres, noch deutlich forciert.9 Daguerre hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Meriten für die Erfindung der Daguerreotypie erworben; die Entscheidung im Wettlauf um die Erfindung eines papierfotografischen Verfahrens stand indes noch aus.10 Im November 1839 hatte Bayard denn auch bei der Académie des Beaux Arts eine Arbeitsprobe eingereicht, die einer eigens eingesetzten Gutachter-Kommission unter dem Vorsitz des »ständigen Sekretärs der Akademie«, Raoul Rochette, immerhin abnötigte, »ihrer großen Zufriedenheit mit dem Verfahren des Herrn Bayard Ausdruck zu verDames, passons à d’autres, de crainte que votre odorat ne soit affecté, car la figure du Monsieur et ses mains commencent à pourrir, comme vous pouvez le remarquer, HB 18 octobre 1840«. 9 Zu einer ausführlichen Chronologie siehe Gautrand, Jean-Claude: »Hippolyte Bayard. Premier photographe français«. In: Ders. (Hg.): Hippolyte Bayard. Naissance de l’image photographique. Amiens, 1986, S. 7-73, hier S. 19-37. Zum technischen Procedere des direktpositiven Papierverfahrens Bayards siehe Passafiume, Tania: »Le positif direct d’Hippolyte Bayard reconstitué«. In: Etudes photographiques, Nr. 12, Paris, November 2002, S. 99-109. 10 Zur Konkurrenzsituation zwischen Bayard und William Henry Fox Talbot siehe Keeler, Nancy: »Souvenirs of the Invention of Photography on Paper: Bayard, Talbot, and the Triumph of Negative-Positive Photography«. In: Belloli, Andrea P. (Hg.): Photography. Discovery and Invention. Malibu, 1990, S. 47-62, hier S. 49f. u. 55.
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Bayards Leichnam
leihen und es mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dem Interesse und der Großzügigkeit der Regierung zu empfehlen«.11 Wenige Monate später, am 24. Februar 1840, war Bayard überdies an die Académie des Sciences heran getreten, um sein Verfahren dort ebenfalls vorzustellen, mit dem einleitenden und entschuldigenden Hinweis, er habe bislang »die Veröffentlichung des photographischen Verfahrens, dessen Erfinder ich bin, verschoben, weil ich es vorher so vollkommen wie möglich gestalten wollte«.12 Nun aber glaube er, so Bayard weiter, nicht länger warten zu dürfen, bekanntzugeben, »auf welche Art ich meine Erfolge erziele, damit mir niemand den Ruhm meiner Entdeckung streitig machen und eventuell von meiner Arbeit profitieren kann«.13 Zwar zeigten sich die Akademiemitglieder von Bayards Verfahren durchaus angetan, doch half es nichts: Während Dominique François Arago, Physiker und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, im Vorjahr im Gegenzug zur lizenzfreien Veröffentlichung des Daguerreotypieverfahrens in der Deputiertenkammer für Daguerre eine Leibrente von erklecklichen 4.000 Francs herausgeschlagen hatte, musste sich Bayard mit einer einmaligen staatlichen Zuwendung von 600 Francs für den Ankauf technischen Equipments bescheiden.14 11 Rochette, Raoul: »Rapport sur les dessins produits par le procédé de M. Bayard«, 2. November 1839, dt. zit. n. Jammes 1975 (wie Anm. 8), S. 16, frz. zit. in Gautrand 1986 (wie Anm. 6), S. 195: »[…] l’Académie serait priée de témoigner toute sa satisfaction du procédé de M. BAYARD et de le recommander, par tous les moyens qui sont en son pouvoir, à intérêt et à la générosité du gouvernement.« 12 Dt. zit. n. Jammes 1975 (wie Anm. 8), S. 12, frz. zit. in Gautrand 1986b (wie Anm. 9), S. 30: »J’avais différé jusqu’à ce jour de rendre public le procédé de photographie dont je suis l’auteur, voulant rendre auparavant ce procédé aussi parfait que possible; mais, comme je n’ai pu empêcher qu’il n’en transpirât quelque chose, et qu’on pourrait ainsi, en profitant plus ou moins de mon travail, m’enlever l’honneur de ma découverte, je ne crois pas devoir tarder plus longtemps à faire connaître la méthode qui m’a réussi.« 13 Dt. zit. n. Jammes 1975 (wie Anm. 8), S. 12, frz. zit. in Gautrand 1986 (wie Anm. 9), S. 30. Zur Streitigkeit um die Urheberschaft des Papierpositivverfahrens siehe Potoniée, G[eorges].: »H. Bayard, inventeur de la photographie sur papier«. In: Bulletin de la Société Française de Photographie, Jg. 3, Nr. 11, Paris, November 1913, S. 366-374, hier S. 368-371. Vgl. auch Eder, Josef Maria: Geschichte der Fotografie [1932]. New York, 1979, S. 462f.; Steinert, Otto: »Hippolyte Bayard, ein Erfinder der Fotografie«. In: Ausst.-kat. Museum Folkwang Essen: Hippolyte Bayard. Ein Erfinder der Fotografie. Aus der Sammlung der Société Française de Photographie. 25. November 1959 bis 3. Januar 1960 (Red. Marlis Steinert). Essen, 1959, S. 5-8, hier S. 7. 14 Zur ›Missachtung‹ Bayards siehe insb. Steinert 1959 (wie Anm. 13), S. 8.
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Entsprechend echauffierte sich der Autor des Nekrologs auf der Rückseite unseres Fotos über die Ungerechtigkeit, die Hippolyte Bayard widerfahren sei: »Die Akademie, der König und alle diejenigen, die diese Bilder gesehen haben, waren von Bewunderung erfüllt [...]. Das hat ihm viel Ehre, aber keinen Pfennig eingebracht. Die Regierung, die Herrn Daguerre viel zu viel gegeben hatte, erklärte, nichts für Herrn Bayard tun zu können. Da hat der Unglückliche sich ertränkt. Oh menschlicher Unbestand!«15 Offensichtlich will dieser Nachruf suggerieren, dass Bayard, dieser, wie es dort heißt, »begabte und unermüdliche Forscher«, dem einst die Aufmerksamkeit von »Künstler[n], Wissenschaftler[n] und Zeitungen« zuteil geworden war, sich mit seinem verzweifelten Freitod der Vergessenheit anheimgegeben habe, denn »heute«, so ist dort weiter zu lesen, »da er schon seit einigen Tagen im Leichenhaus aufgebahrt ist, hat ihn noch keiner erkannt oder sich seiner sterblichen Hülle angenommen«.16 Selbst wer das Bild bis dahin für die realitätsgetreue Wiedergabe eines echten Toten und den handschriftlichen Text mit der (die Autorschaft eher offenbarenden als verhehlenden) Signatur »H.B.« für einen authentischen17 Nachruf gehalten haben wird, muss und musste allerspätestens beim folgenden Satz der Fiktionalität des Textes und damit der Fiktionalität des Fotos gewahr werden, hieß es doch abschließend mit humoreskem Unterton: »Meine Damen und Herren, gehen wir zu anderen Dingen über, aus Furcht, dass Ihr Geruchsorgan in Mitleidenschaft gezogen wird, denn wie Sie bemerken können, beginnen das Gesicht und die Hände des Herrn bereits zu verwesen.«18 Natürlich war die Tönung der Hände und des Gesichts eine Folge der spätsommerlichen Sonnenbestrahlung. Und selbstverständlich wird jeder Zeitgenosse, der das Bild zu sehen bekam, den umseitigen Nekrolog als fingiert und das fotografisch Dargestellte mithin als fiktiv wahrgenommen haben. Bayards Leichnam verdankt seine bildliche ›Existenz‹ folglich weniger dem Prinzip foto-
15 Dt. zit. n. Jammes 1975 (wie Anm. 8), S. 39. 16 Dt. zit. n. Jammes 1975 (wie Anm. 8), S. 39. 17 Zum Begriff und zum Problemfeld der Authentizität siehe Berg, Jan; Hügel, Hans-Otto; Kurzenberg, Hajo (Hg.): Authentizität als Darstellung. Hildesheim, 1997. Authentizität meint nicht Faktizität, sie ist nicht nackte Tatsächlichkeit von etwas. Siehe hierzu auch Berg, Jan: »Techniken der medialen Authentifizierung Jahrhunderte vor der Erfindung des ›Dokumentarischen‹«. In: Hoffmann, Kay; Keitz, Ursula von (Hg.): Die Einübung des do-
kumentarischen Blicks. Fiction, Film und Non Fiction Film zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 1895-1945. Marburg, 2001, S. 51-70, hier S. 54; Wortmann, Volker: Authentisches Bild und authentisierende Form. Köln, 2003, passim. 18 Dt. zit. n. Jammes 1975 (wie Anm. 8), S. 39.
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grafischer Indexikalität und schon gar nicht dem, was Roland Barthes das »Ça-a-été«,19 das »Dies-ist-gewesen«20 einer Fotografie genannt hat; Bayards Leichnam ›existiert‹ vielmehr, ja ausschließlich als eine Fiktion, welche sich, wie ich sogleich aufzeigen werde, im Zusammenspiel von Foto, Nekrolog und der Imagination des Rezipienten entspinnt.
Der Leichnam des Herrn Bayard Das Foto und der umseitige Nekrolog fordern uns in ihrem Zusammenwirken (und forderten selbstredend die Zeitgenossen Bayards) dazu auf, eine, wie es in der Sprechakttheorie heißt, »So-tun-als-obEinstellung«21 gegenüber der dargestellten Wirklichkeit, gegenüber der Bildwirklichkeit, der Diegese einzunehmen. Mitnichten also täuscht das Foto uns dahingehend, dass auf ihm wirklich Bayard nach seinem Ertrinken abgebildet sei, sondern das Zusammenspiel von bildlicher Darstellung und kommentierendem Text ermutigt uns, das Foto anzusehen, als ob es Bayard als Ertrunkenen wiedergebe. Demzufolge dürfen wir durchaus von einem fiktionalen Foto sprechen, wenn man Fiktionalität als den Effekt einer spezifischen Rezeptionsweise versteht, »die in unserem Wissen durchgeführt« wird, »daß das Geschehen der Handlung«, in das sich eine fotografische Aufnahme vermeintlich einbettet, »frei erfunden ist«.22 Die genuine Qualität fiktionaler respektive als fiktional rezipierter Fotos besteht also weniger darin, ob (und wenn ja, in welchem Maße) durch sie suggeriert wird, das Dargestellte sei faktual, echt, wirklich oder dergleichen; vielmehr liegt das Charakteristische fiktionaler Fotos gerade darin, dass mit der fotografischen Darstellung (gegebenenfalls auch über ihren Kontext und bisweilen sogar ausschließlich über diesen) ein Appell an den Betrachter verbunden ist, das Foto als fiktional zu betrachten, also bloß so zu tun, als ob es sich um die Wiedergabe eines faktualen Sachverhalts handele – aller19 Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris, 1980, S. 120 u. 124. 20 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [frz. 1980]. Übers. v. Dietrich Leube. Frankfurt a.M., 1989, S. 87 u. 89 (Übers. geänd.). 21 Currie, Gregory: »Was ist fiktionale Rede?« [amerik. 1985]. In: Reicher, Maria E. (Hg.): Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Paderborn, 2007, S. 37-53, hier S. 42, amerik. in Ders.: »What is Fiction?«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Nr. 43, Hoboken, 1985, S. 385-392, hier S. 387: »make-believe«. 22 Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute [2005]. 2. Aufl. München, 2006, S. 229.
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dings immer im Bewusstsein, dass es sich eben gerade nicht um einen solchen handelt. Wie aber gelangen Rezipienten zu einer derartigen »So-tun-als-ob-Einstellung«? Wie genau wird diese durch Bild und Kontext motiviert? Aus der literaturwissenschaftlichen Fiktionstheorie ist bekannt, dass fiktionale Texte sich in der Regel »durch ein Signalrepertoire als fiktional zu verstehen«23 geben. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser spricht auch von einer »Selbstanzeige dessen was er [der Text, beziehungsweise in unserem Fall: es, das Foto] zu sein vorgibt«, kurz: von einem »Fiktionssignal«.24 Nun enthält allerdings ein Foto nicht immer absolut zuverlässige Binnenmerkmale, nicht immer hinreichend verbindliche bildimmanente Indikatoren, kurz: nicht immer eindeutige Fiktionssignale,25 die darüber Aufschluss geben würden, ob ein Foto sinnvollerweise als fiktional zu betrachten ist, ob also ihm gegenüber eine »Als-ob-Einstellung« einzunehmen ist. So könnte es sich auch bei Bayards Autoportrait en noyé (und dieser nachträgliche Titel ist ebenso wie der umseitige Nekrolog bereits ein Addendum und damit eine über die rein bildliche Darstellung hinausgehende kontextuelle Zutat) im Prinzip durchaus um eine, nochmals mit Arnheim, die »wirkliche Wirklichkeit«26 wiedergebende Aufnahme eines ruhenden, schlafenden oder eben auch verstorbenen Mannes handeln, so ungewöhnlich diese ›Wiedergabe‹ den Zeitgenossen auch erschienen wäre, beispielsweise aufgrund der Nacktheit und der ungewöhnlichen Körperhaltung. Welchen Dokumentarbegriff man auch vertritt, das Bild könnte grundsätzlich ein unverstelltes Zeugnis einer vorgefundenen, realen Situation sein; prinzipiell könnte es die »ungestellte Realität«27 des Leichnams Bayards im Leichenhaus zeigen. Nun mag man sich darüber streiten, ob Bayards Foto bildimmanente Fiktionssignale enthält und, wenn ja, wie eindeutig diese
23 Iser, Wolfgang: »Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text«. In: Henrich, Dieter; Iser, Wolfgang (Hg.): Funktionen des Fiktiven. München, 1983, S. 121-151, hier S. 135. 24 Iser 1983 (wie Anm. 23), S. 135f. 25 Allerdings bezeichnet ein Fiktionssignal nicht die Fiktion schlechthin, sondern das, was Iser den »›Kontrakt‹ zwischen Autor [Fotograf] und Leser [Betrachter]« nennt, demnach eben etwas als fiktional gemeint ist beziehungsweise aufgefasst wird. Er spricht auch von der »Entblößung der Fiktionalität«. Ein text- oder bildimmanentes Fiktionssignal werde »erst zu einem solchen durch bestimmte, historisch variierende Konventionen, die Autor und Publikum teilen und die in den entsprechenden Signalen aufgerufen werden«. Iser 1983 (wie Anm. 23), S. 135. 26 Arnheim (1993) 2004 (wie Anm. 1), S. 56. 27 Arnheim, Rudolf: »Die Fotografie – Sein und Aussage« [1978]. In: Arnheim 2004 (wie Anm. 1), S. 36-42, hier S. 39.
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ausfallen. Unzweifelhaft aber ist, dass der dem Bild beigegebene Nekrolog ein deutliches Fiktionssignal enthält, indem er die Betrachter warnt, ihr »Geruchsorgan« könne »in Mitleidenschaft gezogen« werden, da »das Gesicht und die Hände des Herrn bereits zu verwesen« begännen. Nicht nur muss es bereits dem zeitgenössischen Betrachter ausgesprochen unwahrscheinlich vorgekommen sein, dass die Tönung ausgerechnet der Hände und des Gesichts auf einen einsetzenden Verwesungsprozess zurückzuführen sein soll. Auch muss ihm der Hinweis, sein »Geruchsorgan« könne durch ein Bild in Mitleidenschaft gezogen werden, absurd erschienen sein. Bereits dieses gleichsam intertextuelle Fiktionssignal lässt die gesamte Darstellung im Lichte ihrer Fiktionalität erscheinen,28 ›irrealisiert‹ es doch ironisch den gesamten Text und den gesamten fotografischen Darstellungsgehalt, gleich wie viele »Realitätselemente«29 diese auch enthalten. Doch wie gesagt: Rein bildimmanent ließe sich vermutlich nicht mit Gewissheit klären, ob das Foto fiktional aufzufassen ist oder nicht. Die Motivation einer »Als-ob-Einstellung« ist also immer auch kontextabhängig. Eine einfache Überlegung mag dies verdeutlichen. Wenn eine Pariser Zeitung oder Wochenillustrierte im Oktober 1840 berichtet hätte, einer der Pioniere der Fotografie, Hippolyte Bayard, sei ertrunken in der Seine aufgefunden worden und läge derzeit in einer Leichenhalle, dann hätte diese Meldung für den damaligen Leser sicherlich einen faktualen Charakter gehabt; die Nachricht hätte sich auf ein aller Wahrscheinlichkeit nach reales Ereignis bezogen: das Auffinden und Aufbahren des Leichnams eines Fotografen. Anders im Falle eines Romans, der unter dem Titel Oh, menschlicher Unbestand vom Leben eines Pioniers der Fotografie namens Hippolyte Bayard erzählen und sein Schlusskapitel darin finden würde, dass der Protagonist sich vergrämt über all die Ungerechtigkeit, die ihm im Verlaufe der Erzählung widerfährt, in der Seine ertränkt. Der Leser dürfte bereits ob des Kontextes ›Roman‹ und im Zuge seiner Textpragmatik ›Romanlektüre‹ keine Schwierigkeiten haben, den Text als fiktional und die erzählte Geschichte als fiktiv aufzufassen, selbst wenn ihrem Protagonisten eine gleichnamige historische Persönlichkeit Pate gestanden hätte (und überdies ganz unabhängig davon, ob diese sich jemals ertränkt hätte oder nicht). 28 Geoffrey Batchen bemerkte zum intertextuellen Wechselspiel zwischen Bild und Text: »By undermining the veracity of the photographic image on its reverse, his text seems deliberately to call into doubt the assumed distinction between the literal and the figurative. For in the play he engineered here between text and image, everything is enmeshed with its other.« Batchen, Geoffrey: Burning with Desire. The Conception of Photography [1997]. Cambridge, 1999, S. 171. 29 Iser 1983 (wie Anm. 23), S. 139.
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Eine ähnliche Kontext- und Gebrauchsabhängigkeit wie die durch diese beiden Beispiele beschriebene lässt sich für Fotos und zweifelsohne auch für Bayards Aufnahme konstatieren. Wäre im Falle unserer Zeitungsmeldung die Nachricht vom unglücklichen Freitod Bayards beispielsweise begleitet gewesen von einem Foto oder einer Xylotypie nach einem Foto (was damals technisch noch nicht möglich gewesen ist) und hätte dieses den geborgenen Leichnam Bayards in der Weise des Autoportrait en noyé gezeigt, dann hätte sich – trotz aller Eigentümlichkeit der Aufnahme – das Foto im Zusammenhang der Zeitungsmeldung auf ein reales Ereignis bezogen und vermutlich eine entsprechende Bildlektüre nach sich gezogen, zumindest eine solche motiviert. Anders im Fall des uns vorliegenden Fotos: Es verhält sich (allermindestens kraft des intertextuellen Fiktionssignals) zu dem eben erdachten bildjournalistischen ›Dokumentarfoto‹ wie der Roman zur Zeitungsmeldung. Es appelliert nicht zuletzt vermittels des Nekrologs an seine Betrachter, sich, wie es in der literaturwissenschaftlichen Fiktionstheorie heißt, »die dargestellte Welt« bloß »so vorzustellen, als ob sie eine Welt sei«,30 und wir wollen ergänzen: als ob ein Element dieser Welt fotografisch wiedergegeben wäre, nämlich der Leichnam Bayards. Dieses Element der fiktiven Welt ist aber eben gerade nicht als solches fotomechanisch aufgezeichnet, abgebildet, wiedergegeben; es konkretisiert sich erst in der Einbildung der Betrachter. Denn bei fiktionalen Fotos sind es immer die Rezipienten, die eine Fiktion mit ›Leben‹ füllen und die dem Fiktiven kraft ihrer Einbildung Gestalt verleihen – eine imaginäre Gestalt.31 Fiktion ist somit letztlich erst Fiktion, wenn sich das Fiktive in der Imagination des Rezipienten als etwas rein Imaginäres entfaltet. Was das Foto an Bildwirklichkeit konstituiert, ergänzt und bereichert der Betrachter durch seine Imagination.32
30 Iser 1983 (wie Anm. 23), S. 141 (Herv. L.B.). 31 »Die Fiktion des Als-Ob erzeugt somit einen gelenkten Vorstellungsakt zu einer bestimmten, dem vorstellenden Bewußtsein vorgegebenen Welt, weshalb dieser Vorstellungsakt weder mit den Referenzen subjektiv bzw. objektiv zu verrechnen ist. Denn in diesem Vorstellungsakt selbst geschieht eine Grenzüberschreitung: die Vorstellung des Subjekts erfüllt die Textwelt mit Leben und realisiert dadurch den Kontakt mit einer irrealen Welt.« Iser 1983 (wie Anm. 23), S. 144. Man denke auch an Kants Wort von der Einbildungskraft als »das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen«. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1787]. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M., 1974, S. 148 (B 151). 32 »Wenn die Textwelt unter dem Vorzeichen des Als-Ob steht und damit signalisiert, daß sie nun wie eine Welt zu sehen oder vorzustellen sei, so be-
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Bayards Doublebind Wir halten fest: Bayards Aufnahme motiviert eine Lektüre des Bildes als Fiktion, die sich zunächst allenfalls insofern auf eine außerhalb ihrer selbst liegende Wirklichkeit bezieht, als a) es den Protagonisten der Diegese historisch gegeben hat (wenngleich er, wie wir wissen – und wie vermutlich bereits Bayards Zeitgenossen wussten – niemals den Freitod gewählt hat) und b) diese historische Person tatsächlich vor der Kamera gesessen hat (allerdings nicht als Ertrunkener, sondern als Darsteller eines Ertrunkenen). Wir kennen eine derartige Konstellation, in der jemand (in einer fiktiven Welt) als er selbst aufzutreten scheint, aus dem Kino, beispielsweise wenn John Malkovich in Spike Jonzes Spielfilm Being John Malkovich (1999) sich selbst, John Malkovich, darstellt oder aber wenn der französische Fußballer Eric Cantona sich selbst in Ken Loachs Looking for Eric (2009) verkörpert. Man könnte vielleicht meinen, dass es sich in solchen Fällen ja nicht um eine Darstellung (im Sinne einer Differenz zwischen Darstellendem und Dargestelltem) handelt, denn schließlich scheint es ja – um allein beim ersten Beispiel zu bleiben – der Schauspieler John Malkovich selbst zu sein, der uns in der Diegese begegnet. Aber natürlich ist, wie beim Anschauen des Films schnell deutlich wird, auch dieser Schauspieler Bestandteil einer fiktiven Welt und somit eine fiktive Figur – zumal sich eine weitere intradiegetische Figur, nämlich der von John Cusack dargestellte Puppenspieler Craig Schwartz buchstäblich Zutritt zu Malkovichs Bewusstsein verschafft, was (neben vielem anderen) an der Fiktionalität des Films und der Fiktivität seiner Handlung und Figuren nicht den geringsten Zweifel lässt. Gleichwohl soll innerhalb der Fiktion der Eindruck erweckt werden, als ob John Malkovich selbst in dieser ganz offenkundig fiktiven Welt präsent wäre, tatsächlich aber ist es bloß die Figur John Malkovich, dargestellt, wie gesagt, vom gleichnamigen Schauspieler. Kurzum: Beim Anschauen des Films begegnet dem Zuschauer eine fiktive Figur, die von jemandem dargestellt wird, der vorgibt, im Film er selbst zu sein. Mit Bayard und Bayards Leichnam verhält es sich ganz ähnlich – und doch noch ein wenig anders. Denn anders als der reale John Malkovich in Being John Malkovich ist der reale Bayard im fiktionalen Foto des Leichnams Bayards nicht nur intradiegetisch ›mitpräsent‹, sondern sogar virulent ›mitthematisch‹. Mag für andere fiktionale Fotos auch gelten, dass bei ihnen von einem spezifischen Be-
sagt dies, daß zur dargestellten Textwelt immer etwas hinzugedacht werden muß, das diese selbst nicht ist.« Iser 1983 (wie Anm. 23), S. 143.
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zug zu Aspekten faktischer Wirklichkeit abgesehen werden kann,33 so gilt dies für Bayards Aufnahme gerade nicht. Bei ihr ist das Fiktive rückgebunden an eine bildvorgängige »wirkliche Wirklichkeit«, nämlich an Bayards konkrete historische Situation im Jahr 1840. Und eben dies macht, wie ich abschließend zeigen möchte, einen besonderen Bildreiz dieses Fotos aus – ein Bildreiz, den ich als Doublebind zwischen fiktiver Wirklichkeit und faktischer Wirklichkeit bezeichnen möchte. Wenn es stimmt, dass die Fiktionalität und Fiktivität von Fotos insbesondere auch von deren Kontext und Pragmatik abhängt, dann wirft diese Tatsache eine interessante Frage bezüglich des Autoportrait en noyé auf, die meines Wissens bislang in der fotohistorischen Forschung überhaupt noch nicht gestellt wurde: In welchem Kontext konnte dieses Foto eigentlich von wem ursprünglich betrachtet werden? Wer waren seine Adressaten? Wir können hierüber mangels aussagekräftiger Quellen lediglich spekulieren. Und dennoch: Dass Bayard diesem Foto eine gewisse, wenn nicht gar besondere Bedeutung zumaß, lässt die Tatsache vermuten, dass er mindestens drei Versionen dieses Sujets (mit vielleicht gering zu erachtenden, tatsächlich aber beachtlichen Abweichungen) anfertigte,34 also offenkundig auf der Suche nach einer optimalen Darstellung war, die er in der hier besprochenen Bildvariante gefunden zu haben scheint. Nur sie ist mit dem rückseitigen handschriftlichen Nekrolog ausgestattet; genau dieses Bild also war vermutlich für einen bestimmten Verwendungszusammenhang gedacht. Doch für welchen? Es existiert, soweit ich es erkennen kann, ein Indiz, das auf einen möglichen ursprünglichen Verwendungszusammenhang dieses Fotos hinweist. Laut des Herausgebers des fotografischen Journals La Lumière, Ernest Lacan, soll es knapp einen Monat nach dem fotografisch fingierten Freitod Bayards (das heißt wenige Wochen nach der Datierung des Nekrologs) einen erfolglosen Versuch gegeben haben, doch noch eine angemessene staatliche Prämienzahlung an Bayard zu erwirken. Wir erinnern uns: Der ständige Sekretär der Académie des Beaux-Arts, Raoul Rochette, hatte im November 1839 zugesagt, die Akademie würde Bayards Verfahren »mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dem Interesse und der Großzügigkeit
33 Vgl. Seel, Martin: »Fotografien sind wie Namen« [1995]. In: Ders.: Ethischästhetische Studien. Frankfurt a.M., 1996, S. 82-103, hier S. 95. 34 Batchen hat angemerkt, dass die geringen kompositorischen Abweichungen zwischen den drei Fotos hinwiesen auf »the quite deliberate and thoughtful way in which it was designed«. Batchen (1997) 1999 (wie Anm. 28), S. 158.
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der Regierung [...] empfehlen«.35 Am 14. November des Folgejahres nun soll Rochette im Namen der Akademie im Innenministerium vorstellig geworden sein, um sich dort für Bayards Verfahren zu verwenden.36 Es wäre durchaus denkbar, dass Rochette dabei Arbeitsproben Bayards vorlegte, darunter unter Umständen das Autoportrait en noyé. Wenn dem so gewesen sein sollte, dann wären die Gutachter des Innenministeriums gewissermaßen mit einer Contradictio in adjecto konfrontiert gewesen: dem (vermeintlichen) Zeugnis vom Tode desjenigen, für den just um finanzielle Unterstützung ersucht wurde. Mehr noch: Bayards Bild wäre ihnen als ein fiktionales Foto erschienen – und zwar eines, das sich bis zu einem gewissen Grade als dokumentarisch carmoufliert (dies allerdings wiederum unter den Prämissen einer »übergeordnete[n] fiktionale[n] Strategie«).37 Wenn die Fiktionsfunktion des »Als-ob« auf der diegetischen Ebene meint, dass, wie Wolfgang Iser schreibt, »die dargestellte Welt eigentlich keine Welt ist, sondern aus Gründen eines bestimmten Zwecks so vorgestellt werden soll, als ob sie eine sei«,38 dann könnte dies ebenfalls für den (letztlich ja bloß fiktionalen) Dokumentationsanspruch gelten, den zu erheben dieses Foto vorgibt: Dieses ›Dokument‹ sollte, so könnte man mit Iser meinen, »aus Gründen eines bestimmten Zwecks so vorgestellt werden«, als sei es ein Dokument: Es sollte die Gutachter in einem raffinierten »Als-ob-Spiel«39 gleichsam beim schlechten Gewissen packen. Bayard bediente sich einer fotografischen Strategie, die für vieles von dem, was dann seit den 1980er Jahren unter dem Etikett ›inszeniert‹ firmiert, prägend werden sollte – eine Strategie, wie sie wiederum Roland Barthes im Hinblick auf das Prinzip der Fotomontage so treffend beschrieben hat: Bayard verwendete, wie es bei Barthes heißt, die »besondere Glaubwürdigkeit der Fotografie, die [...] ihr außergewöhnliches Denotationsvermögen ist, um eine in Wirklichkeit stark konnotierte Botschaft als bloß denotierte hinzustellen; bei keiner anderen Bearbei-
35 Rochette, Raoul: »Rapport sur les dessins produits par le procédé de M. Bayard«, 2. November 1839, dt. zit. n. Jammes 1975 (wie Anm. 8), S. 16, frz. zit. in Gautrand 1986 (wie Anm. 6), S. 195. 36 Siehe Ernest Lacan am 2. September 1854 in La Lumière, zit. in Gautrand 1986 (wie Anm. 6), S. 208. 37 Hattendorf, Manfred: »Fingierter Dokumentarfilm. Peter Delpeuts The Forbidden Quest (1993)«. In: Ders. (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfilms. München, 1995, S. 191-211, hier S. 208. 38 Iser 1983 (wie Anm. 23), S. 140. 39 Walton, Kendall L.: »Furcht vor Fiktionen« [amerik. 1978]. In: Reicher 2007 (wie Anm. 21), S. 94-119, hier S. 103, amerik. in Ders.: »Fearing Fictions«. In: The Journal of Philosophy, Jg. 75, Nr. 1, New York, Januar 1978, S. 527, hier S. 13: »a game of make-believe«.
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tung setzt die Konnotation so vollständig die ›objektive‹ Maske der Denotation auf.«40 ›Pseudo-denotativ‹, aber spielerisch könnte dieses Foto den Gutachtern des Innenministeriums eine mögliche Zukunft vorgestellt haben, die eintreten könnte, sollten sie in der Sache Bayard die falsche Entscheidung treffen. Die Fiktion des »Leichnams des Herrn Bayard« hätte dann, so meine These, dem Zweck gedient, auf Entscheidungsprozesse in der ›wirklichen Wirklichkeit‹ spielerisch, ironisch und dennoch interessegeleitet einzuwirken. Dass die von Bayard erwünschten und durch das Autoportrait en noyé provozierten Folgen dennoch ausgeblieben sind, spricht nicht gegen die bildstrategische Raffinesse dieses Fotos. Wohl aber mag dieser Umstand erklären, warum Bayard über viele Jahrzehnte einer der vergessenen Pioniere der Fotografie gewesen ist.
40 Barthes, Roland: »Die Fotografie als Botschaft« [frz. 1961]. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn [frz. 1982]. Übers. v Dieter Hornig. Frankfurt a.M., 1990, S. 11-27, hier S. 17.
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Da tut sich was! Überlegungen zur Semiotik narrativer Fotografien SANDRA MARIA GESCHKE
Nicht nur im täglichen Leben, auch in narrativen Fotografien tut sich was, und zwar immer. Der Grund hierfür liegt in der Verbindung von Handlung und Narration, welche im Folgenden durch eine Betrachtung beider Begriffe zunächst allgemein und dann in Bezug auf das fotografische Bild skizziert werden soll. Auf diese Weise möchte der Beitrag zeigen, dass der Barthessche Begriff des Punctums sich über das strukturell-semantische Wesen fotografischer Narrationen erschließen lässt und dass sich atmosphärische Gestimmtheiten in Fotografien als prädikative Verknüpfungen verstehen lassen, deren Bildkompositionen wie syntaktische Einheiten wirken und die metaphorische Kraft des Motivs mit energetischer Kraft erfüllen. Handlungen können als bewusste, sinnstiftende Aktionen eines Menschen in und mit der Welt, seinen Mitmenschen und sich selbst beschrieben werden. Sie sind intentional und aus diesem Grund stets rückgebunden an soziale Beschreibungen.1 Diese wiederum beziehen sich auf kulturell geprägte und gesellschaftlich vorgegebene Regelwerke, welche das sinnhafte Einordnen und systemische Zuordnen sowie Bewerten einzelner Handlungen ermöglichen. Handlungen im erzählerischen Kontext sind vor diesem Hintergrund als Ergebnisse eines medialen Herstellens von Welt zu verstehen. Sie drehen sich um ein Ereignis, welches das Sinnuniversum der Akteure durcheinanderbringt und den Plot strukturiert. Der Handlungsverlauf steuert dann fast immer auf einen Höhepunkt zu, der der Abschluss der Erzählung oder aber Ausgangspunkt für eine neue Story sein kann. Natürlich gilt es hier auch 1
Vgl. Hartmann, Aida: »Handlung«. In: Biti, Vladimir (Hg.): Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe. Reinbek, 2001, S. 320-325, hier S. 325.
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zwischen den narrativen Medientypen zu unterscheiden. Ein Roman ist anders aufgebaut als eine Kurzgeschichte oder ein komödiantischer Film. Ein Drama entfaltet seine Handlung anders als ein Gedicht oder eine dokumentarische Fotografie. Generell kann man jedoch sagen, dass Handlungen im narrativen Kontext durch ihre symbolischen Verdichtetheiten gekennzeichnet sind, was meint, dass sie keine reinen Vorgangsschilderungen sind, sondern vielmehr als Explizierung eines Mehr-Werts daherkommen. Ihr gestalterischer Vollzug, ihre narrative Inszenierung, offenbart einen höheren Sinn, eine Moral, die ihren Gehalt übertragbar macht auf das Leben des Rezipienten und seine Sicht auf die Welt. Folglich verbindet sich im erzählerischen Modus mit der Wiedergabe und künstlerischen Darstellung einer Handlung stets ein Verweis auf etwas Allgemeines, in der exemplarischen Handlung symbolisch Eingeschriebenes, welches aus dem energetischen Gehalt ihrer Narration erschließbar wird. Dies führt zum zweiten zentralen Begriff der hiesigen Ausführungen, dem Begriff der Narration. Narrationen basieren auf Handlungen und einem tätigen Menschenbild.2 Arendt versteht in diesem Zusammenhang Erzählungen als reflexive Einheiten, die gebunden sind an etwas zuvor Erlebtes, dem häufig erst über seine narrative Verdichtung Sinn und Konsistenz verliehen werden kann. Da Menschen in einer sozialen Welt als gesellschaftliche Wesen leben, ist ihr Handeln nie frei von ihrer sozialen Umwelt. Stets wirken andere Menschen direkt oder indirekt auf das Agieren ein, beeinflussen seine Möglichkeiten und Ziele durch eigene Absichten und Handlungsvollzüge. Weil nun das bei Arendt vornehmlich kommunikative Handeln der Menschen genau diese Verwobenheit mit den Wirkungskreisen der Anderen herstellt und zu managen versucht, entstehen Geschichten, die jene Prozesse dokumentieren und Auskunft über ihren Erfolg oder ihr Scheitern, über ihre Relevanzen und Notwendigkeiten geben. Narrationen legen somit gesellschaftliche Relationen offen, was sie zum entscheidenden Träger kultureller Sinnzusammenhänge und Ermöglicher individueller und kollektiver Identitätsbildungsprozesse macht.3 Narrationspotential haben damit alle medialen Abbildungen und Artikulationen solcher Abläufe und Relationengewebe, die einen Blick auf das komplexe gesellschaftliche, aber auch subjektive Handlungsgefüge einer Kultur offenbaren. Es wird deutlich, dass sich Handlungen in Erzählungen, also narrativ, verfestigen und sich dabei in die kulturelle Wirklichkeit, in den gesellschaftlichen Dis-
2 3
Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., überarb. u. erw. Aufl. Wien, 2008, S. 175. Vgl. Müller-Funk 2008 (wie Anm. 2), S.17ff.
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kurshorizont einschreiben, diesen modifizieren und nachhaltig mitstrukturieren.4 Der von Schmidt zur literaturwissenschaftlichen Verbindung von Textproduktion und -rezeption bereits 1973 geprägte Begriff des kommunikativen Handlungsspiels5 deutet ebenfalls auf jenen Zusammenhang von Handlung, Narration und Kommunikation hin. Damit ist der Narrationsbegriff ein basal kultureller Begriff. Aus narratologischer Perspektive lässt sich Kultur in Anlehnung an die Perspektive der Cultural Studies als komplexes System von Narrationen zur symbolischen Ordnung von Welt beschreiben.6 So vollzieht sich Identitätsbildung maßgeblich über Narrationen, denn spiegeln Erzählungen das Handeln der Menschen, so dienen Narrationen allen Menschen als handelnde Wesen dazu, »ihre eigenen Formen des Handelns wieder[zu]erkennen und sie symbolisch [zu] verstehen«.7 Geteilte Geschichten schaffen familiäre, freundschaftliche, kollegiale, regionale und auch nationale Verbundenheit, ermöglichen damit jedoch gleichzeitig auch eine Form der Selbstvergewisserung durch die kommunikative Spiegelung in Form der Akzeptanz des/durch den Anderen. Kulturelle Räume definieren sich somit maßgeblich über ihre Narrationen. Man könnte sogar behaupten, sie sorgen für ihren inneren Zusammenhalt, da sie den kulturellen Raum und damit die, mit Geertz gesprochen, »selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe«8 einer Gemeinschaft exemplarisch verdichtet, kontinuierlich und übergenerational aktualisieren und erscheinen lassen. Gesellschaftliche Erzählungen können somit als Beschreibungen kultureller Praxen, als ihre Artikulationen und sinnhaften Figurationen angesehen werden. Dabei ist das Narrative in der Regel stark an die Erzeugung und Tradierung von Bedeutsamkeit geknüpft. Man könnte verkürzt sagen: Geschichten entstehen in Folge von Handlungen, betten diese in einen kausalen, zeitlich strukturierten Zusammenhang ein und verleihen ihrer Existenz Sinn und referentielle Bedeutungskraft. Auf diese Weise schaffen sie ordnende Sinnstrukturen für den Menschen, welche als operationalisierte Fiktionen zu Zielgrößen für systemische Strukturen werden, auf die 4
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Siegfried J. Schmidt spricht hier von »Wirklichkeitsmodellen«, die als Ergebnisse kommunikativer Aushandlungsprozesse auf gemeinsame Sinnhorizonte verweisen. Siehe Schmidt, Siegfried J.: »Kultur und die große Fiktionsmaschine Gesellschaft«. In: Düllo, Thomas u.a. (Hg.): Kursbuch Kulturwissenschaft. Münster, 2000, S. 101-110, hier S. 104f. Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Texttheorie. München, 1973. Vgl. Müller-Funk 2008 (wie Anm. 2), S. 175. Müller-Funk 2008 (wie Anm. 2), S. 13. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M., 1991, S. 9.
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man sich immer wieder berufen kann. Somit wird ihnen durch ihre deskriptiv-sinnstiftende Kraft eine normative Funktionalität im kulturellen Kontext zuteil. Weiter verdichtet als Motive, zirkulieren sie sodann im gesellschaftlichen Raum, werden bewusst und unbewusst von Generation zu Generation vermittelt und so zu Grundüberzeugungen ganzer Gesellschaftsgruppen. In der Literaturwissenschaft und anderen Medienwissenschaften tritt dieser Zusammenhang deutlich zutage, da jedweder Erzählung selbst eine Handlungsstruktur unterstellt wird, welche den Narrationstypus prägt. Solche prozessualen Medien bilden nicht nur Einzelhandlungen ab, sondern stellen in ihrem erzählerischen Kern selbst eine Handlung dar. Je nach Handlungsform spricht man dann von dramatischen, epischen oder auch komödiantischen Texten mit medieninhärenten Handlungsabläufen. Bei narrativen Fotografien verhält sich dies notwendigerweise etwas anders. Diese zeigen in der Regel nie ganze Handlungsabläufe und besitzen folglich keinen Prozesscharakter, da sie stets nur Schnappschüsse im Sinne von Momentaufnahmen, höchstens vergleichbar mit der literarischen Form des Gedichts, sind. Sontag bezeichnet fotografische Bilder vor diesem Hintergrund als »Bruchstücke von Welt«9 im Sinne von »Miniaturen der Realität«.10 Eingeschrieben sind ihnen dennoch über den abgebildeten Handlungsmoment eingeschränkte Möglichkeiten des Davor und ebensolche eines Danach. Somit erzählen narrative Fotografien keine ganzen Geschichten. Sie erzählen einen sequenziellen Teil, indem sie eine oder mehrere Handlungen präsentieren. Die dahinter liegenden potentiellen Handlungsstränge kommen in jener Momentaufnahme zum Vorschein. Dies geschieht, wie im Laufe dieser Ausführungen noch gezeigt wird, syntaktisch. Sie erscheinen wie Implikationen im sprachlichen Feld und kommen als rezipientenspezifische Deutungen und Annahmen daher, deren Gestalten Einfluss auf die Wahrnehmung der abgebildeten Szene haben. Der Fotograf kommt als Flaneur ins Spiel, der die energetischen Gestimmtheiten, die auf Momente einer Geschichtsschreibung hindeuten, zu erkennen hat und im Bild festhält. Das Ergebnis sind gefrorene Energien, die sich durch die Heraushebung des Bildes aus seinem lebendigen Ablauf, seiner natürlichen zeitlichen Flüchtigkeit, erst zu syntaktischen Verdichtungen zusammenziehen, aber interessanterweise auch erst aufgrund ihrer syntaktischen Verdichtung entschlüsseln und derart überexemplarisch als generalisierbare Episoden deuten lassen. Fellmann erklärt diese besondere Bildkraft mit einer so genannten doppelten Fixierung, die ein Bild von einer realweltlichen Wahrneh-
9 Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt a.M., 1995, S. 10. 10 Sontag 1995 (wie Anm. 9), S. 10.
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mung unterscheidet: »Die einfache Fixierung liegt in der Konstanz des Gegenstandes, die Wahrnehmungen und Bildern gemeinsam ist. Beim Bild aber kommt die Fixierung des Blicks hinzu, die durch die Bewegung des Betrachters nicht aufgehoben werden kann (kunstwissenschaftlich: Vedute). Die doppelte Fixierung stellt einen den Strom der Wahrnehmung unterbrechenden Fall dar, der eine Prägnanzerhöhung bewirkt, welche die Ansicht mit Bedeutung auflädt. Insofern ist ein Bild ein unwahrscheinlicher Fall einer Wahrnehmungsfixierung, die das Sosein vom Dasein, das Wie des Anblicks vom Was des Gegenstands abhebt. Auf dieser Trennung beruht die Bedeutung, die nicht etwas der Ansicht von außen Hinzukommendes darstellt, sondern die Ansicht selber ist.«11 Die energetische Potenz erhöht sich dann, wenn das Foto erzählt, also jenen beschriebenen Mehrwert hat, und in seiner Narrativität eine gesellschaftliche Zustandslage, einen Begriff oder ein Phänomen symptomatisch offenbart. Narrationen sind, ob in Formaten der Bewegung oder doppelten Fixierung, folglich an Medien gebundene, sinnhaft energetische Verdichtungen, die immer auch an Handlungen gebunden sind. Sprache und Bildhaftigkeit scheinen dabei grundlegende Werkzeuge jener Verdichtung zu sein. Für die Bildwissenschaften sind die Disziplinen, welche sich dem sprachlichen Medium widmen, mit ihren Methoden und Erkenntnissen zunehmend von Interesse. Nicht umsonst sind verstärkt Durchlässigkeiten und Verbindungslinien entlang der Fachgrenzen der Literatur- und Kunstwissenschaften in der Forschung zu beobachten. Auch verändert sich die Rolle der Sprachwissenschaft zunehmend in diesem transdisziplinären Wissenschaftspool rund um den iconic turn. Doch in welchem Verhältnis stehen Wort und Bild für Narrationen? Bleibt die Frage, ob das Narrative nicht per se eine sprachliche Basis besitzt, die sich auch beispielsweise im narrativen Foto eingeschrieben findet und die Möglichkeiten seiner Lesbarkeit determiniert. Wittgenstein schreibt zum Verhältnis von Bild und Sprache, dass das Bild ein »Modell der Wirklichkeit«12 sei. Zum Aufbau eines Bildes schreibt er weiter: »Daß sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten stellt vor, daß sich die Sachen so zu einander verhalten. Dieser Zusammenhang der Elemente des Bildes heiße seine Struktur und ihre Möglichkeit sei-
11 Fellmann, Ferdinand: »Anthropologische Grundlagen der Bildsemantik«. In: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung. Köln, 2005, S. 45-55, hier S. 50. 12 Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung: kritische Edition = Tractatus logico-philosophicus. Hrsg. v. Brian McGuinness u. Joachim Schulte. Frankfurt a.M., 1989, S. 12 (2.12).
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ne Form der Abbildung.«13 Diese illustrative Funktion visueller Medien sei ferner »wie ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt«.14 Das Bild könne hier als mimetische Form der Wirklichkeit begriffen werden, die in ihrem inneren Aufbau den Gesetzen und Verbindungen entspräche, die wir in der Realität vorfinden. Bilder lesen sei somit für Wittgenstein mit einem realweltlichen Situationenlesen gleichzusetzen. Bild und Sprachsätze entsprechen einander ebenfalls in ihrer »logischen Form«.15 Wittgenstein sagt sogar, dass die Bildhaftigkeit eines Satzes an eben genau jener logischen Gegliedertheit festzumachen sei.16 Ein Satz erhalte seine inhaltliche Substanz durch seine Bildhaftigkeit.17 Diese wiederum wird von Wittgenstein mit der »Struktur der Wirklichkeit«18 beschrieben und als implizites Element, welches sich nicht selbst zum Thema machen könne, bezeichnet.19 Wenn sich die logische Form des Bildes in der Sprache realisieren lässt, dann lässt sich die logische Form der Sprache auch im Modus der Bildanalyse sichtbar machen. Der Grund hierfür liegt in den von Wittgenstein benannten Grenzen des Bildhaften. Er versteht die syntaktische Strukturiertheit der Sprache als Bindeglied, durch welches es erst möglich werden kann, die Strukturen der Wirklichkeit, die im Bild verhaftet sind, artikulierbar machen zu können. Jedes Foto, auf dem mindestens eine Handlung für den Betrachter auszumachen ist, bildet demnach eine logische Satzstruktur ab und realisiert somit die Verdichtung der sichtbaren Welt syntaktisch. Mit Blick zurück auf den sinn- und identitätsstiftenden Stellenwert narrativer Medienprodukte in kulturellen Gefügen lässt sich diese Verknüpfung von Bild und Sprache – in Bezug auf die von Klaus Sachs-Hombach entwickelte semiotisch orientierte Bildtheorie – bei aller Eigendynamik und emanzipativer Stärke des Bildes zumindest in einigen Punkten nicht gänzlich außer Kraft setzen. Auch Susan Sontag konstatiert, dass es eine Grammatik des Sehens gäbe.20 Einige Überlegungen zu ihrem Gehalt und ihrer denkbaren, semiotischen Herleitung sollen nun folgen. Für Wittgenstein mündet die In-Beziehung-Setzung von Sätzen und Bildern in die These, dass der Satz »ein Bild der Wirklichkeit«21 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Wittgenstein 1989 (wie Anm. 12), S. Wittgenstein 1989 (wie Anm. 12), S. Wittgenstein 1989 (wie Anm. 12), S. Wittgenstein 1989 (wie Anm. 12), S. »Der Satz sagt nur insofern etwas 1989 (wie Anm. 12), S. 48. Wittgenstein 1989 (wie Anm. 12), S. Wittgenstein 1989 (wie Anm. 12), S. Sontag 1995 (wie Anm. 9), S. 9. Wittgenstein 1989 (wie Anm. 12), S.
12 (2.15). 12 (2.1512). 15. 48. aus, als er ein Bild ist.« Wittgenstein 15. 15. 40.
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sei. Damit formuliert er zugleich eine Bildtheorie der Sprache,22 deren Kernthese lautet: Sätze sind wie Bilder zu lesen und zu verstehen. Dies soll keinesfalls bestritten werden, doch es lässt sich freilich nicht auf die Semiotik narrativer Fotografien übertragen. Vielmehr scheint auf der Basis der Gemeinsamkeit der logischen Form von Satz und Bild sowie der Unmöglichkeit des Bildes, seine Wirklichkeitsstruktur ohne sprachliche Mittel zum Thema zu machen, die Möglichkeit der semantischen Umkehrung seiner Aussage interessant und für die narrative Fotografie von besonderer Relevanz zu sein, so dass hier die Umkehrung der Wittgensteinschen These konstatiert werden soll: Bilder können wie Sätze gelesen werden. Diese zugespitzte Behauptung greift in der bildwissenschaftlichen Forschung kursierende Stimmen auf, welche bereits seit einigen Jahren zu hören sind. So formuliert Fellmann, »dass Bedeutungen von Bildern nicht primär im Gebrauch, sondern in ihrer Struktur oder Syntax liegen«.23 Laut Fellmann lassen sich Bilder als »syntaktisch dichte Systeme« beschreiben. Damit wird ihnen eine strukturelle Geschlossenheit unterstellt, die er wie folgt zusammenfasst: »Anders als Wahrnehmungen haben Bilder keinen Horizont, sie sind modular. Die Modularität macht das Bild zu einem Zeichen, dem die Bedeutung strukturell immanent ist und sich durch Gebrauch nicht beliebig variieren lässt. Das geht auch daraus hervor, dass Bilder primär eine betrachtende Einstellung erfordern und in der Betrachtung ihre kontextinvariante Bedeutung freigeben.«24 Das Interpretieren verstehe er dabei in Analogie zu Husserl-Schüler Schapp als »Sehen-als«,25 das heißt als Entfaltungsprozess, der die verdichtete Komplexität artikulierbar und in sich beschreibbar mache. Abgesehen von solchen Beispielen wurde der Zusammenhang von Bild und Handlung in der Bildwissenschaft der vergangenen 30 Jahre jedoch zumeist aus funktionaler und weniger inhaltlicher Sicht erforscht. Man versucht(e) hierbei, durch eine kategoriale Klärung der Handlungskraft von Bildern ihre kommunikative(n) Rolle(n) zu bestimmen und dabei explizit machen zu können, was der Einsatz visueller Medien kommunikativ bewirken kann. Stets findet man in solchen Theorien den Versuch, das, was den kommunikativen Gehalt und die Funktionen von Sprache ausmacht, auf das Bild zu übertragen. Kjörup vertritt beispielsweise die These, dass Bilder wie Prädikate fungieren. Er wendet sich dabei den kommunikativen Handlun-
22 23 24 25
Vgl. Seja, Silvia: Handlungstheorien des Bildes. Jena, 2007, S. 23. Fellmann 2005 (wie Anm. 11), S. 50. Fellmann 2005 (wie Anm. 11), S. 50. Fellmann 2005 (wie Anm. 11), S. 50.
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gen zu, die der Herstellung eines Bildstatus vorausgehen, und versucht diese in Analogie zu Sprechakten in so genannten »pictorial speech acts«,26 die wiederum den nachfolgenden Bildgebrauch determinieren, zu klassifizieren. Hierbei geht er davon aus, dass für den Bildgebrauch eine Bildanalyse stattgefunden haben muss, die Züge einer syntaktischen Interpretation habe, welche »für sprachliche Gebilde charakteristisch ist«.27 Bilder fungieren für Kjörup deshalb wie Prädikate, weil sie Merkmalszuschreibungen des Abgebildeten visuell artikulieren können. Damit bleibt Kjörup trotz seiner Verbindung von Bild und Prädikat als syntaktischer Größe jedoch auf einer rein funktionalen Ebene verhaftet, die die Struktur des Bildinhalts gänzlich unberücksichtigt lässt. Auch Sachs-Hombach geht von einer prädikativen Bildfunktion aus und verbindet in seinen Überlegungen ebenfalls das Visuelle mit dem Syntaktischen. Seine These, dass Bilder, »analog zu Prädikaten, welche die Merkmale eines Gegenstandes bezeichnen, zeigen können, wie etwas aussieht«,28 ist kaum von der These Kjörups zu unterscheiden. Sachs-Hombach vergleicht jenes bildinhärente »Zeigen von Gegenstandsmerkmalen«29 mit der Ausführung eines illokutionären Sprechaktes. Dabei versteht er Bilder per se als kommunikativ, »weil das Präsentieren [d.h. das Veranschaulichen] immer schon (und notwendig) zwei Komponenten enthält: den ins Spiel gebrachten Begriff und seine visuelle Charakterisierung«.30 Der kommunikative Bildakt bestünde nun in seiner Illustration, dem Sichtbarmachen von Begriffen. Statt Gegenstände oder Menschen zu zeigen, veranschaulichen Bilder, Sachs-Hombach zufolge, Begriffe. Diese begriffsbildende Funktion beschreibt zugleich eine Sinndimension, welche übertragbar auf die für die hiesigen Ausführungen entscheidende Bildinhaltsebene ist. Im ersten Teil des vorliegenden Textes wurde herausgestellt, dass die Markanz narrativer Fotografien in ihrer energetischen Verdichtung von Narrationen besteht, die sich dem Betrachter in Gestalt einzelner syntaktisch entschlüsselbarer Handlungsmomente darbietet. Unterstellt man diesem Gesamtgefüge nun mit Sachs-Hombach das Potential der Begrifflichkeit, so ließe sich für die Semiotik narrativer Fotografien schlussfolgern, dass diese im Speziellen auf semantischer Ebene begriffsbildend wirken, indem die auf syntaktischer Ebene entfaltbare Kondensierung einer Handlungsstruktur den Begriff beziehungsweise 26 Vgl. Kjörup, Sören: Pictorial Speech Acts. In: Erkenntnis, Jg. 12, Nr. 2, Dordrecht, 1978, S. 55-71. 27 Seja 2007 (wie Anm. 22), S. 87. 28 Seja 2007 (wie Anm. 22), S. 108. 29 Seja 2007 (wie Anm. 22), S. 108. 30 Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln, 2003, S. 184.
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die Begriffe markiert, den/die ein Bild enthält. Dies hieße aber auch eine lediglich partielle Untermauerung der gängigen These von der Untrennbarkeit einer Bildwahrnehmung mit ihrer Interpretation, denn sie unterstellt dem Bild, dass ihm ein begrenzter Umfang an Deutungsmöglichkeiten eingeschrieben ist, der den Interpretationsprozess durch den Rezipienten einschränkt, bisweilen auch leitet und organisiert. Bildwahrnehmung hieße in diesem Sinne so etwas wie die Latoursche Hybridwerdung von Bild und Betrachter im Dialog. Das Bild ist – das haben die Rezeptionsästhetiker zutage befördert und richtigerweise nachhaltig ins Bewusstsein gebracht – auf seinen Betrachter angewiesen, doch es ist ihm nicht wehrlos ausgeliefert. Vielmehr tritt es in einen Dialog mit ihm und der Rezipient arbeitet sich bei der Rekonstruktion seiner verdichteten Narration am Bild ab. Er ist involviert, obwohl oder gerade weil er die Pfade abschreitet, die das strukturelle Inhaltsgerüst des Fotos für ihn bereithält. Dabei ist manches Bild labyrinthhaft und verwinkelt aufgebaut, ein anderes wartet auf mit einem Wegenetz, das in sich weitspurig und geradlinig verläuft und den Rezipienten geradezu in bestimmte Richtungen der Deutung hofiert. »Gerade in der Stummheit dessen, was auf Fotografien hypothetisch verstehbar ist, liegen deren Reiz und Herausforderung.«31 Jene beredte Stummheit wird dabei markiert durch Brüche und Lücken im Bild, die ein Aufmerken beim Betrachter und eine Stockung seines Blickes im Sinne des Barthesschen Punctums evozieren, der das Studium unterbricht. Solche in der Bild-Rezeption auszufüllenden Inhaltslücken können analog zur literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik als Leerstellen beschrieben werden. Diese markieren dort textuelle Aussparungen, welche erst durch den Rezipienten im Zuge des Leseprozesses gefüllt werden sollen, und bilden damit die Grundlage für eine gesteigerte Rezipientenaktivität, für eine Interaktion zwischen Text und Leser. »Die Leerstellen sparen die Beziehungen zwischen den Darstellungsperspektiven des Textes aus und ziehen dadurch den Leser zur Koordination der Perspektiven in den Text hinein.«32 Der Leerstellenbegriff geht auf Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen eines Textes zurück, die von ihm auch als »unerfüllte Qualitäten«33 der im Kunstwerk realisierten Inhaltsaspekte bezeichnet werden. Sie sind für das ästhetische Erlebnis beim Rezeptionsvorgang verantwortlich, da sie eine innere Unruhe, ein Unbefriedigtsein beim Leser evozieren und ihn damit auf das Werk und die Aufhebung jener empfundenen Disharmonien fokussieren. Mit Girmes ge31 Sontag 1995 (wie Anm. 9), S. 29. 32 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. 3. Aufl. München, 1990, S. 267. 33 Vgl. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. 2. Aufl. Tübingen, 1960, S. 266.
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sprochen, die ihren Aufgabenbegriff an das Vorhandensein einer zu schließenden Lücke, einer Spannung zwischen Sein und Sollen festmacht,34 könnte man jene Unbestimmtheitsstellen folglich als Aufgaben bezeichnen, die der Text und natürlich auch das fotografische Bild für den Rezipienten bereithalten. Diese erst machen das Werk vollständig, indem sie das werkimmanente Rezeptionsangebot durch ein Tätigsein, eine Rezeptionsaktivität, realisieren. Dabei sind die Ergebnisse natürlich adressatenabhängig, aber trotz alledem nicht beliebig, da »ein Werk immer nur in den Grenzen der Möglichkeiten« realisiert werden kann, »die es aufgrund seiner Vorgabe dafür absteckt«.35 Die Aufgabenhaltigkeit der im Bild eröffneten Leerstellen lässt sich auch sehr gut mit dem Sympraxisbegriff von Kloepfer und Landbeck verstehen. Beide begreifen Ästhetik als Synergieeffekt der semiotischen Charakteristika eines bildhaften Zeichens. Seine syntaktischen Merkmale, seine Semantik und seine Verwendung sorgen – so ihre These – in Kombination für den ästhetischen Grad eines Bildes. Zwar beziehen sich beide vornehmlich auf Werbespots, doch lässt sich das Modell auf alle visuellen Medienformen übertragen. Die drei semiotischen Bereiche nach Morris – die Syntax, die Semantik und die Pragmatik – finden sich in ihrem Modell repräsentiert über die Begriffe Diskurs, Mimesis und Sympraxis. Interessant und wichtig ist für die hiesigen Betrachtungen der Sympraxisbegriff, den Kloepfer und Landbeck als »zielgerichtete innere Leistungen«, als »konkrete innere Handlungen«36 verstehen, die den Empfänger »selbst zum Macher werden« lassen und »ihm als solche Selbsterfahrung«37 geben. In Beerbung der Untersuchungen Eisensteins oder Sartres zur Stimulierung des Adressaten von Kunst, Film und Texten hin zu einer Mit-Schöpfer-Rolle, wird die Aktivität des Rezipienten auch in jenem Begriff als essentieller Bestandteil verstanden: »Der Leser oder Zuschauer ist nicht einfach Aufnehmer von etwas Fertigem – also Rezipient, wie man typischerweise sagt –, sondern er handelt mit den in ihm erweckten und entwickelten Vermögen; er erzeugt etwas, und zwar gelenkt und zugleich selbständig.«38 – Ein Sympraxisbegriff also, der unmittelbar an ebenjenem Begriff bei Novalis anknüpft und die dortige interaktionale Zeichenproduktion zwischen Verfasser und Rezipient wieder 34 Vgl. Girmes, Renate: [Sich] Aufgaben stellen. Seelze (Velber), 2004, S. 17. 35 Naumann, Manfred: »Einführung in die theoretischen und methodischen Hauptprobleme«. In: Naumann, Manfred u.a. (Hg.): Gesellschaft, Literatur, Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin u. Weimar, 1976, S. 17-100, hier S. 85. 36 Kloepfer, Rolf; Landbeck, Hanne: Ästhetik der Werbung. Der Werbespot in Europa als Symptom neuer Macht. Frankfurt a.M., 1991, S. 91. 37 Kloepfer/Landbeck 1991 (wie Anm. 36), S. 91. 38 Kloepfer/Landbeck 1991 (wie Anm. 36), S. 93.
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aufnimmt. Der sympraktische Gehalt schafft und steuert alle Impulse der emotionalen Ergriffenheit beim Bildbetrachten, löst Erinnerungen aus und kann sogar zu konkreten Handlungsentscheidungen führen. Ausgelöst wird eine solche Betrachteraktivierung vor allem durch das Brüchige, Fehlende, Lückenhafte und Rätselhafte – jene beschriebenen Leerstellen folglich, die mit dem Barthesschen Punctum in engem Zusammenhang stehen. Ein Bild, dessen syntaktische und logisch-semantische Positionen komplett besetzt sind, wird vom Betrachter nicht selten ausschließlich zum Barthesschen Studium führen. Erst das Vorhandensein gezielter oder unbeabsichtigter Lücken oder Unstimmigkeiten führen zum Punctum und damit zur punktuell geradezu immersiven Involvierung in das Werk.39 Dabei sind jene Unbestimmtheitsstellen außerdem Quelle und Ursprung der betrachterbezogenen Reorganisation des bildinhärenten Narrationspotentials. Es werden Möglichkeiten der Kohärenz zwischen den strukturellen Handlungseinheiten geschaffen und Unvereinbarkeiten in vorstellbare, sinnhafte Kausalzusammenhänge gebettet. Das Syntaktische spielt auch hierbei eine wichtige Rolle. So spricht Barthes davon, dass Erzählungen syntaktische Qualitäten innewohnen, welche als eine strukturelle Basis eine Analyse des Narrativen erst möglich machen: »Niemand kann eine Erzählung kombinieren (produzieren), ohne sich auf ein implizites System von Einheiten und Regeln zu beziehen.«40 Barthes verwendet das Satzmodell zur Unterscheidung dreier Ebenen einer Erzählung und ihrer Verknüpftheit, die hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden sollen. Interessant ist dabei vor allem, dass Barthes sich gezielt der Terminologie und den strukturellen Einheiten der Linguistik zuwendet, um seine Erzähltheorie zu entwickeln. Wenngleich seine Untersuchungen auf der Textebene verbleiben und nicht die visuelle Erzählform umfassen, so kann doch ein wesentlicher Aspekt auch für die hiesigen Betrachtungen fruchtbar gemacht werden. Barthes konstatiert »eine Homologiebeziehung zwischen Satz und Diskurs«41 und behauptet: »Der Diskurs ist ein großer ›Satz‹ [...], genauso wie der Satz, mittels gewisser Spezifizierungen, ein kleiner ›Diskurs‹ ist.«42 Diese Hervorhebung der syntaktischen Einheit und ihre In-Beziehung-Setzung mit einer eher inhaltlichsymbolischen Größe, dem Diskurs, lässt vermuten, dass auch komplexe inhaltliche Gefüge formal aus strukturellen, syntaktischen 39 Vgl. Balázs, Béla: »Zur Kunstphilosophie des Films« [1938]. In: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart, 1995, S. 204226. 40 Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. Frankfurt a.M., 1982, S. 16. 41 Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M., 1988, S. 105. 42 Barthes 1988 (wie Anm. 41), S. 105.
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Grundmustern aufgebaut sind und die These von der prädikativen Bildstruktur erweiterbar auf eine syntaktische Formebene wäre. Dies könnte unterstützen, dass die Wendung der Wittgensteinschen These in die Behauptung einer syntaktisch strukturierten Bildkomposition der Schlüssel zu einer handlungsorientierten Bildbetrachtung ist, welche den Narrationsgehalt von Fotografien angemessen analysieren helfen würde. Narration und bildinhärente Handlungsstrukturen ließen sich fotografiebezogen somit erst in ihrem Wechselwirkungsverhältnis angemessen begreifen und aufschlüsseln. Die Gründe liegen auf der Hand: Narrative Fotos erzählen, indem sie Handlungsstrukturen durch ihren Momentcharakter entzeitlichen und in ihrer Fixierung bündeln. Da narrative Fotos durch jene Verdichtungen Auslöser und Lesezeichen ganzer Erzählungen darstellen, hängt ihre Analyse und inhaltliche Deutung untrennbar mit einer Entfaltung jener Verdichtungen zusammen. Diese Entfaltung muss, da das Narrative aus Handlungen erwächst, genau an den abgebildeten Handlungsstrukturen ansetzen und diese in ihrer Komposition entschlüsseln. In der fotografischen Bildinterpretation wurde dies bislang so nicht verhandelt. Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation, wie sie in Anlehnung an Panofsky von Bohnsack vertreten wird, geht von einer Mehrschichtigkeit des Bildes aus.43 Das Aufzeigen der symbolischen und damit Tiefenbedeutung eines Fotos sei hiernach eine Expertenangelegenheit und nicht über den alltagsweltlichen Blick auf das Bild zu entschlüsseln. Fuhs spricht hier – und das nicht ohne Kritik – von einer so genannten »asketischen Interpretation formaler Bildkompositionen«,44 die dem Alltagsverständnis mangelnde Ergründungskompetenzen respektive sogar analytische Fehlschlüsse bei der Bildbetrachtung unterstelle. Breithaupt unterstellt Bildern dagegen immanente Handlungsindizien, die sich dem Betrachter in unterschiedlichen Bilddetails präsentieren können.45 Dies würde bedeuten, dass bestimmten Bildbestandteilen gemäß einer sprachlichen Aussage eine konventionelle Implikatur unterliege, die der Betrachter aufgrund seiner 43 Vgl. Bohnsack, Ralf: »Qualitative Methoden der Bildinterpretation«. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 6, Nr. 2, Wiesbaden, 2003, S. 239256. 44 Fuhs, Burkhard: »Narratives Bildverstehen. Plädoyer für eine erzählende Dimension der Fotografie«. In: Marotzki, Winfried; Niesyto, Horst (Hg.): Bild-
interpretation und Bildverstehen. Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive. Wiesbaden, 2006, S. 207-226, hier S. 211. 45 Vgl. Breithaupt, Fritz: »Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder«. In: Hein, Michael; Hüners, Michael; Michaelsen, Torsten (Hg.): Ästhetik des Comic. Berlin, 2002, S. 37-50.
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handlungskulturellen Determiniertheit versteht.46 Breithaupt erklärt, dass die Auseinandersetzung um die Erzählkraft von Einzelbildern und ihre Verortung im Wesentlichen auf zwei Sichtweisen zu reduzieren sei: a) Die Narration des Bildes kann nur verstehen, wer die ausschnitthaft repräsentierte Geschichte in Gänze kennt, oder b) Die Narration ist im Bild eingeschrieben und kann über bestimmte Indizien und Hinweise rekonstruiert werden. Hintergrund dieser beiden Standpunkte ist die literaturgeschichtlich verankerte Diskussion von Goethe und Lessing über die Narrativität der Laokoon-Gruppe, in der Lessing die erste und Goethe die zweite Position einnimmt.47 Fuhs erweitert diesen Gedanken um die Ebene der abgebildeten Akteure, indem er diesen ebensolche Verdichtungskräfte zuspricht wie Goethe und später Breithaupt den Aktionen selbst. Bilder rufen beim Betrachter Assoziationen hervor, da sie im Zuge ihrer Deutung mit den inneren Bilderwelten abgeglichen werden.48 Und mehr noch: Sie dienen damit – in Bezug auf Warburg – als Andockstellen für kollektive Repräsentationen. Eine Rekonstruktion narrativer Fotografien wäre somit in gewisser Weise eine Auseinandersetzung mit realweltlichen Handlungsmomenten und ihrer gesellschaftlichen Kontextualisierung. Sie verschafft Einblicke in unser kulturelles System und gibt damit Aufschlüsse über die »selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe«,49 in denen der Mensch handelnd verstrickt ist. Eine Entfaltung der narrativen Gehalte eines Fotos muss sich folglich den handlungsbezogenen Elementen des Bildes zuwenden und diese in ihrer Anordnung handlungsorientiert aufspannen. Sie muss folglich die Grammatik des Bildes offen legen, indem sie das Narrative aus den bildinhärenten Handlungsstrukturen erschließt. Um dies bestmöglich bewerkstelligen zu können, empfiehlt es sich, ein Grammatikmodell, eine syntaktische Theorie aus der Sprachwissenschaft heranzuziehen, welche die folgenden Voraussetzungen erfüllt: Zunächst muss sich die Dominanz des Handlungsbegriffs berücksichtigt finden, da sie das Zentrum der syntaktischen Theorie bildet. Ausgehend von diesem Zentrum muss die syntaktische Theorie, welche bildinhärente Narrationen strukturell entschlüsselbar machen möchte, Abhängigkeitsbeziehungen einzelner Bildbestandteile zueinander identifizierbar und damit sichtbar machen. Ferner muss sie den Bindungsgrad dieser Elemente zur Handlung
46 Gerndt, Helge: »Können Bilder erzählen?«. In: Hengartner, Thomas; Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Berlin u. Hamburg 2005, S. 109-117, insb. 114f. 47 Vgl. Breithaupt 2002 (wie Anm. 45), S. 44f. 48 Vgl. Fuhs 2006 (wie Anm. 44), S. 218. 49 Geertz 1991 (wie Anm. 8), S. 9.
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klären und so mögliche Hierarchiestrukturen im Foto lesbar werden lassen. Der hier gewählte Vorschlag für ein solches Grammatikmodell, mit dem sich übertragen von der Sprache auf das Bild Narrationsstrukturen erschließen lassen, ist die Valenz- und Dependenzgrammatik. Begründet wurde sie von Tesnière in den 1950er Jahren. Auch wenn einzelne Begrifflichkeiten, wie zum Beispiel der Dependenzbegriff, bis ins Mittelalter zurückdatierbar sind, kann diese strukturale Syntax als eine recht junge Grammatik bezeichnet werden, die hier eine funktionale Erweiterung und damit verbunden die ihr zustehende sprachübergreifende Beachtung erfahren soll. Die Begriffe Valenz und Dependenz deuten es an: Dieses Grammatikmodell versteht sich als Abhängigkeitsgrammatik, die, so formuliert es Tarvainen, »Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Satzteilen«50 untersucht. Kern dieser Grammatik ist das Verb, welches als Tätigkeitswort zentral für den Satzbauplan ist und alle anderen Satzglieder determiniert, ähnlich eines chemischen Grundstoffes, der sich mit anderen Grundstoffen zu größeren Einheiten, in unserem Fall zu einem grammatisch korrekten Satz, verbindet. Aus diesem Grund wird das Verb in der Dependenzgrammatik auch als Regens bezeichnet und die von ihm geforderten Satzelemente unter dem Begriff der Dependetien subsumiert. An einem einfachen Beispiel soll dies kurz expliziert werden: Der Satz Ein Mann schaut staunend auf die Skyline enthält den verbalen Nexus, also das Verb schauen. Tesnière vergleicht dieses regierende Satzelement mit einem Erzähltypus, der »notwendig ein Geschehen und meist auch noch Akteure und Umstände«51 umfasst. Wir könnten sagen, das Verb ist das Geschehen, also der Plot, und er fordert Mitspieler auf die Bühne, damit er sich realisieren lässt. In unserem Beispiel sind dies ein Mann und auf die Skyline. Diese Mitspieler, also Personen, Tiere, Orte oder Dinge, »die auf irgendeine Art, sei es auch nur passiv, gewissermaßen als bloße Statisten, am Geschehen teilhaben«,52 werden als Aktanten beschrieben. Darüber hinaus sind auch noch Angaben denkbar, die konkrete Umstände des Geschehens, zum Beispiel die Zeit, die Dauer, den Grund, die Art und Weise usw. näher bestimmen. Im gewählten Satz verweist die Modalangabe staunend auf die Art und Weise, wie der Mann die Skyline anschaut. Sie erweitert den Satz zwar inhaltlich um eine Zusatzinformation, ist jedoch nicht notwendig, damit der Satz grammatisch vollständig und korrekt ist. Waren die Aktan50 Tarvainen, Kalevi: Einführung in die Dependenzgrammatik. Tübingen, 1981, o.S. 51 Tesnière, Lucien: Grundzüge der strukturalen Syntax. 1. Aufl. Stuttgart, 1980, S. 93. 52 Tesnière 1980 (wie Anm. 51), S. 93.
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ten stets Substantive, so sind die Angaben in einem Satz in der Regel Adverbien, welche auch in Abhängigkeit und Bezug zum Verb, zur Handlung, stehen. Nun kann jedoch nicht jeder beliebige Mitspieler – um bei der Bühnenmetapher zu bleiben – am Geschehen des Satzes teilhaben. Das Verb eröffnet somit nicht nur Leerstellen und fordert Aktanten ein, um diese zu füllen, sondern es legt auch die Anzahl der Mitspieler und deren strukturelle Erscheinung fest. So benötigt das Verb schauen, um sich als Geschehen auf der syntaktischen Bühne vollständig zu entfalten, mindestens a) jemanden, der schaut, und b) eine Zielgröße, zu der geschaut wird. Das Verb schauen wird folglich als zweiwertig bezeichnet. Übersetzt in Fragen würde dies für die Grundvoraussetzung zur Realisierung der Handlung heißen: Wer schaut wohin? Mit diesen Fragen ist neben der Anzahl der strukturell notwendigen Aktanten zugleich auch ihre qualitative Valenz ersichtlich: Die Frage nach dem Wer oder was? zieht ein Subjekt nach sich, die Frage nach dem Wohin?, dem Zielpunkt des Blickes, deutet auf eine Präpositionalergänzung hin, die vom Subjekt determiniert ist, aber für ein zielgerichtetes Verb wie schauen oder auch fahren obligatorisch zur syntaktischen Wertigkeit gehört. Neben der quantitativen Valenz und der syntaktischen, qualitativen Valenz eines Verbs existiert bezogen auf die vom Regens geforderten Mitspieler eine semantische Valenz, die festlegt, ob bedeutungsbezogen und sinnhaft eher ein Lebewesen und/oder ein abstrakter Begriff als Aktant in Frage kommt. Dieser kurze Ausflug in die Valenz- und Dependenzgrammatik soll uns im Folgenden dabei helfen, die narrative Bildkomposition von Fotografien genauer unter die Lupe zu nehmen. Sätze verändern sich, je nachdem, welche Handlung, welches Verb im Mittelpunkt steht. Genauso auch bei Fotografien: Je nachdem, welche Handlungen hier sichtbar sind, wird das Bild in Abhängigkeit zu den von der Handlung geforderten Größen gelesen. Dabei determinieren die im Zentrum narrativer Fotografien stehenden Handlungen Art und Umfang der motivischen Bildbestandteile. Handlungen repräsentieren sich in Bildern somit strukturell wie Satzkompositionen. Damit kann eine syntaktische Bildkomposition konstatiert werden, die auf einer prädikativen, also aktionsorientierten Basis ihre inhaltlichen Gehalte determiniert. Kommen wir nochmals zurück auf den Satz Ein Mann schaut staunend auf die Skyline. Er beschreibt den Inhalt eines bekannten Bildes von Cartier-Bresson (Abb. 1), das einen Mann mit Hut und Mantel zeigt, der sich auf einer Fähre befindet und dort durch ein Fenster auf die New Yorker Skyline schaut. Obwohl man den Mann von vorn sieht, sieht man gleichzeitig auch den Zielpunkt seines Blickes, die New Yorker Skyline, als Spiegelbild im Fenster. Dies ist die
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Abb. 1: Henri Cartier-Bresson, New York, USA, 1959 Verdichtungsleistung des Bildes – es zeigt über die Verbindung zweier Ebenen zugleich zwei Perspektiven. Es eröffnet nicht nur den Blick auf den beobachtenden Mann, sondern gleichzeitig auch auf das von ihm Angeschaute, denn die Spiegelung des Angeschauten verschafft die Zielpunktabbildung im Foto. Die halbnahe Einstellung des Mannes wird umspielt durch die gespiegelte Silhouette. Sie umfließt ihn regelrecht und wird zu einer oszillierenden Oberfläche, in der der Mann und das gespiegelte Bild im Fenster eine Einheit zu ergeben scheinen. Soweit könnte man sagen, dass das Bild die von der abgebildeten Handlung eröffneten Leerstellen zu schließen vermag. Dennoch scheint das Bild den Betrachter zu aktivieren, was – das haben die vorangegangenen Ausführungen skizzenhaft angedeutet – in einem Zusammenhang mit ebenjenen Leerstellen zu sehen ist. Wie erzeugt die syntaktische Repräsentation der im Bild eingeschriebenen Handlungsstruktur nun den sympraktischen Gehalt des Fotos? Dieser liegt hier paradoxerweise gerade in der Füllung beider richtungsbezogen eher komplementär zueinander befindlichen Valenzgrößen. Bei der Frontalsicht auf den Schauenden bleibt die Zielgröße des Blicks gewöhnlich außerhalb des Bildes, da diese sich perspektivisch hinter dem Fotografen befindet. Im betreffenden Foto verhält sich dies aufgrund der Spiegelung anders. Somit erzeugt gerade die Abbildung beider Aktanten den besonderen ästhetischen, aber auch aktivierenden Moment, welcher das Bild auszeichnet. Zurück zum Protagonisten auf dem Foto. Bleibt noch 188
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die Art und Weise seines Tuns zu betrachten. Der Mann schaut recht gebannt und überwältigt auf das Stadtbild, was syntaktisch der Modalangabe staunend entsprechen würde. Die monodimensionale Darstellung, indem das Gesehene spiegelbildlich eingefangen wird, lässt das Foto folglich auch zu einer Visualisierung dessen werden, was die Gedanken des Mannes umspielt, sie durchzieht und ihn einnimmt. Der Wahrnehmungsprozess wird somit sichtbar gemacht, indem der Mann im Foto zum Teil dessen wird, was er sieht und sich das, was er sieht, mit ihm verbindet. Somit findet die narrativ-begriffliche Verdichtung, die semantische Bedeutungs- und Symbolebene von Wahrnehmung und Erkenntnis, von Einsicht und Aussicht, sprich die eingeschriebene Energie des Fotos, ihre Entsprechung im syntaktischen Gehalt der narrativen Bildstruktur. Anhand vieler weiterer Fotografien ließe sich diese Rekonstruktion der in das Bild eingeschriebenen syntaktischen Strukturen und ihre Auswirkungen auf die Betrachteraktivierung fortführen. Mit dem gewählten Beispiel ist das Prinzip der syntaktischen Komposition narrativer Fotografien durch die handlungsorientierte Rekonstruktion des bildinhärenten Narrationengehalts jedoch exemplarisch deutlich geworden. Es bleibt festzuhalten, dass einzelne syntaktische Bildelemente im Zusammenspiel eine rezeptionsästhetische Form der Betrachteraktivierung ergeben, welche wie folgt zu subsumieren ist: Die Art der bildhaft imaginierten Handlung(en) ist zentraler Ausgangspunkt für die syntaktische Komposition eines narrativen Fotos, während die in der syntaktischen Komposition vorhandenen Leerstellen die (emotionale) Rezipienteneinbindung in das Motiv und damit die Wirkungsästhetik der fotografischen Narration bestimmen. Somit findet der Kloepfersche Sympraxisbegriff im Arrangement von Narration, syntaktischer sowie logisch-semantischer Valenz und wirkungsästhetischer Bildhandlungstheorie seine Einbettung in die Fotoanalyse. Atmosphärische Gestimmtheiten in Fotografien ließen sich nun als prädikative Verknüpfungen verstehen, deren Bildkompositionen wie syntaktische Einheiten wirken und die metaphorische Kraft des Motivs mit energetischer Kraft erfüllen.
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Narreme, Unbestimmtheitsstellen, Stimuli – Erzählen im fotografischen Einzelbild BARBARA J. SCHEUERMANN
Im letzten Jahrzehnt ist das Erzählen zunehmend ins Zentrum künstlerischen Interesses gerückt. Die Auseinandersetzung mit kunstwissenschaftlichen Beiträgen über künstlerische Erzählstrategien aber zeigt, dass der Begriff des Erzählens in der Kunstwissenschaft nicht eindeutig bestimmt ist, ebenso wenig wie ›Erzählung‹, ›Erzähler‹ und ›narrativ‹. Damit sind diese Begriffe, wie sie bislang angewendet wurden, als theoretische Termini unbrauchbar geworden. Die im Folgenden vorgenommene neue Festlegung der Terminologie erfolgt auf Grundlage der innerhalb von drei verschiedenen Forschungsbereichen – der Kunstwissenschaft, der literaturtheoretisch begründeten Narratologie und der intermedial orientierten Erzähltheorie – erschienenen Forschungsbeiträge, deren Ergebnisse zu diesem Zwecke zusammengestellt worden sind.1 Eine Untersuchung erzählerischer Strukturen, Strategien und Spuren darf niemals zum Selbstzweck einer narratologischen Betrachtung werden – im Zentrum der kunstwissenschaftlichen Analyse muss immer das Kunstwerk (in diesem Falle das monoszenische Einzelbild) mit seinen sämtlichen formalen, inhaltlichen, stilistischen und über sich selbst hinausweisenden Eigenschaften stehen. Als Beispiel sei in diesem Zusammenhang das Bild Eviction Struggle (1988) von Jeff Wall herangezogen, dessen Fotografien häufig vielsagend als »single-framed movies« bezeichnet werden.
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Dieser Beitrag basiert zu großen Teilen auf den Erkenntnissen meiner Dissertation. Siehe Scheuermann, Barbara Josepha: Erzählstrategien in der
zeitgenössischen Kunst. Narrativität in Werken von William Kentridge und Tracey Emin. Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2005. Unter: http://tiny.cc/Scheuer mann2005 (Stand: 25. Januar 2010).
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Barbara J. Scheuermann
Terminologie Wenn man sich eingehend mit dem Phänomen der Narrativität in bildenden Kunstwerken beschäftigt, stößt man sehr schnell auf das Problem des häufig unreflektierten und daher inzwischen fast inflationären Gebrauchs des Begriffs ›narrativ‹ oder auch ›erzählerisch‹ – so gut wie jedes Kunstwerk kann auf die eine oder andere Weise erzählen, und so wichtig die Feststellung des narrativen Gehalts des jeweiligen Werkes zu sein scheint, so problematisch ist es doch, wie undifferenziert der Begriff bisweilen benutzt wird. Zudem führt die Konstatierung der Narrativität eines Werkes oftmals nicht weiter im Sinne einer konstruktiven Analyse. Häufig erschöpft sich die Deutung gleichsam in der Feststellung, dies oder das sei narrativ – oder eben nicht. Weder die eine noch die andere Feststellung ist erkenntnisfördernd im Sinne einer fruchtbaren Werkanalyse, denn der Einsatz von narrativen Strukturen ist fast immer vor allem ein Vehikel, um bestimmte Inhalte zu transportieren. Umso wichtiger ist es, genau zu untersuchen, wie und welche narrativen Strukturen und Muster eingesetzt werden und welche Bedeutung sie schließlich für die Analyse des jeweiligen Kunstwerks haben. Genauso wenig wie die dichotomischen ›Ja/Nein‹-Diskussionen scheint es gewinnbringend zu sein, darauf hinzuweisen – wie es vor allem seit den 1990er Jahren immer wieder geschehen ist –, dass der Künstler es dem Betrachter überlässt, eine Geschichte zu Ende zu denken, sich das Vorher und das Nachher selbst zu überlegen. Diese Feststellung findet sich immer wieder in Beschreibungen bildender Kunstwerke, als sei dies eine neue Erfindung sozusagen eine Errungenschaft der Postmoderne. Das ist sie natürlich nicht. Sogar in der Kunstgeschichte ist die Erkenntnis, dass ein Einzelbild ein Vorher und Nachher andeuten kann – oder sogar muss – relativ alt und findet mit Lessings »fruchtbarem Augenblick« einen Ausdruck dafür: »Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. [...]
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Narreme, Unbestimmtheitsstellen, Stimuli
dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden [...].«2 Das Vorher und das Nachher anzudeuten und den Betrachter selber fantasieren lassen, also seine Imagination anzuregen, ist eine so alte Technik wie das Erzählen selbst. Um ein Instrumentarium zur Beschreibung und Erfassung bilderzählerischer Vorgehensweisen zu finden, ist es naheliegend, sich zuerst den Erkenntnissen der kunstwissenschaftlichen Forschung zuzuwenden. Es ist jedoch unabdingbar, diese durch erzähltheoretische beziehungsweise narratologische Methoden zu ergänzen. Daraus lässt sich ein vorläufiges Beschreibungsmodell narrativer Strukturen in der zeitgenössischen Kunst entwickeln. Bereits 1895 unterscheidet Franz Wickhoff in einem Kommentar zur Wiener Genesis drei »Bilderzählformen« voneinander, die sich jedoch ausschließlich auf Bildsequenzen beziehen.3 Manchem erzähltheoretisch orientierten Kunsthistoriker gilt dies immer noch als der »bis heute überzeugendste Versuch zur Systematisierung der Erzählformen in der Kunst«,4 auch wenn er 1947 von Kurt Weitzmann in Frage gestellt und später von Frey und Kluckert differenziert beziehungsweise revidiert wurde,5 und Wolfgang Kemp bemerkt: »Auf diesen Errungenschaften ist die Kunstwissenschaft sitzengeblieben und hat den gesamten structuralist turn und hermeneutische Ansätze zu einem guten Teil versäumt.«6 Fast 100 Jahre nach Franz Wickhoff entwickelt Aron Kibédi Varga eine Typologie bildlicher Narration, die sich nach der Anzahl der Szenen in einem Bild gliedert.7 Varga benennt vier Grundtypen: das monoszenische Einzelbild, das pluriszenische Einzelbild (Simul-
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Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und der Poesie. Berlin, 1766, S. 35. Wickhoff, Franz: Römische Kunst (Die Wiener Genesis). Hrsg. v. Max Dvoràk. Berlin, 1912. Jäger, Thomas: Die Bilderzählung. Narrative Strukturen in Zyklen des 18. und 19. Jahrhunderts. Von Tiepolo und Goya bis Rethel. Petersberg, 1998, S. 12. Jäger führt das Problem der kunstwissenschaftlich vernachlässigten Erzählweisen auf die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende Konzentration auf das Einzelbild und dessen Ikonologie zurück. Vgl. zu dieser Diskussion Karpf, Jutta: Strukturanalyse der Mittelalterlichen Bilderzählung. Ein Beitrag zur kunsthistorischen Erzählforschung. Marburg, 1994, S. 13-15. Kemp, Wolfgang: »Über Bilderzählungen«. In: Glasmeier, Michael (Hg.): Erzählen. Berlin, 1994, S. 55-70, hier S. 67. Kibédi Varga, Aron: »Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität«. In: Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild, Bild und Text, DFG-Symposium 1988. Stuttgart, 1990, S. 356-367, hier S. 360-365.
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tanbild), die Bildreihe aus monoszenischen Einzelbildern und die Bildreihe aus pluriszenischen Einzelbildern (Simultanbildern). Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine solche Typologie wie die Vargas nur bestimmte Bildtypen erfassen kann und damit lediglich bedingt als Methode zur Erfassung erzählerischer Möglichkeiten im Bild geeignet ist (wobei der Bildbegriff hier so weit wie möglich gefasst wird). Eines der Hauptanliegen der neueren Narratologie beziehungsweise der Erzähltheorie ist es, dass sie auf alle Medien, Gattungen und Formen übertragen werden soll und dafür über rein strukturalistische Methoden hinaus die verschiedensten, der Erscheinungsform und dem Medium der jeweiligen Erzählung angemessenen, analytischen Mittel einbeziehen muss. Darum sei im Folgenden die Graduierbarkeit von Narrativität als Möglichkeit für eine medienübergreifende Beschreibung erzählerischer Strukturen aufgezeigt. Um das begrenzte theoretische Instrumentarium der Kunstwissenschaften für eine fundierte Analyse nutzbar zu machen, gilt es, sich der Narratologie beziehungsweise der Erzählforschung zuzuwenden, die üblicherweise zu den Sprach- bzw. Literaturwissenschaften gerechnet wird, jedoch in jüngerer Zeit in Fächern wie Kunst-, Theater-, Film- und Musikwissenschaften an Bedeutung gewonnen hat. Gegenstand der Narratologie ist traditionell der Text. Gegenstand der Kunstwissenschaft ist das Bild. Auf kunsthistorischer Seite hat Wolfgang Kemp 1989 mit Der Text des Bildes8 sozusagen auf begrifflichem Wege das Bild zu einem möglichen Gegenstand der Narratologie gemacht. Im selben Band verwendet Felix Thürlemann den Begriff des ›Bildtextes‹ im Unterschied zur ›Textillustration‹, als die ein erzählendes Bild oft immer noch – gerade bei der ikonologisch geprägten Untersuchung – verstanden wird. Thürlemanns Annahme, dass das bildnerische Werk grundsätzlich die gleiche Autonomie als primärer Erzeuger von Bedeutung wie für den »Sprachtext«9 besitzt, wird hier als Bedingung für jede weitere Untersuchung seines narrativen Gehaltes vorausgesetzt. Ob und mit welchen spezifischen Möglichkeiten visuelle Kunst in der Lage ist, eigenständig zu erzählen, ist eine der entscheidenden Fragen. Diese befriedigend zu beantworten, verspricht die Heranziehung narratologischer Erkenntnisse und Methoden.
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Kemp, Wolfgang (Hg.): Der Text des Bildes. Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München, 1989. Thürlemann, Felix: »Geschichtsdarstellung als Geschichtsdeutung. Eine Analyse der Kreuztragung (fol.19) aus dem Pariser Zeichnungsband des Jacopo Bellini«. In: Kemp 1989 (wie Anm. 8), S. 89-115, hier S. 90f.
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Narrativität als kognitives Schema Grundlagen für eine intermedial ausgerichtete Erzähltheorie schuf Werner Wolfs Aufsatz Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie, der eine medienübergreifende Methode entwickelt hat.10 Mit Wolf – und vielen anderen – sei auch in diesem Zusammenhang das Narrative als »kognitives Schema«11 aufgefasst, das es uns erlaubt, »verschiedene mediale Vermittlungen miteinander in Verbindung zu bringen«.12 Wolfs Vorschlag für ein Erzählmodell lautet wie folgt: »Das Narrative ist [...] ein kognitives Schema von relativer Konstanz, das auf lebensweltliche Erfahrung, vor allem aber auf menschliche Artefakte, und hier wiederum auf deren makro- wie mikrotextuellen oder -kompositionellen Bereich, applizierbar ist, und zwar ohne dass dabei apriorische Festlegungen hinsichtlich bestimmter Realisierungs- oder Vermittlungsmedien getroffen werden müssen. Dieses Schema nenne ich ›das Narrative‹ bzw. ›das Erzählerische‹.«13 Zu dieser Definition gelangt Wolf über die Festlegung verschiedener Kriterien, die neben dem ontologischen Status die Veränderlichkeit und die Extension des Narrativen betreffen. Die Frage nach der Extension des Narrativen ist mit einer Position zu beantworten, die zwischen der Auffassung des allgegenwärtigen Erzählerischen und derjenigen angesiedelt ist, die das Narrative für bestimmte Medien, beispielsweise den Roman oder den Film, eingrenzt. »Zumindest die Extremformen beider Tendenzen sind [...] zurückzuweisen: eine radikal ubiquitäre Position wegen des Problems, vor ihrem Hintergrund überhaupt Nicht-Narratives noch dingfest machen zu
10 Wolf, Werner: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«. In: Nünning, Ansgar; Nünning, Vera: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, 2002, S. 23-103. 11 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 28f. Das Narrative als »kognitives Schema« wird hier dem Narrativen als »Qualität bereits der Lebenswelt und ihrer Erfahrung« bzw. dem Narrativen als »Eigenschaft von in Artefakten und Texten realisierten oder auch virtuellen possible worlds« vorgezogen. (Diese Auffassung teilt Wolf u.a. mit Marie-Laure Ryan und Filmwissenschaftlern wie David Bordwell.) Als Motivation für dieses kognitive Schema nennt Wolf »anthropologische Grundbedürfnisse des Menschen« wie Sinnbedürfnis, Erlebnishunger und Spieltrieb. Er teilt diese »werkexternen Faktoren des Narrativen« ein in die »Sinngebungs- oder ›philosophische‹ Funktion«, die »repräsentierende und (re-)konstruierende Funktion« sowie die »kommunikative, soziale und unterhaltende Funktion«. Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 32ff. 12 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 28. 13 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 37.
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können, und eine allzu partikularistische Tendenz, da sie eine intermediale Perspektive auf das Erzählerische ausschließt. Es erscheint also [...] sinnvoll, hier eine Zwischenposition einzunehmen, die im Übrigen auch gestattet, das Narrative nicht nur als Rahmen für Gesamtwerke (also auf der Makroebene), sondern auch für bestimmte Werkteile (also auf der Mikroebene) anzunehmen. Eine solche Zwischenposition hat darüber hinaus die [...] Konsequenz, dass das Narrative in seinen Realisierungen nicht auf erzählervermitteltes Erzählen, also auf Erzählungen im engeren, epischen Sinn, beschränkt werden darf.«14 Die hier vorgeschlagene ›Minimaldefinition‹ des Narrativen lautet damit: Erzählen ist die Darstellung wenigstens von Rudimenten einer vorstell- und miterlebbaren Welt, in der ein Geschehen oder ein Zustand auf anthropomorphe Gestalten zentriert und in einen potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zusammenhang eingebunden ist. Demnach können monoszenische Einzelbilder selbst nicht narrativ im Sinne von geschichtendarstellend sein, sondern bestenfalls Geschichten anhand einer Plot-Phase andeuten. Sie verfügen damit per se über einen »relativ geringen Grad an Narrativität«.15
Erzähltes vs. Erzählen und showing/telling Ein wichtiger Aspekt ist die Unterscheidung zwischen Erzählen und Darstellen beziehungsweise showing und telling. Zu differenzieren ist zwischen der Darstellung einerseits und der Handlung bzw. der erzählten Welt (Diegese) andererseits.16 Der Literaturwissenschaftler Stanzel unterscheidet und bezeichnet die schon seit Platon bekannten Möglichkeiten der Distanzierung in der Literatur als berichtende Erzählung bzw. szenische Darstellung.17 In der englischsprachigen
14 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 31. 15 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 73. 16 »Der Terminus Diegese (›diégèse‹) wurde 1951 von Etienne Souriau in die Filmtheorie eingeführt zur Bezeichnung der im Film dargestellten Welt. Gérard Genette übernahm ihn 1972 in die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie als ›das raumzeitliche Universum der Erzählung‹ […]. Souriaus und Genettes ›Diegese‹ darf nicht mit dem Begriff der Diegesis verwechselt werden, mit dem Platon […] generell die dichterische Rede bezeichnet.« Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie [1999]. 5. Aufl. München, 2003, S. 23f., Anm. 4. Die entsprechenden formalistischen bzw. strukturalistischen Termini lauten ›fabula‹ und ›sjužet‹ (Tomaševskij) bzw. ›histoire‹ und ›discours‹ (Tzvetan Todorov). 17 Stanzel, Franz K.: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Wien, 1969, S. 22f.
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Erzähltheorie wird auch das Begriffspaar simple narration und scenic presentation verwendet oder aber die Opposition showing vs. telling.18 Anschaulicher, wenn nicht treffender als die Unterscheidung zwischen berichtend und szenisch scheint für die Untersuchung narrativer Strukturen in der bildenden Kunst die Unterscheidung zwischen Zeigen und Erzählen zu sein, die aus diesem Grunde den anderen Termini vorgezogen werden soll.19 Unabhängig von der Bezeichnung benennen diese Begriffe jedoch dasselbe, und zwar unterschiedliche Abstufungen der Mittelbarkeit. Dies führt zu der Frage nach dem Erzähler der Geschichte, die für die Fotografie ähnlich gestellt werden muss wie für den Film. Im Film gibt es meist keinen klassischen Erzähler. Das führte die strukturalistische Filmnarratologie zu der Frage, wie die audiovisuelle Filmapparatur auch ohne einen solchen Erzähler erzählen kann.20 Dieselbe Fragestellung betrifft alle narrativen visuellen Kunstwerke. Die Filmnarratologie, die sich häufig nicht mit dem einen Schöpfer eines Werkes, sondern mit der »produktionsmittelintensiven und arbeitsteiligen industriellen Produktionsweise im Film«21 konfrontiert sieht, zieht eine nicht-anthropomorphe Bezeichnung des Erzählers vor. Die Menge der angebotenen Begriffe wird auch in diesem Zusammenhang zugunsten des neutralen und auch in der Literaturwissenschaft gebräuchlichen Terminus Erzählfunktion ignoriert.22 In Jeff Walls Eviction Struggle (1988, Großbild-Dia im Leuchtkasten, 229 x 414 cm (Abb. 1), ergänzt durch Video-Installation, 9 Bilder) sind von einem erhöhten Standpunkt die Häuser einer amerikanischen Vorstadt zu sehen. Im Bildmittelgrund weckt eine Szene mit drei Männern die Aufmerksamkeit des Betrachters. Es muss hier gefragt werden, was die auffallend große räumliche Entfernung des Fotografen vom Kernmotiv, der Auseinandersetzung zwischen
18 Vgl. hierzu Martinez/Scheffel 2003 (wie Anm. 16), S. 48. 19 So verwundert es nicht, dass die an der Universität von Hertfordshire am 12. September 2005 abgehaltene Konferenz zu den Beziehungen zwischen Text, Narrativen und Bild den Titel trug: »Show & Tell: Relationships between Text, Narrative and Image«. 20 Vgl. hierzu Griem, Julika; Voigts-Virchow, Eckart: »Filmnarratologie: Grundlagen, Tendenzen und Beispielanalyse«. In: Nünning/Nünning 2002 (wie Anm. 10), S. 155-183, S. 161f. 21 Griem/Voigts-Virchow 2002 (wie Anm. 20), S. 162, Anm. 16. 22 Vgl. zu dieser Diskussion Griem/Voigts-Virchow 2002 (wie Anm. 20), S. 162, Anm. 20: »Branigan […] teilt mit Bordwell […] weitgehend den Zweifel an Sender-Empfänger-Kommunikationsmodellen und sieht die Erzählung primär als Konstruktion im Leseprozess.«
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Abb. 1: Jeff Wall, Eviction Struggle, 1988 den Männern, für die Distanzierung der Narration bedeutet. Die Erzählweise geschieht im dramatischen Modus, also ohne Distanz; das Geschehen wird nicht durch Eingriffe des Erzählers gestört. Die große Entfernung erinnert jedoch daran, dass weder Fotograf noch Betrachter selbst Teil der Ereignisse sind. Anhand dieser Beobachtung sei hier das vermeintlich Banale festgestellt, dass im Bild räumliche Distanz erzählerische Distanz hervorruft. Diese Erkenntnis lässt sich allerdings nicht im vollen Ausmaße umkehren, im Sinne der Formel »je geringer die räumlicher Distanz zum Geschehen, desto geringer ist die erzählerische Distanz«. Besonders interessant unter diesem Aspekt ist bei diesem Werk, dass Wall sich nicht darauf beschränkt, die Fotografie zu präsentieren, sondern der Fotografie Zeitlupen-Videobilder von Nahaufnahmen der auf dem Foto zu sehenden Protagonisten beistellt, also eine Foto-VideoInstallation gestaltet hat.23 Das Heranzoomen eines Motivs, beispielsweise eines Menschen, führt schließlich nicht in den Akteur hinein, wie etwa in der Literatur mit der Bewusstseinsrede, sondern 23 »The video element was made in conjunction with the transparency of Eviction Struggle as an experiment in the relation between still and motion pictures. Each of the figures in the picture was filmed in slow motion from two angles, one at approximately the angle at which they are seen in the large photo, and one reverse angle, taken from a position within the picture’s space. Each view lasts between 3 and 10 seconds. For each figure, the two views were edited into a loop in alternating patterns, each shot linked to the next with a lap dissolve. The loops, which run continuously when the work is exhibited, are shown on a screen set into the reverse side of the wall on which the transparency in its light box is hung. The arrangement of the screens follows, in general, the positions of the figures in the picture.« Jeff Wall, 1995, zit. in Duve, Thierry de; Pelenc, Arielle; Groys, Boris: Jeff Wall. London, 1996, S. 65.
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bleibt an der Oberfläche, die sich schließlich in Raster, Punkte, Farbkleckser, Zellen auflöst, womit das Narrative gänzlich aus dem Werk verschwindet und zum Abstrakten wird.24 Eviction Struggle also zeigt die Auseinandersetzung dreier Männer, ohne dass eine Innensicht möglich wäre oder eine Erklärung für das Geschehen geboten würde. Andererseits sind, bedingt durch die erhöhte Position des Fotografen, Dinge und Ereignisse zu sehen, die den Protagonisten verborgen bleiben. Insofern weiß die Erzählfunktion, der Erzähler, doch mehr als seine Figuren, jedoch nicht über seine Figuren, die konstituierend für die Handlung und somit die Erzählung sind. Der Erzähler – sofern wir hier die Existenz eines solchen annehmen – nimmt in etwa die Position eines unbeteiligten Nachbarn oder zufällig Vorbeikommenden ein.
Fiktionale vs. Faktuale Erzählung Wichtig ist hierbei noch einmal zu betonen: Die fiktionale Erzählung ist »– anders als die faktuale Erzählung – per definitionem weder an einen historischen Sprecher noch an einen realen raum-zeitlichen Zusammenhang gebunden. Vom realen Kontext einer fiktionalen Erzählung aus betrachtet gilt dementsprechend, dass sowohl der Erzähler als auch sein Erzählen eine Fiktion, das heißt nicht mehr als die text- und fiktionsinterne pragmatische Dimension des Diskurses darstellen.«25 Auf Jeff Walls Eviction Struggle angewendet, bei dem es sich um ein fiktives, inszeniertes Szenario handelt, bedeutet diese Definition, dass Jeff Wall als der historische Autor/Urheber nicht identisch ist mit der Erzählfunktion. Die Perspektive, die dem Betrachter im Bild geboten wird, gilt damit nicht als die Jeff Walls, denn es handelt sich nicht um die Dokumentation, die faktuale Erzählung eines Ereignisses, dessen Zeuge er wurde. Die Ebene, auf der sich die Erzählfunktion befindet, bezeichnet die Literaturwissenschaft allgemeinhin mit Gérard Genette als ex24 Ähnliche Überlegungen stellt Homay King an: »Walls Vergrößerung und Zeitlupenanimation der Figuren (in den Videobildern) fordern uns vielmehr auf, unsere eigene Betrachterposition im Hinblick auf Aspekte des Ortes und der Dislozierung zu überprüfen. [...] Außerdem lösen die Nahaufnahmen in der Videokomponente von Eviction Struggle die menschlichen Figuren aus dem Kontext des großen Landschaftsbildes heraus. Die Figuren scheinen daher bis zu einem gewissen Grad abstrahiert.« King, Homay: »Der lange Abschied: Jeff Wall und die Filmtheorie«. In: Ausst.-kat. MUMOK Wien: Jeff Wall. Photographs. 22. März bis 25. Mai 2003 (Red. Achim Hochdörfer). Köln, 2003, S. 118-139, hier S. 126. 25 Martinez/Scheffel 2003 (wie Anm. 16), S. 68.
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tradiegetisch. Auf dieser Ebene kann der Erzähler selbst in Erscheinung treten und gegebenenfalls Informationen über sich mitteilen. Wenn er dann eine Geschichte erzählt, an der er selbst nicht teilhat, dann spricht man davon, dass diese Erzählung eine Binnenerzählung ist und sich auf der intradiegetischen Ebene befindet, die ihrerseits eine weitere Ebene eröffnen kann, die metadiegetisch genannt wird. Dies erinnert an ein mise en abyme, das Bild im Bild (im Bild). In der bildenden Kunst stellt dies einen weitaus selteneren Fall dar als in der Literatur, in der auf diese Strategie immer wieder zurückgegriffen wird.26 In diesem Kontext ist auch wesentlich darauf hinzuweisen, dass eine Geschichte aufgefasst werden muss »als Erzählung eines Erzählers für ein Erzählpublikum«.27 Also nicht die Narration allein kann im Zentrum einer Werkanalyse unter narrativen Gesichtspunkten stehen, sondern mit ihr die Beziehungen zwischen Autor, Erzähler, Erzähltem und Publikum.
Erzählzeit vs. Erzählte Zeit Erzählzeit – Dauer der Darstellung – und erzählte Zeit – Dauer der dargestellten Handlung – sind in den seltensten Fällen deckungsgleich. Sprachlich kann eine große Annäherung zwischen ihnen mit dem Dialog erzielt werden oder aber mit dem Reduzieren einer Geschichte auf einen Moment. Das Problem der Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit für die bildende Kunst wird verkompliziert durch die Diskrepanz zwischen der vollständigen Anwesenheit eines Bildes und seiner langsamen Erschließung; der Bildtext erscheint nicht konstitutiv, wie der sprachliche Text, darum ist die Erzähldauer stark vom Rezipienten abhängig bzw. geht vom Erzähler an ihn über. In diesem Zusammenhang aber muss eingedenk der zuvor gegebenen Definitionen des Narrativen gefragt werden, ob es sich bei solch einem potentiell ewig gedehnten Augenblick überhaupt um eine Narration handelt. 26 Martinez/Scheffel verweisen auf Homers Odyssee und Grillparzers Der arme Spielmann. Zu denken wäre auch an Jostein Gaarders Sophies Welt oder John Irvings Garp und wie er die Welt sah. 27 Kemp 1994 (wie Anm. 6), S. 65: »Die Reihenfolge der drei genannten Aspekte bildet sich durchaus als Rangfolge in der Geschichte der Erzählforschung ab. Die meisten Untersuchungen befassten und befassen sich mit den Erzählungen – ganz gleich, ob die Analysen strukturanalytisch, gattungs-, motiv- oder darstellungsgeschichtlich orientiert sind. Danach kommen Untersuchungen über den Autor und über den Erzähler. Und erst in den letzten 25 Jahren wendet sich das Interesse vermehrt dem Dialog zwischen Erzählung, Erzähler und Adressaten zu.«
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Bei Eviction Struggle wird nicht versucht, möglichst viele Informationen über ein Ereignis in einem Moment zu komprimieren, sondern tatsächlich ist nur ein Augenblick aus einer Handlung zu sehen. Dieser Moment ist es, der nahelegt, darüber nachzudenken, was vorher und nachher passiert ist. Dieser Effekt kann noch nicht narrativ genannt werden, denn ein konkreter Ablauf der Handlung ist nicht abzuleiten, sondern nur vorstellbar. Hier liegt also augenscheinlich eine Entsprechung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit vor, die jedoch dem Medium Fotografie eignet und nicht unbedingt Aufschluss für unsere Frage nach dem narrativen Gehalt des Werkes gibt.28
Unbestimmtheitsstellen In Beschreibungen von visuellen Geschichten der Gegenwart weisen Kunsthistoriker oft darauf hin, dass die erzählten Geschichten ›Wichtiges aussparen‹ oder von einem Ereignis zum nächsten ›springen‹ würden.29 Das Auslassen von Ereignissen und Informationen gehört aber per definitionem zum Erzählen dazu. Ein Erzählen ohne Auslassung ist nicht denkbar. Genauso alt wie das Erzählen ist die Erwartung des Erzählers und die Bereitschaft des Rezipienten, die erzählerischen Leerstellen selbst zu füllen. Die Leerstelle oder Unbestimmtheitsstelle wird unterschiedlich definiert, so werden ihr verschiedene Funktionen zugeschrieben.30 – 28 Es ist allerdings möglich, durch das Verändern der Belichtungszeit auch in der Fotografie die Zeit zu dehnen. Dafür sind Thomas Ruffs nicht-narrative Fotografien von Sternen ein Beispiel. Weniger als die Belichtungszeit der Kamera spielt hierbei eine Rolle, dass das Licht der Sterne sehr lange braucht, um die Erde zu erreichen, so dass auf den Fotografien neben Sternen, die zum Zeitpunkt der Aufnahme existieren, auch Sterne zu sehen sind, die vor Jahrtausenden verglüht sind. Hier findet eine extreme Zeitraffung statt; von einer Momentaufnahme kann keine Rede mehr sein. Lange Belichtungszeiten machen es zudem möglich, Bewegung im Bild, in einem ›Augenblick‹, festzuhalten. 29 Vgl. u.a. Heinrich, Christoph: »Nachwort«. In: Ders. (Hg.): Geschichtenerzähler. Hamburg, 2005, S. 57-59: »Eine jüngere Generation zeigt Ansätze des Narrativen und reflektiert in ihren Werken über die Möglichkeit, mit bildnerischen Mitteln eine Geschichte zu erzählen – oder eben auch die Unmöglichkeit, dies zu tun. [...] Das Rauschen des kontinuierlichen Stroms von Geschichten und Storys [...] bildet den Hintergrund für Erzählungen, die nicht linear, sondern assoziativ und analytisch gebrochen sind.« Ebenda, S. 57f. 30 Kimmich, Dorothee: »Die Bildlichkeit der Leerstelle«. In: Adam, Wolfgang; Dainat, Holger; Schandera, Gunter: Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung.
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Das Wesentliche an ihr ist, dass sie auf der Grundannahme beruht, dass jedes Kunstwerk absichtlich unvollendet ist.31 »Eine Leerstelle lässt sich grob definieren als eine versteckt oder offen markierte Abwesenheit.«32 Sie ist die Stelle, an der sich die Vorstellungen und Fantasien des Betrachters entfalten können und sollen. Als Motivation für eine Auslassung ist vieles denkbar: Dramaturgie, Komik, ›Trick‹, Tabus, aber auch Nachlässigkeit oder Konventionen. Leerstellen sind zudem »historisch variabel«33 und orientieren sich am hermeneutischen Niveau. Das bedeutet, dass eine vom Autor/Regisseur/Künstler wohlbedacht gesetzte Unbestimmtheitsstelle womöglich Jahre nach ihrer Entstehung vom Rezipienten nicht mehr wahrgenommen wird. »Es geht nicht darum, dass Zuschauer oder Leser an bestimmten dafür vorgesehenen Stellen intendierte Reaktionen zeigen. Vielmehr ist eine Leerstelle keine ontologische Größe, sondern bestimmt sich selbst aus der Lektüre. Dort, wo der Leser oder die Leserin auf eine Unbestimmtheit reagiert, ist eine Unbestimmtheitsstelle.«34 Ein Problem für die Beschreibbarkeit stellt außerdem der Umstand dar, dass eigentlich nichts lückenlos, also ohne Unbestimmtheit, dargestellt oder erzählt werden kann; es muss immer etwas ausgespart werden. Das gilt natürlich umso mehr für das Einzelbild. Eviction Struggle könnte als einzige große Unbestimmtheitsstelle bezeichnet werden, da aufgrund der medialen Bedingungen notwendigerweise der weitaus größte Teil der möglichen Geschichte ausgespart werden muss. So würde eine Bestimmung der Unbestimmtheitsstellen hier wohl nicht weiterführen, trotzdem ist es wichtig, genau darauf hinzuweisen, denn so wird noch einmal deutlich, welch begrenzte Mittel das Einzelbild für das Erzählen im Sinne einer klassischen Narration zur Verfügung hat.
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Heidelberg, 2003, S. 319-39, hier S. 321. Im Gegensatz zu den Literaturwissenschaften, in denen man Auslassungen nach Wolfgang Iser Leerstellen nennt und auch den Begriff der Ellipse verwendet, der Filmtheorie, die von ›suture‹ und verschiedenen Schnitttechniken spricht, und der Rezeptionsästhetik, die den Begriff der Unbestimmtheitsstelle geprägt hat, hat man diesen Begriff nur mit Zögern in die kunsthistorische Terminologie aufgenommen. Kemp, Wolfgang (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Berlin, 1992, S. 313. Dotzler, Bernhard: »Leerstellen«. In: Bosse, Heinrich; Renner, Ursula (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg, 1999, S. 211-230, hier S. 213. Vgl. Kimmich 2003 (wie Anm. 30), S. 323. Kimmich 2003 (wie Anm. 30), S. 323.
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Graduierbarkeit von Narrativität Aufgrund der geringen Anzahl der Kunstwerke, die dem klassischnarratalogischen Erzählen entsprechen, erscheint innerhalb einer Untersuchung narrativer Aspekte der bildenden Kunst die Annahme der Graduierbarkeit von Narrativität als der »Fähigkeit von Medien und Werk(teil)en, das Narrative bzw. Geschichten zu vermitteln bzw. zu realisieren«35 als die einzige Möglichkeit, nicht nur eine marginale Menge von Werken berücksichtigen zu können. Die Graduierbarkeit von Narrativität bemisst sich demnach an dem Verhältnis des Anteils von im Werk tatsächlich vorhandenen narrativen Elementen und der notwendigen erzählerischen Ergänzung – der Narrativierung – durch den Betrachter. Der Begriff der Narrativierung ist zentral. Er wird von verschiedenen Erzählwissenschaftlern gebraucht und beschreibt die Fähigkeit oder Handlung des Betrachters, der den Rest der Geschichte imaginieren muss.36 Aber was löst beim Betrachter den Reflex aus zu narrativieren? Im Rahmen einer konkreten erzählerischen Analyse kann es nicht das Ziel sein, die Entscheidungen oder die Reflexe beim Betrachter zu untersuchen, die dazu führen, einen Text oder ein Bild narrativierend zu lesen.37 Wichtiger sind vielmehr »das Erzählerische anzeigende Stimuli, die außerhalb des Wahrnehmenden im Objekt selbst oder in dessen Kontext beobachtet werden können«.38 Mit Wolf sind »unter ›Stimulus‹ allgemeine, auch implizite Elemente, die 35 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 42. Vgl. hierzu auch Scheuermann 2005 (wie Anm. 1), S. 89ff. 36 Bei Bordwell und Chatman begegnet Narrativierung als »inference« (»Schlussfolgerung«). Vgl. Bordwell, David: Making Meaning. Inference and Rhetoric in the Interpretation of Cinema. Cambridge u. London, 1989; Chatman, Seymour: Story and Discourse. Ithaca, 1978. Chatman nennt den Vorgang des Narrativierens auch »Reading out«: »From the surface or manifestation level of reading, one works through to the deeper narrative level. That is the process I call, technically, reading out.« Ebenda, S. 41. 37 David Herman allerdings fordert: »Given that scripts and stories are in some sense mutually constitutive, how readers and listeners process a narrative – and indeed whether they are able to process a narrative – depends on the nature and scope of the world knowledge to which it is indexed. Postclassical narratology should therefore study how interpreters of stories are able to activate relevant kinds of knowledge with or without explicit textual cues to guide them. At the same time, it should investigate how narratives, through their forms as well as their themes, work to privilege some world models over others.« Herman, David: »Scripts, Sequences, and Stories: Elements of a Postclassical Narratology«. In: PMLA (Publications of the Modern Language Association of America), Jg. 112, Oktober 1997, S. 1046-1059, hier S. 1057. 38 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 43.
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zur Anwendung spezifischer narrativer Schemata führen können«, zu verstehen.39 Diese Stimuli begegnen in der erzähltheoretischen Literatur auch als ›cues‹.40
Narreme und Stimuli Neben der Katgeorie der Stimuli bietet der Begriff des Narrems einen Ausweg aus dem Dilemma der schwierigen Beschreibbarkeit narrativer Strukturen. Die »erkennbare Präsenz«41 eines Narrems gehört zu den werkinternen Stimuli, für dessen Darstellung Wolf sich an die vorhergehenden Ausführungen von Ryan und Prince anlehnt. Narreme können als »Faktoren von Narrativität; Kennzeichen, inhaltliche ›Hohlformen‹ und ›Syntaxregeln‹ des Narrativen«42 gelten. Dementsprechend können sie eingeteilt werden in qualitative (zum Beispiel Sinndimension, Darstellungsqualität und Erlebnisqualität), inhaltliche (zum Beispiel Zeit, Ort, antropomorphe Wesen, Geschehen) und syntaktische Narreme (zum Beispiel werk- beziehungsweise textinterne Relevanz, formale und thematische Einheitsbildung, Relevanz). In Eviction Struggle ist eine typische amerikanische Vorstadt zu sehen und, relativ klein, an nicht besonders prominenter Stelle die offensichtlich wütende Auseinandersetzung mehrerer Männer. Das ›Davor‹ und das ›Danach‹ konstituiert sich bei der Betrachtung allein durch das Wissen um bestimmte Handlungsabläufe beziehungsweise menschliche Mechanismen, in diesem Falle Uneinigkeit, Auseinandersetzung, Eskalation bzw. Deeskalation. Dass also dem, was wir hier sehen, eine Uneinigkeit vorausgeht und eine Steigerung oder Beilegung des Streits folgt, entnimmt der Betrachter dem Bereich seines eigenen ›Weltwissens‹. Jeff Wall selbst macht zu der Vergangenheit und der Zukunft der Geschichte keine Angaben. Allerdings nutzt Wall die Möglichkeit des Bildtitels, weiteren Aufschluss über den Inhalt des Bildes zu geben, indem er mit Eviction Struggle angibt, dass es sich bei der Auseinandersetzung um eine Räumung handelt. Hier ist also etwas wie eine intermediale Zuhilfenahme der Sprache zu konstatieren. Der Titel wirkt, genauso wie 39 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 43, Anm. 42. 40 Vgl. Herman 1997 (wie Anm. 37), S. 1046-1059. 41 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 43. Vgl. zu Narremen bzw. »narretemes« Ryan, Marie-Laure: »The Modes of Narrativity and Their Visual Metaphors«. In: Style, Jg. 26, Nr. 3, Dekalb, 1992, S. 368-387; Prince, Gerald: »Remarks on Narrativity«. In: Wahlin, Claes (Hg.): Perspectives on Narratology: Papers from the Stockholm Symposium on Narratology. Frankfurt a.M., 1996, S. 95-106. 42 Wolf 2002 (wie Anm. 10), S. 42.
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die auf dem Bild dargestellte Szene, geschichtenindizierend und erfüllt das qualitative Narrem der Sinndimension ebenso wie das inhaltliche Narrem Handlung (»Struggle«) und dadurch, indirekt, das der Handlungsträger und schließlich das syntaktische Narrem der Einheitsbildung. Im Hinblick auf das Thema dieses Bandes ist es aufschlussreich, abschließend auf den Aspekt der Inszenierung einzugehen. Die Fotografien Jeff Walls sind bekanntermaßen minutiös vorbereitet und inszeniert. Dies wird spätestens bei genauerem Hinschauen offensichtlich. Die Fotografie Eviction Struggle mag zu den weniger offenkundig inszenierten Bildern Walls gehören, jedoch lässt seine Installation zusammen mit bewegten Nahaufnahmen der Akteure keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Inszenierung handelt. Zudem legt die für Wall typische Art und Weise der Installation eines Dias auf einem Leuchtkasten nahe, dass es sich nicht um eine dokumentarische Aufnahme handelt – oder dass das Bild zumindest nicht als Dokumentation gelesen werden soll. Beides – die Ergänzung durch die Videos und die Art der Präsentation – können als Stimuli gelesen werden, die sich auf die Darstellungsqualität beziehen. Das heißt also, dass allein durch die Präsentationsweise die Imagination des Betrachters angeregt wird und die Inszenierung als Stimulus für das kognitive Schema der Narration fungieren kann. Eviction Struggle kann also durchaus als narrativ bezeichnet werden, wenn auch sein narratives Potential, im Gegensatz beispielsweise zu Bildersequenzen und anderen – besonders zeitgebundenen – Medien relativ gering ist. Das wiederum verlangt dem Rezipienten ein hohes Maß an eigener Narrativierung ab; die Geschichte muss also fast vollständig von ihm selbst erzählt werden. Entscheidend ist, dass es die Festlegung einer Minimaldefinition des Narrativen und die Annahme der Graduierbarkeit von Narrativität ermöglichen, die Frage nach dem erzählerischen Gehalt des Werkes differenziert zu beantworten und auf dieser Grundlage eine präzise Werkanalyse vorzunehmen.
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Komposition, Suggestion, Imagination: Henry Peach Robinsons Fading Away MAGDALENA BUSHART
Der Begriff ›narrative pictures‹ wird in der Literatur zur viktorianischen Malerei, einer Definition Raymond Listers folgend, für jene Bilder verwandt, die weder historische Ereignisse noch Genre- oder Theaterszenen zeigen noch der Gattung des ›conversation-piece‹, also eines mit Handlung angereicherten Gruppenporträts, angehören, sondern stattdessen eine Geschichte, Idee oder Anekdote umsetzen, und dies in zeitgenössischem Gewand und an zeitgenössischem Schauplatz.1 Für die Fotografie der Zeit scheinen großzügigere Regeln zu gelten. Nach Katherine DiGiulio sind ›narrativ‹ alle Fotografien, »which illustrate an incident from literature or history, genre scenes from everyday life, present or past, and those, in which a story is implied«.2 Während also Lister die Abgrenzung gegenüber anderen Bildgattungen und den Bezug zur Gegenwart betont, weitet DiGiulio das Spektrum auf Genre und Historie aus. Als gemeinsame Schnittmenge bleibt zum einen die Fokussierung auf Alltagsszenen, zum anderen die Vorstellung, dass die Narration des Bildes nicht notwendigerweise textabhängig sein muss. Beide Kriterien stellen eine erhebliche Herausforderung für den Umgang mit dem Begriff der Narration dar. Zwar leuchtet unmittelbar ein, dass Fotografien, die auf einer literarischen Vorlage basieren oder eine bestimmte Geschichte illustrieren, erzählerischen Charakter haben können; der Betrachter, der mit dem Text beziehungsweise Ereignis vertraut ist, wird das im Bild Gezeigte im Sinne der Vorlage zur Handlung ergänzen. Bei Alltagsszenen, die sich nicht auf Texte oder historische Ereignisse berufen, kann sich ein Verlauf dann ergeben, wenn ent1
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»The type of picture with which we are concerned is that of a story, idea, or anecdote, represented by people in more or less contemporary dress, against a more or less contemporary setting.« Lister, Raymond: Victorian Narrative Paintings. London, 1966, S. 9. DiGiulio, Katherine Mary: Narrative photography exhibited in Britain, 18551863. Ann Arbor, 1988, S. 1.
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weder auf Vorgeschichte oder Nachspiel verwiesen wird oder aber das einzelne Bild als Teil einer Serie erfahrbar ist, die in mehreren Etappen – und durch die Bilder ebenso wie durch die Intervalle zwischen den Bildern – eine Handlung entwickelt.3 Was aber, wenn ein Bild weder die eine noch die andere Bedingung erfüllt, wenn es also weder illustriert noch Verläufe konstruiert – ist in diesem Fall Narration möglich und wenn ja, auf welche Weise? Ich möchte dieser Frage für Henry Peach Robinsons Fading away nachgehen (Abb. 1),4 einem Werk, das zu den hervorragenden Beispielen einer ›narrative photography‹ im 19. Jahrhundert gezählt wird und zugleich als prominenter Vertreter der Kombinationsfotografie gelten kann – eines Verfahrens, bei dem einzelne Motive oder Bildelemente getrennt aufgenommen und die Negative anschließend so bearbeitet werden, dass sie in einem gemeinsamen Abzug zu einer einheitlichen Komposition zusammengeführt werden können. Im Frühjahr 1858 unter Verwendung von fünf Negativen entstanden, wurde Fading away erstmals im September 1858 in London in der Crystal Palace Exhibition öffentlich ausgestellt.5 Dort erregte das Bild so großes Aufsehen, dass es in den nächsten fünf Jahren auf allen wichtigen Fotoausstellungen im In- und Ausland zu sehen war und schließlich, wie David Coleman bemerkt hat, »one of the most discussed single images in the British photographic journals of the nineteenth century«6 wurde. Wovon und wie erzählt Fading Away? Sehen wir uns zunächst jenen Abzug an, der 1858 in London ausgestellt war und sich heute in der Sammlung der Royal Photographic Society befindet.7 Er ist 3
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Zur Erzählform von Bilderserien vgl. Kemp, Wolfgang: »Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung« [1989]. Wiederabdruck in: Heck, Kilian; Jöchner, Cornelia (Hg.): Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp. Berlin u. München, 2006, S. 247-266. Für Angaben zum Künstler wie zum Werk siehe insb. Harker, Margaret F.: Henry Peach Robinson. Master of Photographic Art 1830-1901. Oxford u. New York, 1988; Abrell, Joachim: Der Photograph Henry Peach Robinson. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Mag.-arb., 2003. Typoskript; Coleman, David Lawrence: Pleasant Fictions: Henry Peach Robinson’s Composition Photography. Zugl.: Austin, Univ. of Texas, Diss., 2005, unter: http://reposito ries.lib.utexas.edu/bitstream/handle/2152/2404/colemand35309.09.pdf? sequence=2 (Stand: 22. Januar 2010). Zuvor war das Werk in einer privaten Ausstellung bei Robinsons Freund und Mentor Hugh Welch Diamond zu sehen; vgl. Abrell 2003 (wie Anm. 4), S. 13; zu Diamond vgl. Harker 1988 (wie Anm. 4), S. 19. Coleman 2005 (wie Anm. 4), S. 119. Henry Peach Robinson, Fading away, Albuminsilberabzug, 23,8 x 37,9 cm, National Museum of Photography, Film & Television, Bradford. Sammlung der Royal Photographic Society.
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Abb. 1: Henry Peach Robinson, Fading away, 1858 direkt unterhalb des Bildfeldes von Hand beschriftet. Links steht die Angabe zum Abzug (»First Impression«), dann folgen in der Mitte Autor, Entstehungsort- und zeit (»Henry P. Robinson Leamington June 1858«) und am rechten Rand der Titel (»Fading away«). Unterhalb des Titels werden sechs Zeilen aus Percy Bysshe Shelleys Queen Mab zitiert: »Must then that peerless form/ Which love and admiration cannot view/ Without a beating heart, those azure veins/ Which steal like streams along a field of snow/ That lovely outline which is fair/ As breathing marble, /Perish?«8 Die Verse finden sich auf dem Passepartout wieder, diesmal vom Titel getrennt, dafür ergänzt um den Namen des Dichters. Der Hinweis auf den Fotografen ist an den linken Bildrand gerückt und ebenfalls leicht abgeändert. Nun heißt es: »Photographed from Nature by Henry P. Robinson, Leamington«.9
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Shelley, Percy Bysshe: »Queen Mab. A Philosophical Poem with Notes«. In: Ders.: Poetical Works. Hrsg. v. G.M. Matthews. New York, 1970, S. 763, Vers. 11-17. Die Übersetzung in der deutschen Ausgabe von Beaumont Newhalls History of Photography lautet: »Müssen denn diese unvergleichliche Gestalt, die Liebe und Bewunderung nicht ansehen können ohne ein klopfend’ Herz, diese azurnen Adern, die sich wie Bäche durch ein Schneefeld winden, diese lieblichen Züge, die schön sind wie atmender Marmor, vergehen?« Newhall, Beaumont: Geschichte der Photographie. München, 1998, S. 77. In der Beschreibung des Passepartouts folge ich Abrell 2003 (wie Anm. 4), S. 79.
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Das Bild selbst zeigt einen sparsam möblierten Innenraum mit kahlen Wänden und halbgeöffneten Portieren, die den Blick auf ein ebenfalls geöffnetes Fenster freigeben. Im Vordergrund liegt ein junges Mädchen mit Kissen und Decke auf einem geblümten Polsterstuhl. Ihr halbgeöffneter Mund und die nahezu geschlossenen Lider deuten Erschöpfung an; ihr Blick bleibt unbestimmt – er könnte ins Leere gehen, sich aber auch suchend auf die ältere Frau richten, die am Fußende des Lagers sitzt. Diese erwidert den Blick; die aufgerichtete Haltung und das (soeben?) geschlossene Buch deuten an, dass ihre ganze Aufmerksamkeit der Kranken gilt. Ihr kompositorisches Gegenstück hat sie in der stehenden Frau zu Häupten des Mädchens, die, den Kopf in die Hand gestützt, eigenen Gedanken nachzuhängen scheint. Beide Frauen rahmen das Lager, beide sind im Profil zu sehen, beide beziehen sich in ihrer Körperhaltung auf die Kranke in ihrer Mitte. Zugleich aber unterscheiden sie sich in der Art ihrer Zuwendung: affiziert hier (die junge Frau lehnt sich über die Kranke, als sei sie ihr innig zugetan), zurückhaltend und ohne erkennbare Regung dort. Die Zuordnungen werden durch die Abstufung der Helligkeitswerte noch einmal unterstrichen: Die helle Großform, zu der die Bluse der Stehenden und das Bettzeug der Kranken verschmelzen, hat ihren Kontrapunkt in den dunkleren Kleidern der Sitzenden und dem gemusterten Überwurf über dem Stuhl. Innerhalb der Gesamtkomposition bildet allerdings nicht die Kranke den Mittelpunkt, sondern die Rückenfigur eines Mannes, der halb hinter den Vorhängen verborgen am Fenster steht, einen Arm erhoben, als bedecke er mit der Hand seine Augen. Nicht nur ihre Position – genau auf der Mittelachse des Bildes und zugleich am höchsten Punkt eines die gesamte Gruppe umschreibenden Halbkreises – sichert der Gestalt besondere Bedeutung, sondern auch der Vorhang, der ihr einen eigenen Bereich jenseits des schmalen Raumstreifens zuweist, den sich die Frauen teilen. Der Kontrast zwischen nahezu schwarzen Umrissen des Mannes und den hell gekleideten Mädchen, dem flachen ›Bühnenraum‹ im Vordergrund und dem Tiefenraum mit Fensterblick, erzeugt eine Spannung, die darauf angelegt zu sein scheint, inhaltlich gedeutet zu werden. Zunächst jedoch präsentiert sich das Arrangement von Fading away als hochartifizielle Komposition. Der Fotograf arbeitet mit geometrischen Grundfiguren und Symmetrien, scharfen HellDunkel-Kontrasten und sorgfältig aufeinander abgestimmten Gruppen, Posen, Kostümen, kurz: mit Gestaltungsprinzipien, die jedem Zeitgenossen aus der Malerei vertraut waren. Die Referenz hat programmatischen Charakter. Robinson trat im Streit um den Stellenwert der Fotografie stets für den Kunstcharakter des neuen Me-
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Abb. 2: Holzstich nach David Wilkie, The Blind Fiddler, 1806, in Henry Peach Robinson, Pictorial Effect in photography, being hints on composition and chiaroscuro for photographers, 1869 diums ein, wenn auch, wie er rückblickend erläuterte, weniger mit Worten als mit seinen Werken: »That much vexed question, Is art possible in photography? has been discussed over and over again, yet I have always been content to keep out of the controversy, and with endeavouring to show, however feebly, in my work, how art could be made of it. [...]«10 Den Kunstanspruch begründete er mit Blick auf die Malerei, mit der die Fotografie nicht nur die Aufgabenstellung, sondern auch die theoretischen und gestalterischen Grundlagen teile. Deshalb stand für ihn auch an erster Stelle im Arbeitsprozess die Komposition, in der die ordnende Hand und damit die Konzeption seines Schöpfers sichtbar werde: »A work of art is a work of order, and if the artist is to put the stamp of his own mind on his work, he must arrange, modify and dispose of his materials so that they may appear in a more agreeable and beautiful manner than they would have assumed without his interference.«11 In seiner grundlegenden Schrift zur Kombinationsfotografie, den Pictorial Effects in Photography (1869), zitierte Robinson den Blind Fid-
10 Robinson, Henry Peach: Letters on Landscape Photography. London, 1888, S. 10. 11 Robinson, Henry Peach: Picture Making by Photography [1884]. Nachdr. d. 5. Auflage von 1897. New York, 1973, S. 44. Dass Robinsons Kunsttheorie in vielfacher Hinsicht älteren Modellen, inbesondere den »Discourses« von Sir Joshua Reynolds und John Ruskins »Modern Painters«, verpflichtet ist, sei hier nur am Rande erwähnt; vgl. dazu zuletzt Abrell 2003 (wie Anm. 4); Coleman 2005 (wie Anm. 4).
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Abb. 3: Schematische Umzeichnung der Hauptfiguren in Wilkies The Blind Fiddler, 1806, in Henry Peach Robinson, Pictorial Effect in photography, being hints on composition and chiaroscuro for photographers, 1869 dler des schottischen Malers David Wilkie als Vorbild für diese Art des Arrangierens, Abwandelns und Anordnens (Abb. 2). Bezeichnenderweise betrachtete er Wilkies Bild ausschließlich unter formalen Gesichtpunkten, als verfolge das Arrangement der Gegenstände und der Gruppen im Raum nur ein Ziel: sich zu einem harmonischen und dennoch abwechslungsreichen Ganzen zusammenzuschließen. Für einzelne Motive, wie den Geiger und die ihm gegenübersitzende Frau mit Kind, erläuterte er die Entsprechungen und Variationen von Haltungen, Gestik und Kostümen, die Verteilung von Licht und Schatten und die Abstimmungen in der Linienführung sogar mit Hilfe von Diagrammen (Abb. 3): »It will be seen, that the position of the body is the same in each – stooping a little forward with the head bent down; the lines of the arms, the legs, and the chairs exactly correspond, and the line produced by the child’s arm reaching up repeats the line of the fiddle-stick, while both figures, although different in sex, wear caps; the lines of the dress even, especially above the arms, are symmetrical, and in both cases the back leg of the chair is concealed. This uniformity is not accidental, but must have been produced deliberately and with purpose.«12 Der Blind Fiddler war Robinson aber nicht nur Vorbild für eine perfekte Komposition, sondern auch Beweis dafür, dass ein nach derartig rigiden Regeln angelegtes Bild keineswegs unnatürlich wirken müsse: »What could be more formal, regular, and artificial than this group, and yet what more entirely natural? If art – art 12 Robinson, Henry Peach: Pictorial Effect in photography, being hints on composition and chiaroscuro for photographers. Nachdr. d. Ausg. London 1869. Pawlet, Vermont, 1971, S. 74.
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regulated by laws – were antagonistic to nature, this would not have been the most popular picture of its year, 1806; nor would it have retained its popularity, and become, as it perhaps is, the bestknown picture ever painted in England.«13 Es versteht sich von selbst, dass der Anspruch einer kunstvollen und dennoch ›natürlichen‹ Ordnung auch für Fading away gilt. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles bis ins kleinste Detail durchdacht. Und trotzdem wirkt die Konstellation der Figuren auf den ersten Blick, als könne sie tatsächlich einer bestimmten, wenn auch nicht näher bestimmbaren Situation geschuldet sein. Das führt uns zum zweiten Aspekt von Robinsons künstlerischem Credo. Für Robinson mussten die einzelnen Elemente der Komposition wahr sein, das heißt der Natur entsprechen. Hier befindet sich der Fotograf gegenüber dem Maler im Vorteil, da er sich nicht wirklich von der Natur entfernen kann. Das heißt nicht, dass er sich sklavisch an das halten muss, was er sieht – Robinson insistiert hier auf einer klaren Trennung zwischen »truth« und »fact«, Wahrheit und Tatsache, wobei er »fact« als etwas Getanes oder Existierendes, als Wirklichkeit, »truth« hingegen als Gleichartigkeit mit dem Geschehenen und der Wirklichkeit und als Abwesenheit von Unwirklichkeit definiert –,14 aber er muss mit dem operieren, was ihm die Natur vorgibt. Immerhin bleibt ihm die Möglichkeit, durch die Inszenierung seiner Gegenstände korrigierend einzugreifen: »It is not open to the photographer to produce his effects by departing from the facts of nature, as has been the practice with the painter for ages; but he may use all legitimate means of presenting the story he has to tell in the most agreeable manner, and it is his imperative duty, to avoid the mean, the base, and the ugly; and to aim to elevate his subject, to avoid awkward forms, and to correct the unpicturesque.«15 Um den gefälligen Gesamteindruck zu erreichen, der der Natur entspricht, ohne sie abzubilden, und der überdies wahr ist, ohne wirklich zu sein, bietet sich das Kombinationsverfahren an: Was an einzelnen Motiven aufgenommen worden ist, ist wahr insofern, als es einen Ausschnitt aus der Realität wiedergibt, und das in äußerster Präzision. Es kann aber zugleich nach den Kriterien der Schönheit und Zweckmäßigkeit ausgewählt und verändert werden. Wie einst Zeuxis für sein Bild der schönen Helena die körperlichen Vor13 Robinson (1869) 1971 (wie Anm. 12), S. 70. 14 »I am far from saying that a photograph must be an actual, literal, and absolute fact; but it must represent truth. Truth and fact are not only two words, but, in art at least, represent two things. A fact is anything done, or that exists – a reality. Truth is conformity to fact or reality – absence of falsehood.« Robinson (1869) 1971 (wie Anm. 12), S. 78. 15 Robinson (1869) 1971 (wie Anm. 12), S. 51.
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züge mehrerer Modelle in einer einzigen Figur verschmolz, so Robinson, so sei es die Aufgabe des Kombinations-Fotografen, »to take the best and most beautiful parts you can obtain suitable for your picture, and join them together into one perfect whole«.16 Der Kombinationsdruck macht den Künstler unabhängig von allen Zufällen – ungünstigen Lichtverhältnissen, den Eigenarten der Szenerie oder den Eigenarten des Modells – und sichert ihm die Rolle als Erfinder des Bildes. Erst seine ordnende Hand fügt die Einzelheiten, die die Wirklichkeit liefert, zum Bild zusammen: zunächst im Arrangement der Figuren, dann in der Auswahl der Aufnahmen und deren Kombination im Druck. Damit ähnelt seine Arbeitsweise wiederum der des Malers, der, ausgehend von der Idee, seine Bildmotive in Einzelstudien entwickelt, um sie schließlich nach kompositorischen und inhaltlichen Gesichtspunkten im Gemälde zusammenzufügen. Der Hinweis »Photographed from Nature«, den Robinson auf das Passepartout gesetzt hat, ist also durchaus wörtlich zu nehmen. Grundlage des Bildes ist die Natur, sofern man Natur als Synonym für die sichtbare Welt nimmt. Die Figuren, das Licht, das Mobiliar, die Versatzstücke des Raumes: sie alle sind real und entsprechen, jedes für sich und bis ins kleinste Detail hinein, der »Natur«. Und doch fügen sie sich in ein höheres Ganzes ein – die Komposition – und werden damit Teil einer anderen Wahrheit – der des Künstlers. Wirksam konnte dieses Insistieren auf dem Kunstcharakter des Kombinationsverfahrens allerdings nur werden, wenn Robinson die technischen Probleme, die es mit sich brachte, marginalisierte und zugleich die Konditionen offen legte, unter denen seine Werke entstanden. Die Kombination mehrerer Bilder, so erklärte er deshalb in einem Vortrag vor der Photographic Society of Scotland im März 1860, sei leicht zu lernen und auch von Anfängern zu meistern, der Druckprozess selbst so einfach, dass er diese Aufgabe mittlerweile seinen Lehrlingen überlasse.17 Dass es ihn tatsächlich zwei Monate harter Arbeit gekostet hatte, bis er einen befriedigenden Abzug von Fading away in den Händen hielt,18 verschwieg er. Stattdessen erfuhr das Publikum, dass die Mehrzahl der Bilder in dem winzigen Hinterhof seines Ateliers aufgenommen worden ist, wo Robinson mit Hilfe eines Spatens und einer guten Portion Einfallsreichtum seine Landschaftsgründe zu kreieren pflegte, dass, was auf den Bildern als Berg erscheint, in Wirklichkeit ein künstlich aufgeworfener Erdhaufen, der Pflanzenbewuchs nur locker drapiert und der vorgebliche Fluss eine kleine Mulde war, gespeist vom Abwasser des »print16 Robinson, Henry Peach: »On printing Photographic Pictures from Several Negatives«. In: The British Journal of Photography, Jg. 7, Nr. 115, London, 2. April 1860, S. 94f. 17 Robinson 1860 (wie Anm. 16), S. 94. 18 Harker 1988 (wie Anm. 4), S. 93.
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Abb. 4 und 5: Henry Peach Robinson, The Model (Miss Cundall), 1857 (links), und The Passions: Vanity, 1857 (rechts) washing apparatus«, oder dass die Figuren auf den Bildern keineswegs einzelne Modelle wiedergeben mussten, sondern bisweilen der Kopf dem einen und der Körper einem anderen Modell gehörte.19 Die Indiskretion war wohl kalkuliert. Die Enthüllungen sollten die relative Autarkie des Fotografen gegenüber den »facts« bestätigen und den Blick für den schöpferischen Anteil des Fotografen schärfen. Entsprechend groß war die Enttäuschung, als die Kritik die Bekenntnisse gegen ihren Autor einsetzte. Beleidigt kommentierte Robinson: »It is a great indiscretion for a photographer to show his model, his scenery, or his methods [...]. Better be content with the applause he is sure to get for the completed work, rather than expose all the mean little dodges that go towards building up a complete whole, that shows not only nature, but that nature has been filtered through the brain and fingers of an artist.«20 Thematisiert hatte Robinson die Rolle des Fotografen als »inventor« allerdings schon vor seinem Vortrag von 1860. Auf der Ausstellung der Londoner Photographic Society im Jahr 1858 zeigte er die vierteilige Serie der Passions in einem gemeinsamen Rahmen mit einer Porträtaufnahme der kleinen Miss Cundall, die für die Allegorien posiert hatte, und forderte damit zum Vergleich zwischen dem unkostü19 Robinson 1860 (wie Anm. 16), S. 94. 20 Robinson, Henry Peach: »Autobiographical Sketches. Chapter V«. In: The Practical Photographer, Jg. 8, Nr. 94, Bradford, Oktober 1897, S. 289-296, hier S. 292.
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mierten Mädchen und seiner Inszenierung als »Fear«, »Devotion«, »Vanity« und »Love« (alias »Miniature«) auf (Abb. 4 und 5).21 Modelle, so die Botschaft, sind auch in der Fotografie nur das Rohmaterial, Wachs in den Händen des Künstlers, der sie nach seinen Vorstellungen formt. Weil dafür eine gewisse Gefügigkeit notwendig war, lehnte Robinson den Einsatz von Schauspielern für diese Aufgabe ab: »[…] they know so much, and allow the operator to know so little, that the result is not an artistic picture, but a theatrical study.«22 Miss Cundall hingegen, die für viele Jahre sein bevorzugtes Modell bleiben sollte, erschien ihm in ihrer Unbedarftheit als ideales Medium für die Umsetzung künstlerischer Ideen.23 Die Besucher der Ausstellung 1858 werden von sich aus registriert haben, dass das Modell der Passions mit dem Modell für das kranke Mädchen in Fading away identisch war und konnten auch hier entsprechende Vergleiche anstellen; die Freunde erkannten möglicherweise sogar in der alten spitznasigen Frau zu Füßen der Kranken die Mutter des Künstlers, Eliza Robinson, wieder.24 Für spätere Betrachter wies Robinson in seiner Autobiografie noch einmal auf den Unterschied zwischen Darstellung und Dargestelltem hin: Cundall sei zum Zeitpunkt der Aufnahmen 14 Jahre alt und »a fine healthy girl«25 gewesen. Bei Fading away bleibt der Entstehungsprozess auch ohne solche Zusatzinformationen im Bild sichtbar. Das Kombinationsverfahren ist, darauf hat Joachim Abrell hingewiesen, in einer ganzen Reihe von Details deutlich zu erkennen: Zum einen sind die harten Umrisslinien deutlich auszumachen, wie sie beim Ausschneiden der einzelnen Motive entstehen. Zum anderen gibt es eine Reihe von formalen Ungereimtheiten: Der Korbuntersatz des Tischchens im Vordergrund steht auf einem anderen Teppich als das übrige Mobiliar, der Tisch vor dem Fenster ist im falschen Blickwinkel aufgenommen und der Mann im Verhältnis zu den Frauen zu groß geraten, zieht man die räumliche Entfernung, die die Tiefenstaffelung andeutet, mit in Betracht. Über den Oberschenkeln der Kranken, wenig oberhalb der Knie, lassen sich die Reste eines hellen Recht21 Die Montage wird in der Ausstellungsrezension des Liverpool and Manchester Photographic Journal vom 15. Juni 1858 als »frame, no 159, containing four studies of the passions, together with a portrait of the model« erwähnt. Zit. n. Harker 1988 (wie Anm. 4), S. 26. 22 Robinson 1860 (wie Anm. 16), S. 95. 23 Vgl. Harker 1988 (wie Anm. 4), S. 26. 24 Die Identität zeigt sich im Vergleich mit einer Porträtaufnahme der Mutter aus den Jahren 1857/58. Siehe Harker 1988 (wie Anm. 4), Tf. 24. Zur zeitgenössischen Diskussion über den Einsatz von Modellen vgl. DiGiulio 1986 (wie Anm. 2), S. 78-94. 25 Robinson 1897 (wie Anm. 20), S. 292.
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ecks ausmachen, die wirken, als habe der Künstler für diese Stelle ursprünglich die Einfügung eines rechteckigen Gegenstands – eines weiteren Buches? – geplant und diesen Plan später verworfen. Und schließlich ist zwischen dem Mann und dem Vorhang eine undefinierte graue Fläche stehengeblieben, wo eigentlich die Fensterbrüstung zu vermuten wäre.26 Gerade dieser Bereich, in dem Vorhang, Mann, Korbtisch und alte Frau zusammentreffen, führt die Probleme des ›cut and paste‹ in aller Deutlichkeit vor. Die Mängel fielen auch dem zeitgenössischen Fachpublikum ins Auge, das sie gerne als Argumente gegen das Kombinationsverfahren ins Feld führte. Wenn ein Fotograf mit Kleber und Schere hantiere, so befand beispielsweise der Kritiker Alfred H. Wall, ergebe das kein Kunstwerk, sondern bestenfalls »patchwork«.27 Robinson räumte in seiner Antwort auf Wall zwar bereitwillig Fehler ein, erinnert aber zugleich daran, dass sich Schönheit und Perfektion einander ausschlössen. Dabei berief er sich auf einen in Isaac Disraelis Curiosities of Literature zitierten Aphorismus des Moralisten Nicholas Charles Trublet: »The more there are beauties, and great beauties, in a work, I am the less surprised to find faults, and great faults. When you say of a work that it has many faults, that decides nothing: I do not know by this whether it is execrable or excellent. You tell me of another, that it is without faults: if your account be just, is certain the work cannot be excellent.«28 Die Schwächen in der Umsetzung werden auf diese Weise zum Qualitätskriterium erhoben; zu vermeiden ist vielmehr der »fault of faultlessness«. Das muss nicht notwendig heißen, dass Robinson die Diskontinuitäten und Fehlstellen in Fading away vorsätzlich verursacht hat. Aber er hat sie billigend in Kauf genommen, weil sie den Gestaltungswillen des Fotografen belegen. Nun beansprucht auch Fading away, mehr zu sein als die Summe kunstvoll kombinierter Einzelmotive. Schließlich ist die Komposition kein Selbstzweck, sondern steht im Dienste der künstlerischen Idee und soll eine bestimmte Stimmung transportieren.29 Die erstarrten Posen der Frauen am Lager lassen an Resignation 26 Abrell 2003 (wie Anm. 4), S. 86. 27 Wall, Alfred H.: »›Composition‹ versus ›Patchwork‹«. In: The British Journal of Photography, Jg. 7, Nr. 120, London, 15. Juni 1869, S. 176. Dass das Kombinations-Verfahren seine Parallelen in der Malerei der Präraffaeliten hat, ist schon von der zeitgenössischen Kritik angemerkt worden; vgl. Bertram, Michael: The Pre-Raphaelite Camera. Aspects of Victorian Photography. Boston, 1985, S. 168-173. 28 Robinson, Henry Peach: »Composition NOT Patchwork«. In: The British Journal of Photography, Jg. 7, Nr. 121, London, 2. Juli 1860, S. 189. Vgl. Disraeli, Isaac: Curiosities of Literature [1824]). 3 Bde. Neuausg., hrsg. v. Benjamin Disreali, Earl of Beaconsfield. London, 1881, Bd. 1, S. 88. 29 Vgl. Robinson (1884) 1897 (wie Anm. 11), S. 70.
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und Trauer denken; eingebunden in das feste Gefüge der Dreiergruppe scheinen sie ausschließlich auf das Schicksal der Kranken fixiert. Die Männergestalt hingegen wirkt auf diffuse Weise bedrohlich, nicht nur, weil sie als düstere Silhouette gegeben ist, sondern auch, weil ihre Identität und ihre Gestik unklar bleibt. Eigentlich würde man von ihr als dem Zentrum der Komposition den Schlüssel zu dem Tableau im Vordergrund erwarten – und wird in dieser Erwartung sogleich enttäuscht. Die Rückenfigur gibt keine Informationen preis, weder zur Vorgeschichte noch zum Fortgang der Handlung. Gleichwohl verleiht sie der Szene ein gewisses Spannungsmoment. Dem lähmenden Stillstand setzt sie einen Rest an Bewegung entgegen; die Wendung nach draußen impliziert zugleich eine dramatische Wende des Geschehens, als sei die Erkenntnis des herannahenden Todes plötzlich gekommen, als habe der Abschiedsschmerz sie übermannt, als gäbe es einen Adressaten jenseits des Zimmers, an den sie ihre verhaltene Klage richten könne, als bedürfe es eines Augenblicks der Einsamkeit, um die Situation mit den drei Frauen auszuhalten. Die Stimmung wird aber nicht allein durch die Konstellation der Figuren vorgegeben, sondern auch durch das Verhältnis von Text und Bild. Der poetische Titel ist ebenso wenig eindeutig wie die Szene; ›to fade away‹ kann ebenso ›(dahin-)schwinden‹ wie ›verschwinden‹ oder ›sterben‹ bedeuten. In jedem Fall aber verstärkt er das Gefühl der Aussichtslosigkeit – für die Krankheit gibt es offensichtlich keine Besserung mehr. Die sechs Zeilen aus Queen Mab, die wie ein Kommentar unter das Bild gesetzt sind, scheinen sogar den unmittelbar bevorstehenden Tod des Mädchens anzukündigen. Sie könnten den Schluss nahelegen, Fading away habe Shelleys »Philosophical Poem« illustrieren sollen. Als literarische Vorlage erscheint Queen Mab jedoch denkbar ungeeignet. Dem Dichter dient die phantastische Handlung – die Seele der schönen Ianthe löst sich im Schlaf vorübergehend von ihrem Körper, um der rätselhaften Feenkönigin Mab in deren Palast am Ende des Universums zu folgen – nur als Rahmen, um seine Sicht auf die historische Entwicklung der Welt, auf Gesellschaft, Religion, Moral, Liebe, Leben und Tod zu erörtern. Am Schluss erwacht die junge Frau und sieht zugleich mit dem Geliebten, der ihren Schlaf bewacht hat, die Sterne am Firmament. Die zitierten Verse gehören zur Anfangssequenz, die die Ähnlichkeit von Tod und Schlaf thematisiert. Auf die Frage: »Will Ianthe wake again [...]?« folgt umgehend die erlösende Antwort: »Yes! she will wake up again,/ Although her glowing limbs are motionless [...].« (Vers 27-31) Durch die Verkürzung im Zitat verwandelt sich die rhetorische Frage in die Beschreibung eines langsamen Sterbens, durch die Kombination mit dem Titel Fading away wird die Option zum Fakt. Shelleys Verse unterliegen damit der gleichen
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Behandlung wie die Modelle und die Einzelmotive des Bildes – sie werden zum Material, über das der Künstler, seiner Idee entsprechend, verfügen kann. Eine stärkere Vereinheitlichung des Kombinationsdrucks, wie Coleman vermutet, lässt sich auf diese Weise kaum erzielen.30 Da Robinson bei seinem Publikum die Kenntnis von Queen Mab voraussetzen musste, wird er vielmehr das Wissen des Betrachters um den ursprünglichen Kontext mit ins Kalkül gezogen haben. Stellt doch die Differenz zwischen ›eigentlicher‹ und neuer Bedeutung einmal mehr das schöpferische Potential des Kombinierens unter Beweis.31
Abb. 6: Henry Peach Robinson, She never told her love, 1857 Ähnlich doppelbödig hatte Robinson Text schon für die zeitlich vor Fading away entstandene, aber gemeinsam mit diesem Bild auf der Ausstellung im Crystal Palace präsentierte Fotografie She never told her love32 eingesetzt (Abb. 6). Das Bild zeigt Miss Cundall wie in Fading away auf dem Polsterstuhl liegend, diesmal allerdings ohne Begleitpersonen und ohne weitere Andeutungen eines Interieurs.
30 Coleman 2005 (wie Anm. 4), S. 128. 31 Ein doppeltes Spiel ist übrigens auch für den Titel nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen. Fading away könnte jenseits aller melodramatischen Implikationen auch wörtlich, als ›Ausbleichen‹ verstanden werden: als partielles Verschwinden der Mädchengestalt in der Überbelichtung, der bereits die Hände der Kranken zum Opfer gefallen sind. 32 Henry Peach Robinson, She never told her love, 1857, Albuminabzug, 18,0 x 23,2 cm, Gernsheim Collection im Harry Ransom Humanities Research Center, University of Texas, Austin. Zur Präsentation in der Ausstellung vgl. Harker 1988 (wie Anm. 4), S. 101.
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Die Mädchengestalt scheint in der Luft zu schweben; auf ihr sammelt sich das ganze Licht, während die Umgebung einschließlich der Stuhlbeine im Dunkel versinkt. Ihre Ortlosigkeit vor der schwarzen Fläche erinnert an Skizzenblätter mit Figurenstudien, die in ähnlicher Isolation auf weißem Grund stehen. Offensichtlich ging es Robinson darum, das Bild als Studie für das kranke Mädchen zu deklarieren und mit ihm den Kunstcharakter von Fading away auch im Hinblick auf den Entstehungsprozess anschaulich zu machen. Ein inhaltlicher Bezug zwischen den beiden Bildern wird deshalb nicht hergestellt. Im Gegenteil: Schon der Titel She never told her love weist dem Bild eine Idee zu, die nur bedingt mit Fading away harmoniert (oder nur unter der Voraussetzung, dass das Mädchen von Fading away an ihrer Liebe stirbt). Er ist, wie auch die Verse auf dem Passepartout des auf der Ausstellung gezeigten Abzugs, William Shakespeares Twelfth Night (Was Ihr wollt) entnommen. Im 2. Akt, 4. Szene, Vers 111-113 will die als Mann verkleidete Viola dem misogynen Herzog eine Lektion über die unbedingte Liebesfähigkeit ihrer Geschlechtsgenossinnen erteilen. Selbst unglücklich in den Herzog verliebt, erfindet sie eine Schwester, die ihre Liebe für sich selbst behalten habe und darüber in tiefste Melancholie versunken sei.33 Natürlich will der Herzog wissen: »But died thy sister of her love, my boy?« Er wird jedoch von Viola (die, wie wir Zuschauer oder Leser wissen, mit der still liebenden Schwester letztlich ihre eigene Situation beschreibt) mit der zweideutigen Auskunft abgespeist: »I am all the daughters of my fathers house, and all the brothers too, – and yet I know not –.«34 Robinson wählte für das Passepartout die ersten drei Zeilen von Violas Ausführungen: »She never told her love/ But let concealment, like a worm i’ the bud,/Feed on her damask cheek.«35 Wieder scheint die Uneindeutigkeit der Textstelle mit Bedacht gewählt zu sein. Diesmal allerdings entspricht sie noch einem ganz anderen Sinn der Unbestimmtheit der Szene. So wenig, wie der Herzog vom weiteren 33 »She never told her love,/ But let concealment, like a worm i´ the bud/ Feed on her damask cheek. She pined in thought, And with a green and yellow melancholy,/ She sat like patience on a monument,/ Smiling at grief. Was not this love indeed?« In der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel lauten die Verse: »Sie sagte ihre Liebe nie/und ließ Verheimlichung, wie in der Knospe den Wurm/ an ihrer Purpurwange nagen/sich härmend, und in bleicher, welker Schwermut, saß sie wie die Geduld auf einer Gruft, dem Grame lächelnd, Sagt, war das nicht Liebe...?« Shakespeare, William: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1. Übers. v. Wilhelm August Schlegel. Berlin, 1975, S. 759. 34 In der Übersetzung Schlegels: »Ich bin, was aus des Vaters Haus an Töchtern/und auch von Brüdern blieb; und doch, ich weiß nicht... .« 35 Die Bildunterschrift zit. nach Harker 1988 (wie Anm. 4), Tf. 45.
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Schicksal der vorgeblichen Schwester erfährt, so wenig erfahren wir vom Schicksal der jungen Frau, die, von allem erzählerischen Beiwerk verlassen, auf ihrem Stuhl liegt und, lässt man den Titel beiseite, durchaus auch als Bild einer friedlich Schlafenden verstanden werden könnte. Die versatzstückartige Struktur von Fading away teilte die zeitgenössische Kritik in zwei Lager. Während die eine Seite vor allem die einzelnen Elemente – Staffage, Modelle, Titel, Text – wahrnahm und die Plausibilität der Zusammensetzung diskutierte (und zumeist heftig kritisierte),36 war die andere bereit, die Darstellung als Geschichte zu lesen, unabhängig davon, wie man hier die Qualität der Arbeit beurteilte. Das Rezeptionsmuster gab George Shadbolt vor, der im Juni 1858 eine der ersten, wenn nicht sogar die erste Beschreibung des Bildes lieferte. Shadbolt deutete die rechte Frau als von ihrer Trauer absorbierte Schwester, die linke als Mutter, die den fortschreitenden Verfall voller Sorge beobachtet, den Mann im Hintergrund aber als den Geliebten der Kranken, der sich mit einer Geste der Trauer dem offenen Fenster zugewandt hat und den Sonnenuntergang beobachtet als »emblem of the waning life of the beloved object beside him«.37 Auch für die anderen Autoren dieses Lagers stand die Identität der Figuren, die Glaubwürdigkeit der Handlung und ihr Bezug zu aktuellen moralischen Standards im Zentrum des Interesses: Zeigt die Miene der Mutter zu wenig vom Schmerz um das sterbende Kind oder hat sie sich in langen Monaten der Krankheit in das Schicksal ergeben? Resultiert ihre Fassung aus ihrer Festigkeit im Glauben und der Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits oder ist sie einfach gefühlskalt? Ist der Mann am Fenster der Geliebte der Kranken, ihr Verehrer oder ihr Vater? Und, sofern es sich um den Geliebten oder den Verehrer handelt: Wirkt er nicht deplatziert angesichts der Tatsache, dass die Hauptperson fast noch ein Kind ist? An welcher Krankheit siecht das Mädchen überhaupt dahin? Handelte es sich, was der Titel nahelegen könnte, um die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Schwindsucht – eng36 Besonders deutlich wird diese Rezeption in einer Rezension, die 1859 im Journal of the Photographic Society erschienen ist und in der es heißt: »When […] a photographer, having placed certain persons in an attitude, and surrounded them with various ›properties,‹ takes a photograph of the group, and presents it with all the stiffness of arrangement […] and asks your admiration for it under some poetic or suggestive title, the most unobservant is struck with the incongruity, and the instructed eye turns from it with disgust.« Zit. n. Coleman 2005 (wie Anm. 4), S. 134. Zu dieser Art der Kritik vgl. auch Newhall 1998 (wie Anm. 8), S. 77-79. 37 [Shadbolt, George]: »Editorial«. In: Liverpool & Manchester Photographic Journal, Jg. 2, Nr. 12, London, 15. Juni 1858, S. 147-148, zit. n. Coleman 2005 (wie Anm. 4), S. 119.
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lisch ›consumption‹, im modernen Sprachgebrauch Tuberkulose –, die auch in Malerei und Literatur der Zeit vielfach thematisiert wird? Oder besteht ein Zusammenhang zwischen der Krankheit und der Anwesenheit des Mannes, ist das Mädchen also in Folge einer (dann wohl eher unglücklichen) Liebe erkrankt?38 Robinson selbst hat zu dieser Diskussion lange Jahre geschwiegen. Erst in seinen Autobiographical Sketches nahm er implizit zur Art der Krankheit Stellung, wenn er von Briefen trauernder Eltern berichtete, die ihr Kind verloren hatten, »for the dying girl seemed to be like every other young girl dying of consumption in the country«.39 Der Intention des Bildes hätten Vorab-Festlegungen vermutlich auch nicht entsprochen. Anders als in seinen Umsetzungen literarischer Vorlagen, wie der Lady of Shalott, Elaine Watching the Shield of Lancelot (1859/69) oder der Serie Red Riding Hood (1858) scheint es Robinson in Fading away nicht um eine Erzählung, auch nicht um die Illustration einer Geschichte oder einiger Gedichtzeilen gegangen zu sein, sondern um ein Gefühl, erzeugt mit den Mitteln der Komposition und gesteuert durch Titel und Textbeigabe.40 Dafür spricht die Variante von Fading away, die ebenfalls 1858 datiert wird, deren genaue Funktion allerdings ebenso ungeklärt bleibt wie die Form der öffentlichen Präsentation (Abb. 7). Sie ist wohl als Versuch einer Korrektur zu verstehen, da einige Problemstellen der ersten Fassung abgemildert sind: Das Korbtischchen im Vordergrund passt sich nun etwas besser der Umgebung an; das helle Rechteck oberhalb der Kranken ist verschwunden, zugleich die Belichtung der Figur reguliert, so dass nun die kraftlos im Schoß liegende Hand des Mädchens sichtbar wird. Und schließlich wird die undefinierbare graue Fläche neben dem Mann durch einzelne Lichtpunkte aufgehellt und wirkt deshalb nicht mehr so stark als Fremdkörper. Und doch gibt es eine Reihe von Veränderungen, die weniger dem Wunsch nach Verbesserung geschuldet sein dürften als dem Bedürfnis, noch einmal die gestalterischen Möglichkeiten der Bildidee
38 Stellvertretend sei hier auf die Rezensionen von William Crookes (Crookes, William: »Critical Notices: The Photographic Exhibition at the Crystal Palace«. In: The Photographic News, Jg. 1, Nr. 4, London, 1858, S. 40f.) und eines »Ex-Member of the Council« (»Correspondence: Exhibition of the Photographic Society«. In: The Photographic News, Jg. 2, Nr. 27, London, März 1859, S. 8f.) verwiesen. Zur Diskussion sowie zu den zitierten Positionen vgl. DiGiulio 1986 (wie Anm. 2), S. 116; Coleman 2005 (wie Anm. 4), S. 121-131. 39 Robinson (1884) 1897 (wie Anm. 11), S. 292. 40 Tatsächlich sprach Robinson nachträglich von einem »morbid sentiment«, das er mit Fading away habe erreichen wollen; Robinson, Henry Peach: »Autobiographical Sketches, Chapter VI«. In: The Practical Photographer, Jg. 8, Nr. 96, Bradford, Dezember 1897, S. 353-359, hier 357.
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Abb. 7: Henry Peach Robinson, Fading away, 1858 auszutesten. Robinson hat nämlich nur die Figuren der alten Frau und des stehenden Mannes unverändert übernommen, für die Kranke hingegen eine neue Pose, für das stehende Mädchen ein anderes Modell und für das Buch auf dem Polsterhocker im Vordergrund ein anderes Format gewählt – das belletristische Werk ist zum (Bilder-)Album mutiert. Das Gestell und Bezug der Chaiselongue sind wegretouchiert und die Bildränder beschnitten, beides Maßnahmen, die die Anordnung der Möbel im Raum verunklären. Vor allem aber sind die Blickbezüge aufgehoben: Die Kranke hat den Kopf ins Profil gedreht, als habe sie den Kontakt zur Umgebung bereits abgebrochen. Die Stehende deutet keine Zuwendung mehr an, sondern starrt über das liegende Mädchen hinweg zu der alten Frau, die ihrerseits, wie im ursprünglichen Arrangement, auf die Kranke fixiert bleibt. Einerseits verstärkt Robinson durch die Unterdrückung der räumlichen Komponenten die kompositionelle Einheit – die Figuren scheinen näher zusammenzurücken, die Gegenstände, die in der ersten Version einen Gutteil der Aufmerksamkeit beanspruchen, in den Hintergrund zu treten. Andererseits aber verweigert er mit dem Verzicht auf eine innerbildliche Kommunikation noch den letzten Rest einer in sich geschlossenen Erzählung. Geliefert werden in beiden Fassungen nur die Ingredienzien; der eigentliche Akt des Erzählens obliegt dem Betrachtenden. Er muss Mutmaßungen anstellen über die Krankheit, die Identität der Figuren und die Rolle des Mannes, und er muss seine Imagination mobilisieren, um eine Handlung zu konstruieren. Obwohl die englische Kunst um die Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Darstellungen Toter,
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Sterbender oder Kranker hervorgebracht hat,41 kann er seine Erfahrungen mit anderen Kunstwerken nur bedingt einsetzen: Die Vierergruppe entspricht keinem gängigen Bildmuster. So gesehen war es nur folgerichtig, dass die Kritiker und die verwaisten Eltern jeweils ihre eigenen Erlebnisse, gesellschaftlich-moralischen Vorstellungen und Geschichten in Fading away entdeckten. Mit seiner Offenheit bleibt Fading away ein Einzelfall in Robinsons Œuvre. Während die Genreszenen häufig porträthaften oder allegorischen Charakter haben42 beziehungsweise dann, wenn sie eine Handlung vorgeben, mit etablierten Bildformeln arbeiten,43 stehen den literarisch inspirierten Werken erläuternde Texte zur Seite, über die sich die Geschichte erschließt. Und doch bringt der Kombinationsdruck das definitorische Problem für die fiktionale und inszenierte (oder komponierte) Fotografie des 19. Jahrhunderts auf den Punkt. Sobald sie den sicheren Boden einer literarischen Vorlage oder eindeutig lesbarer (weil allgemein bekannter) Bildmuster verlässt und zugleich darauf verzichtet, Hinweise auf zeitliche Verläufe zu geben, ist sie nicht mehr ›narrativ‹ in dem Sinn, dass sie tatsächlich auf eine Geschichte festzulegen ist. Vielmehr belässt sie es bei einem Angebot gefühlshaltiger Konstellationen, das sein narratives Potential erst in der Vorstellung des Betrachters entfaltet. Den entsprechenden Mechanismus hat Alfred H. Wall für die Studie eines auf Kunden wartenden Schuhputzers von Oscar Rejlander beschrieben: »In Rejlander’s study a story is told – a story of weary waiting without the anxiously looked-for work, and constant slumber. An idea simple enough in itself, but one which suggests a story, and a story which suggests something awakening pity, setting the
41 Zur Diskussion möglicher Vorbilder in der Malerei vgl. DiGiulio 1986 (wie Anm. 2), S. 36-39; Harker 1988 (wie Anm. 4), S. 27. Brian Lukacher hat überdies auf Hugh Diamonds Porträtaufnahmen psychisch kranker Frauen hingewiesen, die möglicherweise Anregungen für das Motiv des liegenden Mädchens geliefert haben. Siehe Lukacher, Brian: »Powers of Sight. Robinson, Emerson, and the Polemics of Pictorial Photography«. In: Handy, Ellen (Hg.): Pictorial Effect, Naturalistic Vision. The Photographs and Theories of Henry Peach Robinson and Peter Henry Emerson. Norfolk, 1994, S. 29-53, hier S. 34. 42 Als Beispiele für Genrebilder mit Porträtcharakter sind etwa On the HillTop (1860), Jenny (1857) oder On the Way to Market (1864/65) zu nennen, für die allegorisch aufgeladenen Genreszenen insbesondere Bringing home the May (1862), Autumn (1863), When the Day’s Work is Done (1877) und Dawn and Sunset (1885). 43 Vgl. Here they come (1859), A Holiday in the Wood (1860) oder das besonders stark dem genrehaften Sujet der Briefleserin verpflichtete The Valentine (1885).
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imagination a jog, inducing one to think about him and the life he leads, and making one the better for having seen it.«44
44 Wall, A.H.: »Rejlander’s Photographic Studies: Their Teachings and Suggestions«. In: The Photographic Times and American Photographer, Jg. 16, Nr. 260, Oktober 1886, S. 556-567, zit. n. Novak, Daniel A.: Realism, Photography, and nineteenth-century Fiction. Cambridge, 2008, S. 161, Anm. 65.
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Die Aneignung der Orientmalerei. Europäische Atelierfotografie in Nordafrika im 19. Jahrhundert SILKE FÖRSCHLER
François Arago hält am 3. Juli 1839 vor der Chambre des Députés und am 19. August vor der Académie des Sciences eine Rede, um dem französischen Staat den Ankauf des Patents für die Daguerreotypie nahezulegen. Seine Empfehlung bezieht sich unter anderem auf den Einsatz der neuen Technik bei wissenschaftlichen Expeditionen nach Nordafrika.1 Gründe, die Arago für den Einsatz der Daguerreotypie anführt, sind Dauer und Wahrhaftigkeit des neuen Mediums. Beide Eigenschaften erläutert er anhand der Grafiken, die während der versuchten Eroberung Ägyptens durch Napoleon entstanden sind und in der Description de l’Egypte veröffentlicht wurden.2 Sind diese Bilder, so Arago, aufgrund der genutzten Reproduktionsmittel schon sehr exakt, wären sie als Fotografien wahre Bilder, die der gelehrten Welt trotz der Zerstörungslust der Araber und einiger Reisender die ägyptischen Monumente für immer 1
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»A l’inspection de plusieurs des tableaux qui ont passé sous vos yeux, chacun songera à l’immense parti qu’on aurait tiré, pendant l’expédition d’Égypte, d’un moyen de reproduction si exact et si prompt; chacun sera frappé de cette réflexion, que si la photographie avait été connue en 1798, nous aurions aujourd’hui des images fidèles d’un bon nombre de tableaux emblématiques, dont la cupidité des Arabes et le vandalisme de certains voyageurs, ont privé à jamais le monde savant.« Arago, François: »Rapport sur le Daguerréotype. Lu à la séance de la Chambre des Députés le 3 Juillet 1839, et à la Académie des Sciences, le 19 Aout, Paris 1839«. In: Frizot, Michel; Ducros, Françoise (Hg.): Du bon usage de la Photographie. Paris, 1989, S. 11-14, hier S. 11. Die erste Auflage der Description de l’Egypte, ou Recueil des observations
et des recherches qui ont été faites en Egypte pendant l’expédition de l’armée française erscheint zwischen 1809 und 1828 in 23 Bänden (zehn Text- und 13 Tafelbänden). Eine zweite Auflage im handlichen Oktavformat wird zwischen 1820 und 1830 von Panckoucke verlegt.
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erhalten würden. Außerdem werden, so Arago, mit der neuen Technik Personal und Zeit gespart, deren Aufwand für das Abzeichnen der Hieroglyphen während der Ägyptenexpedition immens war.3 Würde man das Institut d’Egypte mit Apparaten Daguerres ausrüsten, könnte man die fiktiven Hieroglyphen der Tafeln der Description durch die echten der Fotografie ersetzen. Generell, so Arago, überragen die Daguerreotypien mit ihrer Wahrheitstreue die Werke der berühmtesten Maler.4 Anhand dieser Ausführungen von Arago, die die neue Technik mit dem Erfassen der ägyptischen Ausgrabungen verbinden, wird deutlich, dass das fotografische Verfahren seine Legitimation dadurch erhält, einen vorgefundenen Zustand dokumentieren und damit bewahren zu können. Die Wahrheitstreue der Bilder wird höher eingeschätzt als die der Malerei oder der Grafik. Als Beispiele für frühe Reise-Daguerreotypien, die als seitenverkehrte Direkt-Positive entstehen, ist die Serie Excursion daguerienne. Vues et monuments les plus remarquables du globe zu nennen, deren Aufnahmen in regelmäßigen Abständen zwischen 1842 und 1844 herausgegeben werden und die schließlich in zwei Bänden erscheinen. 111 Ansichten von Paris sowie vom übrigen Frankreich, von Italien, Deutschland, der Schweiz, England, Konstantinopel, Jerusalem, Damaskus, Kairo und den Pyramiden wählt der Herausgeber, Noël-Paymal Marie Lerebours, ein Optiker, der die Fotografen mit einer von ihm gefertigten Ausrüstung ausstattet, unter 1200 Blättern für den Druck aus. Zu den bekannten frühen Orientfotografien gehören auch die Kalotypien von Maxime du Camp, der Ägypten, Syrien und Palästina von 1849 bis 1851 gemeinsam mit Gustave Flaubert im Auftrag des Ministère de l’Instruction publique in archäologischer Mission bereist und neue Apparaturen zum Einsatz bringt. Ist das vorrangige Ziel dieser frühen Reiseaufnahmen die neue Technik anhand von antiken Schätzen und architektonischen Sehenswürdigkeiten fremder Gegenden zu erproben, verändert sich die orientalistische Fotografie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch neue Motive und Herstellungsbedingungen zu einer »narrativen Wundermaschine«.5 So wird mit dem Verfahren der Kalotypie die Belichtungszeit auf Sekunden verkürzt und der Papierabzug eines lichtempfindlichen Bildträgers muss nicht sofort entwickelt werden. Der Wandel der Motive der Orientfotografie dieser Zeit hängt damit zusammen, dass Aufnahmen nicht mehr nur von Reisenden 3 4 5
Arago 1989 (wie Anm. 1), S. 11. Arago 1989 (wie Anm. 1), S. 12. Bloch, Werner: »Wunschwelten in der Wüste. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die ersten Fotos aus dem Orient eine Sensation – und zeigten doch westliche Projektionen«. In: Süddeutsche Zeitung, Jg. 65, Nr. 169, München, 25./26. Juli 2009, S. V2/6.
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gefertigt werden, sondern zunehmend in Ateliers in Nordafrika, Konstantinopel und Paris entstehen. In den Ateliers werden Aufnahmen für Reisealben, für dokumentierende Bestandsaufnahmen, für Postkarten sowie für die dekorative Wandgestaltung gefertigt. Im Zuge der Verlagerung von Aufnahmen der archäologischen Stätten hin zu atmosphärischen Szenen im Atelier gewinnt die Inszenierung von Motiven an Bedeutung. Hier lässt sich fragen, nach welchen Bildmustern die Zeugnisse aus dem Orient arrangiert werden und welcher Status der Inszenierung zukommt. Die These dieses Aufsatzes lautet, dass in der Orientfotografie des 19. Jahrhunderts im Atelier eine Re-Inszenierung von fiktionalen und dokumentarischen Bildelementen der Malerei stattfindet und die Orientmalerei den Referenzrahmen bildet, um die Glaubhaftigkeit der fremden Kultur zu garantieren. Im Folgenden soll dieser These anhand von Aufnahmen der Fotografen Moulin, Sebah & Joaillier und Arnoux nachgegangen werden. Der französische Fotograf Félix Jacques Moulin unterhält in den 1870er Jahren in Paris ein Fotoatelier, das auf Aktdarstellungen spezialisiert ist. In den Jahren 1877 und 1878 reist Moulin mit Achille Quinet auf Empfehlung des Kriegsministers Maréchal Vaillant nach Algerien, um dort Sehenswürdigkeiten, das kolonisierende Militär und hochrangige Algerier zu fotografieren sowie Aufnahmen aus der Kategorie scènes et types im Atelier anzufertigen.6 Im Jahre 1859 veröffentlicht Moulin 459 Aufnahmen unter dem Titel L’Algérie photographiée. Publication nationale sous les auspices de S.E. le Ministre de la Guerre. In einem Werbeschreiben für Subskribenten heißt es, die Intention des Werkes sei, Algerien bekannter zu machen. Die Aufnahmen sind nach Provinzen des Landes sortiert und zeigen deren Generäle, größere Städte, römische Ruinen, Sehenswürdigkeiten, Oasen und arabische Dörfer. Atelieraufnahmen sind ebenfalls Teil des Albums. Im Ganzen vermittelt das kommerziell erfolgreiche Album ein offizielles und gleichzeitig pittoreskes Portrait einer Kolonie, die vom französischen Militär verwaltet und beherrscht wird.7 Eine Interieuraufnahme aus dem Album mit dem Titel Mauresque et Négresse d’Alger. Costume d’Interieur (Abb. 1) zeigt eine sit6
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Moulin veröffentlicht zu Beginn seines 18 Monate währenden Aufenthalts in Algerien einen Bericht über seine Arbeit vor Ort, seinen Alltag und die Schönheit des Landes. Er beschreibt, wie er seine Fotoausrüstung, die 1100 kg wiegt, im heißen Afrika transportieren muss. Moulin, Félix Jacques: »La Photographie en Algérie«. In: La Lumière. Revue de la Photographie, Jg. 6, Nr. 12, Paris, 22. März 1856, S. 45-46, hier S. 46. Vgl. Mondenard, Anne de: »Algérie, terre oubliée des photographes en Orient«. In: Guégan, Stéphane (Hg.): De Delacroix à Renoir. L’Algérie des peintres. Paris, 2003, S. 109-113.
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Abb. 1: Félix Jacques Moulin, Mauresque et Négresse d’Alger, Costume d’Interieur, 1857 zende weiße weibliche Figur und eine stehende Schwarze. Neben den Hautfarben wird der Unterschied zwischen den Figuren durch ihre Bekleidung hervorgehoben. Die Hellhäutige trägt fein gearbeitete Kleidung, während die Dienerin mit einem grob gestreiften Kleid und einer einfachen Kopfbedeckung bekleidet ist. Die Albuminpapier-Technik, mit der Moulin seine Fotos herstellt, gibt dem Papier durch seine zweifache Beschichtung eine Oberfläche, die Kontraste verstärkt und damit die Hautfarbendifferenz von schwarzer und weißer Figur betont. Diese Anordnung einer weißen und einer schwarzen weiblichen Figur im Interieur folgt der Ikonografie von Haremsdarstellungen, wie sie in der Orientmalerei des 19. Jahrhunderts zu finden ist. Diese Ikonografie bezieht sich auf europäische Reiseberichte seit dem 17. Jahrhundert, in denen hellhäutigen Sklavinnen als Geliebte des Sultans anhand bestimmter Kriterien beschrieben und mit entsprechenden Titeln, wie Sultane oder Odaliske, versehen werden.8 Die dunkelhäutigen sind in den Schilderungen die Dienerinnen der hellhäutigen. Mit der Differenz zwi-
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Als Beispiele lassen sich folgende Reise- und Hofberichte nennen: Rycaut, Paul: Histoire de l’Etat présent de l’Empire ottoman. Paris, 1670; Ferriol, Charles de: Recueil de cent estampes representant differentes Nations du
Levant tirées sur les Tableaux peints d’après Nature en 1707 et 1708 par les Ordres de M. de Ferriol Ambassadeur du Roi. Paris, 1714; Guer, JeanAntoine: Moeurs et usages des turcs, leur religion, leur gouvernement civil, militaire et politique. Paris, 1745.
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schen weißer und schwarzer Figur wird die an den Hautfarben festgemachte Hierarchie im Harem, wie sie in der Malerei zu finden ist, als ordnende Struktur ins Bild gesetzt.
Abb. 2: Eugène Delacroix, Die Frauen von Algier in ihrem Gemach, 1834 Als Bild, das die Ikonografie der Hierarchie unter den Sklavinnen im Harem von der Grafik in die Malerei überführt, kann Eugène Delacroix’ Gemälde Die Frauen von Algier aus dem Jahre 1834 angeführt werden (Abb. 2). Das Bild entsteht nach Skizzen, die der Künstler auf seiner Marokko- und Algerien-Reise fertigt. Es zeigt drei hellhäutige Frauen in detailliert dargestellter Kleidung, die aufgestützt auf dem Boden liegen oder sitzen, und eine dunkelhäutige Dienerin als stehende Rückenfigur in einem mit Ornament und Stoffen prächtig geschmückten Interieur. Sowohl die Elemente, die den Innenraum strukturieren – wie Kacheln, Spiegel, leicht geöffnete Schranktüren, ein Vorhang und eine Tafel mit einzelnen Buchstaben, die an arabische Kalligrafie erinnern – als auch die gemusterten Stoffe der Teppiche und der Bekleidung sind mit feinem Pinselstrich ausgeführt. Stofflichkeit und Muster wirken bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Zusätzliche Farbkontraste erzeugen Licht- und Schatteneffekte auf den weiblichen Figuren und im Raum. In dem prächtig ausgestatteten Interieur ist die Wertigkeit der weiblichen Figuren durch Hautfarbe und Kleidung ins Bild gesetzt. Die schweren, gerade fallenden Stoffe der Dienerin bilden einen Kontrast zu den fein gearbeiteten, transparent schimmernden Kleidern der Hellhäutigen. Diese Bedeutungsdifferenz zwischen den Hautfarben und der Bekleidung wird, wie bereits auf der Fotografie Mauresque et Négresse (vgl. Abb. 1) gesehen, für die Inszenierung des Motivs in der Fotografie ebenfalls verwendet. Auf der Fotografie trägt die dunkel231
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häutige Sklavin wie auf dem Gemälde ein Kopftuch (mherma) und eine gestreifte Schürze (fouta). Die Hellhäutige hat, wie die halb aufgerichtete linke Figur im Gemälde, eine Weste (ghlila) angezogen. Sowohl auf dem Gemälde als auch auf der Fotografie sind die einzelnen Stücke als traditionelle, algerische Bekleidung zu identifizieren. Damit greift Moulin auf die gleichen Bildelemente, nämlich auf Kostüm und Hautfarbe sowie auf deren Bedeutung für die Darstellung des kulturell Anderen, zurück wie das Gemälde von Delacroix. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablieren sich zahlreiche Fotoateliers in Konstantinopel und in Nordafrika. Ein Beispiel für einen Fotografen, dessen Atelieraufnahmen eine weite Verbreitung gefunden haben, ist Pascal J. Sebah. Geboren in Konstantinopel und türkischer Staatsbürger, eröffnet er 1857 in Istanbul sein erstes Studio zusammen mit dem für die Herstellung verantwortlichen Franzosen A. Laroche. Seit diesem Zeitpunkt hat Sebah viele Ausstellungen in Paris und wird 1870 Mitglied der Société Française de Photographie. Zu seinen großen Erfolgen zählen mehrere Auszeichnungen auf der Weltausstellung in Wien 1873, wo er an der Präsentation des Osmanischen Reichs beteiligt ist. Außerdem nimmt er an der Weltausstellung 1878 in Paris teil. 1873 eröffnet er gemeinsam mit Henri Béchard ein Fotostudio in Kairo und vertreibt seine Fotos in Beirut durch Guarnelli. Ab 1884 schließt er sich mit dem französischen Fotografen Polycarpe Joaillier in Istanbul zusammen. Nach dem Tod von Pascale Sebah nimmt sein Sohn Jean Sebah seinen Platz ein. Seit 1888 sind die Fotos mit Sebah & Joaillier unterzeichnet. 1889 übernehmen sie das Atelier der Abdullah Brüder, 1908 kehrt Joaillier nach Paris zurück und Sebah verkauft sein Atelier sowie das Archiv der Negative an Agop Iskender & Perpanyani. Fortan sind die Fotos mit der Signatur Sebah & Joaillier successeurs bedruckt. Für eine weite Verbreitung der Motive sorgt ihre Verwendung als Postkarten ebenso wie als Illustrationen von Reiseberichten und Reiseführern.9 Unter den Fotografien befinden sich Portraits sowie Basar- und Straßenansichten, Bilder von Moscheen und von den Palästen der Städte Izmir, Bagdad, Bursa und viele Aufnahmen Konstantinopels. Vor allem zeigen die Bilder das Goldene Horn, die Galata-Brücke und zahlreiche Badehäuser. Jedoch nicht nur Außenaufnahmen vermitteln eine Übersicht über die Region, sondern auch Ateliersze9
Waters, Clara; Erskine, Clement: Constantinople: City of the Sultans. Boston, 1895 (mit Fotos von Pascal Sebah und Sebah & Joaillier); Barth, Herman: Konstantinopel. München, 1911 (mit 103 Fotos von Sebah und Joaillier); Endres, Franz Carl: Die Türkei, München 1916 (mit 215 Fotos von S & J); Baedeckers: Handbuch für Reisende. Leipzig, 1905. Vgl.: Özendes, Engin: From Sébah & Joaillier to Foto Sabah. Orientalism in Photography. Istanbul, 1999.
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nen. Die Atelierfotografien zeichnen sich durch einen gemalten Hintergrund aus, vor dem die Figuren platziert werden. Hierbei handelt es sich um gemalte Architekturelemente wie Türen, Fenster mit Ausblick, kleinere Möbel und Blumen. Dadurch entsteht ein Illusionsraum, der das Atelier in repräsentative herrschaftliche Räume verwandelt.
Abb. 3: Sebah & Joaillier, Harem, 1890 Auf der Fotografie Harem aus dem Jahre 1890 (Abb. 3) wird der Hintergrund von einer Palastarchitektur gebildet, die jedoch in ihrer matten Farbigkeit deutlich als gemalt zu erkennen ist. Vor diesem Hintergrund ist eine Gruppe unterschiedlich gekleideter weiblicher Figuren arrangiert. In halb hingestreckter, halb aufgerichteter Odalisken-Pose, links von einem Tischchen mit Einlegearbeiten und von einer Kanne flankiert, ist ein weibliches Modell in Szene gesetzt. Rechts und links von ihr sitzen zwei weitere Figuren. Hinter ihr stehen eine Verschleierte und eine Dienerin, die Tee serviert. An die vorangegangenen Haremsmotive knüpft diese Inszenierung durch die Gruppierung mehrerer weiblicher Figuren sowie insbesondere durch die Pose der mittleren Figur, die in ihrer aufgestützten Haltung an Delacroix’ Frauen von Algier erinnert. Auch die dunkle Haarfarbe der Dienerin sowie ihre Tätigkeit, das Servieren von Kaffee, greifen bekannte Bildelemente aus der Ikonografie der Orientmalerei auf. Zugleich ist die Aufstellung auch als Präsentation unterschiedlicher Kostüme zu lesen und als Verdeutlichung des Unterschieds zwischen der Bekleidung für den Innenraum und für die Straße. Damit werden in Sebah & Joailliers Atelieraufnahme ethnografisch genaue Kostüme mit Bildelementen aus dem Repertoire der Malerei kombiniert. Dieses Verfahren ist auch in der Fotografie Odalisque der beiden Fotografen von 1890 zu finden (Abb. 4). Die weib233
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Abb. 4: Sebah & Joaillier, Odalisque, 1890 liche Figur wird in einer leicht aufgerichteten Liegeposition frontal präsentiert. Wie diese Pose entsprechen Kostüm, Tisch, Tablett, Vasen und Wasserpfeife den Regeln der Orientmalerei. Dennoch ist es hauptsächlich die Pose des Modells, die das Motiv als Odaliske lesbar macht, und weniger die Accessoires, das Kostüm oder der Ort der Aufnahme. Der inszenierte Charakter des Bildes ist vor allem an dem illusionistisch gemalten Hintergrund ersichtlich. Am deutlichsten wird dies bei den beiden Tischchen. Den gemalten eckigen Tisch schmückt eine Vase mit einem Wiesenblumenstrauß. Davor steht ein durch Form, Höhe und Materialien als osmanisch einzuordnender Tisch. Die Kombination von Tischen aus unterschiedlichen Kulturen zeigt den arrangierten Charakter der Aufnahmen von Sebah & Joaillier. Damit wird offensichtlich, dass Evidenz nicht wie sonst in der Fotografie über ein Es-ist-so-gewesen einer Situation oder eines Ereignisses produziert wird.10 Stattdessen nehmen die Modelle inmitten von Accessoires Posen vor einem Hintergrund ein, der klar als inszeniert zu erkennen ist. Atelierfotografien, die an Haremsdarstellungen der Malerei orientiert sind, finden sich auch unter den Aufnahmen von Hippolyte Arnoux. Der französische Fotograf lässt sich 1860 in Port-Said nieder und arbeitet für eine Gesellschaft, die am Bau des Suezkanals
10 Nach Barthes bestätigt die Fotografie etwas Vergangenes und Gegenwärtiges gleichermaßen. Was eine Fotografie abbilde, erlange seine reale Präsenz durch das Dagewesensein einer Sache vor dem Apparat. Jede Fotografie besitze somit die Evidenz des Gewesenen. Siehe Barthes, Roland: »Rhetorik des Bildes«. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn [1964]. Frankfurt a.M., 1990, S. 28-46, hier S. 39.
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Abb. 5: Zangaki, Groupe de femmes de harem, 1870-1880 beteiligt ist und deren Arbeiten er dokumentiert. Eine Auswahl seiner Aufnahmen veröffentlicht er in dem Album du Canal im Jahre 1869. Danach beschränken sich seine Fotografien auf Motive, die scènes et types im Atelier komponieren. Vor einer Palastarchitektur, die sowohl aus klassizistischen Elementen als auch aus orientalisierend anmutendem Ornament besteht, arrangiert Arnoux seine Gruppenportraits. Die Brüder Zangaki, griechische Fotografen, die zwischen 1870 und 1885 in Ägypten leben, fertigen einige ihrer Aufnahmen im Atelier von Arnoux. Sie arbeiten mit dem gleichen Arrangement aus gemaltem Hintergrund und Accessoires wie Wasserpfeife, Möbel und bestickten Kissen. Auf dem Albuminpapierabzug der Zangakis, entstanden im Atelier von Arnoux, Groupe de femmes de harem (Abb. 5), thront im Zentrum eine weibliche Figur in Odalisken-Pose, rechts und links ist sie von zwei verschleierten Frauen flankiert. Aufgrund der starken Hell-Dunkel-Kontraste erscheinen die weiblichen Figuren mit ihren weißen Gesichtsschleiern flächig. Raumgestaltung und Personen bilden eine Einheit aus Kostümen, Mustern und Ornamenten der Wand und des Untergrunds. Diese Verschmelzung von Interieur, Kostümen und Figuren findet sich auch im Kompositionsprinzip von Delacroix’ Gemälde Frauen von Algier. Jedoch geht es auf Arnoux’ Fotografie weniger um die Sichtbarmachung der Pracht eines verbotenen Ortes als vielmehr um die Aufführung bekannter Bildelemente im Atelier. Nicht der exklusive Blick in ein verborgenes Interieur ist für die Bildkomposition zentral, sondern das Arrangement der Modelle, ihrer Posen und Kostüme in Verbindung mit dem Atelierraum. Für den Austausch zwischen Malerei und Atelierfotografie im Zeitraum zwischen 1860 und 1880 konstatiert Michel Foucault eine 235
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Zirkulation der Bilder. Im Nachstellen der gemalten Motive erkennt er eine neue Freiheit im Umgang mit Motiven. Es ergebe sich die Möglichkeit ihrer Verschiebung, Transformation und Fälschung. Das Ergebnis dieses Prozesses sei nicht die Veränderung der Malerei, sondern eine Öffnung der Fotografie, die mit einem Motiv eine Vielzahl von Bildern aufrufe.11 Eine Durchmischung von ethnografischen und künstlerischen Bildelementen und einer damit einhergehenden Veränderung der gemalten Motive des Orients lässt sich in den orientalisierten Atelierfotografien ebenfalls feststellen. Zwar sind die Arrangements im Atelier eindeutig als nachahmende Aneignungen der Malerei zu erkennen, gleichzeitig befinden sich die im Atelier zusammengeführten Modelle, Kostüme und Accessoires tatsächlich vor der Kamera. In den nordafrikanischen Ateliers ist der Einsatz von einheimischen Modellen als reale Referenten möglich. Zum einen beglaubigen die einheimischen Modelle durch die der Fotografie eigenen Aufnahmesituation die aus der Malerei bekannten Motive, zum anderen werden die Modelle in den bekannten Posen und Szenen überhaupt erst als Orientalinnen erkennbar. Die Fotografien funktionieren über die Anordnung und Präsentation in einem klar definierten Raum und sind damit der Situation im Atelier eines Malers sehr ähnlich. Wird das Arrangement von nordafrikanischen Stoffen, Mustern und französischem Modell in Ateliers von Malern als Motiv eines Gemäldes inszeniert, so werden in den Ateliers der Fotografen in Kairo, Istanbul oder Algier lokale Modelle, Kostüme und Gegenstände anhand von Motiven aus der Malerei und Grafik in das neue Medium transformiert.12 Im Vordergrund steht dabei nicht der fotografische Augenblick oder das Festhalten eines Moments einer sich nur einmal abspielenden Szene, die es vor dem Verschwinden zu bewahren gilt.13 In den Atelieraufnahmen geht es aus Gründen der langen Belichtungszeit um ein statisches In-Szene-Setzen von Personen. Vor diesem medientechnischen Hintergrund ist der inszenierte Charakter der Atelieraufnahmen als historisch zeitgenössische Norm zu verstehen. Um dem Motiv des orientalischen Interieurs und Harems Authentizität zu verleihen, beziehen sich die Inszenierungen auf Motive aus der Malerei, 11 Foucault, Michel: »Die photogene Malerei«. In: Ders.: Schriften II [1975]. Frankfurt a.M., 2002, S. 871-882. 12 Bekannt sind die Fotografien einer Reportage über Henri Matisse, die den Künstler mit seinem Model Zita in seinem Atelier in Nizza zeigen. Das Atelier ist mit orientalischen Gegenständen und Textilien ausgestattet. Teriade, E.: »Visite à Henri Matisse«. In: L’Intransigeant, Jg. 14, Nr. 3 u. 4, Paris, 14. u. 22. Januar 1929, S. 6 u. S. 5. 13 Diese entwirft Cartier-Bresson als Programm der Fotoreportage, die erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt. Siehe CartierBresson, Henri: The Decisive Moment. New York, 1952.
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Die Aneignung der Orientmalerei
die wiederum ein fiktives Bild vom Orient entwerfen. Dass die ›Norm der Inszenierung‹ nicht als Widerspruch zu einer dokumentierenden Verwendung der Atelieraufnahmen verstanden wurde, zeigt deren Einsatz in Reisealben, Kostümbüchern und als Postkarten. Abigail Solomon-Godeau hat nachgewiesen, dass der Begriff Dokumentarfotografie eine historisch spät entwickelte Kategorie der Fotografiegeschichte ist.14 Wie Bernd Stiegler formuliert, bedarf es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmter Inszenierungen, um die Fotografie als dokumentarische auszuweisen und sie von anderen Darstellungsformen absetzen zu können.15 Den an vorangegangenen Medien orientierten Fotografien aus dem Atelier ist, obwohl sie noch nicht nach dokumentarischen oder künstlerischen unterschieden werden, ein höherer Wirklichkeitsgrad als ihren gemalten Vorläufern eigen. Dass dies auch von den Zeitgenossen so eingeschätzt wurde, zeigt das Zitat von Arago am Beginn meiner Ausführungen. Vor allem die Modelle stehen für die in der Aufnahmesituation der Fotografie begründeten Annahme eines Es-ist-sogewesen. Wie Bärbel Küster aufzeigt, wird der Kulturvergleich in der Fotografie zunehmend am menschlichen Körper ausgetragen. Nordafrikanische Modelle lassen sich sowohl in der objektivierenden, anthropologischen Fotografie finden, die Ende des 19. Jahrhunderts populär ist, als auch in atmosphärischen, szenischen Darstellungen und Inszenierungen, die an der orientalistischen Malerei orientiert sind.16 Für die orientalisierten Fotografien sind die Vorläufer aus der Malerei wesentlich. Der indexikalische Charakter der Fotografie tritt hinter der Bedeutung der Bildmuster zu Interieur und Orient zurück. Sowohl in den früheren als auch in den späteren Motiven ist es die Kombination aus Posen, Kostümen und Accessoires im Atelier, die Modelle und die Imagination des Orients miteinander verbindet. In der Malerei werden die weiblichen Figuren, die schwarze Dienerin und die weiße Haremssklavin, gemäß den in den Reiseberichten beschriebenen Sklaven- und Hautfarbensystemen dargestellt. Selbst wenn die Modelle nicht den hellhäutigen Haremssklavinnen entsprechen und der indexikalische Charakter der Fotografie ihrer Hautfarbe Gewicht verleiht, erlangen die Atelieraufnahmen ihre orientalische Spezifik durch die Aneignung von Bildelementen 14 Solomon-Godeau, Abigail: »Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie«. In: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M., 2003, S. 53-74, hier S. 54. 15 Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt a.M., 2006, S. 73. 16 Küster, Bärbel: Matisse und Picasso als Kulturreisende: Primitivismus und Anthropologie um 1900. Berlin, 2003, S. 135f.
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aus der Grafik und Malerei, deren Narration des Orients als bekannt vorausgesetzter Referenzrahmen dient. Die nordafrikanischen Atelierfotografien stehen im Kontext von dokumentarischen Bestandsaufnahmen. Sie sind häufig Teil von Reisealben oder werden für Überblicksdarstellungen der jeweiligen Länder verwendet. Dennoch lassen sich die Atelieraufnahmen als inszeniert bestimmen, da die Fotografien als Ergebnis der Transformation einer Vorlage, welche die Ikonografie der Malerei bietet, aufgefasst werden können. Dabei kommt den Modellen, den Kostümen und Gegenständen im Atelier zwar der Status eines indexikalischen Zeichens zu, jedoch folgen ihre Posen, Arrangements und Gruppierungen den fiktiven Haremsberichten und Gemälden. In der illusionistischen Hintergrundgestaltung ist die Inszenierung als Modus der Präsentation erkennbar. In dem Changieren zwischen fiktionalen, dokumentarischen und illusionistischen Bildelementen der Atelieraufnahmen werden unterschiedliche Motivebenen der Malerei in eine narrative Struktur gebracht, anhand derer das Interieur des Orients imaginiert werden kann.
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Flora und Köchin. Inszenierte Fotografien aus Berlin um 1860 SIGRID SCHULZE
Inszenierte Fotografien des 19. Jahrhunderts erweisen sich als uneindeutige, komplexe Kunstprodukte. Zu erkennen, ob eine fotografierte Situation inszeniert wurde oder unabhängig von der Aufnahme existierte, stellt eine erhebliche Schwierigkeit dar. Dieser Unterschied ist nicht nur für die Bestimmung des Kunstwerts von Fotografien bedeutsam, da Unmittelbarkeit später zu ihrem stilprägenden Merkmal wurde und, wenn auch bisweilen historisch unangemessen verwendet, zu ihrem Prüfstein. Auch auf das Verständnis des Zeichenwerts einer Fotografie wirkt er sich aus, und damit auf die Bedeutung eines Bildes. Im 19. Jahrhundert war es für die Betrachter weniger virulent, ob einem fotografierten Sujet eine Beobachtung zu Grunde lag oder ob eine Situation eigens für die Aufnahme inszeniert worden war. Die technischen Möglichkeiten erlaubten es noch nicht, Situationen fotografisch wiederzugeben, deren Bewegungen nicht vorab angehalten wurden. Die geringe Empfindlichkeit der Emulsionen und die Lichtschwäche der Objektive boten der Bildschärfe nur wenig Spielraum. Bildgenauigkeit aber wurde über alles geschätzt. Nicht nur Alexander von Humboldt hob dieses Qualitätsmerkmal der damals neuen fotografischen Technologie hervor, als er von Strohhalmen und zerbrochenen Fenstern in den neuen Bildern sprach.1 Meine Fallstudie zur Begriffsbestimmung der inszenierten Fotografie stellt zwei Bildfolgen aus den 1850er und frühen 1860er Jahren in den Mittelpunkt. Es sind dies die Sammlung von Photographien nach der Natur à papier (Abb. 1 bis 4) aus dem Atelier der Fotografin Laura Bette (1814-1870) und das Album Den 20. Mai 1860
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Alexander von Humboldt in einem Brief an Carl Gustav Carus, 25. Februar 1839 (Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Sign. Autogr. I/120), auszugsweise abgedruckt in: Wiegand, Wilfried (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Frankfurt a.M., 1981, S. 19-22, hier S. 20.
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Abb. 1 und 2: Laura Bette, Stilleben, 1856 (links), und Bild einer alten Landfrau am Spinnrocken, 1856 (rechts) (Abb. 5 bis 9) aus dem Atelier Lutze & Witte (1853 bis 1873 tätig). Beide Ateliers waren in Berlin ansässig.2 Obwohl einzelne dieser Aufnahmen veröffentlicht wurden, brachte ihnen die Fotografiegeschichtsschreibung wenig Aufmerksamkeit entgegen.3 Der innere Zusammenhang der Folgen wie auch ihre intendierte Bedeutung blieb dadurch unklar. Zwar ist der Verbund als Folge von Bildern bei den Aufnahmen von Lutze & Witte offensichtlich. Man hielt die Bilder aber für Aufnahmen vorgefundener Situationen oder für elaborierte Porträts. In nur drei Fällen erkannte man die Inszenierung.4 Sei es, dass der ›Kult der Momentanität‹ eine solche Lesart hervorbrachte, sei es, dass es lange an einem Verständnis für das frühe fotografische Schaffen in Berlin 2
3
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Ich wurde auf die Bilder aufmerksam, als ich im Rahmen des Dissertationsvorhabens »Fotografie in Berlin 1839-1856. Funktionen und Konzepte« (Universität der Künste Berlin, Prof. Dr. Andreas Haus) einschlägige Archive und Sammlungen auf Quellen zur Geschichte der frühen Fotografie in Berlin hin durchsah. Zu Bette siehe Ferber, Christian: Bilder vom Tage 1842-1982. Der Ullstein Bilderdienst. Berlin, 1983, S. 25 (Abb.). Zu Lutze & Witte siehe Mauter, Horst; Zettler, Hela: Berlin in der Fotografie des 19. Jahrhunderts. Berlin, 1985, S. 17, 19, 40 (Abb.) u. 67 (Abb.), sowie Mauter, Horst; Zettler, Hela: Berlin in frühen Photographien 1844-1900. Berlin, 1994, S. 27 (Abb.) u. 75 (Abb.). Die Deutung der Situationen als inszeniert geht für Bette hervor aus Ferber 1983 (wie Anm. 3), S. 25, für Aufnahmen von Lutze & Witte aus Mauter/Zettler 1989 (wie Anm. 3), S. 19, sowie aus Mauter/Zettler 1994 (wie Anm. 3), S. 27 u. 75.
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Flora und Köchin
Abb. 3 und 4: Laura Bette, Kleine Mädchen beim Strickstrumpf, 1856 (links), und Eine junge Köchin in ihrem Beruf beschäftigt, 1856 (rechts) mangelte: Dieses Bildmaterial dürfte dem aktuellen Diskurs über inszenierte Fotografie neu sein. Die zur Diskussion gestellten Fotografien von Laura Bette sind zwar verschollen, vier Motive sind aber reproduziert im Bildbestand der Agenturen Ullstein Bild und Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz erhalten.5 Die dortigen Titel sind Sujetbeschreibungen: Stilleben (Abb. 1), Alte Frau am Spinnrad (Abb. 2), Strickende Mädchen (Abb. 3) und Frau putzt Gemüse (Abb. 4). Das Album von Lutze & Witte, ein Geschenk an das Berliner Unternehmerpaar Friedrich Wilhelm Krause und Flora Krause, geborene Gallisch, anlässlich ihrer Silberhochzeit 1860, befindet sich in der Stiftung Stadtmuseum Berlin.6 Das Alte Inventarbuch betitelt die Aufnahmen wie folgt: Eintritt in die Lehre, zuerst bei Berends, dann bei Braumüller (Abb. 5), Weinprobe im Keller (Abb. 6), Das Herz voll Mitleid (Abb. 7), Flora mit ihren Gespielinnen huldigt der Braut (Abb. 8) und Verehrung in Neusalz a.d. Oder. Den Büsten des Ehepaars Krause wird von den Angestellten und der Landbevölkerung gehuldigt (Abb. 9).7
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Ullsteinbild: Frau putzt Gemüse (#00175868); Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz: Alte Frau am Spinnrad, Stilleben und Strickende Mädchen (#20009111, #20030100 u. #20000016). Die Motive liegen dort als Repronegative vor. Herkunft und Verbleib der Vorlagen sind nicht bekannt. Zu F. W. Krause (1802-1877) siehe Kaelble, Hartmut: Berliner Unternehmer
während der frühen Industrialisierung. Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluss. Berlin, 1972, S. 159. 7
Stiftung Stadtmuseum Berlin (# XI 27586-3; -4; -5; -7 u. -8). Zwei Blätter (Die Wiege umgeben von Göttern und Genien; Erklärung im Park von Wör-
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Sigrid Schulze Die inszenierten Fotografien von Laura Bette waren in Berlin vermutlich die ersten ihrer Art.8 Wie Lutze & Witte arbeitete sie bereits früh mit feinzeichnenden Negativen. Die Aufnahmen sind daher gut lesbar, aber heute nicht mehrleicht verständlich. Dieses Phänomen gibt Anlass, zu klären, was es sein könnte, das heutigen Betrachtern zum Verständnis inszenierter Fotografien des 19. Jahrhunderts fehlt. Wie lassen sich diese Bilder entschlüsseln? Um die intendierte Bedeutung der genannten Bilder zu erfassen, unterziehe ich sie einer vergleichenden kunsthistorisch-kritischen Werkbetrachtung und befrage ihre Materialität, Komposition, Ikonografie, Bildgenese und Rezeption. Hinzu kommt eine Betrachtung der jeweiligen Erzählstruktur. In Anlehnung an Methoden der Literaturwissenschaft unterscheide ich zwischen dem Bildautor der Fotografien und dem Bilderzähler.9 Fotografie kann, wie Literatur, vorgefundene Realität zu Fiktion verarbeiten, kann Szenen zeigen, die vorgeben, nicht erfunden zu sein. Eine historisch-kritische Werkbetrachtung allein klärt solche Konstruktionen nicht auf. Es bedarf anderer Wege, um die Intentionalität fotografischer Bilder von der Raum- und Zeitgebundenheit ihrer Entstehung zu unterscheiden. Die Aufnahmen von Laura Bette liegen nur als Reproduktionen vor, und diese geben die Bilder beschnitten wieder. Eines der Bilder weist, entsprechend der Präsentation von bildmäßiger Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gerundete Ecken auf (Abb. 4). Andere Hinweise auf die aussagekräftige Physis von Fotografien bleiben dem Betrachter verwehrt. Als Zeit der Entstehung gelten in den Agenturen die Jahre 1850 bis 1860. Bislang erlaubte nur der überlieferte Name der Urheberin, Laura Bette, die Motive einander zuzuordnen. Bette ist seit 1851 in Berlin als Daguerreotypistin nachweisbar. Sie wandte sich alsbald den fotografischen Negativverfahren zu. Sie war im Porträtfach tätig und erschloss sich als weiteres Gebiet die fotografische Reproduktion von Zeichnungen und künstlerischer Druckgrafik für den Handel. Seit 1857 gingen aus ihrem Atelier viel-
8
9
litz) gelten als verschollen. Ich danke Frau Ines Hahn, Stiftung Stadtmuseum Berlin, für die Gelegenheit zur Einsichtnahme des Inventarbuchs. Vgl. P.M.: »Sammlung photographischer Bilder à papier nach der Natur«. In: Deutsches Kunstblatt, Jg. 7, Nr. 34, Berlin, 21. August 1856, S. 298-299, hier S. 298: »Der Gedanke [, dieses photographische Album mit Genrestücken, Stilleben usw. vorgelegt zu haben,] ist [...] so einfach, dass man sich wundern könnte, ihn jetzt zum ersten Mal ins Leben treten zu sehen [...]«. Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München, 2007. Zur Anwendung von Interpretationsmodellen der Literaturwissenschaft auf Werke der bildenden Kunst vgl. u.a. Pochat, Götz: Bild-Zeit. Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst. Wien, Köln u. Weimar, 1996.
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Flora und Köchin fältige fotografische Kunstreproduktionen hervor, unter anderem von Werken mit hoher Reputation: den Handzeichnungen von Karl Friedrich Schinkel, dem Croy-Teppich in der Universität Greifswald oder den Zeichnungen Raffaels aus der Sammlung des Prinzen Albert in Hampton Court.10 Die 1856 veröffentlichten Photographien nach der Natur à papier aber stammen aus einer Phase, als Bette noch hauptsächlich im Porträtfach tätig war.
Abb. 5: Atelier Lutze & Witte, Einritt in die Lehre [...], 1860 Den Bildern von Laura Bette stelle ich hier Fotografien aus dem Atelier Lutze & Witte gegenüber. Die Aufnahmen wurden 1935 aus dem Kunsthandel für das damalige Märkische Museum erworben und befinden sich heute in der Stiftung Stadtmuseum Berlin.11 Sie liegen in einer blausamtenen Mappe mit der Aufschrift »Den 20. Mai 1860«. Die Salzpapierabzüge messen jeweils ca. 21 x 28 cm und sind auf Kartons von jeweils ca. 31 x 40 cm aufgelegt. Sie haben ge-
10 Zu Biografie und Firmengeschichte siehe Gesammt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels, Bd. 2.1. Münster i.W., 1881, Sp. 1334, u. Bd. 16.1, 1892, Sp. 391-396; Stenger, Erich: Siegeszug der Photographie in Kultur, Wissenschaft und Technik. Seebruck, 1950, S. 212 u. 229; Heidtmann, Frank: Wie das Photo ins Buch kam. Berlin, 1984, S. 68f. u. 420. Nach Bettes Tod übernahm ihr Sohn, der Kunsthändler Paul Bette, den Verlag, der bis ins 20. Jahrhundert fortbestand. 11 Die Bilder wurden am 17. Oktober 1935 für 75 Mark von »Frau Gustav Hartmann, Margarethenstr. 7« erworben (Nr. 27586/R 342). Das Berliner Adressbuch von 1936 gibt unter dieser Adresse »Ww. Hartmann, Antiquitäten« an.
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Abb. 6: Atelier Lutze & Witte, Weinprobe im Keller, 1860 rundete Ecken und sind von zwei Papierleisten umrahmt. Darunter befindet sich der Stempel des Ateliers: »Lutze & Witte / Hofphotographen / Berlin«. Zwei der Bilder sind koloriert (Abb. 8 und 9), wobei dies heute durch das altersbedingte Verblassen der Fotografien wie eine willkürlich aufgesetzte Zutat erscheint.12 Ein weiteres Bild zeugt von anderer Form der manuellen Bearbeitung (Abb. 8). Hier wurde der Bildraum mittels weitflächiger Retusche angelegt, um zwei Motive, die von unabhängig voneinander entstandenen Negativen auf das Blatt belichtet wurden, – ungekonnt – in ein perspektivisch gemeintes Raumkontinuum zu fügen.13 Ebenfalls in der Mappe enthalten sind zwei auf separate Bögen mit der Hand geschriebene Gedichte mit den Titeln Flora und Die Weinprobe.14 Als das Album entstand, verfügte das Atelier Lutze & Witte über mehrjährige Erfahrungen in der Arbeit mit Glasnegativen. Es überrascht daher kaum, dieses renommierte, seit 1857 mit dem Prädi12 Zur Geschichte übermalter und retuschierter Fotografien des 19. Jahrhunderts siehe Henisch, Heinz K.; Henisch, Bridget A.: The Painted Photograph 1839-1914. Origins, Techniques, Aspirations. Pennsylvania, 1996, S. 40100 u. 193. 13 Negativmontagen von Gustave Le Gray, Oscar Gustav Rejlander (The Two Ways of Life, 1857) und Henry Peach Robinson (Fading Away, 1858) waren in Frankreich und England seit 1856 zu sehen. In Berlin wurde dies spätestens 1865 reflektiert. Siehe auch Robinson, Henry P.: »Über das Drucken mit mehreren Negativen.« In: Photographische Mitteilungen, Bd. 2, Berlin, 1865, S. 7-8. Vgl. auch den Beitrag von Magdalena Bushart im vorliegenden Band. 14 Flora (# XI 27586,7a) u. Die Weinprobe (# XI 27586,4a), jeweils 31 x 40 cm.
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Abb. 7: Atelier Lutze & Witte, Das Herz voll Mitleid, 1860 kat des »Hofphotographen« ausgezeichnete Atelier als Auftragnehmer von Aufnahmen für den prominenten Friedrich Krause zu finden. Gustav Adolph Lutze und Carl Witte experimentierten bereits mit fotografischen Negativverfahren, bevor sie 1853 ein gemeinsames Atelier eröffneten.15 Sie gehören jener Generation von Atelierbetreibern an, die sich unmittelbar dem 1851 von Frederick S. Archer veröffentlichten sogenannten Nassen Kollodiumverfahren zuwandten.16 Wie kein anderes damals geläufiges Negativverfahren war es als Grundlage für besonders feinzeichnende Fotografien auf Papier geeignet. Auf Ausstellungen präsentierten sich Lutze & Witte nicht nur mit Fotografien, sondern auch mit belichteten Kollodiumnegativen und mit Fotochemikalien. Aus ihrem Atelier gingen fotografische Kunstreproduktionen, Stadtansichten und Porträts hervor. 1873 zog das Atelier aus Berlin fort, vermutlich nach Magdeburg.17
15 Zur Firmengeschichte siehe Morin, Friedrich: Berlin und Potsdam im Jahre 1860. Berlin, 1860, S. 157; Dost, Wilhelm: Die Daguerreotypie in Berlin 1839-1860. Berlin, 1922, S. 97 u. 110; Mauter/Zettler 1994 (wie Anm. 3), S. 12; Boom, Mattie: »De Amsterdamse fotografietentoonstellingen van 1855, 1858 en 1860«. In: Geschiedenis Nederlandse Fotografie, Heft 28, April 1997, S. 1-33, hier S. 29; Photographic exhibitions in Britain 18391865, unter: http://peib.dmu.ac.uk (Stand: 5. Januar 2010). 16 Siehe hierzu Knodt, Robert; Pollmeier, Klaus: Verfahren der Fotografie. Essen, 1989, S. 83-34. 17 Laut Adressbuch ab 1. April 1873 an anderem Ort tätig, der Firmenwerbung zufolge in Magdeburg.
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede Der lapidare Titel von Bettes Sammlung von Photographien nach der Natur à papier gibt den Bezug der Aufnahmen an: Figuren und Räume »nach der Natur«, nicht nach Zeichnungen oder Drucken. Auch grenzt er das Verfahren ein, in dem die Blätter entstanden: als nach Negativen auskopierte Bilder auf Papier, nicht als Daguerreotypien oder als druckgrafisch hergestellte Blätter. Diese Angaben rechtfertigen den Vergleich der Arbeiten von Bette mit denen von Lutze & Witte auf der Ebene des Materials. Zum anderen besteht eine Gemeinsamkeit in der ersten Präsentation als lose, in einer Mappe befindliche bildmäßige Fotografien. In beiden Fällen handelt es sich um Darstellungen von Innenraumszenen mit Figuren und Requisiten. Ausgehend von der klassischen Theorie der Bildaufgaben lassen sich als Bildgattungen das Historienbild (Lutze & Witte), das (historische) Genre (Bette, Lutze & Witte) und das Stillleben (Bette) ausmachen.
Abb. 8: Atelier Lutze & Witte, Flora mit ihren Gespielinnen huldigt der Braut, 1860 Ähnlich ist auch der Charakter der wiedergegebenen Schauplätze. Die Szenen spielen an stilisierten alltäglichen Orten, von denen keiner zweimal vorkommt: bei Bette ein Kinderzimmer, ein schlichter Wohnraum und eine rural geprägte Küche, bei Lutze & Witte ein Kontor und ein Weinkeller. Hinzu kommen zwei Bilder, die im Außenraum angesiedelt sind. Das Bild Das Herz voll Mitleid (Abb. 8) spielt auf der Straße, das Bild Flora mit ihren Gespielinnen huldigt der Braut (Abb. 3) im Wolkenmeer. Nur das Motiv Verehrung [...] (Abb. 9) ist in dieser Hinsicht unbestimmbar. 246
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Abb. 9: Atelier Lutze & Witte, Verehrung in Neusalz a.d. Oder [...], 1860 Auch verbindet die Bilder, dass die Figuren vollständig und ohne Anschnitt durch die Bildränder zu sehen sein sollten.18 Die Kamera befand sich jeweils mittig und in gleicher Entfernung vor der Szene. Die Bilder wurden planparallel aufgenommen. Figuren und Objekte sind gleichermaßen fokussiert. Nur im Bild Das Herz voll Mitleid wurde mit Hilfe der Kombination zweier Negative der Eindruck größerer Raumtiefe erzeugt.19 Fragt man nach dem Zeitpunkt des Erzählten, so gleichen sich die Bilder insofern, als dieser, wie die Gewänder vermitteln, in der damaligen Gegenwart angesiedelt ist. Bei Lutze & Witte kommt im Fall von Flora mit ihren Gespielinnen huldigt der Braut eine Allegorie in Form einer in der Antike angesiedelten, überzeitlich gemeinten Situation hinzu. Die Szenen der beiden Alben divergieren jedoch in ihrer Beziehung von Figur und Raum. Bei Bette befinden sich die Figur, das Figurenpaar und die zu einem Stillleben arrangierten Requisiten vor einem gestalteten Wandstück. Die Raumstruktur ist seitlich, bisweilen auch in die Tiefe hinein, offen. Kleidung und Beschäftigung verorten die Figuren in jeweils idealisierten Milieus: als Köchin, als spinnende Bäuerin, als Bürgerstöchter bei der Handarbeit. Der eigentliche Ort der Aufnahme bleibt unbekannt. Lutze & Witte hingegen zeigen Situationen mit bis zu 15 Männern, Frauen und Kindern. Sie sind vor einer ungestalteten, nach 18 Die Beschnitte bei Bette relativieren diesen Befund allerdings. 19 Vgl. Anm. 13. Das Bild unterscheidet sich von den anderen auch durch sein Maß (26,8 x 34,2 cm gegenüber ca. 21 x 27 cm).
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hinten geschlossenen, seitlich durch einen Vorhang begrenzten Wand zu verschiedenen Gruppen arrangiert. Die Figuren sind in jeder Szene verschieden kostümiert, sei es in bürgerlicher Kleidung oder Fantasiekostümen, in Arbeitskleidung oder Tracht. Einige Personen nehmen in verschiedenen Bildern unterschiedliche Rollen ein. Die Requisiten sind sparsam, aber erstaunlich heterogen. Sie reichen von einer Wolkenkulisse (Abb. 8) bis hin zu den Porträtbüsten von Friedrich Wilhelm und Flora Krause, geschaffen von Johann Friedrich Drake (Abb. 9).20 Der tatsächliche Schauplatz aber ist als stets derselbe Raum auszumachen. Die Inszeniertheit der Situationen wird dadurch manifest. Auch die Erzählsituationen beider Folgen unterscheiden sich. Der Bilderzähler befindet sich zwar stets außerhalb des Bildraums, bei Bette aber in unmittelbarer Nähe zum Geschehen. Trotzdem bleibt seine Beziehung zu den Figuren undefiniert. Diese geben sich unbeobachtet und kommunizieren nicht mit der äußeren Wirklichkeit. Die Aufmerksamkeit des Betrachters liegt dadurch auf der Szene als geschlossene, rein bildimmanente Wirklichkeit. Die Bilder erzählen von der Atmosphäre, die eine jede der in ihre Tätigkeit versunkenen Figuren umgibt. Bei Lutze & Witte hingegen ist die Beziehung zwischen beiden Seiten formuliert. Wie der gemusterte Teppich markiert, teilen Bilderzähler und Dargestellte denselben Raum. Auch stehen die Figuren mit dem Erzähler im Blickkontakt. Dennoch ist er an der Handlung unbeteiligt. Die Blickbeziehungen gehören, ebenso wie Teppich, Vorhang und Tür, sowohl zur Bildhandlung als auch zur äußeren Wirklichkeit. Folgt man der Erzähltheorie literarischer Texte, handelt es sich dabei um sogenannte extradiegetische Elemente, die den Akt des Erzählens thematisieren und die dargestellte Handlung als eine in sich geschlossene Welt rahmen, als Bild im Bild.21 Auch kompositorisch weichen die Bilder – und damit in ihrem jeweiligen ästhetischen Bezugsfeld – voneinander ab. Bette entwickelt ihre Bilder aus hellen und dunklen Flächen sowie aus horizontalen und vertikalen Linien und damit vor allem mit (foto-) grafischen Mitteln. Sie folgt diesem Konzept bis ins Detail. Ihre Bildräume sind flach. Fluchtlinien, die in den Bildraum führen, 20 So in den Bildern Flora [...] und Verehrung [...]. Die Büsten dienten später als Grabschmuck auf der Grabstätte Krause, Dreifaltigkeitsfriedhof, Bergmannstraße, bzw. gelangten in die Nationalgalerie SMB, Berlin. Ich danke Prof. Dr. Sibylle Einholz für den Hinweis auf Künstler und Verwendung. Vgl. Essers, Volkmar: Johann Friedrich Drake 1805-1882. München, 1976, S. 77, Nr. 112-113, Abb. 185-187. 21 Martinez/Scheffel 2007 (wie Anm. 9), S. 75f. u. 188. Eine Ausnahme stellt das Bild Das Herz voll Mitleid dar. Bild- und Erzählerwirklichkeit sind hier unverbunden; vgl. Anm. 13.
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Flora und Köchin durchbricht sie. Die am unteren Bildrand horizontal verlaufenden Linien unterstützen den Eindruck, die Szenen seien von der Wirklichkeit des Betrachters weit entfernt. Ohne konkrete Kunstwerke zu zitieren, erinnern sie durch ihre Ikonografie an die niederländische Genre- und Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts, rufen sie kompositorisch die französische Genre- und Stilllebenmalerei des 18. Jahrhunderts in Erinnerung, und kommen die Narrationen jenen der zeitgenössischen Berliner Genremalerei, beispielsweise in Werken von Eduard Meyerheim oder Hermann Kretzschmer, nahe. In den Aufnahmen von Lutze & Witte hingegen ist der Bezug auf bildkünstlerische Traditionen vor allem an ihrem akademisch geschulten Kompositionsstil festzumachen. Dreieck und Oval bilden in den Arrangements die übergeordneten Formen. Sorgfältig wurden Überschneidungen von Flächen vermieden, Blickrichtungen aufeinander abgestimmt, Handlungsverläufe in synchron stattfindende Situationen unterteilt. Als Fundus der Bildideen ist hier ebenfalls von einer breit gefächerten kunsthistorischen Bildung auszugehen. Dabei ist das Motiv Weinprobe im Keller als konkretes Zitat des damals beliebten, gleichnamigen Bildes von Johann Peter Hasenclever zu verstehen.22
Historischer Kontext 1 - »Deutsches Kunstblatt« (1856/1857) Bettes Arbeiten wurden von August 1856 bis Januar 1857 durch verschiedene Rezensionen in Friedrich Eggers’ Deutsche[m] Kunstblatt und im Weimarer Sonntagsblatt gewürdigt.23 Aus diesen Quellen gehen Angaben zur Präsentation, zu den Bildinhalten und zur Rezeption der Aufnahmen hervor. Demnach bot Bette die Bilder in drei Mappen à drei Blättern an. Die erste Mappe enthielt die Motive Stilleben (Abb. 1), Bild einer alten Landfrau am Spinnrocken (Abb. 2) und Bild eines ruhenden Bettler- oder Auswanderermädchens; die zweite Mappe Stilleben mit Vase, Teppich und edlen Früchten, Kleine Mädchen beim Strickstrumpf (Abb. 3) und Eine junge Köchin in ihrem Beruf beschäftigt (Abb. 4); die dritte Mappe Gretchen, Lesender Mönch und Kleines Mädchen bei der Morgentoilette. 22 Siehe Soiné, Knut: Johann Peter Hasenclever. Ein Maler im Vormärz. Neustadt/Aisch, 1990, S. 114-116. Von dem seit 1838 mehrfach variierten Motiv gab es in Berlin drei Fassungen, darunter eine, die Friedrich Wilhelm IV. seit 1848 besaß. 23 Deutsches Kunstblatt 1856 (wie Anm. 8), S. 298-299 (auszugsweise zitiert bei Heidtmann 1984 [wie Anm. 10], S. 69), sowie Deutsches Kunstblatt, Jg. 8, Nr. 5, Berlin, 29. Januar 1857, S. 42-43; Weimarer Sonntagsblatt, Nr. 36, Weimar, 7. September 1856, S. 304.
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Sigrid Schulze Erst diese Angaben erlauben, die in den Bildagenturen befindlichen Motive als Teile einer unvollständig überlieferten Bildfolge zu deuten, das heißt als ein Fragment. Wollte man das Programm skizzieren, dem die Fotografin folgte, könnte man es als »versöhnliche Verklärung des bürgerlichen Alltags mit seinen Polen Arbeit und Freizeit«24 umreißen. Es wird erweitert um (die nicht überlieferten) Darstellungen von Figuren aus Randgruppen der Gesellschaft – dem »Bettler- oder Auswanderermädchen«, dem »Mönch« sowie durch »Gretchen« als Figur der Literaturgeschichte. Der Rezensent »P.M.« vergleicht die Fotografien mit Werken aus der Geschichte der Malerei. Auch er erkennt Bezüge zu »Cabinetstücken der Niederländer«, namentlich zu Gemälden von Gerrit Dou. Die Aufnahmen veranlassen ihn zusätzlich zum Vergleich mit Blättern der fotografischen Kunstreproduktion, einer damals ebenfalls neuen Anwendung von Fotografie: »Dem mannigfachen Nutzen [der fotografischen Kunstreproduktion] hat Laura Bette [...] eine neue Seite hinzugefügt [...]. Ein photographisches Album, dessen erstes Heft vor uns liegt, soll fortlaufend eine Reihe kleiner Genrestücke, Stilleben u. dgl. bieten, sämtlich – und das ist das Neue und Gute! – nicht nach vorhandenen Kunstwerken, sondern unmittelbar nach der Natur, aber – und das ist das Beste! – der künstlerisch angeschauten Natur entnommen. Der Gedanke ist [...] so einfach, dass man sich wundern könnte, ihn jetzt zum ersten Mal ins Leben treten zu sehen, aber er konnte denn doch [...] eben nur in einem künstlerischen Geiste entstehen, wie er leider nicht allzu oft unsre Lichtbildwerkstätten bewohnt.«25 Der Rezensent führt den Leser auf eine bemerkenswerte Ebene. Er hält Bettes Fotografien aufgrund ihrer Ikonizität mit fotografischen Kunstreproduktionen für vergleichbar. Bildmäßige Fotografien »nach der Natur« könnten, so der Rezensent, durchaus ikonischen Zeichenwert haben. Die Fotografin Bette geht aus dieser Kritik als Künstlerin hervor. Zugleich relativieren seine Ausführungen eine Bewertung fotografischer Kunstreproduktion als vornehmlich von indexikalischer Bedeutung, wie diese vielfach vorgenommen wird.26
24 Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: »Genrefotografie und Kunstreproduktion«. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 3, Nr. 9, Marburg, 1983, S. 41-55, hier S. 49. 25 Deutsches Kunstblatt 1856 (wie Anm. 8), S. 298. 26 Hamber, Anthony: ›A Higher Branch of Art‹. Photographing the Fine Arts in England, 1830-1880. Amsterdam, 1996; Peters, Dorothea: »›…die Theilname für Kunst im Publikum zu steigern…‹. Fotografische Kunstreproduktionen nach Werken der Nationalgalerie in der Ära Jordan (1874-1896).« In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Bd. 37, Berlin, 2000, S. 207-250.
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Flora und Köchin Ein ganz anderer Aspekt zeigt sich, wenn man berücksichtigt, dass der französische Fotograf Louis-Desiré Blanquart-Evrard in Lille von 1851 bis 1855 ein umfassendes Programm an fotografischen Mappenwerken aufgelegt hatte und diese weiträumig vertrieb.27 Die Mappen enthielten sowohl fotografische Kunstreproduktionen als auch inszenierte Fotografien. Verschiedene Bildgattungen kamen darin zusammen. Bette könnte sich an seinem Konzept orientiert haben, um in Berlin eine entsprechende Produktlinie anzubieten.
Historischer Kontext 2: »Das Alte Berlin« (1907) Im Fall der Aufnahmen von Lutze & Witte sind zunächst die Einträge im Inventarbuch des Museums aufschlussreich. Sie klären die Provenienz und nennen die Bildtitel, auch von zwei heute fehlenden Blättern. Noch mehr aber tragen die Lebenserinnerungen von Agathe Nalli–Rutenberg (1838-1919), Tochter von Dr. Adolf Rutenberg (1808-1869), dem Redakteur der fortschrittlichen Nationalzeitung, zur historischen Verortung der Bilder bei. In dem 1907 unter dem Titel Das Alte Berlin veröffentlichten Werk widmet die Autorin ein Kapitel der Silberhochzeit der Krauses, Freunden ihrer Eltern. Dieser ›Trouvaille‹ ist zu entnehmen, dass auf dem opulenten Fest unter anderem »acht wunderschöne [L]ebende Bilder« gestellt wurden, an denen die Autorin als junges Mädchen beteiligt war. Sie rapportiert den Inhalt, nennt Darsteller und Urheber. Demnach gehen Szenen und dazugehörige Verse auf Friedrich Strass (1803-1864) zurück, den Berliner Juristen und Dichter. Die Maler Karl Breitbach (1838-1907) und Theodor Weber (1833-1904), Schüler der Berliner Akademie, arrangierten die Szenen im Raum.28 Bei Lutze & Witte handelt es sich demnach um Aufnahmen von sogenannten Lebenden Bildern, die 1860, anlässlich des genannten und beschriebenen Festes, gestellt wurden.29 Sie dokumentieren die Inszenierungen fotografisch. Das Bildprogramm, das Szenen wie Fotografien zugrunde liegt, ist die Lebensgeschichte des Unternehmerpaars Krause, die anspielungsreich und nicht ohne Ironie nacher27 Vgl. Jammes, Isabelle: Blanquart-Evrard et les origines de l’édition photo-
graphiques française. Catalogue raisonné des albums photographiques édités 1851-1855. Genf, 1981. 28 Nalli-Rutenberg, Agathe: Das Alte Berlin [1907]. Verb. u. verm. Jub.-Ausg. Berlin, 1912, S. 88-91. 29 Lammel, Gisold: »Lebende Bilder - Tableaux vivants im Berlin des 19. Jahrhunderts«. In: Klingenberg, Karl-Heinz (Hg.): Studien zur Berliner Kunstgeschichte. Leipzig, 1980, S. 244-327; Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin, 1999.
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Sigrid Schulze zählt wird. Die Bilder entstanden arbeitsteilig. Außer den Darstellern waren mindestens drei professionell im Bereich der Kunst und Literatur tätige Personen an der Inszenierung beteiligt. Hinzu kam der Fotograf, der hier nicht mit den Autoren der Szenen gleichzusetzen ist. Für die Aufnahmen ist von einer Zusammenarbeit aller auszugehen. Wo und wann die Aufnahmen entstanden, im Saal des Arnimschen Hotels als dem Ort der Feierlichkeit, oder, nachinszeniert, im Atelier des Fotografen, bleibt offen. Hier steht der Zeugnischarakter, das indizierende Moment der Fotografien im Vordergrund. Sie brachten das Fest in Erinnerung, seine Programmpunkte und Gäste. Denkbar ist, dass es mehrere Bildsätze davon gab.30 Sowohl die Szenen als auch die Fotografien verfügen aber auch über ikonische Bedeutungsebenen, zum einen generiert durch die biografischen Bezüge, die bei Publikum und Bildbetrachtern als bekannt vorausgesetzt werden konnten. Als Beispiel dafür sei das Bild der Göttin Flora als Namenspatronin der Silberbraut genannt. Zum anderen gehen sie aus Anspielungen auf die kunsthistorische Bildung der Festgemeinde hervor. Darin gründet der Humor und die Ironie der Bilder. Das Bild Weinprobe im Keller, das Zitat nach Hasenclever, kann nur so als Persiflage auf die erfolgreiche Geschäftsstrategie des Jubilars in jungen Jahren als Weinhändler verstanden werden. Im Bild Verehrung [...] ermöglicht die Einbindung realer Kunstwerke, wie hier die Skulpturen von Drake, das somit im Bild ›persönlich‹ anwesende Paar in potenzierter Weise zu feiern – durch Freunde und Familienangehörige in den Rollen der Arbeiter der eigenen Fabrik. Die pointierten Bezüge zu Lebensgeschichte und Kunst, die dem Festpublikum durch Lebende Bilder präsentiert wurden, haben die Fotografien dieser Szenen nachhaltig nachvollziehbar gemacht.
Resümee Inszenierte Fotografien aus den Berliner Ateliers Laura Bette und Lutze & Witte, die 1856 beziehungsweise 1860 entstanden, wurden hier in den historischen Kontext ihrer Entstehung und intendierten Verwendung gefügt. Diese Grundlage ermöglichte erstmalig eine 30 Kolorierte und unkolorierte Blätter kommen hier möglicherweise zusammen, weil verschieden ausgearbeitete Bildsätze miteinander vermischt wurden. Zur Praxis der (foto-)grafischen Darstellung von Lebenden Bildern siehe Lammel 1980 (wie Anm. 29); Bülow, Paula von: Aus verklungenen Zeiten. Lebenserinnerungen 1833-1920. Hrsg. v. Johannes Werner. Leipzig, 1924, S. 32; Vogel, Fritz Franz: The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005. Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 2005. Köln, Weimar u. Wien, 2006, S. 72-78.
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Flora und Köchin Deutung der Bilder. Sie konnten als Fragment einer Loseblattsammlung, die als Auflagenwerk für den Kunstmarkt konzipiert wurde, gedeutet werden (Bette) beziehungsweise als ein (ebenfalls unvollständig erhaltener) Satz von fotografischen Dokumenten sogenannter Lebender Bilder für einen nichtöffentlichen, namentlich bekannten Kreis von Rezipienten (Lutze & Witte). Die Bilder sind damit als Repräsentanten einer ikonisch beziehungsweise indexikalisch zu deutenden Funktion von Fotografie zu betrachten. Die nähere Auseinandersetzung mit dem Material zeigte aber, dass hier weiter zu differenzieren ist. Die Kenntnis der historischen Kontexte ermöglichte, die formalen und strukturellen Eigenschaften der Bilder zu klären. Auch erwies sich, dass die intendierten Gebrauchsweisen signifikante Wirkung darauf haben, wie Topoi aus der Kunstgeschichte und der zeitgenössischen künstlerischen Praxis in fotografische Bilder einbezogen wurden. Die Fallstudie bestätigt, dass bei Fotografien des 19. Jahrhunderts von komplexen Beziehungen zu bereits bestehenden fotografischen und nichtfotografischen Bildern auszugehen ist.31 Für jede historische Situation sind sie neu zu klären. Dies gilt für Fotografien von vorgefundenen Situationen ebenso wie für inszenierte Fotografien, für Aufnahmen nach sogenannten Lebenden Bildern ebenso wie für fotografische Kunstreproduktionen. Visuell gebildete Betrachter des 19. Jahrhunderts vermochten wohl, solche Bezüge unmittelbar zu erfassen. Um die Bilder heute in ihrer Komplexität zu verstehen, bedarf es zusätzlich der Auswertung schriftlicher Quellen.
31 Hamber 1996 (wie Anm. 26), S. 350.
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Schiffbruch mit Erzähler. Bemerkungen zum Verhältnis von Fotografie und Erzählung bei Jean Le Gac STEFANIE RENTSCH
Die Vielfalt der Kunstproduktion lädt Wissenschaftler und Kunstkritiker seit langem dazu ein, Kategorien zu bilden, in Schulzuschreibungen zu denken und neue Kunsttendenzen ins Leben zu rufen. Zum Teil geschieht dies rückwirkend, ein Nacheinander der Stile oder Schulen entwerfend, zum Teil haben solch performative Akte des Sortierens aber auch ganze Kunstströmungen erst aus der Taufe gehoben. Ein Beispiel ist die 1973 von dem Galeristen John Gibson in New York organisierte Ausstellung Story. Unter diesem Label subsumierte Gibson so unterschiedliche Künstler wie David Askevold, John Baldessari, Bill Beckley, Peter Hutchinson, Jean Le Gac, Roger Welch oder David Tremlett und präsentierte ›Story Art‹ als neue Kunsttendenz. Tatsächlich wurde Gibsons Kategorisierungsangebot von Seiten der Künstler,1 noch eifriger aber von Seiten einiger Ausstellungskuratoren und Kunstkritiker aufgenommen.2 1
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So betont beispielsweise Bill Beckley die Bedeutung des Literarischen und Narrativen für die Entwicklung der ›Story‹ oder ›Narrative Art‹ in einem Brief an Margarethe Jochimsen vom 20. Oktober 1973: »It is the literary style that has changed (from an analytic mode to a narrative one), so that now an artistic style (conceptual) that analysed other artistic styles has been supplanted by a transformation which obviously did not function on the visual level, but rather on the literary one.« Abgedruckt in: Jochimsen, Margarethe: »Foto-Texte: Irritierende Wechselspiele«. In: Neusüss, Floris (Hg.): Fotografie als Kunst, Kunst als Fotografie. Das Medium Fotografie in der bildenden Kunst Europas ab 1968. Köln, 1979, S. 134-140, hier S. 136. Vgl. die Ausstellungen im Palais des Beaux-Arts in Brüssel (Ausst.-kat. Palais des Beaux-Arts Bruxelles: Narrative Art. An exhibition of works by Da-
vid Askevold, Didier Bay, Bill Beckley, Robert Cumming, Peter Hutchinson, Jean Le Gac, and Roger Welch. Hrsg. v. James Collins. Brüssel, 1974), in
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Stefanie Rentsch Bei aller Diversität der künstlerischen Positionen, die als ›Story‹ oder ›Narrative Art‹ (im Französischen auch ›Art Narratif‹) bezeichnet werden, ist den Protagonisten doch gemeinsam, dass sie sich entschieden dem Erzählen von Geschichten und der Kombination von Texten und Fotografien zuwenden. Diese ›Lust am Erzählen‹ ist auch als eine Bewegung zu verstehen, die sich von der den Kunstmarkt dominierenden Konzeptkunst abkehren und einem weniger rigorosen und subjektiverem Kunstverständnis zuwenden möchte: »›Narrative‹ continues the exit by conceptually orientated artists from the didactic dilemmas laid in the Sixties. Dilemmas seeming so academic now it’s hard to believe they were taken so seriously.«3 Ihre narrative Kraft ziehen die verschiedenen Arbeiten der ›Narrative Art‹ aber nicht allein aus ihrer Hinwendung zum Wort und zur Erzählung, sondern gerade auch aus der Kombination von Text und Fotografie, indem sie beide Medien zu einem »erzählenden Ensemble« fügen.4 Innerhalb dieses dezidiert als narrativ gekennzeichneten Kontextes möchte ich folgenden Fragen nachgehen: Welche Rolle spielen Fotografien für eine Erzählung oder umgekehrt, welche Rolle spielt eine Erzählung für Fotografien? Was kann narrative Fotografie sein? Und schließlich: Welche Geltung kann der Begriff der Narration für das Medium Fotografie haben?
Sagen, was man auf Fotos nicht sehen kann Meine Überlegungen sollen anhand einer für das Verhältnis von Narration und Fotografie sowohl symptomatischen als auch für die ›Narrative Art‹ programmatischen Arbeit spezifiziert werden, da in ihr das Verhältnis von Narration und Fotografie dezidiert reflektiert wird: Es handelt sich um das Text-Foto-Hybrid Le peintre dit ce que l’on ne peut pas voir sur des photos (dt. Der Maler sagt, was man auf
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Groningen (Ausst.-kat. Groningen Museum: Narrative Art. Hrsg. v. Antje von Graevenitz. Groningen, 1979) und in den Kunstvereinen Heidelberg, Bonn und Krefeld (siehe hierzu auch den Themenband »Text-Foto-Geschichten Text-Foto-Geschichten. Story Art / Narrative Art« des Kunstforum International, Jg. 33, Nr. 3, Ruppichteroth, 1979). Vgl. außerdem den Beitrag von Yavuz, Perin Emel: »Photographie, séquence et texte. Le Narrative Art aux confins d’une temporalité féconde«. In: Image [&] Narrative [ejournal], Nr. 23, November 2008, unter: http://www.imageandnarrative.be /timeandphotography/yavuz.htm (Stand: 5. Januar 2010). Collins, James: »Narrative«. In: Ausst.-kat. Narrative Art (wie Anm. 2), o.S. Bettina Brach: »Jean Le Gac, der Phantom-Maler«. In: Ausst.-kat. Neues Museum Weserburg Bremen: ars photographica. Fotografie und Künstlerbücher. Hrsg. v. Anne Thurmann-Jajes u. Martin Hellmold. Bremen, 2002, S. 144.
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Schiffbruch mit Erzähler Fotos nicht sehen kann) des französischen Künstlers Jean Le Gac (Jg. 1936). Die Arbeit wurde 1979 von Le Gac in dem Künstlerbuch Le peintre de Tamaris près d’Alès (recueil de photos et de textes) 1973-1978 (dt. Der Maler aus Tamaris nahe Alès [Text- und Fotosammlung] 1973-1978) aufgenommen und zeigt dem Betrachter sechs Schwarzweiß-Fotografien, denen jeweils sechs kurze Fließtexte folgen. Dieses Künstlerbuch kann aus heutiger Perspektive als ein erstes Resüme von Jean Le Gacs künstlerischen Aktivitäten seit 1968 verstanden werden. In diesem Jahr wendet er sich nämlich, so will es seine persönliche Künstlerlegende, von der Malerei ab und der Arbeit mit Text-Foto-Hybriden zu, indem er zunehmend mit der damaligen Pariser Kunstszene um Christian Boltanski und PaulArmand Gette in Kontakt tritt.5 Dabei findet er zu einem Thema, das ihn in seinem künstlerischen Tun bis heute begleitet: Er entwirft in unzähligen Einzelarbeiten, in Texten, Pastellbildern und Fotografien ein Universum, in dessen Mittelpunkt die Figur le peintre, also »der Maler« steht; eine anonyme, lediglich über ihre Profession näher bestimmte Figur, die auf Fotografien bei den verschiedensten Tätigkeiten, unter anderem auch beim Malen gezeigt wird, von der es aber, anders als es die Bezeichnung nahelegt, kein einziges Gemälde zu sehen gibt. In verschiedenen Formaten und Techniken werden so textuell-visuelle Episoden entworfen, die immer neue Facetten einer Künstlerbiografie aufleuchten lassen. Die grundlegende Irritation, die sich beim Betrachten der Fotografien und beim Lesen der Texte einstellt, liegt nun einerseits darin, dass es praktisch stets Le Gac selbst ist, der anscheinend als die Malerfigur auf den Bildern zu sehen ist – auch in den Texten wird immer wieder suggeriert, dass sich die Erlebnisse des Malers mit Ausschnitten aus Le Gacs Biografie überschneiden. Vor dem
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Jean Le Gac beschreibt den Medienwechsel von der Malerei hin zu Texten und Fotografien an mehreren Stellen seiner Selbstreflexionen. So hält er noch 1998 im Rückblick nach 30 Jahren fest: »J’ai utilisé la photo et le texte à partir de 1968. Pour des raisons personelles (vie matérielle) mais aussi conjecturelles (Paris n’était plus la capitale de l’art, je tentais d’abandonner l’idée de devenir peintre). [...] Photos et textes ont été pour moi des substituts aux moyens traditionnels du peintre, comme de prendre au cours d’un repas des fourchettes et des couteaux pour décrire la tactique d’un match de football.« Le Gac, Jean: Jean le Gac et le photographe. Neuchâtel/Paris, 1998, S. 11f. Eine Auflistung der frühen Aktionen Le Gacs und der gesamten scène parisienne dieser Jahre findet sich bei Jestin, ClaudeYves; Maout, Valérie: »Jean Le Gac«. In: Poinsot, Jean-Marc (Hg.): Une scène
parisienne 1968-1972. Christian Boltanski, Bernard Borgeaud, André Cadere, Paul-Armand Gette, Jean Le Gac, Annette Messager, Gina Pane, Sarkis. Rennes, 1991, S. 119-125.
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Stefanie Rentsch Betrachter/Leser tut sich so eine mit Texten und Fotografien gestaltete Autofiktion auf, deren mediales Wechselspiel den grundsätzlichen Reiz von Le Gacs Arbeiten ausmacht.6 Le Gacs Kunstfigur des Malers tritt, folgt man dem Titel der Arbeit, auch in Der Maler sagt, was man auf Fotos nicht sehen kann als Sprecher auf; innerhalb der nachfolgenden Texte taucht er als Figur jedoch nicht auf. ›Sagen, was man auf Bildern nicht sehen kann‹ ist eine klassische Setzung im ›Paragone‹ von Text und Bild, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten auch für das weniger augenfällige Wort zu gewinnen. Le Gac überträgt diesen Topos auf seine Fotografien. Dabei bezieht er in die kurzen Erzählungen nicht allein Elemente ein, die auf den Fotos nicht sichtbar, weil nicht abfotografiert worden sind, sondern nutzt das Potential des Narrativen für weitergehende ›Sichtweisen‹ auf die Fotografien. In diesem Sinne wird in Der Maler sagt, was man auf Fotos nicht sehen kann die Gegenüberstellung ›Narration/Fotografie‹ nicht mit der Evokation des Sehsinnes, sondern des Geruchssinns eingeleitet: Mit dem auf verwesenden Fisch gemünzten Ausruf »Was für ein Gestank!«7 setzt der erste Text der Serie ein, womit sich der Sprecher offensichtlich auf die dazugehörige Fotografie bezieht, die ein zwischen Felsen eingekeiltes, stark zum Betrachter hin geneigtes Schiff zeigt (Abb. 1). Nun kann der Text ebenso wenig wie die Fotografie den Verwesungsgeruch so übertragen, dass der lesende Betrachter ihn riechen könnte, aber anders als die Fotografie, auf der der Fischkadaver nicht erkennbar ist, weist das Wort durch den Ausruf emphatisch darauf hin und öffnet zugleich den Raum für eine spekulative Erklärung des nicht-sichtbaren, aber beschreibbaren Gestanks: »Der widerliche Koch, der sie [gemeint ist eine Fischhälfte] also ins Meer zurückgeworfen hat, gehört vielleicht zu dem großen Hotel, das mit einem Park und einer Terrasse hinter uns liegt; jenes Hotel, für das man mit dicken Tauen und Stahlhalterungen an den Steinen am Strand dieses Schiffswrack festgebunden hat, das sich so gut in dieser Kulisse macht.«8 Durch diese kurze Beschreibung
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Zur Begrifflichkeit der Autofiktion vgl. Schaefer, Christina: »Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion«. In: Rajewsky, Irina; Schneider, Ulrike (Hg.): Im
Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. 7
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Stuttgart, 2008, S. 245-272. »Quelle puanteur!«. Le Gac, Jean: Le peintre de Tamaris près d’Alès (recueil de photos et de textes) 1973-1978. Crisnée, 1979, S. 65-71, hier S. 66 (Übers. S.R.). »Le cuisinier dégoûtant qui l’a ainsi rejetée à la mer est peut-être celui du grand hôtel, avec parc et terrasse, situé derrière nous, hôtel pour lequel on a arrimé aux rochers de la plage, avec des câbles et des verrins, cette épa-
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Abb. 1: »[…] das Schiffswrack, das sich gut in dieser Kulisse macht.« wird der naheliegende visuelle Eindruck, das Foto zeige ein Schiffsunglück, aufgehoben und das Wrack lediglich als Teil eines wie eine Bühne wirkenden Landschaftsausschnitts beschrieben. Der Text spielt damit, dass sich der Beschreibende quasi umdrehen und den Leser mit in seine Bewegung einbeziehen könnte (»das Hotel, das hinter uns liegt«), während das Bild statisch und, wie das eingekeilte Boot, unbeweglich bleibt. Erst durch die Beschreibung der nicht sichtbaren Umgebung und der Mini-Erzählung von dem unappetitlichen Koch, der den stinkenden Fisch weggeworfen haben könnte, legt sich ein imaginärer Gestank über die Szenerie, den das konkrete Foto alleine nicht evozieren kann. Auch die anderen Text-Bild-Hybride dieser Serie sind so angelegt, dass allein mit Hilfe des Textes das ›Blickfeld‹ über den Horizont des Bildes erweitert wird; der Leser erhält Einblick hinter Wände und über Hügelkämme. Die Fotografien geben, wie im Fall des Schiffswracks, lediglich statische, unbelebte Momente wieder und sind, wie häufig bei Le Gacs Text-Bild-Hybriden, von auffallend geringer suggestiver Qualität. Typisch hierfür ist die dritte Fotografie, die unter einem sommerlichen Himmel ein Stück Wiese zeigt, die zum Betrachter hin durch einen Elektrozaun begrenzt ist. Im Hintergrund sieht man einige Büsche, Bäume und den Ausläufer eines Hügels (Abb. 2). Innerhalb des Texts wird, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Bild, schon zu Beginn verdeutlicht, dass das Sichtbare dem Erzähler nicht ausreicht, und er lenkt das geistige Auge des Lesers weiter: »Nahe der Bäume, versteckt in einer Mulde, findet sich ein Haus, dessen Dach man sehen könnte, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellen würde.«9 Und, als würde sich der
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ve de bateau qui fait bien dans le décor.« Le Gac 1979 (wie Anm. 7), S. 66 (Übers. S.R.). »Près des arbres, cachée dans le pli de terrain, il y a une maison dont on apercevrait le toit en se mettant sur la pointe des pieds«. Im zweiten und
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Abb. 2: »Nahe der Bäume, versteckt in einer Mulde, findet sich ein Haus […].« Leser mit Hilfe des Erzählers tatsächlich ›auf die Zehenspitzen stellen‹, ermöglicht das geschriebene Wort in den folgenden Sätzen einen Einblick in das kleine Haus und das Leben eines alten Ehepaares. Der Text erst lässt Nicht-Sichtbares in der Imagination der Leser quasi sichtbar werden. Neben solchen, auf den Bildern unsichtbaren, Begebenheiten sind es vor allem Bewegungsabläufe, die Le Gacs Fotografien nicht einfangen wollen und können. Hierauf spielt insbesondere der vierte Text an, dem ein Foto vorangestellt ist, das eine Plakatwand mit Ankündigungen von Kriegsfilmen zeigt (Abb. 3). Im Einklang mit dem bewegten Medium par excellence, dem Film, konzentriert sich der Erzähler in diesem Paragrafen auf die Beschreibung der Bewegungsabläufe zweier Kinobesucher. Die sprachlich recht komplex dargestellten Bewegungen reichen vom einfachen Gehen bis hin zu krampfartigem Zucken (»zygomatiques contractés, spasmodisques«) oder dem langsamen – wie in Slow Motion ausgeführten – Hinsetzen der Protagonisten: »Zwei junge Typen sind gerade eingetreten. Einer der beiden setzt sich auf seinen Platz mit der Langsamkeit und der katzenartigen Geschmeidigkeit der Zeitlupe […]. Gedämpfte Körperbewegungen und Bewegungsabläufe, die genau zur Melodie einer Mundharmonika ausgeführt werden, die der Filmvorführer auf dem Plattenspieler der Projektionskabine abspielt.«10 Das Voranschreiten
vierten Text der Serie benutzt Le Gac das gleiche Verfahren, indem er die Erzählungen mit einer erweiterten Ortsbeschreibung beginnen lässt: »Hinter der Düne ist das Meer / Après la dune il y a la mer«, und: »Weit auf der rechten Seite, am anderen Ende des Strands […] / Loin sur la droite, à l’autre bout de la plage [...]«. Le Gac 1979 (wie Anm. 7), S. 67, 68 u. 69 (Übers. S.R.). 10 »Deux jeunes types viennent d’entrer. [...] L’un de deux s’installe sur son siège avec la lenteur et la souplesse féline du ralenti: [...] vue de trois
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Abb. 3: »Einer der beiden setzt sich auf seinen Platz mit der Langsamkeit und der katzenartigen Geschmeidigkeit der Zeitlupe.« der Narration, das Nacheinander der Musik und das Abrollen des Filmstreifens: Auf kleinstem Raum wird in Le Gacs Text das Bewegungspotential dieser Medien dem unbeweglichen und gleichsam stummen Motiv, das die Fotografie zeigt, gegenübergestellt. Lediglich auf den abgelichteten Filmplakaten sind Bewegungsmomente dargestellt: die marschierenden Soldatenbeine unter einem überdimensionalen Helm oder das Vorbeugen eines schreienden Mannes. Im Kontext der Text-Bild-Narration erscheinen die Plakate aber statisch, festgeklebt an ihrer Holztafel. Sie kündigen lediglich Bewegungen an, die erst die beworbenen Filme und, im direkten Kontext des Kunstwerks, die Erzählung zur Entfaltung bringen können. Am Ende der kurzen Text-Bild-Serie geht Le Gac nochmals auf das Element ›Bewegung‹ ein. Nun wird aber auf die Möglichkeit einer chronologischen Darstellung als einer Bewegung in der Zeit angespielt. Die letzte Fotografie zeigt einen Fluss, in dessen Lauf mit Steinen eine kleine Insel aufgeschüttet wurde, auf der sich ein hölzernes, dreieckiges Gestell befindet (Abb. 4). Diese winzige Insel ist durch eine ebenfalls aus Holz gefertigte, unvollendete Brückenkonstruktion mit dem Festland verbunden. Der Text nimmt auf den unfertigen Zustand der Brücke und des Holzdreiecks Bezug und schlägt einen Bogen zu einer nostalgischen Erinnerung an die Kindheit von zwei kleinen Mädchen, die sich in der Abgeschiedenheit ihre eigene kleine Welt aufgebaut hätten. Das Ensemble dient als Sinnbild für die Entwicklung der beiden Kinder und ermöglicht den Blick in Vergangenheit und Zukunft: »Es ist wahrscheinlich der letzte Sommer, in dem sie sich diesen Spielen widmen werden. Früher reichten ihnen einige aufgereihte Kieselsteinchen, um auf dem Boden das Babyzimmer und das Zimmer für Papa und Mama einzugrenzen; danach folgten die Hütten und Häuschen aus Ästen, quarts, [...]. Mouvements retenus et enchaînements parfaits accomplis sur un air d’harmonica [...].« Le Gac 1979 (wie Anm. 7), S. 69 (Übers. S.R.).
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Abb. 4: »[…] danach folgten die Hütten und Häuschen aus Ästen. Schließlich diese Kulisse für Paul et Virginia […].« schließlich diese Kulisse für Paul et Virginie, ein letzter Ort der Verkleidung, bevor sie in den Armen ihrer Geliebten wieder kommen werden, um ihr Liebesgeflüster mit dem Murmeln des Wassers zu vermischen.«11 Wiederum dokumentiert hier die Fotografie einen Zustand, der über den Standort des Betrachters und den abgelichteten Moment nicht hinauszugehen vermag. Wie in den vorangegangenen Beispielen erweitert erst die Narration die Möglichkeiten der Bildmotive und lassen die gewöhnlichen, fast anonymen Darstellungen zu Anlässen für weiterführende Überlegungen werden: zur Suggestion von Sinneseindrücken wie Schmecken, Riechen oder Hören, für Ereignisse, die über den Bildraum hinausgehen, von Bewegungen und für die Darstellung von Zeit- und Lebensläufen. Die Fotografien sind bei Le Gac vor allem Anstifter, die von dem gezeigten Objekt wegführen. Sie ermöglichen Erzählungen, ohne sie zu verwirklichen. Wie es auch Bill Beckley herausstreicht, bezieht sich der Terminus des Narrativen in der Narrative Art Le Gacs nicht auf das Medium der Fotografie, sondern ganz traditionell auf den Text. Erst das Wort lässt bei Le Gac Erzählungen entstehen, die in der Wahrnehmung der Rezipienten die Fotografien mit einschließen, Beziehungen zwischen Text und Bild stiften und letztlich zu einer kohärenten oder in sich widersprüchlichen Bedeutung gelangen können.
11 »C’est sans doute le dernier été où elles se consacrent à ces jeux. Avant il leur suffisait de quelques rangées de cailloux pour délimiter sur le sol la chambre du bébé et celle du papa et de la maman; après vinrent les huttes et les cabanes de branchages, enfin ce décor pour Paul et Virginie, denier simulacre avant qu’au bras de leur amoureux elles viennent mêler les mots d’amour aux murmures de l’eau.« Le Gac 1979 (wie Anm. 7), S. 71 (Übers. S.R.).
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Schiffbruch mit Erzähler
Narratologie und ›Narrative Art‹ Mit seiner programmatischen Behauptung, zu erzählen, was auf den Bildern nicht zu sehen ist, steht Le Gacs Arbeit quer zu der Bewertung von Narration in der jüngeren universitären Erzählforschung: Ohne an dieser Stelle zu sehr ins Detail zu gehen, kann man feststellen, dass die ursprünglich der Literaturwissenschaft vorbehaltene Erzähltheorie in den letzten Jahren auf breites Interesse in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gestoßen ist. Die häufig anhand literarischer Beispiele entwickelten Erzählmodelle, insbesondere die der Semiotik, werden heute fächerübergreifend auch auf andere Medien angewandt.12 Grundlage hierfür ist eine weite Auffassung des Begriffs Erzählung und ein dementsprechend großzügiges Verständnis des Narrativen, das auch Medien und Gattungen jenseits des literarischen Texts in den Blick nimmt. Konzentriert man sich auf den Erzählvorgang (discours) und damit auf die ›Mittelbarkeit‹ des Erzählens, so wird der Gegenstandsbereich des Erzählerischen im Wesentlichen auf Alltagserzählungen und die gängigen literarischen Erzählgenres eingeengt. Erweitert – und vereinfacht – man hingegen die Definition des Erzählerischen auf die Ebene des Erzählten (histoire), so können auch Werke ohne explizit in Erscheinung tretende Erzählinstanz als narrativ eingestuft werden. Werner Wolf beispielsweise plädiert in einem Aufsatz über eine mögliche Narrativität von Literatur, bildender Kunst und Musik aus dem Jahr 2002 dafür, das Narrative als »kognitives Schema von relativer Konstanz« zu verstehen, das auf »lebensweltliche Erfahrungen, vor allem aber auf menschliche Artefakte [...] applizierbar ist, und zwar ohne daß dabei apriorische Festlegungen hinsichtlich bestimmter Realisierungs- oder Vermittlungsebenen getroffen werden müssen«.13
12 Verschiedene Beispiele dieser disziplinären ›Grenzüberschreitungen‹ werden in dem von Vera und Ansgar Nünning herausgebenen Band Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär (Trier 2002) aufgeführt. Vgl. auch Herman, David (Hg.): Narratologies. Columbus, 1999; Kindt, Tom; Müller, Hans-Harald (Hg): What is Narratology? Berlin u. New York, 2003. 13 Wolf, Werner: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik.« In: Nünning, Ansgar; Nünning, Vera: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, 2002, S. 23-104, hier S. 37. Wolfs Verständnis von Erzählungen als rezeptionsorientierte, kognitive Schemata ist in der neueren Narratologie weit verbreitet. Vgl. dazu David Hermans kommunikationstheoretischen Ansatz in Story Logic (Lincoln, 2002) oder Monika Fluderniks Ansatz einer ›Natural Narratology‹ in »Natural Narratology and Cognitive Parameters« (in: Herman, David [Hg.]: Narrative Theory and the Cognitive Sciences. Stanford, 2003, S. 243-267), der auf ihrer Mo-
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Stefanie Rentsch Unter einem solchen theoretischen Schirm lassen sich dann auch Erzählungen aus Gemälden, Fotografien oder Musik subsumieren. Für den Fall der ›erzählenden Bilder‹ geht Áron Kibédi Varga sogar so weit, in jedem Bildtypus erzählende Elemente zu erkennen, und konstatiert 1997 eine »Omnipräsenz des Erzählerischen in der Malerei«.14 Gleichzeitig macht sich eine gewisse Hilflosigkeit breit, wenn es um die konkrete Anwendbarkeit des Erzählbegriffes auf Bilder geht, zu denen ich in diesem Fall auch die Fotografien zählen möchte. Um Aussagen über deren erzählerischen Charakter treffen zu können, werden nicht selten fast schematisierende Parallelen zu mündlichen oder schriftlichen Erzählungen gezogen. Hierfür seien drei Beispiele erwähnt: In Anlehnung an die klassische Erzählung wird als eine wichtige Voraussetzung für die visuelle Narration häufig ein erkennbarer Handlungsträger angesetzt. So weist beispielsweise Wendy Steiner darauf hin, dass eine notwendige, aber oft vernachlässigte Voraussetzung für narrative Bilder sei, dass der Betrachter auf den Bildern wiedererkennbare Elemente ausmachen könne. Auch mimetische, das heißt in Anlehnung an die reale Welt gestaltete Figuren oder Objekte ließen ihn eine Narration erkennen. Falls diese nicht vorhanden seien, identifiziere man statt einer Erzählung lediglich Muster: »in no other art is the connection between narrativity and realism so explicit, because in pictorial art the violation of certain realist norms has the power to transform narrativity into design.«15 Außerdem wird vor dem Hintergrund der kontinuierlich voranschreitenden Sprache einer Erzählung immer wieder auf die Atemporalität des visuellen Mediums eingegangen: Zeitliche Abläufe, Zustandsveränderungen, wahrnehmbare Handlungen oder Situationsveränderungen im Sinne einer Kausalverkettung von Ereignissen ließen sich in Bildern nicht problemlos darstellen.16
nographie Towards a ›Natural‹ Narratology (London u. New York, 1996) beruht, sowie den sehr guten Überblick zu verschiedenen rezeptionsorientierten Forschungspositionen von Marie Laure Ryan (siehe Ryan, Marie Laure: »Introduction«. In: Dies. [Hg.]: Narrative across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln u. London, 2004, S. 1-40). 14 Kibédi Varga sieht in allen Genres einen Bezug zu dem in der Rangfolge der Künste am höchsten eingeordneten Historienbild, dessen narratives Potential er als besonders ausgeprägt beschreibt. Kibédi Varga, Áron: »Le récit: texte et image. Esquisse d’une taxonomie«. In: Texte. Revue crititique et de théorie littéraire, Bd. 21/22 (Iconicité et narrativité), Toronto, 1997, S. 1-13, hier S. 3. 15 Steiner, Wendy: Pictures of Romance. Form against Context in Painting and Literature. Chicago, 1988, S. 21. 16 Vgl. Nünning, Vera; Nünning, Ansgar: »Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähl-
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Schiffbruch mit Erzähler Als Lösung dieses scheinbaren Defizits von Bildern, das sich ja erst durch den Vergleich mit Texten ergibt, wird gerne auf Polyphasenbilder oder Bilderserien verwiesen – immer wieder tauchen dabei Benozzo Gozzolis Gemälde Tanz Salomés (1461) oder William Hogarths Marriage à la mode (1745) als prototypische Beispiele auf. Auch Wendy Steiner unterstreicht in ihrer Monografie Picture of romance, dass Eigenschaften wie Sukzession und Handlungsabfolgen, die für verbale Erzählungen als typisch gelten, ohne weiteres auch für Bilder in Anschlag gebracht werden könnten. Mit Blick auf die Geschichte der Kunst bemerkt sie, dass mit der Einführung der Zentralperspektive diese dem Bild an sich nicht fremden Eigenschaften nicht länger genutzt worden seien und das Polyphasenbild als altmodischer Bildtypus verdrängt worden sei. Es seien demnach weniger die medialen Eigenschaften von Bildern als vielmehr die bildnerischen Konventionen des klassischen monoszenischen Tafelbildes, durch welche erzählerische Elemente in der bildenden Kunst unterdrückt worden seien.17 Eine weitere Annäherung zwischen sprachlicher Narration und Bildern firmiert unter anderem bei Kibédi Varga oder Wolf unter dem Stichwort »Lesehilfen«. Diese Lesehilfen könnten beispielsweise bei Bilderserien Details sein, die logische und kohärente »Lesarten« nahelegen würden oder aber, als wichtigstes Element, »intermediale Anleihen beim verbalen Medium«.18 Kibédi Varga verwendet für solche Anleihen den Begriff der »récits mixtes ›verbovisuels‹«, da mit dem Überschreiten der medialen Grenzen nicht mehr von reinen Bildererzählungen gesprochen werden könne.19 Mit dem Rückgriff auf das traditionelle narrative Medium Sprache könnten Handlungssituationen und Erzählabsichten beispielsweise schon durch den Titel oder durch lesbare Wörter auf abgebildeten Gegenständen, aber auch durch Sprechblasen wie im Fall des Comics vereindeutigt werden. Ohne diesen Kriterien ihren Evidenzcharakter im Einzelnen absprechen zu wollen, finde ich gerade das letzte Kriterium in gewisser Weise doch entlarvend, entfernen sich die von der Literaturwissenschaft aus argumentierenden Narratologen doch immer weiter vom Bild als rein visuellem Phänomen, um in ihm das zu finden, was sie unter Narration verstehen. Will man Bilder als Erzählungen sehen theorie«. In: Dies.: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, 2002, S. 1-21, hier S. 5-10, sowie Chatman, Seymour: Story and Discourse. Ithaca, 1978, und Fludernik, Monika: »Genres, Text Types, or Discourse Modes? Narrative Modalities and Generic Categorization«. In: Style, Jg. 34, Nr. 2, Dekalb, Sommer 2000, S. 274-292. 17 Vgl. Steiner 1988 (wie Anm. 15), S. 9. 18 Steiner 1988 (wie Anm. 15), S. 69. 19 Kibédi Varga 1997 (wie Anm. 14), S. 10.
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Stefanie Rentsch oder besser gesagt ›lesen‹, bleibt die Sprache letztlich das Mittel, das Narration als Modus der Wahrnehmung überhaupt erst auslösen kann – und auch dies ist eine Narration, die sich wiederum sprachlich äußert. Le Gacs Arbeit Der Maler sagt, was man auf Fotos nicht sehen kann sticht genau in dieses argumentative Wespennest. Le Gac wählt Fotografien, die keines der genannten Kriterien der Narrationserzeugung enthalten: Man erkennt keinen Handlungsträger, es handelt sich um keine Serie, und keine piktorialen oder nonpiktorialen Lesehilfen auf dem Bildträger könnten uns anleiten. Anhand von unscheinbaren Details der Landschaftsaufnahmen entwickelt Le Gac jedoch – Roland Barthes’ Lob des punctum in La chambre claire nicht unähnlich – kleine Erzählungen. Seine ›ZuSchreibungen‹ führen exemplarisch vor, wie Narration ausgehend von der Fotografie entstehen kann. Er formuliert hier angesichts der Fotos jeweils eine mögliche narrative Variante aus, die aber durch sehr wenige fotografische Anhaltspunkte ›gedeckt‹ ist und Spielraum lässt für andere, durch das Bild angestiftete Erzählungen. Die Bereitschaft und der Wille des Betrachters, Geschichten in Form von Texten und in Sprache zu entwerfen, bleiben zuvorderst relevant für ein wie auch immer geartetes narratives Potential der Bilder. Damit soll nicht gesagt sein, dass es unbedeutend wäre, in welcher Form, ob durch Worte oder Fotografien oder eben durch beides, die Imagination der Betrachter stimuliert wird. Die Qualität des imaginären Erzählraums ist nicht von den Medien seiner Anstiftung zu trennen. Bei Le Gac liegt der Reiz nun gerade in dem Miteinander von Foto und Text, in der fortschreitenden Narration der Texte und deren Verhältnis zu den, die Erzählung ergänzenden, befruchtenden oder ihnen widersprechenden Fotografien. Gerade die für ein semiotisch geschultes Auge opake, nicht-narrative Qualität der Fotografien, die Uneindeutigkeit und relative Beliebigkeit des Sujets kann dabei die Imagination zusätzlich beflügeln. Denkt man vor diesem Hintergrund Le Gacs Text-Bild-Arbeit Der Maler sagt, was man auf Fotos nicht sehen kann weiter, so lässt sich folgern: Verwendet man für die Beschreibung von Fotografie den Terminus »Narration«, so betrifft dieses Sprechen von Fotografien weniger das Bild selbst als vielmehr die Bereitschaft des Betrachters, die Fotografien als Anstifterinnen von Erzählungen zu verstehen; als Mittlerinnen für unsere Imaginationskraft, die uns aber eben erst in einem zweiten Schritt ermöglicht zu erzählen, was auf Fotos nicht zu sehen ist.
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS UND BILDNACHWEIS Umschlagvorderseite, Ralph Bartholomew Jr., Untitled, 1954, Gelatinesilberabzug, 26,7 x 34,1 cm Los Angeles County Museum of Art, Gift of the Bartholomew family, courtesy Keith deLellis Gallery, © 2009. Digital Image Museum Associates/LACMA/Art Resource NY/Scala, Florence. Einleitung Blunck, Abb. 1: Ralph Bartholomew Jr., ohne Titel, 1954, Gelatinesilberabzug, 26,7 x 34,1 cm, Los Angeles County Museum of Art, Gift of the Bartholomew family, courtesy Keith deLellis Gallery, © 2009. Digital Image Museum Associates/LACMA/Art Resource NY/Scala, Florence (aus: Pauli, Lori [Hg.]: Acting the part. Photography as theatre. London u. New York, 2006, S. 43, Abb. 38); Abb. 2: Ralph Bartholomew Jr., ohne Titel, 1954, Gelatinesilberabzug, 26,7 x 34,1 cm Los Angeles County Museum of Art, Gift of the Bartholomew family, courtesy Keith deLellis Gallery, © 2009. Digital Image Museum Associates/LACMA/Art Resource NY/Scala, Florence (aus: Wide, Tim B. [Hg.]: Retail Fictions. The Commercial Photography of Ralph Bartholomew Jr. Los Angeles, 1998, Tf. 99); Abb. 3: William Lake Price, Don Quixote in His Study, 1857, Albuminsilberabzug, 31,9 x 28.0 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York (aus: Pauli, Lori [Hg.]: Acting the part. Photography as theatre. London u. New York, 2006, S. 63, Abb. 57); Abb. 4: Standbild aus Don Quixote, 2000, US-Spielfilm, Farbe, 120 Min., Regie: Peter Yates; Abb. 5: William H. Mumler, Master Herrod and his double, ca. 1870 (aus: Kaplan, Louis: The Strange Case of William Mumler Spirit Photographer. Minneapolis u. London, 2008, S. 26, Abb. 6); Abb. 6: Anthony Suau, Cleveland, Ohio, 26. März 2008, 2008 (aus: Diathek des Fachgebiets Kunstgeschichte der TU Berlin); Abb. 7: Jeff Wall, Eviction Struggle, 1988, Diapositiv auf Leuchtkasten, 229,0 x 414,0 cm, Pinakothek der Moderne, München (aus: Bischoff, Ulrich; Ingelmann Graeve, Inka; Weski, Thomas [Hg.]: Jede Fotografie ein Bild. Siemens Fotosammlung. München, 2004, S. 32). Beitrag Weiß, Abb. 1: Etienne-Jules Marey, Aufprallverhalten eines Balls auf dem Boden, 1886, Chronofotografie, ohne Maßangaben, Paris, Collège de France (aus: Frizot, Michel: Etienne-Jules Marey.
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Die fotografische Wirklichkeit Chronophotographe. Paris, 2001, S. 181); Abb. 2: Paul Nougé, La Jongleuse, aus der Serie Subversion des images, 1929–30, Schwarzweißfotografie, 18,0 x 18,0 cm, Antwerpen, Sammlung Sylvio Perlstein (aus: Schneede, Uwe M. [Hg.]: Begierde im Blick. Surrealistische Photographie. Ostfildern-Ruit, 2005, S. 164); Abb. 3: Gustav von Estorff, Ballgymnastik, aus dem Bildband Wir Arbeitsmaiden, 1940 (aus: Estorff, Gustav von: Wir Arbeitsmaiden. Berlin, 1940, o.S.); Abb. 4: Horst P. Horst, Aufnahme für ein Titelblatt der Modezeitschrift Vogue, 1941, Farbfotografie, ohne Maßangaben, New York, Condé Nast Archive (aus: Roberts, Pamela [Hg.]: 100 Jahre Farbfotografie. Berlin, 2007, S. 128); Abb. 5: Titelblatt der USamerikanischen Vogue, Ausgabe vom 15. Mai 1941. Vierfarbdruck, 32,2 x 24,7 cm (Zeitschriftenmaße); Abb. 6: John Baldessari, Pier 18, 1971, Schwarzweißfotografie, gerahmt, 17,8 x 26,4 cm, im Besitz des Künstlers (aus: Fuchs, Rainer [Hg.]: John Baldessari. A Different Kind of Order [Arbeiten 1962–1984]. Köln, 2005, S. 174); Abb. 7: David Hurn, Hen Night, USK, 1994, Schwarzweißfotografie, ohne Maßangaben (aus: Steele-Perkins, Chris [Hg.]: Magnum Degrees. London, 2000, S. 155.); Abb. 8: Achim Lippoth, Ball spielende Mädchen, aus der Modestrecke Together, 2004, Farbfotografie, ohne Maßangaben (aus: Holthuis, Gabriele; Lehmann, Ulrike [Hg.]: Achim Lippoth. Pictures. Heidelberg, 2007, o.S.). Beitrag Janecke, Abb.1: Karen Knorr, When Will You Ever Learn?, 2001, gerahmter C-type colour print, kaschiert auf Aluminium, 132 x 132 cm, Aufl. 5, © Karen Knorr (aus Knorr, Karen: Genii loci. The Photographic work of Karen Knorr. London, 2002, S. 111); Abb. 2: Sonja Braas, You are here #23, 1998, C-print, Diasec, 96 x 75 cm, © Sonja Braas (courtesy Galerie Anita Beckers, Frankfurt a.M.); Abb. 3: Candida Höfer, Zoologischer Garten Washington DC IV, 1992, CPrint, 25,5 x 41 cm, © Candida Höfer (aus: Höfer, Candida: Zoologische Gärten. München, 1993, o.S., Abb. 29); Abb. 4: Hiroshi Sugimoto, Polar Bear, 1976, Silbergelatineabzug, Negativ 135, 119,4 x 149,2 cm, © Hiroshi Sugimoto (aus: Brougher; Kerry; Müller-Tamm, Pia [Hg.]: Hiroshi Sugimoto. Ostfildern, 2007, S.70); Abb. 5: Tabea Sternberg [Bea Be], Gesture II. 3, 1997, Cibachrome, 100 x 65 cm, © Bea Be (aus: Ausst.-Kat. HDK Berlin: Bea Be Gesture. Berlin 1997, o.S.); Abb. 6: Paula Anta, FAUNIA 05, 2009, C-Print, 100 x 150 cm, © Paula Anta (courtesy Paula Anta); Abb. 7: Roni Horn, Dead Owl, 1998, zwei Iris Prints, je 73,7 x 73,7 cm, Kunstmuseum Basel, © Roni Horn (aus: Horn, Roni: Roni Horn aka Roni Horn. Göttingen, 2009, S. 50 [Subject Indes]). Beitrag Streitberger, Abb. 1: Duane Michals, Things are Queer, 1973, 9 Aufnahmen, jeweils 8,6 x 12,7 cm (aus: Museum für Kunst
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Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis und Gewerbe, Hamburg [Hg.]: Duane Michals. Photographien 19581988. Hamburg, 1999, S. 64-66); Abb. 2: Artists and Photographs, Multiples. New York, 1970 (hrsg. v. Marian Goodman, Cover: Dan Graham); Abb. 3: Robert Morris, Continuous project altered daily, in: Artists and Photographs, Multiples. New York, 1970; Abb. 4: Christian Boltanski, Monuments. Leçons de ténèbres, Palazzo delle Prigione, Biennale Venedig, 1986 (aus: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst: Christian Boltanski. München, 1988, Abb. 9); Abb. 5: Christian Boltanski, Monuments. Leçons de ténèbres, Paris 1986; Abb. 6: Christian Boltanski, Livres, Paris, Köln u. Frankfurt a.M. 1991. Beitrag Brückle, Abb. 1: Eric Baudelaire, The Dreadful Details, 2006, C-Print, Diasec, 209 x 375 cm (Gesamtmaße des Diptychons), commission du CNAP, © Eric Baudelaire; Abb. 2: Henri CartierBresson, Dessau, Germany, 1945. In einem Flüchtlingslager wird eine Gestapo-Informantin, die sich als Flüchtling ausgegeben hatte, von einer Lagerinsassin erkannt und bloßgestellt, 1945, Silbergelatineabzug, ohne Maßangaben, © Fondation Henri Cartier-Bresson, Paris; Abb. 3: Jeff Wall, Dead Troops Talk (a vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986), 1992, Transparency in lightbox, 229 x 417 cm, © Jeff Wall; Abb. 4: Frank Hurley, A wave of Infantry going over the top to resist a counter attack, Zonnebeke, 1917, ca. 600 x 500 cm, National Library of Australia, Canberra, nla.pic-an23478249, © 2010; Abb. 5: Frank Hurley, Australische Truppen beim Vormarsch, Okt. oder Nov. 1917, ohne Maßangaben, National Library of Australia, Canberra, © 2010; Abb. 6: Alexander Gardner, Home of a Rebel Sharpshooter [auch bekannt als: Timothy O’Sullivan, Battle-field of Gettysburg: Dead Confederate Sharpshooter at Foot of Little Round Top], 1863, Albuminabzug, 17,4 x 22,5 cm, Courtesy Library of Congress, Washington; Abb. 7: Eric Baudelaire, The Dreadful Details (Detail), 2006, C-Print, Diasec, 209 x 375 cm (Gesamtmaße des Diptychons), commission du CNAP, © Eric Baudelaire. Beitrag Hölzl, Abb. 1: Heinrich Riebesehl, 2/23/71, 31.7.1971, aus der Serie Selbstdarstellungen (1971) (aus: Schneider, Ulrike [Hg]: Heinrich Riebesehl. Fotografische Serien 1963-2001. Ostfildern-Ruit, 2004, S. 100); Abb. 2: Heinrich Riebesehl, 6/5/69, 20.11.1969, aus der Serie Menschen im Fahrstuhl (1969) (aus: Schneider, Ulrike [Hg]: Heinrich Riebesehl, Fotografische Serien 1963-2001. Ostfildern-Ruit, 2004, S. 87); Abb. 3: George Louis, Carl Fischer (Foto), Esquire Cover, April 1968 aus: http://www.georgelois.com/pages/Esquire/Esq. Ali.html, Stand: 5. Januar 2010); Abb. 4: Samuel Fosso, African Spirits, L 002853, 2008, courtesy Galerie Jean Marc Patras; Abb. 5:
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Die fotografische Wirklichkeit Mug shot von Martin Luther King, Montgomery, 1956 (aus: http:// www.thesmokinggun.com/mugshots/mlkingmug1.html, Stand: 5. Januar 2010); Abb. 6: Samuel Fosso, African Spirits, L 002783, 2008, courtesy Galerie Jean Marc Patras. Beitrag Scorzin, Abb. 1: Nan Goldin, The Ballad of Sexual Dependency, 1986, Fotobuch, 22,8 x 25,2 cm, 144 Seiten, Aperture, Millerton, New York, 1986 (aus: Parr, Martin; Badger, Gerry: The Photobook: A History. Bd. 2. London u. New York, 2006, S. 39); Abb. 2: Nan Goldin, Nan and Brian in Bed, New York City, 1983, Cibachrome Print, 50,8 x 61,0 cm, Sammlung F.C. Gundlach, Hamburg (aus: Hamburger Kunsthalle [Hg.]: Emotions & Relations. Köln, 1998, S. 50); Abb. 3: Nan Goldin, Greer and Robert on Bed, New York City, 1982, Cibachrome Print, 50,8 x 61,0 cm, Sammlung F.C. Gundlach, Hamburg (Hamburger Kunsthalle [Hg.]: Emotions & Relations. Köln, 1998, S. 53). Beitrag Schröter, Abb. 1: Foto eines Zebras (aus: http://de.wiki pedia. org/wiki/Pferde, Stand: 22. Juli 2009); Abb. 2: Screenshot des Wikipedia-Eintrags »Pferde« (aus: http://de.wikipedia.org/wiki/ Pferde, Stand: 22. Juli 2009); Abb. 3: Cindy Sherman, Untitled Film Still #21, 1978 (aus: Krauss, Rosalind [Hg.]: Cindy Sherman, 19751993. New York u. London, 1993, S. 31). Beitrag Blunck, Abb. 1: Hippolyte Bayard, Autoportrait en noyé (recto), 1840, Direktpositiv auf Papier auf Karton montiert, 18,8 x 19,2 cm, Société Française de Photographie, Paris (aus: Gautrand, Jean-Claude [Hg.]: Hippolyte Bayard. Naissance de l´image photographique. Amiens, 1986, Tf. 10); Abb. 2: Hippolyte Bayard, Autoportrait en noyé (verso), 1840, Direktpositiv auf Papier auf Karton montiert, 18,8 x 19,2 cm, Société Française de Photographie, Paris (aus: Gautrand, Jean-Claude [Hg.]: Hippolyte Bayard. Naissance de l´image photographique. Amiens, 1986, S. 219). Beitrag Geschke, Abb. 1: Henri Cartier-Bresson, New York, USA, 1959 (aus: Cartier-Bresson, Henri: Henri Cartier-Bresson. Amerika. München, Paris u. London, 1991, S. 27). Beitrag Scheuermann, Abb. 1: Jeff Wall, Eviction Struggle, 1988, Diapositiv auf Leuchtkasten, 229,0 x 414,0 cm, Pinakothek der Moderne, München (aus: Bischoff, Ulrich; Ingelmann Graeve, Inka; Weski, Thomas [Hg.]: Jede Fotografie ein Bild. Siemens Fotosammlung. München, 2004, S. 32).
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Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis Beitrag Bushart, Abb. 1: Henry Peach Robinson, Fading away, 1858, Albuminsilberabzug, 23,8 x 37,9 cm, National Museum of Photography, Film & Television, Bradford, Sammlung der Royal Photographic Society (aus: Diathek des Fachgebiets Kunstgeschichte der TU Berlin); Abb. 2: Henry Peach Robinson, Pictorial Effect in photography, being hints on composition and chiaroscuro for photographers (1869): Holzstich nach David Wilkie, The Blind Fiddler, 1806 (aus: Robinson, Henry Peach: Pictorial Effect in photography, being hints on composition and chiaroscuro for photographers. Nachdr. d. Ausg. London, 1869. Pawlet, Vermont, 1971, S. 68); Abb. 3: Henry Peach Robinson, Pictorial Effect in photography, being hints on composition and chiaroscuro for photographers (1869): Schematische Umzeichnung der Hauptfiguren in Wilkies The Blind Fiddler (aus: Robinson, Henry Peach: Pictorial Effect in photography, being hints on composition and chiaroscuro for photographers. Nachdr. d. Ausg. London, 1869. Pawlet, Vermont, 1971, S. 74); Abb. 4: Henry Peach Robinson, The Model (Miss Cundall), 1857, Albuminsilberabzug, 21,6 x 16,5 cm (aus: Harker, Margaret F.: Henry Peach Robinson. Master of Photographic Art 1830-1901. Oxford, 1988, S. 27, Abb. 15); Abb. 5: Henry Peach Robinson, The Passions: Vanity, 1857, Albuminsilberabzug, 21,6 x 16,5 cm (aus: Harker, Margaret F.: Henry Peach Robinson. Master of Photographic Art 1830-1901. Oxford, 1988, S. 27, Tf. 31); Abb. 6: Henry Peach Robinson, She never told her love, 1857, Albuminsilberabzug, 18,0 x 23,2 cm (aus: Diathek des Fachgebiets Kunstgeschichte der TU Berlin); Abb. 7: Henry Peach Robinson, Fading away, 1858, Albuminsilberabzug, 23,8 x 37,9 cm (aus: Harker, Margaret F.: Henry Peach Robinson. Master of Photographic Art 1830-1901. Oxford, 1988, S. 27, Tf. 46). Beitrag Förschler, Abb. 1: Félix Jacques Moulin, Mauresque et Négresse d’Alger, Costume d’Interieur, 1857, Albuminpapierdruck, 22 x 16,2 cm, Paris BnF, Estampes, © Paris BnF; Abb. 2: Eugène Delacroix, Die Frauen von Algier in ihrem Gemach, 1834, Öl auf Leinwand, 180 x 229 cm, Paris, Musée du Louvre (aus: Rautmann, Peter: Delacroix. München, 1997, S. 154); Abb. 3: Sebah & Joaillier, Harem, 1890, Albuminpapierdruck, 21,3 x 27, 7 cm, Paris BnF, Estampes, © Paris BnF; Abb. 4: Sebah & Joaillier, Odalisque, 1890, Albuminpapierdruck, 20,5 x 26,5 cm, Paris BnF, Estampes, © Paris BnF; Abb. 5: Zangaki, Groupe de femmes de harem, 1870-1880, Albuminpapierdruck, 22,5 x 28,5 cm, Paris BnF (aus: Aubenas, Sylvie, Lacarrière, Jacques: Voyage en Orient. Paris, 1999, S. 193). Beitrag Schulze, Abb. 1: Laura Bette, Stillleben, 1856, Reproduktion (Verbleib der Vorlage unbekannt), © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz; Abb. 2: Laura Bette, Bild einer alten Landfrau am Spinnro-
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Die fotografische Wirklichkeit cken, 1856, Reproduktion (Verbleib der Vorlage unbekannt), © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz; Abb. 3: Laura Bette, Kleine Mädchen beim Strickstrumpf, 1856, Reproduktion (Verbleib der Vorlage unbekannt), © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz; Abb. 4: Laura Bette, Eine junge Köchin in ihrem Beruf beschäftigt, 1856, Reproduktion (Verbleib der Vorlage unbekannt), © ullstein bild; Abb. 5: Atelier Lutze & Witte, Einritt in die Lehre [...], 1860, Salzpapierabzug / Karton, 20,1 x 27,7 cm / 31,2 x 40,0 cm, © Stiftung Stadtmuseum Berlin (Reproduktion: Michael Setzpfand); Abb. 6: Atelier Lutze & Witte, Weinprobe im Keller, 1860, Salzpapierabzug / Karton, 20,3 x 27,6 cm / 31,1 x 40,2 cm, © Stiftung Stadtmuseum Berlin (Reproduktion: Michael Setzpfand); Abb. 7: Atelier Lutze & Witte, Das Herz voll Mitleid, 1860, Salzpapierabzug / Karton, 26,8 x 34,2 cm / 31,0 x 40,0 cm, © Stiftung Stadtmuseum Berlin (Reproduktion: Michael Setzpfand); Abb. 8: Atelier Lutze & Witte, Flora mit ihren Gespielinnen huldigt der Braut, 1860, Salzpapierabzug (koloriert) / Karton, 20,5 x 27,9 cm / 31,3 x 40,3 cm, © Stiftung Stadtmuseum Berlin (Reproduktion: Michael Setzpfand); Abb. 9: Atelier Lutze & Witte, Verehrung in Neusalz a.d. Oder [...], 1860, Salzpapierabzug (koloriert) / Karton, 20,0 x 27,6 cm / 31,0 x 40,0 cm © Stiftung Stadtmuseum Berlin (Reproduktion: Michael Setzpfand). Beitrag Rentsch, Abb. 1: »[…] das Schiffswrack, das sich gut in dieser Kulisse macht.«; Abb. 2: »Nahe der Bäume, versteckt in einer Mulde, findet sich ein Haus […].«;Abb. 3: »Einer der beiden setzt sich auf seinen Platz mit der Langsamkeit und der katzenartigen Geschmeidigkeit der Zeitlupe.«; Abb. 4: »[…] danach folgten die Hütten und Häuschen aus Ästen. Schließlich diese Kulisse für Paul et Virginia […].« (alle Abb. aus: Le Gac, Jean: Le peintre de Tamaris près d´Alés [recueil de photos et de textes] 1973-1978. Crisnée, 1979, S. 66, 68, 69, 71; © VG Bild-Kunst, Bonn).
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AUTORINNEN UND AUTOREN Blunck, Lars, ist zurzeit Gastprofessor am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der Technischen Universität Berlin mit Publikations- und Arbeitsschwerpunkten in der modernen und zeitgenössischen Kunst sowie in der Fotografiegeschichte. 2001 Promotion an der Universität Kiel mit einer Arbeit zu performativen Assemblagen (Between Object & Event. Weimar, 2003). 2007 Habilitation an der Technischen Universität Berlin mit einer Schrift zu Marcel Duchamps Präzisionsoptik (Duchamps Präzisionsoptik. München, 2008). Visit: www.kunstgeschichte.tu-berlin.de/in dex.php?id=blunck. Brückle, Wolfgang, ist Senior Research Fellow an der University of Essex. Promotion 2001 in Hamburg über Aristotelismus in der herrscherlichen Kunstförderung des 14. Jahrhunderts in Frankreich. Forschungen über frühneuzeitliche Kunsttheorie und Fotografiegeschichte sowie derzeit über Authentizitätskonzepte in der Gegenwartskunst. Bushart, Magdalena, ist Professorin am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der Technischen Universität Berlin. 1989 Promotion an der Freien Universität Berlin (Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911-1925. München, 1990). 2002 Habilitation an der Technischen Universität München (Sehen und Erkennen. Albrecht Altdorfers religiöse Bilder. München, 2004). Forschungsschwerpunkte in der Kunst und Kunstheorie der Moderne sowie den Bildkünsten der frühen Neuzeit. Diekmann, Stefanie, ist Professorin für Theater und Medien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeitsschwerpunkte: intermediale Konstellationen – Erzählkino und Theater, Film und Fotografie, Comics, Theaterfotografie. Promotion 1999 mit einer Studie zur Diskursgeschichte der Fotografie (Mythologien der Fotografie. München, 2003). Habilitation 2007 mit der Arbeit Backstage – Konstellationen von Theater und Kino.
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Die fotografische Wirklichkeit Förschler, Silke, ist Post-Doc-Stipendiatin im Exzellenznetzwerk Aufklärung – Religion – Wissen der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. 2008 Promotion über französische, osmanische und arabische Haremsdarstellungen des 18. bis 20. Jahrhunderts an der Universität Trier (Medienwandel und kultureller Austausch. Berlin, 2010). Geschke, Sandra Maria, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Kulturwissenschaft für den Studiengang KWL – Cultural Engineering am Institut für Erziehungswissenschaft der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg mit Arbeits- und Forschungsschwerpunkten in der kulturwissenschaftlichen Bildmedienanalyse, im Bereich der Sprachbildsemantiken und in der angewandten kulturwissenschaftlichen Stadtforschung. Promoviert seit 2007 zu Raumerschließungsstrategien in narrativen Medienprodukten und der Nutzbarmachung ihres Potenzials für urbane Raumgestaltungsprozesse. Hölzl, Ingrid, ist zurzeit Erwin Schrödinger Fellow am Department of Art History and Communication Studies der McGill University, Montreal, Kanada mit Arbeitsschwerpunkten in der Fototheorie, zeitgenössischen Fotografie und den digitalen Medien. 2006 Promotion an der Humboldt Universität Berlin mit einer Arbeit zur Theorie des fotografischen Selbstporträts (Der autoporträtistische Pakt. München, 2008). Janecke, Christian, ist Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Er lehrt, forscht und publiziert zur modernen und zeitgenössischen Kunst sämtlicher Medien, gerne auch zu kniffligen systematischen Fragestellungen Visit: www. hfg-offenbach.de/janecke. Rentsch, Stefanie, ist wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris. Promotion 2008 am Sonderforschungsbereich Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zu TextBild-Verhältnissen bei Jean Le Gac und Sophie Calle (Hybrides Erzählen. München, 2010). Sie forscht zu Hybridisierungsphänomenen und zeitgenössischer Fotografie sowie aktuell zu deutschen Künstlern an Pariser Kunstakademien. Scheuermann, Barbara J., ist zurzeit unabhängige Kuratorin für zeitgenössische Kunst, Autorin und Initiatorin des Kunstprojektraums Babusch in Berlin, mit besonderem Interesse für installative und zeitbasierte Kunst, transkulturelle und Gender-Fragen sowie
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Autorinnen und Autoren Performativität und Narrativität in der zeitgenössischen Kunst. 2005 Promotion mit einer Arbeit zu Erzählstrategien in der zeitgenössischen bildenden Kunst. Schröter, Jens, ist Professor für Theorie und Praxis multimedialer Systeme in der Medienwissenschaft der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien, Theorie und Geschichte der Fotografie, Dreidimensionale Bilder, Intermedialität, Medientheorie in der Diskussion mit der Wertkritik, Audiomedien und auditive Medienkultur. Promotion: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine (Bielefeld, 2004). Habilitation: 3D. Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes (München, 2009). Visit www.multimediale-syteme.de. Schulze, Sigrid, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Mitte Museum – Regionalgeschichtliches Museum für Mitte, Tiergarten und Wedding in Berlin. 1986 Magister Artium an der Freien Universität Berlin. 1999 Lisette Model Fellow in Photography an der National Gallery of Canada und Gastwissenschaftlerin an den National Archives of Canada. 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sichtungsteam der Staatlichen Museen zu Berlin für das Deutsche Centrum für Photographie. Scorzin, Pamela C., ist Kunst- und Medientheoretikerin, geb. 1965 in Vicenza (Italien). 1992 Magister Artium und 1994 Promotion zum Dr. phil. an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. 2001 Habilitation am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt, danach verschiedene Vertretungen in Siegen, Stuttgart und Frankfurt am Main. Seit Ende 2008 Professur für Kunstwissenschaften und Visuelle Kultur am Fachbereich Design der Dortmund University of Applied Sciences and Arts. Mitglied der deutschen Sektion von AICA seit 2005. Streitberger, Alexander, ist Professor für moderne und zeitgenössische Kunst am Département d’archéologie et d’histoire de l’art der Université catholique de Louvain. Direktor des Lieven Gevaert Centre for Photography, Leuven/Louvain-la-Neuve und Herausgeber der Buchreihe des Zentrums. 2002 Promotion mit einer Arbeit zu Kunst und Sprache (Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexion in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin, 2004). Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Gegenwartskunst und Fotografie. Aktuelle Veröffentlichungen u.a.: Photographie moderne – Modernité photographique (Dijon, 2009) und Situational Aesthetics. Selected Writings by Victor Burgin (Leuven, 2009).
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Die fotografische Wirklichkeit Weiß, Matthias, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin. Nach einer Dissertation im Fachbereich Kunstgeschichte über Zitatverfahren im Musikvideo (Madonna revidiert. Berlin, 2007) heute bevorzugt Arbeitsgebiete an der Schnittstelle von Kunst und Theater. Zum Thema inszenierte Fotografie erschienen zuletzt: »Vermessen – fotografische ›Menscheninventare‹ vor und aus der Zeit des Nationalsozialismus«. In: Reichle, Ingeborg; Siegel, Steffen (Hg.): Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression. München, 2009, S. 359–377; »Weiße Frau in wessen Kleid? Alte und neue Betrachtungen zur Odaliske anlässlich der bemalten Fotografie Legend von Pierre et Gilles«. In: Krüger, Klaus; Crasemann, Leena; Weiß, Matthias (Hg.): Um/Ordnungen. Fotografische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion. München, 2010, S. 193–218.
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:F+n:EITSCHRIFTFàR+ULTURWISSENSCHAFTEN
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