Die Einführung der Staatsanwaltschaft im Königreich Hannover: Studien zur Entstehung des reformierten Strafprozesses [1 ed.] 9783428479832, 9783428079834


136 120 48MB

German Pages 229 Year 1994

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Einführung der Staatsanwaltschaft im Königreich Hannover: Studien zur Entstehung des reformierten Strafprozesses [1 ed.]
 9783428479832, 9783428079834

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

JOHANN WILHELM KNüLLMANN

Die Einführung der Staatsanwaltschaft im Königreich Hannover

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 62

Die Einführung der Staatsanwaltschaft im Königreich Hannover Studien zur Entstehung des reformierten Strafprozesses

Von Johann Wilhelm Knollmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Knollmann, Johann Wilhelm:

Die Einführung der Staatsanwaltschaft im Königreich Hannover : Studien zur Entstehung des reformierten Strafprozesses I von Johann Wilhelm Knollmann. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zur Rechtsgeschichte ; H. 62) Zug!.: Göttingen, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-07983-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-07983-3

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit hat im Sommersemester 1993 der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript wurde im Mai 1993 abgeschlossen. Danach erschienene Literatur konnte nur noch zum Teil eingearbeitet werden. Für die Anregung zu der Beschäftigung mit dem strafprozessualen rechtshistorischen Thema sowie für die Mühe des Erstgutachtens hat der Verfasser seinem hochverehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. M. Maiwald, Göttingen, sehr herzlich zu danken. Ihm verdankt der Verfasser vor allem aus der Zeit, in der er in Göttingen als sein Assistent tätig sein durfte - und während der der größte Teil der Arbeit entstand- wesentliche inhaltliche Hinweise. Dank für die Erstattung des Zweitgutachtens sowie für wichtige Hinweise, besonders zum verfassungsgeschichtlichen Teil der Arbeit, schuldet der Verfasser Herrn Prof. Dr. W. Heun, Göttingen. Für ihre Hilfe bei der Sichtung und Beschaffung der teilweise schwer zugänglichen Quellen und der Literatur dankt der Verfasser den Damen und Herren des Niedersächsischen Hauptstaatsarchivs Hannover und dessen Außenstelle in Pattensen, des Stadtarchivs Hannover, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Bibliothek des niedersächsischen Landtags in Hannover, der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover sowie der Hamburgischen Staats- und Universitätsbibliothek. Die im Anhang enthaltenen Abbildungen werden mit freundlicher Erlaubnis des Historischen Museumsam Hohen Ufer, Hannover, abgedruckt. Für einen großzügigen Druckkostenzuschuß bedankt sich der Verfasser schließlich bei der Strohmeyer-Stiftung, Göttingen.

Hamburg, im Dezember 1993 J.W.K.

Inhaltsverzeichnis Kapitell

EiDleituBa I.

Ausgangslage und Stand der Forschung ................... ... .... ...................... ...... ..... 17

n.

Begrenzung des Themas ......... ....... ...................... ... .......... ......... ..... .. ........... 20

m.

Spezifische methodologische Probleme ............................ .............. ....... ........ ... 22

IV.

Die methodologische Bedeutung der Interdependenz von Verfassungsrecht und Strafverfahrensrecht ("Seismograph der Staatsverfassung") .................... .. ..... ... 25

V.

Gang der Untersuchung und Plan der Arbeit. ............. ... .... . ..................... ........... 30

Kapitel2 Geschichtliche Gnmdlageo I.

Verfassungsentwicklung Hannovers bis zur französischen Okkupation 1806 .......... ..... 33

D.

Die französisch-westphälische Herrschaft 1807-1813 ..... ... ....... ................ . ... ... ... .. 35

m.

Die Verfassungslage von 1814 .. ...... ....... .............. .. ........... . .... ...... .......... ... ..... 36

IV.

Die Verfassungsgesetze Hannovers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts .... ... .... . .42 1. Die Landesverfassung von 1819 ............. ......... ... ... .......................... . ...... . .42 2. Das Staatsgrundgesetz von 1833 ...................... . .. ... ....................... ... ...... ... 46 3. Das Landesverfassungsgesetz von 1840 ............. ... ... ....... ... ............. ... ......... 52 4 . Die problematischen praktischen Bedingungen der parlamentarischen Arbeit im Vormärz . ... ....... .. ... ......... .... ..... .. ........... ...... .... ... ..... .. ............. 54 5. Das Gesetz zur Änderung des Landesverfassungsgesetzes vom 5. September 1848 ....... ... .......... .................... ... ... ........... ............. .......... 55 a) b) c) d)

V.

Die französische Februarrevolution 1848 ....... ... ... ......... ........... . .. ... ........ 56 Die Revolution in Deutschland ... ....... ... ....... .... ............ ........................ 56 Hannover .. ..... ..... .. ... ... ... .... .... ..... . ......... .... .... ... ..... ... ..................... 59 Das Ende der Revolution in Hannover ..... .. ... ... .... .... ..... ..... .. .... ........... .. 61

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen ... ...... .... ...... ...... ..... .......... ..... ..... .. ........ ... 63

Kapitel3 Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vormärzlicheo Literatur I.

Die Frühphase zwischen 1770 und 1805 .......... ... ..... ............ ... ..... .. .. .... ... .......... 67

D.

Die zweite Phase 1805 bis 1842 .... ........ ....... .... ........ ....... ... ....... .... ..... ... .... ..... 71

10

Inhaltsverzeichnis

m.

Die Schlußphase zwischen 1842 und 1848 ............... ... ... ...................... ............. 76

IV.

Inhaltliche Hauptströmungen und Kernpositionen zur Frage der Staatsanwaltschaft ...... 79 1. Extreme Standpunkte ............................................................................. 79 a)

Die kompromißlosen Gegner der Staatsanwaltschaft .................................. 80 aa) Konservative Gegner der Staatsanwaltschaft ............................ .. ....... 80 bb) Liberale Gegner der Staatsanwaltschaft ........................................... 82

b) Die Betürwortcr einer mit umfangreichen Befugnissen versehenen Staatsanwaltschaft ............................................................. . .............. 83 aa) Die liberale Richtung .. ........................ .. .... ................ ...... .......... . 83 bb) Konservative Betürworter der umfassenden Staatsanwaltschaft .............. 84 2. Vermittelnde Meinungen ............................................................ ... .. ........ 86

Kapitel4 Die rranzösiscbe Staatsaawaltscbaft (le millist~re public) I.

Aufbau des ministere public .... ........ ................... .. ..... .. ...... .......... .... .. .. .......... 91

0.

Die Aufgaben des ministere public in Strafsachen ............................................... 94

m. Aufgaben des ministere public in Zivilsachen..................................................... 96 IV.

Justizverwaltungsaufgaben .......... ........................ .. ..... ......................... .......... 97

V.

Derministere public in den nachmals hannoverschen Gebieten 1807-1813 ................. 98 1. Königreich Westphalen ...... .... .................................................... .... ......... 98 2. Die zum Kaiserreich Frankreich gehörigen hannoverschen Gebiete .................. 101

VI.

Nachwirkungen des französischen Prozeßrechts in Hannover ........................ .... ... 102

KapitelS Der haononrsche •ötreotlicbe AawaJd" aaclt dem Gesetz vom 16. Februar 1841 - • AJwherr der Staatsaßwähe in Celle"? I.

Der öffentliche Anwalt im Getüge des Gerichtsverfassungsrechts seiner Zeit ............ 106

1. Das Nebeneinander der verschiedenen Zweige der Strafrechtspflege ........... ...... 106 2. Die Gerichtsverfassung im Überblick ...... ................................................. 109 a)

Die staatlichen (Königlichen) Strafgerichte ... ............... ............ ..... ....... . I 09 aa) Das Königliche Oberappellationsgericht zu Celle (Kriminalsenat) ......... 109 bb) Justizkanzleien ...................................................... .. ............... 110 cc) Königliche Ämter .................................... ................................ 110

b) D.

Nichtstaatliche Strafgerichte ............................................................. 111

Das Getüge des hannoverschen Strafverfahrensrechts ........ ................................ 112

1. Die Gemengelage der hannoverschen Strafprozeßgesetze ............................... 112 2. Hauptverfahrensgrundsätze ............................... ... ............................. .. ... 114

Inhaltverzeichnis a)

11

Das gerichtliche Untersuchungsverfahren .... ... ...... ...................... .. ........ 11S aa) Die Gencralinquisition ..................... ...... ... .............. ....... .. ... .... .. 11S

bb) Die Spezialinquisition...................... . .. ........................... .. ......... 117 Das Urtcils-(Erkenntnis)verfahren .............. ............................ ............ 120 Die landesherrliche Bestätigung ................ ........ ...................... ........... 120 Die Wiederaufnahme ...... ....................... ..... ....................... .. ........... 122 Das Rechtsmittelverfahren ....................... ... .................... ............... .. 122 aa) Ordentliche Rechtsmittel: Appellation und Weitere Verteidigung ....... ... 12S aaa) Die Appellation ...................... .... ...................... . ...... ....... 12S bbb) Die Weitere Verteidigung (ulterior defcnsio) .... .... ........ ... ... .. ... 126 bb) Außerordentliche Rechtsmittel: Die Nichtigkeitsbeschwerde (querela nullitatis) ... ........................ ... ........................ .. ........... 127 3. Die hauptsächlichen Kritikpunkte an diesem Verfahrensrecht ............. .......... ... 128 b) c) d) e)

m. Gerichtsverfassungsrechtliche und prozessuale Stellung und Funktionen

des Öffentlichen Anwalts... ... . .. ... .................................................. . ............. 131 1. Stellung .. ..... .. ........................ .............. ..... ...................... ....... ... ........ 131

2. Die Aufgaben .... ..... .... ................................................................ ....... 132 a) Nichteröffnungsbeschwerde ................... . ... .. ... .................... ... ... ....... 132 b) Revision ................ ... ... ........................ ... ... ....................... ....... ... 133 3. Aussagekraft der Bezeichnung "Öffentlicher Anwald • fiir die rechtshistorische Einordnung des Instituts .. ...... .................................................. .... ...... ... 13S a) Materialer Gehalt der Bezeichnung Öffentlicher Anwalt ... ........... .... . .. ...... 13S b) Aussagekraft der Bczeichung Kriminalfiskal ............................ .... ....... .. 137 aa) Das ältere partikularrechtliche Fiskalat .......................... ...... ....... ... 138 bb) Das "Fiskalat neuen Rechts" ............. .. .......................... ............. 141 IV.

Gesetzgebungsgeschichte des Gesetzes vom 16. Februar 1841 .............................. 143 1. Die Frage der Strafprozeßreform in der hannoverschen Ständeversammlung 1814-1823 ... .. ............... . .. ..... .... .. ..... .. ...... . .. ... ...... ... .............. . .. .... ... .. 143 2 . Der erste Regierungsentwurf einer Criminalprozeßordnung von 1823 ... .... ... .. ... 147 3. Die provisorische Kriminalprozeßgesetzgebung von 1840/41 und das Gesetz vom 16. Februar 1841 ............. .......... .. ....... ............ .. .. ... ... ..... 1S2

V.

Der "Öffentliche Anwald" in der forensischen Praxis ... .. .. ................... ....... .. ...... 1S8

VI.

Zwischenergebnis ... ............ ... ... ... ................... .... .. ... ...... .................... ....... 164

Kapitel6

Die hannoversche Staatsanwaltschaft DaCh dea proviwrischea Strafprozefllesetzen von 1849 - "Kincl der Revolution" I.

Die Staatsanwaltschaftsfrage in der hannoverschen Ständeversammlung in den letzten Jahren des Vormärz ... . .. ... ... ....... .................. ... .......................... ....... 166 1. Resignationsphase zwischen 1840 und 184S .... .... ...... ................................. 166

12

Inhaltsverzeichnis

n. m. IV.

2. Die Durchsetzung des liberalen Strafprozeßmodells in der Ständeversammlung 1845 bis 1848 ...................... ........... .............. ....... ... ........ . 168 Die Enutehung der hannoverachen provi10rischen Strafprozeßgesetze von 1849 ..... .. 172 Die veränderten Grundzüge des hannoverachen Strafverfahrensrechlll nach den provisorischen Prozeßgesetzen von 1849 ....................... ..................... ....... ..... 176 Stellung und Funktionen der "provisorischen Staalllanwaltschaft" in Hannover nach den Refonngesetzen vom 24.12.1849 ................................................ .... . 179 1. Behördenaufbau ... ..... ............... .......•.... .. ..... ... ....... ............. ..... .......... . 179 2. Prozessuale Stellung und Aufgaben der provisorischen Staalllanwaltschaft ......... . 182

V.

Die Tätigkeit der provisorischen Staalllanwaltschaft von 1849 in der Praxis .... .......... 185

VI.

Zwischenergebnis................. ... ...................... ............................... ... ....... .. 186

Kapit~l7

Die Staatsaowaltscllaft aach dea haallonrschea Justizof'IIIJiisabODSieseUea YOD 1850 I.

n. m. IV.

Die Rahmenbedingungen der hannoverachen Justizgesetze von 1850 ................ ...... 188 Die Gerichtsverfassung nach den hannoverachen Gesetzen von 1850.......... ... .... .... . 189 Der Behördenaufbau der Staalllanwaltschaft nach den Gesetzen von 1850 .... ... .... ... .. 192 Die Aufgaben der hannoverschen Staalllanwaltschaft in Strafsachen .. ......... ... .... ... .. 195 1. Wahrnehmung der "gerichtlichen Polizei" ... ......... ................. ...... . .... .. .. ..... 195 2. Erhebung der öffentlichen Klage ..................... ....... ...................... ... ... ..... 195 3. Teilnahme am Untersuchungsverfahren........... .•..... .. ................... ... ...... .... . 196 4. Mitwirlcung am Erkenntnisverfahren .............. ......... ................... ............. . 197

5. Teilnahme am Rechlllmittelverfahren ....................... ................... ............. . 198 6. Strafvollstreckung .. .. ..... ... ... ............... .............. ................. .. ...... ....... ... 198 V.

Die Aufgaben der hannoverschen Staalllanwaltschaft in Zivilsachen .... .......... . .. ...... 198

VI.

Die Aufgaben der hannoverachen Staalllanwaltschaft im Bereich der Justizverwaltung ................... ... ............ .......... ... ... .................. ..... ............. 200

Vll.

Die hannoverache Staalllanwaltschaft von 1850 in der Praxis ... ......... ........ .. ........ .. 202

KapitelS

Zusammflll'as511111 und Gesamteraebais I.

. ..................................................................................................... 203

n.

...................................................................................................... 204

m.

...................................................................................................... 204

IV.

. . .. ... ..... ............... ........ .. ...... ....................... .................. ... ..... .. ........ 205

Inhaltverzeichnis

13

Anhang

QueUeo- und Literatu.neneiduais I.

Quellen ... ..................................................... ... ................................. ..... 206 1. Ungcdrucktc Quellen .... ... ... ................................................................. 206 1) Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover.... ........................ ... ....... 206 b) Stadtarchiv Hannover ........................................................... ... ... .... 206 2. Gedruckte Quellen ................................................................... .... ....... 206

II.

Schrifttum .......... .................... ............................................................. ... 208

Abbildungen Abbildungsverzeichnis ... ........... ................................ .. .......................... ...... ... 225 Abb. 1: Johann Carl Bertram Stüve (1798-1872) .............. ............ .. ...... .......... ........ 226 Abb. 2: Otto Albrecht von Düring (1807-1875) ........................ ................ ............. 227 Abb. 3: Adolph Wilhelm Lconhardt (1815-1888) .............. .......................... .. ... ...... 228

Abkürzungsverzeichnis Soweit sonstige Abkürzungen nicht an Ort und Stelle aufgelöst werden, wird generell vetwiesen auf Kirchner, Hildebert, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl. Köln u.a. 1992. AdC

Archiv des Criminalrechts

AllgStV

Allgemeine Hannoversche Biographie Allgemeine Ständeversammlung

bad

Badisch, badische, badisches

bayStGB

Bayerisches Strafgesetzbuch

AHB

Belc.

Bekanntmachung

Cap. Cdpc

Capitel Code civil Code de procedure civile

CI cic

Criminalinstruction Code d'instruction criminelle

cc

CN

Code Napoleon

CrGB

Criminalgesetzbuch

CrO

CrPO

Criminalordnung Criminalprozeßordnung

DBA

Deutsche Bundesalcte

DRG

Deutsche Rechtsgeschichte

DVG

Deutsche Vetwaltungsgeschichte

DtVertO

Deutsche Verfassungsgeschichte

FN G-1841

Fußnote Hannoversches Gesetz vom 16.2.1841

GeschRegl

Geschäftsreglement

GS

Gesetzeasammlung

H.

Heft

bann.

Hannoversch, hannoversche

HannGeschBl HannLandtagsbl HannStaatslcal

Hannoversche Geschichtsbläner Hannoversches Landtagsblatt Hannoverscher Staatslcalender

HannZSfdSchwG

Hannoversche Zeitung für die Schwurgerichte

HRG

Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte

J. JZfdKgrH LVerf LVertO

Jahr, Jahre Juristische Zeitung für das Königreich Hannover Landesverfassung Landesverfassungsgesetz

Abkürzungsverzeichnis LVerfGÄndG

Gesetz zur Änderung des LVerro vom 5.9.1848

m.p.

Ministere public

NdsJb NdsHStA NAdC

Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover Neues Archiv des Criminalrechts Neue Folge

NF OAG old

15

Oberappellationsgericht Oldenburgisch, oldenburgisches

RGBI.

Peinliche Gerichtsordnung Preußisch, preußische, preußisches Preußische Gesetzessammlung Provisorisch, provisorisches Provisorisches Gesetz über das öffentliche und mündliche Verfahren in Schwurgerichtssachen vom 24.12.1849 Privatrechtsgeschichte der Neuzeit Rechtsverfassung Regierungsblatt Recueil g45neral des anciennes lois francaises, depuis l'an 429 jusqu'l Ia r45volution de 1789 ( ...) Reichsgesetzblatt

RKGO

Reichskammergerichtsordnung

RN

SGG St. verro WSA württ

Randnote Staatsgrundgesetz Stück Verfassungsgeschichte Wieocr Schlußakte Württembergisch, württembergisches

ZSfgeschRW ZStrV

Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft Zeitschrift für deutsches Strafverfahren

PGO pr preußGS provisor provisorVerfG

PRGdN Rechtsverf RegBI RGALF

Kapitell

Einleitung I. Ausgangslage und Stand der Forschung Das in der Bundesrepublik Deutschland heute geltende Strafprozeßrecht stellt im wesentlichen eine Verbindung liberaler und demokratischer Ideen dar, wie sie sich in der auf dem Gedankengut der Aufklärung beruhenden Reformbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt haben. Dabei war als ein Fundamentalprinzip des neuen Staatsmodells das Gewaltenteilungsprinzip von entscheidender Bedeutung. Aus ihm ergab sich die Verlagerung der exekutivischen Strafverfolgungstätigkeit auf eine neu geschaffene, von den Gerichten organisatorisch und personell getrennte Justizbehörde: die Staatsanwaltschaft. I Die Geschichte der Einführung dieses modernen Instituts, die sich auch im damaligen Königreich Hannover in der "Zeit des totalen Umbruchs der strafrechtlichen Prinzipien •2 , des "strafprozessualen Epochenwechsels •3, vollzogen hat, ist in ihrer Gesamtheit schon mehrfach Gegenstand rechtshistorischer Abhandlungen gewesen. 4 Eine breiter angelegte, monographische Untersuchung speziell zu Hannover - immerhin einem der größeren und bedeutenderen Staaten des Deutschen Bundes - ist jedoch bisher nicht ersichtlich.5 Die vorhandenen Abhandlungen wollen nach ihrer eigenen Zielsetzung mehr einen Gesamtüberblick über die wechselhafte Geschichte der hannoverschen Staatsanwaltschaft bis zum Ende I Roxin, Strafverfahrensrecht, S. I 0 f . 2 Maiwald, in: Semper Apertus D S. 197. 3 Achenbach, in: NN (Hg), FS-175 Jahre OLG Oldenburg, S. 177 ff. 4 S. etwa Floegel, in: DRZ 1935, 166 ff.; Rey, in: DJZ 1928, Sp. 1055 ff.; Elling, Einführung, passim; Carsten, Geschichte, passim; Günther, Staatsanwaltschaft, passim; Haber, io: ZStW 91, 606; Rüping, in: GA 1992, 147 ff.; Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6 (1978), 225; Döhring, in: DRiZ 1958, 282 ff.; Meckbach, Inquisitionsrichter und Staatsanwalt.

5 Zur Geschichte der preußischen Staatsanwaltschaft s. Otto, Staatsanwaltschaft, passim; Börker, in: JR 1953, 237 ff.; zur Geschichte der oldenburgischen Staatsanwaltschaft 1. Hülle, in: NdsJb. 49 (1977), 131 ff.; zur Geschichte der braunschwcigischcn Staatsanwaltschaft s. Börkcr, in: Glanzmann (Hg.), Ehrengabc für Hcusingcr, S. 35 ff. 2 Knallmann

18

Kapitel I : Einleitung

des Königreichs im Jahre 1866 geben und legen auf die Entstehungsgeschichte des Instituts im engeren Sinne weniger Gewicht. 6 Das hannoversche Strafverfahrensrecht des 19. Jahrhunderts gehört im übrigen, ebenso wie die Strafrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts überhaupt? und auch die partikulare hannoversche Rechtsgeschichte8 , zu den weniger eingehend erforschten Gebieten der deutschen Rechtsgeschichte. 9 Womöglich 6 S. Hanns, in: FS-OLG Celle (1961), S. ISS ff.; Richter, in: FS-175 Jahre OLG Oldenburg, S. 453 ff. (hinsichtlich des heutigen Landgerichtsbezirks Aurich). 7 Die Strafrechtsgeschichte leidet möglicherweise unter einer "Dominanz der Privatrechtsgeschichte" (Ausdruck nach Stolleis, Geschichte I 51; vgl. hierzu auch Volk, in: JuS 1991, 281 ff.). Es tällt jedenfalls auf, daß zB die Untersuchung von Schubert, Recht, das Straf- und Strafprozeßrecht ausdrücklich ausklammert (hierzu a. ebd. S. 1 ff.), und auch ein strafrechtsgeschichtliches Pendant etwa zu Coing (Hg), Handbuch, oder Stolleis, Geschichte, nicht ersichtlich ist. - An neueren Gesamtdarstellungen liegt neben Eb. Schmidt, Einführung, - wohl nach wie vor dem Standardwerk, das aber mangels einer neueren Auflage die seither entstandene Literatur nicht berücksichtigt - ersichtlich nur der Grundriß von Rüping vor (2. Aufl. von 1991). Ansonsten muß zurückgegangen werden zu den umfangreichen historischen Teilen bzw. Teilbänden zB bei Carl Ludwig v. Bar, Handbuch I - der ersten neueren zusammenhängenden deutschen Strafrechtsgeschichte (hierzu s. Maiwald, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft, S. 270 ff.)- Robert v. Hippe!, Strafrecht I sowie ders., Strafprozeß, S. 8 ff.; Glaser, Handbuch I; vgl. auch die Nw.e bei Sellert, in: ders./Rüping Quellenbuch I, S. 43 f. mwN. Das Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), hgg. von Erler/Kaufmann, enthält allerdings jetzt eine Vielzahl einschlägiger Beiträge, die den modernen Forschungsstand widerspiegeln; ebenso auch die jeweiligen strafprozessualen Einführungskapitel bei Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch. Zudem liegt eine Reihe von älteren und neueren monographischen strafprozeßhistorischen Untersuchungen zu einzelnen territorialen und auch materiellrechtlichen Aspekten vor, wie zB Alber, Öffentlichkeit (1974); Amrhein, Entwicklung (1955); Behr, Rechtsmittel (1984); Blass, Entwicklung (1932); Comelissen, Feuerbach (1963); Fasoli, Kampf (1974); Fögen, Kampf (1974); Haber, Öffentlichkeit (1979); Heidenreich, Kriminalpolitik (1967); Henschel, Verteidigung (1972}; Hettinger, Fragerecht (1981); Küper, Richteridee (1967); Mackert, Prozedur (1950); Eb. Schmidt, Fiskalat (1921}; Schubert, Recht (1987); Schwedhelm, Wiederaufnahme (1988); Schwinge, Kampf (1926); alle m.w .N. 8 Die politische Geschichte Hannovers im 19. Ihdt. wird neuerdings erschlossen bei Oberschelp, Politische Geschichte, und ders., Wirtschafts- und Sozialgeschichte Oew. mit umfangreichen Bibliographien); Reinicke, Landlltände; Kolbfl'eiwea, Entwicklung, sowie Schnath, Niedersachsen; Röhrbein, Hannover; und Haase (Hg), Niedersachsen. Einen Überblick über die gesamtgeschichtlichen Zusammenhänge der Zeit geben auch die beiden Biographien von Sühlo, Münster, passim, und Behr, Schele, passim. Ansonsten ist auch hier zurückzugehen auf das 19. Ihdt. mit den Werken von v. Hassell, Geschichte; v. Heinemann, Geschichte; Oppermann, Geschichte; Grotefend, Geschichte, die überdies dadurch bedeutsam sind, daß sie spiter verlorengegangenes Archivmaterial auswerten. - Einen detailreichen Gesamtüberblick über die hannoversche Geschichte im Vormärz vermittelt auch -wenn auch aus der Sicht der nationalstaatlieh ausgerichteten Historiographie des 19. Jahrhunderts - die Darstellung bei .Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, bea. Bd. m S. 533 ff. 9 S. hierzu auch Krause, Strafrechtspflege, S. 11 f. - Außer Krause, dessen Untersuchungszeitraum aber mit dem ersten Drittel des 19. Ihdts. endet - und mithin die Einführung der Staatsanwaltschaft nicht mehr mitbehandelt -, und der älteren Arbeit von Bock, Strafrecht (1924), deren Schwerpunkt jedoch auf dem materiellen Strafrecht liegt, sind nur relativ wenige neuere auf Hannover bezogene strafrechtshistorische Untersuchungen zu den beiden letzten Dritteln des 19. Jhdt. ersichtlich. Neuerdings liegt eine kurze umrißartige Darstellung vor bei Schwedhelm,

I. Ausgangslage und Stand der Forschung

19

wirkt hier das bekannte Verdikt Eberhardt Schmidts nach, der wegen der Vielgestaltigkeit und Verschiedenartigkeit der Strafrechtspflege in den deutschen Territorien deren eingehendere Erforschung für undurchführbar und letztlich auch entbehrlich erklärt hat.10 Die Suche nach den Gründen für diesen - mit den Worten von Günther Haber- in der Tat wnicht völlig zufriedenstellenden Forschungsstandwll führt im übrigen gleichenDaßen auf die Wissenschaftsgeschichte sowohl der Deutschen Rechtsgeschichte als auch der Strafprozeßdogmatik zurück. 12 Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 und der Einführung reformierter Strafprozeßgesetze in den meisten deutschen Bundesstaatenl3, besonders aber seit den Reichsjustizorganisationsgesetz.en von 1879, verlagerte sich der materiale Schwerpunkt der Strafproz.eßwissenschaft unter dem Eindruck des Positivismus in der Jurisprudenz und des Historismus in den Geschichtswissenschaften weitgehend auf die Beschäftigung mit dem

Wiederaufnahmerecht, S. 110 ff., die aber, ihrer Zielsetzung entsprechend, keine neuen Quellen zur Gesamtentwicklung sichtet, sondern primär ihren eigentlichen Untersuchungsgegenstand behandelt. - Landwehr, Landgerichte, behandelt hingegen praktisch nur den Teilbereich der Niedergerichtsbarkeit. Das Standardwerk zur hannoverschen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte ist wohl nach wie vor v. Meier, VertU (2 Bde.). Es befaßt sich allerdings nur peripher mit der Strafprozeßgeschicbte. Etwas eingehender sind die Untersuchungen von Gunkel, Rechtsleben sowie Roscber, in: Festschrift zum 17. deutschen Anwaltstag, S. 8 ff. Einige monographische neuere Untersuchungen enthalten die beiden neueren Festschriften fiir das OLG Celle (1961 und 1986) sowie fiir das OLG Oldenburg (1989). -Ansonsten muß wiederum auf ältere Darstellungen, etwa bei Lehzen, Staatshaushalt, und Freudentheil, in: Beiheft zum AdC 1838, S. 1 ff., zurückgegangen werden. Die Arbeit von Freudentheil erscheint als besonders bedeutsam, weil ihr Verfasser als langjähriger Angehöriger der Zweiten Kammer der hannoverschen Ständeversammlung die Geschichte der parlamentarischen Verbandlungen zum Strafprozeßrecbt aus erster Hand kannte. In neuerer Zeit enthalten auch die Gesamtdarstellungen von Stolleis, Geschichte und Coing, Handbuch (bes. Wl, S. VID ff.; W 2 S. 349; lß/1 S. 3ff.) Beiträge zum hannoverschen Recht, ebenso die auf Hannover bezogenen Kapitel bei E.R. Huber, DtVertU ß S. 84 ff.; 537 ff.; Klein, in: DVG D S. 678 ff. sowie Gundermann/Hubatsch, in: Hubatsch (Hg), Grundriß, X S. 1 ff. (jeweils mwN.). -Zum Forschungsstand über den das hannoversche Rechtsleben im 19. Jbdt. lange dominierenden Verfassungskonflikt um die "Göttinger Sieben" von 1837 s. jetzt Sellert, in: Blanke u.a. (Hg), Die Göttinger Sieben, S. 23 ff. mwN.). 10 S. Eb. Schmidt, Einführung, S. 267; krit . .hierzu Krause, Strafrechtspflege, S. 11. Nach 1871 traten ganz allgemein sowohl in der Rechts- als auch in der Geschichtswissenschaft die Klein- und Mittelstaaten ebenso wie der vermeintlich einheits- und machtstaatsfeindliche Frühkonstitutionalismus an die Peripherie der Aufmerksamkeit. (s. Hardtwig, Vörmirz, S. 211). 11 Haber, Öffentlichkeit, S. 13 FN 4. 12 S. hierzu Sellert, in: ders.!Rüping, Quellen- und Studienbuch zur deutschen Strafrechtsgeschichte I S. 1 ff.; Krause, Strafrecbtspflege, S. 8 ff.; Volk, in: JuS 1991, 281 ff.; ders., Prozeßvoraussetzungen, S. 133 ff. 13 S. die Übersicht bei Häberlin, Sammlung, passim.

20

Kapitel I : Einleitung

positiven Recht.1 4 Die - wenn auch umfangreichen und reich belegten - historischen Einleitungsteile und -kapitel, etwa bei Julius Glaser15 oder Robert v. Hippel16, künden von einer meist rein ideengeschichtlichen Betrachtungsweise.17 Auch nach 1945 beschränkte sich die dogmatische Strafprozeßliteratur noch lange auf mehr oder minder ausführliche historische Einführungskapitel. Im übrigen fristete die ganze Strafrechtsgeschichte- nach den Worten von Wolfgang Sellert- ein vergleichsweise •kiJmmerliches Dasein •.18

II. Begrenzung des Themas Angesichts des nur geringen Erforschungsgrades der hannoverschen Strafprozeßgeschichte im 19. Jahrhundert kommt es wegen des zur Verfügung stehenden begrenzten Raumes besonders auf eine möglichst präzise Eingrenzung des zu untersuchenden Themas an. Es liegt auf der Hand, daß eine Gesamtdarstellung der Entwicklung der hannoverschen Strafrechtspflege von 1840 bis zum Ende des Königreichs 1866 in diesem Rahmen jedenfalls schon wegen ihres Umfangs nicht geleistet werden kann. Andererseits kann die Geschichte der hannoverschen Staatsanwaltschaft von 1852 bis zu ihrem Aufgehen in der preußischen Justizorganisation 1866/67 als bereits einigermaßen hinreichend erforscht gelten. Sie ist in einer

14 Vgl. dazu Stolleis, Geschichte D S. 5 f. Die Methode der Behandlung des rechtshistorischen Stoffes in dieser Epoche entspricht in vielem der zeitgenössischen Bearbeitung dea geltenden Rechts. Das Bestreben ging zumeist auf eine "juristische" Rechtsgeschichte, in der vor allem die Formen des positiven Rechts sorgfältig henusgearbeitet werden sollten (a. Kleinheyer/ Schröder, Juristen, S. 16 f.). Zu den Auswirkungen von Positivismus und Begriffsjurisprudenz, Historismus und Ideengeschichte auf die Stnfrechtsgeschichte 1. auch Dölling, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft, S. 413 ff. (zu Robert v. Hippe!); Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S. 399 tf. mwN.; Kaufmann, Art. Rechtspositivismus, in: HRG IV 321 ff.; vgl. auch Eb. Schmidt, Einführung, S. 303 ff.; sowie die Einzelbeiträge bei Blühdom/Ritter (Hg), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jhdt, paaaim.

15 S. Glaser, Handbuch I, v.a. S. 91 ff.; den., in: v. Holtzendorff (Hg), Handbuch I

s. 5 ff.

16 Robert v . Hippe!, Stnfrecht I, passim; ders. Stnfprozeß, S. 20 ff.; s. über die Bedeutung v. Hippel'a Dölling, in: Loos (Hg), Rechtswissenschaft, S. 413 ff. 17 Vgl. hierzu etwa die historischen Teile in den Lehrbüchern z.B. von Birkmeyer, Deutsches Stnfprozeßrecht, S. 19 tf.; v. Kries, Lehrbuch, S. II ff. oder auch Binding, Grundriß, S. 4 ff. - Es handelt sich methodologisch häufig um Versuche "systematischer Interpretation historischer Texte•. Mitunter tritt auch der Gedanke einer Sonderstellung der Rechtsgeschichte wegen ihrer Aufgabe, die Entfaltung der "Rechtsidee" in der Geschichte zu explizieren, hervor (s. dazu Simon, Art. Rechtsgeschichte, in: Görlitz (Hg), Handlexikon 11314 ff.). 18 Sellert, in: ders.!Rüping, Studienbuch I 8 f.

U. Begrenzung des Themas

21

ganzen Reihe von Untersuchungen dargestellt worden.l 9 Insbesondere gilt dies auch für ihre übergreifende Betrachtung unter dem sozialhistorischen Aspekt der sog. Implementation20, da sich insoweit die Befunde für Hannover ersichtlich nicht von denen für andere deutsche Staaten unterscheiden. 21 Dementsprechend braucht auch im Folgenden nicht die rechtstatsächliche Ausgestaltung und Funktionsweise der hannoverschen Staatsanwaltschaften nach 1849 und 1852 im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Die Untersuchung kann sich vielmehr auf den Vorgang der eigentlichen Einführung des Instituts konzentrieren, d.h. auf die den späteren Gesetzgebungsakten vorhergehenden parlamentarischen und außerparlamentarischen, insbesondere wissenschaftlich-literarischen Meinungsbildungsprozesse: In der Sprache der Sozialwissenschaft also die Phase der Politikformulierung. 22 Die Arbeit wird sich daher darauf beschränken, die Geschichte der Einführung der Staatsanwaltschaft in Hannover nur in den Hauptzügen, und zwar weder weder isoliert ideen- noch strukturgeschichtlich, dafür aber quellenund literaturkritisch aufzuzeigen. Die Untersuchung soll dabei nicht nur im konventionellen Stil als chronologischer Bericht angelegt sein, sondern allgemeinere Interessen und Fragestellungen in generellen analytischen Kategorien diskutieren. Erwünscht ist heute eine vergleichende Erörterung, die die Entscheidungsprozesse systematisch unter Berücksichtigung der internationalen Diskusion und der gegenwärtigen Theoriereflexion analysiert. Eine solche

19 S. etwa die Darstellungen bei Hanns, in: FS-OLG Celle (1961), S. 250 ff.; Elling, Einführung, S. 86 ff.; Carstcn, Geschichte, S. 39 ff. sowie die fiir diesen Zeitabschnitt- im Unterschied zur Zeit vor 1848 - vorhandene reichliche zeitgenössische Literatur, etwa bei Planck, Verfahren; Zachariae, Handbuch; l..eonhardt, Justizgesetzgebung; Twele, Repertorium; ders., Die Staatsanwaltschaft; sowie die Beiträge über Hannover in den Gesamtwerken von Sundelin, Staatsanwaltschaft, und Keller, Staatsanwaltschaft. 20 Die rechtssoziologische Implemcntationsthcorie geht davon aus, daß Gesetze und politische Programme die Ergebnisae administartiven Handeins nur sehr unvollständig bestimmen, d.h., daß ihre Wirkung wesentlich von der Art ihrer Durchführung abhängt. Aus diesem Grunde lest aie besondere• Gewicht auf den Prozcß und die Bedingungen der tataächlichen Durchführung der Gesctzc und politischen Programme (s. dazu Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, S. 165; Mayntz, in: Die Verwaltung 1977, S. 51 ff.,jew. mwN.). 21 S. dazu etwa Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, 164; Rüping, in: GA 1992, 147 ff. 22 Zu dieser Begriffiichkeit s. Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, 164; vgl. Rüping, in: GA 1992, 147 ff.

22

Kapitel I: Einleitung

Vorgehensweise nennt Hans Ulrich Wehler •modern in dem Sinne, daß sie möglichst viele Dimensionen der Realität zu integrieren versucht •. 23 Insoweit versteht sich die vorliegende Abhandlung für den engen Teilaspekt ihres Themas als Teilbeitrag in zweifacher Hinsicht, nämlich sowohl zur hannoverschen Rechtsgeschichte als auch zur Geschichte der Entwicklung des reformierten Strafprozeßrechts in Deutschland im 19. Jahrhundert. Der Rückgriff auf ungedrucktes Quellen- und Aktenmaterial in unterschiedlichem Umfange hat seinen Grund u.a. darin, daß wesentliche Teile der einschlägigen hannoverschen Akten zur Justiz- und Gesetzgebungsgeschichte in den Jahren 1943-1946 unwiederbringlich verlorengegangen sind.24

111. Spezifische methodologische Probleme Die Untersuchung begegnet neben den geschilderten Schwierigkeiten einer weiteren, spezifisch rechtshistorischen methodologischen Problematik in Gestalt der seit den 70er Jahren anhaltenden "Methodendiskussion in der Rechtsgeschichte •.

23 Wehler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 179 vom 05.08.1993, S. 27; vgl. Rüping, in: ZStW 101, S. 103 ff. 24 S. hierzu HamaM u.a., Übel'!licht Ill/1, S. 5 ff.; vgl. auch Röhrbein, in: HannGeschBI 1988, 121 ff. - Insoweit koMte nur teilweise auf die diese Akten noch auswertende Dissenation von Bock, Strafrecht (1924) zurückgegriffen werden. Für die Analyse der parlamentarischen Entwicklung standen die allerdings insbesondere für die 30er Jahre des 19. Jhdts. alles andere als lückenlosen und zudem meist anonymisierten gedruckten Protokolle in Teilen zur Verfügung (nur z.T. gedruckt erschienen u.d.T.: Auszüge aus den Protokollen der El'llten Allgemeinen Ständeversammlung (5 Bde + Registcrband; • Anlagen• dazu (5 Bde); Kurze Übel'!licht der Verhandlungen des El'llten allgemeinen Landtages (5 Bde. 1815, 1815-19); Drucksachen des el'llten allgemeinen Landtages im Königreich HaMover (Hannover 1814-1819); Auszüge aus den Protokollen der Zweiten Allgemeinen Ständeversammlung, 1. und 2. Diät (2 Bde. 1820/21); Verhandlungen des IV. Landtags 1832-33, in der Hannoverschen Zeitung abgedruckt; ebenso 183337; 1838; 1840/41; 1841/42; 1844; 1846/47; Bericht über die Verbandlungen der allgemeinen Ständeversammlung des Königreichs Hannover im Jahre 1830 (Lüneburg 1831); Nachrichten von den Verbandlungen der allgemeinen Ständeversammlung zu Hannover im Jahre 1831; Die Verbandlungen der Zweiten Kammer der sogenaMten allgemeinen Ständeversammlung im Königreich Hannover im Juni 1839 (Stuttgart 1839); Die Verbandlungen der Zweiten Kammer der haMoverschen allgemeinen Stände im Monat Juli 1841 (Hannover 1841); Protokoll-Extrakte (1841/42; 1844; 1846/47; je 2 Bde.); Hannoversches Landtagsblatt (ab 1848). • Ein Großteil dieser gedruckten Protokolle ist allerdings - teilweise infolge der Kriegs- und Nachkriegsverluste - in den Bibliotheken nicht mehr vorbanden. Wie vergleichsweise wenig die Geschichte des vonnärzlichen Parlamentarismus in HaMover erforscht ist, zeigt auch die Tatsache, daß zu vielen an der damaligen Politikgestaltung beteiligten Personen, etwa ständischen Abgeordneten, soweit ersichtlich keine biographischen Angaben überliefert sind.

m. Spezifische methodologische Probleme

23

Während die Methode rechtsgeschichtlicher Forschung bis etwa 1970 weitgehend gekennzeichnet war von einer noch unter dem Eindruck des Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts stehenden, häufig personalistischen25 und ideengeschichtlichen Schilderung der historischen Institutionen und Abläufe26, kamen etwa um 1970 im Zeichen des allgemeinen Metbodenwandels in den Geschichtswissenschaften27 mehr und mehr sozial- und politikwissenschaftliche Elemente ins Spiel.28 Die damit einhergehende Diskussion verlief nicht immer völlig frei von ideologischen Bezügen29. Nicht wenige Autoren aus dieser Zeit forderten im Rahmen emes "Paradigmenwechsels" eine stärkere, wenn nicht primäre Berücksichtigung "der Bedeutung von ökonomischen wie Herrschaftsstrukturen, Eigentums- und Klassenverhitltnissen als geschichtsdeterminierenden, innovationsfördernden wie hemmenden Faktoren sowie der Abhdngigkeit der Entwicklung von den jeweiligen politischen Verhllltnissen ". 30 Traditionelle, ältere Autoren - wie etwa Eberbardt Schmidt - sahen sieb mit dem Vorwurf der "ideengeschichtlichen Strukturblindheit" konfrontiert. 31

25 S. F.C. Schrocder, in: ders. (Hg), Die Carolina, S. 306.

26 Noch bei Eb. Schmidt, Einführung (1965), ist der "idccngeschichtliche" Ansatz nicht zu übersehen (dazu krit. Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, 164 f.). Explizit ideengeschichtlich zB auch Menger, Ver10, RN 2. Kritisch zur bloßen "Ideengeschichte" auch Stolleis, Geschichte

145. 27 S. dazu eingehend Wieacker,

Art. Methoden der Rechugeschichte, in: HRG m 518 ff.; Simon, Art. Rechugeschichte, in: Görlitz (Hg), Handlexikon D 314 ff.; und Grimm, Recht und Staat, S. 399 ff. mwN.

28 Zu deren Einbeziehung vgl. Rüping, Grundriß, S. 1; deutlich Simon, Art. Rechtsgeschichte, in: Görlitz (Hg), Handlexikon D S. 314 ff (317); Grimm, Recht und Staat, S. 399 ff.; und Görlitz, in: ders. (Hg), Handlexikon I 5 ff. ("Einbeziehung IOziologischer, sozialgeschichtlicher und politologischer Aspekte"); s. hierzu zuummenfa88Cnd Killias!Rehbinder (Hg), Rechtsgeschichte, passim; jew. mwN. 29 Blasius, in: FS-Hans Rosenberg (1974), S. 148 ff., etwa belegt zB seine These von den Schwurgerichten als einem "Palladium nicht der Freiheit, sondern der bürgerlichen Eigentumsordnung• explizit mit marxistischen Termini (S. 158 f.). - Vgl. auch Blanke u.a., in: KI 1973, 109 ff.; Wesel, in: KI 1974, 337; sowie, spezifisch zur Schwurgerichtaproblematilc, die Beiträge bei Padoa Schioppa (Hg), The Trial Jury, paBBim. 30 Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, S. 163; 164 f.; vgl. auch Haber, Öffentlichkeit, bes. S. 17 ff. und ders., in: ZStW 91, 600 ("stärkere Berüclcsichtigung der Rolle der lntere88Cn des im Vonnirz wirtschaftlich und politisch aufstrebenden Bürgertums in der Staatsanwaltschaftsfrage "). 31 S. Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, S. 164 f.

24

Kapitel I : Einleitung

In den Mittelpunkt des Interesses gelangte jetzt unter dem Schlagwort •Strukturgeschichte •32 im Hinblick auf die Geschichte der Staatsanwaltschaft die These von der historischen Umwandlung der als liberales Institut gedachten und eingeführten Einrichtung zu einem Werkzeug der reaktionären nachmärzlichen Regierungen im Wege der lmplementierung.33 Gemeint war damit offenbar ein zweifacher Gesichtpunkt Zum einen ging es um die Widerlegung der traditionellen These, die Staatsanwaltschaft gehe als ein "Kind der Revolution" in direkter Linie auf den vormärzliehen Liberalismus zurück und sei von daher bis heute als "Umsetzung der Rechtsidee im Strafprozeß" in eindeutiger Weise auch funktional und organisatorisch weitgehend festgelegt. Zum anderen ging es, damit zusammenhängend, darum, den "Bruch • in der angeblich liberalen Tradition der deutschen Staatsanwaltschaften darzutun. Dieser wurde darin gesehen, daß zwar die rechtspolitische Postulierung vor allem in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Tat maßgeblich von der liberalen Bewegung bestimmt gewesen sein sollte. Aber unmittelbar nach der legislatorischen Umsetzung 1848 hätten die konservativen Regierungen das Institut im Wege der rechtstatsächlichen Ausgestaltung zu einem obi.gkeitlichen Überwachungsinstrument in ihrem Sinne umgewandelt; und zwar unter - bis beute nachwirkender - geschickter Täuschung der Liberalen. 34 Dieser Befund wurde dann nicht selten in Beziehung gesetzt zu der bis heute anhaltenden Diskussion35 um die Stellung der Staatsanwaltschaft in dem 32 Zu diesem Begriffs. Boldt, Verfü I S. 18.

33 Die Kernthese lautet verkürzt: "Regenten und Regierungen waren an einer reformzielgerechten Implementierung desinteressiert ... Was in den 40cr Jahren als liberale Refonncn ausgegeben wurde, eignete sich dazu, in der Restaurationsphase für eine Politik der llatua quoSicherung gebraucht zu werden" (s. Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, 166). Vgl. zu diesem Topos auch Rüping, in: GA 1992, S. 147 ff., und Neumann, in: Strafverfolgung und Strafverzicht (1992}, S. 59 ff. 34 S. Blankenburgffreiber, in: Leviathan 6, 164 ff.

35 S. dazu etwa die Beiträge bei H.-L. Schreiber/Wassermann (Hg), Gesamtreform des Strafverfahrens (1987}, v.a. S. 133 ff. (Statements und Diskussionsbeiträge zur Frage der Staatsanwaltschaft von Egon Müller; Otto F. Müller; Moos; Schaefer; Machacck; Mildau; Groß; Wendisch; Roxin und Robert Hauser). Die Diskussion kreist u.a. um die Schlagworte • Ausbau der rcchtsstaatlich-justizfönnigen Komponente" (219); Ausgleich des "Machtgefillcs" im Strafprozcß (219); Stärkung der Beschuldigten- und Verteidigerrechte im Ennittlungsverfahren (220); "Dominanz des Richters" in der Hauptverhandlung (220); Einführung des Wechaclverböra; kooperative Erledigungsarten und Verfahrensreformen für den Bereich geringfügiger Kriminalität sowie die stärkere Berücksichtigung der Opferbelange (222). - S. hierzu auch die Beiträge bei Blankenburg/Sessar/Steffen (Hg), Staatsanwaltschaft, passim.

IV. Verfassungsrecht und Strafverfahrensrecht

25

m einem "permanenten Rejormzustand" befindlichen36 Strafprozeß. Dabei ginges-innerhalb des großen Rahmens der "Balance zwischen den individuellen Freiheitsinteressen und dem Strafveifolgungsinteresse•31 - insbesondere um deren Standortbestimmung zwischen obrigkeitlicher Funktion einerseits und Teilhabe an der Unabhängigkeit der Dritten Gewalt andererseits.38 Spätestens im Kontext solcher historischer Auslegung der heutigen Vorschriften von StPO und GVG wird deutlich, daß die rechtshistorische Aufarbeitung der Geschichte der Einführung der Staatsanwaltschaft im 19. Jahrhundert mehr ist als bloß "esoterische Entzifferung vergilbter Texte". 3 9

IV. Die methodologische Bedeutung der Interdependenz von Verfassungsrecht und Strafverfahrensrecht ("Seismograph der Staatsverfassung") Der sozial- und strukturgeschichtliche Ansatz mitsamt der Implementationstheorie ist allerdings im Lichte der seit den 70er Jahren wiederum weiter fortgeschrittenen Diskussion über die Methodik der Rechtsgeschichte40 inzwi-

36 S. Roxin, Einführung, in: C.H.Beck-Verlag (Hg), StPO-Textausgabe, S. 8. 37 So der Ausdruck von Maiwald, in: JuS 1978, 379. 38 S. hierzu Maiwald, in: D giusto processo 1992, S. 8 ff.; Rössner/Engelking, in: JuS 1991, S. 664 ff.; BaumaM, Grundbegriffe, passim; Gallas, in: ZStW 58 (1939), S. 624 ff.; Rüping, Grundriß, S. 114 ff.; ders., in: ZStW 101 (1989), S. 103 ff.; ders., in: Simon (Hg), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, S. 155 ff.; Eb. Schmidt, in: DRiZ 1957, 275 ff.; Roxin, Strafverfahrenrecht, S. 420 ff.; Hohendorff, in: NJW 1987, S. 1177; vgl. zum Ganzen auch Conso (Hg), Pubblico Ministero e accusa penale, S. 195 ff. 39 Ausdruck nach Stolleis, Geschichte li 7; vgl. zum Stellenwert rechtshistorischer Forschung auch ders., in: JuS 1989, 871 ff., und Larenz, Methodenlehre, S. 330: • ... Als Er-

keMtnisquellen fiir die Normvorstellungen der an der Vorbereitung und Abfassung des Gesetzes beteiligten Per&Onen kommen in erster Linie die verschiedenen Entwürfe, die Beratungsprotokolle und die den Entwürfen beigegebenen Begründungen, für die Vorstellungen der am Gesetzgebungsakt selbst beteiligten Per&Onen die Parlamentsberichte in Betracht. Diese Zeugnisse sind selbst wiederum zu interpretieren vor dem Hintergrunde des damaligen Sprachverständnisses, der damaligen Lehre und Rspr., soweit die Verfasser des Gesetzes sie ausdrücklich übernehmen wollten oder ersichtlich von ihnen beeinflußt waren, der von dem damaligen Gesetzgeber vorgefundenen Normsituationen, also deljenigen realen Gegebenheiten, denen er Rechnung tragen wollte. Hier ist der Punkt, wo historische Forschungen in weitestem Sinne zu einem Hilfsmittel der juristischen Auslegung werden ... • .

40 Diese neuere Methodendiskussion kreist maßgeblich um die Bedeutung der Hermeneutik in der rechtsgeschichtlichen Arbeit (s. zB Willoweit, VerfO, S. 8; Wieacker, Art. Methode der Rechtsgeschichte, in: HRG m 518 ff.; Grimm, Recht und Staat, S. 399 ff.; Simon, Art. Rechtsgeschichte, in: Görlitz (Hg), Handlexikon li, S. 316 f.).

26

Kapitel 1: Einleitung

sehen seinerseits kritisch zu lesen. 4 1 Denn seit den 80er Jahren beginnt der sozialwissenschaftlich inspirierte und orientierte Forschungsstil in der Rechtsgeschichte einer methodisch differenzierteren Sichtweise zu weichen. 42 Diese strebt unter möglichst exakter und dabei ständig hermeneutisch reflektierender Aufarbeitung des historischen Materials weniger danach, historische "Gesetzmäßigkeiten" oder Zwangsläufigkeiten offenzulegen, als eine möglichst umfassende Analyse der historischen Entwicklung und ihrer komplexen Rahmenbedingungen zu leisten. 43 In diesem Zusammenhang gewann auch die erkenntnistheoretische Konzeption Max Webers neue Bedeutung, der die Abhängigkeit der Wissenschaft von den Fragen und Werthaltungen ihrer Zeit bereits besonders betont und Forschung als "einen prinzipiell unendlichen Prozeß des Fragens und Suchens" verstanden hatte. 44 Auch die Erkenntnis Karl Jaspers' drang ins Bewußtsein, wonach "da, wo aus der geistigen Erfassung Propaganda wird, die Wissenschaft verlassen" sei.

41 S. Simon, Art. Rechtsgeschichte, in: Görlitt (Hg), Handlexikon D S. 314 tT.; 316: "Das Wissen des Historikers, daß er dem Traditionszusammcnhang, den er zu interpretieren unternimmt, unüberwindlich zugehört, bewahrt ihn vor dem naiven Versuch, sich objektivistisch von seiner konkreten hermeneutischen Situation zu suspendieren. Gleichzeitig aieht er sich verpflichtet, durch systematische Selbstreflexion sein Selbstverständnis ständig zu berichtigen und seine Interpretenstellung ideologiekritisch zu erschüttern. • Zu den demgegenüber aber stets bestehenbleibendcn Begrenzungen der Möglichkeiten des Forschers zur Selbstreflexion s. Willoweit, VerfG S. 4 tT. (6). - Vgl. auch Wieacker, PrRGdN, S. 16 f.; 416 tT. 42 S. etwa Scllert, in: ders./Rüping (Hg), Quellenbuch I, 8; Rüping, Grundriß, S. I tT.; Willoweit, VerfG, 3 tT.; Stollcis, Geschichte I S. 8 tT. 43 So gesehen, bestätigt diese ncuere Entwicklung auch den Trend, die im Zuge der Reform des juristischen Studiums unter Legitimicrungsdruck geratene Rechtsgeschichte (s. dazu Simon, Art. Rechtsgeschichte, in: Görlitt (Hg), Handlexikon D, S. 314; Grimm, Recht und Staat, S. 399 ff.; Sellert, in: ders./Rüping, Quellenbuch I, S. 1 tT.; vgl. Stollcis, Geschichte I S. 43; Willoweit, VerfG, S. I) nicht (mehr) als eigentliche Subdisziplin der Jurisprudenz, sondern als Teilgebiet der allgemeinen Geschichtswissenschaft, als "Fachhistorie" (Boldt, VcrfG 110) aufzufassen, die allein aus wissenschaftshistorischen Gründen noch an den juristischen Fakultäten gelehrt wird (dazu s. Stolleis, Geschichte I 43). Es geht im übrigen inhaltlich in der neucren Lit. primär darum, die Wissenschaftsgeschichte mit der Verfassungsgeschichte und der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung so weit zu verbinden, daß verständlich wird, in welcher Weise die legislative Entwicklung von ihren Rahmenbedingungen abhing und . auf diese wiederum einwirkte (s. Stallcis Geschichte ß 6; Boldt, VerfG I 18). -Es kann mithin auch im Folgenden nicht um eine Ideengeschichte in dem methodologisch diskreditierten Sinne gehen, daß das gewissermaßen autonome Wesen und Wirken bestimmter Ideen im historischen Material verfolgt wird. Ebensowenig genügt eine bloße Geschichte der unselbständigen geistigen Reflexe der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Geschichte (s. Stolleis, Geschichte ß 6 f.). 44 S. dazu Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftstheorie, S. 105 tT., 603 tT.; Baurmann, in: JuS 1991, S. 97 tT. (99); Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Weben, passim.

IV. Verfassungsrecht und Strafverfahrensrecht

27

In neuerer Zeit zeigt sich zudem - wohl zusammenhängend mit der sich auch in der strafprozessualen Dogmatik durchsetzenden und von der Rechtsprechung des BVerfG besonders betonten45 Erkenntnis der "verfassungsrechtlichen Imprlignierung" des Verfahrensrechts46 - der methodologische Trend, auch das historische Strafprozeßrecht wesentlich mehr als bisher geschehen als "konkretisiertes, angewandtes Verfassungsrecht" seiner Zeit zu begreifen. 47 Diese Sichtweise liegt besonders dann nahe, wenn man - mit den Worten von Ernst Wolfgang Böckenförde- den rechtshistorischen Verfassungsbegriff nicht auf die Konstitution verengt, sondern unter Verfassung die gesamte "politisch-soziale Bauform einer Zeit" versteht. 48 In der Tat besaßen Grundfragen der Organisation und des Verfahrens bei der Gewährung von Rechtsschutz durch Gerichte seit jeher materialen staatsrechtlichen Charakter. Sie finden demgemäß auch heute in wesentlichen Teilen ihren Niederschlag im Verfassungsrecht. 49 Claus Roxin etwa spricht vom Strafprozeßrecht als einem "Seismographen der gesamten Staatsverfassung•50, der "Probe auf das Exempel des Rechtsstaats", dem "symptomatische Bedeutung .fiir den Geist einer Rechtsordnung • zukommt. 5! Dies bleibt naturgemäß nicht ohne Auswirkungen auf die strafprozeßrechtsgeschichtliche Methodologie. Ist die heutige Staatsanwaltschaft dogmatisch an einer Schnittstelle von Strafprozeßrecht und Verfassungsrecht zu verorten, so erfaßt die Geschichte der Einführung des Instituts wissenschaftstheo45 So ausdrücklich zB BVeriGE 32, 373 (383); s. auch BGHSt 19, 325 (330); s. auch Kleinknecht!Meyer, StPO, Einleitung RN 5. 46 S. dazu Stern, Staatsrecht 10/1 S. 1425 ff. mwN. 47 S. etwa Sellert, Art. StrafprozeR 0, in: HRG IV 2035; Buchda, Art. Gerichtsverfassung, in: HRG I 1563 ff. (1564): "Wichtiges Stück des Staatsrechts" . 48 S. Böckenförde, Recht- Staat- Freiheit, S. 244. 49 S. hierzu Stern, Staatarecht 1011, S. 1422 ff.; vgl. den Generalbericht zum VD. Intern. Kongreß für ProzeRrecht (1983): "Das Bild eines Staates wird ... wesentlich mitgeprägt durch

die Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens und durch das Gewicht, das der Justiz im öffentlichen Leben zukommt. Gerichtsorganisation und Sicherung der Rechte des Bürgers vor Gericht sind fundamental für die staatliche Grundordnung. In Grenzen ist daher das Gerichtsverfassungsrecht und auch das Verfahrensrecht angewandtes Verfassungsrecht" (bei Schwab/Gottwald, in: Habscheid (Hg), Rechtaschutz, S. 11 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. V; 98; Sax, in: Handbuch der Grundrechte IDI 2, S. 966; Bcttermann, in: ZZP 91 (1978), S. 367). Zum ganzen 1. auch Wolter, in: NStZ 1993, S. 1 ff. mwN. Zur Bedeutung der Wechselwirlcung von Verfassungsrecht und Strafprozeßrecht angesichtaderaktuellen Problematik des SED-Unrechts s. jetzt Maiwald, in: NJW 1993, S. 1881 ffmwN .

50 Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 9. 51 Roxin, Einführung, in: C.H. Bcck-Verlag (Hg), StPO-Textausgabe, S. 8.

28

Kapitel I : Einleitung

retisch einen Grenzbereich von Strafrechtsgeschichte und Verfassungsgeschichte. 52 Eine solche Betrachtungsweise kann zudem für sich beanspruchen, auch von der wissenschaftlichen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts selbst angewandt worden zu sein. Heinrich Albert Zachariae und Karl Joseph Anton von Mittermaier, aber auch Carl Rotteck und Carl Welcker, Paul Johann Anselm von Feuerbach ebenso wie bereits den französischen Aufklärern war der enge Zusammenhang zwischen der Staatsverfassung, also dem Staatsrecht, und dem Prozeßrecht bewußt. 53 Aber auch die problembezogene Analyse der wissenschaftlichen Strafprozeßliteratur des Vormärzes, dieser ?.eit des Zwiespalts und des Umbruchs"54, begegnet einigen speziellen methodologischen Schwierigkeiten. Die Aufarbeitung wird zunächst außerordentlich erschwert durch die kaum noch überschaubare Fülle55 des Materials, das überdies keineswegs vollständig bibliographisch erschlossen ist. 56 Erschwerend wirken sich auch die häu52 S. hien:u auch Volk, in: JuS 1991, 281 ff. mwN., sowie eingehend Rüping, in: Sirnon (Hg), Akten des 26. Deutschen Recht.shistorikertages, S. 155 ff. mwN. 53 S. hien:u etwa Ule, in: DVBI. 1979, 797 ff.; Stolleis, Geschichte D 7. mwN. - Bei Wclcker, Art. Criminalvcrfahren, in: Rotteck/Dcrs. (Hg), Staatslcxikon, Bd. XV, 274 ff. (1. Aufl. 1843) beispielsweise heißt es: "Im ganzen Rcchtsgcbicte, vielleicht im ganzen politischen Gebiete, gibt es nichts Wichtigeres als den Strafproccß. Seine gute oder verderbliche Einrichtung entscheidet am Meisten über alle heiligsten und wichtigsten Güter - noch weit mehr als selbst das Strafgesetzbuch. Die Gesetze werden doch immer mehr oder minder gut oder schlecht durch das Verfahren; sie werden das, was die Richter, ihre Proccsse und Urthcilc daraus machen. Auch wird eben wegen dieses unmittelbarsten und stärksten Einflusses des Strafprocesses auf die Schicksale der Bürger derselbe von:ugsweise zum Wcrlczcug und Hebel des jedesmaligen Regierungssystems gemacht". 54 S. Maiwald, in: Semper Apertus D 211.

55 Einen Eindruck davon vermitteln die - noch nicht annähernd erschöpfenden - zcitgenöuischen Bibliographien etwa bei Kapplcr, Handbuch (1838); Walthcr, Lexikon (1854); Erach, Literatur der Jurisprudenz (1823); Enslin/Engclmann, Bibliothcca Juridica (1840), Schletter, Handbuch (1851), sowie Bluhrnc, Quellen (1854). 56 S. auch Haber, Öffentlichkeit, 12 FN 4; vgl. Stolleis, Geschichte D S. 8 f. (fiir den Bereich des Öffentlichen Rechts der Zeit); Coing, Handbuch I, S. 1 ff. (fiir daa Zivilrecht) Auch die vornandenen neueren Monographien zu Einzclproblemen, etwa von Schwinge, Kampf; Fögcn, Kampf; Fasoli, Jagcmann; Bchr, Rechtsmittel; Schwcdhclm, Wicdcraufnahmerecht; Heidenreich, Kriminalpolitik; Hcnschel, Strafvertcidigung; Hcttingcr, Fragcrecht; Alber, Öffentlichkeit; Thissen, Vemaftungsrecht; und Haber, Öffentlichkeit; ders., in: ZStW 91, 606; Blass, Entwicklung; A.mrhcin, Entwicklung; Mackcrt, Prozedur; u.a. kla11ifazieren zwar regelmäßig das Material; ihrer Aufgabenstellung entsprechend jedoch naturgemäß nur unter ihrem jeweiligen spezifischen Blickwinkel. Die daraus entstandenen Literaturübersichten können aber nicht ohne weitere• auf die Staatsanwaltschaftsfrage übertragen werden, weil nicht selten dieselben Autore" zB zwar fiir Geschworene, Öffentlichkeit und Mündlichkeit in den verschieden-

IV. Verfassungsrecht und Strafverfahrensrecht

29

fig "nur begrifflichen Gemeinsamkeiten"5 7 der historischen Autoren aus. Hinzu kommt, daß die Analyse sich zwangsläufig in groben Zügen mehr oder minder auf das gesamte deutschsprachige einschlägige Schrifttum der Zeit zu erstrecken hat, da es zur Herausbildung einer eigenständigen hannoverschen vertieften Strafprozeßrechtswissenschaft im Vormärz allenfalls ansatzweise gekommen ist. 58 Überdies verstand sich die Strafprozeßrechtswissenschaft der Zeit auch selbst als länderübergreifende, "gemeine" Rechtswissenschaft. 59 artigsten Kombinationen, aber gegen Staatsanwaltschaften waren und umgekehrt (vgl. hierzu Haber, in: ZStW 91,606).- Auf die älteren einschlägigen Darstellungen bei Elling, Einführung, und Carsten, Geschichte, kann ebenfalls nicht pauschal verwiesen werden, weil diese, wohl durch die Zeit ihrer Entstehung (1911 bzw. 1932) mit bedingt, den verfassungsgeschichtlichen Aspekt des Problems, die Einbindung der jeweiligen Autoren in die großen verfassungspolitischen Strömungen der Zeit, meist nur ansatzweise zu den einzelnen Aspekten der Staatsanwaltschaftsfrage in Beziehung setzen, und im übrigen bei der Auswahl des Materials mitunter etwas spärlich vorgegangen sind (zu dem letzteren Punkts. Haber, in: ZStW 91, 606). 57 Rüping, in: GA 1992, 147. 5 8 Einen Überblick über den - nicht allzu umfangreichen - Bestand an hannoverscher Strafprozeßliteratur des Untersuchungszeitraumes gibt zB Schlüters "Repertorium Juris Hannoverani". Demnach blieb der dritte Band des von Oesterley 1819 ff. herausgegeben "Handbuchs" praktisch bis 1848 offenbar das einzige umfassendere hannoversche Strafprozeßrechtslehrbullh. Freilich erschien eine ganze Reihe juristischer - allerdings teilweise nur kurzlebiger - Zeitschriften, wie zB die "Juristische Zeitung für das Königreich Hannover•, die "Zeitschrift für die Civilund Criminalrechtsptlege im Königreiche Hannover", dann 1822123 die "Zeitschrift für Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtspflege im Königreich Hannover, sowie in den Herzogthümem Lauenburg und Holstein", 1831/32, 1835-37 und 1846/47 die "Hannöverschen Landesblätter", 1832-36 und 1846-48 die "Annalen" des Advokaten-Vereins zu Hannover, 1833 ein Jahrgang von "Beiträgen für das Hannoversche Landesrecht". Weiterführende wissenschaftliche Beiträge zum Strafprozeßrecht enthielten noch am ehesten die "Erörterungen und Abhandlungen aus dem Gebiete des Hannoverschen Criminal-Rechts und Criminal-Prozesses", hgg. von v. Bothmer, 1843-47. Die für die meisten deutschen Staaten ihnlieh gelagerte 1trafprozessuale Problematik und die dadurch ermöglichte "überregionale" Prozeßliteratur erübrigte allerdings vielleicht auch ein umfangreicheres spezifisch hannoversches Schrifttum. Hinzugekommen sein mag der Gesichtspunkt, daß praktisch von 1814 an in der Ständeversammlung und auch in der hannoverschen Regierung ein Strafprozeßrefonnentwurf den anderen ablöste, so daß ein Zustand jahrzehntelanger gesetzgeberischer Ungewißheit entstand, der das geltende Recht immer wieder nur als bloßes Provisorium erscheinen ließ.

59 Enichtlich gab bis über das Jahr 1848 hinaus auch keiner der Strafrechtslehrer der Landesuniversität Göttingen ein eigenes gedrucktes System oder Lehrbuch des hannoverschen Strafprozeßrechta heraus. Dies mag einen Grund darin gehabt haben, daß an der Landesuniversität mit Rückaicht auf ihre vielen von auswärts kommenden Studierenden (vgl. Stolleis, Geschichte D 208 f., und Götz, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft, S. 336 ff.) überhaupt nur wenig partikulares Recht gelesen wurde (s. Oesterley, Studium, S. 5) und der eindeutige Schwerpunkt auf dem Gemeinen Prozeßrecht lag. Dies geht zB auch aus einer 1816 gedruckten Ankündigung Oesterleya zu seiner Göttinger Partikularprozeßvorlesung hervor, in der er sich immerbin veranlaßt sah, auf nicht weniger als 30 Seiten ausführlich die Berechtigung solcher Lchrveranstaltunaen darzulegen (Oesterley, Studium, passim). - Möglicherweise trug aber auch der von Sellert, in: Georgia August& (Mai 1987), S. 11 ff., festgestellte - relative - temporäre "Niedergang der Göttinger Juristischen Fakultät" während des Vormärzes, besonders nach dem Weggang Eichhorns (1829) und dem Tode Gustav Hugos (1844) hierzu bei (vgl. zu deren Bedeutung Dießelhorst, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft, S. 123 ff.; Sellert, in: JuS 1981,

30

Kapitel 1: Einleitung

V. Gang der Untersuchung und Plan der Arbeit Das auf das vorhergehende Kapitel 1 (Einleitungskapitel) folgende Kapitel 2 soll zunächst, "mit dem Spachtel aufgetragen", wesentliche verfassungsgeschichtliche und sozioökonomische Hintergründe umreißen, vor denen sich die Einführung der Staatsanwaltschaft in Hannover im 19. Jhdt. vollzogen hat. Wegen des weitgehendenFehlenseiner neuzeitlichen Rechts- und Verfassungsgeschichte Hannovers sowie aufgrund der geschilderten besonders engen Verzahnung des Untersuchungsgegenstandes mit dem historischen Verfassungsrecht kommt dieser "vor die Klammer gezogene" Teil zwangsläufig nicht ohne ein etwas weiteres Ausholen aus. Das anschließende Kapitel 3 befaßt sich mit der strafprozessualen Entwicklung im eigentlichen Sinne. Es versucht zunächst, die der späteren Gesetzgebungarbeit maßgeblich zugrundeliegende, etwa zwischen 1780 und 1848 phasenweise verlaufene Entwicklung der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Staatsanwaltschaft zu skizzieren. Auch dieser Abschnitt muß etwas umfassender ausfallen, da auf die vorhandene Literatur aus den geschilderten Gründen nicht ohne weiteres pauschal verwiesen werden kann. Dies gilt auch fiir die im Kapitel 4 folgende Schilderung des in der historischen Diskussion immer wieder als Vorbild und Vergleichsobjekt herangezogenen französischen ministere public und dessen kurzlebiger und bisher weniger beachteter, aber das Vorverständnis der hannoverschen Diskussion in Wahrheit wohl doch stark mit prägender Umsetzung in dem den größten Teil des Landes umfassenden Königreich Westphalen zwischen 1807 und 1813. Das Kapitel 5 hat sodann das von der bisher herrschenden Meinung in der Literatur immer wieder als "Ahnherr" oder direkter Vorläufer der heutigen Staatsanwaltschaft bezeichnete60 Rechtsinstitut des hannoverschen "Öffentlichen Anwalds" oder Kriminalfiskals von 1841 zum Gegenstand.

799 ff.). Zur Entwicklungsgeschichte der Strafprozcßrechtswissenschaft an der Göttinger Universität s. jetzt die Einzelbeiträge bei l.oos (Hg.), Rechtswissenschaft, passim, sowie die ältere Schrift von v. Seile (1937), Geschichte, mwN zur älteren Literatur. 60 So zB Floegel, in: DRZ 193S, 166 ff.; Döhring, in: DRiZ 19S8, 282 ff.; Hanns, in: FSOLG Celle (1961), S. ISS fT.; auch Frommel, Art. Staatsanwaltschaft, in: HRG IV 1809; Elling, Einführung, S. 82.

V. Gang der Untersuchung

31

Im Zentrum steht dabei die Frage, ob und inwieweit diese traditionelle Einstufung durch die h.M. ihre Berechtigung hat. Hierzu werden Stellung und Funktionen des Öffentlichen Anwalts im Kontext des - seinerseits nur wenig erforschten und deshalb grundrißartig mit auszuleuchtenden hannoverschen Gerichtsverfassungs- und Strafprozeßrecht der Zeit von 18401848 analysiert. War der hannoversche Öffentliche Anwalt bereits ein erster Vertreter der modernen Staatsanwaltschaft, oder war die Schaffung dieses Instituts im Gegenteil ein letzter intrasystematischer Versuch zur Rettung des Inquisitionsprozesses ? Mehr noch: Gehört der Öffentliche Anwalt überhaupt (schon) in die Güngere) Traditionslinie der Staatsanwaltschaft, oder etwa (noch) in die (ältere) des Fiskalats? Relativ breiten Raum nimmt hierbei wegen des geschilderten engen verfassungsgeschiehtlieben Bezugs die Untersuchung der einschlägigen Verhandlungen in der hannoverschen Ständeversammlung ein. Es kommt aber auch die rechtstatsächliche Seite des Öffentlichen Anwalts, seine praktische Tätigkeit, Bewährung, Effizienz und Akzeptanz, zur Sprache. Das Kapitel 6 behandelt die Provisorische Hannoversche Staatsanwaltschaft der Jahre 1849 bis 1852, ein •Kind der Revolution•61, und versucht in eher groben Zügen deren Einordnung in die gesamtdeutsche und -europäische62 Rechtsentwicklung. Der notwendigen Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes entsprechend gibt dieses Kapitel einen mehr kursorischen Überblick über Entstehung, Stellung, Funktionen und Wirkungsweise dieses von vomberein nur als provisorisch gedachten Instituts. Das Kapitel 7 umreißt die Entstehung und Ausgestaltung der hannoverschen Staatsanwaltschaft von 1852 auf der Grundlage der hannoverschen Justizorganisationsgesetze des Jahres 1850. Die Betrachtung beschränkt sich hier, der Themenstellung entsprechend, auf die unmittelbare eigentliche Einfiihrungsphase, erfaßt also nicht im Detail den - bereits hinreichend untersuchten - Zeitraum des Implementierungsprozesses nach 1852, und ebensowenig die 1859 vorgenommene, teilweise einschneidende Umstrukturierung des hannoverschen Gerichtsverfassungs- und Strafprozeßrechtes.

61 Günther, Staatsanwaltschaft, S. I. 62 Zur neuerdings stärker beachteten gesamteuropäischen Verflochtenheit der verschiedenen

Rechtaentwicklungen s. jetzt Coing, Europäisches Privatrecht, bes. Bd. D 8 ff.; Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, passim.

32

Kapitel I : Einleitung

Ein Zusammenfassungsteil mit einer Übersicht der wichtigsten Arbeitsergebnisse beschließt mit dem Kapitel 8 die Untersuchung.

Kapitell

Geschichtliche Grundlagen I. Verfassungsentwicklung Hannovers bis zur französischen Okkupation 1806 Mit Ausnahme eines von Friesen besiedelten Küstenstreifens gehörte das Gebiet des späteren Königreichs Hannover ursprünglich zum Stammesbereich der Sachsen. I Der Sachsenherzog Heinrich der Löwe (um 1129-1195) war 1178 wegen Nichtachtung der kaiserlichen Majestät aller Lehnsgüter für verlustig erklärt, sein Herzogtum aufgeteilt worden. 2 Nur das Gebiet zwischen Oberweser und Niederelbe, in dem sich die Masse seiner Eigengüter befand, erhielt er 1188 zurück. Unter Zugrundelegung dieser dem Kaiser jetzt zu Lehen aufgetragenen Allode wurde 1235 das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg als neues Reichslehen gebildet, das aber schon 1252 im Erbgang intern in zwei Hauptteile, die Fürstentümer Braunschweig und Lüneburg, geteilt wurde. Nach mehrfachen weiteren Teilungen bestand das herzogliche Gesamthaus Braunschweig-Lüneburg - das "Welfenhaus" - im 16. Jahrhundert schließlich aus vier Linien.3 Nach dem Aussterben der anderen Linien erbten 1634 die LÜDeburger den Gesamtbesitz, teilten ihn jedoch in mehreren Erbverträgen erneut in die drei Fürstentümer Lüneburg, Calenberg und Wolfenbüttel. Erhebliche Aufwertungen des Gesamthauses Braunschweig-Lüneburg brachten 1692 der Erwerb der Kurwürde durch den Calenberger Herzog Ernst

I S. Lent, in: Haase (Hg.), Niedersachsen, S. II ff. 2 S. hierzu Conrad DRG I 186; 301; Jordan, Heinrich der Löwe, 199 ff. ; Spieß, Art. Braunschweig, in: HRG D 1722 ff. 3 Nämlich: Lüneburg, Grubenhagen, Calenberg und Wolfenbüttel. Daneben entwickelten sich jeweils zahlreiche Seitenlinien (s. Uhlhom!Schlesinger, in: Gebhard/GrundmaM, Geschichte, XID 71 ff. mwN. 1582 bzw. 1585 waren auch die Grafschaften Hoya und Diepholz im Erbgang an Lüneburg gefallen (ebd. S. 74). 3 Knollmiiilil

34

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

August4 und 1714 die Erbschaft des britischen Thrones durch dessen Sohn Kurfürst Georg Ludwig. 5 Die britische Sukzessionsakte von 1701 hatte eine über die Person des Fürsten hinausgehende Verbindung mit Hannover allerdings ausgeschlossen. 6 Gleichwohl wurde Hannover politisch nun zu einem bloßen Nebenland der britischen Krone. 1 Das Kurfürstentum wurde nach 1714 in London durch den •Minister bei der AllerhiJchsten Person • - nämlich des Kurfürst-Königs - vertreten, dem dort die •Deutsche Canzlei • zugeordnet war. Die Regierungsgeschäfte im Kurfürstentum selbst wurden nach dem Regierungsreglement vom 29. August 1714 einem •Geheimen Rats-Collegium• übertragen, das dem Kurfürsten unmittelbar verantwortlich war. 8 Die hannoversche Regierungsgewalt wurde tatsächlich, je nach den faktischen politischen Machtverhältnissen wechselnd, in London durch die Deutsche Kanzlei oder in Hannover durch das Ratskollegium ausgeübt. 9 Hier bil4 S. Conrad DRG U 95 f.; v.Eaebeck, Begründung, passim.

S Kurfürst Ernst Auguat (1629-1698) hatte die Pfalzgrifin Sophie von der Pfalz (1630-1714) geheiratet. Sie war eine Enkelin dea englischen Königs Jakob I. (1566-1625) aus dem Hause Stuart und erbte nach englischem Thronfolgerecht als dessen nächster protellantischer Abkömmling die Anwartschaft auf die britische Krone. Ihr Sohn und Erbe Georg Ludwig (16601727) bellieg als Georg I. den britischen Königsthron. 6 "The Act of SeUlement" (Grundordnung; bei Franz (Hg), Staataverfassungen, S. 520); s. Schnath, . Niedersachsen, S. 36. Hannover und England bildeten nach der Staatslehre des 19. Jahrhunderts alao lediglich eine Peraonalunion; es lag "im Rechtssinne keine Verbindung von Staaten" vor, "aondem eine ataata- und völkerrechtliche communio incidena des Trägen der höchsten staatlichen Organateilung bei völliger gegenseitiger Unabhängigkeit der betreffenden Organachaf\en seibat ... Eine eigentümliche ataatarechtliche Folge hatte die Peraonalunion Großbritannien und Hannover tür die Hannoveraner, indem diese ala Bürger der Vereinigten Königreiche betrachtet wurden, da nach englischem Recht jeder Untertan des Königs, wenn auch in dessen Eigenachaft als Monarchen eines anderen Staates, britischer Bürger ist ... • (Jellinek, Staatalehre, S. 751 m.FN 2; s. auch Holte, Art. Peraonalunion, in: HRG m 1599 (1603 f.); Bingmann, Verhältnis, passim; aowie jeiZt Birlte/Kiuxen (Hg), England und Hannover, passim; und Rohloff (Hg), Peraonalunion, passim). 7 S. E.R. Huber DtVerfG U 85. - 1719 konnte Hannover von der neuen Machtstellung seines Kurfüraten zunächst einmal profitieren, indem ea mit Untentützung dea englischen Machtpotentials die 1648 Schweden llbertragenen Herzogtümer Bremen und Verden zurückerwarb, zu denen 1731 noch das Land Hadeln hinzukam (1. Schnath, Niedersachsen, S. 42 ff.). 8 Vgl. dazu Erler, Art. Geheimer Rat, in: HRG 11442 ff. 9 S. E.R. Huber, DtVertU U 84; v. Hassell, Geschichte I 44 ff. - Ein rein abaolutiatisches, ausschließlich an der Peraon des Füraten orientiertes System, in dem der Herracher penönlich die Beamten konaequent an seinen politischen Willen band und seibat Unprung und Motor aller politischen Entscheidungen war, aelbat in jeder den Staat betreffenden Sache tätig wurde und auch den Richtern im Einzelfall laufend Weisungen erteilte, war bei der dauemden Abweaenheit des Fünten nicht zu realisieren (1. E.R. Huber, DtVerfG U 85; Oberschelp, Wirtschaft 13).

0. Die französisch-westphälische Herrschaft

35

dete sich in der Folge unter der Herrschaft der "Geheimen Räte• aus den Angehörigen des Adels und Teilen des gehobenen Bürgertums eine sog. "Sekretariokratie" heraus.IO Im Gegensatz zu den meisten anderen deutschen Staaten jener Zeit herrschte in Hannover mithin faktisch ein auf der alten hergebrachten landständischen Verfassung beruhendes Adelsregiment. 11 Die Rechtspflege war gemäß dem Verfassungsrecht und dem Staatsdenken der Zeit jedenfalls theoretisch durch die Stellung des Monarchen als alleinigem und grundsätzlich uneingeschränktem Inhaber der Staatsgewalt geprägt. 12

II. Die französisch-westphälische Herrschaft 1807-1813 Nach Ausbruch der französischen Revolutionskriege 1792 geriet Hannover ab 1801 unter zunächst wechselnde, ab 1806 dauernde französische militärische Besetzung. 1807 gelangte der südliche Teil Kurhannovers an das aus westelbischen preußischen Gebieten, dem Kurfürstentum Hessen-Kassel, dem Herzogtum Braunschweig (-Wolfenbüttel) sowie einigen kleineren Territorien13 neugebildete Königreich Westphalen unter dem König J6rome Bonaparte (1784-1860), einem Bruder des französischen Kaisers Napoleons I. (1769-1821), während der nördliche Teil1811 nach kurzer zwischenzeitlicher Zugehörigkeit zu Westphalen zusammen mit anderen Gebieten Nordwestdeutschlands dem Kaiserreich Frankreich angegliedert wurde.14

10 In dem Geheimen Rat stellten die führenden hannoverschen Adelsgeschlechter die Minister, während die Ministerialbürokratie in den Händen wissenschaftlich gebildeter und administrativ erfahrener, meist bürgerlicher Beamter die Facharbeit leistete (s. hierzu E.R. Huber, DtVerro o 85). 11 S. R6hroein, Hannover, S. 30. - Die Rechtsprechung wurde nebeneinander wahrgenommen von landesherrlichen, ständischen sowie einer Vielzahl von städtischen und Patrimonialgerichten; Einzelheiten a. Krauae, Strafrcchtspflege, S. 95 ff., und Scheel, in: DVG 1745 ff. 12 S. Buchda, Art. Gerichtsverfasaung, in: HRG I 1563; Selmer, Art. Gewaltenteilung, in: HRG 11642 ff. ; Willoweit, Art. Territorialstaat, in: HRG V 146 ff.

13 S. die gcnaue Aufzählung in der westphälischcn Konstitution, Tit. I, Art Reich und Länder, S. 77 ff.).

1 (bei Boldt,

14 Vom 14.1.1810 bis 10.11.1811 hatte das gesamte ehemalige Gebiet des Kurfüntentuma Hannover zu Westphalen gehört, war aber 1811 um die nördlichen Gebiete wiederum verkleinert worden (s. Walter, Kriminalpolitik, S. 8). Zur Entstehung, Verfassung und Verwaltung dea Königreichs Westphalen im einzelnen s. Walter aaO S. 10 ff., Thimme, Zustände, passim, jeweils mwN.; Knemeyer, in: DVG D 333 ff. 3•

36

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

Das Königreich Westphalen, das auf der Grundlage der Friedensverträge von Tilsit von 1807 gebildet worden war15, sollte als deutscher "Musterstaat" die Vorteile der französischen Institutionen den anderen europäischen, vor allem den deutschen, Staaten vor Augen führen, ihnen als Vorbild dienen und so auch eine vereinheitlichende Wirkung auf die inneren Strukturen aller Rheinbundstaaten ausüben.16 Unter König Jerome wurden neben dem französischen Verwaltungssystem, wonach das Land in Departements, Distrikte, Kantone und Munizipalitäten zerfiel1 7, auch das französische Zivil-, Zivilprozeß- und Strafprozeßrecht sowie - weitgehend - die französische Gerichtsverfassung eingeführt, nicht jedoch das materielle französische Strafrecht.18 1813 eroberten die Truppen der gegen Napoleon verbündeten Mächte das Land zurück.19 Von "Interimistischen Regierungs-Kommissionen" wurden im wiedererrichteten Kurhannover sogleich die alten Verhältnisse aus der Zeit von vor 1806 so weit wie möglich wiederhergestellt.20 Der Kurfürst-König beanspruchte als souveräner Fürst alle Staatsgewalt mit umfassenden Kompetenzen, aus der sich alle für notwendig gehaltenen Rechte, insbesondere der Gesetzgebung und der Justiz, deduktiv ableiteten, demgegenüber sich aber das Steuerbewilligungsrecht der Landstände behauptete. 21

ßl. Die Verfassungslage von 1814 Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons beschlossen die europäischen Großmächte - Rußland, Österreich, Preußen, England, Frank15 S. Art. 6, 8 dea Französisch-Preußischen Friedensvertrages vom 7.7.1807 (bei Walter, Kriminalpolitik, S. 1) und Art. 19 des Ru11isch-&anzösischen Friedensvertrages vom selbcn Tag (ebd.). 16 S. Kncmcyer, Regierungs- und Verwaltungsrcformcn, S. 61 ff; den., in: DVG D 333 ff.; Waltcr, Kriminalpolitik S. 2 ff.; Boldt, in: Den. (Hg), Reich und Länder; S. 73.

17 S. v. Meier, Einflüaae D 216 ff. 18 Auch der für die Gesetzgebung maßgebliche verantwortliche Justizminister Sim6on war Franzose (1. v. Meier, Einflüsse D 212; Schuber!, Recht, S. 98.) 19 Dazu a. eingehend v. Haaaell, Geschichte I 59 ff.

20 Zu den Einzelheiten dieser "bürokratischen Integration" a. Klein, in: DVG D 678 ff. 21 S. Quaritach, Art. Souveränität, in: HRG IV 1714, 1720 ff.; Willoweit, Verro, S. 140, 157 f.

m.

Die Verfassungslage von 1814

37

reich- 1814 auf dem Wiener Kongreß, zur Vorbeugung gegen eine Wiederkehr der französisch-revolutionären und imperialen Unruhe das System der Europäischen Pentarchie als Garant der Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. 22 Der Kurfürst-König erhob bei dieser Gelegenheit Hannover zum Königreich. 23 Das Land konnte bei der territorialen Neugliederung Deutschlands durch die Wiener Kongreßakte vom 9. Juli 1815 außerdem beträchtliche Gebietszuwächse erlangen. 24 22 Der Deutsche Bund war ein wesentlicher Teil der Europäischen Pentarchie. Er war von den souveränen deutschen Staaten in der Überzeugung u.a. von den Vorteilen für "die Ruhe und das Gleichgewicht Europas• gegründet worden (DBA v. 08.06.1815, Präambel; bei Boldt, Reich und Länder, S. 196; a. Nürnberger, in: Mann (Hg), Weltgeschichte VID 59 ff. (181); Schieder, in: Gebhardt/Grundmann (Hg), Geschichte, XV 11 ff.; Neusser, Art. Deutscher Bund, in: HRG I 687 ff. 23 Patent des Prinzregenten Georg (später König Georg IV.) vom 26.10.1814 (bei Hagemann, Sammlung 1814, 924 f.). Der hannoversche Minister Ernst Herbert Reichsgraf zu Münster (1766-1839; a. über ihn Rothert AHB D 347 ff.; Sühlo, Münster, passim) trat deshalb auf dem Wieocr Kongreß als "Bevollmächtigter des Königs von Großbritannien und Hannover• auf (1. DBA, Präambel, bei Boldt, Reich und Länder, S. 196).- Hannoven Position wurde in Wien inabesondere von dem englischen Außenminister Castlereagh unterstützt, der in der Absicht, Großbritannien zukünftig den kontinentalen Rücken für sein Engagement in Übersee freizuhalten, bestrebt war, die Nordseeküsten in die Hände von für England ungefährlichen Nachbarn zu geben. In diesem Kontext erreichte er, daß das seit 1744 preußische Fürstentum Ostfriesland jetzt an Hannover abgetreten wurde ( Einzellieiten s. bei Klein, in: DVG D 678 ff. und Gundermann!Hubatsch, in: Hubatsch (Hg.), Grundriß X, 1 ff.). 24 Hannover wurde neben Ostfriesland mit dem Harlingerland auch das Emsland mit den jetzt mediatisierten Herzogtümern Arenberg-Meppen und Looz-Conwaren und die Grafschaft Bentheim zugesprochen, ferner die Niedergrafschaft Ungen mit den sog. Münstersehen Absplissen; der Erwerb des Fürstentums Osnabrück wurde bestätigt. Preußen trat an Hannover das Fürstentum Hitdcaheim und die ehemalige Reichsstadt Goalar ab, zudem den nördlichen Teil des Eichsfeldes; es erhielt zum Ausgleich dafür das Herzogtum Lauenburg, daa im Ringtausch gegen Vorpommern und Rügen an Dänemark weitergegeben wurde. Von Kurhessen erhielt Hannover die Exklaven Auburg, Uchte und Freudenberg sowie die Hernchaft Piease mit den Ämtern Stöckellieim und Neuengleichen (s. hierzu Lange, in: NdaJb 28, 73 ff.; Klein, in: DVG D 679 ff.; Hubatach/Gundermann, in: Hubatach Hg), Grundriß, X 1 ff., jew. mwN. zu den einzelnen Landesteilen). - Das faktische Zentrum der politischen Macht für daa Königreich Hannover lag nach 1813 zunächst in London bei der Deutschen Kanzlei unter dem Minister bei der Allerhöchsten Penon, dem Grafen Münster. Münster, seit 1805 hannoverscher Minister, wurde 1831 als Repräsentant des hannoverschen Adelsregimente entlassen und durch den auch bürgerlichen Gruppen genehmen Minister Ludwig v. Ompteda (1767-1854) ersetzt; 1 . E.R. Huber, DtVertU D 86, 90; Stolleis, Geschichte D 208 mwN.). Er leitete miUels der in Hannover amtierenden Departementaminister maßgeblich die Regierungsgeschäfte. Zur Stärkung der Stellung dea hanovenchen Ministeriums und zur Verbesserung der Verbindung dea Königahausea mit Hannover wurde 1816 Herzog Adolph Friedrich von Cambridge (1774-1850; 1. Rothert, in: AHB D 20 ff.), ein jüngerer Bruder des Königs, ala Generalgouverneur eingesetzt. Er überließ dem Ministerium weitgehend die Leitung der Regierungsgeschäfte (s. E.R. Huber DtVertU D 86. - Vgl. auch Erler, Art. Geheimer Rat, in: HRG I 1442 ff.; Herberger, Art. Minister, Ministerium, in: HRG m 572 ff.; und den., Art. Ministerverantwortlichkeit, in: HRG m 578). Praktisch lag deren Vollzug in den Händen des Außen- und Finanzministere Franz Friedrich v.

38

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

Es erwies sich in Frankreich nach 1814 allerdings als unmöglich, den in der Revolutionszeit unter Gewaltanwendung zustandegekomrnenen strukturellen Wandel des politischen Systems und die Emanzipation der Individuen aus überholten Bindungen wieder rückgängig zu machen. König Ludwig XVIII. (1755-1824) erließ deshalb 1814 eine geschriebene Verfassung mit einer Aufzählung allgemeiner bürgerlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte, die •charte Constitutionelle•.25 Diese Verfassung sprach zwar die souveräne Gewalt grundsätzlich dem König zu, beteiligte aber eine Volksvertretung an der Ausübung der Staatsgewalt. Diese bestand nach englischem Muster aus einer Kammer der bevorrechtigten und erblichen Notabien und einer zweiten Kammer indirekt aus dem Volk gewählter Abgeordneter, die infolge eines hohen Steuerzensus jedoch praktisch ausschließlich das Besitzbürgertum repräsentierte. Die Charte Constitutionnelle wurde in der gesamten europäischen Staatenwelt, insbesondere auch in Deutschland, als vorbildlich empfunden. 26 Auch in Hannover wurde sogleich nach 1814 die Forderung nach einer solchen Verfassung erhoben. Die liberalen inhaltlichen Erwartungen an eine solche Gesamtstaatsverfassung wurden jedoch zunächst von dem Bedürfnis nach Integration der sehr verschiedenartigen Landesteile überlagert. Deshalb wurde - erstmals - eine zunächst als provisorisch bezeichnete Allgemeine Ständeversammlung für das ganze Land - und nicht nur für die jeweils einzelnen Provinzen - auf den 15. Dezember 1814 einberufen.27 Sie war vor allem als

Bremer (1759-1836; 1. Rothert, in: AHB ll 523), während der Generalgouverneur fachlich durch den Kabinettsrat August Wilhelm Rehberg (1757-1836; 1. Rothert, in: AHB ll 398 ff.) beraten wurde. Er ~elbst be~ehränkte aich überwiegend auf den Voraitz im Geaamtministerium (s. E.R. Huber DtVertU ll 86; Klein, in: DVG ll 686 f.). 25 Bei F. Ponteil, Les institutiona de Ia France 1814-70 (1966), S. 85. 26 S. Menger, VertU, RN 238; Stolleis, Ge~ehichte ll 102 f. 27 Die Provisorische Ständeveraammlung sollte in zunächst nur einer einheitlichen Kammer aus 8 Prälaten, 48 Vertretern der ProvinzialritteriChaften, 38 Vertretern der Städte sowie S Vertretern der freien Bauern bestehen. Die Abgeordneten waren von den Ständen der jeweiligen Provinziallandtage zu enliCnden, die 1813114 wiederhergestellt, wenn auch noch nicht wieder einberufen worden waren. In ihnen hatte größtenteils der Adel ein starke• Übergewicht. Nur.die ostfriesi~ehen Provinzialstände wieiCn traditionell eine Vertretung der freien Bauern auf (dazu 1. v. Ha~~ell, Ge~ehichte I, 174 ff.). - Die Ständeversammlung tagte zunächst im Königlichen Schloß zu Hannover. Sie zog 1819 in das Haus der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft in der Osterstraße in Hannover um, das 1831 vergrößert und 1845 von ihr zu Eigentum erworben wurde (s. Lehzen, Staatshaushalt ll 57 ff.).

m. Die Verfassungslage von 1814

39

erster Schritt zur Vereinheitlichung der verschiedenen Landesteile im Sinne parlamentarisch-repräsentativer Integration28 gedacht. Von Anfang an stießen die Bemühungen der hannoverschen Regierung um eine Integration der heterogenen Teile des Königreiches, insbesondere um ein zweckmäßiges und gerechtes Steuersystem, in der Allgemeinen Ständeversammlung jedoch auf Widerstand. Der Adel bestand mit seiner hergebrachten dominierenden Stellung beharrlich auf Beibehaltung seiner überkommenen Rechte. Es bildeten sich alsbald - wie auch in den meisten anderen deutschen Ständeversammlungen der Zeit29 - zwei große parlamentarische Parteien, die sich vonjetzt an bis noch über 1848 hinaus gegenüberstanden.30 Zum einen formierten sich die hannoverschen Liberalen, bestehend maßgeblich aus städtischen Abgeordneten, darunter vielen Advokaten. 31 Ausgangspunkt ihrer politischen Forderungen war die Philosophie der Aufklärung mit dem Kernpostulat individueller Freiheit. Nach der liberalen Lehre vom "Doppelstatus der Einzelperson "32 korrespondierten den staatsbürgerlichen Hauptpflichten die staatsbürgerlichen Hauptrechte: Kommunale Selbstverwaltung, Schwurgerichte und Wahlrecht. Der Staat sollte sich nach liberalem Verständnis darauf beschränken, das unerläßliche Minimum an Rechtssicherheit für den einzelnen zu gewährlei28 Zur Begriffiichk:eit 1606 ff.

1.

Hardtwig, Vonnän, S. 51; Krause, Art. Gesetzgebung, in: HRG I

29 S. Menger, Ver«i, RN 237 ff.

30 Der Streit setzte aich in der apäteren zweikammerisen hannovenchen Ständevenammlung

in der Weise fort, daß die Adelapartei die apätere Ente Kammer faktiach völlig behernchte, während die Liberalen in der zweiten Kammer zunehmend Anhänger fanden (1. E.R. Huber, DtVer«i U 84 ff.).

31 Einer ihrer bedeutendsten Führer wurde nach seinem Eintritt in die 2. Kammer 1824 JobaM C.B. Stüve (1798-1872), Abgeordneter fiir die Stadt Oanabrilck (über ihn a. Rothert, in: AHB U 480; Kühne, in: leserich/Neuhaus (Hg.), Peraönlichk:eiten, 159 ff.; Röhrbein, Wegbereiter, S. 23 ff.; 1 . zu den seine Anachauungen atark prägenden partikularen Beaonderheiten Oanabrilcka Wriedt, Art. Oanabrilck, in: HRG 1325 ff.). Stüve war, beeinflu8t durch Friedrich DahlmaM und Julltua Möser Anhänger einer norddeutachen, gemäßigten Richtung dea Libenliamua (vgl. Pbilipp, Art. Möser, Justus, in: HRG m 105 ff.; Röhrbein, Wegbereiter, S. 9 ff.; Oll, Anachauungen, paaaim) und trat daher fiir eine maßvolle Reform im Inneren bei fortbestehender, aber konatitutionell gebundener Monarchie ein. Aodera als die meisten aüddeutachen Liberalen legte er gro8ea Gewicht auf die evolutionäre, "organiache" Weiterentwicklung der hillklriach gewachsenen Strukturen, wobei ea ihm auf die Erhaltung regionaler und kommunaler Selbstverwaltung beaondera ankam. Mit dem Eintritt Stüves in die Zweite Kammer venchärfte aich der Kampf zwiachen der Reformpartei und der Adelapartei, zunächst beaondera heftig in der Frage der Bauernbefreiung (a. E .R. Huber DtVeriO U 84 ff.; 87).

m

32 S. E.R. Huber, DtVer«i U 378.

40

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

sten. Es wurde em repräsentativer Verfassungsstaat mit Gewaltenteilung33 gefordert, der durch einen Grundrechtskatalog zu beschtänken war, den die Aufklärung vorwiegend aus der menschlichen Natur abgeleitet hatte. 34 Hinzu kam die spezifisch deutsche staatsrechtliche Tradition des Rechtsstaatsgedankens, wonach das Recht soweit wie möglich die staatliche Macht zu ersetzen und zu beschränken hatte. 35 Die Übertragung der Ausübung der Rechtsprechung auf unabhängige Gerichte, die Mitwirkung von Laien als Geschworene in den Gerichten bei schweren Strafsachen, sowie die bereits durch die Revolution im französischen Strafverfahren bewirkte Trennung von verfolgendem und urteilendem Organ und die Einrichtung der Staatsanwaltschaft als öffentliche Anklagebehörde wurden vom liberalen deutschen Bürgertum als vorbildlich empfunden und der "Anldageprozeß" sogleich zur politischen Forderung erhoben. 36 Bereits in den ersten Sitzungen der Allgemeinen Ständeversammlung 1814 etwa forderte die hannoversche liberale Partei auch eine Justiz- und insbesondere Strafprozeßreform, die jedoch ausdrücklich erst auf die Einführung von Geschworenengerichten und Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen abhob, während von den weiteren liberalen Forderungen nach Anldageprozeß und Staatsanwaltschaft noch explizit keine Rede war.37 33 Charlea Louia de Secondat, Baron de Ia BReie et de Monte~quieu (1689-17SS), hatte zur Begründung aeiner Forderung nach Gewaltenteilung u.a. ausgeführt: "EI gibt ... keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt illt. bt aie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, 10 wire die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre aie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, 10 würde der Richter die Macht eines Unterdrücken haben" (Vom Geilt der Geactze (1749), Xl6 (S. 200)). Auch lmmanuel Kant (1724-1804) hatte aich dieacr Lehre angeschloaacn: "Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d.i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Penon (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der dea Geaetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der dea Regieren (zu Folge dem Geaetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Geiletz), in der Penon dea Richten (poteatas legislatoria, rcctoria et iudicaria) ... • (Die Metaphyailc der Sitten (1797198), § 4S (S. 431)). 34 Dazu a. eingehend Bcmhardt, Art. Grundrechte, in: HRG 11844 mwN.) . 35 S. Hardtwig, Vormirz, 143; Stolleia, Art. Rechtslltaat, in: HRG IV 367. 36 S. Buchda, Art. Anlclage, in: HRG 1171, 174. 37 S. Kurze Übersicht der Verhandlungen des Enten allgemeinen Landtaga, Abschn. V, S. 78. - EI liegt angesichts der schlagwortartigen Verwendung der Begriffe Öffentlichkeit und Geschworene in dieacr frühen Phaac der Refonndebatte, namentlich auch vor dem Hintergrund des zeitgleichen "Kampf• um daa Rheinische Recht", jedenfalls nicht völlig fern, daß dieac Begriffe als synonym mit den fnnzösischen Prozeßelementen insgesamt verstanden wurden. Demnach wäre in die Forderung nach Öffentlichkeit und Geschworenen möglicherweise auch die Forderung nach Mündlichlceit 10wie einer Staatsanwaltschaft im Sinne dea fnnzösischen m.p.

m.

Die Verfassungslage von 1814

41

Diesen progressiven Kräften gegenüber stand die Adelspartei, unterstützt vor allem von Seiten der Rittergutsbesitzer.3B Sie lehnte sowohl eine zu weitgehende Vereinheitlichung des Staates als auchjeden Übergang zu einem liberal-konstitutionellen System entschieden ab.39 Am Widerstand der Konservativen scheiterten zunächst die meisten liberalen Reformbestrebungen, auch die nach einerneuen Gerichtsverfassung. 1818 gelang es vielmehr der Adelspartei, die Wiedereinberufung der altständischen Provinziallandtage40 - •des Herdes des feudalen Partikularismus•4l - durchzusetzen. incidenter hineinzulesen. Zu bedenken ist dabei allerdings, daß es zeitgleich in der Literatur sehr wohl auch Stimmen gab, die die Strafprozeßrefonn mit der Einführung nur einzelner liberaler Elemente bewenden lassen wollten. 38 Führer der Adelspartei war Eduard Frhr. v. Schele (1771-1844; s. v. Hasscll, Geschichte I 191 ff.), ein Neffe des Grafen Münster. Er war während der Verfassungskrise 1837-1844 der leitende Kabinettsminister (s. E.R. Huber DtVerfO 1186, 94; Behr, Schele, passim).

39 S. E.R. Huber DtVerfO II 86. - Die "altständisch-konservativen" Adelsvertreter in der Ersten Kammer um Schele wandten lieh sowohl gegen eine liberal-bürgerliche Reform als auch gegen einen reformierten, rationalistisch-zentralistisch arbeitenden Staatsapparat und alle absolutistischen Tendenzen des Monarchen, die beide zu Lasten der Befugniasc der von ihnen traditionell dominierten Provinzialstände gehen mußten (1. Hardtwig, Vonnärz, S. 162). Insoweit bildeten sie sogar hin und wieder, "beßügelt von der Idee der Rechtswahrung gegen Monarch und Bürokratie", Zweckkoalitionen mit liberalen Abgeordneten (s. Boldt, VerfO D, 76 f.). Ausgehend von den beiden Kernbegriffen "Tradition" und "Legitimität" sowie einer radikalen Ablehnung der Französischen Revolution, die man mit Schreckens- und Alleinherrschaft gleichsetzte, veratanden die altäindischen Konservativen den Staat als eine Art große feudale Grundherrschaft mit dem Monarchen als durch unvordenkliche Machtausübung und göttliche Einsetzung gleichermaßen legitimiertem "Hausvorstand" (zum zentralen Begriff des Hauses im Rechtsdenken der Zeit 1. Schulze, Art. Hausherrschaft, in: HRG I 2030 ff.). Entsprechend wollten sie zu Grundsätzen der vorabsolutistischen Feudalgesellschaft zurückkehren. Eine versachlichte oder verrechtlichte Beziehung des Einzelnen zum Staat wurde abgelehnt. Jegliche Staataomnipotenz war von Übel und bedurfte der Kontrolle der durch Geburt legitimierten Stände. Der Einzelne sollte dementsprechend seine Orientierung primär in dem seinem "Haus" entsprechenden Kreis- oder Provinzialstand finden. Hiertür erschien eine Monarchie mit geburtaatändischen Beratungs- und Kontrollrechten als die gccignetate Staatsform (1. Hardtwig, Vonnärz, S. 164). In den seit Jahrhunderten organisch gewachsenen- legitimen und tradiertenRechtszustand des Staatea sollte im übrigen trocz Widenprüchlichkeiten nicht wiUitürlich eingegriffen werden. Der Staat verletzte aus dieser Sicht die göttlich sanktionierten Grundlagen seiner Ordnung, wenn er über bloße Rechts(be}wahrung, -Wiederherstellung und punktuelle Besserung hinaus aktive Rechtsgeataltung, neue Rechtssetzung, betrieb (ebd.).

40 Die Provinziallandtage waren "altständische" Vertretungen, d.h. solche, die vom Grund· gedanken geburtaatändischer Privilegierungen ausgingen (s. Hardtwig, Vonnärz, 21 ; zu den Einzelheiten a. Scheel, in: DVG 1761 ff.; Reinicke, Landstände, paaaim, jew. mwN.). 41 Treitschke, DtGeschichte m S33. -Auch in den Provinziallandtagen hatte die Vertretung des Adels regelmäßig ein erdrückendes Übergewicht. - • Acht Provincialständeveraanunlungen tagten neben dem allgemeinen Landtage. In diesem unfönnlichen Körper hatte der nicht einmal stark begüterte Adel die Oberhand, welcher auch in Abwesenheit des 'unsichtbaren Königs' alle höheren Staatsämter thataächlich zum Monopol gemacht hatte und so den Staat oligarchisch be-

42

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

IV. Die Verfassungsgesetze Hannovers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1. Die Landesverfassung von 1819

Die Vielfalt- •das verfilzte Durcheinander•42- der hannoverschen Territorien mit ihren jeweiligen Provinziallandtagen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen hatte erhebliche regionale Gegensätze mit sich gebracht, wobei namentlich die auf dem Wiener Kongreß hinzuerworbenen Landesteile auf ihren Eigentümlichkeiten beharrten. 43 Es lag deshalb aus der Sicht des Königs nahe, wegen •der durch die Wiener Congreß- und Deutsche Bundes-Acte bestimmten Vereinigung der vormals getrennten Provinzen zu einem Königreiche• und •tJer nach Auflösung des Römisch-Deutschen Reichs an die Farsten desselben abergegangenen Souverainetiits-Rechte• eine •bleibende allgemeine Stiinde-Versammlung zusammen zu setzen•44 , um zum allgemeinen Wohl •die Bande der Einigkeit und des gegenseitigen Vertrauens zwischen allen Theilen des Königreichs immer enger zu knapfen •. 45 Er erließ daher durch Königliches Patent vom 7. Dezember 1819 das erste hannoversche Verfassungsgesetz (LVerf 1819). Der König hatte sich entschlossen, die Verfassung •anzuordnen undfestzusetzen •. Auch wenn er zuvor der Provisorischen Allgemeinen Ständeversammlung den Entwurf in seinen Grundzügen mitgeteilt und dazu "deren Ansichten vernommen •, auch Änderungswünsche berücksichtigt hatte, sah er die Verfassung nicht etwa als Gegenstand einer Vereinbarung zwischen Monarch und Landständen an, sondern als eine einseitige hoheitliche Gewährung, in der er sich jedoch freiwillig Begrenzungen auferlegte. 46

herrschte und ausbeutete. Solche Zustände riefen endlich sogar in diesem konservativen niedersächsischen Stanune eine gährende Unzufriedenheit wach. • (Schulze, Staatsrecht I 119). 42 Treitschke, DtGeschichte m 534.

43 S. v. Hassen, Geschichte I 191 ff. 44 S. LVerfv. 07.12.1819, Präambel (GS I 135).

45 Ebd. Ziff. 8 Abs. 2

46 Ebd., Präambel; vgl. Stollcis, Geschichte D 100.

IV. Die hannoverschen Verfassungsgesetze

43

Beharrte der König mithin einerseits auf seiner Grundauffassung von einem gottgegebenen, erblichen Herrschaftsamt, hatte er sich andererseits in seiner durch die Französische Revolution tief verunsicherten Herrschaftsstellung doch veranlaßt gesehen, dem Zeitgeist Konzessionen zu machen. Das "konfliklliJsende und zugleich verschleiernde" (Stolleis) "monarchische Prinzip", das von den Gegnern jeder Verfassungsbindung des Monarchen absolutistisch gedeutet wurde, während es von den BefüiWortem einer konstitutionellen Monarchie als variables "Prinzip" im Sinne einer konstitutionellen, auf Machtteilung angelegten Kompromißformel verstanden wurde47 , lag auch in der Folgezeit der gesamten hannoverschen Verfassungsentwicklung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugrunde.48 Abgesehen von der spezifischen hannoverschen Integrationsnotwendigkeit waren die deutschen Bundesstaaten auch nach Art. 13 der Bundesakte ausdrücklich verpflichtet, landständische Verfassungen zu schaffen, ohne daß dieser Begriff jedoch bundesrechtlich näher bestimmt worden wäre. 49 Es war die erklärte Absicht des Königs, sich im Rahmen der Bundesverfassung zu halten und weder eine demokratische Repräsentation des Volkes neu einzuführen, noch eine Vertretungskörperschaft altständischen Stils wiederherzustellen: Einerseits wollte er keine "neu auf Grundsatze, welche durch die Erfahrung noch nicht bewahrt sind", gebaute Verfassung erlassenSO, andererseits sollten die Mitglieder der Ständeversammlung "ohne ... Racksichten auf ihr persiJnliches oder particulaires Interesse . . . nur das Wahre Beste des Landes vor Augen haben •S I.

47 S. dazu und zur Berechtigung der Bezeichnung des monarchischen Prinzips im Verständnis eines Teilader Lit. dea 19.lhdta. als "Kompromißformel" eingehend Stolleis, Geschichte ll 102 ff. (lOS); Boldt, Staatalehre, S. IS ff.,jeweila mwN.

48 S. StoUeis, Geschichte D 102 ff. 49 Art. 13 DBA: "In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden• (bei Boldt, Reich und Under, S. 196, 20S). Der Bund hatte es mit Rücksicht auf die Autonomie seiner Mitglieder absichtlich vermieden, diese Regelung bestimmter zu fassen. Die öffentliche Meinung dea Vormirz ventand sie als Verpflichtung der Under, repräsentative Volksvertretungen zu schaffen, wihrend die Reaktion die landständische von der repräsentativen Verfassung untenchied und Art. 13 als bundesrechtliches Verbot von Repräsentativverfassungen deutete. Eine Einigung über eine entsprechende authentische Interpretation kam jedoch nicht zustande (a. E.R. Huber, DtVerfti I 640 ff.).

SO LVerf 1819 Ziff. 6. SI Ebd. Ziff. 8 Aba. 2.

44

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

Gleichzeitig behielt er sich aber eine Verfassungsänderung für den Fall vor, daß dieseinfolge "einer weiteren authentischen Auslegung" des Art. 13 DBA erforderlich würde. 52 Der Status der Provisorischen Ständeversammlung von 1814, die jetzt auch nominell zu einer endgültigen "Allgemeinen" Ständeversammlung wurde, wurde durch die Landesverfassung von 1819 sehr wesentlich verändert. An die Stelle der bisherigen einen Kammer der Provisorischen Ständeversammlung trat, als Kompromiß zwischen dem alten geburtsständischen Ständestaat und dem neuen Repräsentativsystem englischer und französischer Prägung mit gewählten Abgeordneten, jetzt ein Zweikammersystem. 53

Die Erste Kammer - informell auch Herrenhaus oder Oberhaus genannt54 bestand aus Standesherren55, hohen Staatsbeamten und Geistlichen sowie Vertretern der Ritterschaft. 56 Ihre "altständischen" Angehörigen hatten ihren Sitz inne durch Geburt, kraft hohen Staats- oder Kirchenamts oder aber durch landesherrliche Ernennung. 57 Schon aufgrund dieser Zusammensetzung herrschte in der Ersten Kammer eine konservative Gesinnung vor.5 8 In ihr hatte die Adelspartei ihre Hauptstütze. 59 52 Ebd. Ziff. 8 Abs. 1. 53 Art. I LVerf 1819. - Das

Zweikammersystem war seit 1816 bereits in einer Reihe von deutschen Mittclstsalcn eingeführt worden (vgl. E.R. Huber DtVerfO D 86; v. Arctin, Art. Konltitutionelle Monarchie, in: HRG D 1122 ff.; v. Rcden-Dobna, Art. Landständische Verfassungen, in: HRG D 1578 ff.; Neusscr, Art. Dualismus, lllindischer; in: HRG 1787 ff.).

54 Mußgnug, in: DVG D 106. 55 Die Standesherren waren 1815 mediatisierte, vormals reichsunmittelbare Fürsten, die als

Entschädigung für den Verlullt ihrer vormaligen eigenlllindigen Herrschaftarechtc eine verfassungsrechtliche Vorzugsstellung erhielten, nämlich für Hannover der Herzog von ArcnbergMeppen, der Herzog von Looz-Corswaren, die Grafen von Bentheim und von Stallberg (1. Art. I LVerf 1819 samt Verzeichnislit. A; vgl. auch Hardtwig, Vormärz, S. 58).

56 Die Deputierten der Rittcrschaften waren persönlich weitgehend urbanisiert, d.h., aie lebten in den Städten von den Einträgen ihrer Ländereien (1. Treue, Wirtschaft, S. 8). - Die erste Kammer .olltc entsprechend dem englischen VerfaAUngadenkcn ein politische. Gegengewicht zur Abgeordnetenkammer bilden - was sie hier wie in den mciltcn anderen Staaten dann auch vielfach im Übermaß tatsächlich war (Hardtwig, Vormärz, S. 58). An diesem Zuaammensetzungsmodus von Erster und Zweiter Kammer zeigt aich, daß es aich gerade nicht um eine "funktionaständische"- neulllindische- , .ondem weiterhin um eine geburtsständisch ausgerichtele- altständische-Verfassunghandelte (vgl. Hardtwig, Vormärz, S. 58). 51 Wegen der weiteren Vorau~&ctzungen des passiven Wahlrechts 1. Art. 3 LVerf 1819. 58 S. Mußgnug, in: DVG D 106. 59 Die Adelspartei bildete jetzt mit ihren 26 Stimmen in der Ersten Kammer einen Block, der allen Reformforderungen regelmäßig geschlossen widersprach (s. Kolbfreiwea, Beiträge, S . 214 ff.) . S. a . Treitschke, DtGeschichtc m 540: "Da der welfische Adel niemals einen bür-

IV. Die hannoverschen Verfassungsgesetze

45

Die Zweite Kammer - informell Unterhaus oder VolkskammerhO - bestand vor allem aus Vertretern der Städte, außerdem der geistlichen Stifter und der Universität Göttingen sowie aus Abgeordneten der freien Bauern.61 Die Ständeversammlung sollte in allen das ganze Königreich betreffenden Fragen nach Maßgabe der Verfassung an der Ausübung der Staatsgewalt mitwirken, insbesondere bei der Bewilligung und Verwaltung von Steuern. 62 Neu zu erlassende Landesgesetze dagegen sollte sie lediglich beraten; aber in diesem Rahmen konnte sie dem König auch ihre Vorstellungen vortragen. 63 Die in der Landesverfassung von 1819 zum Ausdruck kommende Erwartung, daß sämtliche, nämlich "die in beiden Cammern versammelten Stände" die ihnen obliegenden Pflichten umfassend, "in ihrem ganzen Umfange erkennen" sollten, damit sie getreu ihrem Eid allein dem Gemeinwohl dienten, mit dem Ziel, "die allgemeine Zufriedenheit immer mehr und mehr zu befördern ~4 deutet auf die Absicht hin, auch grundlegende Reformen durchzusetzen.

gerliehen Rittergutsbesitzer in die Erste Kammer wählte, so war hier das adelige Standesinteresse so einaeitig und ausschließlich vertreten wie in keinem anderen deutschen Oberhause".

60 Mußgnug, in: DVG ß 106. 61 Art.! LVerf 1819 aamt Verzeichnis, lit. B. - Die Deputierten der Städte waren von den Magistraten nach regional von Stadt zu Stadt durchaus unterschiedlichen Wahlmodi gewählt.

62 Die Ständeveraammlung sollte im Weaentlichen dieaelben Rechte ausüben, "welche früherhin den einzelnen Provinzial-Landschaften ... zugestanden haben", nämlich die Teilhabe an der Steuerbewilligung und die daraus abgeleiteten Befugnisse (Art. 6 LVerf 1819). Auf das Steuerbewilligungsrecht kam es jeweils dann an, wenn die Einkiinfte aus dem königlichen Kammergut nicht ausreichten, die Verwaltungskosten des Landes zu bestreiten. Es gab herkömmlich den Königlichen Kammerfiskus, in den die Einnahmen des Kammergutes flossen, daneben aber den staatlichen Fiskus, der auf den Steuerbeiträgen beruhte, und an desaen Verwendung die Stände Anteil hatten (s. Schulze, Lehrbuch, I 198 ff., 447). 63 Art. 6 LVerf 1819. Für Fragen, "welche nur die eine oder die andere Provinz angehen", blieben die Provinziallandtage zuständig. -Der aeit 1813 an dem Neuaufbau des hannoverschen Staatea maßgeblich beteiligte Geheime Kabinettsrat August Wilhelm Rehberg (1757-1836) war der eigentliche Träger der Politik der Umformung der heterogenen hannoverschen Landesteile zu einem Einheitastaat. Er hatte auch an der Landesverfassung von 1819 bedeutenden Anteil. Rehberg war ein Gegner des "traditionsloaen Rationalismus" der Französischen Revolution und ein Befilrworter der englischen Verfaasung. Er wurde 1820 durc:h die bann. Adelsoligarchie geatürzt (a. E.R. Huber, DtVertU ß 85 f. mwN.). Mit dem Sturz des liberal gesinnten Rehberg wurden auch die bereita von König Geoi'J m. von Großbritannien und Hannover im 18. Jhdt., eingeleiteten Verbesserungen der hannoverschen Agrarstruktur und die in Angriff genommenen Umwandlungen der bäuerlichen Hand- und Spanndienste in Geldleistungen für ein Jahrzehnt unterbrochen (s. Scheel, in: Haase (Hg), Niederaachsen, 75 f.; E.R. Huber, DtVerro ß 85 f.). 64 LVerf 1819, Ziff. 8 Abs. 2.

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

46

Die in der Ständeversammlung - wenn auch in einer durch den Zensus stark eingeschränkten Form- vertretenen Landeseinwohner sollten stärker als bisher ffir die Probleme der Allgemeinheit interessiert, der an gleicher Stelle geforderte "patriotische Eifer" durch die Gestaltung von Eigeninitiative gehoben werden. Darüber hinaus sollte der parlamentarische Betrieb mit seinem Petitions- und Beschwerdemöglichkeiten - "das Recht, aber die zu ihrer Berathung gehörigen Gegenstiinde Vorstellungen an (den König) zu bringen -65 auch ein Mittel sein, sich über die Probleme des Landes zu informieren und die königliche Verwaltung besser zu kontrollieren. Nach dieser Idealvorstellung sollte die Ständeversammlung eine Klammer zwischen dem bürokratischen Staat mit seinen gesteigerten Leistungs-, insbesondere Steueranforderungen einerseits und der in dem ausbalancierten Zweikammersystem repräsentierten Bevölkerung andererseits sein. 66 Von einer Justizreform allerdings, der von den aufgeklärt-naturrechtliehen Kräften geforderten konstitutionellen Einschränkung der monarchischen Justizhoheit, einer Garantie des gesetzlichen Richters, richterlicher Unabhängigkeit, Ausschluß der herrscherliehen Machtsprüche und Trennung von Justiz und Verwaltung, geschweige denn von Schwurgerichten und Anklageprozeß, war in der Landesverfassung von 1819 noch keine Rede. 2. Das Staatsgrundgesetz von 1833

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte allgemein eine insbesondere durch das Erstarken liberal-demokratischer Kräfte gekennzeichnete geistige Wende. In dem fortschreitenden geistigen, politischen und sozialen Entwicklungsprozeß traten auch in Deutschland in zunehmender Intensität liberale Verfassungsideen und ein idealistischer Nationalismus hervor, die einen rational konstitutierten, von freien Bürgern frei bestimmten Rechtsstaat als Vorbild hatten. Freiheit vom Staat, geregelte Sicherheit vor staatlicher Willkür, ungehinderte Individualität des Bürgers und seine Teilhabe an der Staatsmacht und Repräsentanz zum Genuß dieser Sicherheit auch durch eine auf Öffentlichkeit, Anklageverfahren und Schwurgerichten orientierte Rechtspflege waren Gegenstand der dringlichen Forderungen, die unter dem Einfluß von Profes65 Ebd. Ziff. 6. 66 S. Boldt, VerfO D 55 ff., 15.

IV. Die hannoverschen Verfassungsgesetze

47

soren durch die akademische Jugend, insbesondere die Burschenschaft, und das aufstrebende Bürgertum mit großer Entschiedenheit, in Einzelrallen sogar unter Gewaltanwendung, geltend gemacht wurden. 67 Schon die "Grundsätze der Wartburgfeier" der Burschenschaft von 1817 hatten u.a. diese Grundsätze enthalten und als deren Bestandteile namentlich auch Öffentlichkeit der Rechtspflege und Einführung von Schwurgerichten aufgeführt. 68 Diese Aktivitäten gaben Anlaß für die vor allem gegen die Burschenschaft und "ultraliberale" Universitätsprofessoren sowie eine uneingeschränkte Pressefreiheit gerichteten Karlsbader Beschlüsse, die im August 1819 von den Regierungen der •vertrauenswürdigsten Staaten • des Deutschen Bundes - darunter Hannover- gefaßt und am 20. September 1819 vom Bundestag in der allgemeinen Revolutionsfurcht der Höfe einstimmig sanktioniert wurden. 69 Das System der Karlsbader Beschlüsse wurde für Jahrzehnte zu einem Instrument der Unterdrückung der liberalen und nationalen Bewegung und wirkte sich auf das politische Leben in Deutschland lähmend aus. 70 Es sollte sich jedoch auch in der Folge zeigen, daß die Ideen der französischen Revolution des Jahres 1789 keineswegs bintällig geworden waren. Auch die weitere Entwicklung insbesondere der hannoverschen Verfassungsgeschichte ist weder ausschließlich aus sich heraus, noch allein aus der gemeindeutschen Verfassungsgeschichte, sondern nur unter Berücksichtigung des ganzen Buropa verständlich. Sie unterschied sich zwar von den Geschichten der anderen europäischen Staaten, stand aber in engem Kontakt mit ihnen. Sie haben aufeinander eingewirkt, so daß sie sich auch wieder annäherten und einander ähnlich geworden sind. Eine schlüssige Darstellung der hannoverschen Verfassungsentwicklung kommt daher nicht ohne Einbeziehung dieser gesamteuropäischen Verflochtenheit aus. 71

67 S. dazu Kramer, Art. Altenldassenverbände, in: HRG 1137; eingehend Hardtwig, in: HZ 242 (1986), S. SBI ff.; JarauiiCh, Deutache Studenten, S. 37 ff.,jew. mwN. 68 S. Hardtwig, Vormärz, S. 12; Sellert, Art. Schwurgericht, in: HRG IV 1581 ff.; ders., Art. Stnfproze8 D, in: HRG IV 2035 ff. 69 S . Erler, Art. Demagogenverfolgung, in: HRG I 677 ff.; Sellert, Art. Karlabader Be11Chlüsse, in: HRG D 6S I. 70 Schieder aaO. S. 26 ff.; Mann, WeltgeiiChichte VID S. 367 ff. 71 S. Hattenhauer, EuropäiiiChe Rechtsgeschichte, S. 2 ff.; Coing, Handbuch I, S. VD ff.

48

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

Dabei sind die Entwicklungen in folgenden drei anderen, durch eine besondere Dynamik geprägten oder mit Hannover dynastisch eng verbundenen Staaten von besonderer Bedeutung: -In Frankreich errangen 1828 die Liberalen, die zwar in der Ständeversammlung machtlos waren, aber durch ihre Presse die Revolution wieder populär gemacht hatten, einen bedeutenden Wahlsieg. Die Debatten in der französischen Zweiten Kammer fanden jetzt in ganz Buropa Widerhall. Als die von König Karl X. (1757-1836)72 neu ernannte Regierung am 26. Juli 1830 durch fünf Notverordnungen ("Ordonnancesj die gewählte Deputiertenkammer auflöste, das Wahlrecht zu Lasten der Liberalen verkürzte und die Pressefreiheit aufhob, führte dies zu einem Aufstand in der Stadt Paris, in dessen Verlauf die Aufständischen nach Barrikadenbauten in den Straßen am 29. Juli 1830 die öffentliche Gewalt in der Stadt ergriffen und den König vertrieben. Dem Gedanken an eine Republik zogen die politischen Führer jedoch die Erhaltung der Monarchie vor und empfahlen Herzog Louis Philippe von Bourbon-Orleans (1773-1850) als Staatsoberhaupt. Die liberalen Deputierten der aufgelösten Kammer bildeten darauf unter entsprechender Anpassung der Verfassung von 1814 ein Rumpfparlament, das Louis Philippe zum König proklamierte. Damit war die bisherige Erbmonarchie durch eine Wahlmonarchie ersetzt, die bereits nach ihrem Wesen die selbständige Natur der monarchischen Gewalt einschränkte und zu einer politischen Suprematie der Volksvertretung tendierte.73 Louis Philippe hieß daher nicht mehr "König von Frankreich", sondern "König der Franzosen". Er sollte als "Bürgerkönig" von republikanischen Institutionen umgeben und durch das Parlament in seinen Machtbefugnissen stark eingeschränkt sein, aber doch an den Regierungsgeschäften aktiv teilnehmen und die Politik der Deputierten gegenüber der Wählerschaft mitvertreten. 74 -In England brachen unter dem Einfluß der französischen Julirevolution 1830 Unruhen aus, die gleichfalls auf gesetzliche Einschränkungen der 72 Er war seinem ohne legitime Erben verstorbenen Bruder Ludwig XVID. 1824 auf den Thron gefolgt. 73 Vgl. Jellinek, Staatslehre, S. 961 f. 74 S. Mann, Weltgeschichte Vill S. 382 ff., 413 ff., 435 tT.

IV. Die hannoverschen Verfassungsgesetze

49

Presse- sowie der Versammlungsfreiheit und des Habeas Corpus von 1819 zurückzuführen waren. Die gegen die Regierung aufgebrachte öffentliche Meinung führte hier zu einem Machtwechsel von der aristokratisch-konservativen zu der liberalen und reformfreudigen Partei. Unter dem Einfluß eines wirtschaftlieb erstarkten oberen bürgerlieben Mittelstandes wurden im Wege der Parlamentsreform - verbunden mit einer Neuverteilung der Mandate zugunsten der aufstrebenden Industriestädte und einer Verdoppelung der Zahl der Wahlberechtigten - 1832 während der Regierung König Wilhelms IV. von Großbritannien und Hannover (1765-1837) die alten Einrichtungen an die neuen Verhältnisse angepaßt. 75 - In Braunschweig hatte sich der dem britisch-hannoverschen Königshaus nahe verwandte Herzog Kar! II. (1804-1873) nach seinem Regierungsantritt 1823 geweigert, die von seinem Vormund König Georg IV. von Großbritannien und Hannover (1762-1830) eingeführte gemäßigt-liberale Verfassung von 1820 anmerkennen, wogegen die Stände Klage beim Bundestag erhoben hatten. Noch vor einer Entscheidung kam es am 7. September 1830 zu einer von Adel, Militär und Beamtenschaft mitgetragenen Volkserhebung, in deren Verlauf der Herzog vertrieben und das Residenzschloß in Brand gesteckt wurde. An die Stelle Karls II. trat auf Veranlassung des Bundestages noch in demselben Jahr mit Zustimmung der welfischen Agnaten sein jüngerer Bruder Wilhelm (1806-1884). Dessen Regierungsübernahme wurde von der Bevölkerung begrüßt. Die Regierung des neuen Herzogs leitete in der Folgezeit zusammen mit den auch bürgerlichen und bäuerlichen Landständen zu einer regen gesetzgebensehen Tätigkeit in einer liberalen Staatsordnung über. 76 Diese revolutionäre Entwicklung in ganz Europa, überall von den bürgerlichen Schichten getragen, wirkte sich auch in Hannover aus. Auch hier forderte der bürgerliche und bäuerliche Mittelstand weitere Teilhabe an Macht und Verantwortung. 77 Ende Dezember 1830 verlangten in Osterode liberal gesinnte Advokaten unter dem Beifall der Bevölkerung eine am französischen Recht orientierte neue hannoversche Verfassung, wobei König Wilhelm IV. mit dem Bürger15 S. Mann aaO. S. 384 ff., 419 ff. 16 S. v . Hassell, Geschichte 1293; König, in: Haase (Hg), Niedersachsen, S. 111 f.; Schieder aaO. S. 47 f. mwN. 11 S. etwa Gans, Über die Verarmung, passim. 4 Knollmann

50

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

könig Louis Philippe gleichgesetzt wurde. 78 Ein am 5. Januar 1831 eingeleiteter Aufstand mit einem revolutionären Gemeinderat und einer Bürgergarde wurde unter Einsatz des hannoverschen Militärs unterdrückt. Wenige Tage darauf, am 8. Januar 1831, stürmte unter der Führung einiger jüngerer Privatdozenten eine Gruppe von Studenten und Bürgern das Göttinger Rathaus, zwang das Militär zum Abzug und übte die öffentliche Gewalt in der Stadt aus. Erst nach einer Woche gaben die Aufrührer unter dem Eindruck der überwältigenden Übermacht des hannoverschen Militärs - um Göttingen herum war die Hälfte der Armee in einer Stärke von 7000 Mann konzentriert worden- ihr Vorhaben kampflos auf.79 Die hannoversche Regierung erkannte, daß diese regional begrenzten Aufstände das Ziel •eines ganzliehen Umsturzes der bestehenden Verfassung durch Organisation eines allgemeinen Volksaufstandes hatten •, und unterschätzte die Bedeutung der konstitutionellen Bewegung für das ganze Land nicht.80 Die Bürger forderten ein demokratisches Wahlrecht, die Bauern drängten allgemein nach ihrer Befreiung durch Ablösung der Dienste und Zahlungen, die sie ihren Grundherren schuldeten81, für die Ständevertretung wurde die Gesetzgebungs- und Budgetgewalt sowie die politische Verantwortlichkeit der Minister postuliert. Hinsichtlich der Rechtspflege wurde die Forderung nach Öffentlichkeit und Mündlichkeil sowie Geschworenengerichten in Strafsachen laut.82 Unter dem Eindruck der Unruhen gab der in England residierende König Wilhelm IV. diesen Wünschen nach und erließ mit Zustimmung der Stände 1833 eine gemäßigt liberale Verfassung83, die- wie die Landesverfassung von 78 S. zu deren Forderungen im einzelnen König, Anklage, passim; Stüve, Lage, passim; v. Hassen, Geschichte I 295 ft'. 79 S. E.R. Huber DtVertU U 87ft'.; v. Hassen, Geschichte 1295 ft'. 80S. E.R. Huber, DtVertU U 89 mNw. 8l Vgl. dazu Winterberg, Art. Bauembefrciung, in: HRG I 325; Erler, Art. Ablölllngageactzgebung, in: HRG 110; Lütge, Art. Agrarverfassung, in: HRG 170ft'. 82 S. E.R. Huber DtVertU U 87. 83 In der behutsamen Schonung der bestehenden Verhältnisse und lnterciiCn mochte aich die Handschrift Dahlmanns zeigen, der an diesem Gesetz erheblichen Anteil hatte (1. Schulze, Staatarccht I 119 mwN.; Heimpel, in: den. u.a. (Hg), Die großen Deutschen V 236, 238). Friedrich Chriatoph Dahlmann (1785-1860) war 1829 aus Kiel als Profeuor der StaatawiiiCnschaften an die Univenität Göttingen berufen worden. Er wird dem "hiatoriach-organiachen" Flügel des Liberalismus zugerechnet, dem die geschichtlich gewordene Realität, die gegebenen

IV. Die hannovei'IIChen Verfassungsgesetze

51

1819 - weder eine neuständische noch eine demokratische Ständevertretung kannte, und nach der das monarchische Prinzip unter der entscheidenden, nicht mehr nur beratenden Mitwirkung der Ständeversammlung galt. Durch diese Verfassung entwickelte Hannover sich weiter in Richtung der verfassungsmäßigen Beschränkung der Souveränität des Monarchen. 84 Gegenstand des zwischen dem König und der Ständeversammlung gefundenen Verfassungskompromisses war - erstmalig - auch die Rechtspflege. Durch die Verfassungsbestimmungen ~Die Gerichtsbarkeit geht vom KtJnig aus und wird durch die ordentlichen Gerichte des lAndes geabt ... ~ und "Die Gerichte sind in den Grenzen ihrer Competenz unabhlingig ~85 sollte das Gleichgewicht zwischen der Justiz als königlichem Hoheitsrecht einerseits und der gesetzlichen Bindung einer unabhängigen Justiz andererseits im Sinne einer Gewaltenteilung gefunden werden. Mit der verfassungsrechtlichen Zusage ~der KtJnig verspricht, den lAuf der Rechtspflege nicht zu hemmen ... • gab dieser die Strafgewalt des absolutistischen Monarchen, der in die Justiz

Zuatinde als Ausgangspunkt und stindiges Korrektiv der politischen Reflexion diente (s. über Dahlmann eingehend Boldt, Staatslehre, S. 180 ff.; Stolleis, Geschichte D 180fT. mwN.). 84 "Grundgesetz des Königreichs" (SOG) v. 26.09.1833 (OS I 279); s. Huber, DtVerfti ll 90f.; Schieder aaO. S. 49 mwN.; vgl. Jellinek, Staatslehre, S. 699. -Für den König bedeutete der Erlaß dieser Verfassung den Verzicht auf die alleinige Verwaltung des Kammerguts (nach § 133 SOG sollten "alle aus dem Krongut und aus den Regalien aufkommenden Einnahmen ... mit den Landesabgaben . . . in eine einzige General-Caase fließen, aus welcher alle Ausgaben bestritten werden .. . "; vgl. Schulze, Staatsrecht I 199), eine fast uneingeschränkte Beteiligung der Stinde an der Gesetzeebung (§§ 85 ff. SOG; ausgenommen waren jedoch Mililirangelegenheiten, § .86 SGG) und die Einführung der Ministerverantwortung mit der Folge, daß jedenfalls theoretisch auch Rechtsverletzungen des Königs selbst bloßgelegt werden koMten (§ 151 SGG, vgl. Willoweit, Verfti, S. 211). Dies alles bedeutete eine erhebliche Einschränkung für den König auf allen Gebieten der staatlichen Tätigkeit, so daß ihm nur ein begrenzter Raum persönlichen, keiner Verantwortlichkeit unterliegenden Wirkens blieb (vgl. Jellinek, Staatslehre, S. 699). Durch Art. 57 WSA mit dem darin festgelegten "monarchischen Prinzip" (" ... muß ... die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupt des Staats vereinigt bleiben ... ") war jedoch der Konstitutionalisierur~~ eine bundesrechtliche Schranke gesetzt (bei Boldt, Reich und Linder, S. 210; 226; a. E.R. Huber DtVerfti I 651 ff.; vgl. auch Erler, Art. Finanzwesen, in: HRG I 1130 ff.). 85 §§ 9, 156 SOG. -Mit dem Ausschluß des Monsrehen von der Rechtspflege war die von Aufldärung und Vernunftrecht geforderte Unabhängigkeit dea Richters und die Realisierung des Prinzip• der Gewaltenteilung eingeleitet worden. Jedoch war die zweite Komponente des klassischen Kernbestandes der richterlichen Unabhängigkeit, die Unabsetzbarkeit (lnamovabilitit), noch nicht vollkommen erfüllt. Das SOG 1833 faßte unter den BegritT des Stsatadienen oder Staatsbeamten Soldaten, Verwaltungsbeamte und Richter gleichermaßen. Deren Ernennung und auch Entlassung gehörten grundsätzlich zu den Rechten des Königs (a. §§ 150fT.). Sie waren untei'IIChiedsloa notfalls versetzbar (§ 162), durften aber ihrer "Stelle (nicht) willkührlich entsetzt werden" (§ 163; vgl. Sellert, Art. Unabhängigkeit des Richters (der Justiz), in: HRG V 443 ff.; Conrad, in: Kleine Arbeitsreihe H. 3, S. 25 fT.). 4*

52

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

beliebig durch Machtsprüche hatte eingreifen können, unter dem Eindruck der von Aufklärung und Liberalismus geprägten Forderungen endgültig auf. 86 Durch die besonderen Vorschriften zur Lösung von Kompetenzkonflikten zwischen Verwaltungsbehörden und Gerichten durch ein paritätisch besetztes, besonderes administrativ-judizielles Gremium wurde die Verfassungsgarantie dieser Gewaltenteilung noch besonders bestärkt. 87 Von Gerichtsöffentlichk:eit, Schwurgerichten und Staatsanwaltschaft war im Staatsgrundgesetz von 1833 allerdings keine Rede.

3. Das Landesverfassungsgesetz von 1840 Am 20. Juni 1837 verstarb ohne thronfolgeberechtigte Nachkommen König Wilhelm IV. Die Thronfolge in Großbritannien trat entsprechend dem kognatischen englischen Thronfolgerecht seine Nichte Viktoria (1819-1901) als Tochter seines vorverstorbenen nächstjüngeren Bruders Eduard an. Für Hannover galt hingegen nach dem agnatischenköniglichen Hausstatut von 1836, daß weibliche Angehörige des Königshauses erst nach Erlöschen des gesamten Mannesstammes beider Linien des Welfenhauses für die Thronfolge in Betracht kamen. Demnach war in Hannover der überlebende zweitjüngere Bruder Wilhelms IV., Herzog Ernst August von Cumberland (1771-1851)88, Thronfolger. 89

Entsprechend seiner schon früher geäußerten Überzeugung von dessen Rechtswidrigkeit erklärte König Ernst August durch Patent vom 1. November 1837 das Staatsgrundgesetz von 1833 für unverbindlich, u.a. deshalb, weil es ohne Zustimmung der erbberechtigten Agnaten, deren Rechte er für beeinträchtigt hielt, erlassen worden sei, und setzte wieder den Verfassungszustand von 1819 in Geltung.90 Durch dasselbe Patent wurde auch die Allgemeine Ständeversammlung aufgelöst. 91

86 § 9 SGG 1833; vgl. Roxin, Strafverfahren.srecht, S. 9 f. 87 §§ 9, 156 SGG, s. a. Priambel, Zif'f'. 4-6; vgl. Stolleis, Geschichte D 116. 88 Zur Person Ernst Augusts a. Sellert, in: Blanke u.a. (Hg.), Die Göttinger Sieben,

S . 23 ff.; Rothert, in: AHB D 126, v. Heinemann, Geschichte D 434.

89 Vgl. Wolf,

Art. Thronfolge, in: HRG V 206 ff.

IV. Die hannoverschen Verfaasungageactzc

53

Die Protestation hiergegen durch sieben Göttinger Professoren und deren darauffolgende Dienstentlassung führten zum "Hannoverschen Verfassungskonflikt", der für Jahre zu einem Dauerthema auf dem Bundestag, in den Ständeversammlungen sowie der Publizistik wurde. 92 Dieser aufsehenerregende Streit machte allerdings auch die Grenzen dessen deutlich, was die öffentliche Meinung in Deutschland an rückwärtsgewandter Politik hinzunehmen bereit war. 93 Die liberale Bewegung gewann dadurch mittelfristig erheblich an Kraft. 1840 erließ der König eine mit den Ständen- die nach der seit 1837 wieder geltenden Landesverfassung von 1819 nur noch beratende Stimme hatten ausgehandelte neue Landesverfassung, mit der er aber nur einen Teil seiner Restaurationswünsche durchsetzte. 94 Das monarchische Prinzip im Sinne einer verbindlichen Selbstbeschränkung der königlichen Gewalt galt hiernach unverändert fort, so daß die Ständeversammlung bei der Ausübung der staatlichen Gewalt nach Maßgabe der neuen Verfassung mitwirkte. 95 Jedoch war nur bei Abgabegesetzen "das V(jllige Recht der Zustimmung• der Ständeversammlung vorgesehen, während die Stände im übrigen auf eine "Mitwirkung", nämlich "Berathung und Erkliirung", beschränkt waren.96 Die Minister waren weiterhin allein dem König verantwortlich. 97

90 "(Wir) erldären nun hiemit: daß die verbindliche Kraft des Staats-Grundgeactzcs vom 26tcn September 1833 von jetzt an erloschen aci. • (GS 1837 I 103, lOS; s. Willoweit, VertU, s. 215). 91 GS 1837 I 103, lOS; a. E.R. Huber, DtVedG 0 95. Zum Staats- und Cabinets-Ministcr ernannte der König den Freiherrn von Schele, das "Haupt der Adelspartei". 92 S. Erler, Art. Göttinger Sieben, in: HRG I 1773 ff.; Sellert, in: Blanke u.a. (Hg)., Die Göttinger Sieben, 23 ff.; vgl. die Kontroverse zwischen einerseits Dilcher, in: JuS 1977, 386 ff.; 524 ff.; den., in: JuS 1979, 191 ff.; und andererseits Link, in: JuS 1979, 191 ff. 93 Willoweit VertU S. 215. 94 Landeaverfaaungsgeaetz vom 6.8.1840 (GS 1141); a. v. Heinemann, Geschichte 0 439.

95 "Der König vereinigt als Sounnin die gesammte Staatsgewalt ungetheilt in Sich, und wird durch die landlltändische Verfaaung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden"(§ S LVerfU 1840; GS 1141), entsprechend § I SGG 1833 (GS I 286). Dieses Verfaaungl!prinzip war durch Art. 57 WSA für verbindlich erklärt worden (bei Boldt, Reich und Länder, S. 210; 226).

54

Kapitel2: Geschichtliche Grundlagen

Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Rechtspflege nach dem Staatsgrundgesetz von 1833, einschließlich der Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung, blieben dagegen nicht nur erhalten, sondern wurden entsprechend der liberalen Forderung nach dem Verbot von Ausnahmegerichtenjetzt noch ausdrücklich um den Grundsatz ergänzt, daß "niemand seinem ordentlichen Richter entzogen werden (daif) ". 98

4. Die problematischen praktischen Bedingungen der parlamentarischen Arbeit im Vonndrz Sämtliche liberalen parlamentarischen Reformbestrebungen wurden bis 1848 dadurch erschwert, daß die konservative Regierung zumeist von der Ersten Kammer unterstützt wurde. Keine der beiden Kammern der hannoverschen Ständeversammlung war indessen für sich allein handlungsfähig. Die beiden Häuser tagten zwar gleichzeitig, jedoch getrennt und unabhängig voneinander. Ein gültiger Landtagsbeschluß kam nur zustande, wenn er in beiden Kammern eine Mehrheit hatte; Anträge, die nur die Billigung einer Kammer fanden, galten insgesamt als gescheitert. 99 Kritik der Zweiten Kammer an der Regierung blieb dementsprechend häufig in der Ersten Kammer stecken.lOO Die "Gouvernementalisierung des Parlaments" wurde auch dadurch verstärkt, daß Minister und Beamte vielfach gleichzeitig dem Oberhaus angehörten. Sie waren zwar auch in die Zweite Kammer wählbar, standen aber für den Fall mißliebigen Verhaltens in der Gefahr der Amtsentlassung oder der Urlaubsverweigerung.l01

96 §§ 113 ff. LVerro 1840. 97 § 168 LVerro 1840. 98 §§ 9, 31, 169 f. LVertU 1840; vgl. Knauer, Art. Gesetzlicher Richter, in: HRG I 1620 ff. (1625). - Die Forderung nach richterlicher Unabhängigkeit wurde weitergehend durch die Bestimmung erfüllt, daß ein Richter nur noch durch "richterliches Erkenntniß" seines Amtes enthoben oder versetzt werden konnte(§ 177 LVertU 1840). 99 §§ 83, 113, 120 LVertU 1840; s. Mußgnug, in: DVG D 107. 100 S. Brosius, Bennigaen, paBSim; Mußgnug, in: DVG D 107. 101 S. Mußgnug, in: DVG D 108.

IV. Die hannoverschen Verfassungsgesetze

ss

Noch nachhaltiger behinderte die Reformer der Umstand, daß die Ständeversammlung nicht kontinuierlich versammelt war, sondern nur zusammentreten konnte, wenn der König sie einberief. Die Verfassung kannte kein Selbstversammlungsrecht des I...andtags. Überdies waren die Versammlungszeiten der Ständeversammlung kurz und die Tagesordnung regelmäßig mit den verschiedensten Gesetzgebungsfragen und Steuerangelegenheiten ausgelastet.l02 Es blieb den Ständen daher regelmäßig nur wenig Zeit für Debatten über Angelegenheiten, die sie aus eigener Initiative zum Gegenstand von Petitionen103 oder Beschwerden machen wollten.l04 Die Arbeit der Ständeversammlung wurde im übrigen auch dadurch erschwert, daß ihre Sitzungen - anders als in den Jahren der Geltung des Staatsgrundgesetzes 1833-37 - nicht öffentlich waren. Nur unvollständig wurden die Sitzungsprotokolle im Druck veröffentlicht; auch eine umfassendere Zeitungsberichterstattung fehlte. lOS Zudem hatte der König das Recht, die Ständeversammlung jederzeit zu vertagen oder sogar aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Von deren Ausgang hing es dann ab, ob sich eine parlamentarische Opposition behaupten konnte.l06 5. Das Gesetz zur Änderung des Landesverfassungsgesetzes vom 5. September 1848

Zu einer gravierenden Umgestaltung des hannoverschen Verfassungs- und auch Strafprozeß- und Gerichtsverfassungsrechts kam es erst im Gefolge der Revolution von 1848. Die in ihrer Folge eingeführten liberalen Prinzipien gingen wiederum nicht allein auf das Beispiel anderer deutscher Staaten zurück, sondern sind ein weiteres Mal nicht voll verständlich ohne einen Seitenblick auf die ihnen zugrundeliegenden Anstöße in anderen europäischen Staaten, besonders Frankreich. 102 §§ lOS ff. LVerfU 1840; s. Mußgnug, in: DVG 0 109. 103 §§ 120, 126 LVerfU 1840; vgl. Kumpf, Art. Petition, in: HRG m 1639 ff., und neuer-

dingt die Untersuchung von Mohme, Petitionsrecht, passim.

104 S. Mußgnug, in: DVG ß 109. lOS S. Rodtert, in: AHB ß 483. 106 §§ lOS, 108 LVerfU; vgl. Mußgnug, in: DVG 0 109.

56

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

a) Die französische Februarrevolution 1848 Der französische König Louis Philippe hatte mit einer Mehrheit in der Deputiertenkammer zu kämpfen, die ausschließlich die Interessen der wohlhabenden Bürger vertrat, nicht aber der im Parlament nicht vertretenen Mehrheit der Bevölkerung. Seine Schwierigkeiten wurden durch die Opposition der Anhänger des gestürzten Königs Karl X., der Anhänger der Familie Bonaparte und der Republikaner noch verstärkt, die eine allgemeine Revolutionierung Europas anstrebten. Diese Opposition bediente sich vor allem der Mittel der Massenpetitionen und der politischen Bankette, um die öffentliche Meinung gegen die auf die Kammermehrheit gestützte Regierung insbesondere wegen deren ablehnender Haltung gegen eine Erweiterung des Stimmrechts zu mobilisieren. Als am 22.Februar 1848 ein solches Bankett verboten wurde, kam es wie bereits 1830 in Paris zu Barrikadenbauten und Straßenkämpfen. In deren Verlauf dankte der Bürgerkönig ab. Plünderungen und Verwüstungen der Pariser Schlösser waren voraufgegangen. Am 24. Februar 1848 proklamierte eine "provisorische Regierung" die Republik. Es war der Anfang der europäischen Revolution. Gewollt waren jetzt vor allem die Staatsform der Republik sowie ein Gemeinwesen, in dem nur Gesetze gelten sollten, denen seine Bürger zugestimmt hätten, und in denen der Gegensatz sozialer Klassen aufgehoben wäre. 107 b) Die Revolution in Deutschland Unter dem Eindruck der Pariser Ereignisse wurden alsbald auch in den meisten deutschen Bundesstaaten in Versammlungen, Petitionen und Demonstrationen, zuweilen auch mit Aufruhr und Gewalt, Forderungen vor allem nach Pressefreiheit, Volksbewaffnung, konstitutioneller Verfassung und Reform der Rechtspflege, außerdem nach Herstellung einer deutschen Nationalversammlung, erhoben.108

107 S. Mann, Weltgeschichte Vill S. 481 ff. 108 S. Huber, DtVertU ß 502 ff. ; Boldt, VertU ß 92 ff.; Schieder, Vom Deutschen Bund zum Dcuts.:hen Reich, S. 79 ff.

IV. Die hannoverschen Verfassungsgesetze

57

Auch dieses Streben nach dem Nationalstaat war eine europäische Erscheinung. In Deutschland wurde die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung und verschiedenen Regierungen geforderte Wiederaufrichtung eines Deutschen Reichs von der romantischen Rückerinnerung an Kaiser und Reich des Mittelalters wesentlich mitgetragen.l09 Sie entsprach nicht den Interessen der um die Erhaltung ihrer 1806 gewonnenen Souveränität bemühten Bundesfürsten, führte aber zunächst zu dem Erfolg, daß auf Einladung einer - staatlich nicht legitimierten - Heidelberger Arbeitsgruppe am 31. März 1848 in Frankfurt am Main wdurch das Vertrauen des deutschen Volkes ausgezeichnete Männer" zu einem- ebenfalls "privaten" - "Vorparlament" zusammentraten, das sich sogleich mit den zentralen revolutionären Märzforderungen konfrontiert sah. 110 Eine dieser Forderungen zielte konkret auf die ,.Abschaffung der geheimen und schriftlichen Inquisitionsgerichte und Ersetzung derselben durch öffentliche und mündlich gepflogene Schwurgerichte wlll. Sie ist dem Inhalt nach Gegenstand der Beschlüsse des Vorparlaments sowie aller weiteren Empfehlungsbeschlüsse gewesen 112 und schließlich nach der am 3. Juli 1848 eröffneten Grundrechtsdebatte in der - auf Veranlassung des Bundestages zusammengekommenen - Nationalversammlung beschlossen und am 27. Dezember 1848 als Bundesgesetz verkündet worden.113 Am 29. Juni 1848 hatte die Nationalversammlung den Erzherzog Johann von Österreich (1782-1859) zum Reichsverweser gewählt und ihm ein der

109 S. Buchner, Geschichte, S. 329 f. 110 Sie waren neben der Forderung nach dem deutschen Einheitsstaat zB nach dem Antrag des Radikalen Struve vom 31.03.1848 auf "Sicherheit des Eigentums und der Person, Wohlstand, Bildung und Freiheit fiir Alle ohne Unterschied der Geburt, des Standes und des Glaubens" gerichtet (bei Scholler, Grundrechtsdislcussion, S. 48 f.; s. E.R. Huber DtVerfG D 598 ff.). 111 Antrag Struve, Nr. 9 (bei Scholler aaO.). 112 Ebd. s. 50 tr. 113 In dem Grundrechtsgesetz hieß es u .a.:

"§ 48. Das Gerichtsverfahren soll öffentlich und mündlich sein. Ausnahmen von der Öffentlichkeit bestimmt im Interesse der Sittlichkeit das Gesetz. § 49. In Strafsachen gilt der Anklagepro-

zeß. Schwurgerichte sollenjedenfalls in schwereren Strafsachen und bei allen politischen Vergehen urteilen. "(nach Scholler aaO S. 105, s. hierzu E.R. Huber DtVerfG D 780 FN 51). Diese Bestimmungen wurden als §§ 178 f. unverändert in • Abschnitt VI. Die Grundrechte des deutschen Volkes" der Verfassung des deutschen Reiches vom 28.3.1849 übernommen (bei Boldt, Reich und Länder, S. 391 , 419). Eine Aussprache in der Nationalversammlung hat insofern nicht stattgefunden (s. Urban, Stellung der Paulskirche, S. 152).

58

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

Nationalversammlung verantwortliebes Ministerium zugeordnet. Die Bundesversammlung hatte dem Reichsverweser darauf am 12. Juli 1848 ihre Befugnisse übertragen. 114 Den "an das deutsche Volk" gerichteten Aufruf des Reichsverwesers vom 15. Juli 1848, mit dem er die Übernahme der "Leitung der provisorischen Centralgewalt" bekanntgab und u.a. die Zuversicht äußerte, "Eure Vertreter werden das Verfassungswerk far Deutschland vollenden •, verkündete die hannoversche Regierung am 22. Juli 1848 mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß "dieser Wahl der volle Beifall der deutschen Regierungen zu Theil geworden ist" .115 König Ernst August war gleichwohl nicht bereit, das von der Nationalversammlung beschlossene Grundrechtsgesetz zu publizieren. 116 Die folgende Ablehnung der gesamten Reichsverfassung durch die größeren Bundesstaaten - auch Hannover117 - und die Zurückweisung der Kaiserkrone durch König Friedricb Wilhelm IV. von Preußen (17.95-1861) sowie die Wiederberstellung der Bundesversammlung im Mai 1851 bedeuteten das

114 S. Willoweit, VertU, S. 229; E.R. Huber, DtVerfU ll 623 ff.; Boldt, VertU ll 147. IIS GS 1848 1199. 116 Ob das Grundrechtsgesetz delihalb im Königreich Hannover nicht in Kraft getreten ist,

muß angesichts des Bundesrechts als zweifelhaft encheinen (a. dazu E.R. Huber DtVerfU

n

782 f.; Dieatelkamp, Art. Nationalversammlung, in: HRG m 896 ff.). Die Öffentlichkeit und

Mündlichkeil der Gerichtsverfahren aowie die Einrichtung von Schwurgerichten war hier inzwischen durch§ 9 LVerfUÄndG 1848 zugesagt. Jedoch hatte schon im Februar 1849 zwischen der Regierung und den Ständen ein "Kampf um die Geltung der Grundrechte" begonnen. Das Ministerium Bennigsen-Stüve folgte zwar innenpolitisch einem gemäßigten Liberalismua, vertrat aber in der Deutschlandpolitik, wie auch der entschieden partikularistisch eingelteilte König, eine gegen die Einheitsbestrebungen der Paulskirche gerichtete Politik (s. Winzer, Hannover, S. 122 ff.; E.R. Huber DtVerfU m 209). Als die Mehrheit der Zweiten Kammer Anfang 1849 · die Tranafonnation der Frankfurter Grundrechte forderte, ordnete der König zunächst die Vertagung der Ständeversammlung an. Ihr folgte am 26.04.1849 (GS I 65) die Auflösung der Kammer, als deren Mehrheit trotz des verfassungsrechtlich fehlenden Selbstversammlungsrechts (§ 109 LVerfU 1840) wieder zusammentrat und die Anerkennung von Reichsverfassung und Kaiserwahl in Hannover verlangte. El'lt am 15.07.1849 wurde die Neuwahl angeordnet (GS I lOS); am 08.11.1849 restitulierte sich die neugewählte Versammlung. Auch in der Folge konnte aich die Ständeversammlung in der Deutschlandpolitik nicht gegen die Regierung durchsetzen (s. E.R. Huber, DtVerfU m 209). 11 7 Der Erlaß von Bundesverfassungsrecht setzte gern. Art. 13 WSA die Zustimmung aller Bundesglieder voraus {s. E.R. Huber DtVerfU n 619 ff.).

IV. Die hannoverschen VerfalliUngsgesetze

59

Ende des Versuchs, einen deutschen Nationalstaat in bundesstaatlicher Form zu begründen) 18 c) Hannover Im Königreich Hannover gehörte vor allem die Pressefreiheit zu den vorrangig geltendgemachten liberalen Forderungen, die hier im allgemeinen aber in gemäßigter Form vorgetragen wurden.119

In den zahlreichen von Bürgern initiierten Petitionen an den König wurden aber auch Öffentlichkeit und Mündlichk:eit des Gerichtsverfahrens sowie Geschworenengerichte gefordert.120 Durch eine Proklamation vom 14. März 1848 erklärte sich König Ernst August zu einem Entgegenkommen bereit und sagte eine Prüfung der vorgebrachten Wünsche sowie "Maßregeln, welche Ich im veifassungsmlißigen

Wege dieserhalb vorbereiten lasse," zu.121

Wenige Tage darauf, am 18. März 1848, wurde die Pressezensur aufgehoben122; am 16. April1848 die Volksbewaffnung zugelassen. 123

Am 5. September 1848 wurde dann mit Zustimmung der Ständeversammlung die große Revision des Landesverfassungsgesetzes verkündet, die in viel-

118 S. Buchner, Geschichte, S.333 f.; Boldt, VertU D 156 f.; Schieder, in: Gebhardt/ Grundmann, Geschichte, XV 90 ff. -Zu den Vorgängen um die Ablehnung der Kaiserkrone i.e. s. E.R. Huber DtVertU D 842 ff. 119 Zu verschiedenen gewalttätigen Aktionen, u.a. gegen das Kloster Loccum, s. Kolbffeiwes, Beiträge, S. 219 ff.; vgl. hierzu auch Golka/Reese, in: NdsJb 45, 275 ff. 120 S. Kolbffeiwes, Beiträge, S. 227 f. mwN. 121 GS 1848 I 71. Eine Zustimmung "zu dem Antrag auf Volksvertretung bei der Deutschen Bundesveraamrnlung" schloß der König jedoch gleichzeitig aus (ebd. S. 72). Bereita am 10. März 1848 waren im Hannover benachbarten Großherzogtum Oldenburg die Grundzüge einer VerfalliUng proklamiert worden (s. hierzu Knollmann, Verfassungsrecht, S. 128 ff.) . Am 17. März zog ein großer Demonstrationszug durch Hannover (s. Schulze, in: Ders. (Hg), Die Herzogtümer Bremen und Verden, S. 39). 122 Bek. des Innenministeriums vom 18.3.1848 (GS 1848 I 77), dann Preßgesetz v. 27.4.1848 (GS 1136). 123 .Im Rahmen des Gesetzes, •die Verpflichtung zum Eraatz des bei Aufläufen verureachten Schadens an öffentlichem oder Privateigentum betr.", vom 16.4.1848 (GS I 117), dazu Bek. des Innenmini81eriums v. 16.4.1848 (ebd. S. 121). Dieses Gesetz verpflichtete alle Einwohner, "zur Emaltung der Ruhe und Ordnung in (Ihrer Gemeinde) nach Kräften mitzuwirken" (§ 1). Zu diesem Zweck ltOMte jede Gemeinde die Bürger bewaffnen und zu einer "Bürgerwehr mit selbst gewählten Führern" einberufen (§ 2).

60

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

fälligen Änderungen der Verfassung von 1840 bestand und der Sache nach die Verfassung von 1833 weitgehend wiederherstellte.l24 Die Verfassung war vom König "unter Zustimmung der getreuen allgemei-

nen Stande des Ktinigreichs• erlassen wordenl25, jedenfalls materiell also keineswegs mehr als einseitiger Akt königlicher Machtvollkommenheit gewährt worden, und kon!lte nur •unter Zustimmung der allgemeinen Standeversammlung • geändert, also nicht mehr einseitig zurückgenommen werden. 126 Schließlich war nunmehr auch die einfache gesetzgebende Gewalt vom König ausnahmslos "nur unter Zustimmung der allgemeinen Standeversamm-

lung" auszuübenl27, also gemeinschaftlich mit der Volksvertretung.

lnfolge der Bindungswirkung der Gesetze für die Verwaltungl28 war dadurch immerhin eine erhebliche rechtliche Einwirkungsmöglichkeit auf die monarchische Exekutive eröffnet. Regierung und Verwaltung blieben im Gegensatz zur Gesetzgebung jedoch weitgehend dem König vorbehalten.129 Er regierte allerdings nicht persön124 GS 1848 I 261; s. E.R. Huber, DtVertU D S. 538.- Die Zusammensetzung der Ersten Kammer wurde jedoch entscheidend verändert durch die Aufnahme von 10 Vertretern des Handels- und Gewerbestandes. Außerdem entzog das LVertUÄndG den provinzialständischen Ritterschaften das Recht auf Vertretung in dieser Ersten Kammer. Der Kreis der Wahlberechtigten zur Zweiten Kammer wurde ebenfalls wesentlich ausgedehnt. Ein neues Wahlgesetz vom 28.10.1848 (GS I 319) schloß nur noch Personen vom Wahlrecht aus, "die in Kost und Lohn bei einem Anderen standen•. - Auch die durch § 133 SGG 1833 eingeführte Kassenvereinigung, die durch § 137 LVertU 1840 beseitigt worden war, wurde gem. § 86 LVerlUÄndG 1848 wiederhergestellt. Die Einkünfte aus dem Kammergut ("Krongut") dienten nach Abzug der Hothaltungskosten ("Bedarfssumme") seit jeher der Erfüllung der staatlichen Aufgaben, die im übrigen durch Landesabgaben, insbes. Steuern, zu finanzieren waren (§§ 140 SGG, 136 LVertU, 80 LVertUÄndG). Die Stände sahen in der Kassenvereinigung eine bessere Gewähr gegen das Anwachsen der Steuerlast infolge einer Anrechung zu geringer Einnahmen des Königs (vgl. Schulze, Staatsrecht, I 198, 202). 125 LVertUÄndG 1848, Präambel (GS I 261), entspr. Publikationspatent des SGG v. 26.9.1833 (GS I 279). 126 Ges., die Aufhebung des§ 180 des LVertU betr., v. 10.4.1848 (GS 199), entspr. SGG 1833, Schlußbestimmung (GS I 330). Diese ausdrückliche Regelung beruhte auf Art. 56 WSA: "Die in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen können nur auf verfassungsmäßigem Wege wieder abgeändert werden. • (bei Boldt, Reich und Under, S. 210, 226). 127 § 65 LVerlUÄndG, entspr. § 85 SGG 1833. 128 S. § 7 LVerlUÄndG. 129 Außer auf dem Beamtenturn beruhte die konstitutionelle Monarchie auch auf dem Heer. Gern. § 1 LVertUÄndG oblagen die wichtigsten Entscheidungen über die "bewaffnete Macht" allein dem König (vgl. v. Aretin, Art. Monarchie, in HRG m 626, 628). Die Verfasaung bezog den Gegenstand jedoch in ihre Regelungen ein und band auch alle insoweit erlassenen Ver-

IV. Die hannoverschen Verfassungsgesetze

61

lieh, sondern durch ein Ministerium130, und seine Entscheidungen bedurften der Gegenzeichnung verantwortlicher Minister. Die Minister, welche die Regierung "unter dem KiJnig" jeweils tu~· einzelne Verwaltungszweige leiteten, waren Berater und Gehilfen des Königs, die er "nach eigener Wahl ernennt und nach Gefallen entlitßt ". 131 Sie gehörten also der Sphäre des Königs an und waren insoweit vom Vertrauen der Ständeversammlung unabhängig. Gleichwohl waren die Minister jetzt nicht mehr nur dem König, sondern auch der Ständeversammlung für die Rechtmäßigkeit der von ihnen gegengezeichneten oder erlassenen Verfügungen verantwortlich, und die Ständeversammlung war befugt, diese Verantwortlichkeit im Beschwerdewege bei dem König geltend zu machen, mit der Folge, daß der oder die Minister bei Begründetheil der Beschwerde zu entlassen waren.l32 Die fundamentalen liberalen Errungenschaften für die Rechtspflege, die Verfassungsgrundsätze des gesetzlichen Richters, der Trennung der Justiz von der Verwaltung, der Mündlichkeil und Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren und die Einführung der Schwurgerichte in Strafsachen blieben nach ihrem Wesensgehalt unverändert.l33 Damit war in Hannover der Standard der konstitutionellen deutschen Monarchien der Zeit erreicht.l34 d) Das Ende der Revolution in Hannover

In der 1849 auf die vergeblichen nationalen Verfassungsbestrebungen folgenden Zeit nutzte das gemäßigt liberale, während der Märzrevolution eingesetzte Ministerium Bennigsen-Stüve die noch anhaltenden reformerischen Impulse, um auf der Grundlage des LVerfGÄndG 1848 vornehmlich innere Refügungen an die Gegenzeichnunjspflicht, "so weit sie nicht Ausfluß des Oberbefehls über das Heer sind" (§ 102 D LVerfGAndG; vgl. Böckentörde, in: Ders. (Hg) Modeme DtVerfG, 152 ff.). 130 § 101 LVerfGÄndG. 131 § 102 LVerfGÄndG, entspr. §§ ISO f. SGG 1833. l32 § 102 LVerfGÄndG. 133 §§ 5, 9 LVerfGÄndG; entspr. §§ 9 SGG 1833; 31 LVerfG 1840. Nach § 108 LVerfGÄndG 1848 waren die Amtsenthebung und die verschlechtemde Versetzung eines Richters gegen dessen Willen weiterhin einer Gerichtsentscheidung vorbehalten. Außerdem war jetzt auch die Versetzung eines Richters "auf eine Verwaltungsstelle" an diese Voraussetzungen gebunden; er durfte also entgegen seinem Willen auch nicht zum Staatsanwalt ernannt werden. 134 Vgl. Böckentörde, in: Ders. (Hg.) Modeme DtVerfG, S. 146, 148 ff. -

62

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

formen durchzusetzen. Die bedeutendste.Leistung war dabei die umfangreiche Justiueform unter dem Justizminister Otto Albrecht v. Düring mit der Einführung der Schwurgerichte, der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren, dem Anklageverfahren samt der Staatsanwaltschaft.l35 Letztlich vor allem wegen dieser Reformen entließ der hochkonservative König das Ministerium Bennigsen-Stüve und ernannte am 28. Oktober 1850 ein neues Ministerium unter der Leitung des neuen Außenministers Frhm. v. Münchhausen , das an der jetzt einsetzenden Reaktionspolitik des Deutschen Bundes136 bereitwillig teilnahm.137 Der konservative Kurs der Regierung verschärfte sich weiter, als nach dem Tod Ernst Augusts am 18. November 1851 dessen Sohn als König Georg V.1 38 auf den Thron gelangte, der zwar zunächst die •unverbrilchliche Festhaltung der Landesveifassung• gelobte139, aber das Ministerium sogleich erneut umbildete und dessen Leitung Eduard Frhr. v. Schele, dem Sohn des früheren Ministers, übertrug. Dabei erhielt Ludwig Windthorstl40 die Leitung des Justizministeriums. Die Angehörigen auch dieses neuen Ministeriums vertraten mehrheitlich einen entschiedenen Konservatismus.l41

135 Gesetze vom 24.12.1849 (~hwurgerichte; GS 1211; Mündlichkeil und Öffentlichkeit in ebd. S. 219) und vom 8.11.1850 (GVG GS I 207; StPO ebd. S. 227; ZPO ebd. S. 341); 1. E.R. Huber DtVerlU m 209. 136 Dazu 1. eingehend E.R. Huber, DtVerlU m 134 ff. 137 E.R. Huber DtVerlU m 210. Dabei wurde auch daa Justizministerium einerneuen Leitung in der Person des biaheri1en OAG-Rates August Frbr. v. Rössing unterstellt (1799-1870). Er stand seit 1822 im hannoverschen Justizdienst und war seit 1841 Richter am OAG Celle (s. E.R. Huber, DtVerlU m 210). 138 König Georg V. (1819-1878), bereite seit 1833 vollständig erblindet, vertrat unter dem Einfluß seiner Benter- wahneheinlieh u.a. aber auch infolge der psychischen Auswirkungen seiner Behinderung - einen teilweise gendezu mystisch-religiös gefärbten Konservatismus, der stark durch Vorstellungen von Gotteagnadentum und Peraönlichem Regiment geprägt war (1. Brosiua, Georg V, passim, mwN.). 139 Kgl. Patent v. 18.11.1851 (GS 1191). 140 1812-1891, seit 1836 Advokat in Oanabrück, 1848 OAG-Rat in Celle, seit 1849 Mitglied der Zweiten Kammer (1. über ihnjetzt Sellert, Windhorst als Jurist, passim). 141 E.R. Huber, DtVerlU m 211. ~hwurgerichtasachen;

V. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

63

Die innenpolitischen Streitigkeiten in Hannover wurden dabei durch einen von mehreren hannoverschen Ritterschaften142 beim Bundestag anhängig gemachten Verfassungsstreit um den§ 33 LVerfÄndG 1848 überlagert.143 Die für die Rechtspflege bedeutenden Bestimmungen zur Trennung von Justiz und Verwaltung sowie über den gesetzlichen Richter waren dadurch jedoch nicht betroffen.144

V. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Mit 47.382 qkm Fläche145 und einer rasch von (1821) 1.862.721 auf (1848) 2.230.0461 46 wachsenden Einwohnerzahl gehörte Hannover zu den größeren deutschen Mittelstaaten.147 Das Land bestand aus geographisch, geologisch und wirtschaftlich sehr verschiedenartig strukturierten Gebieten.148 Die Übersiedlung des Kurfürsten 142 S. zu deren Rechtsstellung sowie zu Einzelheiten Reinicke, Landstände, passim, v.a.

s. 146 ff.

143 S. dazu E .R. Huber DtVerfO m 210 ff. - lnhaldich Jing ea um eine Beschwerde der Ritterschaftengegen die Bestimmung des§ 36 LVerlOÄndG, wonach die alten provinzialständischen Ritterschaften ihre Vertretung in der Ersten Kammer der Allgemeinen Ständeversammlung verloren und überdies in § 33 der Gesamtstaat ermächtigt wurde, die Provinzialverfassungen im Wege der Landesgesetzgebung neu zu regeln. Dies war durch das Gesetz über die Reorganisation der Provinzialstände vom 01.08.1851 (GS I 167) geschehen. Hiergegen hauen sich die Ritterschaften an den Bundestag gewandt. Der Konflikt zog lieh bis 1855 hin und endete damit, daß der Bundestag am 19.04.1855 die Bundeswidrigkeit zahlreicher Bestimmungen des LVerfOÄndG fellstellte und der haMOverschen Regierung aufgab, diesen Zustand im Wege der Oktroyierung zu beseitigen (E.R. Huber DtVerlO m 212 ff.). Dementsprechend kam es durch VO v. 01.08.1855 (GS I 165), den sog. Zweiten Hannoverschen Verfassungskonflikt (1. E .R. Huber DtVerfO m 216), zur Aufhebung der beanstandeten Vorschriften des LVerfOÄndG. In der Folgezeit zwischen 1855 und 1859 kam es infolge des sich regenden liberalen Widerstands zu "reaktionären Verfassungszuständen" (E.R. Huber DtVerlO m 216 f.), die ihren Ausdruck u.a. in einer 1859 durchgeführten Reform der Strafprozeßgesetze von 1850 fanden.

144 §§ 5,9 LVerlOÄndG 1848; a. E.R. Huber DtVerfO D 214 FN 85. Im übrigen traten wieder die Beatimmungen des LVerfO von 1840 in Wirbamkeit (s. E.R. Huber DtVerfO m · 216) 145 S. Uelschen, Bevölkerung, S. 7. 146 S. Uelschen, Bevölkerung, S . 7.- Von diesen waren 1.452.103 Lutheraner, 90.128 Reformierte und 219.748 Katholiken, ferner 11.208 Juden und 524 Mennoniten und Herrnhuter (s. Harseim/Schlüter,Handbuch, S. 5).

147 S. Valentin, Revolution, D 196. 148 Von den Böden waren 20% gut und besser,

20% mittelmäßig, 40% geringwertig und 20% schlecht (a.Schnath, Niedersachsen, S. 2) Mehr als zwei Drittel der Gesamtfliehe des Landes bestanden aus karger, mit Moor- und Heidefliehen durchsetzter Geesdandschaft; Wiesen und Weiden mit hohem Grundwasserstand und sandige Ackerböden lieferten hier nur geringe

64

Kapitel 2: Geschichtliche Grundlagen

nach England 1714 und die anschließende Aufteilung der Regierungsgewalt auf den Landesherrn, die Deutsche Kanzlei, die Provinziallandstände und das Geheime Rats-Kollegium hatten den Ausbau der Wirtschaft lange behindert149, so daß Hannover bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts weitgehend ein Agrarland blieb. ISO Seit der Regierung des Kurfürsten-Königs Georgs III.

( 173 8-1820) waren allerdings durch gezielte Vermehrung der IandwirtschaftIichen Nutzfläche sowie eine Verbesserung der AnbaumethodenlSl die landwirtschaftlichen Erträge kontinuierlich gesteigert worden.lS2 Das Land exportierte vor allem land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse; namentlich Korn, ViehlS3 und LeinenlS4, das im Nebengewerbe der Landwirtschaft in großem Umfang hergestellt wurde. lSS Hinzu kamen Butter, Erträge (s. Achilles, in: NdsJb SO, 11; Hagenah, in: NdsJb 8S, 161; Obenchelp, Wirtschaft I, 10). 1842 lebten 89% der Bevölkerung in Orten mit weniger als 3SOO Einwohnern (s. Hagenah, in: NdsJb 8S, 161). Auf dem Lande war und blieb die Sozialstruktur gekennzeichnet durch eine scharfe Trennung zwischen den Inhabern von Hofstellen und den bloßen Wohngemeindemitgliedern (s. Hagenah, in: NdsJb 8S, 164). 149 S. Röhrbein, Hannover, S. 63. ISO Das wirtschaftliche Schwergewicht lag auf Betrieben mittlerer Größe; 48,S % der Gesamtnutzfläche entfielen nach der Landreform auf Betriebe von einer Größe zwischen 7,8 und 31 ,3 ha (s. Oberschelp, Wirtschaft I, 101; vgl. Hagenah, in: NdsJb 8S, 161).

1S1 11SO war die verbesserte Dreifelderwirtschaft mit Brachenbesömmerung eingeführt worden. Im 19. Jahrbundert konnten die Erträge durch Wasserregulierungen, Einführung landwirtschaftlicher Maschinen, Kunatdünger, verbessertes Saatgut und angemessenere Fruchtsysteme weiter gesteigert werden (s. Treue, Wirtschaft, S. 18; 30).Die 1802 zunächst im Fürstentum Lüneburg erlassene Gemeinheitsteiluna10rdnung setzte große Undermessen frei. Das Ablösungagesctz von 1831 und die Ablösung10rdnung von 1833 trugen zur Entstehung eines eigenständigen, lebensfähigen bäuerlichen Miltelstandes bei. Bereits 18S3 waren 40% der Hofstellen lastenfrei. Allerdings ging diese Agrarreform zu Lasten der "unterbäuerlichen" Schichten (Ablösungsgesetz vom 10.11.1831 (GS I 209); Ablösungsordnung 1833, GS I 147; s. dazu Conze, Agrarreformen, S. 9 ff.; Treue, Wirtschaft, S. 22 ff. ; Klein, in: DVG D 681.). 1S2 Die Kultivierung von Ödland, Mooren und Sümpfen führte besonders nach 181S zu einer erheblichen Vermehrung des verfügbaren Ackerlandes und vielen neuen Ansiedlungen. Es gelang zwischen 1830 und 1866 10, die landwirtschaftliche Nutzfläche des Königreichs um fast 20% zu steigern (s. Treue, Wirtschaft, S. 18; 30}, besonders in den Geestgebieten zwischen Wescr und Eibe (s. Hagenah, in: NdsJb 8S, 184). 1S3 Vor allem Pferde und Schafe 10wie Rinder, die im Lande in großem Stil gezüchtet wurden (1. Treue, Wirtschaft, S. 19). Allein schon die große Grünlandfläche des Landes hatte zu einer stärkeren Viehhaltung je Kopf geführt als in den übrigen Staaten des Deutschen Bundes (s. Achilles, in: NdsJb SO, 22). 1S4 Die Fürstentümer Göttingen, Grubenhagen, Hildesheim, der Südteil von Calenberg, Hoya, Diepholz sowie du Osnabrücker Land gehörten zu dem "Leinengürtel" von Westfalen bis Schlesien. Demgegenüber überwog in den nördlichen Landesteilen die Wollverarbeitung (1. Hagenah, in: NdsJb 8S, 172). ISS Dies war lange Zeit der wichtigste Gewerbezweig des Landes (s. Oberschelp, Wirtschaft I, 84). Die Herstellung des billigen und in den tropischen Undern unentbehrlichen einfachen

V. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

65

Rapssamen und Eichenholz fiir den Schiffbau; Hauptabnehmerland war England. Der Englandhandel lag zumeist in den Händen hamburgischer und breIDiseher Kaufleute; erst spät kam es zur Gründung einer eigenen hannoverschen Handelsflotte.l56 Hinsichtlich industrieller Produkte war Hannover vor 1848 weitgehend noch von Einfuhren, meist aus England, abhängig.l57 Während der Export lange von den englischen Zollgesetzen hart betroffen wurde, hielt Hannover bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts an freihändlerisch niedrigen Einfuhrzöllen fest. Ab 1835/37 gelang es aber, im Zuge der einsetzenden dynamischen Wirtschaftsentwicklung Deutschlands nach Bildung des Steuervereins und durch Einfiihrung neuer Zölle einen geschützten eigenen Wirtschaftsraum zu schaffen. 158 1843 wurde die erste Bahnlinie zwischen Hannover und Lehrte in Betrieb genommen.l59 In der Residenzstadt Hannover setzte eine rege Bautätigkeit ein)60 Insgesamt gesehen, war das Königreich Hannover in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer relativ gesunden Wirtschaft und funktionierenden Verwaltung "ein durchaus lebensfähiger und zukunftsreicher Staat" .161

Leinens geschah in den ländlichen Haushalten vornehmlich als Nebenbeschäftigung von Gesindepersonen und Einliegern (s. Treue, Wirtschaft, S. 49; Jeschke, Geweroerecht, passim). 156 Und zwar vor allem von den Häfen Emden, Harourg, Geestemünde und Freiburg an der Eibe aus (s. Lchzcn, Staatshaushalt, Bd. D, S. 738 ff.) 157 Die eigene Eisenproduktion Hannovers lag z.B. um SO% unter dem damaligen Durchschnitt der deutschen Staaten. Immcmin entstanden aber allein zwischen 1834 und 1838 300 neue Fabriken. Seit den 1840cr und 1850cr Jahren entstanden schnell wachsende Betriebe in der Textilinduatrie, der Venroeitung von Steinen und Erden sowie in der Nahrungs- und Genußmittelbnnche. Unter dem Einfluß Englands, das darin einen wenigstens indirekten Schutz seines Dcutachlandhandell aah, hatte Hannover dem 1833 gegründeten und von Preußen dominierten Deutschen Zollverein nicht beitreten können und sich stattdessen 1834137 mit Oldenburg, Bnunschweig und Schaumburg-Lippe zu einem engeren Wirtschaftaveroand, dem "Steuerverein", zusammengeschlossen. (s. Treue, Wirtschaft, S. 43; 48, Barmcyer, in: NdsJb 46/47 s. 237). 158 s. Barmcyer, in: NdsJb 46/47, 231.

159 S. Röbroein, Hannover, S. 71; Treue, Wirtschaft, S. 50. 160 S. v. Heincmann, Geschichte D 442. - Bereits 1826 wurde Hannover als eine der ersten deutschen Städte mit einer Gasbeleuchtung versehen (s. Röhroein, Hannover, S. 73, Treue, Wirtschaft, S. 43). Von 1815 bis 1834 verdoppelte sich außerdem die Einwohnerzahl der Hauptstadt (s. Treue, Wirtschaft, S. 43; vgl. dazu Nürnberger, in: NdsJb 48, I ff.). 161 S. Schnath, Niedersachscn, S. 49. S Knallmann

Kapitell

Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vormärzliehen Literatur Die Analyse der sich nach 1814 parallel zu den Verhandlungen auch in der hannoverschen Ständeversammlung in enger Wechselbeziehung entwickelnden Strafprozeßrechtsliteratur kann sich zweckmäßig nicht auf eine Untersuchung des spezifisch hannoverschen Schrifttums beschränken. Die Fülle des Materials und die methodologischen Schwierigkeiten zwingen dazu, einen - dem Rahmen der Untersuchung entsprechend nur groben, gerafften und von daher allerdings seinerseits methodologischen Bedenken ausgesetzten! - Gesamtüberblick zu versuchen. Die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis über das Jahr 1848 hinaus -also über einen Zeitraum von über 50 Jahren- andauernde wissenschaftliche Diskussion um die Frage der Einführung einer Staatsanwaltschaft als eigenständiger Anklagevertreterio verlief sowohl inhaltlich als auch nach ihrem zeitlichen Ablauf recht uneinheitlich. Hinsichtlich der zeitlichen Dimension lassen sich drei hauptsächliche Phasen unterscheiden, nämlich die Zeit zwischen 1770 und 1805- die hier sog. Frühphase -,dann die Zwischenphase zwischen 1806 und 1842 und schließlich die Schlußphase zwischen 1842 und 1848. Dabei läßt sich zwar grob eine allmähliche Entwicklung hin zu Elementen eines - nur in seinen groben Umrissen in etwa bestimmten - "Reformierten Prozesses" mit Staatsanwaltschaft feststellen. Es stand jedoch auch in dem hannoverschen revolutionären Landtag von 1848 bis 1850 noch keineswegs im Sinne einer herrschenden Meinung ein in der Wissenschaft einhellig oder auch nur überwiegend vertretenes spezifisches Modell bereit, das direkt hätte übernommen werden können.2 Wohl aber waren bis dahin die meisten denkbaren Möglichkeiten und Konzeptionen aus1 Hierzu vgl. Stolleis, Geschichte D !57 f. 2 • Ausführlichere litenrische Vonrbeiten aus der Zeit vor 1848 fehlen ganz .•• so kam es, daß unter dem Einfluß der rheinischen Juristen in der Hast der Ereigniuc schließlich das fnnzösischc Vorbild übernommen wurde" (Schwinge, Kampf, S. 129). Vgl. zur Situation in Hannover König, Die CrPO: "Die Advokaten Gans zu Celle und König zu Osterode sind, außer der formellen Thätigkeit eines Göttinger Professors [gemeint sein dürfte Anton Bauer) fast die einzigen Rechtskundigen im Lande, welche .•. der CrPO ein Nachdenken gewidmet haben" (S. 110).

I. Die Frühphaae

67

giebig untersucht und diskutiert worden, so daß die mit der Ausarbeitung und Beratung der Reformgesetze befaßten Juristen jedenfalls auf umfangreiche Argumentationshilfen zurückgreifen konnten.

I. Die Frühphase zwischen 1770, und 1805 Der Beginn der Ersten Phase der wissenschaftlich-literarischen Staatsanwaltschaftsdiskussion läßt sich ungefähr um die Jahre 1770/1780 herum datieren. 3 Es handelt sich dabei um einen Teilaspekt der zunächst in Frankreich4 unter maßgeblicher Beteiligung u.a. Voltaires5 wegen der dortigen Mißstände in der Strafrechtspflege6 auf das Thema Strafprozeßrecht übergreifenden vernunftrechtlichen Aufklärungsbewegung. 7 Diese beruhte auf der geistig-theoretischen Grundlage der Vernunft- und Naturrechtslehren des 17. Jahrhunderts8 mit ihren Kernbegriffen Säkularisierung, Rationalisierung und Humanisierung. 9 Die infolge des so veränderten Zeitgeistes entstandene •Kluft zwischen dem von den positiven Gesetzen widergespiegelten Rechtszustand und den kulturellen Auffassungen der geistig führenden Schichten •10 war auch durch die zahlreichen partikularrechtliehen Einzelgesetze und -Verordnungen mit 3 S. dazu eingehend Alber, Öffentlichkeit, S.

156 ff.; Eh. Schmidt, Einführung, S. 282 ff.

18 ff.; Haber, Öffentlichkeit, S. 11 ff.; 72 ff.;

4 Zur französischen Strafproze8entwicldung a. Haber, Öffentlichkeit, paaaim, bea. S. 72 ff.; Schwinge, Kampf, S. 1 ff. - Die französischen Schriften wurden regelmäßig bald nach ihrem Erscheinen auch in Deutschland, entweder im Original oder aber in überaeiZter Form, bekannt (s. Haber, Öffentlichkeit, S. 17 mwN.).

5 Voltaire, Prix de Ia Justice et de I' Humanite, 1778; s. zur Rolle Voltaires Haber, Öffentlichkeit, S. 15; Alber, Öffentlichkeit, S. 18; Hertz, Voltaire, paaaim. - Die Frage der Reform dea Strafprozeßrechta wurde zeitgleich auch zB in Italien erörtert, etwa bei Beccaria (Dei delini e delle pene, 1764) und Filangieri (Scienza della legislazione, 1781). 6 S. dazu Conrad DRG U 448 f.; vgl. auch Krauae, Art. Gesetzlicher Richter, in: HRG I

1620 ff.; Schwinge, Kampf, S. 1 ff. 7 S . Maiwald, in: Semper Apertus U 200; Eh. Schmidt, Einführung, S. 268 f.

8 S. dazu Sellert, in: Ders./Rüping, Quellenbuch I 347; Fischl, Einfluß, S. 12 ff.; Rüping, Grundri8, S. 77 ff. - Um 1786 erschienen die ersten deutschsprachigen Strafrechtalehrbücher, die regelmäßig auch den Strafproze8 mitbehandelten (dazu a. StiniZingiLandaberg, Geschichte UVl S. 461; UV2 S. 161).

9 S. Sellert, in: Ders./Rüping, Quellenbuch I 347; Eh. Schmidt, Einführung, S. 212 ff.; v. Hippel, Strafrecht I 258 ff.; Alber, Öffentlichkeit, S. 18 f.; Selmer, Art. Gewaltenteilung, in: HRG I 1642 ff.

10 Eh. Schmidt, Einführung, S. 282.

68

Kapitel3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vonnärzlichen Litentur

dem Ziel eines •Humanisierten Inquisitionsprozeß• kaum verringert worden.11 Ebenso wie im Bereich des materiellen Strafrechts war es bei •dem Inquisitionsveifahren wesensfremden •12 Augenblicksschöpfungen geblieben, die auch untereinander zu wenig abgestimmt waren.13 Maßgeblich wirkte sich das gewandelte Verständnis vom Zweck der Strafe und vom Charakter des staatlichen Strafanspruchs ausl4: •Grundlage des Criminalprocesses ist die Erhaltung des durch vertlbte Verbrechen gefiJhrdeten Staates . . . das Gemeinwohl erfordert die Sicherstellung der Unschuld gegen unverdiente Strafen ebenso kategorisch . . . als die miJglichste Gewißheit, daß kein vertlbtes Verbrechen der verdienten Bestrafung entgehe • ,15 ·vas Interesse des Staates darf und soll die bargerliehe Freiheit des Privaten so wenig als miJglich einsehrlinken ... Es muß das wesentliche Augenmerk dahin gehen, daß die Schuldigen schnell entdeckt und zur Strafe gezogen, der Schuldlose aber ... baldigst frei gesprochen werde•,16 - •ver Strafproceß entspricht nur dann den Forderungen von den Bargern an den Staat, wenn das Verhliltniß der Anklage zur Vertheidigung . . . eine völlige Gleichheit der Rechte zwischen AnkUJger und Angeklagtem garantiert•.l1 11 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S.271 ff.; 282 mwN. 12 S. Rüping, Grundriß, S. 82. lJ "Willkür gab Gesetze, eine neue gesetzwidrige Praxis ward herrschend, an die Stelle der Gnusamkeil war jetzt meist fade Empfindelei und lächerliches Neuschaffen der Gesetze getreten, es war Zeit, daß mit kühner Meisterband Klein, Stübel, Grollmann, Kleinschrod und Feuerbach der Wissenschaft ein neuea Leben gaben" (Mittermaier, Handbuch des peinlichen Processes I (1810/12), S. 103). - "Die neueren deutschen Gesetzgeber waren zu sehr von ... in der Doktrin eingewurzelten Vorur1heilen verführt, und näherten sich zu sehr dem älteren gemeinrechtlichen Vorschriften" (Mittermaier, Stnfrechtspßege, S. 30). Vgl. Haber, in: ZStW 91, 594 FN 8 mwN. S. auch Buchda, Art. Gerichtsverfahren, in: HRG 11551 ff. (1560). 14 S. Nauck:e, Art. Stnftheorie, StrafZweck, in: HRG V 2 ff.; Eb. Schmidt, Einführung,

s. 268 ff.

15 Martin, Lehrbuch des Teutschen Gemeinen Criminal-Proceases (4.Auß. 1836), S. 17 f. Zur Person Martini und seinem stnfprozeSIUalen LebenJWerlt sowie seiner Stellune als Mitbegründer der eigenständigen Strafprozeßwissenschaft a. Maiwald, in: Semper apertus D 590 ff mwN. l6 So z.B. Weber, in: NAdC I (1817), 363 ff. (389). Von Mittermaier (Handbuch I (1810), S. 138 ff.) stammte die k:lauische Formulierung, "der Zweck dea Staats fordert unmittelbar die Ausübung der Stnfe, um die Störung aufzuheben, und durch die Schnelligkeit der Vollziehung des gesetzlich gedrohten Übels die allgemeine Überzeugung hervorzubringen, daß Niemand ungestnft Eingriffe in die geheiligsten Gebiete des Staates wagen dürfe ... Allein der Verbrecher ist zugleich ein Bürger des Staats, und eine entgegengesetzte Rücksicht setzt nun der vorigen Schranken . . . höchste Aufgabe ist es, die öffentliche Sicherheit mit der Privatsicherheit ins Gleichgewicht zu stellen. • 17 Mittermaier, Anleitung zur Ver1heidigungsk:unst (3.Auß. 1828), S. 1; dera., Stnfrechtapßege, S. 599 FN 2; Weber, in: NAdC IV (1821), 596 ff.

I. Die Frühphase

69

Diese grundlegend veränderte Sichtweise führte zur Verwerfung sowohl des Gemeinen Inquisitionsprozesses als auch des - praktisch schon verschwundenen - älteren, privatklageförmigen Aldrusationsprozesses1 8 und zu der Forderung nach deren Ersetzung durch einen öffentlichen und mündlichen Prozeß mit Geschworenen und häufig insbesondere auch einer als Ausdruck der Gewaltenteilung vom Richter getrennten, besonderen Anklagebehörde, die strukturell nicht zur Justiz, sondern zur Verwaltung gehören sollte.1 9 Diesen Postulaten lag maßgeblich auch die besonders nach 1790 verbreitete Forderung nach Schaffung des Rechtsstaats zugrunde. 20 Im Zuge dieser Diskussion wurde gleichzeitig auch erstmals eine eigenständige deutschsprachige Strafprozeßrechtswissenschaft als neue Subdisziplin aus dem älteren, von der Staatsidee des Absolutismus zusammengehaltenen •Kosmos der gesamten Staalswissenschaften • herausdifferenziert.2 1 Dieses Rechtsgebiet war bis dahin regelmäßig nur zusammen mit dem materiellen Strafrecht oder Zivilprozeßrecht behandelt worden. 22 Außer in neugegründeten wissenschaftlichen Zeitschriften23 versuchten jetzt zudem immer mehr 18 Dazu s. Buchda, Art. Anklage, in: HRG 1171 ff. 19 S. Eb. Schmidt, Einfiihrong, S. 280; 327 ff.; - Haber, Öffentlichkeit, S. 14, verweist auf Wieland, Geist, T. D 241 (1784) als den ersten deutschsprachigen aufklärerischen Befiirworter eines solchen öffentlichen "Amtsanklägers". 20 Das rechtsstaatliche Modell geht u .a. auf Immanuel Kant zurück: "In ihrer (d.h. der drei Gewalten) Vereinigung besteht das Heil des Staats ... , woronter man das Wohl des Staatsbürgers und seine Glückseligkeit verstehen muß ... " (Metaphysik der Sitten,§ 49 (S. 473), s. bspw. auch Feuerbach (dazu Stühler, Diskussion, S. 196 ff. ; Eb. Schmidt, Einfiihrong, S. 280). Verlangt wurde also eine Reduzierong des absolutistischen, allumfassenden Interventions- und Polizeistaats auf die bloße Gewährong von Sicherheit und Ordnung (s. Stolleis, Art. Rechtsstaat, in: HRG IV 367 ff.) . Exekutive und Judikative sollten auf das unter Zustimmung aller Staatsbürger zustandegekommene, an die Verfassung mit Gewaltenteilung und Menschenrechten gebundene, Gesetz verpflichtet sein (s. Kleinheyer, Art. Menschenrechte, in HRG m 482 ff; Zippelius, Art. Naturrecht, in: HRG m 933 ff.; vgl. H.-L. Schreiber, Art. nulla poena sine lege, in: HRG m 1104 ff.; ders., Gesetz und Richter, passim; Bernhardt, Art. Grondrechte, in: HRG I 1843 ff.; Holzhauer, Art. Haftbefehl, in: HRG I 1894 ff.). 2l S. Stolleis, Geschichte D 7 f.; vgl. Schaffstein, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft,

s. 11 ff.

22 S. Maiwald, in: Semper Apertus D, 199; Stintzing/Landsberg, Geschichte ID/2 S. 161; v. Lilienthal, in: Küper (Hg), Strafrechtslehrer, S. 5; Stolleis Geschichte D 51 ff. mwN. - Unterschiedliche Rückbindungen an das Gemeine Prozeßrecht, unterschiedliche aktuelle Hoffnungen, Einbindung in Interessen des eigenen Territoriums und unterschiedliche Charaktere der Autoren bildeten allerdings auch auf dem Gebiet des Strafprozeßrechts ein "zerklüftetes Gelände" (vgl. Stolleis, Geschichte D 73). 23 Seit 1798 existierte die von Paul Johann Anaelm Feuerbach und Karl Ludwig von Gro1man (s. zu diesem Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 108) herausgegebene Zeitschrift "Bibliothek filr peinliche Rechtswissenschaft"; hinzu trat 1799 u.a. das zunächst von Ernst Fer-

70

Kapitel3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vonnätzlichen Literatur

Autoren mittels Lehr- und Handbüchern •die strafrechtlichen Probleme der damaligen Zeit in ihrer Gesamtheit zu meistern und darzustellen •.24 Im wesentlichen kreisten die Reformforderungen in der Folge - wie zuvor bereits in Frankreich - um die Topoi Öffentlichkeit25 - •damit das Volk unmittelbar Zeuge seyn könne von den Gegenstilnden und der Art des richterlichen Strafverfahrens -26 - , Mündlichkeit der Hauptverhandlung, auf Grund derer das Gericht sein Urteil gewinnen sollte27 - •um dem iJffentlichen Verfahren noch mehr Interesse und Lebendigkeit und insbesondere den erkennenden Richtern eine unmittelbare anschauliche Kenntniß von der Art und dem Gange der Untersuchung und von den dabei belheiligten Personen zu geben-28 - , das Geschworenengericht als •Palladium der bargerliehen Freiheit•29, den Anldageprozeß mit Staatsanwaltschaft30 - •indem das entgegengesetzte reine Untersuchungsverfahren mit dem Geiste dieses Systems sich nicht vertrctgt•3l -, und schließlich Trennung von Justiz und Verwaltung32, dinand Klein und Kleinschrod, später von Kleinschrod, Konopak und Minermaier edierte Archiv des Criminalrechts (Halle ab 1799, 1816-1833 als Neues Archiv des Criminalrcchts, 1834-1857 als Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, erschienen). - Vgl. Lüdersscn, Art. Grolman, in: HRG 11808 ff.; Stintzing/Landsberg, Geschichte UI/1 S. 464; SlS. 24 S. Maiwald, in: Semper Apertus 0, 200; Eb. Schmidt, Einführung, S. 283. 25 "Publizität der Verhandlungen, um jedes Mißtrauen zu entfernen ... und (durch) den anständigen feierlichen Charakter öffentlicher Verhandlungen den Geist der Trägheit und den Mechanismus, der sich an geheime Bureauarbeiten so leicht hängt, zu verbannen ... Publicität, die Nährerin des öffentlichen Geistes, eröffnet eine Schule des Rechts für das Volk ... • (Minermaier, Strafrechtspflege, S. 13 ff.; 58).- Vgl. Ogris, Art. Publizität, in: HRG IV 92 ff. 26 Weber, in: NAdC IV (1821), 596 ff. (601). 2 7 Minermaier, in: NAdC I (1817), 327 ff. "Mündliche Verhandlung ... in dem auf Erweckung des Interesses berechneten öffentlichen Verfahren würde die schleppende Diktirmethode ebenso störend, als übcrflüAig seyn ... Beredsamkeit, die Gefährtin bürgerlicher Freyheit, begeistert die Richter" (den., Strsfrechtspflege, S. 13). 28 Weber, in: NAdC IV (1821), S. 601. 29 So die vielzitierte, originär auf die französischen Aufldärer zurückgehende Formulierung, hier zit. nach bei Minermaier, Strafrechtspflege, S. 38). - "Das Volksgericht ... mißtrauisch gegen jeden angestellten Richter ... , ein Zusammenstimmen innerer unbestochener Überzeugung ehrenwerter Männer ... ein Schutzwehr der Freiheit" (Minermaier, Strafrechtspflege, S. 14). 30 Haber, in: ZStW 91, 606 sieht insoweit eine besonders zögerliche und uneinheitliche Diskussionsentwicklung, die er auf die "vermutete Gefahr, daß dieses Institut den Regierungen als Strafverfolgungsorgan gegen oppositionelle Bürgerliche dienen könnte", zurücldührt. - Zuzustimmen ist Haber jedenfalls insoweit, als die Reformdiskussion hinaichtlich der Staatsanwaltschaft keineswegs so spärlich war, wie es nach der Darstellung etwa bei Elling, Einführung, S.26 ff., und Carsten, Geschichte, S.l5ff., den Anschein haben kann. 31 Weber, in: NAdC IV (1821), 601. 32 S. Selmer, Art. Gewaltenteilung, in: HRG I 1642 ff.; Bcmhardt, Art. Grundrechte, in: HRG I 1843 ff.

D. Die zweite Phaee

71

verbunden mit Unabhängigkeit der Richter und Beseitigung aller Kabinettsjustiz.33 Die meisten dieser Topoi waren dabei sowohl für sich allein genommen als auch jeweils in Kombination mit den anderen Grundsätzen einer umfassenden Diskussion ausgesetzt, in der wohl die meisten überhaupt denkbaren Variationen erörtert wurden. 34 Das Ende dieser ersten Phase läßt sich ungefähr um das Jahr 1805 herum datieren. Es steht im Zusammenhang mit dem unter dem Eindruck der in Frankreich inzwischen ausgebrochenen Schreckensherrschaft35 an die Stelle der Herrschaft des aufklärerischen Vernunftrechts getretenen beginnenden Idealismus im weitesten Sinne. Dieser äußerte sich besonders auch in der Entstehung der Historischen Rechtsschule. 36 Die französische Revolution hatte auch für die deutsche Strafprozeßrechtslehre einen Einschnitt bedeutet. Nur kurzfristig hatte sie dem liberalen Naturrecht westlicher Prägung Auftrieb gegeben. Bereits ab 1790 hatte sich eine nicht mehr an Christian Wolff, sondern an Immanuel Kant ausgerichtete vernunftrechtliche Richtung durchgesetzt, die den Zweck des Gesellschaftsvertrages primär im staatlichen Schutz der individuellen Freiheiten sah.37

II. Die zweite Phase 1805 bis 1842 Die anschließend einsetzende zweite Phase der Diskussion um die Staatsanwaltschaft in der Literatur dauerte etwa von 1806 bis 1842 und war gekennzeichnet durch ein scharfes und, besonders nach 1816 im Zusammenhang

33 S. Eb. Schmidt, Einführung, S. 327; Kramer, Art. Machtspruch, in: HRG ID 126 ff. 34 Vgl. Schutz, in: FS- 175 J. OLG Oldenburg, S.212. 35 Das französische Modell Btieß, nachdem es zunächst gendezu übenchwenglich begrüßt worden war - Mittenneier aah noch 1810 in eeinem "Handbuch des peinlichen Processes" I S. ID: "Gro8e lnatitute entstehen vor uneeren Augen: der neue Geist der Zeit ruft sie hervor Fnnbeichs Geeetzgebung hat die alten Formen umgeatürzt, und die neuen Anstalten erregen durch den blendenden Schimmer der politischen Freiheit Bewunderung" -schon bald nach 1800 auf wacheende Vorbehalte. Die Revolutioneereignisee, aber auch die politische Unterdrückung unter Napoleon I. hatten gezeigt, daß auch der öffentliche mündliche Anldageprozeß mit Geschworenen keineswegs vor der Erzwingung politisch erwünschter und "gende nicht am Recht orientierter" Enlscheidungen schützte (s. Maiwald, in: Semper Apertua D 212; vgl. zum allgemeinen Stimmungsumschwung um 1800 auch Stolleis, Geschichte D 126 mwN.). 36 S. Alber, Öffentlichkeit, S. 31 f. 37 S. Grimm, Art. Öffentliches Recht D, in: HRG ID 1198 ff.

72

Kapitel3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vonnärzlichen Literatur

mit dem Streit um das Rheinische Recht38, teilweise recht polemisches39 Gegeneinander von Reformern aller Schattierungen und Verteidigern des Gemeinen Prozesses. Die weit ausgreifende Diskussion wurde •teils juristisch, teils politisch und nicht selten tendenziös gejahrt •. 40 Die allgemeine Restauration des alten Gemeinen Prozesses nach 1814 fiihrte zu einem starken Anwachsen der Reformliteratur. Zeitgleich verschärfte sich der Gegensatz zwischen den von Rousseau und den Ideen der französischen Revolution inspirierten, •dem rationalistischen Denken weit ndher als geschichtlichem stehenden •41 Anhängern eines etatistisch-reformerischen Gesetzespositivismus, •aberzeugt vom unmittelbaren Zugang des Gesetzgebers zur verjangenden Vernunft•, und den •Bejarwortern eines grundrechtlich-evolutiontiren Positivismus der verwirklichten Rechtsordnung •. 42

38 S. Becker, Art. Rheinisches Recht, in: HRG IV 1021 ff.; und ders., in: JuS 1985, 338 ff. 39 Ein Beispiel für solche Polemik bietet etwa Welcker, Art. Criminalverfahren, in: Rotteckl Ders. (Hg), Staatslexikon (1. Auf!.) Bd. XV (1843), S. 274 ff., der von dem lnquisitionsprozeß spricht als einer "politischen Ketzerinquisition", "stillen Morden und Zerstörungen der Verfolgten und ihres und der Ihrigen Lebensglücks durch lange und geheime Processe und Kerkerqualen" (S. 277), "willkürlichen Beraubungen auch der letzten Tröstungen und Genüsse im feuchten, übelriechenden, halbdunkeln, Abends lichtlosen Kerker", "dieser schrecklichen Hülflosigkeit und Verlassenheit, gegenüber dem furchtbaren, feindseligen Inquisitor, gegenüber dessen rohen, batbarischen Drohungen und Zufügungen schimpflicher Behandlung, des Keltcntragens, des Anschließens, des Prügelns" (S. 279), "lnquisitionsbastillen und Marterkammem" (S. 281), "Jahre langen, jede Strafe übetbietenden Martern" (S. 290); einer "ganzen Legion der (nur zufällig an den Tag gekommenen) geheimen deutschen Justiz- und Kerkermorde" (S. 294; zur Bedeutung des "Staatslexikons" s. Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 226 ff.; 355)). - Im übrigen wurden vielfach einzelne besonders spektakuläre, als Fehlurteile und "Justizmorde" angesehene Fälle von Strafprozessen herausgegriffen, anband derer man die Verwerflichkeit des jeweils gegnerischen Prozeßsystems beweisen wollte (a. v . Lilienthal, in: Küper (Hg), Strafrechtslehrer, S. 10; Blass, Entwicklung, S. 102 ff. mwN (zum Prozeß Weidig); Schwinge, Kampf, S. 19 ff.; 32 ff.; wNw.e bei Kappler, Handbuch, S.1024 ff. (bes. zu den damals besonders aufsehenerregenden Prozessen gegen Fualdcs und Fonk). 40 S. Sellert, Art. Schwurgericht, in: HRG IV 1581 ff. (1583); Schwinge, Kampf, S.-66 ff. 41 Welker, Art. Rotteck, in: HRG IV 1169. 42 S. 0. Behrends, Art. Thibaut, in: HRG V 177 f.; Stühler, Diskussion, passim. -Dieser Streit war namentlich entbraMt, nachdem Anton Friedrich Justua Thibaut (1722-1840, s. über ihn Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 287; 0. Behrends aaO.) 1814 die Forderung nach einem großen nationalen, in allen deutschen Einzelstaaten gleichzeitig zu erlassenden Gesetzbuch erhoben hatte, das gleichermaßen Privat-, Straf- und Prozeß, also auch Strafprozeß-recht umfassen sollte. Dem war v.a. Friedrich Kar! von Savigny (1779-1861) entgegengetreten (a. 0. Behrends, Thibaut, in: HRG V 177).

0. Die zweite Phase

73

Der u.a. durch die Einwirkung des Idealismus und der Romantik jetzt vielfach einer "geistesgeschichtlichen Rechtsbetrachtung" zugewandte Zeitgeist43 hatte unter dem Einfluß der entstehenden Historischen Rechtsschule44 zu einer durch den abschreckenden Verlauf der Französischen Revolution und den nach 1815 aufkommenden Legitimismus besonders begünstigten45 verbreiteten Fixierung auf einen idealisierten älteren Rechtszustand gefiihrt, der, als dem "Volksgeist" entsprechend, im Wege der historischen statt vernunftrechtlichen Deduktion zur "organischen• Grundlage der weiteren Entwicklung gemacht werden sollte. 46 Diese Betrachtungsweise fiihrte u.a. dazu, daß auch dem Gemeinen Strafprozeß wieder ein gewisser Eigenwert allein schon aufgrund seiner historischen Faktizität beigemessen wurde. Mit der wachsenden Notwendigkeit zur Lösung konkreter Fragen entstand hieraus eine stärker an den historisch-politischen Verhältnissen oder gar am positiv-rechtlichen Zustand orientierte "realistischere" Betrachtung, jedoch keineswegs unter völliger Aufgabe liberaler Inhalte. 47 Infolgedessen bildete sich in dieser Phase- zusätzlich zu den Verteidigern des Gemeinen Prozesse und der vernunftrechtlichen Richtung, die besonders seit 1808 häufig in dem französischen Strafprozeß ihr Vorbild sah -eine weitere Richtung heraus, die zur Konstruktion zahlreicher "intrasystematischer Heilungsversuche • fiihrte. 48

43 Vgl. Stolleis, Geschichte 0 126 f. ; Würtenberger, Art. Herder, in: HRG 0 87 ff.; Knauer, Art. Gesetzlicher Richter, in: HRG I 1620 ff.; Selmer, Art. Gewaltenteilung, in: HRG I 1642 ff.

44 Schon 1802 hatte Friedrich Kar! von Savigny in seiner Marburger "Methodenlehre" die Ausschließlichlceit des geschichtlichen Erbes als bestimmender Faktor filr die Rechtswissenschaft propagiert und sich filr die Abkehr von Naturrecht und Philosophie ausgesprochen (s. dazu Thieme, Art. Historische Rechtsschule, in: HRG 0 170 ff.; 0. Behrcnds, Art. Thibaut, in: HRG V 175 ff; Kiefner, Art. Savigny, in: HRG IV 1313 ff.; Erler, Art. Gennanisten, in: HRG I 1582 ff.; Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 229 ff.; Michaelis, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft, S. 166 ff.; Sellert, in: JuS 1981, 799 ff.; jew. mwN.). 45 S. D. Grimm, Art. Öffentliches Recht 0, in: HRG

m 1203.

46 S. Maiwald, in: Semper Apertus 0 203; D. Grimm, Art. Öffentliches Recht 0, in: HRG ID 1203; Koehler, Art. Eichhorn, K.F., in: HRG I 858 ff. 47 S. Eb. Sehmidt, Einführung, S. 282 ff.; D. Grimm, Art. Öffentliches Recht 0, in: HRG m 1204; Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 12 ff. 48 Maiwald, in: Semper Apertus 11213; D. Grimm, Art. Öffentliches Recht 0, in: HRG m 1203; Welker, Art. Rotteck, in: HRG IV 1169 ff.

74

Kapitell: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vonnärzlichen Litentur

Die Kernfrage lautete- in der Formulierung von Karl Joseph Anton Mittermaier - : •Kann dem deutschen Processe durch Einführung einzelner Eigenthamlichkeiten des französischen Processes .. . geholfen werden ? Oder soll der deutsche Proceß . . . nicht lieber aus seinen eigenen Grundprincipien ... rtiformirt und nicht revolutionirt werden?49 ... Auf diese Art wird ... eine weise Strafproceßgesetzgebung eine Mischung von Formen des Anklage- und des lnquisitionsprocesses sein, sobald nur ihre Vorschriften in einem organischen Zusammenhange stehen. •50 Für die Staatsanwaltschaftsfrage schlug sich diese Entwicklung vor allem in zahlreichen Versuchen nieder, das aus dem französischen Recht bekannte Institut in die fortbestehenden Grundzüge des Gemeinen Prozesses einzupassen. 51 Es ging jetzt um das grundsätzliche Problem, ob die Staatsanwaltschaft integrierender Bestandteil eines auf liberale Prinzipien aufgebauten reformierten Verfahrens sei, oder ob sie sich auch in einzelnen Aspekten im Inquisitionsverfahren denken lasse. 52 49 Mittennaier, Stnfrechtaptlege (1819) S. 31.

50 Mittennaier, Anleitung zur Vertheidigungskunst (3. Autl. 1828), S. SO. 51 Einen maßgeblichen Anstoß hierzu gaben zB Georg Ludwig von Maurer (1790-1872) in seiner "Geschichte" von 1824 und Friedeich August Biener, Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprozesses (1827), in denen die gennanistische Komponente des fnnzösischen Rechta besonden betont wurde. Diese Seite der Staatsanwaltschaft betonte in der hannoverschen Diskussion auch zB König (Die CrPO, S. 16 f.): • .•• Unsere Väter wußten wohl, daß eine bloß buchstäbliche Conteolle (wie aie jetzt in den Obergerichten wider die Unterrichter besteht) ein todtes Ding ist, darum ernaMten aie Organe, welche die vom Gcactz dictirte Controlle ausüben mußten. Den Controleur des Richten (in der westphälisch-fnnzösischen Zeit war es der Staatsanwald) naMten unsere Väter Talemen ... So wir. wir im Königreich Westphalen Gcnenlllaatsanwälde hatten, die über den Staataanwälden llanden, so hatten auch unsere Viter GenenlTalemen . .. •. • (vgl. über Maurer: Leiser, Art. Maurer, in: HRG m 391 ff.; a. auch Schwinge, Kampf, S. 40 f.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 282 ff. (286)). 52 S. Rüping, in: GA 1992, 149; vgl. Kappler, Handbuch, S. 1007: • •.• ist die Mehrzahl der Criminalisten der Ansicht, daß . . . sich ein auf das Princip der Öffentlichkeit gebautes System • auch ohne Jury - recht gut durchführen ließe". - Julius Friedeich Heinrich Abegg (1796-1868; über ihn und die Hegetschule a. Eb. Schmidt, Einführung, S. 294 ff.; Stintzing/ Landsberg, Geschichte mt2 S. 669 ff.) etwa - dessen Lehrer Hege! in aeinen "Grundlinien der Philosophie de• Rechta" von 1821 (§§ 209 ff., S. 7 FN 18 f.) noch die Entscheidung der Fnge, · "ob mit öffentlichem Ankläger oder 10, daß der Richter untersucht", aybilliniach mit dem Bemerlcen abgetan hatte, "alle dieac Formen sind zweclcmäßig, weM aie gut gehandhabt werden; das Beste scheint, diejenige beizubehalten, mit welcher man durch längeren Gebnuch vertnut geworden ist"- versuchte "unter Entfernthalten allealediglich Subjectivcn• (Beiträge S. 23) Rücbicht zu nehmen "auf die geschichtliche Bildung dea Rechta, auf die Nationalität, auf die politischen Einrichtungen", mit denen daa Verfahren im Einlclang stehen müsse (Beiträge S. 64); • ... daß ·wir nicht genöthigt sind, da• ganze System und Gebäude zu verlassen. • (Abegg, Beiträge, S. 37). "So wäre Cl demnach möglich, unserem Verfahren, ohne die Grundlagen desselben aufzugeben, ... Theils durch Wiedenufnahme Dessen, was bereita bestehender Rechtagebnuch war, Theils durch Einschärfung der schon in Knft gewesenen gesetzlichen Vorschriften,

D. Die zweite Phase

75

Quantitativ begannen in dieser Phase die Reformautoren aller Schattierungen den Schwerpunkt in der Strafprozeßliteratur einzunehmen und die Verteidiger des Gemeinen Prozesses abzulösen. 53 Wesentliche Impulse gingen dabei insbesondere von den Schriften Feuerbachs aus. 54 Erschwert und verzögert wurde die Diskussion in dieser Zweiten Phase allerdings durch die nach 1815 überall einsetzende Restauration, insbesondere die Demagogenverfolgungen. 55 Da u.a. die Karlsbader Beschlüsse von 181956 vorsahen, daß "politische Professoren"57, die "durch erweisliche Abweichung von ihrer Pflicht oder Oberschreitung der Grenzen ihres Berufes, durch Mißbrauch ihres rechtmlißigen Einflusses auf die Gemather der Jugend, durch Verbreitung verderblicher, der IJ.ffentlichen Ordnung und Ruhe feindseliger oder die Grundlagen der bestehenden Staatseinrichtungen untergrabender Lehren" aus dem Amt zu Theils endlich durch Hinzufügung eine Einrichtung zu geben, bei welcher die Gerechtigkeit wahrgenonuncn würde. • (Abegg, Beiträge, S. 73 f.).

53 Insofern mochte Feuerbach durchaus mit Recht bemerken: "Wären wir vor 20 Jahren eingeschlafen, um, wie Epimenides, erst jetzt wieder zu erwachen, so würden wir glauben, ein Jahrtausend ~ey unterdessen über den Schläfern hingegangen. • (Öffentlichkeit, Vorrede S. 1). 54 S. Maiwald, in: Semper Apertus D 202; Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 79 ff.; Stintzing/Landsberg, Geschichte Dl/2 111 ff.; 131 ff.; Naucke, Art. Straftheorie, StrafZweck, in: HRG V 2 ff.; dera., in: ZStW 87, 861 ff. - Feuerbach verband die in Kant kulminierende Richtung der Autldärung mit einer empirischen Arbeitsweise, die methodisch sowohl staatsrechtliche als auch prozeßpsychologische Elemente verband (a. hierzu Lüderasen, Art. Feuerbach, in: HRG 1 1118 ff.). Inhaltlich sprach er sich zunächlll zwar für Öffentlichkeit und Mündlichkeit und auch eine auf die Anklage beschränkte Staatsanwaltschaft aus, lehnte aber Geschworenengerichte ab. Dies wurde ihm - mit den Worten von Gustav Radbruch - "auf der Seite der Liberalen ebenso verdacht, wie auf Seiten der Reaktion das grundsätzliche Eintreten für Öffentlichkeit und Mündlichkeit" (s. Lüderasen, Art. Feuerbach, in: HRG 1 1122). - Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die bei Gelegenheit der Erarbeitung des bayStGB 1813 geäußerten Ansichten Feuerbachs - er sah dort zB einen Kronfiskal als Schlußankläger in der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung vor - nicht zu seinen Lebzeiten an die Öffentlichkeit gelangten, so daß sie die Diakusaion nicht beeinflußt haben köMen (s. zum ganzen Eb. Schmidt, Einführung, S. 280; Cornclissen, Feuerbach, S. 59 ff.; Thierfelder ZStW 53 (1934), 403 ff.; letzterer unter Auswertung der im D. Weltkrieg vernichteten bayrischen Archivbeatände; ferner die beiden bekannten "ldauischen" Darlltellungen bei Radbruch, Feuerbach, passim, und Erik Wolf, Rechtsdenker, S. 543 ff.; umfassende weitere Literaturnachweise zu Feuerbach auch bei Kleinheyer/ Schröder, Juraitenm, S. 79 ff.). 55 S. dazu Schwinge, Kampf, S. 45 ff.; Wegener, Art. Restauration, in HRG IV 940 ff.; Etter, Art. Reuter, Fritz, in: HRG IV 952 tr., ders., Art. Dcmagogenverfolgungen, in: HRG 1 677 ff.; Krause, Art. Gesetzlicher Richter, in: HRG I 1625.; Dilcher, Art. Kanuncrgericht, preußisches, in: HRG D 580 ff., jew. mwN. 56 S. dazu Sellert, Art. Karlsbader Beschlüsse, in: HRG D 651 f.

57 S. Welker, Art. Rotteck, in: HRG IV 1170.

76

K.apite13: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vonnärzlichen Uteratur

entfernen waren58, war die Frage der Strafprozeßreform außer ihrer wissenschaftlichen Bedeutung unversehens fiir die Autoren selbst, jedenfalls soweit sie Staatsdiener - etwa Professoren oder Richter - waren, zu einer Existenzfrage geworden. Die mehrheitlich bürgerlich-liberal gesinnten Professoren gerieten jetzt in den inneren Zwiespalt, als Lehrer des positiven Strafprozeßrechts eine Gesetzeslage akzeptieren und dogmatisch bearbeiten zu müssen, der sie- "Geheime Inquisition, Censur und Cabinetsjustiz im verderblichen Bunde"59 - als politisch denkende Staatsbürger zumeist kritisch gegenüberstanden. 60 Von kommissarischer Verwaltung der Universitäten, Bespitzelung der Vorlesungen und durch Zensurmaßnahmen direkt betroffen61, außerdem ständig in Kontakt mit der politisch bewegten Studentenschaft, bewegten sie sich, wie etwa das Beispiel der Göttinger Sieben oder auch die Erfahrungen Christoph Martins in Heidelberg zeigten62, "potentiell auf unsicherem Gelände" (Stolleis). 63

111. Die Schlußphase zwischen 1842 und 1848 Die dritte und letzte Phase in der Entwicklung der vormärzliehen Literatur zur Staatsanwaltschaftsfrage kann man in etwa auf den Zeitraum zwischen 1842 und 1848, also die letzten Jahre des Vormärzes, verorten.64 War bis dahin die Entwicklung gewissermaßen unentschieden verlaufen zwischen den einander bekämpfenden zahlreichen Spielarten der Vernunftrechtlichen und der Historisch-Organischen Rechtsschule, so hatten sich um 58 Provisorischer Bundesbeschluß über die in Ansehung der Universitäten zu ergreifenden Maßnahmen vom 20.9.1819 (bei E.R. Huber, Dokumente I, Nr. 31). 59 So der Titel der verbreiteten Schrift von Schulz/Welck:er aus dem Jahre 1845. 60S. Stalleis Geschichte D 81; Maiwald, in: Semper Apertus D 212. 61 S. Mallmann, Art. Presaerecht, in: HR.G m 1902 ff. 62 S. Erler, Art. Göttinger Sieben, in: HR.G I 1773 ff.; Maiwald, in: Semper Apertua D 214 ff. 63 In der Studentenschaft existierten die liberalen und burschenschaftlichen Ideen trocz aller Verbote im Untergrund weiter (1. Stolleis Geschichte D 81 f.; Hammeratein, Art. Univenitäten, in: HR.G V 492 ff. (500 ff.); Hardtwig, in: HZ 242 (1986), S. 581 ff.; Janusch, Studenten, s. 13 ff. (58). 64 •Ab 1843 begann sich die neue Prozeßstruk:tur in Deutschland durchzusetzen• (Maiwa1d, in: Semper Apertus D 214). - Schwinge, Kampf, S. 66 ff. benennt als mark:anles äußeres Datum für die Entstehung dieser Phase die Gründung der ZSfdtStrVerf im Jahre 1841.

ßl. Die Schlußphase

77

1842 herum die inhaltlichen Fronten verfestigt und so verhärtet, daß wesentIich neue theoretische Modelle kaum noch aufkamen. 65

Gleichzeitig hatte die neue Generation der Prozessualisten, namentlich um Heinrich Albert Zachariae66 und insbesondere "den als Stern erster Ordnung hervorleuchtenden" Karl Joseph Anton Mittennaier67, die Frage der Prozeßreform zu ihrem Lebenswerk gemacht und beherrschte mit einer Vielzahl von -auch rechtsvergleichenden- Monographien, Handbüchern und Zeitschriftenaufsätzen das Feld, ohne allerdings in den Einzelheiten, etwa der Staatsanwaltschaftsfrage, letzte Einhelligkeit zu erreichen. 68 Dem hatten die jetzt auch zahlenmäßig schwächer werdenden Verteidiger69 des alten Gemeinen Prozesses, wie z.B. Christoph Martin, Anton Bauer und Christoph Joseph Conrad Roßhirt70, zusehends weniger entgegenzusetzen. 71 65 Das belegen auch die um diese Zeit stereotyp werdenden Vorreden, zB bei Mittennaier, Mündlichkeit, ßl ff. oder Hoepfner, Anklageprozeß, S. ßl ("Das Für und Wider ist so oft und lange besprochen, ... daß jeder neue Beitrag zur Yennehrung einer schon überaus reichen Literatur fast als ein überflüssiges oder gar verwegenes Beginen erscheinen könnte") und Zachariae, Gebrechen, S. IV ("So unendlich häufig auch bisher (davon) die Rede gewesen ist ... "). -Auch Kappier stellte 1838 (Handbuch, S. 973) fest: "Wie in Absicht auf das Criminalrecht überhaupt, so hat sich insbesondere auch auf den Criminal-Proceß das Bedürfnis der Refonn ... längst allgemein kund gegeben" .

66 Heinrich Albert Zachariae (1806-75), ein Schüler Gustav Hugos und Eichhorns, zunächst Zivilist, dann Strafprozessualist und nach dem Weggang Albrechts infolge der Ereignisse von 1837, zunächst aushilfsweise, auch Staatsrechtslehrer in Göttingen (s. hierzu Starck, in Loos (Hg), Rechtswissenschaft, S. 209 ff.; Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 356; Brodauf, Lebenswerk, passim; Eb. Schmidt, Einführung, S. 291 ff.). - Stolleis (Geschichte ß 94 ff. (95)) bescheinigt ihm einen "kaum originellen gemäßigten Liberalismus". Noch seine "Grundlinien" von 1837 bewegen sich ganz auf dem Boden des Gemeinen Prozesses und sind insofern vielleicht ein Beispiel fiir das Dilemma eines persönlich vonichtigen "politischen Professon" im Vormärz. Allerdings schlug Zachariae in seinen späteren strafprozessualen Schriften etwa ab 1845 einen sehr entschiedenen, mitunter polemischen, Reformton an (Gebrechen, passim; Verfahren, passim). 67 S. über Mittermeier Maiwald, in: Semper Apertus ß 197; Neh, Auflagen, S. 25 ff.; Landwehr, in: Küper (Hg), Strafrechtslehrer, S. 69 ff.; Stegemeier, Bedeutung, passim; Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 177 ff.; Stintzing/LandsbeiJ, Geschichte ßl/2, S. 413 ff.. 68 S. Maiwald, in: Semper Apertus ß 214; s. Mittcrrnaier, Die Mündlichkeit (1845),

s. m ff.).

69 Freilich erhielt um diese Zeit diese Richtung nochmals Auftrieb durch die zeitgleich aufkommenden konservativen Schriften zB von Friedrich Julius Stahl (Philosophie des Rechts), Giuseppe Carmignani (l'eoria delle leggi, bes. Bd. IV 281 ff.) und Johann Ernst Hoepfner, Anklageprozeß, S. 25 ff.), durch die der InquisitionsprozeR nochmals einen - späten - staatstheoretisch-rechtsphilospohischen "Überbau • erhielt. 70 Über Roßhirt und sein prozessuales Werk s. Stintzing/LandsbeiJ, Geschichte ßl/2 S. 340; v. Lilienthal, in: Küper (Hg), Strafrechtslehrer, S. 14 f.; Eb. Schmidt, Einfiihrung, s. 286.

78

Kapitel3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vormärzliehen Literatur

Die Entstehung dieser Dritten Phase ging äußerlich eng einher mit einem u.a. durch die verschiedenen regionalen Verfassungskonfli.kte, aber auch die sozioökonomiscben Folgen der einsetzenden Industriellen Revolution und deren Auswirkungen bedingten generellen Erstarken der bürgerlich-liberalen Richtung. 72 Zuerst kam es in der Folgezeit im Großherzogtum Baden und im Königreich Württemberg 1843 bzw. 1845 zum Erlaß von ansatzweise reformierten Strafprozeßordnungen73 , die zwar Staatsanwaltschaften als Anklagevertretungen vorsahen, jedoch auf Geschworene verzichteten und überhaupt versuchten, die bestehenden Einrichtungen der Strafrechtspflege mit den liberalen Ideen möglichst "organisch" zu verbinden. Dies fand nur wenig später sein Echo im Königreich Preußen, wo nach einer bereits längeren Beschäftigung mit der Frage im preußischen Justizministerium das Gesetz vom 17. Juli 1846 erlassen wurde, das ebenfalls eine teilweise Übernahme liberaler Elemente, u.a. insbesondere auch die Einführung einer Staatsanwaltschaft, vorsah. 74 Zwischen 1842 und 1844 fand eine alle bisherigen Argumente der Strafprozeßdebatte nochmals zusammenfassende und ausleuchtende, weithin verbreitete Reformdiskussion auch in der Ständeversammlung des Königreichs Sachsen statt. 75 Damit war in em1gen der bedeutendsten Staaten des Deutschen Bundes auch gesetzgeberisch Bewegung in die wissenschaftlich-argumentativ weitgebend festgefahrene Debatte gekommen. Dies blieb wiederum nicht ohne 71 "Der Streit um die Prinzipien Öffentlichkeit, Mündlichkeil und Anklageprinzip war in der Literatur im Jahre 1846 bereits entschieden" (Schwinge, Kampf, S. 72). 72 S. E.R. Huber VerfG D 30 ff.; 435 ff.; Stolleis, Geschichte D 187 ff. (208 speziell zu HaiUIOver). - "Alles trieb von 1846 an auf eine Krise zu ... Die Staatstheorie sprach mit ebenso vielen Zungen, wie es Parteiungen gab. Eine gemeinschaftliche Diskussionsebene fand sich im Grunde nicht. Der Inhomogenität der gesellschaftlichen Probleme entsprach diejenige der Theorien .. . , standen sich die staatstheoretischen Ausführungen ... unvenöhnt gegenüber" (Stolleis, Geschichte D 185). 73 BadGVG v. 06.03.1845 (bei Häberlin, Sammlung, 353 ff.) und badStPO v . .06.03.1845 (bei Häberlin, Sammlung, 370 ff.); württStPO v. 22.06.1843 (bei Häberlin, Sammlung, 523 ff.). 74 S. sowie Rüping, in: GA 1992, 147 ff.; Otto, Staatsanwaltschaft, S. 53 ff.; Elling, Einführung, S. 82 ff.; Eb. Schrnidt, Einführung, S. 330 f.

75 1843 veröffentlicht (Volkmann, Die Stände Sachsens); s. Elling, Einführung, S. 92 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 329 f.

IV. Inhaltliche Hauptströmungen

79

Auswirkung auf die wissenschaftliche Literatur, die jetzt Gelegenheit hatte, die seit Jahrzehnten diskutierten Prozeßformen anband ihrer positivrechtlichen Umsetzung auf ihre praktischen Vorzüge hin zu untersuchen. Allerdings waren diese frühen Gesetze noch weit davon entfernt, den Forderungen der meisten Reformautoren zu entsprechen, da sie sämtlich weiterhin an wesentlichen Grundlagen des Gemeinen Prozesses festhielten. Insbesondere nahm noch keiner der Entwürfe die Forderung nach Volksbeteiligung an der Rechtspflege durch Geschworenengerichte auf. 76 In der Frage der Staatsanwaltschaft sahen zwar alle drei Gesetze einen öffentlichen Ankläger vor. Dieser war aber materiell meist beschränkt auf die Erstellung einer Anklageschrift, die allein auf das- ohne seine Beteiligung zustandegekommene - Ergebnis der richterlichen Voruntersuchung gestützt war. Außerdem oblag ihm regelmäßig die Einlegung von Rechtsmitteln im öffentlichen Interesse. 77

IV. Inhaltliche Hauptströmungen und Kernpositionen zur Frage der Staatsanwaltschaft 1. Extreme Standpunkle Nur im weitesten Sinne ausgebend von den großen politischen Hauptrichtungen des Konservatismus und des Liberalismus, lassen sich in der Staatsanwaltschaftsfrage zunächst zwei hauptsächliche "Extremgrade" unterscheiden. Deren mit dem Gegeneinander von Vernunftrechtsschule und Historischer Rechtsschule verwobener Dualismus bat maßgeblich die Entwicklung des Strafprozeßrechts während des ganzen Untersuchungszeitraums bestimmt. Um sie herum gruppieren sich - gewissermaßen "bipolar" - mit unscharfen Grenzen und oft kompromißbaft in höchst unterschiedlichen Ausprägungsgraden zahlreiche "Verdünnungs- und Randformen". Die beiden "Extremgrade" werden bezeichnet zum einen durch die Modelle einer umfassenden Staatsanwaltschaft als Gesetzeswächter mit Befugnissen weit über den eigentlichen Strafprozeß hinaus, oft ausgestaltet in Anlehnung 76 Dazu •· Schwinge, Kampf, S. 70 ff.

n

BadStPO 1845, §§ 41 ff.; 272 ff.; württStPO 1843 §§ 262 ff.; 373 ff.; preußG 1846 §§ 32; 72 (alle bei Häberlin, Sammlung, aaO.).

80

Kapitel 3: Die Staataanwaltschaft im Spiegel der vonnärzlichen Literatur

an den französischen ministere public (m.p.), und zum anderen durch die kompromißlosen Gegner einer Staatsanwaltschaft überhaupt. Dabei ergibt sich allerdings keine einfache Zweiteilung in dem Sinne, daß alle Liberalen Befürworter, alle Konservativen Gegner der Einfiihrung einer Staatsanwaltschaft gewesen wären. Vielmehr gab es, wie die Darstellung im einzelnen zeigen wird, sowohl "hochkonservative" Befürworter der Einführung einer Staatsanwaltschaft- die diese nämlich als nur um so besseres polizeistaatliches Instrument gegen "bösartige Politiker" und "unreife Geister"18 zu gebrauchen gedachten - als auch liberale Autoren, die diesem Institut eben wegen seines befürchteten Mißbrauchs in einem Polizeistaat grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden. a) Die kompromißlosen Gegner der Staatsanwaltschaft aa) Konservative Gegner der Staatsanwaltschaft

Zu diesen sind zunächst diejenigen Autoren zu rechnen, die aus konservativer Sicht der Einführung der Staatsanwaltschaft schon deshalb ablehnend gegenüberstanden, weil sie überhaupt am bestehenden Gemeinen Prozeß als der denkbar besten und gerechtesten Form der Strafrechtspflege festhalten wollten. 79 Typisch für diese - häufig politisch-religiös motivierten - konservativen Gegner der Staatsanwaltschaft ist ihre methodische Anlehnung an die Historische Rechtsschule, indem für sie allein die durch die Geschichte überlieferte

78 A. Müller, Institut, S. 234; 238. 79 Dieae Position vertrat bspw. Anton Bauer (1. Bloy, in: Loos (Hg), RechtswisaeiUIChaft, S. 190 ff.); explizit etwa in seinem "Lehrbuch des Strafprocesaes" von 1835, S. 372: "Die Untersuchungsform ... entspricht dem Wesen der Strafjustiz als der aelbstthätig waltenden Erhallerin der Rechtsordnung . . . unabhängig von der Willlcür und der hemmenden Einwirkung eines mit bestimmten Behauptungen auftretenden Anklägers ... gegen ... Einseitigkeit oder Willlcür des Untersuchungsrichters schützen theils die Formen des Verfahrens ... , theils die strenge Aufsicht und Leitung der zur sorgfältigen prüfung der lnstruction verpflichteten erkennenden Gerichte, theils die innere Öffentlichkeit des Verfahrena ... •. - Ähnlich auch Martin, Lehrbuch (4. Aufl. 1836), passim, bes. S. 36 ff.; Roßhirt; Zwei kriminalistische Abhandlungen, S. 82 ff.; ders., in: NAdC VID, 182 f.; Höpfner, Anklageprozeß, 26 ff.; ferner Stahl, Philosophie des Rechts (l.Aufl. Bd. D S. 400); und Carmignani (Teoria delle leggi IV S. 281 ff.) sowie das Sondervotum von Kircheisen zur preußischen Immediatjustizkommission von 1818 (bei Landsberg, Gutachten, S. 282 ff.; 340 ff.).

IV. Inhaltliche Hauptströmungen

81

Rechtsordnung als "Ausdruck göttlicher Aktualität und Substantialität" maßgebend war. 80 Schon deshalb konnte fiir sie eine Übernahme der Staatsanwaltschaft als eines originär französischen und damit "volksfremden" Prozeßelements nicht in Betracht kommen. Da zudem aus konservativer Sicht die Gerichte nicht als unabhängige dritte Gewalt, sondern allenfalls stellvertretend als Organ des allein rechtsprechenden Monarchen judizierten, mußte es als geradezu systemwidrig erscheinen, das Interesse des Monarchen gleichsam vor sich selbst noch durch eine zusätzliche besondere Behörde vertreten zu lassen. 81 Typisch ist fiir die Begründungen dieser Autoren auch die häufig geäußerte Besorgnis, die Einführung von Reformelementen wie der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde werde zum Einfallstor fiir weitergehende franz.ösische Rechtsideen werden und sei schon deshalb abzulehnen. Außerdem wurde mit der spätabsolutistischen Auffassung von der nur im lnquisitionsprozeß gewährleisteten Aufgabe der staatlichen Gerichte zur allumfassenden Strafrechtspflege argumentiert. 82 Häufig waren auch Hinweise darauf, daß die französische Staatsanwaltschaft nicht einmal innerhalb des Geltungsbereichs des französischen Prozeßrechts schwerwiegende Mißstände in der Rechtspflege verhindert hätte und deshalb auch objektiv keine Verbesserung des Strafprozesses bewirke.

80S. Sellert, Art. Stahl, F .J., in: HRG IV 1882 ff.; Boldt, Staatslehre, S. 196 ff.; Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 255 ff.). 81 S. Hoepfner, Anklageprozeß, S. 26 ff. 82 So zB Ernst Ferdinand Klein (s. über ihn Holzhauer, Art. Klein, in: HRG ß 866; Stintzing/Landsberg, Geschichte IWI S. 515; Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 336), in: AdC VI (1806), 113 ff.; auch Weber, in: NAdC IV (1821), 601 ff. ("Öffentlichkeit iat eine Störung schneller und sicherer Rechtspflege ... Das durchgängige Niederschreiben des Verhandelten ist tür eine gründliche Justizpflege passend, schon wegen der Aburtheilung bedeutender Stnfsachen durch eine vom Untersuchungsbeamten getrennte Entscheidungsbehörde ist vollständige Aktenfertigung unerläßlich ... Nur die rechtskundigen und ständigen, tür diesen Beruf eigens gebildeten Richter versprechen diejenige gründliche Justizpflege, die der verwickelte Zustand unserer Rechtsverhältnisse erfordert ... Das inquisitorische Verfahren ist am besten geeignet, Verbrechen schnell zu entdecken und abzuurtheilen"). -Gegen die fnnzösischen Prozeßelemente und die Staatsanwaltschaft auch Schnmm, Freimüthige Bemerkungen über das öffentliche mündliche Verfahren (1817); Trinermann, Die Nachtheile des öffentlichen Verfahrens .. . (1817); Köl, Briefe über die jetzigen Angelegenheiten der deutschen Rheinlande (1818); Mosqua, Prüfung der neueaten Gründetür die öffentliche mündliche Rechtspflege (1818); v.Putlitz, Vertheidigung der preußischen Gerichtsverfassung (1818), jeweils passim. - Auch diese Richtung gründete eine eigene Zeitschrift (v. Kamptz' Jahrbüchertür die preußische Gesetzgebung.- Zu v. Kamptz s. Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 334 mwN.).6 Knollmann

82

Kapitel 3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vonnärzlichen Litentur

Diesem Lager dürften auch diejenigen Autoren zuzurechnen sein, die sich für die Einführung einer Staatsanwaltschaft als bloßer Staatsrekurrentin aussprachen. 83 Da es sich bei diesen Vorschlägen materiell nur um eine Wiederaufnahme und Weiterentwicklung von längst bekannten Instituten des Inquisitionsprozesses handelte, während die eigentliche Anklagefunktion des Staatsanwalts gerade ausgeklammert blieb, handelte es sich bei diesen Autoren in Wirklichkeit nicht um Befürworter, sondern um Gegner der Einführung einer Staatsanwaltschaft i.e.S. bb) Liberale Gegner der Staatsanwaltschaft Auch eine Reihe von liberalen und reformorientierten Autoren lehnte die Staatsanwaltschaft ab. Ausgangspunkt war hier die Auffassung, daß die "historisch-rganische" Reform des Prozesses durch die nicht kumulative, sondern alternative oder sogar isolierte Einführung von Mündlichkeit, Öffentlichkeit oder auch des Geschworenengerichts jeweils für sich genommen bereits ausreiche. Diese Autoren wollten im übrigen jedoch an den hergebrachten Strafprozeß- und Gerichtsverfassungsgesetzen, also an der inquisitionsrechtlichen Grundstruktur des Strafprozesses, festhalten. 84 Eine Staatsanwaltschaft erschien ihnen als eine nicht nur überflüssige, sondern wegen der mit ihr verbundenen drohenden direkten Eingriffsmöglichkeiten der Regierung in die Dritte Gewalt sogar höchst bedenkliche Institution. Häufig wurde zur Begründung auch hier auf die Rechtswirklichkeit in Frankreich und dem Rheinland verwiesen, wo die Staatsanwaltschaft als ministere public nicht nur zur Zeit Napoleons 1., sondern auch noch später, etwa während der Demagogenverfolgungen, nicht nur zahlreiche Eingriffe und Machtsprüche nicht verhindert hatte, sondern auch gerade wegen ihrer hierarchischen Gliederung und ihrer Oberaufsicht über die Polizei, ohne

83 Zu dieser Strömung fiir eine "Wiederbelebung dea Fislcalata• s. Rüping, in: GA 1992, 147 ff. - So z.B. Stübel, Criminalverfahren, bereit& 1811 (§§ 3200, 3186): "Ea gibt noch den Ausweg, einen Fiscal zu excitiren, damit dieser die Beschwerden des Staat& wider ein freysprechendes Urthel vortnge und ein neues Erkenntniß darüber vennlasse• (zu Christoph Carl Stübel (1764-1828) s. Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 3S3 mwN.). 84 So z.B anfangs noch Zachariae, Grundlinien des gemeinen deutschen Criminai-Processes (1837), S. V; anders dann aber zehn Jahre später den., Gebrechen, passim.

IV. Inhaltliche Hauptströmungen

83

richterliche Unabhängigkeit ihrer Angehörigen, zu einem Unterdrückungsinstrument geworden war. 85 b) Die Befürworter einer mit umfangreichen Befugnissen versehenen Staatsanwaltschaft aa) Die liberale Richtung

Das andere Extrem bildeten diejenigen Autoren, die für die Einführung einer mit möglichst umfassenden Kompetenzen versehenen Staatsanwaltschaft nach dem Vorbild des französischen ministere public, und zwar zumeist im Kontext einer umfassenden an Frankreich orientierten Strafprozeßreform mit Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Geschworenen, eintraten. "Palliative helfen nicht mehr, ist die beliebte Redensart. •86 Diese Autoren - an ihrer Spitze besonders anfänglich viele "rheinische Praktiker", daneben aber auch viele vernunftrechtliche und politisch prononciert liberale Verfasser - traten dafür ein, zusammen mit dem gesamten französischen Verfahrens- und Gerichtsverfassungsrecht auch den minist~re public, also eine sehr umfassend zuständige Staatsanwaltschaft, zu übernehmen. 87 Für sie brauchte die Reform gerade nicht bei einer Weiterentwicklung des schon durch seine geschichtliche Existenz legitimierten bestehenden Gemeinen ProzeHrechts stehenzubleiben. Vielmehr war Spielraum eröffnet für sehr viel weitergebende, "revolutionäre" Reformen, die methodisch unbedenklich grundsätzlich auch in einer Übernahme ausländischer Rechtsinstitute bestehen konnten.

85 In der Tat war der m.p. sowohl unter Napoleon al• auch zB während der Demagogenverfolgungen im preußi~ehen Rheinland ein eff"azientes Unterdrüclcungsinstrument gewesen, das keineswegs im Sinne eines "Gesetzeswichten" rechtsstutliche Garantien gewährleistet hatte (vgl. Wegener, Art. Restsuration, in: HRG IV 940 ff.; Erler, Art. Demagogenverfolgung, in: HRG I 677 ff.). 86 Formulierung nach Hoepfner, Anldageprozeß, S. 3, der allerdings selbst in ausdrücklicher Anlehnung an Stshl ein erklirter Gegner der liberalen Prozeßmaximen und der Stsatsanwaltachaft war (ebd. S. 22, 25). 87 So zB die Mehmeitsmeinung der preußi~ehen Immediatjustizkonunission von 1818 (bei Landsbet'J, Gutachten, S. 92 ff. ; 108 f.), ferner zB Welcker, Art. Anklage, in Staatslexikon, 2. Auß. Bd. 0 544 ff.; Thesmar, StaatsanwaltiChaft, S. 29 f.; Hadamar, Die Vorzüge der öffentlichen mündlichen Rechtspflege (1815); Ruppenthal, Rechtfertigung des öffentlichen mündlichen Verfahrens (1818); Bewer, Über das öffentliche Verfahren vor Gericht (1819}, jew. passim.

84

Kapitel3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vormärzliehen Literatur

Diese Autoren verwiesen zur Begründung meist auf die positiven Erfahrungen mit dem französischen Modell. Sie nahmen die ausführliche Beschäftigung mit dem Vorbild zum Anlaß, dem neuen Organ umfassend das Recht zu Untersuchungen, zur Anklage und zu Rechtsmitteln zu geben und es als oberste Justizverwaltungsstelle einzusetzen. Staatstheoretisch überhöht, sollte der Zweck des Staates, das Wohl des Ganzen zu fördern, ein eigenes Organ notwendig machen, um auf die Beachtung des Rechts als Ausdruck der volonte generate hinzuwirken. 88

bb) Konservative BeftJrworter der umfassenden Staatsanwaltschaft Es gehört zu den in der bisherigen Forschung offenbar weniger beachteten Aspekten der vormärzliehen Staatanwaltschaftsdiskussion, daß auch diese zweite Extremposition Befürworter - naturgemäß von völlig anderen Ausgangspositionen her und mit ganz verschiedener Zielrichtung - auch im konservativen Lager gefunden hat. Ein Beispiel für diese - zugegebenermaßen eher vereinzelt gebliebene Richtung ist der Weimarer Regierungsrat Alexander Müller, dessen 1825 erschienene Schrift89, eine der ersten deutschsprachigen Monographien zum Thema überhaupt, in der bisherigen Literatur- zu Unrecht- vielfach in einen Kontext mit liberalen Schriftstellern gestellt wird.90 Müller unternahm den Versuch, eine mit sehr weitgehenden Kompetenzen ausgestattete Staatsanwaltschaft- nach dem offensichtlichen formalen Vorbild des französischen ministere public - in einen ansonsten fortbestehenden geheimen Inquisitionsprozeß einzupassen91 und so gewissermaßen den dogmatischen Überbau für eine "polizeistaatliche Staatsanwaltschaft" zu liefern. 92

88 Rüping, in: GA 1992, 148. 89 Müller, Institut. 90 Etwa bei Elling, Einführung, S. 32 f. und Carsten, Geschichte, S. 18. 91 In der bisherigen Lit. wird dieser gegenüber den liberalen Reformautoren gänzlich verschiedene Gesamthintergrund meist nicht recht deutlich. Die iaoliert auf Müllers Staatsanwaltschaftsmodell fixierte ältere, ideengeschichtliche Sichtweiae übersieht anscheinend, da8 Müller im übrigen mit großem rhetorischen Aufwand für eine "reine Monarchie" plädierte, die den Deutschen am meisten zusage; und heftig gegen die "Paroxysmen der Constitutionawuth" polemisierte (A. Müller, Meine Anaichten wider das deutsche Repräsentativsystem, und über die Hauptursachen der zunehmenden Volksunzufriedenheit, insbeaondere über manches, was päbstelt, bes. S. 3 ff.), weshalb ihn zB Stolleis (Geschichte 0 FN 179) ohne weiteres in einen Kontext mit Ancillon stellt (zu dieaem s. ebd. S. 147 f.). Auch an diesem Beispiel zeigt sich

IV. Inhaltliche Hauptströmungen

85

Damit stellte er die liberale Theorie, wonach die Staatsanwaltschaft als Ausdruck der Gewaltenteilung gerade zum Schutze des Bürgers an der Strafrechtspflege mitwirken sollte, geradezu auf den Kopf. Eine solche Staatsanwaltschaft mußte den liberalen Autoren in der Tat als ausgesprochenes Schreckbild erscheinen. Es mag zu der Überzeugung beigetragen haben, dieses Element des französischen Prozeßrechts sei tunliehst nicht mit zu übernehmen.93

wieder die überaus enge Verflechtung der strafprozessualen und staatsrechtlichen Dogmatik im Rechtsdenken der Zeit. 92 Müller schwebte das Modell eines Staatsanwalts als "Gesetzeswächter" vor, der, "verpflichtet, überall ... , wo der richterliche Sinn des Gesetzes oder die ordnungsmäßige Verfahrensart .. . bei Seite gesetzt worden, die Sache .. . an den Oberrichter anzuzeigen" (Staatsanwaltschaft, S. 198), bei Beibehaltung des schriftlichen und geheimen Inquisitionsprozesses im übrigen (Ebd.,l86), eine Schlußanklage vertreten und im übrigen als Kontrollorgan dem verfassungsmäßigen Oberaufsichtsrecht des Regenten über die gesamte Rechtspflege zum Erfolg verhelfen sollte (Ebd., 94). Gleichzeitig sollte diese "Staatsbehörde" als "constitutionelle Vorsorge" die "Rechte der untet~eordneten Volksklasse gegen jede Art von Arglist und Bedrückung" schützen (Ebd. 141). "Diese höhere Oberaufsicht ersetzt ... jene Beschränkungen, welche durch mündliche und öffentliche Verhandlung und ... Geschwomen-Gerichte der Willkühr des Richten gesetzt werden sollen. • (Ebd. 186). - Dieser "modifiZierte" Staatsanwalt sollte bei Müller des weiteren "den Richtern, wenn sie über den wahren Sinn einer Gesetzesstelle zweifelhaft sind, ... seine rechtliche Ansicht eröffnen ... gleichsam die Stelle eines beständigen Gesetzgebungsrathes vertreten" (Ebd. 196), und "gegen jedes nichtige Erkenntniß ... von Amtswegen ... die Cassation verlangen" (Ebd. 198). Auch sollte er eine "Sammlung wichtiger Rechtssprüche" jährlich veröffentlichen (Ebd. 201) und "wenigstens eirunal in drei Jahren" an das Jullizministerium eine "Denkschrift" mit VerbeaaeruJliavorschlägen einreichen (Ebd. 203). Außerdem sollte er die Aufsicht über die Advokaten führen (Ebd. 205), dem Gerichtsvonteher von "Personalgebrechen an Rätben und Kanzleibeamten" berichten (Ebd. 208) und als der "gesetzliche Contradietor bei Flleklagen" auftreten (Ebd. 212). Als "Organ des Justizministen" (Ebd. 219) sollte dieser Staatsanwalt "gleich einer fortwährenden Visitations-commisaion" (Ebd. 234) die Gerichte überwachen und im übrigen auch besanden darauf achten, "daß die Anmaßungen rebellischer Unterthanen .. . nicht ungestraft bleiben" in einer "von der Idee der bürgerlichen Freiheit zu sehr bewegten ... Zeit", in der "unreife Geister dem Republikanismus kläglich nachstottern ... gegen diese bösartigen Politiker kann es Aufsichts-Anstalten nicht genug geben. • (Ebd. 238 f.). Die Gefahr einer wenigstens indirekten Kabinettsjustiz durch einen solchen Aufsichtsbeamten sah Müller "schon durch die hohen Eigenschaften beseitigt an, die so einen Stellvertreter der Regierung zieren müssen ... es wire eine Versündigung an Deutschland, nur den Gedanken fassen zu wollen, daß sich ein deutscher Staatsanwalt wie ein italienischer bargello werde gebrauchen lassen" {Ebd. 224). -Müller ltrebte also offenbar eine Kombination der Figur des franzöaischen Ministere Public, jedoch nur, insoweit dieser Gesetzeswächter im Zivil- wie Strafprozeß war, mit den Grundsitzen des Gemeinen Prozesses an und legte dabei das eindeutige Schwergewicht auf die Justizaufsichtsfunktion des m.p. als "verlängerter Arm des Jullizministeriums" und damit des Monarchen. Hingegen sollte das neue lnllitut an den Grundzügen des Gemeinen Strafverfahrens im übrigen nichts indem, da dessen Mängel schon durch die Existenz der neuen Aufsichtsbehörde hinreichend abgestellt würden. 93 S. Haber, in: ZStW 91, 606.

86

Kapitel 3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vormärzliehen Literatur

2. Vermittelnde Meinungen Zwischen diesen beiden Extrempositionen entwickelte sich eine kaum noch überschaubare Vielzahl von vermittelnden Meinungen. Zweckmäßig lassen sich diese anband von drei große Fragenkomplexen klassifizieren. 94 Eine umfassende Staatsanwaltschaft nach dem Vorbild des französischen ministere public sollte nach allen diesen Modellen nicht in vollem Umfang übernommen werden9S, denn "es zeigt sich im franzosischen Processe ... daß die liberalen Ideen nur ungenagend durchgejahrt sind, weil aberallein gewisses Mißtrauen und das Streben, die Zwecke des zur Zeit der Abfassung des Code herrschenden Regierungssystems durchzusetzen, mit der durch die Umwiilzung der Verhiiltnisse gebotenen Achtung der bargerliehen Freiheit hiiuft".96 Außerdem könne die "Sphiire der Geschiiftstiitigkeit /Ur einen deutschen Staatsanwalt nicht so umfiinglich seyn" wie in Frankreich wegen des Zusammenhangs des ministere public "mit dem Cassationshofe, der Organisation der Friedensgerichte und Gerichte erster Instanz und der Appellationsgerichte •. 97 Auch sei es "eine grundlose Behauptung ... , wenn man dasjenige, was dem lnquisitionsproceß in seinen Entartungen und Mißbriiuchen vorgewoifen werden kann, auf Rechnung des reinen und wohlverstandenen lnquisitionsprincips setzt. -98

94 Diese Einteilung folgt der Darstellung bei Schwarze, Art. Staatsanwaltschaft, in: Wciskc, Rcchtalcxikon, X (1856), SOS tf.

95 •Auf keinen Fall verdient die Ausdehnung, welche Frankreichs Gesetzgebung der Staatabcbörde gab, eine Nachahmung, da die Beamten dieeer Behörde in einer von der Regierung höchst abhängigen Lage sich befinden, welche sie für die bürgerliche Freiheit gelihrlieh machen kann, da auch durch die vom Gceetzc den Staatsprokuratoren eingeräumte Befugniß zu einigen Unterauchungsbandlungen, thcils Reibungen zwischen Staatsprokurator und Untersuchungsrichter begründet werden, thcils die natürliche Stellung eines eineeiligen Anklägcra, zu sehr gemischt, und aus ihren Gränzen durch den hohen Rang des Beamten und die Rolle eines Vcrtretera des Gesetzes gebracht ist, wodurch ein Schein von Unparthcilichkeit und ein dem Angeklagten gcfihrlichcr Einfluß leicht begründet wird. • (Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren, I.Autl. 1827, I 162). 96 S. Mittermaier, Anleitung zur Vertheidigungskunst, 3. Autl. 1828, S. 6 FN 2. 97 NN, in: NAdC VID (1826), 187 tf. 98 Mittermaicr, Anleitung zur Vcrthcidigungskunst, 3 . Autl. 1828, S. 31.

IV. Inhaltliche Hauptatrömungen

87

Der erste Kristallisationspunkt betraf die Frage, ob die Staatsanwaltschaft in ihrer Tätigkeit nur auf den eigentlichen Strafprozeß beschränkt sei99 oder ob ihr Geschäftsbereich auch auf andere Bereiche der Rechtspflege ausgedehnt werden solle. 100 Die zweite Kernfrage behandelte die Ausgestaltung der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft innerhalb des Strafverfahrens. Die Trennlinie verlief hier namentlich zwischen den Befürwortern einer "Parteistellung" der Staatsanwaltschaft, die diese mit dem Angeklagten resp. dessen Verteidiger wie in einem Zivilprozeß gleichstellten101 , und den Verfechtern einer Staatsanwaltschaft als "Wahrerin eines hiJheren Gesichtspunktes", also einer Gesetzeswächterin, verbunden mit der Verpflichtung, ggf. auch zugunsten des Angeklagten tätig zu werden. 102 Die dritte Position, materiell eher eine Unterfrage zum zweiten Komplex, betraf die Frage der Stellung der Staatsanwaltschaft während des Untersuchungsverfahrens. Nach Ansicht eines Teils der Autoren bedurfte "auch der Theil des Untersuchungs-Veifahrens ... bedeutender Reformen. Sicherlich diJifren diese durch die Einrichtung eines, den Untersuchungsrichter durch seine Concurrenz nicht selten hemmenden iiffentlichen Beamten bewerkstelligt werden •103, da es "gefahrlich ... seyn könne, wenn das ganze Veifahren bis zum Spruche ohne irgend eine Concurrenz anderer BehiJrden oder gerichtlicher Personen lediglich von dem Jnquirenten gejahrt wird•.104 Demzufolge sollte das Untersuchungsverfahren maßgeblich nicht in der Hand des Staatsanwalts, sondern des Gerichts liegen.10S

99 So namentlich Zachariae, Gebrechen, S. Lancllberg, Gutachten, S. 108 f.).

270, 273; Mehrheitavotum der preußUK (bei

100 So zB Theamar, Staataanwaltachaft, S. 29 f.; Miuermaier, Die Mündlichlteit, S. Braun, Hauptaeüclte, S. 17.

319;

101 Für dieses Modell zB Zachariae, Gebrechen, S. 270, 273. 29 f. 103 Abegg, Bcitdge, S. 49. I04 Abegg, Bcitdge, S. S6 ff. (S8); ihnlieh Feuerbach, Betrachtungen I, 100 ("zwei Augen

102 Dafiir zB Theamar, Staataanwaltachaft, S.

aus der Nähe sehen bei weitem mehr, als hundert Augen aus weiter Feme").

lOS So zB Abegg, Beiträge, S. 47, Wolfgang Puchta, lnquisitionsprozeß, S.

SO; Biener, in: ZSfgeachRechtaw XD (l84S), 96 ff.; 122 ff.

88

Kapitel 3: Die Staatsanwaltschaft im Spiegel der vormärzliehen Literatur Auch Zachariae und Mittermaier nahmen die Konkurrenz zweier inquirie-

render Organe im Verfahren zum

Anlaß,

den Ausschluß der Staatsanwalt-

schaft von jeder Untersuchungshandlung und ihre Beschränkung auf die reine Anklage zu fordem.106 Die Autoren der letztgenannten Richtung befürworteten zumeist em

"zweckmäßig gemischtes Verfahren, in welchem die Generaluntersuchung auf den Untersuchungsproceß gebaut i.st, und die Spezialinquisition mit einer öffentlichen Anklage beginnt. "107 Der Staatsanwaltschaft sollte dabeilOS lediglich die Funktion zukommen, anband des im Rahmen der richterlichen

"ausgemittelten" Materials eine förm"auch Artikel oder Fragstacke zu entwerfen, den Angeschuldigten daraber zu vernehmen, Vorschläge zu genauerer Erörterung der Sache durch Zeugen-Anhörung zu tun usw. "110, "damit die eigentlichen richterlichen Functionen mehr in ihrer Reinheit hervortreten". 111 Dies sollte jedoch ausdrücklich erst dann geschehen, wenn zuvor das Gericht - und zwar selbständig, also ohne Antrag oder sonstige Beteiinquisitorischen Voruntersuchungl 09

liche Anklage in der Hauptverhandlung vorzutragen,

ligung der Staatsanwaltschaft - anband des Ergebnisses der Voruntersuchung die Anklagerhebung beschlossen hatte.ll2

106 Mittennaier, Die Mündlichkeit, S. 326 ff.; Zachariae, Gebrechen, 273 f. 107 Mittermaier, Strafrechtspflege, S. 23 mwN. 108 Ausdrücklich wurde etwa als Vorbild zB daa bayriache Standrechta-Gesetz vom 27.7.1809 (bayRegBI. 1809 St S6 Tit 4) zitiert, "wonach ein Kronfiskal in einem öffentlichen Schlußverfahren die erwiesenen Anklagepunkte vortrug, der Angeachuldigte dann durch den ihm beigegebenen Verteidiger, welcher die Akten einsehen darf, und 24 Stunden Zeit zur Vorbereitung hat, sich verteidigen lassen kann" (Mittennaier, Handbuch I 633; ähnlich Anton Bauer, Grundsätze des Criminalprocesses, S. 109 FN b). Ähnliches hatte 1813- erfolglos- auch Feuerbach bei den Beratungen zum prozessualen Teil des BayStGB 1813 vorgeachlagen (s. Eb. Schmidt, Einführung, S. 280; Thierfelder ZStW S3 (1934), 404). 109 Dem lag teilweise wohl der verbreitete Gedanke zugrunde, die Voruntersuchung als Generalinquisition gehöre gar "nicht zum eigentlichen peinlichen Proceß, sondern sei bloß polizeilich" (Mittermaier, Handbuch I (1810), 34; so auch z.B. Martin, Lehrbuch, 4. Aufl. 1836, s. 18 ff. 110 Tittmann, Handbuch (2. Aufl. 1824) Bd.

m 149.

111 Abegg, Beiträge, S. 7S. 112 Nach einem Teil der Lit. sollte dies nur "in wichtigen Fällen" geachehen (so zB Tittmann, Handbuch (2. Auß. 1824) Bd. m S. 149 ; vgl. NN, in: NAdC vm (1826), S. 188: "Man acheint darüber ziemlich allgemein einverstanden, daß wenigstens vom Momente der sog. Spezialinquisition an ein Ankläger aufgestellt werden soll ... einige ... sind der Meinung, daß hiezu ein Advokat gewählt werden könne ... Andere ... wollen einen bei dem Criminalgerichte angestellten Beisitzer nach einem gewissen Turnus die Anklage übertragen".).

IV. Inhaltliche Hauptströmungen

89

Trotz ihres nunmehrigen quantitativen und qualitativen Übergewichts gelang es den Reformautoren der verschiedenen Richtungen nicht, hinsichtlich der Einzelheiten, auch der Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft, Einigkeit zu erzielen. Auch die letzte Phase der Reformdiskussion von 1845 bis 1848 blieb gekennzeichnet durch eine unübersichtliche Vielfalt der Meinungen.

Kapitel4

Die französische Staatsanwaltschaft (le ministere public) Nach Meinung zahlreicher wissenschaftlicher Autoren, aber ebenso fiir nicht wenige - auch hannoversche - liberale Rechtspolitiker des Vormärzes stand als Lösung der Frage der Staatsanwaltschaft bereits ein bewährtes Vorbild zur Übernahme bereit. Es handelte sich dabei um den französischen ministere public, der zusammen mit dem code d'instruction criminelle von 18081 auch in großen Teilen Deutschlands eingeführt worden war. 2 Der ministere public existierte auch nach dem Ende der französischen Herrschaft in Gebietsteilen mehrerer bedeutender deutscher Staaten weiter, u.a. in der preußischen und der hessendarmstädtischen Rheinprovinz sowie in der bayerischen Rheinpfalz3 , was zu einer verbreiteten Kenntnis seiner Prinzipien auch unter deutschen Juristen fiihrte. 4 1 Abgedruckt u .a. bei Häberlin, Sammlung, S. 3 ff.

2 Das fnnzösische Stnfprozeß- und Gerichtsverfassungsrecht galt nicht nur in den seit 1795 beatehenden fnnzösischen Iinksmeinischen Departements- Ruhr, Saar, Rhein-und-Mosel sowie Donnenberg- , sondern auch in den von Napoleon neugeschaffenen Großherzogtümern Berg und Fnnkfurt, den fnnzösischen sog. Hanseatischen Departements- Oberelllll, Wesermündungen und Eibemündungen - sowie dem Lippedepartement (Schubert, Recht, S. 530; den., in: ZRG (GA) 1977, 129 ff. sowie Haber, Öffentlichkeit, S. 11 ff., jew. mwN. Vgl. auch Leiser, Art. Code Civil, in: HRG I 619 tT.). 3 S. Schubert, R:Cht, S. 602 mwN.- Außerdem galt der cic weiter in dem he~~en-hombur­ l[ischen Obenmt Meisenheim sowie dem coburgischen Füratentum Lichtenberg (1. Haber, OtTentlichkeit, S. 12 FN 3 mwN.).- In der linksrbeinischen, nach 1815 oldenburgischen Exklave Birkenfeld hingegen war das fnnzösische Prozeßrecht wieder aufgehoben worden (1. hierzu Schubert, Recht, S. 602; Schwedhelm, Wiedenufnahme, S. 2n tT. mwN.). 4 Nach 1814 war es i~esondere im atarlt vergrößerten Königreich Preußen zunächst zu einer kontroven geführten Diakussion über die Fnge gekonunen, ob das fnnzöaische R"ht in . den neuerworbenen Rheinlanden beibehalten werden sollte oder nicht. Insbesondere der konservative Justizminister Karl Albert v. Kampiz (s. über ihn Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 334 f. mwN) forderte, dort ltlude~~en daa "altpreußische" R"ht zu etablieren. Hiergegen regte sich jedoch so heftiger publizistischer und politischer Widentand, daß der preußische König 1816 zunächst die Einsetzung einer besonderen Inunediat-Justiz-Kommission zur eingehenderen Prüfung der Fnge anordnete (1. dazu Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 65 tT.). Die Kommission, der maßgeblich auch rheinische Juristen angehörten, spnch 1ich in ihrem Gutachten von 1818 (bei Landaberg, Gutachten, passim) jedoch entgegen den Erwartungen der Regierung mit erdrückender Mehrheit für eine Beibehaltung des fnnzösischen R"htl - einschließlich de1 ministere public - aus, womit es denn auch in der Folge sein Bewenden behielt. - Dieser jahrelange "Kampf um das Rheinische R"ht", an dem sich nicht nur die Juristen beteiligten, er-

I. Aufbau

91

I. Aufbau des ministere public Der ministere publieS war ein Kernelement nicht nur des französischen Straf-, sondern auch des Zivilprot.eßrechts. 6 Er war keine originäre Neuschöpfung Kaiser Napoleons I. oder der Revolutionszeit, sondern stand bereits in einer jahrhundertelangen französischen Rechtstradition. 1 In Frankreich hatte sich seit dem 14. JahrhundertS aus den •gens du roi•, Sachwaltern, die ursprünglich vor allem die zivilrechtliehen - fiskalischen Interessen der Krone wahrzunehmen hatten, eine Art staatlicher Anklagebehörde entwickelt, die jedoch weiterhin sowohl in Straf- wie in Zivilsachen zuständig blieb. Zu diesen Pflichten waren im Laufe des 18. Jahrhunderts bedeutende Aufgaben im Bereich der Justizverwaltung hinzugetreten. 9 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde ihre Tätigkeit zunächst durch die Einführung des lnquisitionsprozesseslO überlagert und geriet schließlich

regte weit über die Landesgrenzen hinaus in ganz Deutachland beträchtliches Aufsehen und tührtc überall zu weiterer eingehender Beschäftigung mit dem französischen Recht (s. hierzu eingehender Conrad, in: Wolfframfl(lein (Hg), Recht und Rechtspflege in den Rheinlanden (1969), S. 71 ff.; Schwinge, Kampf, S. 19 ff.; Schwedhelm, Wiederaufnahme, S. 15 ff.; Landsberg, in: Hansen (Hg), Rheinprovinz ß 157 ff. - Zum m.p. in den preußischen Rheinlanden a. Artoia, Miniatcrium, pauim).

S Die Geschichte der französischen Staatsanwaltschaft iat, ebenso wie die Entwicklung des französischen Stratprozeßrechts überhaupt, achon wiederholt Gegenstand eingehender Untersuchungen geweaen, auf die hier wegen der Einzelheiten verwieaen werden kann ( s. insbeaondere Sättler, Staatsanwaltschaft, pauim; Cramer, Schwurgerichte, pauim; Haber, Öffentlichkeit, pauim; Feldhauaen, Geschichte, pauim; Leßvre, Lea avocats du roi, paasim; OlivierMartin, Hiatoire, pauim; Schinnerer, Wirkungskreis, S. 23 ff.; Esmein, Histoire, paasim; Helie, Trai~, Bd. I pauim). An zeitgenössischen Schriften zum französischen Stratprozeßrecht und zum m.p. a. die - meist nur beschreibenden und nur wenig dogmatisch vertiefenden - Daratcllungen etwa von Berenger, De Ia justice; Le Graverend, Trai~; Lacretelle, Dissertation; Robillard, Considerations und Schenk, Trai~. 6 Der m.p. wurde nach der Bezeichnung der Amtsstube (le bureau; Je parquet) seiner Beamten in den Justizgebiuden auch le parquet genannt (s. Frey, Staatsanwaltschaft, S. 21 FN •••)).

1 S. Haber, Öffentlichkeit, S. 32 ff.; 2S2 ff.; Frey, Staatsanwaltschaft, S. I ff.; zur Rechtsentwicklung in Frankreich a. die Übenicht bei Conrad DRG ß 394 ff. 8 S. Frey, Staatsanwaltschaft, S. 2.

9 S. hierzu v. Hippe!, Strafrecht, S. 312; Keller, Staatsanwaltschaft, S. 11 ff. 10 Zunächat hatten in Frankreich Gewohnheitsrecht aowie königliche Ordonnanzen und aonatige königliche Anordnungen die Grundlage des StrafProzesses gebildet. Später nahm die Ordonnance criminelle vom Auguat 1670 (RGALF XVm no. 623, 371) die erste Stelle ein. Sie regelte den lnquiaitionsprozeß, bei dem zwischen der gewöhnlichen Folter (question preparatoire) und der mit dem Todesurteil angeordneten Folter zur Erzwingung von Aussagen über Mitbeteiligte (queation prealable) Untenchieden wurde (s. hierzu Conrad DRG ß 448 mwN).

92

Kapitel 4: Die französische Staatsanwaltschaft (Je

minis~re

public)

gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr •als ein gefügiges Werkzeug der Regierung mit dieser in Mißkredit •,11 Die Revolution von 1789 brachte eine grundlegende Reform des Strafprozeßrechts12, wobei sie an Reformversuche aus der Spätzeit des ancien regime anknüpfen konnte. 13 Die Phase des revolutionären Zwischenrechts (droit intennediaire) von 1789 bis 1804 stürzte die procureurs und avocats du roi zunächst in ein "förmliches Chaos• 14 , indem ihre Stellung in einer rasch wechselnden Fülle von Gesetzen1S erst auf bloße Überwachungs- und Aufsichtsfunktionen beschränkt, dann wieder auf umfassende Antragsrechte sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen ausgedehnt wurde.16 Erst 1808 und 1810 erhielt der ministere public unter Napoleon I. seine abschließende Gestalt, die auch später von der Restauration nach 1815, von der Julimonarchie des Bürgerkönigs 1830, der Zweiten Republik von 1848 und auch noch unter Napoleon III. ohne wesentliche Veränderungen beibehalten wurde. 17

11 S. Keller, Staatsanwaltschaft, S. 14. Besondere einige aufsehenerregende Strafprozesse des 18. Jahrhunderts lenkten die Aufmerksamkeit nicht nur der französischen Öffentlichkeit auf erhebliche Mißstände in der Strafrechtapflege. Es waren vor allem die Prozesse gegen Mitglieder der Familie Calas in Toulouse (1761/62), die Eheleute Sirven (1762/64) und La Barre (1765/66), die heftige Resletionen u.a. Voltaires hervorriefen (s. hierzu eingehend Haber, Öffeotlichlceit, passim, bes. S. 56 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, 325 f.; Conrad DRG D 448; Hertz, Voltaire und die franz. Strafrechtapflege, passim). 12 Die "gens du Roi" waren 1789 zunächst abgescham worden (s. Keller, Staatsanwaltschaft, S. 14), wurden aber schon 1790, allerdings beschrinlct auf die Strafvollstreckung und eine allgemeine Gesetzeswächter- und Aufsichtatätiglceit, aber ohne AnldagefUnlction, als Commisseires du Roi wiedereingetührt. 1792 erhielten lie die Aufgabe der Vertretung der öffentlichen Anldage unter der Bezeichnung Commissaires nationaux zurück. Mehrfach wurden sie in der Folgezeit durch Revolutionsgesetze wieder in zwei verschiedene Lautbahngruppen (commiassires de Ia Rl§publique und accussteura publics) geteilt und wieder vereinill (a. Keller, Staatsanwaltschaft, S. 15).

13 Ludwig XVI. hatte die Notwendiglceit einer umfassenden Strafprozeßreform erkannt und u.a. mit Deieieration vom 24.08.1780 (RGALF XXVI no. 1381, 373) die queltion prl§paratoire abgescham. Weitere Reformversuche waren jedoch am Widerstand der ständischen parlementa gescheitert, in deren Stellung der König zugleich einzugreifen versucht hatte (a. Conrad DRG D 448; Haber, Öffentlichlceit, S. IS ff.). 14 S. Frey, Staatsanwaltschaft, S. 13; IS FN •). 15 Weitere Nw.e bei Frey, Staatsanwaltschaft, S. 13. 16 S. Frey, Staatsanwaltschaft, S. 15 f.; Conrad DRG D 448. 11 S. hierzu Keller, Staatsanwaltschaft, S. 14 f.; Schubert, Recht, S. 547 ff., jew. mwN.

I. Aufbau

93

Die Angehörigen des ministere public, die procureurs und avocats imperiaux - ihre Bezeichnungen hatten seit 1789 mehrfach gewechselt18 wurden unter Napoleon I. unter der zentralen Leitung des Justizministers zu einer einheitlichen, hierarchischen Zentralbehörde zusammengefaßt. Der minist~re public wurde bürokratisch und hierarchisch nach den Grundsätzen von "unite et indivisibilite" organisiert und seine Angehörigen, die eine besondere Laufbahngruppe bildeten, unmittelbar den Weisungen des Justizministers unterstellt, der sie jederzeit ohne Angabe von Gründen versetzen und sogar entlassen konnte. 19 Der ministere public wurde mehrstufig gegliedert entsprechend dem Grundsatz, daß möglichst an jedem Gericht eine Vertretung bestehen sollte. Demgemäß folgte sein Behördenaufbau weitgehend der hierarchischen Gliederung der französischen Strafgerichte. 20 Unmittelbar den Weisungen und der Disziplinargewalt des Justizministers unterstanden die "Generalprokuratoren" - procureurs generaux - am Pariser Kassationshof - als dem höchsten Strafgericht - und an den Appellations- und Assisenhöfen sowie ihre jeweilige Stellvertreter, die Generaladvohllen (avocats generaux).21 Die Generalprokuratoren waren ihrerseits allen rangniedrigeren Angehörigen des ministere public ihres jeweiligen Bezirks vorgesetzt, ebenso wie wiederum die Prokuratoren (procureurs) der erstinstanzliehen Gerichte (tribunaux de premiere instance) den Vertretern des ministere public bei den Polizeigerichten (tribunaux correctionnels,· tribunaux de paix). Die Weisungsgebundenheit der Untergebenen wurde begrenzt erst durch die gesetzliche Entscheidungsfreiheit der einzelnen Staatsanwälte über die von 18 S. Frey, Staataanwaltsehaft, S. 14 f. mwN. 19 S. Frey, Staataanwaltsehaft, S. 24. 20 Bei den untersten Gerichten, den Friedensgerichten (tribunaux du juge de paix comme juge de police; art. 139 ff. cic), wurde der m.p. durch einen örtlichen Polizeikommissar vertreten, bei den tribunaux correctionels, den Strafgerichten erster Instanz bei leichteren Delikten, jedoch bereits durch einen procureur. 21 Am Kassationshof bestand der parquet aus dem procureur g~Mral, sechs avocats g~Mraux und einem sec~taire en chef. Bei den Appellhöfen gab es ebenfalls einen procureur g~Mral, mehrere avocats g~Mraux und substituts du procurcur g~Mral. Bei den tribunaux de premi~re instan.), Übereicht lß/2, S. 660 ff.). 23 Dazu s. Lieberich, Art. Gelehrte Räte, in: HRG I I474; dcrs., Art. Gelehrte Richter, in: HRG II477. 24 Historisch waren die Ämter ursprünglich aus der Verwaltung der landesherrlichen Domanialgüter entstanden, der nach und nach die Justiz- und Regiminalverwaltung hinzugetüJt worden war (s. hierzu Hamann, in: NdaJb SI, I9S ff.; Lehzen, Staatshaushalt U 86; v. Meier, Verfassung U 3II ff.). V. Meier (Verfasaung U 32I) beziffert sie tür daa Ende des I8. Jhdta. auf etwa I30. §§ 22, 24 ArntaO I823 schrieben bei mehr als zwei Beamten die Geschäfteverteilung durch die Landdrostei vor. I83I existierten noch I49 Ämter, I837 nur noch I43. (S. v. Meier, Verfassung U 344; vgl. zum ganzen auch Kroeschell, Art. Amt, in: HRG I ISO ff.; ders., Art. Amtmann, in: HRG I ISS f.; Erler, Art. Beamte, in: HRG 1339).

I. Der öffentliche Anwalt im Gefüge dea Gericht.averfassungsrechta

111

Sie hatten in peinlichen Sachen regelmäßig nicht selbst zu entscheiden, sondern lediglich die Untersuchung für die Justizkanzleien zu führen, denen dann die Untersuchungsakten zur Entscheidung zu übersenden waren. Im Jahre 1823 waren die Bezirke jeweils mehrerer- regelmäßig sehr kleiner und personell und materiell häufig schlecht ausgestatteter - administrative Ämter zu sog. Kriminalämtern zusammengefaSt worden.25 b) Nichtstaatliche Strafgerichte Nachdem die früheren Befugnisse der Patrimonialgerichte in Strafsachen im Jahre 1821 aufgehoben worden waren26 , lag die Strafrechtspflege im Königreich Hannover weitgehend in den Händen staatlicher und standesherrlicher Gerichte. Bei den letzteren handelte es sich um die Kriminalämter27 und Justizkanzleien der 1814 zu Hannover gekommenen mediatisierten Standesherrschaften.28

In ihrer Zuständigkeit, Aufgabenverteilung und Besetzung entsprachen sie weitgehend den königlichen Ämtern.

25 Die Zusammenlegung der Ämter zu Kriminalämtern war bereita durch das Gesetz über die verbesserte Verfassung der Patrimonial-Gerichte in den alten Provinzen des Königreichs vom 13.03.1821 (GS 171; Art. 23) für die ehemaligen Patrimonialgerichtsbezirke eingeführt worden, wurde daM 1823 zunächst in den 1814 neuerworbenen Landesteilen durchgeführt und erst 1830 auf die "alten Provinzen" ausgedehnt (s. Lchzcn, Staatahaushalt ß 90). 26 Ausschreiben vom 15.6.1821 (GS ß 11). Diesem Ausschreiben lag zugrunde das Gesetz vom 13. März 1821 (GS I 71). Dieses Gesetz schrieb in Art. 23 "in Kraft eines unwandelbaren Verfauungagrundsatzcs" die "unbedingte TreMung der gesammten Criminal-Gerichtsbarkcit von allen Patrimonial-Gerichten der Geistlichkeit und Gutsbesitzcr, ohne einige Ausnahme", und demgemäß "die Verwaltung dieser Criminal-Gerichtsbarkeit .. . allein in Unsenn (scil. des Königs) Namen und durch Unsere Gerichtsbehörden" vor. Freilich blieben die Patrimonialgerichte nach Art. 25 verpflichtet, "als sorgsame Obrigkeiten ... die in ihren Bezirken eintretenden Criminal-Fälle Unsern . . . Behörden ohne Zeitverlust zur KeMtniß zu bringen und bis zur Dazwischenkund dieser Behörden alle Mußregeln zu treffen, welche zur Erforschung der Wahrheit, Feststcllu.ng des Thatbestandes und Festmachung der Thäter erforderlich sind und keinen Verzug leiden ... Indessen muß der Gerichtahalter, weM er zur Zeit der Verhaftung im Gerichte anwesend ist, ... das erste summarische Verhör vornehmen und die Protocolle und sonstigen Acten, zugleich mit dem Verhafteten, der Criminal-Behörde abliefern lassen." 27 1824 in Arenberg-Meppen, 1828 in der Grafschaft Bentheim errichtet (s. Klein, in: DVG ß 712; und Haack, in: FS-175 J . OLG Oldenburg S. 425; mwN.) 28 1824 Justizkanzlei Bentheim, 1827 Justizkanzlei Haselünne (für Arenberg-Meppen); s. Klein, in: DVG ß 712; Haack, in: FS-175 J. OLG Oldenburg, 425,jew. mwN.

112

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Daneben hatten einzelne Städte und Körperschaften - so die Universität Göttingen29 - Untersuchungs- und - in geringen Sachen - Urteilszuständigkeiten auf dem Gebiet der Strafrechtspflege, meist aufgrund von alten, oft mittelalterlichen, Privilegien. 30

II. Das Gefüge des hannoverschen Strafverfahrensrechts I. Die Gemengelage der hannoverschen Strafprozeßgesetze Materiell handelte es sich bei dem hannoverschen Strafverfahren bis 1849 um einen "Humanisierten lnquisitionspro.zeß Carpzov-Brunnemannscher Prägung•31, wie er sich seit dem 16. Jahrhundert im Wechselspiel von Rechtslehre und reichs-und partikularrechtlicher Umsetzung herausgebildet hatte.32 Zurückgehend auf noch weit ältere Vorschriften33 , hatte das hannoversche Strafpro.zeßrecht eine vorläufig abschließende Gestalt erst nach und nach im

29 Vgl. hierru Woeste, Art. Universitätsgerichtsbarkeit, in: HRG V 506, mwN. 30 S. hierru Krause, Strafrechtspflege, S. 97 ff.; vgl. dazu Erler, Art. Patrimonialgerichtsbarkeit, in: HRG m 1547; Oesterley, Handbuch m 39. Das Gesetz von 1821 wies in §§ 59 ff.

diejenigen Städte, deren Stadtgerichten die eigene Strafgerichtsbarkeit noch gelassen worden war (s. Krause, Strafrechtspflege S. 98 ff. mwN.) an, sich einheitlich "eben die Gesetze und andern Vorschriften zur Richtschnur zu nehmen, welche ... Unsern landesherrlichen Behörden zur Befolgung vorgeschrieben sind. •. § 61 des Gesetzes beschränkte überdies die Strafgerichtsbarkeit der Städte, indem nur noch "wohlbesetzte Magistra]I-Collegia mit wenigstens drei rechtsgelehrten Beisitzern" selbst das Urtteil sprechen durften, während anderenfalls(§ 62) die "zum Spruch vorbereiteten Criminai-Acten an die Justiz-Kanzleien, wenn das Erkenntniß vierzehn Tage Getängniß- oder vierzehn Tage Geldstrafe überschreitet, oder "todte menschliche Körper gefunden worden waren", "zum Spruch" einzusenden waren.

31 Der sog. Gerneine Inquisitionsprozeß hatte sich aus der Schule der spanischen, französischen und insbesondere italienischen Juristen des 16. Jhdta. entwickelt und eine maßgebliche Stütze positivrechtlich in der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), seine tur Deutschland typische, eigenständige Ausprägung jedoch erst im 17. Jhdt. durch Berlichius und Carpzov gefunden (s. dazu Sellert, Art. Strafprozeß 0, in HRG IV 2035; ders. in ders./Rüping, Quellenbuch I S. 241 ff.; Schlosser, Art. lnquisitionsprozeß, in: HRG 0 378 ff.; Wesener, Art. Prozeßmaxirnen, in: HRG IV 55 ff.). Er bat seit seiner Entstehung im 16. Jhdt. mehrere verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen, so daß von einem einheitlichen Gemeinen Strafprozeß begrifflich strenggenommen gar nicht gesprochen werden kann (a. Sellert, Art. Strafprozeß 0, in: HRG IV Sp. 2035; ders., in: Ders./Rüping, Quellenbuch I 241 ff; vgl. auch Thieme, Art. Gemeines Recht, in: HRG I 1506 ff.; Licberwil1h, Art. Halsgerichtaordnungen, in: HRG I 1914 ff.; ders., Art. Carolina, in: HRG I 592 ff.; Schubart-Filcentscber, Art. Carpzov, in: HRG 1595 ff.). 32 S. Zacbariä, Verfahren, S. 9; Gunkel, Recbtsleben, S. 269; Bock, Strafrecht, S. 2 f. 33 Einzelheiten zu diesen s. Krause, Strafrecbtspflege, S. 11 f.; Freudentbeil, in: Beilageheft zum NAdC 1838, S. 1 ff.

0. Das Gefüge des haiUlOverschen Strafverfahrensrechts

113

18. und 19. Jahrhundert erhalten.3 4 Es war infolgedessen verstreut in einer Vielzahl von unterschiedlichen Gesetzeswerken geregelt, neben denen subsidiär das Gemeine Strafprozeßrecht galt. 3S Auch durch das "Gesetz aber das gerichtliche Verfahren in Criminalsachen" vom 8. September 1840 (CrP0)36 waren die sehr vielfältigen hannoverschen Prozeßgesetze lediglich abgeändert, aber keineswegs im Sinne einer Neukodifikation abgelöst worden. Das materielle hannoversche Hauptstrafprozeßgesetz37 blieb daher noch bis 1852 die "Churhannoversche Criminal-Jnstruction" vom 30.April/11.Mai 1736 (Cl 1736).38 1838 war ihr die m den Herzogtümern Bremen und Verden geltende "Criminal-Instruction vom 6.Dezember 1748" (CI 1748)39 im wesentlichen angeglichen worden. 40 34 Vgl. zur Problematik der Legislation Krause, Art. Gesetzgebung, in: HRG 11606 ft'. 3S Vgl. dazu Thieme, Art. Gemeines Recht, in: HRG I 1506 ft'.; Buchda, Art. Gerichtsverfahren, in: HRG 11551 ft'. (1560); Krause, Art. Gewohnheitsrecht, in: HRG I 1675 ft'. 36 GS 1840 1347. 3 7 S. Krause, Strafrechtspflege, S. 27, 30.- Die Cll736 wurde nach 1814 aufden Großteil der neu hinzuerworbenen Gebiete ausgedehnt (s. die einzelnen Reacripte und VOen mit genauen Nachweisungen für Oanabrück, Hildesheim, Meppen und Emabühren, das Eichafeld, Goslar, die hessischen Exklaven, Bentheim sowie die Münstersehen Absplissen bei Nieper, Quellen, S. 1 sowie die detaillierte Darstellung der Abläufe bei Klein, in: DVG D 680 ft'.). Das Gesetz vom 13.3.1821 (GS 171) hatte die Cl1736 in§ 60 auch allen in Kriminalssehen unterauchenden und erkennenden Magistraten zur Anwendung vorgeschrieben. 38 Bei Nieper, Quellen, S. 1 ft'. 3 9 In den auch nach 1838 weitergeltenden Partien abgedruckt bei Nieper, Quellen, S. 62. Ursprünglich auf das Gebiet der beiden Herzogtümer beschränkt, war ihre Geltung durch einen Gräfen-Befehl vom 18. September 1750 auch auf das Land Hadeln ausgedehnt worden (Nieper, Quellen, S. 62 FN 55). - Die Gräfen waren die Vertreter der Interessen des Landesherm, also des in London residierenden Kurfürsten, im Lande Hadeln (s. dazu Schulze, in: Haase (Hg), Niedersschsen, S. 210ft'. mwN). 40 Die Herzogtümer Bremen und Verden hatten von 1648 bis 1719 der Krone Schwedens unterstanden. Es galt hier seit dem frühen 17. Jahrhundert im Wesentlichen der KriminalprozeR nach der Carolina (1. Krause, Strafrechtspflege, S. 21), jedoch mit der Besonderheit, daß sich bis 1838 ein "gemischter Prozcß" (processus mixtus) hielt. Nach der Darstellung handelte es sich dabei um ein dem "alten" gemeinrechtlichen AnklageprozeR ("akkusatorischer Prozcß"; zu diesem s. Kaufmann, Art. StrafprozeR I, in: HRG IV 2020 ft'.) verwandtes Verfahren. In den Formen eine• Privat.ldageverfahrens standen sich ein öffentlicher Ankläger (Fiskal) und der Angeklagte gegenüber. - Oesterley (Handbuch m, S. 125) beschreibt die Stellung dieses Fiskals wie folgt: • Ankläger . . . Im HaiUlOverschen findet er sich nur im Bremenschen, und zwar bei den Königlichen Gerichten unter dem Namen des Commissarius Fiaci ... Er ist nur den Königlichen Collegien in Stade beigeordnet und hat mit den Untergerichten unmittelbar nichts zu thun. Bei den Gerichten zu Buxtehude und Verden, so wie bei den übrigen Patrimonialgerichten, wird 8 Knollmann

114

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

In den vormals preußischen Teilen des Landes41 galt in modifizierter Form die Preußische Kriminalordnung von 1805.42 In der Folgezeit war zu diesen Vorschriften noch eine Reihe meist spezieller Einzelgesetze und -verordnungen hinzugetreten. 43

2. Hauptveifahrensgrunds11tze Das hannoversche Strafverfahrensrecht wurde zunächst beherrscht durch die Offizialmaxime, nämlich das Prinzip der gerichtlichen Verfolgung und Untersuchung von Straftaten von Amts wegen. 44 in jedem einzelnen Falle einer der Anwälte zum Ankläger von den inquirirenden Gerichte bestellt und Bogenweise bezahlt. Die Stadt Stade hat von jeher ihren eigenen, vom Magistrat für immer ernannten Fiscal unter den recipirten Anwälten gehabt. Von den durch seine Bemühungen einkommenden Strafgeldem, erhält er statt Gehalts, den fünften Theil, so wie auch die Gebühren für seine Arbeit als Ankläger, wenn der Verortheilte Vermögen besitzt. Er ist von Einquartirung frey und bezieht auf Kosten des Magistrats einige Schreibmaterialien und wird vom Magistrat verpflichtet. Bei den Criminalgerichten des alten Landes ist der Landesconaulent beständiger Ankläger und muß auch die lnqusitionai-Artikel entwerfen. Im Lande Kehdingen wird von dem Gerichte in jeder Untersuchung ein Ankläger bestellt. Die Thätigkeit während des Prozesses ist unten näher bezeichnet, und ist hier nur im Allgemeinen noch zu bemerken, daß des Königlichen Commissani Fisci gegen die säumigen Gerichte Excitatorien und Personalmandate erwirken kann. • (s. zu dem bremen-verdischen Fiskalat auch Drecoll, Kriminalpolitik, s. 204 ff.). 41 Fürstentum Ostfriesland mit Harlingerland, Niedergrafschaft Lingen und sog. Münstersehe Absplissen (s. Nieper, Quellen, VorwortS. ill mwN). 42 Modifaiert u.a. in§§ 49 f. CrPO 1840- Die PrCrimO 1805 zeigte den lnquisitionsprozeß in einer aufgelockerten Form (Eb. Schmidt, Einführung, S. 271; Conrad DRG D 447; ausführlich Fels, Strafprozeß, passim). Der Unterschied zwischen General- und Spezialinquisition war darin zwar noch nicht beseitigt (s. Sellert, Art. Strafprozeß 0, in: HRG IV Sp. 2037; a.A. offenbar Eb. Schmidt, Einführung, S. 271, und Conrad DRG D 447), aber abgemildert worden; denn sie unterschied jetzt zwischen Veranlassung und Eröffnung der Untersuchung, wobei der erste Verfahrenssbschnitt hauptsächlich dazu diente, die Tat aufzuklären (§§ 106 f.). Erst nach Eröffnung der Hauptuntersuchung konnte der Beschuldigte verhaftet und summarisch vernommen werden (§§ 202, 263 ff.). Noch immer wartrotz Abschaffung der Folter (§ 285) das Geständnis wichtigstes Beweismittel. Ungehorsams- und Lügenstrafen waren beibehalten. Die Verteidigung blieb (§ 433) beschränkt. Verdachtsstrafe und Instanzentbindung wurden beibehalten. Der Verurteilte hatte das Rechtsmittel der weiteren Verteidigung (§§ 517,33), ggf. auch der Restitution (Wiederaufnahme; §§ 517, 520). Durch die hannCrPO 1840 war die PrCO 1805 in vergleichsweise wenigen bedeutenden Punkten abgeändert worden: Die hannoverschen Vorschriften über den Reinigungseid (§ 22 CrPO 1840) waren zu übernehmen, ebenso wurden die Vorschriften über die "Erkennung einer außerordentlichen Strafe" durch die hannoverschen Bestimmungen ersetzt(§§ 49, 50 CrPO 1840). 43 Auf dem Stand von 1840 abgedruckt bei Nieper, Quellen, 1 ff. Im Folgendeil werden nur die bedeutenderen von ihnen näher dargestellt. Für die Einzelheiten wird wiederum verwiesen auf Krause, Strafrechtspflege, besonders S. 20 ff., 95 ff., 100 f. 44 Man war allgemein seit der PGO zu der Überzeugung gekommen, daß ohne eine Wahrheitserforschungvon Amts wegen, unabhängig vom Parteibetrieb, eine wirkaame Verorechenabekämpfung zu stark eingeschränkt wäre, zumal dem erfolglosen Privatkläger regelmäßig

ß. Das Gefiige des hannoverschen Strafverfahrensrechts

115

Daneben galt das der Verfahrensart den Namen gebende Inquisitionsprinzip mit dem Grundsatz der gerichtlichen Erforschung der materiellen Wahrheit. 45 Maßgebliche weitere Prozeßmaximen waren die Grundsätze der Heimlichkeit und der Schriftlichkeit46 sowie der Grundsatz der "Mittelbarkeit" im Sinne eines Auseinanderfallens von untersuchendem und erkennendem Gericht. a) Das gerichtliche Untersuchungsverfahren

aa) Die Generalinquisition Das Kernstück des Prozesses war die Inquisition i.e.S., also die gerichtliche Untersuchung, •ob ... ein Verbrechen begangen worden (sei und) wer dasselbe verübt habe•.41 Entsprechend den Grundsätzen des Gemeinen Strafprozesses48 gliederte sich die Inquisition in zwei selbständige Verfahrensabschnitte, die Generalund die Spezialinquisition. 49

schwere Sanktionen drohten (s. hierzu Eb. Schmidt, Einfiihnmg, S. den./Rüping, Quellenbuch I S. 205, 264).

194, 198 ff.; Sellert, in:

45 S. Krause, Strafrechtspflege S. 101; Sellert, in: den.IRüping, Quellenbuch I S. 204. Dem lag die im 16. Jahrhundert entwickelte Vorstellung zugrunde, daß eine gerechte Entscheidung nur auf der Grundlage eines wahren und mit rationalen Beweismitteln erforschten Sachverhalts gefällt werden könne (s. Holzhauer, Art. Geständnis, in: HRG I 1625 'ff.). 46 CI 1736 Cap ß §§ l, 5: • ... alles, was ... im Gerichte vorkommt, ordentlich protocolliren, jedesmahla des Verbrechen so wol als der zeugen eigene Worte ... •. Seit der CrPO 1840, § 6, waren alle Protokolle auch von den verhörten Zeugen, Sachverständigen und Angeschuldigten sowie den Gerichtspersonen zu unterschreiben.

47 CI 1736 Cap. IV

s. 103.

§

1; s. Oesterley Handbuch m 156 f., Krause, Strafrechtspflege,

48 Diese in Anlehnung an die italienische Strafrechtsdoktrin vorgenommene Unterteilung war zwar in der C'arolina nicht enthalten, hatte sich aber seit Carpzov im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderte durchgesetzt (s. Eb. Schmidt, Einfiihrung, S. 195 ff.; Sellert, in: den./Rüping, Quellenbucb, S. 264 ff., 272 f.).

49 S. Oesterley Handbuch m S. 156 ff. (159); Krause, Strafrechtspflege, S. 104.- CI 1736 Cap IV § 1 bestimmte: "Die Inquisition .. . ist entweder generali oder speciali, und bestehet jene eigentlich darin, ob wahrhamig ein dem Gerichte gerügtes, oder sonst angezeigtes Verbrechen, begangen worden; bey dieser aber kommt es hauptsächlich auf die Frage an: Wer dasselbe verübet habe?".

116

Kapitel 5: Der hannoverache "Öffentliche Anwald"

Wurde bei einem Gericht der Verdacht einer Straftat bekannt, hatte dieses von Amts wegen zunächst eine Generaluntersuchung zu eröffnen. SO Deren Zweck bestand darin, eine eher allgemeine Aufklärung des Sachverhaltes herbeizuführen und insbesondere den oder die Beschuldigten namhaft zu machen und dem Gericht zuzuführen. 51 Diese waren sodann vom Untersuchungsrichter, zunächst nur summarisch, zu vernehmen. 52

SO Zuständig war gem. Cl 1736 Cap. IV § 3 "allein das Forum delicti (commissi) ... und zu dem Ende (sollte) der Thäter ... dem Amte, in dessen Jurisdiction das Verbrechen geachehen, zu Vollziehung der Inquisition remittiret werden. • § 4 CrPO 1840 belltimmte, daß "bei mehreren in verachicdenen Gerichtabezirken begangenen Verbrechen das Gericht desjenigen Ortes" zulltändig war, "welches durch Ladung oder Verhaftung des Angeachuldigten den ilbrigen zuvor gekommen ist, sofern nicht von dem Obergerichte ... die Untersuchung (einem anderen Gericht) übertragen wird. • - Cae. IV § 8 achrieb vor, daß "zufordent um das corpus delicti, oder die Wahrheit der gerügten Ubelthat" zu forachen, ehe • ... nach der Peraon, die es gethan, inquiriret werden darf. • - § 5 CrPO 1840 bestimmte, daß bei Tatmehrheit "nur diejenigen, welche von erheblichem Einflusse auf das Straferkenntniß sind, umlltändlich untersucht, minder wichtige hingegen ... nur ... nothdürftig auagemittcl" werden sollten. - CI 1736 Cap I § 3: Alle Verwaltungabcamten etwa mußten "alles, was ihnen •.• lltraffwGrdig vorkommt, allsofort ... mit allen erkundigten Umständen melden. • Cap. IV § 2 dehnte die Untersuchungspflicht auf den Fall aus, "wann entweder von unverläumdeten Peraoneo ••. dasselbe angebracht wird, oder ... durch gemeinen Ruft' ... von glaubhafl\cn Leuten". Freilich war Jem. Cap. IV§ 5 "wohl Acht darauf zu haben, daß (Anzeigen) nicht calumnioac oder sonllt aua lltriflichen oder sonllt unchrilltlichen Absichten geachehe.• (1. auch CI 1736 Cap. IV§§ 8 f., 12 ff.). SI Nach uraprünglicher Voratcllung sollte der Verdächtige im Rahmen der Generaluntersuchung nicht schon Bcachuldigter im Sinne eines Gegenlltands des belastenden Strafverfahre01 sein, sondern nur geprüft werden, ob die Voraussetzungen für die eigentlich lltrafrcchtliche Hauptuntersuchung (Spezialinqusition) vorlaJen (a. Sellert, in: den./Rüping, Quellenbuch I 265). Dem entsprach auch die in der Lit. des 19. Jhd!Ji. verbreitete Zuordnung der Generaluntersuchung nicht zur lltrafgerichtlichen, sondern zur polizeilichen Tätigkeit. CI 1736 Cap V "Von der Captur" sah in §§ 1,2 bereita während der Generalinquisition Haft für den Verdächtigen dann vor, "wann daa Verbrechen eine Lebens- oder achwere Lcibesstrafe, oder Landsverweisung verdienet" (a. Holzhauer, Art. Haftbefehl, in HRG I 1894 ff.; Lieberwirth, Art. Gefangene, Gefängnis, in: HRG I 1431 ff.). CI 1736 Cap IV I 25 bestimmte, daß bei Flapnz keine Generalinquisition erforderlich war, sondern Jleich zur Spezialinquisition geachrittcn werden konnte. 52 "Summariach" bedeutete idS, daß der Inquiait nicht mit einzelnen Fragen konfrontiert wurde, sondern eine zu11mmcnhängende Dantcllung dea Sachverbai!Ji aua aciner Sicht zu Protokoll geben sollte (s. Krauac, Strafrechtspflege, S. 105 FN 22; Ocstcrley, Handbuch m S. 191; Sedatis, Art. Summariaeher Proze8 in: HRG V 79ft'.; CI 1736 Cap IV I 21). Auch die Zeugen waren "aummariach und ohne Eide•LcilltUng" zu vernehmen. Dabei waren die Verböre grundsätzlich nicht von nur einer Peraon allein zu führen, "auf daß die Protoc:olla auf den Glauben einer einzelnen Peraon nicht ankommen. • (Cl 1736 Cap I§ 7). Dieacr Grund111Z wurde 1840 in § 7 CrPO 1840 wieder durchbrochen, indem, "um den raaeben Gang der Criminaluntersuchungen zu befördern", in den Fällen, in denen nur eine leichte Strafe drohte, auch ein "mit der Richtereigenachaft verachener und auf die Führung dea Proloc:olla beeidigter" Richter die Vernehmung allein führen konnte. Schon während der Generalinquisition war der Inquiait in jedem Falle "jed.,rzeit gnüglich mit aciner Defe01ion" zu hören (CII736 Cap I§ 6).

II. Das Gefüge des hannoverschen Strafverfahrensrechts

117

Erst dann wurde darüber entschieden, ob •griJndliche und gnugsame• lndizien53 vorlagen, die im Sinne eines hinreichenden Tatverdachts die Durchführung der eigentlichen Hauptuntersuchung, der Spezialinquisition, rechtfertigten. 54 Der Beschuldigte (lnquisit) konnte durch Einreichung eines •Dejensionsschrift• versuchen, den Tatverdacht zu entkräften und so die Einleitung einer Spezialinquisition gegen sich abzuwenden. 55

bb) Die Spezialinquisition In der Spezialinquisition ging es um die Aufklärung der Frage, ob der Inquisit der im Rahmen der Generalinquisition ausermittelten Tat tatsächlich schuldig war. 56

•Die Seele der gantzen Inquisition •51 war dabei wegen der anhaltend großen Beweiskraft eines Geständnisses ( •confessio regina probationum •)5 8 53 Nach der von Carpzov aus dem kanonisch-oberitalienischen Recht entwickelten Lehre vom corpus delicti genügte es fiir die Einleitung der Spezialinquisition bereits, daß ausreichende Indizien einen Verorechenstatbestand anzeigten und den Tatverdacht auf eine bestimmte Person lenkten, wobei die Frage, wann die Indizien ausreichten, grundsätzlich im Ermessen des Richters stand, da es nicht um vollständige naturwissenschaftliche Gewißheit ging, sondern lediglich um einen "hinreichenden Tatverdacht" (s. dazu eingehend Karl Alfred Hall, Die Lehre vom Corpus Delicti, passim; vgl. auch Sellert, in: ders./Rüping, Quellenbuch I S. 266). 54 Spätestensjetzt war der lnquisit bejahendenfalls in Haft zu nehmen (Cl 1736 Cap V§ 1), die er jedoch gern. § 2 bei zu erwartenden nur geringeren Strafen durch Kautionsleistung abwenden konnte. §§ 30, 103 des LVerfO 1840 erweiterten die Rechte des Inquisiten dahingehend, daß er nur noch bei gewichtigen Haftgründen zu vemaften war (vgl. Thissen, Vemaftungsrecht, passim).

55 CI 1736 Cap IV§ 26. 56 CI 1736 Cap IV§ 1; Sellert, Art. Strafprozeß II, in: HRG IV 2036.- Gegenstand der Befragung durfte nur die in der Generalinquisition bereits bestimmte Tat sein (s. Sellert, in: ders./Rüping, Quellenbuch I 266). 57 CI 1736 Cap VII§ 5. 58 Diese hing eng zusammen mit der gleichfalls auf Carpzov zurückgehenden "gesetzlichen Beweislehre" des Gemeinen Strafprozeßrechts, nach der schon seit der PGO und der Sambergenais eine Verurteilung regelmäßig nur zugelassen war, wenn der Verdächtige ein glaubhaftes Geständnis abgelegt hatte oder zwei glaubwürdige Zeugen gegen ihn aussagten (s. Sellert, in: ders./Rüping, Quellenbuch I 208; v. Hippel, Strafrecht I 209; Holzhauer, Art. Geständnis, in: HRG I 1625 ff.). Diese Beweislehre war seit Carpzov immer weiter zu einer durch ihre unübersichtliche Kasuistik getrübten "gesetzlichen Beweistheorie" verfeinert worden (s. Sellert, in: ders./Rüping, Quellenbuch I 267). Besonders nach dem Wegfall der Folter erwies sich diese Beweistheorie aber als nicht mehr vertretbar. Freilich hatte auch hier für Hannover§ 17 CrPO 1840 eine Durchbrechung dieses Grundsatzes bewirkt, indem seither ein Geständnis allein nur noch dann für sich allein den objektiven Tatbestand im Sinne des Gesetzes bewies, wenn eine leichte Strafe gern. Art. 18 CrGB drohte. Drohte hingegen eine schwere Strafe, erorachte das

118

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

die Beschuldigtenvemehmung.59 Nach Abschaffung der Folter kam hierbei nur noch ein "gütliches" Verhör in Betracht. 60 Dieses war bei drohenden schweren Strafen iSd Art.8 CrGB 1840 "artikuliert", also in einzelne Teilfragen gegliedert, durchzuführen, um möglichst genaueund eindeutige Einlassungen des Beschuldigten zu erleichtern. 61 Geständnis nur noch dann vollen Beweia im Sinne der gesetzlichen Beweistheorie, wenn "das Geständniß mit den übrigen ausgemittelten Umständen . .. in . . . genauem Zusammenhange steht. • Ging es um Tötungsdelilttc, galten die noch weiter einengenden§§ 19, 20 CrPO 1840 als Iex specialis. Seither wurde bei genügenden Verdachtsmomenten (auf Grund genügender, nicht durch Gegenindizien entkräfteter Anzeigen) trotz Leugnens des Angeklagten die gesetzliche Strafe vemängt; nur traten an die Stelle der Todesstrafe, der lebenslänglichen Arbeitsstrafe und der Strafe der förmlichen Ehrlosigkeit außerordentliche Strafen. Bei nicht genügenden Indizien wurde nicht freigesprochen, sondern der Angeklagte lediglich von der Instanz entbunden.

59 Hierzu s. Uhlhom, Art. Rechtliches Gehör, in: HRG IV 253 ff. 60 Allerdings zeigte sich, daß die Entwicklung bei AbschaffUng der Folter noch nicht so weit war, daß sich sogleich der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung hätte durchsetzen können (s. Roth, Art. Richterliche Beweiswürdigung, in: HRG IV 1047 ff.). Auch bedeutete die AbschaffUng der Folter nicht, daß nun nicht mehr mit Drohungen und anderen Übeln auf ein Geständnis hingearbeitet wurde. Man war noch weit davon entfernt, dem Angeklagten ein Recht auf Passivität oder gar zur Lüge zuzugestehen; es blieb bei der grundsätzlichen Wahmeitspflicht des Beschuldigten und bei der Pflicht dea Schuldigen zum Geständnis. Die Überzeupng von der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit des Geständnisse• blieb aufrechterhalten, da man annahm, ea widerspreche der menschlichen Natur, sich seibat Nachteile zu bereiten (s. Holzhauer, Art. Geständnis, in: HRG I 1629 ff.; Komblum, Art. Beweia, in: HRG 1401 ff.). Die Untersuchungsrichter arbeiteten häutig mit Mitteln der List und der Überraschung und verfeinerten ihre "perfide Jagdwiasenschaft• zu regelrechten "Folteraurrrogaten• (a. Holzhauer, Art. Gestindnis,in: HRG I 1629 ff; Buchda, Art. Gerichuverfahren, in: HRG I 1551 ff.; Krause, Strafrechtspflege, S. 106). Die Cl 1736 enthielt allerdinga hiergegen bereits eine Vielzahl von Beweisemebungaverbotcn sowie von Schutzvorschriften fiir den Inquisiten. So verbot Cap VII § 5 Suggestivfragen und untersagte ea allen Gerichtlbedienatcten, vor dem Vemör mit dem Inquisiten über die Sache übemaupt zu 1prechen. § 2 verbot ausdrücklich alle "üblen Tractamenten" (vgl. auch Lieberwirth, Art. Folter, in: HRG I 1149 ff.). Gesetzlich wurde die Folter in Hannover in allen Formen (als "Verbal- und Realterrition") erst durch § I der VO vom 25.3.1822 "Über die Zulässigkeil eines vollständigen Beweise• durch Anzeigen in peinlichen Fällen• (GS I 97) abgescham (bei Nieper, Quellen, S. 139 ff.). Aber auch das materielle hannoversche Strafrecht nach dem CrGB von 1840 enthielt bereits ausdrücklich Strafbestimmungen fiir Amtsdelilttc im Zusammenhang mit dem Kriminalverfahren in Art. 344 ff.; so in Art. 347 ausdrücklich fiir Fälle von "Mißhandlungen durch Inquirenten". 61 § 8 CrPO 1840. -CI 1736 Cap VD § 1 galt demnach weitemin fiir schwere Fälle: "So bald als möglich .. . Abfasaung der Inquiaitiona1-Articul, welche die That, so wie sich selbige bey der generalinquiaition zu Tage gelegt, wie auch , .. dea Inquisiti summariaehe Deposition zum Grunde haben müssen ... vorller schriftlich entwerfen, und in dem Gerichte verlesen, und so dann ... Inquisitum ordentlich darauf antworten lassen. • Diese Art der Befragung sollte den Beschuldigten an weitschweifigen Einlassungen hindem und zugleich den Untcrauchungafiihrer zu präzisem und nachvollziehbarem Vorgehen anleiten (Sellert, in: den./Rüping, Quellenbuch I 266; Buchda, Art. Artilc:elproze8, in: HRG I 233 ff. CI 1736 Cap VU § 9 bestimmte, die Gerichte sollten "auch darum bekümmert seyn .•. alles, so ... zur Defension ... gedeyen kann, fleißig zu erforschen ... gleichergestalt in Articul verfasset. • Cl 1736 Cap VD § 3 befahl die Ermittlung der peraönlichen Verhältnisse des Inquisiten, Cl 1736 Cap Vß § 6 bestimmte, daß pro Artikel nur ein "Umstand" zum Gegenstand der Frage zu machen war. Gern. Cl1736 Cap VD § 20 mußten die Fragen vom Inquiaiten sofort beantwortet werden; weder durfte er schriftlich

ß. Das Gefiige dea hannoverschen Strafverfahrensrechts

119

Hingegen waren die Zeugenvernehmungen nicht artikuliert, sondern sollten

•eine zusammenhilngende En.iJhlung der Thaisachen • geben. 62

Dem Beschuldigten war, sofern ihm eine schwere Strafe drohte63, spätestens nach Abschluß der Spezialinquisition ein Verteidiger beizuordnen, der regelmäßig ein •recipirter Advokat• war. 64 Gegen schwerwiegende Verfahrensfehler konnte dieser sogleich die Nichtigkeitsbeschwerde erheben.65 Im übrigen hatte er die Gelegenheit, binnen drei Wochen eine Verteidigungsschrift einzureichen. 66 Die Untersuchungsakten wurden nach Ablauf dieser Frist dem zur Urteilstindung berufenen Spruchkörper übersandt. 67 Der Grundsatz, daß das Endurteil in Kriminalsachen ausdrücklich gerade nicht von dem untersuchenden Gericht, sondern von einem Spruchkollegium mit gelehrten Richtern zu fällen war, diente dem Schutz des Inquisiten. Es sollte so vermieden werden, daß der durch die vorhergegangene Untersuchungsführung geradezu zwangsläufig befangene Untersuchungsführer auch das Urteil sprach. 68

antwo11Cn, noch durfte sein Vemidiger dem Verhör beiwohnen (vgl. auch CI 1736 Cap Vß § 14). 62 § 11 CrPO 1840; a. Scdatia, Art. Summarischer Prozeß, in: HRG V 79 ft'. 63 Tode88trafe, Landeaverweiaung, erbebliche Freiheitsstrafe (Cl 1736 Cap. IX §§ 1-3). Nur bei drohender Todc88trafe war auch gegen den Willen des Angeklagten, und zwar durch das erkennende Gericht, ein Pflichtvei1Cidiger zu bestellen(§ 29 CrPO 1840). 64 S. Krause, Strafrcchtspflege, S. 112; Henschel, Strafverteidigung, S. 56 ft'.; Roth, Art. StrafvemidiJUng, in: HRG V 6ft'.; CI 1736 Cap IX § 1.- § 29 CrPO 1840 bestimmte, daß "ein Jeder, welcher die aUgemeine Bcfugniß, als Rechtsbeistand vor Gericht aufzutreten vom Staate erbalten hat und wirklich noch benutzt", grundsäiZiich zur Übernahme von Strafvcrteidigungen verpflichtet war. Überdies konnte aber mit Einwilligung des Angeschuldigten auch "jeder andere Rechtsgelehrte aus dem Bezirk dea erkennenden Gerichts, der nicht durch beaondere Dienstverhiltniaac verhindert wird", die Verteidigung übernehmen; auch konnte dem Angeschuldigten selbll diea geltauet werden, "wenn er von solchen F"ahigkeiten iat, daß sich eine zwcckmißige Vertheidigung von ihm erwarten lißt. • (1. CI 1736 Cap IX § 4). - Allerdings haue gewohnheitsrechtlich die Aktcneinaicht des Verteidigers in Gegenwart einer Gerichtsperson atatiZUtinden; Aktenauszüge waren ihm geltauet (1. Ocsterley, Handbuch, m 151; vgl. Cl 1736 Cap IX§ 5; Cl1736 Cap IX §10.).

65 S. § 30 CrPO 1840. Vorauaactzung war, daß eine augenblickliche Abhilfe erforderlich war und ein uneractzlicher Nachteil drohte, der keinen Aufschub bis zur Hauptvei1Cidigung oder RcchtsmiueleinlegÜng duldete. 66 S. Krause, Strafrcchtspflege, S. 112; Henschel, Verteidigung, S. 82.

61 Cl 1736 Cap X I 1.- Die bis 1814 gebräuchliche fönnliche "lnrotulation" (Verpackung) der Akten in einem besonderen Termin wurde 1814 gewohnheitsrechtlich "außer Gebrauch gesetzt" (1. Nieper, Quellen, S. 55 FN 44). 68 S. hierzu Schott, Art. Kollegialgerichtabarkeit, Kollegialgerichte, in: HRG ß 930 ft'.; Thümmcl, Art. Spruchkollegium, in: HRG IV 1781 ft'. ; Lieberich, Art. Gelehrte Richter, in:

120

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

b) Das Urteils-(Erkenntnis)verfahren Bei dem erkennenden Gericht war zunächst ein Referent zu bestellen, der eine Relation anzufertigen und dem Spruchkörper vorzutragen hatte. 69 Die mit Stimmenmehrheit zu fällende Entscheidung konnte auf Freispruch, Instanzentbindung oder Verurteilung lauten.70 Bei drohenden leichten Strafen gem. Art. 18 CrGB konnte dem Angeschuldigten zudem, wenn die Beweismomente fiir eine Verurteilung nicht ausreichten, der sog. Reinigungseid auferlegt werden.71 c) Die landesherrliche Bestätigung Alle Verurteilungen zu schweren Strafen bedurften noch der landesherrlichen Bestätigung. 72 HRG I 1477 tf.; Sellert, in: ders./Rüping, Quellenbuch I 270; Buchda, Art. Aktenversendung, in: HRG I 84 fl'.

69 S. Oesterley Handbuch m 238; Hülle/Sellert, Art. Relation, in: HRG IV 859 tf. -Die VO vom 22.12. 1822 bestimmte in§ 4, daß "zu mehrerer Sicherheit in allen Justiz-Canzleien ... in criminalibus .. . ein Correferent" votieren solle. Freilich wurde in der Praxis nur dann "correferirt", "wenn auf Arbeitshausstrafe oder auf eine schwere Strafe iSd Art. 8 CrGB zu erkennen ist" (bei Nieper, Quellen, S. 183 FN 110). Für die Fälle der unmittelbar bei den auch erkennenden Justizkanleien geführten Untersuchungen bestimmte ein Rescript des Justiz-Ministeriums an die Justizkanzleien vom 19.10.1840, daß dann "nach dem Schlusse des InstructionsVerfahrens jederzeit an die Stelle des Instruenten ein anderer zum Referenten zu bestellen sei." (bei Nieper, Quellen, S. 183 FN 110). 70 § 23 CrPO 1840; Kaufmann, Art. Peinliche Slnfe, in: HRG m 1574 tf. -Die Instanzentbindung war eine präventiv-polizeilich verstandene Entscheidung, da man aus dem fortbestehenden Tatverdacht auf eine Gefahr im Sinne des Polizeibegriffs schloß (s. Holzhauer, Art. Instanzentbindung, in: HRG ß 388 fl'.), also materiell nicht mehr als eine vorläufige Einstellung des Verfahrens. 71 § 22 CrPO 1840. Die Ablehnung der Ableistung dieses Eides begründete dann einen vollen Schuldbeweis; die Ableistung hingegen führte zur Freisprechung des Angeklagten (vgl. Komblum, Art. Beweis, in: HRG I 401ft'.; Kaufmann, Art. Reinigungseid, in: HRG IV 837 fl'.; Holzhauer, Art. Geständnis, in: HRG 11625 tf. (1640)). 72 Zum Bestätigungsverfahren und zur Bestätigungspraxis s. i.ü. ausführlich Krause, Strafrechtspflege, S. 146 fl'. - Eine Königliche Cabinets-Verordnung vom 14.11.1837 (bei Nieper, Quellen, S. 155) hatte (§ 8 Nr. 13-16) die "Bestätigung der Criminal-Urtheile, wodurch auf Todes-Strafe, oder auf lebenslängliche öffentliche Arbeits-Strafe, erkannt worden iat" dem Kabinett übertragen. - 1840 hatte § 25 CrPO das Erfordernis landesherrlicher Bestätigung auf Verurteilungen zum Tode oder zu "lebenswieriger Freiheitsstrafe" beschränkt. In den übrigen Fällen bedurfte "es jener Bestätigung zwar nicht, indeß (waren) . .. so oft auf eine schwere Strafe im Sinne des Art. 8 CrGB erkannt" war, das Erkenntnis "sammt den Relationen", und zwar nur im Konzept (Rescript des Justiz-Ministerii vom 15.10.1840, bei Nieper, Quellen, S. 176) an das Justizministerium einzusenden. - Die zur Bestätigung vorzulegenden Erkenntnisse waren "im Concepte signirt und im Originale von dem Vorsitzenden des Gerichts vollzogen, auch falls aus den unter dem Concepte des Urteils befindlichen Signaturen eine Parität der Votanten ersichtlich

D. Das Gefüge des hannoverschen Strafverfahrensrechts

121

Verfassungsrechtlich war ausdrücklich geregelt, daß der Landesherr die Strafe nur noch mildem oder ganz aufheben, nicht aber mehr im Wege des Machtspruchs schärfen durfte. 73 Nach seiner Struktur war das Bestätigungsrecht an sich dazu bestimmt, den Schutz des Einzelnen vor Fehlurteilen zu gewährleisten, und damit Ausfluß der verfassungsmäßigen königlichen Oberaufsicht über die Strafjustiz. 74 Es bedeutete inhaltlich das Recht zur materiellen Nachprüfung des Urteils. Die Nichterteilung der Bestätigung hinderte den Eintritt der Rechtskraft. Im Unterschied dazu hinderte die Begnadigung lediglich die Vollstreckbarkeit eines bereits rechtskräftigen Urteils. 7S Es handelte sich bei dem Institut der Bestätigung also um eine Bedingung für den Eintritt der Rechtskraft, nicht aber um eine Verlagerung der eigentlichen Urteilsgewalt auf den König, so daß das bestätigte Urteil in jedem Falle ein gerichtliches Erkenntnis und kein königlicher Machtspruch blieb. 76 Das Bestätigungsrecht konnte auf dreierlei Weise ausgeübt werden.77 Zum einen konnte der König das Urteil bestätigen, das damit in Rechtskraft erwuchs. Er konnte aber auch die Sache für noch nicht hinreichend aufgeklärt erklären, die Bestätigung deshalb verweigern und die Wiederholung des Verfahrens anordnen. Schließlich hatte er die Möglichkeit, wenn er die Sache zwar für hinreichend aufgeklärt hielt, die Schuld des Angeklagten aber als nicht erwiesen ansah, die Bestätigung zu verweigern und die Freilassung anwird, mit berichtlieber Anzeige der Stimmen-Computation neben den erstatteten Vorträgen" einzureichen. Erfolgte die Bestätigung, so wurde sie vom Justizministerium im Namen des Landesherrn den Originalurteilen nachgefügt (bei Nieper, Quellen, S. 17S mwN.) - Die standesherrlichen Justizkanzleien mußten weiterhin jedes Erkenntnis auf höhere als einjährige Freiheitsstrafe zur Bestätigung einreichen(§ 2S CrPO 1840 iVm der VO über die Ämter- und Gerichts-Verfassung in dem Herzogthume Arenberg-Meppen vom 5.10.1827, Art. 7, bzw. der VO über die Ämter- und Gerichtsverfassung in der Grafschaft Bentheim vom 20.S. 1824, Art. 8) Die Gräflich Stolbergsche Kanzlei für Hohnstein hatte sogar jedes Erkenntnis auf höhere als achtwöchige Gefängnisstrafe bestätigen zu lassen (bei Nieper, Quellen, S . 178 mwN); die urteilsberechtigten Untergerichte nur dann, wenn auf schwerere Strafe als Gefängnis erkannt worden war (§ 2S CrPO 1840).- Vgl. auch Kramer, Art. Machtspruch, in: HRG W 126 ff. 73 § 9 LVerfU. - Bereits vorher waren Strafschärfungen jedoch praktisch nicht mehr vorgekommen (s. Krause, Strafrechtspflege, S. 14S).

74 E.R. Huber VertU D 18, s.

§§ 9,

170 LVerfU.

15 E.R. Huber VertU D 17; Stölzcl, Rechtsvcrf D 473 f. Dort Einzelheiten zum Streit um

die dogmatische Bedeutung der Bestätigung. S. hierzu Eb. Schmidt, Einführung, S.

340. 76 S. E.R. Huber DtVerfU D 17. 77 S. E.R. Huber DtVerfU D 18.

273 ff.,

122

KapitelS: Der hannovenche "Öffentliche Anwald"

zuordnen; dies war die sog. Abolition. Es handelte sich dabei nicht um einen Freispruch, sondern um eine Niederschlagung des Verfahrens ohne Urteilsspruch.78 Die öffentliche Meinung des Vormärzes wandte sich überwiegend gegen das fortbestehende landesherrliche Bestätigungsrecht, da man hierin einen Rest der früheren Kabinettsjustiz sah. 79 d) Die Wiederaufnahme Unter engen Voraussetzungen war eine Wiederaufnahme des Verfahrens80 sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Angeklagten möglich. 81 e) Das Rechtsmittelverfahren Einen Einbruch in das Gefüge des hannoverschen Prozesses mit weitreichenden Folgen brachte 1840 die grundlegende Neugestaltung des Systems der Rechtsmittel. Der Gemeine Strafprozeß hatte sich ursprünglich mit der Anerkennung von Rechtsmitteln überhaupt zurückgehalten, jedenfalls die Appellation zumeist ausgeschlossen und allenfalls die Nichtigkeitsbeschwerde bei besonders gravierenden Form- und Verfahrensfehlern eröffnet. 82 Später war die Weitere Verteidigung hinzugekommen. 83

78 S. E.R. Huber DtVerfU D 17f. 79 S. E.R. Huber DtVerfU D 18 mwN. - Der Streit entbrannte deshalb besonders heftig an einzelnen spektakulären Fällen, in denen der preußische König Urteile rheinischer Geschworenengerichte nicht bestätigte, weil hieran häufig der grundsätzliche Streit über Wert und Unwert der französischen Prozeßelemente insgesamt festgemacht wurde (S. hierzu E.R. Huber, DtVerfU D 18; Holzhauer, Art. Haftbefehl, in: HRG 11894 ff.). 80 Ausfiihrlich zur Entwicklung des Wiederaufnahmerechts jetzt Schwedhelm, Wiederauf, nahme, passim; speziell zu Hannover besonders S. 110 ff. 8l Dasselbe galt gern. § 26, "wenn das unbestrafte Verbrechen bei dem ersten Urtheile zwar schon bekannt war, jedoch der verurtheilte deshalb nur von der lnstsnz entbunden" worden war "und sich neue Anzeigen oder Beweismittel offenbaren, weshalb die Untersuchung wieder aufgenommen werden kann. • (s. a. Nieper, Quellen, S. 188 FN 112; § 47 Ziff. 2 CrPO 1840). 82 S. Sellert, in: ders./Rüping, Quellenbuch I S. 271; ders., Art. Nichtigkeitsklage, Nichtigkeitsbeschwerde, in: HRG m 974 ff. 83 Dazu s. Schwedhelm, Wiederaufnahme, S. 13 mwN.; Krause, Strafrechtspflege, S.167 ff.

ll. Das Gefüge des hannoverschen Strafverfahrensrechts

123

Dieser restriktiven Haltung lag u.a. die ältere Überzeugung zugrunde, daß die bestehenden Prozeßvorschriften, vor allem die gesetzliche Beweistheorie mit dem prinzipiellen Erfordernis des Geständnisses, sowie die kollegialische Besetzung der Spruchkörper und schließlich die landesherrliche Bestätigung hinreichenden Schutz gegen Fehlurteile böten. 84 Nach Abschaffung der Folter und Einschränkung des landesherrlichen Bestätigungsrechts sowie der Auflockerung der gesetzlichen Beweistheorie konnte hieran, auch im Zuge des sich wandelnden, vernunftrechtlich durchdrungenen allgemeinen Staatsverständnisses, wonach auch der Angeklagte ein Staatsbürger und Mensch mit Subjektsqualität und im Rechtsstaat verfassungsrechtlich verbürgten eigenen Rechten sei, nicht mehr festgehalten werden. 85 Nachdem zwischenzeitlich ein verwirrendes Durch- und Nebeneinander der verschiedenen Rechtsmittel geherrscht hatte, hatte man in der CrPO 1840 das Rechtsmittelsystem neu geordnet und unter Aufgabe der bisherigen Vorbehalte die- bisher praktisch nur in Zivilsachen mögliche - Appellation an einen neu zu errichtenden Kriminalsenat bei dem Oberappellationsgericht Celle eingeführt. 86 Außer der Appellation und teilweise neben dieser einlegbar wurden auch die bereits aus dem Gemeinen Strafprozeß bekannten Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und der Weiteren Verteidigung neu geregelt. Sie konnten von Seiten des Angeklagten gegen alle Arten belastender Endurteile - also auch Instanzentbindung und Reinigungseid - eingelegt werden. Für alle Rechtsmittel galt eine zehntägige Einlegungs- und dreiwöchige Begründungs- ( •Ausfahrungs •-)frist. 87 Die Einlegung zulässiger Rechtsmittel führte zu einem Suspensiveffekt. 88 Das gesamte Rechtsmittelsystem war 1840 im übrigen auch in der Weise neu konzipiert worden, daß, •so oft auf irgend ein gebrauchtes Rechtsmittel 84 S . dazu Glaser, Handbuch I S. 101 ff.; vgl. Holzhauer, Art. Geständnia, in: HR.G I 1625 ff. 85 S. hierm Behr, Rechtsmittel, passim. 86 §§ 30 ff. CrPO 1840. 87 §§ 30 f. CrPo 1840.- Auch die Wahl eines Verteidigen war "an die nämliche zebntigige Nothfrillt gebunden, 10 daß, wenn bei Einlegung des Rechtsmittels dessen Benennung vorbehalten, aie aber vor Ablauf der Friat nicht erfoiJt, das erkennende Gericht einen Vertheidiger von Amtswegen zu belteilen hat. • (§§ 31, 33 CrPO 1840: •zu berechnen von dem Tage der BelltelJung oder Benachrichtigung dea Vertheidigen, und, wenn der Angeachuldigte aeine Vertheidigung aelbllt filhrt, von dem Tage der Einlegung dea Rechtsmittels. "). 88 § 32 CrPO 1840. "lndc8 illt es dem zu einer Frciheitslltrafe VeNrtheilten überla~~en, auf vorliufige Vollatreclcung ... anzutragen•, 10 daß dann der Suspensiveffekt nicht eintrat.

124

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

das Erkenntniß erster Instanz entweder bestlitigt oder zum Vortheil des Angeschuldigten aufgehoben, oder abgeandert ist", dieses "Erkenntniß zweiter Instanz sofort in Rechtskraft" erwuchs und "ein weiteres Rechtsmittel dagegen nicht Statt" fand. 89 Sämtlichen Rechtsmitteln des Angeklagten war gemeinsam, daß sie von den Instanzgerichten grundsätzlich nicht im Wege der refonnatio in peius zu dessen Nachteil entschieden werden durften.90 Dadurch sowie aufgrund der Tatsache, daß sämtliche Rechtsmittel nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut ausschließlich von Seiten des Angeklagten eingelegt werden konnten, wurde die Frage aufgeworfen, welche Sicherungen gegen ungerechtfertigte, zu milde oder freisprechende Erkenntnisse im öffentlichen Strafverfolgungsinteresse bestanden. Daher wurden durch das Gesetz vom 16. Februar 1841 zusätzlich zu den durch die CrPO dem Angeklagten eingeräumten Rechtsmitteln auch für den Staat neugeschaffene Rechtsmittel eröffnet, nämlich die Revision und die Beschwerde. Hiermit wurde allerdings in der Sache der Boden des Gemeinen Prozesses verlassen, indem das nach der gemeinrechtlichen Grundtheorie prinzipiell von den Gerichten wahrzunehmende öffentliche Interesse jetzt im Bereich der Rechtsmittel von diesen losgelöst wurde.

89 § 45 CrPO 1840. - Auagenonunen von diesem Grundsatz war nur der in§ 39 CrPO geregelte Fall der Nichtigkeitsbeschwerde propter nova. 90 Der Gedanke dea Verbots der reformatio in peiua geht bereits auf daa römiache Recht zurück (a. Dig. 49, 1,1 pr. g. E. (Uipian): "reformatio in peiu1 judici appellato non Jicet"; dort wird allerdings ltrenggenonunen nur - bedauernd - feltgeltellt, daß die auf ein Rechtsmittel hin ergehenden Urteile zuweilen auch aehlechter werden; 1. hierzu Ueba, Rechtsregeln, S. 186). Mit diesem Verbot aollte erreicht werden, daß aich niemand von der Einlegung eines Rechtamittela durch die Befürchtung abhalten laaaen aollte, in der nächlten Instanz noch härter beltraft zu werden (a. Roxin, Strafverfahrenarecht, S. 331). Zur weitgehenden Anerkennung der Lehre vom Verbot der reformatio in peiua in der Dogmatik dea 19. Jhdts. 1. statt vieler Hepp, in: ZSfdtStV (NF) D, 297 ff. - Nach h.M. handelt ea aich auch heute noch bei dem Verbot der reformatio in peiua nicht um eine zwingende Konsequenz aua dem Rechtastaataprinzip, aondem lediglich - um eine dem Angeklagten vom Gericht gewihrte "Rechtawohltst" (lt.Ripr., 1. zB BGHSt 9, 332; 27, 176 (178); 29, 269 (l70); BGHZ 85, 180 (185); BayVer«iHE 11, 195; OLG Hamburg NJW 1981, 470; BGH NJW 1973, 108; h.Ut., a. zB Kleinknecht/Meyer, StPO, § 331 I RN 1; Roxin, Strafverfahrenarecht, S. 323; Frisch, in: MDR 1973, 715 ff.).

ll. Das Gefiige des hannoverschen Strafverfahrensrechts

125

aa) Ordentliche Rechtsmittel: Appellation und Weitere Verteidigung In der Instanz der Weiteren Verteidigung und bei der Appellation hatte das Gericht "die Gesetzmttßigkeit des Erkenntnisses erster Instanz nach demjenigen, was die ergangenen Acten in Verbindung mit den etwa weiter noch angeordneten Untersuchungshandlungen ergeben, als ein Ganzes zu praj'en und das Erkenntniß entweder zu bestittigen, oder abzuttndern oder aufzuheben. "g 1 aaa) Die Appellation Die Appellationen92 gegen untergerichtliche Urteile, d.h. Erkenntnisse "aller zugleich untersuchenden und erkennenden ordentlichen Untergerichte, ... der Gritflieh Stolbergschen Canzlei der Grafschaft Hohnstein und des Universitittsgerichts Göttingen" gingen jeweils "an die ihnen vorgesetzte JustizCanzlei ..g3, und zwar "mit gttnzlichem Ausschlusse des Rechtsmittels der weitern Vertheidigung ". 94 Hingegen gingen an das Oberappellationsgericht die Appellationen "gegen diejenigen in erster Instanz von den Justiz-Canzleien abgegebenen Erkenntnisse, durch welche auf eine schwere Strafe (Art. 8 CrGB) erkannt ist. "g5 Gegen die in der Appellationinstanz abgegebenen Erkenntnisse fanden "weitere Rechtsmittel nicht Statt. "g6

91 § 37 CrPO 1840. 92 Die Appellation war das verbreitetste Reechtsmittel des gemeinrechtlichen Prozesses. S. zu ihrer Entstehung und Bedeutung i.e. Krause, Strafrechtsptlege, S. 163 ff. mwN.

93 § 36 Ziff. I CrPO 1840. "Soviel Unser Universitäta-Gericht betriffi, der bestehenden Verfassung gemäß an das fiir jeden einzelnen Fall zu dem Ende mit besonderem Auftrage zu versehende Gericht. • 94 Ebd. 95 § 36 Ziff. 2 CrPO 1840. - "War indeß gegen ein solches Erkenntniß zuvor das Rechts-

mittel der weitem Vertheidigung ergriffen, so ist dadurch die Appellation ausgeschlossen."

96 § 36 Ziff. 2 CrPO 1840. - Eine landesherrliche Deklaration zu § 16 der VO vom 22.12. 1822 hatte bereits klargestellt, daß in den Fällen, in denen sich der Rechtsmittelfiihrer zunächst

entschieden hatte, Appellation einzulegen - wodurch nach der Rechtsmittelsystematik an sich fiir die Zukunft die weitere Verteidigung abgeschnitten gewesen wäre (s. § 16 VO 1822) - , dann, wenn die Appellation nur aus Forrngriinden als unzulässig abgewiesen wurde, doch noch die Weitere Verteidigung ergriffen werden durfte (bei Nieper, Quellen, S. 184 FN 111).

126

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

bbb) Die Weitere Verteidigung (ulterior defensio) Das ordentliche Rechtsmittel der Weiteren Verteidigung war zulässig gegen "diejenigen Erkenntnisse, welche von den Justiz-Canzleien und von Unserm Ober-Appellationsgerichte in erster Instanz gesprochen sind. "(}1 Die weitere Verteidigung war ursprünglich das allein zulässige ordentliche Rechtsmittel gegen leichtere Strafurteile gewesen. 98 Wegen der "eifahrungsmiißigen Abneigung der Gerichte, ihre eigenen Entscheidungen abzuiindern", ging die Entscheidung über die Weitere Verteidigung an eine andere Justizkanzlei, oder, wenn in erster Instanz ein Patrimonial- oder Stadtgericht oder die Gräflich Stolbergsche Kanzlei der Grafschaft Hohnstein entschieden hatte, an die diesen Gerichten vorgesetzte Justizkanzlei.99 Zur Geltendmachung der Weiteren Verteidigung bedurfte es keines neuen Tatsachenvortrags. Auch eine einfache Nachprüfung der Untersuchungsakten konnte mit ihr erreicht werden. Eine etwa für notwendig befundene Instruktion und Nachprüfung neuer Tatsachen war von dem Ausgangsgericht durchzuführen. 100

97 § 35 CrPO 1840. 98 Zu Einzelheiten hierzu s. Krause, Strafrechtsptlege, S. 167 f.; Bchr, Rechtsmittel, S. 8 ff. Das Institut der Weiteren Verteidigung wurde Carpzov zugeschrieben. Es sollte an sich die für unzulässig gehaltene Appellation ersetzen und hatte ursprünglich keinen Devolutiveffekt (Oesterley Handbuch m 258 f.; vgl. CI 1736 Cap Xß § 4). Die VO vom 22.12.1822 hatte sie für Hanover neu geregelt(§§ 4, 5, 12) und die Sachentscheidung an einjeweils anderes Gericht verwiesen. Sie bestand inhaltlich im Nachschieben von nova relevantia. Nach dem Rechtsmittelsystem von 1822 sollte die Weitere Verteidigung zum materiell wichtigsten Rechtsmittel werden (s. Krause, Strafrechtspflege, S. 168 f.). 99 "Es entscheidet ... dasselbe Gericht, welches in erster Instanz erkannt hat. Bei Unseren Justiz-Canzleien soll jedoch, wenn das erste Erkenntnis in einem Senate gefaßt ist, die Sache an einen anderen Senat gebracht und in jedem Falle für die Instanz der weiteren Vertheidigung ein anderer Referent und, wenn in erster Instanz ein Correferent zugezogen war, auch ein anderer Correferent bestellt werden. Bei Unscrm Ober-Appellationsgerichte entscheidet ... ein Urtheilasenatnach den in dem§ 44 folgenden Bestimmungen ... Die standesherrlichen Justiz-Canzleien zu Haselünnc und Bcntheim (haben) die Acten zur Einholung des Rechtsspruchs an Unsere Justiz-Canzlei in Osnabrück einzusenden" (§ 35 CrPO 1840). 100 S. hierzu Weitzel, Art. Rechtsmittel, in: HRG IV 315 ff.

D. Das Gelüge des hannoverschen Strafverfahrensrechts

127

bb) Außerordentliche Rechtsmittel: Die Nichtigkeitsbeschwerde (querela nullitatis) Das außerordentlichetOt Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde war dem Inquisitionsprozeß ebenfalls seit langem bekannt102. Die Nichtigkeitsbeschwerde konnte mit der Appellation oder der weiteren Verteidigung verbunden oder auch selbständig erhoben werden. Stellte das Rechtsmittelgericht "Nichtigkeiten in dem Untersuchungsverfahren ", Zuständigskeits- oder Besetzungsfehler des Ausgangsgerichts fest, so "cassirte" es

das angegriffene Urteil und verwies die Sache "zur Abstellung der Nichtigkeiten" zurück.l03 Lag die Nichtigkeit hingegen "in dem Erkenntnisse" -beruhte sie also auf falscher Rechtsanwendung -, so hatte das Rechtsmittelgericht "aber die Sache

selbst, und zwar in letzter Instanz, zu erkennen. •104 Die Nichtigkeitsbeschwerde ging grundsätzlich in jedem Falle - also auch wenn sie selbständig erhoben wurde - an das im konkreten Falle für die ordentlichen Rechtsmittel zuständige Instanzgericht.lOS Die CrPO 1840 enthielt einen ganzen Katalog von Nichtigkeitsgründen.106

101 So genannt im Unterschied zu den gem. § 39 CrPO sogen. "ordentlichen Rechtsmitteln der Appellation und weitem Vertheidigung". Freilich konnte die Nichtigkeitsbeschwerde propter nova gem. § 39 CrPO nachgeschoben werden.

l02 S. eingehend zur Nichtigkeitsbeschwerde Oesterley, Handbuch m 251; Krause, Strafrechtspflege, S. 165; Sellert, Art. Nichtigkeitsklage, in: HRG m 974 ff. Voraussetzung war die Rüge einer "wahren Nullität oder derselben gleichzustellenden Iniquität wider die natürliche Vernunft und Billigkeit" (a. Oesterley, Handbuch m 251). 103 Und zwar entweder an das Ausgangs- oder an ein anderes Untersuchungsgericht; § 41 CrPO 1840. Gegen dieses weitere "ErkenntniS" des Ausgangsgerichts war dann gem. § 43 CrPO 1840 erneut der gesamte Rechtsmittelzug zulässig. l04 § 42 CrP0·1840. lOS § 39 CrPO 1840. -Nur dann, wenn die isolierte Nichtigkeitsbeschwerde gegen "leichte" Urteile von Justizkanzleien ernoben wurde, war direkt das OAG Celle zuständig (§ 39 CrPO 1840), da gegen diese "ordentlichen" Rechtsmittel nur noch eine Weitere Verteidigung offenstand (a.o.). 106 Katalog in § 40 CrPO 1840. Unter diesen waren sowohl Verfahrensmängel zu finden als auch Fälle falscher Rechtsanwendung, so zB im Beweismittelrecht im Rahmen der gesetzlichen Beweistheorie und im StrafzumeiiUngsrecht (vgl. §§ 39-47 CrPO 1840).

128

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

3. Die hauptsilchlichen Kritikpunkte an diesem Verfahrensrecht Dogmatisch stand das hannoversche Strafprozeßrecht zwar bereits in vielem unter dem Einfluß der aufklärerischen Ideen, war aber in der Grundstruktur doch noch geprägt durch das Bemühen, über eine Verkürzung und Vereinfachung des Verfahrens einen "humanisierten Inquisitionsprozeß" auf der fortbestehenden Basis des Gemeinen Strafprozesses zu erreichen.l07 Allerdings war ein solches kompromißhaftes Strafprozeßrecht gekennzeichnet durch eine höchst problematische, vielfältige Durchbrechung einzelner Grundsätze und damit letztlich der Gesamtsystematik des Gemeinen Strafprozesses.l08 Insbesondere die "Herausbrechung" der Folter hatte die auf der großen Beweiskraft des Geständnisses beruhende Beweistheorie erschüttert. Auch hatten die inzwischen eingeführten verfassungsrechtlichen Garantien, insbesondere die Beschränkung des landesherrlichen Bestätigungsrechtsl09, zu einer dem Gemeinen Prozeß wesensfremden Neugestaltung des Rechtsmittelwesens geführt. Besonders schwerwiegend mußte es sich auswirken, daß von dem materiellen Grundgedanken des Inquisitionsprozesses, der Überzeugung von der Möglichkeit der lückenlosen Ermittlung der objektiven Wahrheit durch das Gericht, innerlich Abstand genommen worden war.IIO Die Anerkennung des Indizienbeweises sowie das neue Rechtsmittelwesen enthielten in einem dem bisherigen Rech~ unvorstellbaren Ausmaß die implizite Anerkennung der Möglichkeit materiell unrichtiger Strafurteile, struktureller Unsicherheit und potentieller Lückenhaftigkeit, ja Ungerechtigkeit der Strafrechtspflege überhaupt. 111 Die Rechtsmittel des Angeklagten waren fortan nicht mehr nur beschränkt auf die Nichtigkeitsbeschwerde gegen eklatante Verfahrensfehler. Dieses Zu-

I07 S. Sellert, in: Ders./Rüping, Quellenbuch I 464 ff. 108 S. dazu Glaser, Handbuch I S. 126 ff.; Eb. Schmidt, Einfiihrung, S. 281, 325 f .; Holzhauer, Art. Geständnis, in: HRG I 1629 ff. (1634 ff.). 109 Art. 170 LVerfG 1840. llO S. Glaser, Handbuch I 101, 126; vgl. Buchda, Art. Gerichtsverfahren, in: HRG I 1551 ff. 111 S. Glaser, Handbuch I, S. 101, 126 f .; vgl. Komblum, Art. Beweis, in: HRG I 401 ff.; Holzhauer, Art. Geständnis, in: HRG I 1625 ff. (1640).

D. Das Gefüge des hannoverschen Strafverfahrensrechts

129

geständnis erhob den Angeklagten gegenüber dem Gericht zu einem Rechtssubjekt mit eigenständigen weitgehenden Abwehr- und Verteidigungsrechten.112 Auf eine solche schlagartige Ausweitung der Rechtsstellung des Angeklagten bei gleichzeitiger Verminderung der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in die Strafrechtspflege war das historisch von umfassenden staatlichen Untersuchungs- und Eingriffsmöglichkeiten ausgehende gemeinrechtliche Prozeßgefüge jedoch nicht ausgerichtet.113 Die neuen, "gesetzesstaatIichen•114 Sicherungen ließen es sogar als denkbar erscheinen, daß ein schuldiger Angeklagter durch ihre skrupellose und geschickte Ausnutzung der Strafverfolgung entkam. Dies warf alsbald die Frage danach auf, was geschehen sollte, wenn Urteile zum Nachteil der Gerechtigkeit zu milde ausfielen oder sogar von der Einleitung eines Verfahrens fälschlich völlig Abstand genommen wurde.11S Die gravierendsten Schwachstellen des hannoverschen Strafprozeßrechts bestanden in den Augen der Zeitgenossen im übrigen zunächst in der •psychologisch unhaltbaren Doppelrolle des gleichzeitig jar und gegen den Angeschuldigten ennittelnden Jnquirenten• 116 , dem •Kardinalfehler des Jnquisitionsprozesses •. 117 Das auch noch in der neueren Literatur häufiger anzutreffende Argument allerdings, diese "psychologische Unhaltbarkeit" habe darin bestanden, daß im Inquisitionsprozeß der Untersuchungsführer gleichzeitig auch erkennender Richter gewesen sei, trifft hingegen für den Regelfall jedenfalls des hannoverschen Kriminalprozesses nicht zu.lll Durch die verschiedene Zuständigkeit des untersuchenden und des erkennenden Gerichts war hier gewährleistet, daß der Untersuchungsführer nicht unmittelbar an der Urteilsfmdung teilnahm. 112 S. v. Hippe!, Strafrecht 1311. 113 S. Holzhauer, Art. Gestindnia, in: HRG I 1625 ff. (1639).

114 E.R. Huber DtVerfG D S. 17. 115 Vgl. Nauclte, Art. Straftheorie, StrafLweclt, in: HRG V 2 ff.

116 S. Eb. Schmidt, Einführung, S. 273 ff.; Köstlin, Wendepunkt, S. 58. 117 S. Eb. Schmidt, Einführung, S. 275. - Zwar war der Inquirent ausdrücklich auch zur Ennittlung endaltender Geaichtlpunkte verpflichtet, aber der "Mangelachützender Fonnen" des Inquiaitionsprozeues verschärfte die psychologischen Schwierigkeiten des lnquirenten, der "bald auf die eine, bald auf die andere Seite springen und mit beiden Waffen reap. gegen sich selbst fechten, zugleich aber auch als Kampfrichter den Streit entscheiden" (Zachariae) mußte (nach Eb. Schmidt, Einführung, S. 293, 323). 118 S. Thierfelder, in: ZStW 53 (1934), 414. 9 Knollmann

130

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Die Rolle des Untersuchungsführers war aber gleichwohl insofern bedenklich, als die von ihm zusammengetragenen Akten die ausschließliche Grundlage des Endurteils bildeten, und sich insofern sämtliche Fehler und mögliche Einseitigkeiten, die aus der Doppelrolle des Inquirenten folgten, mittelbar im Urteil niederschlagen konnten. Weitere Kritikpunkte betrafen Heimlichkeit und Schriftlichkeit des Prozesses sowie die gesetzliche Beweistheorie. 119 Beanstandet wurde auch die unkontrollierbar lange Dauer der Untersuchungshaft.l20 Die gesetzliche Beweistheorie hatte überdies dazu geführt, daß vielfach von den Untersuchungsrichtern mit allen Mitteln einer •perfiden Jagdwissenschaft" auf ein Geständnis des Beschuldigten hingearbeitet wurde. 121 Es hing mithin viel von der persönlichen Integrität des Inquirenten ab.122 Auch wurde die nur unzureichende Ausgestaltung der Rechtsstellung der Verteidigung gerügt, die erst nach Abschluß des Untersuchungsverfahrens Akteneinsicht und uneingeschränkte Kontaktaufnahme mit ihrem Mandanten verlangen konnte.l23 Außerdem wurde die "fast schrankenlose • Gewalt des lnquirenten über den verhafteten Angeklagten beklagt, zumal •die Criminal-Untersuchungen, als die llistigste Expedition bei den Königlichen Ämtern, hlJujig den jangeren Beamten aberlassen sind und der Fall der Gegenwart nur eines Beamten bei den Verhören nur zu hilujig vorkommt, und ... eine etwaige Beschwerde des Angekl. ... durch den, gegen welchen sie gerichtet ist, vermittelt werden muß". Ebenso wiederholten sich Beschwerden über •die große Unbestimmtheit des lnquisitions-Processes, nach Richtung, Form und Gegenstand der Untersuchung•, •tkzs aberwiegende Hinarbeiten des lnquirenten auf dm Gest4ndniß des Angeklagten•, •die Gefahr der Zwangsmittel•, •dßs Obermaß der Schriftlichkeit", •die so lange Dauer der Untersuchungen und Verhaftun-

ll9 S. Sellert, Art. Strafprozeß 0, in: HRG IV 2037 f.; Köatlin, Wendepunkt, S. 101 ff. 120 S. Blass, Strafverfahren, S. 101; vgl. dazu auch Ucberwirth, Art. Gefangene, Gefängnis, in: HRG I 1431 ff. 121 S. Köstlin, Wendepunkt, S. 76 ff., 85 ff.; Blass, Strafverfahren, S. 102. 122 S. Maiwald, in: Semper Apertus 0 213. 123 S. Köatlin, Wendepunkt, S. 76 ff.; vgl. Thierfelder, in: ZStW 51 (1934), 415 ff.

m.

Stellung und Funktionen

131

gen und die dennoch so hllufige Resultatlosigkeit dieser großen Anstrengungen. •124

111. Gerichtsverfassungsrechtliche und prozessuale Stellung und Funktionen des Öffentlichen Anwalts 1. Stellung

Der Öffentliche Anwalt nach dem Gesetz vom 16. Februar 1841125 - es handelte sich nur um eine einzelne Person, der keinerlei eigener Behördenunterbau zugewiesen wurde - war im Gefüge der hannoverschen Gerichtsorganisation nicht einem bestimmten Gericht, sondern dem Justizministerium als ein besonderer Beamter zugeordnet. Es handelte sich bei ihm also materiell nicht um einen richterlichen Angehörigen der eigentlichen Gerichtsorganisation, sondern um einen Verwaltungsbeamten. Weder unterstand er auch wie ein Richter der besonderen Straf- und Disziplinargewalt eines bestimmten hannoverschen Gerichts noch kamen ihm in

124 S. Vortrag der Stände an das Kgl. Cabinet vom 19.3.1847, in: Actenstücke der IX. allgStV S. 1583 ff. - Ein literarisches Beispiel für die verbreitet empfundene Unerträglichkeil des Inquisitionsprozesses gibt etwa der ala preußischer Strafrichter aelbst wider Willen an Demagogenverfolgungen beteiligte und wegen aeiner satirischen Bemerkungen bietüber in große disziplinarrechtliehe Schwierigkeiten geratene E.T.A. Hoffmann in aeinem Märchen "Meister Floh" von 1824: • ... Auf die Erinnerung, daß doch eine Tat begangen sein müsse, wenn es einen Täter geben aolle, meinte Knarrpanti [gemeint ist Hoffmanns Vorgesetzter, der preußische Justizminister Karl Albert v. KampiZ (1769-1849), "die Symbolfigur der Reaktion in Deutschland" (Kleinheyer/Schröder, Juristen, S. 334 f.)], daß, sei erst der Verbrecher ausgemittelt, sich das begangene Verbrechen von selbst finde. Nur ein oberflächlicher leichtsinniger Richter sei, wean auch selbst die Hauptanklage wegen Verstocktheit des Angeklagten nicht featzustellen, nicht imstande, die& und das hineinzuinquirieren, welches dem Angeklagten doch irgendeinen kleinen Makel anhänge und die Haft rechtfertige .. . Sie sagten, es fehle gänzlich an einem Corpus Delicti, der weise Rat Knarrpanti blieb aber fest dabei stehen, daß ihn das delictum den Henker wae kümmere, wenn er nur ein Corpua in die Faust bekäme ... Knarrpantis Gedanken lauteten ungefähr: Es wird, es kann aus der Sache gar nichts herauskommen ... Eben deshalb will ich den jungen Mann recht arg quälen mit Kreuz- und Querfragen ... Ich muß ea nur dahin bringen, daß ich [ihn] ungeduldig mache und einige schnippische Antworten erpresse. Die streiche ich denn an mit einem tüchtigen Rotatift, begleite sie auch wohl mit einigen Bemerkungen, und ehe man sich's versieht, steht der Mann da in einem zweideutigen Licht .. . • (E.T.A. Hoffmann, Meister Floh, in: Werke m 211 ff. ; hierzu s. Kleßmann, Hoffmann, S. 500 ff., bes. 504 ff.). 125 GS I 99 9•

= s.u. Textanhang I.

132

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

seiner Dienststellung als Öffentlicher Anwalt die verfassungsmäßigen richterlichen Privilegien und Unabhängigkeitsgarantien zugute.l26

2. Die Aufgaben Der hannoversche Öffentliche Anwalt erhielt durch das Gesetz von 1841 (G-1841) einen recht eng begrenzten Wirkungskreis, der ausschließlich in der Einlegung von Rechtsbehelfen gegen bestimmte gerichtliche Entscheidungen bestand, eine eigentliche Anklägerfunktion hingegen nicht umfaßte. 127 Hierzu wurde er "nur vennöge eines jar die einzelne Sache ... ihm dazu ertheilten Auftrages", also nur von Fall zu Fall, durch den Justizminister angewiesen 128, hatte also ausdrücklich keinerlei eigenes Entschließungsermessen.l29 Das G-1841 wies ihm zweierlei unterschiedliche Arten von Aufgaben zu. a) Nichteröffnungsbeschwerde

"Wenn ein Criminalgericht aus unrichtigen Granden von einem criminellen Verfahren in einer Sache aberhaupt abzustehen beschlossen" hatte, so konnte der Justizminister den Fiskal nach seinem Ermessen anweisen, "bei wichtigeren undfolgereichen Flillen", und soweit "ein hinreichender Anlaß vorhanden war", gegen diese Nichteröffnung Beschwerde "an das zunlichst vorgesetzte höhere Gericht" einzulegen.l3° Dieses war verpflichtet, die Beschwerde ein-

126 S. §§ 172, 177 LVerfG 1840. § 177 LVerfG beschränkte die Richterprivilegien aufdiejenigen königlichen Bediensteten, •die lediglich ein Richteramt bekleiden•, so daß der 1841 zum Fiskal ernannte Amtsassessor Donuncs dieses Privilegs nicht mehr teilhaftig werden konnte. "Mit Rücksicht auf die in . . . Art. 2 des Gesetzes . . . enthaltenen allgemeinen Bestimmungen (erscheint) es mir nicht anders wie angemessen ... , dem Criminalfiscal seine Stellung zu dem Juatiz-Ministerii in ihnlieber Weise zu geben, wie dies hinsichtlich des Lehensfiscals bei dem Ministeno der Lehenssachen der Fall ist • (Schreiben Stralenheims an Schele vom 29.3 .1841; NdsHStA Hann Des 26 a Nr. 2620). l27 Art. 4-6 G-1841. 128 Art. 2 G-1841. 129 Der Justizminister "wird kraftder ihm anvertrauten obem Aufsicht auf die Justizpflege ermessen, in wie fern bei wichtigeren und folgereichen Fillen ein hinreichender Anlaß vorhanden ist, um ein Einschreiten des öffentlichen Anwalts zu verfügen• (Art. 2 G-1841). 130 Art. 4 G-1841. - Die Nichteröffnungsbeschwerden gegen Beschlüsse des Göttinger Universitätsgerlebt gingen an "ein anderes Gericht", gegen Beschlüsse des Celler Criminalsenats an einen (Zivil-) Urteilssenat des OAG (Art. 4 G-1841).

W. Stellung und Funktionen

133

deutig zu bescheiden, also ihr entweder abzuhelfen oder das erstinstanzliehe Urteil ausdrücklich zu bestätigen.131 Die Beschwerde war an keine Ausschlußfrist gebunden. Ihre Einlegung war nur bei bereits veljährten Delikten gesetzlieb ausgeschlossen. 132 Sie konnte •in allen Fiillen bis zu der höchsten Instanz veifolgt werden •133; d. h., auch gegen der ersten Beschwerde nicht abhelfende Beschwerdebescheide war die weitere Beschwerde an das nächsthöhere Gericht eröffnet. Gegenüber der früheren absolutistischen Kabinettsjustiz lag in dieser Regelung ein bedeutender Fortschritt , da der Justizminister durch den Fiskal lediglich bei dem nächsthöheren Gericht Abhilfe im Beschwerdewege beantragen, nicht aber dieses direkt aufsichtlich zu einer bestimmten Entscheidung anweisen konnte. Das letzte Wort über die Frage der Verfahrenseröffnung verblieb bei dem in jedem Falle nur Gesetz und Recht verpflichteten Gericht, während den früheren Machtsprüchen jedenfalls in der Praxis durchaus auch politische Erwägungen hatten zugrundeliegen können. b) Revision Der zweite Haupttätigkeitsbereich des Fiskals bestand in der Einlegung von Rechtsmitteln im öffentlichen Interesse gegen strafgerichtliche Endurteile. Im Unterschied zum französischen ministere public sollte er jedoch nicht im Sinne eines "Gesetzeswächters" gegen jegliche unrichtigen Erkennlisse rechtsmittelbefugt sein -also ggf. auch zugunsten des Angeklagten -, sondern ausschließlich dann, wenn •J) entweder ohne genUgende Grande freigesprochen, oder von der Instanz entbunden, oder 2) im Widerspruche mit bestimmten gesetzlichen Vorschriften in eine zu gelinde Strafe verunheilt ist•. 134 In diesen Fällen hatte der Fiskal nach Anweisung durch den Justizminister im Einzelfall nicht eines der Rechtsmittel nach der CrPO einzulegen - also Appellation, weitere Verteidigung oder Nichtigkeitsbeschwerde -, sondern das - dem Angeklagten gar nicht zugängliche, ursprünglich aus dem 131 Art. 4 G-1841. 132 Art. 5 G-1841. 133 Art. 5 G-1841. 134 Art. 6 G-1841.

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

134

Zivilprozeßrecht stammende - Rechtsmittel der Revision.l35 Die Revision war bei dem judex a quo einzulegen und zu begründen, die Akten dann von diesem dem judex ad quem, regelmäßig dem jeweils nächsthöheren Gericht, zu übersenden. 136 Die Revision unterlag einer regelmäßig zweimonatigen Ausschlußfrist.l37 Der Angeklagte war von der Revisionseinlegung zu informieren, ohne jedoch eigene Rechte in diesem Rechtsmittelverfahren zu haben.138 Die Revisionseinlegung hemmte bei Freisprüchen die Haftentlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft an sich nicht; sie konnte dies jedoch auf besonderen Antrag des Fiskals im Wege eines weiteren Haftbefehls des erstinstanzliehen Gerichts zur Folge haben.l39

In der Revisionsinstanz war "unter Erwltgung der Ausführungen und .Antrltge des Öffentlichen Anwalts das angefochtene Erkenntnis als ein Ganzes zu prllfen, und entweder dasselbe zu bestlttigen, oder ein anderes Erkenntnis abzugeben. "140 Bestätigte das Revisionsgericht das vorinstanzliehe Urteil, erwuchs dieses ohne weiteres in Rechtskraft}41 Verschlechterte es jedoch den vorinstanz-

135 Die Revision war ursprünglich ein im wesentlichen gewohnheitsrechtlich begründetes, auf das Reichsrecht zurückgehendes (zB T. m Tit. 53 §§ 1 f. RKGO 1555; bei LAufs (Hg), RKGO 1555) Rechtsinstitut (1. Sellert, Art. Revision, in: HRG IV 958 ff.). Anerlcannt war aie an sich sowohl im Rechtszuge von den Untergerichten an die Justizkanzleien als auch von diesen an das OAG "in den reichsrechtlich vorgesehenen Fillen", d.h. dann, wenn entsprechend "privilegierte Personen"(§ 15 VO v. 22.12.1822) betroffen waren (a. Oeaterley, Handbuch m 247 ff. (249); Spangenberg, Das OAG, S. 283 f.). Ihre Einlegung war am OAG früher beschränkt gewesen auf •Adliche oder die, welche ihnen nach den Reichsconstitutionen gleich zu setzen sind, als Räthe und dergleichen vornehme Bediente, auch graduierte Personen". Sie war gedacht als "ein Vorzug, welcher neben der Appellation, Nullititsquerel und weiteren Verteidigung den gedachten Personen zuateht" und an keine besonderen "Formen und Fatslien• geknüpft (s. Oeaterley, Handbuch m 255; Jessen, Einßu8, S. 153). -Der Reviaionsfiihrer konnte nach Gemeinem Recht lediglich eine Nachprüfung eines Endurteils auf Rechtsverletzungen anband der Akten verlangen, jedoch nichts Neues vorbringen. Ob die Revision einen Suspensiveffekt hatte, war strittig (1. Sellert, Art. Revision, in: HRG IV 960). 136 Art. 7 f. G-1841 . 137 Art. 8 G-1841. 138 Art. 8 G-1841. 139 Art. 13 G-1841. 140 Art. 10 G-1841. 141 Art. 10 G-1841.

m. Stellung und Funktionen

135

Iichen Spruch, so war dem Angeklagten hiergegen regelmäßig die Appellation an das Oberappellationsgericht zu Celle eröffnet.l42 Immerhin lag auch hierin insofern ein Fortschritt, als das Ministerium auch die Justizaufsicht nicht mehr in der Form von aufsichtliehen Anweisungen an die Gerichte oder sonstigen direkten Eingriffen in die Rechtspflege ausübte. Vielmehr vertrat der Fiskal, worauf auch seine Bezeichnung als "Anwaur hinweist, das Justizministerium wie ein Parteivertreter vor dem unabhängigen, zur Endentscheidung über sein Vorbringen berufenen- und damit über ihm rangierenden - Gericht. Insoweit bedeutete seine Einführung eine wesentliche Neuerung, da sie faktisch die Aufgabe der früheren Konzeption einleiten mußte, wonach die Rechtspflege als Ganzes und ungeteilt von den Gerichten als nur ausführenden und unterstützenden Organen des Monarchen auszuüben war. In der Person des Fiskals unterwarf sich nunmehr, so gesehen, der König dem Spruch seines eigenen Gerichts: Eine merkwürdige Konstellation, die sowohl die faktische Anerkennung des Gewaltenteilungsgrundsatzes als auch eine weitreichende Unterhöhlung des Inquisitionsprinzips bedeutete. 3. Aussagekraft der Bezeichnung "Offentlicher Anwald" für die rechtshistorische Einordnung des Instituts

a) Materialer Gehalt der Bezeichnung Öffentlicher Anwalt Um die amtliche Bezeichnung des neuen Instituts war im hannoverschen Justizministerium zunächst gestritten worden. Man einigte sich schließlieb auf die offizielle Bezeichnung "Offentlicher Anwald", bezeichnete den Amtsträger jedoch offiziös auch als Staatsanwalt oder als Kriminalfiskat.l43 142 War der Criminalsenat des OAG selbst die Vorinstanz gewesen, so war die nochmalige Weitere Verteidigung an einen der- an sich zivilrechtliehen - Urteilssenate eröffnet (Art. 12 G1841). 143 Wie die Namensgebung bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs 1841 von stallen ging, zeigen die Regierungsprotokolle. Der Justizrat Meyer hatte "die Benennung Fiscal anstößig gefunden"- vielleicht wegen der Erinnerung an daa frilhere Fiscalat in Bremen und Verden - und lllattdeuen den Ausdruck "Staata-Anwalt oder Öffentlicher Anwalt" gewünscht. Der federfiihrende Obeljustizrat Jacobi erklärte sich daraufhin lapidar "mit jeder zutreffenden Benennung ... zufrieden, obgleich ich an der althergebrachten Benennung Fiscal keinen Anstoß nehme. Irgend ein Titel für den Mann wird wohl auagemittelt werden müssen. • (NdsHStA Hann Des 26 a Nr. 2619).

136

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Besonders die im Gesetz an erster Stelle gebrauchte Bezeichnung als Öffentlicher Anwalt scheint prima facie ein bestätigendes Indiz für die bisherige Zurechnung des Instituts zur Traditionslinie der heutigen Staatsanwaltschaft zu sein. Eine enge Verwandtschaft scheint schon etymologisch aufgeund des gemeinsamen Namensbestandteils •anwald (t) • auf der Hand zu liegen. Seit dem Mittelalter war der Begriff des •Anwaldes• - oder •Anwalls• dem Straf- und Zivilprozeßrecht allerdings in den unterschiedlichsten Komposita und Spezialbedeutungen bekannt, deren gemeinsamer Begriffskern allerdings nur die Grundbedeutung einer rechtlichen Vertretung anderer im weitesten Sinne war.l44 Demgemäß bedeutete auch die Bezeichnung •öffentlicher Anwald• für sich genommen lediglich, daß es sich um einen Vertreter des öffentlichen Interesses im weitesten Sinne handeln sollte. Damit war aber noch nichts darüber ausgesagt, in welchen Bereichen und mit welchen Funktionen diese •anwaldliche• Tätigkeit stattfinden sollte. Auch das Kompositum •sraats-Anwalt• wurde zwar nach 1810 häufiger als deutsche Übersetzung für den französischrechtlichen minis~re public gebraucht, jedoch meist nur neben synonymen Begriffen wie Staatsbehörde, Staatsprokuratue oder Öffentliches Ministerium.l45 Daneben wurde der Begriff jedoch auch für andere Rechtsinstitute gewählt; so zB 1844 für den preußischen sog. Scheidungs-Staatsanwalt, der als defensor matrimoniae mit der Strafrechtspflege überhaupt nichts zu tun hatte, son-

144 DRW I 766 ff. weist den aus ahd. anwalto, mhd. an(e)walt entwickelten Begriff fiir die Zeit seit dem lS. Jhdt. nach in der Bedeutung "Vertreter beim Kaiser, Gesandter". Außerdem wurde • Anwald" aber auch gebraucht in den Bedeutungen "Wer Gewalt, Vollmacht von einem andem hat, fiir einen andem handelt", also allgemein als Vertreter, Beauftragter eine• FOrsten, Herrn (ebd. 767). "Anwald" konnte auch einen Beamten mit bestimmten Aufgaben bezeichnen, etwa einen Kronabcamten zur Aufsicht bei den Behörden. Der Begriff kam aber auch in der Bedeutung "Boce, Gesandter, Abgeordneter" oder auch als "Stellvertreter, Vertreter", namendich bei Gericht, vor. Ein 10lcher Stellvertreter oder (Prozeß-)bevollmächtigter wurde aynonym, zumeist in um~ehreibender Form, auch als muntporo, mandatarius, advocatua, Vogt, Gewalthaber oder - seit der Rezeption - als procurator bezeichnet (a. Buchda, Art. Anwalt, in: HRG I 182 ff.). Der Begriff "Öffentlicher Anwald" bezeichnet also .einem Wortlaut nach nur ullllpCZifisch einen Regierungsbeauftragten zur Wahrnehmung des staatlichen IntereiiCa im weiteilten Sinne. Die Bezeichnung ist i.ü. etwa bei Oesterley, Handbuch, nicht ala apezifiach hannove~ scher prozessualer Rechtsbegriff nachweisbar. 145 ZB bei Pfeiffer, in: Juristische Bibliothek 1811, 1 ff.

m.

Stellung und Funktionen

137

dem in zivilprozessualen Ehescheidungsverfahren das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Ehe als •gesetzlicher Contradictor• vertrat.l46 Der Begriff •staatsanwaJt• konnte aber auch materiell einen reinen Staatsrekurrenten bezeichnen, wie zB zwischen 1843 und 1846 in den Regierungsberatungen in Preußen, als die verschiedenen an der Beratung beteiligten Minister und Beamten hierunter individuell höchst unterschiedlich nahezu die ganze Bandbreite vom Anklagevertreter bis hin zum bloßen Rechtsmittelkläger faßten. 147 b) Aussagekraft der Bezeichnung Kriminalfiskal Wesentlich aussagekräftiger in dogmatischer Hinsicht ist demgegenüber die Tatsache, daß der hannoversche Öffentliche Anwalt von 1841 offiziös auch als •Kriminalfislwz- oder •Fiskal• bezeichnet wurde. Denn mit dem Begriff des Fiskalals verband sich im Rechtsdenken des frühen 19. Jahrhunderts - im Gegensatz zu dem vielschichtigen Begriff des Staatsanwalts - allerdings eine einigermaßen konkrete, spezifische Bedeutung. Dies ist von besonderem Aussagewert insbesondere auch deshalb, weil bereits von den Zeitgenossen die Rechtstradition des Fiskalals ausdrücklich als Gegensatz zu einer Staatsanwaltschaft nach dem Vorbild des französischrechtlichen ministere public verstanden wurde.

146 1844 war in Preußen im Rahmen der Reform des Ehescheidungsrechts durch Verordnung vom 28.6.1844 (preußGS 1844 I 183 ff.) ein "Staatsanwalt" als Vertreter des öffentlichen Interesses in Ehescheidungssachen aufgestellt worden, der als einzige Aufgabe in diesen Prozessen von Amta wegen das Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung der betreffenden Ehe vertrat. Er hatte das Recht der Nichtigkeitsklage gegen gerichtliche Entscheidungen, verfügte jedoch nicht uber sonstige RechtemitteL Strafprozesauale Befugnisse hatte er hingegen überhaupt nicht (s. hierzu OUo, Staatsanwaltschaft, S. 7; vgl. Hecker, Art. Ehescheidungsprozeß, in: HRG I 843 ff.).- Es zeigt sich auch hierin, wie wenig spezifisch und begriffsscharf die Rechtssprache des Vonnärzes noch vielfach war (s. dazu auch Rüping, in: GA 1992, 147). 14 7 S. die Details bei OUo, Staatsanwaltschaft, S. 50; Riiping, in: GA 1992, 147 ff. -Bis in die jüngste Zeit wirkt diese begriffliche Mehrdeutigkeit noch nach, indem zB im Bundesland Bayern die Vertreter des öffentlichen Interesses in Verwaltungsverfahren gern. §§ 35 ff. VwGO noch in den 60er Jahren als "Staatsanwälte" Getzt: Landesanwälte) bezeichnet wurden (s. hierzu Groß, in: BayVBl. 1959, 71 ff.; 107 ff.; Eyermann/Fröhler/Kormann, VwGO, § 36 RN 1 ff.; 4 f. mwN. - Die baden-wiirttembergische Landesanwaltschaft (eingeführt durch VO v . 22.3.1960; GBl. 99) wurde 1983 wieder aufgehoben (VO v. 11.4.1983; GBl. 185).). S. dazu auch die bis heute andauernde Namensgleichheit zwischen den "Bundesanwälten" als Strafverfolgungsorganen gemäß §§ 140 ff. GVG und dem "Oberbundesanwalt" als Vertreter des öffentlichen Interesses bei dem Bundesverwaltungsgericht gern. §§ 35 ff. VwGO.

138

KapitelS: Der hannovei'IIChe "Öffentliche Anwald"

aa) Das itltere partikularrechtliche Fiskalat Bereits im Mittelalter hatten am Kaiserhof Friedrichs II. auf Sizilien "procuratores jisci vel curiae" amtiert, deren Ursprung bis heute ungeklärt ist, jedoch an die advocati fisci der römischen Kaiserzeit erinnert.J48 Von Sizilien aus war das Institut nach Spanien und Frankreich gelangt, wo sich aus ihm die procureurs du roi entwickelten, die direkten Vorläufer des ministere public.1 49 Im Zuge der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts wurde das Fiskalat im 15. Jahrhundert auch in Deutschland bekannt, wo es urkundlich nachweisbar zuerst 1421 am kaiserlichen Hof erscheint. ISO In der Folge entstanden im Zuge der sich herausbildenden Territorialherrschaften auch in den meisten deutschen Territorien unter wechselnden Bezeichnungen, jedoch mit prinzipiell den Reichsfiskalen ähnlicher Aufgabenstruktur, Fiskalate.151 Während diese im Zuge der Durchsetzung des inquisitionsrechtlichen Gemeinen Prozesses vielerorts im 17. und 18. Jahrhundert abgeschafft wurden152, erhielten sie sich in manchen Territorien noch lange, teilweise bis

148 S. Knolle, Art. Fiskalat, in: HRG 11134 ff.; ders., Studien, passim. 149 S. Knolle, Art. Fiskalat, in: HRG I 1134. 150 Dort trat ein Dr. Bartbolus aus Pisa als "Reichstiskal" (procurator tisci) auf. Sein Aufgabeobereich erstreckte sich neben dem generellen SchuiZ der Kronrechte namentlich auf die Vertretung des Reichsobemaupts bei der strafrechtlichen Verfolgung aller Übertreter königlicher und kaiserlicher Gebote, Privilegien, Urteile, Befehle und Gesetze, zunächst vor dem Reichshofgericht, dann seit 1471 vor dem Königlichen Kammergericht und später dem RKG und RHR (s. Knolle, Art. Fiskalat, in: HRG I 1134 ff.). 151 S. Buchda, Art. Anklage, in: HRG I 171ff.; Elling, Einführung, S. 12; Knolle, Art. Fiskalat, in: HRG I 1134 f. - Fiskalale entstanden zB in Bamberg, Kursachsen, Mecklenburg, Bayern und der Kurpfalz (s. Elling, Einführung, S. 11; Duhme, in: FS-150 J. OLG Hamm, S. 121 ff.) ebenso wie in Jülich-Cieve-Berg (dazu Kateroerg, in: FS 75 Jahre-OLG Düsseldorf S. 117, 121; Rüping, in: GA 1992, 147f.), in Brandenburg-Preußen (dazu Eb. Schmidt, Fiskalat, passim); in Hessen-Dannstadt und Hessen-Kassel (dazu Blass, Entwicklung, S. 26 ff. ), der Grafschaft Oldenburg-Delmenhorst (dazu Hülle, Geschichte des höchsten Landesgerichts von Oldenburg, §§ 10 ff., 19 ff.; ders., in: NdsJb 49 (1977), 131 f.) sowie in einer Vielzahl weiterer Territorien (dazu s. zsfd. Hefftcr, in: AdC 1845, 595 ff.). Auch im Herzogtum Schleswig amtierten noch bis nach 1840 Fiskale (dazu s. Esmarch, Praktische Darstellung, S. 296 ff.).-. In Hannover existierte ein ausgeprägtes Fiskalat namentlich in den Herzogtümern Bremen und Verden (dazu Drecoll, Kriminalpolitik, S. 204 ff.; Oesterley, Handbuch ll 85 ff.; vgl.auch Eb. Schmidt, Einführung, S. 202 f.). 152 Die oldenburgischen Fiskale etwa vei'IIChwanden bereits um 1732 (Hülle NdaJb 49 (1977), 132), die hessen-dannstädtischen erst nach 1803 (Blass, Entwicklung, S. 27 f.).

m.

Stellung und Funktionen

I39

über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus, so z.B. in PreußeniS3 , aber auch in den zu Hannover gehörenden Herzogtümern Bremen und Verden. Die älteren Fiskalale gaben dem aus ihrer Tätigkeit entstandenen sog. "fishllischen• oder gemischten Strafprozeß (processus mixtus) den NameniS4, einem partikularrechtliehen Strafverfahrenstypus, in dem der Fiskal, der entweder ein besonderer monarchischer Bediensteter, aber auch ein von Fall zu Fall beauftragter Advokat sein konnteiSS - meist auf der Grundlage einer richterlichen Voruntersuchung - eine schriftliche Anklageakte verfertigte und diese in mündlicher und öffentlicher Schlußverhandlung nach Art einer zivilprozessualen Partei gegenüber dem Angeklagten und dessen Verteidiger kontradiktorisch vor dem Gericht entwickelte. Obsiegte der Fiskal, so erhielt er als Entgelt eine quota fiscalis an der ggf. erwirkten Geldstrafe. Häufig ge-

IS3 S. Eb. Schmidt, Fiskalat, passim. -Zwar war in Preußen I809 angeordnet worden, die freiwerdenden Fiskalsstellen nicht wieder zu besetzen, jedoch amtierten noch bis I848 Fiskale, wie auch die prCrimO IBOS Ausruhrungen über den fiskalischen StrafprozeH beibehielt (s. dazu Eb. Schmidt, Fiskalat, S. IIS ff.; vgl. Birlitz, Handbuch, passim). Noch Kapptcrs Handbuch von I838 enthält S. I006 f. eine Reihe von Fundstellenangaben zum zu dieser Zeit noch geltenden Fiskalat. IS4 "Das Charakteristische desselben besteht darin, daß ein vom Staate bestellter Ankläger wider den Inculpaten auftritt, und unter den Formen des Civilprocesses die von dem letzteren verwirkte Strafe beantragt" (Esmarch, Praktische Darstellung, S. 296). - "Der Ankläger ist eine vom Richter verschiedene Person, welche den Antrieb zum Verfahren gibt und dem Angeschuldigten dergestalt gegenübersteht, dass zwischen beiden als Parteien, die Sache verhandelt wird (Anton Bauer, Lehrbuch, S. 409) ... Ankläger (accusator) heißt die Person, welche die Rechte des Staates gegen einen Ucbcrtreter der Strafgesetze vor Gericht verfolgt. Der Ankläger ist entweder öffendicher, oder Privatanldäger. Jenem ist dieser Beruf entweder als ein Amt übertragen (Fiscal, Staatsanwalt; FN b : Das Amt eines öffendichen Anklägers besteht nur in einzelnen Undern, und gewöhnlich nur fiir gewisse Arten von Verbrechen), oder er wird damit nur in einzelnen Fällen beauftragt. Nur der öffentliche Ankläger ist zum Anklagen verpflichtet (nothwendiger Ankläger) (ebd. S. 411) ... Die in manchen Undern übliche Mischung des Untersuchungs- und Anklageform besteht darin, daß im lnquisitionsprocesse, wenn die Untersuchung bis zu einem gewissen Puncte gefiihrt ist, ein öffentlicher Ankläger auftritt, und als solcher bei dem weiteren Verfahren mitwirkt. Der ordentliche, oder fiir jeden besonderen Fall zu ernennende Ankläger heißt gewöhnlich Fiscal, Criminalfiskal, weshalb dieser gemischte Proceß auch fiscalischer Process genannt wird, welche Bezeichnung aber unbestimmt ist, da es mehrere Arten fiscalischen Processes gibt .... Die Art dieser Mitwirkung richtet sich nach den verschiedenen Zeitpuncte seines Auftretens. Erfolgt dieses nemlich I) nach geschlossener Voruntersuchung, so hat er aus den hierüber gefiihrten Acten einen Anklagelibell .. . abzufassen und einzureichen, worüber dann der Angeschuldigte, wie in dem Anldageprocesse, vernommen, und in dieser Form die Sache zwischen beiden Theilen weiter verhandelt wird . .. D) Tritt hingegen der öffendiche Ankläger erst nach dem Schlusse der Hauptuntersuchung auf, so überreicht er eine AnldaJeschrift, worin er durch Bcweisdeduction und Rechtsausfiihrung seinen Strafantrag zu bepnden sucht, wa,e1en dann der Angeklagte eine tönnliche VertheidigunJsschrift übergibt. Auch wird wobt noch eine Replik und eine Duplik gestattet" (ebd. S. 42I).

ISS Vgl. Hülle, in: NdsJb 49 (1977), I3I ff.

140

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

hörteesauch zu seinen Aufgaben, im staatlichen Namen Rechtsmittel gegen zu milde Urteile einzulegen.l56 Das Fiskalat alten Rechts war mithin eine zum Zweck der Verbrechensverfolgung eingerichtete Behörde, die an Stelle eines Privatklägers als ein der materiellen Wahrheitsermittlung verpflichtetes Organ tätig wurde.l57 Mancherorts hatte der Fiskal zeitweilig auch noch erheblich weitergehende Aufgaben erhalten, so etwa in Preußen, wo das Fiskalat im 18. Jahrhundert zeitweilig zu einer die gesamte Rechtspflege umspannenden hierarchisch aufgebauten königlichen Justizaufsichtsbehörde erweitert worden war.t58 Der entscheidende Unterschied des älteren Fiskalats zu einer Staatsanwaltschaft nach dem Muster des minis~re public bestand darin, daß die Fiskale regelmäßig in keiner Weise an dem ausschließlich richterlichen Untersuchungsverfahren beteiligt waren. Sie hatten lediglich auf der Grundlage dieser Akten zu verhandeln und damit materiell keine andere Funktion als der in der betreffenden Sache votierende Referent des Spruchkollegiums. Auch änderte die Beteiligung des Fiskalsam Hauptverfahren nichts an dem •Grundübel des Inquisitionsprozesses •, nämlich der überragenden Stellung des in keiner Weise kontrollierten Untersuchungsrichters. Fiskalat und minis~re public waren im übrigen auch deshalb - ungeachtet ihrer gemeinsamen römischrechtlichen und auch germanischen Grundstrukturen - zwei grundverschiedene Rechtsinstitute, weil die Ausgestaltung des minist~re public entscheidend auf dem von der Rechtsentwicklung in Deutschland sehr verschiedenen französischen Rechtsdenken fußte, namentlich den großen Werken der französischen Juristen des 16. und 17. Jhdts. und den •ordonnances • des absoluten französischen Königtums. I 59

In den meisten deutschen Staaten war die Bedeutung des Fiskalats um die Wende zum 19. Jahrhundert herum geschwunden, zumal seine Existenz mit der absolutistischen Staatsidee nur schwer in Einklang zu bringen war. Es er156 S. Drecoll, Kriminalpolitilc, 204 ff. 157 S. Krauac, Strafrechtapßege, S. 101 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 202 ff. - Der brcmen-verdenache "Landfislcal" etwa sollte "die Po1icey-Ordnungen beobachten, Mißbräuche und Contraventioncn erlcundigen, proccdircn und die Strafen beitreiben und auf Münzediele und Übertretungen achten sowie, wenn er von der Regierung und höheren Collegien excitirt wird, als Kläger verfahren• (s. Ocsterley, Handbuch II 85). 158 S. Etling, Einführung, S. 12 ff. 159 S. Schubcrt, Recht, S. 184; zsfd. 1. Säuter, Staatsanwaltschaft, passim mwN.

m. Stellung und Funktionen

141

schien geradezu sinnwidrig, das staatliche Strafverfolgungsinteresse vor dem doch bereits ex officio auf dessen Beachtung verpflichteten Richter noch zusätzlich durch ein weiteres, besonderes Organ der Strafrechtspflege vertreten zu lassen. Insbesondere durch das Institut der - auch in Bremen-Verdeo üblichen quotafiscalis, also einer feststehenden Quote an den eingetriebenen Strafgeldem, war das Fiskalat zudem in den Augen der meisten Zeitgenossen in Mißkredit geraten.l60 bb) Das "Fiskßlat neuen Rechts" Der Gedanke des Fiskalats erlebte eine gewisse Renaissance erst wieder, als etwa um 1805 unter dem Eind111ck der Unerträglichkeit des Inquisitionsprozesses einerseits und der Schrecknisse der französischen Revolution andererseits die Suche nach "intrasystematischen Heilungsversuchen" des gemeinrechtlichen Prozesses einsetzte. Paul Johann Anselm von Feuerbach etwa hatte schon 1813 bei den Beratungen zum Prozeßteil des bayerischen StGB gefordert, die als Ausgleich für die verlorengegangenen monarchischen Kontroll- und Strafschärfungsbefugnisse gedachten, neu einzuführenden Rechtsmittel im Interesse des Staates durch einen gesonderten staatlichen Beauftragten, den er als "Kronfisl«Jl" bezeichnete, einlegen und vertreten zu Iassen.161 Dieser Lösungsweg der Einfühlllng eines auf die bloße Rekurrentenfunktion reduzierten, nur traditionell so genannten "Fiskalats neuen Rechts" wurde in der Folgezeit nicht nur in der Literatur aufgegriffenl62, sondern ging auch in verschiedene partikulare Gesetzgebungen ein, beispielsweise 1827 in die 160 S. Carsten, Geschichte, S. S f.; Elling, Einführung, S. 13 f. 161 S. hierzu Thierfelder, in: ZStW 53 (1934), 414 ff.; Lüderssen, Art. Feuerbach, in: HRG I 1118 ff. - Feuerbach konnte sich hiermit jedoch vor allem wohl aus Kostenüberlegungen nicht durchsetzen, da die billigere Möglichkeit favorisiert wurde, den ohnehin vorhandenen und an der Strafabstimmung nicht teilnahmeberechtigten Vorsitzenden des Spruchkollegiums zum Rechtamittelführer im Staatsinteresse zu machen (Art. 368 ll bayStGB 1813; ebenso Art. 852 oldStGB 1814; dazu s. Hülle, in: NdsJb.49 (1977), 135). 162 ZB bei Mittermaier (Strafverfahren, 1. Autl. 1827 ll S. 361). "Ist ein Staataanwalt vorhanden, 110 kann auch dieser von der Berufung Gebrauch machen• (Anton Bauer (Lehrbuch, 1835, S. 350). Ebenso G.M. Weber, Appellation (1805}, S. 103 f.: • Am besten möchte es seyn, wenn ein peinlicher Fiscal ernennt, und demselben die schärfste Instruction gegeben würde, in dergleichen Fällen zu appeliren.• S. zum ganzen auch Ortloff, in: Zeitschrift fiir deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaften Bd. 16 (1865), S. 254 ff.

142

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald •

Gerichtsordnungen für die neugeschaffenen Oberappellationsgerichte in Jenal 63 und in Zerbst oder auch 1837 in das badische Rekursgesetz.l 64 Auf· schlußreich dazu ist die Darstellung bei Mittermaier165: "Die Fiskale, welche noch in manchen neueren Staaten vorkommen, beziehen sich nur auf das Recht des Staates, wegen gesetzwidrig zu gelinder Urtheile auf Vernichtung derselben anzutragen (FN 49: § 28 Oberappellationsgerichtsordnung für das OAG zu Zerbst; § 35 Jenaische Oberappellationsgerichtsordnung), oder auf die Befugniß, bei Staals·Verbrechen Revision zu ergreifen (FN 50: BayVO vom 19.3.1816 im RegBl. S. 129)." Dasbayerische Recht kannte das Institut des Criminalfiscals überdies aus dem Standrechts.Oesetz vom 27.7.1809 (RegBI. St. 56 Tit. 4), wonach ein Kronfiskal in einem öffentlichen Schluß· verfahren die erwiesenen Anklagepunkte vortrug, wogegen der Angeklagte sich dann durch den ihm beigegebenen Verteidiger, der die Akten eingesehen hatte, verteidigen konnte (s. auch hierzu Mittermaier, Strafverfahren 1. Aufl. II 633). • Die Existenz dieses Neofiskalals gehört zu den in der bisherigen Literatur zur Strafprozeßentwicklung im 19. Jhdt. ersichtlich kaum bis gar nicht behandelten Aspekten. Der Versuch, im Wege einer historischen Rechtsvergleichung die - meist kaum erforschten - vormärzliehen Gerichtsverfassungen und Strafprozeßordnungen aller 38 Bundesstaaten des Deutschen Bundes im Hinblick auf ihre Fiskalate zu untersuchen, würde indessen den Rahmen der vorliegenden Untersuchung bei weitem sprengen.166 Auch in Preußen setzte sich der König seit 1843 für die Einführung eines solchen "Rekurrenten·Fiskalats • ausdrücklich ein. 167 Die Frage wurde in den Jahren 1843 bis 1846 unter den Departementsministern v. Savigny, Uhden 163 S. dazu Martin (Hg), Provisorische Ordnung, pauim; und Hase, in: Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt Bd. 26 (1879), S. 286. 164 Dazu s. Mackert, Prozedur, S. 151 f.; Elling, Einführung, S. 64. - Das badische Rekursgesetz (Provisorisches Gesetz, die Neuretelulll der Rekurse betreffend, vom 18.02.1836 = RegBI. 1836 I, S. 63, endgültig verkündet ala Rekursgesetz am 3.8.1837 "" RegBI. 1837 I 171) hatte einen "Staataanwalt" eingeführt, der bei den Hofgerichten in Freiburg, Konatanz, Bruchsal und Mannheim den Strafverbandlu111en beiwohnte und Urteile mit dem Rechtsmittel des Rekurses anfechten konnte, falls er deren "Gesetzmißigkeit bezweifelte" (§ 6). Dadurch machte dieses Gesetz für das Großherzogtum Baden "dem Unwesen der ministeriellen Übergriffe auf rechtskräftig abgeschlossene Urteile ein Ende" (a. Mackert, Prozedur, S. 151). Mithin beschränkten sich die Befugnisse auch diesea "Staataanwalts" auaachließlich auf den Bereich der Rechtsmittel. 165 Strafverfahren, I. Aufl. 1827, Bd. DS. 162. 166 S. dazu die zeitgenöuischen Übenichten bei Kratzsch, Tabellarische Übersicht und Hufnagel/Scheuerten, GerichtaverfaSIUng, pauim. 167 S. dazu OUo, Staataanwaltachaft, S. 3 ff.

IV. Gesetzgebungsgeschichte des G-1841

143

und v. Mühler kontrovers erörtert, ohne daß es bis 1846 zu einer Einigung und einer gesetzlichen Regelung kam. Hierbei wurden sehr unterschiedliche Formen vorgeschlagen, die zugleich zeigen, daß der hannoversche Kriminalfiskal in vielem deutlich hinter dem Stand dessen zurückblieb, was in Preußen aus Gründen der Rechtsstaatlichkeil bereits für unverzichtbar gehalten wurde. So schlug der Minister v. Mühler 1843 vor, den Fiskal in erheblicheren Strafsachen Rechtsmittel nicht nur im Interesse des Staates zuungunsten des Angeklagten einlegen zu lassen, sondern ihn auch als Gesetzeswächter zu dessen Gunsten einzuschalten. Insbesondere wurde im Rahmen der Diskussion in Preußen bereits davor gewarnt, einen Fiskal als bloßen Rechtsmittelführer zu Lasten des Angeklagten einzuführen, da dieser "vom Publikum sehr mißfällig aufgenommen werden warde•.l68 Da die Fiskalale neuen Rechts jedoch stets von einem Fortbestehen der Grundlagen des Gemeinen Prozesses ausgingen, erwiesen sie sich geradezu als ein aliud, eine traditionalistisch-legitimistische und damit letztlich reformfeindliche Alternative zu der an Frankreich orientierten liberalen Staatsanwaltschaft mit der Hauptaufgabe der kontrollierenden Mitwirkung am Untersuchungsverfahren sowie der anschließenden Anklagevertretung in der Hauptverhandlung.

IV. Gesetzgebungsgeschichte des Gesetzes vom 16. Februar 1841 Das G-1841 bildete den - wie sich zeigen sollte, nur einstweiligen - formellen Schlußpunkt einer jahrzehntelangen Diskussion über eine Strafprozeßreform in Hannover.

1. Die Frage der Strafprozeßreform in der hannoverschen Stiindeversammlung 1814 - 1823 Die Frage der Strafprozeßreform gehörte zwischen 1814 und 1848 zu denjenigen Dauerthemen, die in der hannoverschen Ständeversammlung zwischen der liberalen Bewegung und den konservativen Kräften mit besonderer Heftigkeit diskutiert wurden. Die Einführung des Kriminalfiskals von 1841 ist dementsprechend erst vor dem Hintergrund der ihr vorausgehenden parlamentarischen Verhandlungen voll ve~tändlich. 168 Bei Otto, Staatsanwaltschaft, S. 12 ff.

144

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Bereits im Januar 1815 beschlossen die in der Provisorischen Allgemeinen Ständeversammlung versammelten hannoverschen Stände die Einsetzung von allgemeinen Untersuchungskommissionen über die "Mangel im gesamten Justizwesen ". 169 Auch im Jahr darauf forderten sie durch einstimmigen Beschluß, "daß dem Kiiniglichen Minisierio die Nothwendigkeit eines neuen allgemeinen CriminalGesetzbuches, einer allgemeinen Criminal-Proceß-Ordnung . . • vorstellig gemacht und anheim gegeben werden sollte, gedachte Verordnungen durch eine besonders dazu niederzusetzende Commission bearbeiten zu lassen, mit dem Ersuchen, vor Emanirung dieser Verordnungen die Projekte den Standen zum rathlichen Gutachten mitzutheilen. •170 Noch in demselben Jahr wiederholten die Stände ihren Wunsch nach Einsetzung einer Gesetzgebungskommission, führten diesmal allerdings nur aus, zu den "dringendsten Bedarfnissen" unter den "lange schon gehegten LandesDesideria" gehöre "unstreitig": " . . . eine . .. neue allgemeine Criminalproceßordnung ftr das ganze Königreich .. . um so mehr, da die abrigens musterhafte Criminal-Instruction von 1736 nur ftJr einige wenige Provinzen gilt, und die in den anderen Provinzen in dieser Hinsicht zur Anwendung kommenden gesetzlichen Vorschriften solche Mangel in sich schließen, daß ihnen die Justiz-Collegia, auch bei dem rahmlichsten Bemahenftr die gewissenhafteste Rechtspflege, nicht entgegen zu arbeiten vermiigen. •171 Da die Regierung jedoch dem Projekt einer neuen Strafprozeßordnung nicht näher trat, beschloß die Provisorische Ständeversammlung im Dezember 1818 die Einsetzung einer eigenen Kommission. 172 Diese sprach sich in ihrem Bericht für die Einführung von Öffentlichkeit und Mündlichkeil sowie von Geschworenengerichten aus173 und schloß damit, "daß dem Kiiniglichen 169 S. hierzu Freudentheil, in: Beilage zum AdC 1838, S. S mwN. 170 S. Kunc Übersicht der Verhandlungen des 1. allgemeinen Landtags, Abachn. V S. 78. 171 Actenstücke der I. allg.StV Bd. 1485. 172 S . Kunc Übersicht, Abachn. V S. 76. 173 Außer der Forderung nach Öffentlichkeit, Mündlichkeil und Jury enthielt der Bericht

eine eingehende Analyse der Mängel des bestehenden Prozeßrechta, in der namentlich die AbachaffiJng u.a. der außerordentlichen Strafen, de• Reinigungseide~, der lnatanzentbindunc und der gesetzlichen Beweistheorie verlangt wurde. - Ein Kommissionsmitglied - Jultizrat Nicper, Abgeordneter des Stifta St. Blasii in Hameln - fügte seine abweichende Auffassung ala Sondervotum dem Bericht der Kommission hinzu. Es handelte aich dabei inhaltlich im wesentlichen um eine Wiederholung der bereita von der preußischen Jultizkommission tür die Rheinlande - auf deren Tätigkeit die hannoversche Kommission auch ansonlten Bezug nahm - her bebnnten

IV. Gesetzgebungsgeschichte des G-1841

145

Cabinets-Ministerio die Beracksichtigung beider Gegenstande (sc. Öffentlichkeit und Geschworenengericht) bei Bearbeitung einer neuen peinlichen Gerichtsordnung empfohlen werden miige. •174 Spätestens damit war, auch wenn diese Kommissionsempfehlung im Plenum der Provisorischen Ständeversammlung keine Mehrheit fand 175, •ein lebendiges Interesse .ftlr die Fortbildung des Rechts in allen seinen Beziehungen • in der Ständeversammlung geweckt.l76 Am 29. März 1819 forderten die Stände wiederum ergebnislos die Einsetzung einer Regierungskommission. Sie beschränkten sich auch diesmal lediglich auf die Forderung nach Ausarbeitung einer provisorischen Strafprozeßordnung auf der Basis der Kriminalinstruktion von 1736, um wenigstens der Rechtszersplitterung abzuhelfen. 177 Sie wiederholten diese Forderung am 4. Mai 1822. 178

Gründe gegen Öffentlichkeit, Mündlichkeil und Geschworene (S. Kurze Übersicht, Abschn. V, S. 494 ff.; s. Freudentheil, Beilage zum AdC 1838, S. 90 f.; König, Die CrPO, S. 5). 174 Kurze Übersicht über die Verhandlungen des ersten allgemeinen Landtags Abschn. V, S. 494. - Hierfür dürfte gelten, daß die nicht explizit genannte Forderung nach Mündlichkeil und Staatsanwaltschaft inzidenter mitzulesen ist. Allerdings war früher noch in der Ersten Provisorischen Ständeversammlung ein Antrag des Deputierten der Stadt Göttingen Dr. Hesse - des vormaligen Präsidenten des westphälischen Tribunals zu Göttingen - gestellt worden, "die Richter verantwortlich zu machen, und ihnen eine Coolrolle zu setzen, gleich der Staatsanwaldschaft im vormaligen Königreich Westphalen. Darauf erwiderten fall alle, welche Richterstellen bekleideten: der gute Geilt der Gerichtspersonen büree für ihre Amt.sverrichtungen, darum bedürfe es keiner Controlle, am allerwenigsten des gehässigen unteutschen Instituli der Staatsanwaltschaft, einer ausländischen Pflanze, die niemals auf teutschem Boden keimen könne, und schlechte Früchte tragen würde, weil sie französischen Ursprungs sei, und unsere Väter dergleichen niemals benöthigt gewesen wären. Gegen diese teutsche historische Behauptung replicirte keiner in der ganzen Versammlung• (s. König, Die CrPO, S. 17). 175 Es gelang wiederum Nieper, durch ein ausführliches negatives Votum "den Beschluß der Ständeversammlung zu veranlassen, den GegensUnd ... auf sich beruhen zu lassen". Die Provisorische Ständeversammlung beStlnd zu diesem Zeitpunkt aus 45 Adeligen, darunter 41 Staatlund Hofdienem, 32 Deputierten der Städte, 6 Del'utierten der Stifter, welche letztere sämmtlich Staatsdiener waren . .. Es war nicht sowohl die Öffentlichkeit und Mündlichkeil im Criminalproceß, als daa Prinzip der Öffentlichkeit, welches die Staatsdienerschaft fürchtete. Hatte man bei einer Staatsinatititution die Öffentlichkeit gestattet, so glaubte man, daß aie auch endlich in daa Haus der Stände eindringen möchten ... und dadurch der Staat an den Rand des Untergangs geführt werden würde, wie Baiem, Würtenberg, Baden darüber Warnungstafeln vor das Auge hielten ... und darum dürfe Hannover in seinen Ständen den Schreiern nicht da~ Haus öffnen ... " (a. König, Die CrPO, S. 5). 176 S. Freudentheil, in: Beilage zum AdC 1838, S. 90 f. 177 Actenstücke der I. allgStV I S. 488. 178 Actenstücke der 0. allgStV, 3. Diät, S. 358 f. 10 Knallmann

146

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Unterdessen versuchte die Regierung von sich aus - ohne ständische Beteiligung -, einigen der am dringendsten empfundenen Mängel des hannoverschen Strafprozeßrechts durch eine Reihe von punktuellen untergesetzlichen Vorschriften, Einzelverordnungen und -instruktionen, abzuhelfen.l 79 In einer Zeit, in der zB im benachbarten Preußen die Regierung bei ihrem Versuch, in den Rheinlanden das französische Recht zugunsten des Gemeinen Prozesses wieder abzuschaffen,an der öffentlichen Meinung aufsehenerregend gescheitert war, mochte es angesichts einer engagierten Reformpartei auch in der hannoverschen Ständeversammlung kaum im Interesse der hannoverschen Regierung liegen, das brisante Thema unter deren Mitwirkung anzugehen; sah man doch auch hier in dieser "Zeit hysterischer Revolutionsfurcht" das französische Strafprozeßrecht als Einfallstor für weitergehende Reformforderungen an. 180 Hinzu mochte der Umstand kommen, daß das für die Ausarbeitung der Gesetzentwürfe zuständige hannoversche Justizministerium aus relativ wenigen Mitarbeitern bestand, die die Last einer alle Bereiche des Rechts umfassenden Gesetzgebungstätigkeit zu tragen hatten.l81 Insofern mag es nicht ausschließlich an der rechtspolitisch konservativen und tendenziell reformfeindlichen Haltung der Regierung gelegen haben, daß die Strafprozeßreform nur äußerst schleppend vorankam.

179 Z.B. das Gesetz vom 25.3.1822 (GS I 97) über die Zulässigkeil einet vollständigen Beweise durch Anzeigen in peinlichen Fällen; VO vom 26.2.1822 (GS 181) über die leitenden GNndsätze bei der Untersuchung und Beatrafung der im Auslande verübten Verbrechen; VO vom 22.12.1822 (GS 1823 I 5) über den Geschäftsgang in Criminalsachen; VO vom 22.2.1823 (GS I 37) über die Stimmenmehrheit in Criminalsachen; Auldehnung der lnstNclion tür die Criminal-Obrigkeiten von 1800 auf alle Provinzen (GS 1820 I 152). Außerdem versuchte die RegieNng, wie auch die Obergerichte, durch eine Vielzahl von lnstNktionen auf Beschleunigung und landesweite Gleichförmigkeit dea Verfahrena hinzuwirten (1. Freudentheil, in: Beilage zum AdC 1838, S. 93; vgl. Krause, Art. Gesetzgebung, in HRG 11606 ff. (1618). 180 S. König, Die CrPO, S. 5. 181 -Das Juatizdepartement, 1833-1837 Julllizminiaterium, wurde geleitet von 1818 bia 1828 von Ernst August Rumann, 1828 bia 1833 von Juatua von Schmidt-Phiseldect (1769-1851, 1. Rothert, in: AHB ß 578), 1833 bis 1847 von Kad Wilhelm Auguat Freiherrn von Stralenheim (1777-1847; 1. Rothert, in: AHB ß 584) und 1847 bia März 1848 von Eduard von Schele (1805-1875; a. Rothert, in: AHB ß 434). 1830 gehörten ihm als Mitarbeiter an die beiden Obeljuatizräthe Ernst Auguat von Werthof (1778-1857; a. Rothert, in: AHB ß 591) und

Friedrich C .W. Jacobi, der Canzleirat G.W. Einfeld sowie eine wechselnde Zahl von "aupemumerären Arntaaaaeaaoren ala Hülfaarbeiter" (HannStaatalcal 1830, 34), ein - gemessen an der Besetzung heutiger Juatizminiaterien- erataunlich ldeiner Mitarbeiteratab. - In den Jahren 1828 bis 1830 gehörten dem Juatizminiaterium etatmäßig außer dem Departementschef von Schmidt-Phiseldeclc die beiden Obeljuatizräte Jacobi und von Werlhof sowie der Canzleirat G.W. Einfeld an, ferner einige aupemumeräre Arntaaaaessoren ala Hülfaarbeiter (HannStaaatakal

1828, 32; 1829, 32, 1830, 34).

IV. Gesetzgebungsgeschichte des G-1841

147

Durch die Einzelverordnungen wurde jedoch nur die bisherige in sich noch einigermaßen geschlossene historisch überkommene Systematik des Prozesses erheblich beeinträchtigt.l82

2. Der erste Regierungsentwuif einer Criminalprozeßordnung von 1823 Am 28. Mai 1823 setzte die Regierung schließlich die von den Ständen seit Jahren geforderte Expertenkommission zur Erarbeitung des Entwurfs eines neuen Strafgesetzbuchs und einerneuen Strafprozeßordnung ein.l83 182 • Aus den meisten Provinzen hörte man bittere Klagen über die Criminalrechtsptlege, und man erkannte nun, daß nicht anden als durch eine Criminalproceßordnung dem Uebel abzuhelfen sei. • (König, Die CrPO, S. 9). l83 Die Kommission bestand aus dem Chef des Justizdepartements, Ernst August Rumann (1745-1827; s. über ihn Rothert, in: AHB ß 574), als Vonitzendem sowie dem Oberjustizrat Dr. Hesse, den Oberappellationsgerichtsräten Meyer und v.Voigt, dem Geheimen Justizrat v. Werlhof, dem Hof- und Canzleirat Spangenberg, dem Amtmann Schaer sowie - als einzigem Rechtslehrer - dem Göttinger Kriminalisten und Prozessualisten Anion Bauer (s. NdsHSTA Hann Des 26 a Nr. 2626; vgl. Anton Bauer, Anmerkungen, S. 235; den., Entwurf eines StGB, 1826).- Ernst August Rumann (1745- 1827), bis 1783 bei der Justizkanzlei Hannover, bis 1798 Oberappellationsrat in Celle, anschließend bis 1807 Direktor der Justizkanzlei Hannover, im Königreich Westphalen Präsident des Apellationsgerichtshofs Celle, danach wieder Direktor der Justizkanzlei Hannover, gleichzeitig mit der Ausarbeitung der Überleitungsgesetze von 1814/15 befaßt; 1816 Geheimrat und bis zu seinem Tode Chef des Justizdepartements (s. Bock, Strafrecht, S. 85).- Hesse starb bereits am 8.7.1825 (Bock, Strafrecht, S. 5). Er gehörte dem Justizdepartement als Oberjustizrat seit 1822 an (s. HannStaatskal. 1821, S. 24, 1822, S. 28 f.; 1823, S. 29). - Johann Georg Wilhelm Meyer (1784-1858), 1814 Hof- und Kanzleirat in Hannover, 1816 in Göttingen, 1819-1831 Richter am OAG Celle, dann Landdrost in Lüneburg, 1838 Justizkanzleidirektor in Osnabrück (s. Rothert, in: AHB ß 559).- Carl A.A. v. Voigt, Hof- und Kanzleirat in Hannover, 1820 bis zu seinem Tode 1828 Richter am OAG Celle (s.NN in FS-275 J. OLG Celle S. 442).- Dr. Ernst Spangenberg, Hof- und Kanzleirat in Hannover, 1824 bis zu seinem Tode 1833 Richter am OAG Celle (NN in FS-275 J. Celle S. 442). - Anton Bauer, (1772-1843), 1797 in Marburg zunächst 1797 außerordentlicher Professor, 1808 Ordinarius, 1812 nach Göttingen berufen. 1816 Hofrat, 1840 Geheimer Justizrat (s. über ihn Bloy, in: Loos (Hg), Rechtswissenschaft, S. 190 ff.). 1m Bereich des materiellen Strafrechts vertrat er seine an Feuerbach angelehnte "Warnungstheorie". Er nahm besonden auf den Allgemeinen Teil des hannCrGB 1840 maßgeblichen Einfluß. Trotz seiner Lehr- und publizistischen Tätigkeit über das französische Recht in westphilischer Zeit war er nach 1814 zu dem hergebrachten Gemeinen Straf- und Prozeßrechts zurückgekehrt und durchaus kein Betürworter eines an Frankreich ausgerichteten Reformierten Prozesses mit Staatsanwaltschaft. Bis zu seinem Tode gab er unter Verbindung der Methode der Historischen Rechtsschule mit Naturrechtselementen einem nur graduell verbesserten Verfahren auf der Basis des Gemeinen Strafprozesses den Vorzug. - Wilhelm Heinrich Schaer, Amtmann (Amtsvonteher) bei dem Amt Celle (HannStaatskal 1833,455).- - Die Bearbeitung des Entwurfs der CrPO wurde den beiden in Celle ansässigen Kommissionsmitgliedern v. Voigt und Schaer aufgetragen (s. Bock, Strafrecht, S. 5). - Hesse und v. Werlhof bearbeiteten den Allgemeinen Teil des StGB, Bauer, Spangenberg und Meyer den Besonderen Teil. - S. zur Tätigkeit dieser Kommission insgesamt die erhaltenen Akten im NdsHStA Hann Des 26 a Nr. 2626; vgl. Freudentheil, in: Beilage zum AdC 1838, S. 95; Anton Bauer, Anmerkungen zu dem EntwurfeS. 235; Bock, Strafrecht, S. 5).

148

Kapitel S: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Es handelte sich bei den Kommissionsmitgliedern um vier Richter und einen Professor, also durchweg um Personen, die schon allein aufgrund ihrer Stellung als Staatsdiener den Weisungen der Regierung unterlagen und für den Fall mißliebigen Verhaltens in einer Zeit der besonders seit Rehbergs Sturz 1821 herrschenden harten Reaktionspolitik zweifellos mit Sanktionen zu rechnen hatten.184 Die Kommission verständigte sich gleich zu Beginn darauf, daß Hauptgrundlage ihrer Arbeit das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 sein sollte1 8S, dessen li. Teil den Strafprozeß als einen humanisierten lnquisitionsprozeß ausgestaltet hatte.186 Eine Staatsanwaltschaft sah das BayStGB 1813 hingegen weder als Anklagevertreterio noch als bloße Staatsrekurrentin vor. Feuerbach hatte sich bei den Beratungen zu diesem Gesetz mit seinen entsprechenden Vorschlägen nicht durchsetzen können.187 Entsprechend hielt auch der hannoversche Kommissionsentwurf an der gemeinrechtlichen Grundstruktur des Verfahrens fest. Am 19. März 1830 teilte die Regierung der Ständeversammlung mit, der

Entwurf liege nunmehr vor und bedürfe nur noch der Genehmigung durch den König. Die Stände wurden aufgefordert, Beratungskommissionen zur Vor-

184 Keinem Kommissionsmitglied konnte es deshalb besanden nabeliegen, Positionen aua dem Lager der liberalen Reformer, wie etwa die Einführung der Staatsanwalucbaft, zu fordern. Schon deshalb war von dieser Kommission wohl in ds:r Sache kaum etwas anderes zu erwarten als eine den Absichten der Regierung ent.prccbende, bloß punlt1uelle Reform auf fortbeiiCebender gemeinrechtlieber Grundlage. 185 S. König, Die CrPO, S. 10: " ... Der verewigte OAG-Rath Spangenberg, mein Schulund Univenititafreund •.. bat mit selbst ge11gt, daß gleich von vom herein, ohne weiter zu prüfen, das alte Inquisitionswesen als das Lebensprincip an die Spitze der neuen CrPO gellteilt iat." - Die Kommission nahm ihre Arbeit am 19.6.1823 auf. Vom 19.09.1825 - 15.10.1825 wurde der Entwurf der CrPO beraten und nach nochmaliger Revision in den Sitzunaen vom 19.8.1825 - 10.1.1826 am 23.4.1830 dem Miniaterium vorgeiest Die Entwürfe wurden sodann zwei weiteren Göttinger Gutachtern, Kanzleidirektor Wedemeyer und Profeasor Georg J.F. Meiater (17751832, seit 1784 o.Prof., s. über ihn Scbaffatein, in: Loos (Hg), Rechtswissenschaft, S. 11 ff.; Rothert, in: AHB U SS8), "zur Prüfung und Beurteilung" übersandt (a. NdsHStA Hann Des 26 a Nr. 2627; Bock, Strafrecht, S; 11). Auf der Grundlage ihrer Voten (NdsHStA Hann Des 26 a Nr. 2637) wurden die Entwürfe anschließend im Juatizdepartement (a. NdaHStA Hannover Hann Dea 26 a Nr. 2603/2) durch den Oberjuatizrat Jacobi abschließend redigiert (1. NdaHStA Hann Des 26 a Nr. 2634 ff.) und gelangten achließlieb vom 10.12.1829- 19.01.1830 zur Beratung ina Geheime Ratakollegium (1. NdaHStA Hann Dea 26 a Nr. 2600). 186 Zum Prozeßrecbt dea bayStGb 1813 s. Thierfe1der, in: ZStW SJ (1934), 414 ff. 187 S. Thierfelder, in: ZStW 53 (1934), 404 ff. mwN. Die Vorachläge Feuerbacba gelangten jedoch erBt nach dessen Tod an die Öffentlichkeit und blieben bia dahin auch dem Fachpublikum ganz unbekannt, so daß sie auch die hannoverschen Beratungen nicht beeinflussen konnten.

IV. Geaetzgebungsgeschichte des G-1841

149

bereitung ihres "ritlhlichen Gutachtens" m wählen.188 Dies geschah am 24.

März 1830, indem die Stände die Wahl von je drei Kommissionsmitgliedern ausjeder Kammer beschlossen, "um jenen Entwuifzu priJfen und das Resultat ihrer PriJjung den StiJnden bei ihrer Wiederversammlung vorzulegen".1 89 Die ständische Kommission trat am 13. Dezember 1830 zusammen.190

Unterdessen waren die Entwürfe191, nachdem der König sie am 29. Oktober 1830 genehmigt hatte192, am 12. November 1830 der Ständeversammlung als Gesetzentwurf "zugefertigt" worden.193 Inhaltlich trug der Entwurf der Ansicht der Regierung Rechnung, daß zwar

"nur eine umfassende Gesetzgebung Abhilfe schaffen" könne, jedoch "kein Grund bestehe, von dem gemeinen deutschen Criminalproceß und der durch lange Anwendung bewahrten Criminalinstruction 1736 im Wesentlichen abzuweichen." Allerdings sollten diese "in ihrem Geist den BediJifnissen der Zeit entsprechend weiter ausgebildet werden". Insbesondere sollten die Rechtsmittel weiter ausgebaut werden. Gegen "wichtigere Erkenntnisse" sollte zukünftig die Appellation mm Oberappellationsgericht Celle eröffnet werden, wofiir bei diesem Gericht ein besonderer Kriminalsenat errichtet werden sollte. - Über eine irgendwie geartete Anklagevertretung oder Staatsanwaltschaft enthielt der Entwurf nicht einmal eine Andeutung.194 Der liberale Advokat und Strafrechtspolitiker Salomon Philipp Gans195 mußte deshalb feststellen: "Der vorliegende Entwuif... huldigt in allen und 188 ActeRBtiiclte der m. Allg.StV, 5. Diät, S. 199.

189 ActeRBtiicke der m. allgStV 5. Diät v. 1830 S. 209. 190 Die Konunission bestand aus den Abgeordneten Erster Kammer August Otto v. Grote (1787-1831; a. Rothert, in: AHB m 534 f.), v. Honstedt und v. Hattorf; für die Zweite Kammer aus den Abg. Jacobi, Hennann Adolf Lüntzel (1799-1850; s. Rothert, in: AHB m 556) und Stüve. Jacobi hatte zuvor den Konuni88ionaentwurf im Justizministerium aelbat maßgeblich mit redigiert (1. ActeRBtiicke der m. allgStV, 5. Diät, H. 7 Nr. 48; Schreiben der StV v. 31.03.1830"" Erg.h. 1 zurJZdfKgrH 1826, 93 f.; a. Boclt,'Strafrecht, S. 52). 191 NdsHStArch Hann Des 26 a Nr. 2604. 192 S. Bock, Strafrecht, S. 11.

193 ActeRBtiiclte der m. allgStV, 6. Diät S. 1 ff; 229, 231.

194 ActeRBtiiclte der m. allg StV, 6. Diät, S. 371 ff.

195 Salomo(n) Pbilipp Gans (1784-1843), Advokat in Celle, in weatphälischer Zeit Prokurator am OAG, nach 1814 wegen aeiner jüdischen Abstammung von der hannoverschen Regierung auf den Statua eines Advokaten zurückgestuft (1. Rothert, in: AHB U 532). Gans war einer der bedeutenatcn liberalen hannoverschen Juatizreformpolitilter und -autoren des Vormärzes. Auch GoUiieb Wilhelm Freudentheil, Advokat in Stade und ebenso wie Gans liberaler Juatizreformer, war jüdischer Abstammung. Der Beitrag deutscher Juristen jüdischer Abstammung zur Rechts-

ISO

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

jeden Beziehungen dem Systeme des Inquisitionsverfahrens, . . . das . . . ihn so ganz und gar durchdringt, daß selbst ... Ergilnzungen und Milderungen aus dem Systeme des IJ.ffentlichen Verfahrens ... hier ausgeschlossen sind, ja der jrahere Zustand ... noch aberboten wird •.196 Die ständische Kommission schloß ihre Beratungstätigkeit am 21. Februar 1831 ab und legte ihren- im Wortlaut maßgeblich auf Stüve zurückgehenden - Bericht am 16. März 1831 der Ständeversammlung vor.197 Sie empfahl entwicklung im Vonnärz gehört ebenfalls zu den bislang kaum erforschten Bereichen der Rechtsgeschichte. 196 S. Gans, Entwurf, S. XIX. - Gans meinte- wohl mit Recht-, dem Entwurf hätten Gesichtspunkte der Strafverfolgung von "Staatsverbrechen" zur Richtschnur gedient, "und unverkennbar ist es, daß die Rücksicht auf diese stets im Hintergrunde lauert, hemmend und störend sowohl die Einführung der Öffentlichkeit und Mündlichlccit im Strafverfahren, als auch eine jedwede durchgreifende wesentliche Verbesserung im Inquisitionsprocesse" (aaO. S. XXI).

197 Im Verlaufe der Verhandlungen der Kommission war gleich zu Beginn die Hauptfrage zur Sprache gekommen, "ob man die Hauptgrundsätze, den inquisitorischen Proceß annehmen wolle, oder nicht?". Dabei begaben sich die Vertreter der Braten Kammer- v. Grote, v. Honstedt und v. Hattorf - zunächst auf den Standpunkt, "für die Annahme scheine die allgemeine Meinung bei der Bearbeitung des (Regierungs-) Entwurfs so entschieden gewesen zu seyn, daß sich in den derzeitigen Verhandlungen nicht einst die Ansicht dea Gegentheils berührt finde. Entweder müsse man öffentliches Verfahren ohne Geachwomengerichte oder das förmliche Verfahren der Geschwomengerichte nach dem Beispiel Frankreichs und Englanda, oder den accusatorischen Proceß, oder den inquisitorischen Proceß annehmen. (Man) verkenne durchaus nicht die guten Seiten des öffentlichen Verfahrens; wolle man es aber einmal einführen, so müsse solche Ausführung - rein, durchgängig - und von Grund aus geschehen, Halbheit sey unpassend. Solle Öffentlichkeit da seyn, so müsse solche sowohl in Civil- wie in Criminalprocessen Statt finden. Der Hauptvorzug der Öffentlichkeit liege darin, daß die Processe schneller beendiJt würden, das Übrige nehme aich in der Theorie zwar vortrefflich aus, sey aber nicht praktisch, auch laufe man beim mündlichen Verfahren leicht Jri)8ere Gefahr, um sein Recht zu kommen, als beim schriftlichen. Bei entcrem machten Rednergaben und das Talent eine Sache auazuschmücken und emporzuheben, oft einen gefährlichen Eindruck auf die Richter. Man möge den Satz nie vergessen, daß diejenige Verfaasung die beste sey, die bisher den besten praktischen Erfolg gehabt. • - Demgegenüber verwandten sich die liberalen Mitglieder dieser Kommisaion für unterschiedlich gestaltete "gemischte" Refonnmodelle. Die Abgeordneten Lünzel und v. Grote erklärten aich für unbeschränkte Öffentlichkeit mit Geschworenengerichten. Der Abg. v. Hattorf trat für beschränkte Öffentlichkeit ohne Geschworenengerichte ein. Stüve achließlieh erklärte sich zunächst "zwar nicht für unbeschränkte Öffentlichkeit mit Geschworenengerichten, aber doch gegen die Annahme des Entwurfs. • - Wenig später erklärte aich Stüve dann jedoch "bestimmt für Öffentlichkeit ohne Geschworenengerichte". Zur Begründung führte er aus, "die jetzige Zeit, in welcher die bisher bestandenen Grundsätze so von alllen Seiten angefochten würden und man zuerst auf die Ansicht gekommen, öffentliche& Verfahren ohne Geschwomengerichte einzuführen, acheine ihm am ungeeignetsten zur Aufstellung neuer Principien über den Criminalproceß. Er halte es aber für nothwendig, dem Verfahren einen hohen Grad von Öffentlichkeit zu geben und ein accusatorischea Element (!) hineinzubringen, damit auch die Rechte des Staats nicht beeinträchtigt würden. Er lebe die Schwierigkeiten einer solchen Einrichtung vollkommen ein, verkenne auch nicht, daß sie eine Modification der ganzen Gerichtsverfassung zur Folge haben müsse, dem ungeachtet halte er eine Veränderung aber für höchst ersprießlich und nothwendig. Unvollständigkeit zu fürchten sey nur ein acheinbares Gegen-Argument, da es immer die Frage bleibe: was vollständig sey ? Von der eigentlichen Untenuchungsführung könne man lieh zwar in der Art entfernen, wie es in England geschehe,

IV. Gesetzgebungsgeschichte des G-1841

151

darin, den Regierungsentwurf abzulehnen, schlug allerdings zugleich vor, zur Vermeidung weiterer Verzögerungen der Regierung zu empfehlen, "die durch denselben bezweckten HauptveriJnderungen mitteist eines besonderen Gesetzes zu bewirken". Es sollte also zunächst doch einem- nur provisorischen- inquisitorischen Gesetz zugestimmt werden. Gleichzeitig aber sollte die Allgemeine Ständeversammlung "an Se. Majestat die Bitte ... richten, daß baldmlJglichst darauf Bedacht genommen werde . . . ein öffentliches und mUndliches Criminalveifahren einzufahren. •198 Dessen gewünschte Ausformung im einzelnen blieb allerdings unbestimmt. Auch explizite Ausführungen zur Frage der Staatsanwaltschaft fehlten. Wie Stüve selbst allerdings zuvor in der Diskussion ausgefiihrt hatte, waren Öffentlichkeit und Mündlichkeit alleine, ohne ein "irgendwie geartetes accusatorisches Element", schwerlich praktikabel, da die mündliche und öffentliche Verhandlung neben dem sich verteidigenden Angeklagten begrifflich eine Institution voraussetzte, die vor dem Richter die entgegengesetzte Position der Geltendmachung des staatlichen Strafanspruchs vertrat. 199 Wie dieses "accusatorische Element" allerdings im einzelnen beschaffen sein sollte, blieb offen. Jedenfalls implizierte angesichts der großen Meinungsverschiedenheiten in der wissenschaftlichen Literatur der Zeit die Verwendung des Begriffs "irgendein accusatorisches Element • noch keineswegs, daß dies notwendig wie der französische minist~re public ausgestaltet sein mußte. In dieser geringen Bestimmtheit des Kommissionsberichts mochte sich die Tatsache niedergeschlagen haben, daß es sich um einen Kompromiß zwischen den Mitgliedern Erster und Zweiter Kammer handelte. Stüve hatte die damals allgemein als provokante "Maximalforderung• angesehene Forderung nach Volksbeteiligung an der Rechtspflege durch Geschworene und auch im übrigen nach Möglichkeit alle "Reizwörter• vermieden.

dies halte er für ein Extrem, welches in Deutachland durchaus unanwendbar sey; allein man mnue einen Mittelweg ergreifen, der gewiß einen guten Erfolg haben werde. • - Im weiteren Verlauf der Dialru11ion einigte man aich achließlieh auf einen weiteren, von Stüve gestellten Schlußantrag, wonach die Kommisaion beiehloß, der Ständeversammlung den Entwurf nicht zur Annahme zu empfehlen (nach Freudentheil, in: Beilage zum AdC 1838, S. 97 ff.; 1. auch Bock, Strafrecht, S. 52). 198 Gans, Entwurf, S. XIV. 199 S. FreudentheilaaO.

152

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Es dürfte im übrigen schwerlich auf einem Zufall beruhen, daß dieser überraschende Kommissionsbericht gerade in den Jahren 1830/31 zustande kam, zu einer Zeit also, in der das Land stark unter dem Eindruck der verschiedenen europäischen Revolutionen und der Erhebungen in Osterode und Göttingen - "der GIJttinger Erneute [d.h. Meuterei]"200 - stand und auch seitens der Regierung ernsthaft mit der Möglichkeit eines revolutionären Umsturzes gerechnet wurde. Anders könnte es insbesondere kaum erklärt werden, daß die konservativen Abgeordneten der Ersten Kammer einen Beschluß mittrugen, der offen die Forderung nach französischen Prozeßelementen aussprach und damit - nach den Worten Metternichs - geeignet war, "eine gttnzliche Umwttlzung des durch Jahrhunderte befestigten Regierungs-Systems nach sich zu ziehen". 201

3. Die provisorische Kriminalprozeßgesetzgebung von 1840141 und das Gesetz vom 16. Februar 1841 In der Folgezeit kamen die Beratungen über diesen Kommissionsbericht erneut zum Erliegen; möglicherweise auch deshalb, weil die Allgemeine Ständeversammlung mit der Beratung des Staatsgrundgesetzes, der Ablöseordnung, der Bauernbefreiung und neuer Steuergesetze, beschäftigt war;

"schwierigen und hochwichtigen Arbeiten, welche seit jenem Zeitpuncte die 1htttigkeit der allgemeinen Stltndeversammlung . . . vorzugsweise in Anspruch genommen haben".202 Bis zur Vertagung der III. Allgemeinen Ständeversammlung am 24. Juni 1831203 kam es jedenfalls zu keiner Beratung der Strafgesetze mehr. Auch in der darauffolgenden, am 30. Mai 1832 eröffneten Sitzungsperiode kam es nicht zur Befassung mit diesem Thema204, sondern erst in der am 5. Dezember 1833 eröffneten Fünften - und gegenüber den

200 König, Die CrPO, S. 10. 201 Mencrnich, bei: Chroust (Hg), Gesandtschaftsberichte, 1240 FN 2. 202 Actenstücke der V. allgStV, 1. Diät, S. 327; vgl. Freudentheil aaO. S. l ff., 96; Bock, Strafrecht, S. 52 ff. -Letztlich bleibt unklar, ob die hannoversche Regierung die aus ihrer Sicht

sicherlich einen unerwünschten Verlauf nehmende Debanc tatsächlich bewußt verschleppt hat, um auf ihr günstigere Zeiten zu warten, z.B. eine neue und regierungsfreundlicher besetzte Ständeversammlung.

203 Actcnstücke der m. allgStV, S. 729. 204 S. Freudentheil, in: Beilage zum AdC 1838, S. 4.

IV. Gesetzgebungsgeschichte des G-1841

153

vorhergehenden zuungunsten der Liberalen neu zusammengesetzten - Ständeversammlung. 205 Durch das mittlerweile in Kraft getretene SGG 1833 war die Ständeversammlung nun nicht mehr bloß auf die Abgabe ihres •rlllhlichen Gutachtens • über das neue Strafprozeßrecht beschränkt; vielmehr bedurfte dieses zu seinem lokrafttreten der ausdrücklichen ständischen Zustimmung, und zwar in beiden Kammern. Der Regierung gelang es jedoch mit Unterstützung der Ersten Kammer, nachdem die Revolutionsfurcht von 1831 überwunden war, in der Ständeversammlung den Beschluß durchzusetzen, den Bericht der ständischen Strafprozeßkomm.ission nicht einmal mehr zu diskutieren, sondern am 7. Januar 1834 eine gegenüber der ersten personell erheblich veränderte zweite ständische Kommission einzusetzen. 206 Diese im konservativen Sinne "entschärfte" Zweite Kommission verwarf das Votum der Ersten Kommission und empfahl der Ständeversammlung stattdessen, den ursprünglichen Regierungsentwurf mit einigen geringfügigen Modifikationen anzunehmen. 207 Neben den Postulaten von Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Geschworenen entfiel auch die von der ersten Kommission noch ausdrücklich erhobene Forderung nach einem •akkusatorischen Ele-

ment•.

Jedoch gerieten auch die am 3. Juni 1834 begonnenen208 Beratungen im Plenum der Ständeversammlung über diesen Kommissionsbericht immer wie205 S. König, Die CrPO, S. 16 ff.; v. Hassell, Geschichte ID 343: "Es war eine Kammer von Beamten, wie Louis Philippe sie sich nicht besser wünschen konnte . . . In der Zweiten Kammer saßen 34 Staatsdiener, 18 städtische Beamte, 5 Advokaten, 5 Kaufleute, 4 Geistliche und 8 Grundbesitzer. Außer Stüve befand sich ... kaum ein Mann von staatsmännischem Blick darunter" (Oppermann, Geschichte 170). 206 Dieser Kommission gehörte inabesondere Stüve, der Wortführer der Liberalen in der ersten Kommi..ion und Urheber des damaligen Berichts, nicht mehr an. Aus der ersten Kommission waren nur die Abgeordneten Jacobi und Lüntzel aus der Zweiten und v . Honstedt aus der Eraten Kammer übernommen worden. Neu hinzu traten aus der Braten Kammer der als konaervativ bekannte Abgeordnete Kanzleiassessor Otto Albrecht v . Düring (1807-1875), "aeiner Herkunft und Erziehung nach ein Bremischer Junker und wohl nie ein begeiaterter Anhänger des Liberalismus" (a. Gunkel, Rechts1eben, S. 302 ff.; Rotbert, in: AHB D S. 109 f.) sowie der Hofgerichtsaaaessor Eduard C . v. Lütclcen (1800-1865; a. Rotbert, in: AHB D 556); für die Zweite Kammer der nicht an Stüves Bedeutung heranreichende Amtsassessor Bening. 207 Diese zweite Kommission beendete ihre Tätigkeit am 22.03.1834 (Freudentheil aaO. 96).- Gans, Entwurf, S. XV. 208 Hannoversche Zeitung 1834, S. 1020; Freudentheil aaO. S. 4.

154

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

der ins Stocken. 209 Wiederholt forderte die Regierung die Ständeversamnmlung auf, die Entwürfe von StGB und StPO •baldJhunlichst• zu beraten.210 Nach Jahren erklärten die Stände schließlich am 16. Juli 1836, sie hätten über die Regierungsvorlage immer noch nicht abschließend beraten können, wollten aber den vorrangig wichtigen Erlaß des Kriminalgesetzbuches nicht noch weiter verzögern und schlügen deshalb vor, die wichtigsten Prozeßreformen in einem provisorischen Gesetz vorwegzunehmen.211 Die Vertagung der Allgemeinen Ständeversammlung durch König Ernst August und die Aufbebung des Staatsgrundgesetzes unterbrachen auch diese Verhandlungen auf zunächst unbestimmte Zeit.212 Erst am 21. März 1838 griff die Regierung das Thema wieder auf mit der Aufforderung an die -jetzt wegen der Aufbebung des Staatsgrundgesetzes von 1833 nicht mehr zustimmungsberechtigte, sondern auf den Status der Abgabe •rathlicher Gutachten •213 zurückgeworfene - Ständeversammlung, den von der Regierung 1830 vorgelegten Entwurf vorerst nicht mehr weiter zu beraten. Es sollte stattdessen, in Anknüpfung an die früheren ständischen Vorschläge, zunächst •zur Beschleunigung einer so wanschenswerthen Verbesserung des jetzt gellenden Criminal-Processes• eine verkürzte Vorläufige Kriminalprozeßordnung verabschiedet werden.214 Am 29. April 1838 wurde ein hierzu im Justizministerium215 ausgearbeiteter Entwurf mit •den wesentlichsten der in der Proceß-Ordnung beabsichtigten Reformen des Criminal-Verfahrens ... mit welchen, wie Wir sicher ver-

209 Freudenlheil aaO. S. 4. - Da sich Erste und Zweite Kanuncr weiterhin nicht auf ein Gesamtergebnis verständigen konnten, wurde zwischenzeitlich aogar eine weitere "gemischte Kommission", offenbar als eine Art Vermitllungsausschuß, gewählt (s. Bock, Strafrecht, S. 53). 210 So zB mit Schreiben vom 16.12.1833; Actenstücke der V. allgStV,

1. Diät, S. 327.

211 Erwiederungaschreiben der Stände an Kgl. Ministerium, Actenstücke der V. allgStV, 4. Diät, Bd. I S. 639 ff.

21 2 FreudenlheilaaO. S. 5. 213 Art. 6 Verf 1819. 214 Kgl. Schreiben vom 21.3.1838, Actenstücke der VI. allgStV, 1. Diät, S. 9S f.

21S Das hannoversche Justizminiaterium bestand zu dieiCr Zeit ausweislich der Aufliatung im hannoverschen "Hof- und Scaatahandbuch" von 1840, S. 73 ff., aua dem Minister, dem Freiherrn Carl Wilhelm August von Stralenheim, aowie den "Mitarbeitern" "GeneraiiCCrelair des Justiz Ministerii, dem Übeljustizrat Ernst August von Werlhof; Obeljustizrat F.C.W. Jacobi, Justizrat G.F.A.A. Meyer; CanzleyaSICsaor C.S. von Berger, AmtsaSICsaor Hülfaarbeiter F.C.A. von ISICndorffund Dr. F. Brauer "für die Secrecairaca-Geschäfte").

IV. Geeetzgebungsgeschichte des G-1841

ISS

trauen, in der nitchsten Zeit auszureichen seyn wird", den Ständen vorgelegt216, die darüber im Verlauf des Jahres 1840 berieten. Auch diesem Entwurf lag weiterhin der Inquisitionsprozeß nach der CI

1736 wesentlich zugrunde, "noch jetzt ein zweckrnitßiges und brauchbares Gesetz, das nur einige ErgiJnzungen benötigt,· dasselbe gilt von der preußischen Criminalordnung, die in ihren Grundlagen so wenig von dem Systeme des gemeinen und mithin auch des in dem größten 'Iheile des Königreiches geltenden Proceßrechts abweicht, daß es thunlich erschienen ist, alle beabsichtigten Refonnen vennittelst weniger und einfacher Vorschriften . . . an sie anzuknapjen ". 217 Besondere Bedeutung wurde auch in diesem provisorischen Entwurf der Ausgestaltung der Rechtsmittel beigemessen. Hier sah der Provisorische Entwurf eine umfassende Neugestaltung vor; dabei wurde auch eine für

das ganze Land einheitliche oberste Instanz in Strafsachen in Gestalt eines

Kriminalsenats bei dem Oberappellationsgericht zu Celle vorgeschlagen. Hierbei sollte bei einem durch den Angeklagten selbst eingelegten Rechtsmittel das Instanzgericht die Möglichkeit der reformatio in peius erhalten21 8; wie es hieß, vor allem auch aus Kostengründen, um die Zahl der Rechtsmitteleinlegungen zu vermindern und die Bürger von einer mißbräuchlichen Einlegung von Rechtsmitteln abzuhalten. Auch sollte auf diese Weise ein Korrektiv ge-

216 Actenstückc der VI. allgStV, 1. Diät, S. 342 ff. 217 Begründung des Geeetzentwurfa, in: Actenstücke der VI. allgStV, 1. Diät, S. 3S8 ff. 218 § 36 dea Entwurfs lautete: "ln der Instanz der weiteren Vertheidigung und der Appellation hat der Richter die Gesetzmäßigkeit des Erkenntnisses erster Instanz nach demjenigen, was die ergangenen Acten in Verbindung mit den etwa weiter noch angeordneten Untei"IIUchungshandlungen erJeben, als ein Ganzes zu prüfen und das Erkenntnis entweder zu bestätigen, oder abzuindem oder aufzuheben . . . Ea i• dabei auch eine Abänderung zum Nachtheil des Angeschuldigten zuläuig, wenn die weitere Erwägung der Sache dem Gerichte die Überzeugung gewährt, daß in Widenpruch mit be~mmten geeetzlichen Vorschriften entweder gegen den ARgeachuldigten eine zu gelinde Strafe erkannt, oder lOM zu eeinem Vortheile entachieden, z.B. bei offenbar vorhandenem hinreichenden Beweise er von der Instanz entbunden i•. lndeß darf eine Abänderung dea Erkenntnisse• zum Nachtheil des Angeachuldigten bis zur Tode.-rafe nur in dem Falle ausgedehnt werden, wenn erst nach dem ersten Urtheil die Sache durch Ermittelung neuer Thatumstände 10 weeentlich verändert wird, daß nurunehr ein nach den Geeetzcn unzweifelhaft mit Todcutrafe zu belegende• Verbrechen zur Beurtheilung vorliegt. Gegen ein Erkenntniß aber, durch welche• in zweiter Instanz der frühere Spruch zum Nachtheil dea Angeschuldigten abgeindert worden, i• die Appellation an das höhere Gericht unbedingt, und, wenn das Erkenntniß von Uneerem Ober-Appellations-Gerichte gesprochen ist, eine nochmalige weitere Vertheidigung bei demeelben zuläuig. ln dieeer Instanz aoll eine weitere Abänderung zum Nachtheil dea Angeschuldigten niemals Statt finden. •.

156

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

schaffen werden, um gieren

zu können.2l9

zu

milde Urteile der Strafgerichte in der

Instanz korri-

Die Verwirklichung vor allem dieser Bestimmung hätte freilich dogmatisch ein Zurückgehen nicht nur hinter den bisher geltenden Gesetzeszustand bedeutet. Seit

1833 schloß die Verfassung ausdrücklich die landesherrliche

reformatio in peius im Rahmen des Bestätigungsrechts aus220. Ihre Einführung hätte auch ein Zurückgehen auf den wissenschaftlichen Entwicklungsstand des

18. Jahrhunderts bedeutet. Seit langem bestand unter den meisten

namhaften Autoren - welcher Meinung sie auch im übrigen in der Frage der Prozeßdebatte sein mochten - Einigkeit über die Unzulässigkeit der reformatio in peius.221 Ein solcher Vorschlag mußte

mithin nicht nur von den liberalen Befürwor-

tem eines grundlegend neuen Reformierten Prozesses auf Ablehnung stoßen, sondern auch in den Augen der meisten Verteidiger des Systems des Gemeinen Prozesses überholt erscheinen. Die reformatio in peius hätte die Ein-

21 9 "Den wichtigsten Theil des Entwurfs bildet der zweite Abschnitt von § 29-46; er stellt ein neues und vollständiges System der Rechtsmittel ... auf. Wenn in der letztem Zeit die Criminalkosten um ein bedeutendes zugenonunen haben, so ist dieser unerwünschte Umstand zu einem sehr gro8en Theile der übermäßigen Benutzung des Rechtsmittels der weiteren Vertheidigung, ja dem damit getriebenen Mißbrauche zuzuschreiben ... der gro8e Reiz für die Verurteilten, die nahe Hoffnung, meist ohne allea Opfer von ihrer Seite ein günstigere• Reaultat zu erwirken, die Manchen sehr erwünschte Gewißheit, wenigstena einen Aufschub der drohenden Strafe zu erlangen, ist geblieben ... Den gro8en hieraus entstehenden Nachtheil hoft\ man inabesondere durch die Errichtung des Criminalsenatea dbrcb die fiir den Mißbrauch der Rechtemittel angeordneten Strafen und durch die ... den Artikeln 302 und 303 des größeren Entwurfs entnonunene .. . reformatio in peius ... zu begegnen .. . Daß derselbe nicht ohne Bedenken sey ... läßt sieb nicht verkennen .. . Der erste Richter kann sieb geirrt haben, zum Nachtheile, aber auch zum Vortheile des Angeschuldigten; diesen Irrthum zu verbessern ist der zweite Richter berufen, und es ist nicht abzusehen, weshalb er seinen Schutz nur dem Verbrecher, und nicht auch dem Stsate und den übrigen Bürgern, deren Sichemeit die angemessene Ahndung jedes Verbrechena erfordert, zu gewähren verpflichtet seyn sollte? Ea kann darin eine eigentliche Gefahr fiir den Angeschuldigten nicht liegen, denn die zweite Instanz ist eben dazu gegeben, daß die Wahmeit in ihr noch gründlicher .. . erforscht ... werde; auf ein Mehreres aber, und namentlich auf eine Begünstigung durch das formelle Recht zum Nachtheile dea materiellen, bat er ... keinen Anapruch. Ea ist ohnehin ... dafür gesorgt, cla8 auch nicht der leiseste Schein einer Härte fiir den Angeachuldigten in dieaer Einrichtung liege. Dlhin ist zu rechnen, cla8 jedea zum Nachtheile dea Angeachuldigten reformirende Urtheil nur von einer zahlreich beaetzten Richterbank gesprochen werden kann, daß durch ein solches regelmäßig auf die Todeastrafe nicht erkannt werden darf, daß demjenigen, der sein Recht dadurch gekränkt glaubt, ein ferneres Rechtsmittel gegeben ist . .. Endlieb kann auch nur auf diesem Wege einer zu milden Praxia und Gesetzes-Interprelltion . . . mit gutem Erfolge entgegen gewirkt werden. • (Regierungabegründung des Gesetz-Entwurfs, in: Actenatücke aaO. S. 363 f.). 220 § 9 SGG. 221 S. dazu statt vieler Hepp, in: ZSfdtStrV (NF) D 297 ff.

IV. Gesetzgebungsgeschichte des G-1841

157

legung von Rechtsmitteln für den Angeklagten mit derartig unkallrulierbaren Risiken behaftet, daß dies praktisch einer weitgehenden Versagung von Rechtsmitteln in Strafsachen überhaupt gleichgekommen wäre. Die insbesondere aus diesem Grunde kontroversen Beratungen der Stände über den Entwurf zogen sich wiederum über mehr als zwei Jahre hin. Am 2. Juni 1840 erwiderten die Stände schließlich auf den Gesetzesentwurf und stimmten der Regierungsvorlage in den meisten Punkten zu. Jedoch verlangten sie im Bereich der Rechtsmittel entschieden, die geplante reformatio in peius in der Instanz fallen zu lassen. Stattdessen sollte ein "ein jar allemahl" zu bestellender "Offentlicher Anwald oder Fiscal" Rechtsmittel "im öffentlichen Interesse• für den Staat einlegen können.222

Diese praktisch einzige wesentliche Änderung gegenüber der Regierungsvorlage sollte nach dem ständischen "räthlichen Gutachten" von der Regierung nach deren Ermessen, "ohne weitere Communication mit der StlJndeversammlung •, entweder noch nachträglich in den vorliegenden Entwurf eingearbeitet werden, oder aber in einem besonderen selbständigen Gesetz nachgeschoben werden, "wozu man schon jetzt im voraus sein EinverstlJndnis erteile•.223

222 Acteßltiicke der VD. allgStV, 1. Diät, S. 260 ff. - "Was ... den neu aufgenommenen Grundsatz der •.. reformatio in peiua anlangt, - so hat zwar der Grundastz an sich, als den Anforderungen einer gleichen materiellen Gerechtigkeit vollkommen entsprechend, keinen Wider~pruch tinden können. Desto größere Bedenken haben sich aber gegen die beabsichtigte Art der Ausführung besonden in der Hinsicht erhoben, als die Berichtigung der Erkenntnisse ... ohne gleichzeitige Vemindung mit dem Institute der Staats-Anwaltschaft, lediglich an den Gebrauch der Rechtamittel von Seiten dea Verurtheilten geknüpft werden sollte, wobei allerdings die Sache mehr dem Zufalle Oberlaaaen, eine Abhülfe grade in den dringendaten Fällen nicht gegeben und außerdem die weitere Vertbeidigung indirect beachränlct seyn würde. Um diese Bedenken hinwegzuräumen, hat man zu der VermitteJung durch einen öffentlichen Anwatd, wenn auch in beschränktem Muße, überJehen müssen und sich, unter Beseitigung aller die reformatio in peius betreffenden Bestimmungen dea Entwurfs .. . zur Annahme folgender allgemeiner Principien vereinigt: 1) Gegen Erkenntniaae der Criminal-Gerichte sind auch im lntereaae des Staats Rechtsmittel zuliaaig. 2) EI kann jedoch auf ein solches Rechtsmittel zum Nachtheil des Angeachuldigten nur dann erkannt werden, wenn derselbe ohne genügende Gründe freige~prochen, oder von der Instanz entbunden, oder im Wider~pruch mit bestimmten gesetzlichen Vorachriften in eine zu gelinde Strafe verurteilt ist, oder gegen Beachlüaae, durch welche aus unrichtigen Gründen von einem criminellen Verfahren abstrahirt ist. 3) Diese Rechtsmittel werden ... von einem, für diese Geacbifte ein für allemahl bestellten öffentlichen Anwalde oder Fiacal verfolgt. 4) Damit aber diese Einrichtung nicht zu weitgreifend und koltlpielig werde, ist die Thätigkeit dea bestellten Fiacala davon abhängig zu machen, daß er von dem Königlichen Justiz-Ministerio ..• in dem einzelnen Falle aufgefordert werde, sein Amt wahrzunehmen, so daß es von dem Ermeaaen dieser Behörde abhängt .•. "(cbd. S. 265 f.).

158

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Der Regierung lag

daran, die Ratifizierung der Kriminalprozeßordnung

nicht mehr länger zu verzögern. Sie wählte daher die Form des nachträglichen weiteren Gesetzes, das am

16. Februar 1841 im Nachgang zur Kriminalpro-

zeßordnung in der amtlichen Gesetzessammlung - wie von den Ständen in Aussicht gestellt, ohne vorherige •communication • - veröffentlicht wurde. 224 Die Kriminalprozeßordnung, aus deren §

36 die Bestimmungen über die 8. August 1840 in

reformatio in peius getilgt worden waren, war bereits am der Gesetzessammlung publiziert worden. 225

V. Der "Öffentliche Anwald" in der forensischen Praxis Zum ersten -und einzigen -

•(jffentlichen Anwakr

wurde der bereits in

Strafsachen praktisch erfahrene Amtsassessor Johann Eduard Dommes226 ernannt. Als solcher erhielt er

1843 den eigens für ihn neugeschaffenen Titel

eines Kriminalrats. 227

223 Ebd. - • ... daneben auch alle übrigen Vorschriften zu ertheilen, welche als noChwendig sich darstellen, um das beachloaacne neue Institut ins Leben zu rufen und demselben gedeihlichen Fortgang zu sichern ... Als sich von selbst verstehend müaacn Stände es dabei betrachten, daß, wenn eine Entscheidung auf ein von einem öffentlichen Anwalde ergriffenes Rechtsmittel zum Nachtheile eines Angeschuldigten abgeändert worden, dieß als ein neues Erkenntniß anzusehen sey, gegen welches dem Beschuldigten . . . noch ein Rechtsmittel zustehen müaac ... • (ebd.). 224 GS 1841 I 99 = s.u. Textanhang I. S. die Gesetzesentwürfe und -beratungen im Ministerium in NdsHStA Hann Des 26 a Nr. 2619 f. 225 GS 1840 1347. Der neu errichtete Kriminalsenat bei dem OAG Celle wurde durch Gesetz vom 8. September 1840, "die Einrichtung des Criminal-Senats bei dem Ober-Appellationsgericht betreffend", geregelt (GS 1840 1368). 226 Dommcs hatte sich selbst auf diese Stelle beworben. Man hatte ihn unter mehreren Bewerbern bevorzugt, weil er durch seine langjährige Tätigkeit als Strafrichter bei dem Kriminalamt Hannover bereits Erfahrungen mit dem Kriminalprozcß besaß, aber auch früher immer wieder bei Beförderungen übergangen worden war, zudem gellindheitliehe Probleme hatte und achließlieh bereits eine lange Dienstzeit aufweisen konnte (s. NdaHStA Hann Dea 26 a Nr. 2620). 227 Dieser Titel wurde eigens tür Dommca eingerichtet, da man seine Rangerhöhung gegenüber seiner früheren Charge als Amtsaaacssor auch äußerlich zur Geltung bringen wollte, jedoch die bisher gebräuchlichen anderen Juatizdienatbczcichnungen tür nicht angemcaacn hielt (Schreiben Stralenheims an Schele vom 3.5.1842, NdsHSTA Hann Des 26 a Nr.2620). Auch hierin wird die ziemlich atypische Sonderstellung des Öffentlichen Anwalts im Gefüge der hannoverschen GerichtsverfaBIUng deutlich.

V. Der "Öffentliche Anwald" in der forensischen Praxis

159

Über den tatsächlichen Grad seiner arbeitsmäßigen Auslastung geben die erhaltenen Akten, soweit ersichtlich, kein vollständiges Bild.228 Jedoch wird deutlich, daß seine Tätigkeit schon bald Bereits

zu vielerlei Kritik Anlaß gab. 229

kurz nach seinem Amtsantritt 1841 etwa erlangte der Fiskal weit

über Hannover hinaus eine in den Augen der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht eben positive Bekanntheit, als er auf Weisung des Justizministers v . Stralenheim - im Ergebnis erfolglos - in dem im Zusammenhang mit dem Verfassungskonflikt von 1837 eingeleiteten Strafverfahren gegen den Bürgermeister Rumann und andere Magistratsmitglieder der Stadt Hannover die Revision

zu

vertreten hatte. 230 228 Die entsprechenden Akten sind infolge der Kriegs- und Hochwasserschäden im NdsHStA HaMOver nur lückenhaft ernalten (s. hierzu Röhrbein, in: Hann.GeschBl 1988, 157). 229 S. hierzu Gunkel, Rechtsleben, S. 235; l..ehzen, Staatshaushalt U 216. - Für wie problematisch ein solcher Fiskal bereits zur Zeit seiner Einführung von den meisten Zeitgenossen gehalten wurde, belegt zB die zeitgleiche Entwicklung in Preußen. Dort war 1843 die Frage aufgetaucht, ob ein dem haMOverschen Fiskal ähnlicher Staatsrekurrent eingeführt werden sollte; wenn auch nur zur einstweiligen Überbrückung der Zeit bis zum Erlaß einer ganz neuen StPO. Kein Geringerer als der Gesetzgebungsminister v. Savigny trat dem jedoch in einem Votum vom 22.09.1843 an das preußische Staatsministerium mit der Argumentation entgegen, "in der öffentlichen Meinung hat aich ... die Ansicht festgestellt, (daß) das ... Verfahren dem Angekl. keine zureichenden Garantien gewähret ... Wenn daher ... nur darauf Bedacht genommen werden soll, dem Staate eine verstärkte Garantie . . . zu geben, so wird . . . eine solche Maaßregel, weit entfernt, in wohlwollender Gesinnung aufgenommen und beultheilt zu werden, leicht zu den gehäsaigsten Deutungen hinführen ... • (nach Otto, Staatsanwaltschaft, S. 18 ff.; s. zur Entwicklung in Preußen auch Rüping GA 1992, 147 ff.). 230 Zu diesen Vorgängen im einzelnen a. Röhrbein, in: HannGeschBl 1988, 121 ff., insbea. 154 ff. Da dieaer einigermaßen a~nrnäßig dokumentierte Fall einen Einblick in die "Rechtatataächlichkeit" der Arbeitsweise'des Fiskals bietet, wird er im folgenden exemplarisch etwas genauer dargestellt. - Nach Ausscheiden des BladthaMOverschen Abgeordneten Meyer aus der Zweiten Kammer der Ständevei'IIBmmlung infolge Mandatsverzichts hatten Magistrat und Bürgerschaft der ResideiiZitadt 1839 eine Neuwahl zur Ständeversammlung abgelehnt und am 15. 7. 1839 ein weiterea Proteltlc:hreibea wegen der zögerlichen Vorgehensweiae im aeit 1837 schwelenden hanoverschen Verfauungskonflikt an die Frankfurter Bundesvei'IIBmmlung gesandt. Daraufhin war Bürgermeister Rumann vom Amt suspendiert und gegen den gesamten Magistrat ein Sttefverfahrea , u.a. wegen dea achwerwiegenden Verbrechens der MajestiUbeleidigung (Art. 138 CrGB 1840; gern. Art. 139 mit Arbeitshaus oder Zuchthausstrafe bedroht), eingeleitet worden. Rumann, der von Stüve in dessen Eigenschaft als Advokat verteidigt wurde, wurde am 21. 8. 1841 von der Juatizkanzlei HaMOver in der Hauptsache freigesprochen und lediglich wegen "öffentlicher Injurien gegen die Regierung" (Beleidigung der Amtschre, Art. 143 CrGB; Art. 144 bedrohte dieae Tat mit Gefängnis) zu einer relativ geringen Strafe von acht Wochen Gefingnia oder 400 Talern Geldatrafe verurteilt (Stadtarchiv Hannover A 477). Hiergegen legte der Fiskal Dommea auf Weisung dca Juatizministen von Stralenheim beim Kriminalaenat am OAG Celle Reviaion gern. §§ 3 ff. G-1841 ein und beantragte in aeincr über 225 Seiten starken Rechtamittelbegründung unter Hinweis auf Rechtsfehler der Justizkanzlei insbesondere bei der Stra&umcuung für Rumann eine Sttefschärfung auf ein Jahr Zuchthaus, hilfsweiae zehn Monate, zudem Dienstentlauung aowie Auferlegung der Verfahrenskosten (NdsHStA Hann De1 71 C Nr. 10; 16). Unzutreffend iat alao die seit dem 19. Jahrhundert in der haMOverschen, meist gemäßigt-liberalen Geschiehtaschreibung verbreitete Darstellung, Dommes habe eine

160

Kapitel 5: Der hannoversche "Öffentliche Anwald •

Wie sich aus ihrem Verhalten in dieser politisch hochbrisanten Angelegenheit ergibt, scheinen die hannoverschen Strafgerichte, namentlich auch das Oberappellationsgericht in Celle, nicht allzu bereitwillig im Sinne der Regierung mit dem Kriminalfiskal zusammengearbeitet zu haben.231 Das geht auch aus einem förmlichen Beschwerdeschreiben Dommes' an den Justizminister

vom 29. Juni

1845 hervor.232

•die unregelmiißige Mittheilung der in der Revisions-Instanz oder auf erhobene Beschwerden ergangenen Erkenntniße und Bescheide•. Namentlich das Oberappellationsgericht zu Celle, aber Dommes beschwert sich darin über

auch die Justizkanzleien hielten keinen einheitlichen Benachrichtigungsmodus ein; oft erhalte er von ergangenen Rechtsmittelentscheidungen erst sehr verspätet oder gar nicht Kenntnis. 233 Straferhöhung auf bis zu zehn Jahre beantragt; so zB Gunkel, Rechtsleben, S. 235; Oppermann, Geschichte I S. 272; v. Hassell, Geschichte, I S. 476). -Jedoch verwarf der Kriminalsenat auf die zwischen Januar und September 1842 vorgelegten, zusammen über 1000 Folioseiten starken (NdsHstA Hann Des 71 C Nr. 11-15) Verteidigungsschriften hin 1843 die Revision und bestätigte das erstinstanzliehe Urteil. Die Sache war zu diesem Zeitpunkt bereits durch die "Hamburger Zeitung" zusammen mit einer "sehr abfälligen Kritik der hannoverschen RegieNng" in ganz Deutschland verbreitet worden (s. Gunkel, Rechtslebcn, S. 235; Röhrbcin, in: HannGeschBl I988, 121 ff.) 23 1 S. Heile, in: NN (Hg), FS-275 I. OLG Cellc (1986), S. 63 ff.; Gunkel, Rcchtsleben, S. 235. - Das wird zB auch dadurch belegt, daß etwa die Justizkanzlei Hannover auf die im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Rumann von der RcgieNng gegen Stüve wegen der Veröffentlichung seiner Verteidigungsschrift in dieser Sache eingebrachte weitere Strafanzeige hin bereits die Eröffnung der Generaluntersuchung ablehnte. Auf die daraufhin von Dommca erhobene Nichteröffnungsbeschwerde gem. Art. 6 G 1841 hin schloß sich wicdcNm daa OAG Cclle der Iustizlcanzlei an (NdsHSTA Des 71 Hann C·Nr. 16; 1 . hien:u Röhrbcin, in: HannGcschBI 1988, 165 FN 232). 232 NdaHStA Hann Des 26 a Nr. 2620. •An seine Excellenz den Herrn Staats- und JustizMinister, Freiherrn von Stralcnheim. Unterthänigstcs Gesuch des öffentlichen Anwalts, Criminal-Ratha Dommcs, Hannover den 29. Juni 1845, betreffend die unregelmäßige MiUhcilung der in der Revisions-Instanz oder auf erhobene Beschwerden ergangenen Erkcnntniasc und Bescheide". 233 Ebd. - "Die Art der MiUheilung der Entscheidungen oder Erkenntniasc, welche resp. auf die von mir erhobenen Beschwerden oder Revisionen abgegeben werden, iat namentlich beim Königlichen Ober-Appellations-Gerichte eine durchaua unbelltimmte. Bald aind mir von diesem die Erkenntniasc im Original, bald in Abschrift per Post zugefertigt, bald ilt solche• im Auftrage dcasclben von der betreffenden Justiz-Kanzlei geschehen, bald hat letztere einen solchen Auftrag nicht selbst ausgerichtet, sondern wicdcNm dasjenige Amt, bei welchem die Ualcrsuchung geführt wurde, aubcommitirt mir die Abschrift des Erkcnntniasca zuzustellen, bald hat daa Tribunal oder eine auswärtige Iustiz-Canzlci oder selbst du hiesige Stadtgericht rcquirirt, ein Erkenntniß mir mündlich zu eröffnen, oder ca aubrcquirirte die Justiz-Canzlci wicdcNm d&l hiesige Amt zu dem Zwecke, in welchen Fällen ich dann das publicirende Gericht um Abschrift dCI Erkenntnisses ersuchen mußte, um es Eurer Exccllcnz mitthcilcn zu können, bald wurde mir da• Erkenntniß des Tribunals nicht allein von dicaem, sondern auch nachher von der betreffenden JustizCanzlei, also doppelt, mitgetheilt, und in der letzteren Zeit sind mir in der Untersuchung wider verschiedene Züchtlinge zu Celle, wegen AufNhrs, ferner in der Untersuchung wider Sophic

V. Der "Öffentliche Anwald" in der forensischen Praxis

161

Offenbar betrachteten die Gerichte die ganze Tätigkeit des Fiskals als eine

Art unerwünschter Aufpassertätigkeit und Eingriff der Regierung in die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Die Spannungen scheinen, worauf auch der Ton des Beschwerdeschreibens hindeutet, erheblich gewesen zu sein. Zwar wies der Justizminister mit Schreiben vom

1. Juli 1845 auf Dommes'

Dienstaufsichtsbeschwerde hin alle Gerichte an, ihre einschlägigen Entscheidungen Dommes

"ungesliumt" per Post in Abschrift zur Prüfung zuzusen-

den.234 Jedoch scheinen damit die Mißhelligkeiten im Hinblick auf die Tätigkeit des

"iJ.ffentlichen Anwalds in Criminalsachen" keineswegs beendet worden zu

sem. Die ganze Einrichtung hatte sich in den Augen der meisten Hannoveraner

"in den wenigen Jahren ihres Bestehens als großen Mißbrauchs fähig und sehr gefährlich erwiesen. 112JS

Brandes aus Burgdorf und Dorolhea Barthmer aus Burgwedel, wegen Mordes, versuchter Abtreibung der Leibesfrucht usw., weder Erkenntnisse noch überhaupt Benachrichtigung über den Ausgang der von mir in jenen beiden Untersuchungen verfolgten Revisionen mitgetheilt, obgleich - wie Eurer Excellenz bei Einholung der betreffenden Receptions- und Transport-Befehle nicht unbekannt geblieben ist - bereits resp. am 24. April und 9. Mai d.J. die Urtheile vom Königlichen Ober-Appellations-Oerichte gesprochen worden sind. - In jeder meiner Revisionsoder Beschwerde-Schriften habe ich um Mittheilung des demnächstigen Bescheides oder Erkenntnisse& im Original oder Abschrift per Post nachgesucht, und wenn auch häufig dieser meiner Bitte gewillfahrt worden, so ist ea doch - bei ganz gleicher Sachlage - eben so oft nicht geschehen, und es haben die oben erwähnten Requisitionen, Subrequisitionen und mündlichen Eröffnungen, bei welchen ich mir doch jedesmal eine Abschrift des Erkenntnisses erbitten mußte, um solche Eurer Excellenz vorlegen zu können, zu unnöthigen Schreibereien, Versendungen, Wegen und zur Verzögerung meiner Benachrichtigung über den Ausgang der Sache geführt, wie denn auch der Übelstand, daß ich in den vorbezeichneten beiden Untersuchungen ganz ohne Kenntniß über den Ausgang der von mir erhobenen Revisionen gelassen bin, wahrscheinlich in einer vom Königlichen Ober-Appellationsgerichte an die Königliche Justiz-Canzlei zu Celle erlassene Verfügung, mir jene Erkenntnisse mitzutheilen oder eröffnen zu Jassen, seinen Grund haben dürfte. Da Eure Excellenz, nach dem art. lS des Gesetzes vom 16. Feb. ennächtigt sind, diejenigen Einrichtungen zu treffen, welche zur Ausführung des Zwecks dieses Gesetzes erforderlich werden, so geht zur Beseitigung jenea unregelmäßigen, unnöthigen weitläuftigen und nachtheilig auf die Sache einwirkenden modua der fraglichen Mittheilung meine unterthänige Bitte dahin: Eure Excellenz wollen du Königliche Ober-Appellationsgericht sowie die Königlichen Justiz-Canzleien anweisen, daß sie die in der Revisions-Instanz oder auf die von mir bei ihnen erhobenen Beschwerden von ihnen abgegebenen Erkenntnissen, Entscheidungen oder Verfügungen, je oach der Lage der Sache entweder im Original oder in Abschrift mir unmittelbar perPost (bei hiesiger Königlicher Justiz-Canzlei durch einen Boten) mittheilen und zugehen Jassen. - Gez. Dommes ... •. 234 NdsHStA Hann Des 26 a Nr.2620. 23S S. Lehun, Staatshaushalt, 0 216. II Knallmann

162

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

Bereits sechs Jahre nach ihrer Einführung wurde daher in der Allgemeinen Ständeversammlung unter dem 14. Juni 1848 nach nur kurzer Diskussion236 und nur anfänglichen Gegenstimmen aus der ersten Kammer237 ein Antrag der 236 "Es folgte in der Berathung der Zweite Antrag des Hm. Vice-Generai-Syndicus Hantelmann, dahin gehend: 'Stände beschließen, daß Kgl. Regierung zu ersuchen sey, einen ZusatzEntwurf des Inhalts vorzulegen: das Gesetz vom 16. Febr. 1841 ... ist hierdurch aufgehoben.' Nach bejahter Vorfrage begann der Hr. Antragsteller seine Rechtfertigung mit einer Hinweisung auf die Begründung der fraglichen Verordnung, worin die Anstellung eines Staatsanwalts als eine Forderung der Gerechtigkeit und des öffentlichen Interesses hingestellt werde. Der Redner führte gegen die Richtigkeit dieser Begründung an, wie 10wohl die Gerechtigkeit als die Rücksicht auf das öffentliche Interesse wesentlich erfordere, daß Niemand härter bestraft werde, als das Gesetz vorschreibt; dieser Fall wäre der einzige, wo die Dazwischenkunft des Staatsanwalts Sinn hätte, derselbe sey aber in der Verordnung nicht berücksichtigt. Das Motiv derselben müsse wohl anderswo liegen; es liege, wie er schon bei der ersten Begründung ausgesprochen habe, in nichts Anderem, als der Absicht, gegen mißliebige Personen in politischen Dingen eine Handhabe zu bekommen. In dieser Beziehung habe denn auch das Institut gewirkt; er dürfe aber mit Freuden hinzufügen, nicht so, wie man erwartet habe. Sowohl der Criminalsenat des OAG, als die Mittelgerichte haben den Erwartungen entsprochen, die man bei Erlaß des Gesetzes gehegt. Die Gerichte, namentlich der Criminalsenat, haben es vorgezogen, den Ruhm der Unabhängigkeit und Gerechtigkeit, der sie immer geschmückt, zu bewahren. Das Institut des Staatsanwaltsbei einem auf der Untersuchungsmaxime beruhenden Verfahren sey etwas Fremdartiges, ein Widerspruch, welcher nicht crasser sein könne. Dem Grundgedanken unseres Verfahrens gemäß sey eine reformatio in peius ganz unerhört, und wenn somit in dem Institute des Staataanwalta eine furchtbare Anomalie liege, so könne e1 nicht zweifelhaft sein, daß es aufgehoben werden müsse.' - Der Antrag wurde einstimmig angenommen. • (Extrablatt der Hannoverschen Zeitung, Ständische Verhandlungen, IX. Landtag, mit eingebunden in: HannLandtagsblatt 1848, I. Diät, 1848, 2 . Cammer, S. 185). - "Hierauf nahm Hr. Vice-General-Syndikus Hantelmann das Wort. Er erlaube aich folgenden Antrag zu atellen: 'Stände beschließen, daß Kgl. Regierung zu ersuchen sey, einen Zusatz-Entwurfdei Inhalts vorzulegen: das Gesetz vom 16.2.1841 ... ist hierdurch aufgehoben. Durch dieses Geaetz sey eine Staatsanwaltschaft eingerichtet, und diese Einrichtung passe zu den bestehenden Verhältnissen wie die Faust aufs Auge. Es sey dies Gesetz wohl aus dem geheimen Grundgedanken entstanden, die besten Männer des V aterlandca gehörig zwicken zu können, weM die Gerichte noch nicht nach Wunsch entschieden hätten. Er erinnere nur an Breusing. Die schöne Zeit dieaes Geaetzes sey nun zwar vorüber, und die Regierung werde gewiß nicht die Absicht haben, dasaelbe länger aufrecht erhalten zu wollen; deMOCh wirke es auf ihn und gewiß auch auf viele Andere wie eine fortgeaetzte Rechtsverletzung. Er bitte daher um Unterstützung des Antrags. - Der Antrag fand von vielen Seiten Unterstützung und wurde auf die Tagesordnung geaetzt." (HannLandtagsblatt 1848, Verhandlungen 2. Cammer, S. 106). - • 237 S. HannLandtagsblau 1848, Verhandlungen I. Cammer, S. 185; 192; 254; 258; 420; 425. - "Hr. Justizrath v. Harling. Obgleich gegen die in Frage stehenden Maßregel fast das ganze juristische Publikum, und auch er selbst, einen großen Widerwillen gehegt, so erscheine es ihm doch gegenwärtig, wo man ein neuea System, gegründet auf Öffentlichkeit und Mündlichkeit, anbahnen wolle, nicht zweckmäßig, aus dem Ganzen einzelne Theile herauszureißen, und interimistische Anträge zu stellen. Auch Hr. Justizrath v.d. Decken hieltet filr räthlich, die kurze Zeit der Übergan&speriode noch abzuwarten, zurnal das betreffende Gesetz in mehrere andere Gesetze praktisch eingreife. Der Beschluß zweiter Cammer wurde abgelehnt. • (HannLandtagsblatt 1848, 1. Cammer, S. 254). -Wenig später jedoch beschloß die "Conferenz" der Ersten Kammer, "jedoch nur mit Majorität einer Stimme", dem Antrag der Zweiten Kammer beizutreten: "Relation aus der Conferenz über den Beschluß der Zweiten Cammer ... Hr. Justizrat v.d. Decken ... Er habe früher schon erklärt, daß er das Gesetz ... nicht für zweckmäßig halte; nichts desto weniger habe er, wie früher hier, 10 auch in der Conferenz gegen den Antrag

V. Der "Öffentliche Anwald" in der forensischen Praxis

163

Allgemeinen Ständeversammlung an die Königliche Regierung verabschiedet, "das ... Gesetz vom 16 Februar 1841 ... und die damit ausgesprochene Zulilssigkeit einer reformatio in peius" enthalte, "zumal mit den beigeftJgten Modalilltten, und ohne Verbindung mit einer wahren Staats-Anwaltschaft, eine so allgemein anerkannte Abweichung von dem zur Zeit noch bestehenden Rechtssysteme, diese neue Einrichtung ist aberdem eines so großen Mißbrauches fiihig, daß Stande . . . selbst in Aussicht auf die bevorstehenden grandliehen Proceß-Refonnen . . . auf die Zurilcknahme des fraglichen Gesetzes antragen. •238 Die Regierung entsprach diesem Antrag am 19. Juli 1848239, indem das Gesetz vom 16. Februar 1841 aufgehoben wurde.240 Dommes wurde - unter Beibehaltung seines bisherigen Gehalts und seines Titels Kriminalrat - als Referent241 in das mit der Ausarbeitung zahlreicher

gestimmt, denn er halte es nicht für zweckmäßig, jetzt noch aus dem alten Systeme einzelne Theile herauszureißen und abzuschaffen, während eine gänzliche Umgestaltung der Justiz-Verfassung mit Gewißheit bevoratehe, bei welcher auch jenes Gesetz fallen werde ... Hr. Landrath v. Trampe. Bei der Vorlage der Proceß-Ordnung im Jahre 1830 sey zuerst von Königl. Regierung eine refonnatio in peius beantragt, doch nicht in der Art, wie sie später eingeführt sey, Stände seyen nämlich damals der Ansicht gewesen, daß, wenn die reformatio in peius eingeführt werden solle, dann jedenfalls ein Staatsanwalt geschaffen werden müsse. Später sey wieder eine andere Vorlage gemacht und im Jahre 1841 promulgirt, und zwar nach der von Ständen im Jahre 1830 ausgesprochenen Ansicht ... Hr. Justizrath v. Harling. Er habe auch gegen den Beschluß Zweiter Cammer gestimmt und allerdings auch deahalb, weil die damals so häufig einkommenden Uranträge Zweiter Cammer haben fürchten lassen, daß noch mehr Anträge ihnlieher Tendenz folgen würden. Die Aufhebung jenes Geaetzea aber halte er für inkonsequent, da man bei dem neu eingeführten Systeme, nach welchem an die Stelle des Inquisitions-Processes der Accusations-Proceß treten werde, jenes Institut wenigstens theilweise in dem Procurator des Königs oder wie man sonst das mini~re publique nennen wolle, wieder heratellen werde. Für das bisherige System sey freilich daa fragliche Institut eine Anomalie ... Der Conferenz-Antrag wurde angenommen. • (HannLandtagsblatt 1848, Verbandlungen I. Cammer, S. 420).

238 Vortrag an das Königliche Gesammt-Ministerium vom 14. Junius 1848, die Aufhebung des Gesetzes vom 16. Februar 1841 betreffend. (Aetenatücke der IX. allg. StV, I. Diät,

s. 1039.

239 Gunkel, Rechtaleben, S. 286. 240 GS 1848 I 196: "Gesetz über die Wiederaufhebung einer weitem Instanz für Fille der

Beeinträchtigung dea öffentlichen Interesses durch Beschlüsse oder Entscheidungen der Criminalgerichte ... Nachdem Unsere getreuen Stände darauf angetragen, daß das Gesetz vom 16. Februar 1841 ... zurückgenommen werde, und Wir beschlossen haben, diesem Antrage Statt zu geben, so verkünden Wir hiemit: Eine weitere Instanz für Fille der Beeinträchtigung dees öffentlichen Interesse• durch Beschlüsse oder Entscheidungen der Criminalgerichte findet künftig nicht mehr Statt; es wird daher das eine solche Instanz einführende Gesetz vom 16. Februar 1841 damit außer Wirksamkeit gesetzt. • 24 1 Man hatte Dommes zunächst auf die subalterne Stelle eines bloßen Hilfsreferenten versetzen wollen, was erst auf seinen Protest hin - er berief sich auf seine jahrzehntelange Dienst11•

164

KapitelS: Der hannoversche "Öffentliche Anwald"

neuer Reformgesetze stark ausgelastete Justizministerium versetzt und bald darauf pensioniert.242 Damit war die Tätigkeit des hannoverschen "öffentlichen Anwalds in Criminalsachen" beendet.

VI. Zwischenergebnis Nach seiner Stellung als besonderer Beamter unter der Weisungsgewalt des Justizministers kann der hannoversche Öffentliche Anwalt von 1841 nur auf den ersten Blick das verbreitete Urteil rechtfertigen, er sei ein früher Vorläufer der heutigen Staatsanwaltschaft, "der Ahnherr der Staatsanwälte in Celle", gewesen. 243 Denn es fällt sogleich auf, daß er aufgrund der auch nach 1840 ausdrücklich beibehaltenen inquisitionsrechtlichen Grundlage des hannoverschen Strafprozesses funktional in keiner Weise mit der Vertretung einer eigenständigen Anklage gegenüber dem Gericht befaßt war. Vielmehr war er an dem regelmäßigen Gang des Untersuchungs- wie des Erkenntnisverfahrens überhaupt nicht beteiligt, sondern hatte nur von Fall zu Fall und auf ausdrückliche besondere Anweisung, und dies ausschließlich im Bereich des Rechtsmittelwesens, tätig zu werden. Angesichts des etymologischen, grammatikalischen, entstehungsgeschichtlichen und funktionalen Befundes der Analyse des hannoverschen Kriminalfiskals dürfte dessen Zuordnung zur Traditionslinie der Staatsanwaltschaft als Anklagevertreterio nicht länger zu vertreten sein. Der hannoversche Öffentliche Anwalt als rein auf die Rekurse im Staatsinteresse beschränkte Weiterentwicklung der Fiskalale des 16. Jahrhundets teilt mit diesen die Tradition eines gegenüber dem französischen ministere public grundverschiedenen Sonderweges. Er ist daher nicht als erster Wegbereiter oder Vorläufer der Staatsanwaltschaft in Hannover anzusehen, sondern als Ausdruck eines späten Versuchs der hannoverschen Regierung, den Gemeinen Inquisitionsprozeß •intrasystematisch •, mit einem traditionalen, deutschrechtlichen Instrumentarium punktuell zukunftstauglicher zu gestalten. Er ist daher - in schlagwortartiger Zuspitzung - nicht ein "Kind der Revolution •, sondern des monarchischen zeit - geändert wurde (Schreiben Scheles vom 21.7.1848 und Bacmeisten an Domme• vom •Iben Tag; Nda HSTA Hann Dc• 26 a Nr. 2620). 242 1m HannStaatakalender 1849 S. 102 erscheint er als Referentper mod. com. 243 Harma, in: FS-OLG Celle (1961), 250.

VI. Zwischenergebnis

165

Prinzips, und kann daher nicht in die "Ahnenreihe" der auf die ganz andersartige Tradition des französischen ministere public zurückgehenden heutigen Staatsanwaltschaft eingereiht werden.

Kapitel6

Die hannoversche Staatsanwaltschaft nach den provisorischen Strafprozeßgesetzen von 1849 "Kind der Revolution"' Nach herkömmlicher Darstellung in der Literatur brachte das Jahr 1848, der "politische Sturm, der aber unser deutsches Vaterland hinwegbrauste"2, plötzlich und geradezu schlagartig in den meisten deutschen Staaten auch umfassende Strafprozeßreformen mit der Einführung von Staatsanwaltschaften. 3 In der Tat kam auch in Hannover gesetzgebensehe Bewegung in die Strafprozeßreformdebatte auf den ersten Blick erst in der Folge der Märzrevolution von 1848.

Jedoch hatte eine längere und kontinuierliche parlamentarische und außerparlamentarische reformerische Vorarbeit besonders in den letzten Jahren des Vormärzes den Boden hierfür vorbereitet.

I. Die Staatsanwaltschaftsfrage in der hannoverschen Ständeversammlung in den letzten Jahren des Vormärz 1. Resignationsphase zwischen 1840 und 1845 Nach dem Ende des die oppositionelle Bewegung außerordentlich schwächenden, zunächst zu ihren Ungunsten verlaufeneo hannoverschen Verfassungskonflikts blieb die reformerische Initiativkraft der hannoverschen Liberalen zunächst über Jahre hinweg gelähmt. 4

1 Begriff nach Günter, Staatsanwaltschaft, Kind der Revolution. Das Schlagwort begegnet allerdings auch schon viel früher, etwa bei Otto, Staatsanwaltschaft, S. 62 ("So ist denn die Staatsanwaltschaft recht im eigentlichen Sinne ein Kind der Revolution, wenn auch sehr wider Willen"). 2 So Elling, Einfiihrung, S.48. 3 Vgl. Zachariae, Verfahren, S. 9, 11. 4 S. E.R. Huber DtVerlU D 537.

I. Die Staatsanwaltachaftsfrage in der Ständeversammlung

167

König Ernst August bemühte sich um ein wohlwollend-patriarchalisches Regiment, während die nach dem Landesverfassungsgesetz von 1840 gebildete Ständeversammlung nur geringen Einfluß nahm. S Die Regierung übte eine scharfe Zensurpolitik, mit der sie auch etwaige publizistische Reformforderungen schon im Ansatz weitgehend unterband. 6 Währenddessen erwies sich allerdings das erst 1840 überarbeitete hannoversche Strafprozeßrecht alsbald wiederum als unzureichend. 7 "Viele Jahre lang war ... für eine durchgreifende Refonn des herrschenden Strafverfahrens gekiimpft worden. Vergebens! Die Regierungen, welche fühlten, daß mit einer Aufhebung des heimlichen und schriftlichen InquisitionsProcesses eine Hauptstatze des die freiere Entwicklung des Volkes hemmenden Polizei-Staates gebrochen werde, widerstrebten mit Hartnackigkeil und unter dem Schutze der in ihrem Geiste verwalteten Bundesgewalt auch hier mit Erfolg . . . Zur Vorbereitung einer die Refonn des Criminal-Verfahrens anstrebenden, auf die Prinzipien der Mandlichkeit, Offentliehkeil und A.nklage-Prozeß gebauten Gesetzgebung geschah auch nach 1840 Seitens der Hannoverschen Regierung durchaus Nichts, und bei dem herrschenden RegierungsSystem und den Personen, von welchen dasselbe getragen wurde, war das sehr natarlich . . . ", so beschrieb Zachariä nicht ohne Bitterkeit rückblickend diese Situation. 8 Als jedoch um 1845 herum in einer Reihe bedeuteoder deutscher Staaten die jahrzehntelangen parlamentarischen und wissenschaftlichen Bemühungen um eine Gesetzgebungsreform begannen, gesetzgebensehe Gestalt anzunehmen, und sich in der Wissenschaft im Zuge der "Dritten Phase" der Reformliteratur die Überzeugung von der Notwendigkeit einer durchgreifenden Reform auch quantitativ durchsetzte, kam auch in der hannoverschen Ständeversammlung Bewegung in die festgefahrene Strafprozeßreform. Weit verbreitet waren auch in Hannover namentlich die "ausführlichen und alle Waffen des Geistes aufbietenden, alle Grande der Erfahrung und der Vernunft er-

5 S. E.R. Huber DtVertU D 537. 6 S. E.R. Huber DtVerfG D 538. 7 S. Zachariae, Gebrechen, S. 95 ff., 127, ISO; den., Verfahren, S. 3. 8 S. Zacharii, Verfahren, S. 6.

168

Kapite16: Die provisorische Staatsanwaltachalt von 1849

schöpfenden ,.1) Debatten in den beiden Kammern der Sächsischen Ständeversammlung.10 2. Die Durchsetzung des liberalen Strafprozeßmodells in der Ständeversammlung 1845 bis 1848

Besonderen Eindruck auf die hannoverschen Rechtsreformer machten offenbar auch die Entwicklungen in dem bedeutendsten Nachbarstaat, dem Königreich Preußen. Hier war nach längerer regierungsinterner Diskussion 11 das Maßnahmegesetz vom 17. Juli 1846 entstanden, das u.a. eine Staatsanwaltschaft als Vertreterio der öffentlichen Anklage, nicht aber Geschworene, vorsah. 12 9 S. Zachariä, Verfahren, S. 7. 10 Von dem Abg. Volkmann unter dem Titel "Öffentlichkeit, Anldageproceß, Geschwornengericht" 1843 herausgegeben. Es handelte sich um eine Zusammenstellung der Debatten in beiden Kammern über den von der Regierung 1842-44 vorgelegten Entwurf einer StPO sowie über einen Antrag des Abg. Schäfer von 1845. 11 Eine einheitliche Ständeversammlung gab es in Preußen zu jener Zeit noch nicht, sondern nur die jeweiligen Provinziallandtage. Die Diskussion um eine Reform des Strafverfahrens hatte in Preußen forciert um 1843 begonnen (S. Otto, Staatsanwaltschaft, S. 8 ff.; S. zur preußischen Staatsanwaltschaftsdiskussion auch eingehend Rüping, in: GA 1992, 147 ff.) . 12 Gesetz, betr. das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17.07.1846 (preußGS 1846 I 267). -Der Anlaß für den Erlaß dieses Gesetzes war der Umstand, daß in der Folge eines Aufstandes erheblicher Teile der polnischen Bevölkerung in mehreren östlichen preußischen Provinzen eine Vielzahl von aufsehenerregenden Strafverfahren wegen "Staatsverbrechen" vor dem Berliner Kammergericht anhängig geworden war (S. hierzu i.e. Stölzel, Rechtavennltung D 587 ff.; Elling, Einführung, S. 82 f. ; Otto, Staatsanwaltschaft, S . 52 ff.; Rüping, in: GA 1992, 152 mwN.) Es wurde befürchtet, daß die Aburteilung dieser politisch motivierten Angeklagten bei dem geltenden Verfahrensrecht nach der prCrimO 1805 zu lange dauern und deshalb ihre generalpräventive Wirkung verfehlen würde. Der König ordnete daher die Erarbeitung eines Beschleunigungsgesetzes, beschränkt auf den Bezirk des Kammergerichts, an, das ein mündliches Verfahren vor dem erkennenden Gericht einführte, bei dem dem Angekl. ein Staatsanwalt gegenüberstand. Dessen Stellung war besonders in §§ 2-14 geregelt und sah nach französischem Vorbild eine hierarchische Gliederung unter Leitung des Justizministers vor (§§ 2,3}. Die Staatsanwaltschaft war ausschließlich auf Strafsachen beschränkt (§ 2) und hatte hier, wie der französische m.p., umfangreiche Mitwirkungsrechte im Untersuchungsverfahren, indem die gerichtliche Voruntersuchung regelmäßig nur auf ihren Antrag hin eingeleitet werden durfte (§§ 4,5}. Sie hatte gegen die Nichteröffnung das Recht der Beschwerde (§ 13). Die Durchführung der einzelnen Untersuchungshandlungen lag regelmäßig in den Händen des Gerichts und war jeweils durch die Staatsanwaltschaft zu beantragen (§ 7). Dabei war die Staatsanwaltschaft nicht Partei, sondern Gesetzeswächter,m indem sie über die Ordnungsgemäßheit der richterlichen Untersuchungsführung Aufsicht führte(§ 8) und ausdrücklich auch darauf zu sehen hatte, "daß Niemand schuldlos verfolgt werde" (§ 6). - Für die Einführung der Staatsanwaltschaft hatte sich zuvor schon der preußische Gesetzgebungsminister v . Savigny entschieden ausgesprochen. 1846 hatte er in einer Denkschrift nochmals in klassischer Form die Vorteile der Institution herausgestellt: Im Inquisitionsprozeß sei die Unbefangenheit des Untersuchungsrichters sehr gefährdet. "Die Gefahr, wel-

I. Die Staatsanwaltschaftsfrage in der Ständeveraammlung

169

Besonders hierdurch erhielt in den Augen vieler Hannoveraner "die Hoffnung, daß die preußische Regierung auf der Bahn der Refonn des Strafverfahrens den übrigen deutschen Staaten vorausgehen werde, eine sichere Basis ... Gewiß war es diesem Vorgang zuzuschreiben, daß sich endlich auch die Stimme der Hannoverschen StiJnde jar eine durchgreifende Refonn des Strafverfahrens erhob •.13 Bereits eine Woche nach lokrafttreten des neuen preußischen Sondergesetzes, am 26. Juli 1846, stellte der Abgeordnete Gustav Siemens in der Zweiten Kammer der hannoverschen Ständeversammlung den Antrag, die "Königliche Regierung zu ersuchen, auf Einjahrung einer, durch Öffentlichkeit und Mündlichkeil der Haupt- und Schlußverhandlungen vor dem erkennenden Gerichte gesicherten Strafrechtspflege, nicht minder auf Abkürzung der Voruntersuchung durch Vereinfachung der Fönnlichkeiten und Einjahrung des Anklage-Processes, sowie endlich auf den möglichsten Schutz der persönlichen Freiheit der Angeklagten Bedacht zu nehmen und einen, auf diese Grundslltze gebauten Entwurf einer Straf-Prozeß-Ordnung den StiJnden zur verfassungsmiJßigen Mitwirkung vorzulegen. •14 Bemerkenswerterweise enthielt der Antrag von Siemens also zwar drei der Hauptlemente des französischen Prozesses - Anklage, Mündlichkeil und Öffentlichkeit - , nicht aber das - einerseits von liberaler Seite als "Palladium der Freiheit" gepriesene, andererseits aus konservativer Sicht wegen seiner volksbeteiligenden Struktur für besonders bedenklich gehaltene - Geschworenengericht. 1S Insoweit befand sich Siemens allerdings in der Gesellschaft nicht weniger zeitgenössischer Wissenschaftler und Reformpolitiker, die das Schwurgericht ehe hieraus für die Gerechtigkeit des Endurtheils entspringt, wird durch das mündliche Hauptverfahren . . . nicht gehoben . . . Es muß ... von der anderen Seite das öffentliche Interesse vertreten werden ... es ist auch das einzige Mittel, wie im Interesse des Angeschuldigten die Unbefangenheit des Richten bewahrt werden kann ... 2 . ... auf der einen Seite (wird) die Überführung des Schuldigen befördert, und zugleich auf der anderen Seite ... dem Angeschuldigten die Vertheidigung erleichtert, nämlich dadurch, daß ihm in der Anklage ... das Verbrechen . .. beatimmt bezeichnet wird ... 3 .... der andere Vortheil (ist), daß die Untersuchung durch die Anträge .... eine bestimmte Richtung und Grenze erhält ... 4 . ... (es gilt) als ein Vorzug des Anklageprozesses . .. , daß dadurch manchen unnützen Unterauebungen vorgebeugt wird ... • (hier zit. nach Kroeschell DRG m 170 ff. mwN.; zum ganzen S. Otto, Staatsanwaltschaft, S. S2 tr.). 13 S. Zachariä, Verfahren, S. 7 f. 14 Nach Zachariae, aaO. 1S Vgl. dazu Schwinge, Kampf, passim; Sellert, Art. Schwurgericht, in HRG IV ISS I.

170

Kapite16: Die provisorische Staataanwa1tachaft von 1849

aus verschiedenartigen Gründen nicht in einem reformierten Strafprozeß enthalten sehen wollten. 16 Der Antrag Siemens' wurde in der Zweiten Kammer am 8. Dezember 1846 beraten und einstimmig angenommen. Im Oberhaus wurde er jedoch mit •eminenter Majoritlit• in die unverbindliche Fassung abgemildert, •Königliche Regierung wolle in Erwligung nehmen, durch welche Anordnungen bei dem Criminal-Verfahren ein griJßerer Schutz für die Person des Angeklagten und eine Vereinfachung und Abkanung der Untersuchungen zu erreichen sei und mit der Vorlegung eines Gesetzentwurfs hervortreten • . 17 Die Regierung reagierte allerdings auch auf diesen Antrag überhaupt nicht. 18 Jedoch war das Thema damit für die hannoversche Ständeversammlung keineswegs erledigt. Bereits im darauffolgenden Jahr etwa reichte die Ständeversammlung erneut einen ·vortrag an das KIJnigliche Cabinet vom 19.Miin 1847, den Entwurf einer Criminal-Proceß-Ordnung betreffend • ein.19 Darin hieß es, •die großen und mannichfachen Mangel, woran der Criminal-Proceß unsers Landes, zugleich mit dem gemeinen Deutschen Criminal-Proceß zu leiden hat, so wie das Bedilrfnis grilndlicher Reformen •, seien wiederum bei Gelegenheit der Beratungen über die geplante neue Zivilprozeßordnung •in reifliche und ernste Erwiigung gekommen •. Die Kriminalprozeßordnung von 1840 habe •nach den bisherigen Erfahrungen (ihrem) Zwecke nur in sehr beschranktem Maße entsprochen, die alten Mlingel im Wesentlichen bestehen lassen und zu neuen Klagen Veranlassung gegeben, wie denn namentlich eine zweckmiißigere Ordnung der Rechtsmittel-Instanz, insbesondere eine erweiterete Competenz-Bestimmung des Criminal-Senats beim Oberappellationsgericht Celle • zu fordern sei. 20 16 S. zu der von der allgemeinen Strafprozeßrefonndebatte gesonderten Juryfrage Schwinge, Kampf, passim. 17 Verhandlung der l. Kammer vom 18.12. 1846, 178. Sitzung (hier zit. nach Zachariae, · aaO.). Man hatte gefunden, daß der Antrag idF der Zweiten Kammer "zu viel Specielles enthalte, zu weit in die Materie hineingehe, sowohl formell a1a materiell, er atelle alles viel zu apodiktisch hin, besser sei ein allgemein gehaltener Antrag". 18 Da die Ständeversammlung nach 1837 und auch nach dem LVerfU 1840 keine Gesetzgebungsinitiative hatte, sondern lediglich durch Anttige - wie hier - der Regierung • Anregungen" geben konnte, eine Gesetzesvorlage einzubringen, war die Krone zu einer Reaktion fönnlich allerdings auch nicht verpflichtet. 19 Actenstücke der IX. allgStV S. 1583. 20 Actenstücke der IX. allgStV S. 1584.

I. Die Staatsanwaltschaftsfrage in der Ständeversammlung

171

Auch die Erste Kammer der Ständeversammlung war ausweislich dieses Vortrags jetzt - im Unterschied noch zum Vorjahr - zu der überraschend entschiedenen Einschätzung gelangt, wdaß, nach der ganzen Art der Gebrechen unsers Criminal-Processes und nach ihrem genauen Zusammenhange mit den wesentlichen Grundsillzen desselben, nicht weiter durch stUckweises Bessern, sondern nur durch eine umfassende Refonn grUndlieh und dauernd zu helfen sein werde. • Es wurde - offenbar aus gegebenem Anlaß - sehr offen über regelwidrige Zustände in der hannoverschen Strafrechtspflege Beschwerde geführt: •Die Klagen aber Mißbrauch der richterlichen Gewalt, wovon indeß leider! auffallende Beispiele bei dieser Gelegenheit zur Sprache gekommen•.21 Der Vortrag mündete in den •Antrag, Königliche Regierung wolle in sorgfaltige Erwagung nehmen, durch welche Anordnungen bei dem Criminal-Verfahren ein größerer Schutz fUr die Person der Angeklagten und eine Vereinfachung und AbkUrzung der Untersuchung zu erreichen sei, und ob nicht dabei namentlich auf Ein.fUhrung des Anklage-Processes, so wie auf Unmittelbarkeit und 6ffentlichkeit der Haupt- und Schluß-Verhandlungen vor dem erkennenden Gerichte selbst Bedacht zu nehmen sei, und einen desfallsigen Gesetz-Entwuif an Stande gelangen lassen. Stande dUifen es dabei jetzt als einen gilnstigen Umstand ansehen, daß der frilhere Entwuif einer CriminalProce.ßordnung seiner Zeit auf sich beruhen geblieben ist. w22 Offen blieb allerdings, wie die Staatsanwaltschaft in diesem •AnkJagepro-

zt!ß • im einzelnen ausgestaltet werden sollte.

In dieser Adresse lag jedenfalls eine überraschende Wende, wenn man bedenkt, daß noch im Vorjahr die Erste Kammer eine starke Abschwächung des ähnlich lautenden Reformantrags des Unterhauses durchgesetzt hatte. 23

Das Urteil von Zachariä aus dem Jahre 1850, •so kam auch für das /Ur eine Refonn der Strafprozeßgesetze ganzlieh unvorbereitete Königreich Hannover der Marz des Jahres ]848-24 , mußangesichtsdieses Vortrags vom 21 Actellltilcke der IX. allgStV S. IS8S. 22 Actellltilclce der IX. allgStV S. 1586.

23 "Daß man es von Seiten einer Ständeversammlung, welche zum größten Theile aus Beamten bestand, wagte, das Inquisitionsverfahren ... zu verdanunen ... war gewiß ein Zeichen der Zeit ... Was man ... 1840 bum zu denlcen wagte, das wurde jetzt lclar und bestimmt ausgelpro